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German Pages 348 Year 2014
Annabelle Hornung Queere Ritter
Lettre
Annabelle Hornung ist Veranstaltungsmanagerin zum 100-jährigen Jubiläum der Goethe-Universität Frankfurt am Main und Co-Kuratorin der Ausstellung »Do It Yourself: Die Mitmach-Revolution«. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Queer und Gender Studies, Mediävistik, DIY, Museum und Web 2.0 sowie Medien und Geschlecht.
Annabelle Hornung
Queere Ritter Geschlecht und Begehren in den Gralsromanen des Mittelalters
Diese Arbeit wurde als Dissertation unter dem Titel »von dem grâl daz wilde mære (›Crône‹, v. 29757) – Geschlechterverhältnisse und Begehrensstrukturen in der Sphäre des Grals« am 12. Juli 2010 an der Universität Kassel (Kassel/ Witzenhausen) im Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften abgelegt.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 transcript Verlag, Bielefeld
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Inhalt
Einführung | 9 1. Fragestellung und Methode | 9 1.1 Die Gralsromane | 12 1.2 Methodische Perspektiven | 16 1.2.1 Begehren, Geschlecht und Identität | 20 1.2.2 Queer Reading der Gralsromane | 30 I.
2. The Da Vinci Code – ein zeitgenössischer Gralsroman | 36 2.1 Gralssucher werden | 36 2.2 Die Gralssuche | 41 2.3 Andere Gralssucher | 52 2.4 Die Gralsgesellschaft | 62 Die mittelalterlichen Gralsromane | 71 1. Gralssucher werden | 72 1.1 Entwicklung zum Gralssucher im Parzival | 72 1.1.1 Herzeloydes tüttelîn und Parzivals visellîn | 72 1.1.2 Der androgyne Parzival und die Frauen | 83 1.1.2.1 Herzeloyde | 84 1.1.2.2 Jeschute | 87 1.1.2.3 Gurnemanz ތDienerinnen | 90 1.1.2.4 Condwiramurs | 94 1.2 Der gescheiterte Gralssucher des Prosa-Lancelot | 96 1.2.1 Lancelots großes Herz | 96 1.2.2 Lancelots hitziges Fleisch | 111 II.
2. Die Gralssuche | 130 2.1 Die queere Gralssphäre des Parzival | 130 2.1.1 Das Versagen des Gralssuchers | 130 2.1.2 Die Entmannung in der Gralssphäre | 142 2.1.3 Die Enthaltsamkeit in der Gralssphäre | 152 2.2 Der Gral als höchstes Abenteuer in der Crône | 156 2.2.1 Der Auftrag für die Suche | 156 2.2.2 Die erste Wunderkette | 160 2.2.3 Die zweite Wunderkette | 169 2.2.4 Die dritte Wunderkette | 173 2.2.5 Die Männlichkeit des Helden | 175
2.3 Der beste Ritter der Welt im Prosa-Lancelot | 182 2.3.1 Die Zeugung des perfekten Ritters | 182 2.3.2 Galaad wird Artusritter | 197 2.3.3 Die Ablösung der weltlichen durch die geistliche Ritterschaft | 201 3. Andere Gralssucher | 210 3.1 Die Stationen eines schwierigen Weges im Parzival | 210 3.1.1 Die hilfreiche Cousine | 210 3.1.2 Der begehrende Liebhaber | 219 3.2 Die Unterstützung für die Heldenmaschine in der Crône | 238 3.2.1 Der magische Mentor | 238 3.2.2 Die weiblichen Helferfiguren | 248 3.3 Die Begleiter des perfekten Ritters im Prosa-Lancelot | 252 3.3.1 Der keusche Gefährte | 253 3.3.2 Der verführte Gefährte | 262 3.3.3 Das jungfräuliche Opfer | 264 4. Die Gralsgesellschaft | 271 4.1 Die Schatten auf der Utopie im Parzival | 271 4.2 Die Auflösung ins Nichts in der Crône | 277 4.3 Die Entrückung in den Orient im Prosa-Lancelot | 285 4.4 Die Geschlechter- und Begehrensstrukturen | 290 Theorie des Grals | 297 1. Der Gral, das queere dinc | 298 2. Der Gral, das psychoanalytische dinc | 307 3. Der Gral, das epistemische dinc | 309 4. Der Gral, das poetologische dinc | 312 III.
IV.
Literaturverzeichnis | 317
V.
Abbildungsverzeichnis | 339
Dank
Die vorliegende Arbeit ist zu einem großen Teil im Rahmen des DFG-Graduiertenkollegs „Öffentlichkeiten und Geschlechterverhältnisse. Dimension von Erfahrung“ der Universitäten Kassel und Frankfurt entstanden. Aus diesem Grund möchte ich mich bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft für deren Förderung und zudem bei allen Professor_innen und Kollegiat_innen des Graduiertenkollegs für lehr- sowie diskussionsreiche drei Jahre bedanken. Mein Dank gilt zudem Prof. Dr. Claudia Brinker-von der Heyde für ihren fachlichen Rat und ihre beständige Unterstützung. Außerdem bedanke ich mich bei Prof. Dr. Andreas Kraß, der in mir die Leidenschaft zur kritischen Heteronormativitätsforschung geweckt hat und dessen Ansporn es zu verdanken ist, dass die Arbeit schließlich doch ein Ende gefunden hat. Ich danke ebenfalls und ganz besonders herzlich Dr. Isabelle Stauffer für das Lektorat und die fachlichen Anreize. Ebenso sehr danke ich Nadja Erb, Katrin Petersen und Ronja Ketterer für die Korrekturen und Anregungen sowie die immerwährende Unterstützung und Aufmunterung. Schließlich bleiben die Menschen, ohne die ich die Doktorarbeit niemals geschafft hätte, weil sie in den vergangenen Jahren mein Halt und meine Stütze gewesen sind. Ich danke Annegret Hornung und Detlev Schollmeyer, Prof. Dr. h.c. Karlheinz Hornung, Karin Wilhelm, Leander Hornung und Frank Löbig. Dank gilt am Ende auch meiner Großmutter Ottilie Witte. Ihr und meiner Mutter sei dieses Buch gewidmet.
I. Einführung
1. F RAGESTELLUNG UND M ETHODE Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit der Analyse von Geschlechterverhältnissen und Begehrensstrukturen in vier verschiedenen Gralsromanen. In diesen Texten, die die Geschichte der Suche nach dem Gral erzählen sowie von seiner Beschaffenheit, seinen Strukturen und Funktionen berichten, werden sowohl Geschlecht als auch Begehren auf besondere Art und Weise verhandelt. Dies liegt an dem Gral selbst, von dem Wolfram von Eschenbach in seinem Parzival sagt: daz was ein dinc, daz hiez der Grâl (v. 235, 23).1 Seit seinem ersten Auftauchen in der Literatur des Mittelalters wurde seine Geschichte immer wieder neu erzählt, interpretiert und rezipiert. Auf diese Weise änderten sich die Vorstellungen, die man sich von der Beschaffenheit, Herkunft und Wirkung des Grals machte: „In its various manifestations through the ages, the Grail embodied in many different objects, a bowl, a cup, a goblet, a platter, a reliquary holds the Eucharist, a dish with a severed head, a stone. It may be associated, in different versions, with a Lance or a Spear, with a sword, with a carving dish, with silver knives; it may appear floating in the air, sliding down a beam of light, carried by maiden, a youth, or angels; it is guarded variously by maidens, wounded kings, and Knights Templar. It has the power to provide inexhaustible nourishment and to serve the food and the drink one most desires. Though it is frequently veiled or covered, or hidden in light, it irradiates and beautifies its beholders. It can heal wounds and even confer immortality; yet it also has been associated with blight, destruction, and the Waste Land.“2
1
Zitierte Ausgabe: Wolfram von Eschenbach: Parzival. Mittelhochdeutscher Text nach der sechsten Ausgabe von Karl Lachmann. Übersetzung Peter Knecht. Mit Einführungen zum Text der Lachmannschen Ausgabe und in die Probleme der ‚Parzival‘-Interpretation von Bernd Schirok. Berlin/New York 2003.
2
Mahoney, Dhira B.: „Introduction and Comparative Table of Medieval Texts.“ In: Dies. (Hg.): The Grail. A Casebook. New York/London 2000, S. 1-102, hier: S. 1. Vgl. die fol-
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Es gab niemals nur eine Version des Grals.3 Aufgrund seiner semantischen Offenheit ist er bis heute ein populäres Motiv für Geschichten jeglicher Art. Ein aktuelles Beispiel bietet Dan Browns Roman The Da Vinci Code (2003, deutscher Titel: Sakrileg), der eine ganz eigene Version der abenteuerlichen Suche nach dem Geheimnis des Grals erzählt.4 Das Buch wurde schon kurz nach seinem Erscheinen aufgrund mangelnder literarischer Qualität sowohl in den Medien als auch von der Wissenschaft heftig kritisiert:5 „‚Shame on you!‘ rumpelte Salman Rushdie vor einiger Zeit noch in das Mikrophon eines amerikanischen Hörsaals und meinte damit Dan Browns Leser, weil er das Sakrileg für so schlecht hielt, dass schlechte Bücher dagegen gut wirken.“6 Trotz dieser Kritik entwickelte sich The Da Vinci Code mit seinen 45 Millionen verkauften Exemplaren zu einem Bestseller. Die Beliebtheit des Romans beweist die Faszination, die der Gral bis heute auf Autor_innen wie Leser_innen ausübt. Die alte Geschichte des Grals hat wieder Konjunktur.7
gende Zusammenfassung: Barber, Richard: Der Heilige Gral. Geschichte und Mythos. Aus dem Englischen von Harald Ehrhardt. Düsseldorf/Zürich 2004. 3
Vgl. Mahoney (2000), S. 2.
4
Zitierte Ausgabe: Brown, Dan: Sakrileg. Aus dem Amerikanischen von Piet van Poll. Bergisch Gladbach 2004. Im Folgenden wird zwar aus der deutschen Ausgabe zitiert, jedoch der englische Titel The Da Vinci Code verwendet.
5
Vgl. Suchsland, Rüdiger: „Krude und keusch. Visualisierte Legende von Cannes eröffnet mit Ron Howards ‚The Da Vinci Code – Sakrileg‘“, Frankfurter Allgemeine Zeitung (18.05.2006).
6
Enke, Julia: „Da Vinci Code. Alle sind erleuchtet.“ In: FAZ.net-Feuilleton (17.05.2005), www.faz.net (Stand: 26.01.2010). Auch John B. Marino untersucht in The Grail Legend in Modern Literature moderne Gralsversionen. Er geht in seiner Analyse mit nur einem Satz auf Dan Brown ein und spricht eher abfällig über den literarischen Gehalt: vgl. Marino, John B.: The Grail Legend in Modern Literature. Cambridge 2004, S. 137.
7
Das große Interesse am Gral in Deutschland manifestierte sich auch in den Titelstories großer Magazine: Festenberg, Nikolaus von et al.: „Mythos Heiliger Gral. Die Legende um Jesus Christus, Maria Magdalena und Tempelritter.“ In: Spiegel Nr. 52/20.12.2004, S. 134-147; Thiede, Roger: „Der Heilige Gral. Der Kult. Die Bestseller.“ In: Focus Nr. 16/15.04.2006, S. 110-120; Dan Brown stützt sich u.a. auf: Lincoln, Henry et al.: Der heilige Gral und seine Erben. Ursprung und Gegenwart seines geheimen Ordens. Sein Wissen und seine Macht. Originalausgabe Bergisch Gladbach 1984, Neuauflage 2004. Folgende Bücher versuchen den Da Vinci Code zu entschlüsseln: Hillefeld, Marc: Ein Code wird geknackt: Dan Browns Roman Sakrileg entschlüsselt. Erw. Neuauflage. Köln 2006. Diederich, Georg (Hg.): Templer, Gral, Maria Magdalena: Fiktion und Fakten in Dan Browns Sakrileg. Schwerin 2005; Bock, Darrell L.: Breaking the Da Vinci Code. An-
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Was aber fasziniert ausgerechnet an dieser Gralsversion? Die Antwort scheint in Browns Auflösung des Gralsgeheimnisses zu liegen. In seiner Lesart ist der Gral eine Frau. Wenn der Gral bei Dan Brown symbolisch für den weiblichen Körper steht, so ist dies ein willkommener Anlass nachzuforschen, wie die mittelalterlichen Versionen der Gralsgeschichte mit dem Thema Geschlecht und Begehren umgehen. Dabei stellen sich folgende Fragen: Wie wird das Verhältnis der beiden Geschlechter im jeweiligen Text geschildert, und was bedeutet das für den Gral selbst? Wie beeinflusst der Gral je nach Beschaffenheit die Darstellung und Inszenierung von Geschlecht? In welcher Verbindung zum Geschlecht steht die Kategorie des Begehrens? Welche Begehrenskonstellationen werden in der Gralsthematik vorgeführt, und was bedeutet das im Umkehrschluss für die Identitätsbildung der Geschlechter, wenn man davon ausgeht, dass die Trias biologisches Geschlecht, soziales Geschlecht und Begehren8 diese herstellt? Wie ist das so genannte Gralsgeschlecht, das sich als Gesellschaft rund um den Gral definiert, aufgebaut? Welche Rolle spielen in der Gesellschaft die weiblichen Mitglieder, welche die männlichen? Was stößt den (meist) männlichen Gralssuchern zu, während sie die traditionellen Begehrensökonomien am Hof verlassen und sich auf die Suche nach dem Gral begeben? Was passiert, wenn sich das einzige Begehren der Gralsritter nicht auf Frauen, sondern ausschließlich auf einen Gegenstand, nämlich den Gral, richtet oder wenn sie ihr Begehren aufgeben, um für den Gral würdig zu sein? Und was bedeutet es für die Geschlechterverhältnisse, wenn der Gral im Da Vinci Code kein Gegenstand, sondern eine (weibliche) Person ist?9 Die vorliegende Arbeit soll nicht eine wissenschaftliche Gralssuche in dem Sinne werden, dass an ihrem Ende der Gral gefunden, sein Geheimnis gelöst und seine ‚wahre‘ Gestalt enthüllt wird. Diese Suche soll vielmehr darauf abzielen, wie der Gral im Zusammenhang mit den Kategorien des Geschlechts und Begehrens zu verstehen ist: „‚Wer ist der Gral? – Das sagt man nicht.‘ So heißt es in Richard Wagners Parsifal. […] Was ist der Gral? Der heutige Gralsucher ist weniger unwissend als Parsifal, aber auch der moder-
swers to the Questions everyone is asking. Nashville, Tenn. 2004; Burstein, Dan (Hg.): Secrets of the Code: The unauthorized Guide to the Mysteries behind the Da Vinci Code. London 2004; Lunn, Martin: Da Vinci Code Decoded. New York 2004. 8
Zur Trias von anatomischem Geschlecht (sex), sozialem Geschlecht (gender) und Begehren vgl.: Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter. Aus dem Amerikanischen von Katharina Menke, Frankfurt am Main 1991 (Originalausgabe: Gender Trouble. New York 1990).
9
Vgl. Brown (2004), S. 332ff.
12 | EINFÜHRUNG ne Forscher kann keine eindeutige Antwort geben. […] Wie ist der Gral? So sollte die Frage besser lauten.“10
1.1 Die Gralsromane Bei Dan Brown ist der Gral eine Frau (Da Vinci Code, S. 332). Die Lesart als Kelch des Abendmahls11 rührt nach Brown daher, dass das Gefäß in seiner Form dem weiblichen Uterus gleiche (S. 327), verschleiere aber zugleich, dass es sich um einen ganz bestimmten Schoß handle: den Schoß Maria Magdalenas. Jesus und Maria Magdalena hätten zusammen eine Familie gegründet, und diese „Gralsdynastie“ bzw. dieses königliche Geblüt existiere bis heute (vgl. S. 342ff.). Die Deutung des Grals als Symbol für den weiblichen Unterleib ist nicht neu.12 Sie hat, wie die meisten Lesarten rund um die Gralsidee, ihren Ursprung bereits im Mittelalter. In dieser Arbeit soll Dan Browns Roman unter dem Gesichtspunkt der Geschlechterverhältnisse und Begehrensstrukturen mit den mittelalterlichen Gralsromanen verglichen werden. Aus der Fülle der mittelalterlichen Gralsdichtungen13 sollen drei mittelhochdeutsche Texte ins Zentrum gestellt werden, die besonders prägnant für spätere Gralsvorstellungen sind und in denen Geschlecht und Begehren in je verschiedener Weise inszeniert werden: Wolframs von Eschenbach Parzival, Heinrichs von dem Türlin Diu Crône sowie der Prosa-Lancelot.14
10 Mertens, Volker: Der Gral. Mythos und Literatur, Stuttgart 2003, S. 9f. Zum Überblick über den Gral, die Texte zu diesem und diverse Herkunftstheorien, vgl. Mahoney (2000). 11 Vgl. zu dieser Lesart des Grals den altfranzösischen Gralsroman von Robert de Boron: Robert de Boron: Le Roman du Saint-Graal. Übersetzt und eingeleitet von Monica Schöler-Beinhauer. In: Klassische Texte des Romanischen Mittelalters, Bd. 18. München 1981. 12 Zur Lesart des Grals als fruchtbares (weibliches) Gefäß vgl. Mahoney (2000), S. 8ff. 13 Einen Überblick über andere mittelalterliche Gralsromane geben Mertens (2003), Mahoney (2000), Marino (2004). 14 Zitierte Ausgabe: Heinrich von dem Türlin: Diu Crône. Herausgegeben. von Gottlob Heinrich Scholl. Stuttgart 1982. Zu den drei Gralsromanen vgl.: Mertens, Volker: Der deutsche Artusroman. Stuttgart 1998; ders. (2003). Vgl. auch Schmid, Elisabeth: „Wolfram von Eschenbach: Parzival.“ In: Brunner, Horst: Mittelhochdeutsche Romane und Heldenepen. Stuttgart 1994, S. 173-195; Wyss, Ulrich: Heinrich von dem Türlin: Diu Crône.“ In: Brunner (1994), S. 271-292; Speckenbach, Klaus: „Prosa-Lancelot.“ In: Brunner (1994), S. 326-351. Noch immer wegweisend für die Analyse der Verwandtschaftsstrukturen in den Gralsromanen sowie deren jeweiliger Ausformung im Wechselspiel mit dem Gral: Schmid, Elisabeth: Familiengeschichten und Heilsmythologie. Die
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Mit seinem Parzival hat Wolfram von Eschenbach den wohl bedeutendsten Gralsroman des Mittelalters geschaffen und nicht nur bezüglich der Gralsdarstellung besondere Wege beschritten. Die Handlung orientiert sich in weiten Teilen an Chrétiens Perceval-Roman.15 Wolfram selbst nennt jedoch als Hauptquelle eine gewissen Kyot: der uns diu rehten mære enbôt (Parzival, v. 827,4).16 Der Gral wird beim ersten (fehlgeschlagenen) Besuch Parzivals auf der Gralsburg als ‚Ding‘ bezeichnet: daz was ein dinc, daz hiez der Grâl (v. 235,23). Erst als Parzival nach fünfjähriger, vergeblicher Gralssuche beim Eremiten Trevrizent einkehrt, erfährt er einiges mehr: Aus dem ‚Ding‘ wird in den folgenden Erläuterungen über den Gral nun ein ‚Stein‘, und zwar ein Edelstein (vgl. v. 469,4). Dieser, so erläutert der Eremit, habe lebenserhaltende Kräfte und sei der Grund, warum der Vogel Phönix nach der Verbrennung wieder zu neuem Leben erweckt werde. Eine ähnliche Wirkung habe der Gral auch auf die Menschen. Wenn sie ihn erblickten, dann könnten sie eine Woche lang nicht sterben und während dieser Zeit nähme auch ihre äußerliche Erscheinung keinerlei Schaden und sie alterten nicht. Wie bei Chrétien ist auch bei Wolfram das Ding bzw. der Stein in eine Prozession eingebunden. Zuerst tragen Jünglinge eine blutende Lanze herein; der Gral selbst lässt sich nur von einer Jungfrau, der Schwester des Gralskönigs und zugleich der Reinsten aller Frauen, tragen. Er ist der Inbegriff des Paradieses (v. 235,21f.: wunsch von pardîs, bêde wurzeln unde rîs,) und bewirkt einen Tischlein-deck-dich-Zauber‘ (vgl. v. 238,2ff.). Der Parzival weist viele Motive und Handlungsstränge auf, die sich in den anderen mittelalterlichen Gralsromanen dieser Arbeit wiederholen, wie beispielsweise die zuvor kurz angedeutete Gralsprozession. Ein anderes Gralskonzept bietet Diu Crône Heinrichs von dem Türlein. Das über 30.000 Verse umfassende Werk wird in der Forschung als nachklassischer Artusroman verstanden,17 der zwar noch Merkmale der Gattung enthält, diese aber in weiten Teilen außer Kraft setzt. Dass er sich nicht in ein Schema einpassen lässt,
Verwandtschaftsstrukturen in den französischen und deutschen Gralromanen des 12. und 13. Jahrhunderts, Tübingen 1986. 15 Vgl.: Chrétien de Troyes: Der Percevalroman oder Die Erzählung vom Gral/Le Roman de Perceval ou Le Conte du Graal. Herausgegeben und übersetzt von Felicitas Olef-Krafft. Stuttgart 1990. 16 Zum so genannten Kyotproblem vgl. zusammenfassend: Bumke, Joachim: Wolfram von Eschenbach. 8., völlig neu bearbeitete Auflage. Stuttgart/Wetzlar 2004, Kapitel 7.4. „Das Kyotproblem“, S. 244-247; ferner: Bumke (2004), S. 247, Mahoney (2000), S. 32. 17 Vgl. die Analyse von Christoph Cormeau, der die Typenkonstanten des Artusromans auf Diu Crône anwendet. In: Ders.: Wigalois und Diu Crône, München 1977, S. 9-19, v.a. S. 18, FN 428; Zur Crône vgl. auch „Die ‚nachklassischen‘ Romane des 13. Jahrhunderts.“ In: Mertens (1998), S. 185ff.
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hat Heinrichs Roman den Ruf eines ‚Anti‘-Romans18 eingebracht, der Gegenmodelle propagiere: Diu Crône sei ein „Anti-Parzival, ein „Anti-Gralroman“19, ein „AntiLancelot“20, ein „Anti-Mort Artu und Anti-Fortunaroman“21. Ein weiterer Vorwurf lautet, dass sich Heinrich bei anderen Autoren bedient habe: „Diu Crône has more often than not been understood as a grand compilation or ‚monster epic‘ […] in which familiar motifs and even whole romances are appropriated according to a principle of maximum inclusivity.“22
Die Crône ist jedoch weit mehr als eine Collage aus anderen Texten, denn Heinrich gelingt es wie keinem anderen, überliefertes Material in einen neuen Kontext zu stellen, neu zu kombinieren und so etablierte Motive neu zu deuten.23 Dies zeigt sich besonders bei der Version der Gralsgeschichte. Hier ist es nicht Parzival, der den Gral findet, sondern Gawein, der Neffe von König Artus. Dies macht Heinrichs Gralsversion und seinen Protagonisten einzigartig, denn nie zuvor durfte Gawein auf der Gralssuche erfolgreich sein. Auch der Gral hat seine eigene Ausformung in der Crône: er ist ein ‚Geheimnis‘ (tougen, vgl. Crône, v. 29465 oder v. 29544).24 Zu den genannten Gralsromanen gesellt sich als dritter der Prosa-Lancelot. Das Werk basiert auf einer altfranzösischen Grundlage und gilt als erster deutscher Roman in Prosaform.25 Die Geschichte der Übersetzungen, Bearbeitungen und Über-
18 Meyer stimmt den Tendenzen der ‚Anti‘-Struktur zu; vgl.: Meyer, Matthias: Die Verfügbarkeit der Fiktion. Interpretationen und poetologische Untersuchungen zum Artusroman und zur aventiurehaften Dietrichepik des 13. Jahrhunderts, Heidelberg 1994, S. 65. 19 Jillings, Lewis: Diu Crône of Heinrich von dem Türlein: The attempted emancipation of secular narrative. Göppingen 1980, S. 232. 20 Ebenbauer, Alfred: „Gawein als Gatte.“ In: Krämer, Peter/Strasser, Ingrid (Hg.): Die mittelalterliche Literatur in Kärnten. Wien 1981, S.33-66, hier: S. 50. 21 Ebenbauer, Alfred: „Bemerkungen zum ‚Sinn‘ der ‚Krône‘ des Heinrich von dem Türlin.“ In: Ders. et al. (Hg.): Österreichische Literatur zur Zeit der Babenberger. Wien 1977, S. 25-49, hier: S. 40. 22 Thomas, Neil: Diu Crône and the Medieval Arthurian Cycle. Cambridge 2002, S. 1f. Vgl. auch Volker Mertens, der die Crône als eine „postmoderne Wissens- und Mythencollage“ bezeichnet. (Mertens, Volker: „gewisse lêre. Zum Verhältnis von Fiktion und Didaxe im späten Mittelalter.“ In: Wolfzettel, Friedrich: Artusroman und Intertextualität. Gießen 1990, S. 85-106, hier S. 89). 23 Vgl. Thomas (2002), S. 2f. 24 Zitierte Ausgabe: Heinrich von dem Türlin: Diu Crône. Hg. von Gottlob Heinrich Scholl. Stuttgart 1982. 25 Speckenbach (1994), S. 326.
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tragungen ist verworren,26 doch lässt sich der Text in drei große Teile gliedern. Der erste Teil begleitet die Entwicklung des jungen Lancelot zum Besten aller Ritter und Mitglied der Tafelrunde. Kaum ist der junge Mann am Artushof angekommen, verliebt er sich in Ginover, die Ehefrau seines Königs. Neben den Bewährungen für den Artushof und erfolgreich bestandenen Abenteuern ist die unglückliche Liebesgeschichte zwischen Ginover und Lancelot Thema des ersten Teils des Romans. Im zweiten Teil folgt eine breite Schilderung der Gralssuche mit ihren erfolgreichen und weniger erfolgreichen Suchern – zu letzteren gehört Lancelot. Nicht der beste aller Ritter wird es sein, der den Gral findet, sondern sein Sohn, der engelsgleiche Erlöser Galaad. Das Erscheinen des Grals ist im Prosa-Lancelot mit einem eucharistischen Ritual verbunden. Das Gefäß hat heilsgeschichtlichen Ursprung – es ist der Kelch des Abendmahls, aus dem Jesus trank: der heilig gral ist das heilig vaß da unser herre Jhesus Cristus das lemlin inn aßse uff dem Heiligen grúndonrstag zu nacht in Symonis huß des Leprosen mit synen jungern (vgl. PL IV 664,14-17).27 Der Gral kam nach der Kreuzigung von Jesus mithilfe von Joseph von Arimathäa nach Großbritannien und in den Besitz der Familie des König Pelles (vgl. PL V 664, 17ff.).28 Der Gral ist in diesem Roman ein sakrales Gefäß und nur der sündenfreie, würdige Gralserlöser Galaad darf sein Geheimnis lüften. Der dritte und letzte Teil des Prosa-Lancelot setzt nach der Erlösung des Grals ein und fokussiert erneut den Titelhelden sowie seine Rolle im ebenfalls geschilderten Untergang des Artusreichs.29 Bezüglich der Begehrensstrukturen und Geschlechterverhältnisse setzt der 26 Vgl. Speckenbach (1994), S. 326ff. 27 Zitierte Ausgabe: Lancelot und der Gral II. Prosalancelot IV. Nach der Heidelberger Handschrift Cod. Pal. germ 147. Herausgegeben von Reinhold Kluge. Ergänzt durch die Handschrift MS. allem. 8017-8020 der Bibliothèque de l’Arsenal Paris. Übersetzt, kommentiert und herausgegeben von Hans-Hugo Steinhoff. Frankfurt am Main 2003. Bei allen Angaben verweist die erste Zahl auf die Seiten- und die zweite auf die Verszahl. 28 Zitierte Ausgabe: Die Suche nach dem Gral. Der Tod des König Artus. Prosa-Lancelot V. Nach der Heidelberger Handschrift Cod. Pal. germ 147. Herausgegeben von Reinhold Kluge. Übersetzt, kommentiert und herausgegeben von Hans-Hugo Steinhoff. Frankfurt am Main 2004. 29 Zum Aufbau und zur Konzeption vgl.: Kennedy, Elisabeth: Lancelot and the Grail. A Study of the Prose Lancelot. Oxford 1986; dies.: „The Making if the Lancelot-Grail Cycle.“ In: Dover, Carol (Hg.): A Companion to the Lancelot-Grail-Cycle. Cambridge 2003, S. 13-22; Speckenbach (1994), S. 326-352, v.a. S. 326-32; Mertens (1998), S. 145-175; ders.: „Liebessünder und Minneheiliger vor dem Gral: Lancelot und Galahad. In: Ders. (2004), S. 104-124, v.a. S. 105-108. Einen ausführlichen und strukturierten Überblick bieten Steinhoff, Hans-Hugo: „Lancelot in Germany.“ In: Dover (2003), S. 173-184 und Klinger, Judith: Der missratene Ritter. Konzeptionen von Identität im Prosa-Lancelot. München 2001, S. 9-19.
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Prosa-Lancelot eigene Akzente. Zum einen erzählt er eine der berühmtesten Dreiecksgeschichten der Literatur, zum anderen lädt er den Gral christlich auf. Die genannten mittelalterlichen Gralsromane bilden eine spezielle Untergattung des Artusromans. Diese nimmt ihren Ausgang mit den altfranzösischen Gralsromanen Chrétiens de Troyes und Roberts de Boron. Die Gralsromane weisen zwar den Artusromanen ähnliche gattungsstiftende Komponenten auf wie den doppelten Abenteuerweg nach dem Modell von „Gewinn – Verlust – Wiedergewinn“ und die „Dialektik von Waffentat und Liebe.“30 Aber der Bezug zur Artusgesellschaft ist nur zum Teil gegeben. Bei Wolfram von Eschenbach wird am Ende der Artushof zugunsten der Gralssphäre als erstrebenswertestes Ideal abgelöst. Auch wird dem Anspruch der Artusliteratur, dass die Sinnsuche der Helden eine Vorbildfunktion für Leser haben soll, eine Absage erteilt: „[D]as Prinzip des klassischen Artusromans, dass der Hörer/Leser mit dem Helden die Erfahrungsprozesse absolviert, dass Literatur also inhaltliche Bewusstseinsbildung betreiben kann, wird widerlegt: Literatur stellt sich als das dar, was allein sie sein kann, nämlich Literatur. Nach dem Parzival werden keine arthurischen Romane […] mehr geschrieben.“31
Bei der Crône hingegen ist die Artusgesellschaft auf den ersten Blick sehr präsent. Dort ist es Gawein, der strahlende Ritter der Artusgesellschaft, der den Gral sucht und findet. Der Gral wird hier im Gegensatz zu Wolframs Parzival „rearthurisiert“.32 Allerdings scheint es so, als habe sich Heinrich viel mehr mit Wolframs Version der Gralsgeschichte als mit den Komponenten des klassischen Artusromans auseinandergesetzt. Die traditionelle Artusgeschichte hat in diesem Roman, in dem sich ein Abenteuer an das nächste reiht, eher rahmende Funktion. Auch der dritte Roman, der Prosa-Lancelot, wird im Folgenden als Gralsroman bezeichnet, obwohl sich das umfangreiche Werk schwerlich in nur eine literarische Kategorie einpassen lässt. Wie beim Parzival und der Crône soll wiederum das Motiv des Grals und die damit verwobene Inszenierung von Geschlecht und Begehren fokussiert werden. Der Gral und die Geschichte, die von ihm erzählt wird, bilden das gattungsspezifische Merkmal der mittelalterlichen und modernen Gralsromane. 1.2 Methodische Perspektiven Die mittelalterlichen Gralsromane Parzival, Diu Crône und Prosa-Lancelot stehen im Mittelpunkt dieser Arbeit. Doch wird zunächst Dan Browns Roman The Da Vin-
30 Mertens (1998), S. 35. 31 Mertens (1998), S. 145. 32 Mertens (1998), S. 186.
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ci Code vorgestellt. Der moderne Gralsroman fungiert als Folie für die Untersuchung der mittelalterlichen Romane. In ersten Schritt wird ein textnahes hermeneutisches Lektüreverfahren angewendet. In nächsten Schritt werden mithilfe einer poststrukturalistischen Textanalyse33 die Zeichen und Bedeutungen in ihrem Zusammenspiel analysiert. Hierbei ist es wichtig, nach den Bruchstellen zu suchen. Die Frage nach dem Verhältnis des Grals zu den Kategorien des Geschlechts und Begehrens steht im Zentrum. Ausgehend von den Ergebnissen, die die Untersuchung des modernen Romans erbringt, wird auch in den mittelalterlichen Quellen untersucht, wie sich das Verhältnis von Geschlecht und Begehren darstellt. Bei der Analyse der Geschlechtszuschreibungen und Begehrenskonstellationen in den mittelalterlichen Texten ist die Alterität des historischen Gegenstands zu respektieren. Man muss abwägen, inwieweit es möglich ist, sich diesem mit einem postmodernen Wissen über Geschlecht, Sexualität34 und Begehren anzunähern: „Es reicht nicht aus, sich auf die Versicherung zu beschränken, dass im Mittelalter moderne Konzepte nicht greifen, denn sie leistet der stillschweigenden Annahme anthropologischer Universalien (die freilich nicht theoretisch abgewiesen werden) letztendlich dann doch Vorschub. Hier Abhilfe zu schaffen, ist ein immenses Unternehmen, und bisher gibt es wohl nur Fallstudien, die Wege aufzuzeigen suchen, auf denen dies geschehen könnte.“35
Die Perspektive der poststrukturalistischen Geschlechterforschung lässt sich in den meisten Fällen in überaus fruchtbarer Weise auf die mittelalterlichen Texte beziehen. Das zeigen zahllose Arbeiten der Geschlechterforschung mit mediävistischem Fokus. Diese setzen die soziale Konstruktiertheit der Zweigeschlechtlichkeit voraus, kritisieren die traditionelle Hierarchisierung der Geschlechter und versuchen
33 Vgl. Bossinade, Johanna: Poststrukturalistische Literaturtheorie. Stuttgart/Weimar 2000, S. 153. 34 Zur Geschichte der Sexualität von der Vormoderne bis zur Moderne und zum Allianzpositiv als Vorläufer des Sexualdispositivs vgl.: Foucault, Michel: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit Bd. 1. Übersetzt von Ulrich Raulff und Walter Seitter. Frankfurt am Main 1977; ebenso „Introduction.“ In: Lochrie, Karma et al. (Hg.): Constructing Medieval Sexuality. Minneapolis/London 1997, S. ix-xviii; zur kritischen Diskussion von Foucaults Deutung der Sexualität in der Vormoderne, vgl. u.a.: Halperin, David „Forgetting Foucault.“ In: Representation 63 (Summer 1998), S. 93-120; Lochrie, Karma: „Desiring Foucault.“ In: Journal of Medieval and Early Modern Studies 27.1 (1997), S. 3-16. 35 Müller, Jan-Dirk/Wenzel, Horst: „Zu diesem Buch.“ In: Dies. (Hg.): Mittelalter – Neue Wege durch einen alten Kontinent. Stuttgart 1999, S. 7-18, hier S. 9.
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in der Vormoderne andere Formen der Geschlechterinszenierung zu entdecken.36 Wenn, wie in vorliegender Arbeit, die Kategorien des Geschlechts und Begehrens eine zentrale Rolle spielen, sollte man auch die Ansätze der Queer Theory berücksichtigen.37 Diese Theorie – eine Weiterentwicklung der Geschlechterforschung – sucht neben der Kategorie des Geschlechts auch diejenige der Sexualität zu dekonstruieren. Die vorliegende Arbeit will die häufige Trennung von feministischer Erforschung des Geschlechts und queerer Erforschung der Sexualität überwinden und beide Theoriekonzepte miteinander verknüpfen.38 Die aus Amerika stammende Forschungsperspektive der Queer Theory bezieht sich auf die bahnbrechenden Überlegungen Judith Butlers, deren Studie Unbehagen der Geschlechter als eines der Gründungsmanifeste gilt.39 Butler zeigt auf, wie auch das anatomische bzw. biologische Geschlecht (sex) eines Subjekts kulturell konstruiert ist und wird. Das biologische ist ebensowenig als ‚natürlich‘ 36 Einen Überblick bieten z.B. Klinger, Judith: „Gender-Theorien: Ältere deutsche Literatur.“ In: Benthien, Claudia/Velten, Hans Rudolf (Hg.): Germanistik als Kulturwissenschaft. Eine Einführung in neue Theoriekonzepte. Rheinbek b. Hamburg 2002, S. 267297; Bennewitz, Ingrid/Kasten, Ingrid: „Genderdiskurse und Körperbilder im Mittelalter. Eine Bilanzierung nach Butler und Laqueur. Münster 2002; Die Aufsätze des Sammelbandes: Bennewitz, Ingrid/Tervooren, Helmut (Hg.): manlîchiu wîp, wîplîch man. Zur Konstruktion der Kategorien ‚Körper‘ und ‚Geschlecht‘ in der deutschen Literatur des Mittelalters. Berlin 1999. Zwei von unzähligen Fallstudien sind: Kraß, Andreas: Geschriebene Kleider. Höfische Identität als literarisches Spiel. Tübingen/Basel 2006a; Brinker-von der Heyde, Claudia: Geliebte Mütter. Mütterliche Geliebte. Rolleninszenierung in höfischen Romanen. Bonn 1996. 37 Einen Überblick zur Geschichte der queer theory gibt: Kraß, Andreas: „Queer Studies – eine Einführung.“ In: Ders. (Hg.): Queer Denken. Queer Studies. Frankfurt am Main 2003a; Jagose, Annamarie: Queer Theory. Eine Einführung. Berlin 2003; Haschemi Yekani, Elah/Michaelis, Beatrice (Hg.): Quer durch die Geisteswissenschaften. Perspektiven der Queer Theory. Berlin 2005. Für eine kritische Betrachtung der queer theory: Rauchut, Franziska: „Wie queer ist queer? Folgen der Fixierung eines notwendig unbestimmten Begriffs.“ In: Müller, Sabine Lucia/Schülting, Sabine (Hg.): Geschlechter-Revisionen. Zur Zukunft von Feminismus und Gender Studies in den Kultur- und Literaturwissenschaften. Königstein im Taunus 2006, S. 116-132. 38 Vgl. hierzu auch Engel, Antke: Wider die Eindeutigkeit. Sexualität und Geschlecht im Fokus queerer Politik der Repräsentation. Frankfurt am Main 2002, S. 10ff.; ebenso Jagose (2003). 39 Die Arbeit hält sich an die in Kraß (2009a) beschriebene Definition der Queer Studies. Vgl. Kraß, Andreas: „Queer Studies in Deutschland.“ In: Ders. (Hg.) Queer Studies in Deutschland. Interdisziplinäre Beiträge zur kritischen Heteronormativitätsforschung. Berlin 2009a, S. 7-19, v.a. S. 7f.
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vorauszusetzen wie das soziale Geschlecht (gender). In Kombination mit der Kategorie des Begehrens bilden die beiden Dimensionen von Geschlecht die Identität eines Subjekts aus. Diese Ausprägung einer (Geschlechts-)Identität erfolgt unter dem Einfluß einer heterosexuellen Matrix und „schließt die ‚Existenz‘ bestimmter ‚Identitäten‘ aus, nämlich genau jene, in denen sich die Geschlechtsidentität (gender) nicht vom anatomischen Geschlecht (sex) herleitet und in denen Praktiken des Begehrens weder aus dem Geschlecht noch der Geschlechtsidentität ‚folgen‘“.40 Intelligible Identitäten werden folglich nur dann gebildet, wenn man seine Geschlechtsidentität aus dem biologischen Geschlecht ableitet, sich dem sozialen Geschlecht und den dazugehörigen Rollenbildern entsprechend verhält und sein Begehren auf das jeweils andere Geschlecht richtet. Dementsprechend begehrt eine Frau Männer und umgekehrt, homosexuelles Begehren fällt aus dem Rahmen und wird tabuisiert. Alle drei Komponenten der Identitätsbildung – biologisches Geschlecht, soziales Geschlecht und Begehren – sind instabil. Sie müssen durch Rituale und Wiederholungen je neu performativ hergestellt werden. Da diese Wiederholungen jedoch nicht ganz identisch sind, bieten sie Ansatzpunkte, um Brüche in der Geschlechtsidentität aufzuzeigen oder auch aktiv herbeizuführen.41 Diese Brüche können als Chance gesehen werden, die gegebene zweigeschlechtliche Identitätsbildung zu destabilisieren, neue Bedeutungen zu eröffnen und „Geschlechts-Verwirrung“ zu stiften.42 Neben der Untersuchung der Trias Sex/Gender/Begehren haben die Queer Studies zudem die „Analyse und Destabilisierung gesellschaftlicher Normen von Heterosexualität und Zweigeschlechtlichkeit“43 zum Ziel. Queere Forschung greift in Denksysteme, Diskurse und Institutionen ein, die „soziale Beziehungen, Wissen, Kultur und Politik heterosexualisieren“,44 und geht auf diese Weise analytisch gegen Heteronormativität vor. Nicht-normative Begehrensstrukturen, die die heterosexuelle Matrix stören, sind deswegen oft Objekt(e) ihrer Analysen. Queere Forschung geht über die Ziele der
40 Butler (1991), S. 39. 41 Vgl. dazu u.a. Butler, Judith: „Imitation and Gender in Insubordination“. In: Abelove, Henry et al.: The Lesbian and Gay Studies Reader. New York/London 1993, S. 307-320, v.a. S. 318: „Whose subversive possibilities ought to be played and replayed to make the ‚sex‘ of gender into a site of insistent political play? Perhaps this will be a matter of working sexuality against identity, even against gender, and of getting that which cannot fully appear in any performance persist in its disruptive promise.“ 42 Vgl. hierzu Butler (1991), S. 60f. 43 Jagose (2003), S. 11. 44 Vgl. hierzu Genschel Corinna et al.: „Anschlüsse (zur dt. Ausgabe)“. In: Jagose (2003), S. 167-198, hier 168.
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traditionellen schwulen und lesbischen Studien hinaus:45 Durch das Aufzeigen der Konstruiertheit der Kategorien wie Geschlechtsidentität und biologisches Geschlecht stellt sie zugleich die Identität des Subjekts, die sich auf diese Kategorien bezieht, in Frage.46 Die vorliegende Arbeit geht dementsprechend grundsätzlich von einem pluralen Verständnis des Begriffs queer aus, nämlich als „Oberbegriff für alle Personen […], die der heterosexuellen (manchmal homosexuellen) Norm nicht entsprechen […] und deren Idenitätsverständnis sich gegen eindeutige Identitäten richtet […] (S)owohl im Hinblick auf Sex, Gender und Begehren als auch im Hinblick auf eindeutige Kategorisierungen, Normierungen und Identitätsmarkierungen […].“47
Somit wird queer in dieser Arbeit nicht als eine neue, andere, bessere Identitätskategorie, sondern als ein Analyseinstrument verstanden, das die Bruchstellen in der heterosexuellen Matrix und den dominanten Identitätskonstruktionen aufzeigen soll. 1.2.1 Begehren, Geschlecht und Identität Diejenigen Begehrensformen, welche die Heteronormativität stören und destabilisieren, sind eines der zentralen Untersuchungsgegenstände der Queer Studies. Eine prominente Definition des Begehrens bietet der französische Wissenschaftler Jacques Lacan. Er erhebt das Begehren zum Zentrum der seelischen Logik, jedes Subjekt ist ein begehrendes. Begehren (désir) ist die Kluft zwischen dem Bedürfnis (besoin) und dem Verlangen/der Bitte (demande). Diese Kluft eröffnet sich in den Menschen schon bei der Geburt und wird immer als Mangel wahrgenommen: „Begehren ist weder Appetit auf Befriedigung noch Anspruch auf Liebe, sondern vielmehr die Differenz, die entsteht aus der Subtraktion des ersten und zweiten, ja das Phänomen der Spaltung.“48 Mangel schlägt sich auch darin nieder, dass das Subjekt keine Einheit mit sich selbst bilden und das Begehren niemals befriedigen kann. Mit anderen Worten: Begehren hat immer auch etwas mit Passion und Leiden zu tun.49 Um die Kernthese seiner Theorie auszudrücken, bedient sich Lacan der 45 Vgl. hierzu auch Kraß (2009a), S. 7. 46 Vgl. Jagose (2003), S. 159. 47 Perko, Gudrun: Queer-Theorien. Ethische, politische und logische Dimensionen pluralqueeren Denkens. Köln 2005, S. 24. 48 Lacan, Jacques: „Die Bedeutung des Phallus.“ In: Ders.: Schriften II. Ausgewählt und herausgegeben von Nobert Haas. Olten/Freiburg 1975, S. 121-132, hier S. 127. 49 Vgl. hierzu wie Johanna Bossinade feststellt, dass „das Begehren nichts weniger denn eine Passionsgeschichte sein kann.“ (Bossinade (2005), S. 57) oder „Als Passion kann das Begehren aber schon deshalb konnotiert werden, weil es mit Mangel zu tun hat.“ (ebd.); Vgl. auch: Evans, Dylan: An Introductory Dictionary of Lacanian Psychoanalysis. Lon-
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Worte des russischen Philosophen Alexandre Kojève: „Das Begehren des Menschen ist das Begehren der Anderen.“ Das Verwiesensein auf ein Anderes ist immer durch Mangel gekennzeichnet. So schlagen Mangel und Begehren zwar die gleiche Richtung ein,50 dies bedeutet aber nicht, dass sie zwangsweise einen Objektbezug bilden und immer miteinander einhergehen müssen. Die Frage nach der Geschlechtsidentität kommt in Lacans Überlegungen über das Objekt des Phallus ins Spiel. Der Phallus bedeutet jedoch in diesem Zusammenhang kein reales Objekt oder Organ wie Penis oder Klitoris, sondern ist der bevorzugte Signifikant im Begehren des Subjekts beiderlei Geschlechts.51 Der Phallus ist Kennzeichen des Mangels und zugleich Grund für das Begehren. Die Frau leidet im Gegensatz zum Mann am phallischen Mangel, am Nicht-Haben des Phallus. Zugleich begehrt sie das Objekt ihres Mangels, den Phallus, und will dieser sein.52 Somit dreht sich die Beziehung der Geschlechter immer „um ein Sein und ein Haben“ des Phallus.53 Dieser steht für beides zugleich: für den Mangel an sich und für das Begehren, da ohne Mangel kein Begehren denkbar ist. Dies zeigt Lacan auch in seinen Überlegungen zum Spiegelstadium, womit er jenen Moment bezeichnet, in dem das Kind das Abbild eines Anderen oder sich selbst erkennt.54 Jeder wird mit der Geburt, dem Akt der Trennung von der Mutter, zu einem unvollständigen, zerstückelten Subjekt. Im Spiegel jedoch meint es sich vollständig und ganz zu sehen. Dies stellt sich als Irrtum heraus, da im Spiegel nicht das eigene Ich, sondern nur ein Abbild des Selbst sichtbar wird. Es kommt somit zu einer Spaltung des Selbst in das moi (das ideale, imaginäre Subjekt) und das je (das soziale Ich), die nie wieder zu einer Einheit zusammengeführt werden können.55 Vom Moment des Spiegelstadiums an bleibt das Subjekt gespalten. Den Mangel (an Vollständigkeit) versucht es immerzu auszugleichen und ist deswegen auf Objekte verwiesen. Hierbei unterscheidet Lacan zwischen dem anderen mit kleinem a (Objekt klein a), das der Grund des Begehrens ist, und dem Anderen. Begehren ist zugleich der Wunsch nach dem
don/New York 1996, S. 37: „Desire is not a relation to an object, but a relation to a LACK.“ 50 Begehren zielt immer auf den Mangel, den es unterhält. Vgl. hierzu Lacan (1975), S. 41. 51 Lacan (1975), S. 126. 52 Lacan (1975), S. 129ff. 53 Lacan (1975), S. 130. 54 Vgl.: Lacan, Jacques: „Das Spiegelstadium als Bildner der Ich-Funktion.“ In: Ders.: Schriften I. Gesammelt und herausgegeben von Norbert Haas. Olten/Freiburg 1973, S. 61-70. 55 Vgl.: Lacan (1973), S. 64f. Lacan drückt diese Spaltung in zwei unterschiedliche Ausformungen des Ichs mit dem Satz „Das ich ist nicht das Ich“ aus. Dieser macht eigentlich nur in seinem französischen Original Sinn: „Le je n´est pas le moi“.
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anderen (Objekt klein a) und der Wunsch des Anderen.56 Das ständige Verwiesensein auf ein Anderes ist der Grund des unstillbaren Begehrens und immer als Mangel gekennzeichnet. Begehren zielt immer auf den Mangel, den es unterhält.57 Da das Begehren jedoch nie gestillt werden kann, ist das Objekt des Begehrens ein Leben lang verloren, ein unerreichbares Ding. Über die Lacansche Idee des unerreichbaren Dings kann man sich auch dem Gral – als Ziel und Zentrum des Begehrens der Gralssucher – annähern.58 Wenn der Gral dem unerreichbaren Ding der Lacanschen Theorie entspräche, so würde das Folgendes bedeuten: Das Begehren der Gralssucher zielt auf den Gral. Für die Dauer der Suche bleibt er ein uneinholbares Objekt und der Suchende setzt alles daran, den Mangel, der sich aus der Unerreichbarkeit ergibt, und folglich sein Begehren zu stillen. Mit dem Finden und Sehen des Grals scheint die Suche zu einem erfolgreichen Ende gebracht und das Ziel des Begehrens erreicht zu sein. Doch dann folgt die Frage, was man mit dem Gral anfangen soll, wenn man ihn gefunden hat, war doch die Suche und das Sehnen nach ihm bisher bestimmend und zentral für die Identität des Ritters als Gralssucher. Die Befriedigung des Begehrens bleibt tatsächlich nur temporär: Der Gral wird zwar kurzzeitig erreicht, dennoch ist er nicht fassbar, er verschwindet und verursacht wiederholt eine Leerstelle. Wenn das uneinholbare Objekt im Lacanschen Sinne der Gral ist, dann gilt: Hat man scheinbar das Ziel des Begehrens erreicht, entzieht es sich wieder; die Begehrensstrukturen müssen sich neu ausrichten – und wieder eröffnen sich neue Lesarten des Verhältnisses von Gral, Geschlecht und Begehren.59 Besonders wichtig für die Analyse verschiedener Begehrenskonzepte ist ferner die Theorie der amerikanischen Literaturwissenschaftlerin Eve Kosofsky Sedgwick.60 Sie leitet ihr Konzept des Begehrens von René Girard ab. Girard entwickelt in seiner Studie Figuren des Begehrens das Modell des triangulären Begehrens. Das Objekt des Begehrens nimmt eine Spitze des Dreiecks ein, und die beiden anderen Spitzen sind von den Subjekten besetzt, die um das Liebesobjekt rivalisieren. Innerhalb des Dreiecks laufen vielgestaltige affektive Dynamiken ab, und die Bindung zwischen den rivalisierenden Subjekten ist nach Sedgwick nicht weniger intensiv als ihre jeweilige Bindung an das Liebesobjekt. Indem Rivalität und Begehren äquivalent gesetzt werden, können sich die Begehrensstrukturen innerhalb des Dreiecks verschieben: Die Positionen an den Spitzen des Dreiecks können immer 56 Lacan, Jaques: Seminar III. Die Psychosen (1955-56). Berlin/Weinheim 1997, S. 309. 57 Vgl. hierzu Lacan (1975), S. 41. 58 Zum Gral und dem Lacanschen Ding vgl. Kapitel III.2 dieser Arbeit. 59 Vgl. dazu v.a. das resümierende Kapitel III der vorliegenden Arbeit. 60 Vgl.: Kosofsky Sedgwick, Eve: Between Men. English Literature and Male Homosocial Desire. New York 1985, v.a. S. 21ff.. Sedgwick ist eine der führenden Theoretiker_innen der queer studies im Bereich der Literaturwissenschaft.
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anders eingenommen werden, der Rivale wird zum potentiellen Objekt der Begierde.61 Da die Spitzen der Dreiecke variabel besetzbar sind, können auch die Hierarchien innerhalb der Begehrensstrukturen immer wieder verschoben werden. Es steht immer jemand anderes an der Spitze. Sedgwick betont über Girard hinaus die Macht des homosozialen Kontinuums, in dem die Dreieckskonstellationen zwischen den Geschlechtern verortet sind. Mit Hilfe von Lacans Psychoanalyse versucht Sedgwick, die erotischen Dreiecke samt ihren Geschlechterkonstellationen mit Begehren und (geschlechtlicher) Identität zusammenzudenken.62 Ihrer Meinung nach sind Begehren, Identität und Macht immer schon miteinander verstrickt. In der Geschichte des Patriarchats dominieren Männer die unterschiedlichen Gesellschaften und unterdrücken die Frauen. In diesen Männerbünden besteht eine enge Beziehung zwischen homosozialem Begehren einerseits und dem Erhalt sowie der Übergabe von Macht andererseits. Bei der Übergabe von Macht fungieren die Frauen als Tauschobjekte.63 Durch ein bestimmtes Lektüreverfahren, das Queer Reading, zeigt Sedgwick in englischen Texten des 18. und 19. Jahrhunderts, in welchen affektive Energien zwischen Männern zirkulieren und bezeichnet diese als männlichhomosoziales Begehren (male homosocial desire).64 Die homosozialen Begehrensstrukturen zwischen Männern werden doppelt gebrochen: „zum einen durch Homophobie, die einen Keil zwischen idealisierte Männerfreundschaft und dämonisierte Homosexualität treibt, zum anderen durch den Entwurf einer triangulären Kon-
61 Zu den triangulären Begehrensstrukturen, vgl.: Girard, René: „Trianguläres Begehren.“ In: Ders.: Figuren des Begehrens. Das Selbst und der Andere in der fiktionalen Realität. Thaur et al. 1999, S. 11ff. 62 Vgl. Sedgwick (1985), S. 24. Sie insistiert hier auf die Relevanz von Lacans Psychoanalyse für die komplizierte Verbindung von Begehren und Identität. 63 Sedgwick bezieht sich hierbei vor allem kritisch auf Claude Lévi-Strauss. Bei seinen Analysen findet der Tausch immer zwischen männlichen Partnern oder Gruppen von Männern statt. Frauen sind nur die passiven Tauschobjekte und nie Tauschende selbst. Bezüglich dieser Ungleichheit verweist Sedgwick auf Gayle Rubin. Vgl. Sedgwick (1985), S. 25 sowie Rubin, Gayle: „Der Frauentausch. Zur politischen Ökonomie von Geschlecht.“ Übersetzung Dorothea Löbbermann. In: Dietze, Gabriele/Hark, Sabine: Gender kontrovers. Genealogien und Grenzen einer Kategorie. Frankfurt am Main 2006, S. 69-122. 64 Vgl. Sedgwick (1985); Kraß (2003a). Kraß führt seine Überlegungen auch an einem mediävistischen Beispiel aus: Kraß, Andreas: „Das erotische Dreieck. Homosoziales Begehren in einer mittelalterlichen Novelle.“ In: Ders. (Hg.): Queer Denken. Queer Studies. Frankfurt am Main 2003b, S. 277-297.
24 | EINFÜHRUNG stellation, in der die Frau zum Schauplatz des homosozialen Begehrens rivalisierender Männer wird.“65
Der germanistische Mediävist Andreas Kraß hat das Lektüreverfahren des Queer Reading in seine literaturwissenschaftliche Forschung aufgenommen. Auch für ihn handelt es sich „um eine Lektüre gegen den heteronormativen Strich, um eine kritische Antwort auf das straight reading der kanonischen Literatur- und Kulturwissenschaften.“66 Kraß betont, dass es bei den Queer Studies um die Dekonstruktion von Heteronormativität gehe; daher können Queer Studies und kritische Heteronormativitätsforschung als synonym behandelt werden.67 Dabei räumt Kraß ein häufiges Missverständnis aus: „Die Opposition queer/heteronormativ fällt nicht mit der Opposition homosexuell/heterosexuell zusammen. Wer Kritik an der heteronormativen Ordnung übt, kann selbstverständlich heterosexuell sein, und wer homosexuell ist, muss deswegen noch lange nicht eine heteronormativitätskritische Position vertreten.“68
Die „Paradoxien und Repressionen, die der Heteronormativität als solcher zu eigen“ sind, so erklärt Kraß weiter, stellen den Zielpunkt der queeren Lesemethode dar.69 In der semiotischen Ordnung eines jeden Kunstwerks bildet sich „[d]ie heteronormative Ordnung […] ab, und die Dekonstruktion setzt bei jenen Widersprüchen an, die von den binären Kategorien der Heteronormativität produziert werden.“70 Diese Widersprüche sind in jedem Kulturprodukt auffindbar, so dass sich das Queer Reading nicht nur auf (post-)moderne Sujets, sondern auch auf mittelalterliche Literatur anwenden lässt. Auch in den mittelhochdeutschen Romanen, in denen auf den ersten Blick eine heteronormative Ordnung herrscht und der kämpfende Ritter eine schöne Dame erobert, lassen sich Brüche in den Begehrenskonstellationen finden.71 Auf den zweiten Blick streiten sich in den höfischen Romanen oftmals zwei Ritter, die entweder befreundet oder verwandt sind oder in einem Abhängigkeitsverhältnis stehen, um ein und dieselbe Dame. Die daraus resultierenden Beziehungsdreiecke 65 Kraß (2003a), S. 23. 66 Kraß (2009a), S. 17. 67 Kraß (2009a), S. 8. 68 Kraß (2009a), S. 8. 69 Kraß (2009a), S. 17f. 70 Kraß (2009a), S. 18. 71 Sedgwick stellt dieses Verfahren in Between Man vor (1985); zum Queer Reading in Deutschland seien maßgeblich die Arbeiten von Andreas Kraß genannt, wie beispielsweise Kraß (2003b), Kraß (2009a; 2009b) und alle Beiträge in Babka, Anna/Hochreiter, Susanne (Hg.): Queer Reading in den Philologien. Modelle und Anwendungen. Wien 2008.
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sind ein beliebtes Motiv. Als prominente Beispiele aus der höfischen Epik wären zum einen das Beziehungsdreieck Lancelot, Ginover und Artus im Gralsroman Prosa-Lancelot und zum anderen dasjenige zwischen Tristan, Isolde und Marke im Tristan-Roman zu nennen.72 In beiden Dreiecksverhältnissen überlappen sich die Begehrensstrukturen. Es entsteht eine trianguläre Begehrenskonstellation, „in der die Frau „Schauplatz eines männlich-homosozialen Begehrens“ und „Affekt ‚verschoben‘“ ist.73 Begehren spielt auch in der Gralsliteratur eine tragende Rolle. Zum einen ist damit das homosoziale und heterosoziale Begehren der Gralssucher und der anderen handelnden Figuren gemeint. Häufig ist der Erfolg davon abhängig, ob die Gralssucher begehren, selbst zum Objekt der Begierde werden oder wie das Begehren sich jeweils ausgestaltet. Zum anderen ist auch das Begehren nach einem Objekt, dem Gral, das, was die Suche stets vorantreibt: In der Gralsliteratur ist das höchste Ziel, den Gral zu erringen, vorher kann der jeweilige Protagonist nicht glücklich werden. Die Konstruiertheit von sozialem (gender) und biologischen Geschlecht (sex) wurde seit Judith Butlers Arbeiten immer wieder betont.74 Butler setzt sich kritisch mit den Theorien Lacans auseinander. Sie folgt seinen Überlegungen zum Spiegelstadium und zur Identitätsbildung bis zu einem gewissen Punkt:75 „Das Ich wird um das spektakuläre Bild des Körpers herum gebildet.“76 Da die Identität des Menschen ein Konstrukt ist, bedeutet dies, dass das Selbst und der Körper, den man sich zuschreibt, lediglich eine Phantasie, ein vorgespiegeltes Ich darstellen. Dieses wird, da diskursiv hergestellt, von Idealisierungen und Normen beeinflusst und ist wie jede Phantasie nicht stabil, sondern Schwankungen unterworfen.77
72 Gottfried von Straßburg: Tristan. Nach dem Text von Friedrich Ranke. Neu herausgegeben, ins Neuhochdeutsche übersetzt, mit einem Stellenkommentar und einem Nachwort von Rüdiger Krohn. 8. Auflage. Stuttgart 1998. 73 Kraß, Andreas: „Freundschaft als Passion. Zur Codierung von Intimität in mittelalterlichen Erzählungen.“ In: Appuhn-Radtke, Sibylle/Wipfler, Esther P. (Hg.): Freundschaft. Motive und Bedeutungen. München 2006b, S. 97-116, hier S. 106; Vgl. auch Sedgwick (1985), S. 1-5 und zu weiteren erotischen Dreiecken in der mittelalterlichen Literatur: Kraß (2003b). 74 Vgl. Butler (1991) und Butler, Judith: Körper von Gewicht. Gender Studies. Frankfurt am Main 1997 (Originalausgabe: Bodies that matter. On Discoursive Limits of ‚Sex‘. New York 1993). 75 Villa, Paula Irene: Judith Butler. Frankfurt am Main/New York 2003, S. 65. (2003), S. 93. 76 Butler (1997), S. 108. 77 Butler (1997), S. 126.
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Butler bezieht sich in ihrer Studie Unbehagen der Geschlechter zudem auf Michel Foucaults mehrbändige Arbeit zur Geschichte der Sexualität (Sexualität und Wahrheit). Foucault betont, dass Sexualität nicht als natürlich gegeben verstanden werden dürfe, sondern sowohl ein kulturelles Konstrukt als auch ein Effekt von so genannten Dispositiven sei. Unter Dispositiven versteht er eine Konstruktion von Praktiken, Institutionen und Diskursen.78 Für die Moderne stellt Foucault das so genannte Sexualdispositiv auf: Die Wahrheit über das Subjekt und das Selbst – mit anderen Worten die Identität des einzelnen – wird in dessen jeweiliger Sexualität offenbart. Wie jedoch verhält es sich mit der Vormoderne? In dieser Zeit, so zeigt Foucault, stand das Allianzdispositiv im Vordergrund. Güter und Macht wurden durch verzweigte Verbindungen der Verwandtschaft oder auch der Eheschließung verteilt. Allianzen stifteten Identitäten. Sexualität in einem modernen Sinne existierte nicht. Sexuelle Praktiken wurden nach moralischen Kriterien bewertet. Ob sie verboten oder erlaubt waren, basierte auf dem jeweiligen Verhältnis zur Ehe. Die verbotenen Praktiken wurden als ‚Sodomie‘ verurteilt: „Die Gesetze der Ehe zu brechen oder andersartige Lüste zu suchen, galt schlechterdings als verdammungswürdig. In der Liste der schweren, nur nach ihrer Bedeutung unterteilten Sünden, standen Schändung (außereheliche Beziehungen), Ehebruch, Entführung, geistiger oder fleischlicher Inzest ebenso wie Sodomie oder gegenseitige ‚Liebkosung‘. Für die Gerichte bedeutet es kaum einen Unterschied, ob sie aus Homosexualität oder aus Untreue verurteilten, Heirat ohne Zustimmmung der Eltern oder Sodomie.“ 79
Foucault definiert die Verschiebung von Sodomie zur Homosexualität als Verlagerung von sexuellen Praktiken, die gegen das Sakrament der Ehe standen, hin zu einer als Perversion gekennzeichneten Identitätskategorie. Er zeigt auf, wie sich aus dem Sünder des Mittelalters im 19. Jahrhundert die Spezies des ‚Homosexuellen‘ entwickelte. Von der abweichenden sexuellen Praxis wurde auf ein Charaktermerkmal geschlossen. So wurde die „Praktik der Sodomie zu einer Art inneren Androgynie, einem Hermaphroditismus der Seele“ und einer „Verkehrung des Männlichen und des Weiblichen“.80 Foucault bezeichnet die sexuelle Entwicklung unserer Zivilisation – und dies gilt schon für das Mittelalter – als scientia sexualis, in deren Mittelpunkt das Geständnis steht, das in allen möglichen Ausformungen der Wahrheitsfindung und Machtausübung dient.81 Foucault Differenzierungen bieten einen Weg, den disparaten Begehrensstrukturen und Geschlechterverhältnissen in der Gralsliteratur nahe zu kommen.82 Sie lassen sich 78 Vgl. für die Fruchtbarmachung von Foucault für die Queer Studies auch Kraß (2003a). 79 Foucault (1977), S. 51. 80 Foucault (1977), S. 58. 81 Im Mittelalter hatte das Geständnis seinen Ort in der christlichen Beichte. 82 Vgl. Foucault (1977), S. 77 und S. 131.
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auf die Gralssphäre, aber auch andere literarische Beispiele aus dem Mittelalter anwenden. Dies zeigt Karma Lochrie in ihrem Aufsatz Desiring Foucault. Sie überträgt das Motto des modernene Sexualdispositivs auf das Mittelalter: „Tell me what you desire, and I’ll tell you what your Middle Ages looks like.“83 Dieser Satz betont zugleich, dass die historische Komponente in den Queer Studies unverzichtbar ist, auch wenn man sich einer postmodernen Methode bedient.84 Wie stellt sich die Verkörperung von Geschlechternormen im Mittelalter dar. 85 Wie wird in dieser Epoche das soziale Geschlecht hergestellt und welche Rolle spielt dabei das biologische Geschlecht? James A. Schultz schreibt in seinem Aufsatz Bodies that Don’t Matter, dass sich sexuelles Begehren heutzutage auf den Körper, d.h. auf das anatomische Geschlecht richtet: Die Frau begehrt den männlichen, der Mann den weiblichen Körper. In der höfischen Literatur des Mittelalters lässt sich dieses Konzept jedoch nicht anwenden, weil sie die Unterscheidung der Geschlechter an sich schon relativiert.86 Das Begehren richtet sich weniger auf den geschlechtlichen Leib als auf den sozialen Status. In den höfischen Romanen waren bei der Schilderung von Liebe und Begehren Werte wie höfischer Adel (hövscheit) der Dame und des Ritters ebenso wichtig wie (wenn nicht sogar wichtiger als) körperliche Schönheit. Wenn gegenseitige Anziehung beschrieben wird, werden fast nie primäre Geschlechtsmerkmale87 als Gründe angegeben, sondern vielmehr der Körper als Gesamterscheinung in einem harmonischen Zusammenspiel von äußerer und innerer Schönheit: „Noble bodies reveal class more readily than desirable bodies reveal sex – even when noble bodies look least courtly and the desirable bodies look most be-
83 Lochrie (1997), S. 3. 84 Vgl. hierzu auch das Plädoyer für die historische Dimension in der Genderforschung, das sich sich auf die Queer Studies übertragen läßt, in: Opitz, Claudia: „Nach der GenderForschung ist vor der Gender-Forschung.“ In: Casale, Rita/Rendtorff, Barbara (Hg.): Was kommt nach der Geschlechterforschung. Zur Zukunft der feministischen Theoriebildung. Bielefeld 2008, S. 12-28. 85 Vgl. zu der Verkörperung von Geschlechtsnormen: Butler (1997), S. 305f. auch Villa (2003), S. 72. 86 Vgl. Schultz, James A.: „Bodies that Don’t Matter – Heterosexuality before Heterosexuality in Gottfried’s ‚Tristan‘.“ In Lochrie, Karma et al. (Hg.): Constructing Medieval Sexuality. Minneapolis 1997, S. 91-110, hier S. 91. 87 Ausnahmen finden sich im Parzival Wolframs von Eschenbach sowie im Tristan Gottfrieds von Straßburg. Beide höfische Romane erwähnen primäre Geschlechtsmerkmale. Im Parzival werden z.B. Jeschutes brüstelîn detailliert beschrieben (vgl. v.a Parzival, v. 258, 25ff.) und auch Parzivals kleiner Penis (visellîn, v. 112, 25) als Zeichen seiner zukünftigen Regentschaft wird von den Frauen eingehend betrachtet.
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autiful.“88 Wenn es sich tatsächlich so verhält, dass biologische Geschlechtsmerkmale im Begehrensprozess eine marginale Rolle spielen, dann muss der Körper auf andere Weise als männlich oder weiblich erkennbar gemacht werden. Dies leisten bestimmte sekundäre und tertiäre Geschlechtsmerkmale, bestimmte Attribute, die wie ein Vorhang über den Körper gelegt werden. Dies kann entweder durch Kleidung geschehen89 oder durch das Tragen eines Schwertes oder eines Bartes. Deswegen fragt Schultz zu Recht: „What sort of sexual economy ensures that women and men will always desire the other sex when the anatomy of desire scarcely distinguishes one sex from the other? How does heterosexuality work in a homomorphic world?”90 Es treten in der Tat einige Probleme bei der eindeutigen Zuschreibung von Geschlechtsidentitäten auf und aus diesem Grund bieten sich die mittelalterlichen Texte für ein Queer Reading an. Wenn die höfische Literatur Begehrens- und Liebeskonstellationen vorführt, unterscheidet sich die Schilderung der Schönheit von Damen und Rittern kaum. Parzivals Schönheit wird an vielen Stellen enbenso mit der Sonne, dem Licht oder einem Engel verglichen wie die Schönheit der Damen. Im Parzival überstrahlt der Leib des Protagonisten das Licht des Tages.91 Auch in weiblichen Augen ist Parzival wie die Sonne92 und deswegen minneclîch und sælden rîch (vgl. v. 227,29f.). Die weibliche Schönheit der Damen im Gralsroman wird mit ähnlichen Motivfeldern und sogar denselben Worten beschrieben. Die Erscheinung Herzeloydes, Parzivals Mutter, ist mit einem liehte[n] schîne (v. 64,4) umgeben, der auch im Dunklen alles hell erstrahlen lässt (vgl. v. 84,13-15: [Herzeloyde] gap den schîn, / wærn erloschen gar die kerzen sîn, / dâ wær doch lieht von ir genuoc). Auch Condwiramurs, Parzivals zukünftige Ehefrau und Gralskönigin, strahlt wie der Held selbst mit einem liehte[n] glast (v. 186,20).93 So wird der Held durch die Wahl des Vokabulars in die Nähe der Damen gerückt. Das Beispiel von Parzivals Schönheit zeigt, dass sich bei der literarischen Geschlechtszuschreibung mehrere Kategorien durchkreuzen. Kulturelles Geschlecht (in Ausnahmefällen auch biologisches Geschlecht), sozialer Status und androgyne Schönheitsbeschreibung überlagern sich in einer Figur. Intelligible Körper werden 88 Schultz (1997), S. 95. 89 Vgl. hierzu Kraß (2006a), S. 2. 90 Schultz (1997), S. 91. 91 Vgl.: ez dorfte in dunken niht ze fruo: / wan von in schein der ander tac. / der glast alsus en strîte lac, / sîn varwe laschte beidiu lieht: / des was sîn lîp versûmet nieht / man bôt ein badelachen dar (Parzival, v. 167,16-12). 92 Vgl.: dô er denn râm von im sô gar / getwuoc mit einem brunnen:/ dô het er der sunnen / verkrenket nâch ir liehten glast. / des dûhter si ein werder gast. (Parzival, v. 186,2-6) 93 Das Wort schîn ist mit der Beschreibung von Condwiramurs auch noch an mehreren anderen Stellen verbunden, z.B.: Parzival, v. 186,17; v. 187,12; v. 187,18.
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anders definiert als heute, ihre Regulative sind einer historischen Entwicklung und Veränderung unterworfen. Diese Regulative schaffen Körper mit Merkmalen, die im jeweiligen historischen Zusammenhang als zulässig oder ‚natürlich‘ bewertet werden. Die geschlechtlichen Körper, die hierbei geschaffen werden, sind aus heutiger Perspektive nicht mehr ohne weiteres als intelligibel anzusehen.94 Ein Beispiel, das Schultz anführt, zeigt auf interessante Weise, wie die Körperbilder von heute und damals differieren. Im Mittelpunkt seiner Analyse stehen bartlose Jünglinge, bei denen neben der Geschlechtsidentität auch die Kategorie des Alters ins Spiel kommt. Schultz behauptet, dass es höfischer Standard war, dass die Gesichter der jugendlichen Helden glatt sein sollten, auch wenn sie schon älter als dreißig Jahre waren: „While older men like Rual [in Gottfrieds Tristan, Ergänzung A. H.] might have beards, the ideal of youthful male beauty in Middle High German [MHG] courtly texts requires young men beardless. Thus Wolfram von Eschenbach calls Parzival ‚the young man without a beard‘ long after he has married, fathered children, and become lord of Pelrapeire; and Rudolf von Ems writes of knights, who are just getting their very first beard hairs when they are nearly thirty.“95
Neben den Modi der Geschlechtszuschreibung, in denen sich männliche und weibliche Merkmale überlagern können, ist in der mittelalterlichen Literatur auch das Verhältnis von Geschlecht und Begehren ein anderes als heute. Begehren richtete sich zumeist auf das jeweils andere Geschlecht und im begehrten Körper waren immer die adlige Herkunft, die höfische Schönheit und das kulturelle Geschlecht sichtbar,96 wohingegen das biologische Geschlecht Nebensache war. Hinsichtlich der Heterosexualität des Mittelalters, wenn man von dieser überhaupt sprechen kann,97 ist anzumerken, dass das kulturelle Geschlecht über dem anatomischen 94
Schultz bezieht sich hier auf Butler und deren Überlegungen zum historischen Wandel der Regulative. Vgl.: Schultz (1997), S. 92.
95
Schultz hier rekurriert auf den Vers: der junge âne bart (Parzival, v. 307, 7). Schultz (1997), S. 93. Vgl. zum Thema Bartwuchs außerdem: Schultz, James A.: The Knowledge of Childhood in the German Middle Ages, 1110-1350. Philadelphia 1995, S. 120f. Oftmals ist es nur der Bart, der eine Unterscheidung zwischen den Geschlechtern möglich macht. In Wolframs von Eschenbach Willehalm beispielsweise können die Geschwister Rennewart und Gyburg nur durch die Bartstoppeln des Bruders unterschieden werden (vgl. Willehalm, v. 274,20-275,4). Vgl. Wolfram von Eschenbach: Willehalm. Text der Ausgabe von Werner Schröder. Übersetzung, Vorwort und Reg. von Dieter Kartschoke. Berlin 2003.
96
Schultz (1997), S. 96.
97
Zur Problematik von Heterosexualität (und Mittelalter) Vgl. die nachfolgenden Kapitel.
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stand. Daher war die Unterscheidung zwischen homo- und heterosexuellem Begehren kaum relevant: „[T]he nature of desire does not define the nature of the desiring subject, the ‚sexual identity‘ of the subject, in the way that heterosexual and homosexual desire are thought to.“98 1.2.2 Queer Reading der Gralsromane Obwohl sich die Queer Studies in ihren Anfängen hauptsächlich mit zeitgenössischen und modernen Phänomenen auseinandergesetzt haben, sind sie doch auch für die mediävistische Forschung ein möglicher Zugang. Die Theoreme der Queer Studies wurden zunächst in den USA als Analyseinstrumente auf historische Kontexte angewendet. Man versuchte auch in historischen Zusammenhängen queere Begehrensstrukturen zu finden, den Binarismus von homo- und heterosexuell zu dekonstruieren und dadurch Heteronormativität zu destabilisieren. Eine der ersten historischen Studien in diesem Zusammenhang war Carolyn Dinshaws Getting Medieval.99 Dinshaw versucht literaturgeschichtliche Quellen anders zu lesen und ihr Potential herauszuarbeiten, vergangene und zeitgenössische Auffassungen von Heteronormativität zu denaturalisieren.100 Viele weitere Beiträge der letzten zwei Jahrzehnte arbeiten, wenn sie sich mit Themen wie Geschlecht, Sexualität und Begehren am historischen Gegenstand befassen, mit queeren Theorien.101 Was im amerikanischen Raum begonnen hat, setzt sich zunehmend auch in Deutschland durch.102 Glenn Burger und Steven 98 99
Schultz (1997), S. 103f. Hierbei sollten neben den in den vorherigen Kapiteln schon erwähnten Büchern noch weitere Untersuchungen der Frühphase der englischsprachigen queeren Mediävistik oder Frühen Neuzeit-Forschung genannt werden: Boswell, John The Marriage of Likeness: Same-Sex Union in Premodern Europe. New York 1994; Frantzen, Allen J.: Before the closet. Same-sex Love from Beowulf to Angels of America. Chicago 1998.
100 Vgl. Dinshaw, Carolyn: Getting Medieval. Sexualities and Communities, Pre- and Postmodern. Durham/London 1999, u.a. S. 3. 101 Lochrie et al. (1997); Frantzen (1998); Dinshaw (1999); Jaeger, C. Stephen: Ennobling Love: In Search of a Lost Sensibility Philadelphia 1999; Burger, Glenn/Kruger, Steven F. (Hg.): Queering the Middle Ages. Minneapolis/London 2001; Arbeiten von David Halperin, wie z.B.: Ders.: How to Do the History of Homosexuality. Chicago 2002; Pugh, Tison: Queering medieval genres. New York 2004; Klosowska, Anna: Queer Love in the Middle Ages. New York 2005; Schultz, James A.: Courtly Love, the Love of Courtliness, and the History of Sexuality. Chicago 2006. 102 V.a. die Untersuchungen von Kraß, Andreas wie z.B.: „Der Lieblingsjünger und die Folgen. Vom Johannesevangelium bis zu Dan Browns Sakrileg.“ In: Bauer, Robin et al. (Hg.): Unbeschreiblich männlich. Heteronormativitätskritische Perspektiven. Hamburg 2007; Ders.: „Sprechen von der stummen Sünde. Das Dispositiv der Sodomie in der
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Kruger argumentieren in ihrer Einleitung zu Queering the Middle Ages, dass die Queer Studies ein fruchtbarer Lektürezugang zu mittelalterlichen Texten sind: „Queer study of the Middle Ages promises the recovery of cultural meanings that are lost, obsured, or distorted in work that either ignores questions of sexuality or attends only the hegemonic or heteronormative understandings of its. One strein of queer medievalism has directed attention of a rethinking of canonial literary figures […] and mainstream genres such as medieval romance […].“103
Auch die Gralsromane, in denen oft die traditionelle heterosoziale Begehrensökonomie zugunsten des Grals verschoben ist und dadurch normative Geschlechterinszenierungen und Begehrensstrukturen ins Wanken gebracht werden, eignen sich besonders für einen queeren Forschungszugang. Darauf weisen explizit auch Burger und Kruger hin: „Medieval romance is often read as representing a simplified even stereotypical, heroic masculinity; Peggy McCracken shows us, in the romances of the Grail quest, how this popular genre might, alternatively, reenvision gender and sexual conventions.“104
Anna Klosowska widmet in ihrem Buch Queer Love in the Middle Ages den Gralserzählungen ein ganzes Kapitel.105 Ihrer Meinung nach bieten besonders die mittelalterlichen Texte mehr als eine Lesart. Es gilt die anderen Lesarten aufzuspüren und mit ihnen die heteronormative Textstrukturen zu durchbrechen. Auch die vorliegende Untersuchung der Gralsromane bemüht sich darum, mögliche queere Denkmuster offenzulegen. Diese können sich in verschiedenen Formen deutschen Literatur des 13. Jahrhunderts (Berthold von Regensburg, Der Stricker)“. In: Thoma, Lev M./Limbeck, Sven (Hg.); Ders.: Die sünde, der sich der tiuvel schamet in der helle. Homosexualität in der Kultur des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Ostfildern 2008b. Ebenso: Michaelis, Beatrice: „Von tarnkappe, nagele und gêr – Das Nibelungenlied, oder was hat Sex mit Nation und Kanon zu tun?“ In: Babka/Hochreiter (2008), S. 129-149; Dies.: „Parzivals Schweigen – oder: Alles eine Frage der Erlösung.“ In: Glawion, Sven et al. (Hg.): Erlöser. Figurationen männlicher Hegemonie. Bielefeld 2007, S. 29-40; Meyer, Mathias: „Queer Readings – Queere Lektüren.“ In: Babka/Hochreiter (2008), S. 205-218; zur Anwendung von queerer Theorie im Vergleich zwischen Wolframs Parzival und Wagner Parsifal, vgl. Wyss, Ulrich: „Queer Parsifal.“ In: Kraß, Andreas: Queer Studies in Deutschland. Berlin 2009, S. 185-200. 103 Burger/Kruger (2001), S. xvi. 104 Burger/Kruger (2001), S. xvi/xvii. 105 Vgl.: Klosowska, Anna: „Grail Narratives: Castration as a Thematic Site“. In: Dies. (2005), S. 21-67.
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zeigen: in gleichgeschlechtlichem Begehren, in der Verneinung von Begehren (im Fall des enthaltsamer Gralssucher wie Galaad im Prosa-Lancelot) oder in der Ablehung von normativen Begehrensstrukturen. Die mittelalterliche Gralsliteratur geht in besonderer Weise mit dem Begehren um: Das Begehren der Gralsritter hat im Gegensatz zu anderen höfischen Romanen statt Frauen oft Männer106 als Ziel und zeichnet sich zudem durch eine unbedingte Hinwendung zum Gral aus. Wie deutet man ein Begehren, das sich auf ein dinc (Parzival) oder tougen (Crône)107 richtet? Diese Fragen zeigen, dass die queere Analyse nicht nur auf (homo-)sexuelle Begehrensstrukturen zielt. Das betont auch Tison Pugh in seinem Buch Queering Medieval Genres: „The term ‚queer‘ need not to be limited to the sexual, as it also describes relations of power predicated upon relations of sexuality.“108 So ist auch der besondere Umgang, den die Gralsliteratur mit dem Begehren nach dem Gral und der Beschreibung von Geschlecht pflegt, als nicht-normativ zu interpretieren und somit unter den Begriff ‚queer‘ zu fassen: „‚Queer‘ can thus signify any nonnormative behavior, relationship, or identity occuring in a specific moment. It may also describe an alternative form of desire“.109 Eine dieser alternativen Formen des Begehrens stellt auch dasjenige nach dem Gral dar. Die Übertragung queerer Theorien auf einen historischen Gegenstand muss sich einigen historischen Fragen stellen. Erstens ist zu berücksichtigen, dass die Überlegungen, die queere Sexualitäten in höfischen Texten des Mittelalters kommentieren, diese zugleich mitformen: „Medieval texts do not just comment on queer sexualities as if those categories existed already; they actually construct those categories and it is the categories themselves rather than the sexual acts or inclinations of the actors, that point up the most significant differences between the premodern and modern periods.“110
Zweitens ist zu bedenken, dass das Verständnis von queer nicht immer eindeutig ist: 106 Das homosoziale Begehren auf der Gralssuche zeigt sich beispielsweise in Kampftätigkeiten: „Desire, directed nominally toward females in romance, is in fact largely redirected through competitive interaction with other men, especially in the cycles of the Grail“, so William E. Burgwinkle: Sodomy, Masculinity, and Law in Medieval Literature. Cambridge 2004, S. 98. 107 Vgl. Crône, z.B. v. 29465. 108 Pugh (2004), S. 5. 109 Zeikowitz, Richard: „Befriending Medieval Queer.“ In: College English 65:1 (2002), S. 67-80, hier S. 67. 110 Burgwinkle, William: „État présent: Queer Theory and the Middle Ages.“ In: French Studies: A Quarterly Review. Volume 60, Number 1, January 2006, S. 79-88, hier S. 84.
