Under Cover: Das Geschlecht in den Medien [1. Aufl.] 9783839405345

Auch wenn wir es heute nicht mehr wahrhaben wollen, in den Reproduktionsmedien vom Alphabet bis zum Computer ist der Ges

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German Pages 186 Year 2015

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Table of contents :
INHALT
Einleitung
Kapitel I. Das mediale Unbewusste
Kapitel II. Verhüllte Interessen: Medium und Vorhaut
Kapitel III. Metamorphosen: BildKörper zwischen Kunst und Anatomie
Kapitel IV. Der Ort der Bilder: Die Erfindung der Klitoris
Kapitel V. Contra Naturam: Die Fruchtbarkeit des Geldes
Kapitel VI. Unendliche Defloration? Die Reproduktion des Hymens als Bild
Kapitel VII. »Nicht mehr zum Unantastbaren geh ich«: Die ›Mutter‹ und das Unbewusste des Alphabets
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Under Cover: Das Geschlecht in den Medien [1. Aufl.]
 9783839405345

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Bettina Mathes Under Cover

Für Amie Siegel

Bettina Mathes (Prof. Dr. phil.) lehrt German Studies und Women’s Studies an der Pennsylvania State University. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Kultur der Frühen Neuzeit, Medien, Wissenschaftsgeschichte, Religion und Gender Studies. Zuletzt erschienen zusammen mit Martina Löw »Schlüsselwerke der Geschlechterforschung« (Wiesbaden 2005).

Bettina Mathes Under Cover Das Geschlecht in den Medien

Gefördert mit Mitteln des Berliner Programms zur Förderung der Chancengleichheit für Frauen in Forschung und Lehre

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

© 2006 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung und Innenlayout: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: John Sparagana »Sleeping Beauty«, © John Sparagana 2004 Korrektorat: Birgit Klöpfer, Paderborn Herstellung: digitron GmbH, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 3-89942-534-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

INHALT

Einleitung 7

Kapitel I. Das mediale Unbewusste 23

Kapitel II. Verhüllte Interessen: Medium und Vorhaut 37

Kapitel III. Metamorphosen: BildKörper zwischen Kunst und Anatomie 57

Kapitel IV. Der Ort der Bilder: Die Erfindung der Klitoris 65

Kapitel V. Contra Naturam: Die Fruchtbarkeit des Geldes 85

Kapitel VI. Unendliche Defloration? Die Reproduktion des Hymens als Bild 117

Kapitel VII. »Nicht mehr zum Unantastbaren geh ich«: Die ›Mutter‹ und das Unbewusste des Alphabets 163

EINLEITUNG Under Cover? Das klingt nach James Bond, nach Aktivitäten im Verborgenen, nach Lüge und ›falschem‹ Schein, nach trügerischen und verführerischen Oberflächen. Gegenstand dieses Buches sind Medien in ihrer Funktion als ›Geheimagenten‹ und ›Geheimnisträger‹ – und damit in einer Funktion, die sie mit dem weiblichen Körper teilen. Beide sind auf das Engste mit kulturellen Vorstellungen des Verschleierten, Geheimen und Unzugänglichen verbunden. Das Medium der Alphabetschrift schuf die Idee einer unzugänglichen – verhüllten – Wahrheit, die sich im heiligen Text offenbart, deren Ursprung oder Erzeuger die Sterblichen jedoch nicht dingfest machen durften. Die Buchstaben fungierten als Schleier des unzugänglichen Gottes (für Judentum und Islam gilt dies bis heute). In der Bibel müssen Adam und Eva ihr Geschlecht bedecken, weil sie von den verbotenen Früchten vom Baum der Erkenntnis gekostet haben. »Die Frau sah den Baum an: Seine Früchte mussten köstlich schmecken, sie anzusehen war eine Augenweide und es war verlockend, dass man davon klug werden sollte! Sie nahm von den Früchten und aß. Dann gab sie auch ihrem Mann davon und er aß ebenso. / Da gingen den beiden die Augen auf und sie merkten, dass sie nackt waren. Deshalb flochten sie Feigenblätter zusammen und machten sich Lendenschurze.« (1 Mos 3, 6f.) Historisch gesehen sollte aber nur der weibliche Körper als anatomischer Resonanzraum kultureller Vorstellungen des Geheimen, Jungfräulichen und Unberührten herangezogen werden.1 In Mittelalter und Früher Neuzeit sprachen Ärzte von den »Geheimnissen der Frauen«2 – und meinten damit ihre Fortpflanzungsorgane –, die kolonialen Eroberer der Frühen Neuzeit und des 19. Jahrhunderts imaginierten die von ihnen 01 Françoise Meltzer: For Fear of the Fire. Joan of Arc and the Limits of Subjectivity, Chicago: University of Chicago Press 2001, S. 53-77. 02 Sybilla Flügge: »Geheimnisse der Frauenzimmer. Das Wissen der Hebammen in der Frühen Neuzeit«, in: Gisela Engel, Brita Rang, Klaus Reichert, Heide Wunder (Hg.): Das Geheimnis am Beginn der europäischen Moderne, Frankfurt/Main: Klostermann 2002, S. 454-465; vgl. auch Barbara Duden: Geschichte unter der Haut. Ein Eisenacher Arzt und seine Patientinnen um 1730, Stuttgart: Klett-Cotta 1987.

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›entdeckten‹ und zu unterwerfenden Länder als jungfräuliches Territorium3 und Sigmund Freud beschrieb die Psyche der Frau als »Rätsel« und ihr Geschlechtsleben als »Dark Continent«.4 Das Verhältnis der Medien zum Geheimen und Verdeckten ist etwas anders gelagert. Im Unterschied zum weiblichen Körper fungieren Medien – jedenfalls in unserem Alltagsverständnis – nicht als Verkörperungen des Geheimen. Vielmehr besteht ihr ›Geheimnis‹ darin, dass sie ihre eigene Medialität verschleiern. Das Medium als Medium bleibt gegenüber dem Inhalt, den es transportiert, unsichtbar und verbreitet auf diese Weise seine ›geheime‹, im Medium selbst liegende Botschaft umso effektiver.5 »Medien wirken wie Fensterscheiben«, so die Medienphilosophin Sybille Krämer, »sie werden ihrer Aufgabe umso besser gerecht, je durchsichtiger sie bleiben, je unauffälliger sie unterhalb der Schwelle unserer Aufmerksamkeit verharren.«6 Marshall McLuhan, der diese Eigenart der Medien in seinem Buch Die magischen Kanäle ausführlich behandelt hat, schreibt: »Denn die ›Botschaft‹ jedes Mediums oder jeder Technik ist die Veränderung des Maßstabs, Tempos oder Schemas, die es der Situation des Menschen bringt. […] Der Inhalt oder die Verwendungsmöglichkeiten solcher Medien sind so verschiedenartig, wie sie wirkungslos bei der Gestaltung menschlicher Gemeinschaftsformen sind. Ja, es ist nur zu bezeichnend, wie der ›Inhalt‹ jedes Mediums der Wesensart des Mediums gegenüber blind macht.«7 Beim Gebrauch eines Mediums machen wir uns höchst selten – meist nur dann, wenn wir den Umgang mit ihm erlernen oder wenn es nicht funktioniert – die sinnstiftende Aktivität des Mediums bewusst. »Wir hören nicht Luftschwingungen, sondern den Klang der Glocke; wir lesen nicht Buchstaben, sondern eine Geschichte, wir tauschen im Gespräch nicht Laute aus, sondern

03 Vgl. Louis Montrose: »The Work of Gender in the Discourse of Discovery«, in: Representations 33 (1991), S. 1-41. 04 Sigmund Freud: »Die Weiblichkeit«, in: ders.: Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, Frankfurt/Main: Fischer 1986, S. 91-110; und ders.: »Die Frage der Laienanalyse«, (1926), in: ders.: Darstellungen der Psychoanalyse, Frankfurt/Main: Fischer 1979, S. 139-220, hier S. 169. 05 Vgl. Marshall McLuhan: Die magischen Kanäle = Understanding media, Übers. Meinrad Amann, Dresden [u.a.]: Verlag der Kunst 1995; Vilém Flusser: Ins Universum der technischen Bilder, hrsg. von Andreas MüllerPohle, Göttingen: European Photography 1989. 06 Sybille Krämer: »Das Medium als Spur und als Apparat«, in: dies. (Hg.): Medien, Computer, Realität. Wirklichkeitsvorstellungen und Neue Medien, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2000, S. 73-94, hier S. 74. 07 McLuhan, Die magischen Kanäle, S. 22f.

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Meinungen und Überzeugungen, und der Kinofilm läßt gewöhnlich die Projektionsfläche vergessen.«8 Um ein Beispiel zu geben: Als die Photographie in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts erfunden wurde, glaubte man, ein Medium geschaffen zu haben, mit dem die Natur sich ohne Zutun des Menschen selbst als Bild aufzeichnen könne. »Pencil of nature« hat Henry Fox Talbot, der Erfinder des Negativ/Positiv-Verfahrens, die Photographie genannt. Bilder, die scheinbar »von der Sonne erzeugt« wurden, und die auch dann noch existierten, wenn die ›Natur‹, die auf ihnen abgebildet war, längst verschwunden war.9 Heute wissen wir, dass die Photographie die Wahrnehmung der Welt entscheidend geprägt (und verändert) hat. Ein Bild von der Welt herzustellen, heißt, immer auch einen Realitätsausschnitt auszuwählen, ein Motiv zu inszenieren und zu konstruieren. »Indem sie uns neue visuelle Kodes gelehrt hat, hat die Photographie unsere Vorstellung dessen, was es wert ist, betrachtet zu werden, sowohl verändert als auch vergrößert«10, schrieb Susan Sontag in On Photography. Unter dem Einfluss der Photographie wurde die Welt zum Sammlerobjekt eines distanzierten Betrachters, der sich selbst unsichtbar wähnte, denn die Photokamera suggeriert, das Bild sei ohne das subjektive Zutun des Betrachters zustande gekommen. Weil der Wahrheitsanspruch sich ›in Wahrheit‹ nicht einlösen ließ (und lässt), habe sich die Aufmerksamkeit der Photographie – so Sontag – auf die Herstellung von Schönheit konzentriert. Im photographischen Bild werde die hässliche Realität in Objekte verwandelt, die zum ästhetischen Genuss dargeboten werden. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts entdeckt die Photographie die Schönheit der Armut, des Schmerzes und der Krankheit.11 Die Geschlechterforschung hat diesen Blick als männlich-voyeuristisch beschrieben. Es ist ein Blick, der sein Objekt als weiblich imaginiert (unabhängig davon, ob dieses tatsächlich weiblichen Geschlechts ist), der es abtastet und penetriert, ohne selbst gesehen zu werden. In diesem Sinne erzeugt die Photographie die Vorstellung eines autonomen Subjekts, das eine gottähnliche Position gegenüber der Welt einnimmt.12 Diese Omnipotenz des Betrachters resultiert auch aus der Fähigkeit der Photographie, die Zeit still zu stellen, das Gegenüber symbolisch zu töten und damit nicht nur 08 Krämer, Das Medium als Spur, S. 74. 09 Henry William Fox Talbot: The Pencil of Nature, 1844-1846 (reprint with a new introduction by Beaumont Newhall), New York: Da Capo 1969; vgl. Bernd Busch: Belichtete Welt. Eine Wahrnehmungsgeschichte der Fotografie, Frankfurt/Main: Fischer-Taschenbuch 1997, S. 188-194. 10 Susan Sontag: On Photography, Harmondsworth: Penguin 1979, S. 3. 11 Sontag, On Photography, S. 101-105. 12 Dazu John Berger: Ways of Seeing, Harmonsworth: Penguin 1972.

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die Gewissheit zu erlangen, selbst (noch) am Leben zu sein, sondern sich auch in der Position des Herrn über Leben und Tod zu imaginieren. In Die helle Kammer schreibt Roland Barthes über das Photographiertwerden: »[W]enn ich mich auf diesem […] Gebilde erblicke, so sehe ich, daß ich ganz und gar Bild geworden bin, das heißt der Tod in Person; die anderen – der ANDERE – entäußern mich meines Selbst, machen mich blindwütig zum Objekt, halten mich in ihrer Gewalt, verfügbar, eingereiht in eine Kartei, präpariert für jede Form von subtilem Schwindel.«13 All dies lässt sich nicht aus dem Inhalt eines Bildes entnehmen, sondern nur aus der Analyse der unsichtbaren Wahrnehmungsmuster, die das Medium erzeugt und verkörpert. Für Vilém Flusser leitet sich daraus folgendes Forschungsprogramm ab: »Vom sogenannten ›gesunden Menschenverstand‹ aus gesehen, sind die technischen Bilder objektive Abbilder von etwas dort draußen. Die Aufgabe der Kritik ist, zu zeigen, daß sie dem gesunden Menschenverstand zum Trotz nicht Spiegel, sondern Projektionen sind, deren Programm es ist, dem gesunden Menschenverstand einen Spiegelcharakter vorzuspiegeln. […] Nicht das im technischen Bild gezeigte, sondern das technische Bild selbst ist die Botschaft. Und es ist eine sinngebende, imperative Botschaft.«14 Marshall McLuhan, der die Eigenart der Medien, ihre eigene Aktivität zu verschleiern, mit der einprägsamen Formel »Das Medium ist die Botschaft« beschrieb, ging davon aus, dass Medien die menschlichen Sinne betäubten, weshalb es dem Menschen unmöglich sei, die geheime Botschaft des Mediums zu erkennen.15 Auch Susan Sontag hat die Wirkung der Photographie mit der Narkose verglichen, weil sie gegenüber dem Schmerz der anderen – derjenigen, deren Leiden wir auf dem Photo betrachten – unempfindlich mache.16 Dass Medien ihre Botschaft geheim halten, ist die eine Seite. Auf der anderen Seite erzeugten gerade die Bildmedien seit der Renaissance einen regelrechten Hunger nach dem Geheimen, Verdeckten und Verborgenen. Dieser schlug sich zum einen in der Erfindung von Instrumenten wie Teleskop und Mikroskop nieder, mit deren Hilfe man die von Francis Bacon in seiner Wissenschafts-Utopie Nova Atlantis formulierte Aufgabe der Wissenschaft in Angriff nehmen konnte, nämlich: »[…] die Ursachen des Naturgeschehens zu ergründen, die geheimen Bewegungen

13 Roland Barthes: Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, Übers. Dietrich Leube, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1989, S. 23. 14 Flusser, Ins Universum der technischen Bilder, S. 54f. 15 McLuhan, Die magischen Kanäle, S. 73-83. 16 Sontag, On Photography, S. 20.

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in den Dingen und die inneren Kräfte der Natur zu erforschen.«17 Zum Zweiten schlägt sich der Hunger nach dem Geheimen auch auf der symbolischen Ebene nieder. Mit der Erfindung bzw. Verbesserung der Zentralperspektive verwandelt sich die Bildoberfläche in ein imaginäres Hymen, das der Blick des betrachtenden Subjekts immer wieder aufs Neue deflorieren kann.18 Das Medium erzeugt und befriedigt mithin eine männlich kodierte Subjektposition, deren Definitionsmacht auf der phantasmatischen ›Entdeckung‹ eines als weiblich kodierten Verborgenen beruht. Bis heute sehen Naturwissenschaftler im Bild des entschleierten weiblichen Körpers ein Sinnbild für wissenschaftlichen Fortschritt und Entdeckerdrang. So schreibt der Molekularbiologe und Nobelpreisträger François Jacob in seiner Geschichte der Molekularbiologie Die Maus, die Fliege und der Mensch: »Beim Besuch eines Museums nimmt man in der Malerei eine Reihe sukzessiver Anstrengungen wahr, die an die der Wissenschaft erinnern. […] Es gibt geradezu einen Bruch zwischen einer Madonna von Cimabue, die vor einer symbolischen Landschaft in ihren Schleiern erstarrt ist, und einer Frau von Tizian, die frei und nackt auf ihrem Bett liegt.«19 Under Cover verweist schließlich auf das mediale Unbewusste, das die Medien zugleich erzeugen und zugänglich machen. Um dies zu verstehen, ist es nützlich, (in aller Kürze) die Frage zu stellen: »Was ist ein Medium?« Die Beantwortung dieser scheinbar einfachen Frage fällt schwer, denn ihr liegt immer schon ein bestimmtes Erkenntnisinteresse zugrunde. Liegt dieses Interesse darin, die materialen Bedingungen der Kommunikation zu verstehen, wird das Medium vor allem von seiner physikalischen Beschaffenheit her definiert.20 Will man die Geschichte der Medientechnologien im Bezug auf den Körper verstehen, kann man mit McLuhan Medien als instrumentelle »Ausweitungen des Menschen« beschreiben oder etwa im Anschluss an Marie-Luise Angerer als »psychotechnische Matrix«21 und Produktionsraum eines imaginären Körperbildes. Geht es darum, das Verhältnis von symbolischer Ordnung und medialen Rahmenbedingungen zu verstehen, wird man ein Medium als »symbolische Form« (Cassirer, Panofsky) begreifen. Nimmt man sich, 17 Francis Bacon: Neu-Atlantis, Übers. Günther Bugge, durchgesehen u. hrsg. von Jürgen Klein, Stuttgart: Reclam 1997, S. 43. 18 Vgl. Kapitel VI. 19 François Jacob: Die Maus, die Fliege und der Mensch, München: dtv 2000, S. 167. 20 Vertreter dieser Richtung sind u.a. Friedrich A. Kittler, Geert Lovink, Wolfgang Ernst. 21 Marie-Luise Angerer: Body Options. Körper, Spuren, Medien, Bilder, Wien: Turia und Kant 1999, S. 13.

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daran anschließend, vor, eine Anthropologie der Medien zu schreiben, erscheinen diese als unhintergehbare Voraussetzungen des Menschseins und als Zeugen einer »Medialität des Menschen«22. Die Frage, »Was ist ein Medium?«, provoziert also immer die Gegenfrage: »Für wen, zu welchem Zweck?« Nicht wenige kulturgeschichtlich oder interdisziplinär orientierte Medienwissenschaftler plädieren deshalb inzwischen für einen offenen, ›undefinierten‹ Medienbegriff, der die unterschiedlichen Kontexte der Mediennutzung, die verschiedenen Funktionen von Medien sowie deren Eigenart, ihre Medialität zu verschleiern, ernst nimmt.23 Der Medienwissenschaftler Siegfried Zielinski hat Medien mit dem Bewusstsein verglichen, dessen ›Natur‹ uns beim Denken nicht notwendigerweise bewusst werden muss. »Mit den Medien verhält es sich ähnlich, wie [Otto E.] Roessler es als Endo-Physiker für das Bewusstsein festhält. Wir schwimmen darin wie der Fisch im Ozean, benötigen es unabdingbar, und gerade deshalb ist es uns im Grunde nicht zugänglich. Wir können lediglich Schnitte darin erzeugen, um einen operationalen Zugang zu ihm zu gewinnen.«24 In diesem Sinne sollen Medien hier als Möglichkeitsbedingungen für das Denken und Fühlen verstanden werden. Daraus folgen, so Hans-Ulrich Reck und Wolfgang Müller-Funk, zwei theoretische Voraussetzungen für die Beschreibung der Beziehung zwischen Medium und psychischer Disposition des Subjekts: »Zum einen gilt es, mediale Maschinerien als Spiegelungen von Bedürfnissen, Antrieben und Phantasmen einer Menschheit zu verstehen, die nicht zuletzt in Gestalt der techné praktische Anthropologie betreibt, zum anderen aber ist danach zu fragen, wie diese mediale techné die Befindlichkeit des Menschen verändert, variiert und modifiziert, die sich nicht einfach statisch zwischen Mensch und Welt stellt, sondern indem sie letztere erst in der uns heute geläufigen Form konstituiert, auch jene Momente des Inszenatorischen und Imaginären ins Blickfeld rückt.«25

22 Wolfgang Müller-Funk: »Ouvertüren zu einer Philosophie der Medialität des Menschen«, in: ders., Hans Ulrich Reck (Hg.): Inszenierte Imagination. Beiträge zu einer historischen Anthropologie der Medien, Wien/New York: Springer 1996, S. 63-86; vgl. Hans Belting: Bild-Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft, München: dtv 2001. 23 So kommt etwa die von Manfred Faßler und Wulf Halbach herausgegebene Geschichte der Medien ohne eine spezifische Definition des Begriffs Medium aus. 24 Siegfried Zielinski: Archäologie der Medien. Zur Tiefenzeit des technischen Hörens und Sehens, Reinbek: Rowohlt 2002, S. 47. 25 Müller-Funk/Reck, Inszenierte Imagination, S. 1

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Wo Bewusstsein herrscht, existiert auch ein Unbewusstes. Man kann sagen, dass die Medien ein kulturell gewordenes und historisch veränderliches mediales Unbewusstes zugleich erzeugen und bewahren. So wie es die Aufgabe der Psychoanalyse ist, das individuelle, triebhafte Unbewusste dem Bewusstsein zugänglich zu machen, so ist es die Aufgabe der Medienwissenschaft, das mediale Unbewusste einer wissenschaftlichen Analyse zuzuführen. Dies geht freilich nur im Rückblick, als Geschichte der Medien, zu der die folgenden Kapitel einen Beitrag leisten möchten. Dabei können natürlich nicht alle Medientypen zur Sprache kommen. Der Fokus auf dem Oberflächlichen und Scheinbaren, dem Geheimen und Verborgenen schließt sowohl Medien aus, die in erster Linie das Gehör betreffen (Radio, Telefon, Grammophon), als auch solche der Bewegung (Eisenbahn, Auto, Flugzeug). Die Medien, die hier zur Debatte stehen, sind zum einen die Bildmedien Zentralperspektive, Photographie, Computerbildschirme sowie die Zeichensysteme Alphabet und Geld. Obwohl sich das Alphabet auf den ersten Blick nicht in diese Ordnung einfügen will, kommt ihm als ›Mutter‹ der optischen Medien eine Schlüsselrolle für deren Analyse zu. Der Medientheoretiker Vilém Flusser hat nicht ohne Grund die technischen Bilder als ›geschriebene‹ Bilder bezeichnet: »Die Bilder unserer Geschichte sind von Texten infiziert, sie illustrieren Texte, und die Imagination unserer Bildermacher ist vom begrifflichen Denken infiziert.«26 Das Thema dieses Buches sind die Beziehungen zwischen Medium und Geschlechterordnung. Diese werden in den kommenden Kapiteln aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet. Folgende Fragen sind dafür grundlegend: In welcher Weise agieren Medien als ›Botschafter‹ oder besser: als ›Geheimagenten‹ der Geschlechterordnung? Welche Beziehungen bestehen zwischen medial erzeugten Oberflächen und der Materialität des Geschlechtskörpers? Wie wirkt sich das Geschlecht ›in‹ den Medien auf die Wahrnehmung des Geschlechtskörpers aus? Under Cover untersucht die körperlichen Ursprünge verschiedener Reproduktionsmedien, die metaphorische Aneignung (und Verwandlung) einzelner, geschlechtlich kodierter Teile des Körpers durch diese Medien sowie die Rückwirkungen, die diese Aneignung auf die Wahrnehmung des jeweiligen Körperteils ausübt. Exemplarisch und ausschnitthaft soll dieser Aneignungsprozess am Beispiel der wichtigsten unter den so genannten Reproduktionsmedien untersucht werden – Alphabet, Geld, Zentralperspektive, Photographie und Computer – sowie an einigen der kulturgeschichtlich und kulturtheoretisch produktivsten Geschlechtsorganen: der Vor-

26 Flusser, Ins Universum der technischen Bilder, S. 18.

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haut des Penis, der Klitoris, des Hymens und des Uterus. Dem Buch liegt die Annahme zugrunde, dass man den Einfluss, den die Medien auf unsere Vorstellungen über den Geschlechtskörper und seine Fortpflanzungsfähigkeit ausüben, um so besser verstehen kann, wenn man die körperlichen Ursprünge dieser Medien kennt; Ursprünge, denen man durch die Analyse des medialen Unbewussten der abendländischen Kulturgeschichte auf die Spur kommt und die Aufschluss darüber geben, weshalb – um eine These der Medienwissenschaftlerin Irmela Schneider aufzugreifen – »mit dem Eintreten eines neuen Mediums in die Mediengeschichte jeweils auch Rang und Rolle des Körpers verändert worden ist«.27 Das mag zunächst wie eine Fortführung von Marshall McLuhans These klingen, alle Medien seien Ausweitungen der Sinne und des Körpers. Nach McLuhan verursachte das Alphabet eine Ausdehnung des Sehsinns auf Kosten der anderen Sinne: »Als eine Intensivierung und Ausweitung der Funktion des Visuellen läßt das phonetische Alphabet die anderen Sinne, den Gehörsinn, den Tastsinn und den Geschmackssinn, in jeder alphabetischen Gesellschaft an Bedeutung verlieren.«28 Während die Elektrizität, um ein anderes Beispiel zu zitieren, eine Ausweitung des Zentralnervensystems darstellte: »Mit dem Aufkommen der Elektrotechnik schuf der Mensch ein naturgetreues Modell seines eigenen Zentralnervensystems, das er erweiterte und nach außen verlegte.«29 In gewisser Weise verdeckt diese These jedoch mehr als sie erhellt. Denn McLuhan interessierte sich in Die magischen Kanäle nicht für die Art und Weise, in der die jeweiligen Organe und Sinne im Medium präsent sind, noch wie man sich den Vorgang der Ausweitung, den er auch als »Selbstamputation« beschrieb, vorzustellen habe. Die These ist denn auch unter Medienwissenschaftlern auf Kritik gestoßen. »Technik ist nicht menschlich«, bemängelt Siegfried Zielinski, »sie ist in einem spezifischen Sinn sogar unmenschlich. Als beste, funktionierende Apparatur ist sie nur in Opposition zum traditionellen Bild vom Humanen und Lebendigen zu schaffen und nicht in seiner Verlängerung oder Ausdehnung. Alle bedeutenden technischen Basiserfindungen, das Räder- und Uhrwerk, die schnelle Rotation in der Mechanik, über die stabilen Tragflächen in der Aeronautik bis hin zu den digitalen Rechenmaschinen in 27 Irmela Schneider: »Anthropologische Kränkungen. Zum Zusammenhang von Medialität und Körperlichkeit in Mediendiskursen«, in: Barbara Becker, Irmela Schneider (Hg.): Was vom Körper übrigbleibt. Körper – Identität – Medien. Frankfurt/M.: Campus, S. 13-40, hier S. 23. 28 McLuhan, Magische Kanäle, S. 13. 29 McLuhan, Magische Kanäle, S. 76.

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der Elektronik sind als Entwürfe in Spannung zum trägen Organischen und dem, was dem Menschen möglich ist, entwickelt worden.«30 Obgleich McLuhan immer wieder auf den menschlichen Körper zurückkommt, um das Wesen und die Wirkungen der Medien zu beschreiben, bleiben diese für ihn doch ganz und gar ursprungslos und unkörperlich. So hielt er das phonetische Alphabet für ein System, »bei dem bedeutungsfreie Buchstaben als Entsprechungen von bedeutungsfreien Lauten verwendet werden«.31 Umgekehrt jedoch könne der Mensch sich nicht aus der Herrschaft seiner medialen Ausweitungen befreien: Er werde zum Gefangenen der medialen Techniken: »Indem wir fortlaufend neue Techniken übernehmen, machen wir uns zu ihren Servomechanismen.«32 Eine These, die wenig später in der Bemerkung gipfelt: »Der Mensch wird sozusagen zum Geschlechtsteil der Maschinenwelt, wie es die Biene für die Pflanzenwelt ist, die es ihnen möglich macht, sich zu befruchten und immer neue Formen zu entfalten.«33 Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass die medialen Techniken über kein eigenes ›Geschlechtsteil‹ verfügen. (»Die Welt der Maschine erwidert den Liebesbeweis des Menschen, indem sie seine Wünsche und sein Begehren schnell erfüllt, ihm nämlich Reichtum verschafft.«34) Ich werde in diesem Buch die entgegengesetzte These vertreten. Vieles, wenn nicht alles scheint darauf hinzudeuten: Die Medien sind ein Geschlechtsorgan des Menschen. Dies zeigt sich u.a. in der Affinität der Medien, sich kulturell hoch besetzte Körperoberflächen, wie etwa die Vorhaut oder das Hymen, symbolisch anzueignen.35 An ausgewählten Beispielen, die sich auf verschiedene Medien und Körperteile sowie unterschiedliche historische Epochen beziehen, diskutieren die einzelnen Kapitel, wie kulturelle Vorstellungen von Fruchtbarkeit und Geschlecht – die in jeder Kultur und jeder Epoche konstruiert sind – in Medien ›wandern‹ und von dort aus auf die kulturelle Kodie-

30 Zielinski, Archäologie, S. 15f.; vgl. auch Krämer, Medium als Spur, S. 74ff. 31 McLuhan, Magische Kanäle, S. 132. 32 McLuhan, Magische Kanäle, S. 81. 33 McLuhan, Magische Kanäle. Fortgeführt und radikalisiert wird dieser Ansatz in der Forschung zu den digitalen Medien, etwa von Friedrich Kittler und Norbert Bolz. In der Einleitung zu dem von ihnen herausgegebenen Sammelband Computer als Medium schreibt Bolz: »Der Mensch ist nicht mehr Werkzeugbenutzer, sondern Schaltmoment im Medienverbund.« Norbert Bolz, Friedrich A. Kittler, Christoph Tholen (Hg.): Computer als Medium, München: Fink 1994, S. 13. 34 McLuhan, Magische Kanäle. 35 Vgl. dazu Kapitel II und VI.

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rung des Körpers zurückwirken. Manchmal verliert ein Körperteil durch diese Übertragung seine symbolische Bedeutung für den ›biologischen‹ Körper (Hymen, Kap. VI), manchmal entsteht diese erst durch die Übertragung ins Medium (Klitoris, Kap. III und IV). Bisweilen – wie im Falle der griechisch-christlichen Verehrung der Vorhaut (Kap. II) – geschieht die Übertragung als ›Antwort‹ auf die symbolische Ordnung eines anderen Mediums (hebräisches Alphabet) und manchmal entsteht eine Konkurrenzsituation zwischen Medium (Geld, digitale Medien) und männlichem Körper, die einerseits zu Omnipotenzphantasien führen kann (Kap. V) und die andererseits destruktive Wünsche auslöst, das Medium und/oder die Gemeinschaften, die es hervorgebracht haben, zu vernichten (Kap. II). Das letzte Kapitel widmet sich der Ausgrenzung des Mütterlichen aus der Sphäre des kulturellen Austauschs. Diese Ausgrenzung, die eine Entsexualisierung besagt, basiert auf der symbolischen Reproduktion des mütterlichen Körpers und bildet die Voraussetzung, das Inzesttabu (die symbolische Grundlage der abendländischen Kultur) überhaupt zu denken. Die in diesem Buch vorgeschlagenen Beziehungen zwischen Medium und Körper basieren auf der Annahme, dass Menschen mit Hilfe von Medien zu Menschen werden und in die Geschlechterordnung eintreten. Medien – so formuliert die Medienphilosophin Sybille Krämer im Anschluss an Cassirer – bilden »sich zu symbolischen Schemata mit aisthetischen, epistemologischen und ontologischen Implikationen aus und [prägen] damit das Selbst- und Weltverhältnis einer Epoche«.36 Nicht nur ist das Medium also die Botschaft, sondern die medialen Techniken erzeugen und zirkulieren Lüste, Erfahrungen und Phantasmen, die aktiv vom Menschen angeeignet und inszeniert werden (müssen). Nicht nur sind kulturelle und mediale Ordnungen auf das Engste verschränkt, aufgrund ihrer symbolischen ›Natur‹ sind sie auch bis zu einem gewissen Grade unbewusst bzw. unsichtbar und ›nur‹ an ihren Symptomen entzifferbar. Wie aber entziffert man kulturelle und mediale Symptome? Es ist u.a. das Verdienst der Kulturpoetik – im deutschsprachigen Raum besser bekannt unter dem etwas irreführenden Namen New Historicism –, die Vorteile einer symptomatischen Lektüre für die Kunst-, Literatur- und Kulturwissenschaft aufgezeigt zu haben. Die Kulturpoetik ist daran interessiert, die Zirkulation symbolischer Ordnungen und Denkmuster innerhalb einer Kultur oder einer historischen Epoche an ihren

36 Krämer (Hg.), Medien Computer Realität, S. 27.

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EINLEITUNG

Praktiken und Diskursen aufzuspüren.37 Die Kulturpoetik, die der Kultursemiotik und der Dekonstruktion verpflichtet ist, betrachtet Kulturen als Kreislaufsysteme, die symbolisches Material zirkulieren, transformieren und seine Verkörperung in Körper- und Sexualpraktiken, Wissensordnungen, Begehrensstrukturen etc. regulieren.38 Symptomatisch ist die von der Kulturpoetik inspirierte Interpretation insofern, als die kulturelle ›Poetik‹ – man könnte auch sagen, die kulturelle Grammatik –, die in den überlieferten Zeugnissen einer Epoche von heute aus erkennbar wird, denjenigen, die sie hinterlassen haben, in der Regel nicht bewusst war. Stephen Greenblatt und Catherine Gallagher, zwei der produktivsten Gründungsfiguren der Kulturpoetik, beschreiben deren Ziel in einer neueren Publikation folgendermaßen: »Klärung oder Paraphrasierung sind nicht gut genug; wir suchen nach mehr, nach etwas, das die Autoren, denen wir uns widmen, aufgrund mangelnder Distanz zu sich selbst und der Kultur, in der sie lebten, nicht bewusst gewesen sein kann.«39 Auf diese unbewusste Ebene bezieht sich auch die von der Kultursemiotik entwickelte These, Kulturen seien Texte. In den Worten des Zeichentheoretikers Umberto Eco: »Die ganze Kultur erscheint […] als ein System von Zeichensystemen, bei dem das Signifikat eines Signifikanten wiederum zu Signifikanten eines weiteren Signifikats oder sogar zum Signifikanten des eigenen Signifikats wird – unabhängig, ob es sich hier um Wörter, Gegenstände, Ideen, Werte, Gefühle, Gesten oder Verhaltensweisen handelt. Die Semiotik wird somit zur wissenschaftlichen Form der Kulturanthropologie.«40

Weil es der Kulturpoetik um symbolische Bedeutungssysteme geht, ist es selbstverständlich möglich, auch Bilder als Symptome einer kulturellen Grammatik zu interpretieren, ohne diese deshalb mit geschriebenen Texten gleichzusetzen. Ein entscheidender Nutzen der Kulturpoetik besteht in der transdisziplinären Ausrichtung, d.h. in dem Anspruch, Querverbindungen zwischen scheinbar unzusammenhängenden Diskursen sichtbar zu machen, 37 Grundlegend Stephen Jay Greenblatt: Verhandlungen mit Shakespeare: Innenansichten der englischen Renaissance, Übers. Robin Cackett Stephen, Frankfurt/Main: Fischer-Taschenbuch 1993. 38 Bettina Mathes: Verhandlungen mit Faust. Geschlechterverhältnisse in der Kultur der Frühen Neuzeit, Königstein: Helmer 2001. 39 Catherine Gallagher, Stephen Jay Greenblatt: Practicing New Historicism, Chicago: University of Chicago Press 2000, S. 8, meine Übersetzung. 40 Umberto Eco: Zeichen. Einführung in einen Begriff und seine Geschichte, Übers. Günter Memmert, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1974, S. 185f.

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indem man die Verwandlungen eines Begriffs, eines Motivs, einer sozialen Praktik über verschiedene Diskurse und historische Epochen hinweg verfolgt. Am Zusammenlesen individueller, auf den ersten Blick nicht ›verwandter‹ Überlieferungen – diese können Kunstwerke sein, wissenschaftliche Abhandlungen, Briefe, Mode, Kochrezepte, Trauerreden – werden in der Analyse kollektive Bedeutungsmuster sichtbar. Nach Stephen Greenblatt sind die überlieferten Spuren Produkte symbolischer Tauschgeschäfte und diskursiver Aneignungen: »Die Textspuren, die uns […] überliefert sind […], sind das Ergebnis ausgedehnter Entlehnungen, kollektiver Tauschprozesse und wechselseitiger Begeisterungen. Sie sind durch die Verschiebung bestimmter Dinge – vor allem der normalen Sprache, aber auch von Metaphern, Zeremonien, Tänzen, Emblemen, Kleidungsstücken, abgegriffenen Geschichten und so weiter – aus einer kulturell abgegrenzten Zone in eine andere entstanden. Es geht nicht nur darum, den Aufbau dieser Zonen zu verstehen, sondern auch die grenzüberschreitende Bewegung zwischen ihnen.«41

Die ›Zonen‹, um deren Austausch es in dieser Studie gehen soll, sind der physische, sterbliche und geschlechtlich sowie sexuell markierte menschliche Körper und der ebenfalls geschlechtlich und sexuell aufgeladene symbolische ›Körper‹ der Medien. Man kann sagen, die symbolische Präsenz der Sexualität, des Geschlechts und des Körpers in den Medien, um die es hier geht, manifestiert sich als Metapher, insofern diese eine Figur der ›Ähnlichkeit in Abwesenheit‹ darstellt. Wörtlich heißt Metapher (griechisch metapherein) hinübertragen und besagt damit Verschiebung, Ersetzung oder Aneignung. Dieses Hinübertragen kann zum einen die Abwesenheit der ersetzten oder angeeigneten Sache besagen – das trockene Wasser im Internet (vgl. Kap. I) ersetzt das nasse Element – und zum anderen die Unmöglichkeit, diese ›Sache‹ direkt zu benennen – wie soll man Reproduktion un-metaphorisch beschreiben? In der Metapherntheorie ist darauf hingewiesen worden, dass der Körper das ursprüngliche Reservoir der Metapher bilde, dass die Metapher, die in der Rhetorik auch als figürliche Rede beschrieben wird, sich vom Körper ableite, ihn in seiner Abwesenheit – wie Paul Ricoeur schreibt – zu vergegenwärtigen suche. »Der Ausdruck ›Redefigur‹ impliziert, dass bei der Metapher, wie bei anderen Tropen oder Wendungen, der Diskurs sich die Natur des Körpers aneignet, in-

41 Greenblatt, Verhandlungen, S. 17.

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dem er Formen und Eigenschaften zur Schau stellt, die normalerweise das menschliche Gesicht, die menschliche Figur kennzeichnen; beinahe scheint es, als ob die Tropen dem Diskurs eine körpergleiche Ausweitung ermöglichen würden. Indem sie die Botschaft mit einer Form von Figürlichkeit ausstatten, bringen die Tropen den Diskurs zur Erscheinung.«42

Auch der Rhetoriker Heinrich Lausberg weist im Handbuch der literarischen Rhetorik darauf hin, dass der Begriff ›Redefigur‹, der in der antiken Rhetorik geprägt wurde, dem Bereich der Körperhaltung entnommen ist: »[…] die figura [ist] die von der Ruhelage abweichende Körperhaltung des Menschen oder der Statue: die abweichende Körperhaltung ist eine Lebensäußerung und drückt Affekte aus.«43 Aufgrund ihrer Sinnlichkeit erweckt die Metapher den Eindruck des Unvermittelten und Unwillkürlichen, scheint sich dem Verstehen ohne anstrengende verstandesmäßige Reflexion zu erschließen. Die Ableitung vom Körper und die scheinbare Unmittelbarkeit teilt die Metapher mit dem Medium. In der Tat machen Medien Metaphern möglich, ist die Metapher auf das Medium angewiesen. Weil das so ist, sagen Metaphern, die die Wirkung von Medien beschreiben, stets auch etwas über die ›Herkunft‹ und die ›Natur‹ des Mediums aus, bringen indirekt das ins Spiel, wovon das Medium den Blick abgewendet hat. Die Unvermeidlichkeit der Metapher sowie die Unzugänglichkeit dessen, was übertragen wurde, fordern nun dazu auf, den Vorgang des Übertragens, der Ersetzung und der Verschleierung selbst in den Blick zu nehmen. Wie Gallagher und Greenblatt in ihrer jüngsten Schrift betont haben, bedeutet Kulturpoetik zu betreiben nicht, sich einer fest umrissenen oder genau definierten Methode zu bedienen. Vielmehr beschreiben sie die Kulturpoetik als eine »Geschichte der Möglichkeiten«44, die Unsichtbares sichtbar macht, Undenkbares zu denken wagt und Verbindungen zwischen scheinbar Unverbundenem aufzeigt. Eine solche »Geschichte der Möglichkeiten« geht von der Annahme aus, dass historische Kontexte, wie wir sie heute wahrnehmen, keine historischen Gegebenheiten sind, sondern kulturelle Konstrukte, die oft genug erst im Nachhinein definiert wurden. Eben diese in den Begriff des Kontextes eingeschriebene Sinnproduktion hat den Literaturtheoretiker Jonathan Culler in Framing the 42 Paul Ricoeur: »The Metaphorical Process as Cognition, Imagination, and Feeling«, in: Sheldon Sacks (Hg.): On Metaphor, Chicago: University of Chicago Press 1979, S. 141-157, hier S. 142; meine Übersetzung. 43 Heinrich Lausberg (Hg.): Handbuch der literarischen Rhetorik: eine Grundlegung der Literaturwissenschaft, Stuttgart: Steiner 1990, S. 308. 44 Gallagher/Greenblatt, New Historicism, S. 16.

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Sign dazu veranlasst, anstatt von Kontext eher von Rahmung (framing) zu sprechen, um auf diese Weise die ›Arbeit‹ der Kontextualisierung hervorzuheben. »Der Kontext unterscheidet sich nicht grundlegend von dem, was er kontextualisiert; Kontext ist nicht gegeben, sondern wird hergestellt. Was zu einem Kontext gehört, wird von Interpretationsstrategien bestimmt. Kontexte müssen genauso erforscht werden wie historische Ereignisse.«45

»In jedem Falle,« so pflichtet Moritz Baßler ihm bei, »muß man sich bewußt sein, daß der eigene Text die historische Verknüpfung nicht bloß dar-, sondern herstellt. Einen neohistorischen Text schreiben, heißt deshalb: Sinn machen.«46 Das bedeutet nicht unbedingt, auf die Darstellung historischer Entwicklungen zu verzichten; wohl aber heißt es, sich der Tatsache bewusst zu sein, dass ›Sinn‹ und Bedeutung nicht notwendigerweise offen zu Tage liegen, sondern ›nur‹ in ihren Verschiebungen, Verdichtungen oder Metaphorisierungen zugänglich werden, die sich meist besser im historischen Rückblick erkennen lassen. Weil es aber niemals nur einen Sinn und nur eine Bedeutung gibt, impliziert jede historische Untersuchung eine Entscheidung darüber, welche Sinn- und Bedeutungsebenen ›lesbar‹ gemacht werden sollen. Die hier erzählte Geschichte der Medien ist davon keine Ausnahme. Sie aus der Perspektive der Möglichkeiten zu schreiben, kann zum einen heißen, mögliche Wirklichkeitsoptionen, die nicht zur Realität wurden, aufzuzeigen. Dieser Weg wird hier nicht bestritten. Die »Geschichte der Möglichkeiten«, die hier beschrieben werden soll, richtet sich vielmehr darauf, verdrängte Wahrnehmungsoptionen ins Bewusstsein zu heben. Das Wissen um den Körper des Zeichens, das Nachzeichnen seiner Spur in der Gestalt der Medien verhilft zu der Erkenntnis, dass das ›Spiel der Signifikanten‹ zwar potentiell unendlich sein kann, seine Bedeutung deswegen aber weder frei verfügbar ist noch subversiv sein muss. Und zwar nicht nur deshalb, weil die Bedeutungserzeugung durch normative Diskurse geregelt wird, die sich in und auf den Körper einschreiben oder vom Subjekt performativ angeeignet werden,47 sondern auch (und in erster Linie) deshalb, weil die Zeichen(systeme) selbst eine Geschichte be45 Jonathan Culler: Framing the Sign: Criticism and Its Institutions, Norman: University of Oklahoma Press 1988, S. XIV. 46 Moritz Baßler (Hg.): New Historicism. Literaturgeschichte als Poetik der Kultur, Frankfurt/Main: Fischer-Taschenbuch 1995, S. 18. 47 Judith Butler: Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts, Übers. Karin Wördemann, Berlin: Berlin-Verlag 1995.

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sitzen, die tief in ihre Struktur eingelagert ist. Zwar kann eine Kultur Techniken entwickeln, um diese Geschichte und diese Körper zu vergessen, die Geschichte aber – das jedenfalls belegt die in den folgenden Kapiteln aufgenommene Spur der Zeichen – vergisst weder die Kultur noch den Körper.

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DAS

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Dass der menschliche Körper lesbar sei wie ein Schriftstück, ist uns heute, im Zeitalter der Genetik, (scheinbar) in Fleisch und Blut übergegangen. Seit der Entdeckung der DNA wird die Erbinformation als Buchstabenfolge verstanden, die einen Text ergibt, den es zu lesen gilt. (Freilich fehlt bislang noch der Schlüssel, der das Verstehen des Textes erlaubt.) »Das menschliche Genom«, so Lily E. Kay in ihrer grundlegenden Studie zur Geschichte des genetischen Codes, »wird heute allgemein als Informationssystem oder genauer: als ›Buch des Lebens‹ betrachtet. In der Sprache der DNS bzw. dem DNS-Code geschrieben, kommt es darauf an, dieses ›Buch‹ zu lesen und zu redigieren.«1 Nicht im Wissenschaftsteil, sondern im Feuilleton veröffentlicht die Frankfurter Allgemeine Zeitung einen Auszug aus besagtem »Buch des Lebens«. Eine ganze Seite reserviert die Redaktion der Vorstellung des menschlichen Erbguts. »Die Elementarteilchen, aus denen jene Atome bestehen, die überhaupt die Moleküle schaffen, aus denen wiederum die DNS zusammengesetzt ist, sind nämlich ebenfalls Worte, die in einer Sprache mit zwölf Buchstaben beschrieben werden – den Lettern der Materie«, erklärt der Publizist Horst Rademacher ebenfalls in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, und fährt fort: »Das Buch des Lebens hat zwar dreiundzwanzig Kapitel und viele Sätze, besteht aber nur aus vier Buchstaben A, T, G und C. Willkürlich in drei Milliarden Paaren zusammengesetzt, enthalten diese vier Lettern alle Informationen, die den Menschen und dessen Erbanlagen ausmachen. Die Moleküle Adenin, Thymin, Guanin und Cytosin, die sich hinter den vier Buchstaben verbergen, könnten jedoch in der bekannten Form nicht existieren, gehorchten sie nicht den Regeln eines anderen, übergeordneten Alphabets.«2 01 Lily E. Kay: Who Wrote the Book of Life? A History of the Genetic Code, Stanford, Cal.: Stanford University Press 2000, S. 1; meine Übersetzung. 02 Zit. Sigrid Weigel: »Der Text der Genetik. Metaphorik als Symptom ungeklärter Probleme wissenschaftlicher Konzepte«, in: dies. (Hg.): Genealogie

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Abbildung 1: Auszug des menschlichen Genoms, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 27.6.2000 und Genetik. Schnittstellen zwischen Biologie und Kulturgeschichte, Berlin: Akademie Verlag 2002, S. 223-246, hier S. 224. Der Vergleich ist nicht ganz neu. Bereits Aristoteles hatte den männlichen Samen als Agenten der Logos beschrieben. Vgl. Nancy Tuana, »Der schwächere Samen. Androzentrismus in der Aristotelischen Zeugungstheorie und der Galenschen Anatomie«, in: Barbara Orland, Elvira Scheich (Hg.): Das Geschlecht der Natur. Feministische Beiträge zur Geschichte und Theorie der Naturwissenschaften, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1995, S. 203-223.

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Seine Wirkungsmacht verdanke dieses Alphabet der unbewussten Fähigkeit des Organismus, die Schrift des Lebens lesen und ihre Botschaften befolgen zu können. Die Aufgabe der Biologie sei es, so der Molekularbiologe Robert Sinsheimer im Jahre 1967, die Regeln der im genetischen Unbewussten ablaufenden Lektüreprozesse dem Bewusstsein zuzuführen. »In gewisser Weise – auf einer unterbewussten Ebene – wird jeder Mensch mit dem Wissen geboren, dieses Buch des Lebens in jeder Zelle seines Körpers zu lesen. Aber auf der Ebene des bewussten Wissens besteht einer der größten Triumphe der Biologie der letzten zwei Jahrzehnte darin, dass wir begonnen haben, den Inhalt dieses Buches und die Sprache, in der es geschrieben ist, zu verstehen.«3 Der Biologe als Psychoanalytiker? Die Vorstellung, die ›Natur‹ des Körpers sei ein lesbarer Text, wird ergänzt durch die (komplementäre) Annahme, die Schriftzeichen, aus denen das Alphabet besteht, seien körperlos. Schriftforscher beschreiben die Buchstaben des Alphabets aber nicht nur als vollkommen losgelöst von der Welt des Körpers, sie behaupten auch, die Buchstaben seien ohne jede intrinsische Bedeutung. So führt der Historiker Robert Bartlett die zentrale Rolle des Alphabets bei der Christianisierung Europas auf die Ursprungslosigkeit der einzelnen Zeichen zurück. »Das Alphabet [ist] der absolute Minimalcode, den es für die Repräsentation von Lauten überhaupt geben kann. Doch genau darin liegt seine Stärke. Weil die Komponenten dieses Systems aus sich heraus kaum Assoziationen oder Konnotationen hervorrufen, lassen sie sich zu einer unendlichen Vielfalt von Zwecken kombinieren. Ein chinesisches Schriftzeichen enthält ein großes Maß an kultureller Bedeutung; mit ihm sind bestimmte Laute und Begriffe assoziiert; das Schreiben und das Nachdenken darüber kann ein religiöses Exerzitium sein. Und es gibt Tausende dieser mächtigen Symbole. Im Gegensatz dazu besteht das Alphabet aus weniger als dreißig Buchstaben, von denen kein einziger intrinsische kulturelle Bedeutung hat.«4

Auch der französische Psychoanalytiker Jacques Lacan, in dessen Denken die Schriftsprache für die Konzeption des Unbewussten und des Subjekts eine grundlegende Rolle spielte,5 definierte die Buchstaben als be03 Zit. Kay, Book of Life, S. 17; meine Übersetzung. 04 Robert Bartlett: Die Geburt Europas aus dem Geist der Gewalt. Eroberung, Kolonisierung, kultureller Wandel von 950-1350, München: Beck 1998, S. 573. 05 So schreibt Lacan: »Das Unbewusste ist strukturiert wie eine Sprache«, in: »Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psychoanalyse«,

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deutungslose Signifikanten. »Unser Ausgangspunkt, der Punkt auf den wir immer wieder zurückkommen, denn wir werden immer am Ausgangspunkt sein, ist, daß jeder wahre Signifikant als solcher ein Signifikant ist, der nichts bedeutet. Die Erfahrung beweist es – je mehr er nichts bedeutet, umso unzerstörbarer ist der Signifikant.«6 Aus diesem Grund, so Lacan weiter, seien von der historischen Schriftforschung auch keine Erkenntnisse über die ›Natur‹ des Signifikanten zu erwarten. In der Mitschrift seiner Vorlesung Die Liebe und der Signifikant aus dem Jahre 1973 gibt er Folgendes zu Protokoll: »Vom Schrieb, seitdem die Sprache existiert, haben wir Wandlungen gesehen. Was sich schreibt, das ist der Buchstabe, und der Buchstabe ist nicht immer auf die gleiche Weise fabriziert worden. Darüber treibt man Geschichte, die Geschichte der Schrift, und man zerbricht sich den Kopf sich auszumalen, wozu die Piktographien der Mayas oder Azteken wohl dienen mochten … Solche Frage zu stellen, das ist die gewöhnliche Funktion der Historie. Man müßte sagen – vor allem rühren sie nicht an la hache, Initiale der Historie. Das wäre eine gute Art, die Leute zurückzuführen zum ersten der Buchstaben, demjenigen, auf den ich mich beschränke, den Buchstaben A – übrigens beginnt die Bibel erst beim Buchstaben B, sie hat den Buchstaben A gelassen – damit ich ihn übernehme.«

Der Gedanke drängt sich auf, dass das Gewordensein des Signifikanten Lacan (und Bartlett) deshalb uninteressant erscheint, weil es darum geht, eine Ursprungsgeschichte zu konstruieren: Der Signifikant, der aus dem Nichts kommt, dient als Platzhalter für den männlichen Geist – den Vater-Gott –, der über die Fähigkeit verfügt, die Welt aus dem Nichts zu erschaffen. Zwar trifft es zu, dass das Alphabet seine Anziehungskraft und Wirkungsmacht der Tatsache verdankt, eine Welt schaffen zu können, die die kurze Lebensspanne des Schreibers und Lesers überlebt. Die in: ders.: Schriften I, hrsg. von Norbert Haas, Klaus Laermann, Peter Stehlin, Übers. Rodolphe Gasché, Berlin: Quadriga 1996, S. 71-169; und konzipiert das Subjekt als Effekt des Signifikanten: »Das Subjekt ist nichts anderes – ob es Bewußtsein davon haben mag oder nicht, von welchem Signifikanten es der Effekt ist – als das, was gleitet in einer Signifikantenkette«. In: Jacques Lacan: »Die Liebe und der Signifikant«, in: ders.: Encore, Das Seminar Buch XX, hrsg. von Norbert Haas, Hans-Joachim Metzger, Übers. Norbert Haas, Vreni Haas, Hans-Joachim Metzger, Berlin: Quadriga 1991, S. 43-55. 06 Jacques Lacan: »Der Signifikant als solcher bedeutet nichts«, in: ders.: Die Psychosen, Das Seminar Buch III, hrsg. von Jacques-Alain Miller, Übers. Michael Turnheim, Berlin: Quadriga 1997, S. 217-231, hier S. 220.

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phonetischen Buchstaben produzieren die Illusion einer autonomen Welt, in der körperlose Schriftzeichen sich selbst zu genügen scheinen.7 Dies gilt insbesondere für das vokalisierte griechische Alphabet, das auch die Vokale wiedergibt. Im Gegensatz zum Hebräischen und Arabischen kann Griechisch (und alle auf ihm basierenden Schriftsysteme) auch lesen, wer die Sprache nicht spricht.8 Aber bedeutet dies, dass die Buchstaben tatsächlich nichts als abstrakte und willkürliche Zeichen sind? Lacan selbst scheint seiner eigenen Theorie in einer früheren Vorlesung zu widersprechen. In Unbewußtes und Wiederholung (1964) legt er nahe, die »Welt der Worte« sei nicht aus dem Nichts entstanden, sondern besitze ›natürliche‹ Ursprünge. »Die Natur liefert, sagen wir doch das Wort: Signifikanten, und diese Signifikanten organisieren auf inaugurierende Weise die menschlichen Verhältnisse, geben ihnen Struktur, modellieren sie.«9 Lacan beschreibt weder, wie man sich diese Ableitung vorzustellen habe, noch woran man die Herkunft des Signifikanten aus der Natur erkennen könne – und die Lacan-Rezeption hat diesen Strang bis heute kaum weiterverfolgt. Möglicherweise deshalb nicht, weil die These von der Bedeutungslosigkeit der Buchstaben/Signifikanten den Versuch darstellt, das Unbewusste der Zeichensysteme der Kontrolle des Bewusstseins zu unterstellen. Auch die Weigerung, die Geschichte der Buchstaben ernst zu nehmen, wäre dann als Abwehr dieses Unbewussten zu lesen. Dass es sich bei dieser ›Abwehr‹ nicht um eine bewusste oder mutwillige ›Manipulation‹ handelt, muss nicht extra betont werden, was jedoch nicht ausschließt, dass der französische Psychoanalytiker, der es sich zur Angewohnheit gemacht hatte, seine Quellen so gut wie nie offen zu legen,10 über die Herkunft der Signifikanten aus der ›Natur‹ – und deren Folgen für das Subjekt – besser informiert war, als er zuzugeben bereit war.

07 Harold Adam Innis: Empire and Communications, neu hrsg. von David Godfrey, Victoria: Porcépic 1986; Derrick de Kerckhove: Schriftgeburten. Vom Alphabet zum Computer, Übers. Martina Leeker, München: Fink 1995; Walter J. Ong: Orality and Literacy. The Technologizing of the Word, London/New York: Routledge 2003. 08 Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München: Beck 2002. 09 Jacques Lacan: »Unbewusstes und Wiederholung«, in: ders.: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, Das Seminar Buch XI, Berlin: Quadriga 1996, S. 21-70. 10 Vgl. dazu die ausgezeichnete Biographie von Elisabeth Roudinesco: Jacques Lacan. Bericht über ein Leben, Geschichte eines Denksystems, Übers. Hans-Dieter Gondek, Köln: Kiepenheuer & Witsch 1996.

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Etwa um dieselbe Zeit, als Lacan seine Thesen über die linguistische Struktur des Unbewussten ausarbeitete, erschien in England das Buch des österreichischen Emigranten Alfred Kallir mit dem vielsagenden Titel Sign and Design. The Psychogenetic Sources of the Alphabet. Darin widmete sich der Autor der Erforschung der körperlichen und materiellen Ursprünge der alphabetischen Schriftzeichen und deren ›Fortleben‹ im kollektiven Gedächtnis.11 Kallir, der Zeit seines Lebens ein akademischer Außenseiter war, vertrat einen ungewöhnlichen Forschungsansatz. Er versuchte, die »psychogenetischen Quellen« des Alphabets – das Unbewusste des Schriftsystems – zu erfassen, indem er die Geschichte der einzelnen Buchstaben rekonstruierte. Herausgekommen ist eine in vielem überzeugende Studie, die darlegt, dass die Zeichen des Alphabets ursprünglich Körper(teile) und ›natürliche‹ Medien (Wasser, Luft) repräsentierten, deren Spuren aber zunehmend unlesbar wurden, weil die Zeichen im Laufe der Kulturgeschichte immer abstraktere Formen angenommen haben. Nach Kallir besteht »eine Verbindung zwischen den Objekten, welche durch den Namen [des Buchstabens] bezeichnet werden, und der Gestalt des alphabetischen Symbols«.12 Kallir geht weiterhin davon aus, dass alle Schriftzeichen des Alphabets ursprünglich Fruchtbarkeitszeichen waren, die an die Domestizierung der ›natürlichen‹ Fruchtbarkeit durch die Kultur erinnern. Das Alphabet, so behauptet er, »erzählt die Geschichte von der Erschaffung des Individuums wie auch der Gattung Mensch und bildet zugleich eine magische Kette von Fruchtbarkeitssymbolen, die zur Sicherung der Erhaltung der Art bestimmt ist«.13 Insofern trage das Alphabet bis heute das »Geheimnis vom Ursprung des Lebens in sich«, den Kallir sich folgendermaßen vorstellt:14 »Die ersten acht Buchstaben unseres Alphabets bilden eine Prozession, die uns eine eindeutige Geschichte erzählt: Der Mann stellt als Schöpfer des Schriftsystems sein Selbstbildnis an den Anfang der Prozession – A.15 Er begegnet der

11 Das englische Original ist 1961 in Oxford bei Clarendon Press erschienen. Hier und im Folgenden wird aus der deutschen Ausgabe zitiert. Alfred Kallir: Sign and Design. Die psychogenetischen Quellen des Alphabets, Übers. Richard Hölzl und Thomas Dietrich Alfred, Berlin: Kadmos 2002. Kallir, über dessen Biographie nur sehr wenig bekannt ist, floh Ende der 30er Jahre vor den Deutschen aus Wien nach England und nahm dort sprachwissenschaftlichen Studien auf, die er über mehr als zwei Jahrzehnte – mit Unterbrechungen – verfolgte. 12 Kallir, Sign and Design, S. 30. 13 Kallir, Sign and Design, S. 30. 14 Kallir, Sign and Design, S. 30. 15 In eben dieser Position scheint sich Jacques Lacan zu imaginieren.

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Frau. Es folgen Zeichen für Lippen und Küsse und ihr hervorstechendes Merkmal, den Busen: B. Seine Blicke gleiten von ihrem Busen nach unten auf ihren Schoß: C. Indem in die Höhlung ein Querstrich eingefügt wird, soll die Vereinigung dargestellt werden: G. Der Segen des anwachsenden Mutterleibes wird in D abgebildet. Es folgt die Geburt: E – und die Ankunft des Kindes – Digamma = F. Eine zahlreiche Nachkommenschaft wird durch die F-Zeichen mit mehreren Querstrichen deutlich gemacht: Polygamma, das den h-Laut bezeichnet. Zum Schluß wird diese Gestalt durch jene ersetzt, die den Mann zeigt, der seine Arme zum Himmel streckt und voll Freude seinen Dank für die reiche Nachkommenschaft bezeugt, die ihm geschenkt worden ist.«16

Kallirs Naturalisierung einer kulturell kodierten Geschlechterordnung ist nicht unwidersprochen geblieben. So hat die Geschlechtertheoretikerin Christina von Braun argumentiert, dass das Alphabet eine Veränderung der Geschlechterordnung einleitete. Mit dem phonetischen Alphabet entstand eine symbolische Ordnung, die den Vorrang des Unsichtbaren vor dem Sichtbaren, des Geistes vor dem Körper, der Kultur vor der Natur und des Mannes vor der Frau besagte. Zwar war dieses Denkmuster bereits mit dem hebräischen Alphabet gegeben, weil jedoch nur lesen konnte, wer die Worte auch aussprechen konnte, waren die Buchstaben, um verständlich zu sein, auf den Körper angewiesen. Erst mit dem vokalisierten griechischen Alphabet sollte sich die Welt der Schriftzeichen vom Körper emanzipieren. »Gerade weil keine neuen Schriftzeichen generiert werden, wird das Schriftsystem selbst zum ›generativen Prinzip‹, das – durch das abstrakte Denken – auf die ›Welt‹ einwirkt. Dies hatte auch einen Rückgriff auf den Körper des Sprechenden zur Folge und damit auch auf das Geschlecht. Dieser Zugriff auf den ›sprechenden Körper‹, der sich der Überlagerung von Schriftlichkeit und Mündlichkeit verdankte, sollte eine große historische Wirkungsmacht entfalten, die sich u.a. in der symbolischen Geschlechterordnung niederschlug: Die Logik, die dem schriftlichen Denken zugrunde lag, ermöglichte die ›Naturalisierung‹ oder Biologisierung der Dichotomie Natur/Kultur, die das griechische Alphabet geschaffen hatte.«17

Diese Eigendynamik des Alphabets legt den Gedanken nahe, das Schriftsystem selbst trage zum Vergessen seiner körperlichen Wurzeln bei, weshalb Kallirs Untersuchung – trotz ihrer problematischen Annahmen 16 Kallir, Sign and Design, S. 237. 17 Christina von Braun: Versuch über den Schwindel. Religion, Schrift, Bild, Geschlecht, München/Zürich: Pendo 2001, S. 75.

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über die ›Natur‹ der Geschlechterordnung – eine wertvolle Quelle für die Beantwortung der Frage nach den körperlichen Ursprüngen der Reproduktionsmedien darstellt. Darüber hinaus machen seine psychogenetischen Untersuchungen die kulturelle Verdrängungsleistung sichtbar, die sich in Jacques Lacans und Robert Bartletts Annahme, die alphabetischen Zeichen seien bedeutungslos, äußert. Für Martin Burckhardt, dem es zu danken ist, dass Kallirs Untersuchung ins Deutsche übertragen wurde, markiert das Verdrängen des Zeichenkörpers den Beginn der abendländischen Philosophie. »Wenn nun der Körper des Zeichens […] eine solche Abstraktion erreicht, daß er eher wie ein Himmelskörper scheinen mag, ein Komet, der aus dem Weltraum herabgestürzt ist, so stehen wir hier vor einer wahrhaft bemerkenswerten Verdrängungsleistung. Wäre ich ein Psychoanalytiker, so würde ich den Begriff des Unbewußten genau hier ansetzen. Auf jeden Fall gibt es keinen unsinnigeren Satz als den von der Willkürlichkeit des alphabetischen Zeichens, steckt dahinter doch vielmehr der Wille zum Zeichen, zum reinen, körperlosen Ding an sich, oder wie man auch sagen könnte, der Wille zur Metaphysik.«18

Es erscheint allerdings fraglich, ob die verdrängte Körperlichkeit des Schriftzeichens tatsächlich über das Unbewusste des Individuums Auskunft geben kann. Denn dieses ist ja nicht identisch mit dem Unbewussten der Zeichen/Signifikanten, sondern – laut Lacan – ein Effekt der Zeichenstruktur. Vielmehr scheint mir der verdrängte Körper der Zeichen auf die Existenz eines medialen Unbewussten zu verweisen. Dieses – so möchte ich vorschlagen – ist nicht nur für das Alphabet anzunehmen, sondern prinzipiell für jedes Medium, sofern man es in seiner Funktion als ›Geheimnisträger‹ in den Blick nimmt. Während sich jedoch für Kallir die psychogenetischen Quellen des Alphabets aus unvergänglichen, transhistorischen Quellen speisen – er spricht von »Ursymbolen« und »archetypischen Bestandteilen in diesen Symbolen«19 –, nehme ich ein historisch gewordenes und veränderliches mediales Unbewusstes an. Hier liegt es nahe, Walter Benjamins These des »OptischUnbewussten« aufzugreifen. In dem kurzen Aufsatz Kleine Geschichte der Photographie hat Benjamin die Photographie als Ausdruck des »Optisch-Unbewußten« beschrieben. Sie bringe ans Licht, was dem wachen Bewusstsein verborgen bleibe oder in Vergessenheit geraten sei.

18 Martin Burckhardt: »Der Autor und die elektromagnetische Schrift«, in: Krämer, Medien, Computer, Realität, S. 35-51, hier S. 28f. 19 Kallir, Sign and Design, S. 1, 12.

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»Es ist ja eine andere Natur, welche zur Kamera als welche zum Auge spricht; anders vor allem so, daß an die Stelle eines vom Menschen mit Bewußtsein durchwirkten Raums ein unbewußt durchwirkter tritt. Ist es schon üblich, daß einer, beispielsweise, vom Gang der Leute, sei es auch nur im groben, sich Rechenschaft gibt, so weiß er bestimmt nichts mehr von ihrer Haltung im Sekundenbruchteil des ›Ausschreitens‹. Die Photographie mit ihren Hilfsmitteln: Zeitlupen, Vergrößerungen erschließt sie ihm. Von diesem Optisch-Unbewußten erfährt er erst durch sie, wie von dem Triebhaft-Unbewußten durch die Psychoanalyse.«20

Benjamins Optisch-Unbewusstes speist sich nicht aus einem Reservoir aus Archetypen, sondern ist ein Ort, an dem historisch ältere, dem Wachzustand entzogene Bedeutungsschichten aufbewahrt werden. Der Photoapparat, so Benjamin, eröffne »Bildwelten, welche im Kleinsten wohnen, deutbar und verborgen genug, um in Wachträumen Unterschlupf gefunden zu haben« und erlaube es, diese als »durch und durch historische Variable ersichtlich zu machen«.21 Das mit Hilfe der Photographie festgehaltene (und erzeugte) Optisch-Unbewusste stellt eine Ausdrucksform des medialen Unbewussten dar, dessen Wesen und Struktur stets untrennbar mit dem Medium verbunden ist, welches es hervorbringt und speichert. In diesem Sinne hat die Medienphilosophin Sybille Krämer Medien allgemein als (unbeabsichtigte) »Spur« – im Gegensatz zum absichtsvoll gebrauchten Zeichen – einer unbewussten, »nicht-diskursiven« und »vor-prädikativen« Realität definiert: »Die sinnprägende Rolle von Medien muß also nach dem Modell der Spur des Abwesenden gedacht werden; so rückt in den Blick, warum die Bedeutung von Medien gewöhnlich verborgen bleibt.«22 Krämers Definition legt es nahe, diese Spur auch für die alphabetischen (und numerischen) Zeichensysteme anzunehmen, wobei hier das Optische nicht ausgeschlossen werden muss, waren die Buchstaben doch ursprünglich Piktogramme. Eine erste Definition des medialen Unbewussten, die in den folgenden Kapiteln konkretisiert werden soll, lautet: Das mediale Unbewusste besteht, in Anlehnung an Freuds Definition des Unbewussten, aus Körperrepräsentanzen –

20 Walter Benjamin: »Kleine Geschichte der Photographie«, in: ders.: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Drei Studien zur Kunstsoziologie, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2003, S. 45-64, hier S. 50. 21 Benjamin, Photographie, S. 50f. 22 Krämer, Medium als Spur, S. 90, 81.

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Freud hatte »Triebrepräsentanzen«23 angenommen –, die mit einer Vielzahl von durchaus widersprüchlichen Geschlechterbildern und »Wunschregungen« verknüpft sind, welche sich auf die Subjekte einer Kultur übertragen. Ebenso wie das menschliche Unbewusste ist auch das mediale Unbewusste historisch veränderlich.24 Während für Freud die unbewussten Vorgänge der menschlichen Psyche in Träumen und Neurosen greifbar wurden,25 kommen die Prozesse des medialen Unbewussten sowohl in den Metaphern und Phantasien, mit denen ein Medium beschrieben wird, zum Vorschein, als auch in den Ängsten, die es auslöst. Und schließlich finden sich Spuren – vielleicht sollte man besser sagen: Symptome – des medialen Unbewussten in Kunstwerken, die sich selbstreflexiv auf das Medium, in dem sie geschaffen sind, beziehen. Bei all diesen Äußerungsformen ist – wie beim Traum auch – mit »Verwandlung, Verkleidung und Entstellung« zu rechnen.26 Freud selbst muss die Verwandtschaft zwischen menschlichem und medialem Unbewussten geahnt haben, wenn er das Verhältnis des Unbewussten zum Bewusstsein mit dem photographischen Negativ-Positiv-Verfahren beschreibt: »Eine grobe, aber ziemlich angemessene Analogie dieses supponierten Verhältnisses der bewußten Tätigkeit zur unbewußten bietet das Gebiet der gewöhnlichen Photographie. Das erste Stadium der Photographie ist das Negativ; jedes photographische Bild muß den ›Negativprozeß‹ durchmachen, und einige dieser Negative, die in der Prüfung gut bestanden haben, werden zu dem ›Positivprozeß‹ zugelassen, der mit dem Bilde endigt.«27 Kallirs Rekonstruktion der vergessenen Geschichte der alphabetischen Buchstaben bietet einen ersten Ansatzpunkt, um dem medialen Unbewussten, d.h. dem verdrängten Körper der Medien, auf die Spur zu kommen. Die kulturhistorische Bedeutung dieser Spurensuche kann gar nicht hoch genug veranschlagt werden. Denn die verdrängte Körperlichkeit der Medien ist eine zentrale Voraussetzung für die symbolische Geschlechterordnung und damit Grundlage eines der wirkungsmächtigsten Strukturprinzipien der modernen ›Mediengesellschaften‹. Weil die folgenden Kapitel auf grundlegende historische Zusammenhänge zwischen 23 Sigmund Freud: »Das Unbewusste« (1915), in: ders.: Psychologie des Unbewußten, Studienausgabe Bd. III, Frankfurt/Main: Fischer 1980, S. 119161, hier S. 145. 24 Freud, Das Unbewusste, S. 149. 25 Freud, Das Unbewusste, S. 146. 26 Sigmund Freud: »Einige Bemerkungen über den Begriff des Unbewußten in der Psychoanalyse« (1912), in: ders.: Psychologie des Unbewußten, S. 25-36, hier S. 34f. 27 Freud, Einige Bemerkungen, S. 34.

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KAPITEL I. DAS MEDIALE UNBEWUSSTE

Körper und alphabetischem Zeichen Bezug nehmen, die Kallir in Sign and Design herausgearbeitet hat, sollen diese am Beispiel des Buchstabens ›M‹ kurz vorgestellt und aus der Perspektive der Geschlechterforschung weiterentwickelt werden.

Wie das Geschlecht ins Zeichensystem kam – ein Beispiel Der Buchstabe ›M‹ – der eng mit dem ›N‹ verwandt ist – steht für das Wasser. Die ägyptischen Wörter nun, ma und mu(i) bedeuten Wasser, Meer, See, Fluss, fließen und werden durch eine wellen- bzw. schlangenförmige Hieroglyphe wiedergegeben.28 Auch der Name des hebräischen Buchstabens mem bedeutet Wasser und auch er bewahrt in seiner frühen Form die Wellenlinie; das griechische µ weist in den Worten, die mit diesem Zeichen beginnen, immer auch auf Wasser hin. Unverkennbar ist schließlich die Wellenform in den lateinischen Buchstaben ›N‹, ›M‹ und ›W‹. Kallir macht darauf aufmerksam, dass das ›M‹ im lateinischen Alphabet stets die mittlere Position eingenommen hat. »Die Anzahl der Buchstaben des lateinischen Alphabets war nicht zu allen Zeiten dieselbe. Sie variierte zwischen neunzehn und sechsundzwanzig. Im Laufe der Jahrhunderte war das ›M‹ das zehnte, zwölfte und dreizehnte Zeichen des Systems und nahm immer mit mathematischer Genauigkeit die Mitte ein.«29 So wie das Wasser als ›natürliches‹ Medium bezeichnet wurde, weil es in der Lage ist, andere Elemente aufzunehmen, zu lösen, zu verbinden und zu verwandeln, so repräsentiert der Buchstabe ›M‹ die Verwandlungsfähigkeit des Alphabets. Unverkennbar kommt dies heute im World Wide Web zum Ausdruck, das zum Surfen einlädt und sich damit ganz bewusst den Anschein des Wässrigen und Flüssigen gibt. WWW – bereits die optische Gestalt des Zugangscodes zum World Wide Web erinnert an die Wellen des Meeres. Die Domestizierung des Wassers sollte geradezu zur zweiten Natur der Schriftkultur werden. Das äußert sich zum einen in der Entwicklung der Seefahrt, der Eroberung der Meere, der Trockenlegung der Küstengewässer, in der Herausbildung einer Badekultur und schließlich in der wissenschaftlichen Zerlegung des Wassers durch Chemie, Biologie und Physik.30 Der Wunsch, das Wasser zu 28 Kallir, Sign and Design, S. 246-260. 29 Kallir, Sign and Design, S. 260. 30 Hartmut Böhme (Hg.): Kulturgeschichte des Wassers, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1988; Gernot Böhme, Hartmut Böhme: Feuer, Wasser, Erde, Luft. Eine Kulturgeschichte der Elemente, München: Beck 1996; Alain

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domestizieren, brachte schließlich eine neue Wahrnehmung und Definition der ›Natur‹ des menschlichen Körpers hervor, der dem Wesen des neuen, geistigen Lebenswassers angepasst wurde. Während die Kulturen, die die Alphabetschrift nicht kannten, in der Fruchtbarkeit des Wassers das ›Weibliche‹ und ›Mütterliche‹ sahen,31 wurde im Laufe der griechischen Antike das Wasser zum Symbol für die parthenogenetische Zeugungskraft eines unsichtbaren Vaters. Das Wasser ›gebar‹ weiterhin, aber die Gebärerin trat nicht mehr in Erscheinung. Aphrodite, die Göttin der Liebe, das Idealbild der Frau, deren Name (Meeres-)Schaumgeborene bedeutet, hat selbst keine Mutter. Als Kronos seinen Vater, den Uranos, kastriert, wirft er die abgeschnitten Hoden ins Meer, auf dessen Oberfläche sie eine Weile treiben; als der Wind den Samen zu weißem Schaum aufwirbelt, entsteigt Aphrodite diesem Schaum. Das Gegenteil zu dieser Idealfigur, deren Lebenselement das geistige Wasser darstellt, ist das ›ungeschriebene‹, und deshalb als minderwertig angesehene Wasser. Dieses Wasser – so will es die antike Medizin – fließt im Körper der Frau.32 Jeder Körper setzte sich aus den vier Säften Blut, Phlegma, schwarze und gelbe Galle zusammen samt den dazugehörigen Qualitäten, die aus den vier Elementen abgeleitet waren, nämlich heiß, kalt, feucht und trocken. Die jeweilige Säfte- und Qualitätenkombination legte den Charakter fest und bestimmte auch über das Geschlecht. Männer wurden als heiß und trocken beschrieben, Frauen als feucht und kalt. Diese Merkmale waren keineswegs gleichwertig, sondern ordneten sich zu einer ›natürlichen‹ Rangfolge, die die Hitze, d.h. das Trockene, als perfekter betrachtete als die Kälte und das Feuchte. Der männliche Körper galt als perfekt, weil er trocken war, der weibliche wegen seiner Feuchtigkeit als mangelhaft. Man stellte sich vor, der weibliche Körper sei ein Körper, der nicht in der Lage sei, so viel Hitze zu erzeugen, wie nötig gewesen wäre, um die vier Grundsubstanzen zu ihrem höchsten

Corbin: Meereslust. Das Abendland und die Entdeckung der Küste, Berlin: Wagenbach 1990. 31 Mircea Eliade schreibt: »Prinzip des Undifferenzierten und Virtuellen, Basis jeder kosmischen Erscheinung, Sammelbecken aller Keime, symbolisieren die Wasser die Ursubstanz, aus der alle Formen entspringen und in die sie zurückkehren, durch Rückbildung oder Kataklysmus. Sie waren am Anfang und kommen wieder am Ende jedes historischen oder kosmischen Kreislaufs.« Aus: Die Religionen und das Heilige. Elemente der Religionsgeschichte, Übers. M. Rassem, I. Köck, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1994, S. 221. 32 Nancy G. Siraisi: Medieval and Early Renaissance Medicine. An Introduction to Knowledge and Practice, Chicago: The University of Chicago Press 1991.

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Reifegrad wachsen zu lassen. Während die Frau deshalb in der Sicht des Aristoteles »ein verkrüppeltes Männchen«33 sowie eine Durchgangsstation auf dem Weg zum Mann war, beruhte die Mannwerdung auf der ›Austrocknung‹ der Frau. Die ›Feuchtigkeit‹ der Frau besagte nicht nur ihre ›Minderwertigkeit‹, sie musste auch eingedämmt werden, denn der weibliche Körper pflegte seine ›unfertigen‹ Körperflüssigkeiten mit dem Menstruationsblut abzustoßen. Aristoteles formuliert in seiner Schrift Über die Zeugung der Geschöpfe die »Notwendigkeitsursache für die Absonderung« von »Ausscheidungen« mit folgenden Worten: »Da nämlich ihre Veranlagung nicht imstande ist, restlos zu verdauen, muß sich eine Ausscheidung nicht nur von unbrauchbarer Nahrung bilden, sondern auch in den Adern, und es muß eine Überfüllung in den feinsten Adern eintreten«,34 deren Ausscheiden eine Gefahr für die Umwelt darstelle. In der hier nur kurz skizzierten Humoralmedizin zeichnet sich deutlich der Einfluss der Alphabetschrift ab. Die vormals positiv gedeutete Beziehung des Weiblichen zum Wasser wird nun als Merkmal des ›Unfertigen‹ und ›Mangelhaften‹ definiert. Wenn wir heute den Körper als überflüssige ›Wetware‹35 ansehen, dann hat diese Auffassung ihre Wurzeln in der Verbindung, die Alphabetschrift und Medizin in der griechischen Antike eingegangen sind. Historisch gesehen bildet der Frauenkörper den Prototyp der ›Wetware‹. Dieser kurze Überblick sollte eines deutlich machen: Die neuzeitliche Subjektivität hat sich im Laufe der abendländischen Geschichte u.a. über die Beherrschung des ›unberechenbaren‹ und ›ungeschriebenen‹ Wassers herausgebildet. Weil nur dem Mann Subjektstatus zugedacht wird, wurde die Beherrschung des Wassers mit der Beherrschung der Frau gleichgesetzt. Klaus Theweleit hat gezeigt, dass sich Männlichkeit in der abendländischen Kultur symbolisch durch die Abschottung vor dem als flüssig, fließend und flutend wahrgenommenen weiblichen Körper konstituierte.36 Was diese Abschottung des Männlichen nachvollzieht, ist die Trennung des ›reinen‹ Zeichens vom ›nassen‹ Körper. Wenn wir heute in die (Daten-)Fluten des World Wide Web zurückkehren, dann deshalb, weil es sich bei diesem Medium um ›trockenes‹ Wasser handelt. 33 Aristoteles: Über die Zeugung der Geschöpfe, Übers. Paul Gohlke, Paderborn: Schöningh 1959, S. 58. 34 Aristoteles, Zeugung, S. 92. 35 Geert Lovink: »Hardware, Wetware, Software«, in: Bolz, Kittler, Tholen, Computer als Medium, S. 223-230. 36 Klaus Theweleit: Frauen, Fluten, Körper, Geschichte, Frankfurt/Main: Roter Stern 1977; Inge Stephan: »Weiblichkeit, Wasser und Tod. Undinen, Melusinen und Wasserfrauen bei Eichendorff und Fouqué«, in: Böhme, Kulturgeschichte, S. 234-262.

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Wenn ich in den folgenden Kapiteln immer wieder auf der (unbewusst gewordenen) Existenz und Wirkung des Zeichenkörpers beharre, dann in erster Linie deshalb, weil seine Verschleierung die Voraussetzung bildet für die Konstitution männlicher Subjektivität in der westlichen Kultur. Die Funktion, die das mediale Unbewusste für die Ausbildung kultureller Männlichkeitsbilder spielt, erschließt sich sowohl über den Nutzen, den diese Verschleierung entfaltet, als auch über die Reaktionsbildungen, die die Notwendigkeit der Verschleierung des Zeichenkörpers hervorruft.

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VERHÜLLTE

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UND

VORHAUT

Heute ist der Computer dasjenige Medium, an dem die Funktion der Medien als Geheimnisträger vielleicht am deutlichsten hervortritt. Hinter immer perfekteren Benutzeroberflächen tauchen künstliche Welten auf, während die Materialität des Mediums – die Hardware – ebenso in den Hintergrund tritt wie die Konstruiertheit der Software. Die Medientheorie hat sich diesem Phänomen unter Stichworten wie ›digitaler Schein‹ und ›virtuelle Realität‹ angenommen. »Leerlaufende Trugbildfabriken haben die schöne alte Welt von Arbeit und Negativität, Mensch und Geschichte in ein Spiel des Scheins aufgelöst«, schreibt der Medientheoretiker Norbert Bolz mit Blick auf den Computer.1 »In der elektrifizierten Welt gibt es die Spannungen zwischen Oberfläche und Tiefe, Schein und Wahrheit nicht mehr; reine Datenflüsse kann man nicht mehr kritisch distanzieren.«2 Bolz, der bemüht ist, den ›schönen Schein‹ zu entzaubern, lüftet denn auch das von den »Trugbildern« gedeckte Geheimnis des Computers: »Auch wenn EDV den Traum eines allen zugänglichen absoluten Wissens verwirklichen sollte, wird sie uns doch keinen Blick auf die Welt eröffnen: gemessen am Bedürfnis lebendiger Weltwahrnehmung bleibt jedes interface steril.«3 Kaum ein anderer zeitgenössischer Medientheoretiker streitet in diesem Zusammenhang so radikal für die ›Entzauberung‹ des Computers wie der Berliner Kulturwissenschaftler Friedrich Kittler. Er beanstandet, dass die »Hardware, zumal von Computern, in unseren Vorstellungen von Wirklichkeit nicht vorzukommen [scheint]«4 und schreibt dies dem »unaufhaltsame[n] Siegeszug der Soft-

01 Norbert Bolz: Eine kurze Geschichte des Scheins, München: Fink 1991, S. 117. 02 Bolz, Schein, S. 118. 03 Bolz, Schein, S. 118. 04 Friedrich A. Kittler: »Hardware, das unbekannte Wesen«, in: Krämer, Medien, Computer, Realität, S. 119-132.

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ware«5 zu. Software sei dafür verantwortlich, dass »an die Stelle von Heideggers Hammer, der zu schwer oder zu leicht, jedenfalls aber immer in der Hand lag, eine Immaterialität gerade des Materiellsten getreten [ist]«,6 die den Nutzer in einem Zustand der Verblendung gefangen halte. »Man kann mit WORD 5.0 auf einem No Name AT 386 (wie es so schön heißt) unter Microsoft DOS 3.3 über eben diese drei Wesenheiten ganze Aufsätze schreiben, ohne die Strategie des Scheins auch nur zu ahnen. Denn man schreibt – das ›Unter‹ sagt es schon – als Subjekt oder Untertan der Microsoft Corporation.«7 Weil aber die Software nichts anderes tue, als die »buchstäblich unvorstellbare Komplexität«8 der Hardware zu verschleiern, sei es an der Zeit, den Beweis zu führen, dass »Software als maschinenunabhängige Fähigkeit nicht existiert«.9 Kittler plädiert dafür, die »Unabdingbarkeit und folglich auch Vorgängigkeit von Hardware«10 zu akzeptieren, um die »Entwicklung möglichst komplexer und möglichst vielfältiger Hardwareplattformen«11 voranzutreiben. Friedrich Kittlers Plädoyer für die Hochschätzung der Hardware ist sicherlich eine Antwort auf die Herausforderungen, die die digitalen Medien für unsere Definitionen von Realität darstellen. Seine Argumentation interessiert hier jedoch in erster Linie als Reaktionsbildung auf ein zentrales Geheimnis (nicht nur) des Mediums Computer; sie soll zum Anlass genommen werden, um die Bedeutung des verdrängten Zeichenkörpers für die Konstitution männlicher Subjektivität zu studieren. In seinen Technischen Schriften12 entwirft Kittler die Vision einer Welt ohne Software, in der »reine Hardware« die Arbeit erledige: »[E]in physisches Gerät, das in einer Umgebung aus lauter physischen Geräten arbeitet und nur derselben Beschränkung seiner Ressourcen wie sie untersteht. Software im üblichen Sinne einer immer machbaren Abstraktion gäbe es nicht mehr,«13 weil sich »Ingenieursmathematik unmittelbar als Materie abbildet.«14 Die Verwirklichung dieser Utopie sei – wie es in 05 Friedrich A. Kittler: »Es gibt keine Software«, in: ders.: Draculas Vermächtnis. Technische Schriften, Leipzig: Reclam 1993, S. 225-242, hier S. 234. 06 Kittler, Hardware, S. 124. 07 Friedrich A. Kittler: »Protected Mode«, in: ders.: Draculas Vermächtnis, S. 208-224, hier S. 208. 08 Kittler, Hardware, S. 119. 09 Kittler, Software, S. 235. 10 Kittler, Software, S. 237. 11 Kittler, Hardware, S. 131. 12 Kittler, Protected Mode, S. 208. 13 Kittler, Software, S. 241. 14 Friedrich A. Kittler: »Wenn das Bit Fleisch wird«, in: Lisbeth N. Trallori (Hg.): Die Eroberung des Lebens. Technik und Gesellschaft an der Wende

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einem Aufsatz mit dem nicht ganz unschuldigen Titel Hardware, das unbekannte Wesen heißt – dann erreicht, »wenn jemand hinginge und all jene Programme, die bislang unter dem Titel Philosophiestudium laufen, in Hardware gießen würde«.15 Die Forderung, die Hardware solle das Kommando übernehmen, ist nicht unproblematisch. Sollte es jemals gelingen, Philosophie in Hardware zu verwandeln – d.h., die Differenz zwischen Denken und Tun zu eliminieren – hätte dies tiefgreifende Konsequenzen für die Wahrnehmung der Wirklichkeit. Mit dem Verzicht auf die Abstraktionsfähigkeit wäre das Wissen um die Wirkungen des Unbewussten ebenso versperrt wie die Möglichkeit, zwischen Phantasie und Wirklichkeit(en), zwischen Zeichen und Bezeichnetem zu unterscheiden. Unter »Hardwarebedingungen« gäbe es nur noch eine ›nackte‹ Wahrheit und eine ›harte‹ Wirklichkeit. Wir haben es hier mit einer Form der Medientheorie zu tun, die den symbolischen Überschuss und die ›geheimen‹ Botschaften des Mediums Computer weniger analysieren, als vielmehr abschaffen möchte. Ob dies möglich ist, darf bezweifelt werden – schließlich muss Hardware programmiert werden –; solange Universitäten jedoch noch Philosophiestudiengänge anbieten, muss die Frage erlaubt sein, worauf diese Fetischisierung der Hardware reagiert. Die These, es sei »offenbar ihre Programmierbarkeit selber, die die Hardware von heute zum unbekannten Wesen verdammt«,16 ruft Freuds »Dark Continent« auf und deutet darauf hin, dass am ›Antagonismus‹ zwischen Hardware und Software Aspekte der symbolischen Geschlechterordnung verhandelt werden. Für Kittler ist die Hardware nur deshalb »das unbekannte Wesen«, weil ihre Signifikationsmacht unter dem Schleier der Software verborgen werde, die wiederum alle Attribute des Weiblichen trage. So wird die Software einmal als Lüge beschrieben: »Unter den postmodernen Strategien des Scheins ist keine so wirksam wie die Simulation, dass es Software überhaupt gibt.«17 Ein anderes Mal wird das »Softwareideal vom Computer als besserer Waschmaschine« bzw. »besserer Schreibmaschine«18 verspottet, d.h., die Software wird mit Geräten gleichgesetzt, die in den westlichen Gesellschaften in erster Linie Frauen zu bedienen haben. Das Unbehagen an der Software wird allerdings nicht von diesen weiblichen Kodierungen erzeugt, vielmehr sind die Weiblichkeitszuschreibungen Symptome, die auf ein Unbehagen

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zum 21. Jahrhundert, Wien: Verlag für Gesellschaftskritik 1996, S. 209222, hier S. 210. Kittler, Hardware, S. 131. Kittler, Hardware, S. 124. Kittler, Protected Mode, S. 208. Kittler, Hardware, S. 126.

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am medialen Unbewussten des Computers schließen lassen, welches nicht das weibliche, sondern das männliche Geschlecht betrifft. In einem Aufsatz aus dem Jahre 1993 wird das (damals aktuelle) Betriebssystem DOS nicht nur als das »rückständigste aller Betriebssysteme« bezeichnet, sondern auch als »das dümmste unter allen«.19 Dies zeige sich u.a. an der Verwendung »kryptischer, weil vokalloser Akronyme«,20 weil »DOS Dateinamen mit mehr als acht Buchstaben gar nicht lesen könnte«.21 Neben die Weiblichkeitsstereotype treten Bilder des Jüdischen. Kittler führt die »Dummheit« der Software auf die Programmiersprache, in der sie geschrieben wurde, zurück, welche er in die Nähe des hebräischen Alphabets rückt. »Deshalb sind unaussprechliche, von Vokalen tunlichst befreite Abkürzungen oder Akronyme, dieser Widerruf einer elementaren griechischen Innovation, für postmodernes Schreiben nicht nur notwendig, sie scheinen dem Alphabet erstmals seit seiner Erfindung wieder magische Kräfte zuzuführen.«22 Der ›Konflikt‹ zwischen Hardware und Software wird hier als Antagonismus zwischen dem ›innovativen‹ (vokalisierten) griechischen und dem ›rückständigen‹ (unvokalisierten), mit der Magie und dem Geheimen in Verbindung stehenden, hebräischen Alphabet gefasst. Dahinter verbirgt sich die Abwehr einer Kastrationsdrohung. Indem die Software mit dem »kryptischen« und »unaussprechlichen«, weil nicht vokalisierten, hebräischen Alphabet gleichgesetzt wird, kommt implizit auch der Ritus der Beschneidung ins Spiel. Im Judentum symbolisiert die Beschneidung des Säuglings am achten Tag nach seiner Geburt den Bund mit Gott, der sich allein in der Schrift offenbart. Sie ist das Opfer, das der männliche Körper für die Teilhabe an der durch die Schrift geschaffenen symbolischen Ordnung zu bringen hat. »Die Beschneidung«, so schreibt Christina von Braun, »ist ein rituelles – immer wieder zu erinnerndes und immer wieder sichtbar bleibendes – Symbol für die Wunde, die das Zeichen oder die Alphabetschrift dem männlichen Körper zugefügt hat. Zugleich erinnert sie daran, daß ein Symbol ein Symbol und die ›Realität‹, biologische Realität, ist.«23 Die Beschneidung des Penis spiegelt die ›Unvollständigkeit‹ der Schrift, die auf den sprechenden Körper angewiesen ist, um lesbar zu sein. »Unaussprechlich« sind die Worte also nur für den, der die Sprache nicht spricht. Im griechischem Alphabet hingegen, das auch die Vokale schreibt und damit den Eindruck erweckt, die materielle Welt vollstän19 20 21 22 23

Kittler, Software, S. 229. Kittler, Software, S. 229. Kittler, Software, S. 230. Kittler, Software, S. 230. Braun, Schwindel, S. 118.

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dig, ohne Zuhilfenahme des sprechenden (sterblichen) Körpers, reproduzieren zu können, scheint der Buchstabe am Körper keine Spuren zu hinterlassen. Die Griechen lehnen die Beschneidung als ›barbarische‹ Sitte ab. So gesehen war das hebräische Alphabet zur Zeit der Entstehung des griechischen Alphabets nicht nur untrennbar mit der Beschneidung des männlichen Genitales verknüpft, es »repräsentierte auch eine bleibende Kastrationsdrohung für das volle griechische Alphabet«24 und die Kulturen, die sich dieses Mediums bedienten. »Die Schere, die sich zwischen Hard- und Software auftut, lädt aber zu brachialen Lösungen nachgerade ein«, schreibt Friedrich Kittler.25 (Ich komme weiter unten ausführlicher darauf zurück. Hier soll zunächst der Hinweis auf die Verbindung zwischen hebräischem Alphabet, Beschneidung und symbolischer Kastrationsdrohung genügen.) Ein weiteres Symptom der Abwehr dieser symbolischen (unbewussten) Kastrationsdrohung, die bis heute mit dem hebräischen Alphabet assoziiert wird, ist der latente Antisemitismus in Kittlers Argumentation, der sich am deutlichsten in der Konstruktion von Verschwörungstheorien artikuliert. Da ziehen »Kabbalisten« an einem Strang mit »Geheimdienstleuten«,26 wird das Betriebssystem eines Computers als »Geheimsystem« beschrieben, das mit dem »Wissenschaftskonzept des Pentagon«27 in Verbindung stehe. Auch wird ein »internes Geheimmemorandum«28 der Firma Microsoft erwähnt (aber nicht belegt), aus dem hervorgehen soll, dass das Endziel darin bestehe, »Endbenutzer so zu behandeln wie Computer auch«.29 Abwechselnd werden die amerikanische Regierung, der amerikanische Geheimdienst, der Softwarekonzern Microsoft oder ein Bündnis dieser drei für den »unaufhaltsamen Siegeszug der Software«30 und die Unterwerfung der Menschen unter ihr Diktat verantwortlich gemacht. Die entscheidende Frage sei lediglich die, so heißt es, »wie die Unterwerfung, um ihren weltweiten Siegeszug anzutreten, vor den Subjekten verborgen werden kann«.31 Und schließlich fordert Kittler – unter Berufung auf den Sprachwissenschaftler Heinrich Lohmann – dazu auf, »den historischen Ermöglichungsgrund von Programmiersprachen einfach in der Tatsache zu suchen, dass es im Engli24 Braun, Schwindel, S. 120. 25 Kittler, Hardware, S. 125. 26 Friedrich A. Kittler: »Real Time Analysis, Time Axis Manipuation«, in: ders.: Draculas Vermächtnis, S. 182-207, hier S. 185. 27 Kittler, Software , S. 233. 28 Kittler, Hardware, S. 119. 29 Kittler Hardware, S. 119. 30 Kittler, Software, S. 234. 31 Kittler, Protected Mode, S. 211.

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schen Verben wie Read und Write gibt, Verben also, die im Unterschied zum Lateinischen amo amas amat und so weiter alle Konjugationsformen abgestreift haben«.32 Damit stellt er die englische Sprache in den gleichen Assoziationsraum wie das zuvor als unterkomplex und unvollständig beschriebene hebräische Alphabet. Einen Ausweg aus dieser amerikanisch-jüdischen ›Umklammerung‹ sieht Kittler in einem Bündnis aus Informatikern »anderer Länder, irgendwo zwischen Japan und Europa«, um der »ins Silizium versenkten US-Bürokratie andere mögliche Bürokratien entgegenzusetzen«.33 Angesichts der Tatsache, dass nach Kittlers Auffassung Deutschlands »Computerhardware weithin die Weltstandards setzt«,34 scheint der Autor sich die Kooperation der ehemaligen Achsenmächte Japan und Deutschland zu wünschen. Die hier geäußerten Verschwörungstheorien spielen auch im rassistischen Antisemitismus eine zentrale Rolle, in dem es ebenfalls um den Vorwurf der Simulation und um die Abwehr einer Kastrationsdrohung ging. Im 18. und 19. Jahrhundert interpretierten europäische Mediziner die Beschneidung als Ursache für Geschlechtskrankheiten sowie als Zeichen für die Verweiblichung des jüdischen Mannes. »Die Beschneidung«, so Sander Gilman, »markiert Juden als defekt und potentiell schädlich. Sogar noch nach der Shoah kennzeichnete das Signum der Beschneidung eine Gruppenfantasie über das verborgene Wesen des jüdischen männlichen Körpers, selbst wenn der Körper, um den es ging, unbeschnitten war.«35 Der Vorwurf, jüdische Männer würden ihre Beschneidung verbergen und unbeschnittene Männlichkeit simulieren, zieht sich wie ein roter Faden durch die neuzeitliche Geschichte: »[M]ännliche Juden sind unheimlich, insofern sie an der Oberfläche zwar als Männer erscheinen, aber es der veränderten Form ihrer Genitalien wegen nicht sind.«36 Der bereits im 17. Jahrhundert einsetzende und im 19. Jahrhundert seinen Höhepunkt erreichende Diskurs über die ›Gefahr‹ der Beschneidung verfolgte u.a. das Ziel, Differenzen zu erzeugen, indem man ein Geheimnis erfand, das es zu ›entdecken‹ galt. Antisemitische Autoren, die die Beschneidung als ›Makel‹ und ›Geheimnis‹ des Juden brandmarkten, versuchten, den nicht-jüdischen Lesern »die Wahrheit über die Juden zu eröffnen, und die wichtigste Aufgabe, die sie dabei im Kopf hatten, war, ihre Leser zu befähigen, die Realität des Juden zu ›sehen‹ 32 33 34 35

Kittler, Software, S. 222. Kittler, Software, S. 222. Kittler, Hardware, S. 125. Sander L. Gilman: Freud, Identität und Geschlecht, Übers. H. Jochen Bussmann, Frankfurt/Main: S. Fischer 1994, S. 87. 36 Gilman, Freud, S. 86.

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und sich vor ihm zu schützen«.37 Dass die Beschneidung dazu diente, Unterschiede zu erzeugen und zu bekämpfen, wo vormals keine waren, »wird deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, daß zu dieser Zeit die westeuropäischen Juden in puncto Sprache, Kleidung, Beruf, Wohnort und Haartracht von anderen Westeuropäern ununterscheidbar geworden waren«.38 Indem die Software mit den Attributen des Weiblichen und des Jüdischen versehen wird, erscheint die Hardware als Symbol unbeschnittener Männlichkeit. »Programmierbare Hardware ist keine Trübung oder Verrauschung, die die Physik mit ihren unübersteigbaren Grenzwerten einer idealen Software antun würde, sondern gerade umgekehrt eine Struktur eigenen Rechts, die jede Software zur Berücksichtigung ihres Gesetzes zwingt.«39 Die Hardware besetzt den Platz des Phallus, sie vertritt, um es in der Begrifflichkeit Jacques Lacans zu sagen, das Gesetz oder den Namen/das Nein (franz. nom/non) des Vaters. »Im Namen des Vaters müssen wir die Grundlage der Symbolfunktion erkennen, die seit Anbruch der historischen Zeit seine Person mit der des Gesetzes identifiziert.«40 Mit anderen Worten, indem die Hardware das Gesetz des Phallus repräsentiert, stellt sie zugleich das Medium dar, in dem sich die Definitionsmacht des männlichen Subjekts realisiert. Warum aber soll die Hardware ihre phallische Autorität nur ›nackt‹ – von der Software entkleidet – ausüben können? Geht die Kastrationsdrohung tatsächlich von der Software aus? Oder wird diese von Kittler nicht vielmehr in Anspruch genommen, um eine im Unbewussten des Phallus angesiedelte Kastrationsdrohung abzuspalten und an die Software als Figur des Fremden zu delegieren? Die Beantwortung dieser Frage muss an den Ursprüngen der symbolischen Ordnung und bei der Bedeutung des Phallus ansetzen. Immerhin versteht Kittler seine »technischen Schriften« ausdrücklich als Antwort auf Jacques Lacan.41 Dieser hatte jedoch als Voraussetzung für die Definitionsmacht des Phallus dessen Verhüllung angenommen. »Man kann sagen, daß die Wahl auf diesen Signifikanten fällt, weil er am auffallendsten von alledem, was man in der Realität antrifft, die sexuelle Kopulation ausdrückt wie auch den Gipfel des Symbolischen im buchstäblichen (typographischen) Sinn dieses Begriffs, da er im sexuellen Bereich der logischen 37 38 39 40 41

Gilman, Freud, S. 89. Gilman, Freud, S. 87. Kittler, Hardware, S. 127, meine Hervorhebungen. Lacan, Funktion und Feld, S. 119. Kittler, Dracula, S. 10.

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Kopula entspricht. Man kann auch sagen, daß er kraft seiner Turgeszenz das Bild des Lebensflusses ist, soweit dieser in die (in der) Zeugung eingeht. Alle diese Vorstellungen verschleiern aber immer noch die Tatsache, daß er seine Rolle nur verschleiert spielen kann, das heißt seinerseits nur als Zeichen der Latenz, mit der alles Bedeutbare geschlagen ist, sobald es in der Signifikantenfunktion aufgehoben ist.«42

Als »Zeichen der Latenz«, d.h. als Zeichen des zu Enthüllenden43, erinnert der verschleierte Phallus also daran, dass sich etwas unter dem Schleier befindet, etwas, das gleichwohl unsichtbar bleiben soll. Das Plädoyer für den entschleierten Phallus impliziert also auch eine Revision der Lacan’schen Phallustheorie und ihrer kulturtheoretischen Grundlagen. Nach Lacan basiert die Identität des Subjekts auf einem Mangel, der einer symbolischen Kastration gleichkommt. »Die Geschlechtlichkeit instauriert sich auf dem Felde des Subjekts auf einem Weg, der ein Weg des Fehlens ist. […] einen zentralen Mangel, um den sich jene Dialektik dreht, wonach das Subjekt in der Beziehung zum Anderen zu seinem eigenen Sein findet – wesentlich aus dem Grund, daß das Subjekt vom Signifikanten abhängig ist und der Signifikant zuerst auf dem Feld des Anderen erscheint.«44 Die Verschleierung des Phallus dient mithin der Verdrängung und Unsichtbarmachung dieses Mangels – an anderer Stelle heißt es »Spaltung«45 –, die Lacan als eine der grundlegenden Strukturen bezeichnet, der »die Beziehungen zwischen den Geschlechtern unterworfen sind«.46 »Diese Beziehungen drehen sich, wie wir sagen, um ein Sein und ein Haben, die dadurch, daß sie sich auf einen Signifikanten, auf den Phallus beziehen, die ärgerliche Wirkung 42 Jacques Lacan: »Die Bedeutung des Phallus«, in: Schriften II, hrsg. von Norbert Haas, Übers. Norbert Haas, Berlin: Quadriga 1991, S. 119-132, hier S. 128. 43 Zum Begriff der Latenz in der psychoanalytischen Theorie siehe Jean Laplanche, Jean-Bertrand Pontalis: Das Vokabular der Psychoanalyse, Übers. Emma Moersch, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1973, Stichworte ›Latenter Inhalt‹ und ›Latenzperiode‹. »Man kann den Ausdruck ›latenter Inhalt‹ in einem weiten Sinn als die Gesamtheit dessen verstehen, was der Analytiker nacheinander enthüllt (Assoziationen des Analysierten, Deutung des Analytikers). […] Nach Freud ist der latente Inhalt vor dem manifesten Inhalt da.« (S. 277). 44 Jacques Lacan: »Das Subjekt und der/das Andere: Alienation«, in: Die Vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, Das Seminar Buch XI, hrsg. von Norbert Haas, Hans-Joachim Metzger, Übers. Norbert Haas, Berlin: Quadriga 1996, S. 213-226, hier S. 215. 45 Lacan, Phallus, S. 125. 46 Lacan, Phallus, S. 130.

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haben, daß sie einerseits dem Subjekt Realität in diesem Signifikanten verleihen, andererseits die zu bedeutenden Beziehungen irrealisieren. Dies geschieht über das Dazwischentreten eines Scheins, der an die Stelle des Habens rückt, um es auf der einen Seite zu schätzen, auf der anderen den Mangel im andern zu maskieren.«47 So abstrakt Lacans Definition des verschleierten Phallus auch scheinen mag, so lenkt sie doch – in durchaus konkreter Weise – die Aufmerksamkeit auf das mediale Unbewusste, den verdrängten Zeichenkörper, sowie auf die Notwendigkeit seiner Verschleierung. Die Beschreibung des Phallus als »Gipfel des Symbolischen im buchstäblichen (typographischen) Sinn dieses Begriffs« stellt eine Verbindung zum Alphabet her, der nun am Beispiel des Buchstabens ›A‹ nachgegangen werden soll. Die Geschichte des Alpha, das sei hier vorweggenommen, zeigt, dass die Definitionsmacht des Phallus auf einem kastrierten Zeichenkörper beruht. Die Fetischisierung der Hardware erscheint aus dieser Perspektive als eine Reaktionsbildung auf die Realität der symbolischen Kastration.

Das Alpha: symbolische Kastration, Medium und Vorhaut Die Geschichte des Buchstabens ›A‹, der erste Buchstabe im hebräischen, arabischen, griechischen und lateinischen Alphabet, ist auf das Engste mit dem männlichen Genital verbunden. Der Stamm A-L-Ph, so schreibt Alfred Kallir, aus dem sowohl das semitische Aleph als auch das griechische Alpha hervorgehen, verweist in seiner metathetischen Form Ph-A-L sowohl auf den Phallos als auch auf den Pflug (phala-h, sanskrit Pflug).48 »Die Wurzel PEL bringt die folgenden Bedeutungen hervor: bewegen, stoßen; vor und zurück bewegen; brennen; schütten; füllen; produzieren. Die Laute für p und f sind eng verwandt. Nicht zufällig ist das griechische (fi) ins Lateinische ph transliteriert worden. Die von der Wurzel PEL abgeleiteten Bedeutungen sind parallel und stimmen mit jenen überein, die sich auf phallos (Phallus) beziehen: Sanskrit phala-h, der Pflug (englisch plough, deutsch ›Pflug‹ sind verwandt); phalati, dicker/gespalten werden; phala-m, anschwellen, Früchte tragen, zunehmen. – Griechisch ophellein, anschwellen lassen, und ophellos, gewinnen, das im Gegenzug dem lateinischen pollere antwortet, fähig, stark sein,

47 Lacan, Phallus, S. 130. 48 Kallir, Sign and Design, S. 51f.

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und polleus mächtig, stark; schließlich ›Pollen‹, das befruchtende (männliche) Pulver des Samenstandes.«49

Was aber haben Phallus und Pflug miteinander zu tun? Die Verbindungen werden sichtbar, wenn man sich vor Augen hält, dass die optische Gestalt des Alpha eine Abstraktion des Stier- und/oder Ochsenkopfes darstellt, was auch im Namen des Buchstabens zum Ausdruck kommt, der in allen Sprachen im Mittelmeerraum ›Ochse‹ beziehungsweise ›Stier‹ bedeutet. In seiner frühen Form zeigten die Längsstriche des Alpha nach oben und symbolisierten die Hörner des Stiers, dann legte es sich seitwärts, wurde durch einen das Joch des Pfluges symbolisierenden Querstrich ergänzt, und im Laufe der Zeit drehte der Buchstabe sich nochmals um 90° in eine ›aufrechte‹ Position und symbolisierte nun den aufrecht stehenden männlichen Körper – eine Entwicklung, die Kallir mit der Entstehung des Monotheismus und »dem Übergang von theriomorphen zu anthropozentrischen Konzepten von der Welt« erklärt: »Die Umwandlung von Aleph, dem Stier, in Alpha, das Ebenbild des Menschen, ›versinnbildlicht‹ dieses Ereignis. […] Der Mensch (Mann) wird zum Herrscher über die Welt. Der mächtige Vierbeiner, der ›haupt‹sächlich zur Seite blickt und sich seitwärts bewegt und ausbreitet, weicht der menschlichen Gestalt, die aufrecht steht und nach oben blickt.«50 Diese »Umwandlung« schlug sich ganz konkret in der Bedeutung (und Behandlung) des Genitals des Stiers nieder. Aus dem wilden Stier wurde der domestizierte Ochse. Nicht der Stier, sondern der Ochse trug das Joch des Pfluges und zwar genau an der Stelle, an der Kopf und Rumpf (Geist und Körper) miteinander verbunden sind. Die kulturelle ›Fruchtbarkeit‹ des männlichen Rinds beruhte mithin auf seiner sexuellen Unfruchtbarkeit; die ›Beschneidung‹ der Männlichkeit bildete die Voraussetzung für die Berechenbarkeit der Fruchtbarkeit.51 Kallir bringt die Verwendung des Ochsen in der Landwirtschaft mit der Erfindung des Alphabets in Verbindung. Nun wird auch verständlich, weshalb die Wurzel Ph-A-L nicht nur auf den Phallus, sondern auch auf den Pflug verweist. Zur selben Zeit, als der Ochse für den Ackerbau nutzbar gemacht wird, entsteht der Buchstabe ›A‹.

49 Kallir, Sign and Design, S. 51. 50 Kallir, Sign and Design, S. 80. 51 Christina von Braun: »Das Stieropfer«, in: ZDF-Nachtstudio (Hg.): Mensch und Tier. Geschichte einer heiklen Beziehung, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2001, S. 194-227; Gary Taylor: Castration. An Abbreviated History of Western Manhood, New York/London: Routledge 2002, S. 166169.