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„(I)s queer a verb or a set of actions; a question of being or doing? needs a medievalistތs rephrasing: is parody already a way of queering? Is heresy queer by virtue of its turning away from truth? Is ‚race‘ or ‚madness‘ implicated in ‚queer‘ as a category already marked as horsnorme?“111
Und drittens sind Begriffe wie Homo- oder Heterosexualität, mit denen die Queer Theory arbeitet, im Mittelalter so noch nicht existent, und ihre Definition erregt immer wieder mediävistische Diskussionen.112 Wenn Heterosexualität als Norm noch nicht existierte,113 dann könnte man einwenden, dass eine queere Analyse mittelhochdeutscher Literatur inadäquat sei. In den Gralsromanen sieht man sich mit ungewöhnlichen Geschlechtsinszenierungen, androgynen Rittern, keuschen Gralssuchern, Entmannung und Entzug aus normativen Begehrensökonomien sowie dem immerwährenden Begehren nach dem Gral konfrontiert. Dies sind Praktiken und Typologien, die sich allesamt dem heteronormativen Rahmen entziehen. Um in den Gralsromanen beschriebenen Geschlechterinszenierungen und Begehrensstrukturen analysieren zu können, muss man ähnlich vorgehen wie Anna Klosowskas in Queer Love. Man muss versuchen, Begehren zwischen Männern und zwischen Frauen sowie dasjenige Begehren, das sich auf Objekte richten, zu decodieren. In einem weiteren Schritt heißt das für die Lektüre der Gralsromane, dass auch Enthaltsamkeit und Entmannung sowie das Begehren nach dem Gral als Vorgänge außerhalb der Norm und somit als Akte gegen die Heteronormativität zu betrachten sind.114 Das Dynamische im Lese- und Interpretationsprozess des Queer Reading muss betont werden. Wenn man queer nur als statische Identitätskategorie, d.h. als being sieht, bestärkt man durch diese Abgrenzung Heterosexualität erneut.115 Wenn man queer dagegen als flexible Tätigkeit, d.h. als doing sieht, kann an den Brüchen in mittelalterlichen Texten aufgezeigt werden, in welchem Maße
111 Burgwinkle bezieht sich hier auf die Frage, die Nikki Sullivan in ihrem Buch A Critical Introduction to Queer Theory stellt. Vgl hierzu Burgwinkle (2006), S. 85; Sullivan, Nikki: A Critical Introduction to Queer Theory. New York 2003. 112 Als Beispiele hierfür wären zu nennen: Lochrie, Karma: Covert Operations: The Medieval Uses of Secrecy. Philadelphia 1999; Halperin (2002); Lochrie, Karma: Heterosyncrasies: Female Sexuality When Normal Wasnތt. Minneapolis 2005; Schultz, James A.: Heterosexuality As A Threat to Medieval Studies. In: Journal of the History of Sexuality 15.1 (2006), S. 14-29. 113 „[In the Middle Ages, Ergänzung A. H.] (h)eterosexuality as a normative principle simply does not exist.“ In: Lochrie (1999), S. 225. 114 Vgl. Klosowska, (2005). 115 Vgl. Schultz (2006), S. 29.
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Reproduktion, Geschlechterverhältnisse und Begehrensstrukturen nicht normativ funktionieren. Die Lektüremethode des Queer Reading eignet sich besonders für die Gralsromane.116 In der vorliegenden Arbeit sollten ihre queeren Subtexte und „Schattengeschichten“117 sichtbar gemacht und die Konstruiertheit des binären Geschlechtskonzepts aufgezeigt werden. Das queere Lektüreverfahren – darauf weist Sedgwick hin – lenkt das Augenmerk auf Unstimmigkeiten, die das normative System in Frage stellen.118 Wenn man versucht die Gralsromane Parzival, Prosa-Lancelot und Diu Crône queer zu lesen, wird man feststellen, dass Burgwinkles Behauptung auch in diesem Falle zutrifft: „Medieval romances are full of such moments, in which purportedly heterosexual narratives, presented as prerequisite to the accomplishment of chivalric status, fall apart under the reader's gaze. Social institutions such as knighthood, guilds, monasteries and religious houses of all types were generally same-sex milieus, and in classic homosocial fashion, they appeal to the queer gaze while disavowing it. Often medieval texts either get around or highlight these uncanny readings through a process of play between competing voices and points of view within the narrative, including those of narrators addressing the reader, diegetic characters, allegorical figures and the framing of such encounters in dream narratives or extended allegories.“119
Die Begehrensstrukturen, die in den Gralsromanen vorgeführt werden, sollen nachvollzogen und die Brüche der dichotomen Einteilung von Geschlecht, an denen Heteronormativität in der Gralssphäre dekonstruiert wird, ausfindig gemacht werden. Bei der Anwendung der Methode des Queer Reading soll es nicht nur darum gehen, homosoziale Begehrensstrukturen aufzudecken, sondern auch andere Ausformungen des Begehrens (wie beispielsweise das Streben nach dem Gral) auf ihr queeres Potenzial hin zu untersuchen. Mit einer queeren Analyse der Gralsromane wird diesen keineswegs Gewalt angetan, sondern sie fordern sie im Gegenteil geradezu heraus:
116 Zum Queer Reading als Arbeitsweise der Literaturwissenschaft, vgl. die anderen Arbeiten von Eve Kosowsky Sedgwick: Novel Gazing: Queer Reading in Fiction. Durham 1997 oder Dies.: Epistemology of the Closet. New York 1991. Nach Andreas Kraß kann es auch als Lektüreverfahren für jegliche Art von kulturellen Texten angewandt werden. Vgl. hierzu Kraß (2003a), v.a. S. 20ff.; ebenso: Babka/Hochreiter (2008). 117 Vgl. Kraß (2003a), S. 22. 118 Vgl. hierzu Sedgwick (1997), S. 1-37, v.a. S. 35. 119 Burgwinkle (2006), S. 86.
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„Most readers of what we would now consider twelfth-century [and also thirteenth-century, Ergänzung durch A. H.] canonical texts would agree that they are already very queer indeed and that it is precisely queerness, or alterity, that continues to attract us.“120
120 Burgwinkle (2004), S. 13.
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2. T HE D A V INCI C ODE – EIN ZEITGENÖSSISCHER
G RALSROMAN
Bevor die Begehrensstrukturen der Gralsromane in den Blick kommen, soll zunächst der zeitgenössischen Roman The Da Vinci Code von Dan Brown analysiert werden. In diesem Gralsroman lassen sich wie schon in den mittelalterlichen Vorgängern irritierende Konzepte von Geschlecht und Begehren und Abweichungen gegen die heteronormative Ordnung feststellen. Die Analyse von Browns Roman folgt zentralen Aspekten der Gralssphäre, die sich in jedem Gralsroman finden lassen. Zunächst muss der Gral als Ziel der Suche ausgerufen werden. Zu diesem Zweck werden die Protagonist_innen eingeführt, die im Fortgang der Handlung zu Gralssuchern werden. Somit steht das Finden des Gralssuchers vor dem Finden des Grals selbst. Dieser erste Analysekomplex steht unter der Überschrift Gralssucher werden. Außerdem nimmt die Suche nach dem Gral, die Annäherung an das begehrte Objekt einen großen Raum ein Wer ein erfolgreicher oder gescheiterter Gralssucher wird, das zeigen die Geschehnisse, die es auf der Gralssuche selbst zu bestehen gilt. Dieser zweite Analysekomplex wird im Folgenden unter dem Stichwort Gralssuche abgehandelt. Ferner treten neben die Held_innen des Gralsromans weitere Figuren, die sie auf der Suche unterstützen oder die sich als Konkurrent_innen um den Gral erweisen. Dieser dritte Analysekomplex steht unter dem Titel Andere Gralssucher. Schließlich bildet sich in der Sphäre des Grals stets ein exklusiver Zirkel von Eingeweihten, die das Gralsgeheimnis kennen und hüten. Je nachdem, wie oder was der Gral ist, ist auch die ihn umgebende Gesellschaft unterschiedlich aufgebaut. Sie bildet den vierten und letzten Analysekomplex: die Gralsgesellschaft. 2.1 Gralssucher werden Dan Browns Roman The Da Vinci Code beginnt mit dem Mord an Jacques Saunière, dem Direktor des Pariser Louvre. Saunière ist Mitglied einer ominösen „Bruderschaft“ und hat ein „uraltes Geheimnis“, das ihn schließlich das Leben kostet (S. 11). Sein gewaltsamer Tod ist der Grund, der die beiden Protagonisten_innen des Romans, den Harvardprofessor für religiöse Symbolologie, Robert Langdon, und die französische Kryptographin Sophie Neveu zusammen und zur gemeinsamen Aufklärung des Mordes führt. Die beiden wollen nicht nur die mysteriösen Umstände des Todes des Museumsdirektors aufklären, der Sophie Neveus Großvater war, sondern beide verbindet ein höheres Ziel: Robert Langdon und Sophie Neveu stehen am Beginn der Suche nach dem Gral, dem „meistgesuchte[n] Schatz in der Geschichte der Menschheit. Er hat Legenden hervorgebracht, Kriege ausgelöst und zu lebenslangen Forschungen angespornt“ (S. 226). Laut Dan Brown ist nämlich
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nichts in der „Geschichte […] so interessant wie der Heilige Gral“ (S. 226). Der Mythos des Grals wurde seit seiner ersten Nennung in Chrétien de Troyes Perceval sehr oft rezipiert und bearbeitet. Interessant ist der Gral als Motiv allemal, man sollte jedoch nicht so weit gehen, seine Geschichte als die interessanteste der Menschheit zu bezeichnen, wie es Dan Brown tut, zumal dieser am Ende seines Romans mit einer ziemlich eindimensionalen Auflösung des Gralssymbols aufwartet. Die beiden Protagonist_innen des Da Vinci Code wissen am Anfang der Suche nicht, dass nicht nur der Umstand des Todes von Sophie Neveus Großvater, sondern auch das Geheimnis des Grals zu klären ist. Die aufmerksamen Leser_innen finden jedoch, schon vor der ersten Erwähnung des Grals einige versteckte Hinweise auf eine mögliche Gralssuche: Robert Langdon, der als intellektueller und für Frauen attraktiver Typ geschildert wird (vgl. S. 16f.), wird zu Beginn als „Harrison Ford in Harris Tweed“ (S. 17) bezeichnet. Dies ist eine Anspielung auf den Schauspieler Harrison Ford, der in seiner berühmtesten Rolle als Indiana Jones wie Robert Langdon einen Universitätsprofessor spielt, der sich nebenberuflich als Abenteurer auf Schatzsuche begibt. Außerdem ist der Schatz, den Professor Jones im Film Indiana Jones und der letzte Kreuzzug (Stephen Spielberg, USA 1988) sucht, der Gral. Somit könnte dieser Vergleich in einem Buch, das von der ersten Seite an von verschlüsselten Verweisen strotzt, als Hinweis auf ein Gralsabenteuer gedeutet werden. Ein weiteres Indiz, dass Robert Langdon als Wissenschaftler und Abenteurer zugleich gefordert ist, findet sich in den immer wiederkehrenden Bezügen auf in der Vergangenheit liegende Geschehnisse in Rom (vgl. S. 17, S. 19, S. 26, S. 51 usw.). Diese Anspielungen beziehen sich auf Dan Browns Buch Illuminati (2003, englische Originalfassung: Angels and Demons, 2000), in welchem Robert Langdon ebenfalls ein Abenteuer zwischen Verschwörungstheorien, Geheimbünden, ungelösten Rätseln und der mysteriösen Rolle der katholischen Kirche bestehen muss. Dass sich die Gralssucher unwissentlich auf Gralssuche befinden, ist ein aus der mittelalterlichen Gralsliteratur bekanntes Phänomen, ebenso wie die Tatsache, dass sie das wahre Ziel erst nach und nach herausfinden.1 Im Da Vinci Code mutmaßt der in der Geschichte des Grals bewanderte Robert Langdon schon bald, dass es sich um „die Legende des Sangreal […], die Legende vom Heiligen Gral handelt“ (S. 223). Deswegen klärt er seine erstaunte Mitstreiterin Sophie über die „eigentliche Natur des Grals“ (S. 224) auf: Dieser sei eben nicht, wie sie dachte, der Kelch des Abendmahls, in dem Joseph von Arimathäa das Blut des gekreuzigten Christus aufgefangen habe (vgl. S. 225).2 Die Lesart des 1
Auch die Protagonisten des Parzival und der Crône befinden sich unbewusst auf Gralssu-
2
Die Version, dass es sich beim Gral um den Kelch von Joseph von Arimathäa handle,
che, vgl. dazu Kapitel II.2. findet man in vielen mittelalterlichen Quellen seit Robert de Boron mit seinem Gralsroman diese Lesart publik machte.
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Grals als Kelch sei nur „eine genial erdachte Allegorie“ und ein Zeichen für „etwas weitaus Machtvolleres“ (S. 225). Mit dem Wort Gral wird laut Langdon zum einen die Sammlung der Sangreal-Dokumente, die die wahre Gralsgeschichte belegen, und zum anderen der Gral selbst, der mit dem göttlich Weiblichen verbunden ist, bezeichnet. In der Szene wird den Leser_innen vermittelt, was Robert Langdon über die wahre Natur des Grals mutmaßt. Sophie Neveu wird jedoch erst später darüber aufgeklärt. Sobald das Wort Gral gefallen ist und ein Bezug zum Gralsmythos hergestellt wird, kann beinahe jedes Wort, jedes Symbol und jede Szene mit dem mysteriösen Gefäß in Verbindung gebracht werden. Auch die beiden Suchenden, Sophie Neveu und Robert Langdon, bleiben, seit der Gral als mögliches Ziel genannt wurde, im weiteren Fortgang der Handlung, die sich als wahre „Schnitzeljagd“ (S. 277) durch verschiedenste (Verschwörungs-)Theorien entpuppt, dem Gral auf der Spur. Die Verschwörungstheorien beziehen sich in erster Linie auf die Rollen, die die katholische Kirche, die Tempelritter und andere Geheimbünde bei der Bewahrung des Gralsgeheimnisses spielen. Wenn dem Gralssucher bewusst wird, was er zu erringen versucht, konzentriert sich sein ganzes Handeln auf dieses eine Ziel. Ab diesem Zeitpunkt ist Robert Langdons ganzes „Streben“ auf die Gralssuche „und die Frage, ob sie sich auf dem richtigen Weg zum Gral“ befinden, gerichtet (vgl. S. 390). Dies ist eine weitere Gemeinsamkeit mit den mittelalterlichen Versionen: Auch für Parzival, Gawein und Lancelot ist das Erringen des Grals das erklärte Ziel und sie bringen dafür viele Opfer. Im Da Vinci Code fällt schon von Beginn an auf, dass die Geschlechterfrage3 im Mittelpunkt steht. Zum einen bezieht dieser Gralsroman den Gral unmittelbar auf das göttliche Weibliche. Zum anderen findet sich unter den Gralssuchern – ungewöhnlich für Gralsromane – eine Frau. Dass ein Mann und eine Frau gemeinsam nach dem Gral suchen, mag auf den ersten Blick als eine Neuerung erscheinen. Bei genauerem Hinsehen jedoch ist es nur eine logische Konsequenz in einem Roman, der auf der Grundidee der Ausgeglichenheit der Geschlechter basiert.4 Die „Harmonie des Männlichen und Weiblichen“ (S. 67) scheinen die beiden Gralssucher Sophie Neveu und Robert Langdon im Da Vinci Code tatsächlich zu vollziehen. Obwohl jeder von ihnen bei der Suche andere Aufgaben übernimmt, wirken sie zunächst gleichberechtigt: Robert Langdon erkennt aufgrund seiner Tätigkeit als Symbolologe, der sich der „Erforschung verborgener Verbindungen von anscheinend zusammenhangslosen Emblemen und Zeichen verschrieben hat“ (S. 26), und 3 4
Vgl. hierzu auch Valentin (2007), S. 19. Die Harmonie der Geschlechter, die im Da Vinci Code propagiert wird, versucht der Roman beispielsweise an diversen Werken von Leonardo da Vinci (vgl. S. 165ff., S. 324ff.; S. 333), anhand der Rituale der Geheimgesellschaft Prieuré de Sion (vgl. S. 437) und mit der Interpretation von Symbolen – wie dem Davidstern (vgl. S. 596) – zu beweisen.
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aufgrund seines Wissensvorsprungs im Bereich des göttlich Weiblichen manche Zusammenhänge schneller. Sophie Neveu dagegen glänzt wiederholt durch ihr beherztes Eingreifen: Sie verhilft Robert zur Flucht vor der Polizei (vgl. S. 174; S. 184f.), legt hierbei falsche Fährten (vgl. S. 122, S. 202f., S. 210ff.) und fungiert durch ihr ständiges Beharren auf das Finden der Wahrheit als Katalysator der Suche. Beide tragen somit einen wichtigen Teil zum Finden des Grals bei. So könnte man auf den ersten Blick dem Irrtum anheim fallen, das Buch sei „feministisch“ motiviert.5 Bei genauerer Betrachtung fällt jedoch auf, dass das vermeintlich partnerschaftliche Verhältnis zwischen den beiden Gralssuchern doch ein ungleiches ist. Robert Langdon wird beispielsweise im größten Teil des Buchs vom Erzähler mit seinem Nachnamen genannt, Sophie Neveu hingegen nur mit ihrem Vornamen. Diese Differenz lässt schon eine erste Hierarchisierung entlang klassischer Geschlechterzuschreibungen erkennen. Der männliche, etablierte Wissenschaftler braucht nur einen Nachnamen und wird dadurch auf eine Ebene mit anderen (berühmten) männlichen Persönlichkeiten aus Wissenschaft und Kunst gestellt, auf die der Da Vinci Code rekurriert und die ebenfalls in das Geheimnis des Grals eingeweiht waren.6 Sophie dagegen befindet sich nicht auf Augenhöhe mit diesen männlichen Eingeweihten. Zu Beginn wird sie noch als gleichberechtigter Part des Gralssucher-Duos und als aktive Figur inszeniert. Dies zeigt beispielsweise die von ihr ausgeklügelte Flucht, auf der sie Robert Langdon erklärt, er solle sie machen lassen (vgl. S. 202). Im Verlauf der Handlung jedoch wird sie mehr und mehr zu einer bloßen Stichwortgeberin.7 Immerzu muss Robert Langdon ihr sein (Mehr-)Wissen über den Gral und das göttlich Weibliche nahe bringen. Der Symbolologe, der stets 5
Vgl. hierzu Siedlaczek, Kornelia: „Männerphantasien. Frauen in The Da Vinci Code.“ In:
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Es fällt auf, dass ausschließlich die männlichen Figuren des Da Vinci Code mit ihren
Valentin (2007), S. 111-115, hier S. 111. Nachnamen gekennzeichnet werden, beispielsweise auch der ermittelnde Polizeibeamte Fache, der Louvredirektor Saunière, der Bischof Aringarosa und der Gralssucher Teabing. Dasselbe geschieht auch bei der Nennung berühmter männlicher Künstler und Wissenschaftler, wie z.B. da Vinci, Newton, Pope. Alle Frauen dagegen – neben Sophie Neveu auch ihre Großmutter Marie Chauvel – und weitere Verkörperungen des Anderen – wie beispielsweise die monströse Figur des Albinos Silas – werden nur mit Vornamen genannt. Vgl. zur Frau als das Andere auch: Beauvoir, Simone de: Das andere Geschlecht – Sitte und Sexus der Frau. Übersetzt von Uli Aumüller/Grete Osterwald. Reinbek b. Hamburg 2005. 7
Vgl. zu Sophie Neveus immer eingeschränkteren Rolle: „Gleichwohl kommt ihr zunächst scheinbar eine wesentliche Rolle zu […]. Aber in der eigentlichen ‚Story‘ um den heiligen Gral wird sie zum dümmlich-retardierenden Element, das es den Haupthelden Robert Langdon und Leigh Teabing erlaubt klarzustellen, wer hier die wirklich relevanten Erkenntnisse besitzt.“ (Siedlaczek (2007), S. 112)
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eine Erklärung oder Richtigstellung von scheinbar Bekanntem bereithält, verkörpert den gebildeten (männlichen) Wissenschaftler. Er zeichnet sich in erster Linie durch Wissen und Ratio aus. Sophie Neveu dagegen, obwohl sie als Kryptologin nicht minder gut ausgebildet ist, trifft spontane Entscheidungen und verlässt sich auf ihre weibliche Intuition und ihr ‚Gefühl‘.8 Sophie Neveu ist als Helferin und Partnerin Robert Langdons austauschbar, denn dieser hat bei jedem seiner Abenteuer eine andere Frau an seiner Seite.9 Gleichwohl herrscht zwischen den beiden Gralssuchern fortwährend eine unterschwellige Anziehungskraft. Schon beim ersten Anblick ist Robert Langdon von Sophie Neveus „starker Ausstrahlung“ angetan und ihre Augen erinnern ihn an die „Vielschichtigkeit“ eines Renoir-Porträts, da diese „verschleiert, dennoch scharf, kühn“ mit einer „Aura des Geheimnisvollen“ (S. 95) seien. Auf der Flucht nähern sich beide weiter an: Robert beugt sich über Sophie und bekommt den „betörenden Hauch ihres Parfüms in die Nase“; das macht „ihm bewusst, wie nahe sie einander waren“ (S. 304). Kurz danach wird betont, wie dankbar Robert für eine „so gute und hübsche Gefährtin“10 (S. 391) an seiner Seite ist, und plötzlich geht es ihm – obwohl er kurz zuvor einen Schlag auf den Kopf erhalten hat – gleich wieder besser. Diese Anziehung ist, obwohl hier aus Sicht von Robert Langdon gezeigt, eine wechselseitige. Dem wird beim Abschied der beiden Gralssucher, nachdem sie das Geheimnis des Grals tatsächlich lösen konnten, Ausdruck verliehen: Es kommt zu zwei Küssen und der Verabredung eines (intimen) Treffens in naher Zukunft (vgl. S. 600). Hier ist es zunächst Sophie, die die Initiative ergreift, sie beugt sich beide Mal zu Robert hin und küsst ihn. Zum Schluss bleibt es jedoch dem Mann überlassen, den konkreten Vorschlag für ein Treffen in Florenz auszusprechen. Sophie stimmt zu und deu8
Ein Beispiel hierfür wäre ihr spontanes Verhalten auf der Flucht vor Inspektor Bezu Fache oder die betont körperlichen Reaktionen auf die Grals- und somit ihre Familiengeschichte (vgl. S. 353).
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Vgl. hierzu, dass Robert Langdon in Illuminati von einer anderen Frau – Vittoria Vetra – unterstützt wurde. Auf sie und das romantische Verhältnis, das Robert Langdon mit ihr hatte, wird im Da Vinci Code an verschiedenen Stellen Bezug genommen (u.a. S. 26, S. 51). Siedlaczek geht davon aus, dass, wenn es ein drittes Abenteuer von Robert Langdon geben sollte, „ein neues, weibliches Akzidenz beigestellt“ werde. Vgl. Siedlaczek (2007), S. 112, FN 5.
10 ‚Gefährtin‘ deutet Dan Brown im Fall von Maria Magdalena als ‚Geliebte‘, ‚Sexualpartnerin‘ und ‚Mätresse‘ um (vgl. S. 266). Vgl. hierzu auch Zwick, Reinhold: „‚Der Erlöser liebte Maria Magdalena mehr als alle Jünger‘ (EvPhil 55b). Anmerkungen zu Dan Browns Rezeption gnostischer Traditionen.“ In: Valentin (2007), S. 49-76, hier: S. 69. ‚Gefährtin‘ als Bezeichnung ist in gnostischem Sinne eher als Weggefährtin zu verstehen. Vgl. Michael Welte: „Browns Mutmassungen sind widerlegt.“ In: factum 4 (2005), geführt von Alexander Schick. Unter: www.factum-magazin.ch (Stand: 26.01.2010).
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tet mit einem „verheißungsvollen Leuchten in den Augen“ (S. 600) an, in Italien stünde etwas anderes auf dem Programm als der Besuch von Museen. Obwohl an dieser Stelle die Aussicht auf ein intimes Treffen angedeutet wird, ist das Verhältnis von Robert Langdon und Sophie Neveu bis zu ihrem Abschied ‚keusch‘. Dies ist vor allem deswegen auffällig, da im Da Vinci Code ansonsten (geschlechtliches) Begehren nicht programmatisch ausgespart wird. Je mehr die beiden Gralssucher über den Gral erfahren, umso mehr rücken die Diskursfelder der Sexualität und Macht11 in den Vordergrund. 2.2 Die Gralssuche Solange die Lösung des Rätsels noch nicht in greifbarer Nähe liegt, brauchen die Gralssucher des Da Vinci Code Hilfe. Sie wenden sich, um die vom Louvredirektor Saunière geschickt versteckten Hinweise entschlüsseln zu können, an einen Experten auf dem Gebiet des Grals. Sie besuchen Sir Leigh Teabing, der als „Ritter“ (S. 302) auf Gralssuche und „bedeutendste[r]“ Gralsforscher (S. 473) eingeführt wird. Teabing vertritt eine eigene Version der Gralsgeschichte und bringt Sophie mit seinen Ausführungen die ‚wahre Natur‘ des Grals nahe. In Teabings Lesart ist der Gral nicht ein Gegenstand oder Objekt – wie im Parzival, in der Crône oder im ProsaLancelot. Deswegen darf die Frage nicht lauten: ‚was ist der Gral‘ sondern ‚wer ist der Gral‘. Der Gral ist laut Teabing nämlich „eine Frau“ (S. 332).12 Er ist das Sinnbild für den weiblichen Körper,13 und zwar für den Körper Maria Magdalenas: „Die Legende vom Heiligen Gral ist eine Legende vom königlichen Geblüt. Wenn in der Legende die Rede ist vom ‚Kelch, der das Blut Christi aufgefangen hat‘... ja, dann ist in Wahr-
11 Vgl. hierzu Valentin (2007), S. 18. 12 Die Lesart des Grals als Symbol für das Weibliche und Mütterliche ist nicht neu (vgl. hierzu Theresia Heimerl: „Zur esoterischen Vorgeschichte von The Da Vinci Code.“ In: Valentin (2007), S. 117-133, v.a. S. 128-130). Diese Deutung geht u.a. auf die Arbeiten von C.G. Jung und dessen psychologische Deutung der Gralsgeschichte zurück: Jung, Emma/Franz, Marie-Louise: Die Graalslegende in psychologischer Sicht. Zürich/Düsseldorf 1997, v.a. S. 121. 13 Vgl. hierzu Brown (2004), S. 327: „Das Kelchzeichen hat Ähnlichkeit mit einem Trinkgefäß oder einer Schale, aber vor allem ähnelt es dem weiblichen Schoß. Es symbolisiert Weiblichkeit und Fruchtbarkeit. [...] In der Legende wird berichtet, dass der Gral ein Kelch sei oder eine Schale. Aber das ist in Wirklichkeit eine Allegorie, mit der die wahre Natur des Heiligen Grals verschleiert worden ist. Ich will damit sagen, dass der Kelch in der Legende für etwas viel Wichtigeres benutzt wird.“
42 | EINFÜHRUNG heit von Maria Magdalena die Rede, von dem weiblichen Schoß, der das Geblüt Christi getragen hat.“ (S. 342)
Somit gilt die Suche nicht weder einem Gegenstand, noch folgt sie einer christlichen Mission, vielmehr handelt es sich um eine „verborgene Suche nach der göttlichen Urmutter. Die christlichen Ritter, die sich angeblich auf die Suche nach dem Kelch begeben haben, benutzten diese Kodierung als Schutzmaßnahme vor einer Kirche, die die Urmutter verbannt, die Frauen unterdrückt, Ungläubige auf den Scheiterhaufen geschleppt und heidnische Verehrung der göttlichen Urmutter zum Verbrechen erklärt hat.“ (S. 328)
Seine Theorie beweist der fanatische Gralssucher Teabing anhand von Leonardo da Vincis Letztem Abendmahl (1495-1498, Abbildung 1). Der Maler habe das Geheimnis des Grals gekannt und in seinem secco chiffriert (vgl. S. 399). Wie auf Abendmahlsdarstellungen üblich findet man auch auf da Vincis Version für die Kirche Santa Maria delle Grazie in Mailand Jesus mit seinen zwölf Jüngern an einer Tafel sitzend. Was Leonardo aber als besonderes Geheimnis der Nachwelt in seinem Gemälde habe mitteilen wollen, wird im Da Vinci Code mithilfe einer Bildinterpretation deutlich gemacht: Obwohl Leonardo da Vinci „sehr geschickt im Herausarbeiten der Geschlechtsunterschiede“ gewesen sei (S. 334), sei es nicht wie allgemein bekannt Johannes, der Lieblingsjünger, der zu Jesus Rechten abgebildet sei. Vielmehr handle es sich bei dieser Figur um Jesus’ Geliebte Maria Magdalena (vgl. Detailansicht des Letzten Abendmahls, Abbildung 2). Auf den ersten Blick scheint diese Lesart, die Teabing vorschlägt, äußerst progressiv und gegen den kanonischen Glauben der konservativen katholischen Kirche gerichtet, demzufolge der Messias „nichts mit Frauen zu schaffen“ gehabt und sich schon gar nicht „mit einer Frau geschlechtlich vereinigt“ (S. 352) habe.14 Leonardo da Vinci hat, aus kunsthistorischer Sicht betrachtet, in seiner Darstellung des Abendmahls tatsächlich mit der etablierten Bildtradition des Sujets gebrochen und Neuerungen eingeführt. Um nur einige wichtige Punkte zu nennen: Weder hat er, wie sonst üblich den Lieblingsjünger Johannes an der Brust Jesu platziert, noch hat er Judas als Verräter exponiert und aus der Schar der Jünger ausgeschlos14 Die Idee, dass Jesus und Maria Magdalena ein (Liebes-)Paar waren, ist nicht mehr neu, ist es doch auch die Kernthese von Leigh et al. (1982), auf die sich Dan Brown hier bezieht. Zudem gibt es zahlreiche Romane und Filme, die sich auf diese These beziehen, für eine detaillierte Liste, vgl. Zwick (2007), S. 49ff. Als Beispiel kann man Die letzte Versuchung Christi (M. Scorsese, USA 1988, nach dem gleichnamigen Roman von Nikos Kazantzakis von 1951) heranziehen, auf den auch im Da Vinci Code Bezug genommen wird, vgl. Brown (2004), S. 338ff.
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sen. Auffällig und neu ist, dass die Jünger und die Christusfigur nicht durch Heiligenscheine gekennzeichnet sind. Da Vinci hat zudem die Komposition verflüssigt und weniger statisch inszeniert, indem er beispielsweise die Jünger nicht – wie das noch in mittelalterlichen Szenen dieser Art gängig war – linear angeordnet und jeden von ihnen individualisiert gestaltet hat.15 In der fortschrittlichen Behandlung der Abendmahlsszene liegt möglicherweise die Basis für eine andere Lesart des Bildes, wie sie auch Dan Browns Roman vornimmt. Was passiert jedoch, wenn man die scheinbar progressive Interpretation des Bildtypus, dass die Person zur Rechten Jesu Maria Magdalena sei, mit der traditionellen Deutung, dass diese Person der Lieblingsjünger Johannes sei, vergleicht? Während die progressive Lesart des Bildes nur auf den ersten Blick subversiv wirkt, bietet die traditionelle Deutung dagegen Raum für eine andere, neue Interpretation. Die Lesart der Abendmahlsdarstellung im Da Vinci Code will sich von der klassischen Interpretation und einer „vorgefasste(n) Meinung“ verabschieden und zugleich „Unstimmigkeiten“ aufzeigen (vgl. S. 334). So sehr diese Interpretation jedoch die Glaubensgrundsätze der Kirche in Frage stellt, so sehr bleibt sie zugleich durch die Betonung der geschlechtlichen Dichotomie, nämlich der klassischen Aufteilung in ‚männlich‘ und ‚weiblich‘ bzw. „Yin und Yang“ (S. 335), normativen Geschlechtszuschreibungen verhaftet. Dan Brown bemüht in seinem Roman, um die Geschlechterdichotomie zu stützen, sogar den Taoismus: „Dem Prinzip Yin entspricht das Negative, Weibl., Dunkle, die Erde, die Passivität, das Feuchte, die unterbrochene Linie, dem Prinzip Yang das Positive, Männl., Helle, der Himmel, die Aktivität, das Trocken, die ununterbrochene Linie.“16 Die Szenerie in Leonardos Letztem Abendmahl ist auf Jesus als zentralen Mittelpunkt ausgerichtet. Dies wird nicht nur durch seine Platzierung in der Mitte der Abendmahlstafel, sondern auch durch den gesamten Bildaufbau verstärkt, zum Beispiel durch die Architektur des Raumes, in den die Szene eingebunden ist. Der Raum, in dem das Mahl Jesu und seiner Jünger stattfindet, hat an der Hinterseite drei Fenster, die einen vagen Blick in die bergige Landschaft frei geben. Die Anordnung der Fenster erinnert an den Aufbau eines dreiflügligen Altars, mit ebensolcher Betonung der Mitte. In dieser Mitte, d.h. vor dem mittleren Fenster sitzt Jesus. Der Lichteinfall, der die weiße Farbgebung der Tischdecke betont, führt das Auge des Betrachters zusätzlich zu Jesus und seinen Jüngern hin. Diese haben gleichmäßig, je zu sechst bzw. in je zwei Dreiergruppen zur rechten und linken Seite der Tafel Platz genommen.17 Die Anordnung ist eine weitere Kompositionskomponente, 15 Vgl. Nicoll, Charles: Leonardo Da Vinci. Die Biografie. Aus dem Englischen von Michael Bischoff. Frankfurt am Main 2006, S. 375, 378. 16 Lexikon der Symbole, hrsg. von Udo Becker. Freiburg 1992, S. 336. 17 Die Einteilung der Jünger in Dreiergruppen hat sich in der Sekundärliteratur durchgesetzt: Vgl. u.a. Steinberg, Leo: Leonardo’s Incessant Last Supper. New York 2001; Ei-
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die Jesus als Zentrum der Darstellung betont. Die Haltung Jesu sticht zudem hervor. Sein „Oberkörper und seine Arme bilden ein gleichschenkliges Dreieck“,18 und er blickt auf seine linke Hand, die auf das Brot des gemeinsamen Mahls deutet. Weil Jesus auf Tisch und Brot hinunter blickt, könnte man meinen, Leonardo habe in der Szene den Moment festgehalten, in dem Jesus laut dem Matthäusevangelium das gesegnete Brot in Stücke bricht und seinen Jüngern mit den Worten „nehmt und eßt, das ist mein Leib“ (Matthäus, 26, 26) anbietet. Die Szene ist zeitlich somit nach der Ankündigung Jesu, dass einer der Anwesenden ihn verraten werde, zu setzen: „Und während sie aßen, sprach er: ‚Amen, ich sage euch: Einer von euch wird mich verraten und ausliefern‘. Da waren sie sehr betroffen und einer nach dem andern fragte ihn: ‚Bin ich es etwa, Herr?‘“ (Matthäus, 26, 21f.). Dass Jesus den kommenden Verrat bereits angedeutet hat, ist an den unterschiedlichen Reaktionen, die man aus der Körperhaltung und Mimik der Jünger erkennen kann und die da Vinci mit unglaublicher Differenziertheit und Vielfalt des menschlichen Ausdrucks dokumentiert hat, abzulesen.19 Die Dreiergruppe ganz links, zu der Bartholomäus, Jakobus und Andreas gehören, drückt Erstaunen und Entsetzen aus, erkennbar zum Beispiel an dem gelb gekleideten Andreas, der seine offenen Handflächen zum Betrachter erhebt, als wolle er jeglichen Verdacht von sich weisen. Daneben sind die drei wichtigsten Jünger abgebildet: Petrus, Judas und Johannes. Petrus wendet sich scheinbar direkt an seinen Sitznachbarn Johannes und will von diesem wissen, wer der Verräter ist. Das Gesicht des tatsächlichen Verräters Judas liegt im Schatten. Durch dieses Spiel ist seine ganze Figur antipodisch zum lichten, hellen Zentrum ins Dunkel gesetzt. Seine Reaktion auf die Anschuldigung ist zwar nicht erkennbar, aber durch den Geldsack in seiner Hand ist er schon längst als der Verräter gekennzeichnet. Angestrengt scheint er Johannes und Petrus zu beobachten, versucht dabei gelassen zu wirken, und sich nicht anmerken zu lascholz, Georg: Das Abendmahl Leonardo da Vincis. Eine systematische Bildmonographie. München 1998. Mit einem besonderen Hinweis auf die da Vinci so wichtige Gestik und Mimik der Jünger im Bild ist eventuell auch eine andere Gruppierung möglich, vgl. Landwein, Michael: Das Abendmahl. Weltendrama und Erlösungstat. Dornach 2004, S. 37. 18 Kraß (2007); Kraß interpretiert das Letzte Abendmahl auch noch in einem anderen Zusammenhang, vgl. Ders. (2009b), S. 167-184. 19 So bekräftigt auch Johann Wolfgang Goethe bei seiner Beschreibung des Letzten Abendmahls: „… was ihm [Leonardo] besonders am Herzen lag, war die Verschiedenheit der menschlichen Gesichtsbildung, in welcher sich sowohl der bestimmte Charakter, als auch die momentane Leidenschaft […] darstellt.“ (Zit. nach: Leonardo da Vinci: Das Abendmahl. Mit einer Einleitung von Goethe, hg. von Emil Schaffer. Berlin 1914, S. 2). Vgl. zur Belebung, Bewegung, den mannigfaltigen Affekten und Gebärden, die da Vinci in den Figuren der Jünger zum Ausdruck bringt, auch Landwein (2004), S. 36.
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sen, dass er Jesus an die Römer ausliefern wird. Auch die sechs Jünger auf der rechten Seite lassen sich in zwei Dreiergruppen einteilen. Direkt neben Jesus hält Jakobus der Ältere mit ausgebreiteten Armen den aufgebrachten Thomas zurück, der mit erhobenem Zeigefinger dem noch unbekannten Verräter zu drohen scheint. Auch Philippus wird durch Jakobus’ Arm aufgehalten, dieser wirkt aber im Gegensatz zu Thomas nicht erbost, sondern erschüttert, in sich zusammengesunken. Daneben wenden sich die Brüder Matthäus und Thaddäus von Jesus ab und Simon, der ganz am Ende der Tafel sitzt, zu. Sie versuchen wohl im Gespräch mit ihm und durch wilde Gesten ihrer Ungläubigkeit über das eben Gesagte Herr zu werden. Simon ringt ebenfalls mit der Fassung und reagiert mit einer verzweifelten, abwehrenden Handbewegung. Die verschiedenen Reaktionen der Jünger hat Leonardo da Vinci in seinen wenigen Notizen zu diesem Gemälde festgehalten: „Einer, der gerade trinken wollte, aber den Becher auf seinem Platz stehen ließ und den Kopf dem Erzählenden zuwandte. Ein andrer, die Finger seiner Hände verschränkend und die Stirn runzelnd, wendet sich seinem Nachbarn zu. Ein andrer, mit offenen Händen, zeigt die Handflächen, hebt die Schultern gegen die Ohren und öffnet den Mund vor Erstaunen. Ein andrer sagt seinem Nächsten etwas ins Ohr, und dieser, der lauscht, dreht sich ihm zu und schenkt ihm Gehör, in einer Hand ein Messer, in der andern das mit diesem Messer durchgeschnittene Brot. Ein andrer, mit einem Messer in der Hand,20 wirft beim Umdrehen mit dieser Hand einen Becher auf dem Tisch um. Ein andrer legt die Hände auf den Tisch und starrt vor sich hin. Ein andrer bläst auf seinen Bissen. Ein andrer beugt sich vor, um den Erzählenden zu sehen, und beschattet dabei mit der Hand seine Augen. Ein andrer tritt hinter den zurück, der sich vorbeugt, und schaut zwischen der Wand und dem Vorgebeugten auf den Erzählenden.“21
Nur eine der dargestellten Figuren scheint in dem aufgeregten Moment ruhig zu bleiben und bildet somit eine Ausnahme inmitten der Jünger. Es handelt sich hierbei um die Figur direkt zur Rechten Jesu, die als einzige wie er frontal dargestellt ist. Diese Figur nimmt zudem das Dreieck, das der Körper Jesu bildet, auf und lehnt sich im selben Winkel von diesem weg. Der leere Raum zwischen den beiden Körpern und die Figur selbst nehmen das Dreieck auf und bilden es zugleich wieder ab. „Wer ist die Gestalt, die zu Jesu Rechten sitzt und sich gerade von ihm weglehnt? Nach traditioneller Lesart handelt es sich um ‚den Jünger, den Jesus liebte‘ wie es mehrfach im Johannesevangelium heißt.“22 Jesus und sein Lieblingsjünger Johannes 20 Bei dem Jünger mit dem Messer handelt es sich, wie beschrieben, um Petrus und wahrscheinlich ist es eine Anspielung auf den weiteren Fortgang der Kreuzigungsgeschichte in der Bibel. Vgl. hierzu Lukas 22, 50. 21 Leonardo da Vincis Notizen zitiert nach Nicholl (2006), S. 377, vgl. auch ebd. FN 90. 22 Kraß (2007), S. 44.
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werden nicht nur in der Bibel als Einheit gekennzeichnet, sondern auch in klassischen Abendmahlsdarstellungen findet man Johannes an Jesus Brust gelehnt bzw. dort schlafend.23 Da Vinci bricht zwar tatsächlich mit der Tradition, durch Körperhaltung oder Zusammenrücken der beiden die Zusammengehörigkeit von Jesus und Johannes zu betonen, und stellt in seiner Version des Abendmahls deren Nähe mit subtileren Kompositionsmitteln her. Obwohl Jesus und sein Lieblingsjünger zu den jeweils gegenüberliegenden Seite der Tafel blicken, wird in der Bildkomposition durch die bereits erwähnte gleiche (dreiecksförmige) Haltung der beiden, aber auch durch ihre wallende Haarpracht und die sich ergänzenden Farben ihrer Gewänder und Umhänge24 eine Zugehörigkeit trotz Ferne erzeugt: „(S)oul mates, hence mirror images, matched in outline, in (original) hue of garment and tilt of head.“25 Kraß betont, dass die bildliche Zusammengehörigkeit der beiden Männer in da Vincis secco auf die Bibelstelle verweist, in der Petrus Johannes dazu bringen möchte, von Jesus den Namen des Verräters zu erfahren. Es handelt sich laut Kraß somit um den Moment kurz bevor Johannes an die Brust „seines Liebhabers“26 zurückkehrt, wo sein Platz ist. In der Bibel heißt es dazu: „Einer von seinen Jüngern, der, den Jesus liebte, lag an der Brust Jesu; diesem winkte Simon Petrus und sagte zu ihm: ‚Sag, wer ist es, von dem er redet!‘ Jener neigte sich zur Brust Jesu zurück und sprach zu ihm: ‚Herr, wer ist es?‘“ (Johannes 13, 23-25).27 Die Innigkeit, die der Körperkontakt zwischen Jesus und Johannes betont, wird jedoch nicht mehr von langer Dauer sein. Sie wird, wie auch das Abendmahl oder auch ‚Letzte Mahl‘, vom bevorstehenden Tod Jesu überschattet. Kraß kommt in seinem Aufsatz zu dem Schluss, dass die Liebe bzw. das ‚Verhältnis‘ zwischen Jesus und Johannes, wenn man sie in den verschiedenen Lesarten und Rezeptionen im Mittelalter, der Renais-
23 Vgl. hierzu beispielsweise Albrecht Dürers Abendmahl (1523, Abbildung 3). 24 „Jesus trägt ein rotes Gewand mit blauem Umhang, sein Lieblingsjünger ein blaues Gewand mit rötlichem Umhang.“ (Kraß (2007), S. 44) 25 Steinberg (2001), S. 78. 26 Vgl. dazu, Kraß (2007), S. 44. Die Aussagen der Bibel, die von Johannes an Jesu Brust schlafend berichten, könnten sich auch auf die Tatsache beziehen, dass im antiken Judentum halbliegend gegessen wurde. Vgl. hierzu Schick, Alexander: Der Gral und das Abendmahl. In: factum 4 (2005). Vgl. http://www.factum-magazin.ch (Stand: 26.01. 2010). 27 Das Verhältnis von Jesus und dem Jünger, den er liebte, findet man in etlichen Bibelstellen beschrieben, vgl. hierzu z.B. Johannes 19, 25-27; 19, 33-37; 20, 1-8; 21, 4-7; 21, 2024. Der Lieblingsjünger bleibt im Johannesevangelium zwar anonym, aber ist mit dem Jünger Johannes und nicht mit dem Schreiber des Johannesevangeliums gleichzusetzen. Vgl. hierzu Kraß (2007), Anm. 1, S. 58.
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sance und der Moderne verfolgt, ein Musterbeispiel für die historische Veränderbarkeit der Diskurse über das gleichgeschlechtliche Begehren von Männern sei.28 Im Gegensatz zu der oben beschriebenen Lesart der beiden Figuren als Jesus und Johannes geht die Bildinterpretation im Da Vinci Code in eine andere Richtung. Auch diese Interpretation stellt die Zusammengehörigkeit der beiden Figuren, wie sie Komposition und Aufbau des Bildes förmlich aufdrängen, fest. Erwähnt wird ebenso die wechselseitig umgekehrte Farbigkeit der Gewänder und darüber hinaus wird bemerkt, dass beide Figuren an der „Hüfte miteinander verbunden zu sein scheinen“ (S. 335). Jedoch sieht diese Lesart in der Figur mit den ‚femininen‘ Zügen zur Rechten Jesu nicht Johannes, sondern Maria Magdalena, Jesu „Braut“ (S. 335). Warum es sich um eine Frau, nicht um einen Mann handeln soll, wird wie folgt begründet: Sophie Neveu, die im Haus des Gralssuchers Leigh Teabing endlich einige Erklärungen für die Geheimnisse um den Gral findet, „betrachtet die Gestalt eingehend. Sie hatte weich fließendes, langes rotes Haar; die zarten Hände waren gefaltet, und sogar die Andeutung eines Busens war zu sehen“ (S. 333). An weichem, langem Haar, zarten Händen und der Wölbung der Brust wird die Zuschreibung der Figur als weiblich festgemacht. Außerdem, so argumentiert Leigh Teabing im Da Vinci Code weiter, müsse Jesus als Jude der damaligen Zeit verheiratet gewesen sein (vgl. S. 265). Aber Jesus hielt sich nicht an alle Regeln der damaligen Zeit. Zu seiner Person gehört es, dass er unverheiratet war und dass er, was ebenso unkonventionell für die damalige Zeit war, Frauen in seinem Gefolge einen besonderen Platz einräumte oder sie sogar hervorhob.29 Neben dieser für Dan Brown eindeutigen Identität als Frau weise zudem die V-förmige, unausgefüllte Leerstelle zwischen den beiden Figuren im Brennpunkt des secco auf die Symbolfigur des nach oben offenen Dreiecks hin. Diese wurde im Da Vinci Code schon einige Seiten zuvor als Sinnbild für den Kelch, den Gral und gleichzeitig für den weiblichen Schoß verwendet.30 Die den beiden männlichen Forschern Leigh Teabing und Robert Langdon schon bekannte Theorie, der Gral sei ein Symbol für den weiblichen Unterleib bzw. den Schoß Maria Magdalenas, wird durch die beschriebene Interpretation des Bildes – und mit Hilfe von Verschwörungstheorien – eine innere Logik verliehen. Trotz allem bleibt bei der Lesart vom Da Vinci Code eine Leerstelle: Wo ist der Jünger Johannes geblieben, wenn zur Rechten Jesu Maria Magdalena abgebildet ist? Diese Figur ist unverzichtbar, denn sie spielt im Ensemble der Abendmahls-Szene eine bedeutende Rolle. Aber nicht nur ein populärer 28 Vgl. hierzu Kraß (2007), S. 55. 29 Vgl. zum Unverheiratetsein von Jesus und zum Lob der Frauen: Bock (2005). Darin werden auch Bibelstellen zitiert, die auch meiner Meinung nach beide Punkte hervorheben: zum Unverheiratetsein: Matthäus 19, 10-12; zur wichtigen Rolle der Frau: Lukas, 8, 1-3; 7, 36-50; Johannes 12, 1-8. 30 Vgl. dazu Brown, S. 335; zu den Dreiecken bzw. zur V-Form, vgl. S. 327.
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Text wie der Da Vinci Code enthält die Theorie, dass bei Abendmahlsdarstellungen neben Jesus seine Geliebte Maria Magdalena abgebildet sei. Der Ausstellungskatalog Wer ist der Gral. Geschichte und Wirkung eines Mythos des Richard-WagnerMuseums in Bayreuth, der mit Beiträgen des Museumsleiters Sven Friedrich, der Musikwissenschaftlerin Ulrike Kienzle und des Mediävisten Volker Mertens aufwartet, behauptet Ähnliches. Als Bildunterschrift eines Wandteppichs, der auf Bernaert van Orley zurück geht und den Titel Das Letzte Abendmahl (um 1520, Abbildung 4) trägt, ist zu lesen: „Dem aufmerksamen Betrachter wird auffallen, dass sich überraschenderweise 14 Figuren auf dem Bild befinden: Jesus Christus, die zwölf Apostel und Maria Magdalena, die vertraut und intim in den Armen Christi ruht.“31 Bei dem Wandteppich ist es auf den ersten Blick noch plausibler als bei der Abendmahlsdarstellung von da Vinci, Maria Magdalena neben ihrem Geliebten Jesus und seinen Jüngern zu vermuten. Auf dem Wandteppich wäre sonst einerseits mit vierzehn Männern eine Figur zu viel abgebildet und andererseits weist die intime Geste Jesu, der die Figur neben sich an der Brust berührt, möglicherweise tatsächlich darauf hin, dass die beiden ein Liebesverhältnis verbindet. Bei einer genaueren Analyse des Teppichs und der abgebildeten Figurenkonstellation fällt jedoch auf, dass eine Figur im Bildvordergrund sich deutlich von den restlichen Jüngern abhebt: die dritte Figur von links, fast in der Bildmitte, die ein grünes Gewand trägt. Statt eines Heiligenscheins bedeckt ihr Haupt eine Mütze und im Gegensatz zu den anderen abgebildeten Jüngern, die wie Jesus nackte Füße haben, trägt sie Sandalen.32 Nicht nur die Tatsache, dass die Figur im Bildvordergrund Schuhe anhat und keinen Heiligenschein aufweist, hebt sie von den restlichen Jüngern ab, sondern auch das Gesamtbild ihrer Gewandung: die Ärmel ihres Kleides sind kunstvoll mit Tüchern geschnürt und verzierte Schoner umschließen ihre Waden. Außer der schlafenden Person neben Jesus ist diese die einzige, die ihre Aufmerksamkeit nicht auf ein Gespräch mit einem anderen Jünger oder auf Jesus selbst richtet. Vielmehr gießt der Mann mit unaufgeregter Miene seinem rotgekleideten Nachbarn zur Rechten Wein ein. Die Unterschiede in der Ausführung der Kleidung und Tätigkeit der Figur lassen darauf schließen, dass es sich bei der Figur nicht um einen der zwölf Jünger, sondern um einen Bediensteten handelt. Dessen Aufgabe ist es, Wein auszuschenken, und von dieser Tätigkeit lenkt ihn auch der bevorstehende Verrat an Jesus nicht ab, was sein unbewegter Gesichtsausdruck erkennen lässt. 31 Vgl. Wer ist der Gral. Geschichte und Wirkung eines Mythos – Ausstellungskatalog des Richard-Wagner-Museums, Bayreuth. Herausgegeben von Sven Friedrich et al. München/Berlin 2008, S. 55. 32 Zur Barfüßigkeit als Attribut der Zugehörigkeit zur Gemeinschaft von Jesus, vgl.: Schreiner, Klaus: „‚Nudis pedibus‘ – Barfüßigkeit als religiöses und politisches Ritual.“ In: Althoff, Gerd (Hg.): Form und Funktion öffentlicher Kommunikation im Mittelalter. Stuttgart 2001, S. 53-124, v.a. S. 121.
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Wenn es sich bei diesem Mann um einen Diener handelte, wäre das Problem, dass eine Figur zu viel auf dem Bild ist, gelöst. Dann ist die schlafende Person neben Jesus trotz ihrer androgynen Gesichtszüge sein Lieblingsjünger Johannes. Das zweite Argument der Bildinterpretation fußt auf der intimen Geste gegenüber der schlafenden Figur, welches bei einer genaueren Analyse auch nicht mehr Stand hält. Der Griff von Jesus an die Brust seines Nachbarn scheint eher besitzergreifend als intim. Ein solches Motiv – Jesus greift Maria Magdalena an die Brust – wäre zum einen, falls Jesus der Frau in irgendeiner Art zugetan gewesen sein sollte, respektlos. Zum anderen ist eine solche Geste auch sonst in der Kunst nicht bekannt. Außerdem stellte sich, wenn die schlafende, an der Brust berührte Person Maria Magdalena sein sollte, bei diesem Wandteppich wie auch beim Letzten Abendmahl von da Vinci die Frage, welcher unter den anderen abgebildeten Männern der Lieblingsjünger Johannes ist? Somit trifft auch auf diese Darstellung des Sujets wie auf diejenige da Vincis zu, dass neben Jesus nicht Maria Magdalena abgebildet ist. Vielmehr handelt es sich bei Figur um Johannes dessen Androgynität und intimes Verhältnis zu Jesus eine Vielfalt nicht normativer Interpretationsmöglichkeiten birgt. Wenn man der Interpretation Dan Browns oder derjenigen des Ausstellungskatalogs folgt, bleibt die Möglichkeit, dass Jesus und Johannes als sich liebendes Freundespaar auf den beiden Abendmahlsszenen dargestellt wurden, auf der Strecke. Kraß weist in seinen Überlegungen zu Recht auf die Tatsache hin, dass auch ein Jüngling zur damaligen Zeit zarte Hände, wallendes Haar – das übrigens auch Jesus hat – und eine Brustwölbung „von Muskeln“ hätte haben können, und das nicht unbedingt ein Zeichen für weibliches Geschlecht sein müsste.33 Der Da Vinci Code verbreitet die Lesart, dass es sich bei dem abgebildeten Paar auf da Vincis Letztem Abendmahl um Maria Magdalena und Jesus handelt. Damit propagiert das Buch ein dichotomes Verständnis von ‚männlich‘ oder ‚weiblich‘ und stärkt die heteronormative Logik, dass Liebe und Begehren nur zwischen verschieden geschlechtlichen Partnern möglich sei.34 Diese Interpretation entlang traditioneller Geschlechtergrenzen gründet paradoxerweise auf der Androgynität des Lieblingsjüngers, die bei Brown als Zeichen für Weiblichkeit gelesen wird. Hierbei sollte man jedoch in Betracht ziehen, dass Androgynität ein mögliches Kennzeichen von Heiligkeit ist und im Fall des Lieblingsjüngers Jesu, dass „der feminin wirkende 33 In der mittelalterlichen Literatur werden sowohl in Beschreibungen der Körper von Rittern als auch in der von Damen Brüste als Attribute benannt, ohne dass sie ein geschlechtlicher Marker sind. Vgl. hierzu Schultz (2006a), v.a. S. 42: „We think of women’s breasts and men’s chest as two different things, while they [die Autoren der höfischen Romane, Ergänzung A. H.] seem to regard women’s breasts and men’s breasts as two variation of the same thing. […] both sexes can have breasts…“ 34 Kraß (2007), S. 45.
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Johannes […]“ als Abbildungstypus „nicht ungewöhnlich“ gewesen ist.35 Er wurde „oft als besonders junger, bartloser und daher weiblich anmutender Typ dargestellt.“36 Auch andere Abbildungen junger Männer in Leonardos Œuvre können zum Vergleich herangezogen werden, um die Darstellung des Johannes im Letzten Abendmahl zu bewerten.37 Es fällt auf, dass jüngere Männer in Leonardos sakralen Gemälden allesamt ähnliche Attribute aufweisen (vgl. z.B. Johannes der Täufer (1513-1516), Abbildung 5). Diese kann man auch im Letzten Abendmahl in der Darstellung von Philippus, dem dritten Jünger auf der linken Seite Jesu, wiederfinden (vgl. Abbildung 6). Er weist ähnlich wie Johannes weiche und feine Gesichtszüge auf. Somit scheint die Weichheit der Züge sowie die Bartlosigkeit eher ein Indiz für Jugend statt für weibliche Geschlechtszugehörigkeit zu sein.38 Johannes und Philippus sind in der Komposition des Letzten Abendmahls – der laut Bibel entsprechend – die beiden jüngsten in der Gruppe der Jünger, dies zeigen ihre feinen Züge wie auch ihr bartloses Gesicht. Wenn man der Farbigkeit der Gewänder im Bild so viel Bedeutung beimisst, wie das in der Interpretation im Da Vinci Code getan wird, so ist festzustellen, dass sie bei den beiden Jünglingen genau gleich gesetzt ist: beide tragen einen roten Umhang über einem blauen Gewand. Man könnte natürlich behaupten, dass Leonardo da Vinci in seinem Werk verschiedene Techniken der Darstellung von Kategorien wie Alter und Geschlecht auslotet, die einer heutigen Betrachtung eventuell als androgyn anmuten. So wird zum Beispiel im Da Vinci Code auch die Mona Lisa als „weder eindeutig männlich noch eindeutig weiblich“ gelesen, mit „Merkmale(n) von beidem“ (S. 166). Somit waren die Verschwörungstheoretiker im Da Vinci Code eigentlich schon auf dem besten Weg, die Möglichkeiten für eine queere Interpretation zu entdecken, die in Leonardo da Vincis Werken bzw. in seinem Letzten Abendmahl liegen. Man muss diese Ansätze nur weiter denken. Wenn nämlich mit dem Verhältnis von Jesus und Jo-
35 Vgl. beispielsweise auch zur Androgynität der Heiligen als überindividuelle und überidentitäre Lebensform, die in der Nachfolge eines jungfräulich-androgynen Jesus steht: Latour, Sophia: „Rückkehr zur schöpferischen Liebe.“ In: Meesmann, Hartmut/Sill, Bernhard: Androgyn. „Jeder Mensch in sich ein Paar!?“. Androgynie als Ideal geschlechtlicher Identität. Weinheim 1994, S. 129-141, hier S. 140. 36 Vgl. Frank Zöllner: „Der große Bildverdreher.“ In: Die Zeit (11.05.2006). Vgl. dazu auch den Hinweis, dass das Gesicht von Johannes „weiblicher“ gerundet als das der anderen Jünger erscheint, ohne dass in Betracht gezogen wird, es handle sich um eine Frau (Eicholz (1998), S. 357). 37 Vgl. hierzu z.B. Leonardo da Vinci, Johannes Täufer (1513–1516), Musée du Louvre, Paris. 38 Vgl. zu den Überlegungen zum Bart als Zeichen von Jugend vgl. Kapitel I.1.2.1 oder auch Schultz (2006), v.a. S. 42f.; ders. (1997), S. 93; ders. (1995), S. 120f.
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hannes nicht ein „heterosozialer, sondern ein homosozialer Liebesbund“39 auf dem Bild inszeniert wird, wird die heteronormative Ordnung aufgebrochen.40 Der Da Vinci Code dagegen kehrt zwar die Geschlechtsidentitäten um, belässt aber die Begehrensstrukturen in heteronormativen Mustern und geht damit nicht den entscheidenden nächsten Schritt. Trotz der scheinbaren Progressivität gegenüber der katholischen Kirche gliedert der Roman alles, den Gral selbst eingeschlossen, wieder in die heteronormative Ordnung ein. Dan Brown hält an Geschlechtergrenzen und geschlechtlichen Dichotomien fest, greift deren Deutungstraditionen wieder auf41 und stärkt die Heteronormativität. Die Gralsversion, die im Da Vinci Code vorgeführt wird, deutet den Gral als Symbol des weiblichen Körpers. Die Konnotation des Grals mit Weiblichkeit ist, wie schon die Bildinterpretation des Letzten Abendmahls im Da Vinci Code gezeigt hat, eine Strategie, die ausschließlich dichotome Geschlechterzuschreibungen und heteronormatives Begehren propagiert. Wie schon der vermeintliche Traditionsbruch im Da Vinci Code, dass sich neben Männern auch Frauen auf Gralssuche begeben dürfen, weit hinter den Erwartungen einer gerechten Verteilung oder gar Auflösung der Geschlechterrollen zurückbleibt, so auch die Deutung des Grals als Frau. Dan Brown geht scheinbar subversiv gegen die Geschlechterzuschreibung der Kirche vor und versucht, das göttlich Weibliche, das Jahrhunderte lang diskriminiert und unterdrückt wurde, wieder an seinen ursprünglichen Platz, gleichberechtigt mit dem Männlichen, zu setzen. Eine Harmonie der Geschlechter soll das Ziel sein, das Geheimnis hinter dem Gral. Durch dieses klare Bekenntnis zu einer zwar 39 Kraß (2007), S. 46. Mit Kraß spreche auch ich von homosozialer statt homosexueller Liebe, denn als sozial können alle Arten von menschlichem Interagieren – auch der Sexualakt – bezeichnet werden. Der Liebesbund der Vormoderne ist nicht zwangsläufig heterosozial. Die Zuneigung, die sich beispielsweise Ritter wie Galahot und Lancelot oder Gawein und Iwein entgegenbringen, unterscheidet sich an Intensität nicht von derjenigen zwischen Rittern und Damen: mînen hern Gâwein minn ich (vgl. Iwein, v. 5107ff.). Außerdem teilen die beiden Freunde auch körperliche Zuneigung: si underkusten tûsentstunt / ougen wangen unde munt. […] (Iwein, v. 7503ff.). In: Hartmann von Aue: Iwein. Text der siebenten Ausgabe von G.F. Benecke. Übersetzung und Nachwort von Thomas Cramer. 4. überarbeitete Auflage. Berlin/New York 2003. 40 Auch Niklas Luhmann führt in seiner Studie Liebe als Passion das Beispiel der homosozialen Verbindung von Johannes und Jesus an: „Man lese die Fülle der exstatischen, Körperliches einbeziehenden Formulierungen im religiösen und weltlichen Kult der Freundesliebe. Dass Freunde einander mit tausend Küssen überschütten [wie das beispielsweise Gawein und Iwein im Höfischen Roman tun]; einander in die Arme fallen […] und dass sie einander (wie Johannes Christo) an der Brust liegen…“ In: Ders.: Liebe als Passion. Frankfurt am Main 1982, S. 145f. 41 Kraß, S. 56.
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harmonischen und scheinbar gleichberechtigten doch immer noch normativen Geschlechtereinteilung beraubt sich der Da Vinci Code der Möglichkeit, das Potential anderer Lesarten, die unter der heteronormativen Oberfläche zirkulieren, zu nutzen. Neue und alternative Interpretationen von Geschlechterverhältnissen und Begehrensstrukturen aufzuzeigen, ist jedoch eine vielfach belegbare Option in der Gralsliteratur. Sie eröffnet ein widerständiges Verhältnis von Geschlecht, Sexualität und Begehren.42 2.3 Andere Gralssucher Während die Gralssucher Robert Langdon und Sophie Neveu – mit Hilfe von Leigh Teabing – dem brisanten Geheimnis des Grals auf der Spur sind, will ihr Gegenspieler, die fundamentalistische katholische Organisation Opus Dei,43 dessen Enthüllung vermeiden. Um dies zu erreichen, schickt die Gegenseite einen weiteren Gralssucher ins Rennen. Dieser tritt bereits im Prolog vom Da Vinci Code auf und wird als hünenhafter Albino mit „gespenstisch blasser Haut, schütterem weißen Haar, rosa Augen und dunkelroten Pupillen“ (S. 10) eingeführt. Die Tat, die er im Folgenden begeht, ist ebenso ungeheuerlich, wie sein monströses Auftreten es erwarten lässt: Er bringt den Louvredirektor Jacques Saunière kaltblütig um, weil dieser ihm die Antwort auf die Frage schuldig bleibt, „wo es“ versteckt sei44 – damit ist, wie sich später herausstellt, der Gral gemeint. Genaueres über den Albino wird erst im zweiten Kapitel des Buches bekannt, vor allem erhält er an dieser Stelle einen Namen: Silas. Außerdem erfährt man, dass er, als so genannter Numerarier, offizielles Mitglied von Opus Dei ist. Silas hält sich an die Weisung des Ordens,
42 Vgl. dazu Kapitel I.1.2.1 und I.1.2.2 der Einführung. Ebenso Butler, Judith: „Imitation und Aufsässigkeit der Geschlechtsidentität.“ In: Kraß, Andreas (Hg.): Queer denken – Queer Studies. Frankfurt am Main 2003, S. 144-168. 43 Opus Dei (lat., zu deutsch: Werk Gottes) ist eine Personalprälatur der römischkatholischen Kirche. Dass es sich bei der Organisation um Opus Dei handelt, könnten die aufmerksamen Leser_innen schon wissen, bevor deren Name fällt. Es wurde schon vor der Namensnennung der Organisation auf den Wahren Weg (vgl. S. 23) und somit auf das Gründungsmanifest von Josemaría Escrivá, hingewiesen. Vgl.: Escrivá, Josemaría: Der Weg. 12. Auflage. Köln, 1982; Für die Selbstdarstellung der Organisation vgl. www. opusdei.org bzw. auf Deutsch: www.opusdei.de. Für deren kritische Beobachtung durch das ODAN – Opus Dei Awareness Network: www.odan.org (Stand: 26.01.2010). Auch Dan Brown nimmt auf ODAN Bezug, vgl. S. 46. 44 Brown (2004), S. 11, kursive Hervorhebung A. H.
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sich selbst zu geißeln und einen Bußgürtel zu tragen, gemäß dem Motto Josemaría Escrivás, des Gründers von Opus Dei: „Schmerz adelt.“45 Auf der Suche nach dem Gral, die Silas als Rückzahlung seiner Schuld gegenüber Gott sieht,46 wird er von einem ominösen Drahtzieher im Hintergrund unterstützt. Dieser wird von Silas als „Lehrer“ bezeichnet (S. 22). Wie sich herausstellt, steht der Lehrer nicht auf Silas ތSeite, sondern manipuliert diesen vielmehr. Hinter dem „Lehrer“ verbirgt sich der besessene Gralsforscher Leigh Teabing,47 der sowohl Opus Dei als auch Silas, den Kämpfer für den Herrn, für eigene Zwecke ausnutzt. Teabing will selbst den Gral finden, um dessen ‚wahre‘ Geschichte an die Öffentlichkeit zu bringen. Während er im Hintergrund die Fäden in der Hand hält, lässt er den Albino unter dem Vorwand, es würde alles zum Besten von Opus Dei und Gott geschehen, den Gral suchen. Silas geht dabei brutal vor und begeht gleich zu Beginn des Romans mehrere Morde. Trotz der Gewalt, die er während der Gralssuche einsetzt, ist Silas jedoch nicht erfolgreich und findet schließlich selbst durch eine Schusswunde den Tod: „Die Nebelschwaden umwogten den gewaltigen Körper des Albinos. Silas fühlte sich seltsam leicht. Er war sicher, die Schwaden würden ihn davontragen. Er schloss die Augen und sprach ein letztes Gebet“ (S. 570). Silas ist als Albino und keuscher Gläubiger der schillerndste Gralssucher in Dan Browns Roman. Man erfährt erst nach und nach seine Lebens- und Leidensgeschichte. Schon von Geburt an wird er wegen seines „seltsamen Äußeren“ von seinem Vater misshandelt. Dieser bezeichnet Silas als „Gespenst mit den Augen des Teufels“ (S. 81). Schließlich tötet der Junge seinen Vater und flieht aus dem Elternhaus. Silas lebt als Obdachloser in gewalttätigem Milieu auf der Straße und endet, nachdem er einen weiteren Mord begangen hat, für zwölf Jahre im Gefängnis.48 45 Vgl. Brown (2004), S. 12; S. 21 und Escrivá zit. nach Brown (2004), S. 24: „‚Schmerz adelt‘, flüsterte er und wiederholte damit die heilige Formel von Pater Josémaria Escrivá, Lehrer aller Lehrer […]. Tausende gläubiger Diener auf der ganzen Welt flüsterten noch immer seine Worte, wenn sie zur heiligen Bußübung der Selbstkasteiung niederknieten.“ Bis heute streitet Opus Dei die Möglichkeit körperlicher Buße bei einzelnen Mitgliedern nicht ab. Die Organisation betont jedoch immer wieder, dass bestimmte Punkte im Da Vinci Code (Brown (2004), S. 44 ff.) falsch dargestellt seien. Vgl. dazu die fünfseitige Stellungnahme zu neun falsch beschriebenen Punkten: „Der Roman ‚Sakrileg‘ (‚Da Vinci Code‘) und das Opus Dei“ vom 15.02.2006, vgl. www.opusdei.org/art.php?p=11842 (Stand: 02. Januar 2008). 46 Vgl. hierzu Brown (2004), S. 21: „Der HERR hat dir Unterschlupf gewährt und deinem Leben einen Sinn gegeben.“ 47 Vgl. Brown (2004), S. 542ff. v.a. S. 551: „[…], dass Teabing der geheimnisvolle ‚Lehrer‘ war.“ 48 Vgl. dazu Brown (2004), S. 80-82.
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Nach einem Erdbeben wird er befreit und vom jungen Missionar Manuel Aringarosa aufgenommen, der später Leiter von Opus Dei wird. Silas nimmt sich selbst als „durchsichtig“ (S. 82) wahr, sicher eine Folge dessen, dass er seit seiner Kindheit von seiner Umwelt, vor allem von seinem Vater, als monströs und teuflisch diskriminiert wurde. Auch der Erzähler markiert Silas mit dem Vokabular des Monströsen, Unheimlichen und Ungeheuerlichen. Er führt ihn schon auf den ersten Seiten als „Gespenst“ mit eiskalter Stimme, und somit als negative Figur des Romans (vgl. S. 10). Auch als Sophie Neveu und Robert Langdon ihn das erste Mal erblicken, erfasst sie ein angstvolles Gefühl gegenüber Silas, der sie an eine „Mönchsgestalt aus dem Mittelalter“ erinnert (vgl. S. 378f.). Als der Albino von Manuel Aringarosa gerettet wird und einen Namen bekommt, scheint sich seine Selbstwahrnehmung zu wandeln: Er wird dadurch „wieder eine Person aus Fleisch und Blut“ (S. 85). Aringarosa gibt ihm den Namen ‚Silas‘ nach einer Geschichte der Bibel, in der ein Gefangener namens Silas im Gefängnis schwere Misshandlungen erfährt, im Lob Gottes Heil sucht und durch ein Erdbeben aus seiner Zelle befreit wird (vgl. Apostel, 16,25-27). Das Motiv, dass ein Gralssucher wie Silas erst im Verlauf der Handlung einen Namen empfängt, kennt man aus dem Parzival oder auch aus dem ProsaLancelot.49 Wenn es um die väterliche Genealogie und den Namen des Vaters geht, lohnt sich ein Blick auf Jacques Lacan und seinen Überlegungen zum ‚Namen des Vaters‘ (Nom-du-Père).50 Nach Lacan erfolgt jede Ausübung von Autorität, die dem Subjekt begegnet, im ‚Namen-des-Vaters‘. Dieser Ausdruck ist nicht nur wörtlich zu verstehen. Lacan deutet vielmehr an, dass die Funktion des Vaters,51 dessen 49 Vgl. dazu, wie die Gralssucher ihren Namen bzw. ihre väterliche Abstammung erfahren: Zum Parzival vgl. Kapitel, II.1.1 „Die Entwicklung zum Gralssucher im Parzival“ bzw. Parzival, v. 140, 15-30; zu Lancelot vgl. Kapitel, II.1.2 „Der gescheiterte Gralssucher des Prosa-Lancelot“ bzw. im zweiten Band des Prosa-Lancelot: Lancelot und Ginover II. Prosa-Lancelot II. Nach der Heidelberger Handschrift Cod. Pal. germ. 147. Herausgegeben von Reinhold Kluge. Ergänzt durch die Handschrift Ms. allem. 8017-8020 der Bibliothèque de l’Arsenal Paris. Übersetzt, kommentiert und herausgegeben von HansHugo Steinhoff. Frankfurt am Main 1995, hier S. 360. Im Weiteren folgen die Angaben aus diesem Band wie folgt: LuG II, dann Seiten- und Versangabe. 50 Eine besonders autoritäre Rolle kommt dem Vater vor allem deshalb zu, weil er im Ödipuskomplex das Inzesttabu symbolisiert und es unter Androhung der Kastration durchsetzt. Dabei schwingt neben dem Namen (nom) des Vaters schon immer sein Nein (non!) mit. Hierbei spielt das (verbotene) Begehren eine wichtige Rolle. Vgl. hierzu Lacan, Jacques: Name-des-Vaters. Aus dem Französischen von Hans-Dieter Gondek. Wien 2006. 51 So liest man im Kommentar zu Name-des-Vaters zur Funktion des Vaters: „Er [der Vater] ist nicht heidnisch, er ist in der Bibel. Derjenige, der im brennenden Dornbusch
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‚Name‘, sich weniger auf einen realen, als vielmehr auf einen symbolischen Vater bezieht. Diesen symbolischen Platz können deswegen sowohl andere Personen – beispielsweise Erzieher oder sogar die Mutter – als auch Gruppen oder Institutionen – wie die Kirche oder politische Parteien – einnehmen. Daher spricht Lacan oft vom Namen im Plural. Bei Silas ist Ähnliches zu beobachten. Nach Empfang seines Namens findet er auch einen symbolischen Vater und eine familienartige Institution. Er wird in eine Glaubensordnung aufgenommen und erhält einen Platz in der Gemeinschaft von Opus Dei. Aringarosa wird für Silas zu einem neuen Vater,52 weit über sein kirchliches Amt hinaus: Silas’ Namensgeber Aringarosa hat „ihn überhaupt erst zum Leben erweckt“, ihn „erzogen“ und „ihm ein Lebensziel gegeben“ (S. 230). Es ist der Priester gewesen, der das Monster mit der weißen Haut in einen Diener Gottes „mit der Haut eines Engels“ (S. 230) verwandelt hat. Für diesen Vater und die Institution der katholischen Kirche macht Silas sich auf die Suche nach dem Geheimnis des Grals und schreckt auch vor skrupelloser Gewalt nicht zurück. Diese Taten bestätigen sein negativ konnotiertes Bild als „Gespenst mit den Augen des Teufels“ (S. 81). Silas ist der Albino, der Böse, der markierte Außenseiter auf der Gralssuche. Im Unterschied zu Sophie Neveu und Robert Langdon indiziert er, wie es oft bei monströsen Figuren in der Literatur geschieht, eine komplexere und vielschichtigere Konstellation von Geschlecht und Begehren.53 Silas ist nicht Teil des Gralssucherduos, unterstützt es nicht, sondern arbeitet vielmehr gegen es. Silas ist ein ‚anderer‘ Gralssucher, er ist ein „Ungeheuer“ (S. 81) oder „Geist“ (S. 82), den Gewalt von Geburt an begleitet. Auch als Silas in der Kirche eine neue Heimat und Familie findet, verschwindet die Gewalt nicht aus seinem Leben. Zur Gewalt gegen andere tritt die Gewalt gegen sich selbst, jeder Äußerung der Brutalität nach außen findet inneren Ausdruck in Form einer Selbstgeißelung, wie zum Beispiel dem Anlegen eines mit Nägeln besetzten Büßergürtels. Wie Gewalt gegen sich selbst und andere an Silas dargestellt wird, lässt sado-masochistische Tenden-
spricht, sagt von sich selbst, dass er nicht nur einen NAMEN hat. Verstehen wir: der VATER hat keinen EIGENNAMEN. Dies ist eine Figur, dies ist eine Funktion. Der VATER hat ebenso viele NAMEN wie Träger.“ Vgl. dazu den Klappentext von Lacan (2006), verfasst vom französischen Lacan-Experten Jacques-Alain Miller. 52 Vgl. die Sterbeszene von Silas: Brown (2004), S. 559. Man erkennt auch an der Tatsache, dass Silas sich an den Namen, den ihm seine leiblichen Eltern gegeben haben, nicht mehr erinnert (vgl. S. 80), dass er in Opus Dei eine neue Familie und in Aringarosa einen neuen Vater hat. 53 Vgl. zu der besonderen Charakterisierung von monströsen Figuren und deren Begehrensstrukturen: Griffin, Sean/Benshoff, Harry: Queer Cinema – The Film Reader. New York, 2004. S. 66.
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zen54 erkennen. In seinem Fall liegt aber die Betonung auf der Selbstkasteiung, der Abtötung des Fleisches, um dieses frei von Sünde zu halten oder durch blutige Bußhandlungen von der Sünde zu reinigen. Er will auf Erden leiden, um im Himmel Erlösung zu finden. Als Gegenbild einer „Mönchsgestalt aus dem Mittelalter“ (S. 378) erinnert er an die Flagellanten-Bewegung der Vormoderne55 oder auch an Märtyrer und Mystiker, deren Leiden eine masochistische Dimension hat.56 In Tison Pughs Buch Queering Medieval Genres befindet sich ein Kapitel mit dem programmatischen Titel: „Masochism, Saints’ Lives, and the Sadistic Godgames of Sir Gawein and the Green Knight.“ Pugh weist auf den engen Zusammenhang zwischen Religion und masochistischen Akten hin: „In the functional text of modern masochism, Leopold von Sacher-Masoch’s Venus in Furs [Venus im Pelz, Ergänzung A. H.], the protagonist Severin reveals that early Christian martyrs served as role models for his masochistic sexual development: ‚Precisely, the martyrs were supersensuous beings found positive pleasure in pain and who sought horrible tortures, even death, as others seek enjoyment. I too am supersensual, madame, just as they were‘. In this assessment martyrs are viewed as sensuous beings who paradoxically embrace torture as a means to the ecstasies of martyrdom and sublimated sexual pleasure.“57
Wenn von Masochismus gesprochen wird, geht es nicht nur um sexuellen Lustgewinn, sondern auch um Unterwerfung einer Person durch eine andere. Mit Pughs 54 Vgl. zum Thema Masochismus: Sacher-Masoch, Leopold: Venus im Pelz. Mit einer Studie über den Masochismus von Gilles Deleuze. Frankfurt am Main 1968; Mennel, Barbara: The Representation of Masochism and Queer Desire in Film and Literature. New York 2007. Vgl: hierzu auch die elf Punkte, in denen Masochismus und Sadismus unterschieden werden müssen. Vgl. dazu: „Sacher-Masoch und der Masochismus.“ (Deleuze, in: Sacher-Masoch (1968), S. 163-281, v.a. S. 278). 55 Mehrere Arbeiten der jüngsten Zeit weisen auf die sadomasochistischen Tendenzen in mittelalterlicher Literatur und Kunst – beispielsweise auf die „painful pleasures of suffering saints“ – hin. Zum größten Teil wird Sadomasochismus darin als eine queere, die Heteronormativität in Frage stellende Praxis gelesen. Vgl. Pugh, Tison: „Reluctant Masochism, Saints ތLives, and the Sadistic Godgames of Sir Gawan and the Green Knight.“ In: Ders. (2004), S. 130; Mills, Robert: „Whatever you delight to me! Masculinity, Masochism, and the Queer Play in Representation of Male Martyrdom.“ In: Exemplaria 13 (2001), S. 1-37; Fradenburg, Louise: „Sacrifice Your Love: Psychoanalysis, Histroicism, Chaucer.“ Minneapolis 2002; Cohen, Jeffrey Jerome: „Masoch-/Lancelotism“. In: New Literary History 28 (1997), S. 231-260. 56 Vgl. hierzu v.a. Lagier, Niklaus: Lob der Peitsche. Eine Kulturgeschichte der Erregung. München 2001. 57 Pugh (2004), S. 130.
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Übertragung des rituellen Ertragens von Schmerzen auf den Bereich des Glaubens wird die Unterwerfung unter Gott und deren erotische Komponente zum Thema. Selbstgeißelung, Selbstverstümmelung und Askese in allen Ausformungen gehen oft mit Ekstase und der Erotisierung des Verhältnisses Gläubige(r) und Christus/Gott einher. Als Beispiel für diese erotische Aufladung kann man auch die Schilderungen mittelalterlicher Mystikerinnen58 heranziehen, wie sie Caroline Walker Bynum in ihrem Buch Fragmentierung und Erlösung untersucht. Bynum schreibt: „Darüber hinaus wurde der eigene Körper zu religiösen Zwecken manipuliert. Heilige beiderlei Geschlechts […] trieben sich Messer, Nägel und Nesseln ins Fleisch, geißelten sich oder ahmten […] die Kreuzigung Christi nach – viele würden dies heute Selbstverstümmelung nennen. Manchmal dienten solche Akte zur Kasteiung, um sexuelles Begehren zu unterdrücken, manchmal der Buße für eine Sünde…“59
Ähnlich wie Bynum argumentiert auch Karma Lochrie in ihrem Aufsatz Mystical Acts, Queer Tendencies.60 Sie versucht, die Verkettung von Gewalt und sexuellem Begehren im Falle von Selbstgeißelung und ‚Masochismus‘ im Mittelalter zu verstehen. Sie bezieht sich, um Gewalt und sexuelle Aufladung in der Mystik zu zeigen, auf Bernhard von Clairvaux und Richard von St. Victor.61 Bernhards Kommentar zur mystischen Liebe drückt eben diese gewaltige Leidenschaft aus: „O voreilige, heftige, brennende, ungestüme Liebe, die du neben dir keinen Gedanken aufkommen lässt, bei allem übrigen Ekel und Langeweile empfindest, alles außer dir verschmähst und mit dir allein zufrieden bist! Du verwirrst die Ordnung, kehrst den Brauch, kennst kein Maß. Über alles, was rechte Zeit, Vernunft, Anstand, Rat und Überlegung zu sein scheint, setzt du dich siegreich hinweg.“62
58 Vgl. Pugh (2004), S. 134 oder z.B. Caroline Walker Bynum: „Der weibliche Körper und religiöse Praxis im Spätmittelalter.“ In: Dies.: Fragmentierung und Erlösung. Geschlecht und Körper im Glauben des Mittelalters. Aus dem Amerikanischen von Brigitte Große. Frankfurt am Main 1996, S. 109-147 bzw. 148-225, hier v.a., S. 150ff. 59 Bynum (1996), S. 151. 60 Lochrie, Karma: „Mystical Acts, Queer Tendencies.“ Lochrie, Karma et al. (Hg.): Constructing Medieval Sexuality. Minneapolis/London 1997a, S. 180-200. 61 Lochrie (1997a), S. 185. 62 Englisches Zitat der Stelle bei Lochrie (1997a), S. 185, deutsches Zitat aus: Kristeva, Julia: Geschichten von der Liebe. Aus dem Französischen von Dieter Hornig und Wolfram Bayer. Frankfurt am Main 1989, S. 161.