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»Kühe, nicht Ochsen sind auf frühen ägyptischen Darstellungen des Pflügens zu sehen. Die Zähmung des Stiers ist die große Errungenschaft der sich entwickelnden landwirtschaftlichen Zivilisation und wie die Erfindung des Alphabets ein Meilenstein des menschlichen Fortschritts. Die beiden Ereignisse scheinen gleichzeitig stattzufinden, vermutlich zu Beginn des zweiten vorchristlichen Jahrtausends.«52

Abbildung 2: Die Entwicklung des Alpha, in: Alfred Kallir, Sign and Design, Berlin 2002

Der Ochse, der den Pflug zieht, und die Gestalt des ersten Buchstabens des Alphabets verweisen aufeinander. Beide symbolisieren nicht sexuelle, sondern kulturelle Fruchtbarkeit. Ein weiterer Beleg für diese These ist die große Ähnlichkeit der ägyptischen Hieroglyphen für Messer und Pflug mit dem Alpha. Anders gesagt, im Alpha ist die Erinnerung an einen kastrierten männlichen Körper aufgehoben; es erzählt von der Verwandlung sexueller in geistige Fruchtbarkeit und legt damit den Grundstein für ein Denkmuster, das den Vorrang des Geistes vor der Materie, des Mannes vor der Frau, der Kultur vor der ›Natur‹ und dem ›Einen‹ vor dem ›Anderen‹ besagt.53 Bis heute belegen Begriffe wie Se52 Kallir, Sign and Design, S. 39. 53 Luce Irigaray: Speculum. Spiegel des anderen Geschlechts, Übers. Xenia Rajewski, Gerburg Treusch-Dieter, Regine Othmer, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1980; Claudia Honegger: Die Ordnung der Geschlechter. Die Wis-

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minar (das sich vom Samen ableitet) oder Pinsel/pencil (die mit Penis verwandt sind) die enge Beziehung zwischen dem Alphabet, dem logischen Denken und den männlichen Geschlechtsorganen.54 Der Preis dieses Primats geistiger Fruchtbarkeit liegt in einer symbolischen Kastration, die das Zeichensystem dem männlichen Körper abverlangt. Dadurch, dass die symbolische Kastration eine unsichtbare Kastration darstellt, ist der Opfercharakter des Zeichensystems in der griechischen, römischen und christlichen Kultur in Vergessenheit geraten. Wer schreibt (oder bezahlt), ist sich in der Regel nicht bewusst, dass er ein symbolisches Kastrationsopfer darbringt,55 denn anders als die jüdische Religion, gingen all jene Kulturen, die sich des vokalisierten Alphabets bedienten, allmählich zum Verzicht auf den Ritus der Beschneidung über. Zwar besitzt die Beschneidung auch im Judentum eine symbolische Bedeutung, dennoch ist der Verlust eines Teils der Vorhaut ein reales, fleischliches Opfer, das eine bleibende Verletzung und damit auch eine bleibende Erinnerung hinterlässt. Die Unsichtbarkeit der symbolischen Kastration spiegelt sich in der Behandlung der Vorhaut des Penis. In Griechenland war die Männlichkeit eines Mannes untrennbar mit der Länge und Unversehrtheit seiner Vorhaut verbunden. Nicht nur entsprach der unbeschnittene Penis dem griechischen Schönheitsideal, die Länge der Vorhaut galt auch als ›Ausweis‹ der Tugend und Tapferkeit eines griechischen Mannes sowie als Zeichen seiner kulturellen Überlegenheit. Der griechische Geschichtsschreiber Herodot interpretierte die Beschneidung als Merkmal der Rückständigkeit der ›Barbaren‹. »Anderswo tragen die Priester der Götter langes Haar; in Ägypten scheren sie es ab. Bei Trauerfällen haben die anderen Völker die Sitte, daß die nächsten Angehörigen sich das Haar abschneiden; in Ägypten läßt man, wenn jemand stirbt, Haupthaar und Bart wachsen, während man sich sonst schert. Andere Völker leben getrennt von den Tieren, die Ägypter leben mit den Tieren zusammen. Die anderen leben von Weizen und Gerste; in Ägypten gilt es als Schande, davon zu leben, vielmehr backt man das Brot aus einer anderen Gesenschaften vom Menschen und das Weib, 1750-1850, Frankfurt/Main: Campus 1991; Cornelia Klinger: »Beredtes Schweigen und Verschwiegenes Sprechen: Genus im Diskurs der Philosophie«, in: Renate Hof, Hadumod Bußmann (Hg.): Genus. Zur Geschlechterdifferenz in den Kulturwissenschaften, Stuttgart: Kröner 1995, S. 34-59. 54 Patricia Parker: »Virile Style«, in: Louise Fradenburg, Carla Freccero (Hg.): Premodern Sexualities, New York/London: Routledge 1996, S. 199222; im selben Band Elizabeth Pittenger: »Explicit Ink«, S. 223-242. 55 Dazu mehr in Kapitel V.

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treideart, die manche Leute Zeia nennen. Der Teig wird mit den Füßen geknetet, Lehm mit den Händen; man sammelt auch den Mist. Die Geschlechtsteile lassen die anderen Völker, wie sie sind; nur die Ägypter und die es von ihnen genommen haben, beschneiden sie.«56

Dass auch andere Kulturen die Beschneidung praktizierten, führte Herodot auf die politische und kulturelle Dominanz Ägyptens zurück. »Die Phoiniker und die in Palästina wohnenden Syrier geben selber zu, daß sie diese Sitte von den Ägyptern übernommen hätten […] Ob nun die Ägypter die Sitte von den Aithiopiern übernommen haben oder umgekehrt, das kann ich nicht sagen; denn sie ist uralt. Daß die anderen sie aber infolge des Verkehrs mit Ägypten angenommen haben, dafür ist mir auch Beweis, daß die mit Hellas im Verkehr lebenden Phoiniker sich nicht nach den Ägyptern richten und ihre Kinder nicht beschneiden.«57 Der Anblick der beschnittenen Vorhaut erfüllte Griechen (und später auch Römer) mit Abscheu und veranlasste sie zu Spott. Als Attribut des Satyrs wurde er der Lächerlichkeit preisgegeben, auch wurden Sklaven mit grotesk vergrößerten und beschnittenen Penissen dargestellt. Griechischen Bürgern war die Beschneidung des Penis streng untersagt; der Verstoß gegen dieses Verbot konnte zu bestimmten Zeiten mit dem Tode bestraft werden.58 Juden wurden in der Regel Ausnahmegenehmigungen erteilt, die ihnen das Recht auf Beschneidung ihrer männlichen Nachkommen gewährten; nicht zugestanden wurde ihnen jedoch das Recht, auch ihre Sklaven zu beschneiden. Trotzdem scheint es immer wieder zu gewalttätigen Versuchen gekommen zu sein, Juden die Beschneidung zu verbieten. Zur Regierungszeit des für seine Härte bekannten Antiochus IV Epiphanes (175-165 v. Chr.) steinigte man Rabbis, die die Beschneidung durchführten und warf sie anschließend den Hunden zum Fraß vor.59 Das Buch der Makkabäer enthält einen Bericht aus der Zeit des Antiochus, in dem es heißt: »Die Weiber, welche ihre Kinder beschnitten, wurden getötet wie Antiochus geboten hatte. Die Eltern wurden in ihren Häusern erwürgt und die Kinder drinnen aufgehängt.« (1. Makk 1, 63f.) Eine ähn56 Herodot: Historien, deutsche Gesamtausgabe, mit einer Einl. von W.F. Otto, neu hrsg. und erl. von H.W. Haussig, Stuttgart: Kröner 1955, 2. Buch, Abschn. 34. 57 Herodot, Historien, 2. Buch, Abschn. 104. 58 Frederick M. Hodges: »The Ideal Prepuce in Ancient Greece and Rome: Male Genital Aesthetics and Their Relation to Lipodermos, Circumcision, Foreskin Restoration, and the Kynodesme«, in: The Bulletin of the History of Medicine 75 (2001), S. 375-405; David M. Friedman: A Mind of Its Own. A Cultural History of the Penis, London: Robert Hale 2002, S. 4-9. 59 Friedman, Mind, S. 11.

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lich harte Verfolgung ist für das Römische Reich überliefert. Um das Jahr 123 erneuerte der römische Kaiser Hadrian ein Gesetz, das die Beschneidung mit Kreuzigung bestrafte.60 Als die Kastrationskulte der Kybele, Meter, Isis und Artemis – in deren Heiligtümern kastrierte Priester dienten61 – in Griechenland und später Rom eingeführt wurden, ›importierte‹ man das männliche Personal aus dem ›barbarischen‹ Umland.62 Der griechischen und römischen Abscheu vor dem beschnittenen Penis entspricht die hohe Wertschätzung der unbeschnittenen, verlängerten Vorhaut.

Abbildungen 3 und 4: Penis mit Kynodesme und akroposthion, (3) Weinkühler (Detail): Satyr mit Kynodesme, der den Penis aufrollt; um 500-470 v. Chr., British Museum, London; (4) Shuvalov Maler, ca. 430 v. Chr. Berlin, Antikenmuseum

Überliefert ist die Idealisierung der Vorhaut in der griechischen Kunst, etwa in der Skulptur oder der Vasenmalerei. Die Tapferkeit eines Helden spiegelte sich in seinen ›idealen‹ Körpermaßen, wozu ein ›kleiner‹ Penis ebenso gehörte wie eine über die Eichel hinausragende Vorhaut.63 Die griechische Sprache verfügte über eine genaue Terminologie, um die verschiedenen Teile der Vorhaut voneinander zu unterscheiden. Als posthe bezeichnete man die Vorhaut allgemein bzw. den Teil, der sich bis zur 60 Hodges, Prepuce, S. 398. 61 Hugo Hepding: Attis. Seine Mythen und sein Kult, Gießen: Ricker 1903; Gerard Seiterle: »Artemis: Die Große Göttin von Ephesos«, in: Antike Welt 10/3 (1974), S. 3-16; Walter Burkert: Antike Mysterien. Funktionen und Gehalt, München: Beck 1994; Walter Burkert: Homo Necans. Interpretationen altgriechischer Opferriten und Mythen, 2., um ein Nachwort erweiterte Aufl., Berlin: de Gruyter 1997. 62 Taylor, Castration, S. 142ff. 63 Hodges, Prepuce, S. 375 -405.

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Eichel erstreckte. Unter akroposthion (akro – spitz, hervorstehend) verstand man jenen zipfelförmige Teil der Vorhaut, der über die Spitze der Eichel hinausragte und diese fest umschloss.64 So hoch schätzte man die Bedeutung der Vorhaut für die Konstruktion von Männlichkeit ein, dass posthe gewöhnlich auch als Bezeichnung für den Penis insgesamt gebraucht wurde. Die Gleichsetzung von Vorhaut mit Penis rückte die Beschneidung mithin in die Nähe der Kastration. Im Idealfall sollte das akroposthion lang genug sein, um die Eichel auch im Falle einer Erektion nicht zu entblößen. Auf einem Becher aus dem 6. Jahrhundert ist eine Liebesszene dargestellt, in der der erigierte Penis des Mannes, mitsamt der über die Eichel reichenden Vorhaut, in die Vagina der Frau einzudringen versucht. Das Ideal der verlängerten Vorhaut blieb nicht auf die Kunst beschränkt, sondern griff auch auf das ›wirkliche‹ Leben über. Die öffentliche Sichtbarkeit des nackten männlichen Körpers war ein wichtiger Bestandteil des politischen Lebens der griechischen Stadtstaaten: etwa beim Sport im Gymnasium, bei den olympischen Wettkämpfen oder bei Abstimmungen der Bürger auf der Akropolis.65 Männer konnten auf mechanische und medizinische Hilfsmittel zurückgreifen, um das gewünschte Aussehen des akroposthions zu erzielen. Eines dieser Hilfsmittel ist der Kynodesme (Vorhautbinde): ein schmaler Riemen, mit dem man die Vorhaut über die Eichel zog, ihn dann um die Lenden schlang, im Schambereich zu einer Schleife band und verknotete. Ärzte behandelten eine zu ›kurze‹ Vorhaut unter der Krankheitsbezeichnung lipodermos (lipos ohne, dermos Haut), worunter man sowohl eine angeborene als auch eine etwa durch Beschneidung herbeigeführte Verkürzung der Vorhaut verstand. Die therapeutischen Maßnahmen, die man zur ›Heilung‹ dieser ›Krankheit‹ ergreifen konnte, waren zahlreich. Neben Salben aus Honig und Thapsia – ein Heilkraut, dem man eine Haut verlängernde Wirkung zuschrieb – kamen mechanische und chirurgische Eingriffe in Frage. So wurde etwa empfohlen, die Vorhaut regelmäßig zu massieren und sie danach mit Hilfe von Papyrusbinden, Riemen oder Gewichten zu dehnen. Der griechische Arzt Soranus (2. Jh. n. Chr.) beschreibt eine – sicherlich höchst schmerzhafte – Prozedur, in der die Vorhaut mit Hilfe eines Hakens so weit wie möglich gedehnt, dann mit pflanzlichem ›Klebstoff‹ bestrichen und mit einer Papyrusbinde versehen wurde, um zu verhindern, dass sie sich wieder zurückzog.66 Juden wurde nachgesagt, sie benutzten Gewichte (den so genannten »pondus judaeus«), um beim Ba64 Hodges, Prepuce, S. 377. 65 Richard Sennett: Fleisch und Stein: Der Körper und die Stadt in der westlichen Zivilisation, Übers. Linda Meissner, Berlin: Berlin-Verlag 1995. 66 Hodges, Prepuce, S. 397.

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den in den öffentlichen Badehäusern ihre beschnittene Vorhaut zu verbergen. Eine operative Therapie, die ebenfalls mit beträchtlichen Schmerzen verbunden gewesen sein muss, bestand darin, die Vorhaut mit einem Skalpell von der Oberfläche des Penis zu lösen, zu dehnen und mit Hilfe von Ringen am zurückziehen zu hindern.67 Die Vorhautbehandlungen besaßen keinen (im Sinne der Krankheitsvorsorge zu rechtfertigenden) prophylaktischen oder hygienischen Nutzen. Sie folgten symbolischen Gesetzen und trugen damit zur Konstitution des männlichen Körpers als Symbolgestalt des Alphabets und der von ihm in Gang gesetzten Logik bei. Sichtbar werden diese Gesetze an der lebensgroßen Skulptur eines Speerwerfers (Doryphoros), die der griechische Bildhauer Polykleitos im 5. Jahrhundert v. Chr. geschaffen hatte, die bald den Beinamen ›Kanon‹ erhielt und in zahlreichen Kopien auf öffentlichen Plätzen in Griechenland und später in Rom zu sehen war. Polykleitos hatte den Begriff des ›Kanon‹ in einer Lehrschrift gleichen Namens auf die idealen Proportionen des männlichen Körpers bezogen, als deren Illustration er den Doryphoros geschaffen haben soll. Etymologisch stammt der Begriff ›Kanon‹ aus dem Bereich des Bauens, historisch ist er untrennbar mit der Entwicklung der Schriftkultur verbunden. Im Altägyptischen, Sumerischen und Hebräischen bedeutet Kanon »Rohr« oder »gerade Stange« und bezeichnet das Material aus dem man Hütten und Häuser baute.68 Im Griechischen nimmt der Begriff eine abstraktere und normative Bedeutung an, im Sinne von Richtscheit, Maßstab oder Lineal, aber auch Vorbild. Der Kanon diente als Instrument zur Orientierung und Messung, um die idealen Proportionen eines Gebäudes zu bestimmen. Als Verkörperung des Kanons gab der »Speerträger« dieser unsichtbaren Norm die Gestalt des männlichen Körpers. Seine Perfektion spiegelte die Autonomie der Gesetze der Buchstabenschrift. »Mit dem idealen, d.h. berechenbaren, Körper war nicht der Körper allgemein, sondern der männliche Körper gemeint. Nur dieser repräsentierte – im Sinne eines Symbolträgers – die Berechenbarkeit der Schriftlichkeit und des Kanons. Der weibliche Körper hingegen symbolisierte das Unberechenbare, ›Unreine‹ und Auszusondernde.«69 Was für den weiblichen Körper galt, ließ sich auch vom beschnittenen ›jüdischen Körper‹ sagen. Es liegt mithin nahe, in der hohen Wertschätzung des akroposthions einen am männlichen Körper sichtbar gemachten Effekt des spezifischen Phantasmas des vokalisierten griechischen Alphabets zu sehen. So wie das Hinzufügen der Vokale das Zeichensystem als voll67 Hodges, Prepuce, S. 397ff. 68 Assmann, Gedächtnis, S. 103-111. 69 Braun, Schwindel, S. 94.

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kommen, d.h. auch vollkommen vom Körper, losgelöst erscheinen ließ, so verdeckte der ›Kult‹ um das akroposthion die symbolische Kastration, die der Buchstabe dem männlichen Körper abverlangte. Denn das Schreiben der Vokale schaffte die im Alpha bis heute aufgehobene symbolische Kastration nicht aus der Welt, sie verschleierte sie lediglich.70 Hier liegt die Verbindung zu der von Friedrich Kittler vorgeschlagenen Abschaffung der Software. Meine These ist, dass sich in der Fetischisierung der Hardware der Wunsch äußert, die verschleierte (unbewusste) Realität der symbolischen Kastration, die mit dem Judentum und dem hebräischen Alphabet identifiziert wird, aus der Welt zu schaffen. Freud hat den Ursprung des Antisemitismus im Kastrationskomplex vermutet. »Der Kastrationskomplex ist die tiefste unbewußte Wurzel des Antisemitismus, denn schon in der Kinderstube hört der Knabe, daß dem Juden etwas am Penis – er meint, ein Stück des Penis – abgeschnitten werde, und dies gibt ihm das Recht, den Juden zu verachten.« So problematisch Jacques Lacans Definition des Phallus – insbesondere seine Projektion des Phallus auf den Penis – aus der Perspektive der Geschlechterforschung auch sein mag, er scheint sehr genau gesehen zu haben, dass das männliche Subjekt als Inhaber des »primären Signifikanten« seine Signifikationsmacht der symbolischen Kastration verdankt. Während Lacan von der symbolischen Beschneidungsmacht der Alphabetschrift ausging und erkannte, dass die Konstitution männlicher Subjektivität auf der Verhüllung der Kastration beruht, denkt Kittler im Kontext der digitalen Medientechnologien, die mit ihren ›trügerischen‹ Oberflächen den Phallus so gründlich verschleiern, dass er nicht mehr zu erkennen ist. Gleichzeitig intensivieren die Benutzeroberflächen der digitalen Medien – eben weil sie die Aufmerksamkeit auf die Verhüllung lenken – unweigerlich die Erinnerung an die symbolische Beschneidung. Slavoj Zizek hat argumentiert, dass die digitalen Medien phallische Signifikationsmuster in Frage stellen. Weil die im Computerinterface erlebten Simulationen auf keine materielle Realität mehr verweisen, werde es zunehmend schwieri-

70 Auch das Christentum kennt die Idealisierung der Vorhaut. Im 11. Jahrhundert entstand der bis heute praktizierte »Kult der hl. Vorhaut«. Der Kult basiert auf einer Reliquie der Vorhaut Jesu, die er bei seiner Beschneidung eingebüßt habe und die um das Jahr 1073 in eine Kapelle der Lateranbasilika überführt worden sei. Seitdem wird die Reliquie als »LateranPraeputium« verehrt. Weitere Stücke der heiligen Vorhaut sind im Laufe des Mittelalters in vielen Klöstern aufgetaucht. Vgl. Alphons Victor Müller: Die hochheilige Vorhaut Christi im Kult und in der Theologie der Papstkirche, Berlin: C.A. Schwetschke u. Sohn 1907.

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ger, dem Phallus eine »materielle Kausalität«71 zuzuweisen. Zudem werde im Cyberspace – so Zizek – aufgrund der Phantasie, den physischen Körper am Bildschirm zurückzulassen und sich einen Datenkörper zuzulegen, die Kluft zwischen Körper und Medium deutlicher als in jedem anderen Medium erfahren: »Im Cyberspace sind wir zwar frei, eine symbolische, telematische Identität zu wählen, aber diese wird uns immer verraten, da sie niemals mit uns übereinstimmt und wir akzeptieren müssen, daß wir im Cyberspace von einem bezeichnenden Element repräsentiert werden, das als unser Doppelgänger in den virtuellen Schaltkreisen zirkuliert. Im Cyberspace ist ›alles möglich‹, aber nur um den Preis, daß wir eine fundamentale Unmöglichkeit akzeptieren: Du kannst der trennenden Verbindung durch das Interface nicht entgehen, seiner Umleitung, die das Subjekt des Aussagens für immer von seinem symbolischen Doppelgänger auf Distanz hält.«72

Auf der anderen Seite sind die digitalen Medien mit ihren immer perfekteren, verführerischen Oberflächen selbst Versuche, mit Hilfe der »Strategien des Scheins« die Lücke zwischen Zeichen und Körper zu verschleiern. Für das männliche Subjekt kann eine Form des Umgangs mit dieser widersprüchlichen Situation darin bestehen, den medialen ›Schleier‹ für überflüssig zu erklären und dabei selbst die Rolle des ›Beschneiders‹ zu übernehmen, der diesen ein für alle Mal beseitigt. Wo keine Vorhaut mehr ist, kann auch nichts beschnitten werden. Weil sich aber das Unbewusste der Medien nicht abschaffen lässt – auch nicht unter Hardwarebedingungen – wird die symbolische Kastration dem männlichen Subjekt eingeschrieben bleiben. Ganz gewiss lässt sich die symbolische Kastration auch durch den gewaltsamen Versuch, die Welt auf Hardwarebedingungen zu reduzieren, nicht (mehr) aus der Welt schaffen. Denn für ihre Programmierung ist die Hardware nach wie vor auf alphanumerische Zeichen angewiesen, die sich aus dem Alphabet ableiten. Dass Kittlers Medientheorie auf absehbare Zeit hin Utopie bleiben wird, heißt jedoch nicht, dass sie wirkungslos sein muss: »Die Schere«, so schreibt Kittler, »die sich zwischen Hard- und Software auftut, lädt

71 Slavoj Zizek: »Cyberspace: von der Möglichkeit die Phantasmen zu durchqueren«, in: Sigrid Schade, Georg Christoph Tholen (Hg.): Konfigurationen. Zwischen Kunst und Medien, München 1999, S. 104-121, hier: Zit. S. 111. 72 Zizek, Cyberspace, S. 108.

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aber zu brachialen Lösungen nachgerade ein.«73 Mit einem Hammer kann man einen Menschen erschlagen. Damit es nicht so weit kommt, ist es wichtig, so viel wie möglich über das Unbewusste der Medien und seine Wirkungen zu erfahren. Zum Beispiel darüber, auf welche Weise das ›Geheimnis‹ der Männlichkeit auf den weiblichen Körper verschoben wurde.

73 Kittler, Hardware, S. 125.

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K A P I T E L III. METAMORPHOSEN: BILDKÖRPER ZWISCHEN KUNST UND ANATOMIE »Im anthropologischen Blick erscheint der Mensch nicht als Herr seiner Bilder, sondern – was etwas ganz anderes ist – als ›Ort der Bilder‹, die seinen Körper besetzen: er ist den selbst erzeugten Bildern ausgeliefert, auch wenn er sie immer wieder zu beherrschen versucht. Seine Bilderzeugnisse aber beweisen, daß der Wandel die einzige Kontinuität ist, über die er verfügt.«1 Dieses Kapitel enthält ausschließlich Bilder. Das Leitthema der Bilder ist der Schwan in der Malerei der Frühen Neuzeit und seine assoziative und ikonographische Nähe zur Wahrnehmung von Penis und Klitoris im medizinischen Diskurs. »Der Bildeindruck, den wir durch ein Medium empfangen, steuert die Aufmerksamkeit, die wir den Bildern widmen, denn ein Medium hat nicht nur physisch-technische Beschaffenheit, sondern auch eine historische Zeitform. Unsere Wahrnehmung unterliegt einem kulturellen Wandel, obwohl unsere Sinnesorgane sich seit urdenklichen Zeiten nicht geändert haben. An dieser Tatsache ist die Mediengeschichte der Bilder maßgeblich beteiligt. Daraus folgt der Grundsatz, daß die Bildmedien den Bildern nicht äußerlich sind.«2

Diese ›unheimliche‹ Wirkung der Bilder will die folgende Bildauswahl sichtbar machen; aus diesem Grund werden die Bilder zunächst lediglich durch Titel- und Ortsangabe kontextualisiert. Eine Interpretation der Bildauswahl erfolgt in Kapitel IV.

01 Hans Belting: Bild-Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft, München: dtv 2001, S. 12. 02 Belting, Bild-Anthropologie, S. 20.

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Abbildungsnachweise Abbildung 5: Leonardo da Vinci, Leda mit dem Schwan, 1505-1510, Öl auf Holz, Wilton House, Salisbury, Alinari Archives/CORBIS, Photo: Mauro Magliani Abbildung 6: Penismuskulatur, Kupferstich in: Thomas Bartholin, Anatomia, Haga-Comitis 1660 (Universitätsbibliothek, Humboldt-Universität zu Berlin) Abbildung 7: Correggio, Leda mit dem Schwan, um 1532, Staatliche Museen zu Berlin, Gemäldegalerie Abbildung 8: Penismuskulatur in situ, Kupferstich in: Giulio Casserio, Tabulae Anatomicae, Venedig 1627 (Universitätsbibliothek, Humboldt-Universität zu Berlin) Abbildung 9: Initiale in: William Cowper, Mytomia Reformata, London 1724 (Thomas Fisher Rare Book Library, University of Toronto) Abbildung 10: Penismuskulatur, Kupferstich in: John Browne, Compleat Treatise of the Muscles, London 1681 (Thomas Fisher Rare Book Library, University of Toronto) Abbildung 11: François Boucher, Leda mit dem Schwan, Öl auf Leinwand, 1742, Privatsammlung Linda und Stuart Resnick Abbildung 12: Kulturkanal Arte, Programmankündigung Abbildung 13: Tintoretto, Leda mit dem Schwan, Öl auf Leinwand, ca. 1555, Florenz, Galleria degli Uffizi Abbildung 14: Portrait des Vesalius, Kupferstich in: Andreas Vesalius, Fabrica de humanis corporis libri decem, Basel 1543 Abbildung 15: Initiale in: William Cowper, Mytomia Reformata, London 1724 (Thomas Fisher Rare Books Library, Toronto) Abbildung 16: Aviana, schwarz-weiß Photographie, J.K. Potter, in: Long Shot 1999

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K A P I T E L IV. DER ORT DER BILDER: DIE ERFINDUNG DER KLITORIS »Es läuft auf einen Akt der Metamorphose hinaus, wenn sich die gesehenen in erinnerte Bilder verwandeln, die fortan in unserem persönlichen Bildspeicher einen neuen Ort finden. Wir entkörperlichen in einem ersten Akt die äußeren Bilder, die wir ›zu Gesicht bekommen‹, um sie in einem zweiten Akt neu zu verkörpern: es findet ein Tausch zwischen ihrem Trägermedium und unserem Körper statt, der seinerseits ein natürliches Medium bildet.«1 Was der Bildwissenschaftler Hans Belting hier beschreibt, ist das unauflösliche Wechselverhältnis zwischen Körper und Bild. Der menschliche Körper dient als »Ort der Bilder« in zweifacher Weise: Äußerliche Bilder werden zu Gedächtnis- und Erinnerungsbildern umgewandelt, die im Körper existieren; Bilder (und Bildmedien), die uns umgeben, prägen die Wahrnehmung des Körpers, »sie steuern unsere Körpererfahrung durch den Akt der Betrachtung in dem Maße, wie wir an ihrem Modell die Eigenwahrnehmung ebenso wie die Entäußerung unserer Körper üben«.2 Aber kann man diese Metamorphosen ohne Geschlechterbilder denken? Stellen männliche und weibliche Körper nicht unterschiedliche Orte der Bildverkörperung zur Verfügung? Werden männliche und weibliche Körper nicht auf ganz verschiedene Art von den Bildern erfasst? Und prägen sich die Identität des Subjekts sowie die Wahrnehmung des eigenen Körpers nicht ganz wesentlich durch die Identifizierung mit Geschlechterbildern aus? Daran anschließend stellt sich die Frage, in welcher Weise der geschlechtliche Körper, gerade weil er als Ort der Bilder fungiert, ein ›Instrument‹ im Umgang mit der unheimlichen Verkörperungsmacht der Bilder bereitstellt, das es dem männlichen Subjekt erlaubt, sich als Herr der Bilder zu fühlen. Die Geschichte der Klitoris kann zeigen, dass die symbolische Beschneidungsmacht des perspektivischen Bildes, die den männlichen Körper betrifft, 01 Belting, Bild-Anthropologie, S. 21. 02 Belting, Bild-Anthropologie, S. 13f.

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sich auf den Körper der Frau verschiebt. Der weibliche Körper wird von einem leeren Bild besetzt; weil er ›nichts‹ vorzuzeigen hat, verkörpert er den Mangel ›an sich‹.

Der Penis und der Schwan Im 17. Jahrhundert begegnet man in Abbildungen des Penis einer eigentümlichen Ikonographie, die sich deutlich von den Darstellungskonventionen der vorangegangenen Jahrhunderte unterscheidet: Der Penis scheint zu ›posieren‹, scheint sich selbst für den Blick des Betrachters in Szene zu setzen. Mit seinem aufgereckten, leicht gekrümmten Hals und der ihn wie zwei Flügel umgebenden Becken- und Beinmuskulatur ähnelt er eher einem Schwan als einem männlichen Genital (Abb. 7, 8, 10). Oft kopiert wurde ein Kupferstich aus der berühmten Anatomia (1651) des dänischen Anatomieprofessors Thomas Bartholin.3 Sein Lehrbuch avancierte schnell zum Standardwerk, erlebte zahlreiche Auflagen und wurde in viele Sprachen übersetzt. Obwohl sich diese Ikonographie bereits in Andreas Vesalius’ bahnbrechender Fabrica abzeichnete, werden die Ähnlichkeiten mit dem Körper des Schwans erst im Laufe des 17. Jahrhunderts voll ausgearbeitet. Besonders interessant ist eine Ansicht aus Giulio Casserios anatomischem Atlas Tabulae Anatomicae LDXXVIII (1627),4 die – so heißt es dort wörtlich – »den Penis in seiner natürlichen

03 Die von mir benutzte Ausgabe ist Thomas Bartholin: Anatomia, Ex Caspari Barthonini Parentibus Institutionibus, Omniumque Recentiorum & propriis Observationibus: Tertiùm ad sanguinis Circulationem Reformata; Cum Iconibus novis accuratissimis, Hagae-Comitis 1660. [Stiftung Preußischer Kulturbesitz – Staatsbibliothek zu Berlin, Abt. Historische Drucke, Sign. 8, Kt 7930], die deutsche Ausgabe in der Übersetzung von Elias Wallner erschien bei Johann Hoffmann unter dem Titel: Neu=verbesserte Kuenstliche Zerlegung deß menschlichen Leibes /Jn vier absonderliche Buecher eingetheilet […], Nürnberg 1677 [Staatsbibliothek zu Berlin – Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Kt 7944a]. Bei der Anatomia handelt es sich um eine Neubearbeitung der Institutiones Anatomicae (1611) seines Vaters Kaspar Bartholin. 04 Giulio Casserio: Tabulae Anatomicae LXXVIII, Venedig 1627. [HumboldtUniversität zu Berlin, Zweigbibliothek für Wissenschaftsgeschichte]. Der Bildband besteht aus 78 großformatigen, aufwendig gestalteten Kupferstichen, die – wie das Titelkupfer vermerkt – »alle neuartig und niemals zuvor gesehen wurden« (omnes novae nec ante hac visae). Er wurde von Daniel Bucretius posthum verlegt und mit der Fabrica Adriaan van de Spieghels, die keinerlei Abbildungen enthält, zusammengebunden; vgl. dazu K.B. Roberts, J.D.W. Tomlinson: The Fabric of the Body. European Tradi-

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Umgebung, ohne die Haut zeigt, um seine Anatomie sichtbar zu machen«.5 Der Kupferstich, der, abgesehen von dem sezierten Penis, eher an ein Kunstwerk als an eine wissenschaftliche Abbildung erinnert, enthält offensichtlich viel mehr, als zur anatomischen Darstellung des Penis nötig gewesen wäre. Besonders aufschlussreich sind die Parallelen der »natürlichen Umgebung« des Penis zu den künstlerischen Darstellungen der Leda mit dem Schwan. Nicht nur erinnern Schenkel und beschnittener Penis des liegenden Mannes an einen Schwan; bis in die Fingerspitzen imitiert die Haltung des Mannes die der Leda (wie sie uns von Correggio vorgestellt wird): Nymphe und Schwan verschmelzen hier zu einer Gestalt (Abb. 7). Diese Ikonographie scheint so sehr überzeugt zu haben, dass sie in leicht abgewandelter Form in anderen anatomischen Lehrbüchern reproduziert wurde. So etwa in John Brownes Compleat Treatise of the Muscles (1681), wo die erotischen Aspekte durch die Platzierung der Figur auf einem Bett noch verstärkt werden.6 Die Autoren der Lehrbücher nehmen in der Regel keinen Bezug auf die Ikonographie der Illustration, so als würde diese für sich selbst sprechen. Eine Erklärung scheint vielmehr erst dann nötig, wenn das Bild des Penis von der üblichen Ikonographie abweicht. So etwa in der deutschen Ausgabe der Anatomia. Dort ist dieselbe Illustration seitenverkehrt abgedruckt und der Übersetzer und Herausgeber Elias Wallner vergleicht die Form des Penis mit dem Buchstaben ›S‹. »Diese Harn=Roehre umgeben und umfassen die Spann=adrige Stuecke der Ruten /unter welchen sie liget; sie wird mit ihnen zugleich zurueck gebogen /auch ferner bis zu der Eichel ausgestrecket /also /daß sie auf diese Weise die Gestalt des Buchstabens S abbildet.«7

Das ›S‹ lenkt nicht nur die Aufmerksamkeit auf den Schwan, sondern zeigt auch, was sich hinter dieser Ikonographie verbergen könnte. Sotions of Anatomical Illustration, Oxford [u.a.]: Clarendon Press 1992, S. 261. 05 Casserio, Tabulae, S. 76; meine Übersetzung, der lateinische Originaltext lautet: »penis in naturali suo situ, sed cute nudatus, ut omnes partes videri queant.« 06 John Browne: A Compleat Treatise of the Muscles, as they Appear in Humane Body, and Arise in Dissection: with Diverse Anatomical Observations not yet Discover’d: Illustrated by Near Fourty Copper-plates, Accurately Delineated and Engraven, London 1681. Für Informationen zu diesem Band und seinem Autor siehe die vorzügliche Datenbank der Fisher Library of Digital Collections: http://link.library.utoronto.ca/anatomia. 07 Bartholin, Kuenstliche Zerlegung, S. 255.

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wohl Schwan als auch ›S‹ sind Repräsentanten einer ›höheren Macht‹. Als Symboltier des Göttervaters Zeus, aus der griechischen Mythologie für seine Virilität bekannt, stattet der Schwan den verletzten Penis mit den Insignien phallischer Potenz aus, während der Buchstabe ›S‹ auf die Definitionsmacht des alphabetischen Logos verweist. Die Form des Schwans streift dem sezierten Genitale, das seiner Vorhaut ›beraubt‹ wurde, eine – im übertragenen Sinne gesprochen – symbolische Vorhaut über und verleiht ihm damit das Kennzeichen ›vollständiger‹ Männlichkeit (Abb. 9). Die Imagination des beschnittenen Penis als Schwan stellt den Versuch dar, mit der im Kontext der anatomischen Sektion unvermeidlichen Beschneidung des Penis umzugehen. Zwar trug die Zergliederungskunst, die in der Frühen Neuzeit eine neue Blüte erlebte, zur Konstruktion eines neuen, scheinbar natürlichen Körperbildes bei, gleichzeitig lenkte sie die Aufmerksamkeit aber auch auf die Realität der symbolischen Beschneidung. Das Messer des Anatomen übersetzte die zergliedernde, gleichwohl symbolische Gewalt des zentralperspektivischen Blicks in echte, physische Schnitte an wirklichen Körpern. Während der Maler seine Objekte im Geiste zerlegte, um sie zu einem neuen, normierten Körperbild zusammenzusetzen, basierte das neue Bild des Körpers, welches die anatomischen Illustrationen dem staunenden Leser vor Augen führten, auf der Zergliederung echter Körper.8 Die großen anatomischen Theater in Städten wie London, Leiden, Göttingen und Padua zogen Hunderte zahlender Zuschauer an, die der Zerlegung des menschlichen Körpers ›live‹ beiwohnten.9 Ab der Mitte des 16. Jahrhunderts zirkulierten wissenschaftliche Illustrationen des Penis, die keinen Zweifel daran ließen, dass dieser unter das Messer des Anatomen gekommen war. Nicht nur war das männliche Genital vom Anatomen beschnitten worden, der Penis wurde auch im Stadium des Beschnittenseins abgebildet, um seine Anatomie in medizinischen Lehrbüchern zugänglich zu machen. In der Praktik der anatomischen Zergliederung kommt es mithin zu einer Überlagerung von symbolischer und physischer Beschneidung. Die frühneuzeitlichen Anatomen sahen und sezierten den Penis nach den Regeln der zentralperspektivischen Konstruktion und fügten ihn im Bild als Phallus neu zusammen. Und indem sie dies taten, konnten sie gar nicht anders, als sich mit der Realität der symbolischen Kastration auseinander zu setzen. Das Entscheidende an der Praxis der anatomischen Sektion ist nicht, dass dabei möglicherweise reale Kastrationsängste aufgerufen werden. 08 Roberts/Tomlinson, The Fabric of the Body. 09 Jonathan Sawday: The Body Emblazoned: Dissection and the Human Body in Renaissance Culture, London: Routledge 1995.

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Ebenso wie der Maler mit Hilfe des perspektivischen Verfahrens seinen Körper stillstellte und sich als unkörperlicher, von seinem Objekt unberührter Blick imaginierte, lernte der Anatom, die Empfindungsfähigkeit seiner Hände, die den Leichnam auf dem Seziertisch berühren mussten, zu ›betäuben‹, um sie als »Instrumente der Vernunft«10 zu gebrauchen, die ihn selbst unberührt ließen (Abb. 14). Das Entscheidende an der anatomischen Zergliederungskunst ist vielmehr, dass die vom Messer des Chirurgen vorgenommene Beschneidung des Penis die symbolische Kastration vergegenwärtigt, die dem männlichen Subjekt beim Eintritt in die symbolische Ordnung abverlangt wird. Christina von Braun hat in Versuch über den Schwindel die dem Alphabet implizite symbolische Kastration in Worten beschrieben, die an die anatomische Sektion erinnern. »Mag sein, daß die Schnitte, die die Verschriftlichung des Denkens und der Sprache mit sich bringt – Schnitte, die ›Entkörperung‹ besagen und die Herauslösung der Zunge aus dem Leib beinhalten […], daß also diese von Generation zu Generation wiederholten Verwundungen dazu beitrugen, daß sich das Secretum der Zeichen des Alphabets im kollektiven Gedächtnis erhalten konnte. […] Diese Interpretation impliziert allerdings, daß die ›symbolische Kastration‹ keine Drohung von außen darstellt, sondern wie die Alphabetschrift selbst, als großartige Erfindung des abendländischen Menschen zu betrachten ist – als eine selbstgesetzte Drohung also, die […] zum Motor des abendländischen Erfindungsgeistes und der von ihm entwickelten Simulationstechniken wurde.«11

Der Erfindungsgeist der Anatomen (und der Künstler, die ihnen zur Hand gingen) bezog sich nicht nur auf die Verbesserung der Zergliederungstechniken, er bezog sich auch auf die Bedeutung der Körperteile. Die Vergegenwärtigung der symbolischen Kastration durch die Beschneidung des Penis sollte die Anatomen nicht nur zur ›Erfindung‹ der Klitoris führen, sondern im Laufe des 17. Jahrhunderts auch dazu beitragen, die symbolische Kastration vom Penis auf die Klitoris zu verschieben.

10 Zur Konstruktion der Hand als »Werkzeug der Vernunft« in der frühneuzeitlichen Anatomie siehe Katherine Rowe: »›God’s Handy Worke‹«, in: David Hillman, Carla Mazzio (Hg.): The Body in Parts: Fantasies of Corporeality in Early Modern Europe, New York: Routledge 1997, S. 285309. 11 Braun, Schwindel, S. 142. Selbstverständlich fügt die Alphabetschrift auch dem weiblichen Körper eine symbolische Wunde zu, da die Frau aber von der Position des Subjekts ausgeschlossen ist, bleibt ihre ›Wunde‹ kulturell unbedeutend.

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Will man Auskunft erhalten, wie diese Verschiebung vor sich ging und von welchen symbolischen Konflikten sie ausgelöst wurde, dann reicht es nicht aus, den Ärzten und Anatomen zuzuhören. Die Kunst, insbesondere die Malerei ist in dieser Beziehung weit auskunftsfreudiger. Während des Mittelalters beinahe in Vergessenheit geraten, wird das Motiv der Leda von Malern der Renaissance – u.a. Correggio, Michelangelo oder Tintoretto – zu neuem ›Leben‹ erweckt.12 Die Künstler wählen dabei meist den Moment, in dem der Schwan vom Körper der Leda Besitz ergreift (Abb. 5, 7, 13). Verdichtet ist diese Beziehung zwischen Beschneidung, Schwan und der Definitionsmacht des Alphabets in einer Initiale aus William Cowpers Myotomia Reformata (1724), in der zwei menschliche Arme und Hände die Flügel des Schwanes nachahmen, in deren Mitte sich jedoch kein ›Hals‹, sondern der Buchstabe ›A‹ befindet – d.h. derjenige Buchstabe, der die Erinnerung an die symbolische Beschneidung bewahrt. Kehren wir zu den Abbildungen von Casserio und Brown zurück. Die starke visuelle Bezugnahme der beiden Illustrationen auf die LedaDarstellungen der Malerei provoziert die Frage nach dem sozialen Geschlecht des Körpers, aus dem der schwanenartige Penis seinen ›Hals‹ aufreckt. Tatsächlich ist dies nicht eindeutig zu bestimmen. Beide Illustrationen sind durchzogen von Ambivalenzen. Sie zeigen einen in anatomischer Hinsicht männlichen Körper in ›weiblicher‹ Haltung. Der abgewendete Blick, die halb liegende, halb sitzende Haltung, die geöffneten Schenkel, die den Blick auf den beschnittenen Penis und Anus, der stark hervorgewölbt ist, freigeben, verwenden eine Ikonographie, die in der frühneuzeitlichen Anatomie zwar nicht ungewöhnlich war, die jedoch üblicherweise für voyeuristische Darstellungen von Frauen verwendet wurde.13 Die ›männliche‹ Gestalt bietet ihren Schambereich (insbesondere den Anus) den penetrierenden Blicken des Betrachters dar, ohne dessen Blick erwidern zu können. Brownes Illustration verstärkt den Eindruck voyeuristischer – pornographischer – Verfügbarkeit, indem sie die Figur in einem Innenraum auf einem Bett platziert. Zugleich sug12 Eine Aufstellung der künstlerischen Bearbeitungen der Verführung der Leda durch den Schwan gibt Jane Davidson Reid: The Oxford Guide to Classical Mythology in the Arts, 1300-1990, Oxford: Oxford University Press 1993, S. 628-635. 13 Sander L. Gilman: Sexuality. An Illustrated History. Representing the Sexual in Medicine and Culture from the Middle Ages to the Age of AIDS, New York [u.a.]: Wiley 1989; Daniela Hammer-Tugendhat: »Erotik und Geschlechterdifferenz. Aspekte zur Aktmalerei«, in: Daniela Erlach, Markus Reisenleitner, Karl Vocelka (Hg.): Privatisierung der Triebe. Sexualität in der Frühen Neuzeit, Frankfurt/Main: Peter Lang 1994, S. 367-445.

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gerieren der hervorgewölbte Anus und die Geburtshaltung, als stehe der Mann kurz vor der Niederkunft.14 Während die nicht zu übersehende Gestalt des Penis anzeigt, dass es sich hier um einen Mann handelt, deuten die fehlenden Hoden auf den Verlust seiner Fruchtbarkeit und die beschnittene Vorhaut auf eine Verletzung seiner Männlichkeit. In Casserios Kupferstich verstärken weitere, spiegelbildlich angeordnete Bildelemente die Ambivalenzen. Der fest auf dem Boden ruhende linke Fuß kontrastiert mit der Instabilität des rechten Fußes. Der starke linke Arm, der auf Casserios Bild einen Baum umklammert und dem Körper Halt verleiht, kontrastiert mit dem fast schon verkümmerten und merkwürdig gewundenen rechten Arm. Die gestreckte obere Hälfte des Körpers steht im Kontrast zu der gebeugten unteren Hälfte, was nicht nur in der Haltung der Beine, sondern auch in der Krümmung des Zeigefingers der rechten Hand zum Ausdruck kommt. Die ländliche, naturhafte Umgebung im Vordergrund kontrastiert mit der wehrhaften Burg im Bildhintergrund. Mit anderen Worten, die Abbildungen zeigen einen im anatomischen Sinne männlichen Körper, dessen kulturelle Identität von weiblichen Geschlechterkodierungen ›überschrieben‹ wird. Sie führen dem Betrachter vor Augen, dass der (beschnittene) Penis allein nicht die Männlichkeit des Subjekts verbürgt. Die Botschaften, die die Illustrationen vermitteln, scheinen sich zu widersprechen. Auf der einen Seite der Schwan als Symboltier für phallisch-potente Männlichkeit, auf der anderen Seite Beschneidung und Penetrierbarkeit als weibliche Markierung. Interpretiert man diese Kodierungen als Versuche, mit der symbolischen Beschneidung des männlichen Genitales umzugehen, die in der anatomischen Sektion sichtbar wird, dann lassen sie sich als Überlagerung zweier verschiedener Strategien lesen, die sich im Laufe des 17. Jahrhunderts ausdifferenzieren sollten. Die eine Strategie besteht darin, den beschnittenen Penis als Phallus zu ›verkleiden‹. (Ihre Ausprägung habe ich im vorigen Kapitel beschrieben.) Die andere – historisch ebenfalls wirkmächtige – besagt die Verschiebung der symbolischen Beschneidung auf die Klitoris, jene »weibliche Ruthe«, die man im 16. Jahrhundert ›entdeckt‹ zu haben glaubte. 14 Gilman, Sexuality, S. 127; Metaphern männlicher Mutterschaft sind in der Kunst und Literatur der frühen Neuzeit keine Seltenheit, vgl. Elizabeth D. Harvey: »Matrix as Metaphor. Midwifery and the Conception of Voice«, in: Andrew Mousley (Hg.): John Donne, Basingstoke: Macmillan 1999, S. 135-156, und Ruth Gilbert: »The Masculine Matrix: Male Births and the Scientific Imagination in Early Modern England«, in: Claire Jowitt, Diane Watts (Hg.): The Arts of Seventeenth-Century Science: Representations of the Natural World in European and American Culture, Aldershot/Brookfield: Ashgate 2002, S. 158-176.

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Eben diese Verschiebung deutet sich in der Ikonographie des Penis an, denn die Penisbilder können nicht nur als Darstellungen des Penis betrachtet werden, sondern auch als Vorstellungen der bis dato ungesehenen ›vergrößerten‹ Klitoris.

»So lang wie ein Schwanenhals«. Die Erfindung der vergrößerten Klitoris Die ›Entdeckung‹ der Klitoris in der Mitte des 16. Jahrhunderts gehörte zu den meistdiskutierten Ereignissen der frühneuzeitlichen Anatomie.15 So prestigeträchtig war ihre Inbesitznahme, dass sich zwei der berühmtesten Anatomen – Gabriele Fallopio und Realdo Colombo – darum stritten, wem der Titel des ›Entdeckers‹ gebühre. (Heute wissen wir, dass der Ruhm dem Franzosen Charles Estienne gebührt.16) Klar ist, dass diese ›Entdeckung‹ bestenfalls eine Wiederentdeckung war, denn der Medizin der Antike war die Klitoris längst bekannt, ja ihre Stimulierung – durch einen Arzt wohlgemerkt – diente als Hysterietherapie.17 Dass Frauen die Existenz dieses Körperteils auch ohne ärztliche Hilfe nicht verborgen geblieben sein dürfte, darf wohl zu Recht vermutet werden. Im europäischen Mittelalter allerdings war der Medizin das Wissen um die Existenz der Klitoris verloren gegangen, und so sah sich Realdo Colombo 1556 in der Lage, ihre Entdeckung mit folgenden Worten für sich zu reklamieren: »Sintemahl nun niemandt vor mir diese heimliche Proceß /auch deroselben Gebrauch vnd nutzbarkeit vermercket hat /da mir je gebuehrt /meinen eygenen Er15 Zur ›Entdeckung‹ der Klitoris im 16. Jahrhundert vgl. Thomas Laqueur: »Amor Veneris, vel Dulcedo Appeletur«, in: Michel Feher (Hg.): Fragments for a History of the Body, New York: Zone 1989, S. 90-131; Katharine Park: »The Rediscovery of the Clitoris«, in: Hillman/Mazzio (Hg.): The Body in Parts. S. 171-193; Valerie Traub: »The Psychomorphology of the Clitoris«, in: GLQ. Journal of Lesbian and Gay Studies 2 (1995), S. 81113. Zum Wissen von den Genitalien in der mittelalterlichen Medizin siehe Danielle Jacquart, Claude Alexandre Thomasset: Sexuality and Medicine in the Middle Ages, Übers. Matthew Adamson, Princeton: Princeton University Press 1988. 16 Charles Estienne: La dissection des parties du corps humain, Paris: Simon de Coline 1547. Estienne brachte die Klitoris allerdings mit Urinierung statt mit sexueller Erregung in Verbindung. 17 Rachel P. Maines: The Technology of Orgasm. »Hysteria,« the Vibrator, and Women’s Sexual Satisfaction, Baltimore [u.a.]: Johns Hopkins University Press 1999.

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findungen Nahmen auffzugeben /oder zu titulieren /wil ich sie mit dem Nahmen /Armor Veneris vel Dulcedo18, genennet haben. Es ist nicht auszusprechen /wie hoch vnd sehr ich mich verwundern thu /daß vnter so viel herrlicher ansehnlicher Anatomisten keiner dieser so besondern vnd verwunderlichen /auch dermassen nuetzlichen Sach Meldung gethan /ja zum wenigsten nicht daran gedacht.«19

Wie Colombos Namensgebung (Amor Veneris vel Dulcedo) nahelegt, stimulierte die Klitoris die Phantasie und Lüste der Anatomen auf das Vielfältigste. Neu an dieser wiederentdeckten Klitoris war, dass sie als weibliche Version des Penis beschrieben wurde, deren Anatomie der des Penis strukturell analog sei: »[A]lso daß es [die Klitoris] gleichsam ein Gestalt mentulae virilis anzeiget.«20 Auch in Bezug auf ihre Größe glaubte man, dass sie das Potential besitze, mit dem männlichen ›Original‹ mithalten zu können. Bartholin hält fest: »Dieses Theil wird dahero die weibliche Ruthe genannt /weil dasselbe eben die Laeger=Stelle besitzet /aus einem Wesen bestehet /auch also zusammengesetzet /mit Geistern erfuellet und ausgestrecket wird /der Eychel /dem Vorhaeutlein /der Gestalt nach /gleichwie die maennliche Ruthe beschaffen ist; zu dem waechset sie zuweilen ebenfalls so groß bey etlichen Weibern /da sie sonst insgemein etwas klein.«21

Etwa zur selben Zeit (und in den denselben Büchern) als die Abbildungen auftauchen, die den Penis als Schwan imaginieren, wird von Fällen berichtet, in denen die Klitoris zur Größe eines Schwanenhalses herangewachsen war. So heißt es in Stephen Blancaerts Reformirte Anatomie unter Bezugnahme auf einen Fall, den der Schweizer Anatom Felix Platter22 beschrieben hatte: »Platerus bezeuget /daß er einen so groß /als einen Schwanen=Hals gesehen.«23 Bartholins Anatomia bevorzugt den 18 ›Die Liebe oder Süßigkeit der Venus‹. 19 Realdo Colombo: Anatomia, Das ist Sinnreiche /Kuenstliche /Begruendte Auffschneidung /Theilung /vnnd Zerlegung eines vollkomenen Menschlichen Leibs und Coerpers […], Übers. Johann Schenk, Frankfurt/Main 1609, Buch 11, Kap. 14, S. 204. Das lateinische Original erschien 1565. 20 Colombo, Anatomia, S. 204. 21 Bartholin, Kuenstliche Zerlegung, S. 308f. 22 Felix Platter: De Corporis Humani Structura et Usu, libri I-III, Basel: Johannes Oporinus 1583. 23 Stephan Blancard: Reformirte Anatomie Oder Zerlegung des Menschlichen Leibes […], Übers. Tobias Peucer, Leipzig: Georg Moritz Weidmann 1691, S. 816.

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Vergleich mit einem Gänsehals – was man nicht als Widerspruch werten darf, da Schwäne zu den Gänsen gezählt wurden (und werden). Der Autor schreibt, »daß einmal diese weibliche Ruthe /wieder alle Gebuehr /fast in der Groesse eines Gans=Halses sey heraus erwachsen«.24 Die lateinische Ausgabe findet drastischere Worte für diese ›Monstrosität‹: »Es ist absolut wahr und es ist nicht natürlich und es ist monströs, dass sie bis zur Länge eines Gänsehalses wächst.«25 Die vergrößerte Klitoris galt als Ort und Auslöser homoerotischen Begehrens. Zwar wurde weibliche Homoerotik auch in der Medizin früherer Jahrhunderte diskutiert, ohne jedoch eine Verbindung zu genitalen ›Unregelmäßigkeiten‹ herzustellen. Erst mit der Wiederentdeckung der Klitoris im 16. Jahrhundert wird weibliches Begehren in der Form der Genitalien verortet.26 Die vergrößerte Klitoris erscheint als ›lesbischer‹ Penis, mit dessen Hilfe die so genannte »Tribade« sich selbst und anderen Frauen sexuelle Befriedigung verschaffe: sei es durch Penetration, sei es durch gegenseitiges Reiben der Genitalien. Der britische Hofchirurg und Autor eines einflussreichen anatomischen Lehrbuches, Helkiah Crooke, schreibt: »Es ist eben dieser Körperteil [die Klitoris], den diese teuflischen Weiber missbrauchen, die wir Tribaden nennen, zur Befriedigung ihrer gegenseitigen Lüste.«27 Der französische Maler François Boucher hat der ›lesbischen‹ Kodierung des Schwanenhalses in seiner Version der Leda mit dem Schwan Rechnung getragen (Abb. 11). Anders als auf den Gemälden des 15. und 16. Jahrhunderts, die den anatomischen Illustrationen als Inspirationsquelle gedient hatten, scheint Bouchers Bild vom Diskurs der Anatomie beeinflusst. Nun nähert sich der Schwan einem in zärtlicher Umarmung verbundenen Frauenpaar. Den Hals des Schwans hat Boucher so angeordnet, dass er aus der Scham der nackten Nymphe herauszuwachsen scheint: eine Vergegenwärtigung der vergrößerten Klitoris, aber zugleich auch eine Referenz an den erigierten Penis.

24 Bartholin, Kuenstliche Zerlegung, S. 309. 25 Bartholin, Anatomia, S. 187: »Plane vero & praeter naturam & monstruosum fere est, ad colli anserini magnitudinem excrescere, quale exemplum habet Platerus.« Sofern nicht anderweitig vermerkt, sind alle Übersetzungen aus dem Lateinischen meine eigenen. 26 Valerie Traub: The Renaissance of Lesbianism in Early Modern England, Cambridge, UK: Cambridge University Press 2002, S. 188-228. 27 Helkiah Crooke: Mikrokosmographia. A Description of the Body of Man, London 1615. [Stadt- und Universitätsbibliothek Göttingen], S. 176: »And this part it is which those wicked women do abuse called Tribades (often mentioned by many Authors, and in some states worthily punished) to their mutuall and unnaturall lustes.« Siehe dazu ausführlich Traub, Renaissance.