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Auch der hochmittelalterliche Theologe Richard von St. Victor († 1173) spricht die Verkettung von Liebe und Gewalt an: „[He] describes the insatiability, violence, and persecution of this mystical love in his treatise, the Four Degrees of Violent Charity. Each of the four degrees of love – wounding, binding, languishing, and, finally, disintegration of mind and soul in its unification with Christ – is characterized by a form of violence, and in fact, Richard views this violence as one of the main distinguishing features of holy love from other kinds of love – familial, marital, or parental. That these mystical transports are also sexual is no secret in Richard of Saint Victor’s work, for he draws analogies between each of the four degrees of spiritual and human love.“63
Die hier genannten Beispiele weisen darauf hin, dass in der Unterwerfung unter Gott – ob als mystischer oder flagellantischer Akt – immer Spuren von Gewalt und Erotik zu finden sind. Bereist der Sachverhalt, dass es sich um eine Hierarchie zwischen Unterwerfendem und Unterworfenem handelt, ist ‚heiß‘: „it [the hierarchy] is indissociably bound up with at least the potential for erotic signification“.64 Bei Silas – wie bei anderen Büßern – rücken vor allem die masochistischen Tendenzen, die er am eigenen Leib auslebt und spürt, und somit sein masochistisches Selbst in den Fokus. Die masochistische Beziehung, die Silas im Angesicht Gottes auslebt, ist die Buße für sein gewaltsames sündiges Handeln gegen andere, denn es gibt keine Absolution ohne Buße.65 Der Vollzug der Buße am eigenen Leib ist zugleich noch viel mehr als ein Akt der Bestrafung, nämlich Akt der Enthaltsamkeit. Das eigene Fleisch – in der Nennung des Wortes schwingt schon immer die Gewalt, die transportiert wird, mit – wird zum begehrten Objekt. Der Schmerz, den man sich selbst zufügt, führt zur „reinigenden Wirkung der Pein“, nach der sich Silas ebenso sehnt wie nach „wohltuende(r) Abtötung fleischlicher Gelüste“ (S. 24).66 Er büßt nicht nur, wie es von Opus Dei gefordert wird, sondern lebt zudem enthaltsam, vielmehr verzichtet er sogar freiwillig auf Sexualität. Keuschheit ist für Silas, aufgrund der „sexuellen Scheußlichkeiten, die er im Gefängnis über sich ergehen lassen musste“ (S. 105), sogar willkommen. Man kann davon ausgehen, dass damit homosexuellen Übergriffe und Vergewaltigungen während seiner Gefangenschaft gemeint sind. Weil er gewaltsam zum Objekt männlichen Begehrens wurde, ist Silas von Abscheu erfüllt und will nicht mehr begehren – auch keine Frauen. Neben die Gewalt, die der Büßer gegen sich selbst richtet, tritt die Enthaltsamkeit. Beide Tendenzen, Leiden wie Keuschheit, treten im Medium des ‚Fleisches‘ zur Subjekt-
63 Lochrie (1997a), S. 185f. 64 Halperin (2000), S. 99. 65 Vgl. Brown (2004), S. 23. 66 Vgl. dazu auch Da Vinci Code, S. 105.
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werdung bei. Von Punkt geht das Begehren aus und zu diesem Punkt kehrt es zurück. Der Masochisten nutzt seinen Körper, um sich ausgehend vom Begehren, welches er in Schmerz und Erniedrigung transformiert, ein eigenes Selbst zu schaffen. Die Schaffung eines einheitlichen Selbst ist jedoch von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Wenn Silas die Einheit über die Gewalt, die er seinem enthaltsamen Körper zufügt, zu bilden sucht, ist dieser Prozess nur von kurzer Dauer. Er kommt seinem idealisierten Ich, dem reinen und enthaltsamen Gläubigen, nur so lange nahe bis diese Phantasie erneut ins Wanken gerät. So kann Silas sein Verlangen nach einer ganzheitlichen Identität nie stillen, sein Körper wird nie zu dem werden, was er sich vorstellt. Sein unerfülltes Begehren, sein Mangel lässt sich weder durch Glauben noch durch körperliche Züchtigung lindern.67 Laut Jacques Lacan ist das geteilte Subjekt im Spiegelstadium als von Grunde auf masochistisch einzustufen, denn es ist ein ständiges Fehlen, ein Mangel, und das Begehren, das dem Individuum und diesem Zustand ewig innewohnt.68 In der Figur des Silas zeichnen sich diese Spaltung und dieser Mangel besonders deutlich ab: Auf der einen Seite steht ein Teil seines Selbst, das die Schmerzen erträgt, und auf der anderen Seite der andere Teil, der sich die Schmerzen zufügt. Nur für den kurzen Moment der Geißelung verschmelzen beide Hälften, doch dies ist nicht von Dauer und am Ende bleibt nur das Begehren, das nie gestillt werden kann. Somit lässt sich Silas in Dan Browns Roman im Nexus von Masochismus, Enthaltsamkeit, unerfülltem Begehren und Glauben verorten. Er ist eine Figur, die, obwohl als böse charakterisiert, der Gralssphäre angehört. An ihm wird das ‚Gleiten von Sexualität zu Religion‘ exemplarisch sichtbar.69 Dieses ‚Gleiten‘ bringt auch traditionelle Geschlechterdichotomien ins Wanken. Dies schlägt sich vor allem in zwei Tendenzen nieder, die in der Gralssphäre wiederholt auftauchen und dort auch miteinander interagieren: zum einen das Leiden oder Erleiden von Schmerzen, das zumeist selbst zu verantworten ist, und zum anderen die Enthaltsamkeit.70 Beide Praktiken interagieren mit Begehren und Geschlecht in einer Weise, die sich heteronormativen Mustern entzieht. Sie 67 Vgl. zum unerfüllbaren Begehren und der Spaltung des Subjekts im Lacanschen Sinne sowie deren Auswirkungen auf Geschlecht und Identität nach Butler Kapitel I.1.2.1 der Einführung. 68 Vgl. zu diesen Gedanken bezüglich Lacan: Uebel, Michael: Masochism in America. In: American Literary History, 14/2 (Sommer 2002), S. 389-411, hier S. 394. 69 Cohen (1997), S. 250. 70 In den Gralsromanen ist enthaltsames und keusches Leben oft die Voraussetzung dafür, sich überhaupt dem Gral nähern zu dürfen. Vgl. auch: Remakel, Michèle: Rittertum zwischen Minne und Gral. Untersuchungen zum mittelhochdeutschen Prosa-Lancelot. Frankfurt am Main et al. 1993, v.a. S. 74ff.; Philipowski, Katharina-Silke: Minne und Kiusche im deutschen Prosa-Lancelot. Frankfurt am Main 2002, v.a. S. 191ff.
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kulminieren in der modernen Version der Gralsgeschichte in den Figuren der so genannten ‚anderen‘ Gralssucher. Der Albino Silas spielt eine zentrale Rolle in der Sphäre des Grals, denn er ist mit seinem Mord am Louvredirektor nicht nur Auslöser, sondern als Gegner der Gralssucherpaars Neveu/Langdon auch Motor der Gralssuche. Er ist aufgrund seiner weißen Haut schon von Beginn an als Außenseiter gekennzeichnet. Sein Umgang mit dem Begehren ist ‚anders‘, nicht normativ. Er lebt enthaltsam und keusch, was dem gewählten Lebensweg als Ordensbruder des Opus Dei entspricht und ihm zugleich nach eigener Aussage nicht schwer fällt. Trotzdem ist er nicht ohne Begehren. Er begehrt den Schmerz des eigenen Fleisches und die Befriedigung, die sich dadurch einstellt. Im Grunde begehrt Silas über das Medium seines eigenen Körpers ausschließlich sich selbst – eine Spielart masochistischen Begehrens, die heteronormative Auffassungen in Frage stellt. Gilles Deleuze interpretiert das Verhalten des Masochisten in ähnlicher Weise: Der Masochist begehrt ausschließlich den eigenen Körper, daher fällt es ihm leicht, sich von normativen Begehrensstrukturen zu entfernen. Der Masochist erlebt die höchste Lust, wenn er diese im Höhepunkt verneinen kann und sich gleichsam darin auflöst. „Am Ende geht die masochistische Verneinung sogar so weit, dass sie die sexuelle Lust als solche in die Bewegung hineinzieht: die Lust selber wird verneint, indem der Masochist die so lange hinauszögert, bis er genau im Augenblick der Lustempfindung ihre Wirklichkeit verneinen kann, um dem ‚neuen Menschen ohne Geschlechtsliebe‘ gleich zu werden.“71
Silas, der sich zumeist als körperlos und als Gespenst empfindet und auch von anderen so wahrgenommen wird, passt in das oben beschriebene Bild: Sein Begehren findet durch Selbstgeißelung und im Tragen des Büßergürtels Ausdruck und Befriedigung. Er braucht seinen gequälten Körper, um sein Selbstbegehren auszuleben. So lebt er nicht nur im Leiden eine imitatio Christi.72 In seinen masochistischen Praktiken und seiner Selbstwahrnehmung als Gespenst, bewegt sich Silas in einem Zwischenstadium der Uneindeutigkeit.73 Silas steht zwischen Menschlichem 71 Deleuze (1968), S. 187, und im Weiteren bezieht er sich auch auf S. 249 auf diesen „Neue[n] Mensch[en]“, den er hier – wie es auch Sacher-Masoch in einem Brief an seinen Bruder tut (vgl. ebd., FN 30) – mit Christus „ohne Geschlechtsliebe“ gleichsetzt. 72 Auch im Prosa-Lancelot wird von den Gralssuchern ein christlicher, jungfräulicher und enthaltsamer Lebenswandel gefordert. Man könnte somit im Rückbezug auf die SilasFigur schließen, dass dieser in seinem Leiden zum Gralssucher wird. 73 Vgl. zum Abnormen/Monströsen: Foucault, Michel: Die Anormalen. Vorlesungen am Collège de France (1974-1975). Aus dem Französischen von Michaela Ott. Frankfurt am Main 2003. Silas ist nach Foucaults Definition ein Monster, da er ein Mischwesen wider Gottes natürliche Ordnung ist (vgl. Foucault (2003), S. 85ff.). Außerdem ist er aufgrund
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und Nicht-Menschlichem, zwischen männlichem Geist und weiblicher Materie und somit außerhalb normativer Begehrensstrukturen. Er ist in diesem Sinne eine queere Figur.74 Auch der besessene Gralssucher Leigh Teabing fällt durch physische wie psychische Besonderheiten auf.75 Er muss aufgrund einer Krankheit mit Beinschienen an Krücken gehen (S. 312) und ist, wie sich nach seiner Entlarvung als ‚Doppelagent‘ und seiner Verhaftung zeigt, manisch vom Gral und dessen Geheimnis besessen. Dass es sich tatsächlich um Besessenheit und nicht um eine schrullige Eigenheit handelt, zeigt vor allem die Tatsache, dass Leigh Teabing auf der Suche nach dem Gral ebenso gewissenlos vorgeht wie Silas. Er bedroht seine ursprünglichen Mitstreiter Sophie Neveu und Robert Langdon und zerstört die kollegiale Freundschaft, die ihn mit Letzterem verband. Teabing macht zudem keinen Hehl daraus, dass die Suche nach dem Gral und der Wahrheit Opfer verlange (vgl. S. 551). Entsprechend lässt er Menschen sterben und tötet unbequeme Mitwisser.76 Dass Teabing sich selbst zu einem mittelalterlichen Gralsritter stilisiert und sich ganz der Suche nach dem Gral widmet, kann man zum einen daran festmachen, dass er „fernab der Realität auf einem Schloss residiert“,77 in das nur Zugang erhält, wer wie im Märchen drei Rätselfragen lösen kann (S. 305f.), und zum anderen, dass er jede Kirche Frankreichs nach Hinweisen auf den Weg zum Gral absucht (z.B. S. 368). Trotz allem ist es Sir Leigh Teabing, der neben Sophie Neveu die Gralssuche weiter vorantreibt – zumindest bis sich herausstellt, dass er für das mörderische Tun von Silas verantwortlich ist. Er gibt vor allem Sophie Neveu wichtige Hinweise über den Gral, Maria Magdalena und das königliche Geblüt. Er ist eine „chamäleonartige Figur, die zwischen charmantem Auftreten und diabolischer Bedrohlichkeit changiert“.78
seiner Gewalttaten, seiner „Monstrosität des Verhaltens“ (ebd., S. 104) im moralischen und rechtlichen Sinne ein Monster. 74 Vgl. zur queeren Andersartigkeit: Zeikowitz (2002), S. 73. 75 Vgl. hierzu Hasenberg, Peter: „Verborgene Texte, geheime Verschwörungen: ‚The Da Vinci Code – Sakrileg‘ und das Filmgenre des religiösen Thrillers.“ In: Valentin (2007), S. 143-168, hier S. 149. Hasenberg spricht bei Leigh Teabing und Silas von physischen und psychischen ‚Defekten‘. Von dieser pathologisierenden Darstellung soll hier jedoch Abstand genommen werden und deswegen wird das Wort Besonderheit benutzt. 76 Vgl. dazu auch Brown (2004), S. 542, 543-553, 565: „würde Teabing ihn [Robert Langdon] und Sophie töten…“ Außerdem begeht Leigh Teabing selbst einen Mord, vgl. S. 517ff. 77 Hasenberg (2007), S. 149. 78 Hasenberg (2007), S. 149.
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Teabing richtet sein ganzes Streben und Begehren auf den Gral.79 Das Begehren nach dem Gral, der nach Teabings Deutung für einen weiblichen bzw. Maria Magdalenas Körper steht, ist wiederum nicht in einem heteronormativen Sinn zu deuten. Der Gral ist zum einen eine Leerstelle und zum anderen ein Kreuzungspunkt verschiedenster Deutungen. Er steht nicht nur für den Körper Maria Magdalenas, sondern auch für die Dokumente, die über die Gralsgeschichte geschrieben wurden, für die Gebeine Marias und für ein geistiges Konstrukt des göttlich Weiblichen. Auf diese Motive ist Teabings Begehren gerichtet – er begehrt somit nicht eine Frau, sondern die Summe all dessen, wofür der Gral steht. Wie stark dieses Gefühl tatsächlich ist, zeigt sich darin, dass er, als Robert Langdon vermeintlich das Rätsel gelöst hat, beinahe körperliche Lust verspürt: „Teabing war so begierig, an Langdons Wissen teilzuhaben, dass er am ganzen Leib zitterte. Die Erfüllung seines Lebenstraums war zum Greifen nahe“ (S. 568). Als er durch seine Verhaftung der Möglichkeit beraubt wird, dem Gral ‚näher‘ zu kommen, gebärdet er sich wie ein „Wahnsinniger“ (S. 569) und fleht regelrecht darum, die Wahrheit zu erfahren. Weil Silas und Leigh Teabing nicht im heteronormativen Sinn begehren, sondern andere Begehrensstrukturen aufweisen, kann man sie mit Peggy McCracken als queer subjects adressieren.80 2.4 Die Gralsgesellschaft Die Gralsgesellschaft wird im Da Vinci Code als exponierter Kreis beschrieben. Sie besteht zum einen aus der Gralsdynastie oder dem königlichen Geblüt, dessen Stammeltern Jesus und Maria Magdalena waren, und zum anderen aus wenigen Eingeweihten, die das Geheimnis des Grals kennen. Zudem geht es in erster Linie darum, das Geheimnis des Grals zu schützen.81 Die Bewahrer des Grals und jener Dokumente, in denen der Stammbaum des königlichen Geblüts verzeichnet ist, nennen sich Prieuré de Sion. Diese Bruderschaft ist eine „Geheimgesellschaft“82
79 Leigh Teabing wird im Da Vinci Code zudem so geschildert, als wäre er zu keiner anderen Bindung oder Beziehung als derjenigen zum Gral fähig. 80 So bezeichnet Peggy McCracken die Gralssucher in ihrem Aufsatz: „Chaste subjects: Gender, Heroism, and Desire in the Grail Quest.“ In: Burger, Glenn/Kruger, Steven F. (2001), S. 123-142, hier 139. 81 Vgl zur Idee eines göttlich Weiblichen im christlichen Glauben und feministischer Religionswissenschaft: Heimerl, in Valentin (2007), S. 128, v.a. auch FN 32. 82 Dan Brown erklärt schon im Vorwort mit dem Titel „Fakten und Tatsachen“, dass es sich bei den Prieuré de Sion um einen Geheimbund handelt, vgl. dazu Brown (2004), S. 9, bzw. dass die Bruderschaft von Sion „einer der ältesten bis heute existierenden Geheimbünde der Welt“ sei (S. 157).
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und existiert schon seit den Lebzeiten Maria Magdalenas. Der militärische Arm der Prieuré seien im Mittelalter, erfährt der Leser durch Robert Langdons Schilderungen über den Geheimbund, die „Tempelritter“ (S. 218) gewesen. Die Verbindung zwischen den Tempelrittern und der Gralsgesellschaft geht auf Wolfram von Eschenbach zurück: Im Parzival sind die so genannten templeise (vgl. Parzival, v. 468,28) Ritter, die zum Gral berufen wurden und deren Aufgabe es ist, die Gralsgesellschaft und Gralsburg zu verteidigen, aber auch außerhalb dieses Bereichs Kämpfe zu bestreiten (v. 468,23ff.). Der Orden der Tempelritter, so erörtert der Symbologe Robert Langdon im Da Vinci Code weiter, war im Laufe des 13. Jahrhunderts zu einer großen Macht in Europa geworden. Seine Geschichte nahm 1307 ein blutiges Ende, als der Templerorden durch Philipp IV. von Frankreich mithilfe des Papstes als Institution zerschlagen wurde. Den Templern, bei denen es sich wie bei den Gralssuchern um einen homosozialen Männerbund handelte, wurde neben Verstößen gegen die christliche Kirche vor allem Sodomie und Homosexualität vorgeworfen.83 Die Prieuré sahen sich gezwungen in den Untergrund zu gehen und nur noch einen kleinen Kreis von Eingeweihten zu bilden, die daran glaubten, dass Jesus Christus mit seiner Partnerin Maria Magdalena eine Familie gegründet hatte, deren Nachkommen bis in die moderne Zeit existieren.84 Neben der Bewahrung des Gralsgeheimnisses und dem Schutz der Gralsfamilie vollzogen sie die Verehrung des göttlich Weiblichen in gleichem Maße wie des Männlichen als Harmonie. Sie strebten nach der Ausgeglichenheit der Geschlechter. Dabei diente ihnen die Kunst Leonardo da Vincis als Beweis. Der ehemalige Großmeister der Prieuré, so der Roman, habe um das Geheimnis des Grals gewusst und die Verehrung des Weiblichen und des Männlichen in ausgeglichener Harmonie in seinen Bildern dokumentiert.85 Man müsse als Betrachter nur die „Augen öffnen“.86 Ein weiteres Beispiel 83 Die Unterscheidung zwischen Homosexualität und Sodomie, wie wir sie heute treffen und wie es auch der Da Vinci Code tut, war im Mittelalter noch nicht existent. Homosexualität – als Bezeichnung für die Liebe und den Sex zwischen gleichgeschlechtlichen Partnern – ist eine Wortschöpfung des Schriftstellers Karl Maria Kertbeny aus dem 19. Jahrhundert und wurde von Richard von Krafft-Ebing in seiner Psychopathia sexualis ab 1886 berühmt gemacht (Vgl. dazu Brunner, Andrea et al.: geheimsache: leben. Schwule und Lesben im Wien des 20. Jahrhunderts. Katalog zur Ausstellung. Wien 2005, S. 13f.). 84 Vgl. dazu die Geschichte der Gralsdynastie in Brown (2004), S. 353. 85 „Die Geschichte der Verehrung des Weiblichen durch die Prieuré des Sion ist sehr gut dokumentiert“ (Brown (2004), S. 157). Vgl. dazu, dass da Vinci ein Großmeister der Prieuré gewesen sei: u.a. Brown (2004), S. 9 und S. 441 und zur Proklamation der Harmonie zwischen den Geschlechtern in da Vincis Kunst: Proportionsstudie von Vitruv (1505, Abbildung 7) (Brown (2004), S. 53f., S. 67), Mona Lisa (S. 166), Das letzte Abendmahl (S. 333ff.).
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aus Leonardos Œuvre, das der Beweisführung im Da Vinci Code dient, ist in diesem Zusammenhang wichtig: die Mona Lisa (1503-1505, Abbildung 8) Der Gemäldetitel ist laut Robert Langdon selbst schon eine Deklarierung der Harmonie von ‚männlich‘ und ‚weiblich‘, da er ein Anagramm aus dem Namen einer männlichen und einer weiblichen Gottheit bilde, nämlich aus Amon und Isis bzw. „L‘ Isa“: „AMON L’ ISA = MONA LISA“ (166) sei. Aber nicht nur der Name deute auf die Verbindung der Geschlechter hin, sondern die Androgynität der abgebildeten Person beweise, dass sie zu gleichen Teilen Männliches wie Weibliches harmonisch in sich vereinige.87 Das Wortspiel mit dem Titel, der dem Gemälde allerdings erst nachträglich zugeordnet wurde, passt gut zu der Idee, dass die Mona Lisa eine Verschmelzung der Geschlechter und somit deren Harmonie darstellt. Das Gemälde selbst, wenn man es traditionell kunsthistorisch interpretiert, bestätigt diesen Verdacht nicht. Bei dem Modell des Gemäldes handelt es sich ohne Zweifel um eine Frau, nämlich um Lisa del Giocondo.88 Es liegt an der Technik das sfumato, bei der die Linien verwischen, die Farben sich vermischen und Details miteinander verschmelzen. Das Kunstwerk wirkt so, als ob darüber eine Art Nebel oder Schleier liege, und so bleibt immer ein nicht klar fassbarer Rest für die Imagination des Betrachters zurück.89 Das sfumato und das viel gerühmte unergründliche Lächeln der Mona Lisa werden sicher auch in Zukunft neue Deutungsversuche provozieren. Dass jedoch zur Disposition steht, welche Geschlechtsidentität die dargestellte Figur besitzt, liegt weniger am Bild selbst als vielmehr an dessen Rezeptionsgeschichte. Diese gibt der Debatte um die Geschlechterverwirrung immer neue Nahrung. Neben dem Original von Leonardo da Vinci ist die bekannteste künstlerische Interpretation und Verfremdung der Mona 86 „‚Unkenntnis blendet und lässt uns in die Irre gehen. Oh, ihr elenden Sterblichen, öffnet die Augen.‘ – LEONARDO DA VINCI.“ Vgl. Brown (2004), S. 317. 87 Vgl. Brown (2004), S. 166f. Androgynie hat auch C.G. Jung erforscht. Laut diesem tragen Menschen Elemente von beiden Geschlechtern in sich. Vgl.: Jung, Emma: Animus und Anima. Fellbach-Oeffingen 1990. Der Jungsche Ansatz ist dichotom aufgebaut und stärkt Geschlechterunterschiede, indem er entlang einer traditionellen Teilung – Frau = Gefühl und Mann = Geist – argumentiert. 88 Zur Identifizierung der Dame auf dem Bild hat Leonardo da Vinci nichts hinterlassen, erst Giorgio Vasari macht in seinen Künstlerviten (1550) darauf aufmerksam, dass es sich bei der portraitierten Dame um mona Lisa, die Frau von Francesco del Giocondo, handele. Vgl. die Aussage Vasaris in: Nicholl (2006), S. 457. Viele Kunsthistoriker haben sich Vasaris Zuweisung schon zuvor angeschlossen. Vgl. z.B.: Zöllner, Frank: Leonardo da Vinci. Mona Lisa. Das Porträt der Lisa del Giocondo. Legende und Geschichte. Frankfurt am Main 1994. 89 Vgl. den Artikel zur Mona Lisa in: Gombrich, E.H.: Geschichte der Kunst. 16. erweiterte, überarbeitete und neu gestaltete Auflage. Frankfurt am Main 1996.
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Lisa das Readymade Michel Duchamps mit dem Titel L.H.O.O.Q (1919, Abbildung 9) Darauf trägt Mona Lisa einen Bart und durch das Hinzufügen des Markers von Männlichkeit wird mit ihrer Geschlechtszugehörigkeit gespielt.90 Dies wird sogar unter Einbezug eines männlichen Betrachters noch auf die Spitze getrieben: „Die männliche Betrachterposition, die die Mona Lisa als begehrenswerte Frau konzipiert, wird verunsichert, wenn sich das Objekt des Begehrens als männlich entpuppt. So figuriert ausgerechnet der Schnurrbart, ein Signifikant patriarchalischer Männlichkeit als parodistische Markierung einer queeren Verwirrung.“91
In der Nachfolge Duchamps ist die Mona Lisa – mit und ohne Bart – und deren uneindeutige Geschlechtszuschreibung weiterhin ein beliebtes Motiv, z.B. Salvador Dali inszeniert sich beispielsweise mit dem für ihn so charakteristischen Bart als Mona Lisa (1953, Abbildung 10).92 Die genannten Künstler ironisieren die Behauptung, statt einer Frau sei auf dem Gemälde ein junger Mann dargestellt, man müsse nur die Haare abschneiden, oder es handele sich womöglich sogar um ein Selbstporträt Leonardo da Vincis.93 Die Lesart eines Da Vinci Codes, der Maler habe mit der Mona Lisa ein „Selbstporträt in Weiberklamotten“ (S. 166) gefertigt, hält sich hartnäckig. Diese Erklärung untermauert der Umstand, Leonardo da Vinci sei homosexuell gewesen. Seine (homo-)sexuelle Präferenz scheint dadurch bewiesen, dass er zu Lebzeiten der Sodomie angeklagt worden war und ihm diese in modernen Zeiten durch Freud bescheinigt wurde.94 Auch die Kategorisierung des Malers als eines „ausschweifenden Homosexuellen“ (S. 67), zu dem es aufgrund seiner sexuellen Vorlieben passen würde, sich selbst als Frau zu inszenieren, wird in Browns Roman aufgegriffen. Die Fehlinterpretation, dass alle homosexuellen Männer Invertierte seien, die sich als Frauen in Männerkörpern fühlen und Männer begehren, lie90 Der Sinn eines Readymades ist es, alltägliche Gegenstände, hier ein Abdruck der Mona Lisa, mit einem ironischen Augenzwinkern zur Kunst zu erheben. Das Augenzwinkern im Fall von L.H.O.O.Q. bezieht sich auf Bart und Titel, der für den Wortwitz Elle a chaud au cul steht – was so viel bedeutet, wie: Sie hat Feuer im Hintern bzw. ist erregt. Laut Kraß greift Duchamp die „Geschlechterverwirrung“, die mit dem Kunstwerk einhergeht, auf und stellt „Männlichkeit als Maskerade“ dar (Kraß (2009b), S. 168f.). 91 Kraß (2009b), S. 169. 92 Weitere Beispiele in: Kraß (2009b), S. 169ff. 93 Vgl. hierzu beispielsweise Bramly, Serge: Mona Lisa. London 1996, S. 11. 94 Zu Freuds Analyse von Leonardo da Vinci als auf die Mutter fixierter ideeller, aber sublimierter Homosexueller, vgl. Freud, Siegmund: Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci. Eingeleitet von Janine Chasseguet-Smirgel. Frankfurt am Main 1995. Zur Kritik und Erweiterung dieses Ansatzes: Clemenz, Manfred: Freud und Leonardo. Eine Kritik psychoanalytischer Kunstinterpretation. Frankfurt am Main 2003.
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fert die Begründung, warum Leonardo da Vinci sich selbst als Frau hätte darstellen sollen.95 So liegt es nicht an dem Original, das Leonardo da Vinci gemalt hat, sondern an einem imaginären (Ab-)Bild, das durch unzählige Kopien, Reproduktionen und Interpretationen vom „Kulturobjekt“ bzw. der „Popikone“96 Mona Lisa generiert wurde. Oder wie es Walter Benjamin ausdrückt: „Natürlich umfasst die Geschichte des Kunstwerks noch mehr: Die Geschichte der Mona Lisa z.B. Art und Zahl der Kopien, die […] von ihr gemacht wurden.“97 Auch Andreas Kraß nimmt Benjamins Gedanken zur Aura des Kunstwerkes in seine Überlegungen zur Mona Lisa auf: „Hatten die Reproduktionen das Kunstwerk de-auratisiert, so wird es durch die künstlerische Aneignung der Reproduktion re-auratisiert. […] Somit erweist sich die Entleerung des Kunstwerks im Zuge seiner Vervielfältigung paradoxerweise als Vorbedingung seiner Auffüllung mit neuem Glanz.“98
Laut Kraß kann man diesen „Prozess der Re-Auratisierung“99 für die Queer Theory nutzbar machen. Es gibt noch weiterer Beweis dafür, dass das Kunstwerk eine Leerstelle ist: Es gewinnt mit jeder neuen Rezeption eine neue Lesart und erlangt mit jeder neuen Erkenntnis eine neue Interpretation. Die Mona Lisa ist somit zu einer Projektionsfläche für unterschiedlichste Interpretationen geworden, zu einem „identitätslose[n] Ideal“.100 Dies entfacht die Diskussion, wer oder was abgebildet ist, immer wieder aufs Neue. Wie die Frage, wer oder was die Mona Lisa ist, nicht eindeutig beantwortet werden kann, kann dies auch beim Gral nicht geschehen. Auch auf ihn trifft nämlich zu, 95
Homosexualität als innere Inversion der Geschlechtsidentität anzusehen, geht auf die Überlegungen des Sexualforschers Havelock Ellis zurück. Vgl. Ellis, Havelock: Studies in the Psychology of Sex, Sexual Inversion, Volume 2 (of 6). Erstveröffentlichung 1896. Online zu lesen unter: http://www.gutenberg.org (Stand 26.01.2010).
96
Nicholl (2006), S. 466 bzw. S. 468.
97
Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit und weitere Dokumente. Kommentar von Detlev Schöttker. Frankfurt am Main 2007, S. 14. Benjamin meint hier die Kopien zwischen dem 17. und 19. Jahrhundert. Für das 20. – und man ergänze 21. Jahrhundert – gilt dies aufgrund des Standards der Reproduktionstechniken umso mehr.
98
Kraß (2009), S. 177.
99
Kraß (2009), S. 177.
100 Zöllner (1994), S. 9. Auch T.S. Eliot schlug dieselbe Richtung ein, als er behauptete, Hamlet sei die Mona Lisa der Literatur, und damit meinte, dass sowohl die literarische Figur wie das Gemälde gar kein eigenes Profil mehr besitzen. Vgl. T.S. Eliots Aussage in: Nicholl (2006), S. 467.
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was Oscar Wilde über die Mona Lisa gesagt hat: „Und so erscheint uns das Bild noch wunderbarer als es in Wirklichkeit ist, und enthüllt uns ein Geheimnis, von dem es in Wahrheit nichts weiß.“101 Die Erklärung, die der Da Vinci Code bezüglich der Gemälde Leonardo da Vincis und auch der Gralsidee bietet, ist zu einfach. Dan Brown instrumentalisiert diese Kulturobjekte, um seine Grundidee der ‚natürlichen‘ Harmonie von ‚weiblich‘ und ‚männlich‘ zu belegen und interpretiert sie als fehlerhaft oder ganz falsch. Er übersieht dabei die Freiheit und Möglichkeit neuer Lesarten, die sowohl der Gral als auch die Gemälde da Vincis bieten, gerade weil sie schon auf eine so lange Rezeptionsgeschichte und unterschiedlichste Deutungen zurückblicken. Aber er unterschätzt diese Kulturobjekte nicht nur, sondern untergräbt mit seiner Lesart entlang der Heteronormativität regelrecht deren Potential bezüglich einer möglichen Veruneindeutigung des Geschlechts.102 Die Verehrung des göttlich Weiblichen und die Harmonie zwischen den Geschlechtern, die sich unter anderem aus der Idee speist, dass der Gral Maria Magdalena sei und diese mit Jesus die Gralsdynastie begründet habe, widerspricht den Glaubensdoktrinen der katholischen Kirche.103 Diese versucht deshalb – so der Da Vinci Code – die Gralsidee zu verbergen und zu unterdrücken. Aus diesem Grund diffamiert sie die Glaubensrituale der Prieuré de Sion. Das wichtigste Ritual, dessen Zeugin die heranwachsende Sophie Neveu ungewollt wird, als sie ihren Großvater Jacques Saunière überraschen will, ist der so genannte hieros gamos:104 „Der einst geheiligte Akt des hieros Gamos – die natürliche sexuelle Vereinigung von Mann und Frau, wodurch beide der spirituellen Ganzheit teilhaftig wurden – wurde als schändliches, sündhaftes Tun verworfen. Während heilige Männer einst die Vereinigung mit Gott in der sexuellen Vereinigung mit den dafür ausersehenen Frauen vollzogen hatten, bekämpfte die heutige Geistlichkeit ihre sexuellen Bedürfnisse als Werk des Teufels, der heimtückisch mit seiner natürlichen Komplizin zusammenarbeitet… der Frau.“ (S. 173)
Das Ritual des hieros gamos ist, obwohl Geschlechtsverkehr ausgeübt wird, ein spiritueller Akt der Vereinigung von Mann und Frau. Der Mann macht dabei über die fleischliche „Vereinigung mit der Frau die Erfahrung des göttlich Weiblichen“ (S.
101 Wilde, Oscar: Der Kritiker als Künstler. In: Essays II. Sämtliche Werke Bd. 7. Frankfurt am Main 1982, S. 101. 102 Vgl. Zöllner (1994) oder zum queeren Potential der ‚androgynen‘ Mona Lisa, Leonardos Geschlechtstravestie, der (produktiven) Rezeption des Kunstwerks, die die Verwirrung um die Kategorie Geschlecht verstärkt haben und dadurch zur Dekonstruktion von Heteronormativität aufrufen, v.a. auch: Kraß (2009b). 103 Vgl. Kraß (2009b), S. 172ff. 104 Vgl. Sophies genaue Schilderung der Ereignisse, in: Brown (2004), S. 192-196.
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421) und kommt dadurch Gott näher. Er erlangt in diesen Momenten gnosis (vgl. S. 421), d.h. Erkenntnis und Wissen. Sophie Neveu beobachtet das Ritual, ohne es einordnen zu können. 30 Personen tanzen und singen im Kreis, die Frauen sind weiß gekleidet mit goldenen Masken und Bällen, die Männer dagegen tragen Masken und Roben in Schwarz. Männer und Frauen mit den „androgynen Masken“ (S. 420) haben sich abwechselnd aufgestellt, „schwarz, weiß, schwarz, weiß“ (S. 424); ein erneuter Hinweis auf das Ying und Yang und die Harmonie der Geschlechter, die anscheinend nur als Dichotomie funktioniert. Mit ihrem orgiastischen Gesang zelebrieren sie die rituelle Vereinigung von Weiblichkeit und Männlichkeit. Diese Vereinigung, die von Robert Langdon gemäß der korrekten Übersetzung von hieros gamos als „heilige Hochzeit“ (S. 421) bezeichnet wird, findet ihren Höhepunkt im sexuellen Akt. An dieser „natürlich(en) sexuelle(n) Vereinigung“ (S. 173), wie dieses Ritual im Da Vinci Code genannt wird, nehmen Sophie Neveus Großvater und eine maskierte Frau mit grauem Haar und unansehnlichem, üppigem Körper teil. 105 Die Beschreibung an der Stelle lässt auf eine ältere Partnerin Jacques Saunières beim hieros gamos schließen. Am Ende erfährt man dann, dass er sich bei dieser ‚heiligen Hochzeit‘ mit seiner eigenen Ehefrau, Sophie Neveus Großmutter, vereinigt hat. Ihre Großmutter erklärt Sophie Neveu, dass sie bei den Zeremonien dabei war: „Jacques und ich konnten uns nur selten sehen, und das auch nur in aller Heimlichkeit und unter dem Schutz der Prieuré. Es gibt bestimmte Zeremonien, von denen die Prieuré niemals lassen wird“ (S. 592f.). Dies nimmt dem Ritual zugleich den Eindruck des Anstößigen, Geheimnisvollen und Subversiven, den das Buch zuerst erwecken möchte. Vielmehr handelt es sich dann tatsächlich nur um den – auch im Sinne der Kirche – ‚natürlichen‘ (und heteronormativen) Akt zwischen Eheleuten. Die kultischen Handlungen der Prieuré de Sion und der Tempelritter werden im Da Vinci Code mit dem Baphometkult in Verbindung gebracht, in dem die geschlechtliche Vereinigung sakrosankt ist. Den heidnischen Fruchtbarkeitsgott Baphomet sollen auch die Templer verehrt haben, dies wurde ihnen bei ihrer Zerschlagung von der Kirche vorgeworfen und als Götzendienst ausgelegt.106 Baphomet wird – auch laut Browns Gralsroman – charakteristisch mit Widderkopf, auch wie der Gott Amon (vgl. S. 167), oder Ziegenkopf dargestellt, die beide Zeichen für Fruchtbarkeit sind (vgl. S. 430). Zwischen dem heidnischen Fruchtbarkeitsgott und Sophie Neveu wird über die Kryptografie, Sophies Spezialgebiet, eine Verbindung hergestellt. Der Name ‚Baphomet‘, der im hebräischen Alphabet ohne Vokale „BPVMTh“ heißt, wird über die so genannte Atbasch-Methode, zu „ShVPYA“ ent105 Vgl. Brown (2003), S. 425. 106 Die Kirche bzw. Papst Klemens V. hat den Widderkopf Baphomets als gehörntes Haupt des Teufels gedeutet und der gehörnte Fruchtbarkeitsgott wurde als Symbol des Bösen diffamiert, so erklärt es Robert Langdon im Da Vinci Code. Vgl. Brown (2003), S. 430.
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schlüsselt, was ‚Sofya‘ bedeutet (vgl. S. 431-434). „Sophia heißt auf Griechisch ‚Weisheit‘. Ihr Name Sophie, ist buchstäblich ein uralt Wort der Weisheit“ (S. 434) – so erläutert es Robert Langdon. Obwohl ihr das Ritual der Prieuré körperlichen Ekel verursacht und sie abgeschreckt hat,107 wird sie mit diesen Wortspielen wieder in die Nähe der Bruderschaft und ihres Kults gerückt. Sie soll nicht nur die Wahrheit über ihren Großvater und die Bruderschaft, der er angehörte, sondern auch das Geheimnis ihrer Familie erfahren. Aus diesem Grund kommt bei Sophie Neveu der Verdacht auf, dass ihr Großvater sie über ihre wahre Herkunft aufklären und ihr möglicherweise mitteilen wollte, sie sei Teil der Gralsdynastie. Dass sich Sophie wünscht, diese Möglichkeit möge wahr sein, zeigt ihre intensive Reaktion auf Leigh Teabings Nachricht, die Nachfahren von Jesus und Maria Magdalena existierten bis heute: „Sophie spürte eine merkwürdige vibrierende Resonanz im Körper, als hätte Teabings Aussage eine neue Wahrheit in ihrem Inneren in Schwingung versetzt. Nachkommen Christi, die heute noch unter uns leben.“ (S. 353)108 Ihr Körper reagiert, als ob endlich die Wahrheit ans Licht gebracht worden sei. Robert Langdon räumt den Verdacht, Sophie Neveu könne vom königlichen Geblüt abstammen, zwar zunächst aus, er bleibt aber weiterhin präsent.109 Seit Leigh Teabing Sophie Neveu über die ‚wahre Natur‘ des Grals aufgeklärt hat, scheint sie nicht mehr aktiv an der Gralssuche beteiligt, sondern lediglich als Begleitung für Robert Langdon zu dienen. Zu der fehlenden Antwort auf die Frage, ‚wer oder was‘ Sophie Neveu ist, trägt das Zerwürfnis mit ihrem Großvater bei. Aufgrund des Bruchs zwischen den beiden erfahren Sophie und Robert nicht rechtzeitig, dass „Prinzessin Sophie“ (z.B. S. 102) nicht nur ein Kosename aus Kindertagen ist. Diese Bezeichnung ist tatsächlich eine Vorandeutung auf ihre Abstammung von königlichem Geblüt. Robert Langdon wird schließlich Lügen gestraft, denn Sophie Neveu ist, wie Leigh Teabing unwissentlich, doch wahrheitsgemäß sagt: eine „Gralsjungfer“ (S. 135) und Mitglied der Gralsdynastie (vgl. S. 590f.). Die Gralsgesellschaft im Da Vinci Code erweckt auf den ersten Blick denselben Eindruck, der ohne nähere Betrachtung auch für das Gralssucherpaar gegolten hatte: Sie tritt für die Verehrung des göttlich Weiblichen ein, proklamiert die sich aus107 Vgl. hierzu: „Sie prallte vor Entsetzen zurück, doch im Bruchteil einer Sekunde hatte sich das scheußliche Bild für immer in ihr Gedächtnis eingebrannt. Mit einem Würgen in der Kehle fuhr sie herum und flüchtete...“ (Brown (2004), S. 196). 108 Durch das Rekurrieren auf die körperlichen Reaktionen wird hier eine Naturalisierung der Frau vorgenommen: Das Weibliche ist die Natur und der Körper, wohingegen der Mann die Kultur und der Geist ist. 109 Vgl. beispielsweise die Kursivsetzung von Aussagen wie: „Prinzessin, ich muss dich in das Geheimnis der Familie einweihen […] Königliches Geblüt […] Prinzessin Sophie.“ (Brown (2003), S. 353f.). Diese Hervorhebung schafft eine enge Verbindung zwischen Sophie Neveu und dem königlichen Geschlecht, das von Jesus abstammt.
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gleichende Harmonie der Geschlechter und erscheint gerecht. Wie aber schon die ungleiche Rollenverteilung zwischen Sophie Neveu und Robert Langdon zeigt, haben die Männer auch in der Gralsgesellschaft die Vorherrschaft. Die Gralsdynastie gründet sich eigentlich auf eine Frau, Maria Magdalena. Dadurch spricht ihr Dan Browns Roman einerseits eine wichtige Rolle zu. Aber mit ihre Verehrung geht andererseits auch eine Herabsetzung ihrer Person einher: Maria Magdalena wird zum anbetungswürdigen Objekt und passt somit in ein patriarchalisches Bild. Von nun an ist sie durch ihre Erhebung als Heilige nicht mehr aktiv und durch ihre Entrückung handlungsunfähig gemacht. Vergleicht man jedoch das Bild, das Dan Brown von Maria Magdalena zeichnet, mit ihrem Platz und Stellenwert in der frühen Christengemeinde oder der Bibel, wird die Herabsetzung ihrer Figur mehr als deutlich. In der Bibel ist Maria Magdalena eine der wenigen Frauen, die nicht über einen Mann definiert wurden, sondern eigenständig benannt sind (vgl. Lukas 8, 2f.). Sie ist Osterzeugin (vgl. Johannes 20, 11-18; Markus 15, 1-8) und eine geistliche Autorität in der frühen Kirche.110 Allgemein können Frauen bei der Prieuré zwar führende Ämter bekleiden, die wichtigen Positionen sind jedoch vorrangig von Männern besetzt. Die Seneschalle sind „traditionsgemäß“ Männer (vgl. S. 594), und auf der Liste der Großmeister der Prieuré, die das Geheimnis des Grals seit dem Mittelalter bewahren und schützen, finden sich nur vier Frauen.111 Auf die Gralsgesellschaft im Da Vinci Code trifft zu, was teilweise auch für die Gralssphäre in den mittelalterlichen Gralsromanen gilt: Das Ziel des Begehrens der Gralssucher, der Gral, ist weiblich konnotiert. Entweder symbolisiert er, wie im Da Vinci Code, eine Frau bzw. den weiblichen Unterleib oder er steht in anderer Weise mit Weiblichkeit in Verbindung.112 Dennoch ist die Harmonie zwischen Mann und Frau in der Gralsgesellschaft des Da Vinci Code nur ein Trugbild: Die Männer dominieren und die Frauen werden im Modus der Verehrung zu handlungsunfähigen Objekten degradiert. Eine traditionelle Geschlechterhierarchie, wie man sie bei genauerem Hinsehen in Dan Browns Gralsroman findet, ist nicht subversiv und stärkt die heterosexuelle Matrix.
110 Vgl. dazu auch Zwick (2007), S. 76 und Siedlaczek (2007), S. 114f. 111 Vgl. hierzu die im Da Vinci Code abgedruckte Liste der Großmeister: Brown (2004), S. 441. 112 Vgl. zu den Geschlechterverhältnissen, die der Gral ordnet und beherrscht, vgl. v.a. auch Kapitel III der vorliegenden Arbeit.
II. Die mittelalterlichen Gralsromane
In unterschiedlichen Ausprägungen finden sich die vier Aspekte der Gralssphäre, die in der Analyse des zeitgenössischen Gralsromans The Da Vinci Code benannt wurden, in allen Gralsromanen – den vormodernen ebenso wie den postmodernen. Die genannten Aspekte – Gralssucher werden, Gralssuche, andere Gralssucher und Gralsgesellschaft – leiten auch die Untersuchung der mittelalterlichen Texte. Im Kapitel Gralssucher werden wird anhand des Parzival und des Prosa-Lancelot die Geburt und Entwicklung des jeweiligen Protagonisten verfolgt. Im Fokus steht dabei, inwieweit sich die Herkunft der beiden Helden auf ihre Geschlechtsidentität und somit auf den Erfolg (oder Misserfolg) als Gralssucher auswirkt. Im nächsten Kapitel wird die Gralssuche selbst zum Thema und zusätzlich zu den Gralsromanen Parzival und Prosa-Lancelot wird nun auch die Crône hinzugezogen. Dieser dritte Gralsroman bleibt bis zu diesem Punkt unberücksichtigt, da dessen Protagonist keine vergleichbare Entwicklung zum Gralssucher durchläuft. Es steht von Beginn an außer Zweifel, dass Gawein, der Held der Geschichte, diese ‚Krone‘ der Abenteuer bestehen wird. Auch bei der Gralssuche steht die Veränderung der Geschlechtsinszenierungen und Begehrensstrukturen der Protagonisten im Vordergrund. Neben die erklärten Helden treten in allen Gralsromanen weitere Figuren, die in irgendeiner Weise mit diesen interagieren. Die anderen Gralssucher fungieren als Negativfolie oder als Ergänzungsfiguren für die Gralsritter. Auch bei ihnen ist eine unorthodoxe Verhandlung von Geschlecht und Begehren festzustellen. Diese anderen Gralssucher sind einzelne Personen, wohingegen die Gralsgesellschaft als eine Einheit im letzten Textanalysekapitel ins Hauptaugenmerk rückt. Zentrale Fragen sind hierbei: Wie ist die Gesellschaft, die sich rund um den Gral bildet, aufgebaut? Wie beeinflusst die jeweilige Ausformung oder Version des Grals die Gralsgesellschaft und umgekehrt?
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1. G RALSSUCHER
WERDEN
Schon bevor der Gralsritter weiß, dass er sich auf der Suche nach dem Gral befindet, oder sich bewusst dafür entscheidet, nach dessen Geheimnis zu suchen, muss er sich der Aufgabe als würdig erweisen. Obwohl sich die Gralssuche in den verschiedenen literarischen Versionen jeweils anders gestaltet, sind stets schon in der Kindheits- und Jugendgeschichte der Helden die Bedingungen für das Gelingen oder Misslingen der Suche vorbestimmt. Zwei Beispiele dafür, dass die Entwicklung des Protagonisten schon vor der Gralssuche den Ausschlag für Erfolg oder Misserfolg gibt, sind besonders signifikant. Parzival, der Titelheld von Wolframs von Eschenbach gleichnamigem Gralsroman, ist über seine Mutter Herzeloyde mit der Gralssippe verwandt. Nach seinem beschwerlichen Weg zum Gral besteht er schließlich das Abenteuer und wird neuer Gralskönig. Weniger erfolgreich dagegen ist Lancelot, der doch laut dem Prosa-Lancelot der ‚Beste aller Ritter‘ ist. Zwar darf er sich auf die Gralssuche begeben, auf der er sich redlich bemüht, sich durch Buße von seinen Sünden rein zu waschen; er scheitert jedoch schließlich aufgrund seiner früheren Verfehlungen. Lancelot bleibt das Mysterium des Grals verschlossen und erst sein Sohn, der reine Galaad, erlangt Einsicht in das Geheimnis des Grals. 1.1 Entwicklung zum Gralssucher im Parzival 1.1.1 Herzeloydes tüttelîn und Parzivals visellîn Bevor Wolfram von Eschenbach im Parzival von der Geburt und dem Aufwachsen seines Gralshelden berichtet, wendet er sich der Geschichte der Eltern Parzivals, Gahmuret und Herzeloyde, zu. Durch deren Verbindung wird zwar die Grundlage für die Zeugung eines würdigen Ritters und wahren Helden gelegt,1 doch ist sie nicht von langer Dauer. Herzeloydes Liebe und das Glück, das sie in der Verbindung mit Gahmuret findet, ereilt ein jähes Ende. Nachdem Gahmuret für seinen ehemaligen Herren, den Baruc, in den Krieg gezogen und schon ein halbes Jahr fort ist, kündigt der Erzähler mit den prophetischen Worten hiute freude, morgen leit (v. 103,24) drohendes Unglück an. Auch Herzeloyde hat eine unheilvolle Vorahnung. Sie träumt, dass sie einen Drachen gebiert und ihn an der Brust säugt. Der Drache tötet sie am Ende, indem er ihr das Herz aus dem Leib reißt (vgl. v. 104,10-24).2
1
Der Parzival ist mit der „erste deutsche höfische Roman mit einer sehr ausführlichen Elterngeschichte“ und hat deswegen eine Vorbildfunktion. Vgl. Mertens (2003), S. 53f.
2
Vgl. zur Deutung von Herzeloydes Traum u.a. Mertens (1998), S. 113f.; Heckel, Susanne: „die wîbes missewende vlôch (v. 113,12). Rezeption und Interpretation der Herzeloyde.“ In: Haas, Alois M./Kasten, Ingrid (Hg.): Schwierige Frauen – schwierige Männer in der Literatur des Mittelalters. Bern et al. 1999, S. 35-52, hier S. 43, v.a. FN 25; Specken-
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Der Traum ist auf das doppelte Leid bezogen, das ihr zustößt. Zum einen greift er der schrecklichen Nachricht von Gahmurets Tod vor, die unmittelbar folgen soll und Herzeloyde ihr lîpgedinge (v. 103,17) entreißt. Zum anderen verweist er auf die Geburt ihres Sohnes, die ferner in der Zukunft liegende schmerzvolle Trennung von diesem und ihren darauffolgenden eigenen Tod. Auf jeden Fall markiert er einen Wendpunkt in Herzeloydes Schicksal. Danach ist nichts mehr wie es war – dâ vor was si ritterlîch: / ach wênc, daz wirt verkêret gar (v. 104, 20f.). Wenn man den Traum, wie in der zweiten Lesart, auf Parzivals Geburt bezieht, so umfasst er zwei Aspekte: Dann verweist er einerseits „in der antiken Tradition auf die Geburt eines Herrschers“ und andererseits „auf Maria als Gottesgebärerin“3. Beide Konnotationen, die christliche wie die antike, sagen im Kern dasselbe: Das Kind, das geboren wird, ist zu großen Taten bestimmt, im Fall Parzivals zum Gralshelden und Gralserlöser gleichermaßen. Der Traum Herzeloydes leitet eine neue Ära ein. Gahmuret ist tot (v. 105,5), Herzeloyde trägt sein ungeborenes Kind unter ihrem Herzen (v. 109,3f.). Zu Herzeloydes Identität als Gattin kommt nun noch die Rolle der Mutter hinzu. Beide Rollenmuster überlagern sich in ihrer Figur. Noch in der Trauer um ihren toten Mann klagt sie, dass sie beides zugleich sei: bin sîn muoter und sîn wîp (v. 109,25). Diese Aussage lässt sich auch auf ihr Verhältnis zu Parzival übertragen, den sie später statt Gahmuret zu ihrem Lebensmittelpunkt und zum Ziel ihres Begehrens macht. Um des Lebens ihres ungeborenen Sohnes willen folgt Herzeloyde Gahmuret nicht in den Tod: „Es scheint eine Pflicht der Witwe im Roman zu sein, sich mit ihrem Mann im Tode zu vereinen, ein Zeichen ihrer triuwe ihm gegenüber. […] Der Tod der Witwe kann natürlich aufgehoben werden, falls sie einen Sohn hat, denn die Söhne der höfischen Ritter können zwar vaterlos, aber n i c h t mutterlos aufwachsen!“4
Stattdessen bekräftigt Herzeloyde ihren Lebenswillen mit der symbolträchtigen Entblößung ihrer Brüste im Beisein ihres Hofs (vgl. v. 110,23ff.). Das Zerreißen der Kleidung ist ein bekannter Trauergestus, doch werden die nackte Haut und die entbach, Klaus: „Von den troimen. Über den Traum in Theorie und Dichtung.“ In: Rücker, Helmut/Seidel, Kurt Otto (Hg.): Sagen mit sinne. Festschrift für Marie-Luise Dittrich. Göppingen 1976, S. 169-204, v.a. S. 181ff. Auch Klaus Speckenbach betont die Doppeldeutigkeit, den Drachen sowohl als Symbol für Gahmuret als auch für seinen ungeborenen Sohn Parzival lesen zu können. 3 4
Mertens (1999), S. 113, ebenso Bumke (2004), S. 52. Greenfield, John: „Wolframs zweifache Witwe. Zur Rolle der Herzeloyde-Figur im Parzival.“ In: Meyer, Matthias/Schiewer, Hans-Jochen (Hg.): Literarische Leben. Rollenentwürfe in der Literatur des Hoch- und Spätmittelalters. Festschrift für Volker Mertens zum 65. Geburtstag. Tübingen 2002. S. 159-173, hier S. 161.
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blößten Brüste Herzeloydes so prominent ins Bild gerückt, dass sie soziale Konventionen überschreitet.5 daz hemde von der brust si brach. ir brüstel linde unde wîz, dar an kêrte si ir vlîz, si dructes an ir rôten munt (v. 110,24-27)
Das Entblößen der Brüste ist nicht im Sinne des modernen Sexualitätsdiskurses zu verstehen, der Nacktheit mit Sexualität verknüpft. Vielmehr überlagern sich in Herzeloydes entblößter Brust mehrere Lesarten: Zum einen spielt die Szene auf das Motiv der stillenden Maria (Maria lactans) an und dient als Symbol der Reinheit; zum anderen scheint hier eine erotische Intimität zwischen Mutter und Kind auf.6 Die tüttelîn Herzeloydes bleiben auch nach dem Ausdruck ihrer Trauer im Fokus der erzählerischen Aufmerksamkeit. Sie dienen zum einen als Quelle der Nahrung für Herzeloydes Kind, in dem der Vater weiterlebt. Zum anderen symbolisiert die Milch, die aus den mütterlichen Brüsten hervortritt und sich mit Herzeloydes Tränen mischt, die Trauer um den verstorbenen Gahmuret: diu frouwe ir willen dar an sach, daz diu spîse was ir herzen dach, diu milch in ir tüttelîn: die dructe drûz diu künegîn. si sprach ‘du bist von triwen komn. het ich des toufes niht genomn, du wærest wol mîns toufes zil. ich sol mich begiezen vil mit dir und mit den ougen, offenlîch und tougen: wande ich will Gahmureten klagn.‘ (v. 111,3-13)
5
Vgl. Greenfield (2002), S. 171; Bumke (2004), S. 58.
6
Susanne Heckel analysiert diese Stelle vorsichtiger. Sie meint, dass Herzeloyde ihr Hemd aus Trauer um Gahmuret zerreißt und Scham sowie „ein erotisches Moment“ vom Erzähler „anzitiert“ werden. (vgl. Heckel (1999), S. 45). Ich würde jedoch weiter gehen und behaupten, dass durch die spätere wiederholte Fokussierung auf das Stillen, auf die Brust sowie die Brustwarzen usw. ein erotisches Moment nicht nur „anzitiert“, sondern ganz bewusst eingesetzt wird.
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Auch in den folgenden Ereignissen bleiben „Erotik und ekstatische Mutterrolle“ miteinander verschlungen.7 Nachdem Parzival geboren ist, wird weiterhin auf Herzeloydes Brüste rekurriert. Die Königin macht ihre Ankündigung, ihr Kind selbst zu stillen, wahr.8 Für die höfischen Romane des Mittelalters ist es ein ungewöhnlicher Vorgang, dass eine frouwe ihr Kind selbst stillt, eigentlich wurde das von Ammen übernommen. Sicher ist der Sachverhalt, dass Herzeloyde mit den höfischen Gepflogenheiten bricht und ihr Kind selbst füttert, einer der Gründe, warum sie so oft mit Maria verglichen wird. Zudem vergleicht sie sich selbst mit der hœhste[n] küneginne, die Jesus ihre Brüste bot (v. 113,18f.).9 Dieser Vergleich wird jedoch nicht als Zeichen von Überheblichkeit gedeutet, spricht der Erzähler doch in den höchsten Tönen von Herzeloydes Demut (vgl. v. 113,16) und Keuschheit.10 Diese Eigenschaften sowie ihre triuwe (v. 113,30) teilt sie mit der Gottesmutter.11 Herzeloyde vergleicht sich, was die Freuden über ihren Sohn betrifft, mit Maria, kommt jedoch direkt danach auf die gemeinsame triuwe der Söhne zu sprechen (vgl. v. 113,22), die untrennbar mit Leiden verknüpft ist. Der Kreuzestod Jesu, seine vorhergehende Passion und das Mit-Leiden seiner Mutter weisen auf den Schmerz hin, den auch Herzeloyde im künftigen Verlust ihres Sohnes ertragen muss. Parzivals Mutter, die zwischen Freude und Leid schwankt, hat somit auch Züge der Mater dolorosa. Vor allem Milch und Tränen, die auch symbolisch Herzeloydes Trauer ausdrücken,
7
Schu, Cornelia: Vom erzählten Abenteuer zum Abenteuer des Erzählens. Überlegungen zur Romanhaftigkeit von Wolframs Parzival. Frankfurt am Main et al. 2002, S. 105. Vgl. zur erotischen Komponente auch: Spahr, Blake Lee: Gahmuret’s Erection. Rising to Adventure. In: Monatshefte 83 (1991), S. 403-413, hier v.a. S. 408.
8
Zur Mutterrolle Herzeloydes: Brinker-von der Heyde (1997); Miklautsch, Lydia: Studien zur Mutterrolle in den mittelhochdeutschen Epen des zwölften und dreizehnten Jahrhunderts. Erlangen 1991 (v.a. S. 53-75).
9
Horst Wenzel weist darauf hin, dass die Sprache und die Ikonographie der Beschreibung Herzeloydes dieselbe wie in Marienbeschreibungen und -darstellungen des Mittelalters ist. Vgl.: Wenzel, Horst: „Herzeloyde und Sigune: Mutter und Geliebte.“ In: Sciurie, Helga/Bachorski, Hans-Jürgen (Hg.): Eros – Macht – Askese. Geschlechterspannung als Dialogstruktur in Kunst und Literatur. Trier 1996, S. 211-234. Vgl. auch Greenfield (2002), S. 172.
10 Als Anmaßung und „Hybris“ liest es beispielsweise Lewis (1975), S. 474f.; Bumke und Heckel dagegen weisen darauf hin, dass der Erzähler ihr Verhalten (und auch den Vergleich mit Maria) als Zeichen ihrer Gesinnung, ihrer Frömmigkeit und Tugendhaftigkeit interpretiert. Vgl. hierzu Bumke (2004), S. 52 und Heckel (1999), S. 44f. 11 Die positiven Eigenschaften wird Herzeloyde auch an ihren Sohn Parzival weitergegeben.
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werden im 12. und 13. Jahrhundert „zu den Zeichen par excellence der Mater dolorosa“.12 Auch Parzivals Körperteile spielen unmittelbar nach seiner Geburt eine besondere Rolle. Das Neugeborene wird von seiner Mutter und deren (weiblichem) Gefolge inspiziert. Vor allem seinem Penis, dem visellîn (v. 112,25), wird viel Aufmerksamkeit geschenkt: dô diu küngîn sich versan und ir kindel wider zir gewan, si und ander frouwen begunde betalle schouwen zwischen beinn sîn visellîn. er muose vil getriutet sîn, do er hete manlîchiu lit. er wart mit swerten sît ein smit, vil fiwers er von helmen sluoc: sîn herze manlîch ellen truoc. (v. 112, 21-30)
Wieder geht es hier nicht um Sexualität im modernen Sinn.13 Trotzdem wird Parzival ein gewisses „erotisches Charisma“ zugesprochen: Das erste „Interesse der Frauen [gilt] dem verniedlichend als visellîn bezeichneten anatomischen Beweis 12 Kristeva, Julia: „Stabat Mater.“ In: Dies. (1989), S. 226-255, hier S. 241. Auch Carolyn Walker Bynum hat sich in Fragmentierung und Erlösung eingehend mit Körperlichkeit – womit nicht nur Körperteile sondern auch -flüssigkeiten wie Milch und Blut gemeint sind – sowie deren erotischer Aufladung im religiösen Diskurs des Mittelalters auseinandergesetzt. Vgl.: Walker Bynum (1996). 13 Im Original: „to see sex everywhere“, in: Schultz (2006a), S. 5. Schultz widmet in seinem Buch Courtly Love, the Love of Courtliness and the History of Sexuality ein ganzes Kapitel „Parzival’s Penis“ (ebd., S. 3-15). Er untersucht unterschiedliche Interpretationen dieser Stelle. Hierbei zeigt er auf, dass je nachdem, wie viel ‚Sex‘ man hinein lesen will – indem man manlichu lit entweder als die ‚männlichen Glieder‘ Parzivals oder als dessen ‚männliches Glied‘ übersetzt – , sich die Schilderung von der körperlichen Inspizierung des Jungen (und zukünftigen Helden) mit großen männlichen Gliedern in eine Szene verwandelt, bei der sich alles nur um ein männliches Glied dreht. Vgl. hierzu Schultz (2006a), S. 5 und v.a. FN 8. Schultz plädiert dafür, diese Stelle auf den männlichen Körperbau Parzivals zu beziehen, also mit ‚männliche Glieder‘ zu übersetzen und dies ist rein von der Grammatik des mittelhochdeutschen Originaltexts richtig. Dennoch überlagern sich auch an dieser Stelle, wie schon bei Herzeloydes entblößten Brüsten, unterschiedliche Lesarten, die mehrere Zugänge bezüglich Parzivals Geschlechtsidentität oder Herzeloydes Begehren eröffnen. Vgl. dazu Kapitel II.1.1.2.
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seiner Männlichkeit“.14 Die Beschreibung seines kleinen Penis und der großen Glieder, die Herzeloyde bei der Geburt fast das Leben gekostet hätten, weisen, gekrönt mit der Betonung seiner Tapferkeit, darauf hin, dass hier ein Mann und späterer Held das Licht der Welt erblickt hat: „Extraordinary size at birth or extraordinarily rapid growth in infancy are often understood in MHG narrative as signs that a male infant will grow up into a hero of extraordinary strength. Last we fail to recognize the significance of the large limbs, the narrator looks into the future and informs us that this infant will indeed grow up to become a great fighter […].“15
Fest steht, dass die Attribute, die Herzeloydes neugeborenen Sohn auszeichnen, ihn ebenso zum Helden machen wie seinen Vater. Insofern erweist sich Parzival gewissermaßen als Reinkarnation Gahmurets. So scheint es jedenfalls Herzeloyde zu empfinden, die ihre geluste befriedigt, indem sie das Kind immer wieder küsst (v. 113,1f.) und sich beim Stillen in die Arme ihres Mannes zurückversetzt glaubt: an ir brüste si in zôch, die wîbes missewende vlôch. si dûht, si hete Gahmureten wider an ir arm erbeten. (v. 113, 11-14)
Handelt es sich hier „um eine Transformierung erotischer Gefühle vom verlorenen Ehemann auf den neu gewonnenen Sohn“?16 Oder birgt die Beziehung zwischen Parzival und seiner Mutter womöglich inzestuöses Potential?17 Dass hier mehr als
14 Kraß (2006), S. 183. 15 Schultz (2006a), S. 4. Schultz betont in seiner Untersuchung über die höfische Liebe, dass ein modernes Verständnis von Sexualität und Körperlichkeit in der Vormoderne nicht greift, aber Heterosexualität die mediävistische Forschungen dominiert („The Danger of Heterosexuality“, in: Schultz (2006a), S. 51-62). Leider schöpft Schultz das Potential dieses Hinweises und den schillernden Begriff der minne in der höfischen Literatur nicht ganz aus. So könnte er bei der Analyse neben hetero-sozialen Begehrensstrukturen auch homo-soziale einbeziehen. 16 Lewis (1975), S. 475. 17 Zu inzestuösen Beziehungen im Mittelalter vgl.: Archibald, Elizabeth: Incest and the Medieval Imagination. Oxford 2001; Bennewitz, Ingrid: Frühe Versuche über alleinerziehende Mütter, abwesende Väter und inzestuöse Familienstrukturen. Zur Konstruktion von Familie und Geschlecht in der deutschen Literatur des Mittelalters. In: Jahrbuch der Germanistik XXXII/1 (2000), S. 8-18.
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eine Form des Begehrens zu Geltung kommt,18 wird deutlich, wenn im Vorgang des Stillens Herzeloyde die Trauer überkommt und sich die Gedanken an ihren Ehemann mit denen an ihren Sohn überschneiden. Auf die Verknüpfung von Freude und Trauer sowie das Ineinandergreifen der Rolle Herzeloydes als Mutter und Geliebte bei ihren Gedanken an Gahmuret und an ihr Kind wird mehrfach Bezug genommen. Schon in Herzeloydes Drachentraum ist die Transformation vom Vater zum Kind und von der Geliebten zur Mutter angedeutet. Sie selbst stellt diese Verbindung her, indem sie sich, nachdem sie von Gahmurets Tod erfahren hat, als seine Frau und Mutter bezeichnet (vgl. v. 109,25). Sofort danach wenden sich jedoch Herzeloydes Gedanken ihrem Sohn zu und sie entscheidet sich, obwohl von Trauer übermannt, zugunsten ihres Kindes an ihrem Leben festzuhalten (vgl. v. 110,1122). Im Zerreißen ihres Hemdes und der Fokussierung ihrer Brust wird ein erotisches Moment initiiert, das seinen Höhepunkt im ostentativen Herausspritzen der Milch findet. Dieser Vorgang, der zum einen auf festen Entschlusses verweist, das Kind selbst zu stillen, wird zum anderen von Herzeloyde selbst als spirituelle Geste ihrer Trauer um Gahmuret gewertet (vgl. v. 111,3-13). In der zweiten Deutung zielt das Herausdrücken der weißen Flüssigkeit auf die Liebe zu ihrem Ehemann und, als ‚Höhepunkt‘ der Trauergeste, auf eine Art spirituelle Ejakulation Herzeloydes. Einen weiteren Höhepunkt findet die Überlagerung von Vater und Sohn in der Stillszene nach Parzivals Geburt. Zuerst küsst und liebkost Herzeloyde ihr Kind. In diesem Moment ist ihr bewusst, dass es sich um ihren Sohn handelt, den sie in den Armen hält: bon fîz, scher fîz, bêâ fîz (v. 113,4).19 Doch während sie Parzival stillt – diu rôten välwelohten mâl: / ich meine ir tüttels gränsel: / daz schoup sim in sîn vlänsel (v. 113,6-8) –, wähnt sie sich unversehens wieder in den Armen Gahmurets (vgl. v. 113,13f.). An dieser Stelle preist der Erzähler Herzeloyde als ‚rein‘ und ‚keusch‘ und vergleicht sie mit Maria. Er lenkt die Deutung von Herzeloydes Verhalten mithilfe mariologischer Anspielungen in eine spirituelle Richtung. Dabei ist die erotische Komponente des Begehrens gerade wegen des Bezugs zur christlichen Ikonographie nicht wegzudenken. Die Leiblichkeit Jesu, seine Wunden und auch sein Penis werden in mittelalterlicher Kunst dargestellt und in der heutigen Rezep18 Das Verhältnis von Parzival und Herzeloyde wird in der vorliegenden Arbeit nicht als inzestuös bezeichnet. Auf den ersten Blick mag es inzestuöses Potential aufweisen, vor allem im Vergleich mit der Beziehung von Maria und Jesus, in der die Mutter zugleich Braut und Geliebte Christi ist. Vgl. Archibald (2001), S. 241 und Brinker-von der Heyde (1991). Dass dieser Verdacht auf die beiden genannten Mutter-Sohn-Beziehungen fällt, liegt vielmehr an den instabilen Geschlechterrollen, Identitätskonzepten und Begehrensstrukturen, die diese aufweisen. Somit ist eher auf das ‚erotische‘ nicht auf das ‚inzestuöse‘ Potential verweisen. 19 Parzival denkt, weil ihn Herzeloyde nicht mit seinem Namen, sondern immer nur mit ‚Sohn‘ anspricht, lange, dass das fîz sein Name sei (vgl. v. 140,6).
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tion diskutiert. Marias Brüste und ihre Körperflüssigkeiten – wie Milch und Tränen – stehen ebenso im Mittelpunkt des Interesses. Ekstatische Berichte der Mystikerinnen über die Vereinigung mit Christus warten mit körperlichen Details auf und andere Schriften die Lust der körperlichen Selbstgeißelung. Von Jesus wird als Gott, Bräutigam und Mutter gesprochen,20 von Maria als Braut und ebenfalls als Mutter. Obwohl Genitalien wie auch die damit verbundene Geschlechtlichkeit in mystischen Texten und künstlerischen Darstellungen eine enorme Rolle spielten, wurden sie noch nicht in erster Linie sexuell gedacht. Erst in der Neuzeit, seit das von Foucault definierte Sexualdispositiv regiert,21 ist der Körper immer mehr zu einer sexuellen Landschaft geworden und sind Geschlechtsteile wie Brust oder Penis entsprechend aufgeladen. Doch Herzeloydes Brüste und Parzivals Penis erweisen sich im mittelalterlichen Kontext als vieldeutige Schnittstellen von Geschlecht, Begehren und Körperlichkeit.22 Zudem liegt in der Tatsache, dass Literatur und Kunst sich dem modernen heteronormativen Rahmen entziehen, ein Spielraum für andere, nicht normative Lesarten. Julia Kristeva analysiert in ihrem Aufsatz Stabat mater die Rolle der Gottesmutter. Da sich Parallelen zwischen Maria und Herzeloyde ziehen lassen, kann manches von dem, was Kristeva konstatiert, auch auf die Mutter des Gralserlösers übertragen werden, beispielsweise die eigentümliche „Verschränkung von Tod und Sexualität“.23 Außerdem ist Maria „nicht nur die Mutter ihres Sohnes“ sondern als Braut (sponsa) des Hohenlieds sowie als Sinnbild für die Kirche (ecclessia) „überdies noch seine Gattin“.24 Im Falle Herzeloydes würde diese Deutung auch die Liebkosungen erklären, die sich auf den Sohn und zugleich imaginär auf den Vater richten. In Herzeloyde laufen, wie in Maria, „grundlegende Aspekte der Liebe“ zusammen, die von mütterlichen Gefühlen bis hin zum weiblichen Masochismus reichen.25 Wie bei der Mater dolorosa überschneiden sich auch bei Herzeloyde die „mütterliche Libido“26 bzw. „mütterliche Erotik“27 mit Trauer, Leiden und Todes20 Vgl. Bynum (1996) bzw. zu der „Geschlechtervermischung“ bei Jesus vgl. „Der Leib Christi im Spätmittelalter – Eine Erwiderung auf Leo Steinberg.“ (Bynum (1996), S. 61108, v.a. S. 89ff.). 21 Vgl. zum modernen Sexualdispositiv Foucault (1977). Schultz sagt auch, dass beispielsweise Brüste nicht die erotische Qualität haben wie heute, vgl. dazu Schultz (2006a), S. 26f. 22 Vgl. zur Deutung von Herzeloydes Brüste und Parzivals Penis auch die Analyse der Körper- und Geschlechtlichkeit von Jesus: Bynum (1996), S. 61-108. 23 Kristeva (1989), S. 231. Maria ist gleichzeitig der Urtyp der Erotik und der Prototyp der Mutter, vgl. Brinker-von der Heyde (1991), S. 286. 24 Kristeva (1989), S. 235. Vgl. auch dazu Brinker-von der Heyde (1991), S. 283-86. 25 Vgl. Kristeva (1989), S. 237f. 26 Kristeva (1989), S. 243.
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motivik und sie gipfelt im wechselseitigen Austausch von Mann und Sohn. Das erotische Potential und das wechselnde Begehren sind weder bei Maria noch bei Herzeloyde von der Hand zu weisen. Bei beiden kommt ein Aspekt hinzu, den Kristeva als substantiell hervorhebt: Vom Körper der beiden werden nur die Brüste und ihre Milch sowie ihre Tränen hervorgehoben. Der Körper als Ganzes wird zerteilt. Körperlichkeit und Geschlecht werden zwar angedeutet, in ihrer Reduktion auf bestimmte Teile zugleich aber auch ‚degradiert‘.28 Die Andeutungen von Weiblichkeit und Körperlichkeit treten in den höheren Dienst der Mutterschaft. Die weibliche Identität tritt hinter die Rolle als Mutter, der erotisch aufgeladene Leib hinter den mütterlichen zurück. Der mütterliche Leib macht laut Kristeva aus der Frau ein „Faltenwesen“29, das sich vor allem dadurch auszeichnet, dass es sich in einem ‚Dazwischen‘ befindet, das sich schwer fassen lässt. In der Aufsplitterung der (Selbst-)Wahrnehmung von Müttern kommt meist noch eine Vervielfältigung der Objekte des Begehrens hinzu. Der kleine Parzival ist für Herzeloyde ein Objekt des Begehrens als Mutter und noch viel mehr, da sie in ihm auch den verstorbenen Vater imaginieren kann. Kristevas Aufsatz wird auch von Anna Klosowska in ihrem Buch Queer Love in the Middle Ages als Ausgangspunkt genommen, von dem aus sie die Wunde des Fischerkönigs in den Gralserzählungen analysiert.30 Ihr Queer Reading der Verwundung des Gral- bzw. Fischerkönigs lässt sich auch auf das Begehren Herzeloydes übertragen. Bei Herzeloyde – wie später bei Anfortas – sind Leiden und Begehren auf besondere Weise verknüpft, was wiederum Auswirkungen auf die Wahrnehmung ihrer (Geschlechts-)Identität hat. Peggy McCrackens Aufsatz Mothers in the Grail Quest unterstreicht die Typologie weiblicher Sexualität in höfischen Gralsromanen im Kontext christlicher Texte des Mittelalters. McCracken betont ebenfalls, dass die Gralsromane in der mittelalterlichen Literatur insbesondere aufgrund ihrer narrativen Darstellung der Mutterrolle und ihrer Inszenierung von Begehren und Enthaltsamkeit eine Ausnahme bilden. Die Gralsromane erweitern den limitierten Bereich der Mütter, indem sie ihnen, auch nachdem die Söhne sie verlassen haben, eine Präsenz im Leben der zukünftigen Gralshelden einräumen.31 Da die Empfängnis der Söhne jedoch mit dem
27 Brinker-von der Heyde (1991), S. 288. 28 Vgl. hierzu Kristeva (1989), S. 241, S. 251. 29 Kristeva (1989), S. 251. 30 Vgl. dazu Klosowskas (2005), S. 21-67, im Kapitel über die Gralsromane. 31 McCracken, Peggy: „Mothers in the Grail Quest.“ In: Arthuriana 8.1 (1998), S. 35-48, hier S. 36. Im Fall von Parzival bleibt Herzeloyde, bis er zum Gralskönig ernannt wird, eine Bezugsgröße. Auch im Prosa Lancelot, mit dessen Inszenierung von Mutterrollen sich McCracken insbesondere beschäftigt, eilt Lancelot die Frau vom See, seine Ziehmutter, wiederholt zu Hilfe.
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Begehren der Mutter einhergeht,32 rückt McCracken die mütterliche Lust in den Mittelpunkt. Diese muss jedoch mit den Keuschheitsforderungen des Gralsbereichs abgeglichen werden und führt infolgedessen zu einer „uneasy association of desire, pleasure, sin, and conception in the representation of maternal sexuality“.33 Die mittelalterlichen Gralsromane nutzen laut McCracken unterschiedliche Strategien, um ‚mütterliche Sexualität‘ zu verhandeln und aus Müttern Subjekte des Begehrens bzw. begehrende Subjekte zu machen. Eine Taktik ist beispielsweise, dass ein Austausch zwischen dem Vater/ehemaligen Geliebten und dem Sohn stattfindet und die Mutter ihr Kind zum Objekt ihres Begehrens macht.34 Die Strategie der Substitution zeigt sich bei Herzeloyde an den besprochenen Stellen deutlich, vor allem in der Stillszene, als sie Gahmuret in ihre Arme zurückruft. Ich folge sowohl McCrackens als auch Klosowskas Argumentation insofern, als die ambivalente Überlagerung von Geschlecht und Begehren vor allem in den Gralsromanen auftaucht und für diese eine eminent wichtige Rolle spielt. Die Gattung des Gralsromans versucht mehr als alle anderen höfischen Epen, zwei gegensätzliche Welten miteinander zu kombinieren. Dezidiert christliche Konzepte wie Sünde, Buße und Erlösung werden in einen höfischen Kontext mit dessen ritterlichen Werten integriert.35 Die beiden sich in vielen Punkten widersprechenden Bereiche – einerseits den höfisch-ritterlichen Diskurs und andererseits den Diskurs der Frömmigkeit – zusammenzuführen, gelingt nicht reibungslos. Die Inszenierung von Herzeloydes Brüsten und Parzivals Penis generiert Unstimmigkeiten, die moderne Auffassungen von Geschlecht und Begehren außer Kraft setzen.36 32 Wie der Zusammenhang von Lust und Empfängnis aus medizinischer Sicht im Mittelalter diskutiert wurde, zeigt: Cadden, Joan: Meanings of Sex Differences in the Middle Ages: Medicine, Science, and Culture. Cambridge 1993, S. 54-104, v.a. S. 91-98. 33 McCracken (1998), S. 45. 34 Obwohl sich die Aussagen McCrackens auf den französischen Perceval von Chrétien beziehen, ist eine Übertragung auf den Parzival legitim, da Wolfram von Eschenbach in seinem Gralsroman dem Vorläufer in weiten Teilen der Handlung und den Motiven folgt. Zu weiteren Aspekten des Begehrens bei Gralsmüttern: vgl. McCracken (1998), S. 45. 35 McCracken (1998), S. 45: „(T)he ambivalent project of introducing a discourse of sin and redemption into the romance world of chivalric values.“; ebenso: Klosowska (2005), S. 39. Insbesondere zeigt sich die Unvereinbarkeit von christlichem und höfischem Bereich in den Gralsromanen am Beispiel Lancelots im Prosa-Lancelot, der obwohl er als bester Ritter der Welt gilt, scheitert er aufgrund seiner Sündhaftigkeit auf der Gralssuche. 36 Klosowska drückt dies ähnlich aus, vgl. Klosowska (2005), S. 39f. Obwohl Klosowska hier von Chrétiens Perceval spricht, trifft ihre Aussage auch auf den Parzival von Wolfram von Eschenbach zu, da dieser der Handlung der altfranzösischen Version bekanntermaßen folgt. Außerdem bezieht sich Klosowska in ihrer folgenden Argumentation immer auf beide Gralsromane, den Perceval und den Parzival.
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Wolfram von Eschenbach zeigt schon zu Beginn des Parzival die komplexe Verschränkung von Gral und Geschlecht mit einem Augenzwinkern auf.37 In der Schilderung der Elterngeschichte und der Darstellung Herzeloydes erzeugt er ein offenes, vielfach erotisch aufgeladenes Feld. Die nuancierte Beschreibung der Figuren und Handlungen – das betrifft nicht nur Herzeloyde – schafft Räume, in denen sich Geschlecht und Begehren dem heteronormativen Rahmen entziehen. Die Verschränkung ikonographisch-inszenierter und spirituell-aufgeladener Vorgänge (Tod, Leiden, Geburt, Stillen) mit überlappenden Identitäten (Geliebte, Mutter, Maria) und den jeweils dazugehörigen Begehrensformen weist schon die Kindheitsgeschichte Parzivals als Schlüsselstelle für das zukünftige Geschehen und die gesamte Tradition des Gralsromans aus. Wie die weitere Entwicklung zum Gralshelden zeigen wird, sind sowohl in der Elterngeschichte, als auch in Parzivals Verhältnis zu seiner Mutter entscheidende Prämissen für seine Identität als Ritter und Gralssucher gesetzt. Die Vereinigung seiner Eltern bedeutet für den zukünftigen Helden, dass er die besten Eigenschaften beider Seiten in sich weiterträgt. Von seinem Vater empfängt er Mut, Stärke, Tapferkeit, das Feenblut und die Verwandtschaft mit der Artussippe.38 Seine Mutter gibt Parzival neben ihrer Schönheit ihre mariengleichen Eigenschaften wie triuwe und Demut mit. Wie sich in Parzivals weiterer Entwicklung zeigen wird, hat er, entgegen der Meinung der älteren Forschung, von seinen Eltern nicht nur ein ideales Erbe erhalten: Gahmuret ist nicht nur mutig und tapfer und Herzeloyde nicht nur schön und treu. Beide weisen einen ambivalenten Charakter auf.39 Gahmurets widerstreitendes Verlangen nach Kampf und Minne stellt ein Problem dar; Herzeloydes aktives Verhalten sowie ihre expliziten Begehrensbezeugungen lassen sich nicht in ein festes Raster der Geschlechterhierarchie pressen. Beide Elternteile spielen auch noch nach ihrem Tod eine wichtige Rolle für Parzival, wobei hier eine deutliche Gewichtung zugunsten Herzeloydes zu verzeichnen ist. Sie ist einerseits Anstoß für den Fortgang der Handlung – Parzival verlässt seine zukünftige Ehefrau zunächst nur, um seine Mutter zu besuchen und endet auf der Gralssuche – und andererseits eine wichtige Bezugsgröße für seine Entwicklung zum Gralserlöser. Die matrilineare Verbindung zur Gralssippe ist zu Beginn – im Gegensatz zu Gahmurets Familienzugehörigkeit zur Artussippe – nicht einmal den Rezipient_innen bekannt. So beginnt mit Parzivals Weggang von seiner Mutter nicht nur seine Reise zum Gral, sondern auch die Reise in seine eigene Genealogie. 37 Es ist Forschungskonsens, dass Komik ein Hauptkennzeichen von Wolframs von Eschenbach Stil ist. Vgl. dazu Bumke (2004), S. 224-228, v.a. S. 225. 38 Vgl. hierzu Mertens (1998), S. 114. 39 Vgl. zu der ambivalenten Charakterzeichnung von Gahmuret und Herzeloyde: Hartmann, Heiko: Gahmuret und Herzeloyde. Kommentar zum zweiten Buch des ‚Parzival‘ Wolframs von Eschenbach, 2 Bde., Herne 2000, Bd. 1., S. 29. Zu der Ambivalenz des Verhaltens von Parzivals Mutter vgl. Heckel (1999), S. 52.
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Was zuerst wie der Auszug in die ritterliche Welt des Vaters scheint, stellt sich bald als Annäherung an das Erbe der Mutter heraus. Dies bedeutet, dass auf Parzival nicht nur die mütterliche „religiös-existentielle Radikalität“ sondern auch das für die Gralsfamilie so typische „Heraustreten aus den Konventionen, sowohl im Positiven wie im Negativen“ übertragen wurde.40 Das Heraustreten aus konventionellen Vorstellungen von Liebe und Begehren sowie der Konstruktion von Geschlecht und Identität ist für die gesamte Gralssphäre charakteristisch und nimmt in Herzeloyde nur seinen Anfang. Wie sich zeigen wird, bildet Herzeloyde gemeinsam mit den anderen, unkonventionell gezeichneten Mitgliedern des Gralsbereichs dessen „eigentümlich queere Ordnung“ aus.41 1.1.2 Der androgyne Parzival und die Frauen Auch bei Parzival, der aufgrund der Herkunft seiner Mutter Teil der Gralssippe ist, entdeckt man bereits in Kindheit und Jugend Eigentümlichkeiten in der Inszenierung von Geschlecht und Begehren. Noch bevor er überhaupt zum Gralssucher wird, gerät er in verschiedene Situationen, in denen er sowohl Subjekt als auch Objekt des Begehrens ist. Wie die Konstellation des Begehrens jeweils ausgestaltet wird, wirkt sich dann zudem auf Parzivals Geschlechtsidentität aus. Die unterschiedlichen Begehrenskonzepte kann man in Parzivals ersten Begegnungen mit dem anderen, weiblichen Geschlecht analysieren. Im Folgenden wird zuerst das Verhältnis zu seiner Mutter betrachtet und die Begehrenskonstellation zwischen Mutter und Sohn bis zu dessen Auszug aus der Einöde untersucht. Kaum verlässt Parzival den mütterlichen Einflussbereich und tritt in die höfische Welt ein, gerät er in eine erste erotisch aufgeladene Situation. Wie er mit einem dargebotenen Objekt des Begehrens nicht umzugehen vermag, zeigt die Begegnung mit Jeschute. Die dritte Begegnung mit einer Frau betrifft erneut eine Verwandte. Parzival trifft auf seine Cousine Sigune, die ihm wichtige Hinweise auf seine familiäre Identität gibt.42 Danach wird Parzival selbst zum Subjekt des Begehrens, als er auf Gurnemanz’ Burg einkehrt. Die irritierte Reaktion des jungen Mannes auf das ihm entgegengebrachte Begehren wirkt sich erneut auf seine Geschlechtsinszenierung aus. Die letzte Begegnung, die Parzival mit dem weiblichen Geschlecht macht, führt ihn schließlich ins Land seiner zukünftigen Gattin Condwiramurs. Dabei zeigt sich, wie wenig die eheliche Beziehung Parzivals Entwicklung zum Gralssucher beeinflusst.