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Im anatomischen Diskurs sucht man dagegen vergeblich nach einer Abbildung der vergrößerten Klitoris. Kein Bild führt die behauptete Ähnlichkeit zwischen Schwanenhals und Klitoris vor Augen. Ohnehin scheint die Klitoris beinahe unsichtbar. Auch von der ›normalen‹, d.h. klein gewachsenen, Klitoris wurden kaum aussagekräftige Abbildungen in die anatomischen Atlanten aufgenommen. In der Regel sind die Bilder so kleinformatig und/oder von solch schlechter graphischer Qualität, dass die Anatomie der Klitoris darauf so gut wie nicht zu erkennen ist. Offenbar sollte der Leser nicht in die Lage versetzt werden, sich von der Anatomie der Klitoris ein Bild zu machen. Mit anderen Worten, während die Vorstellung des Penis als Schwan nur im Bild hergestellt wird und schriftliche Zeugnisse fehlen, gibt es keine Abbildungen von der schwanenhalslangen Klitoris. Ausschließlich in Worten haben die Anatomen die Analogie zum Schwan hergestellt. Die kollektive Weigerung, die ›monströse‹ und vieldiskutierte Eigenschaft des »weiblichen Penis« im Bild darzustellen, sowie die Zurückhaltung bei der bildlichen Repräsentation der ›normalen‹ Klitoris, erscheint im historischen Rückblick als ›Versuch‹, die ›Natur‹ der Klitoris mit dem Bild des beschnittenen Penis in Übereinstimmung zu bringen. Weil ein konkretes Bild der Klitoris »so groß /als einen Schwanen=Hals« fehlt, kann das Bild des beschnittenen Penis in der Form des Schwans an seine Stelle treten und als ›Vorlage‹ für die Visualisierung der Klitoris dienen. Mit Hilfe dieser ›Überblendung‹ wird die symbolische Kastration des Penis auf die Klitoris verschoben. Hier wird eine der Grundlagen gelegt, die es Sigmund Freud erlauben sollten, die Klitoris als minderwertigen Penis und die Frau als kastriertes Mängelwesen zu beschreiben: »Das Weib anerkennt die Tatsache seiner Kastration und damit auch die Überlegenheit des Mannes und seine eigene Minderwertigkeit, aber es sträubt sich gegen diesen unliebsamen Sachverhalt.«28 Im Zentrum des weiblichen »Penisneids« steht nach Freud die Erkenntnis des Weibes, dass seine Klitoris, die es zunächst für ein dem Penis ebenbürtiges Organ halte, im Vergleich mit dem männlichen Genital ›minderwertig‹ sei. »Das kleine Weib, durch den Vergleich mit dem Knaben geschreckt, wird mit seiner Klitoris unzufrieden, verzichtet auf seine phallische Betätigung und damit auf die Sexualität überhaupt wie auf ein gutes Stück seiner Männlichkeit auf anderen Gebieten.«29 28 Freud, Weiblichkeit. 29 Sigmund Freud: »Über die weibliche Sexualität«, S. 173. Sander Gilman hat herausgearbeitet, dass Freuds Theorie eine Verarbeitung antisemitischer Denkmuster ist, denen er als Jude ausgesetzt war. Indem er den ›Ma-

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Allerdings hat Freud auch einräumen müssen, dass es ihm nicht gelungen sei, einen biologischen Nachweis für seine These zu erbringen: »Eine weitere Komplikation entsteht daraus, daß sich die Funktion der virilen Klitoris in das spätere weibliche Geschlechtsleben fortsetzt in einer sehr wechselnden und gewiß nicht befriedigend verstandenen Weise. Natürlich wissen wir nicht, wie sich diese Besonderheiten des Weibes biologisch begründen; noch weniger können wir ihnen teleologische Absichten unterlegen.«30 Es liegt auf der Hand, weshalb Freud daran scheiterte, die biologischen Ursachen für die Umgestaltungen der weiblichen Sexualität ausfindig zu machen: Sie verdanken sich kulturellen ›Umgestaltungen‹. Ein weiteres Indiz dafür, dass die Klitoris im Bild des beschnittenen Penis ›entdeckt‹ werden konnte, ist die Diskrepanz zwischen der passiven Körperhaltung des Mannes und der ›Aufgewecktheit‹ seines Genitales. Die Bilder vermitteln den Eindruck, die Erektion des beschnittenen Penis werde von der Berührung durch den unsichtbaren und unberührbaren Blick des Betrachters ausgelöst. Eine Eigenschaft, die in den verbalen Beschreibungen der Klitoris immer wieder auftaucht.

Die Berührbarkeit der Klitoris Ein wichtiges – vielleicht das wichtigste – Merkmal der Klitoris im anatomischen Diskurs war ihre taktile Reizbarkeit, die auch in der medizinischen Terminologie ihren Niederschlag fand. Der Name Klitoris bezieht sich auf das griechische Verb klitorizein, ein, so Adriaan van de Spieghel in seiner vollkommen bilderlosen De humani corporis fabrica, »obszönes Wort, das soviel bedeutet wie, diesen Körperteil leichtfertig mit den Fingern zu reiben«.31 Das Wort Tribade ist ebenfalls griechischen Ursprungs und bedeutet reiben (tribein). Obwohl die Terminologie es zulässt, die Klitoris sowohl als Subjekt als auch als Objekt der Reibung zu verstehen, taucht sie in den Beschreibungen der Anatomen beinahe ausschließlich als Objekt auf. So ist Crooke der Auffassung, die Erektion der Klitoris könne schon durch die Berührung mit der Kleidung ausgelöst werden. »Die Klitoris wächst zu einer solchen Länge, dass sie wie ein kel‹ der Beschneidung, die er mit der Kastration gleichsetzt, auf die Frau projiziert, distanziert er sich selbst als Mann und Wissenschaftler von antisemitischen Zuschreibungen, vgl. Gilman, Freud, Kapitel 2. 30 Freud, Weibliche Sexualität, S. 172. 31 Die hier benutzte Ausgabe ist Adriaan van de Spieghel: De Humani Corporis Fabrica, Venedig 1627, S. 278.

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männliches Glied aus der Scham heraushängt, ganz besonders wenn sie durch die Berührung mit der Kleidung gereizt wird und auf diese Weise sich brüstet und steif wie das männliche Glied wird.«32 Besonders aufschlussreich sind Berichte, in denen männliche Anatomen die Inspektion und Sektion der Klitoris als sexuelle Begegnung imaginieren. Übereinstimmend wissen die Lehrbücher zu berichten, dass die manuelle Berührung des Chirurgen stets eine sexuelle Reaktion auslöse, sei es, dass die Klitoris anschwelle, sei es, dass sie eine dem Samen ähnliche Flüssigkeit ausstoße. Colombo schreibt: »Dann /so ferrn diß Oertlein auch nur bey dem wenigsten beruehret /in hoechster Geschwindigkeit entfleust jhnen dahero das Weibliche Sperma wegen hocherzuendter Begierdt vnd Wollust.«33 Auch Bartholin betont die taktile Empfindlichkeit der Klitoris: »Wenn die Klitoris bei solchen Frauen, die sich lange dem Koitus enthalten haben und begierig danach sind, leicht berührt wird, strömt ihr Same mit Leichtigkeit hervor.«34 Hält man sich vor Augen, dass die Erkenntnisse über die außerordentliche Empfänglichkeit der Klitoris für taktile Reize auf einem Seziertisch an weiblichen Leichnamen gewonnen wurden, dann geben diese Berichte kaum über die Anatomie der weiblichen Lust Auskunft. Vielmehr müssen sie als Quellen gelesen werden, in denen die Konstruktion männlicher Subjektivität zu Tage tritt. Indem es dem Anatom ›gelingt‹, durch eine leichte Berührung seiner Hand einen weiblichen Leichnam zu einer sexuellen Reaktion zu zwingen, beweist er die phallische Macht seiner Hände, die einen toten Körper zum Leben erwecken können. Keine Auskunft erhält man dagegen über die körperliche Befindlichkeit des Chirurgen bei dieser intimen Begegnung. Wurde auch er sexuell erregt? Oder hat die Abscheu vor dem faulenden Leichnam, dem er nach eigenem Bekunden einen Orgasmus verschaffte, jegliche Lust verhindert? Das Schweigen in Bezug auf den Körper des Chirurgen erzeugt den Eindruck, sein Leib sei abwesend. Während die Frauen, mit denen der Chirurg ›Sex‹ hat, sich seiner Berührung hingeben müssen, bleibt er selbst rational und distanziert, bleibt sein eigener Körper von diesem engen körperlichen Kontakt gänzlich ›unbefleckt‹. Dahinter steht die Phantasie einer einseitigen Berührung, die sich der Logik der Zentralperspektive verdankt. So, wie der voyeuristische Blick sieht, ohne gesehen zu werden, berührt die Hand des Chirurgen, ohne berührt zu werden. Indem die Zentralperspektive einen Betrachter konstruiert, der mit dem Auge berührt, bringt sie zugleich die Vorstellung eines Handwerkers hervor, der sieht, indem er berührt. Auf den Punkt gebracht 32 Crooke, Mikrokosmographia, S. 238; meine Übersetzung. 33 Colombo, Anatomia, S. 204, meine Hervorhebung. 34 Bartholin, Kuenstliche Zerlegung, S. 186.

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wird dies in Andreas Vesalius’ berühmtem Portrait aus der Fabrica. Der Anatom wird dem Betrachter im wahrsten Sinne des Wortes als ein Handwerker vorgestellt, der ein neues – noch nicht gesehenes – Bild der Hand zugänglich macht. Als ob er das ›Sehvermögen‹ seiner Hände unterstreichen wollte, sieht Vesalius die Hand, die er stolz vorzeigt, selbst nicht an (Abb. 14). Mit seiner Hochschätzung der Hand steht Vesalius nicht allein.35 So belehrt Helkiah Crooke seine Kollegen, dass ohne den Tastsinn der Arzt »notwendigerweise im Dunkeln tappen muss«.36 Crooke hält den Tastsinn für den ersten unter den Sinnen: »Der Tastsinn verdient ohne Zweifel den ersten Platz, denn er ist die Basis für alle weiteren Sinne […] der einzige Sinn der Sinne.«37 Zwar breite sich der Tastsinn vermittels der Haut über den gesamten Körper aus,38 die Hand jedoch sei das privilegierte ›Tastorgan‹, da der Tastsinn dort am vollkommensten ausgeprägt sei: »Wir fühlen und erkennen Dinge, die den Tastsinn in der Hand berühren, besser als in anderen Körperteilen.«39 Crooke versteht die Hand des Chirurgen als ein Instrument seines Willens; er interpretiert das Begreifen mit der Hand als Ausdruck des intellektuellen Begriffsvermögens. Damit der Chirurg eine kunstgerechte Sektion ausführen könne, sei es unerlässlich, das Schneiden – »the cutting with the hand« – mit dem Denken – »the rational habite of the mind« – zu verbinden.40 Die Hände des Anatomen setzten seinen Willen (und seine Lüste) in die Tat um und erlaubten ihm das verstandesmäßige Durchdringen des Fleisches.41 Als Agent des Verstandes ist die Hand dem Auge42 verwandt, das seit der Antike als der rationalste aller Sinne galt. Crooke geht es mithin nicht 35 Vgl. Rowe, Handy Worke. 36 Zit. Rowe, Handy Worke, S. 293; meine Übersetzung (»must of necessity grope uncertainly in dark and palpable ignorance«). 37 Rowe, Handy Worke, S. 293, meine Übersetzung (»The sense of Touching so without doubt deserves the first place: For this is the ground of all the rest […] the only sense of all senses.«) 38 »The tactive quality be diffused through the whole body both within and without«, Zit. Rowe, Handy Worke, S. 296. 39 Rowe, Handy Worke, S. 296, meine Übersetzung (»We do more curiouslie and exquisitely feele and disceren [those] qualities which strike the sense in the Hand than in other parts.«) 40 Zit. Rowe, Handy Worke, S. 291. 41 In Crookes Worten: »The hand executeth those things which are commanded, our comandments are subject and obedient to Reason, and Reason it selfe ist he power, force and efficacie of understanding.« (Zit. Rowe, Handy Worke, S. 285). 42 Gudrun Schleusener-Eichholz: Das Auge im Mittelalter, München: Fink 1985.

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nur um die mechanischen Fähigkeiten der Hand, er schätzt sie auch als ›Werkzeug‹, das den Chirurgen in die Lage versetze, sich von dem Leichnam, den er berühren muss, zu distanzieren. In dieser einseitigen Berührung, die berührt, ohne berührt zu werden, liegt die neue Qualität der Hand, die die Chirurgen des 16. und 17. Jahrhunderts sich zunutze machen. Zwar hatte bereits Aristoteles die Hand als das »Werkzeug der Werkzeuge« und als Gehilfe des Logos beschrieben,43 dennoch hielten Anatomieprofessoren über viele Jahrhunderte das Dozieren über die Anatomie des menschlichen Körpers für unvereinbar mit dessen manueller Zergliederung.44 Es erschien ihnen unvorstellbar, den toten Körper berühren zu können, ohne selbst berührt zu werden. Während der Professor in sicherer Entfernung von dem Leichnam aus einem Buch über die Anatomie des menschlichen Körpers dozierte, führte ein Arzt gleichzeitig die Schnitte aus: Denken und Berühren waren säuberlich getrennt (Abb. 15). An der ›Behandlung‹ der Klitoris im anatomischen Diskurs der Frühen Neuzeit wird sichtbar, wie tiefgreifend das Medium der Zentralperspektive und die mit ihr verbundenen Geschlechterpositionen das Wissen von der Anatomie des menschlichen Körpers durchdringt. Während die Berührbarkeit des »weiblichen Penis« die Voraussetzung dafür bildete, dass der Chirurg die phallische und ›voyeuristische‹ Potenz seiner Hand auskosten konnte, führte die Projektion der unsichtbaren Klitoris auf das Bild des beschnittenen Penis dazu, die kastrierende Macht, die die Berührung sowohl real als auch symbolisch für den männlichen Körper besitzt, zu verleugnen. Damit wird im anatomischen Diskurs der Frühen Neuzeit der Moment greifbar, von dem an die Verschiebung der symbolischen Beschneidung bzw. Kastration des Penis auf den weiblichen Körper als Denkmöglichkeit und als Bild entsteht. Die Malerei der Renaissance, die das Motiv der Leda mit dem Schwan wieder zu neuem Leben erweckt hatte, war an dieser Verschiebung entscheidend und nachhaltig beteiligt. Noch heute rufen scheinbar wissenschaftliche Darstellungen der Klitoris den Penis als Schwan auf und belegen damit die enge Verwobenheit zwischen Kunst und Wissenschaft (Abb. 12). Die Kunst ist aber auch in der Lage, scheinbar natürliche Sehgewohnheiten in Frage zu stellen (Abb. 16). Eine Photographie des USamerikanischen Künstlers J.K. Potter, die eine moderne Version des 43 Aristoteles: Über die Teile der Tiere, vier Bücher, Übers. A. Karsch, Berlin: Langenscheidt 1908. 44 Nancy G. Siraisi: Medieval and Early Renaissance Medicine. An Introduction to Knowledge and Practice, Chicago: The University of Chicago Press 1991.

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Schwans mit der Leda vorstellt, verweigert sich der imaginären Überblendung von Penis und Klitoris. Wie auf den anatomischen Illustrationen sind auch auf dieser Photographie Leda und der Schwan zu einer Figur verschmolzen. Allerdings ist Potters Repräsentation der Leda, deren Brüste Gefechtsköpfen gleichen, mit den Insignien der Männlichkeit ausgestattet. Statt sich passiv dem Blick des Betrachters auszuliefern, scheint sie etwas im Schilde zu führen, das für den Betrachter schwer zu ergründen ist. Statt Körper ist sie Kopf, statt als Objekt erscheint sie als Subjekt. Der Eindruck des Unbegreiflichen wird vor allem durch die beiden in entgegengesetzte Richtungen blickenden Schwanenhälse hervorgerufen, die aus den Armen der ›Leda‹ herauswachsen und ihre Hände ersetzen. Sie blickt mit ihren ›Händen‹ und ist deshalb so schwer zu begreifen, ja sie kann sich nicht einmal selbst begreifen. Diese Photographie durchkreuzt die phallische Logik des Einen und Identischen, die für die Phantasie, die Klitoris sei ein beschnittener Penis, verantwortlich ist. Tatsächlich steckt das Bild voller Verdopplungen: Die beiden Schwanenhälse wiederholen die Zweiheit der Brüste, die Brüste die der Augen und die Augen die der leicht aufgeworfenen Lippen. Die Betonung der Zwei widersetzt sich der Inanspruchnahme der Klitoris durch die Logik des einen Penis/Phallus. Die Photographie zeigt das Bild eines Körpers, dessen Identität aus der Perspektive des Phallus unlesbar ist. Die Photographie heißt nicht Leda, sondern Aviana – ein Name ohne mythologische Bedeutung, der Rätsel aufgibt und keine Geschichte besitzt.

Die Beschneidung der Klitoris Je stärker sich die Ansicht, die Klitoris sei ein beschnittener Penis, durchsetzte, umso häufiger versuchte die Medizin, diese Vorstellung in die Tat umzusetzen. Zwar wurde die Klitorisbeschneidung in der europäischen Literatur schon in der Antike beschrieben – ohne allerdings eine Gleichsetzung von Penis und Klitoris vorzunehmen – aber bis weit in das 17. Jahrhundert hinein gilt diese Praktik als Kennzeichen fremder Kulturen. In den antiken Medizinschriften erscheint sie als ägyptische Sitte und in der mittelalterlichen Medizin wird sie vor allem von arabischen Ärzten überliefert.45 Erst seit dem 17. Jahrhundert ziehen Ärzte in Europa die Verstümmelung oder Entfernung der Klitoris als eine therapeutische

45 Marion Hulverscheidt: Weibliche Genitalverstümmelung. Diskussion und Praxis in der Medizin während des 19. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum, Frankfurt/Main: Mabuse 2002, S. 25ff.

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Maßnahme zur Disziplinierung weiblicher sexueller Lust in Betracht.46 Während bezweifelt werden kann, ob solche Operationen im 17. Jahrhundert tatsächlich ausgeführt wurden, kann kein Zweifel darüber bestehen, dass sich im Laufe des 19. Jahrhunderts nicht nur die Debatte um die ›Kastration‹ der Klitoris intensivierte, sondern auch operative Eingriffe vorgenommen wurden. Die Medizinhistorikerin Marion Hulverscheidt rekonstruierte 100 Fälle im Zeitraum von 1815 bis 1915, in denen Mädchen und Frauen im Alter von 9 Monaten bis 47 Jahren in Europa und den USA die Klitoris herausgeschnitten wurde.47 Obwohl die Eingriffe in der Regel damit begründet wurden, man wolle exzessive Masturbation heilen, spielt auch hier die Verschiebung der symbolischen Kastration des Mannes auf die Frau eine Rolle. Beispielhaft sei hier ein Fall diskutiert, der 1825 im Journal der Chirurgie und Augenheilkunde unter dem Titel »Heilung eines vieljährigen Blödsinns, durch Ausrottung der Clitoris« beschrieben wurde. Da der Autor anonym bleiben wollte, verbürgte sich der Berliner Arzt und Chirurg Carl Ferdinand von Graefe für die Glaubwürdigkeit des Verfassers. Laut Hulverscheidt ist dies das erste Mal, dass im deutschsprachigen Raum die Entfernung der Klitoris zum Zwecke der Heilung einer Geisteskrankheit empfohlen wurde.48 Die dreißig Seiten umfassende Krankengeschichte eines offenbar geistig zurückgebliebenen, der Sprache nicht mächtigen dreizehnjährigen Mädchens namens »Adelheid« gibt nicht nur die verschiedenen Behandlungsschritte bis zum letztendlichen Ausschneiden der Klitoris wieder, sondern erzählt zugleich auch die durch die Klitoridektomie bewirkte Geschichte der ›Zivilisierung‹ des Kindes. In die Publikation wurden Tagebuchaufzeichnungen der Mutter aufgenommen, die den Zustand ihrer Tochter in folgenden Worten zusammenfasst: »[E]s zeigt sich also durchaus Mangel an Vorstellung- und Unterscheidungsvermögen, und die vollkommenste Thierheit in menschlicher Gestalt.«49 Damit ist gemeint, dass Adelheid nicht zur Selbstkontrolle fähig – was sich u.a. in ausgiebiger Masturbation äußerte – und ihr jegliches Abstraktionsvermögen fremd sei (sie könne weder Lesen noch Schreiben noch Rechnen). Nach einigen erfolglos verlaufenden physio-therapeutischen Behandlun-

46 Hulverscheidt, Genitalverstümmelung, S. 33. Die Beschneidung der Klitoris in afrikanischen und arabischen Kulturen hat eine andere Bedeutung, die hier nicht diskutiert werden kann. 47 Hulverscheidt, Genitalverstümmelung, S. 106. Damit widerlegt sie Laqueurs Behauptung, vor 1870 habe Klitoridektomie nicht stattgefunden, vgl. Laqueur, Amor Veneris, S. 113). 48 Hulverscheidt, Genitalverstümmelung, S. 107. 49 Zit. Hulverscheidt, Genitalverstümmelung, S. 108.

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gen wurde 1822 die »Operation sehr schnell und radikal«50 durchgeführt. Der Eingriff verursachte die Unfruchtbarkeit der Patientin, führte aber auch zum baldigen Ende der Masturbation und schließlich zur ›Genesung‹ und (in den Worten des Arztes) zur »Menschwerdung« des Mädchens. »Die Therapie sei alles in allem erfolgreich gewesen, Adelheid lese jetzt, sie könne das Alphabet schreiben, kenne das kleine Einmaleins, spiele kleine Stücke auf dem Klavier, könne Bilder unterscheiden. Sie stopfe nicht mehr wie ein Tier alles in sich hinein, sondern habe Lieblingsspeisen. Sie zeige Angst und Furcht, besonders vor Strafen, und sie weine, was sie früher gar nicht getan habe.«51

Man kann diese erstaunliche ›Heilung‹ – wie Hulverscheidt es tut – als gewaltsame Einschreibung bürgerlicher Weiblichkeitsnormen in den Körper des Mädchens interpretieren, zumal der behandelnde Arzt auch ihre Fähigkeit zu sticken und Klavier zu spielen betont. Gerade aber die starke Beachtung, die ihre durch die Klitoridektomie ausgelöste Alphabetisierung (Buchstaben, Zahlen, Noten) in der Fallbeschreibung erfährt, ruft einen, den männlichen Körper betreffenden symbolischen Einschnitt in Erinnerung: die symbolische Kastration als Voraussetzung für die Subjektwerdung des Mannes (siehe Einleitung). Der anonym gebliebene Arzt hatte die durch die Operation verursachte Unfruchtbarkeit des Mädchens bewusst in Kauf genommen, um ihre ›Menschwerdung‹ – und das heißt in diesem Falle, ihre Teilhabe an der symbolischen Reproduktion – zu erreichen: »Selbst die Bedenklichkeiten über die Folgen derselben als Unfähigkeit zur Zeugung, konnten hier weniger in Betracht kommen, da es hier nur darauf ankam, das Hindernis des eigentlichen Menschwerdens zu beseitigen.«52 Die ›Kastration‹ des jungen Mädchens half dem Arzt, sich das Wissen um seine eigene symbolische Kastration vom Leibe zu halten. Weiß man um solche Verstümmelungen, muss Sigmund Freuds gescheiterter Versuch, einen biologischen Beweis für die symbolische Kastration der Frau zu finden, als Fortschritt angesehen werden: »Natürlich wissen wir nicht, wie sich diese Besonderheiten des Weibes biologisch begründen.«53 Die Analyse der Bilder des männlichen Körpers hat gezeigt, dass die »Besonderheiten des Weibes« sich mediengeschichtlich

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Zit. Hulverscheidt, Genitalverstümmelung, S. 110. Hulverscheidt, Genitalverstümmelung, S. 110. Zit. Hulverscheidt, Genitalverstümmelung, S. 115. Freud, Weibliche Sexualität, S. 172.

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begründen. Der weibliche Körper dient als Ort, an dem sich das Verhältnis des männlichen Subjekts zum perspektivischen Bild verkörpert. Das nächste Kapitel befasst sich mit der Frage, was es bedeutet, dass dem männlichen Körper kein gesellschaftlich akzeptiertes Ausdrucksmittel zur Verfügung steht, um die symbolische Kastration sichtbar zu machen.

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DIE

K A P I T E L V. CONTRA NATURAM: FRUCHTBARKEIT DES GELDES

Abbildung 17: Charles-Joseph Natoir, Danaë, Öl auf Leinwand, um 1731, Musée des Beaux Arts, Troyes

Seit die ersten Geldmünzen um 650 v. Chr. in Lydien geprägt wurden, wird das Geld mit dem männlichen Geschlechtsorgan in Verbindung gebracht. In Griechenland, der ersten vom Geld bestimmten Gesellschaft, erzählt die Geschichte der Danaë von der sagenhaften Zeugungsfähigkeit des Geldes. Die Tochter des Königs Akrisios von Argos wird von Zeus in Gestalt eines Goldregens, der in ihren Schoß fällt, befruchtet – und gebiert den Vatermörder Perseus. Der Moment der Befruchtung ist ein beliebtes Motiv der antiken Vasenmalerei. Im Mittelalter gilt die Danaë als Personifikation der Keuschheit, ihre Schwangerschaft als Allegorie der jungfräulichen Geburt. Ebenso wie der göttliche Logos verspricht

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auch das berechenbare Geld asexuelle Fortpflanzung.1 Ab dem 15. Jahrhundert, als sich die Geldwirtschaft erheblich auszuweiten begann und das Geld durch den Gebrauch von Wechsel- und Bankgeld zunehmend immateriellere Züge annahm, ändert sich auch die Befruchtung der Danaë: Nun ergießen sich geprägte Geldmünzen in ihren Schoß. Am Anfang des 20. Jahrhunderts, zu Beginn eines neuerlichen Abstraktionsschubes, beschreibt Georg Simmel in seiner weit ausgreifenden Philosophie des Geldes2 die im Geld zirkulierende Energie als »besamende Kraft« und »Lebensmacht«,3 als »warmen Strom des Lebens, der sich in die Dingbegriffe ergießt, der sie gleichsam aufblühen und ihr Wesen entfalten lässt«.4 »Das ist die Bedeutung des Geldes für den Stil des Lebens, daß es gerade vermöge seines Jenseits aller Einseitigkeit einer jeden solchen wie ein Glied ihrer zuwachsen kann.«5 Man kann diese monetären Befruchtungsphantasien als Versuch interpretieren, sowohl die abstrakte Fruchtbarkeit des Mediums Geld vorstellbar zu machen als auch seine Wirklichkeitsmacht zu begreifen, indem man sie in physiologische Vorgänge übersetzt. Daran hat sich bis 01 Vgl. dazu auch die anregende Studie von Hans-Christoph Binswanger: Geld und Magie. Deutung und Kritik der modernen Wirtschaft anhand von Goethes Faust, Stuttgart/Wien: Weitbrecht 1985. Darin zeigt der Autor, dass sich seit dem 16. Jahrhundert alchemistische Phantasien über die Möglichkeit der Zeugung aus dem Nichts auf das Geld verlagern: »Heute wird die Alchemie als Aberglauben abgetan. Es heißt, daß sich seit dem Aufkommen der modernen Wissenschaften die Goldmacherei endgültig als Phantasmagorie erwiesen habe und daher niemand mehr sinnlos seine Zeit mit solchen abstrusen Vorhaben vergeuden wolle. Ich behaupte etwas anderes: die Versuche zur Herstellung des künstlichen Goldes wurden nicht deswegen aufgegeben, weil sie nichts taugten, sondern weil sich die Alchemie in anderer Form als so erfolgreich erwiesen hat, daß die mühsame Goldmacherei im Laboratorium gar nicht mehr nötig ist. Für das eigentliche Anliegen der Alchemie im Sinne der Reichtumsvermehrung ist es ja nicht entscheidend, daß tatsächlich Blei in Gold transmutiert wird, sondern lediglich, daß sich eine wertlose Substanz in eine wertvolle verwandelt, also z.B. Papier in Geld.« (S. 21f.) 02 Georg Simmel: Philosophie des Geldes, hrsg. von David P. Frisby u. Klaus Christian Köhnke, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1989. Sigmund Freuds etwa zur gleichen Zeit verfasster Aufsatz »Charakter und Analerotik« stellt eine bemerkenswerte Ausnahme dar. Er setzt das Geld in Beziehung zum Kot und stellt die These auf, die frühkindliche Beziehung zum Kot nehme das spätere Verhältnis des Erwachsenen zum Geld vorweg. Sigmund Freud: »Charakter und Analerotik«, in: ders.: Gesammelte Schriften. Chronologisch geordnet, Bd. 7, Frankfurt/Main: Fischer 1976, S. 203-209. 03 Simmel, Philosophie, S. 697. 04 Simmel, Philosophie, S. 695. 05 Simmel, Philosophie, S. 695.

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heute wenig geändert. Im New Yorker Wertpapierhandelshaus »Salomon Brothers« werden – wie Eva Boesenberg bemerkt – »besonders erfolgreiche Makler mit dem Ehrentitel ›Big Swinging Dick‹« ausgezeichnet. »Jedem neuen Salomon-Angestellten, der bis zum Händlersaal gelangt war, wurden erst einmal zwei Telefone übergeben. […] Wenn er es schaffte, mehrere Millionen Dollar aus diesen Telefonen herauszuzaubern, dann wurde er zu einer Art Kultobjekt: einem ›Big Swinging Dick‹. […] Genau das war der Zustand, den wir alle ersehnten. […] dazugehören wollte jeder, sogar die Frauen. Big Swinging Dickettes.«6

Die symbolische Potenz, die das Geld verspricht, ist männlich kodiert. Dass auch die Frau in den Besitz dieses Potenzmittels gelangen möchte, hätte Sigmund Freud wahrscheinlich mit dem ›Penisneid‹ zu erklären versucht. Die Geschichte des Geldes lässt diese Erklärung allerdings nicht sehr plausibel erscheinen, denn die Potenz und Fruchtbarkeit, die das Geld verspricht, ist auf das Engste mit Beschneidung und Kastration verbunden.

Geld und Kastration Wie das Alphabet kann auch das Geld in der abendländischen Kultur seine Beziehung zum Stieropfer nicht verleugnen.7 Davon kündet bis heute das Design vieler Währungen, deren Symbole sich an das des Buchstabens Alpha anlehnen. Die Zeichen für Dollar ($), Pfund (ǧ), Yen (¥) und Euro (¼) nehmen die zwei Parallelstriche auf, die im Alpha die Stierhörner symbolisieren.8 Der Altphilologe und Wirtschaftshistoriker Bernhard Laum hat diesen Zusammenhang in seiner bereits 1924 erschienen Studie Heiliges Geld aufgedeckt.9 06 Zit. Eva Boesenberg: »Männlichkeit als Kapital: Geld und Geschlecht in der US-amerikanischen Kultur«, in: Birgitta Wrede, (Hg.): Geld und Geschlecht. Tabus, Paradoxien, Ideologien, Opladen: Leske + Budrich 2003, S. 32-45, hier Zit. S. 34. 07 Zum Zusammenhang zwischen Alphabet und Stieropfer vgl. Kapitel I. 08 Kallir, Sign and Design, S. 40. 09 Bernhard Laum: Heiliges Geld. Eine historische Untersuchung über den sakralen Ursprung des Geldes (1924), Berlin: Semele 2006. Vgl. auch die auf Laum aufbauende und für das Verständnis der Funktion des Weiblichen bei der Entstehung des Geldes grundlegende Untersuchung von Horst Kurnitzky: Triebstruktur des Geldes. Ein Beitrag zur Theorie der Weiblichkeit, Berlin: Wagenbach 1980.

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»Das Opfer heißt ›gelt‹. Als Opfer gilt ein Gut von bestimmter Art und Qualität. Dies aus der Menge der übrigen Güter herausgehobene Gut dient als Lösungsmittel bzw. Zahlungsmittel, wenn man das Verhältnis zwischen Gott und Mensch als Schuldverhältnis faßt; es dient als Tauschmittel, wenn das Opfer ein Tauschakt ist. Das offizielle Opfergut ist bei Griechen, Römern, Indern und Germanen das Vieh. Folglich hat das Vieh die Eigenschaft des Geldes, es ist Geld.«10

Das wertvollste Opfertier in Indien, Griechenland und Rom war der Stier. »Der Staatskult nimmt als Opfertiere vornehmlich Rinder«, schreibt Laum mit Bezug auf Griechenland. »Das Rind hat schon im öffentlichen Kult der homerischen Epen diese bevorzugte Stellung, und es hat diese Rolle im staatlichen Kult der späteren Zeit durchweg beibehalten.«11 Jedem Opfer liegt sowohl ein Tauschgeschäft als auch das Prinzip der Stellvertretung zugrunde. »Der Verkehr des griechischen Menschen mit der Gottheit«, so Laum, »ist ein kaufmännisches Geschäft.«12 Das Rind tritt dabei an die Stelle des Menschen, es ersetzt das ursprüngliche Menschenopfer.13 Weil nur die besten Tiere zum Opfer zugelassen wurden, mussten Qualitätsnormen festgelegt werden, die die Opfertiere untereinander vergleichbar machten. »Die Auswahl des geeigneten Opfertieres aus der Herde ist der erste Akt wirtschaftlichen Denkens. Tiere derselben Gattung werden miteinander verglichen und aus dem Vergleich ihrer Merkmale ein Normaltypus geschaffen, der nun als qualitative Norm gilt.«14 Hinzu kommt, dass die Opfergaben aus wirtschaftlich verwertbaren Gütern bestehen, »im Kult vollzieht sich also ein Beurteilen, ein Werten wirtschaftlicher Güter«.15 Auch als Zahlungsmittel taucht das Rind zuerst in der sakralen Opferpraxis auf, denn die antiken Tempel waren nicht nur Opferstätten, sondern ihnen oblag zugleich die Finanzverwaltung des Gemeinwesens. Als die Tempel anlässlich der großen ›Staatsopfer‹ dazu übergingen, beim gemeinsamen Opfermahl die geschlachteten Tiere zur Abgeltung ihrer Verbindlichkeiten gegenüber den Priestern oder anderen Dienern des Gemeinwesens zu verwenden, gelangte das Rind auch als Zahlungsmittel in Umlauf. »In diesen öffentlichen Mahlzeiten liegt der Keim der öffentlichen Finanzwirtschaft, sie stellen die primitivste Form des öffentlichen Haushaltes dar. […] jedes 10 11 12 13 14 15

Laum, Heiliges Geld, S. 43. Laum, Heiliges Geld, S. 35. Laum, Heiliges Geld, S. 40. Laum, Heiliges Geld, S. 80. Laum, Heiliges Geld, S. 34. Laum, Heiliges Geld, S. 30.

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Anrecht auf Entlohnung wird vom Staate durch Opferfleisch abgegolten, ein anderes staatliches Entgeltungsmittel existiert zunächst nicht.«16 Eindeutig der Opferpraxis entstammen die Vorläufer der Münze: Bratspieße und Doppeläxte, die zum Schlachten des Stieres gebraucht wurden. So leitet sich die bekannteste griechische Münzeinheit, der Obolus, vom Bratspieß ab (griech. obelos), an dem die Teilnehmer des Opfermahls den ihnen zustehenden Anteil des Fleisches brieten. Drachme bedeutet »eine Hand voll Spieße« und die römische Währung As lässt sich zu assus (gebraten) in Verbindung setzen.17 Die obersten athenischen Finanzbeamten wurden Kolakreten genannt, was so viel heißt wie Schenkelsammler.18 Auf das Opfer verweist auch die Etymologie des Wortes Geld. So stammt das lateinische Wort für Geld (pecunia) von pecus (Rind); das althochdeutsche gelt bedeutet Opfer und Vergeltung. »Und da bei Griechen, Römern, Indern und Germanen hauptsächlich Vieh geopfert wurde, benutzten sie für ›Vieh‹ und ›Geld‹ im allgemeinen die gleichen Ausdrücke. Vieh war das, was den Göttern als ›gelt‹ dargebracht wurde.«19 »Die Götter«, so Ernst Curtius in seiner Studie über den religiösen Charakter der Münze, »waren die ersten Kapitalisten in Griechenland, ihre Tempel die ältesten Geldinstitute.«20 Die Wurzeln im Opfer sind – wenn auch verschüttet – bis in die Neuzeit lebendig geblieben. Als die ersten Börsen gebaut wurden, errichtete man sie in der Regel auf historischen Opferplätzen, Kultstätten oder Friedhöfen. »Waren die Handelsplätze nicht internationale Kultplätze, die von vielen Fremden besucht wurden, so wurden sie innerhalb der territorialen Grenzen der Gemeinden zunächst vermutlich auf Gräberfeldern eröffnet.«21 In dem englischen Wort für Börse (stock exchange), das in seiner älteren Bedeutung Schlachtbank und Viehmarkt heißt, ist bis heute die Assoziation zum Viehhandel, aber auch zum Stieropfer aufbewahrt. Laum beschreibt, dass das Opfertier, außer bei den wichtigen Opferfesten, im Laufe der Zeit durch Figuren aus Metall, Ton oder Holz ersetzt wurde, die häufig die Form eines Rindes trugen. Dieser Wandel, der etwa im 8. Jahrhundert ungefähr zeitgleich mit der Verbreitung des phonetischen Alphabets in Griechenland und der Herstellung des ersten Münzgeldes in

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Laum, Heiliges, Geld, S. 62, 65. Laum, Heiliges Geld, S. 128f. Laum, Heiliges Geld, S. 66. Kurnitzky, Triebstruktur, S. 30. Zit. Kurnitzky, Triebstruktur, S. 27f. Horst Kurnitzky: Der heilige Markt. Kulturhistorische Anmerkungen, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1994, S. 37.

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Lydien seinen Höhepunkt erreichte,22 korrespondierte mit einer zunehmenden ›Vergeistigung‹ der Götter, denen nun unvergängliche Gaben in Form von Votivfiguren dargebracht wurden, die man nach der Opferzeremonie wieder einsammelte.23 »Diese Substitution ist für uns von großer Bedeutung, weil hier an die Stelle von realen, wertvollen Gütern imaginäre, wertlose Dinge treten, die aber als Tausch- bzw. Zahlungsmittel im Verkehr zwischen Göttern und Menschen die gleiche Geltung wie jene haben. […] Also ist innerhalb des sakralen Tauschaktes an die Stelle des realen Tauschmittels das symbolische getreten, und darin liegt die hohe Bedeutung dieser rohen Figuren.«24 Die Abstraktion des Opfers ist im Kern eine Entsubstanzialisierung, die die Geschichte des Geldes bis heute begleiten sollte. Das Geld, das seine Deckung durch materielle Werte spätestens mit der Aufhebung der Goldparität in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts endgültig verloren hatte, ist heute reines Zeichen: »Nur die Form ist wichtig«, so Laum über das Votivopfer, »während das Material, aus dem es besteht, gleichgültig ist.«25

Abbildung 18: Werbebild der Frankfurter Börse, in: DIE ZEIT 2001

Die vom Rind abstrahierenden Opfergaben ersetzten das Opfertier und zunehmend auch das Opferritual; sie verallgemeinerten den Tausch des

22 Zur gemeinsamen Geschichte von Alphabet und Geld in Griechenland und Rom vgl. Reinhold Merkelbach: Die Bedeutung des Geldes für die Geschichte der griechisch-römischen Welt, Stuttgart/Leipzig: Teubner 1992. 23 Laum, Heiliges Geld, S. 102ff. 24 Laum, Heiliges Geld, S. 104. 25 Laum, Heiliges Geld, S. 102.

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Opfers und abstrahierten vom Opferzusammenhang. Der Kulturhistoriker Horst Kurnitzky schreibt: »Denn nicht mehr das Opfertier wird stellvertretend für den Priester, Knaben, Gott geopfert, sondern die Obolen ersetzen das Tier und schaffen damit die Voraussetzung für die Entwicklung allgemeiner Tauschformen auf der Basis des gesellschaftlichen Opferzusammenhangs. […] Die antiken Münzen sind auf dem Hintergrund ihrer ökonomischen Funktion als Substitute eines Opfers zu interpretieren […]. Das primäre Opfer erfährt mit der Entwicklung der Opferkulte eine Verallgemeinerung im Tausch, der gewissermaßen als stellvertretendes Opfer aufzufassen ist. Die Beziehungen zwischen Opfer und Tausch sind jedoch so eng, daß der Tausch als Opfer wie umgekehrt das Opfer als Tausch interpretiert werden kann. Aber das Opfer ist der substantielle Ausgangspunkt und nicht der Tausch, der als Abstraktion des Opfers auf dessen Allgemeinheit verweist.«26

Kurnitzky interpretiert den Ursprung des Opfers u.a. als Bewältigung des Inzesttabus, d.h. als Ergebnis eines verbotenen männlichen Begehrens, welches sich auf die Mutter richtet. So manifestiere sich in jedem Opfer die Verdrängung der weiblichen Sexualität, die einem »Urmuttermord« gleichkomme, wovon insbesondere die großen Schweineopfer in Athen und Rom sowie die Verehrung weiblicher Muttergottheiten zeugten. »Es beginnt zunächst mit der Unterdrückung und Verdrängung sexueller Bedürfnisse, mit dem Inzestverbot, dem sich einerseits die Entstehung der Kulturprodukte verdankt, die Wertgegenstände, das Heiratsgeld, das Geld überhaupt, alle Opfer und Opfersubstitute, die das mit den inzestuösen Triebwünschen identifizierte und geopferte weibliche Geschlecht repräsentieren.«27

Dies erkläre auch, weshalb es »im Mittelmeerraum gerade die Tempel der großen Muttergöttinnen sind, bei denen sich der Geldverkehr hauptsächlich entwickelt«.28 Die Tatsache, dass überhaupt Muttergottheiten und die ihnen zugehörigen Elemente, Tiere und Planeten verehrt werden, nimmt Kurnitzky als Beleg für die patriarchale Verdrängung des weiblichen Geschlechts bzw. der weiblichen Fruchtbarkeit. »Die so oft bezeugten weiblichen Idole aus prähistorischer Vergangenheit, die Fruchtbarkeitsgöttinnen etc., sind vermutlich nichts anderes als ein Ausdruck 26 Kurnitzky, Triebstruktur, S. 38. 27 Kurnitzky, Triebstruktur, S. 80. 28 Kurnitzky, Triebstruktur, S. 57.

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der Verdrängung bzw. Reduzierung der weiblichen Sexualität auf Zeugung und Geburt und nicht etwa Zeugnis von Macht und Freiheit der weiblichen Gesellschaftsmitglieder, wie es einige Autoren von mutterrechtlich organisierten Gesellschaften behaupten. Zeugung und Geburt sind die Begriffe einer ersten Ökonomie, die die Frau als Mutter symbolisch repräsentiert.«29

Nach Kurnitzky haben wir es bis heute mit der Fortschreibung »des immerselben fundamentalen Konfliktes zwischen unmittelbarem, radikalen Triebwunsch und der gesellschaftlich geforderten, ebenso radikalen Einschränkung seiner Befriedigung« zu tun.30 Die These will nicht recht überzeugen und ließe sich mit dem Hinweis entkräften, die fortschreitende Ausbreitung der Geldwirtschaft in der Neuzeit lege den ›Triebwünschen‹ immer weniger Einschränkungen auf. Man denke nur an Pornographie und Prostitution, die zu den am stärksten wachsenden Märkten gehören.31 So überzeugend Kurnitzkys Ausführungen über den Zusammenhang von Opfer, Geld und Weiblichkeit sind, so merkwürdig erscheint es, dass er die Rolle des männlichen Geschlechts aus dem Opferzusammenhang und der Geldwirtschaft fast vollkommen ausblendet. Dadurch entsteht der Eindruck, die gesellschaftliche Reproduktion konstituiere sich allein durch die Opferung des Mütterlich-Weiblichen, Männlichkeit hingegen werde vom Opferzusammenhang nicht berührt. Die Geschichte des Buchstabens Alpha (Kap. I) sowie das Stieropfer zeigen jedoch, dass das Geld und die ihm zugeschriebene Fruchtbarkeit auf ein männliches Opfer zurückgeht. Dieser Zusammenhang hat sich etwa in der Wortgeschichte der indoeuropäischen Sprachen erhalten. Wie eingangs erwähnt, bedeutet das althochdeutsche Wort gelt Opfer und wird im Laufe des Mittelalters zunehmend in Sinne von Geld(münze) gebraucht. Um welches Opfer es sich dabei handelt, ist an dem englischen Verb to geld (kastrieren) ablesbar, in dessen Etymologie sich zwei unterschiedliche Bedeutungsstränge 29 Kurnitzky, Triebstruktur, S. 145. Unter die aus einem symbolischen Mord hervorgegangenen, hochverehrten Mutterfiguren gehört auch die bis in die Frühe Neuzeit nachweisbare Allegorie der Regina Pecunia, (Königin Geld), vgl. Simon Schama: The Embarrassment of Riches. An Interpretation of Dutch Culture in the Golden Age, London: Collins 1987, S. 327ff. 30 Kurnitzky, Heiliger Markt, S. 153. 31 Zum Zusammenhang von Opfer und moderner Prostitution vgl. Sabine Grenz: Unheimliche Lust. Über den Konsum sexueller Dienstleistungen, Wiesbaden: VS Verlag 2005; über die Verbindungen zwischen der Geschichte des Geldes und der Geschichte der Prostitution vgl. Christina von Braun, Bettina Mathes: Verhüllte Wirklichkeit. Die Frau, der Islam und der Westen, Berlin: Aufbau Verlag 2007.

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verbinden. Zum einen entstammt geld aus dem altenglischen gield/geld (Tribut, Abgeltung), das wiederum mit dem althochdeutschen gelt und galt (unfruchtbar, besonders in Bezug auf Rinder) sowie dem altnordischen gelda (kastrieren) in Verbindung steht. Zum anderen fließen in to geld das mittellateinische geldum, das altnordische gylum sowie das gotische githa (Messer, Sense) ein.32 Die Etymologie verweist mithin sowohl auf das Stieropfer als auch auf Kastration und Unfruchtbarkeit. Die Stiersymbolik hat sich in Verbindung mit dem Geld bis heute erhalten: Als eine der beiden Symbolfiguren der Börse steht der Stier für steigende Kurse; ›Bullen-Zertifikate‹ sind Aktien, deren Wert steigt. Auch die »Börse«, die vom Französischen bourse stammt, was nicht nur Geldbeutel, sondern in einer älteren Bedeutung auch Hoden heißt, enthält einen Verweis auf die Kastration des Stieres im Opfer. Allerdings ist dieser Verweis heute kaum noch lesbar, denn mit dem Verschwinden des Opfers verblasst auch die Erinnerung an die enge Verbindung von Kastration und symbolischer Reproduktion. (Das ›Verblassen‹ lässt auch die Währungssymbole nicht unberührt: Dollar und Pfund haben heute einen ihrer Parallelstriche eingebüßt.) Das Verdrängen des Opferzusammenhangs hat einen Preis. Zwar hat sich einerseits das immer abstrakter werdende Geld mit sexuellen Metaphern aufgeladen, die männliche Potenz und Fruchtbarkeit besagen. Andererseits stehen dem männlichen Subjekt in der westlichen Kultur kaum Möglichkeiten zur Verfügung, die symbolische Kastration, die ja weiterhin bestehen bleibt, produktiv, d.h. nicht durch die Delegation an die Frau, zum Ausdruck zu bringen. Die Ablehnung bzw. Abschaffung der rituellen Beschneidung des Penis im antiken Griechenland und Rom (Kap. II) hatte dem männlichen Körper die Chance genommen, die symbolische Kastration erfahrbar zu machen. Der Verzicht auf die Beschneidung hat den Mann in seinen Ausdrucksmöglichkeiten ›beschnitten‹. Diesem Problem widmete sich der Psychoanalytiker Bruno Bettelheim in seiner Studie Symbolische Wunden.33 Darin kritisiert er Freuds negative Auffassung der Kastrationsdrohung – Freud interpretiert sie als Bestrafung für den Wunsch des Sohnes, bei der Mutter den Platz des Va32 The Oxford English Dictionary (OED), first edited by H.W. Fowler and F.G. Fowler, 5. Aufl., hrsg. von J.A. Simpson, Oxford: Oxford University Press 1964, S. 95, Stichwort ›geld‹. 33 Bruno Bettelheim: Symbolische Wunden. Pubertätsriten und der Neid des Mannes, Übers. Helga Triendl, München: Kindler 1975. Zur Rezeption von Bettelheim und für eine feministische Kritik siehe Eva Feder Kittay: »Mastering Envy: From Freud’s Narcissistic Wounds to Bettelheim’s Symbolic Wounds to a Vision of Healing«, in: Nancy Burke (Hg.): Gender and Envy, New York: Routledge 1998, S. 171-197.

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ters einzunehmen – und schlägt vor, »Initiationsriten, einschließlich Beschneidung, sollten im Zusammenhang mit Fruchtbarkeitsriten gesehen werden«.34 »Ich glaube, daß wir in unserer Diskussion der Initiation und der Beschneidung viel zu sehr das betont haben, was wie Zerstörung aussieht (Beschädigung des Genitales) und die verborgene Faszination, die von Schwangerschaft und Geburt ausgeht, übersehen haben. Vielleicht kann das, was eng und pessimistisch mit der Kastration verbunden wurde, die wirklich eine Zerstörung des Lebens darstellt, einmal als viel mehr von den sehr konstruktiven Wünschen angesehen werden, nämlich jenen, die mit Zeugung, mit neuem Leben zusammenhängen.«35

Die Verletzung des männlichen Genitales, die sowohl aus den Kastrationskulten der Antike überliefert ist als auch in den Initiationsriten fremder Kulturen praktiziert wird, interpretierte Bettelheim als »symbolische Wunde«, die es dem Mann erlaube, am »Geheimnis« der weiblichen Fruchtbarkeit teilzuhaben.36 Obwohl das Buch über weite Strecken die verschiedenen Beschneidungsriten afrikanischer und südamerikanischer Gemeinschaften beschreibt und analysiert, leistet die Studie nicht wirklich einen Beitrag zur Erforschung außereuropäischer Kulturen – wer das Buch als ethnologische Studie liest, wird es als eurozentrisch ablehnen. Das Buch ist deshalb für uns heute interessant, weil der Verfasser versucht, dem Unbewussten der westlichen Kultur auf die Spur zu kommen. Symbolische Wunden entstand als Reaktion auf Bettelheims Beobachtung, dass die westliche Gesellschaft Männern »nicht die Möglichkeit anbietet, sich in einer Weise symbolisch zu verwunden, die ihre emotionalen Bedürfnisse befriedigen würde«.37 Als Arzt und Leiter der psychiatrischen Kinderklinik an der Universität von Chicago38 hatte er in den 50er Jahren eine Gruppe von Jugendlichen beobachtet, in der die Jungen sich in regelmäßigen Abständen kleine Wunden zufügten bzw. den Wunsch nach einer Verwundung des Genitales äußerten. Sie verglichen diese Wunde mit der Menstruation, um die sie die Mädchen in der Gruppe beneideten. Diese Beobachtungen führten ihn zu der Schlussfolge-

34 35 36 37 38

Bettelheim, Symbolische Wunden, S. 59. Bettelheim, Symbolische Wunden, S. 27f. Bettelheim, Symbolische Wunden, S. 9. Bettelheim, Symbolische Wunden, S. 5. Bettelheim verfasste seine Studie nicht lange nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in den USA, wohin er als Überlebender der Konzentrationslager Dachau und Buchenwald im Jahre 1939 geflohen war.

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rung, dass es wichtig sei, jungen Männern heute ein Ritual zur Verfügung zu stellen, »durch das sie in symbolischer Form am Geheimnis des Weiblichen teilnehmen könnten«,39 wobei er offen ließ, wie dieses Ritual aussehen könnte. Den jüdischen Beschneidungsritus hielt Bettelheim, der selbst Jude war, für vollkommen ungeeignet, die Funktion einer symbolischen Verwundung zu übernehmen, weil dieser nicht mit Fruchtbarkeit in Verbindung stehe. Vielmehr habe das Judentum als einzige Kultur im Mittelmeerraum die Beschneidung in das Säuglingsalter vorverlegt und sie von einem Initiationsritus, der aus dem Knaben einen Mann mache, in das Zeichen des Bundes mit einem Vatergott verwandelt, der bedingungslose Unterwerfung einfordert: »Der Bund verleiht besondere Privilegien, wie es auch die Initiation in der Pubertät tut, findet jedoch am Beginn des Lebens statt und wird daher nicht als eine Änderung im Ansehen erfahren. Die Privilegien, die aus ihm resultieren, erscheinen als ob sie schon immer existiert hätten. Mehr noch, macht die Initiation in der Pubertät das Kind zu einem Mann, so macht der jüdische Bund es für immer zu einem Kind, dessen der Herr sich annimmt, vorausgesetzt, daß das Kinds seine Gebote befolgt.«40 Bettelheim interpretierte den frühen Zeitpunkt der Beschneidung als Ausdruck einer neuen Religion, die ihre Geltung erst durchsetzen und beweisen musste und deshalb vom Einzelnen ein größeres Maß an Disziplin und Unterwerfung forderte. »Das Verlegen der Beschneidung in das Säuglingsalter mag somit ein Schritt gewesen sein, einen paternalistischen Monotheismus zu errichten. […] Die Annahme ist einleuchtend, daß der frühe, um seine Existenz kämpfende Monotheismus besonders streng in seinen Über-Ich-Forderungen war, gerade weil er von Gesellschaften umgeben war, die größere Triebbefriedigungen gewährten. Vielleicht gehört der strengste, kastrierendste Vatergott gerade dem frühesten Monotheismus an; vielleicht wurde die Kastrationsangst als neue Waffe beschworen, um den Menschen unter seiner Kontrolle zu halten.«41 Aus diesem Grund bestreitet Bettelheim, die jüdische Beschneidung stehe mit Fruchtbarkeit in Verbindung. Es sei die »Beschneidung in der Pubertät, die den Beginn der Fruchtbarkeit beim Manne feiert und nicht die Beschneidung jüdischer Säuglinge«.42 39 40 41 42

Bettelheim, Symbolische Wunden, S. 9. Bettelheim, Symbolische Wunden, S. 205. Bettelheim, Symbolische Wunden, S. 205f. Bettelheim, Symbolische Wunden, S. 216. Im Gegensatz zur jüdischen Beschneidung ist die Beschneidung im Islam ein Initiationsritus, der aus dem Knaben einen Mann macht. Sie findet meist etwa um das 8. Lebensjahr statt. Die fehlende Verbindung zu Initiationsriten mag ein Grund dafür sein, weshalb die jüdische Beschneidung von Nicht-Juden als Verweiblichung angesehen und abgelehnt wurde. Umgekehrt hat die Beschneidung

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Es scheint, als habe Bettelheim nicht gesehen, dass das Problem, mit dem Männer heute in den westlichen Gesellschaften konfrontiert sind, nicht das Geheimnis der weiblichen Fruchtbarkeit ist – dieses war spätestens mit der Entdeckung der Eizelle im 19. Jahrhundert gelüftet –, sondern das Geheimnis der symbolischen Kastration. Und es scheint weiterhin, als habe er die Funktion der jüdischen Beschneidung, diesem ›Geheimnis‹ Ausdruck zu verleihen, auf die Initiationsriten fremder Kulturen übertragen. Bezieht man seine These, Beschneidungsriten seien eine Möglichkeit des Mannes, mit dem Geheimnis der Fortpflanzung umzugehen, nicht auf die weibliche Gebärfähigkeit, sondern auf die geistige Fruchtbarkeit des Alphabets und die symbolische Wunde, die es dem männlichen Körper zufügt, dann stellt sich in der Tat die Frage, wie sich die Abschaffung der Beschneidung in Griechenland und Rom auf die Konstitution von Männlichkeit auswirkte. An der Geschichte des Geldes kann man exemplarisch einige der Konsequenzen, die das Fehlen einer symbolischen Wunde nach sich zieht, studieren.