40 Mertens (1998), S. 113f. 41 Michaelis (2007), S. 38. 42 Weil sie so wichtig ist für Parzivals Entwicklung zum Gralssucher, wird Sigune in einem eigenen Teil ausführlicher analysiert. Vgl. Kapitel II.3.1.1.
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1.1.2.1 Herzeloyde Herzeloydes unkonventionelles Verhalten prägt Parzivals Erziehung. Er wächst in der Einöde Soltane auf. Wie eine Eremitin lebt die walisische Königin in unverbrüchlicher Treue zu ihrem verstorbenen Ehemann, was erneut die Konnotation von Heiligenviten hervorruft.43 Für ihren Rückzug werden mehrere Gründe angegeben. Zum einen ist es die Trauer um Gahmuret, die sie dorthin treibt (vgl. v. 117,7-13), und zum anderen sieht sie in der Zurückgezogenheit der Wüstenei die einzige Möglichkeit, Parzival vor jeglichem höfischen Einfluss und den Gefahren der Ritterschaft zu schützen (v. 112,19f.). Dies tut sie laut Erzähler nicht aus egoistischen Gründen, sondern aufgrund ihrer mütterlichen Zuneigung. Herzeloyde möchte ihrem Sohn, der schon als Kind alle physischen Voraussetzungen für einen Helden aufweist (vgl. v. 112,25ff.), das tödliche Schicksal seines ritterlichen Vaters Gahmuret ersparen. Herzeloyde verbietet ihrem Gefolge unter Androhung der Todesstrafe, ihrem Sohn gegenüber auch nur ein Wort über die Ritterschaft zu verlieren: den gebôt si allen an den lîp, daz se immer ritters wurden lût. ‘wan friesche daz mîns herzen trût, welch ritters leben wære, daz wurde mir vil swære. nu habt iuch an der witze kraft, und helt in alle rîterschaft.’ (v. 117,22-28)
Der Erzähler verhält sich zunächst neutral zu den Gründen, die Herzeloyde zu ihrem Rückzug bewegen, problematisiert ihr Verhalten dann jedoch in Bezug auf die fehlende höfisch-ritterliche Erziehung ihres Sohnes. Das Aufwachsen in Soltane ist Parzivals adliger Herkunft in keiner Weise angemessen, Parzival wird „indem er geborgen wird, auch betrogen“.44 Von dieser Wertung ausgehend gewinnt Herzeloydes Verhalten immer mehr den Anschein eines Betrugs an ihrem Kind, und die Maßnahmen, die sie ergreift, um gegen die Entwicklung Parzivals zum Ritter vorzugehen, werden immer drastischer. Je mehr sich die ritterliche Bestimmung Parzivals zeigt, desto hartnäckiger versucht Herzeloyde, sie zu unterbinden. Dies zeigt die Episode mit den Vögeln, auf die Parzival – seiner ritterlichen Veranlagung entsprechend – Jagd macht und deren Gesang ihm Kummer bereitet (vgl. v. 118,6ff.). Herzeloyde möchte ihr geliebtes Kind von diesen Sorgen befreien. Nachdem sie festgestellt hat, dass es der Vogelgesang ist, der Parzival zu Tränen rührt, erkennt 43 Den Rückzug und das Zölibat teilt Herzeloyde mit ihrer Nichte Sigune. 44 Haas, Alois: Parzivals tumpheit bei Wolfram von Eschenbach. Berlin 1964, S. 59. Im Original heißt es: der knappe alsus verborgen wart / zer waste in Soltâne erzogn, / an küneclîcher fuore betrogn (v. 117,30-118,2).
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sie, dass er der Sohn seines Vaters ist: des twang in art und sîn gelust (v. 118,28).45 Das Begehren des Vaters und des Sohns wird mit demselben Wort (gelust) adressiert, als ob es ein der „adlig-männlichen Natur innewohnender Trieb“46 wäre. Herzeloyde versucht, diesen Trieb zu unterbinden und richtet ihren haz wie eine Wahnsinnige gegen die Singvögel. In blinder Wut und „grenzenlose(r) Rachelust“47 versucht sie, die Vögel umbringen zu lassen – ein verzweifeltes und erfolgloses Unterfangen (vgl. v.118, 2-119,4). Hier zeigt sich zum ersten Mal, dass Herzeloyde zwar versucht, das Schicksal nach ihrem Willen zu lenken, dass sich jedoch die ritterliche Disposition ihres Sohnes nicht aufhalten lässt. Auf der Jagd begegnet Parzival zufällig Rittern, die er aufgrund ihrer glänzenden Erscheinungen für göttliche Wesen hält (vgl. v. 120,28). Sie sind genau so, wie seine Mutter ihm Gott beschrieben hat: hell, glänzend, hilfreich und treu – im Unterschied zum Teufel, der dunkel, untreu und listenreich ist (vgl. v. 119,17-30). Als Parzival seiner Mutter von der Begegnung mit den Rittern berichtet, fällt diese vor Schreck in Ohnmacht (vgl. v. 125,30). Dies ist die typische Reaktion auf einen drohenden oder bereits geschehenen Verlust, denn auch als Herzeloyde von Gahmurets Tod erfuhr, schwanden ihr die Sinne (vgl. v. 105,6f.). Die Furcht, neben dem Gatten auch den Sohn an die Ritterschaft zu verlieren, hat Gestalt angenommen. Als Herzeloyde bemerkt, dass Parzival von seinem Entschluss, sich von König Artus zum Ritter schlagen zu lassen, nicht abzubringen ist, versucht sie, ihn mit einer List zur Rückkehr zu bewegen. Statt seiner königlichen Herkunft entsprechend kleidet sie ihren Sohn in ein tôren kleit (v. 127,5). Diese Ausstattung soll ihn zum Gespött der Leute machen und zugleich Gewalt und Schlägen aussetzen, so dass er von der Ritterschaft abgehalten wird und freiwillig nach Hause zurückkehrt. Die List zeugt von Herzeloydes Verzweiflung: Sie nimmt lieber eine mögliche Verletzung ihres Sohnes in Kauf als seiner ritterlichen Entwicklung ihren Lauf zu lassen. Die Gefahren, die die Ritterwelt für ihren einzigen Sohn bereithält, sind angesichts des Todes ihres geliebten Gahmurets offensichtlich. Dennoch erscheinen Herzeloydes Maßnahmen unverhältnismäßig und auf das bisher von Parzivals Mutter gezeichnete Bild legt sich ein Schatten. In der Episode mit den Singvögeln, in der ihre Mordlust bis ins Detail beschrieben wird, erscheint sie monströs und brutal,48 vor allem, wenn sie ihre Dienerschaft im Detail anweist, wie sie die Tiere würgen sollen (vgl. v. 119,4). Ebenso gewalttätig erscheint Herzeloyde, als sie ihre List einfädelt, damit Parzival zurückkehrt. In vollem Bewusstsein der möglichen Folgen für ihren Sohn steckt sie diesen in Narrenkleider. Herzeloyde führt in beiden 45 Vgl. zu Gahmurets gelust u.a. v. 9,24-26; v. 36,2. 46 Schmid (1994), S. 183. 47 Lewis (1978), S. 478. 48 „Although the mother’s logic is rather more convincing than the logic of chivalry, it is the mother who appears to us as a freak, a monster even […].“ In: Klosowska (2005), S. 40.
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Fällen aus, was sie selbst am Verhalten von Rittern verabscheut: Sie jagt, überlistet und akzeptiert auch gewaltsame Übergriffe gegen ihren Sohn. Doch bleiben diese Maßnahmen fruchtlos. Ihr Sohn hat sich längst für die Ritterschaft entschieden. Herzeloyde gibt Parzival Ratschläge mit auf den Weg, die ihn aufgrund seiner mangelnden höfischen Erziehung irreleiten.49 Daher „erscheint seine Unerfahrenheit, seine tumpheit, als grundständiges Handlungsmotiv“.50 Unkenntnis charakterisiert Parzival, wenn er Soltane verlässt. Sie „wird ihn begleiten, ungeachtet der Kenntnisse und Erfahrungen, die er auf seiner Fahrt gewinnt, und für alle Fehlhandlungen, die er begeht, verantwortlich sein“.51 Als Parzival am nächsten Tag davonreitet, ist Herzeloydes Tod besiegelt, ungeachtet der Tatsache, dass sie auf eine baldige Rückkehr ihres Sohnes setzt. Kaum ist ihr Sohn fort, bricht sie tot zusammen. Nun lobt der Erzähler wieder Herzeloydes mariengleichen Eigenschaften – wie guete und diemuete (v. 128,27f.) – und preist ihr Dasein als Mutter: ôwol si daz se ie muoter wart! (v. 128,25). Seine Mutter wird auch auf dem weiteren Weg Parzivals wichtig bleiben,52 obwohl er nun die ritterliche Welt des Vaters betritt. Schon bevor sich Parzival auf Gralssuche begibt, spielt die Abstammung von Herzeloyde eine große Rolle. Sie dominiert in der Sphäre des Grals: Die Gralsfamilie wird von Parzivals Muttersippe geformt, die Verwandten mütterlicherseits sind wichtige Stationen in Parzivals Entwicklung. Der Gralsbereich ist die Gegenwelt sowohl zum gewaltsamen höfisch-ritterlichen wie auch zum eremitischen, von der Welt abgeschiedenen Bereich.53
49 Parzival wird von Herzeloyde in einem „Zustand des Nicht-Wissens und NichtVerstehens“ = tumpheit (Bumke (2004), S. 56) belassen, der ihn auf seinem Weg begleitet. Vgl. dazu auch Haas (1964). Zu der Überzeichnung und Komik Wolframs bei der Inszenierung von Parzivals tumpheit vgl. Bumke (2004), S. 224ff.; Ridder, Klaus: „Narrheit und Heiligkeit. Komik im Parzival.“ In: Wolfram-Studien 17 (2002), S. 136-156; Bertau, Karl: „Der Versuch über tote Witze bei Wolfram.“ In: Ders.: Neun Versuche über Subjektivität und Ursprünglichkeit in der Geschichte. München 1983, S. 60-109. 50 Mertens (2003), S. 63. 51 Bumke (2004), S. 56. 52 Bumke weist auf die „extreme Mutterbindung“ hin und auf Parzivals Hang, sich auf deren Ratschläge zu berufen (z.B. v. 138,8), bis Gurnemanz das unterbindet (vgl. Bumke (2004), S. 56). Außerdem wird der Tod der Mutter vom Einsiedler Trevrizent als eine der Sünden Parzivals gewertet, die ihn bei seinem ersten Gralsbesuch davon abhielten, die richtige Frage zu stellen (vgl. v. 499,20). 53 Auch die anderen Verwandten mütterlicherseits entziehen sich der höfisch-ritterlichen Welt, weil sie Opfer von deren Brutalität werden. Vgl. hierzu Schmid (1994), S. 177f.
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1.1.2.2 Jeschute Der erste Mensch, dem Parzival in der neuen, unbekannten Welt begegnet, ist Jeschute, die Frau des Herzogs Orilus. Sie liegt schlafend in ihrem Zelt. Bei der Beschreibung der Dame wird der Blick zuerst auf ihre roten Lippen gelenkt, die explizit als der minne wâfen (v. 130,4ff.) bezeichnet werden.54 Jeschute wird auch nach diesem ersten Anblick weiter erotisch aufgeladen. Sie hat ihren Mund im Schlaf leicht geöffnet – dieser löst der minne hitze aus. Dies bestätigt der Erzähler mit der Aussage, dass er selbst einen solchen Mund küssen würde (vgl. v. 130,14-16). Neben dem Mund sind es weitere Körperteile, die ihren süezen lîp ausmachen: ebenmäßige Zähne (vgl. v. 130,13), schlanke Arme mit weißen Händen (v. 130,25) und, nicht zu vergessen, die Hüfte (vgl. v. 130,18). Die Nennung der Hüfte ist auffällig, und der Erzähler begründet sogleich, warum sie überhaupt sichtbar ist: Jeschute war es, nachdem ihr Geliebter sie verlassen hatte, zu warm und sie schob die Zobeldecke beiseite (vgl. v. 130,17ff.). Dies impliziert, dass Jeschute nun erschöpft und erhitzt nach vollzogenem Liebesspiel im Bett liegt. So wird sie als wunsches âventiur, als laszive Herausforderung inszeniert, die jeder Ritter annehmen muss. Parzival jedoch nähert sich ihr „ohne jedes sexuelle Interesse“.55 Vielmehr erinnert er sich an den Rat seiner Mutter und wendet seine Aufmerksamkeit dem Ring an Jeschutes Finger zu. Herzeloyde hatte ihrem Sohn geraten, wann immer er eines wîbes vingerlîn erwerben könne, die Gelegenheit zu ergreifen; zudem solle er sie küssen und ihren Leib fest umfassen (vgl.: v. 127,26-30). So entwendet Parzival Jeschutes Ring und kostbare Spange, nachdem er unehrenhaft in ihr Bett gesprungen ist. Nicht nur die Schmuckstücke, sondern auch die Berührungen zählen zu Parzivals Beute, er nötigt Jeschute zu einem Kuss und einer Umarmung. Dies geschieht nicht ohne Jeschutes Gegenwehr: diu frouwe was mit wîbes wer: / ir was sîn kraft ein ganzez her. / doch wart dâ ringens56 vil getân (v. 131, 19-21). Außerdem fordert sie Parzival auf, Ring und Spange zurückzugeben, bevor er geht. Dem kommt Parzival nicht nach, stattdessen stiehlt er ihr einen weiteren Kuss, bevor er vergnügt von dannen zieht (vgl. v. 132,20 bzw. v. 132,25). Dass er sich Jeschute gegenüber unhöfisch benommen hat, erkennt Parzival nicht, sondern ist zufrieden mit sich selbst. 54 Die Beschreibung Jeschutes ähnelt der von Isolde in der Minnegrotten-Szene (Vgl. Tristan, v. 17576ff.). Vgl. hierzu auch Yeandle, David N.: Commentary on the Soltane and Jeschute Episodes in Book III of Wolfram von Eschenbach’s Parzival (116.5-138.8). Heidelberg 1984, S. 295. 55 Scheuble, Robert: mannes manheit, vrouwen meister. Männliche Sozialisation und Formen der Gewalt gegen Frauen im Nibelungenlied und in Wolframs von Eschenbach Parzival. Frankfurt am Main et al. 2005, S. 161. 56 Eigentlich ist ringen ein mittelhochdeutscher Ausdruck für Geschlechtsverkehr. Zu einem Vollzug kommt es jedoch nicht, wie man dem ironischen Kommentar des Erzählers ein paar Verse später entnehmen kann (vgl. v. 139,15ff.).
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Nachdem Parzival fortgeritten ist, kommt Orilus, Jeschutes Geliebter, zurück und wittert hinter dem fehlenden Ring Betrug. Er rächt sich an Jeschute, indem er ihr die Gemeinschaft von Bett und Tisch aufkündigt, und fügt ihr noch weitere Schmach zu, indem er sie zwingt, ihre standesgemäße Kleidung bis auf ein Unterkleid abzulegen. Das ganze Ausmaß des Leids, das Jeschute durch Parzivals Fehlverhalten erfährt, zeigt sich bei ihrer zweiten Begegnung. Wieder ist Jeschute allein, denn Orilus reitet weit von ihr entfernt, eine weitere Strafmaßnahme. Jeschute ist ein Bild des Jammers. Sie reitet auf einem klapprigen Pferd und ihre Erscheinung ist elend. Die Kleider hängen ihr in knoden (v. 257,14) vom Leib und verbergen nur das Nötigste.57 Doch auch in dieser Situation ist Jeschute noch begehrenswert, werden doch wieder ihr roter Mund und die bloße Haut, die aus den Lumpen hervorblitzt, betont: dâ saher vil der stricke: / dar unde liehte blicke, / ir hût noch wîzer denn ein swan (v. 257,11-13) bzw. swiez ie kom, ir munt was rôt: / der muose alsölhe varwe tragen, / man hete fiwer wol drûz geslagen (v. 257,18-20). Die Tränen, die sie aufgrund ihrer Entehrung vergießen muss, fließen in einem ständigen Rinnsal auf ihre Brüste und benetzen diese (vgl. v. 258,25-29). Die Zeichen ihres Leids werden zum Blickfang und lenken die Aufmerksamkeit auf Jeschutes auch und gerade in der Trauer „erotischen Körper“58. Form und Ausrichtung ihrer Brüste werden detailliert beschrieben, und erneut hält es der Erzähler für nötig, sich zur Bekräftigung der Anziehungskraft Jeschutes selbst ins Spiel zu bringen (vgl. v. 257,25ff.).59 Ihr verführerischer Körper löst auch in dieser misslichen Lage allseits Begehren aus – nur nicht bei Parzival. Dass er die Situation bei der ersten Begegnung mit Jeschute nicht bis aufs Äußerste ausnutzt, mahnt der Erzähler an: het er gelernt sîns vater site, die werdeclîche im wonte mite, diu bukel wære gehurtet baz, da diu herzoginne [Jeschute] al eine saz, diu sît vil kumbers durch in leit. (v. 139,15-19) 57 Die Behandlung durch Orilus erinnert an die Demütigungen, die Jeschutes Bruder Erec (vgl. v. 134,6f.) seiner Frau Enite im Erec angedeihen lässt. 58 Koch (2003), S. 152; vgl. hierzu auch James Schultz: „The Aphrodisiac Body on Display.“ In: Ders.: (2006a), S. 29ff., zu Jeschutes Brüsten v.a. S. 40ff. 59 Wolfram macht in der Jeschute-Episode mehrere zweideutige Witze. Auch der Scherz über Jeschutes bloze site (v.a. v. 257,21-25) hat „erotischen Doppelsinn“, vgl. dazu Scheuble (2005), S. 171. Aber nicht nur diese Szene auch andere zeigen Wolframs Hang, erotisch aufgeladene Situationen zu schaffen und mit zweideutigen Anspielungen zu sticheln. Vgl. hierzu Gilmour, Simon J.: daz sint noch ungelogeniu wort: A Literary and Linguistic Commentary on the Gurnemanz Episode in Book III of Wolframތs ‚Parzival‘ (161.9-179.12). Heidelberg 2000, S. 100.
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Obwohl Parzival seines Vaters art in sich trägt, scheint sich diese doch auf die Lust zum Kampf zu beschränken. Dem zweiten Begehren Gahmurets, der Liebe, geht sein Sohn nicht nach.60 Es ist mehr als deutlich, dass „der Held die Gelegenheit verpasst hat, dass er nicht auf der Höhe seiner Männlichkeit war“.61 Die Männlichkeit des Protagonisten selbst steht in Frage, obwohl schon unmittelbar nach seiner Geburt die Aufmerksamkeit auf sein visellîn gelenkt worden war,.62 Parzival trägt zwar das Feenblut des Vaters in sich, aber dass er keinen (männlichen) Drang verspürt, sein Begehren auf Jeschute zu richten, sondern lediglich dem mütterlichen Ratschlag folgt, verleiht ihm weibliche Züge.63 Hinzu kommt, dass Parzivals Schönheit außergewöhnlich ist, sie wird schon bei der ersten Begegnung mit den Rittern betont (vgl. v. 122,13). Sie ist Zeichen seiner Auserwähltheit zum zukünftigen Gralskönig: „Parzivals Berufung materialisiert sich als physische Aura“.64 Parzivals Geschlechtsidentität ist uneindeutig:65 Er wirkt androgyn, seinen (männlichen) Körper überlagert eine Schönheit und Heiligkeit, die sich eindeutigen Geschlechtszuschreibungen entzieht.66 In der wiederkehrenden Betonung seiner Erlöserrolle wird Parzival mit Engeln verglichen: dô truoc der junge Parzivâl / âne flügel engels mâl / sus geblüet ûf der erden (v. 308,1ff.).67 Engel gelten zwar als männlich, werden aber als asexuelle Wesen definiert:
60 bukel wird von mehreren Interpreten und Übersetzern auf Jeschutes Körper bezogen: Bertau (1983), S. 88; oder auch Scheuble (2005), S. 163, FN 53. Scheuble weist an dieser Stelle zudem darauf hin, dass auch Belakane als Schildbuckel bezeichnet wurde: si ist [ein] bukel ob der werdekeit (v. 91,8). 61 Bertau (1983), S. 88. 62 Vgl. zur Ökonomie der Liebe, die die Männlichkeit der Ritter bestimmt nach dem Motto: „(G)reat knights are great lovers.“ (McCracken (2001), S. 123). 63 Vgl. Brinker-von der Heyde (1991), S. 180f. 64 Kraß (2005), S. 180. 65 Vgl. zum Herzensadel und dessen Einfluss auf die Erzeugung von Liebesgefühlen: Schultz (2006a); Zur Hervorrufung von minne und der Inszenierung von Geschlecht im höfischen Roman auch: Klinger, Judith: Die Macht der Blicke. Augenlust und Geschlechter-Repräsentation bei Hartmann von Aue.“ In: Camus, Celine/Hornung, Annabelle et al. (Hg.): Im Zeichen des Geschlechts. Repräsentationen, Konstruktionen, Interventionen. Königstein i.T. 2008, S. 28-45, v.a., S. 28-31. 66 Zur Verbindung von Heiligkeit und Androgynität im Mittelalter, vgl. Riches, Samantha J.E./Salih, Sarah (Hg.): Gender and Holiness: Men, Women and Saints in Late Medieval Europe. New York 2002. 67 Man könnte hier auch noch einen Bogen schlagen zum Anfang von Parzivals Geschichte, als er zum ersten Mal Rittern begegnet und er diese auch für Engel oder Götter (v. 120, 29) hält und ihn eine Art Liebe und Begehren zu diesen und der Ritterschaft befällt.
90 | DIE MITTELALTERLICHEN GRALSROMANE „Maleness seems to have been closely linked to the divine – both God and angels were believed to be male. I suggest that beliefs about nonsexual nature of angels, and their strong maleness (even youthful maleness) […] are promoting both asexuality and maleness as means to become closer to god.“68
Zugleich besitzt der Engel als ein himmlisches Wesen auch eine weibliche Seite: „Thus, the angel elides and impedes a masculine reliance upon sight for it is equally associated with the feminisation of the body“.69 Engel weisen nicht nur in modernen Zeiten Konzepte der Geschlechtsuneindeutigkeit auf, schon in ihren vormodernen Darstellungen sind sie: „pure, either above sex or, […] chastely married.“70 Somit zeigt sich im Vergleich Parzivals mit einem Engel seine androgyne Geschlechtsidentität: „Nicht umsonst wählt Wolfram das Bild des Engels für die Beschreibung des Schönen, das bekanntlich den Zustand des Körpers vor der Sexualität spiegelt. Parzivâl erschiene somit als homoerotisch aufgeladene Unschuld, deren Entwicklung eher auf alternative Konzepte wie Bisexualität, Betonung des Androgynen etc. zulaufen würde.“71
Im weiteren Verlauf des Romans wird jedoch zunehmend versucht, Parzivals männlich-ritterliche Identität zu stärken. 1.1.2.3 Gurnemanz’ Dienerinnen Ein weiterer Schritt auf dem Weg zur idealen Ritterschaft besteht im Erwerb einer höfischen Bildung. Parzival findet Aufnahme bei Gurnemanz und bietet ihm, dem Rat der Mutter folgend, seinen Dienst an (v. 163,1f.). Doch nicht Parzival dient Gurnemanz, viel eher ist es der Burgherr, der den jungen Mann im ritterlichen Lebensstil unterweist. Unter anderem vermittelt er ihm den richtigen Umgang bei Hof – gegenüber Frauen, im Kampf und im Gespräch – und höfisch-christliche Werte wie Güte, Demut und Barmherzigkeit.72 Ferner erteilt er Parzival jenes Frageverbot
68 Sullivan, Kevin: „Sexuality and Gender of Angels.“ In: DeConick, April D.: Paradise Now. Essays on Early Jewish and Christian Mysticism. Leiden/Boston 2006, S. 211-228, hier S. 228. 69 Asthon, Gail: „Bridging the Difference: Reconceptualising the Angel in Medieval Hagiography.“ In: Literature and Theology 16 (2002), H. 3, S. 235-247, hier 246. 70 Frantzen (2000), S. 278. Letzteres, das keusche Verheiratetsein, trifft, wie sich zeigen wird, auch auf Parzival und seine Verbindung mit Condwiramurs zu. 71 Maier-Eroms, Verena: Weiblichkeit und Heldentum und Weiblichkeit. Wolframs Parzival, Gottfrieds Tristan und Richard Wagners Musikdramen. Marburg 2009, S. 31. 72 Vgl. Bumke (2004), S.60.
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– irn sult niht vil gevrâgen (v. 171,17) –, eingedenk dessen Parzival in der Gralsburg schweigt. Während seines Aufenthalts an Gurnemanz’ Hof wird, wann immer Parzival seine Kleider ablegt und sein Körper sichtbar wird, seine Adel, Schönheit und Helligkeit thematisiert.73 Ein Ritter bemerkt gleich, dass Parzival von hohem Adel sein müsse (vgl. v. 164,12ff.) und trotz seiner inadäquaten Bekleidung und seines unhöfischen Verhaltens zur Minne geeignet sei: sîn varwe der minne zæme (v. 165,2). Glanz und die helle Farbe der Haut sind dezidierte Zeichen edler Abkunft. Als Parzival sich vor dem Zubettgehen entkleidet, erkennt Gurnemanz an seinem blôzen lîp, dass sich unter Rüstung und Narrenkleidung ein Mensch von exorbitanter Schönheit und Herkunft verbirgt: sô werde fruht gebar nie wîp (v. 166,16). Das „Erkennen“74 von Parzivals wahrer Schönheit setzt sich am nächsten Morgen fort, als er sich in das eigens für ihn bereitete, mit Rosenblüten angereicherte Bad begibt. Junge Frauen waschen, massieren und streicheln ihn, damit seine Wunden gelindert werden und er sich wohl fühlt: si twuogn und strichen schiere von im sîn amesiere mit blanken linden henden. […] juncfrouwen kiusche unde balt in alsus kunrierten. (v. 167,5-13)75
Wieder wird seine besondere varwe betont, die den Glanz der Sonne und der anwesenden Jungfrauen überstrahlt (vgl. 167,17-10). Parzivals Adel animiert die Mädchen dazu, ihm neben der Pflege seines Körpers auch zärtliche Berührungen zukommen zu lassen (vgl. v. 167,20). Wieder werden die Schönheit und Erwähltheit des Helden betont und erneut wird er mit Engeln verglichen. Zugleich ist die Badeszene erotisch aufgeladen: „Die mit religiösen Mustern inszenierte ritterliche Erwählung Parzivals darf freilich nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Aura des Helden immer auch eine erotische Aura ist. Wie bei den weiblichen Schönheitsepiphanien gehen Ästhetik, Ethik und Erotik auch im Falle Parzi73 Vgl. hierzu das Unterkapitel „Der schöne Ritter: ‚Parzival‘“. In: Kraß (2006a), S. 179185, hier S. 180. Zur Schönheit Parzivals, vgl. auch: Hahn, Ingrid: „Parzivals Schönheit. Zum Problem des Erkennens und Verkennens im ‚Parzival‘“. In: Fromm, Hans et al. (Hg.): Verbum et Signum. Festschrift für Friedrich Ohly. Bd. 2, München 1975, S. 203232. 74 Kraß (2006a), S. 180. 75 balt bedeutet hier ‚zugreifend‘ oder ‚zupackend‘. Vgl. Gilmour (2000), S. 105.
92 | DIE MITTELALTERLICHEN GRALSROMANE vals Hand in Hand. Dass seinem Körper eine transzendentale Leuchtkraft eignet, heißt nicht, dass die physisch-sexuelle Dimension des Körpers ausgelöscht wäre.“76
Eine erotische Atmosphäre wird zum einen durch die Rosen im Badewasser77 und zum andern durch die Handgriffe der Dienerinnen betont. Dazu passt jedoch auf den ersten Blick nicht die schamhafte Reaktion des unschuldigen Parzival. Er will sich in Anwesenheit der Frauen nicht aus dem Badewasser erheben, da sie ihn nackt sehen könnten (vgl. v 167,21-26). Auf den zweiten Blick scheint es jedoch fast so, als ob hier nicht nur die Scham Parzivals inszeniert wird. Parzival scheint die Gefahr, dass die anwesenden jungen Frauen womöglich sexuell übergriffig werden könnten, zu ahnen und ergreift eine Gegenmaßnahme, um dies zu verhindern. Dass Erotik in der Luft liegt, bestätigt auch der Erzähler. Er kommentiert süffisant, dass es durchaus das Ziel der Dienerinnen gewesen sei, nachzusehen, ob bei Parzival dort unde (v. 167,28) etwas geschieht, ob sich also zwischen seinen Beinen etwas regt.78 Dass ‚dort unten‘ nichts passiert und der schöne Jüngling die Gelegenheit verstreichen lässt, sich den jungen Mädchen anzunähern, passt zur Uneindeutigkeit seiner Geschlechtsidentität. Diese zeigt sich auch an dem Umstand, dass sich Parzivals Schönheit sowohl durch dezidiert männliche wie weibliche Attribute auszeichnen. Fast im gleichen Atemzug werden seine wohlgeformten Beine (vgl. v. 168,7)79 und sein roter Mund (vgl. v. 168,20) hervorgehoben.80 Parzival ergreift weder, wie sein Vater dies gewiss getan hätte, die Gelegenheit in Jeschutes Zelt, noch zeigt er sich den Dienerinnen im Bade nackt. Dass er sich in einem sexuellen Sinne unschuldig verhält, heißt nicht, dass er nicht selbst Erotik auf andere ausstrahlt und zum Objekt der Begierde wird. Ither beispielsweise hat Parzival seine Ausstrahlung trotz des Narrenkleids bescheinigt: ine gesach nie lîp sô wol gevar / du bist der
76 Kraß (2006a), S. 182f.; Die erotische Aufladung an der Stelle wird auch im Kommentar zur Gurnemanz-Episode betont, vgl. Gilmour (2000), S. 99. 77 Kraß hält die Rosen für eine „topische Liebesmetapher“, die das „erotische Interesse“ der anwesenden Jungfrauen ankündigen. Vgl. hierzu Kraß (2006a), S. 184. 78 An der Stelle stimme ich folgender Übersetzung Knechts von v. 167,28 nicht zu: „ob ihm nicht da unten etwas Böses zugestoßen war“. Dies ist irreführend. Vorzuziehen ist die Übersetzung von Kraß, der die Stelle wie folgt überträgt: „ob sich nicht bei ihm dort unten etwas geregt hätte.“ (Kraß (2006a), S. 184); dort unde ist ein eindeutiger Euphemismus für das Genital, vgl. auch: Gilmour (2000), S. 116. 79 Vgl. hierzu auch die Beschreibung von Gahmurets Beinen sowie Kraß (2006), S. 278. 80 Vgl. dazu auch die Schilderunng der Lippen Gahmurets bei seinem Einzug in Kanvoleis. Auch Kraß betont die „Uneindeutigkeit“ der Geschlechtsidentität von Parzival, vgl. Kraß (2005), S. 184.
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wâren minne blic, / […] / vîl wîbes freude an dir gesigt (v. 146,9-11).81 Parzival wird somit nicht als begehrendes Subjekt, sondern als Objekt des Begehrens inszeniert. Dieses Begehren, das Parzival – ob von männlicher oder weiblicher Seite – entgegengebracht wird, wirft ein „zweideutiges Licht“82 auf seine Geschlechtsidentität. In der Badeszene werden traditionelle Geschlechtszuschreibungen destabilisiert, weil hier Frauen ihr Begehren aktiv ausdrücken, wohingegen der entblößte, schamhafte Mann derjenige ist, der zum Objekt des Begehrens wird. Erschwerend kommt hinzu, dass nicht nur weibliches Begehren ausgedrückt wird, sondern dass es sich um die „Phantasie eines männlichen Erzählers“83 handelt. Dieser betont, dass die Androgynität Parzivals durch seine Jugend begründet ist – er ist ein bartloser Jüngling (der junge âne bart, v. 307,7).84 Der Körper und die Identität des zukünftigen Gralserlösers ist einer der Schauplätze, auf denen die Vereinigung des ritterlichen mit dem spirituellen Bereich stattfindet. Obwohl Parzival aufgrund seiner Abstammung von Gahmuret, der ersten Kämpfe und der ritterlichen Unterweisung durch Gurnemanz eine stabile männliche Ritteridentität erworben haben sollte, weist er weibliche Züge auf. Dies untergräbt den Wert seiner Person nicht. Im Gegenteil machen seine Schönheit und Zugehörigkeit zur Gralssippe85 die Besonderheit des Helden aus. Zudem zeigt sich, dass in der Sphäre des Grals effeminierter Männlichkeit der Vorzug gegenüber hegemonialer Männlichkeit gegeben wird.86
81 Später bei seinem Auftritt am Artushof wird Parzivals Außenwirkung – auf Frauen und Männer – erneut bestätigt: swer in sach, man oder wîp, / die heten wert sînen lîp (v. 307,11f.) 82 Kraß (2005), S. 184. 83 Kraß (2005), S. 184. 84 Vgl. hierzu Schultz (1997), S. 93; ebenso: ders. (1995). 85 Alle Beschreibungen der Mitglieder der Gralssphäre weisen Lichtmetaphern auf (z.B. liht, schîn, glast). Vgl. dazu Brinker-von der Heyde (1996), S. 304. Zudem ist Parzivals Schönheit wie diejenige weiblicher Figuren inszeniert. Vgl. dazu Kraß (2006a), S. 185 oder „Der schöne Körper: Parzival als Lichtgestalt.“ In: Ackermann, Christiane: Im Spannungsfeld von Ich und Körper. Subjektivität im Parzival Wolframs von Eschenbach und im Frauendienst Ulrichs von Lichtenstein. Köln et al. 2009, S. 146-159. Er ist göttliche Lichtgestalt (vgl. ebd., S. 151) oder – wie man ergänzen könnte – ein Engel. 86 Vgl. zum Konzept hegemonialer Männlichkeit die Forschungen von Raewyn Connell. Sie unterscheidet hierin vier Formen von Handlungsmustern der Männlichkeit: die hegemoniale, die komplizenhafte, die untergeordnete und die marginalisierte Männlichkeit. In: Connell, Raewyn: Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeit. Opladen 1999.
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1.1.2.4 Condwiramurs Seine vierte Begegnung mit dem weiblichen Geschlecht führt Parzival zur Heirat mit Condwiramurs in Pelrapeire. Es stellt sich die Frage, ob der neu gewonnene Status als verheirateter Mann etwas an der Inszenierung seiner Geschlechtsidentität ändert und was die Ehe für seine Suche nach dem Gral bedeutet. Condwiramurs hervorstechendste Eigenschaft ist ihre Schönheit, mit der sie alle anderen schönen Frauen überstrahlt: Condwîr âmûrs ir schîn doch schiet von disen strîten: Jeschûten, Enîten, und Cunnewâren de Lâlant, und swâ man lobs die besten vant, dâ man frouwen schœne gewuoc, ir glastes schîn vast under sluoc, und bêder Isalden. (v. 187,12-19)
Wie damals Belakane befindet sich auch Condwiramurs in einer ausweglosen Situation: Ihr Land ist zerstört, die Stadt Pelrapeire wird belagert und es herrscht Hungersnot. Condwiramurs begibt sich, von Sorgen und Schlaflosigkeit getrieben, bereits in der ersten Nacht, die Parzival in ihrer Burg verbringt, an seine slâfstat (v. 192,24ff.). Der Erzähler wehrt den Verdacht ab, sie verhalte sich in irgendeiner Weise unkeusch. Nicht Liebe, sondern einzig die Suche nach Rat und Trost eines Freundes lassen Condwiramurs zu ihrem Gast schleichen (vgl. v.a.192,10-13). Mit der Heimlichkeit ihres Aufbruchs und der Art und Weise, wie über ihre Kleidung gesprochen wird, wird die erotische Dimension ihres Besuchs angedeutet. Um ihre Kleidung zu beschreiben, wird Vokabular von Krieg und Kampf aufgeboten, als ob Condwiramurs einen „Liebeskrieg“ vorbereiten wollte.87 Ihr weißes Hemdchen88 wird als Rüstung bezeichnet und betont zugleich ihren weiblichen Kampfsinn (v. 192,15ff.). Die Verwendung doppeldeutiger Begriffe, die sowohl im Bereich der Liebe als auch des Kampfes verwendet werden können, setzt sich fort, als Condwi87 Vgl. zu den Waffen einer Frau (minne wâfen) in Liebesdingen auch Jeschutes rote Lippen (vgl. v. 130,4ff.). Vgl. zu der Sprache der Liebes und des Kampfes oder Krieges sowie ihrer Verwendung im Parzival: Lienert, Elisabeth: „Begehren und Gewalt. Aspekte der Sprache der Liebe in Wolframs Parzival.“ In: Actas do Colóquio Internacional 15 e 16 de Novembro de 2002. Porto 2004, S. 194-208, hier S. 195ff. 88 Vgl. hierzu Herzeloydes weißes Unterhemd, das auch bei den Kämpfen Gahmurets und dessen Inszenierung als Mann eine wichtige Rolle spielt. Vgl. dazu auch Hafner, Susanne: „Herzeloydes Hemd: Ein Dessous obenauf.“ In: Buschiner, Danielle/Spiewok, Wolfgang: Sexuelle Perversionen im Mittelalter. Greifswald 1999, S. 94-105.
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ramurs in Parzivals Zimmer gelangt. Die Königin treiben ihre Sorgen um, und der Ritter bleibt – wie schon bei früheren Begegnungen mit Frauen – schamhaft. Beide wissen nicht, wie mit der Liebe anzufangen sei, wie der Erzähler bedauernd feststellt (vgl. v. 193,2-4). Parzival lädt Condwiramurs zwar in sein Bett ein, aber seine Motive sind unschuldig. Condwiramurs folgt der Aufforderung erst, nachdem ihr Parzival versprochen hat, nicht mit ihr zu ringen, also nicht körperlich übergriffig zu werden (vgl. v. 194,1).89 Condwiramurs verteidigt ihre Jungfernschaft nicht nur gegenüber Parzival, sondern auch gegenüber Clamide: Eher würde sich selbst töten, als sich und ihr Land dem Belagerer hinzugeben (vgl. v. 194,27ff.). Obwohl Parzival und Condwiramurs in ihrer ersten gemeinsamen Nacht das Bett teilen, bleiben sie keusch und unschuldig. Nachdem Parzival ihr Land befreit hat, wobei er sich im Kampf als seines Vaters würdiger Sohn erweist (vgl. v. 197,130), umarmt ihn die Königin und erklärt öffentlich: in wirde niemer wîp / ûf erde decheines man, / wan den ich umbevangen hân (v. 199,26-28). Die Aussage in Anwesenheit der Mitglieder des Hofes kommt einem Ehegelöbnis gleich, und die Verbindung der beiden gilt als besiegelt. Problematischer als die Eheschließung ist jedoch der Vollzug. Was es mit dem bî ligen auf sich hat, das öffentlich gefordert wird (v. 201,19), weil nur dadurch die Ehe rechtskräftig wird, verstehen die Brautleute nicht. Condwiramurs und Parzival verbringen drei enthaltsame Nächte miteinander. Weil sie es nicht besser wissen, bleibt Condwiramurs, wie der Erzähler tadelnd bemerkt, weiterhin eine maget (v. 202,22), die sich nun irrigerweise als wîp fühlt und auch so gibt (v. 202,23ff.). Erst nachdem Parzival sich die Ratschläge seiner Mutter und seines Erziehers in Erinnerung gerufen hat, dass Mann und Frau sich vereinigen sollen, vollziehen die beiden ihre Ehe nun auch körperlich (vgl. v. 203,6-10). Auffällig ist bei der Verbindung von Condwiramurs und Parzival nicht, wie schnell sie sich vollzieht, sondern wie keusch. Zum verschämten Parzival gesellt sich die jungfräuliche Condwiramurs. Diese weiß zwar wie Belakane und Herzeloyde genau, was sie will, und ergreift, um ihre Ziele zu erreichen, als erste die Initiative. Anders als bei den zuvor genannten Frauenfiguren endet die Aktivität jedoch nach der Eheschließung, Condwiramurs wird so passiv wie ihr Ehemann. Die Enthaltsamkeit ist Zeichen der „Superiorität ihrer Verbindung“90 und verweist auf die zukünftige Keuschheitsforderung des Gralkönigtums.91 Auch die Andro-
89 ringen ist in der Situation auf den Geschlechtsakt bezogen. Ein weitere Verwendung findet das Wort auch in der hypothetischen Überlegung eines Geschlechtsakt zwischen Gawan und Bene (vgl. v. 555,22); vgl. auch Lienert (2004), S. 195. 90 Lechtermann, Christina: Berühren und Berührtwerden: daz was der belde ein begin. In: Jaeger/Kasten (2003), S. 251-270, hier S. 257. 91 Vgl. Bumke (2004), S. 64. Wichtig ist zudem, dass die Liebe zwischen Parzival und Condwiramurs, gerade weil körperliche Intimität nicht im Vordergrund steht, nicht zu
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gynität Parzivals hat mit seiner späteren Aufgabe als Gralssucher zu tun, denn obwohl Parzival nach seinem Aufenthalt in Pelrapeire „erwachesen“ ist,92 ist seine geschlechtliche Identität beim Eintritt in die Sphäre des Grals noch immer nicht eindeutig. Parzivals Reise zur Mutter erweist sich als unwissentliche Fahrt zum Gral und leitet eine fünfjährige Trennung von seiner Ehefrau ein. Die Abwesenheit Condwiramurs ist wiederum mit den Anforderungen der Gralssuche zu begründen. Diese ist ein männerdominiertes Unternehmen, auf ihr begegnen die Suchenden zwar Frauen, die zumeist als Ratgeberinnen und Helferinnen fungieren, die eigenen Angetrauten treffen sie hingegen nie. Eine zweite Eigenschaft kommt zudem zum Tragen: Die Gralssuche ist nicht nur eine männliche Domäne, sondern sie ist auch ein Unterfangen, das Keuschheit und Enthaltsamkeit fordert. Alle Begegnungen Parzivals mit Frauen, die ein latentes erotisches Potential aufweisen, sind deswegen vor den Beginn der Gralssuche gesetzt. Ab dem Zeitpunkt der Heirat mit Condwiramurs und dem Aufbruch zur Gralssuche gerät Parzival nicht mehr in verfängliche Situationen.93 Sein Begehren richtet sich einzig auf den Gral. 1.2 Der gescheiterte Gralssucher des Prosa-Lancelot 1.2.1 Lancelots großes Herz Obwohl nicht der als bester Ritter der Welt vorgestellte Lancelot, sondern sein Sohn Galaad den Gral erlöst, figuriert er dennoch als Protagonist des gleichnamigen Prosaromans. Seine Lebensgeschichte wird wie die des Gralssuchers Parzival von Geburt an erzählt. Kein anderer Artusritter, weder Artus’ Neffe, der perfekte höfische Ritter Gawain, noch der Gralserlöser Galaad, wird in solchem Umfang beschrieben: „Lancelot’s preeminent position as the greatest knight at the very center of the narrative is therefore clearly marked […].“94 Wie schon bei Parzival spielen einem Konflikt für den Ritter führt wie in anderen höfischen Romanen (z.B. dem Tristan oder dem Prosa-Lancelot). Vgl. hierzu Mertens (1998), S. 121. 92 Vgl. Russ, Anja.: Kindheit und Adoleszenz in den deutschen Parzival- und LancelotRomanen. Stuttgart 2000, S. 75. Erwachsen mag Parzival bei seinem Auszug zwar sein, aber seine Identität, v.a. seine geschlechtliche, ist mit seinem Eintritt in die Sphäre des Grals noch immer nicht eindeutig bzw. wird weiter veruneindeutigt. 93 Parzival erregt zwar noch immer das Begehren der anderen. In Situationen, die ihn in heteronormatives Begehren verstricken können, gerät er nach dem Beginn der Gralssuche nicht mehr. Diese treffen dann ausschließlich Gawan, der zweite Protagonist des Parzival. Vgl. zu den verschiedenen Begehrensverhältnissen Gawans: Kapitel II.3.1.2 der vorliegenden Arbeit. 94 Vgl. dazu auch Kennedy, Elspeth: The Figure of Lancelot in the Lancelot-Graal. In: Lori J. Walters (Hg.): Lancelot and Guinevere. A Casebook. New York/London 1996, S. 79104, hier S. 81.
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die Umstände der Kindheit und Jugend eine wesentliche Rolle im Hinblick auf das spätere Scheitern im großen Gralsabenteuer. Der Prosa-Lancelot beginnt wie der Parzival mit der Geschichte der Eltern des Helden, die aber erst nach der Geburt Lancelots, des einzigen Sohns von König Ban und seiner Ehefrau Aleine, einsetzt. Ihr Kind wird zwar Lancelot gerufen, ist jedoch auf den Namen Galaad getauft: Und sie [seine Eltern] hatten nymant miteinander gewĤnnen dann ein junges knebelin kleyn, und was geheißen Lancelot syn zuname, wann er was getauffet Galaad; und wie er ward geheißen Lancelot, das sol das buch vil wol hernach gesagen (LuG I, 10,8-12).95 Die Verwirrung um Lancelots Tauf- und Rufnamen einerseits und das Wissen um seine Identität und Herkunft andererseits spielen von diesem Moment an eine wichtige Rolle. Trotz der unklaren Benennung Lancelots ist (wie bei Parzival) den Leser_innen zwar die königliche Herkunft des Protagonisten bekannt, dem jeweiligen Helden des Gralsromans bleibt sie jedoch zunächst verschlossen. Bei Parzival ist es seine Mutter Herzeloyde, die ihm seinen Namen, seine Herkunft und seine familiäre Abstammung verschweigt. Lancelots Unwissenheit ist darin begründet, dass er als kleines Kind aus dem Umfeld seiner Eltern entführt wird und seine neue Ziehmutter seine Herkunft absichtlich im Dunkeln lässt. Erst viel später, nach dem Bestehen verschiedener Abenteuer in der Karrenritt-Episode des Prosa-Lancelots, findet auch Lancelot seine Vorfahren, eine patri-lineare Einbindung und seinen richtigen Namen.96 Lancelots Vater, König Ban, ist zwar ein alt man (LuG I, 10,7), aber ihm fehlt es nicht an ritterlicher Kraft und Tugend. Er ist von wúnderlicher hoher ritterschafft (LuG I, 14,11). Seine Stärke beweist er trotz seines Alters im Kampf gegen Claudas, einen benachbarten Herrscher und langjährigen Feind. Claudas ist in Bans Herrschaftsgebiet eingedrungen und hat bis auf das Gebiet rund um die Burg Trebe dessen Reich erobert. Trebe ist nicht leicht einzunehmen und wird deswegen von Claudas belagert. Ban schickt ein Hilfsgesuch zu König Artus, dem er als Vasallenkönig dient. Obwohl der Lehnsherr Artus (vgl. LuG I, 16,28) 95 Zitiert nach: Lancelot und Ginover I. Prosa-Lancelot I. Nach der Heidelberger Handschrift Cod. Pal. germ. 147. Herausgegeben von Reinhold Kluge. Ergänzt durch die Handschrift Ms. allem. 8017-8020 der Bibliothèque de l’Arsenal Paris. Übersetzt, kommentiert und herausgegeben von Hans-Hugo Steinhoff. Frankfurt am Main 1995. 96 Als Lancelot Symeus aus dem Flammengrab retten will, erfährt er, dass er seinen richtigen Namen Galaad. Diesen hat er aufgrund des Ehebruchs seines Vaters Ban verloren. Hierbei zeigt sich auch, dass Lancelot durch Bans Betrug nicht nur den Namen verloren, sondern die Sünde seines Vaters ein Grund dafür ist, dass dem besten aller Artusritter der Weg zum Gral verschlossen bleibt und erst sein Sohn Galaad den Gral erlöst (vgl. LuG II, 360). Lancelot reiht sich im späten Erfahren des Vaternamens und der damit zusammenhängenden Abstammung in die Reihe anderer Gralssucher wie beispielsweise Parzival oder Silas ein.
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verpflichtet wäre einzugreifen, scheint er laut Erzähler aufgrund anderer Verpflichtungen keine Zeit zu haben (vgl. LuG I, 16,7ff.). Ban gibt sich mit dieser Absage nicht zufrieden und macht sich mitsamt seiner Ehefrau und seinem Sohn auf den Weg, um persönlich am Artushof vorstellig zu werden. Bis dorthin gelangt er jedoch nicht. Noch in Sichtweite der letzten in seinem Besitz befindlichen Burg wird König Ban Zeuge ihrer Zerstörung. Als Ban seine letzte Bastion fallen sieht, verliert er sämtlichen Lebensmut sowie den Glauben, dass er seine Familie noch versorgen und schützen könne: Der konig Ban sah syn burg brinnen, die er lieb hett fur alle syn búrgk, wann die burg was syn trost, das er alles syn lant da mit solt erkobern; und er sah das sie verlorn was die syn trost was. Da enkund er nit gedencken was yn möcht getrösten, wann er wúst sichselben alt und zurbrochen, und sin kint was cleyn und jungk, und enmocht im keyn hilff gethun (LuG I, 40,8-14).
Nach dieser Erkenntnis stirbt Lancelots Vater an gebrochenem Herzen (vgl. LuG I, 42,26). Königin Aleine bleibt mit ihrem kleinen Kind allein zurück. Über Lancelots Mutter erfährt man zu Anfang, dass sie viel jünger als ihr Ehemann ist. An der Stelle, an der Ban alle Hoffnung fahren lässt, wird eröffnet, dass sie von konig Davids geschlecht abstammt (vgl. u.a. LuG I, 40,258). Als sie vom Tod ihres Mannes erfährt, reagiert Aleine zunächst wie Herzeloyde: Sie bricht ohnmächtig zusammen, klagt voller Schmerz, zerkratzt ihr Gesicht, zerreißt ihre Kleidung und wirft diese von sich (vgl. LuG I, 44,6ff.). Obwohl sich auch Aleine ihrer Kleider entledigt, werden jedoch nicht wie bei Herzeloydes Trauer um Gahmuret die Brüste exponiert. Die Trauergesten im Fall von Lancelots Mutter bleiben, obwohl sie ein autoaggressives Potential haben, im konventionellen Rahmen.97 Aleine scheint die Tiefe ihrer Trauer um Ban mit allen Sinnen, nicht nur haptisch, sondern auch akustisch ausdrücken zu wollen, und stößt einen markerschütternden Schrei aus, der von Berg und Tal widerhallt (vgl. LuG I, 44,13f.). Weinen und Klagen wechselt mit Schweigen, sie verstummt und fällt in Ohnmacht.98 Die Intensität ihrer Trauer lässt sich mit Herzeloyde durchaus vergleichen, auch wenn die Ausdrucksformen ganz unterschiedlich sind. Im Fall von Aleine kommt noch hinzu, dass ein weiterer Verlust unmittelbar bevorsteht. Da Aleine im Trauerwahn ihren Sohn vollkommen vergessen hat, schreckt sie der Gedanke, dass sie Lancelot auf dem Rastplatz hat liegen lassen aus ihrem Weh97 Aleine entblößt weder ihre Brust, noch spritzt sie Milch aus dieser hervor. Lediglich Blut fließt aus ihrem zerkratzten Gesicht über ihren Hals (vgl. LuG I, S. 44, 9ff.). 98 Die Ohnmacht Aleines ist im Gegensatz zu der Herzloydes als Parzival von ihr wegreitet (Parzival, v. 128,20ff.) oder derjenigen König Bans kurz vor seinem letzten Gebet (vgl. LuG I, S. 40, 28-30) nicht der Vorbote ihres anstehenden Todes. Sie bleibt um Lancelots willen am Leben (vgl. dazu Greenfield (2002), S. 171).
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klagen auf (vgl. LuG I, 44,22f.). Aus Angst, ihrem einzigen Sohn könne etwas zustoßen, reagiert sie (wie schon auf Bans Tod) mit einem Schrei des Entsetzens, gefolgt von einer Ohnmacht (vgl. LuG I, 44,24-28). Aber Lancelot ist nicht tot, sondern eine unbekannte Frau hält Aleines Sohn auf dem Schoß und liebkost ihn. An dieser Stelle wird man, wie schon bei Herzeloyde und Parzival, an Maria erinnert, die in vielen Darstellungen das nackte Jesuskind auf ihrem Schoß hält. Diese Assoziation bestätigt eine weitere Eigenschaft Lancelots, von der man an dieser Stelle erstmals erfährt. Er ist nicht nur von königlicher Herkunft, sondern auch von allen Kindern der Welt das schönste: das schönst kint das ie keyn man mit synen augen gesah (LuG I, 44,36f.). So ist es nicht verwunderlich, dass die Unbekannte, trotz intensiver Bitten seiner Mutter Aleine, den Kleinen nicht zurückgibt. Sie ergreift es und springt mit ihm in den See (vgl. LuG I, 46,8-11). So verliert Aleine nach dem Ehemann auch noch den Sohn. Nichts hält sie mehr am Leben und sie will Lancelot ins Wasser folgen. Ihr Selbstmord wird von einem Knappen verhindert, und am Ende beschließt die ehemalige Königin, den Schleier zu nehmen (vgl. LuG I, 48,3550,35). Lancelot gelangt mit seiner Entführerin, bei der es sich um eine Fee handelt, in deren Zuhause im See. Ninienne, so heißt die Fee, versteht sich auf Zauberei und Täuschung. Sie besitzt ein großes Wissen über die Natur, weshalb sie unter anderem über ewige Jugend und Schönheit verfügt (vgl. LuG I, 60,1-8). Alles, was die Fee weiß und kann, hat ihr der Zauberer und Prophet Merlin aus Liebe beigebracht. Der negative Einfluss Merlins, der als Sohn des Teufels und gefallener Engel bezeichnet wird, wird dadurch verhindert, dass Ninienne ihn verbannt, indem sie ihn in einen Baum schließt.99 Der Bezug zur magischen Welt ist einerseits gewahrt, verstärkt beispielsweise durch die Tatsache, dass es sich bei dem See, in den die Fee mit Lancelot gesprungen ist, um ein Trugbild handelt, dem alle Menschen, die nicht in die Zauberei eingeweiht sind, anheimfallen. Andererseits ist die Fee vom See durchweg positiv gezeichnet. Sie vermittelt Lancelot christliche Werte 100 und ihrer Magie ist somit der dämonische Schatten genommen. Der scheinbare Tod Lancelots, an den nicht nur seine Mutter, sondern auch sein Feind Claudas (vgl. LuG I, 84,11f.) glaubt, bedeutet für das Königskind „Rettung, Neuanfang [und] Schutz vor feindlich gesinnter Welt.“101 Das Reich der Frau vom See bietet Lancelot eine würdige Umgebung und Erziehung, die er bei seiner Mutter nicht bekommen hätte. Claudas hatte seiner Familie alles genommen, was sie besaß, und Lancelot wäre seines Lebens nicht mehr sicher gewesen. Der schön júngling und des konigs sĤn (LuG I, S. 62,36), wie Lancelot in Bezug auf seine 99
Vgl. hierzu auch Kennedy (1999), S. 82.
100 Vgl. hierzu beispielsweise, dass Lancelots erster Erzieher ein Mönch ist und vor allem die christliche Prägung der Ritterlehre der Frau vom See. 101 Russ (2001), S. 204; vgl. dazu auch Miklautsch (1991), S. 97.
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Herkunft und sein Äußeres genannt wird, wird von der Frau vom See wie ein Sohn hingebungsvoll geliebt. Die Beinamen, die Lancelot bei der Frau vom See erhält, erinnern stark an Parzival, der zuerst auch fälschlicherweise seinen Kosenamen für seinen richtigen hält, da seine adlige Abstammung vor ihm geheim gehalten wird. Im Gegensatz jedoch zum Gralsroman Parzival wird im Prosa-Lancelot ein anderer Schwerpunkt gesetzt: Parzival ist in erster Linie Sohn (fîz); bei Lancelot wird Wert darauf gelegt, dass er schön und ein Königssohn (konigs sĤn) ist. Schönheit und Adligkeit sind seine hervorstechenden Eigenschaften. Lancelot, den die Frau vom See zudem als weise (LuG I, 102,12) bezeichnet, wird erst am Artushof erfahren, dass sie nicht seine leibliche Mutter ist.102 Das tut dem Verbundenheitsgefühl der beiden jedoch keinen Abbruch. Ninienne lässt es Lancelot an nichts fehlen, er wächst in Wohlstand auf und genießt eine standesgemäße Erziehung. Auch die Ritter und Damen im Reich der Frau vom See tragen zum behüteten Aufwachsen des Kindes bei (vgl. LuG I, 62,26-34). In der Kindheitsgeschichte Lancelots nimmt seine höfische Erziehung, die er im Gegensatz zu Parzival durchläuft, eine wichtige Rolle ein.103 Die Erziehung wird zunächst von einem Mönch übernommen, der ihm spielerisch den ersten Zugang zu höfischem Benehmen und Verhalten eröffnet. Bald jedoch ist die Zeit des kindlichen Spielens vorüber und ein Lehrmeister übernimmt in einer zweiten Stufe Lancelots Erziehung. Der Königssohn ist über alle Maßen reif für sein Alter (vgl. LuG I, 102,3-6). In dieser Phase seiner Erziehung wird der Grundstock für Lancelots Dasein als Ritter gelegt. Dabei ist seine Stärke von Vorteil: Der Junge lernt jagen, reiten sowie den Umgang mit dem Schwert (vgl. LuG I, 102,15ff.). Die höfische Gesellschaft, mit der sich Lancelot umgibt, das edle Betragen, das er an den Tag legt, und auch die zahlreichen Gesellschaftsspiele, die er beherrscht (vgl. LuG I, 102,24ff.), runden das Bild von Lancelot als adligem Menschen ab. Sein schönes Äußeres ist das Abbild der perfekten, edlen Gesinnung im Inneren, was auch den Erzähler ins Schwärmen geraten lässt: nu wil ich allen den sagen die gern schönen luten horen sprechen, wie schon aller syn lip was (LuG I, 102,32-104, 2). Was nun folgt, ist der traditionelle Preis der körperlichen Schönheit des höfischen Helden. Neben der hellen Hautfarbe werden seine wohlgeformten Züge betont. Die Beschreibung seiner vollkommenen Gestalt wird jedoch durch die detaillierte Schilderung seiner Zornesanfälle unterbrochen (vgl. LuG I, 104,13-25): Lancelots Augen glühen teuflisch rot, er schnaubt vor Wut, möchte alles mit bloßen Händen zerrei-
102 Erst als sich die Frau vom See von Lancelot am Artushof verabschiedet, offenbart sie ihm, dass er nicht ihr Sohn ist (vgl LuG I, 358, 6f.). 103 Die Intensität der Kindheitsschilderung zeigt sich besonders an der Detailtreue, z.B. in der Ritterlehre der Frau vom See usw.
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ßen und vergisst sich und seine Umwelt.104 Diese Charakterisierung des zornigen Helden, die sich unmittelbar an sein vormals höfisches Betragen anschließt, wirkt inmitten des Lobs seiner äußeren Schönheit irritierend. Der Exkurs über Lancelots zorniges Verhalten ist ein früher Hinweis darauf, dass er gegen die am Hof geforderte mâze und zuht verstoßen wird.105 Diese erste Unstimmigkeit weist weit in die Zukunft voraus, in der er aufgrund seiner sündigen und maßlosen Verbindung zu Ginover nicht der Gralserlöser sein darf. Zum anderen ist Zorn als Affekt nahe mit dem Wahnsinn verwandt, für den Lancelot berühmt ist und der ihn aufgrund seiner ehebrecherischen Liebe zur Königin befällt.106 So begleiten den Ritter auch im weiteren Fortgang seiner Entwicklung Zorn und Wahnsinn. Das prophezeit auch der Erzähler am Ende der Beschreibung von Lancelots Zorn (vgl. LuG I, 104). 107 Dieser Charakterzug steht quer zu dem sonst so idealen Bild des Helden. Auch äußerlich besitzt Lancelot einen Makel. Nachdem die Preisung seiner Schönheit erneut eingesetzt hat, wird überraschend auf Lancelots Brust hingewiesen. Sie passt nicht in das Erscheinungsbild des Helden: sin brust was groß und starck und breit und dick, das missestunt im allermeist an sim libe (LuG I, 104,32f.). Die Breite der Brust stört die wohlgeformten Proportionen. An dieser Stelle seiner Kindheitsgeschichte wird Lancelot das erste Mal in die Nähe der Königin Ginover, seiner späteren Geliebten, gerückt. Sie ist es nämlich, die Lancelots Schönheitsfehler liebevoll bewertet. Sie sieht die Größe seiner Brust nicht als Makel, sondern als Zeichen seiner Besonderheit an. Die Größe seiner Brust verweist ihrer Meinung nach auf ein ebenso großes Herz; wer ein so großes Herz wie Lancelot besitze, brauche einen ebenso großen Brustkorb, damit es sich darin entfalten und schlagen könne (vgl. LuG I, 106,1104 Keller, Hildegard Elisabeth: „Zorn gegen Gorio. Zeichenfunktion von zorn im althochdeutschen Georgslied.“ In: Jaeger/Kasten (2003), S. 115-142, hier S. 125. Ähn-lich intensiv wie bei Lancelot sind auch die Schilderungen von Zornesanfällen im Parzival, die sich beispielsweise beim Gralshelden Parzival sowie bei Orgeluse einstellen. Untypisch ist, dass in Orgeluses Fall eine Frau den Wutanfall bekommt, ist Zorn doch eher in Verbindung mit Kampfeswut, Rachegedanken und Heldenmut bei Rittern anzutreffen. 105 Vgl. Keller (2003), S. 125. Keller zeigt an dieser Stelle auch, dass das gesamte mit dem mittelhochdeutschen zorn zusammengehörige Wortfeld, wie „plötzlicher, leidenschaftlicher Unwille, Heftigkeit, Wut, Kampfeseifer“, gegen die Maßregelungen des Hofs und des geistlichen Lebens verstößt. (Keller (2003), S. 125, v.a. FN 47) 106 Die Verbindung von Zorn zu Wahnsinn zieht schon Seneca in seiner Abhandlung De Ira. Vgl. Keller (2003), S. 125, FN 45. Zu „Lancelots Wahnsinn“ vgl. beispielsweise das gleichnamige Kapitel in Klinger (2001), S. 240ff. 107 Vgl. zu der Aussage, dass der Zorn Lancelot begleitet: Als er darzu getriben wart das er zurnen must, so was er mit großer pin und mit arbeit wiedder guts mĤts zu machen (LuG I, 106,32-34).
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4).108 Ginover stellt sich in dieser Hinsicht mit Gott gleich, indem sie sich selbst in der Rolle des Schöpfers wähnt: wer ich gott […] so hett ich Lanceloten wedder mynner noch me gemacht dann er ist (LuG I, 106,4ff.). Hier wird eine Opposition zwischen der Königin und Gott aufgemacht, die auf den immerwährenden Konflikt im Inneren Lancelots hindeutet. Auf der einen Seite steht seine unverbrüchliche Liebe zu Ginover und auf der anderen sein Wunsch, ein christlicher Ritter zu sein, sein sündiges Verhalten abzulegen und das Abenteuer des Grals zu bestehen. Diese Extreme lassen sich jedoch nicht vereinen. Lancelot schwört zwar zeitweilig der sündigen Verbindung zu Ginover ab, der Einblick in das Gralsgeheimnis bleibt ihm jedoch versagt. Die große Brust ist ein heldenepisches Ideal.109 In Kombination mit der Schilderung von Lancelots Zorn110 und der Anspielung auf seine zukünftige Beziehung zu Ginover dient sie nicht nur der Huldigung Lancelots. Die unmittelbare Verbindung von Zorn, Liebe und physischer Proportion auf so engem Raum zeigt, dass die Kindheit auf die Zukunft des Helden vorausweist. Diese drei Merkmale sind Vorboten seines Scheiterns auf der Gralssuche: Lancelots Zorn verstößt gegen höfische Maßhaltung, seine breite Brust gegen das proportional perfekte Bild des Helden und die Intensität seiner ehebrecherischen Liebe zu Ginover gegen seine Verpflichtung gegenüber Artus. Lancelots Schönheit beeindruckt auch einen Ritter, der ihn beim Jagen trifft. Er begrüßt Lancelot als den Sohn Bans, was dieser bescheiden ablehnt (vgl. LuG I, 114). Als Zeichen seiner Verehrung überlässt der Ritter Lancelot zwei Windhunde (vgl. LuG I, 116). Diese sind der Auslöser für einen Zornesausbruch Lancelots, der ihn von seinem Lehrmeister entzweit. Sein Lehrer schlägt, um Lancelot zu maßregeln, erst den einen und dann den zweiten Windhund. Die Bestrafung weckt Lancelots Zorn: Zuerst schlägt er mit seinem Bogen so lange auf den Kopf des Lehrers ein, bis die Waffe zerbricht. Der Zerstörung des Bogens bringt ihn erneut so zur Raserei, dass er die verbliebenen Stücke auf dem Körper des Lehrers zertrümmert. Damit ist Lancelots Wut noch nicht verraucht, denn wann immer er vergeblich nach seinem Bogen greift, um ein Reh zu erlegen, wird er an seine Rage erinnert und schwört, den Lehrmeister büßen zu lassen (vgl. bes. LuG I, 118).111 108 „In Lancelots ‚großem Herzen‘ ist die Intensität des Minnerittertums eins mit der Physiognomie und in ihr vorweggenommen.“ Klinger (2001), S. 210. 109 Waltenberg, Michael: Das große Herz der Erzählung. Studien zur Narration und Interdiskursivität im ‚Prosa-Lancelot‘. Frankfurt et al. 1999, S. 48. 110 Waltenberg deutet den Zorn Lancelots als „heroische Wildheit“ (Waltenberg (1999), S. 46f.). 111 Die Wortwahl im Originaltext ahmt die Zorneswellen durch das wiederholte Verwenden von Vokabeln des Wortfelds zorn nach: da wart das kint sere zornig (LuG I, 118,13); da er synen bogen gebrochen sah, da wart im hart zorne (LuG I, 118,20f.); da
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Da in den mittelalterlichen Affektdarstellungen ein besonderer Akzent auf „den Zeichenwert von Emotionsdemonstrationen“112 gelegt und gleichsam erst im Lesen der Zeichen die Intensität mitkonstituiert wird, hallt die Gewalt selbst in den Phasen der Beruhigung nach. Auch als Lancelot seiner Ziehmutter berichtet, was geschehen ist, wallt der Zorn erneut auf: myn meister ist er nicht, des tufels meister muß er syn, das er mich darumb schlug das ich deth als ein gut kint recht sol thun (LuG I, 120,14-16). Die Frau vom See zieht aus Lancelots unbeherrschtem Verhalten keine Konsequenzen, ihr wird vielmehr im Laufe der Diskussion etwas anderes klar: Ihr liebes kint (LuG I, 120) hat ihrer Meinung nach klug argumentiert und die Situation aus seiner Sicht richtig eingeschätzt. Ninienne deutet Lancelots klug gewählte Argumente aus diesem Grund als Zeichen seines Erwachsenseins.113 Da Lancelot nun erwachsen ist, beginnt die dritte Phase seiner Erziehung. Bevor die Frau vom See den Achtzehnjährigen zum Artushof geleitet, damit er dort Ritter werde, übernimmt sie selbst die Aufgabe der Lehrerin, um ihm den letzten Schliff zu geben. Ninienne bringt ihrem Ziehsohn alles bei, was mit Ritterschaft und höfischem Umgang zu tun hat (vgl. LuG I, 124; 324ff.), gerade so, wie es sich für einen Königssohn gehört. Das Geheimnis seiner Abstammung wird von Lancelot in den folgenden Jahren, die er in der Obhut der Frau vom See verbringt, nicht aufgedeckt. Es ereignen sich zwar in gewissen Abständen Zwischenfälle, doch diese lassen ihn nicht stutzig werden. Zeitweise nimmt Ninienne beispielsweise noch zwei weitere Knaben, die Brüder Bohort und Lionel, auf. Bei diesen handelt es sich um Lancelots nefen (vgl. u.a.: LuG I, 174,22), was dieser nicht weiß. Dennoch nennt Lancelot Lionel seinen „Vetter“ (vgl. LuG I, 260,23), was ein Indiz für eine intuitive familiäre Erkenntnis ist. Auch Lionels und Bohorts Erzieher schöpfen den Verdacht, dass Lancelot Bans Kind sein muss (vgl. LuG I, 268,12f.). Die wichtigste Lehre gibt Ninienne Lancelot erst kurz vor seinem Aufbruch zum Artushof mit. Obwohl sie die Trennung sehr mitnimmt (vgl. LuG I, 326; 328), sieht sie ein, dass sie seinen Aufbruch nicht aufhalten kann. Das ist einer der entscheidende Unterschiede zu Herzeloyde, die mit List und Heimlichkeiten versucht, ihren Sohn von der Ritterschaft abzuhalten. Die Fee bringt Lancelot in langen Gesprächen ihre Ritterlehre nahe, in deren Zentrum eine christliche Ausrichtung der Ritterschaft steht: ritterschafft wart gemacht betalliclichen umb die heiligen kirchen zu beschutten und zu beschirmen (LuG I, 334,5f.). Da sich die Ritterlehre am Kon-
wart er tobende (LuG I, 118,35); alsus reyt Lancelot zornig zu dem lack (LuG I, 120,4); Lancelot ging hinweg so sere zornig (LuG I, 122,25). 112 Keller (2003), S. 127. 113 Die Auseinandersetzung mit der Frau vom See zeigen Lancelots „edle Veranlagung“ und „sittliche Reife“ (Russ (2001), S. 206). Vgl. dazu LuG I, 120,31f.
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zept der milita Christi114 orientiert, ist der christliche Glaube ihr Zentrum und Ursprung. Wie das Schwert als Zentrum der Ausrüstung eines Ritters ‚zweischneidig‘ ist, verteilen sich die Aufgaben desselben laut Ninienne auf zwei Bereiche: Neben Glauben und Kirche soll der Ritter auch die Gesellschaft vor bösem Einfluss schützen und verteidigen: mit der eynen syten muß er slagen gottes fynde und die an yne nicht glauben wollen, mit der andern syten sol er got rechen von den die von böser gesellschafft sint (LuG I, 336,19-23). Das geistlich geprägte Rittertum, das die Frau vom See Lancelot nahebringt, orientiert sich an Rittern, die in erster Linie Diener Gottes waren, wie beispielsweise David oder Joseph von Arimathäa. Diese nennt sie Lancelot vor seinem Aufbruch als Vorbilder (vgl. LuG I, 340). Das christliche hebt sich deutlich vom höfischen Konzept der Ritterschaft ab, in dem es ausschließlich um minne und êre geht.115 Wie sich zeigen wird, sind es die milites Christi, die zum Gral gelangen, wohingegen die höfischen Ritter scheitern. Die Ritterlehre ist an jene Stelle gesetzt, die für Lancelot in räumlicher und zeitlicher Hinsicht einen Übergang von einer Entwicklungsstufe zur nächsten, eine Initiation bedeutet. Zum einen markiert sie für Lancelot das Ende seiner Kindheit und den Beginn seiner neuen Identität als Mann und Ritter; zum anderen verlässt er das magische Reich der Fee und tritt in die höfische Artuswelt ein. Das Reich der Frau vom See ist ein „magisch-geschützter Raum, in dem sich Um- und Neuorientierung abseits realer Gefährdung vollziehen konnten“.116 Hier konnte sich Lancelot mit einem schappel von rosen (LuG I, 254,28 bzw. 254,32) im Haar frei entfalten und auch ungestüm und launisch sein.117 Weil das Reich der Frau vom See außerhalb des höfischen Bereichs liegt und seiner Abgeschiedenheit an Soltane erinnert, ist es kein Ort, „in dem sich ritterliche Ehre konstituieren kann: Lancelots Aufbruch wird schon von daher unumgänglich“.118 Der Artushof, an den Lancelot, weil es ihm vorbestimmt ist, schließlich gelangt, wird ihm Abenteuer und dadurch briß und ere (LuG I, 358,18) bringen. Dies wünscht auch seine Ziehmutter für ihn. Lancelots Einzug in den höfischen Bereich ist herrschaftlich: Ninienne und Lancelot, den sie in prächtigem Weiß hat rüsten lassen (vgl. LuG I, 344f.), reiten mit einem glanzvollen Gefolge gen Camelot. Die Frau vom See ist vom Wunsch beseelt, dass Lancelot nun, da er einerseits eine höfische Erziehung durchlaufen sowie die Lehren eines milites Christi erfahren hat und 114 Vgl. dem Konzept der christlichen Ritterschaft v.a. LuG I, 338,11 und Mertens (1998), S. 153f. 115 Mertens (1998), S. 154. 116 Klinger (2001), S. 74. 117 Lancelots Verbindung zum Feenreich wird in Zukunft noch, wie auch bei Gahmuret, für seine ungestümen (Liebes-)Gefühle wichtig. Vgl. hierzu auch Remakel, Michèle: Rittertum zwischen Minne und Gral. Frankfurt am Main et al. 1995, S. 27. 118 Klinger (2001), S. 74.
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andererseits mit perfektem Äußeren geadelt und im Besitz einer edlen Ausrüstung ist, der beste aller Ritter werde: also gewerlich muß gott geben das ir die gnad mußent gewinnen und die gabe, synenthalben alle die ritter zu uberhöhenne die nĤ leben, mit hoher ritterschafft und mit hubscheit und mit allerhand gut (LuG I, 344,1317). Die weiß gekleidete Gruppe begegnet Artus und seinem Gefolge nicht erst auf dessen Burg, sondern schon auf dem Weg dorthin. Ninienne tritt mit der Bitte an den König heran, dass er ihren Ziehsohn zum Ritter schlagen möge: so bitt ich uch, herre […] das ir mir dißen knappen ritter macht, wann ers uch bittet oder ichselber (LuG I, 354,34f.). Bis dahin steht erneut Lancelots rätselhafte Herkunft im Vordergrund. Sowohl der König als auch seine Ritter wollen den Namen des schönen und stattlichen ‚Knappen’, wie er nun von allen genannt wird, erfahren. Der Name bedeutet sowohl Identität als auch Einbindung in einen familiären Kontext, wie im Falle Parzivals. Solange Parzival nicht genau weiß, wie er heißt, wer sein Vater war und wie seine mütterliche Verbindung zur Gralsfamilie geartet ist, kann er sich nicht erfolgreich der Gralserlösung stellen. Für Lancelot bedeutet die Namenlosigkeit ebenso wie für Parzival, dass seine adlige Identität nicht bewiesen ist. Dennoch scheint Schönheit als Beweis ihres Adels zu genügen: „Schönheit gilt als zuverlässiges Zeichen, das allerdings im Status der Potentialität wahrgenommen wird: Der Adel des schönen Fremden wird sich in Form von ritterlicher Tüchtigkeit erst noch zu realisieren haben, und eben darauf vertraut die Artusgesellschaft.“119 Dass er königlicher Herkunft sei, versichert die Frau vom See erst dem König und beim Abschied Lancelot selbst. Sie erklärt ihrem Ziehsohn zudem, dass die von ihm geliebten Freunde Lionel und Bohort tatsächlich mit ihm blutsverwandt seien und er sicher bald erfahren werde, wer seine Eltern gewesen seien (vgl. LuG I, 358). Auch die Königin Ginover, die viel von dem namenlosen Knappen gehört hat, versucht, seine Herkunft zu ergründen (vgl. LuG I, 364). Wie bei Herzeloyde und Gahmuret hört auch sie von der Schönheit und dem Adel des jungen Mannes, bevor sie ihn das erste Mal sieht. Das Interesse der Königin an Lancelot ist somit schon geweckt und bei der ersten Begegnung der beiden wird daraus gegenseitige Anziehung. Zuerst blicken sich die Königin und der junge Mann nur an, aber bereits bei diesem ersten gegenseitigen Betrachten und Bewerten erkennen sie die Schönheit des Gegenübers und somit die Ebenbürtigkeit des anderen:120
119 Klinger (2001), S. 76. 120 Vgl. dazu das Motiv der Fernliebe in: Wenzel, Horst: „Fernliebe und Hohe Minne. Zur räumlichen und zur sozialen Distanz in der Minnethematik.“ In: Krohn, Rüdiger (Hg.): Liebe als Literatur. Aufsätze zur erotischen Dichtung im Mittelalter. München 1983, S. 187-208; Schnell, Rüdiger: Causa amoris: Liebeskonzeption und Liebesdarstellung in der mittelalterlichen Literatur. Bern 1985, S. 275ff. Zur Entstehung der Liebe in einer
106 | DIE MITTELALTERLICHEN GRALSROMANE Die kóniginn besah yn und sprach das yn gott zu eim byderben manne machen múst, er hett im der schonheit gnug gegeben. Sie besah yn sere und lang. Er sah wiedder off sie, wa das nymant geprúfen mocht, und wundert yn sere wie die frauw so schön mocht gesyn. […] Des was sie frau uber all frauwen die off erden lebten. (LuG I, 366)
Ihre Schönheit hebt Lancelot und Ginover von allen anderen Anwesenden ab, so werden sie miteinander verbunden und zugleich von den anderen abgegrenzt.121 Lancelot und Ginover bilden vom ersten Augenblick an eine Einheit. Das erste Aufeinandertreffen der beiden erweist sich als programmatisch für das zukünftige Liebesverhältnis. Die späteren Begegnungen verlaufen ähnlich: Der Gleichklang ihrer Gefühle und ihre Heimlichkeit – die Königin zieht sich beispielsweise zurück, damit niemand ihre Gefühlsaufwallung bemerkt – prägt auch in Zukunft das Verhältnis der beiden entscheidend. Als die Königin Lancelot anspricht, um von ihm seinen Namen und seine Herkunft zu erfragen, ist dieser aufgrund der Schönheit Ginovers und seiner aufkommenden Zuneigung zu ihr in tiefes gedencken (LuG I, 366) versunken. Schon bei dieser ersten Begegnung, verfällt er in eine Art Tranceoder Traumzustand wie in Zukunft noch viele weitere Male. 122 Die Königin hegt die Hoffnung, dass Lancelots Zustand von ihrem Anblick herrührt, verbietet sich diesen Gedanken jedoch sofort wieder. Ihre Hoffnung trügt sie aber nicht, denn der Zustand der Versunkenheit ist „Signum der Minne Lancelots“.123 Diese wird, auch schon vor ihrem Vollzug, in unterschiedlich heftigen Zuständen und bei verschiedenen Gelegenheiten wiederholt inszeniert.124 Lancelot verfällt in Trauer, versinkt
ähnlichen Schlüsselszene, vgl. auch: Sieber, Andrea: Medeas Rache. Liebesverrat und Geschlechterkonflikte in Romanen des Mittelalters. Köln u.a. 2008, S. 19ff. 121 Auch Klinger betont die Ebenbürtigkeit von Lancelot und Ginover, die vom ersten Moment ihrer Begegnung an deutlich wird. Vgl. Klinger (2001), S. 81f. 122 Kennedy nennt diesen Zustand treffend „lover’s trance“ (Kennedy (1999), S. 84). 123 Hirschberg, Dagmar: „Die Ohnmacht des Helden. Zur Konzeption des Protagonisten im ‚Prosa-Lancelot‘.“ In: Wolfram-Studien 9 (1986), S. 242-266, hier S. 246. Diese Versunkenheit wird in verschiedenen Arbeiten der mediävistischen Forschung immer wieder mit Konzepten der Melancholie und der Liebeskrankheit in Verbindung gebracht. Vgl. dazu Waltenberg (1999): „Hitze und Melancholie“, S. 59-64; Klinger (2001): „Das disziplinierte Begehren: veradelung durch Krankheit“, S. 242-251; Sieber, Andrea: „Lancelot und Galahot – Melancholische Helden?“ In: Baisch, Martin et al.: Aventiuren des Geschlechts. Modelle von Männlichkeit in der Literatur des 13. Jahrhunderts. Göttingen (2003), S. 209-232. 124 Die Liebeskrankheit Lancelots wird bis ins Groteske gesteigert: Zum Beispiel gerät er bei Ginovers Anblick von Sinnen und beleidigt sie (vgl. LuG I, 484) oder er ertrinkt beinahe, weil er vom Antlitz der Königin in den Bann gezogen wurde (vgl. LuG I, 618)
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in Gedanken und verfällt dem Wahnsinn, wenn er auf Ginover trifft, sich an sie erinnert oder sich nach ihr sehnt. Wie die Zorneszustände, die Lancelot in regelmäßigen Abständen überfallen, ist auch die Gedankenverlorenheit ein Zustand der Desorientierung, der Identitätslosigkeit, des Sich-Verlierens und somit ein Vorbote seines Wahnsinns.125 Am St. Johannistag126 wird Lancelots Ritterweihe gefeiert. Er empfängt zwar vom König den halßslag (LuG I, 370,32), aber aufgrund aufregender Vorkommnisse wird versäumt, ihm das Schwert umzugürten. Den Aufruhr löst der frischgebackene Ritter Lancelot selbst aus. Er ist ein Abenteuer eingegangen, das alle anderen Artusritter zuvor als unmöglich abgelehnt hatten (vgl. LuG I, 372). Er zieht aus dem siechenden Leib eines verletzten Ritters Schwert- und Lanzensplitter, die dessen Krankheit verursacht haben (vgl. LuG 372,10-12). Mit dem erfolgreichen Bestehen der Aufgabe, die selbst zwanzig Artusritter (vgl. LuG I, 370,5f.) nicht bewältigen konnten, beweist Lancelot das erste Mal seine Eignung als Ritter und Held: Seine Heilkraft ist ein Zeichen seiner Erwähltheit. Dies bringt ihm jedoch zunächst nicht den erhofften Ruhm, denn sein Mentor Iwein, Artus und sogar die Königin sind über Lancelots überstürztes Verhalten verärgert. Ginover befürchtet sogar, er habe es aus Liebe zu ihr und zugleich zur Vermehrung seines Ruhmes getan (vgl. LuG I, 374,30-32). Dass Lancelot schon seit dem ersten Anblick in die Königin verliebt ist und aus Liebe zu ihr handelt, trifft zu; der Drang nach Ehrgewinn ist nicht der entscheidende Grund. Wie sehr sich Lancelot und Ginover zueinander hingezogen fühlen, zeigt sich, bevor der Ritter vom Artushof auszieht, um für die Frau von Noaus zu kämpfen. Er verabschiedet sich von Ginover und entschuldigt sich zugleich, dass er nur Artus und nicht auch sie selbst um Erlaubnis für seinen Aufbruch gebeten habe. Ginover oder er lässt sich vom Narr Dagenot widerstandslos abführen, weil er vom Antlitz der Königin hypnotisiert ist (vgl. LuG I, 6206ff.). Vgl. dazu auch Sieber (2003), S. 214f. 125 Vgl. zur Identitätslosigkeit, Liebeskrankheit und Namenslosigkeit vgl. Klinger (2001). Im Weiteren wird diese Liebes- und Gedankenversunkenheit in Raserei und Wahnsinn enden: „Lancelots Wahnsinn, seine Zustände von Verwirrung und Krankheit erscheinen vielmehr als alleiniger Ausdruck einer labilen Identität des Liebenden [...].“ (Klinger (2001), S. 240). Vgl dazu auch Sieber (2003), S. 215. 126 Die Frau vom See setzt dieses Datum fest, da Lancelot in der Tradition der Gottesritter stehen soll: ich wil das ir an Sant Johans tag ritter werden (LuG I, 344,9f.). Außerdem wird dadurch seine Vorläuferfunktion gegenüber seinem Sohn Galaad betont, der an Pfingsten zum Ritter geschlagen wird. Dies legt den ikonographischen Vergleich der beiden mit Johannes dem Täufer als Vorläufer für Jesus nahe. Vgl. dazu Russ (2001), S. 210; Steinhoff, Hans-Hugo: „Artusritter und Gralsheld: Zur Bewertung des höfischen Rittertums im Prosa-Lancelot.“ In: Scholler, Harald (Hg.): The Epic in Medieval Society. Aesthetic and Moral Values. Tübingen, 1977, S. 271-289, hier S. 281.
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spricht ihn im Verlauf des Gesprächs mit lieber frunt (LuG I, 382,21) an. Lancelot deutet die Anrede als Zeichen ihrer Zuneigung. 127 Als Ginover Lancelot, der vor seiner Königin kniet, auf die Beine hilft, bestätigt sein Körper die Zuneigung zu ihr: im wart ser wol zĤ mĤt da er ir bloßen hant an der synen enzĤb (LuG I, 382,30-32). Dieser Moment der Berührung seiner zukünftigen Geliebten ist der Auslöser für Lancelots Entscheidung, das Schwert nicht vom König, sondern von Ginover empfangen zu wollen (vgl. LuG I, 384,13-15). Dies bestätigt Lancelot später, als er der Königin ausrichten lässt: und sagent ir [Ginover] das sie mir ein schwert sende und mach mich ritter, uff das ich úmmer ir ritter wil wesen als lang als ich lebe (LuG I, 402,6-8).128 Er ist nun, da er sich auf den Weg zu seinen ersten Abenteuern macht, ihr Minneritter, seine Taten gelten ausschließlich ihr (vgl. LuG I, 792/794). Noch immer namens- und identitätslos verlässt Lancelot den Artushof. Es zeigt sich, dass der Abenteuerweg des ‚Weißen Ritters‘, wie Lancelot bezeichnet wird, einen tieferen Sinn hat. Die ersten Abenteuer, die Lancelot besteht, gelten der Profilierung seiner Identität. Er erfährt seinen Namen und bewährt sich als bester Ritter der Welt. Lancelots herausragende Tat ist die Befreiung der Burg Dolorose Garde, was vor ihm noch niemandem gelungen ist. Zugleich beweist er in zahlreichen Zweikämpfen seinen Kampfesmut. Als Lancelot schließlich an einen Friedhof gelangt, wird er mit der Aufgabe konfrontiert, einen schweren Sargdeckel zu heben, und es wird deutlich, dass alle Abenteuer und Kämpfe auf seinem Weg ihn zur Ergründung seiner eigentlichen Identität führen. Zum einen zeigt sich, dass nur derjenige, der die Dolorose Garde befreit hat, die Grabplatte anzuheben vermag, zum anderen ist der Name desjenigen, der die Friedhofs-Aventiure besteht, unter dem Stein verzeichnet (vgl. LuG I, 452,23-26). Viele haben sich schon vor ihm an dieser Aufgabe versucht, doch erfolgreich ist nur Lancelot. Außerdem ist das Grab, wie die Inschrift unter dem gehobenen Deckel verkündet, sein eigenes: in dißem grab sol Lancelot ligen von dem Lacke, des kóniges Banes son von Bonewig und Alenen synes wibes (LuG I, 454,4f.). Die Inschrift macht Lancelots Namen, seine Eltern und seines Stand als Königssohn bekannt. Mit dem verbrieften Wissen seiner Herkunft wird seiner Schönheit und seinem Adel eine reale Basis gegeben. Lancelot hat sich, indem er die Friedhofs-Aventiure bestanden hat, in vielfacher Hinsicht ‚einen Namen gemacht‘.129 Er verlässt die Dolorose Garde nicht nur in Kenntnis seiner 127 Wenn Lancelot Ginover später seine Liebe gesteht und bekräftigt, dass er alle seine Erfolge nur für und durch sie vollbringen konnte, nennt er diese Ansprache als Auslöser. Er deutet in dem Gespräch vor ihrem ersten Kuss von frunt in amis um und setzt den Schwerpunkt somit auf die Liebesgefühle. Vgl. LuG I, 794. 128 Vgl. dazu auch die Bestätigung im Gespräch zwischen Lancelot und Ginover vor ihrem ersten Kuss (vgl. LuG I, 786,30ff.). 129 „The making of the name“ ist das Thema seiner ersten Abenteuer, so Kennedy (1999), S. 83.
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Abstammung, sondern auch mit dem Wissen, der best ritter von der welt (z.B. LuG I, 592,9f.) zu sein. Auch der Artushof erfährt, dass die unlösbar scheinende Befreiung der Dolorose Garde geglückt ist (vgl. LuG, 456, 18f.).130 In Lancelots Kindheit wurden alle Grundlagen für die Rolle des besten Artusritters gelegt. Er weist neben seiner hohen Abstammung schon früh ritterliche Eigenschaften wie Stärke, Klugheit und Mut auf. Außerdem durchläuft er eine höfische sowie eine christliche Erziehung und exponiert sich durch die Bewältigung scheinbar unerfüllbarer Aufgaben. Dies alles sind Indizien für seine außergewöhnliche Position, die auch sein Sohn Galaad, der zukünftige Gralserlöser (vgl. schon LuG I, 86,11f.), einnehmen wird.131 Bei näherem Hinsehen erweisen sich sowohl Lancelots Kindheit als auch seine Erziehung und seine ersten Rittertaten als prekär. Seine Exponiertheit könnte man auch als Außenseiterrolle verstehen, denn sie trägt nicht durchgehend positive Züge. Er wird schon als Kind in eine magische Welt entführt, die an ihm Spuren hinterlässt. Somit ist Lancelots Kindheit nicht ausschließlich ein „Modellfall höfischer Perfektion“, wie Judith Klinger in ihrem Buch Der missratene Ritter schreibt.132 Zwar wird durchaus ein „höfisches Ideal“ inszeniert, wie Klinger feststellt, und es steht der Prozesscharakter seiner Ritterschaft im Vordergrund.133 Die Destabilität seiner Kindheit134 bleibt allerdings auch präsent, nachdem in den arthurischen Bereich gelangt ist. Aus den kindlichen Zornesgefühlen und der Gedankenverlorenheit aufgrund seiner Liebe zu Ginover erwachsen Wahnsinnsanfälle, die entweder in tagelange Ohnmachten oder in eine Krankheit münden, die nur die Magie seiner Ziehmutter oder der Gral zu heilen vermögen: „Im Prosa-Lancelot ist die Pathologie aufs engste mit der Liebeskonzeption verknüpft: extreme Affektgebärden, vorübergehende Symptome schwächender Sehnsucht und die drei 130 Zuerst wird Nachricht der Erlösung der Burg am Artushof ungläubig aufgenommen (vgl. LuG, 456; 458; 460), da keiner bisher dieser Aufgabe gewachsen war. Später wird davon ausgegeangen, dass der ‚weiße Ritter‘ (vgl. LuG I, 456,24f.) das Wunder vollbracht hat, der wiederum Lancelot ist. 131 Vgl. zu den außergewöhnlichen Ereignissen, die Vater wie Sohn ‚zustoßen‘: Pörksen, Gunhild u. Uwe: „Die Geburt des Helden in mittelhochdeutschen Epen und epischen Stoffen des Mittelalters.“ In: Euphorion 74 (1980), S. 257-286; in Bezug auf den Aufsatz von Gunhild und Uwe Pörksen auch: Andersen, Elizabeth: „Das Heilige des Artus-, Minne- und Gralshelden im Prosa-Lancelot.“ In: Ridder, Klaus/Huber, Christoph (Hg.): Lancelot. Der mittelhochdeutsche Roman im europäischen Kontext. Tübingen 2007, S. 193-209, hier 193f. Ebenso: Haug, Walter: „Das erotische und das religiöse Konzept des Prosa-Lancelot.“ In: Ridder/Huber 2007, S. 249-263, hier 252f. 132 Klinger (2001), S. 74. 133 Vgl. Klinger (2001), S. 74. 134 Vgl. Klinger (2001), S. 74.
110 | DIE MITTELALTERLICHEN GRALSROMANE schweren Anfälle von Wahnsinn gehen sämtlich aus dem Kontext der [Ginover]minne hervor.“135
Nicht nur in Bezug auf seine Affekte bleibt Lancelot ein „Grenzgänger“.136 Auch seine Position zwischen höfischer Ritterschaft, wie sie der Artushof und sein Minnerittertum für Ginover bereithalten, und christlichem Gottesstreitertum, das ihn seine Ziehmutter gelehrt hat, trägt dazu bei. So sehr er sich auch bemüht, den Lehren Niniennes oder den Ratschlägen der Einsiedler für ein christliches Rittertum mit Reue und Buße zu folgen, und sogar Erfolge verzeichnen kann, ist dieses Vorhaben aufgrund der Entscheidung für Ginover von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Er kann „den weltlich-gesellschaftlichen Ansprüchen der Ritterschaft gerecht werden, den geistlich-christlichen jedoch nicht vollauf genügen“.137 Die sündige und ehebrecherische Liebe zu Ginover beginnt mit ihrer ersten Begegnung und mit der Entscheidung Lancelots, nur ihr Ritter sein zu wollen. So führt der Prosa-Lancelot seinen Helden auch bezüglich seiner Liebe und seines Begehrens immer wieder an Schwellen. Dies betrifft zum einen die Art seiner Liebe. Seine tiefe Zuneigung zur Königin hat irritierende Tendenzen, die von seiner Kindheit im Feenreich herrühren138 und nicht zu der maßvollen Zuneigung eines höfischen Ritters passen. Zum anderen spielen auch in diesem Gralsroman die Begehrensstrukturen eine wichtige Rolle für das erfolgreiche Bestehen oder das Scheitern im Gralsabenteuer. So eröffnet das Verhältnis zwischen Lancelot und der Königin eine Dreiecksbeziehung mit König Artus, in der trianguläre Begehrensdynamiken verhandelt werden. Im Folgenden soll aber nicht dieses Begehrensdreieck im Mittelpunkt des Interesses stehen, sondern ein anderes, das mir brisanter erscheint: die Freundschaft zwischen Galahot und Lancelot, die nach ihrem Tod das Grab teilen, einerseits und die Liebe zwischen dem besten Ritter und der Königin andererseits. Das Schicksal dieser drei Figuren ist eng miteinander verbunden, denn Galahot und Ginover sind ständige Rivalen um die Gunst Lancelots.139
135 Klinger (2001), S. 241. Vgl. zu der Auffassung, dass Liebeskrankheit und Zorn die Vorboten des Wahnsinns seien und die tobesuht seine Endstation: Sieber (2003), S. 215 und Grubmüller, Klaus: Historische Semantik und Diskursgeschichte. zorn, nît und haz. In: Kasten/Jaeger (2003), S. 47-69. 136 Waltenberg (1999), S. 112. 137 Russ (2001), S. 209. 138 Remakel (1995), S. 27. 139 Zum Dreiecksverhältnis vgl. auch Reil, Cornelia: Liebe und Herrschaft. Studien zum altfranzösischen und mittelhochdeutschen Prosa-Lancelot. Tübingen 1996, hier S. 175.
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1.2.2 Lancelots hitziges Fleisch Nachdem Lancelot das Abenteuer der Dolorose Garde und weitere Herausforderungen bestanden hat, kehrt er an den Artushof zurück. Er erscheint dort als Fremder, und erst Gawan klärt auf, dass es sich um Lancelot von dem Lack (LuG I, 630, 13) handelt. Die Freude über die Rückkehr des besten Ritters währt nicht lange. Das Artusreich wird bald von Galahot, einem wagemutigen Ritter und erfolgreichen Kämpfer (vgl. LuG I, 612,8), bedroht. Galahot fordert, dass der König ihm sein Land und seine Macht überlässt. Diese Forderung scheint angesichts der Größe und Stärke des Artusreichs vermessen, doch wie schon frühere Bedrohungen gezeigt haben, ist dieses äußerst fragil. Von Beginn an wird Galahot, Sohn einer Riesin, durch seine Abstammung, als andersartig definiert, obwohl sein Auftreten ansonsten überaus höfisch und ehrenhaft ist. Bei fast jeder Namensnennung folgt ein Hinweis auf seine Abstammung als der schönen Risinen sun (LuG I, 678,12) oder als der schönen Joianden sĤne (LuG I, 612,9). Die Exotik, die er ausstrahlt, ist immer mit der Betonung der Schönheit seiner Mutter gekoppelt, die sich, wie auch im Falle Herzeloydes und Parzivals, auf den Sohn überträgt. 140 Die Schlacht des Artusheers gegen Galahots Ritter bleibt unentschieden, schließlich begibt sich Galahot selbst auf den Kampfplatz und Lancelot tritt für die Artusseite an. Der Artusritter ist zu diesem Zeitpunkt noch der Gefangene der Dame von Maloaut, die ihn unter Versicherung seiner Rückkehr für Artus in den Kampf ziehen lässt. Sie stattet Lancelot mit rotem Ross, Schild und Waffenrock aus, und er erhält eine weitere Identität als ‚Roter Ritter‘ (vgl. LuG I, 648,34ff.). Obwohl der Rote Ritter aus allen Kämpfern des Königs hervorsticht, ist das Heer Galahots noch immer übermächtig. Der Angreifer beweist erneut seinen höfischen Charakter, indem er Artus das Angebot macht, die Kämpfe für ein Jahr auszusetzen. Galahot knüpft sein Zugeständnis an eine Bedingung: Er ersucht um die Gesellschaft des Roten Ritters, der im Kampf zuvor Eindruck auf ihn machte, um diesen auf seine Seite zu ziehen: er [Galahot] hatt sich vermeßen das er den gĤten ritter wil haben in syner geselschafft der den priß nĤ het in dem urlag mit den roten wapen (LuG, 678,22-24). Obwohl der Rote Ritter ebenso plötzlich aus der Artusgesellschaft verschwindet, wie er gekommen ist, legt diese erste Begegnung Lancelots und Galahots den Grundstein ihrer Beziehung.141 Interessant ist die Parallele zum ersten Aufeinandertreffen Ginovers und ihres späteren Geliebten: Auch das Interesse Galahots an Lancelot alias dem Roten Ritter wird durch die Nachricht von des-
140 Vgl. zum „perfekt höfische(n) Galahot“: Meyer, Matthias: „Causa amoris. Lancelot und Galahot.“ In: Gärtner, Kurt et al. (Hg.): Spannungen und Konflikte menschlichen Zusammenlebens in der deutschen Literatur des Mittelalters. Bristoler Colloquium 1993. Tübingen 1996, S. 204-214, hier S. 205. 141 Vgl. Meyer (1996), S. 205.
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sen Erscheinung und Kraft hervorgerufen und bestätigt, wenn sich die beiden das erste Mal sehen. Bei der nächsten Schlacht zwischen Galahot und Artus kämpft Lancelot wiederum erfolgreich auf der Seite seines Königs und erregt erneut Aufsehen, da er unermüdlich allein und siegreich gegen Galahots Heer antritt (vgl. LuG I, 734).142 Galahot kommen die wundersamen Taten des Artusritters zu Ohren und er ist zutiefst von Lancelot beeindruckt, als er diesem das erste Mal Auge in Auge gegenübersteht. Bei Galahot ist es ‚Liebe auf den ersten Blick‘.143 Dies hat zur Folge, dass er es nicht mit seinem Gewissen vereinbaren kann, dass dieser außerordentliche Ritter zu Schaden kommt (vgl. LuG I, 736,28-32), und um seine Gesellschaft bittet. Galahot ist bereit, dafür jeden Preis zu bezahlen: darumb bitt ich uch das irs thúnt und herbergent mit mir, uff solche rede das ich thú wes ir mir bittent (LuG I, 742,29-31; vgl. auch 744,6ff.). Schon hier zeigt sich die „Faszination, [die] der beste aller Ritter auf den höfischsten aller Herrscher ausübt“.144 Galahot gibt Lancelot das „Blankoversprechen“,145 dass er ihm jeden Wunsch erfüllen werde. Lancelots Wunsch ist es, Galahot möge sich, auch wenn er Artus und dessen Herr schon beinahe bezwungen habe, schließlich doch unterwerfen (vgl. LuG I, 752,3-6). Galahot erfüllt Lancelots Bitte und nimmt um dessen willen Schande und Schmach auf sich: Der gut ritter [Lancelot] sah Galahoten zu dem konig farn, da er sin schand und synen schaden so sere wolt thun durch synen willen und sich so sere demutigen durch synen willen. Er gedacht in synem herczen das er nye keinen so guten frunt gewúnne noch so guten gesellen (LuG I, 756,16-21).
Lancelot hegt im Gegenzug tiefe Freundschaft und Verbundenheit mit Galahot angesichts der Opfer, die dieser ihm zuliebe bringt. Galahots Gefühle für den Artusritter wiederum sind ausgesprochen intensiv angesichts seiner Verluste – opfert er für den Freund doch die angestrebte und schon beinahe gewonnene Weltherrschaft, die der Sieg über Artus bedeutet hätte. Lancelot wird von seiner Liebe zu Ginover derart in den Bann gezogen, dass er deswegen teilweise handlungsunfähig wird. Galahot widerfährt Ähnliches: Er gibt seinen sicheren Sieg auf, ihn interessiert fortan nur noch Lancelots Gesellschaft (vgl. LuG II, 22,3ff.).146 Dessen Nähe ist ihm wich142 An dieser Schlacht nimmt Lancelot statt in roter in schwarzer Rüstung teil. Gawan erkennt ihn jedoch und teilt der Königin mit, vgl. LuG I, 716,13-19. 143 „Love at first sight.“ Vgl. Hyatte, Reginald: „Recording Ideal Male Friendship as fine amour in the Prose Lancelot.“ In: Neophilologus 75 (1991), S. 505-518, hier S. 508. 144 Meyer (1996), S. 205. 145 Meyer (1996), S. 205. 146 Selbst als Galahots Burg einstürzt, gibt es nur Lancelots Gesellschaft als höchstes Ziel für ihn (vgl. LuG II, 22,20ff.). Außerdem stirbt der Sohn der Riesin in traditioneller
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tiger als alle Ehre der Welt. So bestätigt Galahot Lancelot: ich han uch lieber dann alle die ere die mir off ertrich geschehen mag (LuG I, 762,4f.). Von Anbeginn möchte er nicht nur das geistige Band zu Lancelot vertiefen, sondern er sucht auch dessen körperliche Nähe. In der ersten Nacht, die Lancelot in Galahots Lager verbringt, gaukelt ihm der Sohn der Riesin vor, er werde in einem anderen Raum nächtigen (vgl. LuG I, 748,36f.). Stattdessen schleicht sich Galahot heimlich zu seinem Freund, um dessen Präsenz zu genießen: da Galahot sah das er entschlafen was, da leyt er sich by yn off das nehst bette zu im wert so er nehelichst mocht […] er lag und gedacht wie ern by im behielt (LuG I, 750,10ff.). Wie Galahot seinem Freund Lancelot nahe sein möchte, so dieser seiner Königin. Galahot bemerkt, dass Lancelot immer wieder traurig wird, wehklagt und in tranceartige Zustände verfällt (vgl. LuG I, 762,16ff.; 764,20ff.; 766,6ff.). Er beschließt, seinem Freund zu helfen. Galahot macht sich auf den Weg in das Lager von König Artus um auszukundschaften, ob die Zuneigung, die Lancelot für die Königin empfindet, auf Gegenseitigkeit beruht. Er prüft die Anwesenden, indem er sie fragt, was sie geben würden, um den Schwarzen Ritter, Lancelot, auf ewig als Gefährten bei sich zu haben (vgl. LuG I, 770,13ff.). Der König, Gawan und die Königin antworten je unterschiedlich, doch es zeigt sich, dass sich ihr Begehren auf Lancelot richtet.147 Der König bezieht die Frage auf seinen materiellen Besitz und erklärt sich bereit, die Hälfte seines Habes für die lebenslange Gesellschaft Lancelots zu geben, ausgenommen jedoch die Königin, die er nicht teilen möchte. Gawan setzt seine Geschlechtsidentität ein: Er will statt eines Ritters eine Jungfrau sein, in die sich Lancelot unsterblich verliebt: ich wolt das ich ein die schönst jungfrau were die ie geborn wart, off das das er mich must minnen als lang als wir beide lebten, ob allen frauwen und ob allen jungfrauwen (LuG I, 770,24-27). Während sich Gawan hier „als Jungfrau imaginiert, wird deutlich, dass höfische minne in ihrer gesteigerten Form bereits an das Modell der Mann/Frau-Beziehung gekoppelt ist“.148 Bemerkenswert ist, dass ein so vorbildlicher Ritter wie Gawan um der Liebe Lancelots willen eine schöne Frau sein möchte. Diese Verse zeigen (wie viele andere im Prosa-Lancelot), dass Geschlechterzugehörigkeit ins Wanken gerät, wenn Begehren ins Spiel kommt.149 Dies gilt besonders im Fall Lancelots. Es scheint, als könnten sämtliche Figuren des Gralsromans nicht anders, als diesen Weise seinem geliebten Freund Lancelot nach, da er diesen fälschlicherweise für tot hält (vgl. LuG II, 308,25ff.). 147 Vgl. Klinger (2001), S. 141. 148 Klinger (2001), S. 141. 149 Für E. Jane Burns zeigt diese Stelle ‚ungekennzeichneten Transvestismus‘ („unmarked transvestism“). Vgl. Burns, E. Jane: „Refashioning Courtly Love: Lancelot as Ladies’ Man or Lady/Man?“ In: Lochrie, Karma et al. (1997), S. 111-134, hier S. 119; Ebenso: Burns (1996).
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schönen, in vollkommener Weise höfischen Ritter und Mann zu lieben und zu begehren. Dass der beste Ritter der Tafelrunde Objekt auch des männlichen Begehrens sein kann, zeigt eine weitere Episode. Auf einer seiner Abenteuerreisen übernachtet Lancelot in einem verlassenen Zelt. Kaum ist er eingeschlafen, kommt ein Ritter und legt sich zu ihm ins Bett: Aber es ward nit lang das der ritter des die gezelt waren kam und die kerczen verloschen sah. Da meynt er, syn hußfrauw wer komen und hett sich ußgetan. Er was bloß, ongewapent und dete sich resch uß und leyt sich by Lancelot und nam yn inn die arm und begund yn zu helsen, wann er meynt, es were syn hußfrauw (PL III, 506,31-508,2).150
Lancelot springt mit Entsetzen auf, als er den Kuss des anderen Menschen spürt. Nicht die Tatsache, dass es ein Mann ist, der in seinem Bett liegt, stört den Ritter, denn eingedenk seiner Treue zur Königin wäre es viel schlimmer, wenn es sich um eine Frau handelte. Die Reaktion des fremden Ritters ist bezeichnend. Statt die Gegenwehr zu respektieren, reißt er die vermeintliche Bettpartnerin noch näher an sich. Als Lancelot zu Boden fällt, wirft er sich auf ihn (vgl. PL III, 508,5f.). Nun entdeckt auch der fremde, nackte Ritter den Irrtum und reagiert aggressiv auf das Missverständnis: sicher bößwicht, zu böser stund sint ir herinn komen mich zu erschemen und uch herinn zu legen (PL III, 508,7-9). In Folge des Übertritts entbrennt ein blutiger Kampf, im Zuge dessen der fremde Ritter zunächst Lancelot blutig schlägt, woraufhin dieser das Schwert zieht und den Angreifer vertreibt: er [der nackte Ritter] schlĤg yn inn syn antlitz das das blĤt daruß sprang und so das im syn antlitz gancz blutig was. Als Lancelot das geware ward, griff er den ritter by dem hare und schwang yn undersich widder den still des gezelts, so das er ein groß wĤnd enpfing, und lieff da mit zu sym schwert und bracht es bloß in syner hant. Das liecht schein wol so hell das sie wol umb sich gesehen mochten. Als der ritter Lancelot mit gerecktem schwert komen sah, wandt er sich so nacket und floch zum wald (PL III, 508,9-17).
Die Szene macht zweierlei deutlich: Zum einen ist Lancelots Geschlechtsidentität nicht eindeutig, hält ihn der Ritter doch für seine Geliebte und nähert sich ihm körperlich. Zum anderen sticht die Vielzahl phallischer Symbole hervor, die mit Gewalt oder Blutvergießen verbunden sind. So verletzt Lancelot den fremden Ritter 150 Der dritte Teil des Prosa-Lancelot („PL III“) wird zitiert nach: Lancelot und der Gral I. Prosalancelot III. Nach der Heidelberger Handschrift Cod. Pal. germ 147. Herausgegeben von Reinhold Kluge. Ergänzt durch die Handschrift MS. allem. 8017-8020 der Bibliothèque de l’Arsenal Paris. Übersetzt, kommentiert und herausgegeben von HansHugo Steinhoff. Frankfurt am Main 2003.
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mit der Zeltstange und dieser flieht nackt vor seinem blank gezogenen Schwert. Hält man sich vor Augen, dass zumindest einer der beiden Kämpfer nackt ist, und bedenkt man zudem den in höfischen Romanen häufig anzutreffenden Vergleich von Kampfes- und (hetero- wie homosozialen) Liebesakten, so zeigt sich, dass Lancelot in eine homoerotische Situation geraten ist. Erschwerend kommt in dieser Episode hinzu, dass Lancelot sich durch den Einsatz einer Stange erwehrt und sich durch das Ziehen seines blanken Schwerts errettet.151 Lancelot erweist sich als Objekt des Begehrens von Männern und Frauen und ist hinsichtlich seines Geschlechts unbestimmt genug, um im Dunkeln mit einer Frau verwechselt zu werden. Am Ende gibt es nur eine Lösung: Lancelot löscht den angedeuteten sexuellen Akt aus, indem er den fremden Ritter brutal tötet. Doch ist Lancelot nicht nur das Ziel des Begehrens fremder Ritter, auch sein Freund Gawan will sich in ein Mädchen verwandeln, um ihm nahe zu sein. Gesteigert wird dieser Wunsch durch die Gegenseitigkeit: Das begehrende Objekt will Ziel des Begehrens sein. Ginover schließt sich Gawans Urteil an: Er habe schon die beste Antwort für jede Frau gegeben (vgl. LuG I, 770,31ff.). Es scheint, als wünschte sie, statt einer verheirateten Königin noch immer eine Jungfrau zu sein, damit die Verbindung zu Lancelot eine legitime Chance hätte. „Gawan und Ginover wollen in ihrer Rolle als frauwe nicht agieren, sondern dem ausgezeichneten Ritter etwas sein; sie beschreiben sich […] als Objekt von Lancelots Begehren.“152 Auch Galahot darf die Antwort auf seine eigene Frage nicht schuldig bleiben und muss offenbaren, was er für die Treue und Freundschaft des Schwarzen Ritters zu geben bereit wäre. Galahot antwortet, dass er seine ere aufgeben wollte, um sich der Gegenseitigkeit seiner Liebe zu Lancelot zu versichern (vgl. LuG I, 772,3ff.).153 Hierin zeigt sich die Maßlosigkeit von Galahots Liebe, die, wie schon in der Nacht, in der er heimlich zu Lancelot schleicht, ein Ungleichgewicht der Empfindungen beider Freunde erkennen lässt.154 Während Galahot und die anderen Protagonisten alles Erdenkliche zu tun gewillt sind und sogar ein Leben in Schande oder im Körper des anderen Geschlechts verbringen würden, um von Lancelot wiedergeliebt zu werden, ist in dessen Herz neben der Königin kein Platz mehr. Dass sich Galahot dieser bitteren Tatsache bewusst ist, zeigen die folgenden Gespräche mit der Köni151 Vgl. zur Verbindung von Kampfesschilderung und (homo-)sexuellem Akt in der höfischen Literatur Boyd (1998). 152 Klinger (2001), S. 143. 153 Galahot hat schon Lancelot zuliebe mit seiner Unterwerfung unter Artus, den er hätte besiegen können, einen erheblichen Ehrverlust in Kauf genommen. Dass man aus Liebe seine Ehre aufgibt, zeigt nicht nur das Beispiel von Galahot, auch Lancelot verhält sich so, wenn er „Ginover zuliebe auf den Schandkarren“ steigt (Klinger (2001), S. 148). 154 Die Liebe der beiden wird auch von Sieber als „asymmetrisch“ bezeichnet. Vgl. Sieber (2003), S. 221.
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gin. Im ersten ergreift Ginover die Initiative, indem sie Galahot bittet, eine Unterredung zwischen ihr und Lancelot zu arrangieren (vgl. LuG I, 772,22-25). Galahot spielt seine Rolle als postillion d’amour gewissenhaft. Er informiert Lancelot über den Wunsch der Königin und ihre Antwort auf die Frage, was sie für die Liebe Lancelots zu geben bereit wäre. Außerdem leitet er das Treffen der beiden Liebenden in die Wege, obwohl es seinen eigenen Wünschen widerstrebt. Dass die Liebe zwischen Ginover und Lancelot seine Chance durchkreuzt, Lancelots Gunst für immer zu gewinnen, ist Galahot durchaus bewusst. Im zweiten Gespräch mit der Königin, in dem das Treffen verabredet wird, offenbart er ihr, dass er das Liebste auf Erden an sie verlieren werde: ‚Frauw‘, sprach er, ‚ich han uwer ding also geworben, mir helff dann got, so han ich darumb verlorn das ich in der welt allerliebst hett.‘ ‚So helff mir got‘, sprach sie, ‚ir verliesent nymer daran das ir durch mich gedút; und verlörent ir durch mynen willen icht, ich wolts uch zwiveltig gelten. Was wenent ir darumb verliesen?‘ sprach sie. ‚Denselben ritter‘, sprach er, ‚den ir so gerne sehent, wann ich sere forcht das er villicht etschlich ding verneme darumb ich yn verliesen muß.‘ (LuG I, 776,22-30)
Die Königin möchte Galahot nicht behindern, aber alle Beteiligten ahnen, dass es sich nicht vermeiden lässt. Die Liebe zwischen Lancelot und Ginover, die maßgeblich von Galahot gestiftet wird, ist so intensiv und total, dass sie keinen Raum für andere lässt. Der ‚Kuppler‘ Galahot155 zögert das Treffen zwar so lange wie möglich hinaus, woraufhin ihm die Königin seine Gründe für dieses Verhalten auf den Kopf zusagt: ‚Nu wene ich eins dings wol‘, sprach sie, ‚warumb ir mirs túre machent: es geschicht vil dick das der man allermeist begeret und allergernest neme das wirdet im dick thúre […]‘ (LuG I, 778, 17-20). Schließlich führt Galahot die Liebenden doch noch zusammen (vgl. LuG I, 782). Im folgenden Gespräch vermag der zuvor in Gegenwart der Königin liebeskranke Lancelot wieder klare Gedanken zu fassen. Er antwortet auf Ginovers Frage, wessen Ritter er sei, dass er einzig ihr selbst diene, denn sie habe ihn zum Ritter gemacht (vgl. LuG I, 786,29ff.) und er habe alle Rittertaten nur ihr zuliebe vollbracht (vgl. LuG I, 792,29). Seine Kraft beruhe allein auf der Zuneigung zu ihr. Dies sei der Fall, seit Ginover ihn beim ersten Abschied sußer amis (LuG I, 794,18) genannt 155 So stilisiert ihn auch Dante im 5. Gesang des Infernos der Divina Commedia. Hierin werden Paolo und Francesca durch die Lektüre von der Liebe von Lancelot und Ginover zu ihrem ersten fatalen Kuss verführt. Die Schuld wird hierbei Galahot zugeschoben. Vgl. Dante Alighieri: Die Göttliche Komödie. Übersetzt von Hermann Gmelin, Kommentar I. Teil, Stuttgart 1954, v. 128-137.
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habe.156 Lancelot hat sich entsprechend dieser Charakterisierung der Königin gegenüber treu verhalten, und nachdem Ginover ihre Worte bekräftigt, ist die Liebe endlich ausgesprochen. Ein gegenseitiges Gelöbnis besiegelt das Liebesgeständnis. das ihnen der herbeigerufene Galahot abnimmt, (vgl. LuG I, 798,34-800,9). Höhepunkt dieser symbolischen Trauung soll ein Kuss der Liebenden sein. Da sich Ginovers Hofdamen in Sichtweite befinden, schlägt der Liebesstifter Galahot ein Verfahren vor, das den Kuss vor den Blicken abschirmen soll: wir sollen alle dru unser heubte by einander halten und gebarn als wir yrgent umb runen; also mögent ir yn kußen (LuG I, 800,18-20). Beim ersten Kuss ist es die Königin, die die Initiative ergreift. Sie nimmt Lancelots Gesicht, der still verharrt, und küsst ihn (vgl. LuG I, 800,22f.). Auf den Kuss folgt ein Ringtausch, der der Verbindung der Liebenden den Charakter einer Eheschließung verleiht.157 Mit der Verbindung zur Königin festigt Lancelot auch seinen Bund mit Galahot. Die Königin nimmt hierbei die Mittlerrolle ein und reicht Galahot Lancelots Hand: sie nam den ritter mit der rechten hant und sprach zu Galahoten: ‚Ich geb uch dißes ritters gesellschafft […] als lang als ir beide lebent, uff das das wir hie geredet hant; so gebt im uwer tru!‘ (LuG I, 802,11-14). Auch dieser Akt gleicht einer Vermählung, so dass das Dreiecksverhältnis zwischen Ginover, Lancelot und Galahot besiegelt wird. Wenn die Königin keine Zeit hat, legt sich Galahot zu Lancelot ins Bett und verkürzt ihm die Zeit mit sanften Gesprächen: Galahot nam urlob zu ir und sprach, er wolt by synem gesellen gan schlaffen. ‚Ich wil im die zitt kurcz machen, ich weiß auch nu wol wo mit.‘ […] Galahot nam urlob mit syn gesellen zu farn, und fur uber zu im. Sie gingen beidsamen schlaffen uff ein bette und retten alle die nacht von den dingen da yn allersanfftest mit was. (LuG I, 804,3ff.)
Während die Freunde zufrieden mit der Dreierkonstellation scheinen, involviert sich noch eine vierte Person. Die Frau von Maloaut, deren Gefangener Lancelot vor dem Krieg gegen Galahot war, bietet sich als Vierte im Bunde an: vierer gesellschafft were hie beßer dann dryer (LuG I, 806,29f.). Vorausschauend prophezeit sie, dass, wenn Galahot und Lancelot bald aufbrächen, die Königin mit ihren Gedanken und Gefühlen allein zurückbliebe, wohingegen die Freunde kúrczwil und freude miteinander teilen könnten (vgl. LuG I, 806,31). Die Frau von Maloaut bietet Ginover ihre Hilfe und Zuneigung für diese schwere Zeit an. Ginover nimmt das Angebot an, weil die zufällige Beobachterin nun keinen „Bedrohungsfaktor“158 mehr darstellt. Außerdem malt sie sich aus, wie glücklich es wäre, wenn Galahot 156 Dass Ginover ihn amis genannt hat, trifft nur in Lancelots Phantasie zu, hat sie ihn doch zu der genannten Gelegenheit mit frunt (LuG I, 382,21) angesprochen. 157 Meyer (1996), S. 210. 158 Sieber (2003), S. 228.
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und die Frau von Maloaut zusammenfänden. So würde aus dem Dreieck ein symmetrisches Viereck und der Kontrahent um Lancelots Gunst wäre abgelenkt. Am nächsten Morgen stiftet die Königin den Bund zwischen Galahot und der Frau von Maloaut (vgl. LuG I, 812,16ff.). Von da an verbringen die vier ihre heimlichen Treffen mit helsen und kúßen (LuG I, 816,6). Aber sowohl Ginovers neue Freundin als auch Galahot spielen in gewisser Hinsicht falsch, denn beide sindnicht wirklich aneinander interessiert. Bei beiden steht die Zuneigung zu Lancelot im Mittelpunkt. Die Frau von Maloaut verschweigt ihrer neu gewonnenen Freundin, dass sie Lancelot mehr geliebt hat als ihr eigenes Leben (vgl. LuG I, 808,30-32). Außerdem ist fraglich, ob die Liebe tatsächlich so schnell weichen kann und aus welchem Grund die Frau von Maloaut Ginover ihre Liebe verheimlicht. Galahot, der Lancelot ebenfalls begehrt, kann sich dem erzwungenen Viererverhältnis nicht entziehen, denn sein Treueeid bindet ihn an die Königin.159 Aus diesem Grund findet Galahot andere Mittel, um sich mit Lancelot zu entziehen. Er und sein Freund lassen alsbald ihre Freundinnen zurück und begeben sich in Galahots Reich Sorelois. Dort verbringen sie eine unbeschwerte Zeit und Galahot setzt sich mit allen Mitteln dafür ein, dass Lancelot bei ihm bleibt. Aus Sorge um seinen Freund und dessen Leben will Galahot nicht, dass Lancelot kämpft (vgl. LuG I, 1200,20ff.). Er bringt ihn auf die Verlorn Werd (LuG I, 1200,26), eine einsame Insel, denn Lancelot wird tatsächlich von Kampfgier umgetrieben. Nicht nur der fehlende Wettkampf, sondern auch die Trennung von der Königin lassen Lancelot trauern. Er verfällt in das alte Muster seiner Liebeskrankheit und lacht, isst, trinkt und schläft nicht mehr (vgl. LuG I, 1202,33ff.). Die Befindlichkeit ist typisch für alle Aufenthalte Lancelots und Galahots fernab des Artushofs und der Königin. Galahot versucht mit unterschiedlichen Strategien, Lancelot bei sich zu halten, wohingegen dieser in regelmäßigen Abständen aufgrund seiner Sehnsucht nach Ginover erkrankt. Somit ist die Königin auch dann, wenn sie nicht körperlich anwesend ist, in der Verbindung der Freunde präsent und stört sie maßgeblich. Rasch bietet sich für Lancelot eine Gelegenheit, die Königin wiederzusehen. Das Artusreich führt Krieg gegen Schottland und Lancelot und sein Freund schließen sich den Truppen des Königs an. Nach der ersten heftigen Schlacht ereignet sich im Lager ein wahrer Liebesreigen: König Artus betrügt die Königin und vergnügt sich mit der Burgherrin Gartissie, in die er sich verliebt hat (vgl. LuG I, 1234,26ff., v.a. 30f.; 1236,30f.). Der Ehebruch des Königs kann als Auslöser für die erste Liebesnacht Lancelots und Ginovers gelesen werden.160 Weil Ginover gekränkt ist, dass Artus sie in der Nacht allein lässt, bestellt sie Galahot und Lancelot zu sich. Während Lancelot mit ihr das Bett teilt, gesellt sich Galahot zu ihrer Freundin, der Frau von Maloaut: 159 Vgl. hierzu Sieber (2003), S. 229. 160 Vgl. Mertens (2003), S. 110.
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Und da nam ieglich syn amis by der hant und leite yn in ein schön kamer, und hetten die nacht alle die freude die zu recht mynnere haben sollen. Sie wurden beide entwapent und wurden off zwey herliche bette geleit, ieglich mit syner frauwen. (LuG I, 1238,13-16)
Dass der von Ginover und Lancelot vollzogene Liebesakt nicht dem Lustgewinn dient, sondern als nahezu heiliger Gestus vorgestellt wird, zeigt die Geschichte des gespaltenen Schilds, die zugleich Heiligung und Legitimation der Liebe bedeutet.161 Die Frau vom See hat Ginover einen Schild zukommen lassen, der mit einem Ritter und einer Dame bemalt ist, die in Kuss und Umarmung miteinander verschlungen sind. Die Figuren symbolisieren Lancelot und Ginover (vgl. LuG I, 922,21ff.). Dieser Schild war vor der ersten Liebesnacht der beiden in der Mitte, zwischen den Mündern des küssenden Paares, gespalten. Dies sollte zeigen, dass bis jetzt außer Küssen und Umarmungen nichts zwischen den Liebenden geschehen war. Nun hat sich dieser Spalt jedoch zusammengefügt (vgl. LuG I, 1238,16-22) und somit die Prophezeiung erfüllt, dass er sich schließen werde, sobald die Liebe von Lancelot und Ginover vollzogen sei: und wann das ir beider minne volle komen sol, so sollen sich die zwey stúck fugen und sol der schilt von eim stuck werden, das man des spaltes nit mag erkennen noch gemercken (LuG I, 924,22-24). Der Schild ist von nun an das Symbol der unzerbrechlichen Liebe der Königin und ihres Ritters. Lancelot bricht auf, um mit seinen Gefährten nach dem entführten König Artus zu suchen, doch statt diesen zu finden, geraten sie in Gefangenschaft. Lancelot verfällt erneut dem Liebeswahn, der in diesem Fall über Essensverweigerung und Schwermut weit hinausgeht. Lancelot gebärdet sich wie ein Tier, tritt und schlägt seine Gefährten: „(D)er Wahnsinn [ist] die Konsequenz des Liebesverlusts und zeigt die völlige Ergriffenheit […] von der Liebe.“162 In seinem Toben erkennt Lancelot weder Freund noch Feind, es dauert noch an, als er schon längst wieder im Lager des Königspaares ist (vgl. LuG I, 1248,27-1252,29). Obwohl die Königin sich aufopfernd um ihn kümmert und regelrecht mitleidet, zeichnet sich bei Lancelot keine Besserung ab. Auch in diesem Fall sind die zahlreichen Ohnmachten, in die Ginover während der Zeit von Lancelots Wahnsinn fällt, Zeichen für ihr Leid, dem sie dadurch entfliehen möchte. In der Übernahme der Krankheit des Gegenübers manifestiert sich zudem zum wiederholten Mal die Einheit der Liebenden. Trotzdem ist Lancelots Dilemma zwischen seiner ritterlichen Ehre und der ehebrecherischen Liebe zur Königin nicht lösbar.163 Lichte Momente stellen sich nur dann ein, wenn man ihm den ehemals gespaltenen Schild umhängt (z.B. LuG I,
161 Vgl. Mertens (2004), S. 110: „Symbolisch wird die zum Ziel der Lust gelangte Liebe als höchster ritterlicher Wert in der Heiligung des gespaltenen Schildes gezeigt […].“ 162 Mertens (1998), S. 158. 163 Vgl. Mertens (1998), S. 159.
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1254,15ff; 1256,33ff.). Somit ist es der Zauber der Liebe, der Lancelots ersten Wahnsinnsanfall heilt. Seine Ziehmutter kommt zur Königin und mithilfe des Schildes und heilender Salben gelingt es ihr, Lancelot die Gesundheit zurückzugeben. Die Fee erteilt Ginover, nachdem sie dieser schon den Schild als Liebespfand geschickt hat, nun auch persönlich ihren Segen: Ich ensprich es darumb nit das es kein affenheit ist zwuschen uch zweyn noch keyn wunder. Ich wil uch sagen warumb: ir minnent die blumen aller biederbekeit: dasselb thut er auch, er minnet die schonsten frauwen die nu lebet und die byderbsten, darumb ist wol recht das affenheit zweyer minne sy. (LuG I, 1260,16-21)
Laut der Aussage der Frau vom See ist es weder ein großes Wunder noch Verrücktheit, dass sich Lancelot und Ginover gefunden haben, sondern eine Selbstverständlichkeit. Der beste Ritter und die schönste Dame gehören zusammen. Die Verbundenheit hat sich schon bei ihrer ersten Begegnung angekündigt, in der ihre Schönheit sie von allen anderen abgehoben hat (vgl. LuG I, 366,6ff.). Nun bewahrheitet sie sich endgültig, wie der zusammengefügte Schild beweist.164 In diesem Moment wird die Liebe von Lancelot und Ginover noch nicht negativ bewertet, sondern als etwas Besonderes und als „höfisch vollkommen“165 hervorgehoben. Der dritte Part des Dreiecksverhältnisses, Galahot, entschließt sich aus Liebe zu Lancelot auch ein Ritter der Tafelrunde zu werden, denn er möchte nie wieder von seinem Freund getrennt sein (vgl. LuG I, 1288,14). Er versucht, weil er wegen der Liebe Lancelots zu Ginover leidet, so viel Zeit wie möglich mit dem besten Ritter allein zu verbringen. Galahot tritt in Konkurrenz zu Ginover um Lancelots Gunst. In den jeweiligen Beziehungen der beiden zum besten Ritter zeigen sich zwei inkompatible Konzepte von höfischer minne: Freundschaft einerseits und Liebe andererseits.166 Nicht Ginover versucht Lancelot von ritterlichem Kampf fernzuhalten, sondern sein Freund Galahot, der ihn vor strit und ungemach behüten will.167 Somit hält nicht das verligen aus Liebe zur Königin Lancelot davon ab, sich zu bewähren, sondern die Entführung des Ritters durch seinen Freund Galahot. Dieser ahmt aus Angst um das Leben seines Freundes die Rolle einer Frau nach. Wie Enite oder Belakane lenkt er den Ritter vom Kämpfen ab, wie Herzeloyde hält er den geliebten Menschen von den Gefahren der Ritterschaft fern. Dies wirkt sich auf Lancelots
164 Lancelot trägt von nun an den Schild als Zeichen ihrer Liebe im Kampf bei sich (vgl. LuG I, 1258,15f.). 165 Mertens (2003), S. 110. Zur gerechtfertigten Liebe zwischen Lancelot und Ginover vgl. auch: Speckenbach (1994), S. 330; Klinger (2001), S. 148. 166 Vgl. Klinger (2001), S. 147. 167 Vgl. Klinger (2001), S. 147. Vgl. auch LuG I, 1200,11ff.
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Indentitätsbildung aus, da ein Ritter sich nur durch Ehrgewinn bewährt.168 Um Lancelot außer Gefahr zu bringen und dem Einfluss der Königin zu entziehen, überredet Galahot Artus, ihn und Lancelot erneut nach Sorelois ziehen zu lassen. Diese zweite Reise in Galahots Reich bedeutet für Lancelot erneut Trennung von Ginover, was ihm missfällt (vgl. LuG I, 1290,8-10). Auch Galahots Freude über die Zeit, die er allein mit seinem Freund verbringen darf, währt nicht lange. In Sorelois ist der Tod „ständiger Begleiter der beiden gesellen“.169 In seinem Reich angekommen, wird Galahot von zwei aufwühlenden Todesträumen heimgesucht. Der erste Traum170 handelt von einer gekrönten Schlange, die sich aus dem Zimmer der Königin windet und ihn mit ihrem Feuer verbrennt (vgl. LuG II, 10,10-15). Im zweiten Traum sieht er seinen Leib aufgerissen, so dass er zwei Herzen in seinem Inneren erkennen kann. Das eine verwandelt sich in einen Leoparden und verschwindet im Wald, das andere verdorrt wie sein ganzer Leib (vgl. LuG II, 10,16-23). Beide Träume weisen darauf hin, dass Galahots Leben in Gefahr ist, sie symbolisieren zudem den unheilvollen Charakter seiner Zuneigung zu Lancelot.171 Der Verweischarakter der Träume, die bevorstehendes Unglück vorwegnehmen, wird zudem programmatisch für die Zeit, die die Freunde Lancelot und Galahot zusammen in Sorelois verbringen. Andauernd stößt entweder dem einen oder dem anderen etwas zu, beide fallen abwechselnd in Ohnmacht und werden von dem jeweils anderen für tot gehalten.172 Galahot gibt zu, dass er bei einem möglichen Verlust Lancelots nicht mehr weiterleben kann (vgl. LuG II, 18,13f.). Aus schlimmer Vorahnung wird Gewissheit: Als beide Freunde an den Artushof zurückkehren, lässt Galahot seine 168 Vgl. Klinger (2001); S. 147f. 169 Merveldt, Nikola von: Translatio und Memoria. Zur Poetik der Memoria im Prosalancelot. Frankfurt am Main et al. 2004, S. 159. Die Träume verweisen nicht nur auf Galahots Tod, sondern zudem auf dessen bevorstehende Trennung von Lancelot. 170 Merveldt nennt die beiden Träume Galahots „Todesträume“ (vgl. Merveldt (2004), S. 160). Zu einer weiteren Deutung der Träume Galahots vgl. auch: Speckenbach, Klaus: „Form, Funktion und Bedeutung der Träume im Lancelot-Gral-Zyklus.“ In: Gregory, Tullio (Hg.): I sogni nel Medioevo. Atti del Colloquio Internazionale del Lessico Intellettuale Europeo 1983. Rom 1985, S. 317-355, v.a. S. 334ff.; Ders.: „Die GalahotTräume im Prosa-Lancelot und ihre Rolle bei der Zyklusbildung.“ In: Wolfram-Studien 9 (1986), S. 119-133. 171 Merveldt (2004), S. 160. Vgl. zur „maßlosen Liebe“ Galahots gegenüber Lancelot auch S. 159. Zur Galahot-Figur vgl. auch: Dies.: „Galahot als Grenzgänger. (Trans-)Texte rund um eine ambivalente Figur.“ In: Huber/Ridder (2007), S. 173-192. 172 Vgl. hierzu, dass Lancelot und Galahot eine „wahre Orgie des in Ohmachtfallens“ vollbringen (Hennings, Thordis: Altfranzösischer und mittelhochdeutscher Prosa-lancelot. Übersetzungs- und quellenkritische Studien. Heidelberg 2001, S. 16, FN 100). Vgl. auch LuG II, 12/14.
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Träume deuten. Meister Helies klärt ihn auf, dass der Leopard, der schon in Merlins Prophezeiungen eine Rolle spielte, viele Abenteuer bestehen wird, der Sohn eines Königs ist und alle Welt ihn minnet und begeret (LuG II, 66, 11). Das Tier ist folglich Lancelot und somit das eine Herz in Galahots Körper. Das andere gehört Galahot, der sich als mit dem Freund vereint imaginiert.173 Diese Zweisamkeit der Herzen hat jedoch keinen Bestand, sie endet mit Lancelots Flucht und Galahots Tod. Dieser zweite Traum ist auch für das Artusreich relevant. Der Leopard ist geringer als der König der Tiere, der Löwe. Lancelot, der sich mit Sünde befleckt hat, ist nur der Leopard, erst nach ihm wird ein Löwe kommen, der ein noch besserer Ritter sein wird (vgl. LuG II, 66,22ff.): das der herre als vil beßer ritter syn sol als der lewe edler und werder und beßer ist dann der lepart (LuG II, 68,9-11). Der Löwe präfiguriert somit Galaad, der seinen Vater als besten Ritter ablöst. Sein Leib bleibt für immer keusch und jungfräulich (vgl. LuG II, 68,5f.; 68,13ff.; 68,21f.). Er wird alle Abenteuer, auch das Gralsabenteuer, zu Ende bringen, wie es die Prophezeiung Merlins und die Deutung der Galahot-Träume durch Helies vorhersagen (vgl. LuG II, 68).174 Der erste von Galahots Träumen symbolisiert die Beziehung zwischen ihm, Lancelot und Ginover. Die gekrönte Schlange ist die Königin; die Flamme, die sie ausspeit, die hicz von minnen, die die körperliche Liebe zwischen ihr und Lancelot erzeugt.175 Sie bedroht Galahot, denn die Flammen sind der Grund dafür, dass Lancelot sein Begehren nicht erwidert: und der lepart gesellet sie dann an den trachen von der großen fruntschafft die der trach zu im hat. Darnach sol der serpant komen mit dem guldenin heubt und sol den lepart noch lieber gewinnen dann yn der trach ie gewann (LuG II, 70,10-14). In der Auslegung der Träume durch Meister Helies wird die Liebe Lancelots, den der Leopard symbolisiert, und Ginovers, die als gekrönte Schlange erscheint, zum ersten Mal als sündhaft verurteilt. Nicht von ungefähr wird die Königin als eine Erscheinungsform des Bösen und des Sündenfalls personifiziert, ist es doch der Teufel, der Lancelot zum Ehebruch mit ihr verführt.176 „In Galahots Todesurteil werden somit Umwertungen vorgenommen, die den Sinn und weiteren Verlauf der Handlung mitbestimmen: Lancelot und Ginovers vorbildliche Liebe wird in Frage gestellt und Lancelots Ablösung durch seinen Sohn Galaad vorbereitet.“177 In der nun folgenden Falsche-Ginover-Episode, in der eine andere Frau auftaucht und behauptet, sie sei die Königin und somit die rechtmäßige Ehefrau Artusތ, 173 Vgl. Sieber (2003), S. 223. 174 Vgl. hierzu auch Herzeloydes prophetischen Drachentraum. 175 Vgl. auch Sieber (2003), S. 222. 176 Vgl. zur Deutung der Liebe zwischen Lancelot und Ginover z.B.: PL V 250/252. 177 Merveldt (2004), S. 160. Auch Speckenbach betont, dass sich nach Galahots Träumen eine Neubewertung des Geschehens vollzieht und sich langsam auf das zukünftige Gralsabenteuer ausrichtet. Vgl. dazu Speckenbach (1985), S. 334-42.
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erreicht das Dreiecksverhältnis von Galahot, Lancelot und Ginover den Höhepunkt. Der Sohn der Riesin bietet der richtigen Königin Exil in Sorelois an und während dieser Zeit genießen sie und Lancelot ihre Liebe in vollen Zügen: die kónigin was lang zu Sorelois und het dick so getan gesellschafft als ir lieb was (LuG II, 148,10f.). Obwohl dies die Gelegenheit gewesen wäre, dass Lancelot an die Stelle des Königs tritt, wird die Beziehung der beiden nicht legitimiert.178 Nachdem die falsche Ginover als Betrügerin entlarvt worden ist, kehrt Ginover an den Artushof zurück. Ihre Ehe mit Artus wird wieder als legitim erklärt und von beiden fortgesetzt. Damit endet die Zeit der utopischen Liebe in Sorelois. Für Meyer führt die Wiederaufnahme der Ehe zur „Desintegration der Beziehung Lancelot-Galahot: Sie verfehlen einander, halten einander wechselseitig für tot, bis Galahot aus Kummer stirbt.“179 Tatsächlich hält Galahot seinen Freund mehrere Male für tot – zuletzt als er von einer Reise in sein Reich zurückkehrt und erfährt, dass Lancelot ihn gesucht habe. Der Ritter hat, von einem seiner Wahnsinnsanfälle getrieben, in denen er die Königin für tot hielt, in Sorelois nach Hilfe und Zuwendung gesucht. Als er Galahot nicht in seinem Reich antrifft (vgl. LuG II, 306), verschwindet er. Galahot gibt sich, als er nach Hause zurückkommt und erfährt, was geschehen ist, die Schuld an Lancelots Tod. Er reagiert auf den vermeintlichen Verlust des geliebten Freundes mit Nahrungsverweigerung und Autoaggression (vgl. LuG II, 308,34ff.). Galahot legt sich zum Sterben nieder und siecht in neun Tagen an „seinem (liebes)kranken Herzen“180 dahin: da verschied Galahut, der edelst landesherre der von des konig Salomons ziten ie geborn wart (LuG II, 310,6ff.). „Galahots Liebestod bildet (zugleich) den Höhepunkt seiner maßlosen Selbstverschwendung.“181 Auch der Text gibt Lancelot die Schuld an Galahots Tod: hie liegt Gallehaullt ain sohne der ryßin, der umb Lanntzelots willenn gestorbenn ist (LuG II, 658,31f.). Dass Lancelot sich auch an der Stelle erneut mit Galahots Tod beschäftigt, spricht gegen die These, dass der Sohn der Riesin ab seinem Tod keinen Einfluss mehr auf die Handlung hat. Der Tod Galahots ist nicht umsonst, die Vereinigung der Freunde ist nur zeitlich verschoben. Am Ende liegen sie gemeinsam in einem Grab und Galahot wird wenigstens im Tod „dessen habhaft […], der sich im Leben stets entzog“182: Hie lyt Galaat von den Ferren Inselen und herre Lanczlot von dem Lach, der da was der beste ritter der ye in das konigrich von Logres kam, sunder alleyn Galaat syn son (PL V, 1028,5-8). 178 Vgl. Klinger (2001), S. 150f. 179 Meyer (1996), S. 206f. 180 Merveldt (2004), S. 164. 181 Klinger (2001), S. 148. 182 Klinger (2001), S. 220. Das Doppelgrab erinnert stark an die Vereinigung von Liebenden nach dem Tod, die während des Lebens ihre Beziehung nicht ausleben durften, wie beispielsweise auch bei Tristan und Isolde. Vgl. dazu auch Reil (1996), S. 177.
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Meyer und Sieber lehnen die Charakterisierung der Beziehung zwischen Galahot und Lancelot als homosexuell ab.183 Während der altfranzösische Text offen lässt, ob die beiden Freunde in der ersten gemeinsamen Nacht das Bett teilen, spricht die mittelhochdeutsche Fassung von zwei Betten: da leyt er sich by yn off das nehste bette (LuG I, 750,10ff.). Außerdem hat Galahot laut Meyer vorrangig zwei andere Funktionen zu erfüllen: Zum einen dient der Eroberer von außen, der „in den innersten Kreis der Artusherrschaft eindringt“, als Kontrastfolie für König Artus,184 und zum anderen ist er die Legitimationsinstanz der Liebe zwischen Lancelot und Ginover. Nachdem Galahot die Verbindung von Lancelot und Ginover gestiftet hat, wird er laut Meyer aus der Erzählung „beseitigt“.185 Bis zu diesem Punkt stimmt Sieber mit Meyer überein. Doch sie ist der Meinung, dass „Galahots Tod die Relation von gelingendem und misslingendem Begehren im Konnex mit männlicher Identitätsbildung reflektiert“.186 Sie vergleicht daraufhin die heterosexuelle Beziehung mit der homosozialen Freundschaft. Letztere ist ihrer Meinung nach disfunktional und zum Scheitern verurteilt, im Falle Galahots sogar in doppelter Hinsicht. Die Erfüllung seines Begehrens werde einerseits durch die Liebe zwischen Lancelot und Ginover abgeblockt und andererseits durch eine weibliche Partnerin, die Frau von Maloaut, gestört.187 Die Lösung sieht Sieber (wie eigentlich schon von Meyer festgestellt) im Tod Galahots.188 Siebers These, dass die homosoziale Beziehung zwischen Lancelot und Galahot ebenso wie die erzwungene heterosoziale Verbindung zwischen Galahot und der Frau von Maloaut in einem „Zustand der Asexualität“ verharrt, möchte ich widersprechen.189 In der Liebesnacht, die sich zwischen Lancelot und Ginover vollzieht, teilen sich auch Galahot und die Frau von Maloaut das Bett. Es wird zwar nicht explizit gesagt, dass das zweite Paar den Liebesakt vollzogen hätte, da der Fokus auf der Vereinigung der beiden Protagonisten liegt. Der Vorgang des gemeinsamen Bettlagers ist bei beiden Paaren parallel aufgebaut, zumindest bis zur Bestätigung des vollzogenen Akts von Lancelot und der Königin durch das Zusammenfügen des Schilds (vgl. LuG I, 1238,13-16).190 Im Fall der Männerbeziehung ist es zwar rich183 Diese Äußerungen findet man beispielsweise in: Freytag, Hartmut: „Höfische Freundschaft und geistliche amicitia im Prosa-Lancelot.“ In: Wolfram Studien 9 (1984), S. 195-212. 184 Vgl. Meyer (1993), S. 212. 185 Meyer (1993), S. 213. 186 Sieber (2004), S. 229. 187 Vgl. Sieber (2003), S. 231. 188 Vgl. Sieber (2003), S. 231. 189 Sieber (2003), S. 229f. 190 Vgl. zur Parallelität zwischen Lancelot und Ginover einerseits und Galahot und der Frau Malout andererseits besonders LuG I, 1238,13-16.
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tig, dass der Text weder dezidiert eine Liebesnacht schildert, noch auf symbolischer Ebene einschlägige Hinweise gibt. Trotz allem weist die Beziehung zwischen Lancelot und Galahot durchgehend Merkmale des Begehrens auf. Die Beziehung zwischen Lancelot und Galahot ist eine homoerotische,191 setzt aber nicht unbedingt einen körperlichen Vollzug der Liebe voraus.192 Gerade in einer Dreieckskonstellation wie zwischen Lancelot, Ginover und Galahot liegt laut Eve Kosofsky Sedgwick die Grundlage für homosoziales Begehren.193 Die Dynamik des erotischen Dreiecks bringt es mit sich, dass durch die Begehrensprozesse neue Spannungen entstehen. Ein Wechsel der Positionen ist möglich, und der Austausch der Rollen als Objekt und Subjekt des Begehrens kann Instabilität verursachen. Dies zeigt sich beispielsweise daran, dass weder die Beziehung zwischen Lancelot und Ginover noch zwischen Galahot und Lancelot Bestand hat und die Rivalität zwischen der Geliebten und dem Freund eine große Rolle spielt. Der Prosa-Lancelot befragt die menage à trois zwischen der Königin, Lancelot und Galahot nach diskursiven Überschneidungen und Begehrensdynamiken. Auf der einen Seite steht die Liebe zwischen Lancelot und Ginover und auf der anderen die Affinität von Freundesliebe und homoerotischem Begehren.194 Insbesondere in den Gralsromanen nehmen die Beziehungen zwischen Männern und ihr in der Schwebe gehaltenes homosoziales Begehren eine wichtige Rolle ein und werden zum Teil sogar der Minne zwischen Ritter und Dame als Ideal vorgezogen. Zwar führt auch der Artusroman Freundschaften vor, in denen die Idealität des höfischen Ritters im Freund widergespiegelt wird, doch der Gralsroman setzt 191 Die Beziehung der beiden darf nicht als homosexuell bezeichnet werden, da Homosexualität ein Identitätskonzept der Moderne ist. Vgl. dazu Foucault (1977). 192 Vgl. hierzu: „Galehout and Lancelot’s nonsexual relationship lacks the essence of its erotic model.“ (Hyatte (1991), S. 505); ebenso: Dies.: The Arts of Friendship, The Idealization of Friendship in Medieval and Early Renaissance Studies. Leiden et al. 1994; Vgl. zu einer homoerotischen Deutung auch: Mieszkowski, Gretchen: „The Prose Lancelot’s Galahot; Malory’s Lavain, and the Queering of Late Medieval Literature.“ In: Arthuriana (5.1) 1995, S. 21-51. Die Beziehung von Lancelot und Galahot ist wie eine minne-Beziehung gestaltet (vgl. Philipowski (2002), S. 188). Sie enthält sogar die Gefahr des verligens (vgl. auch: Krawutschke. Peter W.: Liebe, Ehe und Familie im deutschen Prosa-Lancelot. Bern 1978, S. 39). 193 Vgl. Kosofsky Sedgwick (1985), S. 21ff. 194 Vgl. hierzu auch die Arbeiten von Andreas Kraß, die sich mit dem Verhältnis der höfischen Freundschaft und Liebe sowie der Rivalität dieser Konzepte beschäftigen. Hier wären beispielsweise zu nennen: Kraß, Andreas: „Achill und Patroclus: Freundschaft und Tod in den Trojaromanen Benoîts de Saint-Maure, Herborts von Fritzlar und Konrads von Würzburg.“ In: Zeitschrift für Literatur und Linguistik (LiLi). Juni 1999, Jahrgang 29, H. 114, S. 66-98, v.a. S. 66-68; Ders. (2006b).
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andere Akzente.195 Die Freundschaft Lancelots und Galahots, wie sie der ProsaLancelot schildert, verlangt nicht, dass die beiden Freunde sich gemeinsam im Kampf oder am Hof bewähren. Dies zeigen die ständigen Aufenthalte der Freunde fernab vom Hof ebenso wie die wenigen Kampfschilderungen in der intensivsten Zeit ihrer Freundschaft. In den Gralsromanen wird zudem eine neue Komponente der Bewertung eingeführt, nämlich der Gral. Deswegen werden Geschlecht und Begehren anders verhandelt. Die anstehende Gralssuche gibt allem, was zuvor geschah eine neue christliche Wertung. Die Umwertung betrifft auch die zu Beginn als höfisch beschriebene Liebe zwischen dem besten Ritter und der schönen Königin. Das vollkommene Verhältnis mündet in Ehebruch. Somit wird „die Lancelot-GinoverLiebe als eine […] zerstörerische problematisiert“.196 Es ist Lancelots hitziges Fleisch, seine Liebe zu Ginover, die das Scheitern der Gralssuche bedingt. Liebe und Begehren werden verurteilt und zugleich wird ihnen durch ihre Ausgrenzung eine bedeutende Rolle im Gralsbereich zugewiesen. Sie entscheiden, ob ein Gralssucher das Geheimnis des Grals findet oder nicht. Im Gegensatz zur keuschen Ehe des am Ende erfolgreichen Gralssuchers Parzival ist die ehebrecherische Liebe zu Ginover der Grund von Lancelots Scheitern. Die homoerotische Liebe zu Galahot hätte sich womöglich besser in den Gralsbereich einbeziehen lassen. Trotz seines Liebestodes ist Galahot für Lancelot präsent: „(D)ie Erinnerung an den verstorbenen gesellen [bereitet] die allmähliche Umwertung des Minneideals mit vor“.197 Das Potential einer queeren Deutung der Galahot-Lancelot-Beziehung wird in den meisten Analysen nicht ausgeschöpft. Sieber behauptet: „Dieser einseitig tödliche Verlauf der Männerfreundschaft indiziert […] das Scheitern eines auf Exklusivität ausgerichteten Beziehungsmodells homosozialer Gemeinschaft in Konkurrenz mit heterosexuellen Gegenentwürfen, wodurch der Text nicht zuletzt markiert, dass in ihn die Geschichte der binären Geschlechteroppositionen miterschrieben wurde.“198
195 Zum Konzept der arthurisch-höfischen Männerfreundschaft, vgl. Ertzdorff, Xenia von: „Höfische Freundschaft.“ In: Deutschunterricht 14 (1962), H 6, S. 35-51. Die in der arthurischen Literatur vorgeführten Freundschaften, wie beispielsweise die zwischen Gawan und Erec oder Gawan und Iwein, sind dem antiken Freundschaftsideal einer praktischen Lebensgemeinschaft verpflichtet und von gegenseitiger Zuneigung gekennzeichnet. Kraß wiederum plädiert dafür, dass das Paradigma der Freundschaft und Liebe in der Vormoderne geöffnet werden muss. Seiner Meinung nach bietet das Phänomen der Zuneigung Raum für sowohl homo- als auch heterosoziale Bindungen (vgl.: Kraß (2006b), S. 102). 196 Merveldt (2004), S. 168. 197 Merveldt (2004), S. 168. 198 Sieber (2003), S. 231.
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Sieber betont das tragische Ende der Männerfreundschaft und setzt somit einen verschließenden Akzent. Die Beziehung zwischen Lancelot und Galahot erfährt durch den Tod des einen zwar eine Zäsur. Dies bedeutet jedoch nicht, dass Galahot künftig keinen Einfluss mehr auf Lancelot hätte.199 Gerade die Wiedervereinigung der Helden im Grab zeichnet ihre Verbindung aus: Sie liegen wie Liebende in einem gemeinsamen Grab. Dieser symbolische Akt stärkt jedoch nicht die geschlechtliche Dichotomie, wie Sieber meint, vielmehr fordert die homoerotische Komponente der Verbindung zwischen Lancelot und Galahot eine nicht normative Deutung. Auch Meyer ergänzt seine Überlegungen zum Verhältnis von Lancelot und Galahotum ein Queer Reading des Textes. Er wendet Sedgwicks Überlegungen zum Begehren (between men) auf die beiden Ritter des Prosa-Lancelots an und erklärt dabei, dass es zu wenig sei, die Beziehung der beiden als „asexuelle Realisierung der höfischen finҲ amors zu lesen“.200 Dies bestätigt sich, wenn Lancelot an zwei zentralen Stellen mit dem Tod des geliebten Freundes konfrontiert wird: Als der Ritter Galahots Grab findet, begeht er beinahe Selbstmord, veranlasst dann seine Umbettung und wird schließlich neben ihm begraben:201 Hie lyt Galaat von den Ferren Inselen und herre Lanczlot von dem Lach, der da was der beste ritter der ye in das konigrich von Logres kam, sunder alleyn Galaat syn son (PL V, 1028,5-8). Die Inschrift auf dem Grab ist besonders wichtig, denn „Lancelot, der, wie zu Beginn erzählt wird, mit Taufnamen eigentlich Galaad heißt, der liegt hier mit seinem geliebten Freund, einem weiteren Galaad und es wird auf seinen Sohn Galaad verwiesen. Auch im Namen also ist Galahot, der Freund hereingeholt in die Familie Lancelots, in eine reine Männersippe mit dem Namen Galaad. Mit dem Erreichen der endgültigen Ruhestätte der beiden ritterlichen Hauptfiguren des Romans ist auch die kinetische Energie, die lebende wie tote Körper in einer scheinbar endlosen Suche getrieben hat, gestillt.“202
Für Meyer handelt es sich bei Lancelot und Galahot zwar um das „zentrale Paar“ des Textes, aber das Begehren zwischen den beiden Freunden wird durch Ginover zu einem triangulären Begehren erweitert.203 Meyer findet im Weiteren nicht nur queere Tendenzen in dem Dreiecksverhältnis, für ihn sind vielmehr auch Ginover und Lancelots Sohn Galaad queere Figuren: 199 Der Einfluss von Galahot auf Lancelot hört mit dem Tod des einen nicht auf. So überführt der Ritter beispielsweise Galahots Leiche in die Dolorose Garde und auch während seiner Liebesnacht mit Ginover im Gefängnisturm wird immer wieder an den Freund erinnert. Vgl. dazu auch Merveldt (2004). 200 Meyer (2009), S. 208. 201 Vgl. Meyer (2009), S. 208. 202 Meyer (2009), S. 208. 203 Vgl. Meyer, S. 209.
128 | DIE MITTELALTERLICHEN GRALSROMANE „Denn meistens ebenso queer wie ein nicht begehrender Ritter [Galaad] ist eine ehebrecherische Königin – auch wenn sie sich mit ihrem Verhalten den besten Ritter am Hof halten kann. Das zeigt sich schon darin, dass in der mittelalterlichen Literatur ehebrecherische Königinnen kinderlos sind: Wie ein Ritter, der nicht begehrt, sind auch sie dem System der Genealogie entzogen.“204
Am Ende werden Galahot und Lancelot in einem Grab zusammengeführt und ihr Begehren scheint gestillt – jedoch ist dies nur im Tod möglich. Die (Liebes-)Geschichte der beiden Freunde zeigt wiederum, was sich schon im Parzival abzeichnet: In der Sphäre des Grals wird die dichotome Einteilung von Geschlecht aufgebrochen. Dies ermöglicht die Dekonstruktion von Heteronormativität, insofern der Zusammenhang von Geschlecht, Begehren und Identität neu gelesen werden kann: „This fascinating exchange serves pointedly to denaturalize the category of sex and gender so that attributed gender and gender performance do not necessarily match and male/female binarism begins to topple.“205
Als Beispiele der Geschlechterkonfusion und des transvestite effects, den ein gender-crossing mit sich bringt, wären hier u.a. Ginovers aktives und deswegen für Frauen untypisches Verhalten in der Annäherung an Lancelot zu nennen: Sie berührt ihn beim ersten Abschied und nennt ihn Freund. Sie fragt Galahot, ob er nicht ein Treffen organisieren könne. Sie nimmt Lancelots Gesicht beim ersten Kuss in die Hände und lässt ihren Geliebten zur ersten Liebesnacht zu sich holen. Auch Gawans ungewöhnlicher Wunsch, aufgrund seines Begehrens gegenüber Lancelot in den Körper einer Jungfrau zu schlüpfen, wird hier als Beispiel angeführt werden.206 Im Gralsbereich selbst zählt am Ende vorrangig die homosoziale Verbindung. Lancelot scheitert auf der Gralssuche nicht wegen seiner Freundschaft zu Galahot, sondern wegen seines hitzigen Fleischs, das metonymisch für die ehebrecherische Liebe zur Königin steht.207 Seine Verbindung zu Ginover verhindert zugleich seine Verbindung zu Galahot. Man könnte im Hinblick auf die homosozialen Vorgaben der Gralssuche sogar spekulieren, dass, wenn sich Lancelot an Galahot gehalten hätte, er der beste Ritter geblieben wäre. Er wäre nicht durch seinen Sohn 204 Meyer (2009), S. 209). Vgl. zu Galaad als einem Ritter, der nicht begehrt, sowie zu dessen ‚Queerness‘ das Kapitel II.2.3 der vorliegenden Arbeit. 205 Burns (1996), S. 275. 206 Vgl. zu den transvestite effects Burns (1996). 207 Vgl. hierzu zwei von vielen Beispielen: 1.) Als Lancelot sich am Sarg seines Großvaters befindet: PL IV, 146f.; 2.) Als Lancelot mit Bohort bei einem Einsiedler einkehrt, der ihm erklärt, warum er Symeus Flammengrab nicht zu löschen vermochte (vgl. PL IV, 260). Vgl. zudem zu Lancelots Unkeuschheit auch Philipowski (2002).
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abgelöst worden und hätte den Gral erlösen können. Die Verbindung zu Galahot wäre in den homosozialen Gralsbereich integrierbar gewesen; die Beziehung zu Ginover dagegen hält Lancelot davon fern. So übernimmt Lancelots Sohn, der jungfräuliche Galaad, mit seinen Männerfreunden Bohort und Perceval die tragende Rolle in der Gralssuche. Die homoerotische Freundschaft wird von der homosozialen Gruppe abgelöst, die sich wiederum durch ihren Erfolg vor dem Gral legitimiert. Auf der symbolischen Ebene zeigt sich dies beispielsweise daran, dass Lancelot Galahots Schwert an Bohort schickt und dies als Reminiszenz an die GalahotLancelot-Freundschaft gelesen werden kann, die in der Queste von dem Trio Bohort, Galaad und Perceval abgelöst wird.208
208 Vgl. Merveldt (2004), S. 174.
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2. D IE G RALSSUCHE Die Umstände der Geburt und der Jugend der beiden Helden Parzival und Lancelot erbrachten Erkenntnisse bezüglich ihrer Geschlechtsidentität und Begehrensdisposition. Nun stellt sich die Frage, wie sich der weitere Lebensweg auf die Annäherung an den Gral auswirkt, oder ob dies, je nach Gralsversion, irrelevant ist. Zudem muss analysiert werden, wie dazu die Gralsgeschichte, die die Crône erzählt, passt, da sie die Entwicklung des Helden ausspart: Der Protagonist der Crône, Gawein, tritt als scheinbar fertiger Held in die Gralssphäre ein. Die meisten Gralssucher begeben sich zunächst unbewußt auf die Suche. Dies gilt nicht nur für die Protagonisten im Da Vinci Code, sondern auch für den Parzival und die Crône Heinrichs von dem Türlin. So weiß Gawan bei seinem ersten Besuch auf der Gralsburg nicht, wo er sich befindet und was er zu tun hat.1 Im ProsaLancelot wird die Gralsburg von vielen der Protagonisten, die die möglichen Gralssucher sein könnten, mehrfach besucht. Der Gralserlöser Galaad tritt nur einmal vor den Gral und wird als einziger in das ganze Geheimnis des Grals eingeweiht 2.1 Die queere Gralssphäre des Parzival 2.1.1 Das Versagen des Gralssuchers Mit dem Plan, seine Mutter zu besuchen, verlässt Parzival seine Ehefrau Condwiramurs (vgl. v. 223,17ff.). Er trifft zuerst zufällig am Rande eines Sees auf eine Gruppe Fischer: er kom des âbnts an einen sê. / dâ heten geankert weideman (v. 225,2f.). Parzival spricht einen der Fischer an, um diesen nach einer möglichen Unterkunft für die Nacht zu fragen. Schon als der Mann das erste Mal das Wort ergreift, wird er vom Erzähler als trûric (v. 225,18) bezeichnet. Die Trauer bleibt neben seinem augenscheinlichen Reichtum auch im Folgenden eines seiner wichtigsten Attribute. Der angebliche Fischer weist Parzival den Weg zu seiner Behausung und verabredet sich mit ihm für den Abend (vgl. v. 226,3ff.). Die Unterkunft des Fischers entpuppt sich jedoch als Festung, ein weiterer Hinweis dafür, dass es sich bei dem Gastgeber nicht um einen Fischer handelt. Parzival reitet unbedarft in die Burg, wo sich ihm ein trauriges Bild bietet. Der Hof ist verwaist und die Bewohner kennen keine Freude: selten frœlîchiu werc / was dâ gefrümt ze langer stunt: / in was wol herzen jâmer kunt (v. 227,14-16). Wie schon beim Besuch bei Gurnemanz sticht des Fischerkönigs sogleich Parzivals Schönheit ins Auge: Es ist
1
Vgl. Meyer (1994); Buschinger, Danielle: „Burg Salîe und Gral. Zwei Erlösungstaten Gaweins in der Crône Heinrichs von dem Türlin.“ In: Krämer, Peter (Hg.): Mittelalterliche Literatur in Kärnten. Wien. 1981, S. 1-32, v.a. S. 12; Wyss, Ulrich: „Die Wunderketten in der Crône.“ In: Krämer, Peter (1981), S. 269-292, v.a. S. 283f.
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fasziniert von der Erscheinung des Ritters und bestätigt, dass sie minneclîch (v. 227,29) sei. Nachdem der Ritter sich vom Staub der Reise gesäubert hat, wird der Eindruck seiner Schönheit noch um ein Vielfaches verstärkt: alt und junge wânden / daz von im ander tag erschine / sus saz minneclîche wine (v. 228,4-6). Diese Schönheit, die sich jetzt vollständig offenbart, wollen die Burgbewohner mit einem besonders prächtigen Kleidungsstück, das Parzival anlegen soll, unterstreichen: Der Kämmerer überreicht dem schönen Ritter den Brokatmantel der Repanse de Schoye (vgl. v. 228,14ff.). Diese Dame ist, wie sich herausstellen wird, die Gralsträgerin und Parzivals Tante, und dem Helden wird mit dieser Leihgabe symbolisch die Herrschaft angetragen.2 Parzival selbst erkennt das Angebot noch nicht, erst später wird ihn sein Onkel Trevrizent über die Geheimnisse der Gralsburg und der Gralsherrschaft aufklären (vgl. v. 500,26-30). Parzivals Schönheit und die Ehre seines Besuchs heben die Stimmung der traurigen Burgbewohner.3 Wie angespannt die Situation auf beiden Seiten ist, zeigt folgender Zwischenfall. Einer der Burgbewohner, ein redespæher man (v. 229,4), erlaubt sich einen Scherz mit dem Ritter. Da der Spötter unbewaffnet ist und somit nicht zur Rechenschaft gezogen werden kann, richtet Parzivals seinen Wut gegen den eigenen Körper: zer fiuste twanger sus die hant / daz dez pluot ûzen nagelen schôz / und im den ermel gar begôz (v. 229,12-14). Trotz der Provokationen kommt es zu keiner drastischen Zornentladung gegen andere Menschen, stattdessen kehren sich Wut und Anspannung des Helden gegen die eigene Person und sind in ihrer Intensität – es fließt Blut – mit dem zorn Lancelots vergleichbar.4 Die Scherze des Narren haben ihren Grund: Da in der Burg soviel Trübsinn herrscht, ist es seine Aufgabe, Witze zu machen (vgl. v. 229,15ff.). Auch diesen Hinweis nimmt Parzival hin, ohne nach der Ursache der allgemeinen Traurigkeit zu fragen, die nicht nur die Hofbewohner, sondern auch den Herrscher einschließt. Als der Ritter zum Essen mit dem Fischer in einen Raum mit hundert Liegestätten und ebenso vielen Kerzen geführt wird (vgl. v. 229,23ff.), stechen ihm vor allem der Reichtum und die edle Ausstattung der Räumlichkeiten ins Auge. Diese Pracht, so kommentiert der Erzähler, könne sich der Sohn des Königs Frimutel durchaus leisten (vgl. v. 230,4). Dies ist die erste genealogische Einordnung des Burgherrn. Der Hausherr hat alles Glück verloren und ist voller Jammer: ez was worden wette / zwischen im und der vröude: / er lebte niht wan töude […] sus sprach er wirt jâmers rîch (v. 230,19f.; 230,30). Der Kummer des Herrschers und die Wärme, die überall herrscht, hat folgenden Grund: der wirt het durch siechheit / grôziu fiur und an im warmiu kleit (v. 231,1f.). 2
Vgl. hierzu Kraß (2006a), S. 130. Der diensteifrige Empfang auf der Gralsburg steht für die hohen Erwartungen, die an den Besucher geknüpft werden (vgl. hierzu Bumke (2004), S. 65).
3
Vgl. v. 228,26: die trûregen wâren mit im vrô.
4
Zu Parzivals Zorn vgl. Keller (2003), S. 127.
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Die allgemeine Trauer wird im Folgenden noch gesteigert, als ein Knappe mit einer Lanze den Saal betritt, aus der Blut quillt (vgl. v. 231,15ff.). Die Lanze wird als Anstoß des Jammers bezeichnet und bei ihrem Anblick erfasst alle Anwesenden lautes Wehklagen und heftiges Weinen (vgl. v. 231,23-30). Nachdem die Lanze wieder hinausgetragen worden ist, hält eine Prozession Einzug, die von zwei jungen Frauen angeführt wird. Beide tragen in ihren Händen goldene Kerzenhalter und sind äußerst prachtvoll gekleidet (vgl. v. 232,15-30). Den jungen Mädchen folgen zwei weitere Jungfrauen, die ein Tischgestell hereinbringen, und noch einmal acht, die Kerzen und die Tafeln für die Tischgestelle hereintragen. Weiterhin treten noch zwei Fürstinnen ein, die zwei auf weißem Tuch gebettete Messer mitbringen sowie weitere vier, die ebenfalls Kerzen tragen. Jede der Jungfrauen verneigt sich vor dem Hausherrn und am Ende stehen achtzehn junge Damen im Raum (vgl. v. 235,7). Nach diesen erscheint die Hauptperson der Prozession, die Königin, die das Herzstück des Rituals trägt: ûf einem grüenen achmardî truoc si den wunsch von pardîs bêde wurzeln unde rîs, daz was ein dinc, daz hiez der Grâl, erden wunsches überwal (v. 235,20-24).5
Die Trägerin des Grals ist Repanse de Schoye, das Vorbild all derer, die dem Gral dienen dürfen: wol muoser kiusche sîn bewart, / die sîn ze rehte solde pflegn: / die muose valsches sich bewegn (v. 235,28-30). Die Gralsträgerin ist nicht nur ohne Fehl und Tadel, sondern auch keusch und jungfräulich (vgl. v. 236,20). Ihre Wirkung auf Parzival, der ihren Mantel trägt, ist hypnotisierend. Statt dem Gefäß, das sie trägt, seine Aufmerksamkeit zu schenken, betrachtet der Ritter einzig die schöne Trägerin selbst (vgl. v. 236,12-15). Nachdem alle Damen den Raum durchschritten haben, beginnt mit der Ankunft des Grals das Mahl. Dieses wird an über hundert Tischen aus goldenen und silbernen Gefäßen eingenommen und übertrifft an Fülle, Vielfalt und Pracht alle Erwartungen. Immer wieder wird betont, dass die Herrlichkeit des Mahls und der Prozession nur einen Grund und Ursprung hat – den Gral: wan der grâl was der sælden fruht, / der werlde süeze ein sölh genuht, / er wac vil nâch gelîche / als man saget von himelrîche (v. 238,21-24).6 Die geballte Pracht und die Wunder, die sich um ihn ereignen, bemerkt Parzival zwar, aber eingedenk des Frageverbots seines Lehrers Gurnemanz und aus Gründen der zuht (v. 239,10) wagt er nicht, sich nach den Vorgängen zu erkundigen (vgl. v. 5
An dieser Stelle wird der Gral das erste Mal in der deutschen Literatur genannt; vgl.