Macht Geld unfruchtbar? Geldverkehr und männlicher Körper »Trockener Wechsel« (Dry Exchange), mit diesem auch in der Rechtssprache verwendeten Begriff bezeichnete man im elisabethanischen England die als unsittlich empfundene Währungsspekulation. Ein Gesetzeswerk aus dem 17. Jahrhundert gibt folgende Definition: »Trockener Wechsel heißt, Geld an einem Ort zu hinterlegen um es an einem anderen Ort, in einer anderen Währung auszuzahlen, wobei derjenige, der das Geld hinterlegt, darum bittet, dieses weder für Waren noch sonstige Käufe einzusetzen, sondern es lediglich mit Gewinn in die Ursprungswährung zurück zu tauschen.«43 Trocken – manchmal auch »tot« – war der Wechsel deshalb, weil keine Güter bewegt wurden oder wie der Wirtschaftswissenschaftler Gustav Wagner definierte: »Die Bezeichnung derselben als ›trockene, tote‹ geschah aus Spott, weil man mit ihnen keine im Islam bislang möglicherweise deshalb nicht zur Diskriminierung und Stereotypisierung Anlass gegeben, weil sie nicht mit Verweiblichung und symbolischer Kastration in Verbindung zu stehen scheint. 43 Zit. Jody Greene: »›You must Eat Men‹. The Sodomitic Economy of Renaissance Patronage«, in: GLQ 1 (1994), S. 163-197, hier S. 174; meine Übersetzung. »Dry exchange is to deliver money in one realme to be payd in another realme, where the deliverer asketh not to employ his money either upon wares or otherwise but only to exchange his said money home again with lucre.«

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Zahlung über See machen konnte; sie daher trocken und ohne Umlauf (tot) bis zum Verfallstage liegen blieben.«44 Da das Geld, das man durch den trockenen Wechsel verdiente, nicht auf dem Tausch oder der Produktion von Sachgütern beruhte, sondern auf der Vermehrung des Geldes durch Geld, betrachtete man diese Praktik als eine versteckte Form des Wuchers. Im Discourse upon Usury (1572), einer Kampfschrift gegen den Wucher, die der Engländer Thomas Wilson verfasste, steht geschrieben: »Der trockene Wechsel besitzt genauso wenig Saft wie ein gemalter Baum. […] Da er ist nichts als Wucher ist, der sich als Wechsel ausgibt, trocknet er die Quellen der Wohltätigkeit und der Gerechtigkeit aus.«45 Trockenheit wird in diesem Vergleich mit dem Unnatürlichen, Unbelebten, Künstlichen gleichgesetzt und der Feuchte des ›Natürlichen‹ gegenübergestellt. Die Metaphorik der Austrocknung dient dazu, die parthenogenetischen Fähigkeiten des Geldes als unnatürlich zu markieren – ein Gedanke, den bereits Aristoteles in der Politik vertreten hatte. Dort wendet er sich gegen die als »unnatürlich« (contra naturam) und »schrankenlos« bezeichnete Vermehrung des Geldes mit Hilfe von Zinsen und Wucher. »So ist ein drittes Gewerbe, das des Wucherers, mit vollstem Rechte eigentlich verhasst, weil es aus dem Gelde selbst Gewinn zieht und nicht aus dem, wofür das Geld doch allein erfunden ist. Das Geld ist für den Umtausch aufgekommen, der Zins aber weist ihm die Bestimmung an, sich durch sich selbst zu vermehren. Daher hat er auch bei uns den Namen tokos (Junges) bekommen; denn das Geborene (tiktomenon) ist seinen Erzeugern ähnlich, der Zins aber stammt als Geld vom Gelde. Daher widerstreitet auch diese Erwerbsweise unter allen am meisten dem Naturrecht.«46

Weil die klonartigen Zinsen, anders als die Kinder, auf unnatürliche Weise gezeugt wurden, dürfe sich das Geld nicht vermehren. Im Zuge des wirtschaftlichen Aufschwungs am Ende des Mittelalters und dem damit einhergehenden zunehmenden Kreditbedarf – der durch Geldverleiher befriedigt werden musste – widmeten sich christliche Theologen und Philosophen dem Problem des Wuchers. Dabei knüpften sie an Aris-

44 Gustav Wagner: Wechsellehre und Wechselrecht. Das deutsche Wechselrecht in Verbindung mit den abweichenden Bestimmungen der ausländischen Wechselgesetze und des Wechselprozeß-Verfahrens; nebst einem Anhange enthaltend Beispiele von Wechseln, Stuttgart: Brettinger 1889, S. 145. 45 Zit. Greene, Eat Men, S. 174. 46 Aristoteles: Politik, Übers. Eugen Rolfes, Hamburg: Meiner 1990, S. 23.

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toteles an, passten seine Verurteilung des Wuchers jedoch in christliche Denkmuster ein.47 Der Wucherer erschien als Sünder und Zeitdieb, der das Eigentum Gottes stiehlt. Außerdem bezog man die Angst vor dem »trockenen Wechsel« auf die Unfruchtbarkeit des Ackerbodens. Wie Jacques Le Goff schreibt, befürchtete man im 13. Jahrhundert, als der Wucherer zur Personifikation des Übels und die Habgier zur ersten der sieben Todsünden aufstieg, dass die ›übermäßige‹ Zinsnahme zur Austrocknung des Bodens führen würde. Während die Äcker brach lägen – so die Sorge –, würden die »wuchertreibenden Ochsen (boves usurae) unaufhörlich [arbeiten] und sich so gegen Gott und alle Heiligen [versündigen]«.48 Auch wurde die Befürchtung laut, der Wucher übe schädlichen Einfluss auf die eheliche Sexualität aus, denn da der Wucherer Unzucht mit dem Geld treibe, sei die Frau von ihren ehelichen Pflichten entbunden. In einem Exemplum des englischen Theologen Thomas Chobham geht es um die Frage, was man der Frau des Wucherers sagen solle. »Soll sie ihn wegen seiner geistigen Unzucht, die nicht wieder gutzumachen ist, verlassen, oder bei ihm bleiben und vom Zinsgeld leben? Darüber gibt es zwei Ansichten. Die einen sagen, sie soll von ihrer Hände Arbeit leben, wenn sie ein Gewerbe erlernt hat, oder vom Gelde ihrer Freunde. Wenn sie weder Freunde noch ein Gewerbe hat, kann sie ihren Mann auch verlassen, um nicht mit ihrem Geiste und Körper Unzucht zu treiben. Denn einem solchen Ehemann schuldet sie nicht den Dienst des Leibes, sie wäre denn wie eine Götzendienerin, denn die Habgier ist ein Götzendienst.«49

Über das Vermögen des Ehemanns zum leiblichen Dienst wird in diesem Exemplum nichts ausgesagt. Aber legt der Terminus »trockener Wechsel« nicht nahe, dass die geistige Unzucht seine Säfte, dessen vornehmster der Samen ist, ausgetrocknet haben könnte? Jochen Hörisch hat in Poesie des Geldes bemerkt, dass die männlichen Geld-Helden der Litera-

47 Dazu neben Jacques Le Goff: Wucherzins und Höllenqualen. Ökonomie und Religion im Mittelalter, Übers. Matthias Rüb, Stuttgart: Klett-Cotta 1988; Norman Jones: God and the Moneylenders. Usury and Law in Early Modern England, Oxford: Basil Blackwell 1989; J. Shatzmiller: Shylock Reconsidered. Jews, Moneylending and Medieval Society, Berkeley: University of California Press 1990; Eric Kerridge, Usury, Interest and the Reformation, Aldershot: Ashgate 2002. 48 Le Goff, Wucherzins, S. 29. Der Bezug zum Alpha ist unübersehbar. 49 Zit. Le Goff, Wucherzins, S. 83f.

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tur oftmals kinderlos bleiben.50 Und Lyndal Roper regte am Beispiel des mächtigen Augsburger Kaufmanns und Bankiers Anton Fugger an, sich nicht nur mit der Herstellung frühneuzeitlicher Männlichkeit zu befassen, sondern auch mit der Möglichkeit des Verlusts von Männlichkeit.51 Insbesondere die ›männliche‹ Sphäre des frühneuzeitlichen Handels schien ihr für diese Fragestellung produktiv. Allerdings gehen weder Roper noch Hörisch näher darauf ein, was genau man sich unter diesem Verlust vorzustellen habe. Auf welche Praktiken bezieht er sich? Wie und wann war der Körper betroffen? Und nicht zuletzt, welche Sprache und welche Bilder standen zur Verfügung, um solch einen Verlust auszudrücken? Mir scheint das frühneuzeitliche Bank- und Steuerwesen ein produktiver Kontext, in dem die Ambivalenz des Geldes in Bezug auf die Bedeutung von Männlichkeit sichtbar wird. Neben der Literatur haben sich auch Malerei und Graphik mit dem Thema Geld auf vielfältige Weise auseinander gesetzt.52

Abbildung 19: Quentin Massys, Geldwechsler mit Frau, 1514, Öl auf Leinwand, Louvre, Paris

50 Jochen Hörisch: Kopf oder Zahl. Die Poesie des Geldes, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1996, S. 113ff. 51 Lyndal Roper: Ödipus und der Teufel. Körper und Psyche in der Frühen Neuzeit, Übers. Peter Sillem, Frankfurt/Main: Fischer 1995. 52 Zahlreiche Beispiele sind in dem Katalog der Ausstellung Das fünfte Element versammelt.

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Ein Motiv, das sich in der Malerei der frühen Neuzeit großer Beliebtheit erfreute, ist der Geldwechsler mit seiner Frau, die ihm bei der Arbeit zuschaut. In diesen Bildern, so meine These, wird unbewusstes Wissen um die vom Geld verursachte symbolische Kastration verhandelt. Möglicherweise ist der Begriff des »trockenen Wechsels« ein Versuch, der ›unnatürlichen‹ Beziehung zwischen Geldzeichen und männlichem Körper Ausdruck zu verleihen. Die im Folgenden diskutierten Bilder kennzeichnet ein »disguised symbolism«,53 hinter dem sich eine Bedeutungsschicht verbirgt, die vom Verlust der Männlichkeit spricht, ohne diesen Verlust jemals direkt zu benennen. Das bekannteste Gemälde dieser Motivgruppe stammt von dem niederländischen Maler Quentin Massys und befindet sich heute im Pariser Louvre. Deutliche Anleihen bei Massys hat sein Landsmann Marinus van Reymerswaele gemacht. Von ihm sind drei sehr ähnliche Tafelbilder dieser Art erhalten, von denen sich eines (aus dem Jahre 1539) heute im Madrider Prado, ein anderes (auf 1538 datiert) in der Münchner Alten Pinakothek und ein drittes (undatiertes) im Musée des Beaux-Arts in Valenciennes befindet.54 Auf Massys Bild (entstanden 1514) sitzt ein in das Wiegen und Zählen von Münzgeld vertiefter Geldwechsler hinter einem Wechseltisch. In der linken Hand hält er eine Waage, die rechte legt eine Münze auf die Waagschale. Vor ihm auf dem Tisch liegt ein unordentlicher Haufen verschiedener Münzen, ein Säckchen mit Perlen und ein dem Betrachter zugewandter Spiegel, in dem man (mit einiger Mühe) ein Fenster und eine dort lesende männliche Figur erkennt. Zur Linken des Geldwechslers sitzt seine Ehefrau, die scheinbar gänzlich unbeteiligt, mit leerem Blick auf das Münzgeld schaut und gleichzeitig in einem Stundenbuch blättert, das dem Betrachter eine Seite mit dem Bild der Jungfrau Maria mit dem Jesuskind zeigt. Auf den ersten Blick scheint auf diesem Bild die bekannte Geschlechterordnung bestätigt. Während der Mann, mit Wägen und Zählen beschäftigt, das Prinzip der Geistigkeit verkörpert, steht die Frau, ein Bildnis der jungfräulichen Geburt in Reichweite, für das Versprechen, dass das abstrakte Geld Frucht tragen werde. Analog zu der in dieser Zeit üblichen Ikonographie der Verkündigung geschieht die ›Befruchtung‹ durch das Auge. 53 Erwin Panofsky: Early Netherlandish Painting, Bd. 1. New York: Harper & Row 1971, S. 131-148. 54 Das Motiv muss sehr weit verbreitet gewesen sein. In der Alten Pinakothek in München befindet sich ein Tafelbild von Frans Francken, das den Titel Gastmahl im Haus des Bürgermeisters trägt und um 1630/35 entstanden ist. Der Raum, in dem das üppige Gastmahl stattfindet, ist reich mit großformatigen Gemälden ausgeschmückt, worunter sich auch ein Bild des Geldwechslers mit seiner Frau befindet, welches unverkennbar Massys und Reymerswaele zitiert.

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Statt in der Bibel zu lesen, betrachtet die Frau die Geldstücke auf dem Wechseltisch.55

Abbildung 20: Marinus van Reymerswaele, Geldwechsler mit Frau, 1538, Öl auf Holz, Alte Pinakothek, München

Abbildung 21: Marinus van Reymerswaele, Geldwechsler mit Frau, um 1539, Öl auf Holz, Musée des Beaux Arts, Valenciennes

55 Die Verlagerung der Befruchtung Marias bei der Verkündigung vom Ohr ins Auge beginnt im 15. Jahrhundert und verläuft etwa parallel mit der Erfindung des Buchdrucks und der Zentralperspektive; vgl. dazu Martin Burckhardt: »Muttergottes Weltmaschine. Über den Zusammenhang von unbefleckter Empfängnis und technischer Reproduktion«, in: metis. Zeitschrift für historische Frauenforschung und feministische Praxis 11 (1999), S. 26-44 sowie Horst Wenzel: Hören und Sehen – Schrift und Bild. Kultur und Gedächtnis im Mittelalter, München: Beck 1995.

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Auf Marinus van Reymerswaeles Bildern ist das Stundenbuch durch ein Rechnungsbuch ersetzt, die Frau noch näher an das auf dem Tisch aufgeschüttete Geld herangerückt. Weil die Eheleute nicht sich selbst, sondern dem Geld zugewandt sind, wurden die Bilder in der kunstgeschichtlichen Forschung als Ausdruck der Entfremdung, die das Geld zwischen Eheleuten verursache, interpretiert. Simon Schama schreibt: »Im Geiste von Quentin Massys Ehepaar und weniger in dem von van Eycks Arnolfinis kreisen Drucke und Gemälde immer wieder um das Thema der Entwertung der Liebe durch das Geld.«56 Aber handeln die Bilder wirklich von dem Fehlen der Liebe? Geht es nicht vielmehr um Sexualität oder genauer, um verhinderten sexuellen Austausch? Lassen sich diese Bilder nicht als Illustrationen eines »trockenen Wechsels« interpretieren? Keine Berührung, kein Austausch von Flüssigkeiten verbindet das Ehepaar, sondern die Aufmerksamkeit für den vor und zwischen ihnen ausgebreiteten Münzhaufen. Während der Mann konzentrierte Blicke auf das Geld wirft, so als habe er es aus seinem Kopf gleichsam ›ausgestoßen‹, scheint die Frau die Geldstücke durch ihre weit geöffneten Augen in sich aufzunehmen. Wie erwähnt, ist die Gleichsetzung von Münze und männlichem Samen im 16. Jahrhundert nichts Ungewöhnliches, im Bild wurde sie am Beispiel der Befruchtung der Danaë durch Zeus in Form eines Münzregens mehrfach dargestellt. Es scheint insofern naheliegend, die Genreszene als eine in die Sprache der Geldwirtschaft übersetzte (trockene) Darstellung des Sexualakts zu verstehen. Während die Sexualsymbolik auf Massys Bild relativ dezent eingesetzt ist, platziert Reymerswaele in seinen Versionen des Motivs eine leere Geldtasche auf dem Tisch, die an einen erigierten Penis samt Hodensack erinnert, der Samen in Form von Geldmünzen ›ausspuckt‹. Der unordentliche Münzhaufen auf dem Tisch suggeriert, dass kein Sexualakt zwischen Mann und Frau stattgefunden hat. Anders als bei der Befruchtung der Danaë ergießen sich Münzen nicht in den Schoß der Frau, sondern auf den Tisch, wo sie betrachtet, gewogen und dann zur Seite gelegt werden. Der ›Erguss‹ der Münzen gleicht einer ›vorzeitigen Ejakulation‹, die verhindert, dass der Same den Schoß der Frau erreicht (und ›befeuchtet‹). Die symbolische Reproduktion ersetzt die biologische Reproduktion, verhindert sie möglicherweise. Während der Geldwechsler sich bemüht, die ›Unordnung‹ zu beseitigen, schaut seine Frau sehnsuchtsvoll und ungläubig auf den Münzhaufen. Die von Reymerswaele überdeutlich betonte Blässe des Gesichts der Frau erzeugt den Eindruck der Austrocknung.

56 Schama, Embarrassment, S. 332; meine Übersetzung.

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Die Bilder erzählen mithin von kulturellen Ängsten, die aus der geschlechtlichen und sexuellen Kodierung des Geldes resultieren. Sie erzählen nicht nur von der Möglichkeit, die symbolische Potenz könne die sexuelle ›austrocknen‹, sondern auch davon, die Kontrolle über den eigenen Körper und die eigenen Geschäfte zu verlieren. Tatsächlich scheint in der Umgebung des Geldwechslers einiges in Unordnung geraten. Insbesondere Reymerswaele zeigt das Paar in einem Raum, angefüllt mit Papieren, Büchern, Dosen, die sich vor, hinter, neben und über den Eheleuten auftürmen. Aber auch auf Massys Bild verströmt der Raum kaum eine Atmosphäre der Klarheit und Ordnung.

Abbildung 22: Jan Vermeer, Goldwägerin, Öl auf Leinwand, 1662/64, National Gallery of Art, Washington D.C.

Besonders auffällig wird die Unordnung im Vergleich zu Vermeers berühmten Gemälde Die Goldwägerin, das, wie Michel Serres schreibt, ein Sinnbild der Ratio, der Geometrie und der Selbstkontrolle darstelle: »Die Goldwaage bestimmt das Zentrum, die Mitte, den Haltepunkt.«57 Serres sieht die Kontrolle und Logik vor allem in den Händen der Frau. 57 Michel Serres: Über Malerei. Vermeer, La Tour, Turner, Übers. Michael Bischoff, Dresden [u.a.]: Verlag der Kunst 1995, S. 15.

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»Die Hand der Goldwägerin, eine feste und leichte Hand, hält und bezeichnet den realen Punkt, um den herum die Waage sich in Ruhe befindet. Ihr durch die Lider verhüllter Blick zeigt an, wohin wir blicken sollen. […] gehalten und nicht berührt von der Hand, betrachtet und nicht gesehen durch die Lider hindurch.«58

Anders als die männlichen Geldwechsler, vermeidet die weibliche Goldwägerin die direkte Berührung des Geldes und erweckt den Eindruck von Selbstkontrolle und Abstraktionsfähigkeit. Freilich ist es kein Zufall, dass diese Allegorie der Geometrie eine weibliche Figur ist. Im Gegensatz zu den männlichen Geldwechslern weiß die Goldwägerin nicht, was sie tut. Da ihre Augen geschlossen sind, bleibt ihr auch die Bedeutung des Geldes als Zeichensystem verschlossen. Sie mag das materielle Gewicht des Goldes auf der Waage spüren, aber den Zeichencharakter des Goldes erkennt sie nicht. Sie fungiert als Medium, das es dem Betrachter des Bildes erlaubt, dem Geld mit Distanz zu begegnen. Anders gesagt, die Goldwägerin ›ist‹ Geld, aber sie ›hat‹ kein Geld. Die ›Weiblichkeit‹ der Figur versetzt das männliche Subjekt in die symbolische Position, sich als ›Herr‹ des Geldes zu imaginieren. Die feste und leichte Hand, die Michel Serres an der Goldwägerin so fasziniert, ist deshalb keine Frauenhand, sondern die ›Hand der Vernunft‹; ein Instrument des Verstandes zwar, aber nicht ›ihres‹ Verstandes, sondern der des Betrachters, der durch ihre Augen ›sieht‹. Der Kontrast zu den Händen der Geldwechsler könnte kaum größer sein. Die langen schmalen Finger sind merkwürdig gebogen und die Handhaltung verdreht. Darüber hinaus sind stets nur vier Finger sichtbar, was den Eindruck der Verletzung oder der Verstümmelung erweckt. Reymerswaele hat auf dem Münchner Bild die rechte Hand des Mannes sogar mit einem Schlitz versehen. Leo van Puyvelde hat darauf hingewiesen, dass hier anti-jüdische Stereotype zum Ausdruck gebracht werden. Die langen Finger galten als jüdische Eigenart, wie überhaupt ›der‹ Jude als die Personifikation des Wucherers in Szene gesetzt wurde.59 Die anti-jüdischen Stereotype bringen zudem die symbolische Kastration ins Spiel; die ›verstümmelten‹ Hände können auch als äußerliche Zeichen der verborgenen Beschneidung interpretiert werden. Außerdem weckt

58 Serres, Malerei, S. 9. 59 Leo van Puyvelde: Die Welt von Bosch und Breughel, München: Bruckmann 1963. Reiches Bildmaterial bietet Heinz Schreckenberg: Die Juden in der Kunst Europas. Ein Bildatlas, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1996.

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der auffällige und übertriebene Kopfschmuck – den Reymerswaele besonders prominent auf einem anderen Bild gestaltete, das zwei männliche Steuereintreiber zeigt – den Eindruck einer blutenden, klaffenden Wunde.60 Zwar stellten die Juden im 16. Jahrhundert längst nicht mehr die Mehrheit der Geldwechsler und Geldhändler,61 aber die Judenfeindschaft stellte Körperbilder zur Verfügung, mit denen der unbewussten und unaussprechlichen symbolischen Beschneidung, auf der das Zeichensystem beruht, Ausdruck verliehen werden konnte.

Abbildung 23: Marinus van Reymerswaele, Steuereintreiber, um 1540, Öl auf Holz, National Gallery, London

Die im Geldzeichen bewahrte Erinnerung an die symbolische Kastration ist nicht nur in der Frühen Neuzeit ein Thema; sie scheint immer dann (in verschlüsselter Form) nach Ausdrucksmöglichkeiten zu verlangen, wenn das Geld einen neuen Abstraktionsschub erfährt. Ein besonders aktuelles 60 Außerdem rückt dieses Bild den »dry exchange« in die Nähe homosexueller Beziehungen – eine Verbindung, die auch in Traktaten über die Verwerflichkeit des Wuchers häufig geäußert wurde. Vgl. dazu Greene, Eat Men. 61 Michael North: Das Geld und seine Geschichte. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart, München: Beck 1994, S. 58ff.

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Beispiel ist die Einführung einer gemeinsamen europäischen Währung, die das Geld von nationalen, geographisch begrenzten Identitätszuschreibungen ›befreit‹. Kurz vor Einführung des EURO – dessen Design (€) die Symbolik des Alpha aufnimmt – hat der Autor Heiko Michael Hartmann der kastrierenden Macht des Geldes einen Roman mit dem Titel MOI gewidmet.62 Der Roman liest sich als Phantasie über die Schrecken erregende, weil körperliche Wirklichkeit der symbolischen Kastration. MOI ist das Kürzel für eine mysteriöse, von 50-Euro-Scheinen übertragene Krankheit mit unbekanntem Ursprung (Maladie d’Origine Inconnue): »Diese Krankheit hat uns alle infiziert und ist unheilbar.«63 Obwohl man nicht in der Lage ist, den Ursprung der Infektion nachzuweisen, vermutet man ihn im Zentrum der europäischen Geldwirtschaft. »Jeder, der Zeitung liest, weiß, was über die Mitschuld der Banken an der Verbreitung der Krankheit gemunkelt wird.«64 MOI schwemmt nach und nach alle Gliedmaßen des männlichen Körpers auf und führt binnen kurzer Zeit zum Tod. Die einzige Therapie, die der Medizin in Hartmanns Roman zur Verfügung steht, ist die sofortige Amputation der befallenen Gliedmaßen. MOI steht darüber hinaus für ein aufgeblähtes, sich als omnipotent und körperlos wähnendes ICH (franz. moi). Dass zwischen beiden ein enger Zusammenhang besteht, ist das zentrale Thema des Romans. Je mehr der physische Körper aufgezehrt wird, desto größere Ausdehnung erfährt das imaginäre ICH. »Ich halte am Vorrang meines Ichs fest«, beschließt der Erzähler, »auch wenn diese Krankheit mich umbringt. Selbst die Wirklichkeit ist doch bloß ein Produkt der Einbildungskraft, wenn auch ihr eigenmächtigstes, unbeherrschbarstes und feindseligstes.«65 Allerdings weiß der Erkrankte in hellsichtigen Momenten durchaus, dass der Wunsch, die Wirklichkeit des sterblichen Körpers zu verleugnen, die Wurzel der Krankheit bildet: »Gibt es kein anderes Dasein? Eines, das ich mir vorstellen kann, ohne daran zu verzweifeln? Einen reinen Äther des Glücks, einen makellosen Zustand, in dem alles ICH ist? Immer werde ich an einem solchen Wunsch festhalten, und doch weiß ich, daß dieses Verlangen der eigentliche Grund meines tödlichen Zustands ist.«66 Aufschlussreich an diesem Roman ist die Tatsache, dass die kastrierende Macht des Zeichens als eine tödliche Krankheit imaginiert wird, die den männlichen Körper langsam aufzehrt und grausam verstümmelt. 62 63 64 65 66

Heiko Michael Hartmann, MOI, München: dtv 1999. Hartmann, MOI, S. 72f. Hartmann, MOI, S. 15. Hartmann, MOI, S. 72. Hartmann, MOI, S. 99.

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Über Seiten konfrontiert der Erzähler die Leser mit Beschreibungen seines körperlichen Verfalls. In diesen Beschreibungen betrachtet er seinen von der Krankheit aufgezehrten Körper mit Abscheu und Verachtung. »Als verseuchtes Fleischstück liege ich enthaart auf einem gluckernden Wasserbett. Ein unförmiger Blut- und Fettmatsch, der durch aufwendige Apparaturen und diverse Chemikalien am Zucken gehalten wird.«67 Der Erzähler ist empört darüber, dass sein Körper sich der Reinheit des Zeichen und der Autonomie seines ICHs nicht gewachsen zeigt. »Irgendein erbärmliches Ich, unausgesucht unter den schmierigsten Verhältnissen in einer wildfremden Gebärmutter zugewiesen, den unbekämpfbaren Gesetzen einer hinterhältigen Biologie schutzlos ausgeliefert und von Anfang an zur abschließenden Verrottung vorherbestimmt – lässt sich denn ein kläglicherer Status noch denken?«68

Die Hilflosigkeit im Umgang mit der »Maladie d’Origine Inconue« beruht auf dem Phantasma des unversehrten männlichen Körpers. Weil der Ursprung der Krankheit unbekannt bleiben muss, weil nichts am männlichen Körper an die symbolische Kastration erinnern darf, bleibt nur die Verachtung für jene Körper, die das ›Stigma‹ der Kastration tragen. In diesem Sinne ist der Roman Ausdruck des schmerzhaften Versuchs, die symbolische Kastration aus dem Gedächtnis zu verdrängen; der Ursprung des MOI-Virus ist nur deshalb unbekannt, weil er unbekannt geworden ist. Weil die Erinnerung an die symbolische Kastration verdrängt wurde, verfügt das männliche ICH über keine psychischen Fähigkeiten, die es ihm erlauben würden, dieses Wissen in eine positive und produktive Beziehung zwischen Körper und Geist zu übersetzen. Aus diesem Grund kann der Roman keine Heilung der Krankheit versprechen. Die Auseinandersetzung mit der Krankheit bewirkt nicht die Suche nach einer Möglichkeit, die symbolische Kastration in produktiver Weise zu erinnern, sondern »unheilvolle Spekulation«. »Es ist wie ein Gesetz. Alle, die von einer schweren Krankheit getroffen werden, durchlaufen in ihrem Inneren bestimmte Phasen. Bei mir waren’s fünf. Die erste Phase, die der ›ungläubigen Kenntnisnahme‹, ist wie das Erlebnis eines verblüffenden Zaubertricks. […] Diese erste Phase wird an Kürze von der zweiten Phase, der des ›renitenten Begreifens‹, sogar noch übertroffen. Irgendetwas, so viel steht fest, hat dir mächtig vor die Fresse geknallt. […] Das, was

67 Hartmann, MOI, S. 78. 68 Hartmann, MOI, S. 71.

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dann kommt, der ›grenzenlose Durchblick‹, ist wahrscheinlich das Unangenehmste von allem. Das Grenzenlose des Durchblicks liegt weniger in einer außerordentlichen Reichweite des Sehens als vielmehr in der unkontrollierbaren Intensität seines Auftretens […] Nur wer jenes Inferno schrankenloser Auflösung übersteht, hat Aussicht auf das ›edelmütige Zwischenglück‹. […] Es ist das Gefühl vom Majestätischen einer Tragödie, was zu einer neuen, bisher nie erreichten Würde verhilft. Das Verderbliche einer solchen Überdehnung führt fast immer zur Phase der ›unheilvollen Spekulation‹.«69

In dieser Beschreibung der mentalen Phasen, in denen das männliche Subjekt die Krankheit zu verarbeiten sucht, werden nicht nur die Verdrängungsmechanismen benannt, sondern hier wird auch angedeutet, dass die Verdrängung den Umgang mit dem Geld erschwert. Während das Wissen um die symbolische Beschneidung die Anerkennung impliziert, dass das Geld ein Signifikant ist, dessen symbolische Potenz nicht mit der sexuellen Potenz derjenigen, die mit ihm umgehen, identisch ist, mindert die Verdrängung der symbolischen Kastration die Fähigkeit, zwischen Zeichen und Körper unterscheiden zu können. Insbesondere die Börse, an der unvorstellbar große Geldmengen umgesetzt werden, ohne dass dieses Geld als materielle Wirklichkeit je in Erscheinung tritt, verleitet dazu, ›Schein‹ und ›Sein‹, Zeichen und Referent, in eins zu setzen. Um diese »unheilvolle Spekulation« soll es im folgenden Abschnitt gehen.

Die Börse: Ein Zeichen ist (k)ein Zeichen? »Händlerwahn« nennen Wirtschaftswissenschaftler jenen Realitätsverlust, den Börsenbroker erleiden, die spekulative Geldgeschäfte tätigen, welche unzureichend oder gar nicht durch materielle Werte gedeckt sind und die in der zweiten Hälfte der 90er Jahre zum Zusammenbruch renommierter Bankhäuser geführt haben. Im Falle der 1762 gegründeten, Londoner Barings Bank hatte es der »Händlerwahn« eines einzigen Brokers – Nick Leeson – vermocht, das alteingesessene Bankhaus zum Einsturz zu bringen. Leeson, der von seinen Kollegen als Vorbild verehrt wurde, hatte nach seiner zweijährigen Tätigkeit für Barings an der Shanghaier Börse Schulden in Höhe von 830 Millionen Pfund angesammelt; Schulden, die er auf einem eigens dafür eingerichteten Konto mit

69 Hartmann, MOI, S. 27ff.

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der Nummer 88888 versteckte.70 Der Prüfbericht der Bank of England, die die Zahlungsverpflichtungen der Barings Bank übernehmen musste, bescheinigte auch den Angestellten im Stammhaus »managerial confusion«.71 Leeson wurde einige Jahre später von Interpol gefasst und verbüßte eine mehrjährige Haftstrafe. Die sensationelle Geschichte, die damals großes öffentliches Aufsehen erregte, ist es deshalb wert, hier erzählt zu werden, weil an ihr deutlich wird, dass das Geld dazu verleitet, den Zeichencharakter dieses Mediums aus den Augen zu verlieren. Offenbar verführt die phallische Potenz des Geldes diejenigen, die sich tagtäglich damit beschäftigen, den fiktionalen Charakter des Zeichens nicht mehr zur Kenntnis zu nehmen. Sicherlich hat diese Neigung mit der Entstehung und Verbreitung des Börsenhandels in der Frühen Neuzeit zugenommen. Erinnerungen an die zeichenhafte ›Natur‹ des Geldes, sind jedoch weit älter. Schon Aristoteles sah sich in der Politik gezwungen, auf die symbolische Bedeutung des Geldes hinzuweisen, indem er daran erinnerte, dass man von Geldmünzen nicht satt werde. »Ein anderes Mal wieder begegnet man der Meinung, das Geld sei eine Fiktion und habe rein legale Geltung, dagegen von Natur gar keine. Wenn diejenigen, die von ihm Gebrauch machten, es änderten, sei es nichts mehr wert und könne kein Bedürfnis mehr damit bestritten werden. Auch könne es oft vorkommen, daß man, wenn auch mit Geld reichlich versehen, nichts zu essen habe.«72

Aristoteles spielt dabei auch auf die sagenhafte Goldgier des Midas an, dem Dionysos auf eigenen Wunsch die Gabe verliehen hatte, alles, was er berühre, in Gold zu verwandeln. Midas hatte jedoch nicht bedacht, dass er dann des Hungers würde sterben müssen.73 Anders gesagt, Geld dient zur Erhaltung des sozialen, nicht jedoch des physischen Körpers; Geld ist, wie Hobbes im Leviathan formuliert, das Blut des Gemeinschaftskörpers, nicht jedoch der Lebenssaft des Individualkörpers.74 70 Die Ziffer 8 ist nicht nur eine chinesische Glückszahl, sie wird in der Mathematik verwendet, um anzuzeigen, dass eine Folge reeller Zahlen über alle Grenzen hinaus wächst. Sie wurde 1655 von dem englischen Mathematiker John Wallis als Zeichen für eine unendliche Größe eingeführt. 71 Siehe den im Internet zugänglichen Report of the Board of Banking Supervision http://www.numa.com/ref/barings/bar00.htm. 72 Aristoteles, Politik, S. 19f. 73 Der römische Dichter Ovid hat die Geschichte später in seine Metamorphosen (Buch XI) aufgenommen. 74 Thomas Hobbes: Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staats, Übers. Walter Euchner, hrsg. und eingel. von Iring Fetscher, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1994, S. 194.

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Auch nach der Lockerung der Zinsverbote im Laufe des 16. Jahrhunderts und dem Beginn des Börsenhandels75 verstummten die warnenden Stimmen nicht. Die wahrscheinlich älteste Schrift, die sich mit dem Börsenhandel beschäftigt, trägt den Titel Confusion de Confusiones (dt. Die Verwirrung der Verwirrung) und stammt aus dem Jahre 1688.76 Ihr Autor, der sephardische Jude Josef de la Vega, beschreibt darin in einer Reihe fiktiver Dialoge zwischen einem Philosophen, einem Kaufmann und einem Aktionär die chaotischen Zustände an der Amsterdamer Börse mit ihren inszenierten Täuschungsmanövern und künstlich erzeugten Spekulationsblasen – vor allem während der Tulpenmanie des 17. Jahrhunderts.77 Die »Verwirrung«, die de la Vega beschreibt, bezieht sich auf den Kontroll- und Realitätsverlust, der die Börsenhändler immer dann befällt, wenn sie glauben, ein besonders lukratives, d.h., den Materialwert der gehandelten Ware weit übersteigendes, Geschäft getätigt zu haben. Worüber de la Vega, der selbst kein Börsenmakler, sondern Schriftsteller war, sich in seiner Schrift am meisten wunderte, ist die Unvernunft, mit der die Händler ihre Geschäfte betrieben. Statt distanziert und ruhig die Kurs- und Preisentwicklungen zu beobachten, stürzten sie sich Hals über Kopf in das Geschehen, so dass es mitunter zu Handgreiflichkeiten kam, Spekulanten in der Hitze des Gefechts falsche Entscheidungen trafen, die wiederum die ›Spekulationsblase‹ – eine Metapher, die bereits im 16. Jahrhundert verwendet wurde78 – zum Platzen zu bringen drohte. »Ein Jobber [Bezeichnung für Händler an der Amsterdamer Börse, BM] betritt bestürzt den Börsensaal, kämpft mit sich selbst, ohne zu wissen, welcher Gedanke ihn irreführt, welcher richtig ist. Da kommt ihm plötzlich eine Eingebung und er ruft: ›Vende los Kirios‹ (das ist ein Börsenausdruck, dessen Bedeutung niemand versteht) ohne ein Motiv, ausser dass eine Wolke vorbeigezogen oder ein Leichenzug in der Gasse vorüber gegangen ist. Ein anderer Matador erscheint auf dem Schauplatz, eifrig bemüht, eine ruhige Haltung zu bewahren. Er schwankt, wie er am besten Geld verdienen könnte, er kaut an den 75 Dazu North, Geld. 76 Joseph de la Vega: Die Verwirrung der Verwirrung. Vier Dialoge über die Börse in Amsterdam, nach dem spanischen Original übersetzt und eingeleitet von Otto Pringsheim, Breslau: Fleischmann 1919. 77 Die Tulpenmanie beschreibt ausführlich Schama, Embarrassment. 78 Dazu Schama, Embarrassment, S. 332ff.: »And Queen Money reappeared over and over again to the seventeenth-century Dutch, as she had to the sixteenth-century Flemish and Brabanters, as the epitome of vanity and ephemeral pleasure. In Abraham Bloemaert’s Opulentia of 1611 she resumes her familiar symbolic motifs: the bubbles, evanescent smoke and the heaps of treasure that signify her realm.«

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Nägeln, reisst an den Fingern, schliesst die Augen, macht vier Schritte und hält dabei vier Selbstgespräche, fasst mit der Hand an die Backe, als ob er Zahnschmerzen hätte, nimmt eine nachdenkliche Mine an, streckt einen Finger aus, reibt sich die Stirn, begleitet mit geheimnisvollem Hüsteln diesen Tanz, als ob er das Glück zwingen könne, plötzlich stürzt er sich mit heftiger Bewegung in die Menge, schlägt mit einer Hand ein Schnippchen, macht mit der anderen eine verächtliche Gebärde und beginnt in Aktien zu handeln.«79

Ebenso wie Aristoteles insistiert de la Vega darauf, dass das Medium Geld ein Zeichensystem ist, dem man sich mit der Logik des Verstandes zu bedienen habe. Diese immer wieder aufs Neue vorgebrachten Erinnerungen an die Fiktionalität des Geldes sind – ebenso wie der Fall Nick Leeson – ein Hinweis darauf, dass Geld offensichtlich die Macht besitzt, seine Zeichenhaftigkeit zu verschleiern bzw. den Wunsch entstehen lässt, dem Zeichen körperliche Eigenschaften zu verleihen. So etwa, wenn der Börsenkurs mit unberechenbaren ›Naturgewalten‹ wie Fluten und Erdbeben verglichen wird.80 Meisterhaft hat Emile Zola die »Confusion«, die daraus entsteht, in seinem 1891 erschienenen Roman Das Geld beschrieben.81 Der Roman erzählt die Geschichte des Börsenspekulanten und Bankgründers Aristide Saccard, der versucht, den Bankrott der von ihm gegründeten »Banque Universelle« nicht nur zu verheimlichen, sondern durch geschickte finanztaktische und psychologische Manöver den Börsenwert der Bank zu steigern – und der am Ende grandios scheitert, weil er sich von der ›Potenz‹ des Geldes verführen lässt, statt sie zu beherrschen. »Er fühlte sich durch die Börse unwiderstehlich angelockt«82 und zwar »um der einzigen Lust willen, diesen tollen Tanz der Millionen zu regeln, der ihn zur Begeisterung hinriß«.83 »Die Spekulation«, so ruft er begeistert aus, »ist eben die Lockspeise des Lebens, das ewige Verlan-

79 Vega, Verwirrung, S. 50. Nick Leesons Körperbewegungen werden von Journalisten, die ihn wahrscheinlich nie in Singapur gesehen haben, ähnlich akribisch beschrieben. Robert von Heusinger schreibt in DIE ZEIT (15/2003): »Er kaut Fingernägel, stopft unablässig Bonbons in sich hinein und trinkt immer mehr Alkohol, handelt wie ein Besessener […] und wird immer häufiger auf der Toilette gesehen.« 80 Diese Symbolik analysiert Katherine Stroczan: Der schlafende DAX oder das Behagen in der Unkultur. Die Börse, der Wahn und das Begehren, Berlin: Wagenbach 2002. 81 Emile Zola: Das Geld, Übers. Leopold Rosenzweig, Frankfurt/Main: Insel 2001. 82 Zola, Geld, S. 77. 83 Zola, Geld, S. 73. An anderer Stelle ist vom »Hexentanz der Wertpapiere« die Rede (S. 270).

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gen, das zum Kampf und zum Leben zwingt.«84 Saccards Sohn, Maxime, hat sehr genau erkannt, weshalb sein Vater an der Börse versagen musste. »Alles kommt für ihn erst nach dem Gelde in Betracht. […] Doch halt, damit Sie mich nicht mißverstehen: er liebt nicht das Geld wie ein Geizhals, um einen großen Haufen um sich zu haben und es in seinem Keller zu vergraben. Nein! Wenn er es überall hervorquellen lassen möchte, wenn er aus jeder beliebigen Quelle Geld schöpft, so tut er dies, damit es ihm in Strömen zufließe, so tut er dies um aller Genüsse willen, die das Geld ihm verschafft, Luxus, Sinnenlust, Macht. […] So ist er eben, das steckt ihm im Blut.«85

Die Beschreibungen, die Zola für Saccards Engagement an der Börse findet, rufen darüber hinaus Erinnerungen an das Stieropfer wach. So wird das Börsenparkett als Stätte, auf dem sich Heiliges abspielt, geschildert: »Die durch Gitter abgeschlossenen, sich kreuzförmig durchschneidenden vier Gänge bildeten eine Art vierzackigen Stern, dessen Mittelpunkt das Parkett war, das dem Publikum unzugängliche Heiligtum.«86 Saccard selbst fühlt sich wie ein Stier kurz vor der Opferung. »Und er ging hinaus aus dem heißen Gewühl des Saales, in welchem jetzt alles sich drängte, um den Beginn der Börse nicht zu versäumen. O, könnte er doch endlich Erfolg haben, diesen Menschen, die ihm den Rücken wandten, wieder den Fuß auf den Nacken setzen und an Macht mit diesem Geldkönig wetteifern, ja vielleicht ihn dereinst zu Boden werfen! Noch war er nicht entschlossen, sein großes Geschäft zu lancieren […] Aber konnte er anderswo sein Glück versuchen zu einer Zeit, da sein Bruder ihn im Stich ließ, da Menschen und Dinge ihn verwundeten, um ihn ins Handgemenge zurückzuschleudern, wie einen blutenden Stier, der in die Arena zurückgeführt wird?«87

Die Beschreibung erinnert nicht nur an das Stieropfer, sie erinnert auch an den spanischen Stierkampf (Corrida), der historisch aus dem Stieropfer entstanden ist. Der Kulturhistoriker Karl Braun hat dargelegt, dass die Corrida ein archaisches, christlich überformtes Ritual ist, in dem es nicht

84 Zola, Geld, S. 195. Kurz zuvor wird die Börse als »Stiefmutter« (S. 170) beschrieben, die, wie Karl Braun zeigt, eine Verkörperung der oft grausamen »Großen Mutter« ist, die dem Stierkampf zugrunde liegt; Karl Braun: Der Tod des Stiers. Fest und Ritual in Spanien, München: Beck 1997. 85 Zola, Geld, S. 317. 86 Zola, Geld, S. 440. 87 Zola, Geld, S. 25.

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um männliche Mutproben oder einen Zweikampf mit dem Stier geht, sondern um die nach strengen Regeln genau festgelegte Inszenierung der Überlegenheit des männlichen Verstandes über die ›ungezähmte‹, ›natürliche‹ Männlichkeit des Stiers.88 »Die Corrida ist kein Kampf, nicht einmal ein Wettkampf. All die Klagen, daß der Stier keine Chance habe – er hat keine, aber er kann sie nutzen und den Torero töten oder verletzen –, gehen von einer falschen Vorstellung der Corrida aus, die oft irreführenden Bezeichnungen, wie sie außerhalb Spaniens üblich wurden – Stierkampf, bullfighting – geschuldet sind. Es ist kein Treffen gleichwertiger Gegner; der Stier ist Mittel zu einem einzigen Zweck: die mit Risiko verbundene Fähigkeit des Menschen, sich ungebändigte Natur zu unterwerfen, und diese Fähigkeit nicht theoretisch zu fassen, sondern im Tun selbst zu zeigen.«89

Abbildung 24: Torero, in: Süddeutsche Zeitung v. 27.5.2004, Photo: David Alan Harvey

Mit Stier und Torero stehen sich zwei verschiedene Verkörperungen von Männlichkeit gegenüber; in der Corrida wird der Sieg der technischen Geschicklichkeit und geistigen Überlegenheit des Toreros über die körperliche und sexuelle Kraft des Stieres inszeniert; der Preis für den Triumph geistiger Männlichkeit besteht in der Tötung der im Stier reprä88 Vgl. dazu Braun, Tod des Stiers; der peruanische Schriftsteller Mario Vargas Llosa hat die These kürzlich in der Süddeutschen Zeitung (7.5.2004) bekräftigt. 89 Braun, Tod des Stiers, S. 162.

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sentierten Sexualität.90 »Wurde einst«, so Christina von Braun, »das Männliche dem Prinzip des Weiblichen geopfert […], so erzählt der moderne Stierkampf von einem Sieg des Männlichen über die ihm zugewiesene Rolle.«91 In der Tat setzt Saccard zunächst alles daran, in die Rolle des Toreros zu wechseln. Er »führte allein den unheimlichen Galopp und peitschte mit ungewöhnlicher Unbarmherzigkeit und ungewöhnlichem Mangel an moralischem Bewusstsein das gehetzte Tier zu Tode«.92 Trotzdem scheitert er mit seinem Vorhaben, die Börse so geschickt zu beherrschen wie der Torero den Stier; er scheitert deshalb, weil er nicht erkennt, dass die ›Beschneidung‹ der sinnlichen Lust die notwendige Voraussetzung für den Erfolg des Toreros darstellt. Diese Verleugnung ist der Grund, weshalb es Saccard nicht gelingt, im Bezug auf das Geld einen ›kühlen Kopf‹ zu bewahren. Er lehnt es ab, die symbolische Potenz um den Preis der Aufgabe der sexuellen Leidenschaften zu erreichen. »Ich bin allzu leidenschaftlich, das ist klar, darin allein liegt die Ursache meiner Niederlage, und darum habe ich mir schon so oft den Hals gebrochen. Aber – das muß gleich dazu bemerkt werden –, wenn meine Leidenschaftlichkeit die Ursache meines Untergangs ist, so ist sie es anderseits, die mir allein Leben verleiht. Ja, sie reißt mich fort, sie macht mich größer, treibt mich zu schwindelnder Höhe empor, dann schlägt sie mich mit einem Male nieder und zerstört mit einem Schlag ihr ganzes Werk. Der Lebensgenuß ist vielleicht nur ein Aufreiben der eigenen Kraft… Wenn ich an diese vier Jahre des Kampfes denke, so sehe ich ganz klar ein, daß alles, was mich verraten hat, gerade dasjenige ist, was ich ersehnt und besessen habe […] So etwas ist jedenfalls unheilbar. Mit mir ist es aus.«93

Auf Dauer kann an der Börse nur der gewinnen, der sowohl um die Zeichenhaftigkeit des Geldes als auch um das Opfer der symbolischen Kas90 Diesen Zusammenhang hat der spanische Filmemacher Pedro Almodóvar in Matador meisterhaft in Szene gesetzt. Der Protagonist, ein ehemaliger Torero und spanischer Nationalheld, der seinen Beruf nach einer sein rechtes Bein verstümmelnden Verletzung in der Arena aufgeben musste und der dieses Trauma immer wieder von neuem vor seinem inneren Auge abspult, sehnt sich nach unmittelbarer, stierhafter Männlichkeit, die er in der sexuellen Vereinigung mit einer rätselhaften, zugleich grausamen und verführerischen Geliebten zu finden glaubt. Im Tod findet er die letzte und höchste Erfüllung. 91 Braun, Stieropfer, S. 222. 92 Zola, Geld, S. 314. 93 Zola, Geld, S. 564.

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tration weiß. Damit ist freilich noch nicht die von Bettelheim aufgeworfene Frage beantwortet, wie das Wissen um die symbolische Kastration und ihre konstitutive Funktion für Männlichkeitsbilder in einer Kultur produktiv gemacht werden kann, die keine gesellschaftlichen Rituale zur Verfügung stellt, um diesem unbewussten Wissen Ausdruck zu verleihen. Vielleicht ist die Erinnerung an die Geschichte der Zeichen eine – die einzige – Möglichkeit, produktiv mit diesem Wissen umzugehen.

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DIE

K A P I T E L VI. UNENDLICHE DEFLORATION? REPRODUKTION DES HYMENS ALS BILD

Zu den Geheimnissen eines Mediums gehört nicht nur, dass es etwas zu ›verbergen‹ hat. Medien erzeugen auch Vorstellungen des Geheimen; sie wecken (und befriedigen) die ›Entdeckungslust‹, indem sie sich einen Körperteil aneignen, der wie kein anderer in der abendländischen Imagination mit dem Geheimnis verbunden ist: das Hymen oder Jungfernhäutchen. Als Wissensobjekt geht vom Hymen eine große Faszinationskraft aus, da es der Idee des Unerforschten anatomische ›Realität‹ verleiht: Es beschützt den unberührten Körper der Jungfrau und entzieht sich doch selbst der Nachforschung, denn vom Hymen kann man nur um den Preis seiner Vernichtung wissen. Sein ›Nutzen‹ besteht mithin darin, dem Geheimen ›an sich‹ – dem, was sich per definitionem entzieht – im Körper der Frau eine sinnliche, anatomisch greifbare Gestalt zu verleihen.1 In Das andere Geschlecht zählt Simone de Beauvoir die Metaphern auf, mit denen das Geheimnis der Jungfräulichkeit zu fassen versucht wurde (und wird): »Ein unberührter Leib besitzt die frische geheimer Quellen, den morgendlichen Duft einer geschlossenen Blüte, den Schimmer der Perle, die der Sonnenstrahl noch nicht getroffen hat. Höhle, Tempel, Heiligtum, heimlicher Garten, alle solchen dunklen und verschlossenen Orte, die noch von keinem Bewusstsein erfaßt worden sind und gleichsam darauf warten, daß man ihnen eine Seele verleiht, üben eine gewaltige Anziehungskraft auf den Menschen aus; was er als einziger ergriffen und durchdrungen hat, scheint ihm seine eigene Schöpfung zu sein.«2

01 Dazu ausführlich Meltzer, For Fear of the Fire, S. 53-77. 02 Simone de Beauvoir: Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau, Übers. Eva Rechel-Mertens und Fritz Montfort, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1979, S. 167.

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Die Anziehungskraft der Jungfrau besteht darin, dass sie defloriert werden kann; das ›intakte‹ Hymen bestätigt die Definitionsmacht des männlichen Subjekts, das der Frau das ›Prädikat‹ Jungfräulichkeit nicht nur verleiht, sondern auch ›nimmt‹. »Außerdem«, so de Beauvoir weiter, »verfolgt ja jegliches Verlangen das Ziel, das ersehnte Objekt sich zu eigen zu machen und damit zu zerstören. Wenn der Mann das Jungfernhäutchen durchbricht, besitzt er den weiblichen Körper in einer unmittelbareren Weise, als wenn er es intakt läßt; durch diese nicht rückgängig zu machende Operation kennzeichnet er ihn als einwandfrei als einen passiven Gegenstand, er bestätigt sich selbst seine Macht über ihn.«3 Das Hymen ist aber auch deshalb ein interessantes Wissensobjekt, weil sich an ihm die kulturelle und das heißt auch die mediale Basis, auf der die Entdeckungslust des männlichen Subjekts, unser Wissen über die ›Natur‹ sowie die unsichtbaren Lüste, die dieses Wissen hervorbringen, beruhen, besonders eindringlich studieren lassen. Im Laufe der Frühen Neuzeit nistete sich das Hymen in das Unbewusste der visuellen Medien ein. Als die Künstler der Renaissance die Entblößung des weiblichen Körpers vorantrieben4, als Chirurgen die anatomischen ›Geheimnisse‹ der Frauen aufdeckten,5 als Europäer zur Inbesitznahme ›jungfräulicher‹ Territorien in See stachen6 und Naturforscher »die geheimen Bewegungen in den Dingen und die inneren Kräfte der Natur zu erforschen«7 suchten – zur selben Zeit also, als das Geheimnis abhanden zu kommen drohte, begann die ›Arbeit‹ an einer medialen Membran, die den Angst erregenden Gedanken verdrängte, irgendwann könnte das letzte Geheim03 Beauvoir, Das andere Geschlecht, S. 167. 04 Ludmilla Jordanova: Sexual Visions. Images of Gender in Science and Medicine Between the Eighteenth and Twentieth Centuries, New York: Harvester Wheatsheaf 1989; Daniela Hammer-Tugendhat: »Erotik und Geschlechterdifferenz. Aspekte zur Aktmalerei«, in: Daniela Erlach, Markus Reisenleitner, Karl Vocelka (Hg.): Privatisierung der Triebe, S. 367445; Nanette Salomon: »Die Venus Pudica: Eine Offenlegung der verborgenen Interessen und gefährlichen Genalogien der Kunstgeschichte«, in: Heide Wunder, Gisela Engel (Hg.): Geschlechterperspektiven. Forschungen zur Frühen Neuzeit, Königstein: Helmer 1998, S. 79-104. 05 Siehe Kapitel IV; vgl. auch Jonathan Sawday: The Body Emblazoned: Dissection and the Human Body in Renaissance Culture, London [u.a.]: Routledge 1995. 06 Louis Montrose: »The Work of Gender in the Discourse of Discovery«, in: Representations 33 (1991), S. 1-41. 07 Francis Bacon: Neu-Atlantis, hrsg. von Jürgen Klein, Übers. Günther Bugge, Stuttgart: Reclam 1997, S. 43; zu den Weiblichkeitsbildern in der Naturforschung und -ausbeutung des 16. und 17. Jahrhunderts vgl. Carolyn Merchant: Der Tod der Natur. Ökologie, Frauen und neuzeitliche Naturwissenschaft, Übers. Holger Fliessbach, München: Beck 1987.

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nis aufgedeckt, die letzte Frau ›genommen‹ sein. Eine Analyse der Form und Funktion des medialen Hymens in den Bildmedien führt mithin zu den symbolischen ›Vorkehrungen‹, auf denen die in der westlichen Kultur hoch geschätzten ›Werte‹ der Objektivität und Innovation beruhen. Kennt man die Genese des medialen Hymens, dann gewinnt man auch Einblicke in die Mechanismen der Wissenserzeugung.