6
Vgl. als weitere Belegstellen: v. 238,10-17 oder v. 239,5.
Bumke (2004), S. 67.
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239,8-17, v.a. 13): ich solte vil gevrâgen niht. Der Ritter beschließt wortlos herauszufinden, was es mit dem Gral auf sich hat. Dass dies die falsche Entscheidung ist, erweist sich erst später. Noch ist Parzival nicht einsichtig und sensibel genug, um die Indizien des Jammers, der mysteriösen Prozession und des Speisewunders zum Anlass zu nehmen, die alles entscheidende Frage zu stellen. Auch der Erzähler kommentiert Parzivals Versagen: ôwê daz er niht vrâgte dô! (v. 240,3). Der Held habe es versäumt, sich selbst und dem kranken Burgherren Leid zu ersparen (vgl. v. 240,3-9).7 Nun trägt ein Knappe ein Schwert herein, das von reicher Machart ist und dem Hausherren gehört, der es Parzival überreicht (vgl. v. 239,20-240,2). Nach dem Mantel erhält der Ritter somit ein zweites symbolisches Herrschaftszeichen, die „Schwertübergabe hat fast den Charakter einer Inthronisation“.8 Nachdem die Tafeln abgetragen sind, wird der Gral in ein Nebenzimmer gebracht, in das Parzival einen kurzen Blick werfen kann. Dieser genügt ihm um festzustellen, dass darin der schönste Mann der Welt sitzt (vgl. v. 240,25ff.). Noch einmal wird die Wirkung von Parzivals Schönheit vorgeführt. In einem Schlafzimmer wird der Ritter entkleidet und seine nackten, wohlgeformten Beine (vgl. v. 243,16), die jeden Ritter besonders begehrenswert machen, werden hervorgehoben. Der Raum ist von Schönheit erfüllt: Schön sind die Edelknaben, die Parzival entkleiden, die vier Jungfrauen sowie der Ritter selbst. Die Jungfrauen, die in der Hoffnung auf Parzivals Gesellschaft gekommen sind (vgl. v. 243,30f.), lösen eine bereits bekannte schamhafte Reaktion aus. Der nackte Parzival springt eilends unter die Bettdecke (vgl. v. 243,28f; v. 244,2f.), doch trotz seiner flinken Reaktion haben die Mädchen einen Blick auf seine weiße Haut erhaschen können. Der kurze Blick genügt, um ihr Begehren auszulösen: daz man gein liehter varwe zilt, daz begunde ir ougen süezen, ê si enpfiengen sîn grüezen. ouch fuogten in gedanke nôt, daz im sîn munt was sô rôt unt daz vor jugende niemen dran kôs gein ein halber gran (v. 244,4-10).
Die Reaktion des schamhaften Parzival, der seine Nacktheit unter der Bettdecke verstecken will, ähnelt entsprechender Szene in der Gurnemanz-Episode, als er sich 7
Als Parzival sich ins Bett begeben will, weist der Erzähler erneut in die Zukunft und auf das Leid hin, das sich anbahnt, wenn der Ritter und der Hausherr so auseinandergehen. Vgl. v. 242,16-18.
8
Bumke (2004), S. 6.
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beim Bad nicht aus der Wanne erheben wollte, um nicht zu viel von sich zu zeigen. Auch gleicht das Begehren der Jungfrauen im Schlafzimmer demjenigen der Mädchen im Bad. Beide Male sind die helle varwe von Parzivals Haut und das Rot seiner Lippen Auslöser der Sehnsucht. Außerdem spielt seine Jugend, die am fehlenden Barthaar erkennbar ist (v. 244,9f.), eine wichtige Rolle. Parzivals engelsgleiche Erscheinung löst Begehren aus. Selbst die Jungfrauen, die aufgrund ihrer Keuschheit und Unschuld auf der Gralsburg zum Dienst berufen sind, sind davon nicht ausgenommen. In der Nacht wird Parzival von Albträumen geplagt, die ebenso prophetisch sind wie Herzeloydes Drachentraum (vgl. v. 245,7). Der Ritter träumt von künftigem Leid und Unglück (vgl. v. 245,4). Der nächste Morgen bringt tatsächlich ein böses Erwachen. Als Parzival aufsteht, ist weit und breit kein Mensch zu sehen. Bevor er die Burg verlässt, durchsucht er alle Zimmer (vgl. v. 247,1ff.), doch antwortet niemand auf sein Rufen. Erzürnt steigt er auf sein Pferd und reitet zum Burgtor hinaus. In dem Moment, in dem er die Zugbrücke verlassen hat, wird diese hochgezogen und ein Knappe verflucht ihn aufgrund seiner Ignoranz (vgl. v. 247,26-30). Nachdem Parzival die Gralsburg verlassen hat, begegnet er seiner Cousine Sigune ein zweites Mal (vgl. v. 249,26ff.). Sie klärt den Helden über die Geschenisse auf. Die Burg werde Munsalvæsche genannt (v. 251,2) und das Land, auf dem sie stehe, heiße Terre de Salvæsche (v. 251,4). Die Herrscherfamilie sei die des Stammvaters König Titurel (vgl. v. 251-20). Sigune zählt nur die männlichen Mitglieder der Gralsfamilie auf (Titurel, Frimutel, Trevrizent, Anfortas), die weiblichen – auch Herzeloyde und sich selbst – spart sie aus. Erst später erfährt Parzival, dass ihn seine Cousine auch über die mütterliche Genealogie aufgeklärt hat. Sigune geht davon aus, dass der Ritter den Kummer, der auf der Burg herrscht, sofort erkenne werde, wenn er erst einmal dort gewesen sei (vgl. v.251,21-24). Parzival enttäuscht Sigunes Hoffnung jedoch: ich hân gevrâget niht (v. 255,1). Voller Zorn verflucht Sigune den Ritter und prophezeit ihm, dass er seines Lebens nicht mehr froh werde (vgl. v. 255,17-20). Sie beendet das Gespräch und weigert sich, weiter mit Parzival zu sprechen. Dieser wird nicht nur mit seinem Versäumnis auf der Gralsburg konfrontiert, sondern auch mit einem weiter in der Vergangenheit zurückliegenden Vergehen. Gleich nach der Begegung mit Sigune trifft er auf eine Frau, die sich in einem jämmerlichen Zustand befindet. Sie ist an ein Pferd gefesselt und ihre Kleidung besteht nur aus Lumpen und Fetzen. Es handelt sich um Jeschute, die aufgrund von Parzivals früheren Übergriffen den Quälereien ihres Ehemannes Orilus ausgesetzt ist.9 Im erschütternden Anblick Jeschutes trifft Parzival die „schmerzliche Erkenntnis, dass er, ohne es zu wollen, einem Menschen schweres Leid zuge9
Namentlich wird Jeschute zwar erst in v. 262,25 benannt. Aber durch die Schilderung des Schicksals der geschundenen Dame und durch die Nennung ihres Ehemannes Orilus (vgl. v. 260,25) wird schon zuvor deutlich, um wen es sich handelt.
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fügt hat“.10 Um Jeschute von ihrem Leiden zu erlösen und seine Schuld zu begleichen, fasst der Ritter den Plan, sie mit ihrem Ehemann zu versöhnen. Indem er auf eine geweihte Reliquie schwört, dass weder er noch Jeschute ihren Ehemann Orilus hintergangen haben, kann er die Eheleute wieder vereinen (vgl. v. 270,5ff.). Die Wiedergutmachung des Versäumnisses gegenüber dem Gralskönig fällt schwerer. Fünf Jahre muss Parzival leiden, bevor es ihm gelingt, den Gral ein zweites Mal zu sehen. Vorerst wird Parzival selbst zum Objekt einer Suche. König Artus möchte ihn, den am Hof alle als den Roten Ritter kennen, einladen, Mitglied der Tafelrunde zu werden (vgl. v. 280,1-18). Parzival weiß von diesen Plänen nichts. Während er durch frischen Schnee reitet, fallen vor ihm drei Blutstropfen in das Weiß. Der Anblick nimmt Parzival gefangen (vgl. v. 282,20ff.).11 Der Farbkontrast erinnert ihn an Condwiramurs und seine Gedanken kreisen nur noch um sie: Cundwier âmûrs, sich mac für wâr disiu varwe dir gelîchen. mich wil got sælden rîchen, sît ich dir hie gelîchez vant […] Condwîr âmûrs, hie lît dîn schîn. sît der snê dem bluote wîze bôt, und ez den snê sus machet rôt, Cundwir âmûrs, dem glîchet sich dîn bêâ curs: des enbistu niht erlâzen. (v. 282,28-283,9)12
Parzival ordnet die drei roten Tropfen den Wangen und dem Kinn seiner Ehefrau zu (vgl. v. 283,10-13) und verfällt in Liebestrance. Unbewegt und in Gedanken versunken verharrrt er vor den Blutstropfen (vgl. v. 283,14-17). In den Farben Rot und Weiß überlagern sich vielfache symbolische Bezüge: Neben dem in allen höfischen Romanen bekannten Zustand von Verliebten, die erröten und erbleichen, überlagern sich im Gegensatz von warmem Blut und kaltem Schnee zudem geschlechtliche Assoziationen. Die Kälte wird dem weiblichen, die Wärme dem männlichen Ge10 Bumke (2004), S. 69. 11 Vgl. Bumke (2004), S. 72; Johnson, Peter L.: „Die Blutstropfenepisode in Wolframs Parzival: Humor, Komik und Ironie.“ In: Gärtner, Kurt/Heinzle, Joachim (Hg.) Studien zu Wolfram von Eschenbach. Festschrift für Werner Schröder. Tübingen 1989, S. 307-320. 12 Die Blutstropfen-Szene ist eine der am häufigsten interpretierten Szenen des Parzival; vgl. zusammenfassend Bumke (2004), S. 72f.; ausführlich: ders.: Die Blutstropfen im Schnee. Über Wahrnehmung und Erkenntnis im Parzival Wolfram von Eschenbachs. Tübingen 2001, S. 1f., FN 1.
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schlecht zugeordnet. Die Farbe des Bluts kann im Hinblick auf Lippen- und Wangenrot mit dem weiblichen Geschlecht in Verbindung gebracht werden, aber – wie bereits gezeigt wurde – ebenso für die Schönheit des männlichen Gralssuchers stehen. Für Parzival sind die Blutstropfen im Schnee eindeutig. Sie erinnern ihn an die Liebe zu seiner Frau: diu starke minne sîn dâ wielt, sölhe nôt fuogt im sîn wîp. dirre varwe truoc gelîchen lîp von Pelrapeir diu künegin: diu zuct im wizzenlîchen sin (v. 283,18-22).
Parzivals Anfall ähnelt den Ohnmachten und krankhaften Zuständen, die auch Lancelot im Prosa-Lancelot aufgrund seiner Sehnsucht nach Ginover befallen. In beiden Fällen ist Liebe der Auslöser, doch passen die Folgen nicht in höfische Konventionen und werden von Außenstehenden nicht verstanden. So erregt Parzivals Erstarrung die Kampflust zweier Artusritter. Zuerst versucht Segramors vergebens, Parzival zu besiegen. Obwohl dieser in seiner Liebestrance nichts hört und sieht und weder auf Ansprache noch auf Angriff reagiert (vgl. v. 287,5ff.), besiegt er Segramors (vgl. v. 288,15ff.). Parzival ist durch den Kampf noch nicht zur Besinnung gekommen, sondern reitet sogleich wieder zu den Blutstropfen und versinkt erneut in Gedanken an seine geliebte Frau: Parzivâl reit âne vrâgen / dâ die bluotes zäher lâgen. / do er die mit den ougen vant, / frou minne stricte in an ir bant (v. 288,27-30).13 Nach Segramors versucht der Artusritter Keie sein Glück gegen Parzival, doch ihm ist auch kein Sieg vergönnt.14 Nach dieser Auseinandersetzung verfällt Parzival wiederum in Liebestrance. Aber dieses Mal mischen sich in die Erinnerungen an seine geliebte Condwiramurs Gedanken an den Gral (vgl. v. 296,5f.). Die Abwesenheit der Ehefrau und das Versagen vor dem Gral fügen dem Ritter in 13 Immer wieder betont der Erzähler die Macht der Liebe: zum einen beispielhaft an der Verbindung zwischen Parzival und Condwiramurs (vgl. u.a. v. 290,26-30 oder v. 294,9f.) und zum anderen allgemeiner in seinem Minneexkurs (vgl. v. 291,1-293,16). Zur Macht der Minne in der Blutstropfenszene vgl. Mertens Fleury, Katharina: „Zur Poetik von ratio und experimentia in der Blutstropfenszene im ‚Parzival‘ von Wolfram von Eschenbach.“ In: Haubrich, Wolgang/Lutz, Eckart Conrad (Hg.): Reflexion und Inszenierung von Rationalität in der mittelalterlichen Literatur. Blaubeurer Kolloquium 2006. Wolframstudien XX. Berlin 2006, S. 73-94. 14 Die Schilderung der Kämpfe gegen die beiden Artusritter unterbricht der Erzähler mit seinem ersten ausgedehnten Exkurs über die Liebe (v. 291,1-293,17), zwei weitere Minneexkurse finden sich im Gawan-Teil des Parzival (vgl. v. 532,1-534,8 und v. 585,5587,14). Vgl. auch: Bumke (2004), S. 163f.
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gleichem Maße Leid zu: sîne gedanke umben grâl / unt der küngîn glîchiu mâl, / iewederz was ein strengiu nôt (v. 296,5-7). Parzival erkennt, dass die Liebe zu Condwiramurs und die Verpflichtung gegenüber dem Gral zusammengehören:15 „In der Gedankenverlorenheit der Blutstropfenszene hat Parzival das Doppelziel seines Lebens erkannt: wîp und grâl sind die Leitbegriffe, die hier zum ersten Mal zusammen genannt sind und die von da an den Weg seiner Selbstverwirklichung bestimmen.“16 Bumke erachtet beide Ziele, das Finden der Ehefrau und des Grals, als gleichberechtigt, da Parzival Condwiramurs und dem Gral stets dieselbe Relevanz zumisst (vgl. v. 389,10-12 und v. 441,10-14).17 Weiterhin betont Bumke die wechselseitige Abhängigkeit der beiden Ziele. Parzivals Wiedersehen mit seiner Ehefrau ist abhängig vom Erfolg in der Gralssuche. Dies ist ein Indiz dafür, dass das Begehren nach dem Gral einen höheren Stellenwert einnimmt und die Ehe des Helden wie ausgesetzt wirkt. Außerdem erfahren die Liebestrance und das Sehnen Parzivals eine Steigerung. Zwar kommt ihm aufgrund des Blutes und der Farbe Rot seine Frau in den Sinn und die Liebe hat ihn ganz und gar ergriffen, doch dann mischt sich in die Sehnsucht nach seiner Frau der Gedanke an den Gral. Dieses Begehren steht demjenigen nach der Frau nicht nach, sondern übertrifft es noch. Der Gralssucher selbst legt die Reihenfolge fest: mîn hôhstiu nôt ist umben grâl; / dâ nâch umb mîn selbes wîp (v. 467,26f.). Obwohl Parzival der Wunsch seine Frau wiederzusehen umtreibt, tritt sie hinter dem Begehren nach dem Gral zurück und erst wieder in Erscheinung, nachdem der Gral erlöst ist. Für den Erfolg der Gralssuche ist es von Vorteil, dass Parzival verheiratet und Conwiramurs treu ist. Indem das heterosexuelle Begehren des Gralssuchers aufgeschoben und durch eine keusche Ehe ersetzt wird, kann er sich auf sein wahres Ziel, den Gral, konzentrieren. Nachdem weder Segramors noch Keie etwas gegen Parzival ausrichten konnten, versucht sich Gawan, Artus ތNeffe, an dieser Aufgabe. So wird der zweite Protagonist des Parzival eingeführt (vgl. v. 300,1ff.).18 Dieser stellt sich gewitzter an als seine Vorgänger, denn er spricht Parzival verständnisvoll an (vgl. v. 300,24ff.). Auch Gawan kennt die Macht der Liebe: der tavelrunder hôhster prîs Gâwân was solher nœte al wîs: er het se unsanfte erkant, do er mit dem mezzer durh die hant
15 Bumke (2004), S. 74. 16 Bumke (2001), S. 49. 17 Vgl. Bumke (2001), S. 48f. 18 Auf die Gawan-Bücher wird im folgenden Kapitel II.3.1.2 Bezug genommen. Zur einführenden Literatur zur Gawan-Figur vgl. Bumke (2004), S. 268f.
138 | DIE MITTELALTERLICHEN GRALSROMANE stach: es twang in minnen kraft unt wert wîplîch geselleschaft (v. 301,8-12)
Im Gegensatz zu den anderen Artusrittern versteht er die Verbindung zwischen Parzivals ungewöhnlichem und unhöfischem Verhalten und seiner Liebe (vgl. v. 301, 22ff.). Er bedeckt die drei Blutstropfen mit einem Tuch und sofort erwacht Parzival aus seiner Versunkenheit (vgl. v. 302,3ff.). Gawan befreit den neuen Freund und Gefährten aus seiner Liebestrance und führt ihn an den Artushof zurück. König Artus empfängt Parzival seiner Schönheit und seinem Adel gemäß. Er erhält von Cunneware einen Mantel, der auf seine Erwähltheit verweist (vgl. v. 306,10-20).19 Die Artusgesellschaft nimmt ihn als vollwertiges Mitglied auf: „Die Integration in die Artusgesellschaft ist abgeschlossen, die Eingliederung in die Gralsgesellschaft steht noch aus.“20 Auch am Artushof erregt die Schönheit des bartlosen (vgl. v. 307,7), prächtig gekleideten Jünglings das Begehren aller, die seiner ansichtig werden: swer in sach, man oder wîp, / die heten wert sînen lîp (v. 307,11f.).21 Parzivals Wirkung auf die Mitglieder des Artushofs wird wiederholt betont. Er tritt engelsgleich auf und erregt die Liebe aller.22 Auch seine Jugend trägt zu dieser Wirkung bei (vgl. v. 311,10ff.). Die Farbe seiner Lippen, seiner Wangen und seines Kinns ist vollkommen. Sein Anblick fesselt die Frauen, aber auch die Männer verfallen der „erotischen Aura“23 des Ritters: man und wîp im wâren holt. (vgl. v. 311,29). Wenn Ritter und Damen ihn in gleicher Weise begehren, so beeinflusst dies den Status seiner Männlichkeit. Parzival ist hier „nicht Subjekt, sondern Objekt des Begehrens“ und gerät „somit seinerseits in die passive Rolle“.24 In der Epiphanie seiner Schönheit schwingt eine erotische Komponente mit: „Das erotische Charisma von Parzival wird von Anfang an unmißverständlich betont.“25 Schönheit und Jugend (vgl. v. 227,28; v. 307,7) verweisen auf die Androgynität des 19 Kraß (2006a), S. 130f. 20 Parzivals Aufnahme am Artushof beweist auch die Tatsache, dass die Königin ihm den Mord an Ither, ihrem geliebten Ritter, vergibt (vgl. v. 310,27ff.). 21 Vgl. hierzu auch das Kapitel „Der schöne Ritter: Parzival.“ In: Kraß (2006a), S. 179-185, v.a. S. 180f. 22 Vgl.: dô truoc der junge Parzivâl / âne flügel engels mâl / sus geblüet ûf der erden. / Artûs mit den werden / ir herzen volge sprâchen jâ, / gein sîme lobe sprach niemen nein: / enpfieng in minneclîche. / guots willen wâren rîche / alle dien gesâhen dâ. / ir herzen volge sprâchen niemen nein: / sô rehte minneclîcher schein (v. 308,1-10). 23 Kraß (2006a), S. 183. 24 Kraß (2006a), S. 183. Außerdem ist das Begehren, das hier inszeniert wird, so Kraß weiter „die Phantasie eines männlichen Erzählers“. 25 Kraß (2006a), S. 183. Kraß schließt neben der metaphysischen Seite der Schönheit auch die physisch-sexuelle mit ein (vgl. S. 183).
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Helden.26 Die uneindeutige Geschlechtszuschreibung eröffnet die Möglichkeit, dass Parzival zum Objekt des Begehrens von Frauen wie Männern wird. Die Bewunderung, die Parzival entgegengebracht wird, ist nur von kurzer Dauer. Während des gemeinsamen Mahls taucht eine Jungfrau auf einem Maultier auf (vgl. v. 312,6ff.). Es handelt sich um Cundrie (vgl. v. 312,26), die zwar missgestaltet ist, jedoch in Kleidung und Verhalten dem höfischen Ideal entspricht: si was der witze kurtoys (v. 312,22; vgl. auch v. 313,1-314,10). Die Gralsbotin ist eine irritierende Figur. Sie hat Eberzähne, Schweineborsten, eine Hundenase, Bärenohren, Affenhaut und Löwenkrallen: über freude ez jâmer truoc. si zuct in schimpfes dâ genouc. über den huot ein zopf ir swanc unz ûf den mûl: der was sô lanc, swarz, herte und niht ze clâr, linde als eins swînes rückehâr. si was genaset als ein hunt: zwên ebers zene ir für den munt giengen wol spannen lanc. ietweder wintprâ sich dranc mit zöpfen für die hârsnuor. […] Cundrî truoc ôren als ein ber, niht nâch friundes minne ger: rûch was ir antlütze erkant. ein geisel fuorte se in der hant: dem wârn die swenkel sîdîn unt der stil ein rubbîn. gevar als eines affen hût truoc hende diz gæbe trût. die nagele wâren niht ze lieht; wan mir diu âventiure gieht, si stüenden als eins lewen klân. (v. 313,15-314,9)
Ihre Häßlichkeit bildet einen starken Kontrast zu Parzivals engelsgleicher Gestalt.27
26 Vgl. hierzu auch: „Wie bei den weiblichen Schönheitsepiphanien gehen Ästhetik, Ethik und Erotik auch im Falle Parzivals Hand in Hand.“ (Kraß (2006a), S. 183) 27 Meyer zur Capellen, Renée: „Die Frau im Hohen Minnesang und im Parzival. Ihre verborgene Funktion in Zeiten des sozialen Wandels“ In: Dies. et al.: Die Erhöhung der Frau
140 | DIE MITTELALTERLICHEN GRALSROMANE „Cundry ist von monströser Häßlichkeit, aber in Kleidung und Gesinnung vollendet höfisch. Die Inkongruenz der Erscheinung verweist in sarkastischer Umkehrung auf die Inkongruenz Parzivals in den Augen des Gralshofs: Sind sein Körper und seine Kleidung auch schön, ist seine Gesinnung doch häßlich.“28
Ihre monströse Gestalt ist Sinnbild der schlimmen Botschaft, die sie dem Artushof bringt. Die Tafelrunde und auch der König selbst haben Ruhm und Ehre eingebüßt. Allen voran ist Parzival der Grund für Cundries Fluch. Der Ritter habe kein Mitleid mit dem kranken Fischerkönig gehabt, sondern ihn in seinem Kummer belassen. Weder bei der Übergabe des Schwerts durch den Burgherren, noch beim Anblick des Grals, der Messer oder der blutenden Lanze sei es ihm eingefallen, nach den Ursachen der mysteriösen Vorgänge zu fragen (vgl. v.a. v. 316,26ff.). Cundries hässliche Erscheinung entlarvt die Schönheit Parzivals, der zuvor im Fokus der Aufmerksamkeit stand, als bloßen Schein: gunêrt sî iwer liehter schîn (v. 315,20). Dem Ritter fehlt es an triuwe und Mitleid.29 Das Gegenstück dazu ist Cundrie, deren Körper zwar nicht dem höfischen Schönheitsideal entspricht, deren Inneres jedoch den Vorschriften des Grals entsprechend keusch und rein ist und von triuwe erfüllt ist (vgl. v. 319,9):30 Cundrie stellt die traditionelle Auffassung, dass ein schönes Inneres sich im ebenso schönen Äußeren abbildet, in Frage.31 Cundrie ist ein wunderlîch geschaf (v. 319,15). Sie ist kein Mitglied der Artusgesellschaft, sondern gehört zur Gralssphäre. Gleichwohl ist sie nicht mit Parzival und der Gralsfamilie verwandt.32 Cundrie ist die Gralsbotin, die Parzival verflucht und die eigentliche Suche des Ritters auslöst. Außerdem ist sie die einzige Figur, die sich ohne größere Schwierigkeiten zwischen Gralsbereich und Artushof bewegen kann. Der Gralssucher muss dagegen leidvoll erfahren, dass der Gral sich nicht durch ritterliche Bewährung erringen lässt: jane mac den grâl nieman bejagn, / wan der zu himel ist sô bekant / daz er zem grâle sî benant (v. 468,12-14). Alle Mitglieder der – Psychoanalytische Untersuchungen zum Einfluss der Frau in einer sich transformierenden Gesellschaft. Frankfurt am Main 1993, S. 23-144, hier: S. 123. 28 Kraß (2006a), S. 131, FN 113. 29 Vgl. Bumke (2004), S. 76. 30 Vgl. Böhland, Dorothea: „Integrative Funktion durch exotische Distanz. Zur CundrieFigur in Wolframs Parzival.“ In: Gaebel, Ulrike/Kartschoke, Erika: Böse Frauen – Gute Frauen. Darstellungskonventionen in Texten und Bildern des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. 2001, S. 45-58, hier S. 47. 31 Vgl. Assunto, Rosario: Die Theorie des Schönen im Mittelalter. Köln 1996. 32 Vgl. hierzu Böhland (2001), S. 51. Vgl. auch Kasten, Ingrid: „Häßliche Frauen in der Literatur des Mittelalters.“ In: Lundt, Bea (Hg.): Auf der Suche nach der Frau im Mittelalter. Fragen, Quellen, Antworten. München 1991, S. 255-276, hier S. 261.
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Gralsgesellschaft müssen zum Gral berufen werden (vgl. v. 470,21ff.). Auch in dieser Hinsicht bildet Cundrie eine Ausnahme. Die Mobilität der Gralsbotin hängt mit einem weiteren Charakteristikum zusammen, das wiederum auf ihre Hässlichkeit rekurriert: „Cundrie ist von jeglichem minne-Dienst ausgeschlossen“,33 sie ist nicht Ziel des Begehrens von Rittern. Cundries hybride Erscheinung zwischen Mensch und Tier wirkt sich auf ihre Geschlechtsidentität aus.34 Man kann sie in doppelter Hinsicht als Mischwesen bezeichnen: aufgrund der Diskrepanz zwischen missgebildetem Äußeren und höfischem Inneren sowie aufgrund ihrer tiermenschlichen Gestalt.35 Hinzu kommt ein weiterer Aspekt: Cundrie steht zwischen Orient, aus dem sie kommt, und Okzident, in dem sie lebt. Auch das Fehlen einer minneBindung – sonst stets konstitutiver Bestandteil der Geschlechtsidentität einer höfischen Dame – macht Cundries Geschlechtszuschreibung uneindeutig. Böhland folgert: „Angesichts ihrer fehlenden minne-Fähigkeit stellt sich die Frage, ob uns in Cundrie eine weibliche oder eher eine androgyne Figur gegenübertritt“36. Oder möglicherweise sogar eine geschlechtsneutrale? Obwohl Cundrie mit Bezeichnungen wie meide, juncvrouwe, maget und dem Beinamen la surziere versehen wird (vgl. v. 312,27; v. 319,1; v. 439,1),37 trägt sie doch für Frauen ungewöhnliche Züge. Cundries ausgewiesene Kenntnisse in Astronomie, Sprachen und Heilkunde (vgl. v. 312,20ff.) sind sonst eher Männern vorbehalten. Böhland bemerkt zudem, dass, im Gegensatz zu den Beschreibungen anderer Frauen, bei der Gralsbotin keine sekundären Geschlechtsmerkmale, wie beispielsweise Brüste, genannt werden. Trotz der fehlenden Weiblichkeitsattribute möchte sie Cundrie die Identität als Frau aber nicht absprechen.38 Meines Erachtens sollte die zwielichtige Erscheinung der Gralsbotin und ihr heteronormativitätskritisches Potential stärker betont werden.39 Böhland versäumt beispielsweise eine tiefergehende Analyse der Cundrie-Figur im Hinblick auf ihre Widerständigkeit. Sie vergleicht zwar die (geschlechtliche) Zeichnung der Figur der Gralsträgerin im Parzival von Wolfram von Eschenbach mit derjenigen im Parsifal 33 Böhland (2001), S. 51f. Dazu, dass kein Ritter jemals um Cundries Gunst gekämpft hat, vgl. nâch ir minn was selten tjost getân (v. 314,10). 34 Vgl. zur Hybridität von Cundrie auch das entsprechende Kapitel in Ackermann (2009), S. 185ff. Vgl. v.a. ebd. 188f. (und FN 495). 35 Vgl. Böhland (2001), S. 55. 36 Böhland (2001), S. 52, FN 34. Leider bringt Böhland diesen wichtigen Aspekt der Cundrie-Figur nur in einer Fußnote, deswegen wird dieser Zusammenhang hier genauer betrachtet. 37 Böhland (2001), S. 52f., FN 34. 38 Böhland (2001), S. 52f., FN 34. 39 Vgl. zu einer ausführlicheren Betrachtungen von Cundries Geschlechtskörper sowie dessen Hybridität bei Ackermann (2009), v.a., S. 191f.
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von Richard Wagner. Die interessanten Facetten werden allerdings nur angedeutet. Böhland benennt bekannte Klischees der Figur, nämlich dass die Faszination der Kundry in ihrem Changieren zwischen „dämonisch-dekadenter Verführerin“ und „sich unterwerfender Gralsdienerin“ begründet sei,40 bleibt somit an der Oberfläche. Man muss eigentlich weiter gehen: Cundries ‚männliche‘ Eigenschaften, ihre Jungfräulichkeit sowie ihre Position zwischen Mensch und Tier wirken sich auf ihre geschlechtliche Identität aus. Diese ist nicht eindeutig und hindert sie daran, Objekt des ritterlichen Begehrens zu werden.41 An ihrer Figur, die dem normativen Schönheitsideal widerspricht,42 lässt sich zeigen, dass Geschlecht nicht nur bei der Gralssippe im engeren Sinne, sondern auch bei allen der Gralssphäre angehörigen Figuren uneindeutig verhandelt wird: „Ihr [Cundries] hybrider Körper veranschaulicht einerseits geschlechtsspezifische Differenzen, bewirkt andererseits aber auch Irritation, begeht eine Grenzüberschreitung geschlechtsspezifischer Festschreibungen der Zeit.“43 Nach Cundries Verfluchung rechtfertigt sich Parzival für seine Taten und äußert den Entschluss, nicht eher zu ruhen, als bis er den Gral gefunden hat: ine wil deheiner freude jehn, ine müeze alrêrst den grâl gesehn, diu wîle sî kurz oder lanc. mich jaget des endes mîn gedanc: dâ von gescheide ich nimmer mînes lebens immer. (v. 329,25-30)
Parzivals Ziel vor Augen betont der Erzähler die Rechtmäßigkeit seines Verlangens nach dem Gral, denn der Ritter ist mütterlicherseits der Gralsgesellschaft zugehörig: schildes ambet umben grâl / wirt nu vil güebet sunder twâl / von im den Herzeloyde bar. / er was ouch ganerbe dar. (v. 333,27-30). 2.1.2 Die Entmannung in der Gralssphäre Die jahrelange Gralssuche Parzivals wird als leidvolle Zeit charakterisiert, die vom Hass des Ritters gegen Gott bestimmt ist. Nach seiner Verfluchung durch Cundrie sagt er sich von Gott los: nu wil i’m dienst widersagn: / hât er haz, den wil ich tragn (v. 332,7f.). Parzival macht Gott für sein Versagen gegenüber Anfortas verantwortlich, da er ihm auf der Gralsburg nicht beigestanden habe (vgl. v. 332,1-8). 40 Böhland (2001), S. 56. 41 Kasten bezeichnet Cundries „Virginität“ als charismatisch und ihre Hässlichkeit als deren „Denunziation“ (vgl. Kasten (1991), S. 214). 42 Vgl. auch Kasten (1991), S. 276. 43 Ackermann (2009), S. 192.
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Die erfolglose Suche nach dem Gral mündet in Jammer und Leid, wie Parzival seiner Cousine Sigune bei der dritten Begegnung bestätigt (vgl. v. 435,1ff.): dâ hân ich freude vil verlorn. / der grâl mir sorgen gît genuoc (v. 441,4f.). Die Erfahrung von Leid ist eine der Haupteigenschaften der gesamten Gralssippe. Das zeigen auch die schmerzvollen Erfahrungen von Herzeloyde und Sigune wegen des Verlusts ihrer jeweiligen Geliebten und ebenso den Jammer des Gralskönigs aufgrund seiner Krankheit. Oft spielt die Verkettung von Schuld oder Sünde und folgendem Leid eine große Rolle, v.a. im Fall Parzivals.44 Nachdem Parzival seine Cousine um Hilfe gebeten hat, rät diese ihm, den Spuren von Cundries Maultier zu folgen, die den Weg zur Gralsburg zeigen. So sehr sich der Ritter auch bemüht, der Gralsbotin nachzueilen, ist er doch nicht erfolgreich und verpasst erneut eine Gelegenheit den Gral zu finden: sus wart aber der grâl verlorn (v. 442,30). Parzival ist noch nicht für den Gral bereit, er muss noch mehr über ihn, seine Umgebung und sich selbst erfahren. Parzival, der bei seiner leidvollen Suche Zeit und Orientierung verloren hat, trifft auf einen Pilger und dessen Töchter. Der graue Ritter, dem Parzival seine Lossagung von Gott gesteht und nach Zeit und Ort fragt, beschimpft den Gralssucher, weil dieser nicht wisse, dass Karfreitag sei (vgl. v. 448,7). Wegen der Begegnung mit den Pilgern an einem zentralen christlichen Feiertag wagt der Gralssucher noch einmal, Gott die Zügel seines Schicksals zu überlassen; er lenkt sein Pferd nicht mehr, sondern lässt sich von Gott führen (vgl. 452,1ff.). Sein Weg führt ihn zum Einsiedler Trevrizent. Vom kiusche[n] Mann, der in Askese lebt, soll Parzival alles über den Gral erfahren:45
44 Vgl. hierzu Mertens Fleury, Katharina: Leiden lesen. Bedeutungen von compassio um 1200 und die Poetik des Mit-Leidens im ‚Parzival‘ von Wolfram von Eschenbach. Berlin 2006. Zur Schuldproblematik von Parzival vgl. Bumke, Joachim: „Parzivals Sünden und der Gral.“ In: Ders. (2004); Mohr, Wolfgang: „Parzival’s Knightly Guilt.“ In: Groos, Arthur/Lacy, Norris J.: Perceval/Parzival. A Casebook. New York/London 2002, S. 139154; Green, Dennis: „Parzival’s Failure (Books V und VI).“ In: Groos/Lacy (2002), S. 155-174. 45 Auch der Erzähler nutzt, die Gelegenheit den Leser_innen mitzuteilen, woher er die Geschichte des Grals hat. Meister Kyot fand in Toledo die Urfassung der Geschichte des Grals, verfasst von einem heidnischen Flegetanis (vgl. v. 453,1ff.). Das Ding mit Namen grâl (v. 454,21) sei von Engeln auf die Erde gebracht worden, und deswegen dürften nur besonders edle und reine Menschen um diesen sein (vgl. v. 454,12ff.). Kyot selbst habe dann weiter nachgeforscht und die Mitglieder der Gralsfamilie ausfindig gemacht: Titurel, dessen Sohn Frimutel, den amtierenden Gralskönig Anfortas und dessen Schwester Herzeloyde (vgl. v. 455,13ff.).
144 | DIE MITTELALTERLICHEN GRALSROMANE der hêrre sich bereite gar gein der himelischen schar. mit vaste er grôzen kumber leit: sîn kiusche gein dem tievel streit. an dem ervert nu Parzivâl diu verholnen mære umben grâl. (v. 452,25-30)
Der Eremit erzählt Parzival zunächst aus seiner eigenen Vergangenheit. Auch er sei einst Ritter gewesen. Wie alle anderen Ritter habe er um die Gunst der Frauen gekämpft und sündige Gedanken seien ihm nicht fremd gewesen (vgl. 458,5ff.). Aus welchen Gründen er sich für ein asketisches Leben entschied, wird noch nicht deutlich. Parzival erzählt dem Eremiten von den Sorgen, die ihn umtreiben: Er hat alle Freude verloren (vgl. v. 461,1f.) und hadert mit Gott (vgl. v. 461,9ff.). Trevrizent versucht, den Ritter von Gottes triuwe (vgl. v. 462,19) zu überzeugen. Er erzählt Parzival die Geschichte der Menschheit von Anbeginn an. Die größte Sünde, die die Menschheit begangen habe, sei der Mord Kains an seinem Bruder Abel. Durch das vergossene Blut habe Kain seiner Großmutter, der Erde selbst, die Jungfernschaft geraubt: daz er durch gîteclîchen ruom / sîner anen nam den magetuom (v. 463,25f.). Somit stellt sich die Tat „nicht nur als Brudermord, sondern als Vergewaltigung der nächsten Verwandten“ dar.46 Die Bewertung der Kainstat eröffnet interessante Aspekte: Zum einen lässt sich die Vorstellung, dass die Erde jungfräulich und (groß-)mütterlich zugleich sei, mit der Idee der keuschen Empfängnis Marias verbinden. Zum anderen wird das sündige Verhalten Kains mit einer gewaltsamen Entjungferung verglichen, die sich auf eine Verwandte richtet. Aus dem Hinweis auf die inzestuöse Dimension folgt, dass seit Anbeginn der Zivilisation und Gründung der Gralssippe Jungfernschaft keineswegs im Mittelpunkt steht. Enthaltsamkeit ist die höchste Tugend (vgl. v. 464,23ff.).47 Bereits in dieser ersten Ge46 Brinker-von der Heyde, Claudia: „Familienmodelle in mittelalterlicher Literatur: ein Überblick.“ In: Dies./Scheuer, Helmut (Hg.): Familienmuster – Musterfamilien. Zur Konstruktion von Familien in der Literatur. Frankfurt am Main et al. 2004, S. 13-30, hier S. 25. 47 Die Wichtigkeit von Reinheit und Enthaltsamkeit entnimmt man nicht nur Trevrizents Hinweisen, hervorstechend ist zudem auch die Häufung der Ausdrücke rund um das Wortfeld „Jungfrau“ in den v. 463,26-464,30: sîner anen nam den magetuom (v. 463,26f.); von wem was der man erborn, / von dem sîn ane hât verlorn / den magetuom […] (v. 464,4-6); dannoch was diu erde ein magt (v. 464,13); dô ûf die reinen erdenz bluot / viel, ir magetuom was vervarn (v. 464,18f.); in der werlt doch niht sô reines ist, / sô diu maget ân valschen list. / nu prüvet wie rein die meide sint: / got was selbe der meide kint. / von meiden sint zwei mennisch komn. /got selbe anlütz hât genomn / nâch der êrsten meide fruht: / daz was sînr hôhen art ein zuht (v. 464,23ff.).
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schichte, die Parzival vom Eremiten erfährt, finden sich queere Nuancen. Der Diskurs über die keusche und exklusive Herkunft der Gralsfamilie wird von einem Begehren, das sich der Norm entzieht, überschattet. Nach Trevrizents Ausführungen über Gottes und Jesu Treue gegenüber den Menschen konkretisiert Parzival den Grund seines Leidens: mîn hôhstiu nôt ist umben grâl; / dâ nâch umb mîn selbes wîp / […] / nâch den beiden sent sich mîn gelust (v. 467,26-30). Nun erfährt Parzival von dem Klausner mehr über die Wirkungen des Grals. Zunächst ermahnt Trevrizent den Ritter, die erste Regel im Umgang mit dem Gral zu beachten. Der Gral lasse sich nicht erstreiten, sondern berufe die Menschen zu sich: jane mac den grâl nieman bejagn, / wan der ze himel ist sô bekant / daz er zem grâle sî benant (v. 468,12-14). Statt zuzugeben, dass er schon auf der Gralsburg war, fragt Parzival den Eremiten nach seinen Erfahrungen mit dem Gral. Trevrizent bestimmt den Gral näher. Was bislang nur als dinc (v. 235,23) bezeichnet wurde, nimmt nun spezifische Form an. Es handelt sich um einen Stein (v. 469,28: der stein ist ouch genant der grâl), der lapsit exillîs (v. 469,6) heißt. Im Folgenden erklärt der Eremit die lebenserhaltenden Kräfte des Steins. Er sei der Grund, warum der Vogel Phönix zu Asche verbrenne und zu neuem Leben erweckt werde. Eine ähnliche Wirkung habe der Gral auch auf die Menschen. Wenn sie ihn erblicken dürften, so können sie eine Woche lang nicht sterben, und während dieser Zeit werde auch ihre äußerliche Erscheinung keinerlei Schaden nehmen. Diejenigen, denen es erlaubt sei, den ‚Stein‘ immer wieder aufs Neue anzublicken, können daher nicht mehr altern: ouch wart nie menschen sô wê, swelhes tages ez den stein gesiht, die wochen mac ez sterben niht, diu aller schierst dar nâch gestêt. sîn varwe im nimmer ouch zergêt: man muoz im sölher varwe jehn, dâ mit ez hât den stein gesehn, ez sî maget ode man, als dô sîn bestiu zît huop an, sæh ez den stein zwei hundert jâr, im enwurde denne grâ sîn hâr. selhe kraft dem menschen gît der stein, daz im fleisch unde bein jugent enpfæht al sunder twâl. der stein ist ouch genant der grâl. (v. 469,14-28)
Trevrizent erklärt weiter, dass jedes Jahr am Karfreitag eine Taube eine Oblate auf den Stein lege, die dessen Kraft begründe (vgl. v. 470,1ff.). Der Gral sei der Inbe-
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griff des Paradieses (vgl. v. 470,14).48 Die Berufung in die Gralsgemeinschaft erfolge durch eine Inschrift, die auf dem Stein erscheine und zum Dienst beim Gral erwähle. Hier zeigt sich schon, dass die Gralsgesellschaft im Unterschied zur Artusgesellschaft ihren Fortbestand nicht auf Fortpflanzung gründet.49 Da Jungfräulichkeit, Keuschheit und Enthaltsamkeit die höchsten Werte dieser Gemeinschaft sind, basiert der Fortbestand nicht auf Sexualität. Die Verteidigung der Gralsgesellschaft und die Wahrung der versteckten Existenz des Grals übernimmt die Bruderschaft der Tempelritter (vgl. v.473,5ff.; vgl. v. 468,28). Parzival offenbart Trevrizent seine Abstammung von Gahmuret und seine Schuld am Tod Ithers (vgl. v. 475,8f.). So erkennt ihn der Eremit als Sohn seiner Schwester und erfährt von den Sünden des Ritters. Parzival hat mit Ither wider besseres Wissen einen Verwandten erschlagen. Außerdem hat er den Tod seiner Mutter verursacht (v. 476,25-30). Parzivals unwissentlich begangene Sünden, werden seiner seiner tumpheit, d.h. seiner fehlenden Fähigkeit zur Reflexion zugeschrieben. Die beiden Vergehen lähmten Parzival beim Gral und vor seinem verletzten Onkel Anfortas die Zunge.50 Nachdem Trevrizent seinem Neffen von der restlichen Familie mütterlicherseits erzählt hat, kommt er auch auf seinen Bruder, den verletzten Gralskönig Anfortas, zu sprechen (vgl. v. 477,19ff.). Der Gralsherr leidet an einer schlimmen Verwundung, die ihm immerwährenden Jammer und Schmerz bereitet. Anfortas hat sich die Verletzung durch sündiges Verhalten zugezogen. Er hat gegen das Gesetz eine Frau begehrt:51 48 Vgl. zum Bezug auf das Paradies, das der Gral sprichwörtlich auf Erden erschaffen kann, und dessen ‚Tischlein-Deck-Dich‘-Funktion bei Parzivals erstem Besuch auf der Gralsburg, dass der Gral das Paradies bringt (vgl. wunsch von pardîs, bêde wurzeln unde rîs, v. 235,21f.) und sogar nach individuellen Wünschen auftischt (vgl. v. 238,2ff.). 49 Eine Ausnhame bildet Condwiramurs, die als Parzivals Frau zum Gral berufen wird, aber bereits Kinder mit ihm hat. Zur Forpflanzung in der Gralsgesellschaft, vgl. auch Kapitel III.4.1 der vorliegenden Arbeit. 50 Zu einer detaillierten Liste der Forschungsliteratur über den Sünde-/Schuldkomplex von Parzival vgl. Bumke (2004) im Unterkapitel „Parzivals Sünden und der Gral“, S. 125142, v.a. S. 128. 51 An dieser Stelle offenbart sich eine weitere Eigenschaft des Grals: Er beruft alle Mitglieder seiner Gesellschaft zu sich, auch die Ehefrau des Gralskönigs. Zudem spielt Verwandtschaft eine Rolle. Die Eltern der Kinder, die zum Gral berufen werden, sind zumeist selbst schon in der Gralsgesellschaft aufgewachsen, vgl. v. 495,1-6. Beim Amt des Gralskönigs wird Berufung mit Verwandtschaft kombiniert: Sowohl beim zukünftigen Gralsherrn Parzival (vgl. v. 333,27ff.) als auch beim Anfortas (v. 477, 19ff.), wird angeführt, dass diese zu der art des Grals gehören. Vgl. dazu auch die Geschichte der Erwählung Anfortas zum Gralskönig (v. 478,1ff.) und zu den Verwandt-schaftsverhältnissen in der Gralsfamilie: Schmid (1986). Vgl. zum Verhältnis von Erbrecht und Wahl beim Amt
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swelch grâles hêrre ab minne gert anders dan diu schrift in wert der muoz es komen ze arbeit und in siufzebæriu herzeleit (v. 478,13-16)
Anfortas hat sich mit seinem Begehren der Schrift auf dem Gral widersetzt. Seine Strafe dafür war, dass ihm beim Kampf von einem Heiden, der selbst auch den Gral erstreiten wollte (vgl. v. 479,18ff.), ein vergifteter Speer in die heidruosen [Hoden] (v. 479,12) gejagt wurde. Diese Wunde ist der Ursprung quälender Schmerzen. Die lindernde Kraft des Grals verlängert Anfortas ތLeiden: Aufgrund der lebensspendenden und -erhaltenden Wirkung des Grals kann er nicht sterben und von seinen Schmerzen nicht erlöst werden (vgl. v. 481,5ff.). Jede bekannte Medizin und jedes Heilverfahren wurden bereits erfolglos an der Wunde ausprobiert (vgl. v. 481,828).52 Der Gral selbst gibt die einzige Rettungsmöglichkeit bekannt: dar solde ein rîter komn: / wurd des frâge aldâ vernomn, / sô solde der kumber ende hân (v. 483,21-23). Die Aussicht auf Erlösung ist mit einer Auflage verbunden. Niemand darf dem Ritter einen Hinweis auf seine Aufgabe geben; er muss die Frage aus eigenem Antrieb aus stellen (vgl. v. 483,25ff.). Bis dies geschieht, ist der Gralskönig – und mit ihm seine Gefolgschaft – zu einem jammervollen Dasein verurteilt. Parzival gesteht Trevrizent, dass er selbst auf der Gralsburg gewesen sei, und erkennt nun auch, dass er es seiner tumpheit zu verdanken hat, dort nicht die richtige Frage gestellt zu haben (vgl. v. 488,15-20). Sein Einsiedleronkel versucht ihn von der Möglichkeit der Reue und einer zweiten Chance im Vertrauen auf Gott zu überzeugen. Damit Parzival die Gralssphäre besser versteht und sich dieses Wissen zu Herzen nimmt, erzählt Trevrizent weiter vom Gralskönig und dessen Verwundung. Der Speer, der Parzival von der Gralsprozession bereits bekannt ist, ist das einzige Mittel, das Anfortas zeitweise Linderung verschafft: daz sper muos in die wunden sîn: / dâ half ein nôt für d’andern nôt: / des wart daz sper bluotec rôt (v.
des Gralskönigs Schu, Cornelia: „Exkurs: Parzivals Weg zum Gral.“ In: Dies. (2002), S. 287ff. Vgl. zur Genealogie im Parzival auch Kapitel II.4.1 der vorliegenden Arbeit. 52 Zu den einzelnen Gegenständen, mit denen die Heilung versucht wird, bzw. den Methoden vgl. im Original: 1.) ein Zweig: do gewunne wir daz selbe rîs / dar ûf Sibille jach / Enêas für hellesch ungemach (v. 481,30-482,2); 2.) Blut eines Vogels: ein vogel heizt pellicânus: / […] / do gewunnen wir des vogels bluot, / […] / unt strichens an die wunden (v. 482,12-21); 3.) Herz des Tieres monîcirus, ebenso wie ein Stein, der unter dessen Horn wächst: ein tier hiezt monîcirus: / […] / wir gewunn des tieres herzen / über des küneges smerzen. / wir nâmen den karfunkelstein / ûf des selben tieres hirnbein […] / wir bestrichen die wunden vorn, / und besouften den stein drinne gar (v. 482,24-483,3); 4.) ein Kraut: wir gewunn ein wurz heizt trachontê (v. 483,6).
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489,30-490,2).53 Weiter erklärt Trevrizent seinem Neffen die Regeln der Gralsgesellschaft. Es ist nur jungfräulichen und keuschen Mädchen erlaubt, den Gral zu hüten und nur ebenso reine Ritter dürfen ihn bewachen (vgl. v. 493,19ff.). Kinder aus adligen Familien werden zum Gral berufen und wachsen dann bei ihm auf (vgl. v. 494,5f.). Auf diese Weise garantiert die Gralsgesellschaft, deren höchstes Gebot die Enthaltsamkeit ist, ihr Weiterbestehen. Die jungen Männer aus des grâles schar (v. 494,10) werden heimlich in herrenlose Länder ausgesandt, um diese zu regieren. Die jungen Mädchen dagegen werden in aller Öffentlichkeit außerhalb der Gralssphäre verheiratet (vgl. v. 494,13ff. bzw. 495,1ff.). Obwohl das Gebot der Enthalsamkeit für alle Angehörigen der Gralsgesellschaft bindend ist, konzentriert sich Trevrizent auf die männlichen Mitglieder. Innerhalb der Gralsgesellschaft darf sich einzig der König eine (vom Gral benannte) Frau und Königin nehmen; auch die Ritter, die in herrenlose Länder ausgesandt werden, dürfen dort heiraten. Am Ende seiner Rede löst Trevrizent das Geheimnis des grauen Mannes, den Parzival bei seinem ersten Besuch auf der Gralsburg sah. Es handelt sich um Parzivals Urgroßvater Titurel, den Stammvater der Gralsfamilie,54 dessen schönes Erscheinungsbild der Gral konserviert hat (vgl. v. 501,22ff.). Der Aufenthalt bei Trevrizent eröffnet Parzival Erkenntnisse über das Wesen des Grals und seine Familie mütterlicherseits. Bei den Schilderungen des Eremiten wird erneut deutlich, dass auch bei Parzivals Onkel Anfortas die Geschlechtsidentität gestört ist. Der amtierende Gralskönig ist entmannt worden.55 Kastration wird im Mittelalter mit Sterilität und Impotenz verbunden,56 Männlichkeit dagegen mit Potenz und Kraft: „Potency came to be not only the way in which a male defined himself, but how he was defined by society.“57 Somit repräsentiert die Wunde des Anfortas einen Verlust an
53 Auf die Bedeutung des Speers bzw. der Lanze für die Verwundung des Gralskönigs komme ich gegen Ende dieses Abschnitts noch einmal zurück. Vgl. dazu auch Meyer zur Capellen (1993), S. 117ff. 54 Vgl. zur Geschichte Titurels auch: Wolfram von Eschenbach: Titurel. Text, Übersetzung, Stellenkommentar. Herausgegeben von Helmut Brackert, Stephan Fuchs-Jolie. Berlin, New York 2003. 55 Dass Kastration bei queeren Mittelalterforscher_innen ‚Verdacht erregt‘, ist nicht verwunderlich. So erklärt Carolyn Dinshaw in Getting Medieval zum Beispiel: „(T)he punishment for sodomy was castration for the first offense, [...] death by fire for repeat offenders – rather like pliers and a blow torch.“ (Dinshaw (1999), S. 185) 56 Vgl. McCracken (2001), S. 137. 57 Boulloug, Vern L.: „On Being a male in the Middle Ages.“ In: Clare A. Lees (Hg.): Medieval Masculinities. Minneapolis 1994, S. 31-46, hier S. 41. Vgl. auch ders., S. 4: „masculinity is equated with potency.“
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Männlichkeit und eine labile Geschlechtsidentität.58 Nach der Entmannung steht das Geschlecht des Kastrierten in Frage, weil er weder ganz männlich noch ganz weiblich ist.59 So kann man die durch die Entmannung destabilisierte Geschlechtsidentität als Effeminierung des Gralskönigs lesen. Die Wunde des Anfortas führt zur Abkehr von heteronormativem Begehren.60 Anna Klosowska zeigt, wie sich in der Figur und Wunde des Gralskönigs Geschlechtsidentitäten und (gleichgeschlechtliche) Begehrensstrukturen überlagern. Traditionelle Definitionen des Geschlechts geraten ins Wanken: „In Wolfram the wound is feminine, and masculine elements are applied to cure it, producing the ultimate paradox: the effeminate man is cured by contact with the masculine element, or (if one were willing to read the cure of Anfortas as a sexual metaphor), by having sex with a man.“61
Die Lanze, die die Schmerzen des Gralskönigs zu lindern vermag, indem sie in regelmäßigen Abständen in die Wunde gebohrt wird (vgl. v. 489, 30-491,18), ist von großem Belang. Als sie zum ersten Mal bei der Gralsprozession auftaucht, löste sie bei allen Anwesenden Jammern, Tränen und Schreien aus. Das Gefolge fühlt beim Anblick der Lanze die Schmerzen mit, die der König erleiden muss. Es ist so, als ob dem Hof des Gralskönigs die Lanze mitten ins Herz gebohrt würde (vgl. v. 493, 11f.). Die Lanze rekurriert auf die Waffe, die die Wunde verursacht hat. Somit er-
58 Vgl. hierzu McCracken (2001), S. 137. McCracken bezieht sich zwar nicht auf den kastrierten Gralskönig, sondern analysiert eine nicht ganz eindeutige Selbstkastration Percevals im altfranzösischen Gralsroman. Perceval rammt sich, nachdem ihn der Teufel in Mädchengestalt verführen wollte und er dies beinahe geschehen ließ, das eigene Schwert in seinen ‚Oberschenkel‘ (= cuisse), wie es im Text heißt. Dies deutet McCracken als symbolische Selbstkastration (vgl. ebd., S. 136). Diese Episode hat auch in den ProsaLancelot Eingang gefunden und wird deswegen im Kapitel II.3.3.1 der vorliegenden Arbeit auf ihr uneindeutiges Spiel mit Geschlechtsidentitäten hin überprüft. Zusammenfassend ist jedoch zu sagen, dass sich McCrackens Folgerungen zur Selbstkastration Percevals auch auf die Entmannung von Anfortas übertragen lassen. 59 Vgl. hierzu: Er ist weder ganz Mann („fully male) noch ganz Frau („fully female“). In: McCracken (2001), S. 138. 60 Vgl. Hornung, Annabelle: „tougen schouwen. Repräsentation von Geschlecht in der Gralsliteratur.“ In: Camus, Celine et al.: Im Zeichen des Geschlechts. Repräsentationen, Konstruktionen, Interventionen. Königstein i. Taunus 2008, S. 46-61, v.a.52ff. 61 Klosowska, S. 27. Darauf weist auch David Halperin hin: „Effeminacy […] is also one of the main ‚pre-homosexual‘ categories.“ (Halperin (2002), S. 93). Vgl. zur Effeminisierung und zu gleichgeschlechtlichem Begehren auch Michaelis (2008).
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öffnet sich ein Dreieck, bestehend aus der „Waffe, die die Verletzung beibrachte, […] der Wunde“ 62 selbst und der Lanze, die zur Linderung der Wunde beiträgt. „Die blutige Lanze ist die verletzende Waffe und verletzter Körperteil, verletzendes Glied und kastriertes Glied zugleich; und die immer aufs neue blutende Wunde verweist auf die weibliche Wunde: Ein Mann kastriert mit der Lanze bohrend, den Rivalen und macht ihn zur Frau. Bohrt man die Waffe in die Wunde, bringt sie Erleichterung der Schmerzen. Ich denke, daß damit auf die homoerotische-homosexuelle Komponente der ritterlichen Zweikämpfe verwiesen wird: die durchbohrende Lanze, die Unterwerfung unter den Gegner.“63
Diesen Gedankengang führt Meyer zur Capellen in ihrem Aufsatz Die Hohe Frau im Minnesang und im Parzival weiter aus. Wenn die vergiftete Lanze als Phallus gelesen wird und die Wunde des Anfortas als Folge eines gewaltsamen Übergriffs durch einen anderen Mann, dann erklären sich die Leiden des Anfortas wie folgt: „Die Lanze, die sich in die Wunde bohrt, wäre dann […] auch als verletzender Geschlechtsakt zu verstehen.“64 Schmerz und Verletzung werden durch ihre Wiederholung intensiviert, da die Lanze in regelmäßigen Abständen erneut in die Wunde gebohrt wird. Dem verletzenden „Geschlechtsakt“ zwischen dem Gralskönig und dem anderen Ritter, der ein erster Hinweis auf dessen queeren Charakter ist, folgt als zweiter Schritt die durch die Kastration begründete Effeminierung, und der Prozess kulminiert in der Penetration der Wunde durch die Lanze. Auch Wolfram scheint dies wichtig gewesen zu sein, denn er schildert das betreffende Ritual in allen Einzelheiten. So stellt Klosowska fest: „Given the nature of treatment of Anfortas’s wound – repeated penetration, intense and prolonged attention from the male entourage – this figure bridges seemingly opposed characteristics: uxoriousness, philandering, and homoeroticism. While the reason for the wound is an excess of heterosexual activity, the treatment requires male – to male genital manipulation.“65
Dem entmannten Anfortas kann nur dadurch geholfen werden, dass in seine weiblich konnotierte, nach innen gestülpte Wunde eine männlich konnotierte Lanze gebohrt wird (vgl. v. 489,24-490,2). Die Wunde ist nicht nur aufgrund ihrer nach innen gestülpten Form, die an eine Vagina erinnert, weiblich konnotiert. Sie wird zu62 Meyer zur Capellen (1993), S. 117, basierend auf der Analyse Sigmund Freuds in Totem und Tabu (1913). 63 Meyer zur Capellen (1993), S. 117. Vgl. zur homoerotischen Komponente des ritterlichen Zweikampfs vgl. auch Boyd, David L.: Sodomy, Misogyny and Displacement. In: Arthuriana 8.2, Sommer (1998), S. 77-113. 64 Meyer zur Capellen, (1993), S. 118. 65 Klosowska (2005), S. 30.
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dem als feucht und kalt beschrieben (vgl. v. 490,1-491,18, v.a. 491,8: durch sîner sûren wunden gruft). Kälte und Feuchtigkeit sind Eigenschaften, die im medizinischen Diskurs des Mittelalters den Frauen zugeschrieben wurden: Die Körper der Frauen sind feucht und kalt, diejenigen der Männer dagegen trocken und heiß.66 Man kann noch einen Schritt weitergehen. Wenn sich an derjenigen Stelle, an der sich nun die Wunde als nach innen gestülptes Loch befindet, der Penis befand, so ist das Geschlecht des Gralskönig im Genitalbereich umgewandelt: „The Fisher King is cast as queer, genitally transgendered.“67 So könnte man auch behaupten, dass gleichgeschlechtliches Begehren verschleiert wird, indem sowohl die Wunde als auch das kastrierte oder entmannte Subjekt verweiblicht werden: „The participant in ‚sodomitical acts‘, not man and not woman, is Wolfram von Eschenbach’s Fisher King [...]. In Wolfram the wound is feminine, and masculine elements are applied to cure it, producing the ultimate paradox: the effeminate man is cured by contact with the masculine element, or (if one were willing to read the cure of Anfortas as a sexual metaphor), by having sex with a man.“68
Die Linderung wird also nicht nur durch das Hineinstecken der Lanze in die Wunde gegeben oder – wie Klosowska weiter folgert – durch einen sexuellen Akt mit einem anderen Mann bewirkt, sondern man kann sogar die Verletzung des Gralskönigs durch die Lanze des Heiden als ersten gleichgeschlechtlichen Penetrationsakt verstehen. Dieser Akt brachte Anfortas eine Verletzung bei, die nicht nur mit körperlichen Schmerzen, sondern auch mit psychischem Leiden einhergeht. Um den Schmerzen beizukommen, benötigt er die beständige Wiederholung dieses Akts. Die Sehnsucht des Gralskönigs nach dem homosozialen Akt ist sein eigentliches Leiden, das nur gestillt werden kann, indem seine Wunde im Unterleib penetriert wird. Er ist somit sowohl vom Schmerz als auch von der Penetration abhängig geworden.69
66 Vgl.dazu Cadden (1993); Laqueur, Thomas: Auf den Leib geschrieben. Die Inszenierung der Geschlechter von der Antike bis Freud, Frankfurt am Main/New York 1992. 67 Klosowska, S. 44. 68 Klosowska, S. 27. 69 Klosowska stellt hier zudem fest, dass same-sex-act im Mittelalter nicht gleichbedeutend ist mit homosexuellen Akten, viel eher ging es um aktiv/passiv, gebend/nehmend. Vgl. Klosowska (2005), S. 27. Somit plädiert Klosowska wie auch die vorliegende Arbeit für eine Öffnung von gleichgeschlechtlichem Begehren (und somit des Begriffs queer), denn gleichgeschlechtliches Begehren muss nicht zwangsläufig nur das Vorhandensein von homosexuellen Akten bedeuten.
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2.1.3 Die Enthaltsamkeit in der Gralssphäre Nicht nur die Kastration des Gralskönigs, sondern auch der Rückzug seines Bruders Trevrizent bedeutet Kummer für die Gralsgesellschaft. Aufgrund der Verwundung seines Bruders hat Trevrizent beschlossen, enthaltsam zu leben und ritterlichem Begehren zu entsagen (vgl. v. 480,16ff.). So scheint Trevrizent auf den ersten Blick als Muster des weisen und heiligen Menschen. Er stellt sich seinem Neffen als Mann ohne Fehl und Tadel dar,70 und auch der Erzähler betont Trevrizents kiusche (vgl. z.B. v. 452,15; v.452,20; v.452,28) und Askese: got het im den muot gegebn: der hêrre sich bereite gar gein der himelischen schar. mit vaste er grôzen kumber leit: sîn kiusche gein dem tievel streit. (v. 452,24-28)
Doch ist Trevrizents Rolle nicht eindimensional. Wie Anfortas und Herzeloyde ist er ein Mitglied der Gralsfamilie. Wie seine Geschwister hat auch er eine ‚andere‘ Seite.71 In seinem früheren Leben war Trevrizent ein Ritter wie Parzival, dessen Streben sowohl auf ritterlichen Ruhm als auch auf minne gerichtet war (vgl. v. 457,29-458,12). Mit der Entscheidung gegen diese Lebensweise scheint er Buße leisten zu wollen. Schu führt aus: „Doch dieses Bild wird wieder in Frage gestellt, wenn Trevrizent Parzival vor hôchvart warnt und zur kiusche mahnt und dabei Anfortas’ Schicksal erwähnt, der aus hôchvart minne ûzerhalp der kiusche sinne suchte (472,21-473,4). Die Worte, mit denen er Anfortas’ Vergehen beschreibt, haben appellative Funktion im Hinblick auf Parzival, sind jedoch insofern von Interesse, als man ja weiß, daß Trevrizent sich desselben Vergehens schuldig gemacht hat, Parzival aber eben nicht.“72
Die Brüder Trevrizent und Anfortas machten sich derselben Sünde schuldig. Sie verletzten Vorgaben des Grals und stellten Begehren über Keuschheit. Trevrizent 70 Schu (2002), S. 310. 71 Auch die Forschung betont die Vielschichtigkeit Trevrizents, v.a. im Bezug auf seinen „Widerruf“ gegenüber Parzival im 16. Buch (vgl. v. 798,6: ich louc (!) durch ableitens list.). Vgl.: Wapnewski, Peter: Wolframs Parzival. Studien zur Religiosität und Form. Heidelberg 1955, S. 172; Groos, Arthur: „Trevrizent’s Retraction: Interpolation or Narrative Strategy.“ In: DVjs 55 (1981), S. 44-63; Schirok, Bernd: „Ich luoc durch ableitens list. Zu Trevrizents Widerruf und den neutralen Engeln.“ In: ZfdPH, 106 (1987), S. 4672; Schu (2002), S. 308f. und S. 389, FN 240. 72 Schu (2002), S. 311.
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betont dies wiederholt: über daz gebot ich mich bewac / daz ich nâch minnen dienstes plac (v. 495,13f.). Auch in der Sphäre des Kampfs ist Trevrizent kein unbeschriebenes Blatt, hat er doch unzählige Kämpfe für die Liebe ausgetragen (vgl. v. 495,28f.). Die Sünde der überheblichen Auflehnung gegen den Gral haben beide Brüder begangen. Im Unterschied zu Parzival, dem unschuldig Schuldigen (vgl. v. 475,2ff.), haben seine Onkel wissentlich gegen die Vorgaben des Grals verstoßen. Wie Anfortas durch seine Entmannung die Möglichkeit der Fortpflanzung genommen ist, so ist durch den aktiven Rückzug ins Einsiedlerleben auch Trevrizents Chance verloren, einen männlichen Nachkommen für die Erbfolge des Grals zu zeugen. Die selbstlose Buße Trevrizents ist zugleich Ursache einer viel größeren Problematik.73 Durch den Entschluss zum enthaltsamen Leben (vgl. v. 481,1f.) verurteilt er Anfortas zu fortgesetztem Leiden, bis ein anderer männlicher Spross der Gralsfamilie als Erlöser und Nachfolger erscheint. Trevrizents ritterliche Männlichkeit steht ebensfalls zur Disposition. Er opfert als Einsiedler sein körperliches Begehren und verunmöglicht so das Fortbestehen der Gralsgesellschaft. In der Generation von Trevrizent und Anfortas kann nur Herzeloyde einen männlichen Nachkommen anbieten, auf dem nun alle Hoffnung ruht. Diese wurde durch Parzivals Versagen vor dem Gral und Anfortas vorerst zunichte gemacht. Der Gralssucher hat sich seines Platzes auf der Gralsburg noch nicht als würdig, aber durchaus als den anderen Mitgliedern der Gralsfamilie ähnlich erwiesen. Dies zeigt besonders der Vergleich mit dem entmannten Anfortas und dem asketischen Trevrizent. Wie deren Geschlechtsidentität destabilisiert ist, so ist auch Parzivals Männlichkeit fragil. Er gleicht eher einem enthaltsamen Engel, als einem virilen Ritter. Nach einer Liebesnacht mit Condwiramurs bricht Parzival auf, um nach seiner Mutter zu sehen (vgl. v. 223, 19). In dieser Begegnung hat Parzival unwissentlich seine Zwillingssöhne gezeugt, die das Fortbestehen der Gralsgesellschaft sichern. Davon erfährt man jedoch erst nach Parzivals Berufung zum Gralskönig. An dieser Stelle wird das ultimative Paradox der Gralsdynastie offenbar. Einerseits wird von ihren Mitgliedern Keuschheit gefordert, andererseits ist die Enthaltsamkeit für den Fortbestand der Sippe kontraproduktiv. Es scheint, als ob der Gral selbst seine Gesellschaft in diese Richtung steuert. Es gibt keine sexuelle Fortpflanzung in der Gralsgesellschaft. Stattdessen benennt der Gral schriftlich seine Mitglieder (vgl. v. 470,22-26). Falls ein Mitglied die Gralsgesellschaft verlässt, beispielsweise eine junge Frau, die außerhalb verheiratet wird, so füllt der Gral seine Gesellschaft wieder auf. Dieser Ausgleich ist gestört, da der Gral als Strafe die Entmannung des amtierenden Gralskönig verhängt hat. Indirekt ist der Gral auch für Trevrizents Enthaltsamkeit verantwortlich, hat sich der Eremit doch angesichts des Leidens seines Bruders jeglichem Begehren verschlossen. So hat der Gral sowohl über Anfortas’ 73 Vgl. dazu auch Schu (2002), S. 312.
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als auch über Trevrizents Linie die Fortsetzung der Dynastie unmöglich gemacht. Zugleich wird immer wieder die Geschlechtsidentität der Mitglieder der Gralsgesellschaft problematisch. Kastration und Zölibat verhindern eine normative Zuschreibung der Geschlechtsidentität und des Begehrens. Nach der Einkehr Parzivals bei Trevrizent wird dem Gralssucher Gawan gegenübergestellt.74 Gawan verhält sich komplementär zu Parzival. Eine Eigenschaft unterscheidet die Ritter jedoch, nämlich die Definition der männlichen Geschlechtsidentität durch ritterlichen Kampf und Liebe zu den Frauen. Während Gawan bei seinen Abenteuern einigen Frauen begegnet, bleibt Parzival enthaltsam. Auch Peggy McCracken stellt in ihrer Analyse der enthaltsamen Gralshelden Chrétiens Perceval den Schwerenöter Gauvain gegenüber. Für sie lebt der Artusritter das aus, was einen männlichen Ritter in den mittelalterlichen Romanen ausmacht, nämlich eine Verbindung von sexueller und heldenhafter Ökonomie.75 Im Gegensatz dazu steht der enthaltsame Gralssucher, der in erster Linie begehrt, nicht zu begehren.76 Diese Unterscheidung kann man zum Teil auch auf die mittelhochdeutsche Version der Gralsgeschichte übertragen, vor allem wenn man sich auf die (männliche) Geschlechtsidentität von Parzival und Gawan fokussiert.77 Man könnte entgegenhalten, dass Parzival verheiratet und somit nicht enthaltsam ist. Aber auf der Gralssuche selbst lebt Parzival asketisch, jegliche geschlechtliche Beziehung wird ausgesetzt. Die von den Gralsrittern geforderte Keuschheit basiert auf einer Werteveränderung, die vom Gral als zentralem Bezugs- und Ordnungspunkt herrührt. Im Gegensatz zu den klassischen Artusrittern muss der Gralssucher ein enthaltsames Heldentum leben, damit ihn am Ende der Zugang zum Gral als Lohn winkt.78 So beschreibt der Parzival zwei unterschiedliche Entwürfe ritterlicher Identität: Gralsritter einerseits und Artusritter anderseits. Parallel zu Parzivals Gralssuche setzt Wolfram die Abenteuer Gaweins. Durch die Aufwertung der Enthaltsamkeit als Tugend der Gralsritter wird das Verhältnis von Sexualität und Ritterlichkeit neu
74 Vgl. dazu Classen, Albrecht: „Crisis and Triumph in the World of Medieval Knighthood and Chivalry: Gawan in Wolfram von Eschenbach`s Parzival.“ In: Thompson, Raymond H./Busby, Keith (Hg.): Gawain. A Casebook. New York/London 2006, S. 217-229; Wynn, Marianne: „Pârzival and Gâwân: Hero and Counterpart.“ In: PBB 84, 1962, S. 142-172; Mohr, Wolfgang: „Parzival und Gawan.“ In: Euphorion 52 (1958), S. 1-22. 75 Vgl.: „heroic and sexual economies“, McCracken (2001), S. 125. 76 Vgl.: „desire not to desire“, McCracken (2001), S. 139. 77 Vgl. zu der (männlichen) Identität von Gawein im Parzival Kapitel III.3.1.2. 78 Das Begehren des Gralssuchers ist mit anderen Worten nicht mehr auf Lohn im Sinne von minne und/oder Macht ausgerichtet, sondern in erster Linie auf den Gral, statt sexueller gibt es spirituelle Entlohnung (vgl.: „ […] a privileged access to God“, McCracken (2001), S. 123).
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definiert. Dies wirkt sich auf die Identitätsbildung der Ritter im Spannungsfeld zwischen Begehren und keuschem Körper aus: „The chaste grail knights enact an anomalous withdrawal from the sexual economy of chivalric romance, and their unique position defines their privileged status as grail knights. But at the same time, the chaste knight is also outside the normative sexual economy that – at last in part – defines gender identities in medieval romances.“79
An diesen keuschen Körpern zeigt sich das Bemühen, sie trotz ihrer Enthaltsamkeit als männlich zu markieren: In der heroischen Struktur soll ihnen eine maskuline Position gesichert werden. Im Falle Parzivals gelingt dies nicht sofort.80 Sein Körper weist weder eindeutiges Begehren noch ein eindeutiges Geschlecht auf. Nach wie vor scheint er eher mit einem Engel als mit einem Mann vergleichbar: dô truoc der junge Parzivâl / âne flügel engels mâl / sus geblüet ûf der erden (v. 308,1ff.).81 Parzivals Androgynität verstärkt sich durch seine jahrelange Enthaltsamkeit während der Gralssuche: „Angels are pure, either above sex or, [...] chastely married.“82 Parzival stellt somit eine Figur dar, die verschiedene Spielarten eines Subjekts spiegelt, das nicht begehrt. Peggy McCracken bezeichnet die keuschen Subjekte als queere Helden, die so ausschließlich in den Gralsromanen vorkommen.83 Die Gralsritter verorten sich außerhalb der heteronormativen Begehrensstrukturen, wie sie in anderen höfischer Romanen gelten, und entziehen sich konventionellen Formen des Begehrens. Sie begehren, nicht zu begehren. Dies gilt auch für Parzival. Er wendet sich während der Gralssuche von der heteronormativen Art des Begehrens ab, er begehrt – neben seiner fernen Ehefrau – einzig und allein daz […] dinc, daz hiez der Grâl (v. 235, 23). Nicht nur der Gralskönig Anfortas, dessen Geschlechtsidentität durch seine Entmannung problematisiert wird, sondern auch die anderen Mitglieder der Gralsfamilie entziehen sich heteronormativen Formen des Begehrens und des Geschlechts: Herzeloyde, die ihren Sohn wie ihren Mann liebt, Sigune, die sich mit dem Leib ihres Geliebten erst im Tod vereint, Trevrizent, der allem körperlichen Begehren abschwört und schließlich der Gralssucher Parzival. Dieser wird zwar in 79 McCracken (2001) S. 132. 80 Das männliche gendern funktioniert im Fall von Parzival erst nach seiner Berufung zum Gralskönig mit Condwiramurs an seiner Seite (vgl. v. 781,16f.). 81 Engelsgleich ist nicht nur Parzival, sondern dieser begehrt auch engelsgleiche Gestalten: die Ritter, denen er am Anfang im Wald begegnet (vgl. v. 120,29). In diesem Begehren gegenüber den Rittern kann man bereits früh queere Tendenzen in der Zeichnung der Parzival-Figur erkennen. 82 Frantzen (1998), S. 278. 83 Vgl. McCracken (2001) und zum „queer hero“ und „chaste subject“, v.a. ebd., S. 135.
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verschiedenen Situationen als begehrtes und begehrendes Objekt inszeniert,84 auf seiner Gralssuche jedoch lebt er enthaltsam. Das Begehren danach, den Gral – und zugleich seine Frau bzw. sein Glück – wiederzufinden, ist zwar sein beherrschender Antrieb, spielt sich aber nur in seinen Gedanken ab und wird physisch nicht eingelöst. Somit kann man den Gralsritter Parzival nicht nur den enthaltsamen Subjekten der Gralssphäre zuordnen,85 sondern, in einem weiteren Schritt, wie Anfortas und Trevrizent auch als queeres Subjekt bezeichnen.86. Die Situation der Gralsgesellschaft stellt sich wie folgt dar: In ihr zählt allein das Begehren nach dem Gral, d.h. die Gralssuche. Diese ist ein homosoziales Unternehmen, an dem nur Männer teilnehmen dürfen.87 Der Hof reproduziert sich ohne Fortpflanzung. Die Gralssuche und Gralssphäre wird von queeren Subjekten – dem entmannten Gralskönig und seinem vermeintlichen Nachfolger, dem enthaltsamen Parzival – dominiert. In der Welt des Grals werden Geschlecht und Begehren nicht-normativ verhandelt. 2.2 Der Gral als höchstes Abenteuer in der Crône 2.2.1 Der Auftrag für die Suche In Heinrichs von dem Türlein Gralsroman Diu Crône ist es nicht Parzivals, sondern Gaweins88 Aufgabe, das Geheimnis des Grals aufzudecken. Die Crône lässt keinen Zweifel daran, dass Parzival aufgrund seines Scheiterns bei seinem ersten Gralsbesuch seinen Platz als erwählter Erlöser verspielt hat und somit nicht mehr derjenige sein kann, der die Krone aller Abenteuer besteht:89 und gedinge ze Parzivâl, daz er solte von dem grâl ervarn die heimlîche sage: dô schiet er dan als ein zage, daz er sîn niht vrâget und sich niht enwâget;
84 Vgl. zum Begehren, das Parzival erregt, die Badeszene auf der Burg seines Lehrers Gurnemanz (v. 167,1ff.) oder seinen ersten Auftritt beim Artushof (v. 311,14ff., v.a. 29f.). 85 Der Gralsritter gehört auch zu den „chaste subjects“. Vgl. McCracken (2001), S. 135. 86 Vgl. hierzu McCracken (2001), S. 139. 87 Vgl. hierzu McCracken (2001), die die Gralssuche als ein homosoziales Unternehmen („a wholly homosocial undertaking“) bezeichnet (ebd., S. 126) oder Klosowska (2005), die sagt, die Suche wäre nur für Männer, Ritter und Jungen gemacht (vgl. ebd., S. 32). 88 Vgl. Thompson, Raymond H./Busby, Keith: „Introduction.“ In: Dies.: Gawein. A Casebook. New York/London 2006, S. 1-36, hier S. 10. 89 Vgl. ebd.
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dâ er dar an missevuor, daz er sîn dâ niht ervuor, daz er ez sicher hete ervarn (v. 29485-29493).
In der Crône ist Gaweins Geschichte daher nicht wie in Wolframs Gralsroman neben diejenige Parzivals gesetzt, sondern Gawein übernimmt die Funktion als alleiniger Held. Auch der Beweggrund, der ihn dazu führt, den Gral zu suchen, ist in der mittelhochdeutschen Gralsliteratur einzigartig. Für ihn ist die Gralssuche weder ein Wiedergutmachungsversuch (wie bei Parzival) noch eine vorbestimmte Lebensaufgabe (wie bei Galaad), sondern ein Auftrag. Gawein muss den Gral finden, um seine Unschuld am Tod eines Ritters zu beweisen.90 Somit ist die Gralssuche zwar nur eines von vielen Abenteuern, die der Protagonist der Crône zu bestehen hat, aber ihr ist im Hinblick auf die Inszenierung von Geschlechter- und Begehrensverhältnissen eine besondere Dynamik zu eigen. Nachdem Gawein aus dem Turnier von Sorgada als strahlender Sieger hervorgegangen ist, begegnet er auf seiner weiteren Reise einer Dame, die von vier Jungfrauen begleitet wird (v. 18710ff.). Noch bevor man ihren Namen erfährt, stellt sich heraus, dass es sich um eine Göttin und Verwandte Gaweins handelt: diu vrouwe ein gotinne was / und was künec Artûs bas / und truoc die rîche krône / dâ ze Avalône (v. 18722-18725). Die Göttin wird Enfeidas genannt und schon bei ihrer Einführung weisen zwei Punkte darauf hin, dass sich der Ritter bald auf dem Weg zum Gral befinden wird. Zum einen ist die Göttin Herrscherin des Inselreiches Avalon, das in Verbindung mit der Gralsgeschichte steht.91 Zum anderen verweist die Verwandtschaft zwischen Enfeidas und Gawein – die über Artus verbunden sind92 – darauf hin, dass der Ritter in einer besonderen Verbindung mit dem Gral steht. Enfeidas erkennt den vorbeireitenden Gawein von Weitem und fängt den Ritter ab. Sie begrüßt ihn fürstlich vor ihrem Zelt und klärt ihn über ihre familiäre Verbindung 90 Im Parzival führt derselbe Vorwurf Gawan zu der Aventiure des Schastel marveil. 91 Vgl. die Verbindung von Avalon und dem Gralsmythos bereits in Robert de Borons altfranzösischem Gralsroman Joseph d’Arimathie oder Le Roman de L’Estoire dou Graal. Vgl. dazu auch Eder, Annemarie/Müller, Ulrich: „Wer sucht den Gral? Fragt Parzival: Das Geheimnisvolle ‚Ding‘ in der Literatur des Mittelalters und der Neuzeit.“ In: Baumstark, Reinhold/Koch, Michael (Hg.): Der Gral – Artusromantik in der Kunst des 19. Jahrhunderts. Ausstellungskatalog zur Ausstellung im Bayerischen Nationalmuseum (25. Oktober 1995 – 21. Januar 1996). Köln 1995, S. 12. 92 Vgl. im Weiteren: Ritter, wizt ir daz, / daz ir mîn nâher mâc sît? / mich dunkt gar lange sîn diu zît, / daz ich iuch mê gesach / sît mir daz grôz leit geschach / an mînem bruodr Utpandragôn, / vür den nû der sun diu krôn / Artûs ze Britanje treit (v. 18742-18749). Die Familieneinbindung ist nicht annähernd so komplex wie im Parzival (vgl. Schmid (1986), S. 210), verweist aber hier wie da in Richtung des Gralsmysteriums.