Abbildung 25: Lucas Cranach d.Ä., Quellnymphe, um 1520/30, Öl auf Leinwand, Lugano-Castagnola, Villa Favorita, Gräfin Margit Batthyany-Thyssen

Abbildung 26: Titelkupfer aus Andreas Vesalius, De fabrica humani corporis libri decem, Basel 1543

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Abbildung 27: Karte Amerikas, in: Abraham Ortelius, Theatrum orbis terrarum, Antwerpen 1570

Das mediale Hymen Beginnen möchte ich mit einer Photographie, die Helmut Newton 1975 (angeblich) in Nizza mit dem berühmten Photomodell Verushka aufnahm. Das Photo zeigt eine dem Betrachter zugewandte, nur leicht bekleidete Frau, die an einem Fenster steht und mit ihrer rechten Hand einen Vorhang zurückzieht, während sie mit der Linken ihre Scham bedeckt. Die Gesten der linken und rechten Hand implizieren zwei verschiedene Arten des Blickens: Zum einen bietet Verushka ihren Körper (und ihr Körperinneres) der Berührung durch den Blick der Kamera und des Betrachters freimütig dar – unterstrichen durch das Zurückziehen des Vorhangs – und zum anderen blockiert sie das Eindringen des Blicks, indem sie ihre Scham mit der linken Hand bedeckt. Man könnte diese Geste als Versuch interpretieren, eine visuelle Defloration zu verhindern. Aber zugleich signalisiert das Photo, dass dieser Versuch zu spät kommt, denn erstens bedeckt die Hand die Scham nur teilweise und zweitens suggeriert der auseinander gezogene weiße Vorhang, in den sich die spitzen, (blut-)rotlackierten Fingernägel ›eingraben‹, dass ihre Jungfräulichkeit berührt, ihr Inneres erschlossen, ihr Hymen zerrissen wurde. Allerdings lässt Newtons Photo auch Assoziationen zu, die nicht das zerrissene, sondern das ›intakte‹ Hymen aufrufen und die das Bild als Allegorie des Mediums Photographie lesbar machen: sowohl Spiegelbild als auch Abbildung des Unsichtbaren – Optisch-Unbewussten – und 120

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Vergangenen. Die Fensterflächen zur Linken und Rechten der Frauenfigur scheinen mit dem dahinter liegenden Vorhang zu verschmelzen. Auf den ersten Blick sieht es so aus, als ob der Betrachter nur durch diese fragilen Flächen von dem dahinter sichtbaren Meer getrennt sei. In welchem Raum aber würde sich dann die am Fenster stehende Frau befinden? Sind also die Fenster in Wahrheit Spiegel, die das Begehren des Betrachters reflektieren? In ihrer ›Unwirklichkeit‹ wecken die Spiegelflächen Assoziationen zu jenem unwirklichen Ort, den das Hymen für den Blick des Wissenschaftlers darstellt. Auch Verushkas Körper erscheint als zu durchdringende Fläche, hinter dem sich ein schwarzer Raum – ein ›dunkler Kontinent‹ auftut. Interpretiert man das Photo als Darstellung des medialen Unbewussten der Photographie (als Medium), dann scheint diese einen Teil ihrer Anziehungskraft aus dem Phantasma zu beziehen, das ›Geheimnis‹ der Frau – ihr Hymen – sehen und berühren zu können, es dabei aber zugleich unangetastet zu lassen. Deutlicher zum Vorschein kommt dieses Phantasma, kennt man die ikonographischen Anleihen, die Helmut Newton bei der Gestaltung dieses Photos gemacht hat. Im toskanischen Monterchi befindet sich ein Fresko der Madonna del Parto, das eine frappierende Ähnlichkeit mit Newtons Photo besitzt. Angefertigt hat es der Maler Piero della Francesca in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts. Wie auf einer Bühne schieben zwei Engel einen Vorhang zur Seite und geben den Blick auf die schwangere Jungfrau Maria8 frei. Maria ihrerseits öffnet mit den Fingern ihrer linken Hand einen über dem Schoß liegenden Schlitz ihres Kleides, um eine Lage feinen, weißen Stoffs zu ›enthüllen‹, der die Unberührtheit ihres Hymens symbolisiert. Die Jungfrau stellt ihr ›Hymen‹ gleichzeitig zur Schau und versucht, es zu beschützen, indem sie den Schlitz mit ihrer Handfläche teilweise bedeckt, ohne dabei den weißen Stoff zu berühren. Die Enthüllung, mit der dieses Fresko aufwartet, lautet: Das Geheimnis des Hymens ist gelüftet, von jetzt an steht es (als Bild) der Inspektion durch den Blick zur Verfügung und bleibt dennoch ›heil‹.

08 Die Madonna del Parto ist eine der wenigen Darstellungen, auf denen die Jungfrau als Schwangere zu sehen ist.

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Abbildung 28: Helmut Newton, Verushka, schwarz-weiß Photographie, in: Private Property, München 1989

Abbildung 29: Piero della Francesca, Madonna del Parto, 1467, Fresko, Museo Monterchi, Monterchi (Toskana)

Zweifellos behandeln die beiden Bilder das Thema in unterschiedlicher Weise. Wo es Piero della Francesca darum ging, das sichtbar zu machen, was (angeblich) im Inneren des weiblichen Körpers verborgen ist, legt Newtons Photo nahe, dass das Hymen aus dem Körper der Frau in das 122

KAPITEL VI. UNENDLICHE DEFLORATION?

Medium der Photographie ›gewandert‹ ist (symbolisiert durch die spiegelnden Fensterflächen). Und während die Madonna ihr makelloses Hymen vorzeigt, scheint Verushka erkannt zu haben, dass sie die Kontrolle über ihr Hymen verloren hat. Mit anderen Worten, während das Fresko der Madonna del Parto das Hymen als etwas vorstellt, das man (endlich) sehen und erforschen kann, geht es in Newtons Photo, das die Sichtbarmachung des Hymens als gegeben voraussetzt, um die Inszenierung der verführerischen Phantasie einer unendlichen Defloration mit Hilfe der Photographie. Die Unterschiede zwischen diesen beiden (ikonographisch so ähnlichen) Bildern belegen den historischen Wandel, der in den fünfhundert Jahren, die sie trennen, stattgefunden hat. Gemeinsam ist ihnen die Faszination an der medialen Fabrikation jener geheimnisvollen Membran.

Abbildung 30: Albrecht Dürer, Zeichner, Holzschnitt, in: Vnderweysung der Messung, Nürnberg 1528

Entscheidenden Anteil an dieser Fabrikation hat das Medium der Zentralperspektive, in deren symbolischer und technischer Anordnung Projektion und Defloration auf das Engste verbunden sind. Die von der Zentralperspektive ermöglichte Projektion des dreidimensionalen Raumes auf eine zweidimensionale Fläche beruht auf der Konstruktion eines Blickrasters, in der Fachsprache ›Velum‹ genannt. Dieses Velum richtet der Maler zwischen seinem Auge und dem zu malenden Objekt auf, wodurch das Objekt des Blicks – das ›Andere‹ des Subjekts – in ein Koordinatensystem eingeordnet wird, während das blickende Subjekt sich ›hinter‹ dem Velum verschanzt und mit jedem Blick zugleich einen symbolischen Deflorationsakt vollzieht. Diese phantasmatische Funktion des Velums scheint auch in der Wortgeschichte auf. Das lateinische Wort velum heißt nicht nur Schleier, Vorhang, es entspricht auch dem Griechischen hymen (Vorhang, Schleier, Häutchen), welches im christlichen Raum zur Bezeichnung des Jungfernhäutchens verwendet wurde. Tatsächlich scheint der Erfinder des Velums, der italienische Architekt und Autor Leon Battista Alberti, das Velum als ein symbolisches Hymen 123

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empfunden zu haben. Er beschreibt es als eine Membran aus feinstem Tuch, die vom Blick des Malers unendlich oft – so wörtlich – »durchdrungen« werden könne und dabei unversehrt bleibe. »Es ist ein hauchdünnes Tuch aus losem Gewebe, nach Belieben gefärbt, und mit etwas dickeren Fäden in eine beliebige Anzahl von Parallelen unterteilt. Dieses Velum stelle ich zwischen das Auge und den gesehenen Gegenstand, und zwar so, dass die Sehpyramide [der Blick, BM] das lose Gewebe des Tuches durchdringt.«9

Das Velum erfüllte noch eine zweite Funktion. Das Raster, das der Maler zwischen seinem Blick und dem Objekt aufrichtet, wiederholt sich auf der Malfläche und erleichtert das maßstabgerechte Übertagen des Gesehenen in das Bild. Das auf den Malgrund projizierte Velum dient hier als imaginäre Oberfläche; es präpariert den Bildträger als jungfräuliches Hymen, welches der Maler bei seiner Arbeit, so oft er möchte, berühren und beflecken kann, das aber dennoch intakt bleibt. Der Umgang mit dieser neuartigen Oberfläche, die im fertiggestellten Bild unsichtbar sein würde, bedurfte großer Sorgfalt und musste eingeübt werden. Alberti riet dem Maler, sich vorzustellen, »als ob die Fläche aus durchsichtigem Glas sei, so dass die Sehpyramide sie durchdringen könnte«.10 In dieser Formulierung wird sowohl auf die Unsichtbarkeit als auch auf die Zerbrechlichkeit dieser imaginären Oberfläche angespielt. Aus diesem Grund habe man – so der deutsche Kunsttheoretiker Walter Ryff in seiner Übersetzung von Albertis Della Pittura – bei der ersten Umrisszeichnung, die auf der mit dem Velum präparierten Malfläche ausgeführt werde, »sehr geübt und wohl verstendig« zu sein und es sei »nicht wenig daran gelegen, das solche erste aufreissung mit sehr reinen, subtilen Linien beschehe«, weil es sich nicht »zieme, das solche grob seien, dann es würde mehr einem Spalt dann einer reinen Linien gleich und darfür angesehen werden«.11 Dass dies weder selbstverständlich war noch ohne Mühen

09 Leon Battista Alberti: Della Pittura. Über die Malkunst, Lateinisch/ Deutsch, hrsg., eingeleitet, übersetzt und kommentiert von Oskar Bätschmann und Sandra Gianfreda, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2002, S. 115. 10 Alberti, Della Pittura, S. 83f. 11 Walter Ryff: »Der furnembsten, notwendigsten, der ganzen Architektur angehörigen mathematischen und mechanischen Künst eigentlicher Bericht und vast klare, verstendliche Unterrichtung zu rechtem Verstandt der lehr Vitruuii in drei furneme Bücher abgetheilet […]«, Nürnberg 1547, in: Thomas Cramer, Christian Klemm (Hg.): Renaissance und Barock, Frank-

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vonstatten ging, belegen die zeitgenössischen Handbücher, die den Maler in der Anfertigung und dem Gebrauch des Velums unterweisen. (Die aus der neueren Kunstgeschichte bekannten ›Deflorationsaktionen‹ die Künstler wie Lucio Fontana an der Leinwand exerzierten,12 sind historisch gesehen eine späte Erscheinung, die mit dem zunehmenden Unbehagen an der Unzerstörbarkeit des Velums in Zusammenhang zu stehen scheinen.) Die Mühe sollte sich aus vielen Gründen lohnen. Zum einen bewirkte die Erzeugung eines künstlichen Hymens, das den Regeln der Geometrie gehorchte, die Versinnlichung einer hoch abstrakten Seh- und Projektionstechnik, indem sie Wahrheitssuche mit Lustgewinn verknüpfte. Zum anderen war es mit Hilfe der perspektivischen Konstruktion möglich geworden, einen Teil des weiblichen Körpers, der als schlechthin unverfügbar galt, der sich dem Blick und der Analyse entzog, dessen Existenz man nur beweisen konnte, indem man ihn befleckte oder zerstörte, symbolisch verfügbar zu machen. Die Philosophin Françoise Meltzer schreibt: »Jungfräulichkeit ist ein Paradox, weil sie nur im Akt ihrer Vernichtung ermittelt werden kann. […] Die Grenzüberschreitung liegt dabei nicht nur in der notwendigen physischen Penetration, die eine solche Prüfung impliziert; noch wichtiger ist die visuelle Transgression, denn man sieht was verborgen bleiben sollte. […] In diesem Sinne flieht Jungfräulichkeit sowohl anatomisch als auch begrifflich vor dem Licht.«13

Mit der medialen Reproduktion des Hymens kontrolliert das männliche Subjekt aber nicht nur das, was sich entzieht – das Geheime, das Weibliche –, es schützt sich auch vor der Begegnung mit dem tatsächlich Geheimen – einem Geheimnis, das nicht immer schon der Definitionsmacht des Subjekts entspringt. Das Velum/Hymen stellt sicher, dass das männliche Subjekt nicht selbst zum Objekt seiner Wissbegierde wird. In diesem Sinne hat Meltzer die Bedeutung des Hymens in der abendländischen Kultur als »Schleier der Alterität«14 und als Ausdruck eines »abgeneigten Blicks« (averted gaze) interpretiert, der den Tod, die Sterblichkeit und das Geheimnis als Teil des eigenen Selbst verleugne. furt/Main: Deutscher Klassiker Verlag 1995, S. 117-301, hier S. 144; Orthographie des Zitats leicht modernisiert. 12 Silvia Eiblmayr: Die Frau als Bild. Der weibliche Körper in der Kunst des 20. Jahrhunderts, Berlin: Reimer 1993. 13 Meltzer, Fear of the Fire, S. 65, hier und im Folgenden meine Übersetzung. 14 Meltzer, Fear of the Fire, S. 11.

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»Ich schlage vor, Jungfräulichkeit als Metapher der Alterität für die Alterität aufzufassen; als den Gedanken des Todes im Innern des Denkens über den Tod; als das, was aus dem Denken gelöscht wird, sobald man ihm im Denken begegnet. Denn wenn Jungfräulichkeit vor dem Licht flieht, dann entspricht diese Flucht einer mimetischen Bewegung desjenigen, der versucht seinen prüfenden Blick auf sie zu richten, die darin besteht sie als Ausdruck dessen, was sich dem Licht [der Vernunft, BM] anbietet, zu etablieren.«15

Anders gesagt, das unbefleckte Hymen ist die Metapher für den neuzeitlichen Wissensdrang, der auf einem Auge blind ist. Diese Blindheit, auch das hat Meltzer gezeigt, ist nicht nur metaphorisch zu verstehen: »Der abgeneigte Blick ist keine Metapher, vielmehr wird seine Abwendung durch Metaphern verschleiert und verborgen.«16

Das Hymen als Zeichen und Körper Weshalb sollte das Hymen ausgerechnet im Medium der Zentralperspektive eine so zentrale Rolle spielen? Ein Blick in die Geschichte des Hymens kann zeigen, dass den Projektionsmedien eine quasi natürliche Affinität zu dieser geheimnisvollen Membran innewohnt, denn das Hymen tritt zuerst als eine von Menschenhand gefertigte Oberfläche mit hoher symbolischer Bedeutung in Erscheinung – mithin als Produkt der Kultur –, bevor es sich im Laufe des Mittelalters in ›Natur‹ – in eine anatomische Oberfläche – verwandeln sollte. Dem frühneuzeitlichen Wissensdrang, der die ›Geheimnisse der Natur‹ zu entschleiern und in ›jungfräuliche Territorien‹ einzudringen suchte, war die ›Naturalisierung‹ des Geheimnisses in Gestalt des Hymens im Laufe des Mittelalters vorausgegangen. Was man seit der Renaissance als Naturgesetz zu enträtseln suchte, hatte man kaum drei Jahrhunderte zuvor der ›Natur‹ allererst eingepflanzt. Das, was wir heute Jungfernhäutchen nennen und im Körper der Frau verorten, leitet sich aus empfindlichen Oberflächen wie Schleier, Bettlaken oder Glas ab, die im Altertum Jungfräulichkeit symbolisierten und mit deren Hilfe man das Geheimnis als etwas Weibliches darstellbar machte. Das hebräische Wort für Zeuge – derjenige, der etwas weiß, was andere nicht wissen – (edes) leitet sich vom Bettlaken der Hochzeitsnacht ab, das nach dem Vollzug der Ehe den anwesenden Verwandten vorge-

15 Meltzer, Fear of the Fire, S. 65. 16 Meltzer, Fear of the Fire, S. 168.

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zeigt wurde. Die arabische, im Islam verwendete Bezeichnung für die in der Hochzeitsnacht verletzte Jungfräulichkeit lautet hidjab (Schleier), und ähnlich wie im Judentum muss das Brautpaar den Beweis, dass dieser Schleier zerrissen wurde, den wartenden Verwandten in Form eines blutigen Lakens präsentieren. Durch die Eheschließung wird die im öffentlichen Leben durch den Schleier symbolisierte soziale Trennung zwischen Mann und Frau aufgehoben; der fremde Mann wird zum Ehemann, der in die ›Geheimnisse‹ der Frau eindringt. In Griechenland und Rom symbolisierte der Schleier der Braut ihre Jungfräulichkeit und auch dort musste die Braut nach der Hochzeitsnacht das blutbefleckte Laken aus dem Fenster hängen. Auch die Metaphern, mit denen die frühen Christen die Jungfräulichkeit beschrieben – etwa als »unbefleckter Spiegel einer Seele, die endlich das blendende Licht der strahlenden Reinheit Gottes aufgefangen hatte«17 –, implizieren nicht notwendigerweise die Existenz eines Jungfernhäutchens im Körper der Frau – ohnehin bezog sich Jungfräulichkeit in der Frühzeit des Christentums ebenso gut auf Frauen wie auf Männer. Allerdings zeichnet sich im Christentum bereits sehr früh auch eine Tendenz ab, das Symbol der weiblichen Jungfräulichkeit – den Schleier – als äußeres Zeichen einer inwendigen Hülle aufzufassen. So etwa der im 2. Jahrhundert in Karthago lebende christliche Autor Tertullian, der seine Forderung nach der Verschleierung der Jungfrauen u.a. mit der Existenz einer »inneren Verhüllung« begründete,18 damit aber vermutlich nicht das, was wir heute unter Hymen verstehen, meinte, denn dieses Jungfernhäutchen war noch nicht ›entdeckt‹. Alle Kulturen im Mittelmeerraum und Mesopotamien brachten dem jungfräulichen Körper eine hohe Wertschätzung entgegen, aber sie knüpften diese nicht an die Unversehrtheit einer verborgenen Membran im weiblichen Körper. Aus heutiger Sicht bezeichnete das Wort Jungfrau (parthenos) in Griechenland widersprüchliche weibliche Eigenschaften. In einem sozialen Sinne meinte Jungfrau eine unverheiratete Frau, die durchaus Mutter sein konnte; erst die Ehe, d.h. die Zugehörigkeit zu einem Mann, machte aus einer Jungfrau eine Frau (gyne).19 Wie die Worte parthenia/parthenios (Kind einer Jungfrau) belegen, schloss die soziale Jungfräulichkeit Mutterschaft nicht aus. Die zahllosen Kinder, die in

17 Peter Brown: Die Keuschheit der Engel. Sexuelle Entsagung, Askese und Körperlichkeit im frühen Christentum, Übers. Martin Pfeiffer, München: dtv 1994, S. 310. 18 Kathleen Coyne Kelly: Performing Virginity and Testing Chastity in the Middle Ages, London: Routledge 2000, S. 91. 19 Giulia Sissa: Greek Virginity, Übers. Arthur Goldhammer, Cambridge, Mass.: Harvard University Press 1990, S. 76-90.

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literarischen Werken von Jungfrauen geboren werden, bezeugen eine Auffassung von Jungfräulichkeit, die nichts mit dem Körper oder Sex zu tun hatte. »Die Partheniai aus Sparta; Parthenpaeus, Sohn der Atalanta; Asclepius, Sohn der Coronis; Evadne, Tochter der Pitane und Iamus, Sohn der Evadne. […] Geschlechtlicher Verkehr außerhalb der Ehe, aber bevor die Eheschließung vor Zeugen […] stattgefunden hatte, hatte keinen Einfluss auf die Begriffe mit denen ein junges Mädchen gerufen wurde. Eine Frau wurde sie allein durch die Ehe, als die gyne ihres Ehemannes.«20

Daneben konnte Jungfräulichkeit auch sexuelle Unschuld und Reinheit bezeichnen, die man durch Prüfungen und Rituale zu ermitteln suchte.21 Herodot berichtet von einem Wettkampf zwischen Jungfrauen zu Ehren einer libyschen Göttin am Fluß Tritonis. Die parthenoi kämpften gegeneinander und diejenigen, die an ihren Verletzungen starben, galten als ›falsche Jungfrauen‹ (pseudoparthenoi). Aelius beschreibt ein Ritual, dem sich die heiligen Jungfrauen in Lavinium in einer Höhle der Hera unterwerfen mussten. Mit verbundenen Augen servierten sie Schlangen kleine Küchlein, wobei die Schlangen nur Gaben aus der Hand von ›echten‹ Jungfrauen akzeptierten. Achilles Tatius berichtet in seinem Roman Leukippe und Kleitophon von einem Wassertest, der in Ephesos durchgeführt wurde: Die echte Jungfrau kommt unbeschadet aus dem Styx zurück, die falsche ertrinkt. Sissa betont, dass diese Rituale nicht darauf abzielten, die physische Integrität eines Körperteils zu beweisen (bzw. zu widerlegen), sondern die Vergangenheit der Frauen. Man wollte ausschließen, dass sie etwas verschwiegen.22 Wenn die Jungfräulichkeitstests etwas belegen, dann die Tatsache, dass Jungfräulichkeit ein Zustand war, den man am Körper der Jungfrau gerade nicht beweisen konnte. Die Möglichkeit der Geheimhaltung spielte auch bei der sozialen Jungfräulichkeit eine Rolle. Parthenia/parthenios – Kind einer Jungfrau – implizierte eine Lüge: Die Jungfrau konnte nur deshalb als Jungfrau gelten, weil sie ihre sexuelle Aktivität verborgen hielt. In Athen unter dem Gesetz des Solon wurde eine unverheiratete Schwangere, die den Namen

20 Sissa, Greek Virginity, S. 78, hier und im Folgenden meine Übersetzung. 21 Giulia Sissa: »Maidenhood without Maidenhead: The Female Body in Ancient Greece«, in: David Halperin, John J. Winkler, Froma Zeitlin (Hg.): Before Sexuality. The Construction of Erotic Experience in the Ancient Greek World, Princeton: Princeton University Press 1990, S. 339-464, hier S. 340ff. 22 Sissa, Greek Virginity, S. 106.

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des Kindsvaters nicht kannte oder preisgeben wollte – die ›verführt‹ worden war (so der offizielle Sprachgebrauch) –, aus der Familie ausgestoßen und nicht mehr als freie Frau betrachtet. Ihr Vater hatte das Recht, sie in die Sklaverei zu verkaufen.23 Und doch gab es etwas im Körper der Frau, das es für die Griechen plausibel erscheinen ließ, sexuelle Unberührtheit bzw. Unzugänglichkeit als ›natürlichen‹ Zustand aufzufassen: die ›Versiegelung‹ der Lippen des Uterus im Falle einer Schwangerschaft oder nach der Menopause. »Bei schwangeren Frauen schließt sich der Muttermund«, heißt es in einem Aphorismus des Hippokrates, während er sich jenseits der fruchtbaren Periode für immer der Schwangerschaft verschlossen hat. »Der verschlossene Körper der Jungfrau korrespondiert mit dem mütterlichen Körper, der gesättigt mit Kindern, das Schweigen ihrer Gebärmutter erlebt.«24 Sissa führt das ›Fehlen‹ des Hymens in der griechischen Kultur auf die hohe kulturelle und rituelle Bedeutung des Schweigens und der Mutterschaft zurück. Tempeldienerinnen mussten jungfräulich sein, weil ihr Uterus wie die Lippen ihres Mundes verschlossen war. Nur so konnten sie sich von ihrer Umwelt abschließen und sich vollkommen der Begegnung mit dem göttlichen Wort öffnen. Hier haben sich Reste einer oralen Kultur bewahrt, in der das gesprochene Wort und die Sexualität als heilig galten. Die Pythia am Heiligtum in Delphi war buchstäblich das Sprachrohr des Appoll. »War es nicht wunderbar natürlich und überzeugend, dass keine Membran oder Barriere zwischen den beiden Lippen existieren sollte, die in der Lage waren, sich zu schließen? Das Fehlen eines schleierähnlichen Symbols der Jungfräulichkeit war ganz einfach das logische Gegenstück der Vorstellung, die weiblichen Genitalien ähnelten einem Mund.«25 Dies spiegelt sich auch in der Wortgeschichte wider. Das griechische Wort für Geheimnis (mysterion, Lateinisch mysterium) leitet sich von der Wurzel µ, Augen oder Mund schließen, ab.26 Das mysterium ist also ursprünglich das, was einem die Sprache (und die Sehkraft) verschlägt. Dabei war das Hymen der griechischen Medizin durchaus bekannt – allerdings nicht im Sinne eines Jungfernhäutchens. Vielmehr bezieht sich ›Hymen‹ in den medizinischen Werken von Aristoteles bis Galen auf eine Membran, die bei allen Säugetieren, Männern wie Frauen, die le23 24 25 26

Sissa, Greek Virginity, S. 87. Sissa, Greek Virginity, S. 162. Sissa, Greek Virginity, S. 167. Der neue Pauly. Enzyklopädie der Antike, hrsg. von Hubert Cancik, Helmuth Schneider, Manfred Landfester, Bd. 8, Stuttgart: Metzler 2003, Stichwort ›Mysterien‹, Sp. 616.

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benswichtigen Organe umhüllt. Galen glaubte, der Uterus werde durch die Schamlippen geschützt.27 Die Defloration – ein Begriff, der auch im Griechischen existierte – stellte man sich als das Öffnen einer Wunde vor, nicht jedoch als das Zerreißen eines Häutchens.28 Wenn aber der frühen Medizin die Existenz des Hymens nicht bekannt war, dann sind all jene Bräuche, die mit dem Schleier und dem blutbefleckten Leinentuch der Hochzeitsnacht in Verbindung stehen und all jene Metaphern, die Jungfräulichkeit mit denen des Spiegels, Schleiers, Tuches oder als Glas beschreiben, nicht als Beleg für die Existenz eines Jungfernhäutchens zu interpretieren. Vielmehr ist es umgekehrt: Die Vorstellung, Jungfräulichkeit sei ein kultureller Zustand, dessen Symbol eine Membran ist, geht der Naturalisierung des Hymens als physischem Zeichen der Jungfräulichkeit voraus.29 Erst seit dem Hochmittelalter, vermittelt über die Rezeption arabischer Medizinschriften, erscheint das Hymen im christlichen Europa als eine anatomische Gegebenheit des weiblichen Körpers. Parallel dazu vollzog sich eine Feminisierung der Jungfräulichkeit, die sich – anders als im frühen Christentum mit seiner Betonung der Askese für Frauen und Männer30 – nun allein auf den weiblichen Körper bezog, da man am männlichen keine physischen Zeichen der Unberührtheit zu erkennen vermochte, die ihm ›genommen‹ werden könnten.31 Anders gesagt, das Symbol wurde in den Körper der Jungfrau eingepflanzt32 – eine Einkörperung, die keine Parallele im männlichen Körper hat33 und weitreichende Folgen für die Behandlung des jungfräulichen Körpers haben sollte. An zwei Beispielen möchte ich die Auswirkungen dieser Naturalisierung aufzeigen. 27 Sissa, Maidenhead, S. 353ff. 28 Sissa, Maidenhead, S. 343f. 29 Wie es dazu kam, Jungfräulichkeit als Oberfläche wahrzunehmen, ist in der Forschung noch ungeklärt. Ich vermute, dass Symbole wie Leinentuch, Glas und Schleier Ausdruck der um sich greifenden Schriftlichkeit sind, die dem sozialen Gedächtnis und dem Verkehr mit den Göttern eine neue Grundlage gaben, indem sie vom gesprochenen auf das geschriebene Wort umstellten. 30 Peter Browe: Zur Geschichte der Entmannung. Eine religions- und rechtsgeschichtliche Studie, Breslau: Müller & Seiffert 1936; Brown, Keuschheit. 31 Zur Erotisierung der Jungfräulichkeit siehe Claudia Opitz: »Hunger nach Unberührbarkeit? Jungfräulichkeitsideal und weibliche Libido im späten Mittelalter«, in: Feministische Studien 5/1 (1986), S. 59-75. 32 Meltzer, Fear of the Fire, S. 69. 33 Die Kastration als Zeichen der Jungfräulichkeit, wie sie einige frühe Christen praktizierten, konnte sich nicht durchsetzen und seitdem gilt die Jungfräulichkeit des männlichen Körpers als unbeweisbar.

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Im Römischen Reich fand der wichtigste Staatskult im Tempel der Vesta auf dem Forum Romanum statt. Hier wurden die sacra der römischen Herrschaft aufbewahrt.34 Die jungfräulichen Dienerinnen der Vesta verrichten ihren Dienst im so genannten penus, dem innersten und heiligsten Bezirk des Tempels, der für alle anderen unzugänglich und unsichtbar bleiben musste. Der römische Grammatiker Sextus Pompeius Fetus schreibt, »Penus heißt der innerste Ort im Heiligtum der Vesta, der mit Decken (Matten, Teppichen) eingehegt ist und an gewissen Tagen um die Vestalia geöffnet wird.«35 Die Jungfräulichkeit der Vestalinnen ›wiederholt‹ die Unzugänglichkeit und das Geheimnis des penus, der linguistisch mit dem Adjektiv penetralis verwandt ist, welches das »bezeichnet, was tief innen, verborgen und geschützt ist, penetralia sind die Innenräume des Hauses, die Privatsphäre.«36 Die Etymologie des Wortes ist nicht eindeutig rekonstruierbar, aber die zeitgenössischen Deutungen sind aufschlussreich. Hildegard Cancik-Lindemaier schreibt: »[S]chon in der Antike wurde das Wort mit dem Adverb penitus – ›tief innen, im Innern‹ und der Präposition penes – ›bei, im Besitz von‹ verbunden. Bei Festus findet sich folgende Angabe: ›penetrale nennt man ein Opfer, das im inneren Teil eines Heiligtums vollzogen wird. Daher spricht man auch von den penetralia eines jeden einzelnen; und penes nos was in unserer Macht steht‹. Auch das als terminus technicus eingeführte Wort penus wird auf penitus zurückgeführt. Nach Gellius hat der Jurist Q. Mucius Scaevola das Wort als den Langzeitvorrat an Lebensmitteln für eine familia bestimmt: ›von dem, was nicht bei der Hand, sondern innen und tief drinnen gehalten wird, kommt die Bezeichnung penus‹.«37

Die Vestalinnen verkörpern nicht physische Unberührtheit oder gar ›Intaktheit‹, sondern die Abgeschiedenheit und Unzugänglichkeit eines Innenraumes. Das ist etwas ganz anderes, als die durch das Hymen bezeichnete Vorstellung einer Grenzfläche. Als das Hymen sich als Beweis der Jungfräulichkeit etablierte, ging die Aufmerksamkeit von einem verborgenen Inneren (penus) auf dessen Begrenzung (und mithin Penetrierbarkeit) über. Höchste Wertschätzung genoss nun nicht mehr die Abson34 Zum Kult der Vesta vgl. den Eintrag ›Vesta‹ in: Der neue Pauly; sowie Hildegard Cancik-Lindemaier: »Arcana Aedes. Eine Interpretation zum Heiligtum der Vesta bei Ovid«, in: Aleida Assmann, Jan Assmann (Hg.): Schleier und Schwelle. Geheimnis und Öffentlichkeit, München: Fink 1997, S. 163-178. 35 Zit. Cancik-Lindemaier, Arcana, S. 165. 36 Cancik-Lindemaier, Arcana, S. 165. 37 Cancik-Lindemaier, Arcana, S. 166.

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derung eines inneren Bezirks – repräsentiert durch das Innere des jungfräulichen Körpers –, sondern seine Hülle.38 Die Konzentration auf die Hülle besagt zum einen die zunehmende ›Schutzlosigkeit‹ geheiligter, als unzugänglich gedachter Innenräume und sie sollte zum anderen im Christentum dazu führen, dem Hymen heilsgeschichtliche Bedeutung zu verleihen und es mit Vorstellungen von Erlösung und paradiesischer Unschuld ›aufzuladen‹. So heißt es etwa in dem zu Beginn des 13. Jahrhunderts anonym erschienenen Traktat The holy maidenhead: »Jungfräulichkeit ist ein Schatz, der, wenn einmal verloren, nie wieder zurück gewonnen werden kann. Jungfräulichkeit ist eine Blüte, die, wenn sie einmal gepflückt wurde, niemals mehr sprießt. […] Jungfräulichkeit ist der Stern, der, wenn er einmal im Osten aufgegangen und im Westen untergegangen ist, niemals mehr aufsteigt. Jungfräulichkeit ist das höchste Geschenk des Himmels; legst Du es einmal beiseite, wirst Du niemals ein zweites bekommen, denn Jungfräulichkeit ist die Königin des Himmels und die Erlösung der Welt, wodurch wir gerettet werden. Sie ist eine Tugend, die über allen Tugenden steht und wird von Christus am höchsten geschätzt; […] ihr Verlust kann niemals wieder gut gemacht werden.«39

Neben der Idealisierung der Jungfräulichkeit kennt die abendländische Kultur auch die Angst vor dem jungfräulichen Körper. Weil sie noch von keinem Mann ›in Besitz genommen‹ war, ging von ihrem ›unentdeckten‹ Körper eine bedrohliche Wirkung aus, und zwar immer dann, wenn die Jungfrau ihre potentielle Deflorierbarkeit ablehnte, indem sie ihre Jungfräulichkeit dazu nutzte, um selbst den Status des unpenetrierbaren Subjekts zu beanspruchen. Beispielhaft lässt sich diese Bedrohung (und ihre Eindämmung) an der Geschichte der Jungfrau von Orléans studieren, einem Bauernmädchen, das in Männerkleidung die französische Monarchie gegen die Engländer verteidigte, 1431 von einem Inquisitionsgericht in Rouen wegen Ketzerei zum Tode verurteilt und auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde, gegen Ende des 15. Jahrhunderts rehabilitiert und

38 Sissa glaubt, die Verbindung zwischen Hymen und Jungfräulichkeit sei in römischer Zeit entstanden, als Verben wie etwa pertundere zur Bezeichnung der Defloration benutzt wurden, die Perforation und Einstiche implizierten; vgl. Sissa, Greek Virginity, S. 175. 39 The Hali Meidenhad, Zit. Kelly, Virginity, S. 123. Das altenglische Wort meidenhad kann sowohl maidenhead (Jungfernhäutchen) als auch maidenhood (Jungfräulichkeit) bezeichnen und bringt die enge Verbindung zwischen Jungfräulichkeit und Hymen zum Ausdruck.

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seit der Französischen Revolution als Nationalheldin verehrt wird.40 Ausschlaggebend für ihre Verurteilung war die Hartnäckigkeit, mit der sie sowohl auf ihrer Jungfräulichkeit als auch auf dem Tragen von Männerkleidung beharrte. Johannas Jungfräulichkeit erregte deshalb Anstoß, weil die Bauerntochter diese als von Gott verliehenen Zustand interpretierte, der ihr das Recht gab, ihre Familie zu verlassen, als Frau Männerkleidung anzulegen, Waffen zu tragen, ein Heer anzuführen und sich keiner anderen Autorität als jenen göttlichen »Stimmen«, die sie als Auftraggeber ihrer Mission angab, verpflichtet zu fühlen.41 »Vor der Befreiung von Orléans und seither fast täglich nannten sie mich, wenn sie zu mir sprachen, ›Johanna, Jungfrau, Magd Gottes‹«, sagte sie vor der Inquisition aus. Und: »Es gefiel Gott, durch eine einfache Jungfrau die Feinde des Königs zurückzuschlagen«42, »Gott hat mich gesandt, um dem König von Frankreich zu helfen.«43 Aus ihrer Jungfräulichkeit bezog Johanna von Orléans bis zuletzt Stärke und Unabhängigkeit. So bestand sie einerseits auf ihrer eigenen Stimme44 und beharrte andererseits auf dem Recht zu schweigen. Sie lässt sich auch von der Inquisition nicht dazu zwingen, die Identität der göttlichen Stimmen, die nur sie allein hören kann, preiszugeben: »Die Stimmen kommen von Gott. Ich sage Euch nicht alles, was ich weiß. Ich fürchte mehr, den Stimmen zu missfallen mit meinem Reden als Euch mit meinem Schweigen.«45 Symbolisch verteidigt (und sichtbar gemacht) hat sie die von ihr beanspruchte Subjektposition durch das Tragen von Männerkleidung, auf die sie auch auf die Gefahr hin, ihr Leben zu verlieren, nicht verzichten mochte. Als sie gefragt wurde, wer sie zum Tragen der Männerkleidung bewegt habe und was sie sich davon erwarte, antwortete sie: »Es war mein Wille, kein Mensch hat es von mir verlangt.«46 »Ich erwarte mir dafür Schutz und Stärkung.«47 In der Forschung ist diese Bemerkung als Anspielung auf sexuelle Übergriffe und Vergewaltigung während ihres Soldatenlebens

40 Vgl. u.a. Hedwig Röckelein, Charlotte Schoell-Glas, Maria E. Müller (Hg.): Jeanne d’Arc oder wie Geschichte eine Figur konstruiert, Freiburg im Breisgau [u.a.]: Herder 1996. 41 Claudia Opitz: Evatöchter und Bräute Christi. Weiblicher Lebenszusammenhang und Frauenkultur im Mittelalter, Weinheim: Deutscher Studien Verlag 1990, S. 183. 42 Ruth Schirmer-Imhoff: Der Prozess Jeanne d’Arc, 1431-1456, München: dtv 1956, S. 56. 43 Schirmer-Imhoff, Jeanne d’Arc, S. 67. 44 Meltzer, Fear of the Fire, S. 119-164. 45 Schirmer-Imhoff, Jeanne d’Arc, S. 24. 46 Schirmer-Imhoff, Jeanne d’Arc, S. 53. 47 Schirmer-Imhoff, Jeanne d’Arc, S. 30.

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gedeutet worden. Die Männerkleidung habe verhindert, so die These, dass die Soldaten die Jungfrau Johanna als Frau und damit als Sexualobjekt wahrgenommen hätten. Unabhängig davon, ob die Kleidung tatsächlich sexuelle Übergriffe verhindert hatte, diente ihr die Männerkleidung in einem übertragenen Sinn als Schutzschild, mit dem sie ihre Subjektposition verteidigte. Johanna von Orléans wollte beides sein: Jungfrau und Subjekt. Dies kann nur gelingen, wenn sie sich in die Lage versetzt, den Blick von ihrer potentiellen Deflorierbarkeit – d.h. von ihrem Objektstatus – abzulenken. Indem sie die für ihr Geschlecht ›falsche‹ Kleidung anlegt, umgibt sie sich mit einem solchen ›Blickschutz‹. Die Verbrennung auf dem Scheiterhaufen, die die Richter der Inquisition schließlich als Strafe über sie verhängten, sollte diesen, von ihr bis zuletzt aufrechterhaltenen, ›Schleier‹ durchdringen und die ›Defloration‹ der Jungfrau noch im Sterben vollziehen. Wie ein zeitgenössischer Chronist berichtet, wurde sie am Tag der Hinrichtung »an einen Pfahl des Gerüsts aus Gips gebunden, das man anzündete«.48 Sobald die Flammen ihren Tod herbeigeführt hatten, ihr Körper jedoch noch nicht vollkommen verbrannt war, löschte man das Feuer, »damit das Volk keinen Zweifel mehr habe, und es sah sie ganz nackt mit allen Geheimnissen, die eine Frau haben kann und muß. Als man sie lange genug gesehen hatte, schob der Henker wieder ein großes Feuer unter ihren armen Leichnam, der bald in Asche fiel.«49 Was die Zuschauenden zu sehen begehrten, ist nicht so sehr, ob Johanna eine Frau ist – daraus hatte sie nie ein Geheimnis gemacht –, sondern dass ihr jungfräulicher Körper penetriert werden konnte. Françoise Meltzer hat die Inspektion des toten, halbverbrannten Leichnams deshalb als nachträglichen Versuch interpretiert, endlich das Hymen der Jungfrau zu ›erobern‹ und auf diese Weise männliche Ängste vor diesem unheimlichen, unbeugsamen jungfräulichen Körper, den kein Mann ›besessen‹ hat, zu beruhigen.50 »Aber die Tatsache«, so Meltzer weiter, »dass es ein männliches Denkmuster war, welches die Frau als Geheimnis konstruierte, wird dadurch nicht in Frage gestellt. So bleibt das Geheimnis intakt, indem es (angeblich) aufgedeckt wird.«51 Die nachträgliche Defloration der Jungfrau schuf die Voraussetzung, um sie zweihundert Jahre später zur Märtyrerin zu stilisieren und als Allegorie der französischen Nation in Anspruch zu nehmen: »In Johanna fühlte Frankreich sich als Frankreich«, schreibt Jules Michelet. Als Zeichen ihres Objektstatus hat die Jungfrau auf den unzähligen Darstellungen, die 48 49 50 51

Opitz, Evatöchter, S. 173. Opitz, Evatöchter, S. 173. Meltzer, Fear of the Fire, S. 201. Meltzer, Fear of the Fire, S. 201.

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seit dem 16. Jahrhundert von ihr angefertigt wurden, sowohl den kurzen Haarschnitt als auch die Männerkleidung abgelegt. »Sie trägt Frauenkleider und langes, wallendes Haar – gegen jede empirische Evidenz.«52

Das Hymen im Bild

Abbildung 31: Gabriel Metsu, Briefschreiber, um 1662/65, Öl auf Holz, National Gallery of Ireland, Dublin Abbildung 32: Gabriel Metsu, Briefleserin, um 1662/65, Öl auf Holz, National Gallery of Ireland, Dublin

Die mediale Reproduktion des Hymens versprach sowohl eine ›Eintrittskarte‹ ins Paradies als auch eine Überwindung der Bedrohung, die vom Körper der Jungfrau auszugehen schien. Beide bewirken eine gewaltige Ermächtigung des Subjekts, das dessen Fabrikation kontrolliert und von ihr Gebrauch macht: Das (inzwischen körperliche) Zeichen verweigerter Fortpflanzung verwandelt sich in die symbolische Grundlage einer visuellen Reproduktionstechnik. Das Phantasma des reproduzierten Hymens ist keine marginalisierte Vorstellung, die sich nur in wenig gelesenen und schwer zugänglichen theoretischen Schriften findet. Vielmehr wohnt es im Herzen der europäischen Kunst, ist in den bekanntesten Museen zu Hause und auf Bildern (und in Texten) zu erkennen, die zu den berühmtesten Werken der westlichen Kunst gehören. Besonders deutlich kommt

52 Opitz, Evatöchter, S. 196.

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diese Faszination auf Bildern zum Ausdruck, die sich einem Motiv widmen, das dem Geheimen eng verwandt ist: dem Brief. Das Empfangen, Lesen und Schreiben von Briefen gehört in der Malerei des 16. und 17. Jahrhunderts besonders im Norden Europas zu den beliebtesten Bildmotiven.53 Allein Jan Vermeers schmales Oeuvre, das (je nach Zählung) aus 45 bis 60 Bildern besteht, umfasst beinahe zwei Dutzend Gemälde, in denen ein Brief eine wichtige Rolle spielt.54 Die Kunsthistorikerin Svetlana Alpers hat darauf hingewiesen, dass in den Briefbildern der holländischen Malerei nicht so sehr das Geschriebene im Mittelpunkt stehe – die Schrift ist auf den Briefen meist nicht zu erkennen –, sondern die Darstellung der Oberfläche.55 Sorgfältig ausgearbeitete Schleier, Tücher, Vorhänge, Bilder, Landkarten und natürlich die Briefe selbst lenken die Aufmerksamkeit des Betrachters auf (im buchstäblichen Sinne) symbolträchtige Flächen und Stoffe. Weil Lesen und Schreiben Kodieren und Dekodieren besagen, und weil das, was in einem Brief niedergeschrieben wird, meist nur für den Empfänger bestimmt ist, wird der Brief in der Kunstgeschichte als Darstellung des Geheimnisvollen interpretiert. »Das Lesen eines Briefes«, so die Kunsthistorikerin Daniela Hammer-Tugendhat, »bedeutet Kommunikation mit einem Abwesenden, damit wird der Abwesende als Abwesender bewußt. Dies ist eine neue Form der Kommunikation, die durch den Brief möglich wurde.«56 In der Tat wurde der Brief im 17. Jahrhundert als »heimliche Möglichkeit der Mitteilung und als eine Möglichkeit, Geheimnisse mitzuteilen«57 genutzt. Das Lesen eines Briefes wurde fast ausschließlich als weibliche Aktivität vorgestellt. Zwar existieren auch Bilder, die Männer beim Empfang eines Briefes zeigen, jedoch lesen sie den Brief üblicherweise nicht, sondern haben den Blick auf den Betrachter geheftet.58 Ich werde mich im Folgenden deshalb auf Briefbilder konzentrie53 Vgl. den ausgezeichneten Katalog, der die Ausstellung Leselust in der Frankfurter Schirn dokumentiert, Sabine Schulze: Leselust. Niederländische Malerei von Rembrandt bis Vermeer, Ostfildern: Cantz 1993. 54 Zur Vermeer-Forschung vgl. Ivan Gaskell, Michiel Jonker (Hg.): Vermeer Studies, Washington, DC: National Gallery of Art 1998. 55 Svetlana Alpers: Kunst als Beschreibung: Holländische Malerei des 17. Jahrhunderts, Übers. Hans Udo Davitt et al., Köln: DuMont 1995, S. 328. 56 Daniela Hammer-Tugendhat: »Arcana Cordis. Zur Konstruktion des Intimen in der Malerei Vermeers«, in: Gisela Engel, Brita Rang, Klaus Reichert, Heide Wunder (Hg.): Beginn der europäischen Moderne, S. 234256, hier S. 239. 57 Alpers, Beschreibung, S. 332. 58 Das gilt nicht nur für die nordeuropäische, sondern auch für die italienische Malerei. Einige Beispiele von Männern mit Briefen aus der National Gallery of Art in London sind: Francesco Francia, ca. 1490, Portrait eines

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ren, die diesen ›geheimnisvollen Raum‹ gestalten und nur gelegentlich auf Bilder verweisen, die den Blick nach außen lenken. Es bietet sich an, meine These exemplarisch am Oeuvre Jan Vermeers zu diskutieren, der seit seiner ›Wiederentdeckung‹ am Ende des 19. Jahrhunderts als der »geheimnisvolle Vermeer«, die »Sphinx von Delft«59 gilt und dessen gesamtes Werk, insbesondere aber seine Briefbilder, in der kunstgeschichtlichen Forschung als paradigmatisch für die Inszenierung des Geheimnisses angesehen werden. Vermeers sprichwörtliche Mysteriosität ist nicht nur ein Produkt seines Stils, sondern hängt auch damit zusammen, dass in seinem Werk die unbewusste Bedeutung des Hymens für die Bildmedien besonders klar zum Ausdruck kommt.

Abbildung 33: Jan Vermeer, Briefleserin am offenen Fenster, 1657, Öl auf Leinwand, Dresdener Gemäldegalerie, Dresden Mannes mit Brief; Andrea Solario, ca. 1505, Portrait des Cristoforo Longoni; Cirami Battista Moroni, ca. 1560, Portrait des Ludovico di Terzi; Bronzino, Mann mit Brief; Rosso Fiorentino, ca. 1518, Portrait eines jungen Mannes. 59 Dazu vor allem Daniel Arasse: Vermeers Ambition, Übers. Hella Faust, Dresden: Verlag der Kunst 1996.

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Abbildung 34: Jan Vermeer, Briefleserin in Blau, um 1662/64, Öl auf Leinwand, Rijksmuseum, Amsterdam

In Vermeers Oeuvre gibt es sechs Bilder, die Frauen mit Briefen zeigen, aber kein einziges von einem Mann mit einem Brief. Der private Innenraum, in dem Frauen ihre Briefe lesen oder schreiben, trägt maßgeblich zur Atmosphäre des Geheimen bei; in der Regel, so die Kunsthistorikerin Daniela Hammer-Tugendhat, wird dieser »als geheimnisvoller Raum inszeniert, in dem sich private Geheimnisse abspielen und der einen entsprechenden Blick bedingt«.60 So etwa das 1657 entstandene Gemälde Briefleserin am offenen Fenster und die Briefleserin in Blau. In beiden Bildern steht eine junge Frau am geöffneten Fenster und blickt versunken auf ein weißes Blatt Papier, das sie fest in beiden Händen hält. In dem Gemälde Briefleserin am offenen Fenster gibt ein dichter, reich verzierter, zurückgezogener Vorhang im Vordergrund den Blick auf den Innenraum frei und erzeugt im Betrachter das Gefühl, unerkannt in die Privatsphäre der Lesenden einzudringen. Eine Röntgenuntersuchung des Gemäldes hat ergeben, dass sich unter dem Vorhang ein riesiges Glas verbirgt. Auch die Frau auf dem Gemälde Briefleserin in Blau scheint sich in einem intimen, durch Tisch und Stuhl begrenztem Raum zu befinden. 60 Hammer-Tugendhat, Arcana Cordis, S. 235.

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Allerdings geben die Briefleserinnen ihr Geheimnis nicht preis. Ihr Gesichtsausdruck verrät nichts über die Gefühle, die die Lektüre in ihnen hervorruft, was die Vermeerforschung jedoch nicht davon abgehalten hat, in den Briefen Liebesbotschaften eines abwesenden Geliebten zu vermuten.61 Aufgrund der Abwesenheit von in Worten mitteilbaren Gefühlen, Gedanken und Fakten, rücken die Stofflichkeit und Flächigkeit, die Verschleierung und Entschleierung, die den Innenraum der Bilder – und mithin das Innen der Frau – kennzeichnen, stärker in den Blick. »Die Unsichtbarkeit von Gefühlen wird dadurch bewußt gemacht. Das heißt: Gerade dadurch, daß kein spezifischer Affekt gezeigt wird, werden wir auf den unsichtbaren, intimen, eben geheimen Ort ihrer Gefühle aufmerksam gemacht. Die Inszenierung von Nähe und Ferne, von Intimität und Unzugänglichkeit verstärkt diesen widersprüchlichen Eindruck. Der Effekt dieser widersprüchlichen Spannung zwischen Artikulation von Gefühl und Nichtdefinition dieses Gefühls und der Ausschluß des Betrachters aus dieser inszenierten Intimität ist der Eindruck von Geheimnis. Der unsichtbare Text stimuliert die Phantasie der BetrachterInnen. […] Der Innenraum wird gleichsam zum Innen der Figur.«62

Der französische Kunsthistoriker und Vermeer-Experte Daniel Arasse spricht vom »Paradox einer gegebenen und zugleich entzogenen Sichtbarkeit«63 – eine Formulierung, die unwillkürlich an das Hymen denken lässt. Auch die Tatsache, dass wir nicht wissen, was in den Briefen geschrieben steht, ja wir wissen nicht einmal, ob überhaupt etwas in ihnen steht – keine Schrift ist auf ihnen zu erkennen –, trägt zu dieser unheimlichen Stimmung bei. Von den Briefen selbst geht eine starke Oberflächenwirkung aus.64 Nicht der Inhalt des Briefes wird thematisiert, sondern der Brief wird als »Gegenstand visueller Wahrnehmung«65 zu sehen gegeben. Arasse interpretiert das ›Geheimnisvolle‹ in der Malerei Vermeers als eine Aufforderung, eindeutige inhaltliche Sinnzuschreibungen zu suspendieren.66 Schließlich eröffnen die auf den Bildern dargestellten Fenster keine Ausblicke, sondern sie leuchten wie »Lichtwände«, »trotz ihrer Transparenz zeigen sie nichts von einer Stadt oder der Natur«.67 Sie 61 Alpers, Beschreibung, S. 322ff.; Hammer-Tugendhat, Arcana Cordis, passim. 62 Hammer-Tugendhat, Arcana Cordis, S. 240; vgl. auch Alpers, Beschreibung, S. 326f. 63 Arasse, Vermeers Ambition, S. 133. 64 Alpers, Beschreibung, S. 328. 65 Alpers, Beschreibung, S. 332. 66 Arasse, Vermeers Ambition, S. 72. 67 Arasse, Vermeers Ambition, S. 127.

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sind Flächen reinen Lichts und ähneln darin Spiegeln, aber auch dem unbeschriebenen Blatt in den Händen der Briefleserin. Offenbar besitzt die Faszination des »geheimnisvollen Vermeer« auch für moderne Interpreten unverkennbar Aspekte des Jungfräulichen. So beschreibt Arasse die Qualität des Vermeer’schen Oeuvres in Begriffen, die sich wie Umschreibungen des Hymens lesen, ohne jedoch den Bezug zum Hymen bewusst herzustellen; etwa wenn er von der »Suggerierung eines Unsichtbaren im Sichtbaren« oder einer »Vertrautheit mit der nahen und doch unzugänglichen Figur«68 spricht, oder wenn er formuliert: »Vermeers Figuren dagegen schildern uns kein Geheimnis: Was wir von ihnen bei vollem Licht sehen, zeigt das Geheimnisvolle des nicht Sichtbaren und doch Präsenten.«69 Arasse hat vorgeschlagen, Vermeers Gemälde als Kommentare über die Herstellung eines Bildes, als Reflexion auf die Malerei als Medium zu betrachten. In allen Bildern Vermeers gehe es um das Verhältnis von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, gehe es darum, das Augenmerk auf die Materialität des Bildes zu lenken. Insbesondere in den Briefbildern werde nahe gelegt, »daß die relative Unsichtbarkeit der eigentliche Gegenstand ist, der sich unserem Blick darbietet«.70 ›Relativ unsichtbar‹ bzw. ›relativ sichtbar‹ ist im Körper der Frau (den der Innenraum der Bilder auch für Arasse repräsentiert) vor allem eines: Das Hymen, das sich nur im Augenblick seiner Zerstörung sehen lässt. Bevor ich auf die Zusammenhänge zwischen dem Geheimnis der Bilder und dem Medium, in dem sie angefertigt wurden, eingehe, soll noch eine zweite Verbindung zwischen Hymen und den Briefbildern erwähnt werden. Auf den Briefbildern wird der Eindruck der Jungfräulichkeit über eine seit dem Mittelalter belegte Denkfigur hergestellt, die die Verkündigung bzw. Schwängerung der Jungfrau Maria als Schreibvorgang konzipierte. Folgt man den Studien Klaus Schreiners, so begreifen mittelalterliche Beschreibungen der Zeugung Jesu Christi diese als Schreibvorgang, den sie mit der Abfassung und Herstellung eines Buches vergleichen.71 »Prediger und Theologen deuten die Menschwerdung Gottes im Bild eines wunderbaren Beschriftungvorgangs, als mirifica descriptio, bei welchem sich die göttliche Dreifaltigkeit mit ihrer Macht, Weisheit und Güte förmlich in den Schoß der Jungfrau eingeschrieben habe.«72 »Jesus Christus«, so Schreiner weiter, »wurde vom Vater diktiert, im Schoß Ma68 69 70 71 72

Arasse, Vermeers Ambition, S. 148. Arasse, Vermeers Ambition, S. 148 und 152. Arasse, Vermeers Ambition, S. 133. Ich danke Edith Wenzel für diesen Hinweis. Zit. Wenzel, Hören und Sehen, S. 355.