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auf (vgl. v. 18741ff.). Nachdem sie ihn darüber informiert hat, dass der Artushof ihn tot wähnt,93 warnt sie ihn vor der nächsten Station seiner Reise, Karamphi: da gewinnet ir vil grôze nôt, aber ir geliget doch niht tôt: des sît gewarnt von mir. ich riet iu ê, und woltet ir mir volgen und dem râte, daz ir ê noch viel spâte suochtet nahtselde anderswâ, ê ir hînaht belîbet dâ, welt ir niht bel ben hie bî uns wîben: wan ir vreise gewinnet: iwer herze aber sinnet zê vreise, die ez minnet (v. 18766-18778)
Gawein lässt sich freilich von der Weiterreise nicht abhalten.94 In Karamphi trifft er auf Angaras, der ihn mit der Gralssuche zum Zwecke der Tilgung seiner Schuld beauftragt. Nachdem Gawein seine Tante verlassen hat und nach Karamphi gelangt ist, begegnet er einer Jungfrau mit Namen Seimeret, die den Ritter gastfreundlich begrüßt (vgl. v. 18804ff.). Das Mädchen weiß nicht, wer ihr Gast ist, aber ihr Bruder, Angaras, dem Gawein zuvor im Wald begegnet ist (vgl. v. 18826ff.), erkennt ihn als Mörder (vgl. v. 18838ff.). Wie er bald herausfindet, ist der vermeintliche Mörder im Begriff, bei seiner Schwester Seimeret in Karamphi die Nacht zu verbringen. Angaras geht ohne Vorwarnung mit seinen Männern auf den überraschten Gawein los, Seimeret dagegen versucht, den Gast vor dem Bruder zu verteidigen. Da Gawein nicht im Besitz seiner Waffen ist, wehrt er sich mit einem Schachspiel (vgl. v. 18868ff.). Es gelingt ihm, die angreifenden Ritter zurückzutreiben und zu verwunden. Die Szene erinnert an die Begegnung Gawans mit Antikonie im Parzival (vgl. v. 402,20ff.). Zum einen stellt sich Antikonie wie Seimeret gegen ihren Bruder und 93 Dieser Hinweis bleibt ohne Folgen. Gawein nimmt die Information zwar hin, ändert jedoch nichts an seinem Plan. 94 Vgl. Stein, Peter: Integration – Variation – Destruktion. Die ‚Crône‘ Heinrichs von dem Türlin innerhalb der Gattungsgeschichte des deutschen Artusromans. Bern et al. 2000. Stein hält die Szene der Begegnung mit Enfeidas zwar für uneingebunden, aber v.a. in ihrer Parallelität mit der späteren Begegnung mit Manbur, die Gawein definitiv in Richtung Gral weist, ist es doch eine wichtige Szene im Hinblick auf von außen kommende Hilfestellung, die Gawein immer wieder erfährt. Vgl. Stein (2000), S. 177.
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sein Gefolge, um Gawan zu verteidigen, zum anderen wehrt sich der unbewaffnete Ritter in beiden Fällen mithilfe eines Schachbretts. Die Szene gehört zu den so genannten Chrétien-Wolfram-Abenteuern.95 Schon an dieser Stelle fällt auf, dass die Motive der Erotik und des Begehrens, die die Begegnung von Gawan und Antikonie im Parzival bestimmen, nicht auf die Crône übertragen wurden. So verhält es sich auch in den weiteren Chrétien-Wolfram-Abenteuer, beispielsweise in der Begegnung mit Manicipelle. Die junge Dame ähnelt auf der Handlungs- und Motivebene der Figur der Orgeluse, das Verhältnis zwischen ihr und Gawein wird jedoch nicht – wie bei Chrétien oder Wolfram – erotisch aufgeladen. Das Begehren des Helden der Crône wird in diesen Episoden nicht thematisiert. Die Begegnung mit Seimeret und ihrer Familie hat allerdings andere Effekte auf den Protagonisten. Gawein erfährt den Grund für Angaras’ Angriff: der angebliche Mord an seinem Bruder (vgl. v. 18891ff.). Einzig die Ankunft des Vaters der Geschwister bietet den Auseinandersetzungen Einhalt.96 Auf Befehl seines Vaters muss Angaras den Angriff gegen Gawein einstellen. In einer Art Gottesurteil wird ein Kompromiss geschlossen: Wenn Gawein nicht der Mörder von Angaras Bruder ist, wird es ihm binnen eines Jahres gelingen, den Gral zu finden. alsô dô gescheiden undverendet undr in beiden, sô daz er des swüere, daz er im gar ervüere innerthalp einem jâre gar âne alle gevâre daz sper und den rîchen grâl (v. 18915ff.).
Andernfalls muss er sich Angaras ތStrafe ausliefern. Somit ist der Artusritter zum Gralssucher geworden.
95 Vgl. dazu: „Chrétien-Wolfram-Adventures (Crône, lines 17,500-22,564; Conte del Graal, lines 4816-6216, 6519-end; Parzival, Books 7-8, 10-14)“ (Thomas (2002), S. 52). 96 Hier kommt eine weitere Parallele zur Antikonie-Szene im Parzival zum Tragen: Die Verletzung des Gastrechts, die Angaras mit seinem Angriff gegen Gawein ausführt und dessen Stellenwert im Vergleich zu höfischen (Maß-)Regeln wird in der Crône wie im Parzival diskutiert. Vgl. hierzu auch Parzival, v. 414, 23ff.
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2.2.2 Die erste Wunderkette Die Struktur der Crône weist mehrere Zeitverschiebungen und Rückblenden auf. Die Handlungsstränge werden in Teilstücke zerlegt und chronologisch invertiert.97 So wird Gawein, wenn er dem Gralsgeheimnis tatsächlich begegnet, erkennen, dass alle Abenteuer, die er zuvor ausgefochten hat, um des Grals willen geschehen sind: unde wizze daz vür wâr, / swaz du âventiure hâst gesehen, / daz si von dem grâle sint geschehen (v. 29549ff.). Zu den richtungsweisenden Begebenheiten der Gralssuche zählen drei so genannte „Wunderketten“.98 Diese sind dem Bereich des Grals zuzuordnen.99 Die erste Wunderkette beginnt, als Gawein von seinen Begleitern getrennt wird. Auf der Suche nach einem vermeintlichen Turnier, dessen Geräusche er vernimmt, erblickt Gawein eine junge Frau, die ihren toten Geliebten im Arm hält und über Artus und Parzival klagt (vgl. 13995ff.): Parzival habe den Gral und den Speer gesehen, aber im entscheidenden Moment die erlösende Frage nicht gestellt, auf diese Weise habe er der Welt, allen Menschen und auch ihr selbst Schmerzen bereitet (vgl. v. 14003). Obwohl die Frau nicht beim Namen genannt wird, erinnert das einprägsame Bild der klagenden Jungfrau, die ihren toten Geliebten im Arm hält und Parzivals Versagen beklagt, an Sigune.100 Diese intertextuelle Anspielung auf die Sigune des
97
Vgl. Vollmann, Justin: Das Ideal des irrenden Lesers. Ein Wegweiser durch die ‚Krone‘ Heinrichs von dem Türlin. Tübingen/Basel 2008, S. 206ff.
98
Im Gegensatz zur älteren Forschung, die der Crône immer ‚Planlosigkeit‘ der Ereignisse vorgeworfen hat (vgl. beispielhaft: Gervinus, Georg Gottfried.: Geschichte der deutschen Dichtung. Bd. 2, Leipzig 1871, S. 48-51, hier S. 51), hat Ulrich Wyss in seinen Überlegungen zu den „Wunderkette(n)“ deren Strukturen aufgezeigt (vgl. Wyss (1981); ebenso: Keller, Johannes: Die Crône Heinrichs von dem Türlin: Wunderketten, Gral und Tod. Bern et al. 1997).
99
Die erste Wunderkette ist dem Gralsreich zuzuordnen, endet sie doch mit dem Besuch auf der Gralsburg. Somit gehört diese Wunderkette – wie auch die anderen zwei – zur Sphäre des Grals. Zur Zusammengehörigkeit der ersten Kette mit dem Gralsbereich vgl. auch Meyer (1994), S. 120.
100 Laut Christoph Cormeau ist die klagende Frau eine „Pseudo-Sigune“ und neben der Blutstropfenszene das zweite Motivduplikat. (Cormeau (1977), S. 211). Werner Schröder geht in seinen Überlegungen Zur Literaturverarbeitung durch Heinrich von dem Türlin sogar noch weiter und spricht von einer „Motivaneignung“. Parzival, so Schröder, werde in der Crône für sein Versagen gegenüber der Gralsgesellschaft, aber auch gegenüber den Frauen angeklagt: daz er mîn leit niht enwant / und maneger vrouwen swære (v. 13999f.). Bei Wolfram dagegen sei der Held Sigune gegenüber sofort hilfssowie rachebereit und ist deswegen mit Heinrichs Bearbeitung der Figur nicht einverstanden. Vgl. Schröder, Werner: „Zur Literaturverarbeitung durch Heinrich von dem
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Parzival scheint beabsichtigt, geht jedoch nicht in die Tiefe,101 da die junge Frau nach ihrem Lamento davon reitet und nicht wieder auftaucht. Gaweins erfolgloses Bestreben, ihr zu folgen, führt ihn in die erste Wunderkette. Wieder vernimmt Gawein Kampfgeräusche, und er begegnet sechshundert Kämpfern, die gegen ein von Geisterhand geführtes Schwert und einen Speer streiten (vgl. v. 14048ff.).102 Gaweins Neugier ist geweckt und er folgt den wundersamen Waffen. Er sieht wie auf dem Schlachtfeld, das Schwert und Speer hinterlassen haben, sechshundert toten Ritter ohne Grund in Flammen aufgehen. Zwei Motive stechen hevor, die auch weiterhin eine bedeutsame Rolle spielen: Blut und Feuer. Gawein reitet weiter und erblickt eine nackte, unbeschreiblich schöne Jungfrau (14129ff.), die verzweifelt versucht, einen Riesen, der an den Felsen gekettetet ist, gegen angreifende Vögel zu verteidigen. Obwohl dem Riesen das Fleisch aus dem Leib gehackt wird, will sich Gawein nicht aufhalten lassen. Er folgt weiter Lanze und Schwert (vgl. v. 14145ff.). Diese Entscheidung ist als erstes Indiz für die Ernsthaftigkeit lesbar, mit der Gawein – im Gegensatz zu Parzival in der Crône – seine Suche betreibt. Nach der Episode mit der nackten Jungfrau trifft Gawein auf ein grünes Monster mit drei Hörnern (vgl. v. 14151ff.), auf dem eine alte Frau reitet, deren Gesicht gelb, maskenhaft und wie tot wirkt: undern ougen was sie gel / und gar tôtliche getân (v. 14173f.). Die Greisin führt an einem Strick einen nackten Mohren mit sich. Die Vorgänge erregen Gaweins Neugier. Er empfindet Mitleid mit dem nackten Mann, zumal als die alte Frau beginnt, mit einer Peitsche auf ihn einzuschlagen. Doch wieder siegt das höhere Ziel: Gawein will die beiden Geisterwaffen finden (vgl. v. 14196ff.). Das nächste Abenteuer ist noch verstörender. Gawein wird von einem Ritter in schwarzer Rüstung überholt. Dieser hält in einem Arm einen abgetrennten Frauenkopf (vgl. v. 14206ff.) und wird von einem rot gekleideten Kämpfer verfolgt. Der rote Ritter fordert den Flüchtenden unablässig zum Duell, und obwohl Gawein gerTürlin in seinem Gawein-Roman ‚Diu Crône‘.“ In: Zeitschrift des Deutschen Altertums 121 (1992), S. 131-174, hier S. 155. 101 Diese Parallele zu Wolfram bleibt wie die Chrétien-Wolfram-Abenteuern an der Oberfläche und schöpft das in der Figuren-Tradition angelegte prekäre Potential im Bereich der Geschlechtsinszenierungen und Begehrensstrukturen nicht aus. 102 Ein Hinweis darauf, dass die Wunderketten zur Gralssphäre gehören, ist sicher deren mysteriöser und unerklärlicher Inhalt, der wiederum auf die Deutung des Grals als ein Geheimnis verweist (vgl. v. 29465: wesen tougen). Schwert und Speer sind seit jeher Gegenstände, die eng mit dem Gral verbunden sind: „In its various manifestations through the ages, the Grail embodied in many different objects [...]. It may be associated, in different versions, with a Lance or a Spear, with a sword... “(Mahoney (2001), S. 1). Vgl. zur Verbindung von Lanze und Gral auch: Mertens, Volker: „Christliches Heilssymbol oder keltischer Herrschaftsmythos.“ In: Ders. (2003), S. 9-24.
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ne gewusst hätte, wie diese Auseinandersetzung enden wird, reitet er wie stets weiter (vgl. v. 14226).103 Schließlich gelangt Gawein auf eine Lichtung, auf der sich ein herrenloses Pferd und eine von Blut getränkte Rüstung befinden. Daneben ist der Kopf eines Ritters, möglicherweise des Besitzers der Gegenstände, auf eine Lanze gepflanzt worden, darunter liegt ein in der Mitte gespaltener Jagdhund (vgl. v. 14235ff.). Nicht der schreckliche Anblick, sondern bitterlich klagende Frauenstimmen, die er im Hintergrund vernehmen kann, sind der Grund für seine Flucht von diesem Ort. Als Gawein weiterzieht, sieht er einen kristallenen Palast, aus dessen Innerem ein betörender Frauengesang ertönt. Diese schöne Vorstellung wird jäh zerstört. Ein riesenhafter Mann, dunkelhäutig und nackt, zerschlägt die kristallenen Mauern des Palastes mit seiner Keule. Diese Waffe wird ausführlich beschrieben: einen slegel er vor im swanc von einem rôhen stâle, den swanc er alle mâle über velt wol drîzec schrite, […] er liefe nackent unde bar gein diser vrœlîchen schar (v. 14290-14300).
Nacktheit wird in den Episoden der Wunderkette ebenso oft wie Tod, Qual und Zerstörung inszeniert, um deren offensichtliche Verkettung darzulegen. In diesem Fall ist die Nacktheit des schwarzen Mannes jedoch etwas pikanter: Der Wüstling dringt, eine phallische ‚Keule‘ schwingend, auf unschuldige (im Glashaus sitzende) Jungfrauen ein und tut ihnen sowie ihrer Umgebung Gewalt an. Der Höhepunkt ist die Art und Weise, wie der Mann die Jungfrauen in den Tod treibt: Indem er sie mit der Spitze seiner ‚Keule‘ in die Flammen drängt. Das Ausmaß seiner Zerstörung und seines ‚Schlägers‘ wird so detailliert beschrieben, dass die Assoziation mit einem sexuellen Gewaltakt naheliegt. Nachdem die Jungfrauen den Tod gefunden haben, bedauert Gawein wiederum, dass er nicht helfen kann (vgl. v. 14318ff.), reitet aber weiter.104 Am nächsten Morgen findet Gawein endlich wieder einen Hinweis auf die Lanze und das Schwert. Von Weitem sieht er zwei Schimmel, über denen die Waffen schweben. Er folgt diesen und stößt auf einen Rosengarten, dessen Duft ihn betört (vgl. v. 14335ff.). Wieder lässt das Unheil nicht lange auf sich warten. Gawein findet einen schönen Jüngling, in dessen Augen Pfeile stecken und 103 Im Unterschied zu Parzival reitet Gawein trotz seines tranceartigen Zustands stets zielstrebig und -gerichtet weiter. 104 Es scheint fast so, als sei Gawein in einem Trancezustand, in dem er, auch wenn er sich über die schrecklichen Szenen Gedanken macht, nicht in die Geschehnisse einzugreifen vermag.
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der mit zwei Eisenketten an ein Bett gefesselt ist. Neben ihm liegt eine junge Frau, der er unablässig Luft zufächelt, obwohl sie schon längst nicht mehr lebt. Das ständige Fächeln des jungen Mannes lässt einen Feuerwind entstehen. Vor dem Bett liegt ein dunkelhäutiger Ritter mit einer klaffenden Wunde mitten im Herzen. Wie zuvor wundert sich Gawein über die mysteriösen Umständen und den Grund der Zerstörungen, greift jedoch erneut nicht in die Szene ein, sondern reitet weiter (vgl. v. 14400ff.). Gawein schwört, die wundersamen Vorkommnisse nicht zu vergessen. Am Ufer eines Flusses nimmt Gawein die Spur von Speer und Lanze wieder auf (vgl. v. 14413ff.). Er versucht, den Fluss zu überqueren und ertrinkt beinahe.105 Weil Gawein das Glück hold ist, wird er von einer vorüberreitenden Dame aus dem Wasser gerettet. Zuvor lässt sich die Frau, die sich als Gener von Kartis vorstellt, eine Gegenleistung versprechen: Gawein soll auf ein bevorstehendes Duell, um sein Leben zu schützen, nicht eingehen. Kaum hat Gawein dem Handel zugestimmt, zieht sie von dannen. Gawein gelangt an ein Schloss, in das er erneut aufgrund seines Glücks ohne Hindernisse eingelassen wird. Es scheint, als hätten das Schloss und seine Bewohner nur auf Gawein gewartet, denn der Torwächter begrüßt ihn sogleich mit Namen. Nachdem Gawein in einem herrschaftlichen Saal Platz genommen hat, begegnet ihm der Herr der Burg. Er ist alt, grauhaarig und trägt elegante, weiße Kleidung. Der Burgherr ist krank, er kann sich nicht mehr bewegen. Mit seiner Krankheit, seinem Alter und der eleganten Erscheinung erinnert er an den Fischerkönig im Parzival.106 Auch der Burgherr kennt Gawein und begrüßt ihn herzlich (vgl. v. 14637). Bei einem Rundgang durch das Schloss gelangt Gawein zu einer Kapelle. Dort begegnen ihm weitere wundersame Dinge (vgl. 14665ff.). Ein Schrein, in dem sich ein Schwert befindet, erscheint, und Gawein untersucht ihn. Noch bevor er mehr über das Geheimnis der Gegenstände herausfinden kann, verschwindet die Erscheinung wieder. In diesem Zusammenhang wird das Wort tougen benutzt: schier began von sînen ougen / der sarc verswinden tougen (v. 14675f., v.a. 14676). Das Wort charakterisiert in der Crône auch den Gral. Dieser ist ein tougen, d.h. ein Geheimnis (vgl. v. 29465). Dass diese Bezeichnung verwendet wird, verstärkt den Eindruck, dass sich Gawein auf der Gralsburg befindet.
105 Der Hinweis auf Gaweins besondere Verbindung zu einem glücklichen Schicksal, weswegen auch garantiert ist, dass er an dieser Stelle nicht ertrinken wird, spielt auf den Besuch des Helden im Palast der Frau Sælde an. Bei diesem wird Gawein immerwährendes Glück versprochen, das ihn auch an verschiedenen Stellen aus verzwickten Situationen retten wird (vgl. v. 15883ff.). 106 Vgl. zur edlen Erscheinung des Fischerkönigs z.B. Parzival, v. 225, 9-12 oder zu dessen Krankheit: v. 231,1ff.
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Am nächsten Tag trifft Gawein wieder auf den alten Burgherrn, jedoch ist dieser nicht wie am Abend zuvor allein, sondern in Gesellschaft vieler vornehmer Ritter. Kurz darauf setzen sich alle zum Essen nieder und Gawein ist von der Gesellschaft und ihrer Gastfreundschaft begeistert. Kaum hat man sich niedergelassen, beginnt eine Prozession, die an den Parzival erinnert: Gâwein sach von verre vier guldine kerzstal mit kerzen tragen in den sal vier juncvrouwen schône, und truogen vier crône und kleider kostelîche, […] nâch disen vier meiden gienc ein magt gezieret baz, diu truoc vor ir ein schœnez vaz, von einer cristalle, daz was vol mit alle vil gar vrisches bluotes; rôtes goldes unde guotes dar inne ein schœne rœre lac der ouch disiu vrouwe pflac; sie habt sie mit der rehten hant, ûz einem dîasper sis want (v. 14742-14765).
Das Ziel der hereintretenden Jungfrauen ist der Burgherr, vor ihm knien sie nieder. Der alte Mann, der zuvor nicht an der Mahlzeit der Ritter teilgenommen hat, nimmt das von der fünften Jungfrau dargebotene, goldene Röhrchen und trinkt damit Blut aus der kristallenen Schale.107 Kaum ist das Trinkritual beendet, ziehen sich die fünf Jungfrauen zurück. Gawein beobachtet, dass das Blut in der Schale nicht zur Neige geht und hält dies für ein Wunder (vgl. v. 14791). Er ist verstört, schweigt jedoch aus gebotener Höflichkeit: so enwolte er niht vrâgen (v. 14796). Als der Tisch abgeräumt ist, erinnert sich Gawein an seine Frage, doch sitzt er plötzlich allein am Tisch. Er fasst den Entschluss, die anderen Ritter nach ihrer Rückkehr zu befragen: er wânt, daz sie gemeine, / wider ûf den sal solten gân, / sô wolt er sie gevrâget han / von der âventiure wunder (vgl. v. 14808-14811). Doch niemand kommt zurück, und so macht sich Gawein auf die Suche nach dem kranken Burgherren. Er hofft, 107 Dass Blut nicht aus der Lanze hervortritt, wie in Chrétiens Gralsroman Perceval, sondern in einer Schale hereingebracht wird, ist aus dem keltischen Text Peredur bekannt. Vgl. dazu Mertens (2003), S. 16ff.
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von diesem über die Vorgänge aufgeklärt zu werden, findet den Greis jedoch tot auf (vgl. v. 14849f.). Nach dieser Entdeckung flüchtet Gawein in den Stall, entledigt sich seiner Ausrüstung und legt sich schlafen. Am nächsten Morgen folgt ein böses Erwachen. Gawein befindet sich nicht mehr im Stall der Burg, sondern auf freiem Gelände und kann sich nicht erklären, wie er hierher gekommen ist. Kaum hat er seine Ausrüstung wieder angelegt und sein Pferd gesattelt, ist alles vergessen und er setzt seinen Weg fort. Hier endet die erste Wunderkette, die mit dem ersten Besuch auf der Gralsburg und einem Frageversäumnis verknüpft ist. Dass es sich um einen ersten Gralsbesuch handelt, erschließt sich aus der bekannten Motivik: ein kranker Burgherr, eine Prozession von Jungfrauen, aus deren Reihen eine ganz besonders hervorsticht und die einen geheimnisvollen Gegenstand trägt.108 Der Held der Crône wird während der ersten Wunderkette und dem Gralsbesuch durch schnell aufeinanderfolgende traumhafte Sequenzen und verstörende Ereignisse getrieben. Letztere sollten nicht „als ganz und gar sinn- und zusammenhangslose Anhäufung von allenfalls pathologischen Phantastereien“ abgetan werden.109 Ulrich Wyss strukturiert die erste Wunderkette in verschiedene „Bildgruppen“, die am Anfang von der Jungfrau mit ihrem toten Geliebten im Arm und am Ende von der Wiederbegegnung mit den weißen Pferden gerahmt werden.110 Es handelt sich um drei Bildpaare.111 Das erste Bildpaar umfasst die junge Frau, die den Riesen vor Zerfleischung bewahrt, und die alte Frau, die auf dem grünen Monster reitet. Als gemeinsame Motive sind die seltsamen Kreaturen zu nennen: das gehörnte, grüne Tier und die fleischfressenden Vögel. Hinzu kommt, dass es sich bei den beteiligten Männern, einem Riesen und einem Mohren, ebenfalls um exotische und randständige Personen handelt. Außerdem werden diese beiden Sequenzen durch ihre diametrale Spiegelung verbunden. In der einen ist es eine junge, nackte Frau, die einen Mann beschützt, in der anderen eine ältere, reich gekleidete Frau, die einen Mann schikaniert. Das zweite Episodenpaar umfasst zum einen den schwarzen Ritter mit dem Frauenkopf in der Hand, zum anderen den aufgepflanzten Ritterkopf mit den klagenden Frauenstimmen im Hintergrund. Beide Szenen verbindet das Motiv der Enthauptung. Hinzukommt das Motiv der Geschlechterdiffe-
108 Dass es auch in der Crône zwei Gralsbesuche gibt, bei denen der erste am Ende der ersten Wunderkette liegt, bestätigt auch die Forschung. Um neben Wyss noch einige Bespiele zu nennen, vgl. Jillings (1980); Buschinger (1981); Zach, Christine: Die Erzählmotive der Crône Heinrichs von dem Türlin und ihre altfranzösischen Quellen: Ein kommentiertes Register. Passau 1990, S. 179ff.; Keller (1997), S. 157; Stein (2000), S. 181; Thomas (2002), S. 59; Vollmann (2008), S. 108ff. 109 Wyss (1981), S. 272. 110 Vgl. Wyss (1981), S. 272. 111 Wyss (1981), S. 273.
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renz:112 Während die erste Szene (Ritter mit Frauenkopf) durch die Bewegung des Ritts bestimmt wird, ist die zweite (aufgepflanzter Ritterkopf) statisch. Weitere paradigmatische Bezüge finden sich auch in den beiden Begegnungen, die sich zu einem dritten Paar vereinen. Die Szene, in der der schwarze Mann die Kristallmauern zerschlägt und die Jungfrauen ins Feuer treibt, verbindet sich in ihrer Motivik mit derjenigen, in der der Jüngling der bereits toten Königstochter den Feuerwind zufächelt. Beide Stellen handeln von Zerstörung, die eine wird von außen zugefügt, die andere kommt aus dem Inneren heraus; zugleich ist es beide Male das Feuer, das den Tod bringt. Wyss erkennt einen Spannungsbogen, der vom ersten zum dritten „Diptychon“ reicht und durch ansteigende Bilderfülle und zunehmende Brutalität der Zerstörung markiert ist.113 Wyss fasst zusammen: „Alle Bilder handeln vom Leben und vom Tod und von deren Gleichursprünglichkeit.“114 Nicht nur bei den sechs Bildern115 der ersten Wunderkette, auch auf der Gralsburg ist der Tod omnipräsent. Auch dort begegnet Gawein im Sterben des Burgherrn dem Tod. Über Wyss’ Beobachtungen hinaus würde ich noch einen Schritt weitergehen und nach dem alle Ereignisse verbindenden roten Faden fragen.116 Zum Ersten ist die allgegenwärtige Gewalt, die sich in Blutvergießen und Tod äußert, zu nennen. Zum Zweiten verbindet der tranceartige Zustand, in dem sich Gawein während der ersten Wunderkette zu befinden scheint, alle Episoden: alsô die liute alle tuont / sô sie in gedenken sint, / dâ
112 Vgl. zu der Geschlechtsopposition in den beiden Stationen Wyss (1981), S. 273. 113 Vgl. Wyss (1981), S. 275. 114 Vgl. Wyss (1981), S. 275. 115 Meyer entfaltet außerdem mehrere literarische Rückkopplungen innerhalb der Crône oder auch zu den bekannten mittelhochdeutschen Texten, die sich aus den sechs Sequenzen der ersten Wunderkette ergeben. Um nur einige Beispiele zu nennen: Das grüne gehörnte Tier (v. 14149ff.) erinnert ihn an den zweiten Drachen der Zaumzeugepisode (vgl. Crône, v. 13468); die auf dem Monster reitende, alte Frau, die eine Peitsche schwingt, pervertiert für Meyer die Eingangsaventiure im Erec. Vgl. dazu und zu den weiteren Verbindungen: Meyer (1994), S. 122, ebenso: Hartmann von Aue: Erec. Mittelhdt./Neuhdt. Herausgegeben von Volker Mertens. Stuttgart 2008. 116 Es wird oft mehr Gewicht auf die Analyse der Einzeltableaus als auf eine Gesamtinterpretation gelegt, so auch: Wennerhold, Markus: Späte mittelhochdeutsche Artusromane. ‚Lanzelet‘,‚Wigalois‘,‚Daniel vom Blühenden Tal‘,‚Diu Crône‘. Bilanz der Forschung 1960-2000. Würzburg 2005, S. 221. Andrea Glaser dagegen sieht keinen wirklichen Sinn in den gesamten Episoden. Vgl. Glaser, Andrea: Der Held und sein Raum. Die Konstruktion der erzählten Welt im mittelhochdeutschen Artusroman des 12. und 13. Jahrhunderts. Frankfurt am Main 2004, S. 117.
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von sint sie schiere blint (v. 13944-6).117 Ein weiteres Indiz für den schlafähnlichen Zustand, in den der Ritter verfällt, ist die Tatsache, dass er, obwohl er stets darüber nachdenkt, zu keinem Zeitpunkt in das Geschehen eingreifen kann. Hier kündigt sich die immer wichtiger werdende Trias Schlaf, Ohnmacht/Traum und Tod an, die ihren Höhepunkt bei Gaweins zweitem Gralsbesuch finden wird.118 Beim ersten Besuch auf der Burg des altherre[n] macht sich Gawein ähnlich wie Parzival eines Frageversäumnisses schuldig:119 Er fragt weder nach der Prozession noch nach der Krankheit des Burgherren oder der Bewandtnis des Bluts in der Schale. Die Passivität des Helden ist das verbindende Element aller Episoden der Wunderkette und zudem für den Gralsbesuch programmatisch. Die Crône inszeniert die Gralssphäre somit als einen Bereich, in dem der Held aus verschiedenen Gründen inaktiv bleibt.120 Nach der Wunderkette gelangt Gawein auf die Gralsburg. Auch diese Szene ist von der Passivität des Helden und vom Schatten des Todes geprägt. Die Wunderkette ist somit wie ein Schwellenraum, der Gawein in den Gralsbereich führt. Er wird in eine andere Welt geführt, aber schon der Weg dorthin ist Teil dieser selbst.121 Während bei Wolframs Parzival der Ritt zur Gralsburg auch eine Art Übergang ist, erhält die Szene dort wesentlich mehr Gewicht. Bei Heinrich scheint es umgekehrt: Mit über 600 Versen wird der Weg zur Gralsburg ausgestaltet (vgl. v. 13980-14559), der Besuch der Burg hingegen ist mit rund 350 Versen fast um die Hälfte kürzer (vgl. v. 14576-14920). Bei Heinrich ist sozusagen der Weg das Ziel und Wunderkette und Gralsbesuch gehören zusammen.122 Neben der Passivität sowie der Traum- und Todesmotivik gibt es ein weiteres Merkmal, das die Wunderketten-Episoden verbindet und bis zum Besuch der Gralsburg durchgehalten wird. Es werden auf den Ebenen der Handlung und der Bildlichkeit wiederholt Geschlechterbeziehungen behandelt. Das Motiv der Nacktheit spielt hierbei eine wichtige Rolle. Zum einen erregt sie Begehren, zum anderen ist sie Zeichen der Schutzlosigkeit. Weiterhin fällt auf, dass stets eine der auftretenden Figuren übermächtig ist. Es werden sadomasochistische und gewalttätige Tendenzen vorgeführt, wenn beispielsweise ein Mann an der Leine geführt und ausgepeitscht wird oder unschuldige Jungfrauen vom ‚Schlegel‘ eines Mannes bedroht und in den Tod gedrängt werden. Auch im Verhältnis des männlichen Helden zu 117 Vgl. hierzu auch Gaweins Orientierungslosigkeit, als die wunderlichen Vorkommnisse enden und er aus der Trance erwacht. Vgl. auch das orientierungslose Erwachen am Ende der Episode (v. 14881ff. und 14905). 118 Vgl. Meyer (1994), S. 121. 119 Meyer (1994) nennt dieses Versäumnis Gaweins „Lähmung“ (ebd., S. 121). 120 Wie sich zeigen wird, ist die Passivität Gaweins auch das Motiv, das alle drei Wunderketten untereinander verbindet. 121 Glaser (2004), S. 118. 122 Vgl. Glaser (2004), S. 118f.
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den weiblichen Figuren, die seinen Weg kreuzen, zeichnet sich eine Hierarchisierung des Geschlechterverhältnisses ab. Während Gawein in Passivität verharrt, treten die Frauen aktiv auf und ihre Initiative kommt dem Gralssucher zugute. Entweder retten sie Gaweins Leben oder beeinflussen seinen Weg entscheidend. Ein Beispiel hierfür ist Gener von Kartis, die dem Ritter beim Überqueren des unüberwindbaren Flusses hilft, oder Pseudo-Sigune, die ihn in die Wunderkette führt. Das initiative Eingreifen weiblicher Figuren wird der Held im Bereich des Grals noch wiederholt erfahren. Selbst das Erwachen Gaweins, nachdem er Zeuge der Prozession auf der Gralsburg geworden ist, aber nicht nach den Wundern gefragt hat, rekurriert auf die Eingangsszene sowie auf die Frau, die die Wunderkette ausgelöst hat. Wie Wolframs Parzival reflektiert auch Gawein in einem Monolog die Geschehnisse der vergangenen Nacht. Das Selbstgespräch scheint noch Teil eines Traums vom Gral zu sein, denn erst danach kommt Gawein wieder ganz zu sich: als er daz in im selben sprach, / ûz dem slâfe er sich brach / und schuohte sîn wâfen an (v. 14904ff.). Es ist erstaunlich, aber im Gegensatz zu Parzival, der vor dem Gral scheiterte und von der Pseudo-Sigune schwer angegriffen wird, geht Gawein, der im wahrsten Sinne des Wortes glückliche Held der Crône, ohne Verurteilung oder Makel aufgrund seines Versäumnisses aus dem ersten Gralsbesuch hervor. Gawein wird mit lebenden Bildern konfrontiert, die in ihrer Bildfülle an surrealistische Darstellungen erinnern.123 In dem wahren Bildfeuerwerk der Wunderketten finden sich auch weitere Eigenschaften des Surrealismus wie beispielsweise „Darstellung des Irrationalen und Traumhaften“, des Phantastischen sowie Wahnhaften“.124 Auch das lässt sich auf Gaweins Zustand, in dem er die Wunderkette durchwandert, vergleichen. Als Bezugspunkt der surrealistischen Kunstrichtung gilt ferner die phantastischen Kunst von Hieronymus Bosch (vgl. Garten der Lüste, um 1500, Abbildung 11). Obwohl Heinrich seinen Gralsroman weit vor den Lebzeiten Boschs verfasst hat, erinnern die Szenen der Wunderkette mit gequälten Rittern, Monstern, nackten Personen und Andeutungen von sexuellem Missbrauch an Triptychen des Malers.125 Die Wunderkette erscheint mir somit als eine Vorform surrealistischer oder auch phantastischer Bilder. Dies bestätigt auch Walter Haug, der sagt, er kenne nichts, „das dem Fantastischen im modernen Sinne so nahe käme wie diese surrealen Sequenzen in der Crône.“126 Neben dem surrealistischen Potential sind die Wunder123 Die „Droge Bild“ des Surrealismus nennt es beispielsweise Louis Aragon zitiert nach Spies, Werner: „Einführung.“ In: Ders. (Hg.): Surrealismus 1919-1944. Düsseldorf, S. 14-39, hier S. 24. 124 Vgl. den Begriff „Surrealismus“ in: Lexikon der Kunst in 12 Bänden. Erlangen 1994. 125 Vgl. dazu Belting, Hans: Hieronymus Bosch, Garten der Lüste. Darmstadt 2002 bzw. Trnek, Renate: Das Weltgerichtstriptychon von Hieronymus Bosch. Rosenheim 1989. 126 Vgl. Haug, Walter: „Das Fantastische in der späteren deutschen Artusliteratur.“ In: Göller, Karl-Heinz (Hg.): Spätmittelalterliche Artusliteratur. Ein Symposium der neu-
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ketten aber auch und vor allem durch irritierende Geschlechterverhältnissen geprägt, vor allem von der Opposition aktiver Frauen und eines passiven männlichen Helden.127 2.2.3 Die zweite Wunderkette Die zweite Wunderkette schließt sich in der Crône unmittelbar an die so genannte Sælde-Episode an. In dieser Szene wird Gawein von der Göttin des Glücks mit ewigem Erfolg in allen Belangen ausgezeichnet.128 Bislang hat sich der Ritter scheinbar aufgrund seiner ritterlichen Fähigkeiten eigenständig aus schwierigen Situationen gerettet. Tatsächlich wird Gawein schon vor dem Besuch im Palast der Glücksgöttin begünstigt. Die Glückhaftigkeit ist seine Bestimmung von Anfang an (vgl. v.7526ff.). Nach der Begegnung mit der Sælde ist Gaweins Erfolg dann garantiert. Nach seinem Aufbruch aus dem Palast der Glücksgöttin lernt Gawein den edlen Ritter Aanzim kennen (vgl. v. 1594ff.). Dieser gibt Gawein die eindringliche Warnung mit auf den Weg, sich im Weiteren durch nichts und niemanden ablenken zu lassen (vgl. v. 15980ff.). Dass Gawein diese Warnung tatsächlich braucht, zeigt sich, sobald er in den Wald eingeritten ist (vgl. v. 16006ff.). Zuerst geht ein Hagelschauer schrecklichen Ausmaßes nieder, außerdem traktieren siedendheißer Regen und brennende Steinbrocken den Ritter. Gawein kommt allein deswegen unbeschasprachlichen Philologien auf der Generalversammlung der Görres-Gesellschaft Bonn 25.-29. September 1982. Paderborn et al. 1984, S. 133-149, hier S, 146). Auch Meyer spricht auch von einem „surrealistischen Höhepunkt“, wenn Gawein aus der Wunderkette über den Fluss zu seiner nächsten Station, der Gralsburg, gelangt (Meyer (1994), S. 122). 127 Wyss betont vor allem die Todesmotivik im Gralsbereich (vgl. Wyss (1981), S. 289, ebenso Meyer (1994), S. 124). Daneben würde ich als Haupteigenschaften der Gralssphäre die Passivität des Helden und dessen (Geschlechts-)Inszenierung setzen. 128 In dieser Episode gelangt Gawein ins Land Ordohorht, in dem die Sælde [Göttin des Glücks] wohnt. Zur Beschreibung des Palastes der Glücksgöttin: Brinker-von der Heyde, Claudia: „Phantastische Architektur bei Heinrich von dem Türlin: Das Schloss der Frau Sælde als Schlüssel zum Verständnis des Romans Diu Crône?“ In: Runa 25 (1996), S. 109-118. Als er das Schloss der besagten Göttin betritt, zeigt sich diese, wie in der mittelalterlichen Ikonografie bekannt, auf einem Rad sitzend, das auf der einen Seite Glück und auf der anderen Seite Elend (vgl. v. 15825ff.). Doch Gawein muss sich nicht mit den Schattenseiten des Lebens auseinandersetzen, Frau Sælde bestätgt ihm ewiges Glück bei allen seinen Taten und er erhält einen Fingerring von der Göttin (vgl. v. 15911ff.). Der vorausbestimmte Erfolg des Helden erstreckt sich auf alle Weltendinge, das heißt, dass ihm auch für die Gralssuche. Aus dem „Sældebesuch ergibt sich die Möglichkeit einer erfolgreichen Bewältigung der Gralaventiure“ (Meyer (1994), S. 130).
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det davon, weil sein Glück (oder die Glücksgöttin) ihn beschützt: hete Gelücke in niht behuot, / er möhte dâ wol sîn beliben (v. 16041f.). Nach dem Feuersturm beginnt es zu schneien, und der Schnee, der Gaweins Haut berührt, bereitet ihm große Schmerzen. Doch weder die Todesangst noch die Verletzungen können Gawein von seinem Weg ablenken (vgl. v. 16051ff.). Bei seiner nächsten Begegnung wird seine Standhaftigkeit hart auf die Probe gestellt. Er vernimmt eine Stimme, die ihn auffordert, anzuhalten und sich einem ritterlichen Kampf zu stellen (vgl. v. 16057ff.). Der Held soll sich auf seine männlichen Eigenschaften (manheit, v. 16069) besinnen und nicht wie ein Feigling fliehen. Zunächst wird Gawein durch die plötzliche Begegnung mit einer jungen Frau abgelenkt (vgl. v. 16084ff.). Diese trägt den abgeschlagenen Kopf eines toten Ritters im Arm, über dessen Verlust sie heftig klagt. Die junge Dame wendet sich an Gawein mit dem Wunsch nach Sühne, da der tote Ritter zu Unrecht habe sterben müssen.129 Noch bevor Gawein auf das Hilfegesuch eingehen und sich damit Aanzims Ratschlägen widersetzen kann, bricht erneut ein Unwetter los (vgl. v. 16127ff.). Die junge Dame gibt keine Ruhe und auch der ehemalige Herausforderer taucht wieder auf. Gawein bleibt seinem Versprechen gegenüber Aanzim treu und lässt sich weder aus ritterlicher Helferspflicht noch aus männlicher Eitelkeit von seinem Weg abbringen – selbst dann nicht als beide, sein Herausforderer und die hilfesuchende Dame, ihn als feige beschimpfen (vgl. v. 16145f.). Erneut greift die Natur helfend ein, ein Sturm bricht los und die beiden Verfolger verschwinden augenblicklich (vgl. v. 16155ff.). Nach diesem Intermezzo wird Gawein erneut mit einem ritterlichen Dilemma konfrontiert, das seine vorherigen Begegnungen variiert. Wieder trifft er auf eine Frau, doch hält diese statt eines Geliebten ihr totes Kind in den Armen (vgl. v. 16164ff.). Als die bekümmerte Mutter dem Ritter die Umstände des Unglücks mitteilen will, taucht der ritterliche Herausforderer wieder auf und beschimpft Gawein aufs Neue (vgl. 16175ff.).130 Wieder wird Gawein von Bitten und Verwünschungen behelligt, wieder wird er verschont. Erneut rettet den Ritter das umschlagende Wetter. Nur für kurze Zeit bleibt er verschont, dann erklingt wieder die Aufforderung: Ritter, halt! (v. 16232). Gawein sieht sich mit einem großen, überlegenen Gegner konfrontiert, der ihn zum 129 Auch die junge Dame spricht Gaweins vielgerühmte manheit an (vgl. v. 16109) und argumentiert wie schon der Herausforderer zuvor. Es ist höchst ungewöhnlich, dass Gawein nicht eingreift, obwohl in diesem Fall eine Frau um Hilfe bittet. 130 Auch in dieser Tirade fallen die bekannten Vorwürfe gegenüber Gawein: Er sei ein Feigling (vgl.: swachen muot, v. 16180), er benehme sich nicht wie ein Ritter (vgl. v. 16180ff.) und, wenn er fliehe, würde das seine Ehre verletzen (vgl.: êre, v. 16187). Am Schluss wird dann noch zweimal seine manheit (v. 16197) angegriffen: Zum einen soll er sich im Namen der Liebe und der Frauen dem Kampf endlich stellen (vgl. v. 16191ff.), zum anderen würde sein Ruf das Bild eines entschlossenen Kämpfers und nicht eines Feiglings hervorrufen (vgl. v. 16194ff.).
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Duell auffordert.131 Als er den Gegner ignoriert und weiterreitet, trifft er auf einen Ritter und einen Zwerg, die über dem Leichnam einer Jungfrau wehklagen (vgl. v. 16259ff.). Erneut ist Gawein als Ritter gefragt, denn er soll den Tod des unschuldigen Mädchens sühnen. In dieser Szene schwankt der bis dahin so disziplinierte Gawein beinahe. Der Ritter und der Zwerg behaupten, es wäre der Wille seiner geliebten Amurfina, dass er das Mädchen räche (vgl. v. 16270f.). Zuerst gibt sich Gawein unbeeindruckt, dann zieht er ein Eingreifen in Erwägung.132 Er ist schon im Begriff, sich einem Duell zu stellen, als ein Mädchen ihn anruft und aufzuhalten versucht: waz welt ir tuon? lânt stân / her Gâwein, ir üebet schaden (v. 16356f.). Falls Gawein nicht dem Weg folge, sondern eingreife, werde er das gleiche Übel über die Welt bringen wie einst Parzival. Mit Hilfe des Mädchens vertreibt Gawein seine Peiniger und reist mit ihr weiter. Die beiden treffen auf streitende Ritter (16396ff.), die sich, sobald sie Gawein erblicken, mit ihm duellieren wollen. Doch auch hier zieht die Jungfrau Gaweins Kopf aus der Schlinge. Sie nimmt ihn mit sich und lässt nicht zu, dass er kämpft. Grund ihrer Unterstützung ist, dass ihr Bruder Aanzim und Frau Sælde Gawein beschützen wollen (vgl. v. 16482ff.). Die zweite Wunderkette endet so plötzlich wie die erste: Das Mädchen verschwindet (wie vormals die Gralsburg), Gawein wundert sich und reitet unbeschadet weiter in neue Abenteuer. Die ersten beiden Wunderketten weisen eine parallel Struktur auf: Die Leitmotive der zweiten Wunderkette sind hereinbrechende Naturgewalten sowie die schmähende und anklagenden Gegner. In beiden Abenteuerketten bleibt Gawein passiv gegenüber den wundersamen Dingen und Personen, die ihm begegnen. Seine Beweggründe unterscheiden sich jedoch. Während er sich wie in Trance durch die erste Wunderkette bewegt, ist ihm in der zweiten das Eingreifen verboten. Die Helferfiguren, Aanzim und seine Schwester, sind von der Glücksgöttin dazu ausersehen, ihren Schützling vor Gefahr und Fehlern zu bewahren. Gawein, der von diesen Hintergründen nichts ahnt, hält sich zum größten Teil an sein Versprechen gegenüber Aanzim. Als der Ritter jedoch am Zwiespalt zwischen zwei wichtigen ritterlichen Tugenden, der Ehre einerseits und der konsequenten Wahrung seines Schwurs andererseits, zu scheitern droht, wird ihm Aanzims Schwester zu Hilfe geschickt. Wie schon in der ersten Wunderkette, in der Gener ihn den Fluten sowie dem sicheren Tod entreißt, ist es erneut eine Frau, die Gawein auf den richtigen Weg zurückführt. Das helfende Eingreifen von anderen, zumeist weiblichen Figuren ist ein weiteres gemeinsames Merkmal der Wunderketten sowei ein verbindendes Motiv der gesamten Gralssphäre, wie sich noch einige Male zeigen wird. Die helfenden Ge131 Der riesenhafte Ritter, der Gawein herausfordert, bezieht sich ebenfalls auf den ritters pris und die Ehre, die beide im Kampf gegeneinander erringen könnten (v. 16240ff.). 132 Dies wird ab v. 16316ff. deutlich, in dem sich die beiden Tugenden manheit (v. 16322, 16329, 16340) und stæte (v. 16322, 16330, 16334, 16340) einen Widerstreit in Gaweins Gedanken liefern.
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schwister bewahren nicht nur Gaweins Leben, sondern vielmehr auch das Glück von König Artus und seinem Hof. Die Anspielung auf Parzivals Versagen stellt einen Bezug zur Gralswelt her: welt ir den ritter bestên, / der kumber müez von iu ergên, / der von Parzivâl geschach, / daz er dâ niht ensprach (v. 16361ff.). Im Gegensatz zu Parzival, der es versäumte, das Geheimnis des Grals zu erfragen, soll Gawein nicht scheitern. Von Belang ist ferner die ritterlich-soziale Sphäre.133 Gawein verletzt sie auf seiner zweiten abenteuerlichen Reise wiederholt und muss deswegen mit den Folgen in Form von Beleidigungen und Ehrverlust umgehen. Wann immer das „soziale Fegefeuer“,134 dem sich Gawein stellen muss, zu brenzlig wird, greift die Natur ein, um den Ritter vor falschem Verhalten zu bewahren. Was in der zweiten Wunderkette als falsches oder gefährliches Verhalten definiert wird, ist den höfischen Konventionen entsprechend das einzig richtige Verhalten. Als ausgezeichneter Ritter des Artushofs wäre es Gaweins Pflicht, einer Dame zu helfen und sich der Herausforderung eines anderen Ritters zu stellen. Doch Gawein widersteht wiederholt sowohl dem Typus der bittenden Frau als auch dem Typus des schmähenden Ritters.135 Während sich die erste Wunderkette als ein Galopp durch ein surrealistisches Bilderfeuerwerk präsentiert, wirkt die zweite vergleichweise schlicht.136 Es werden innerhalb eines immer gleichen, einfachen Rahmens, der Unwettersituation, in vier parallel angelegten Episoden sämtliche höfischen Verhaltensnormen durchdekliniert. Der „Todesvision der ersten Wunderkette stehen die Aventiureabstraktionen der zweiten gegenüber“.137 Die Glücksgöttin hält ihre schützende Hand über Gawein, denn weder sein Nicht-Fragen auf der Gralsburg am Ende der ersten Wunderkette noch sein Ehrverlust während der zweiten haben negative Folgen. Doch hat die Passivität des Helden Auswirkungen auf seine Identität als Ritter und Mann. Während die erste Wunderkette den Tod und die schrecklichen Folgen des Rittertums thematisiert, löscht die zweite Wunderkette Gawein als Ritter aus.138 133 Vgl. Meyer (1994), S. 133. Meyer folgt in seiner Einteilung der zweiten Wunderkette, in der es zum einen um die soziale Sphäre und zum anderen um Natur geht, den Argumenten von Wyss. Vgl. Wyss (1981), S. 280. 134 Meyer (1994), S. 132. 135 Vgl. dazu Meyer (1994), S. 133f. Die Gründe, warum die Ritter Gawein herausfordern sind im Einzelnen: êre, prîs, manheit sowie unterschiedlich begründete Racheansprüche (vgl. v. 16407ff.). 136 Meyer nennt die zweite Wunderkette „karg“, was sie im Vergleich zur ersten ist (vgl. Meyer (1994), S. 134). 137 Meyer (1994), S. 134. 138 Die zweite Wunderkette sei eine Preisgabe ritterlicher Illusion (vgl. Wyss (1981), S. 282) oder ein Entgegenstellen gegen ritterliche Wertvorstellungen der Artusideologie. Vgl. Zatloukal, Klaus: „Gedanken über den Gedanken. Der reflektierende Held in Hein-
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In den höfischen Romanen des Mittelalters definiert sich die Identität der männlichen Protagonisten über ihrer höfisches Verhalten sowie ihren ritterlichen Ehrgewinn. Diese Identitätsfindung und -stabilisierung wird bei Gawein während der zweiten Wunderkette ausgesetzt.139 Zu Recht stellen die Gegenfiguren wiederholt seine manheit in Frage. Feststellen lässt sich also, dass in den Schwellenräumen beider Wunderketten das Problem der Geschlechtsidentität und der Geschlechterverhältnisse eine zentrale Rolle spielt. Wie steht es um die Verbindung der zweiten Wunderkette zum Gral? Diese ist nicht so offensichtlich wie in der ersten Abenteuerreise, die auf der Gralsburg endet. Elisabeth Schmid beharrt nicht nur auf einem Zusammenhang der beiden Ketten, sondern zeigt, dass auch die zweite eindeutig der Gralssphäre zuzuordnen ist. In beiden Wunderketten sieht sich der zukünftige Gralserlöser Gawein mit Problemen konfrontiert, die in bestimmte Weise mit Parzivals Versagen zusammenhängen.140 Die Todesbilder der ersten Wunderkette führen Gawein auf die Gralsburg gegenüber dessen Herrn sich Parzival nicht richtig verhalten hat. „In beiden Abenteuerketten wird, so scheint mir, dasselbe Problem ins Spiel gebracht: Abstinenz oder Rittertat, Aktivität und Passivität“ und beide diskutieren das „Problem der unterlassenen Frage beim Gral“.141 2.2.4 Die dritte Wunderkette Die dritte Wunderkette beginnt unmittelbar vor der Gralserlösung. Sie hat somit den unmittelbarsten Bezug zur Gralssphäre: gein Illes zuo der rîchen habe / kêrte er dô sunder twâl, / dâ im der vil edel grâl / gezeiget was ze vinden (v. 28613ff.). Erneut gelangt der Gralssucher auf seinem Weg in einen Wald, wo er zuerst einem Mann begegnet, dessen Körper in Flammen steht (vgl. v. 28632). Dieser treibt mit einer Peitsche eine Gruppe Frauen vor sich her, die allesamt nackt sind (vgl. v. 28637ff.). Als Gawein die Gruppe einholt, verbeugt sich der Peiniger der Frauen vor Gawein, küsst ihm die Füße, und auch seine Gefangenen gehen vor dem Gralssucher auf die Knie. Gawein ist angesichts der Not und Demut der Gruppe voller Mitleid. Trotz dieser Gefühlsregung reitet Gawein weiter und trifft auf das nächste Wunder. 142 Ein Ritter, der ein schönes Mädchen auf seinem Pferd mit sich führt, galoppiert hilferichs von dem Türlîn ‚Crône‘“ In: Krämer, Peter (1981), S. 293-316, hier S. 309, ähnlich auch Schröder (1992), S. 159. 139 Vgl. zu der Verknüpfung von Männlichkeit und Ritteridentität am Beispiel Gaweins in der Crône das Kapitel III.2.2.4 der vorliegenden Arbeit. 140 Vgl. Schmid, Elisabeth: „Texte über Texte. Zur ‚Crône‘ des Heinrichs von dem Türlîn.“ In: GRM N.F. 44 (1994b), S. 266-287, hier S. 277. 141 Schmid (1994b), 277f. 142 Auffällig ist hier wie in der ersten Wunderkette die wiederholte Benutzung des Wortes wunder (vgl. v. 28630, 28668, 28703).
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schreiend an Gawein vorbei (vgl. v. 28675ff.). Die beiden fliehen vor einer alten Frau, die die umstehenden Bäume zum Brennen bringt. Die Flammen verschlingen den Ritter und die junge Frau (vgl. v. 28694ff.). Wiederum verspürt Gawein schmerzliches Mitgefühl, das sich aber bald verliert. Dann trifft der Ritter auf ein Monster, das einen edlen Herrn trägt. Der Reiter ist fein gekleidet und das Tier reich verziert. In einer Hand trägt der Alte ein Gefäß, das einen besonderen Wohlgeruch verströmt, der Gawein stärkt. Da weder der alte Mann noch das Tier Gawein beachten oder mit ihm sprechen, verbeugt er sich vor den beiden und zieht seines Weges.143 Der Gralssucher findet kurz darauf Spuren, die auf die Anwesenheit mehrerer Ritter verweisen (vgl. v. 28733ff.), die ihm die sonderbaren Vorgänge erklären sollen. Kaum hat Gawein die Gruppe erspäht, reitet sie auf einen Palast zu. Dort angekommen findet Gawein von den Rittern keine Spur. Obwohl der Palast Anzeichen von Leben aufweist – der Tisch ist reich gedeckt, die Betten sind bereitet – kann Gawein niemanden finden. Am nächsten Morgen bricht er gut erholt auf. Kaum hat er die Zugbrücke überquert, ertönt aus dem Hintergrund die Stimme einer jungen Frau, die ihm erklärt, dass Erholung der Sinn seines Aufenthalts gewesen sei (vgl. v. 28931ff.). Gawein versucht vergebens, die Person hinter der Stimme zu finden, dann reitet er weiter. Die Erholung des Ritters ist nur von kurzer Dauer. Nachdem er einen Monat lang in einem wüsten und kargen Land unterwegs ist, wird Gawein zusehends schwächer und kränker (vgl. v. 28943ff.). Doch nach der Durststrecke führt der Weg durch fruchtbares Land und er erholt sich. Nach dieser dritten Wundersequenz führt der Zufall den Gralssucher wieder mit seinen Kameraden Kalocreant und Lanzelet zusammen und es geht weiter in Richtung Gral (vgl. v. 29000ff.). Die letzte Wunderkette stellt die Forschung vor ein Rätsel, denn während die ersten beiden sich ordnen und verbinden lassen, scheint es hier keinen Leitgedanken zu gegen.144 In der dritten Wunderkette werden „(a)us den Schrecknissen […] Ambivalenzen. Die Verfolgten wie der Verfolger huldigen Gawein: Die unerfreuliche Szenerie erhält so einen Moment der Freundlichkeit gegenüber Gawein. Der Greis auf dem Untier ist zwar gefesselt, aber er spendet Lebenskraft; das schöne Schloss bietet jeden Komfort, aber keine Kommunikation, es erweist sich als verpasste Gelegenheit.“145
143 Bis hierhin erinnern die Begegnungen in ihrer Bildhaftigkeit, Gewaltdarstellung, Monstrosität und der Inszenierung von Geschlechter- und Machtverhältnissen an die erste Wunderkette. 144 Vgl. Wennerhold (2005), S. 238. 145 Wyss (1981), S. 284.
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Die Szenen der dritten Wunderkette unterscheiden sich von den ersten beiden durch das Fehlen von Todesbildern. Sie scheint auf den ersten Blick heterogener, doch auch bei Gaweins drittem Ritt durch den Wald lassen sich kompositorische Merkmale festmachen. Durch den Wechsel zwischen Entbehrung und Erholung gewinnt die dritte Wunderkette einen strukturierenden Rhythmus.146 Außerdem ist der Held auch in diesen Szenen weiterhin nicht aktiv, sondern reitet an den Wundern vorüber. Obwohl er durchaus Gefühle wie Mitleid empfindet, setzt er sie nicht in Handlungen um. In der dritten Wunderkette hat dies jedoch andere Beweggründe als in der ersten und zweiten. Weder ein Trancezustand noch ein Schwur hält den Ritter in diesem Fall ab, sondern er hat ein klares Ziel vor Augen, den Gral, von dem er sich nicht ablenken lässt.147 Dies zeigt sich gleich zu Beginn der dritten Wunderkette. Er will unbedingt nach Illes, wo sich die Gralsburg befinden soll (vgl. v. 28613). Dieser eindeutige Bezug zur Gralssphäre leitet die Wunderkette ein. Bezüglich des klar definierten Ziels, das Gawein in Form des Grals in der dritten Kette vor sich hat, gilt es jedoch nachzuhaken. Das Geheimnis des Grals zu lösen, ist zwar das Vorhaben des Ritters, es bleibt jedoch ohne wirkliche Folgen für seine Heldenidentität. Diese ist vor und nach der Gralssuche gleich. Er wird einerseits als glücklicher Held inszeniert, dem alles gelingt und dem in entscheidenden Situationen der Zufall oder andere Figuren aus der Klemme helfen, andererseits erbringt er keinen Beweis für seine Männlichkeit. 2.2.5 Die Männlichkeit des Helden Alle drei Wunderketten kann man als Schwellenräume auf dem Weg zum Gral definieren.148 Als solche sind sie markante „Ausprägungen der anderen Welt“, der 146 Wie sich bei der weiteren Gralssuche zeigen wird, ist die Sphäre des Grals von Kummer und Entbehrungen gezeichnet. Nun, da Gawein dem Gral schon näher ist, wird das Motiv des Wechsels von Entbehrung und Erholung präsenter. 147 Wyss (1981), S. 285. Vgl. auch: „Offensichtlich hat sich mit ihm seit dem ersten Gralsbesuch eine Wandlung vollzogen, denn bevor er noch im Fragen und Handeln tätig werden kann, feiert ihn die dritte Wunderkette als Auserwählten und Erlöser“ (Zatloukal (1981), S. 309). Ich selbst würde eher von einer Veränderung Gaweins denn einer Entwicklung hin zum Erlöser sprechen, außerdem setzt Gaweins Wandlung – wie sich im Folgenden zeigen wird – schon früher, bei der Begegnung mit seiner zukünftigen Frau Amurfina, ein. 148 Die Bewertung der Wunderketten als Erzähleinheit in der Crône reichen von der Defintion als originellste Erzähleinheit (vgl. Heller, Edmund Kurt: „A Vindication of Heinrich von dem Türlîn. Based on a Survey of his Sources.“ In: MLQ 3 (1942), S. 67-82, hier S. 75) bis hin zum Vorwurf der bloßen dekorativen Funktion (Vgl. Wallbank, Rosemary E.: „A Composition of Diu Krône: Heinrich von dem Türlin’s Narrative Technique.“ In: Whitehead, F. et al (Hg.): Medieval Miscellany. Presented to Eugène
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Gralssphäre.149 „Heinrichs Schwellenräume […] sind zum Selbstzweck geworden, sie gliedern den Roman nicht mehr, sondern verselbstständigen sich und bilden somit die zentralen Stellen in der Crône.“150 In allen drei Ketten ist neben dem Gral stets auch Gaweins Helden- bzw. Geschlechtsidentität Thema. Im Bereich der Gralssphäre erweist sich der Held stets als passiv. Gawein bietet gleichsam nur die Hülle eines Helden, der in den Wunderketten alle Herausforderungen glücklich besteht. Dies stellt seine Männlichkeit in Frage. Das ist vor allem deswegen verwunderlich, da Gawein in der altfranzösischen wie der mittelhochdeutschen Artusepik nicht nur als strahlender Ritter bekannt ist, sondern sich auch im amourösen Bereich erfolgreich bewegt und gemeinhin als liebestoller Schwerenöter inszeniert wird:151 „There is perhaps no more exemplary figure of chivalric heroism in medieval romance than King Arthur’s nephew, Gauvain. Although Gauvain’s character may vary or evolve from romance to romance, he is usually portrayed both a great knight and a great lover.“152
Heinrich formt das Bild des artustreuen Ritters, männlichen Helden und begehrenden Liebhabers um. Gawein wird in der Crône eine neue Aufgabe zugedacht. Heinrich macht aus dem Artusritter einen Gralssucher, was er zuvor schon im ProsaLancelot gewesen ist, und zudem einen erfolgreichen Gralserlöser, was er noch nie war. Zu diesem Zweck muss er auch die Eigenschaften seines Protagonisten ändern, vor allem im Hinblick auf die Tatsache, dass der Gral weder aktiv gefunden noch von unkeuschen Rittern erlöst werden kann:
Vinaver. Manchester/New York 1965, S. 300-320, hier S. 310). An anderer Stelle werden die Inszenierung als „Horror-Landschaft mit […] Schreck, Graus, Wehgeheul und Zähneklappern, Blut und abgeschlagenen Köpfen“ definiert (Kratz, Bernd: „Rosengarten und Zwergenkönig in der Crône Heinrichs von dem Türlin.“ In: Mediaevalia Bohemica 1 (1969), S. 21-29, hier S. 25. 149 Glaser (2004), S. 126. Die Ausgestaltung der Schwellenräume gehören laut Glaser zu den innovativsten Leistungen von Heinrich (vgl. ebd., S. 127). 150 Glaser (2004), S. 212. 151 ‚Schwerenöter‘ ist noch eine schmeichelhafte Bezeichnung für einen Ritter, dem sich die Frauen reihenweise freiwillig hingegeben haben, der jedoch auch immer mal wieder Gewalt angewendet hat. 152 McCracken (2001), S. 124. Obwohl McCracken sich hier auf die altfranzösischen Quellen bezieht, sind die Charaktermerkmale, die sie nennt, bis in die mittel-hochdeutsche Tradition der Figur des Gaweins inhärent.
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„The idea that the later Grail quester and the earlier deserter and sexual harasser could be one and the same person (in moral terms) is opposed by the way in which Heinrich strove to suggest a form of progress representing his quester becoming slowly wise […].“153
Während Neil Thomas behauptet, Gawein durchliefe eine Entwicklung hinsichtlich seiner geistigen Reife, um schließlich der geeignete Gralserlöser zu werden,154 würde ich die veränderte Inszenierung des Ritters eher auf sein männliches oder eben nicht männliches Auftreten in der Gralssphäre beziehen. Wie schon aus dem Parzival bekannt, werden in der Sphäre des Grals das Geschlecht und Begehren des Helden wiederholt verhandelt. Dies gilt umso mehr, wenn die Gralssuche ausgerufen ist. Wenn es um die Frage geht, wie Gaweins Geschlechtsidentität in Heinrichs Gralsroman exponiert ist, sollte man sein Verhältnis zum weiblichen Geschlecht betrachten, vornehmlich zu seiner Ehefrau Amurfina. Kennenlernen und Eheschließung sind tiefe Einschnitte in Gaweins Identität und haben große Auswirkungen auf ihn.155 Kurz bevor Gawein Amurfina lieben lernt, befindet er sich auf der Burg von Blandukors. Dort hat er sich der Tochter des Burgherren in für ihn typischer Manier angenähert: sînes leides er [Gawein] hie vergaz, / dâ in die schœne Sgaipegaz / ime solch handelungen bôt (vgl. v. 6973ff.). Der Aufenthalt Gaweins auf der Burg Blandukors wird jedoch jäh unterbrochen, als mitten in einem gemeinsamen Mahl eine junge Frau den Palast betritt. Sie ist die Botin Amurfinas, der Herrin von Serre, die befehlen lässt, dass Gawein auf der Stelle zu ihr kommen solle (vgl. v. 7796ff.). Gawein folgt Amurfinas Ruf sofort und nimmt dabei keine Rücksicht auf die Tochter Blandukors:156 dô sprach her Gâwein zuo dem boten: vrouwe mîn, welt ir mich ze iuwern hulden, sô bin ich bereit, swa ir mir gebietet. swa ir bætet oder gerietet ân iuwer vrouwen, von iu, ob got wolte umbe diu sô solt iu niht sin verseit
153 Thomas (2002), S. 44. 154 Thomas (2002), S. 43ff., v.a. S. 44. 155 Es wird sich noch zeigen, ob sich möglicherweise auch beides gegenseitig bedingt. 156 Es ist verwunderlich, dass der Ritter alles hinter sich lässt und sofort zu Amurfina eilt. Wahrscheinlich lockt ihn das bevorstehende „Liebesabenteuer“, dass er so augenblicklich aufbricht (Kaminski, Nicola: Wâ ez sich êrste ane vienc, daz ist ein teil unkunt. Abgründiges Erzählen in der Krone Heinrichs von dem Türlin. Heidelberg 2005, S. 20).
178 | DIE MITTELALTERLICHEN GRALSROMANE mîn reise und mîn arebeit ob iu ir durft wære, von keiner hant zu mære; swes aber iuwer vrouwe gert, des sol sie werden wol gewert, minneclîchen âne drô; ich wil des immer wesen vrô obe sie mîn ze iht bedarf (v. 7819ff.)
Bei Amurfina angekommen, berichtet sie Gawein vom Erbschaftsstreit mit ihrer Schwester. Dieser Zwist wird zunächst vergessen, da sich die beiden ineinander verlieben: sie gert sîn und er ir (v. 8116). Obwohl der Ritter von Beginn an von Amurfinas Liebreiz gefangen ist und die beiden eine leidenschaftliche Nacht hinter sich haben (vgl. v. 8645ff.), hilft die junge Frau der Liebesbeziehung noch etwas nach. Amurfina lässt Gawein einen Liebestrank verabreichen: in dem goltvazze gebôt, / er muoste minnen, oder den tôt / […] /ditze vil starc zouber / tranc Gâwein vil souber (vgl. v. 8653ff.). Der Liebestrank und die spätere Heirat mit Amurfina markieren den Beginn der Verwandlung Gaweins vom begehrenden und begehrten Schwerenöter hin zu einem gemäßigten verheirateten Ritter.157 Die Rolle, die Amurfina dabei spielt, ist nicht ganz eindeutig. Obwohl der Ritter und sie sich sehr lieben (vgl. z.B. v. 8116ff.), hintergeht sie ihn und offeriert ihm einen Liebestrank, der seine Gefühle auf ewig verlängern soll (vgl. v. 8617-94). Um Gaweins Treue zu messen, übergibt sie ihm gar ein Schwert, das seine Liebe bewacht und ihn bei Untreue tötet (vgl. v. 8517ff.): „Having gained Amurfina’s realm, Gawein can hardly wait to enter her bedchamber. Notwithstanding the sexual thrall in which the beautiful Amurfina holds the knight, she additionally makes him drink a love potion whilst a further device in the shape of a threatening sword above her bed ensures that Gawein will remain eternally faithful to her.“158
Gawein soll sich von nun an nur noch auf Amurfina konzentrieren. Sein Begehren soll sich in Liebe umwandeln, die einzig auf Amurfina abzielt.159 Die Veränderung Gaweins zeigt sich deutlich in der Episode rund um die Einnahme des Liebestranks. Gawein verfällt als Folge in eine Art Trance und glaubt, er sei schon dreißig Jahre mit Amurfina verheiratet. In Wirklichkeit verbringt er jedoch nur fünfzehn Tage bei 157 Vgl. Thomas (2002), S. 47. Der Text verweist durchaus auf Gaweins frühere (und zahlreiche) erotische Abenteuer. Neben dem Flirt mit Sgaipegaz, den der Text ausführt, wird in der ersten Tugendprobe am Artushof zudem auf die Liebesbeziehung Gaweins zu Florie verwiesen (vgl. v. 1294). 158 Thomas (2002), S. 46. 159 Vgl. Thomas (2002), S. 48.
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ihr. Nachdem er aus diesem Zustand wieder erwacht ist, ist er ein anderer: „Was ihm ohne sein eigenes Zutun zufällt, ist nicht weniger als die Herrschaft über ein Reich und eine schöne Frau, was ihm hingegen verloren geht, ist er selbst: der junge, vielversprechende Ritter Gawein.“160 Die Transformation seiner Gefühle zeigt auch der Schwerttest, den er aufgrund seiner Treue gegenüber Amurfina erfolgreich besteht: Er schwört ihr im Angesicht der Waffe ewige Liebe. Der Schwur ist zugleich eine weitere Versicherung, dass er seiner zukünftigen Ehefrau auf ewig zugeneigt bleibe: wolte er sie ze wîbe iemer dô gewinnen, er muost von sînen sinnen sie mit stæte meinen. Wie solte er daz bescheinen? […] er sprach: Sêle, nû var hin und wis ir iemer, der ich bin, sit sie mich niht mac ernern; dû solt ir die stæte swern, der ir der lîp schuldic ist wan dû ir mit mir bist, von der ich lîde den ungemach. als schiere er die rede gesprach, daz swert wider von im gevuor. daz er ir solhe stæte swuor daz was ân alle valscheit: Amurfinâm die reine meit mohte er wol gerne nemen; ez mohte in beiden zemen, daz sie sich minnen sollten (vgl. v. 8593ff.)
Gawein lässt sich von nun an nicht mehr verführen. Doch kommt der Held gar nicht erst in die Verlegenheit, denn die Szenen und Begegnungen, die für Gawein eine erotische Komponente hätten haben können, werden völlig entschärft. Sobald Gawein Amurfina kennen lernt, beginnt seine Wandlung. Diese wird nach seinem Einritt in die Gralssphäre noch verstärkt. Die Geschlechtsidentität des begehrenden Ritters wirkt wie suspendiert. Gawein kämpft noch immer sieg- und erfolgreich, doch ist er nicht mehr Teil der Begehrensökonomie von Siegen und Liebesgaben. Gaweins Heirat tritt auch nicht, wie im Erec, in Widerspruch zu seinen ritterlichen 160 Kaminski (2005), S. 20.
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Pflichten. Auch nach der Hochzeit bleibt er am Artushof und kehrt immer wieder zu diesem zurück – selbst nach dem Gralsabenteuer.161 Der Gawein der Crône hat als verheirateter Ritter seine Vergangenheit abgelegt und erweist sich nun seiner Rolle als Gralssucher würdig. Anders als Anfortas, der im Kampf entmannt wurde, kann Gawein im übertragenen Sinne ‚seinen Mann nicht mehr stehen‘. Heinrich lässt Gawein jedoch gar nicht erst in diese Verlegenheit kommen, denn obwohl die Chrétien-Wolfram-Abenteuer162 erst nach seiner Heirat auf Gawein zukommen, werden aus Begegnungen mit erotischem Potential – wie beispielsweise mit der Antikonie- oder der Orgeluse-Figur – Streiflichter, die die ewig gleiche Botschaft des strahlenden Helden und keuschen Ehemanns in Variationen wiederholen. Aus Antikonie wird in der Crône Seimeret, und das Intermezzo, das aus dem Parzival bekannt ist, fällt weg. Wie sich später zeigen wird, verkümmert eine der stärksten Frauenfiguren der Gawan-Geschichte, Orgeluse, zu einer Nebenrolle mit Namen Manicipelle, von der beileibe keine verführerische Gefahr ausgeht. Das bedeutet nicht, dass die Crône an anderen Stellen kein Begehren vorführte. Es werden durchaus erotische Beziehungen sowie sexuelle Akte im Detail beschrieben werden, man denke nur an die Verführung der Königin Ginover durch Gasozein (vgl. v. 11608ff.) oder das Liebesspiel des Pärchens, das Gawein gefangen in der Höhle belauscht (vgl. v. 26387ff.). Diese Szenen sind es, die Heinrich den Ruf eines mittelalterlichen Pornographen eingebracht haben.163 Doch bei seinem zukünftigen Gralssucher und dessen Gralssuche wird dieses Thema gar nicht behandelt. Die Veränderung Gaweins hin zur keuschen Enthaltsamkeit ähnelt der viel zu späten Reue, die Lancelot im Prosa-Lancelot an den Tag legt: Der eine schwört seiner promiskuitiven, der andere seiner untreuen Lebens- und Liebensweise ab. Doch während Lancelots Scheitern schon vor dem Schwur besiegelt ist, vollzieht Gawein eine erfolgreiche Metamorphose hin zum erwarteten Gralserlöser.164 Diese Veränderung durchläuft mehrere Etappen. Im ersten Schritt bleibt Gawein zwar ein erfolgreicher Kämpfer und Held, ist von nun an aber nicht mehr der höfi161 Es kommt nicht zur bekannten Problematik zwischen Liebe, Landesherrschaft und ritterlicher Verpflichtung. Vgl. Thomas (2002), S. 51. Dies liegt jedoch auch daran, dass beim Gralsabenteuer so wie in den Wunderketten – mit anderen Worten in der Sphäre des Grals – Gawein nicht als männlicher Ritter sondern nur als funktionierender Kämpfer gefragt ist. In der Gralssphäre funktionieren die üblichen Geschlechterinszenierungen ohnehin nicht, das zeigen schon der Parzival und Prosa-Lancelot. Der Gewinn von Frau und Land (oder auch ohne Land wie bei Gawein) ist bei Parzival und Gawein mit der Ehe vor der Gralssuche schon gelöst. 162 Thomas (2002), S. 52. 163 Vgl. Thomas (2002), S. 55. Auch die Szene mit dem Pärchen, das Gawein kurz vor seinem zweiten Gralsbesuch belauscht, weist erotische Details auf. 164 Im Vergleich zum seinem Pendant im Parzival ist Gawein in der Crône erfolgreicher.
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sche Liebhaber, sondern der Ehemann Amurfinas. Im zweiten Schritt begegnen dem früheren Verführer und jetzigen keuschen Ehemann bei seinen Abenteuern keine Verführungen mehr: „it was necessary to ‚unsex‘ the potentially compromising figures of Seimeret and Manicipelle“.165 Er begehrt selbst nicht und wenn er zum Objekt der Begierde wird, prallt diese an ihm ab. Dies ist besonders hervorstechend bei allen Episoden, die zum Gralsbereich bzw. zur Gralssuche gehören; selbst die schillerndsten Figuren haben keinen erotischen Einfluss auf den Ritter. In einem letzten Schritt vollendet Gaweins Eintritt in die Gralssphäre, was die Hochzeit mit Amurfina begonnen hat, nämlich seine endgültige Transformation zum entsexualisierten Subjekt bzw. Objekt. So weist Gaweins Gralssuche einige Parallelen zu derjenigen Parzivals auf. Beide Gralshelden heiraten, bevor sie sich auf die Gralssuche begeben.166 Gawein wird wie Parzival zum enthaltsamen Objekt.167 Was Gawein in der Crône von Protagonisten anderer Gralsromane unterscheidet, sind die Beweggründe seiner Enthaltsamkeit. Er lehnt Begehren weder aktiv ab, um den Gral zu finden (wie Lancelot), noch kanalisiert er es auf ein Objekt (wie Parzival auf den Gral), sondern das Thema spielt schlicht keine Rolle. Es wird bei anderen Figuren und in den Wunderketten thematisiert, aber beim Protagonisten selbst hat es keinen Raum. Wo das Begehren fehlt, steht auch das Geschlecht auf dem Prüfstein. Es scheint sich so zu verhalten, dass die Gralssphäre ihrem jeweiligen Helden die Suspendierung ihrer Geschlechtsidentität abverlangt.168 In seinem Buch zur höfischen Liebe unterscheidet James Schultz zwei Spielarten der Liebesbeziehungen bzw. Eheschließungen, die im höfischen Roman Einfluss auf das Ritter- und MannSein des Protagonisten haben. Die eine betont den höfischen Charakter,169 die ande-
165 Thomas (2002), S. 57. Wie Thomas richtig feststellt, ist vor allem die Orgeluse-Figur der Crône entschärft. Im Parzival hat sie noch mittelbaren Einfluss auf die Gralssphäre, obwohl sie die zukünftige Frau von Gawan ist: Sie spielt eine Rolle bei der Entmannung von Anfortas und versucht zudem den Roten Ritter (= Parzival) zu verführen, ihr zu helfen. Dieser wiederum lehnt aufgrund seiner Liebe zu seiner Ehefrau dankend ab (vgl. ebd.). Ich würde sogar noch weitergehen und den Einfluss Orgeluses auf Gawan, der zwischendurch auch den Gral suchen wollte, noch stärker sehen: Weil er Orgeluse kennen und lieben lernt, hat Gawan gar nicht die Möglichkeit, vor den Gral zu gelangen. 166 Von den Ehefrauen von Parzival oder Gawein ist auf der jeweiligen Gralssuche zumeist wenig oder gar keine Rede. 167 Vgl. „chaste subject“, McCracken (2001), S. 125ff. 168 Vgl. zum Einfluss der Ehe auf die jeweiligen Ritter auch Schultz (2006), S. 128ff. 169 Vgl. zu der ersten Variante, bei der die Liebe der Dame durch Kampf gewonnen wird, alles seinen traditionellen Gang gegangen ist und Liebe und Heirat Zeichen des höfischen Charakters von Mann und Frau sind: „Love is in control and does not make any
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re hat Auswirkungen auf die Geschlechterhierarchien und untergräbt zumeist die Identität des Mannes: „Love is in control and knightly activity is subordinated to he demands of love or love service. In this case masculinity itself is at risk.“170 Letzteres geschieht auch in der Sphäre des Grals. Die verheirateten Ritter Parzival und Gawein (oder auch der asexuelle Held Galaad) müssen auf ihrer Suche zwar noch Kämpfe ausfechten, doch ist das zumeist nur Beiwerk. Ihre Männlichkeit können sie weder durch den Gewinn von Frauenherzen noch durch die Kämpfe mit anderen Rittern unter Beweis stellen, denn der Gral lässt sich nicht auf dem Kampfplatz finden. Der Gralsheld ist jener Gralssphäre ausgeliefert, die sowohl die traditionellen Geschlechterzuschreibungen als auch heteronormative Begehrensformen ins Wanken bringt und in Frage stellt. 2.3 Der beste Ritter der Welt im Prosa-Lancelot 2.3.1 Die Zeugung des perfekten Ritters Im Prosa-Lancelot rückt nach dem Tod von Lancelots Freund Galahot und dem Ende des Dreiecksverhältnisses ein Hauptthema in den Vordergrund: die allmähliche Annäherung an die bevorstehende Gralssuche. Sie vollzieht sich über mehrere Stationen und wird von Vorzeichen und Prophezeiungen begleitet. In der Karrenritter-Episode erfährt Lancelot das erste Mal, dass er nicht auserwählt ist, das Geheimnis des Grals zu enthüllen. Er gelangt zu einem Kloster, in dem es zwei Abenteuer zu bestehen gilt (vgl. LuG II, S. 354ff.). Die erste Probe besteht darin, dass Lancelot eine Grabplatte auf dem Friedhof des Klosters öffnen soll. Dies gelingt ihm mühelos. Hierbei erfährt der Ritter zudem, wer dort begraben liegt. Laut einer Inschrift gehört das Grab konig Galaas […], Josephs sun von Aramathia (LuG II, 356,35f.). Die Gleichheit mit Lancelots Taufname ist augenfällig, sie lässt den Ritter jedoch nicht stutzig werden. Statt sich lange bei der ersten Aufgabe aufzuhalten, drängt es ihn zur zweiten. Dieses ist laut einem der Mönche jedoch nicht für Lancelot, sondern für jemand anderen bestimmt (vgl. LuG II, 358,20f.). Dennoch besteht der Ritter darauf, sich auch der zweiten Probe zu stellen. In einer Grotte befindet sich ein brennender Sarg, aus dessen Innerem erneut die Warnung ertönt, dass dies nicht Lancelots Abenteuer sei (LuG II, 356,34). Trotz seiner Tapferkeit und seinem Status als bester Ritter der Welt, so erklärt ihm die Stimme aus den Flammen, wird doch ein anderer dieses Abenteuer zu Ende bringen:
direct claims to knightly prowess. Masculine prerogatives are respected and glory can be expected.“ (Schultz (2006), S. 136) 170 Schultz (2006), S. 136.
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Wann einer sol nach dir komen, der so ußerkorn sol sin an allen tugenden die man haben mag, das nymand das sol mögen enden das er zu ende bringen sol. Er muß alher komen und muß mich erlösen von dißer großen flammen da ich inne stecke. Wann als schier als er in diß gewelb kompt, diße flam sol zuhant erleschen und diße groß hicz, wann die hicz böser gelúst nymer in sin hercz kompt (LuG II, 360,17-24).
Die Stimme aus den Flammen gehört Symeus. Dieser lässt Lancelot wissen, dass der prophezeite Erlöser zwar aus seinem Geschlecht stamme, jedoch nicht der Ritter selbst sei. Lancelot könne aufgrund des eigenen sündhaften Verhaltens sowie desjenigen seines Vaters Ban das Flammengrab nicht löschen. Im Folgenden klärt Symeus Lancelot über seinen richtigen Namen auf: Din rechter nam ist Lancelot nit, du wurt in dem tauff Galaad genant (LuG II, 360, 31f.). Den Rufnamen Lancelot habe er nach seinem Großvater erhalten. Auch der König Galaad, dem das Grab gehört, das Lancelot zuvor geöffnet hat, ist ein Vorvater des besten Ritters und, wie Symeus selbst, mit Joseph von Arimathia verwandt. Die Episode im Kloster bestätigt, was schon zuvor angedeutet wurde, dass nämlich Lancelot das Geheimnis des Grals nicht lösen wird. Zu dieser Gewissheit gelangt nun auch der Ritter selbst, denn nur wer das Flammengrab löschen kann, soll alle Abenteuer im Artusreich sowie die Erlösung des Grals zu Ende bringen können. Lancelot bleibt diese Ehre aufgrund seines ‚hitzigen Fleisches‘ untersagt, denn der prophezeite Erlöser muss ohne sinnliche Gelüste sein. Auffällig ist an dieser Stelle, dass das Scheitern Lancelots noch mit der Sünde seines Vaters Ban – einer Art persönlicher Erbsünde – begründet wird und nicht mit seinen eigenen Verfehlungen aufgrund seiner ehebrecherischen Liebe zur Königin. Dies weist auf die unterschiedlichen Sündenkonzepte in den verschiedenen Teilen des Prosa-Lancelot hin. Neben der Absage an den besten Ritter der Welt hat die Doppelaventiure auch ihr Gutes. Endlich erfährt Lancelot seinen richtigen Namen und weitere Einzelheiten über seine Abstammung väterlicherseits. Er selbst, der Urvater seines Geschlechts, König Galaad, und auch Symeus aus dem Flammengrab stammen allesamt aus dem Geschlecht von Joseph von Arimathia.171 Die späte Erkenntnis des eigenen Namens und die damit einhergehende Stabilisierung der eigenen Identität 171 Die Verwandtschaft mit Joseph von Arimathia wertet Lancelot (und später seinen Sohn) auf, zumal die Lebensgeschichte des Urvaters aus dem Hause Bonewig unmittelbar mit dem Gral in Verbindung gebracht wird (vgl. LuG II, 356, 35ff.): „Galahads Abstammung väterlicherseits ist alt, königlich, heilsgeschichtlich und sakral kodiert.“ (Schmid (1986), S. 231). Neben dieser königlich-ritterlichen Genealogie und Verbindung zum Abendmahlskelch hebt zudem die Abstammung mütterlicherseits aus dem biblischen Hause Davids Lancelot (und sein Kind) noch mehr hervor. Zu der Abstammung Galahads, die auch die von Lancelot miteinschließt, vgl. Schmid (1986), S. 496-498.