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riens vom Heiligen Geist auf jungfräuliches Pergament (pellis virginea) geschrieben, der Welt zur Kenntnis gebracht in der Offenbarung der Geburt.«73 Zentral ist hier eine Stelle in Jesaja, die von den Kirchenvätern als Beleg für die jungfräuliche Empfängnis gedeutet wurde: »Der Herr sagte zu mir: Nimm eine große Tafel, und schreib darauf mit einem gewöhnlichen Griffel« (Jes. 1). Gleich einem unbeschriebenem Blatt wird die Jungfrau Maria im Akt der Verkündigung mit den Buchstaben der Heiligen Schrift beschrieben.74 Seit dem Spätmittelalter ist auf den bildlichen Darstellungen der Verkündigung eine Ikonographie belegt, in der der Jungfrau Maria die Botschaft, sie werde den Gottessohn gebären und dennoch jungfräulich bleiben, lesend zur Kenntnis gegeben wird.75 Auf diesen Bildern nimmt Maria die ungewöhnliche Botschaft mit ebenso gleichmütiger Miene entgegen wie Vermeers Briefleserinnen. In diesem Sinne lassen sich 73 Zit. Wenzel, Hören und Sehen, S. 354. 74 Im Werk von Jacques Derrida spielt das Hymen neben anderen vom Geschlechtskörper abgeleiteten Metaphern (Beschneidung, Invagination, Dissemination) eine zentrale Rolle. In Die zweifache Séance versucht Derrida mit Hilfe des Hymens das Verhältnis von Wirklichkeit und Nachahmung zu bestimmen, indem er danach fragt, »[W]as zwischen Literatur und Wahrheit passiert oder nicht passiert (hindurchgeht/sich ereignet).« (S. 203) Dabei entdeckt er das Hymen als jenen Ort und jene Bewegung des Dazwischen (entre). »Das Hymen findet statt im zwischen, in der Verräumlichung zwischen dem Wunsch und der Erfüllung, zwischen dem Verüben und der Erinnerung daran. Doch dieses Milieu des zwischen hat nichts mit einem Zentrum (centre) zu tun.« (S. 236f.) Obwohl Derrida das Hymen als Metapher ins Spiel bringt, um das binäre Denken und das Eindeutigkeitsversprechen der Schrift aus den Angeln zu heben – »es macht allen Ontologien, allen Philosophemen, den Dialektiken aller Ränder einen Strich durch die Rechnung« –, bleibt seine Behandlung des Hymens sowohl der Logik des Phallus als auch den visuellen Medien verbunden: Das Hymen dient der Kontrolle des Unkontrollierbaren (des Weiblichen). Dies zeigt sich in Formulierungen, die das Hymen als »Spekulum ohne Realität« und »falschen Schein von Gegenwart« definieren und ihm den Status eines Signifikanten absprechen: Das Hymen ist »niemals rein oder eigen, es hat kein eigenes Leben, keinen eigenen Namen. […] es hat keinen eigenen Sinn, es untersteht nicht mehr dem Sinn als solchem«, das »Hymen ist die Struktur des und/oder, zwischen und/oder. Worin es stricto sensu kein Zeichen oder ›Signifikant‹ ist.« (S. 294); vgl. Jacques Derrida: »Die zweifache Séance«, in: ders.: Dissemination, hrsg. von Peter Engelmann, Übers. Hans-Dieter Gondek, Wien: Passagen 1995, S. 193-434; für eine feministische Lektüre von Derridas Konzept des Hymens vgl. Meltzer, Fear of the Fire, S. 100-114. 75 Auch Hammer-Tugendhat hat diese Parallele in Vermeers Briefleserinnen am Fenster gesehen und die Bilder als »Profanisierung des Geheimnisses« interpretiert (Arcana Cordis, S. 253).

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Vermeers Briefbilder als in den privaten Haushalt übersetzte Verkündigungsdarstellungen interpretieren: Während die Briefleserin in Blau schwanger zu sein scheint, steht die Briefleserin am offenen Fenster hinter einem mit einem kostbaren Teppich bedeckten Möbelstück (das ein Bett sein könnte), auf dem eine Schale mit Äpfeln und Pfirsichen platziert ist. Insbesondere die Äpfel suggerieren sowohl die Verführungskraft eines geheimen, verbotenen Wissens als auch die Verpflichtung zur Reproduktion und verknüpfen diese mit dem Ideal der asexuellen Fortpflanzung, bei der das Hymen unbeschädigt bleibt. Anders als Maria, die eine beschriebene Seite anblickt, scheint das Blatt, das Vermeers Briefleserinnen anblicken, leer. Liest man die Bilder, wie Arasse vorgeschlagen hat, als Kommentare über die Techniken der Bilderstellung, dann liegen die Gründe dafür auf der Hand. Vermeers Briefbilder inszenieren nicht das beschriebene Hymen, sondern sie ›verkünden‹ die unsichtbare Präsenz des unbefleckten Velums/Hymens im perspektivischen Gemälde. Symbolisiert wird dieses Velum als Hymen von dem unbeschriebenen Blatt, das die Briefleserinnen in Händen halten. Mit besonderer Klarheit kommt dieses mediale Unbewusste in Briefleserin am Fenster zum Ausdruck, wo eine ›Verschiebung‹ der Perspektive darauf aufmerksam macht, dass hier unbewusste Inhalte, die das Medium der Zentralperspektive betreffen, verhandelt werden. Auf diesem Bild wird der Blick des Betrachters von einem bleiverglasten Fenster reflektiert. Die diesem zugewandte, gerasterte Fensterscheibe erscheint zunächst wie ein Spiegel, der das Gesicht der Frau reflektiert. Vergleicht man jedoch die beiden Ansichten ihres Gesichts – das auf der Scheibe und das ›echte‹ Gesicht der Frau –, dann erscheint jenes auf der Fensterscheibe, legt man die Regeln der Perspektive zugrunde, wie eine ›Fehlkonstruktion‹, und wie eine Unmöglichkeit aus der Sicht des Betrachters: Die Frau bietet dem Fenster ihr Profil dar, ›gespiegelt‹ wird aber die Frontalansicht ihres Gesichts. Außerdem scheint sich dieses Gesicht hinter der Glasscheibe zu befinden. In der Tat lässt dieses Fenster an Darstellungen von Leon Battista Albertis finestra aperta denken. »Die Bleiverglasung des Fensters assoziiert das Raster, mit dessen Hilfe seit der Renaissance der menschliche Körper exakt konstruiert werden sollte. Bei Vermeer aber funktioniert das Spiegelbild gegenteilig: Das Fenster könnte das Gesicht der Frau so nicht spiegeln; das Fensterraster zerstückelt das Gesicht,

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gibt nur verschwommene Fragmente wieder. Das verschwommene Spiegelbild verweist auf die innere Unzugänglichkeit der Lesenden.«76

Mir scheint die Unkenntlichkeit des Gesichts und die Verschiebung der Perspektive allerdings nicht so sehr auf die »innere Unzugänglichkeit« der Frauenfigur hinzuweisen, sondern eher zwei verschiedene Wirklichkeits- und Zeitebenen anzuzeigen, die sich auf das im zentralperspektivischen Setting implizierte Verhältnis zwischen Objekt und Bild bzw. zwischen Referent und Zeichen beziehen. Das fragmentierte ›Original‹ hinter dem Fenster steht in augenfälligem Kontrast zu der makellosen ›Reproduktion‹ vor dem Fenster. Das ›versehrte‹ Gesicht hinter dem Velum/Fenster ist deutlich unterschieden von der Unversehrtheit des Gesichts vor dem Velum/Fenster. Der blutrote, über das Fenster geschlagene Vorhang ruft das zerrissene Hymen auf und stellt eine Verbindung zwischen Entschleierung und Defloration her, während die Schleier und Oberflächen vor dem Fenster, die sich auf die Ebene des Reproduzierten beziehen, den Eindruck der Unberührtheit, des Geheimnisvollen und des Entschleierbaren erzeugen. Dies gilt insbesondere für den Brief, der einem feinen Tuch gleich über ihrem Schoß in der Luft zu schweben scheint und darin dem Hymen der Madonna del Parto ähnelt. Das unbeschriebene Blatt ist ein Symbol für das reproduzierte Hymen. Die Botschaft der ›Briefe‹ lässt sich nun entschlüsseln: Sie besagt, dass das Hymen (und damit das Geheime) nicht endgültig zerstört ist, denn mit Hilfe der zentralperspektivischen Projektionstechnik ist ein neues Hymen (ein neues Geheimnis) an seine Stelle getreten. Vermeers Bild erzählt also nicht nur davon, dass Projektionstechniken stets auch Deflorationstechniken sind, es erzählt auch davon, dass auf die Entblößung der Wahrheit die Fabrikation eines unbefleckten medialen Schleiers folgt, der sowohl neue Geheimnisse als auch neue Enthüllungen verspricht. Darin besteht das ›Geheimnis‹, das die Briefleserin am Fenster, angesichts der Tatsache, dass es der weibliche Körper ist, in den diese Entdeckungslust ›eingeschrieben‹ wird, mit erstaunlichem Gleichmut zur Kenntnis nimmt. Die Bilder fordern den Betrachter aber auch auf, sich mit dem Gedanken auseinanderzusetzen, dass das Blatt leer bleiben könnte, dass die Leinwand sich nicht der Bezeichnung durch den Pinsel, das Bild sich nicht dem Blick des Betrachters hingibt.

76 Hammer-Tugendhat, Arcana Cordis, S. 239. Das Fenster als ›falscher‹ Spiegel und Metapher für die finestra aperta wird auch von Alpers erwähnt, Beschreibung, S. 336ff.

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Exkurs: Die leere Seite Eine solche ›Verweigerung‹ hat die dänische Schriftstellerin Tania Blixen – die auch unter dem Pseudonym Isak Dinesen publizierte – in ihrer Erzählung Die leere Seite beschrieben, auf die hier kurz eingegangen werden soll, weil sie sowohl Verbindungen zum Hymen als auch zur Bedeutung des Schweigens herstellt.77 Blixens Erzählung Die leere Seite, die zu ihrem Spätwerk gehört, behandelt die Frage bzw. das Dilemma weiblicher Autorschaft. Die Erzählung wird von einer Geschichtenerzählerin eingeleitet, die die Geschichte von der leeren Seite erzählt, die ihr als Beispiel dient, um zu illustrieren, welche geschlechtlichen Umkodierungen sich beim Übergang von einer mündlichen in eine schriftliche Erzählweise vollzogen haben. »›Wer erzählt denn‹, fuhr sie fort, ›bessere Geschichten als irgendeine von uns? Die Stille. Und wo liest man eine tiefsinnigere Geschichte als auf der meisterhaft gedruckten Seite des kostbarsten Buchs? Auf der leeren Seite. Wenn eine Erzählung im Augenblick höchster Inspiration einer königlichen und kundigen Feder entfloß und in der allerfeinsten Tinte niedergeschrieben wurde – wo in der Welt gibt es dann etwas noch Tiefsinnigeres, Rührenderes, Lustigeres, Grausameres zu lesen? Auf der leeren Seite.‹«78

Als Beispiel dient die Geschichte eines Karmeliterinnenklosters in Portugal, dessen Nonnen sich dem Anbau von Flachs und der Herstellung von Leinentüchern erster Güte widmen. Die Leinentücher werden an den königlichen Palast verkauft, wo sie als Bettlaken in der Hochzeitsnacht der Prinzessinnen verwendet werden. »Am Morgen nach der Hochzeit einer Tochter des Hauses und noch vor der Überreichung der Morgengabe hielt der Kammerherr oder Haushofmeister von einem Balkon des Palastes aus das Laken der Hochzeitsnacht hoch und verkündete feierlich: ›Virginem eam tenemus. – Wie erklären ihre Jungfernschaft als erwiesen.‹ Ein solches Laken wurde danach niemals mehr gewaschen noch jemals wieder aufgezogen.«79 Danach schickte man das »Mittelstück des schneeweißen Lakens, welches von der Ehre der königlichen Braut Zeugnis ablegte«,80 in die Abtei zurück, wo es gerahmt und in einer Galerie aufgehängt wurde. »Im hohen Hauptflügel des Klosters, von wo der 77 Ich danke Stefanie von Schnurbein und Inge Stephan für diesen Hinweis. 78 Tania Blixen: »Die leere Seite«, in: dies.: Letzte Erzählungen, Übers. Barbara Henninges, Zürich: Manesse 1986, S. 145-154, hier S. 146. 79 Blixen, Leere Seite, S. 150. 80 Blixen, Leere Seite, S. 150.

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Blick über eine unendliche Weite von Hügeln und Tälern geht, befindet sich eine lange Galerie mit schwarzweißem Marmorfußboden. An den Wänden der Galerie hängen in langer Reihe nebeneinander schwere, vergoldete Rahmen, jeder mit einem Schild aus purem Gold geschmückt, in das eine Krone und der Name einer Prinzessin eingraviert sind: Donna Christina, Donna Ines, Donna Jacintha Lenora, Donna Maria. Und jeder dieser Rahmen umschließt einen viereckigen Ausschnitt aus einem königlichen Hochzeitslaken. Aus den verblaßten Flecken auf den Leinwandstücken vermögen phantasievolle und empfindsame Menschen alle Zeichen des Sternkreises herauszulesen.«81 Zwar habe, so die Erzählerin, jedes Leintuch »eine eigene Geschichte zu erzählen, und jedes hat dort in treuem Gedenken an diese Geschichte seinen Platz bekommen«,82 aber dennoch ist die Geschichte stets dieselbe: Sie erzählt von der Funktion des weiblichen Körpers als Voraussetzung männlicher Kreativität. Das befleckte Bettlaken – Symbol des Hymens – verwandelt sich in die Leinwand eines Bildes, das eine Bildergalerie bestückt; der Akt der Defloration wird dem künstlerischen Schaffen gleichgestellt. Das merkwürdige Museum war über die Landesgrenzen hinaus bekannt und zog viele Besucher an. »In den alten Tagen geschah es mitunter, daß sich eine lange, stattliche, farbenprächtige Prozession durch die steingraue Bergwelt zum Kloster hinaufwand.«83 Eine Leinwand jedoch kehrte unbeschrieben ins Kloster zurück. »Aber in mitten der langen Reihe hängt ein Leintuch, das sich von allen anderen unterscheidet. Sein Rahmen ist ebenso kunstvoll gearbeitet und so schwer wie nur irgendeiner und trägt das goldene Schild mit der Königskrone mit dem selben Stolz. Dieses Schild jedoch trägt keinen Namen, und die Leinwand im Rahmen ist schneeweiß von einem Rand zum anderen – eine leere Seite.«84 »Vor der leeren Seite versinken alte und junge Nonnen, einschließlich der Mutter Äbtissin selbst, in tiefstes Nachdenken.«85 Die Literaturwissenschaftlerin Susan Gubar hat Blixens Erzählung als ein Nachdenken über weibliche Autorschaft interpretiert. Gubar liest die leere Seite – das ›unbeschriebene‹ Hymen – als Metapher »mittels derer die Frau sich ihre Kreativität denkt«86 sowie als Beleg für das Di81 82 83 84 85 86

Blixen, Leere Seite, S. 150f. Blixen, Leere Seite, S. 152. Blixen, Leere Seite, S. 151. Blixen, Leere Seite, S. 152. Blixen, Leere Seite, S. 153. Susan Gubar: »›Das unbeschriebene Blatt‹ und die Fragen einer weiblichen Kreativität«, in: Sara Lennox (Hg.): Auf der Suche nach den Gärten unserer Mütter. Feministische Kulturkritik aus Amerika, Übers. Sibylle KochGrünberg, Darmstadt: Luchterhand 1982, S. 94-125, hier S. 99.

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lemma, mit dem eine weibliche Autorin konfrontiert ist.87 Weil für die Frau der eigene Körper – ihr Blut – als Ausdrucksmittel ihrer Schöpferkraft dient, wodurch es schwer fällt, Distanz zwischen Kunstwerk und Körper herzustellen, gerät das Schweigen und die Stille zu einem – allerdings unhörbaren – Akt des Widerstands. »Die befleckten Seiten sind […] die biographischen Überbleibsel von ansonsten stummen Existenzen; eher das Resultat des Lebens und die Reaktion auf das Leben als die Anstrengung ein eigenständiges ästhetisches Objekt zu produzieren. […] Dinesen legt nahe, daß der Gebrauch, den die Frau beim Kunstschaffen von ihrem eigenen Körper macht, in Ausdrucksformen resultiert, die für die an traditionellen Standards geschulten Augen von geringem Wert oder völlig unsichtbar sind. Sie scheint gleichzeitig mitanzudeuten, daß es im häuslichen Leben, das einer Prinzessin von Geburt an vorbestimmt ist, nur ein einziges zugängliches Medium des Selbstausdrucks gibt, nämlich den eigenen Körper.«88

Während Tania Blixen in der Mitte des 20. Jahrhunderts das Dilemma weiblicher Autorschaft mit Hilfe der leeren Seite, die sich der Penetration verweigert hat, ausdrücken kann – »das, was sie [die Autorin] zu sagen hat, sagt sie dadurch, daß sie nicht schreibt, was sie hat schreiben sollen«89 –, erzählt Jan Vermeer in der Mitte des 17. Jahrhunderts von den ›Schmerzen‹ oder ›Kosten‹ weiblicher Autorschaft. Wenn Frauen bei ihm – und seinen Zeitgenossen – als Briefschreiberinnen dargestellt werden, dann innerhalb eines Settings, das dem Betrachter eine voyeuristische Perspektive vorgibt – oder einen Voyeur im Bild platziert –, die es ihm erlaubt, sich als Eindringling zu fühlen. Frauen schreiben in dunklen, privaten Räumen, zu denen der Betrachter gleichwohl Zugang hat. Die schreibende Frau wird auf diese Weise mit dem Blatt, das sie beschreibt, gleichgesetzt. Ihre Autorschaft wird nur in dem Moment bedeutungsvoll, in dem der männlich kodierte Blick ihre Privatsphäre (ihr Hymen) verletzt. »Wenn die künstlerische Kreativität mit der biologischen Kreativität gleichgesetzt wird«, so Susan Gubar, »erfahren die Frauen den Schrecken der Inspiration recht buchstäblich als den Schrecken, daß man in sie eindringt, sie defloriert, besitzt, nimmt, hat, bricht, schändet – alles Wörter, die den Schmerz des passiven Selbst illustrieren, dessen

87 Gubar, Das unbeschriebene Blatt, S. 100. 88 Gubar, Das unbeschriebene Blatt, S. 100. 89 Gubar, Das unbeschriebene Blatt, S. 114.

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Grenzen verletzt werden.«90 Die Frau schreibt nicht, sie wird geschrieben.

Abbildung 35: Jan Vermeer, Briefschreiberin, um 1665, Öl auf Leinwand, National Gallery of Art, Washington D.C. Abbildung 36: Gabriel Metsu, Briefschreiberin, um 1660, Öl auf Holz, Wallace Collection, London

»Die Spitzenklöpplerin« In der Malerei Vermeers gibt es noch ein weiteres Stilmittel, das sich mit dem Hymen in Verbindung bringen lässt: der verschwommene Stil. Wie Arasse dargelegt hat, erzielt Vermeer, indem er verschwommen malt, einen Effekt der Nahtlosigkeit, die den Eindruck der Ganzheit evoziert.91 Bereits Alberti hatte das sfumato als Stilmittel für die Kontur der Formen empfohlen, um den Eindruck, das Gemälde habe einen Riss, zu verhindern; bei Vermeer wird die Verschwommenheit perfektioniert. »Die Kontur,« so Arasse, »ist mehr als unsichtbar – sie ist nicht vorhanden. Die Grenzlinie des Körpers oder des Gesichts ist nicht mehr auszumachen, weil ihre Verschwommenheit aus dem Figurenriß einen Randstreifen macht, eine ungewisse Zone, in der die Übergänge stellenweise Figur und Hintergrund verschmelzen lassen.«92 Dieser Effekt wird auch von Vermeers Einsatz des Lichts hervorgerufen, welches bei ihm als »ein

90 Gubar, Das unbeschriebene Blatt, S. 109. 91 Arasse, Vermeers Ambition, S. 145. 92 Arasse, Vermeers Ambition, S. 150.

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klassisches Prinzip der Kohärenz«93 fungiert. Anders als etwa bei Rembrandt oder Pieter de Hooch, die das Licht als Kontrastmittel einsetzten, leben Vermeers Gemälde nicht vom Gegensatz des Hell-Dunkel. »Wie Vermeers Gemälde keine Schwellen enthalten, durch die der Übergang zwischen den entgegengesetzten Sphären des Privaten und Öffentlichen vollzogen würde, so bauen sie keinen Lichtgegensatz zwischen Innen und Außen, Geistigem und Weltlichem (oder Materiellem) auf, wie es bei Rembrandt – und weniger ausgeprägt bei Pieter de Hooch, der mehr mit dem sozialen Gegensatz zwischen öffentlicher und privater Welt spielt – der Fall ist.«94

Abbildung 37: Jan Vermeer, Die Spitzenklöpplerin, 1669/70, Öl auf Leinwand, Musée du Louvre, Paris

Risslosigkeit, Nahtlosigkeit, Kohärenz – all diese Begriffe verbinden sich mit der Vorstellung des intakten Hymens. Vermeers »verschwommener Stil« bringt das unsichtbare Velum auf der Bildoberfläche ans Licht. Perfektioniert hat Vermeer den »verschwommenen Stil« und die Darstellung der »relativen Unsichtbarkeit« – so Arasse – in seinem kleinsten Gemälde, Die Spitzenklöpplerin, das nur 24 x 21 cm misst. »Die Intimität, die 93 Arasse, Vermeers Ambition, S. 154. 94 Arasse, Vermeers Ambition, S. 154.

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ein solches Format an sich schon impliziert, ist für äußerste Genauigkeit, mit der Vermeer die Wirkung seiner Struktur berechnete, nicht gleichgültig. In komprimierter Form zeigt das Bild ein anderes vorherrschendes Element seines Werkes, ein Element, das seine Originalität definieren hilft: Vermeer malt ›verschwommen‹.«95 Das Bild zeigt eine Spitzenklöpplerin, die sich ihrer Arbeit in höchster Konzentration widmet, wobei gerade das, was sie herstellt, aufgrund der gewählten Froschperspektive und der unscharfen Malweise kaum zu sehen ist. Arasse schreibt: »Wir sind aufgerufen, zusammen mit der Spitzenklöpplerin auf ihre Arbeit zu schauen und ihre innere Konzentration zu teilen, von einem Blick auf diese Arbeit jedoch, von der Teilhabe an diesem Anblick sind wir ausgeschlossen.«96 Ungewöhnlich an Vermeers Behandlung dieses gängigen Genremotivs ist weiterhin, dass sich das Nähkissen, aus dem rote und weiße Fäden gleichsam wie eine Flüssigkeit auszutreten scheinen, nicht auf dem Schoß der Frau befindet, sondern mit der ›offenen‹, dem Betrachter zugewandten Seite auf einem Tisch liegt. Insbesondere die Darstellung der Stofffäden hat bei Kunsthistorikern Beachtung gefunden. Während die aus dem Nähkissen austretenden Fäden ungenau und verschwommen »als Tupfer und Tropfen« gemalt sind, ist das Garn, das die Frau zwischen ihren Fingern hält, vom Maler mit großer Präzision und Feinheit ausgearbeitet – wobei dem Betrachter das Produkt ihrer Arbeit wiederum vorenthalten wird. Arasse hat aus diesem Kontrast den Schluss gezogen, dass es »im Gezeigten etwas Verstecktes gibt, im Offensichtlichen Unkenntliches […], die Intimität einer Person, eine sichtlich unsichtbare Präsenz«.97 Abgesehen davon, dass diese Interpretation unverkennbar das Hymen aufruft, scheint mir daran bemerkenswert, was Arasse nicht sieht oder beschreibt: die Verbindung zwischen Kissen und Klöppelarbeit. Wie er selbst sagt, gehört das Nähkissen normalerweise auf den Schoß der Frau, so dass es nahe liegt, dieses Kissen als Symbol für die Vagina zu interpretieren. Dass Vermeer das Kissen für den Betrachter gut sichtbar auf einem Tisch platziert, betont sowohl seine Präsenz als auch seine symbolische Bedeutung, denn nun wird sichtbar, was unsichtbar zu bleiben hat: das blutende Genital der Frau. Aufgrund der weißen Fäden, die sich neben den roten aus dem Innern des Kissens ergießen, weckt die Darstellung nicht so sehr Gedanken an Menstruation, sondern an ›Entjungferung‹. Dagegen rufen die feinen, weißen Fäden, mit denen die Näherin ein Stück Stoff webt, Assoziationen auf zu dem »rein, dün […] 95 Arasse, Vermeers Ambition, S. 138. 96 Arasse, Vermeers Ambition, S. 134. 97 Arasse, Vermeers Ambition, S. 137.

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geweben tüchlein […] von dem reinisten garn« des Velums hervor, das der Kunsttheoretiker Walter Ryff beschrieben hat.98 Ich möchte deshalb vorschlagen, Die Spitzenklöpplerin als ein Gemälde zu interpretieren, in dem die ›Ausbesserung‹ des zerrissenen Hymens im Körper der Frau mit Hilfe der zentralperspektivischen Konstruktion vorgeführt wird. Es scheint, als habe Vermeer künstlerisch vorweggenommen, was die kosmetische Chirurgie Frauen heute anbietet: Ein fabriziertes Hymen, das in die Vagina der Frau eingesetzt werden kann. Bevor ich darauf eingehe, soll kurz das ›Schicksal‹ des anatomischen Hymens verfolgt werden.

Hymen verzweifelt gesucht Notwendig geworden war die Fabrikation des Hymens u.a. deshalb, weil sich die Geheimnisse der Natur mit dem zunehmenden wissenschaftlichen Fortschritt zu verflüchtigen drohten. Ein Symptom dieser zunehmenden Geheimnislosigkeit betrifft das reale Hymen selbst. So sahen sich die Mediziner und Anatomen der Frühen Neuzeit immer weniger in der Lage, die Existenz des Jungfernhäutchens zu beweisen. Während die frühneuzeitliche Malerei starke Metaphern für die Sichtbarmachung des Hymens fand, verloren Chirurgen und Anatomen nur wenige Worte und Bilder über die Existenz des Hymens. Auch taten sie sich schwer, seine Bedeutung für die Jungfräulichkeit des weiblichen Körpers zu beweisen. Die Historikerin Marie Loughlin hat gezeigt, dass in der Frühen Neuzeit die Funktion des Hymens als Zeichen der Jungfräulichkeit – manchmal sogar seine anatomische Existenz – zunehmend bezweifelt wurde.99 Hoch geachtete Autoritäten wie Andreas Vesalius oder Ambroise Paré bestritten, dass der Zustand des Hymens eine Diagnose über die Jungfräulichkeit der Frau erlaube – entweder weil es schwer zu finden sei oder weil es gar nicht existiere. Paré, der das Hymen für eine Fiktion hält, formuliert es so: »Bei einigen Jungfrauen findet man in der Öffnung des Gebärmutterhalses eine Membran, die die Alten Hymen nannten, welche die Kopulation verhindert und die Unfruchtbarkeit der Frau verursacht. Dieser Schleier wird von vielen, darunter auch vielen Ärzten, als Abschluss der Jungfräulichkeit oder Jungfernhäutchen angesehen. Ich habe es allerdings in keiner einzigen finden können, und

98 Ryff, Eigentlicher Bericht, S. 145. 99 Marie H. Loughlin: Hymeneutics. Interpreting Virginity on the Early Modern Stage, Lewisburg: Bucknell University Press 1997.

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ich durchsuchte wahrlich viele, in allen Altersklassen, von drei bis zu zwölf Jahren, die mir im Hospital von Paris unter meine Hände kamen.«100

Sollte sich doch einmal ein Hymen finden, dann sei dies, so Paré, als eine pathologische Veränderung anzusehen, der man bei ›Monstern‹ begegne. Andreas Vesalius bestritt zwar die Existenz des Hymens nicht direkt, näherte sich diesem Körperteil jedoch, wie Loughlin schreibt, mit einer gehörigen Portion »Nostalgie«: Zwar sei man stets auf der Suche nach dem Hymen, begegne ihm jedoch höchst selten.101 Diese Unsicherheit bezüglich der Realität des Hymens spiegelte sich auch in den anatomischen Illustrationen. Vesalius’ Fabrica zum Beispiel enthält mehr als 250 Tafeln, und obwohl Vesalius die Existenz des Hymens für möglich hielt, ist auf seinen Abbildungen der weiblichen Geschlechtsorgane das Hymen nicht zu sehen. Der berühmte Anatom behauptete sogar, der Suche nach dem Hymen mehrere Sektionen gewidmet zu haben, ohne sich jedoch jemals wirklich von dessen Existenz überzeugen zu können. Anlässlich der Sektion eines jungen Mädchens schrieb er: »Das Hymen des Mädchens war nicht mehr ganz heil, aber auch noch nicht vollständig verschwunden, wie es in meiner Erfahrung normalerweise bei weiblichen Leichnamen der Fall ist. Oft kann man nicht einmal mehr angeben, wo es sich befunden hat. Es schien, als habe das Mädchen ihr Hymen aus Frivolität mit dem Finger zerrissen oder aber, weil sie, wie Rhazes es empfahl, eine Erstickung des Uterus verhindern wollte, ohne die Hilfe eines Mannes in Anspruch nehmen zu müssen.«102

Bei der Sektion einer Nonne und eines sechsjährigen Mädchens scheint es Vesalius nach eigenen Aussagen gelungen zu sein, ein unberührtes Hymen zu finden. Später jedoch zog er seine Beobachtung in Zweifel, so dass er »es nicht wagte, eine abschließende Ansicht dazu zu äußern«, und zwar deshalb nicht, weil er bei Tieren niemals ein Hymen entdeckt habe und er es überdies »nicht gewohnt sei, gesicherte Aussagen nach nur zwei Operationen zu machen«.103 Aber auch die umgekehrte Schlussfolgerung war denkbar. So benutzte der englische Anatom Helkiah Crooke in seiner Mikrokosmographia die Illustrationen der hymenlosen Vagina, die er in der Fabrica gefunden hatte, versah die Abbildung jedoch mit einer ausführlichen Beschreibung des Hymens. 100 101 102 103

Zit. Loughlin, Hymeneutics, S. 31. Loughlin, Hymeneutics, S. 30. Zit. Loughlin, Hymeneutics, S. 35. Nach Loughlin, Hymeneutics, S. 32; meine Übersetzung.

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»Es handelt sich um eine dünne Membran, aus Nervengewebe und nicht dick, so platziert, dass sie den Gebärmutterhals verschließt, jedoch in der Mitte perforiert wie ein Ring, so dass erwachsene Jungfrauen, die Spitze des kleinen Fingers einführen können, und der Monatsfluss abfließen kann. […] Dieses Hymen, sagt man, werde bei der Entjungferung [devirgination, BM] aufgebrochen, woraus der Schmerz und das Austreten von Blut resultiert.«104

Selbst Anatomiebücher, die Abbildungen des Hymens enthalten, verschleiern seine Anatomie mehr, als dass sie sie zu sehen geben. In Veslings The Anatomy of the Body of Man aus dem Jahre 1653 ist die Illustration, die das Hymen zeigt, von so geringer Größe und solch schlechter Qualität, dass man kaum etwas darauf erkennen kann.

Abbildung 38: Weibliche Genitalien, Kupferstich, in: Johan Vesling, Syntagma anatomicum, Padua 1651. Die Abbildung V zeigt das Hymen

104 Crooke, Mikrokosmographia, S. 220.

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KAPITEL VI. UNENDLICHE DEFLORATION?

Statt eine ›wahrhaftige‹ Sicht auf das Hymen zu bieten, spiegeln die Illustrationen (und Texte) die Zweifel der Anatomen hinsichtlich dessen anatomischer Realität. Dennoch führte die flüchtige und unfassbare ›Natur‹ des Hymens die Anatomen nicht dazu, seine Bedeutung als Zeichen der Jungfräulichkeit zu bestreiten. Crooke beispielsweise glaubte, das Hymen »ist das einzig sichere Zeichen unbefleckter Jungfräulichkeit« und selbst Vesalius, der große Schwierigkeiten hatte, ein intaktes Hymen zu finden, glaubte Jungfräulichkeit erfordere ein intaktes Hymen. Die Idee einer jungfräulichen Membran hatte sich von der anatomischen ›Wirklichkeit‹ des Hymens getrennt. Um es noch einmal zusammenzufassen: Die Reproduktion des Hymens in der Malerei wird begleitet von dem Verschwinden des Hymens im anatomischen Körper der Frau. Was hat dieses Verschwinden zu bedeuten? Weshalb gelang es den Chirurgen dieses eine Mal nicht, im Köper der Frau zu finden, was sie erwarteten, wohingegen sie bei allen anderen Körperteilen mit ähnlich hoher symbolischer Bedeutung stets das sahen, was sie sehen wollten?105 Könnte es sein, dass die mediale Reproduktion des Hymens dazu führte, dessen anatomische Präsenz nicht mehr zu erkennen? Löschte das Symbol den Referenten aus, ganz so, wie der Phallus einer Frau ihre Jungfräulichkeit ›nimmt‹? Die Zweifel an der physiologischen Aussagekraft des Hymens sollten sich im Laufe der nächsten drei Jahrhunderte noch verstärken. Heute geht kein Mediziner mehr davon aus, das ›intakte‹ Hymen erlaube Rückschlüsse auf die Jungfräulichkeit einer Frau. Seit dem Mittelalter sind ›Fälle‹ überliefert, in denen Frauen versuchten, ein intaktes Hymen vorzutäuschen, und heute bietet die plastische Chirurgie Frauen die Modellierung und Einsetzung eines unberührten Hymens an.106 Die Attraktivität dieses künstlichen Hymens besteht nicht darin, den durch die ›Defloration‹ bewirkten ›Verlust‹ der Jungfräulichkeit rückgängig zu machen. Vielmehr erhoffen sich Frauen von einem künstlichen Hymen neue erotische Erlebnisse, was darauf hindeutet, dass Jungfräulichkeit nicht im körperlichen, sondern im symbolischen Sinne verstanden wird, denn keine der Interessentinnen verleugnet den ›Verlust‹ ihrer Jungfräulichkeit. Worum es ihnen vielmehr zu gehen scheint, ist die verführerische Mög-

105 Dazu Thomas Laqueur: Auf den Leib geschrieben. Die Inszenierung der Geschlechter von der Antike bis Freud, Übers. H. Jochen Bußmann, Frankfurt/Main: Campus 1992. 106 Für das 18. und 19. Jahrhundert vgl. Tassie Gwilliams: »Female Fraud. Counterfeit Maidenheads in the Eighteenth Century«, in: Journal of the History of Sexuality 6/4 (1996), S. 518-548.

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lichkeit, einen Zustand wiederherzustellen, der in der abendländischen Imagination seit fast tausend Jahren als unwiederbringlich gilt.107

Das Unbehagen an der Photographie Vergegenwärtigt man sich die Geschichte der Bildmedien, dann stellt man fest, dass die westliche Kultur keine Anstrengungen gescheut hat, immer perfektere mediale Hymen zu erzeugen. Mit der Photographie war im 19. Jahrhundert ein neues Medium entstanden, das die Reproduktion des Hymens entscheidend verbessern sollte. Den Erfindern der Photographie ging es technisch gesehen um drei Dinge: um die Sichtbarmachung des Lichtbildes in der Camera Obscura, um die Möglichkeit, dieses Lichtbild auf einer sensibilisierten und unbeschriebenen – mithin jungfräulichen – Schicht einzufangen, und um die Fixierung dieses Bildes zum Zwecke seiner Vervielfältigung. »Die Fotografie entsteht,« so Bernd Busch, »als Zeugnis und Erzeugnis eines neuen Typus von Bildoberflächen, der fotografischen Schicht.«108 Im Vordergrund stand dabei die Suche nach einer empfindlichen, verletzlichen Oberfläche – nach einem sensitiven Papier wie es später heißen sollte –, die gleichwohl robust genug wäre, das Lichtbild aufzunehmen und zu fixieren. Im Jahre 1833 glaubt einer der Pioniere der Photographiegeschichte, der Franzose Joseph Nicéphore Niepce, ein Verfahren gefunden zu haben, in dem das Licht die jungfräuliche Oberfläche zugleich ›beschädigt‹ und ihre Widerstandskraft stärkt. Trifft Licht auf eine mit Joddämpfen sensibilisierte, versilberte Kupferplatte, »so vermehrt es die natürliche Dichtigkeit einiger dieser Stoffe; es macht sie sogar fest und mehr oder weniger unlöslich; je nach der Dauer oder der Intensität seiner Einwirkung. Das ist in kurzen Worten das Wesen der Erfindung.«109 Das Paradox, welches das Hymen darstellt – es kann nur um den Preis seiner Auslöschung bewiesen werden – beantwortet die Photographie ebenfalls mit einem Paradox: Die Durchlöcherung der Oberfläche erhöht ihre ›natürliche‹ Undurchlässigkeit. Die Gemeinsamkeiten zwischen Hymen und photographischer 107 Die Untersuchung von Deanna Holtzman, Nancy Kulish: Nevermore. The Hymen and the Loss of Virginity, Northvale, N.J: J. Aronson 1997, legt diese Schlussfolgerung nahe. Beide Autorinnen sind Psychoanalytikerinnen. Sie haben festgestellt, dass die Defloration auch als Metapher für die psychoanalytische Therapie in den Träumen oder Assoziationen ihrer Patienten (sowohl männlichen wie weiblichen) eine Rolle spielt. 108 Bernd Busch: Belichtete Welt. Eine Wahrnehmungsgeschichte der Fotografie, Frankfurt/Main: Fischer 1997, S. 196. 109 Zit. Busch, Belichtete Welt, S. 186.

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KAPITEL VI. UNENDLICHE DEFLORATION?

Schicht sind bemerkenswert, bemerkenswert sind jedoch auch die Unterschiede. Während das Hymen durch die Befleckung dem Nichts und der Zerstörung anheim gegeben wird, halten Glasplatte und Photopapier den Augenblick ihrer Zerstörung als Bild fest. Der Kreis hat sich geschlossen. Begonnen hatte die Geschichte des Hymens in der Antike, wo empfindliche Oberflächen zur Symbolisierung der Jungfräulichkeit dienten, bevor diese im Hochmittelalter dem Körper der Jungfrau ›eingepflanzt‹, als Hymen bezeichnet und zum Sinnbild für Unsterblichkeit und paradiesische Unschuld erhoben werden; die Bildmedien schließlich haben ein ›besseres‹ Hymen konstruiert und damit eine symbolische Unterlage geschaffen, auf der Defloration und Projektion, Enthüllen und Verhüllen zusammenfallen. Die Haltbarkeit der lichtscheuen Oberflächen übte eine große Faszination aus und wurde im Laufe der Zeit immer weiter perfektioniert; dadurch entstand aber auch ein Problem. Je haltbarer der Schleier der Bildoberfläche erschien, desto weniger eignete er sich für die Befriedigung von Penetrationsphantasien. Und je deutlicher sich der Bildträger gegen die Vorstellung der Defloration sperrte, desto stärker wurde das Unbehagen, das die Bilder im Betrachter erzeugten. Ein Symptom dieses Unbehagens zeigte sich in den eingangs erwähnten gewalttätigen Entjungferungsphantasien von Malern, die damit auch gegenüber dem Photographen ihr Deflorationsvermögen bekräftigen. So schreibt Wassily Kandinsky: »Erst steht sie wie eine reine, keusche Jungfrau mit klarem Blick und mit himmlischer Freude da – diese reine Leinwand, die selbst so schön wie ein Bild ist. Und dann kommt der wünschende Pinsel, der sie bald hier, bald da allmählich, mit der ganzen, ihm eigenen Energie erobert, wie ein europäischer Kolonist, der in die wilde Jungfer Natur, die noch keiner berührte, mit Axt, Spaten, Hammer, Säge eindringt, um sie seinem Wunsch entsprechend zu biegen.«110

Ein weiteres Symptom dieses Leidens an der Undurchdringlichkeit der photographischen Oberfläche ist das Begehren, hinter die Bildfläche des Photos dringen zu können. So schreibt Walter Benjamin in dem 1931 publizierten Essay Kleine Geschichte der Photographie, dass das Betrachten einer Photographie den Wunsch auslösen könne, einen Riss im Bildträger ausfindig zu machen, um die Wirklichkeit ›hinter‹ der Bildfläche ergreifen zu können.

110 Zit. Eiblmayr, Frau als Bild, 1993, S. 93.

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»Aller Kunstfertigkeit des Photographen und aller Planmäßigkeit in der Haltung seines Modells zum Trotz fühlt der Beschauer unwiderstehlich den Zwang, in solchem Bild das winzige Fünkchen Zufall, Hier und Jetzt, zu suchen, mit dem die Wirklichkeit den Bildcharakter gleichsam durchgesengt hat, die unscheinbare Stelle zu finden, in welcher, im Sosein jener längstvergangenen Minute das Künftige noch heut so beredt nistet, daß wir, rückblickend, es entdecken können.«111

Jenes »winzige Fünkchen Zufall«, mit dem die »Wirklichkeit den Bildcharakter gleichsam durchgesengt hat«, erinnert an Roland Barthes’ Begriff des punctum, den er in Die helle Kammer entwickelt. In diesem sehr persönlichen Essay beschreibt Barthes sein Unbehagen an der flachen (oberflächlichen) Evidenz des photographischen Bildes, das kein Geheimnis zuzulassen scheint. »Ich muß mich also diesem Gesetz beugen: ich kann der PHOTOGRAPHIE nicht auf den Grund kommen, sie nicht durchdringen. Ich vermag nur meinen Blick über ihre stille Oberfläche schweifen zu lassen. Die PHOTOGRAPHIE ist platt, in jeder Bedeutung des Worts: das ist’s, was ich hinnehmen muß. Zu Unrecht bringt man sie, aufgrund ihres technischen Ursprungs, mit der Vorstellung eines dunklen Durchgangs in Zusammenhang (camera obscura). Man müßte camera lucida sagen […] denn was den Blick anlangt, so besteht das Wesen des Bildes darin, ganz außen zu sein, ohne Intimität, und dennoch unzugänglicher und rätselhafter als die innere Vorstellung; ohne Bedeutung, doch zugleich eine Herausforderung der Unergründlichkeit jeden möglichen Sinns; verborgen und doch offenbar, von jener Anwesenheit-Abwesenheit, die die Verlockung und Faszination der Sirenen ausmacht.«112

Die »platte« Oberflächlichkeit des Photos löst den Wunsch aus, das Bild zu punktieren. Die Denkfigur des punctum (lat. Stich, kleines Loch) verspricht Barthes den Zugang zu einem geheimnisvollen Raum hinter der Bildfläche. Es ist die Wunde, die Verletzung eines Photos. »Dieses Wort«, so schreibt Barthes, »entspricht meiner Vorstellung um so besser, als es auch die Idee der Punktierung reflektiert und die Photographien, von denen ich hier spreche, in der Tat wie punktiert, manchmal geradezu übersät sind von diesen empfindlichen Stellen; und genau genommen sind diese Male, diese Verletzungen Punkte.«113 Im Grunde ersehnt Barthes eine Zeit, als das Hymen noch jener ›blinde Fleck‹ war, der sich dem 111 Benjamin, Photographie, S. 50. 112 Barthes, Die helle Kammer, S. 115. 113 Barthes, Die helle Kammer, S. 35f.

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KAPITEL VI. UNENDLICHE DEFLORATION?

Paradigma der Sichtbarkeit entzog; man es nur besitzen konnte, indem man es zerstörte und im Akt der Vernichtung ein Geheimnis aufdeckte. Zu dieser Erfahrung soll ihm das punctum, jenes »blinde Feld«114 des Photos, verhelfen. Am Ende von Die helle Kammer, als Barthes noch einmal die Photos aus dem Nachlass seiner verstorbenen Mutter an sich vorbeiziehen lässt, erfüllt sich der Traum: »Durch jedes dieser Bilder gelangte ich unweigerlich über die Unwirklichkeit des Dargestellten hinaus, wie von Sinnen betrat ich den Schauplatz, drang ich ins Bild, umarmte ich das, was tot ist, das, was sterben wird.«115

Abbildung 39: André Kertész, Paris, schwarz-weiß Photographie, in: André Kertész in Paris, München 1992

Im Jahre 1929, fünfzig Jahre bevor Barthes seinen Essay niederschrieb, ›schoss‹ der ungarische Photograph André Kertész ein Photo, das (mit den Mitteln der Photographie) ebenfalls von dieser Sehnsucht erzählt. Durch eine (scheinbar) gesprungene Fensterscheibe sehen wir (scheinbar) über die Dächer von Paris. Die spinnennetzartigen Risse des Glases betonen seine Oberfläche, aber auch seine Fragilität. Nicht nur das gesprungene Glas – ein altes Symbol für das Hymen – legt es nahe, das Bild als Darstellung des medialen Hymens der Photographie zu interpre114 Barthes, Die helle Kammer, S. 66. 115 Barthes, Die helle Kammer, S. 128.

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tieren. Vielmehr ist es der »blinde Fleck« in der linken Hälfte des Bildes, der auf den ersten Blick wie ein Loch aussieht, durch das eine Kugel geschossen wurde, der stutzig macht. Wenn es sich um eine Fensterscheibe handelte, dann dürfte sich gerade kein schwarzes Feld zeigen. Erst jetzt, auf den zweiten Blick fällt auf, dass die gesprungene Scheibe ein Spiegel ist, der dem Betrachter die Unmöglichkeit, das fotografische Hymen zu durchdringen, vor Augen hält. Das punctum besagt nicht nur die Sehnsucht nach der Verwundbarkeit des Photos, sondern es bezeichnet auch den Wunsch des Betrachters von der Photographie ›bestochen‹ zu werden. »Das punctum einer Photographie, das ist jenes Zufällige an ihr, das mich besticht (mich aber auch verwundet, trifft).«116 Diese aktive, aggressive Seite des punctum scheint nicht recht zu dem hymenartigen Wesen des punctum zu passen. Oder könnte es sein, dass es sich bei dem Wunsch, vom Objekt des Blicks penetriert zu werden, um eine Art männlichen Hymen-Neid handelt? Barthes scheint nicht nur das gute alte, geheimnisvolle Hymen zu vermissen, er scheint auch darunter zu leiden, niemals ein penetrierbares Häutchen besessen zu haben. Nur wer penetriert werden kann, existiert ›wirklich‹? Nun könnte man einwenden, dieses Kapitel beweise eigentlich nur, dass das Hymen ein faszinierendes Wissensobjekt ist. Ich möchte es deshalb mit einem ganz aktuellen Beispiel abschließen, das die Existenz und Funktion des medialen Hymens gut sichtbar belegt. Der US-amerikanische Künstler John Sparagana hat eine Reihe von Arbeiten der Sichtbarmachung des Unsichtbaren auf der Oberfläche des photographischen Bildes gewidmet. Er trennt jeweils ganze Seiten aus viel gelesenen und für die Qualität ihrer Modephotos bekannten Magazinen wie Harper’s Bazaar, Vogue oder Cosmopolitan heraus, auf denen weibliche, meist mehr entkleidete als bekleidete Mannequins die neueste Mode bewerben. Diese Seiten reibt er solange behutsam zwischen seinen Fingern, bis die üblicherweise unsichtbare Textur des Photopapiers erscheint und sich wie ein Schleier oder Hymen über die abgebildeten Frauenkörper legt, die dahinter zu verschwinden scheinen. Sparagana nennt die dadurch entstehenden ›Bilder‹ fatigues (was man mit Ermüdung, Ermattung oder Dauertest übersetzen könnte). Von den fatigues geht eine verführerische Wirkung aus, die Sparagana in dem Motto ›Sleeping Beauties‹, mit dem er die Arbeiten überschrieben hat, auch benennt. Sleeping Beauty, das erinnert an Dornröschen und Schneewittchen, an bewusstlos dem männlichen Blick hingegebene Frauenkörper,

116 Barthes, Die helle Kammer, S. 36.

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KAPITEL VI. UNENDLICHE DEFLORATION?

an schlafende Nymphen, denen sich ein Faun nähert. Vielleicht, so scheinen die Bilder zu versprechen, vielleicht verbirgt sich hinter dem medialen Hymen ein unentdeckter Kontinent, eine Jungfrau, die noch nicht ›genommen‹ wurde. Vielleicht, so suggeriert die ›gestresste‹ Oberfläche, ist die photographische Schicht in Wahrheit nicht so perfekt und undurchdringlich, wie sie scheint.

Abbildung 40: John Sparagana, Sleeping Beauties, fatigue, 2004

Durch die Behandlung macht Sparagana die Abstraktion des Blicks – der berührt, ohne Hand anzulegen – rückgängig, indem er sich über das in jedem Bild unausgesprochen enthaltene Berührungsverbot hinwegsetzt. Dennoch möchte ich dieses Handanlegen nicht als Akt der Bilderzerstörung verstehen – dazu geht er zu behutsam vor, legt zu viel Wert darauf, das Papier nicht zu zerreißen – und dazu sind die fatigues zu verführerisch. Vielmehr zielt die Ermattung der photographischen Oberfläche darauf ab, das Unbewusste der westlichen Blickmacht zum Vorschein zu bringen. Indem die fatigues Bildträger und Bild als separate ›Schichten‹ vorstellen – indem sie also trennen, was ›normalerweise‹ zusammengedacht und als untrennbar wahrgenommen wird –, kommen die unbewussten und unsichtbaren Schichten des photographischen Bildes zum Vorschein. Ein Effekt dieser Trennung besteht darin, die relative Ohnmacht der ›nackten‹ Hardware optischer Medien auszustellen. Gut sichtbar ist dies auf einer doppelseitigen fatigue, auf deren linker ›ermüdeter‹ Seite eine im Sitzen schlafende, nur mit Unterwäsche bekleidete Frau zu sehen ist. Rechts neben ihr, auf der ›unbehandelten‹ Seite, befindet sich ausgeschaltetes Fernsehgerät, dessen Bildschirm dem Betrachter zugewendet ist. Die unregelmäßige und stoffliche Textur des 159

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Bildträgers, hinter dem sich ein nur leicht bekleideter, scheinbar schlafender (unbewusster) Frauenkörper befindet, bildet einen deutlichen Kontrast zu der leeren Mattscheibe des Fernsehers, die den Betrachter wie das erblindete Auge einer Kamera anstarrt. Seiner symbolischen Schicht entkleidet, erscheint der Bildschirm des Fernsehgerätes im wahrsten Sinne ermattet. Die fatigues geben auch einen Hinweis darauf, weshalb das mediale Hymen in der Regel unbewusst und unsichtbar zu bleiben hat. Nach der Behandlung des Bildes haben sich die Photomodelle scheinbar hinter einen ›Schleier‹ zurückgezogen. Lediglich erahnen kann man ihre Präsenz, wodurch die fatigues den Eindruck des Privaten vermitteln.

Abbildung 41: John Sparagana, Sleeping Beauties, fatigue, 2004

Auf einem ›Photo‹ – wenn man die behandelten Oberflächen noch so nennen will – schmiegt sich die Textur des Papiers wie ein Kopftuch um das Haupt des Photomodells und verleiht ihr dadurch eine gewisse Unangreifbarkeit. In einer anderen Arbeit lässt die Textur des Bildes eine nackte Frau hinter einem ›Vorhang‹ verschwinden, der dem Betrachter den Zugang zu ihr versperrt. Ein zweites Photomodell, das dem Betrachter den Rücken zukehrt, scheint den ›Vorhang‹ mit ihrer Hand zurückzuziehen und ebenfalls in diesen ›geheimen‹ Raum eintreten zu wollen. Hier scheint die andere Seite des medialen Hymens auf: Solange es ›intakt‹ ist, vor dem Moment der Penetration, stellt es die Definitionsmacht des Blicks in Frage. Eine Provokation, die auch vom muslimischen Schleier, der oft genug mit dem Hymen verglichen wurde, ausgeht. Auch der westliche Frauenkörper ist verschleiert. Aber weil diese Verschleierung der Nacktheit zum Verwechseln ähnlich sieht, bleibt sie unbemerkt. Und weil der 160

KAPITEL VI. UNENDLICHE DEFLORATION?

fabrizierte Schleier der Bildmedien das westliche Subjekt vor sich selbst – vor seiner eigenen Wissbegierde – schützt, führt die Frustration über die zunehmende Undurchdringlichkeit und Geheimnislosigkeit des Hymens nicht zu einer Änderung der Blickrichtung – zu dem Wunsch, mehr über sich selbst zu erfahren –, sondern zur Suche nach immer neuen Schleiern, die sich dem gefräßigen Auge darbieten.

Abbildung 42: John Sparagana, Sleeping Beauties, fatigue, 2004

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K A P I T E L VII. »N I C H T M E H R Z U M U N A N T A S T B A R E N G E H I C H «: D I E ›M U T T E R ‹ U N D D A S U N B E W U S S T E DES ALPHABETS Die Mutter zum Schluss? In den vorangegangenen Kapiteln hat der mütterliche Körper kaum eine Rolle gespielt. Dies hat seinen Grund darin, dass die symbolische Ordnung des väterlichen Buchstabens sich durch die Ausgrenzung historisch älterer Kodierungen des Mütterlichen etablierte.1 Julia Kristeva hat gezeigt, dass mit dem jüdischen und christlichen Monotheismus neue Sichtweisen auf den mütterlichen Körper entstanden, die diesen als das ›Andere‹ der symbolischen Ordnung entwarfen – eine symbolische Ordnung, die Linearität (statt zyklisches Denken), Individualität (statt Zweiheit) und den Vorrang des Geistes vor dem Körper besagte.2 In dieser neuen Ordnung binärer Hierarchien erscheint der mütterliche Körper nicht nur als passiv (er trägt nichts zur Schöpfung bei), sondern auch als unrein und gefährlich. Unter Berufung auf Mary Douglas, die in Reinheit und Gefährdung die kollektive Bedeutung von körperlichen Reinigungsvorschriften und Reinheitsritualen herausgearbeitet hatte,3 argumentiert Kristeva, dass am Umgang mit dem Körper 01 Zu älteren Vorstellungen des Mütterlichen vgl. Erich Neumann: Die grosse Mutter. Eine Phänomenologie der weiblichen Gestaltungen des Unbewussten, Olten: Walter 1987. Allerdings darf man seine Ausführungen nicht als Beschreibung der mütterlichen ›Natur‹ interpretieren, sondern als kulturelle Vorstellungen, die einer anderen symbolischen ›Ordnung‹ angehören. 02 Julia Kristeva: Powers of Horror. An Essay on Abjection, Übers. Leon S. Roudiez, New York: Columbia University Press 1982. 03 Mary Douglas: Reinheit und Gefährdung. Eine Studie zu Vorstellungen von Verunreinigung und Tabu, Übers. Brigitte Luchesi, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1988. »Es ist ausgeschlossen, daß wir Rituale interpretieren, in denen Exkremente, Muttermilch, Speichel und Ähnliches eine Rolle spielen, wenn wir den Körper nicht als ein Symbol für die Gesellschaft begreifen oder übersehen, daß die Kräfte und Gefahren, die es in der Sozialstruktur geben soll, im kleinen auch im Körper ausgedrückt werden können. Es leuchtet allgemein ein, daß der Körper eines Opferochsen als Aufriß der

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der Mutter das »Verworfene« (the abject), im kulturellen Unbewussten angesiedelte (aber nicht mit diesem identische4) der abendländischen Kultur sichtbar werde. Das Verworfene definiert sie als eine Kraft, die sich der Signifikation entziehe und die deshalb die Definitionsmacht des männlichen Subjekts bedrohe sowie die Fundamente der kulturellen Ordnung, in die es eingebettet ist, in Frage stelle. »Das, was verworfen […] ist, ist auf radikale Weise ausgeschlossen und zieht mich zu einem Ort, an dem jegliche Bedeutung zusammenbricht. […] Und doch, von dem Ort seiner Verbannung, hört das Verworfene nicht auf, seinen Herrn herauszufordern. […] Im Vorgang der Verwerfung bleibt etwas von der Archaik prä-ödipaler Beziehungen bewahrt, von der unerinnerlichen Gewalt, mit der ein Körper von einem anderen Körper getrennt wird, um er selbst zu sein.«5

Powers of Horror ist ein Versuch, sich den Grenzen der Kultur und der Subjektivität zu nähern. Bedroht – und durch die Bedrohung sichtbar gemacht – wird diese Grenze vom Verworfenen. Weil es sich der Subjekt/Objekt-Trennung entzieht, kann es nicht dingfest gemacht werden. »Verwerfung heißt vor allem Ambiguität. Denn obwohl sie etwas freisetzt, schneidet sie das Subjekt nicht vollkommen von dem ab, was es bedroht – im Gegenteil, die Verwerfung anerkennt die Tatsache, dass das Subjekt sich in ständiger Gefahr befindet.«6 Religion und Kunst, so Kristeva, seien die wichtigsten kulturellen Praktiken, das Verworfene zu besozialen Situation benutzt werden kann, wollen wir jedoch Rituale, die mit dem menschlichen Körper zu tun haben, genauso interpretieren, greift die psychologische Tradition ein und bringt uns von der sozialen zurück zu einer individuellen Betrachtungsweise. Öffentliche Rituale mögen öffentliche Belange ausrücken, wenn sie unbelebte Türpfosten oder Tieropfer benutzen; öffentliche Rituale dagegen, die am menschlichen Körper ausgeführt werden, gelten als Ausdruck persönlicher und privater Belange.« (S. 153) 04 Nach Julia Kristeva lässt sich das Verworfene nicht verdrängen, d.h., aus dem Bewusstsein ausschließen; vielmehr sei das Subjekt bzw. alle Subjekte einer Kultur dazu gezwungen, die verworfenen Inhalte sowohl zurückzuweisen als auch zu überformen. »The ›unconscious‹ contents remain here excluded but in strange fashion: not radically enough to allow for a secure differentiation between subject and object, and yet clearly enough for a defensive position to be established – one that implies a refusal but also a sublimating elaboration. As if the fundamental opposition were between I and Other […]. As if such an opposition subsumed the one between Conscious and Unconscious.« (Powers of Horror, S. 7) 05 Kristeva, Powers of Horror, S. 2-10. 06 Kristeva, Powers of Horror, S. 9.

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KAPITEL VII. »NICHT MEHR ZUM UNANTASTBAREN GEH ICH«

arbeiten und damit seine Bedrohlichkeit zu mindern. Während nichtalphabetisierte Kulturen das Verworfene im Bereich des Heiligen ansiedelten – ein Bereich, der zugleich als rein und unrein markiert ist –, wodurch es sowohl dem Alltäglichen entzogen als auch rituell zugänglich wurde, versuchten alphabetisierte Kulturen, vor allem die monotheistischen Religionen, das Verworfene zu integrieren, um seine bedrohliche Kraft zu neutralisieren. Kennzeichnend für das Judentum sei die Verortung des Verworfenen innerhalb der Kultur (weder werde es nach außen verbannt, noch werde es vom Subjekt internalisiert und damit ausgelöscht)7; kennzeichnend für das Christentum sei der Versuch, das Verworfene auszugrenzen bzw. durch Einverleibung auszulöschen. Die frühen Christen verwarfen die meisten jüdischen Reinheitsvorschriften – rituelles Bad, Speisegesetze, Beschneidung, Kontaktverbot mit ›Aussätzigen‹ –, weil dem Kontakt mit dem Verworfenen eine reinigende Wirkung zugeschrieben wurde.8 Eine der wirkmächtigsten Schranken, die sowohl das Subjekt als auch die Kultur vor dem ›Rückfall‹ in die mütterliche Ordnung des Verworfenen bewahrt, ist das Verbot des Mutter-Sohn-Inzests. Während die Mittelmeerkulturen, in denen das Judentum entstand, den Inzest rituell im Tempel vollzogen9 – der Sohn-Geliebte wurde nach Vollzug des hieros gamos der Göttin geopfert10 –, verboten die Israeliten diese Praxis nicht nur, sondern etablierten neue Riten, die von dem gewandelten Verständnis und Umgang mit dem mütterlichen Körper Zeugnis ablegen. Rituell eingeübt wird das Inzestverbot in den Speisegesetzen sowie im Ritus der Beschneidung. Fleisch (Blut) und Milch sind beide auf das Engste mit der Mutter verbunden, wobei gerade die Vorschrift, das Fleisch dürfe nicht mit gekochter Milch in Berührung kommen –»Ihr dürft ein Böcklein nicht in der Milch seiner Mutter kochen« (5. Mose 14, 21) – darauf hindeute, dass sich das Verbot nicht auf die zum Überleben notwendige Muttermilch bezieht, sondern dass es dazu dient, eine kulturelle Schranke zwischen Mutter und (erwachsenem) Sohn aufzurichten: »Was hier gemeint ist, ist nicht Milch als Nahrung, sondern Milch hinsichtlich ihrer symbolischen Bedeutung. […] Mit anderen Worten, es läuft darauf hin07 Kristeva, Powers of Horror, S. 106f. 08 Kristeva, Powers of Horror, S. 128. 09 D.h. nicht, dass der Inzest außerhalb des Tempels von der Bevölkerung praktiziert wurde. Vielmehr ist die heilige Hochzeit ein Fruchtbarkeitsritual, dass die symbolische Doppeldeutigkeit des Mütterlichen als lebenspendend und todbringend darstellbar machte. 10 Zur Heiligen Hochzeit siehe Samuel Noah Kramer: The Sacred Marriage Rite. Aspects of Faith, Myth, and Ritual in Ancient Sumer, Bloomington: Indiana University Press 1969.

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aus, Milch nicht als Nahrung, die das Überleben sichert, zu betrachten, sondern gemäß einer kulturellen Übereinkunft, die ein unnatürliches Band zwischen Mutter und Sohn etabliert.«11 Auch die Beschneidung ist laut Kristeva auf das Inzestverbot bezogen. Sie symbolisiert nicht nur die Differenz (und den Pakt) zwischen Gott und Mann, sondern auch eine symbolische Trennung von der Mutter, eine Reinigung des Männlichen von der mütterlichen ›Unreinheit‹, die die Voraussetzung für die Subjektwerdung des Mannes darstellt. »Ich stimme zu, dass die Beschneidung einen Bund mit dem Gott des auserwählten Volkes besagt; aber das, wovon der Mann getrennt wird, das ›Andere‹, das die Beschneidung in sein Geschlecht einschreibt, ist das andere Geschlecht, unrein und verunreinigt. Indem es die Narbe der Nabelschnur am Geschlechtsorgan wiederholt, indem es die wichtigste Trennung – die von der Mutter – verdoppelt und verschiebt, besteht das Judentum auf symbolische Weise – das Gegenteil von dem, was ›natürlich‹ ist – darauf, dass die Identität des (mit seinem Gott) sprechenden Subjekts auf der Trennung des Sohns von seiner Mutter beruht. Die symbolische Identität setzt die gewaltsame Trennung der Geschlechter voraus.«12

Für die kulturelle Wirkungsmacht des Inzestverbots waren im Abendland allerdings weder das Judentum noch die jüdischen Speisegesetze ausschlaggebend, sondern die Bedeutung, die der Mutter-Sohn-Inzest in der griechischen Kultur angenommen hatte. Den Griechen galt der Verkehr zwischen Mutter und Sohn als ein Verbrechen von solch Furcht erregender Monstrosität, dass man einerseits die Verwendung des Wortes unter Strafe stellte und andererseits mit dem Ödipusstoff eine kontinuierliche Bearbeitung dieses unheilvollen Verbrechens in Gang setzte. Verständlich wird die griechische Sicht, betrachtet man die Geschichte des alphabetischen Zeichens, das die Mutter symbolisiert: das Beta.

Wer A sagt, muss auch B sagen Während das Alpha die ›Vaterschaft‹ der Schrift repräsentiert, stellt der zweite Buchstabe, das Beth oder Beta, die ›mütterlichen‹ Eigenschaften des Alphabets dar. Alfred Kallir zeigt, dass sich der Name und die Gestalt des ›B‹ in den semitischen Sprachen vom »Haus« ableitet. Das De-

11 Kristeva, Powers of Horror, S. 105. 12 Kristeva, Powers of Horror, S. 100.

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KAPITEL VII. »NICHT MEHR ZUM UNANTASTBAREN GEH ICH«

sign des Buchstabens geht auf die ägyptische Hieroglyphe für »Haus« zurück und stellt den Grundriss oder auch die Profilansicht eines Hauses dar.13

Abbildungen 43, 44 und 45: Hebräisches Beth; Entwicklung des Beta; Hieroglyphen: Brüste, in: Alfred Kallir, Sign and Design, Berlin 2002

In dieser Verbindung repräsentiert der hebräische Buchstabe ein symbolisches Haus.14 Zieht man das Phonogramm (Lautzeichen), das zur Hieroglyphe »Haus« gehört, hinzu – sie bedeutet »Bein« bzw. »Gehen« – wird deutlich, dass mit dem Haus nicht nur die Behausung oder Heimat angesprochen ist, sondern auch der Geburtsakt und das weibliche Leibesinnere. Das Beth vergegenwärtigt den durch das Alphabet eingeleiteten Prozess einer kulturellen ›Entbindung‹ von der dem zyklischen Zeitverständnis verpflichteten mütterlichen Erde bzw. dem mütterlichen Schoß. Im griechischen, kyrillischen und lateinischen Alphabet verändert sich die Gestalt des Buchstabens beträchtlich. Das ›B‹ richtet sich auf, die ›Türöffnung‹ verbreitert sich, die Ecken werden abgerundet und nach Innen gezogen. Der Buchstabe verbindet damit die Hieroglyphe für »Haus« mit der ebenfalls aufgerichteten Hieroglyphe »Berg« zu einer neuen, ›anthropomorphisierten‹ Gestalt, die nun sowohl die Lippen, und damit die gesprochene Sprache, als auch die weiblichen Brüste, d.h. die Nahrung symbolisiert. »Es ist sicher, daß B ein aufrechtes Konzept ist und daß es sich unter diesen Umständen als eine Zeichnung einer Profildarstellung handelt: um eine genaue, naturalistische Darstellung wie die der Lippen, um eine ›surrealistische‹ Darstellung hingegen, wenn wir das Zeichen als die Brüste interpretieren, wie auch die Brustwarzen in der punktierten Rune für B in ›surrealistischer‹ Weise wiedergegeben sind.«15

13 Kallir, Sign and Design, S. 85-130. 14 Zu den symbolischen Häusern vgl. ausführlich Mimi Levy Lipis: Symbolic Houses and Hybrid Places of Belonging in Judaism: The Sukkah; Diss., unveröff. Manuskript. 15 Kallir, Sign and Design, S. 109.

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In dieser Entwicklung wird ein Vorgang sichtbar, in dessen Verlauf der sprechende Körper aus dem Zeichensystem verdrängt wird. Mit dem griechischen Alphabet, durch das Hinzufügen der Vokale, trennte sich das Alphabet vom Leib als Klangkörper: Der Buchstabe kehrt seiner ›Herkunft‹ gleichsam den Rücken zu. Aus dieser Richtungsänderung erwachsen der Schrift nährende Kräfte geistiger Art, die über die Augen beim stummen/stillen Lesen, wie es das Christentum privilegieren sollte, aufgenommen wurden.16 (Das stille Lesen ging mit der Ergänzung der scriptio continua durch Interpunktionszeichen einher. Unter scriptio continua versteht man das Schreiben ohne Satzzeichen und Pausen, das den geschriebenen Text wie eine fließende Rede erscheinen ließ, dessen Sinn im mündlichen Vortrag hervortrat.) Die etwa im 4. nachchristlichen Jahrhundert einsetzende Interpunktion besagt die ›Zerstückelung‹ der Mündlichkeit durch das Zeichensystem, die Unterbrechung der fließenden Rede durch Satzzeichen und Worttrennung.17 Die Phantasie einer medialen ›Mutter‹ ist vom Buchstaben ›B‹ aus in andere Reproduktionsmedien gewandert: in das Innere der Camera Obscura und des Photoapparates sowie in die ›Matrix‹ des Cyberspace. Am stärksten jedoch hat das Kino Assoziationen zum Mütterlichen hervorgerufen. Das Kino sei, so der frühe Filmkritiker Edgar Morin, eine »große, archetypische Gebärmutter, die alle Visionen der Welt in embryogenetischen Vorformen enthält«.18 Insbesondere in der feministischen Filmtheorie entfaltete die Nähe des Kinos zum Mütterlichen eine große Wirkungsmacht. So wurde argumentiert, das Kino erzeuge einen Raum, der den Zuschauer in einen vorsprachlichen und vorsymbolischen19 Zustand versetze und ihm die Begegnung mit der präödipalen Mutter erlaube. Die Filmtheoretikerin Annette Brauerhoch hat das Kino als »Technik der Bemutterung«20 bezeichnet, die dem Zuschauer frühkindliche oder gar vorgeburtliche Erfahrungen vergegenwärtige. Weil es nicht auf Sprache (und Schrift) setze, sondern auf das Bild, aktiviere das Kino, so die Filmwissenschaftlerin Gertrud Koch, eine dem frühesten Entwicklungsstadium angehörende, stumme Schaulust, die noch vor der Herausbildung 16 Vgl. Stefanie Rinke: Das ›Genießen‹ in der mittelalterlichen Mystik. Vermittlungsform und Geschlecht bei Bernhard von Clairvaux und Hildegard von Bingen, 2004, Diss., unveröff. Manuskript. 17 Malcolm B. Parkes: Pause and Effect. An introduction to the History of Punctuation in the West, Berkeley: University of California Press 1993. 18 Gertrud Koch: Was ich erbeute, sind Bilder. Zum Diskurs der Geschlechter im Film, Basel [u.a.]: Stroemfeld 1989, Zit. S. 26. 19 Koch, Bilder, S. 24. 20 Annette Brauerhoch: Die gute und die böse Mutter. Kino zwischen Melodrama und Horror, Marburg: Schüren 1996, S. 41.

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der Geschlechtsidentität liege und die nicht mit dem väterlichen Gesetz, sondern mit mütterlicher Geborgenheit assoziiert sei. »Die Rolle des Publikums wäre dann gar nicht so festgeschrieben auf die spätere des Voyeurs hin, der ja einen intentional gerichteten Blick hat (auf die phallische Frau hin), sondern ebenso vergleichbar dem sprachlosen Säugling, der sich in die Arme der Mutter gelehnt an einer Welt vorbeitragen läßt, zu der er sich umstandslos dazuzählt. Vielleicht ist die Kamera nicht erst vorm Schlüsselloch, sondern schon im Kinderwagen erfunden worden.«21

Diese mütterliche Dimension des Kinos werde erst dann theoretisch fassbar, so Koch, wenn man das Kino nicht immer schon als Ausdruck einer symbolischen Ordnung betrachte: »Die psychoanalytische Theorie setzt diesen Stufen aber nicht sprachliche Erfahrungsphasen voran. Zu fragen wäre also, ob im Film und seiner Ästhetik nicht auch solche Erfahrungsmomente enthalten sind.«22 An Koch anknüpfend vertritt Brauerhoch die These, die Ästhetik des Films und des Kinos sei ein Symptom für die kulturelle und soziale Verdrängung des Mütterlichen. »Filmtexte [lassen sich] als narrative wie ästhetische Reaktionsbildungen auf das in patriarchalen Gesellschaften ambivalente Verhältnis zur Mutter und ihrer verdrängten Macht lesen. Für eine Theorie der Schaulust im Kino könnte dies bedeuten, daß mit dem Verdrängten immer auch eine Wiederkehr des Verdrängten einhergeht, daß also den Strukturen des Kinos nicht nur ödipale, und damit am Vater orientierte Elemente eingeschrieben sind, sondern auch präödipale, an der Mutter ausgebildete.«23

Diese ›Mutter‹, der die Zuschauer im Kinosaal begegnen, ist nicht auf eine entsexualisierte, passive und unbedrohliche Figur zu reduzieren, vielmehr erkennt Brauerhoch im Kino auch die symbolische Präsenz der in der Kulturgeschichte verdrängten »bösen« und bedrohlichen Mutter. »Das Kino ließe sich dann als eine Institution beschreiben, die einerseits in ihren Filmen eine Reaktion auf die zwar verdrängte aber dennoch gewußte Macht der Mutter darstellt, und andererseits diese Macht der Mutter als eine ausdrückt und weiterträgt, die seinen Strukturen inhärent ist.«24

21 22 23 24

Koch, Bilder, S. 26. Koch, Bilder, S. 24f. Brauerhoch, Mutter, S. 10. Brauerhoch, Mutter, S. 11f.

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Ohne die mütterliche Dimension des Kinos bestreiten zu wollen, stellt sich dennoch die Frage, welche ›Mutter‹ und wie viel ›Mutter‹ dem Zuschauer und der Zuschauerin im Kino erfahrbar wird. Da es sich beim Kino um ein Medium, d.h. um ein Symbolsystem handelt, wird man die symbolische Dimension bei der Beantwortung dieser Frage nicht außer Acht lassen dürfen. Dies legen auch die Zeugnisse aus der Frühzeit des Kinos nahe. Dort wird das Kino zum einen als Rückkehr zur Mutter beschrieben; so etwa von Béla Balázs: »Denn das Kino war ja bis jetzt das glückliche Paradies der Naivität, wo man nicht gescheit, gebildet und kritisch sein mußte, in dessen Dunkel, wie in der Rauschatmosphäre einer Lasterhöhle, auch die kultiviertesten und ernstesten Geister sich ihrer verpflichtenden Bildung und ihres strengen Geschmacks ohne Scham entkleiden konnten, um sich in nackter, urnatürlicher Kindlichkeit dem bloßen primitiven Zuschauen hinzugeben.«25

Aber zugleich verlangt Balázs vom Publikum auch, sich der Filmkunst bewusst zu werden, um jenes »glückliche Paradies der Naivität« genießen zu können. »Der Film ist, mehr als jede andere, eine soziale Kunst, die gewissermaßen vom Publikum geschaffen wird. […] Und wenn wir sie verstehen lernen, so werden wir, wir Publikum, mit unserer Genußfähigkeit zu ihrem Schöpfer.«26 Die Vermutung liegt also nahe, dass das Kino die Illusion einer unmittelbaren Mütterlichkeit erzeugt, der der Zuschauer sich gerne hingibt. Auf der Grundlage ödipaler Begehrensstrukturen inszeniert das Kino das Gefühl des Präödipalen. Erkennbar und verständlich wird dieses gebrochene Verhältnis des Kinos zur Funktion des Mütterlichen, geht man zurück in die griechische Antike, zu den Anfängen der Phantasie einer begehbaren, ausgeleuchteten Höhle, wie sie Platons Höhlengleichnis27 beschreibt. Dieses Gleichnis ist als gedankliche Vorwegnahme des Kinos bezeichnet worden,28 ohne dabei jedoch die Bedeutung antiker Denkmuster und Begehrensstrukturen für die Beschwörung des Mütterlichen im Kino eingehender zu diskutieren. Dabei 25 Béla Balázs: Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2001, S. 14. 26 Balázs, Der sichtbare Mensch, S. 15. 27 Platon: »Sonnen-, Linien- und Höhlengleichnis«, in: ders.: Politeia, Sämtliche Werke, Bd. V, Griechisch und Deutsch, hrsg. von Karlheinz Hülser, Übers. Friedrich Schleiermacher und Franz Susemihl, Frankfurt/Main: Insel 1991, 506b-518d. 28 Jean-Louis Baudry: »The Apparatus: Metapsychological Approaches to the Impression of Reality«, in: Philip Rosen (Hg.): Narrative, Apparatus, Ideology, New York: Columbia University Press 1986, S. 299-318.

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ist es nicht bedeutungslos, dass die Sehnsucht nach dem Kino in einer Zeit entsteht, als sich das griechische Alphabet als Schrift- und Verwaltungssprache etabliert. Es lohnt sich deshalb, den medialen Ursprüngen der Verdrängung und Beschwörung der Mutter im griechischen Alphabet und der griechischen Kultur nachzugehen, um von dort aus Aufschlüsse über die Bedeutung der Mutter im Kino zu gewinnen. Auf diese Weise lässt sich die Faszination an der Rückkehr zur Mutter im Kino nicht nur psychoanalytisch, sondern auch kultur- und mediengeschichtlich fassen. Geschehen soll dies am Beispiel des Buchstabens ›B‹. Wie Kallir darstellt, wird die Bedeutung des Beta auch von dem ihm vorausgehenden Alpha bestimmt. Er weist darauf hin, dass zwischen ›A‹ und ›B‹ eine Kluft besteht. »Die Beziehung zwischen den beiden Schriftzeichen wird vom Kontrast beherrscht. Im Ägyptischen wird das Wort für ›widersprechen‹, ›Widerworte geben‹ mit den Hieroglyphen für ›Arm‹ (ayin) und ›Bein‹ (b) beschrieben, von Budge als ›ab‹ transkribiert, ein Kompositum aus einem männlichen und einem weiblichen Symbol: steht dann vielleicht AB für den DEN Kontrast an sich?«29

Es ist allerdings zu bezweifeln, dass dieser Kontrast, wie Kallir annimmt, den »natürlichen Kontrast zwischen den beiden Geschlechtern«30 beschreibt; vielmehr ist anzunehmen, dass dieser Kontrast zuallererst vom Zeichensystem geschaffen wird. Darüber hinaus scheint die Kluft zwischen Alpha und Beta auf einen ›Abgrund‹ hinzudeuten, der mit dem Verworfenen in Verbindung steht. Das ›B‹ kehrt diesem ›Abgrund (seiner Herkunft?) gleichsam den ›Rücken‹ zu, symbolisiert einen Neuanfang, aber auch das Vergessen des Ursprungs. Hier wird ein Grund für die Ambiguität des Verworfenen sichtbar: Es befindet sich buchstäblich zwischen den Gegensätzen. Der Schutz vor einem Wissen, dessen Entstehung sich nicht der Logik des Alphabets verdankt, erfordert einen kulturellen ›Immunisierungs- und Lernprozess‹, der erklären kann, weshalb die Schreibweise des Buchstabens ›B‹ – im Gegensatz zum ›A‹ und zu den meisten anderen Buchstaben des Alphabets – im Laufe der Schriftentwicklung nicht einfacher, sondern schwieriger geworden ist. Kallir spricht von einer »linearen Komplikation«. »Obwohl das hebräische Quadratschrift-Beth das Zeichen für ›Haus‹ durch die Verbreiterung der ›Tür‹ vereinfacht, verkompliziert es gleichzeitig die Aufgabe

29 Kallir, Sign and Design, S. 118. 30 Kallir, Sign and Design, S. 118.

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des Schreibenden, der seinen Duktus unterbrechen muß, um mit einem gesonderten Strich die Grundlinie zu zeichnen. Ebenso stellt auch die Transformation der oberen und unteren Enden des südsemitischen beth in zwei geschlossene Kurven eine Komplikation dar, wie auch das Hinzufügen einer unteren zu der oberen Kurve in den minoischen und nordsemitischen Buchstaben Beth, die gleichfalls Vorläufer von B gewesen sein mögen.«31

In dieser dem ›B‹ eigenen »linearen Komplikation« hat das Alphabet eine Spur jener Schwierigkeiten bewahrt, die es gekostet haben muss, die der zyklischen Weltordnung entstammenden Mutterfigur in ein Denksystem zu integrieren, das auf der linearen Logik des väterlichen Gesetzes gegründet ist. Das gegenüber dem hebräischen Beth kompliziertere griechische Beta deutet auf eine ausgeprägtere Neigung, das Verworfene einzudämmen. Zudem impliziert die ›Komplikation‹ Veränderungen im Umgang mit dem Mutter-Sohn-Inzest. In der griechischen Kultur wurde der Abgrund, der sich zwischen ›A‹ und ›B‹ auftat, als so bedrohlich erfahren, dass der Inzest mit besonders rigorosen Mitteln von der Gemeinschaft ferngehalten werden musste. Das Inzestverbot wurde nicht, wie im Judentum, mit Hilfe ritueller Vorschriften eingeübt, die in das Leben der Gemeinschaft integriert waren, sondern durch die Aufrichtung einer mächtigen Drohung der rituellen Bearbeitung entzogen – die griechische Sprache kennt kein Wort für Inzest. Dennoch hat die griechische Kultur die im Abendland einflussreichste Erzählung über den Horror, den derjenige ›sieht‹ und erfährt, der zu seinem mütterlichem Ursprung zurückkehrt, erfunden: Die Geschichte des Ödipus, der unwissentlich seinen Vater erschlägt und seine Mutter zur Frau nimmt. Im folgenden Abschnitt möchte ich diese Geschichte nicht als Fiktionalisierung eines psychischen Geschehens auffassen, wie dies Freud in Totem und Tabu32 getan hat, sondern als eine Erzählung interpretieren, die die Geschichte des Buchstabens ›B‹ in eine erzählbare und erinnerbare Form bringt. Mit anderen Worten, das Schicksal des Ödipus zeigt der patrilinearen, alphabetischen Gesellschaft, dass sie ihre eigene Existenz aufs Spiel setzt, wenn sie sich nicht von der ›Mutter‹ trennt. In besonderer Klarheit kommt diese neue Sichtweise auf den Körper der Mutter in Sophokles’ Tragödie König Ödipus zum Ausdruck. Nicht von Ungefähr spielen in diesem Drama die (weibliche) Stimme und der (männliche) Blick eine tragende Rolle.

31 Kallir, Sign and Design, S. 94. 32 Sigmund Freud: Totem und Tabu. Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker, Frankfurt/Main: Fischer 1991.

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»Entstammt, von wem ich nicht gesollt«: König Ödipus Anders als die Bearbeitungen des Ödipusstoffs von Aischylos und Euripides (je zu Beginn und Ende des 5. Jahrhunderts) setzt Sophokles in seiner um 425 aufgeführten Tragödie König Ödipus am Ende der Geschichte ein. Die Aussetzung des Knaben, der Vatermord, die Überwindung der Sphinx und die Ehelichung der Mutter werden nicht auf der Bühne dargestellt, so dass sich das Drama ganz der Aufdeckung der in der Vergangenheit liegenden Verbrechen und Verstrickungen widmet.33 Die Handlung beginnt mit dem Verfall Thebens: Die Pest ist in die Stadt eingedrungen, die Dürre hat ihre Äcker verwüstet und die Frauen unfruchtbar gemacht. »Hinsterbend mit den fruchtbergenden Kelchen | Des Lands, hinsterbend mit den Herden | Weidender Rinder und Geburten | fruchtlosen, von den Frauen; und herein | Schwer fuhr der feuertragende, der Gott, und jagt – | Die Pest, die grimmigste – die Stadt, wodurch | Sich leert das Haus des Kadmos und der schwarze | Hades an Wehgeschrei und Grabgesängen reich wird.«34

Die Erlösung der Stadt vom Fluch der Pest erfordert die Erforschung der Vergangenheit des Königs Ödipus. Für den Gräzisten Wolfgang Schadewaldt besteht das »Großartige« dieser Tragödie darin, dass am Beispiel von Ödipus’ Erforschung seiner eigenen Vergangenheit »das Phänomen des ans Licht Kommens« dargestellt werde, so dass der Zuschauer »dem Ereignis der Wahrheit«35 begegne. Dieser Weg der Wahrheit, so Schadewaldt weiter, führe allerdings zur Vernichtung des Ödipus. Indem er sich opfere, befreie er die Stadt von der durch ihn verursachten Befleckung. »Auf dem Wege des eigenen, selbstgewollten Handelns [wird Ödipus, BM] zum Entdecker seiner selbst und zum Enthüller der Wahrheit. Diese vernichtet ihn, doch selbst in der Vernichtung beharrt er bei dem Entschluß, sein Land zu

33 Sophokles: König Ödipus, mit einem Nachwort, drei Aufsätzen, Wirkungsgeschichte und Literaturnachweisen, Übers. Wolfgang Schadewaldt, Frankfurt/Main: Insel 1973, S. 92. 34 Sophokles, König Ödipus, S. 11f. 35 Wolfgang Schadewaldt: »Der König Ödipus des Sophokles in neuer Deutung«, in: Sophokles, König Ödipus, S. 89-99, hier Zit. S. 92. Zu Sophokles vgl. Hans Diller (Hg.): Sophokles, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1986.

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reinigen, indem er sich selbst am Ende der Tragödie, so wie er es dem Mörder angedroht hatte, aus dem Land ausstößt und so, in Einigkeit mit dem Gotte, seine Freiheit beweist.«36

Auch René Girards Opfertheorie, die er in Das Heilige und die Gewalt entfaltet, sieht in Ödipus das »versöhnende Opfer«, auf das die Befleckung der Gemeinschaft abgeleitet und damit neutralisiert werde. »Der Held ist Verursacher von Gewalt und Chaos, solange er unter den Menschen weilt. Sobald er jedoch – immer mit Gewalt – ausgestoßen ist, erscheint er als eine Art Erlöser.«37 Wie die französische Altertumswissenschaftlerin Nicole Loraux bemerkt, kreist diese Interpretation um einen blinden Fleck, der die Figur der Iokaste – Mutter und Ehefrau des Ödipus – verdeckt.38 Es erscheint befremdlich, von Ödipus’ (sozialer) Vernichtung zu sprechen – er stirbt nicht, sondern geht in die Verbannung –, aber von Iokastes Selbstmord zu schweigen. Zumal Schadewaldt die durch Ödipus verkörperte Verunreinigung mit Worten beschreibt, die das Bild des ›verworfenen‹ mütterlichen Körpers aufrufen: »[S]ei es, daß wir die Reinigung, rein physisch, als die Beseitigung von Schmutz, d.h. von Materie am unrechten Ort, verstehen, sei es im medizinischen Sinn als Fortschaffen der inneren Unreinheit der Krankheit oder weiter kultisch, religiös als Entsühnung des Befleckten und Besudelten.«39 Möglicherweise dient die Rede vom »tragischen Opfer des Leidens eines hervorragenden Menschen«40 dazu, den Blick von der Mutter abzulenken, womit der Interpret die Blindheit des Ödipus wiederholen würde, der Iokaste zur Ehefrau nimmt, weil er in ihr die Mutter ›übersieht‹. Nehmen wir also die Blindheit des Ödipus zum Ausgangspunkt, um Aufschluss über die Bedeutung der Mutter in diesem Drama zu gewinnen (und dabei den Vater nicht aus dem Auge zu verlieren). Wieso erkennt Ödipus weder seinen Vater noch seine Mutter? Und wieso verursacht er damit »des Lands Befleckung«?41 Die vordergründige Antwort lautet, weil er sie nicht kennt, da er als Säugling ausgesetzt wurde und bei Adoptiveltern aufwuchs. Eine dem Mythos entsprechende Antwort lautet: Weil ein Fluch auf ihm lastet und er seinem Schicksal nicht entgehen kann. Möglicherweise ›erkennt‹ Ödipus seine Eltern aber auch deshalb

36 Schadewaldt, Deutung, S. 97. 37 René Girard: Das Heilige und die Gewalt, Übers. Elisabeth MainbergerRuh, Frankfurt/Main: Fischer 1999, S. 131. 38 Nicole Loraux: »Iokastes Mal«, in: Luzifer-Amor 6 (1993), S. 95-116. 39 Schadewaldt, Deutung, S. 96. 40 Schadewaldt, Deutung, S. 96. 41 Sophokles, König Ödipus, S. 14.

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nicht, weil er die Gesetze der Elternschaft und der Abstammung nicht kennt. Als Ödipus nach Theben kommt und die Stadt vom Fluch der Sphinx befreit, der die Thebaner in regelmäßigen Abständen einen der Ihren opfern mussten, kommt er als Fremder, dem die Gesetze der Stadt nicht vertraut sind. Eben diese Fremdheit versetzt ihn zunächst in die Lage, das an sich ja sehr einfache, aber für die Thebaner unüberwindbare Rätsel der Sphinx zu lösen, welches lautet: »Ein Zweifüßiges gibt es auf Erden und ein Vierfüßiges mit dem gleichen Wort gerufen und auch dreifüßig. Die Gestalt ändert es allein von allen Lebewesen, die sich auf Erden, in der Luft und im Meere bewegen. Schreitet es, sich auf die meisten Füße stützend, so ist die Schnelle seiner Glieder am geringsten.«42

»Wir sehen Oidipus vor der Sphinx sitzen,« schreibt Karl Kerényi, »und sinnen. Was mag das sein: ›und auch dreifüßig‹? ›Den Menschen hast Du gemeint!‹ – so rief er aus – ›der, da er noch auf der Erde herumkriecht, kaum geboren, zuerst vierfüßig ist, wenn er aber alt wird und mit gekrümmtem Nacken unter der Last des Greisentums zum dritten Fuß den Stock gebraucht, auch dreifüßig!‹ […] So wurde Oidipus zum Weisen – und zugleich zum törichtesten König der Welt.«43 Wenn man weiß, dass die Sphinx eine Gestalt jener grausamen, geflügelten löwenjungfräulichen Muttergottheit ist, die in Mesopotamien als Ischtar oder Inana verehrt wurde, dann könnte man Ödipus’ »Weisheit« als Vertrautheit mit dem Wissen der mutterzentrierten, unalphabetisierten Kulturen interpretieren, in denen der Mensch nicht versuchte, die Erinnerung an seine Sterblichkeit auszulöschen. Ödipus’ Fähigkeit, das Rätsel zu lösen, wäre dann weniger »weise« zu nennen als rückwärtsgewandt. Er hätte die Welt nach einem Denkmuster betrachtet, das weder das Tabu des Vatermords noch das des Inzests kennt. Nun legt Sophokles’ Drama zwar nicht nahe, Ödipus habe gewusst, dass er seine Mutter zur Frau nimmt, denn das Drama setzt erst mit dem Auftreten der Symptome des (noch unerkannten) Inzests ein. Vielmehr deutet die Art und Weise, wie Ödipus im Verlauf der Handlung die Wahrheit des Inzests und des Vatermords vor Augen geführt wird, darauf hin, dass hier ein kultureller Lernprozess vergegenwärtigt wird, der den Sohn mit den Gesetzen des Vaters vertraut macht – auf Kosten der Mutter. Iokastes Tod stellt den Wendepunkt der Tragödie dar – und obwohl Sophokles ihn nicht auf offener Bühne, sondern abgeschirmt im Innern 42 Karl Kerényi: Die Mythologie der Griechen. Die Heroen-Geschichten, München: dtv 1997, S. 83. 43 Kerényi, Mythologie, S. 84.

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des Hauses geschehen lässt, ist das, was der Zuschauer (und Leser) über den Tod der Mutter/Ehefrau erfährt, aufschlussreich. Ein mit Ödipus ins Haus geeilter Diener berichtet der Menge, dass im Ehegemach der Leichnam der Iokaste an einem Strick von der Decke des Schlafzimmers baumele. Der rasende Ödipus, der Iokaste töten wollte, als ihm bewusst wurde, dass sie seine Mutter ist, kommt zu spät: Iokaste hat sich bereits entleibt. »Die Doppeltüren sprang er an, aus den Krampen | Sprengt‹ einwärts er die Riegel und stürzt ins Gemach | In dem wir hangend nun die Frau erblicken, | In das Gestrange eines Schwebebordes eingeschnürt. Er, wie er sie erblickt, fürchterlich brüllend, | Der Arme! löst die aufgehängte Schlinge und, | Wie auf der Erden nun die Unglückselige lag.«44

Der Selbstmord, zumal der hinter der Szene versteckte, ist in der griechischen Tragödie, wie Nicole Loraux in Tragische Weisen eine Frau zu töten gezeigt hat, als weiblicher Tod kodiert. Allerdings lohnt es hier zu differenzieren, zwischen verschiedenen Arten und Orten, den Tod zu wählen. Während der blutige, mit dem Schwert oder Messer verübte Selbstmord die Mutterschaft akzentuiert,45 bekräftigt der im Schlafgemach (thalamos) vollzogene Freitod durch Erhängen den Status der Frau als Ehefrau. Loraux schreibt: »Es steht ihnen zwar immer frei, sich zu töten, jedoch nicht ihrer räumlichen Festsetzung zu entrinnen, und der hinterste Winkel, in dem sie sich den Tod geben, ist auch das Symbol ihres Lebens: eines Lebens, das seinen Sinn außerhalb seiner selbst findet, eines Lebens, das sich nur in den Institutionen – Ehe, Mutterschaft – verwirklicht, die die Frauen mit der Welt und dem Leben der Männer verbinden. […] Wenn schließlich Iokaste und Phaidra ihren Strick an der Decke des Ehegemaches befestigen, lenken sie die Aufmerksamkeit zum symbolischen Gebälk des Hauses. […] In dem Augenblick, da sie ins Leere springt, findet die Frau ein letztes Mal in jedem Punkt des thalamos die abwesende Gegenwart des Mannes wieder.«46

Wenn Iokaste im Sterben die Ehe vollzieht, dann impliziert dies nicht nur, dass sie zu Lebzeiten keine gute Ehefrau gewesen ist, sondern dann impliziert dies auch die (Wieder-)Vereinigung mit dem toten Ehemann 44 Sophokles, König Ödipus, S. 61. 45 Nicole Loraux: Tragische Weisen eine Frau zu töten, Übers. Eva Moldenhauer, Frankfurt/Main: Campus 1993, S. 35. 46 Loraux, Tragische Weisen, S. 44f.

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und Vater ihres Sohnes Ödipus. Mit dem Freitod nimmt Sophokles der »Doppelgestalt«47 Iokaste – sowohl Ehefrau des Vaters als auch des Sohnes, zugleich Mutter und Ehefrau, sowohl Ursprung als auch ›Ziel‹ des Mannes – ihre Ambiguität und überführt sie in die Eindeutigkeit des väterlichen Gesetzes. Dabei wird durchaus ihre Identität als Mutter berührt. Der Tod durch Erhängen setzt an der Kehle an, einem Körperteil, das nicht nur der Ort der Sprache und der Stimme ist, sondern auch symbolisch auf die Gebärmutter verweist, die in den medizinischen Schriften der Antike als ein unruhig wanderndes Organ gedacht wird, dass junge Frauen in den Erstickungstod führen kann. Die Kehle ist in der griechischen Tragödie, so schreibt Loraux, »der wunde Punkt der Frauen«,48 von dort aus dringt der Tod in den Körper. Iokaste, auf die Rolle der Mutter und Ehefrau festgenagelt, wird physisch und symbolisch zum Schweigen gebracht. Die Tatsache, dass Iokastes Tod als Verstummen inszeniert wird, lässt ihren Freitod als eine Disziplinierung der Mündlichkeit im Namen des väterlichen Buchstabens erscheinen. In der Art und Weise, wie Iokaste ums Leben kommt – Loraux sagt, ums Leben gebracht wird49 –, wird das im Beta aufgehobene Verstummen des mütterlichen Körpers dargestellt. In der Tat wird Iokastes inzestuöse Gebärmutter im Verlauf der Handlung mit dem väterlichen Gesetz buchstäblich ›überschrieben‹, worauf nicht zuletzt die wiederholten Analogien zum Ackerbau hinweisen. Es ist zunächst der Chor, der den mütterlichen Körper dem Gesetz des Vaters unterstellt und der den Inzest als Verbrechen gegen das väterliche Vorrecht definiert. Noch bevor Ödipus den Leichnam seiner Mutter/Ehefrau findet, belehrt ihn und uns der Chor: »Wie konnten nur, wie konnten nur | die Furchen, in die der Vater gesät, | Dich tragen, Armer, schweigend, | so weit!«50 Als Ackerfurche ist das Leibesinnere der Mutter nichts weiter als ein passiver Grund, der die Fruchtbarkeit des väterlichen Samens weiterträgt. In diesem Sinne beschreibt der kurz darauf folgende Bericht des Dieners Iokastes toten Körper als »doppelt mütterlich Saatfeld«.51 Auch Ödipus begreift den Inzest in der Metaphorik des Ackerbaus, wenn er davon spricht, dass er »Vater dort ward, wo man selber mich hineingepflügt« und er »die Gebärerin | bepflügt, in die er selber ward gesät«.52 In dieser Sichtweise gilt der Vater nicht nur als Ur47 48 49 50 51 52

Loraux, Iokastes Mal. Loraux, Tragische Weisen, S. 84. Loraux, Iokastes Mal. Sophokles, König Ödipus, S. 58. Sophokles, König Ödipus, S. 61. Sophokles, König Ödipus, S. 68.

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heber der Nachkommen, er hinterlässt zugleich eine unvergängliche Spur in der ›Furche‹ der weiblichen Gebärmutter.53 Die Metaphorik des Pflügens und des Ackerbaus trägt nicht nur einer auf den Ackerbau angewiesenen Kultur Rechnung, sie stellt auch eine Analogie zur linearen alphabetischen Schrift her, in der der erste Buchstabe – wie bereits erwähnt – den Pflug ziehenden Ochsen symbolisiert. Auch verglichen die Griechen das Schreiben mit dem Pflügen eines Ackers, auf dem der Pflug Furche um Furche zieht. Als Sinnbild für menschliche Fortpflanzung und Sexualität ist die Analogie zum Ackerbau natürlich weit älter als die Erfindung des Alphabets. So findet sich der Vergleich zwischen dem Pflügen des Ackers und der Fruchtbarmachung des weiblichen Schoßes schon in mesopotamischen Gedichten aus dem 2. vorchristlichen Jahrtausend, die die Fruchtbarkeit der Muttergöttin Ischtar-Inana besingen. Der Historiker Volkert Haas schreibt: »Inana bereitet sich auf den Beischlaf mit ihrem Geliebten Dumuzi vor: Sie vergleicht ihre Vulva mit einem brachliegenden Acker und einem Hügel, und sie fragt, wer sie wohl pflügen wird. Darauf folgt Dumuzis Antwort, daß er, der König Dumuzi, ihr Pflüger sei; woraufhin Inana ihn auffordert, nicht länger zu zögern.«54

Der Gesang, mit dem die Göttin sich selbst beschreibt, lautet: »›Sie ist ein hügeliges Land in der Ebene […] /sie ist ein Feld […] /Sie ist ein hohes Feld […] meine Vulva ist ein […] Hügel, /ich bin das Mädchen – wer wird ihr Pflüger sein? /Ich die Königin, wer wird den (Pflug)Ochsen dort hinstellen?‹ Dumuzis Antwort lautet: ›Herrin, der König wird dich pflügen /Dumuzi, der König, wird dich pflügen‹, und Inana entgegnet: ›Pflüge meine Vulva, mein Geliebter‹.«55

An keiner Stelle wird in diesen älteren Überlieferungen, die sich nicht des Alphabets bedienen, der männliche Geliebte als Vater beschrieben, der im Schoß der Frau seine unvergängliche Spur hinterlässt. Ganz im Gegenteil, der Mythos erzählt von der zyklischen Zeit und der – später von den Griechen als Inzest bezeichneten – Rückkehr des Mannes in den Schoß der Mutter. Dumuzi muss eine Hälfte des Jahres an Inanas Stelle im Reich der Toten verbringen, bevor er im Frühling wieder auf die Erde 53 Vgl. Loraux, Iokastes Mal, S. 111. 54 Volkert Haas: Babylonischer Liebesgarten. Erotik und Sexualität im Alten Orient, München: Beck 1999, S. 45. 55 Zit. Haas, Liebesgarten, S. 45.

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zurückkehrt.56 Dem in König Ödipus geäußerten Gedanken, der Vater präge im Akt der Zeugung der Mutter seine Spur ein, liegt die Vorstellung der Gebärmutter als passiver Schreibtafel zugrunde.57 Der Logik des Alphabets als symbolischem Medium der Reproduktion folgend ist Zeugung Einschreibung. Loraux, die den König Ödipus von Iokastes Tod her aufgerollt hat, hat darin den eigentlichen Sinn der Tragödie gesehen: »Es ist die Mutter, die den Vater macht. Daß es dringlich sei, dieses Gesetz umzukehren und dem zutiefst Innern des weiblichen Körpers die Furche des Vaters einzuzeichnen, dies ist der griechische und vaterrechtliche, staatsbürgerliche Imperativ, dem die Ältesten Thebens sich unterwarfen.«58 Und da die Spur der väterlichen Schrift nicht verlöscht, kann die Gebärmutter auch als Metapher für das Gedächtnis der Gemeinschaft fungieren. Es ist deshalb nicht überraschend, dass die Athener ab dem 4. Jahrhundert v. Chr. ihr Staatsarchiv im Tempel der Mutter, dem so genannten »Metroon«, auf der Agora unterbringen, um auf diese Weise das Gedächtnis des Gemeinwesens vor der Auslöschung zu schützen. »Denn wenn in einer Mutter,« so Nicole Loraux, »die väterliche Inschrift ein zwangsläufig unauslöschliches Gedächtnis ist, so bedeutet die Tatsache, öffentliche Urkunden im Metroon unterzubringen […] jede Schändung mit einem religiösen Verbot zu belegen.«59 Aus dieser Perspektive betrachtet, wird nun auch verständlich, weshalb der Inzest – mehr noch als der Vatermord – für die Griechen ein Verbrechen jenseits des Sagbaren darstellte. Ödipus, der »des Unsagbaren Unsagbares vollbracht«,60 gelangt zwar angesichts des Leichnams der Mutter dazu, sich als Vatermörder zu bezeichnen, aber für den Inzest steht ihm kein Wort zur Verfügung. Der Diener berichtet: »Er schreit: auftun soll man die Riegel und offenbaren | Vor allen den Kadmeern den Vatermörder, | Der Mutter […] – nennt unheilige Dinge und | Nicht auszusprechen mir!«61 Unsagbar ist der Inzest mit der Mutter deshalb, weil er die auf dem väterlichen Buchstaben aufruhende Ordnung aufzulösen droht. Im Inzest mit der Mutter ›vergisst‹ der Sohn das Gesetz des Vaters oder umgekehrt, im Verkehr des Sohnes mit der Mutter wird die väterliche Einschreibung in der Mutter zum Schweigen gebracht. »Wie konnten nur, wie konnten nur,« fragt

56 Haas, Liebesgarten, S. 34-37. 57 Andere Tragödien sind in dieser Hinsicht expliziter. In Die Schutzflehenden wird die Matrix ausdrücklich als Gussform bezeichnet, vgl. Loraux, Tragische Weisen, S. 78-85. 58 Loraux, Iokastes Mal, S. 112. 59 Loraux, Tragische Weisen, S. 86. 60 Sophokles, König Ödipus, S. 21. 61 Sophokles, König Ödipus, S. 62.

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der Chor, »Die Furchen, die der Vater gesät, | Dich tragen, Armer, schweigend | so weit?«62 Zu einem Ende gebracht wird die inzestuöse ›Unordnung‹ im König Ödipus durch die Entleibung der Mutter. Um das Gesetz des Vaters wieder aufzurichten bedarf es jedoch noch einer weiteren Tat: der Blendung des Sohnes. Wobei der Leichnam der Mutter die Waffe zur Verfügung stellt, mit der der Sohn sich das Augenlicht nimmt. Der Diener berichtet die Tat mit folgenden Worten: »Doch furchtbar war, was danach kam zu sehen! | Denn abreißend vom Kleid die goldgetriebenen, | Die Nadeln ihr, mit denen es war hergerichtet, | Erhob und schlug er sie in die Gelenke | der eignen Augenkreise und schrie so ungefähr: | Es sei, daß sie nicht sehen sollten, | die er erlitten noch die er getan die Übel, | Sondern im Dunkel sollten fortan die sie sehen, | Die sie nicht sehen gedurft, und jene, die | Sie sehen gesollt auch weiterhin verkennen! Mit solcherlei Begleitgesängen, oft nicht einmal, | Stieß, ausholend, er in die Lider, und die blut’gen Augäpfel überströmten ihm zugleich die Wangen | Und ließen nicht heraufquellen des schnell | Geronnenen Blutes zähe Tropfen, sondern | Zusammen schwarz ein Schloßenregen Blutes strömte.«63

Die weiblichen Waffen,64 mit denen Ödipus sich selbst bestraft, scheinen darauf hinzudeuten, dass das Verbrechen, auf das sich diese Strafe bezieht, in erster Linie mit der Mutter und dem Inzest zu tun hat. Zugeeignet ist die Strafe jedoch dem Vater. Weil der Sohn gesehen hat, was man nicht sehen darf – den Ursprung des Mannes im Körper der Frau/Mutter – nimmt er sich das Augenlicht und verschließt damit nicht nur die Augen vor der weiblichen Generativität, sondern wird auch sehend für den unsichtbaren Vorrang des väterlichen Gesetzes vor dem mütterlichen Körper. Tatsächlich ist Ödipus erst nach seiner Blendung in der Lage, Theben als »väterliche Stadt«65 zu benennen und die Reihenfolge seiner Verbrechen in der richtigen Reihenfolge – erst der Vater, dann die Mutter – aufzuzählen. »Als ob,« so Loraux, »Ödipus durch seine Blendung zum Vater […] zurückgefunden hat.«66 Mehrfach bringt Ödipus vor Iokastes Selbstmord und seiner Blendung die Reihenfolge der Verbrechen durcheinander. Den Spruch des Orakels wiedergebend sagt er: »[…] daß ich der Mutter mich vermischen 62 63 64 65 66

Sophokles, König Ödipus, S. 58. Sophokles, König Ödipus, S. 61. Loraux, Iokastes Mal, S. 99. Sophokles, König Ödipus, S. 67. Loraux, Iokastes Mal, S. 106.

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müßte | […] und | Mörder dessen sein, welcher mich gepflanzt, des Vaters.«67 Als er begreift, dass Laios und Iokaste seine Eltern sind, ruft er aus: »[E]ntstammt, von wem | Ich nicht gesollt – mit wem ich nicht gesollt, | Zusammenlebe – und wen ich nicht gedurft, erschlug!«68 Die Umkehrung der Reihenfolge kann man als symbolische Rückkehr zur Mutter begreifen; als die Artikulation eines Denkmusters, das der Mündlichkeit entstammt und den Vorrang des symbolischen Vaters nicht kennt, weil es ihn nicht ›sieht‹. Ganz Theben scheint von der ›Unordnung‹ der Mündlichkeit affiziert, denn auch der blinde Seher Teiresias, der ja die Gabe besitzt, unsichtbare Realitäten wahrzunehmen, nennt, als er Ödipus die Wahrheit verkündet, zuerst den Inzest, dann den Vatermord: »Es wird zu Tage treten: mit den eignen Kindern | Lebt er zusammen, der gleiche Mann: | Bruder und Vater, von dem Weib, | Dem er entsprossen, Sohn und Gatte, und des Vaters | Ehegenoß und Mörder!«69 Erst nach der Blendung wird die elterliche Abfolge zurecht gerückt; der klagende Ödipus, der wünscht, er hätte als Kleinkind nicht überlebt, weiß: »Nicht wär ich dann des Vaters Mörder | Geworden noch auch der Hochzeiter | Derer genannt des Sterblichen, von der | Ich stamme.«70 Und zu seinen Kindern spricht er am Ende der Tragödie: »Erschlagen hat den Vater euer Vater, die Gebärerin | Bepflügt, in die er selber ward gesät.«71 Man kann die Blendung des Ödipus als Ausdruck dafür interpretieren, dass der Sohn das Vorrecht des väterlichen Gesetzes anerkennt, indem er ›blind‹ für die Mutter wird. »Und mit einem Schlag erscheint der Mord am Vater wie ein Schirm, der das mit der Mutter geteilte Sexualleben sowohl sichtbar macht wie verschleiert.«72 Ödipus’ Blendung kann als ein Akt verstanden werden, der die Lossagung vom mütterlichen Körper – dem Ursprung des Mannes, der Ambiguität und der Drohung der ewigen Wiederkehr – vollzieht und damit den Bund mit dem Vater bekräftigt. Loraux hat die These vertreten, die (späte) Erkenntnis des Primats des Vatermords diene dazu, die Wahrheit des Inzests auszusprechen und zu verdrängen. Die blinden Augen des Ödipus würden damit eine ähnliche zeichenhafte Funktion erfüllen, wie die Beschneidung im Judentum. Julia Kristeva hat vorgeschlagen, die Blendung des Ödipus (im Gegensatz zu Freud73) nicht so sehr als Kastrationsersatz – d.h. als väter67 68 69 70 71 72 73

Sophokles, König Ödipus, S. 41. Sophokles, König Ödipus, S. 57. Sophokles, König Ödipus, S. 27. Sophokles, König Ödipus, S. 64. Sophokles, König Ödipus, S. 68. Loraux, Iokastes Mal, S. 107. Sigmund Freud: Abriss der Psychoanalyse, Frankfurt/Main: Fischer 1977, S. 47, Fn. 1: »Die Kastration fehlt auch in der Ödipus-Sage nicht, denn die

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liche Drohung –, sondern als Aufrichtung eines symbolischen Schutzwalls zu interpretieren. »Die Blendung ist ein Bild der Teilung. Sie markiert, auf dem nämlichen Körper, die Veränderung des Selbst – die Narbe besetzt den Platz der offenbarten und unsichtbaren Verwerfung. Einer als unsichtbar gedachten Verwerfung. Im Gegenzug könne der Stadtstaat und das Wissen überleben.«74 Zugleich vergegenwärtigt Ödipus damit an seinem eigenen Körper die im Buchstaben Alpha aufgehobene symbolische Kastration. Die Blendung erlaubt ihm den Eintritt in eine symbolische Ordnung, in der das unsichtbare Gesetz des väterlichen Buchstabens gilt. Eben diese Wiedereinsetzung des Gesetzes, hinter dem sich die unveränderlichen und unvergänglichen Buchstaben des Alphabets verbergen, fordert der Chor bereits im zweiten Akt. »Oh wäre mit mir Moira, daß ich trüge | Die heilige Reinheit in Worten und Werken allen, | Darüber Gesetze bestehen, hochwandelnde, | Im himmlischen Äther geborene, denen der Olympos | Vater allein ist, und nicht hat sie | Die sterbliche Natur von Menschen | Hervorgebracht und nicht, daß jemals | Vergessen sie einschläfert. Groß ist | In ihnen Gott und altert nicht.«75

Die Blendung, die Ödipus von der Existenz des Mütterlichen abschirmt, versetzt ihn in die Lage, als Subjekt zu überleben: »Daß ich durch sie, die mich vernichten wollten, sterbe! | Doch freilich, soviel weiß ich: weder Krankheit | Noch irgend anderes wird mich zerstören.«76 Der Preis für diese ›Einsicht‹ ist der stumme, unsichtbare und unbetrauerte Tod der Mutter. In den Worten des Chores: »Nicht mehr zum unantastbaren | Geh ich: der Erde Nabel, anbetend.«77 Deutlich wird aber auch: Die größte Bedrohung für die männliche Subjektivität geht nicht von der symbolischen Kastration aus, sondern von einem Ort, an dem die Kastration keine Bedeutung besitzt. Die von Laura Mulvey betonte Wirkung des Mainstream-Kinos, die Kastrationsdrohung durch die Fetischisierung der Frau zu mindern, steht deshalb nicht im Widerspruch zu Theorien, die die Mütterlichkeit des Kinos betonen. »Das männliche Unbewußte hat zwei Möglichkeiten, dieser Kastrationsangst zu entkommen: es kann entweder das Trauma erneut durchleben (die Frau untersuchen, ihr Geheimnis

74 75 76 77

Blendung, durch die sich Ödipus nach der Aufdeckung seines Verbrechens bestraft, ist nach dem Zeugnis der Träume ein symbolischer Ersatz der Kastration.« Kristeva, Powers of Horror, S. 84. Sophokles, König Ödipus, S. 43. Sophokles, König Ödipus, S. 67. Sophokles, König Ödipus, S. 44.

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entmystifizieren) […] oder die Kastration ignorieren, indem es ein Fetischobjekt einsetzt bzw. die repräsentierte Figur selbst in einen Fetisch umwandelt.«78 Welche dieser Strategien die Kultur auch verfolgt, die Macht der symbolischen Kastration, die das Subjekt vor dem Rückfall in die mütterliche Ordnung bewahrt, wird damit nicht außer Kraft gesetzt.

78 Laura Mulvey: »Visuelle Lust und narratives Kino«, in: Liliane Weissberg (Hg.): Weiblichkeit als Maskerade, Frankfurt/Main: Fischer 1994, S. 4865, hier Zit. S. 58.

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