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erinnert an einen anderen Gralssucher. Auch Parzival erfährt erst nach und nach auf der Gralssuche von seiner genealogischen Einbindung und der Verbindung zum Gral. Somit ist für beide Ritter die Suche nach dem Gral eine Annäherung an die eigene Identität. Ein weiteres Thema im Prosa-Lancelot-Zyklus ist die Dynamik von Suchen und (Wieder-)Finden. Zunächst wird noch nicht nach dem Gral, sondern nach entführten Mitgliedern der Tafelrunde geforscht. Diese Suche läuft zumeist nach dem gleichen Schema ab. Einer der Artusritter wird entführt und gefangen genommen und einer oder mehrere seiner Gefährten suchen nach ihm.172 In der Zeit der Suche wird den am Artushof Verbliebenen oft der vermeintliche Tod des verschwundenen Ritters mitgeteilt, bis dieser in der Regel wohlauf wiedergefunden wird. Auch bei Lancelot greift diese Dynamik. Er gerät, wie schon so oft, in Gefangenschaft, wird von den Mitgliedern des Artushofs für tot gehalten und von seinen Gefährten gesucht. Die Abwesenheit und der vermeintliche Tod des besten aller Ritter haben sowohl kollektive als auch individuelle Folgen, deren Facetten nacheinander durchgespielt werden. Zum einen wäre der Artushof seines besten Ritters beraubt, was schwerwiegende Folgen für dessen Ansehen und Sicherheit hätte. Zum anderen hätte die Königin ihre wahre Liebe verloren. Als Ginover Lancelot für tot hält, erkrankt sie aufgrund ihrer Trauer um ihn. Die Krankheit der Königin ist nur von kurzer Dauer; schon bald erfährt sie, dass Lancelot wohlauf gefunden wurde (vgl. PL III, 436). Nach dieser freudigen Neuigkeit setzt auch die hierarchische Ordnung in der Beziehung zwischen Lancelot und Ginover wieder ein. Nicht nur die Weissagungen und die programmatische Suche sind als versteckte Vorboten des Gralsbereichs lesbar, sondern auch die Begegnungen der Artusritter mit dem Gral. Der erste Artusritter, der auf die Gralsburg gelangt, ist Gawan. Er weiß weder, wie die Burg noch wie die Stadt heißt, in die er einreitet. Kaum hat er die Burg betreten, geschehen wunderliche Dinge. Er trifft auf eine Frau, die in siedendheißem Wasser liegt, und versucht, sie zu befreien. Dies gelingt Gawan nicht (vgl. PL III, 156,7ff.), da diese Tat dem beste[n] ritter der weldt (PL III, 156,34) vorbehalten bleibt. Als er in das Innere der Burg gelangt, wird er mit Freuden begrüßt, da er erklärt, er komme vom Artushof (vgl. PL III, 158,31). Die Bewohner der Burg halten Gawan offenbar für den vorherbestimmten ‚besten Ritter‘, verwechseln ihn also mit Lancelot. Dass Gawan weder der derzeitig noch der zukünftig beste Ritter ist, zeigt seine Reaktion, als er Zeuge einer Prozession von dreizehn Jungfrauen wird. Statt auf die Vorgänge des Rituals zu achten (vgl. PL III, 160,15ff.), erregt zwar kurz das heilige Gefäß, d.h. der Gral, seine Aufmerksamkeit, danach gelten seine Blicke aber nur noch der Schönheit der Frauen: 172 Im Fortgang der Handlung wurde, bis die Gralssuche beginnt, neben Lancelot u.a. Bohort, Gawan sowie Segremors entführt. Alle werden nach einer Weile der Suche jedoch von ihren Gefährten gefunden und wieder zum Artushof zurückgeführt.
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Gauwan sahe kommen auß der chammren [...] die aller schönesten frawen, die er alle seine tage gesehen hatte, unnd der frawenn waren biß inn 13 unnd hetten die schönesten antlitzer der weldt, so waren sie so schön, allß sich allenn frawenn jhe gebuehrt hatt.Unnd sie trugenn inn iren henndenn das schöneste faß das jhe vonn mennschen gesehen wordenn ist. Unnd es war gemacht inn gleichnus aines kelchs, unnd sie trugenn es hoch über ire haubter empohr. Herr Gauwan der sahe das faß unnd lobete es hoch. (PL III, 160,25-34) […] Darnach so besahe er die junngkfraw so das faß trueg unnd verwunndert sich noch mehr irer schöne dann deß faßes […] (PL III, 162,1f.).
Der Schwerenöter Gawan findet das heilige Gefäß weniger faszinierend, als es zunächst den Anschein hat, denn sobald er die Trägerin des wundersamen Kelchs erblickt, verschwinden alle Gedanken an dessen Machart und Bestimmung. Gawan ist an den anwesenden Damen, insbesondere an der Gralsträgerin, viel mehr interessiert als am Wunder des Kelchs. Daher wird er im Gegensatz zu den anderen Anwesenden vom Mahl, das von dem heiligen Gefäß gespendet wurde, ausgeschlossen und von einem Zwerg wegen seiner Sündhaftigkeit gerügt (vgl. PL III, 162,15ff.). Auch als er sich später auf das Wunderbett legt, weist alles, was er erlebt, darauf hin, dass er hier fehl am Platz ist: Er wird verwundet, hat einen Albtraum, kann plötzlich nichts mehr sehen, hört einen schweren Sturm und verliert all seine Kräfte (PL III, 164ff.). Erst als Gawan am nächsten Morgen aufwacht, fühlt er sich wieder stark und hat keine körperlichen Verwundungen mehr. Er befindet sich allerdings auf eine Karre gebunden und wird mit Schimpf und Schande von der Burg vertrieben. Der Grund wird ihm von einem Einsiedler erläutert. Gawan habe zwar das Ritual und andere Dinge ‚gesehen‘ aber nicht ‚erkannt‘ (vgl. PL III, 162,33f.). Das Gefäß, das im Mittelpunkt der Prozession stand, sei der heilige Gral (vgl. PL III, 178,1) gewesen. Nach Gawan kommt Lancelot auf die Gralsburg. Er gelangt auf seiner Abenteuerreise zu einer Dame, die ihm das Versprechen gibt, ihm das schönst cleynot dißer welt (PL III, 526,28f.) bzw. das súberlichst ding dißer welt (PL III, 534,24) zu zeigen, das sich auf Corbenic befindet. Als Lancelot die Burg betritt, gelingt es ihm im Unterschied zu seinem Vorgänger Gawan, die Jungfrau am Eingang aus der Wanne mit siedendem Wasser zu befreien (PL III, 536,19ff.). Auf diese Prüfung folgt noch eine weitere. Die Platte eines Grabes soll angehoben und der darin befindliche Drache besiegt werden. Dieses Abenteuer ist dem lepart vorbehalten (vgl. PL III, 536,32ff.), der seit Galahots Todesträumen ein Symbol für Lancelot ist. Nach den bestandenen Prüfungen sind die Bewohner von Corbenic voller Freude und geleiten den Helden zu ihrem König, der konig von Incotment (PL III, 540,8f.) oder konig Pelles (PL III, 542,10) genannt wird. Dieser möchte Lancelot, der ihn
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und seinen Hof befreit hat, zum Dank die Hand seine Tochter Amide173 schenken. Doch Lancelots Herz gehört nach wie vor der Königin. Auch Pelles Dienerin Brisane warnt den König vor der Liebe zwischen Ginover und Lancelot, die der Grund sei, warum der Ritter die Hand Amides ausschlagen werde: ich weiß wol das er sie nit neme umb alles das man im gereden mocht, wann er konig Artus frau lieb hatt und keyn ander in der welt haben wolt (PL III, 540,33-542,1). Der König drängt jedoch auf die Verbindung zwischen dem besten Ritter und seiner Tochter. Pelles scheint überzeugt davon, dass Lancelot das Angebot in dem Moment, in dem er Amides Schönheit beim Gralsritual ansichtig wird, noch einmal überdenken wird. Wie Gawan wird auch Lancelot Zeuge der Prozession, die von der Taube angekündigt wird und zu deren Beginn alle Anwesenden beten. Den besten Ritter erstaunt die unglaubliche Schönheit der Trägerin des heiligen Gefäßes, aber seine Aufmerksamkeit erregt vielmehr der Kelch selbst, um den sich das Ritual dreht (vgl. PL III, 542,22ff.). Lancelot „sieht […] den Gral und empfindet seine Gnade, eine deutliche Steigerung gegenüber Gawan“.174 Das heilige Gefäß versorgt alle mit Speisen, und Lancelot wird im Gegensatz zu Gawan nicht vom Mahl ausgeschlossen. Währenddessen wendet sich König Pelles mit der Frage an den besten Ritter, wie ihm die Trägerin des Kelchs gefallen habe. Lancelot antwortet, wie es Brisane vorausgesehen hat, in naiver Höflichkeit, aber auch in völliger Ergebenheit Ginover gegenüber: das er nye suberlicher jungfrauw gesehen hett, ‚von den frauwen sagen ich nichts‘ (PL III, 544,15f.). Mit diesem Satz antwortet Lancelot auf die Frage nach den Qualitäten der Jungfrau, ohne dabei die Liebe zur Königin zu verraten. Mit der erneuten Ablehnung Amides, die auf Lancelots Treue gegenüber seiner Königin gründet, wollen sich weder Pelles noch seine Beraterin zufrieden geben. Brisane fädelt eine List ein, um die Tochter des Pelles mit Lancelot zusammenzubringen. Hinterlistig deutet sie an, dass sich Ginover auf einer Nachbarburg aufhalte und sie den Ritter dorthin geleiten könne (vgl. PL III, 544,25ff.). König Pelles schickt seine Tochter ebenfalls auf die besagte Burg. Typisch für den Ritter ist, dass er, als er seine Rüstung ablegt, in Erwartung dessen, was geschehen wird, als ‚erhitzt‘ beschrieben wird (vgl. PL III, 546,29).175 Der Trank, den ihm Brisane zum 173 Amide ist nur der Beiname der Tochter des Pelles, sie heißt eigentlich Elizabeth: was genant zu zunamen Amide und zu rechtem namen Elizabeth (LuG I, 86,17f.). In der vorliegenden Arbeit wird sie jedoch als Amide bezeichnet. Die Tochter des Pelles ist zugleich auch die Gralsträgerin und die schönste Frau der Welt (vgl. LuG I, 86, 15ff.), weswegen auch Gawans Gedanken vom Gral abgelenkt worden sind. 174 Mertens (1998), S. 167. 175 Hitze fühlt Lancelot oft in Gegenwart von oder in Zusammenhang mit Ginover. Vgl. dazu Waltenberg, Michael: Das große Herz der Erzählung. Studien zur Narration und Interdiskursivität im ‚Prosa-Lancelot‘. Frankfurt et al. 1999, S. 61ff. Diese Hitze lässt Lancelot auch beim Gral scheitern (vgl. PL V, 260, v.a. 260,13: dann ir sint hiczig und
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Stillen seines Durstes verabreicht, ist Gift (vgl. PL III, 548,7), das ihn glauben lässt, er befinde sich auf Camelot. Im Rausch hält er Brisane für die Dienerin der Königin und die Tochter des Pelles für Ginover selbst: er ging an das bett und leyt sich nacket zu ir als der da went, es were sin frauwe die koniginn (PL III, 548,21f.). Weil Lancelot der Täuschung anheimfällt, kommt die Tochter des Pelles in den Genuss jener fruntschafft und wollust (PL III, 548,25f.), die der Ritter sonst nur Ginover schenkt. Der Liebesakt der Jungfrau und des besten Ritters wird hinsichtlich der Beweggründe genau erläutert. Zumeist wird die Besonderheit des Beischlafs zwischen Amide und Lancelot darin gesehen, dass dieser nicht „vom sexuellen Begehren initiiert war“.176 Das fehlende Begehren zu Beginn kann als Zeichen dafür gelesen werden, dass mit Lancelots und Amides Sohn Galaad ein Erlöser geboren wurde. Dieser hat mit Jesus, dem menschgewordenen Gott, gemeinsam, dass Zeugung und Empfängnis nicht durch sexuelles Begehren ausgelöst wurden.177 Die Absenz von Begehren trifft sicher auf den Beginn der gemeinsamen Nacht zu, denn in dem Bett liegen eine Tochter, die ihrem Vater gehorcht, und ein Ritter, den ein Liebestrank wehrlos macht. Als sich Lancelot Amide im Glauben, es handle sich um seine geliebte Königin, annähert, ist es um das Mädchen geschehen. Von nun an liebt sie ihn und somit kommt doch noch Begehren ins Spiel. Man könnte einerseits behaupten, es sei nur folgerichtig, da Amides Vereinigung mit Lancelot zugleich die Verbindung des schönsten und besten Ritters (vgl. PL III, 548,27) mit der schönsten aller Frauen (PL III, 548,28) ist. Andererseits hat das Begehren, das den Ritter und seine Geliebte erfüllt, jeweils andere Motive: Sie begerte syn mit inwendigen gedencken, wann sie es also sere nit det von syner schönheit willen oder durch erhiczung des fleischs noch durch hoffart oder begirden, sunder durch solch frucht zu enpfangen da von alles das landt komen solt zu sym ersten gluck, das von dem jemerlichen schlag des schwertes an frömde handt gewant und verdorben was, als sie das jemerlich besunen hatt in der suchĤng des grales. Aber er begert ir inn eyner ander meynung, wann durch ir lieb oder schonheit begert er ir nit, dann er genczlich meynt, es wer syn frauw die koniginn (PL III, 548,29-550,2).
Amide begehrt den Ritter, um von diesem ein Kind zu empfangen;178 Lancelot begehrt die Tochter des Pelles nur unter Vorspiegelung falscher Tatsachen. Gott vergibt Lancelots Verfehlung, jedoch nicht im Hinblick auf die Person des Ritters, unkusch), denn sexuelle Erhitzung ist Teil der Unkeuschheit, die der Gralsbereich nicht duldet (vgl. Klinger (2001) S. 410). 176 Schmid (1986), S. 230. 177 Vgl. Schmid (1986), S. 230. 178 Zum Zusammenhang von Begehren und Empfängnis in medizinischer Sicht des Mittelalters: Cadden (1993), S. 54-104 bes. 91-98.; ebenso: McCracken (1998), S. 38.
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sondern einzig deshalb, weil es der einzige Weg ist, den Gralserlöser zu zeugen. Lancelots Sünde besteht zum einen in der Vorstellung, mit der verheirateten Ginover den Liebesakt zu vollziehen, und zum anderen in der tatsächlich durchgeführten Entjungferung Amides. Dass diese ihre Jungfräulichkeit, die im Prosa-Lancelot als geheiligtes und höchstes Gut gilt, aufgibt, verzeiht Gott ebenso. So sind Lancelot und Amide trotz ihrer Verfehlungen nicht nur von Sünde frei, sondern Gott honoriert den Liebesakt sogar mit der Zeugung eines Sohnes und zukünftigen Erlösers: so gab er yn solch frucht zu enpfangen und zu gewinnen das von jungfrauwen blĤmen, die da verlorn were worden, ward gemacht Galaat, der sere starck und frĤmm ritter, der die hoen abentúre des grales zu ende bracht und der sich saczt an die sorglich stat der tafelrunden, da hien sich nye keyn ander ritter gesaczt, er enwere dott (PL III, 550,9-14).179
Außerdem übernimmt der Sohn den eigentlichen Namen des Vaters und wird ihn in seinen zukünftigen Taten reinwaschen. Als der nam der Freuden verlorn was an Lancelot durch erwermung der ubertryt, also wart sie wiedder herholt an dißen durch bezwung des fleischs, dann sie was jungfrauw mit willen mit und in irer dat biß an ir ende, als die hystorie das ußwisende ist. Also wart geholt blum vor blum, wann inn syner geburt was blume und spiegel der ritterschafft, das ward erlaubt durch die samenung. Und ir jungfreuwelicheit wart geergert und verandert. Inn dißem ward sie enpfahen. (PL III, 550,15-22)
Die Entjungferung der Mutter und die Sünde des Vaters werden durch den Sohn wettgemacht, der sein Leben lang, bis er in den Himmel aufsteigen wird, jungfräulich und keusch bleibt – und auch nur deshalb den Gral finden kann und darf (vgl. PL III, 550,23ff.). Am nächsten Morgen ist der Zauber der Nacht verschwunden. Das Gift hat aufgehört zu wirken und Lancelot ist wieder bei Sinnen. Die Frau, neben der er erwacht, stellt sich ihm als Tochter des Königs Pelles vor (vgl. PL III, 552,7f.). Er erkennt, dass er hinterlistig getäuscht worden ist. Der bittere Nachgeschmack über diesen Hinterhalt und die Verzweiflung, die er aufgrund seiner Untreue gegenüber Ginover empfindet, münden in einem für ihn charakteristischen Wutanfall. Er ist wie von Sinnen und bedroht Amide mit seinem Schwert und dem heißen Wunsch, sie zu töten (vgl. PL III, 552,14ff.). Die Tochter des Pelles fleht jedoch bei den Heiligen um ihr Leben und Lancelot lässt sich auch in diesem Moment von ihrer 179 Die Zeugung Galahads ist eine für Helden typische und dennoch ungewöhnliche. Sie erinnert zudem an die ominösen Umstände der Empfängnis von König Artus – natürlich mit umgekehrten Vorzeichen, da bei zweiterer der Erzeuger eine falsche Rolle spielte und die Mutter getäuscht wurde.
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Schönheit faszinieren. Doch kann ihr Anblick den Zorn und die Niedergeschlagenheit des Ritters nicht mildern, obwohl die Königstochter nackt vor ihm kniet und um ihr Leben bittet (vgl. PL III, 552,27-34). Lancelot mäßigt sich und bekommt seinen Zorn in den Griff. Er beschließt, Amides Leben zu schonen, und reitet kummervoll von dannen (vgl. PL III, 554). Wie sich nach dem Beischlaf herausstellt, war die Verbindung Lancelots und Amides von langer Hand geplant. Der Vater des Mädchens, König Pelles, reitet noch am selben Morgen zur Nachbarburg, um seine Tochter nach den Geschehnissen der vergangenen Nacht zu befragen. Da alles so abgelaufen zu sein scheint, wie es der Vater und Brisane eingefädelt hatten, ist es auch nicht verwunderlich, dass Amide schon nach kurzer Zeit feststellt, dass sie von Lancelot schwanger ist (vgl. PL III, 552,26ff.). Die Nachricht wird im Land des Königs Pelles mit größter Freude aufgenommen. Welche unmittelbaren Folgen die Zeugung des gemeinsamen Kindes vor allem für Amide mit sich bringt, wird beim Besuch des nächsten Artusritters auf der Gralsburg vorgeführt. Nach Gawan und Lancelot kehrt schließlich auch Bohort in Corbenic ein. Den Bewohnern der Burg wird schon bei dessen Ankunft deutlich, dass es sich bei dem Besucher aufgrund seiner Ähnlichkeit mit Lancelot um einen Verwandten handeln muss (vgl. PL III, 642,25f.). Bohorts Einkehr auf der Gralsburg hat einen besonderen Grund, der Ritter will er dort im Zuge eines Gerichtsentscheids einen Zweikampf ausfechten. Bei diesem Kampf zeigt auch der Neffe des weltbesten Ritters den Mut und die Stärke, für die Lancelots Familie väterlicherseits bekannt ist, und besiegt seinen Gegner. Anders als andere Artusritter verschont er das Leben seines Gegners und zwingt ihn zu Reue und Buße (vgl. PL III, 646,24ff.). Nachsicht und Mitleid sind somit Eigenschaften, die Bohort neben seiner Keuschheit auszeichnen. Ihm wird, ebenso wie Gawan und Lancelot, die Ehre zuteil, an der Gralsprozession teilhaben zu dürfen.180 Im Gegensatz zu jenen beobachtet er den Gral nicht nur. Bohort verneigt sich vor ihm, was darauf hindeutet, dass er die Heiligkeit de Gefässes, das an ihm vorbeigetragen wurde, erkannt hat: das es der heylig gral was (PL III, 648,26). Wegen des Respekts, den Bohort der Prozession und dem Gral selbst entgegenbringt, darf er an dessen Speisewunder teilnehmen. Die Gralsbesuche der drei Artusritter Gawan, Lancelot und Bohort deuten in ihrer Steigerung darauf hin, dass sich das Lager der Artusritter aufteilt. Es wird einerseits jene Gralssucher geben, die aufgrund ihrer fehlenden Einsicht und Buße im Gralsbereich nicht erwünscht sind und deswegen keinen Erfolg auf ihrer
180 Der augenfällige Grund, warum Bohort zu der Prozession auf Corbenic eingeladen wird, ist, dass er ein Verwandter Lancelots ist (vgl. PL III, 648,9ff.). Aber wie sich später herausstellt, wird er aufgrund seiner Keuschheit einer der zwei Gefährten des Gralssuchers Galaad werden, dem teilweise Einblick in das Geheimnis des Grals gewährt werden wird.
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Suche haben. Andererseits wird es auch die reinen oder reuigen Suchenden geben, die mehr oder weniger nahe an das Geheimnis herankommen werden. Bei der Speisung sitzt die Tochter des Königs Pelles neben dem Gast, weil sie nach dem Verlust ihrer Jungfräulichkeit den Gral nicht mehr tragen darf: sie trug numme den heylgen gral, darumb das sie yren magtum verlorn hett (PL III, 648,15f.). Alle Teilnehmerinnen an der Gralsprozession müssen keusch und jungfräulich sein, und das gilt insbesondere für die Trägerin des heiligen Gefäßes (vgl. PL III, 648,16-21). Jungfräulichkeit gilt auch für die Gralsritter, die auf der bevorstehenden Gralssuche Erfolg haben sollen, als Voraussetzung. Bohort darf aufgrund seiner Keuschheit zwar bis zum Gral gelangen, er kann jedoch niemals der Gralserlöser sein, da er seine Unschuld bereits verloren hat. Er wird mithilfe eines magischen Rings verzaubert und von seinem Wunsch, ewig jungfräulich zu bleiben, abgebracht. aber so baldt er das finngerlin an seine hanndt gestoßenn hatte, da bekehrt sich seinn gemuet wunnderbarlich, dann er was vonn kalltter natur unnd ain junngkfraw mitt gutem willen unnd dem werck, unnd durch dieße gabe wardt er hitzig unnd innbrünnstig, allß er darvor nicht geweßen was (vgl. LuG II, 630,11-16).
Von dem Zauber betäubt, vergisst Bohort seinen Vorsatz, er schläft mit der Tochter des Königs von Bangorre und zeugt mit ihr einen Sohn.181 Die Verführungsszene ist parallel zu derjenigen von Lancelot und der Tochter des König Pelles angelegt. In beiden Fällen bringt Magie die Ritter zum Beischlaf. Da die Paare jeweils einander würdig sind, segnet Gott sie mit außergewöhnlichen Söhnen. Bohort und die Tochter des Königs Bangorre sind die Eltern Helains, des Weisen, des zukünftigen Kaisers von Konstantinopel (vgl. LuG II, 632,29ff.). Nachdem Amide Galahad empfangen und ihre Jungfräulichkeit verloren hat, muss sie ihr Amt als Gralsträgerin aufgeben. Ihr Kummer über den Verlust ist groß und ihr Vater Pelles tröstet sie mit der Aussicht auf die Ankunft des zukünftigen Erlösers, den sie austragen darf. Hier wird, wie schon bei Herzeloyde, deutlich, dass Mütter, die sich als begehrende und begehrenswerte Subjekte inszenieren, irritieren. Im Prosa-Lancelot unterscheidet sich die Zeichnung der Mütter der (Grals-)Helden noch einmal entscheidend vom Parzival. Dies betrifft das Schicksal Herzeloydes und Amides. Beide sind schön und von edelster Herkunft. Ihre Erwähltheit, die sie zu Objekten ritterlichen Begehrens macht, geht auf ihre Söhne über. Im Fall von Amide zeigt Gawans Reaktion ganz deutlich, wie begehrenswert sie ist, achtet der Artusritter doch mehr auf die Gralsträgerin als auf das Gefäß selbst. Auch die Toch181 Vgl.: allso sinndt die zwoe junngkfrawenn zusamenn gelegenn […] unnd was sie nicht wusten, das lehrt sie die natur, unnd sie thetenn sich so nahe lieblichen zusamen, das sich die junngfräwlichen schloß eröffnetenn (LuG II, 632, 25-29).
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ter des Königs Bangorre ist schöner als jede andere Frau mit Ausnahme von Amide und der Jungfrau Maria (vgl.: LuG II, 614,9f.). Doch werden die Mütter, nachdem sie ihre Söhne ausgetragen haben, zunehmend marginalisiert. Amide ist fortan nicht mehr Gralsträgerin und eine begehrenswert schöne Dame, sondern ausschließlich die Mutter des zukünftigen Gralserlösers. Beim Aufbruch des jungen Helden wird die Mutterfigur endgültig zum Verschwinden gebracht. Die Helden müssen ihren Weg allein gehen. Die Trennung von Mutter und Kind geht zumeist mit der Auslöschung der Mutterfiguren einher: Parzivals Mutter Herzeloyde stirbt, Galaads Mutter Amide taucht nur noch rudimentär auf.182 Als dritte Mutterfigur könnte man die Tochter des Königs Bangorre ergänzen, die von Bohort Helain empfängt. Ihr Schicksal verläuft parallel zu demjenigen Amides. Alles, was über das Verhalten der Tochter des Pelles als Mutter und Objekt des Begehrens gesagt wird, kann auf die Tochter des Königs Bangorre übertragen werden. Beide bleiben bei ihren Liebesbegegnungen namenlos; beide begehren Männer, die ihre Zuneigung nicht wollen; beide empfangen einen außergewöhnlichen Sohn; beide sind in ihrer Inszenierung als begehrende Subjekte irritierend. Der wesentliche Unterschied zwischen den Königstöchtern besteht darin, dass Lancelot mit Amide einen zweiten Liebesakt vollzieht. Am Ende ereilt sie das gleiche Schicksal wie die Tochter des Königs Bangorre. Wie diese wird sie von ihrem Sohn verlassen, bleibt allein und verschwindet aus der Handlung.183 Man kann das Schicksal Amides nach ihrem Beischlaf mit Lancelot mit den Worten Peggy McCrackens zusammenfassen: „a first (and only) sexual encounter, conception, abandonment by her lovers, loss of her child“.184 Amide hatte zwar zweimal Beischlaf mit Lancelot, aber auch beim zweiten Mal geschieht das von Lancelots Seite aus nicht freiwillig. Er wird erneut mit der Vorstellung getäuscht, dass die Frau, mit der er im Bett liegt, die Königin sei. So bleibt auch Amide am Ende allein und keusch zurück. Der unwissende Erzeuger Galaads kehrt nach einigen Abenteuern zurück, um an einem Turnier in Camelot teilzunehmen. Hier kommt es erneut zur Begegnung mit der Königin. Die Liebenden haben sich zuvor heimlich darüber verständigt, dass Lancelot sich nicht zu erkennen gibt, sondern als grüner Ritter verkleidet auftritt (vgl. PL III, 762; v.a. 764,34). Ginover ist über das 182 Vgl. auch McCracken, Peggy: „Mothers in the Grail Quest.“ In: Arthuriana 8.1 (1998), S. 35-48, hier S. 36, 38. Auch Mathilda Bruckner stellt fest, dass die mütterliche Sexualität, die Auslöschung der Mutterfigur und die Aufwertung der Keuschheit miteinander korrespondieren. Vgl. dazu Bruckner, Mathilda T.: „Rewriting Chrétien’s Conte du graal – Mothers and Sons: Questions, Contradictions, and Connections.“ In: Kelly, Douglas (Hg.): The Medieval Opus: Imitation, Rewriting, and Transmission in the French Tradition. Amsterdam 1996, S. 213-244, hier S. 225. 183 Vgl. dazu auch McCracken (1998). 184 McCracken (1998), S. 40.
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Wiedersehen höchst erfreut und ihr Ritter reagiert bei ihrem Anblick in bekannter Manier: Er verfällt in Trance (vgl. PL III, 768) und ist wie gelähmt. Obwohl er bis zu diesem Zeitpunkt das Feld dominiert, schwinden seine Kräfte zusehends und sein Herz wird immer schwächer. Weil er nicht Herr seiner Sinne ist, wird er angegriffen und scheinbar verletzt. Sobald er vom Turnierplatz getragen wird und somit der hypnotisierenden Kraft seiner Geliebten nicht länger ausgesetzt ist, erwacht er wieder. Die Königin erhält in der Turnierpause Besuch von einer der Jungfrauen, die Lancelot auf seiner Abenteuerreise gerettet haben (vgl. PL III, 774; 776). Obwohl Ginover Lancelot oft gezürnt und nicht an seine unerschütterliche Treue geglaubt hat, wird sie nun von seiner ewigen Liebe überzeugt (vgl. PL III, 778,5ff.). Wie immer ist es Ginover, die auf den Ritter zugeht, wohingegen Lancelot nur auf ihre Zugeständnisse reagiert. Die Königin berührt und küsst ihren Ritter zuerst und lässt ihn in ihr Schlafgemach holen, wo es zum Beischlaf kommt: da gingen sie mit einander schlaffen ligen, wann sie einander lang begert hatten und gar viel darumb erlitten hatten (PL III, 790,3-5). Nach dem Liebesakt schwört Lancelot Ginover erneut unerschütterliche Treue und bekräftigt, dass alles, was er tue, nur ihr gewidmet sei (vgl. PL III, 792,6ff.). Die Königin sei als seine Herzensdame der Grund all seines Erfolgs.185 Die Liebenden verabreden sich für die nächste Nacht zu einem zweiten Stelldichein. Wiederum kommt es zum Ehebruch: Die nacht waren sie sere gemechlich, dann es enmocht keyn freud under amys und amyen syn, sie hetten ir eins teyls (PL III, 794,36-796,2). Die Liebe zur Königin treibt Lancelot zum Sieg im Turnier von Camelot an. Schließlich gibt er sich den anderen Rittern der Tafelrunde und dem König zu erkennen. Nachdem der Artushof ihn als besten Ritter gefeiert hat, werden die Abenteuer, die er während seiner Abwesenheit erlebt hat, in einem Buch dokumentiert (PL III, 812,28). Im Zuge dessen werden nicht nur Lancelots, sondern auch Gawans Erlebnisse festgehalten. Gawan gibt einen weiteren Hinweis auf Lancelots zukünftiges Scheitern beim Gral (vgl. PL III 812,28ff; v.a. 814,1-6): Ein ausgewählter Ritter suche zwar dieses Abenteuer, bestehe es jedoch aufgrund seiner Sünden nicht. Bei ihm handele es sich um den Sohn der konigin Dolereuße (PL III, 814,5f.), d.h. um Lancelot (vgl. PL III, 812,2).186 Wenn Gawan auf Lancelots Sünde hinweist, ist dies ein verstecktes Indiz für die ehebrecherische Liebe zwischen Ginover und ihrem Ritter:
185 Vgl. zur besserung von Lancelot, die einzig auf der Liebe zu Ginover beruht auch Klinger (2001), z.B. S. 140. 186 Nach dem Tod des Königs Ban und dem vermeintlichen Verlust ihres Sohnes Lancelot gibt sich Königin Aleine selbst den Beinamen „Traurige Königin“: ‚Werlich das ist war […] das ich wol mag heißen die Ruwig Koniginn‘ (LuG I, 48,4ff.).
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Als er [Gawan] die abenture erzahlt von den sercken, sprach er das nummer keyn man die abenture zu ende brecht biß zur zitt das der ungluckhafftigste ritter dar keme, der durch syn amie verlorn hat nach zu volgen den abenturen vom heiligen gral. Und an andern enden man nennt ine der konigin ritter Amur. (PL III, 816,30-35)
Dem Artushof ist bis zu diesem Zeitpunkt nicht bewusst, dass sich der beste Ritter einer Sünde schuldig gemacht haben könnte. Zum ersten Mal denkt die Königin über den schlechten Einfluss ihrer Liebe auf Lancelots Karriere und Zukunft sowie über die Folgen ihrer ehebrecherischen Liaison nach. Sie ist niedergeschlagen, denn sie gibt sich selbst die Schuld an Lancelots Versagen. Sie erkennt, dass es der Ehebruch ist, der Lancelot vom Gral fern hält: auch solch gluck gegeben das ir wol darzu komen syn mochtent die abenture des grals snelliclichen zu ende zu bringen, und die verlorn habent durch unser beyder vermischung (PL III, 818,13-16). Lancelot versucht, seine Geliebte zu trösten, indem er zum wiederholten Mal ihren Einfluss auf seinen bisherigen Aufstieg und Erfolg hervorhebt. In diesem Gespräch wird dreierlei deutlich: Erstens wird die Liebe Lancelots und Ginovers, die bislang als vollkommen höfisch und einzigartig hervorgehoben wurde, in der Sphäre des Grals zusehends negativ bewertet. Lancelot ist nicht aufgrund der Sünde seines Vaters, sondern aufgrund der ehebrecherischen Liebe zu Ginover der Gralssuche nicht würdig. Zweitens erweist sich, dass Vergangenheit und Gegenwart eng miteinander verwoben sind: „(T)he interplay between past and present which serves to invest past events with a new meaning is a key element in the Grail allegory and gives the Queste itself a central role in the Lancelot-Grail-Cycle.“187 Drittens wird deutlich, dass Lancelot den negativen Einfluss der Königin nicht wirklich erkennt. Dies zeigten schon die Geschehnisse am Flammengrab von Symeus. Trotz der Warnung hat Lancelot seine Affäre aufrechterhalten und sogar noch intensiviert. Lancelot hat die Neigung zum verbotenen Begehren von seinem Vaters Ban geerbt. Auch weiterhin wird er alle Rittertaten seinem Lebensmittelpunkt Ginover widmen, und die Königin möchte trotz ihrer Einsicht in den Zusammenhang zwischen ihrer Liebe und dem Gral letzlich nicht auf ihren Geliebten verzichten. Lancelot wird nach dem Gespräch mit Ginover wiederholt mit seinem zukünftigen Scheitern vor dem Gral konfrontiert. Er gelangt an das Grab seines Großvaters, der ebenfalls den Namen Lancelot trug. In der Ahnenreihe wechseln sich keusche und sündige Vorväter ab. Wer zu welcher Gruppe gehört, lässt sich am Namen ablesen. Der Großvater Lancelot begehrt wie sein Enkel eine verheiratete Frau; der
187 Kennedy, Elspeth: Lancelot and the Grail. A Study of the Prose Lancelot. Oxford 1986, S. 301.
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Urvater der Sippe war hingegen keusch und rein und trägt denselben Namen wie Lancelots Sohn: Galaad.188 Wegen seiner Heißblütigkeit besteht Lancelot dann auch die Brunnenaventiure nicht: ‚Uff myn truw‘, sprach der einsiedel, ‚so sollent ir wißen das ich uch ware han gesagt an dem das ich zu uch sprach, ir werent hiczig und unkusch und das eyn ritter reyner dann ir sint herre sol komen, das off eyn ander zytt geschehen soll. Und ir mögent gesehen das es ware ist. Wann werent ir also das ir die abentur des heiligen grales zu end mochten bringen, so wer von stund durch uch die hicz des brunnens gestillet worden und verloschen durch uwer zukunfft. Und was guter ritterschafft ir tribent, so verlischt die hicz des bronnens dar umb nit […].‘ (PL IV, 152,3ff.)189
In diesen Episoden wird Lancelots Verhalten umgewertet, der Verlust seiner Jungfräulichkeit und die ehebrecherische Liebe zur Königin lassen ihn auf der Gralssuche versagen.190 Diese Gewissheit dringt erst dann zu Lancelot vor, als er erfährt, dass am Artushof eine freudige Botschaft verkündet worden sei: das geborn wern die die hohen abenturen des heiligen grales zu ende bringen sollten, und von dem besten ritter der welt komen und von des richen konig Pellirs dochter, die ein schönst frauw were die in welt ist (PL IV, 164,6-10). Lancelot erinnert sich erneut an den Verrat, zu dem ihn der Zaubertrank trieb, und erkennt, dass seine Liebesnacht mit der Tochter des Pelles nicht ohne Folgen blieb. Auf die Nachricht, dass er einen Sohn gezeugt habe und dieser das Abenteuer des Grals bestehen werde, reagiert er jedoch nicht (vgl. PL IV,14ff.), sondern wendet sich scheinbar wichtigeren Aufgaben zu. Parallel zu Lancelots Erlebnissen sind die Abenteuer Bohorts angelegt. Als dieser nach seinem Verwandten Lancelot sucht, gelangt er ein weiteres Mal auf die Gralsburg. Dieser Besuch steht im Zeichen der „steigenden Wiederholung“.191 Bohort wird aufgrund seiner Keuschheit erlaubt, von dem Mysterium des Grals mehr zu sehen und zu erfahren als bei seinem ersten Besuch – und auch wesentlich mehr als Gawan und Lancelot. Auf der Gralsburg wird Bohort von König Pelles und dessen Tochter empfangen. Ein Mönch tritt herein, auf dem Arm ein kleines Kind, das 188 Vgl. dazu auch: „Vom Großvater, der sich der außerehelichen Liebesvereinigung enthält, über den Vater Ban, dessen einmaliger Fehltritt im Flammengrab des Symeus offenbart wird, und schließlich über Lancelot, der sich wiederholt den Liebesfreuden hingibt, erstreckt sich die genealogische Linie bis in die Zukunft, die einen jungfräulichen Sohn und Retter hervorbringen wird.“ (Merveldt (2004), S. 203) 189 Vgl. Philipowski (2002), S. 179. 190 Vgl. Philipowski (2002), S. 178. 191 Mertens (1998), S. 169.
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Bohort als nefe vorgestellt wird. Das Kind ist Lancelot wie aus dem Gesicht geschnitten (PL IV, 320,23; 320,26f.; 320,33). Da Bohort einer der wenigen Eingeweihten ist, versucht er, zu diesen Neuigkeiten zu schweigen. Dies gelingt ihm jedoch nicht und der Mönch ringt ihm ab, die Ähnlichkeit des kleinen Kindes mit Lancelot zu bestätigen (vgl. PL IV, 322,1f.). Später weiht König Pelles Bohort in den Betrug ein, der gegen Lancelot angewendet wurde, um ihn zur Zeugung Galaads zu bewegen. Somit wird Lancelots Vaterschaft bestätigt (PL IV, 322,28ff.). Bohort wird erneut Zeuge des Erscheinens des Grals, er sieht und spürt dessen Kraft und nimmt an dem vom heiligen Gefäß gespendeten Mahl teil (PL IV, 322, 13ff.). Als er allein vor den Gral zu treten wünscht, weist König Pelles ihn an, erst zu beichten, da man nur rein und ohne Sünde vor den Gral treten dürfe (vgl. PL IV, 326). Der Priester bestätigt Bohorts Keuschheit und geistige Reinheit und offenbart ihm die List, mit der es zur Zeugung seines Sohnes und zum einmaligen Beischlaf mit der Tochter des Königs Bangorre kam (vgl. PL IV, 326,15ff.). Die Nacht im Palast des Grals hält für Bohort einige Prüfungen bereit.192 Er erfährt, dass es ausschließlich ein gut ritter den Gral erlösen und die nächtlichen Gefahren bestehen kann (vgl. PL IV, 336,24ff.). Aufgrund seiner Reinheit, die ihn vor allen Artusrittern auszeichnet, die je den Weg nach Corbenic gefunden haben, darf Bohort dem Wunder der blutenden Lanze beiwohnen (vgl. PL IV, 338,19ff.). Doch darf er nur sehen und beobachten, die Erkenntnis bleibt allein dem Gralserlöser vorbehalten: ir mögent in uwern landen wol sagen, also als ir da hien koment, das ir die rechte glene gesehen habent und entwißent nit was es sy. Und ir ensollents auch nit wißen biß der sörglich seß von der tafelronde synen meyster funden hatt. Durch den der sich darinn seczt sollent ir die warheit dißer glenen erfaren und were sie in diß lant bracht und wannen sie kumen sy. (PL IV, 338,28-34)
Außerdem erfährt Bohort, dass ursprünglich Lancelot für dieses letzte und größte aller Abenteuer vorgesehen war, mit dem Verlust seiner Jungfräulichkeit aber seine Chance vertan habe (PL IV, 338,35-340,6). Als Belohnung für seine Keuschheit darf Bohort den Gral, der von einem Tuch aus weißem Samt verhüllt ist, aus der Ferne sehen (vgl. PL IV, 342). Als man den Schleier lüftet, wird Bohort vom Glanz des heiligen Gefässes geblendet. Er respektiert die Warnung, nicht weiter in das Geheimnis des Grals einzudringen, da dies jemand anderem vorbehalten sei (PL IV, 342,13ff.). Nachdem Bohort die Gralsburg mit dem Wissen verlässt, dass Lancelot mit der Tochter des Pelles einen Sohn gezeugt hat, dauert es nicht lange, bis die Geschichte 192 Die Prüfungen ähneln denjenigen, denen sich Gawan bei seiner Nacht im Wunderbett stellen musste (Sturm, Verletzung durch eine Lanze, Kampf mit einem fremden Ritter usw.).
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seinen Cousin wieder einholt. Amide ist noch immer in Lancelot verliebt und begehrt ihn so sehr, wie eine Frau überhaupt nur kann (vgl. PL IV, 618,34ff.). Sie reist zu einem Fest an den Artushof und begegnet dort der Königin. Ginover möchte Amide unbedingt kennenlernen, denn diese hat die Königin aufgrund ihrer außergewöhnlichen Schönheit beeindruckt (vgl. PL IV, 620,15ff.). Der Besuch der Tochter des Pelles in Camelot hat jedoch sowohl für die Königin als auch für ihren Ritter schwerwiegende Folgen. Wieder ist es Amides Dienerin Brisane, die eine List einfädelt und Lancelot nicht wie verabredet zu seiner Königin, sondern zu Pelles Tochter führt (vgl. PL IV, 622,4ff.). Der Ritter fällt, obwohl dieses Mal kein Zaubertrank im Spiel ist, wieder auf die Täuschung herein und glaubt, Amide sei Ginover. Ohne den Einfluss von Magie hält Lancelot die Tochter des Pelles für seine Geliebte und schläft mit ihr: er leyt sich by sie und spielt mit ir, des er dann by der koniginn zu thun pflag, wann er nit anders wust dann sie wer es gewest. Inn allsolchen freuden und wollust entschlieffen sie beyd byeinander, und yglichs hielt sich zu mal sere gluckhafftig (PL IV, 622,18-22).
Die Königin, die eigentlich mit Lancelot für die Nacht verabredet gewesen ist, entdeckt den unwissenden Geliebten nach vollzogenem Akt im Bett der Tochter des Königs Pelles (PL IV, 624,3ff.). In den Augen Ginovers ist die Krönung des Betrugs jedoch, dass er in jenem Zimmer stattgefunden hat, in dem auch sie in freudiger Erwartung einer Liebesnacht mit Lancelot gelegen hatte. Aufgrund des Treuebruchs ist Ginover so wütend, dass sie Lancelot für immer aus ihrer Nähe verstößt: fluh bald von hinnen, und gesehe ich dich nymer me komen an die ende da ich bin (PL IV, 624,17ff.). Die Vertreibung durch seine Geliebte hat bei Lancelot die bekannten Folgen, er erleidet einen Wahnsinnsanfall. Aufgrund der vermeintlichen Endgültigkeit des Verstoßes verliert er zudem sein Gedächtnis: als Lancelot darzu komen was das er die sinne verlorn hatt und sin gedechtniß (PL IV, 666,18f.). Obwohl der Wahnsinn durch Lancelots ehebrecherische Verbindung zu Ginover ausgelöst wird und der Zustand seines Gedächtnisverlustes über zwei Jahre dauert, wird er letzten Endes durch den Gral geheilt: dann als bald der heylig gral nach syner gewonheit inn das pallast komen was, da wart Lancelot von aller syner kranckheyt gesunt (PL IV, 688, 21ff.).193 Somit bringt der Gral zum einen Lancelot die Heilung und zum anderen führt dazu, dass er Amide die ihm zugefügten Täuschungen verzeihen kann (vgl. PL IV, 700). Die Versöhnung der Eltern des künftigen Gralshelden Galaad ist für die Gralssphäre wichtig. Amide rettet Lancelot das Leben, indem sie ihn zum Gral bringt und gibt zudem ihr Begehren nach dem Ritter auf: „Her [Amides] unre193 Wie beim kranken Gralskönig Anfortas im Parzival kann einzig der Gral Lancelot körperlich und seelisch wieder gesund machen.
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strained passion for the knight she loved ‚as much as a woman can love a man‘ is transformed without explanation into a chaste friendship.“194 Die Umwandlung von Begehren in Freundschaft erfüllt freilich nicht die grundsätzliche Anforderung des Grals nach Keuschheit und Jungfräulichkeit, denn auch in der Vergangenheit empfundenes und Gegenwart überwundenes Begehren hat auf der Gralssuche keinen Platz. Dies ist einer der Gründe, weswegen die Gralsmütter von der Suche ausgeschlossen sind.195 Dennoch zeigt sich an dieser Episode erneut, dass es der Gral ist, der wiederholt ordnend eingreift. Er macht durch die Heilung des Ritters die Versöhnung Amides und Lancelots sowie die Umwandlung von Begehren in Freundschaft überhaupt erst möglich. Er steuert auch hier die Handlung und ordnet das Begehren. Doch geht die Steuerung des Begehrens durch den Gral mit Brüchen in der Figurenkonzeption und der Eröffnung von Räumen einher, in denen ein ‚anderes Begehren‘ inszeniert werden kann. Schon seit der Geburt der jeweiligen Gralshelden deutet sich an, dass ihr Geschlecht und Begehren nicht der heteronormativen Ordnung entspricht. Dies zeigt sich beim partiell androgynen Parzival ebenso wie bei Lancelot mit der großen Brust und dem hitzigen Gemüt oder beim engelsgleichen Galaad. Die Gralssucher werden zwar heterosexualisiert, entziehen sich jedoch in ihrer Zugehörigkeit zur Gralssphäre den damit einhergehenden Normen. Dies ruft Irritationen hervor. Parzival erregt das Begehren von Frauen und Männern in gleicher Weise und seine Geschlechtsidentität gerät durch sein schamhaftes Verhalten wiederholt ins Wanken. Lancelot, der ein aktiver Teil der heterosozialen Liebesbeziehung mit Ginover ist, unterhält mit Galahot ein Verhältnis, das von homosozialem Begehren erfüllt ist. Galaad wirkt in seiner Enthaltsamkeit und Jungfräulichkeit geschlechtslos und seine Geschlechtsidentität bleibt aufgrund des Fehlens von Begehren zweifelhaft. 2.3.2 Galaad wird Artusritter Nachdem ihm die Königin vergeben hat, möchte Lancelot mit den Artusrittern Hector und Parceval nach Camelot zurückkehren (vgl. PL IV, 712,32). Nun wird es auch für seinen Sohn Galaad Zeit, die Gralsburg und die Obhut seiner Mutter zu verlassen und in den Artusbereich einzutreten. Dies bestätigt seine Mutter im Gespräch mit Hector:
194 McCracken (1998), S. 43. 195 Neben der ‚Umformung‘ oder dem ‚Amortisieren‘ sind die Strategien im Fall der Gralsmütter: ‚Übertragung‘ des Begehrens vom Vater auf das Kind (vgl. Herzeloyde) oder ‚Verleugnung‘ der Gefühle. Vgl. dazu McCracken (1998), S. 45; ebenso Klosowska (2005), S. 39.
198 | DIE MITTELALTERLICHEN GRALSROMANE Galaad myn und myns liebsten son ist das schonst kint inn der welt und ist wol zehen jerig, und ir werdent yn bald sehen, wann er synen vatter geleyden wirt als ir yn mit uch uß dißem land furent (PL IV, 712,26ff.).
Es ist Galaads Willen, seinen Vater beim Aufbruch nach Camelot zu begleiten (vgl. PL IV, 714,5ff.). Da er noch zu jung ist, um Ritter am Artushof zu werden, übergibt ihn sein Großvater in die Obhut eines Klosters in der Nähe Camelots, damit der Knabe seinem Vater nahe sein kann. Der Mutter des Jungen bricht es fast das Herz, dass ihr Sohn sie verlässt. Aber wie bei allen Müttern im Gralsroman kann auch Amide die Trennung von ihrem Kind nicht aufhalten. Dennoch unterscheidet sich das Motiv des Verlassens der eigenen Mutter im Prosa-Lancelot deutlich von demjenigen im Parzival: Der Vater des zukünftigen Gralserlösers Galaad lebt noch und der Junge kann sich ihm annähern. Sein Großvater Pelles unterstützt dieses Vorhaben auch gegen den Willen Amides und so verlässt Galaad Corbenic.196 Die Beschreibung des künftigen Gralserlösers erinnert sehr an die seines Vaters, als dieser selbst noch ein Kind war. In beiden Fällen wird das puer-senex-Motiv ausgestaltet: Vater und Sohn weisen eine für ihr Alter ungewöhnliche Reife auf, davon zeugt Galaads Bestimmtheit bei seinem Aufbruch aus Corbenic. Vater und Sohn wachsen jeweils in einer geschützten und behüteten Umgebung außerhalb des Einflussbereichs des Artushofes auf. Das Reich der Frau vom See ähnelt in seiner Abgeschiedenheit nicht nur der Gralsburg, sondern auch dem Kloster, das bis zu Galaads fünfzehnten Lebensjahr sein Zuhause wird. Vater und Sohn genießen eine höfische Erziehung und ihre Schönheit hebt sie deutlich von den Mitgliedern des Artushofs ab. Wie sein Vater ist auch Galaad von ausnehmender Schönheit: er was sere schön und clar also das man synen glichen nie gesehen hatt (PL IV, 716, 8f.).197 Da Vater und Sohn jeweils außerhalb des Artushofs und vaterlos aufwachsen, muss eine andere Person beim König ihre Aufnahme am Hof als Ritter erbitten. Diese Aufgabe übenimmt im Fall Lancelots die Frau vom See, im Fall Galaads ein Einsiedler. An die Stelle des magischen und von einer Frau beherrschten Bereichs, in dem Lancelot aufwächst, tritt ein christlich-asketischer Bereich, der Galaads Herkunft prägt. Damit wird in zweifacher Hinsicht ein Übergang markiert. Zum einen wird das weltliche Rittertum Lancelots vom himmlischen Rittertum Galaads abgelöst. Zum anderen bricht mit den neuen himmlischen Gralsrittern eine Ära der Keuschheit, Jungfräulichkeit und der homosozialen Allianz an. Der Prosa-Lancelot selbst lässt keinerlei Zweifel daran, dass der eine Teil des Zyklus endet und die 196 An dieser Stelle zeigt sich schon der unbedingte Wille von Galaad und dass sich niemand seinem Weg (zum Gral) entgegenstellt (vgl. PL IV, 712; 714). 197 Vgl. auch: Galaath das schöne kint. Das was so wohl gemacht von gliedern das man sin glich in der welt nit mocht funden han (PL V, 12,18-20).
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Handlung von nun an im Zeichen des Grals steht: hie endet das buch Meyster Ganthier und hebt an der grale (PL IV, 718,8). Mit dieser deutlichen Widmung geht, wie sich zeigen wird, eine neue Bewertung von Geschlecht, Identität und Begehren einher. Eine weitere Parallele zwischen Vater und Sohn ist beim Eintritt in den Artusbereich festzustellen. Niemand weiß Genaueres über die Herkunft Galaads, wie das schon bei Lancelot der Fall war. Obwohl die Familienähnlichkeit stark ausgeprägt zu sein scheint – Galaad wird wiederholt für Lancelots Sohn gehalten und dieser selbst immer für Bans Sohn –, wird sie nicht verifiziert. Als Lancelot die Aufgabe zufällt, seinen Sohn Galaad zum Ritter zu schlagen, geben weder die Nonnen des Klosters noch er selbst zu erkennen, dass sie von der Verwandtschaft des Jungen mit dem besten der Artusritter wissen (vgl. PL V, 1220ff.). Nachdem der Vater die Ritterweihe seines Sohnes vollzogen hat, ahnt Lancelots Vetter Bohort, dass das Kind der Sohn Lancelots und der Tochter des Pelles sei: ‚Und‘, sprach er [Bohort], ‚ich will nÿmer anders glauben, es sy Galat der da was gezielt mit der schönen dochter des konigs Vißchers, wann er glicht alczu mal wol in dem geschlecht und in den unsern.‘ ‚Samir gott‘, sprach Leonel, ‚des wil ich wol glauben, wann er glichet allczumal mynem herren hern Lanczelott.‘ (PL V, 14,19-24)
Wie Lancelot einst seine Verwandten erkannte, so spüren jetzt die Brüder, dass Galaad mit Lancelot und somit auch mit ihnen selbst verwandt ist. Als Galaad später am Artushof eintrifft, bestätigt sich in einem zweiten Gespräch der Brüder der Konsens über Galaads Familienzugehörigkeit (vgl. PL V, 24,34-26,2). Ginover weiß zudem, dass Lancelot mit der Tochter des Pelles ein Kind hat und hält die Verwandtschaft Galaads mit dem Hause Bans von Bonewig für plausibel (vgl. PL V, 26,29-28,6). Später wird ihr dies bestätigt (PL V, 34,29-31). Nur Lancelot selbst wird erst viel später klar, dass der zukünftige Gralserlöser sein Sohn ist (vgl. PL V, 274,1ff.). Am Artushof kündigen einige Vorzeichen an, dass die Ankunft des Gralshelden naht: Auf dem sorglichen seß wird eine neue Inschrift gefunden, die sein Kommen prophezeit (vgl. PL V, 14,34ff.). Aus einer Säule des Artuspalastes strömt Wasser. Im Stein der Säule steckt ein Schwert (vgl. PL V, 18), das nur vom besten Ritter herausgezogen werden kann (vgl. PL V, 14,11f.). Artus fordert Lancelot auf, sich an diesem Abenteuer zu versuchen. Lancelot lehnt mit der Begründung ab, dass er nicht derjenige sei, für den diese Aufgabe bestimmt sei, und erklärt, dass heute das Abenteuer des Grals beginne (vgl. PL V, 14, 25f.). Gawan und Parceval hingegen versuchen sich erfolglos in der Schwertprobe. Es folgen weitere wundersame Geschehnisse. Ein Einsiedler führt einen Ritter in roter Rüstung vor König Artus und verkündet, dass dies derjenige sein werde, der alle Abenteuer einschließlich des Gralsabenteuers bestehe (vgl. PL V, 22,7ff.). Der Rote Ritter nimmt unbeschadet
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auf dem Gefährlichen Sitz Platz, der wie von Zauberhand eine neue Inschrift trägt: Dies sei Galaads Platz (vgl. PL V, 22,27). Nachdem Galaad die Probe erfolgreich bestanden hat, wird er als zukünftiger Gralserlöser am Artushof mit Freuden willkommen geheißen. Galaad bestätigt seine Erwähltheit, indem er das Schwert aus der Säule zieht. Beide Proben lenken die Dynamik der Taten in eine neue Richtung: Ein Ritter darf nur diejenigen Abenteuer bestehen, die ihm vorherbestimmt sind.198 Wie im Parzival erscheint auch im Prosa-Lancelot zu Beginn der eigentlichen Gralssuche eine Frau, die allen Anwesenden eine Botschaft übermittelt. Sie kündigt an, dass von nun an Galaad der beste Ritter sei:199 HĤt morgen waren ir der best ritter der da lebt; [...] Und der es yczunt seyt, man solt es halten vor gelogen. Von besserm dan ir sint sit wol besucht mit der abentúr von dem schwert, wann ir getorstent nye hant daran gethun. Und darumb so ist vervehselt und verkert uwer name, darumb ich uch verman das ir núme wenent der best ritter syn von der welt (PL V, 32,3-11).
Zudem prophezeit sie den bevorstehenden Besuch des Grals am Artushof (vgl. PL V, 32,14ff.), der zugleich der Beginn der Gralssuche sein wird. Das Erscheinen des Grals wird mit einem lauten Donnerschlag angekündigt und von einem Glanz begleitet, dessen Schönheit die Sonne überschattet. Der Kelch ist mit weißem Samt verhüllt und spendet allen Mitgliedern des Artushofs die besten aller Speisen (vgl. PL V, 36). Nachdem die Ritter der Tafelrunde Zeugen der Erscheinung des Grals wurden, leistet Gawan einen Schwur, er werde nicht eher ruhen, bis er den Gral unverhüllt gesehen habe (vgl. PL V, 38,9-18). Diesem Versprechen schließen sich alle Artusritter an. Nachdem sie alle ihre Sünden gebeichtet und mit einem Eid auf eine Reliquie den Schwur legitimiert haben, verlassen sie den Artushof: die gesellen die in der suchung waren von dem heiligen gral von dannen schieden (vgl. PL V, 54,12f.). Auch Lancelot bricht trotz der Vorzeichen seines Scheiterns als einer der ersten zur Suche auf. Er verabschiedet sich von der Königin und diese erlaubt ihm zu gehen, obwohl es ihr das Herz bricht. (vgl. PL V, 52).
198 Auch Galaad bestätigt die Vorherbestimmung der Abenteuer, in dem er verkündet, dass das Herausziehen des Schwertes seine Aufgabe sei: das ist nit wunder, wann die abenture die ist myn und nit ir, und umb diße sicherheit des schwerts zu han, so enbracht ich keyns herre mit mir (PL V, 30,21-24). 199 Galaad exponiert sich nicht nur im Bestehen von Abenteuern, die bis zu seinem Erscheinen keiner lösen konnte, sondern besiegt zudem auch die besten Artusritter in einem Turnier, das ausgerufen wird, um Galaads Stärke zu testen. Er übertrifft alle an Tapferkeit und schlägt außer Lancelot und Parceval alle mühelos (vgl. PL V, 17-26).
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2.3.3 Die Ablösung der weltlichen durch die geistliche Ritterschaft Nachdem sich die Artusritter für die Suche voneinander getrennt haben, fokussiert der Erzähler zuerst auf den zukünftigen Gralserlöser Galaad. Dieser gewinnt zu Beginn seines Abenteuerwegs einen weißen Schild mit rotem Kreuz, der ihm, wie schon sein Schwert, vorbestimmt ist (vgl. PL V, 72,20-22).200 Auf dem Friedhof des Klosters, in dem er seinen Schild empfängt, gelingt es dem guten Ritter, einen Toten zu befreien, der keine Ruhe in seinem Grab findet. Hier begegnet Galaad zum ersten Mal dem Teufel. Sobald Galaad an das Grab herantritt, streckt das Böse angesichts dessen Reinheit und Stärke die Waffen (vgl. PL V, 76,8ff., v.a. 14-16). So wird Galaad in seiner Erwähltheit bestätigt.201 Die Abenteuer werden, nachdem Galaad sie bestanden oder bevor er sie in Angriff genommen hat, von einem Einsiedler, Priester oder einer anderen heiligen Person erklärt, kommentiert und ausgelegt – so auch sein Abenteuer auf dem Friedhof des Klosters (vgl. PL V, 78,20ff.). In dieser christlichen Allegorese wird vor allem wiederholt betont, dass der zukünftige Gralserlöser schon lange angekündigt und ein keuscher, reiner und jungfräulicher Mensch sei. Dies rückt ihn in die Nähe Jesu. Nach der Befreiung des Toten auf dem Friedhof bestätigt der Einsiedler, dass die Propheten Galaads Ankunft vorhergesagt hätten (PL V, 80,13-16). Zudem wird hervorgehoben, dass der Gralserlöser ebenso kúsch und reyn wie der Gottessohn sei und das Böse vor ihm fliehe (vgl. PL V, 82,12ff.).202 Das gesamte Konzept von Ritterschaft wird bei diesen ersten Abenteuern der Gralssuche neu bewertet.203 Dies zeigt beispielsweise das Schicksal Meliants, den Galaad zum Ritter geschlagen hat. Die neuen Ritter sind dem Teufel ein Dorn im Auge. Dieser will, wie er es schon bei Meliant versucht hat, die neuen Ritter zum Bösen verführen (vgl, PL V, 92,6ff.). Werte wie Tapferkeit (biederbkeit, vgl. PL V, 92,32) und Hochmut (hoffart, vgl. PL V, 92,31) sind Eigenschaften alter, weltlicher Ritterschaft, die, seit die Gralssuche begonnen hat, von der geistlichen abgelöst wird (vgl. PL V, 92,33ff.). Ein Charakteristikum des geistlichen Rittertums besteht in der Keuschheit. Die Ritter sollen möglichst noch jungfräulich sein, und deswegen wird explizit darauf hingewiesen, dass Frauen nicht erwünscht sind. Bei der Gralssuche werden die Jungfrauen, die den Rittern zu Hilfe gekommen sind, zum Großteil durch männliche Helferfiguren 200 Seit Galaad Ritter geworden ist, wird von ihm als gĤt ritter gesprochen. Diese Bezeichnung unterscheidet sich von der seines Vaters, der zu seiner Zeit der beste Ritter ‚der Welt‘ gewesen ist. Das hat den Grund, dass sich der Ruhm des zukünftigen Gralserlösers mehr auf spirituelle als auf weltliche Ereignisse beziehen wird (vgl. u.a.: PL V, 44,7; 72,21; 108,22, 272,25; 274,1). Vgl. dazu auch Haug (2007), S. 249. 201 Vgl. hierzu auch Haug (2001), S. 254f. 202 Vgl. zu Galaads imitatio Christi auch Merveldt (2004), S. 215ff. Zur Gegenposition: Haug (2007). 203 Zum Wechsel von weltlicher zu himmlischer Ritterschaft vgl. Merveldt (2004), S. 220.
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wie Einsiedler oder weise Männer ersetzt.204 So wurden die Ritter der Tafelrunde, die zur Suche aufgebrochen sind, gewarnt: das nÿmand in dieße suchung fúre frauwen oder jungfrauwen, das er nit fallen in dötliche súnde, wann nÿman sol darinn kumen, er hab dann vor gebichtet. Wann nymand sol in so hohen dinst dreten, er hab dann vor gereinigt sich und geweschen von allen dotsunden und von aller unreynikeit. Wann diese suchung sol nit sin von wúnderlichen sachen, sĤnder sol sin von inniglicher lieb unsers herren […]. Durch dißer sach willen so fúre nÿmand syn wip oder bĤlen mit im (PL V, 42,36-44,12).
Zwei Merkmale des neuen Konzepts von Ritterschaft stechen hervor. Erstens ist nicht mehr der Gewinn einer Dame wichtig und identitätsstiftend, da die Prämissen der neuen Ordnung Jungfräulichkeit und Enthaltsamkeit sind. Die normativen Begehrensstrukturen der alten Ordnung werden verabschiedet. Damit schwindet zweitens die Rolle der Frauen. Die Ritter bleiben unter sich und bilden eine homosoziale Gruppe, deren Begehren sich auf den Gral richtet. In den Anforderungen der neuen, geistlichen Ritterschaft hat heteronormatives Begehren keinen Platz mehr und somit können auch in der Gralssphäre des Prosa-Lancelot andere, insbesondere homosoziale Begehrensstrukturen aufgezeigt werden.205 Ein weiterer wichtiger Punkt der neuen Ritterschaft ist die Behandlung der Gegner. Dies zeigt sich, wenn Galaad beim Abenteuer auf Medge Burg andere Akzente setzt. Er befreit die Burg, in der sieben Brüder Hunderte von Jungfrauen gefangen halten, indem er die Belagerer vertreibt. Galaad tötet sie nicht, sondern schenkt den Tyrannen das Leben und gibt ihnen die Möglichkeit zur Buße. Anders verhalten sich die Ritter der alten Generation, als sie den Vertriebenen begegnen. Gawan und seine Brüder töten die Tyrannen im Kampf. Ein Mönch macht Gawan die Folge seines Tuns bewusst. Die Deutung des heiligen Mannes bietet ein weiteres Indiz für Galaads Heiligkeit.206 Die Burg symbolisiert die Hölle, die sieben Brü204 Vgl. dazu auch Unzeitig-Herzog, Monika: Jungfrauen und Einsiedler. Studien zur Organisation der Aventiure-Welt im Prosalancelot. Heidelberg 1990. Die Marginalisierung der Frau in dem Moment, in dem die Gralssuche in vollem Gange ist, findet sich jedoch nicht nur in den höfischen Romanen des Mittelalters. Auch Sophie Neveu im Da Vinci Code wird von einer aktiven Protagonistin zu einer reinen Stichwortgeberein und am Ende zum Objekt der Suche degradiert. 205 Nicht-normative Begehrensstrukturen zeigen sich im Folgenden auf der Gralssuche von Galaad und seinen Gefährten. Ähnliche Beispiele wurden auch bereits im Parzival oder der Crône aufgezeigt. 206 Vgl. zu der Charakterisierung von Galaad als „christusförmig“: Huber, Christoph: „Von der Grals-Queste zum Tod Artus.“ In: Haug, Walter/Wachinger, Burghart: Positionen des Romans im späten Mittelalter. Tübingen 1991, S. 21-38, hier S. 28.
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der die Todsünden. Wenn Galaad die Gefangenen der ‚Hölle‘ erlöst, stellt ihn das in die Tradition und Nachfolge Christi. Es gibt bei Galaad zwar Vergleichsmöglichkeiten mit Jesus, doch diese dienen nur dazu, die Heiligkeit und Erwähltheit des Gralserlösers aufzuwerten. Für eine direkte Übertragung ist die stereotype Heiligkeit der Gralserlösers zu konturlos.207 Der Artusritter Gawan ist von anderem Schlag: Er lebt immer schon unkeusch, geht nicht zur Beichte und tötet die sieben Brüder statt ihnen die Möglichkeit zur Buße zu gewähren. So ist Gawan zum Diener des bösen Feindes oder des Teufels geworden (vgl. PL V, 108). Infolgedessen rät der fromme Mann inständig, Gawan möge seine vergangenen Verfehlungen bereuen und beichten. Doch Gawan lehnt ab: er sprach das er kein bĤß möcht liden (PL V, 110,16). Die Folge von Gawans Uneinsichtigkeit und seinem Festhalten am Modell der weltlichen Ritterschaft ist, dass er keine Aventiure mehr finden kann (vgl. PL V, 290,25).208 Die Abenteuer auf dem Weg zum Gral sind Vorzeichen seiner Erscheinung, von der sündige Menschen ausgeschlossen sind: die abentúr die nĤ zukoment sint die bedútniß und die beweisung von dem heiligen gral, und die zeichen von dem heiligen gral erschinent keynem sunder (PL V, 316, 25ff.). Die Ritter, die ihr Leben nicht im Sinne einer himmlischen Ritterschaft führen wollen, werden somit keine Abenteuer finden. Sie kehren, wie beispielsweise Gawan und Hector, ohne nennenswerte Erfolge an den Artushof zurück (vgl. PL V, 318,23-25).209 Die ersten Abenteuer, die Galaad mühelos erledigt, machen den Eindruck, dass hier ein „vollkommene(r) Mensch“210 vorgeführt wird. Aufgrund seiner Perfektion211 und Heiligkeit hat er keine realistischen Konturen und wird als „religiös überhöhte“212 Figur inszeniert, deren Handeln weniger Tat als Ritual ist.213 Galaads Identität ist von Anfang an einzig durch seine Bestimmung definiert.214 So erfährt 207 Ferner stimme ich Walter Haug zu, der feststellt, dass man von einer imitatio Christi schwerlich sprechen kann, da mit der Passion ein entscheidender Punkt der Imitation fehlt (vgl. Haug (2007), S. 260f.). 208 Nicht nur Gawan, auch Hector klagt über Abenteuerlosigkeit (vgl. PL V, 290,33). Beide werden zudem gewarnt, dass sie nicht weiter nach dem Gral suchen sollen, da sie dafür unwürdig seien (PL V, 298,1ff.). 209 Dass die Suche nicht für alle, die aufgebrochen sind, erfolgreich enden kann, lernen die Artusritter erst nach und nach. Auch Remakel zeigt an diesen Vorgängen den Lerneffekt und die ‚Didaktik der Queste‘. Vgl. dazu Remakel (1995), S. 77. 210 Schmid (1986), S. 226. 211 Galaad „tritt als Perfekter in die Romanwelt ein“ (Klinger (2001), S. 309). 212 Reil (1996), S. 148. Vgl. zur Identität und Nichtidentität von Galaad auch Klinger (2001), S. 307ff. 213 Vgl. dazu Reil (1996), S. 210. 214 Vgl. hierzu Haug (2007), S. 253.
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Bohort bei seinem zweiten Besuch auf der Gralsburg Corbenic, dass der Erlöser aus seiner Familie und vom Geschlecht des Gralskönig Pelles abstammen wird. Diese Prophezeiungen verdeutlichen umso mehr, dass Galaad Lancelot als besten Ritter ablöst. Auf den ersten Blick sticht die Parallelität der Entwicklung von Vater und Sohn hervor. Beide sind Außenseiter und exponieren sich mit ihrer Herkunft, Erziehung und außerordentlichen Schönheit am Artushof. Dort werden sie mit ihrer jeweiligen Bestimmung konfrontiert: Lancelot trifft Königin Ginover und wird ihr Minneritter; sein Sohn Galaad sieht am Artushof den Gral und wird der Gralssucher.215 Somit ist die Sonderstellung von Vater und Sohn, die sich schon seit ihrer Geburt (bei Galaad schon davor) abzeichnet, in erster Linie im Absolutheitsanspruch ihrer Ziele begründet. Der Absolutheitsanspruch – sowohl von Lancelots Liebe zur Königin als auch Galaads Entdeckung des Gralsgeheimnisses – hat keinen Raum am Artushof.216 Deswegen entfernen oder verabschieden sie sich unwiederbringlich vom Artushof. Trotz der Ähnlichkeit ihrer Lebensläufe gibt es graduelle Unterschiede zwischen Vater und Sohn, die sich schließlich als gravierend herausstellen. Sie entscheiden über die Teilnahme und den Erfolg am Gralsabenteuer:217 Während Lancelot im Reich der Frau vom See trotz der höfischen Erziehung, die er genießt, in einer magischen Umgebung aufwächst, wird Galaad sowohl auf der Gralsburg als auch später im Kloster christlich erzogen. Während die hohe Bestimmung des Vaters sich zu Beginn nur andeutet, ist diejenige des Sohns vorhergesagt und festgelegt.218 Obwohl Lancelot das legitime Kind eines Königspaares ist und Galaad mithilfe von Magie gezeugt wurde,219 ist es doch der Sohn, der den Vater überflügelt. Galaads „unordentliche Entstehung […] gilt schon im ProsaLancelot als Zeichen des Außerordentlichen; durch sie demonstriert Gott, dass er für die Erfüllung seines Heilsplans nicht an seine eigenen Gesetze gebunden ist“.220 Das hängt damit zusammen, Lancelot sein Dasein nach seinen subjektiven Wünschen ausrichtet: sich in weltlichen Dingen zu bewähren, Ehre zu erlangen und sei215 Die beiden Begegnungsszenen, in denen Vater und Sohn auf ihre Lebensaufgaben treffen, sind ähnlich aufgebaut. Beispielsweise lässt der Glanz von Ginovers Schönheit Lancelot erstarren und in Trance fallen und der Glanz des Grals bannt alle Anwesenden einschließlich Galaad. Vgl. dazu Haug (2001), S. 252f. 216 Vgl. hierzu Haug (2001), S. 254. 217 Vgl. zu den Parallelen und Unterschieden zwischen Vater und Sohn auch Andersen (2007), S. 193f.; ebenso: Haug (2007), S. 252f. 218 Vgl. zu Galaads Bestimmung: 1.) Merlins Prohezeiung (vgl. PL V, 154,21ff.); 2.) die Tatsache, dass König Pelles Galaads Zeugung vorantreibt; 3.) die Freude aller, dass Galaad von Amide empfangen wurde; oder 4.) die Prophezeiungen von Symeus und anderen frommen Männern. 219 Vgl. Andersen (2007), S. 194. 220 Schmid (1986), S. 230.
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ne Liebe zu Ginover zu leben. Bei Galaad dagegen ist seine objektive Bestimmung zum Gralserlöser stets im Vordergrund und wird nirgends in Mitleidenschaft gezogen oder gestört.221 Auf der Suche nach seinem Sohn begegnet Lancelot an einer Kapelle ein weiteres Mal dem Gral.222 Auf einem Altar sieht er allerlei kostbare Dinge wie silberne Leuchter und seidene Tücher, wird jedoch von Gittern daran gehindert, in die Kapelle einzutreten (vgl. PL V, 114). Lancelot rastet neben dem Gotteshaus und schläft ein. Im Halbschlaf hört er, wie sich zwei Ritter nähern, die einen dritten auf einer Bahre zur Kapelle tragen. Dieser ist krank und fleht verzweifelt um die Erlösung von seinen Schmerzen durch das heilige vas (PL V, 116,9), und tatsächlich erscheint der Gral und heilt ihn. Lancelot wird Zeuge dieses Vorgangs: und sahe darnach kumen das heilige vas, das er hett men gesehen by dem richen kónig Vißcher, dasselb man heißt den Heiligen Gral (PL V, 116,21-23). Programmatisch für Lancelots Fehlverhalten vor und während der Gralssuche ist seine Reaktion auf das Erscheinen des Grals. Wie er sich bei seinem Besuch auf der Gralsburg nicht bewegt hat, bleibt er auch vor der Kapelle still liegen, als ob er schliefe, und ist wie verdĤmmelt (vgl. PL V, 114,37; 116,5; 116,15). Er kommt dem Mysterium des Grals nicht näher, es bleibt beim bloßen Wiedererkennen des Gefäßes. Die Gralssuche verlangt jedoch mehr. Es geht darum, den Gral zu verstehen. Man muss ihm Respekt erweisen, der sich in der Änderung des Verhaltens niederschlägt. Bei Lancelot passiert nichts Derartiges. Er ist so schwer mit Sünden beladen, dass er nicht erkennt, was es wirklich bedeutet, dem Gral zu begegnen. Lancelot fehlt „jedes tiefere Verständnis für das Wesen und Ziel der Gralssuche“.223 Das hat langfristige Folgen: und darumb fand er an an manchen enden in der suchĤng viel schande, die man im darumb seyde, und misseging im an manchem ende (PL V, 118,8-10).224 Eine unmittelbare Folge seiner Unbeweglichkeit ist, dass der vom Gral geheilte Ritter ihm Schwert und Pferd abnimmt. Außerdem erscheint eine Stimme, die Lancelot aufgrund seiner Sünden von jener Kapelle vertreibt, in der der Gral sich gezeigt hat (PL V, 120,35). Als er, nach einer Erklärung suchend, an diesen Ort zurückkehrt, hat auch er ein Gespräch mit einem Einsiedler. Hier bekennt Lancelot zum ersten Mal seine ehebrecherische Liebe zur Königin: ‚Herre‘, sprach Lanczelot, ‚es ist also das ich bin dot mit sunden durch ein frauw die ich lieb hann gehabt all myn 221 Vgl. hierzu Reil (1996), S. 213. 222 Der Gral scheint zwar seinen festen Platz auf Corbenic zu haben, kann jedoch auch zu anderen Orten gerufen werden bzw. sich dorthin bewegen. 223 Remakel (1995), S. 80. 224 Vgl. dazu auch, dass Lancelot infolge seines Verhaltens bei dieser Begegnung mit dem Gral immer wieder als ‚unglücklicher‘, ‚untreuer‘ und ‚böser‘ Ritter bezeichnet wird (vgl. u.a. PL V, 232,25-234,10) und ihm wiederholt seine Fehler vor Augen geführt werden.
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leben, das ist die konigin, des konigs Artus wip...‘ (PL V, 130,16-18). Nachdem Lancelot gebeichtet hat, muss er dem Einsiedler schwören, sich künftig weder auf Ginover noch auf eine andere Frau einzulassen (vgl. PL V, 132,14ff.; 140,15ff.). Lancelot ist ein umso größerer Sünder als er mit überragenden Fähigkeiten ausgestattet ist und bisher in all seinen Taten erfolgreich war, denn er hat durch seine Liebe zur Königin die Möglichkeit verspielt, den Gral zu erringen. Nachdem Lancelot Ginover und allen anderen Frauen abgeschworen hat, wird der Abschied von seinem alten Leben symbolisch bestätigt. An der Kapelle wurden ihm Schwert und Schild entwendet. Der Schild, der nach der ersten Liebesnacht mit Ginover wieder zusammengefügt wurde, und das Schwert, das die Königin ihrem Ritter überreicht hat, sind Zeichen der ehebrecherischen Liebe Lancelots und Ginovers. Lancelot lässt die Waffen zurück und wartet auf Gottes Fügung, um neue Waffen zu erhalten (vgl. PL V, 20ff.). Lancelot verabschiedet sich von den symbolischen Reliquien seiner Liebe zu Ginover. Damit sind auch die ursprünglichen Begehrensstrukturen außer Kraft gesetzt. Nicht die Königin, sondern der Gral ist das neue Ziel. Nach drei Tagen Buße überreicht der Einsiedler Lancelot neue Waffen (PL V, 232,15ff.). An Lancelot wird deutlich sichtbar, dass das neue Verständnis des Rittertums von der potentiellen Sündhaftigkeit allen Irdischen ausgeht (vgl. PL V, 230). Die Schilderung der Entwicklung Lancelots auf der Gralssuche impliziert erneut den Vergleich mit seinem Sohn. Es ist Galaad, der das Abenteuer des Grals zu Ende bringen wird, nicht Lancelot. Der gute Ritter kann sich zwar in der irdischen Ritterschaft behaupten, diese ist jedoch nur eine Phase auf dem Weg zum himmlischen Leben (vgl. PL V, 230,19-23). Nachdem Lancelot am Grab seines Großvaters versagt hat, hält seine Bußfahrt unangenehme Begegnungen für ihn bereit, die ihn mit der bitteren Wahrheit konfrontieren. So wirft ihm ein Knappe sein Fehlverhalten vor: Ir pflagent zu syn ein blĤme der irdenischen ritterschafft! Unseliger betrúbter, wol sint ir verafft durch der willen die uch nit lieb hat und cleyn uff uch achtet. Sie hat uch also bereit das ir hant verlorn die hymelischen krone und gesellschaft von den engeln und alle die ere von der welt und sint komen alle schand zu enpfahen (PL V, 234,18-23).
Einer der Einsiedler, denen Lancelot auf seiner Bußfahrt begegnet, stellt erneut fest, dass der Ritter den Gral nicht erringen könne: súchen mogent ir wol, aber zu finden habt ir gefelet, dann ob der heilig gral keme vor uch, ich gleub nit das ir yne mochtent gesehe (PL V, 244,12ff.). So bleibt es Lancelots Schicksal, dass er den Gral zwar suchen, aber nicht finden, ihn zwar sehen, aber nicht erkennen kann. Lancelot erhält auf seiner Bußfahrt eine Erklärung für sein Scheitern. Der Teufel hat es seit der Geburt des Ritters darauf angelegt hat, ihn zu verführen und ins Böse zu ziehen. Als Sünde, die Lancelot zu Fall bringen soll, hat er die Frauen ausgewählt: beducht das er dich wybern vil balder mocht bringen in dotsúnde dann mit
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andern dingen (PL V, 248,25f.). Die misogyne Tendenz trifft vor allem Gionover: Nicht die Frauen im Allgemeinen haben Lancelot zu Fall gebracht, sondern die Königin im Besonderen. Der Teufel bringt in Gestalt der Königin Lancelot vom rechten Weg ab und führt ihn zur Unkeuschheit:225 Und da du des tages wert ritter worden und verstĤndest das sie dich besahe, da gedachtest du daran, und also traff dich der fynt mit eim bogen, und traff dich also herticlichen das er dich macht strucheln. Und det dich also sere strucheln das er dich bracht ußer dem rechten weg und warff dich darinn des du nye hettest gedacht, das was der weg von unkuscheit, der da verderbet lib und sele also wúnderlich. (PL V, 248,36-250,6)
Obwohl der Teufel männlich identifiziert ist (vgl. er bzw. der fynt), benutzt er Frauenkörper, in diesem Fall den Körper der Königin, um Einfluss zu nehmen. Er betreibt, wie Jane Burns betont ein metaphorisches cross-dressing:226 „(T)his seemingly masculine creature routinely takes on a female body to work his magic.“227 Somit hat der Teufel zwei Geschlechter zur Verfügung, zwischen denen er hin und her wechseln kann. Interessanter noch ist der Einfluss, den der Teufel auf die Identität Lancelots und die Umwertung seiner Liebe zur Königin nimmt. In wen verliebt sich Lancelot: in den Teufel oder in Ginover? Wer schießt den Pfeil der Liebe ab: der Teufel oder Ginover? Weiter könnte man auch fragen, wie sich Geschlecht definiert und ob es überhaupt relevant ist für die Gralsromane? Wie stört der Teufel mit seinen Illusionen die dichotome Welt der Ritter und Damen?228 Auf der Fahrt zum Gral, die ein männlich-homosoziales Unternehmen ist, wird die Liebe zwischen Frau und Mann neu gedeutet. Die heteronormative Liebe (Lancelot/Ginover) hat ihre Wirkung eingebüßt, sie ist verurteilenswert geworden. Sie fungiert gewissermaßen als Hülle für homosoziales Begehren, denn eigentlich begehrt der Ritter das männlich codierte Böse, das sich als Frau verkleidet. Der Teufel
225 Vgl. zu der Nähe zwischen teuflischem Treiben, Liebe und Krankheit den Abschnitt „Amors Geschoß“ In: Dinzelbacher, Peter: Angst im Mittelalter – Teufels-, Todes und Gotteserfahrungen: Mentalitätsgeschichte und Ikonographie. Paderborn et al. 1996, S. 216-224. 226 Zum „metamorphorical cross-dressing“ vgl. vor allem den Abschnitt „The Devil’s Flesh: A Disembodied S/He“ von Jane Burns Aufsatz. In: Dies.: „Devilish Ways in the Queste del Saint Graal.“ In: Arthuriana 8.2., Summer 1998, S. 11-32, hier S. 19. 227 Burns (1998), S. 18f. Interessant ist in dem Zusammenhang, wie die Genderperformance des Teufels Einfluss auf diejenige des Ritters nimmt, auch Parcevals Zusammentreffen mit dem fynt in Frauengestalt. Vgl. zu „Parcevals Versuchung“ ( PL V, 144-228) das Kapitel III. 3.3.1 der vorliegenden Arbeit, außerdem McCracken (2001). 228 Vgl. zu der Frage auch Burns (1998), S. 20f.
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verursacht mit seinem Gleiten zwischen den Geschlechtern gender trouble.229 Der Geschlechterwechsel des Teufels230 initiiert Lancelots Unkeuschheit. Diese ist, wie das ‚hitzige Fleisch‘, Ursache seiner Sünde: und als bald du hettest din augen enbrant von der hicze der unkuscheit, und gingest zu hant uß demútikeit und enthiltest die hoffart (PL V, 250,8-10). Statt seinen Anlagen gemäß ein Diener Gottes zu werden, verführt die Liebe zu Ginover bzw. dem Teufel Lancelot zum Dienst am Bösen (PL V, 250,18ff.). Statt die Abenteuer des Grals zu Ende zu bringen und das heilige Gefäß unverhüllt sehen zu dürfen, wird Lancelot geraten, sich nicht mehr an der Gralssuche zu beteiligen (PL V, 252). Der Einsiedler überreicht Lancelot für seinen weiteren Weg ein härenes Hemd, das schon äußerlich die Läuterung und Erneuerung des Ritters, der von nun an nach Gottes Geboten leben möchte, zeigen soll (vgl. PL V, 256,15ff.). Lancelot erfährt zudem, dass Galaad sein Sohn ist (PL V, 274,1ff.),231 dass er sich jedoch nicht auf dessen Heiligkeit verlassen darf.232 Er soll nicht auf die Vergebung Gottes um seines reinen Sohnes willen hoffen, denn er allein trägt die Verantwortung für sein Handeln (vgl. PL V, 274, 22ff.). Als Lancelot schließlich auf seinen Sohn trifft und diesen um eine Fürsprache bei Gott bittet, bestätigt auch Galaad die Eigenverantwortlichkeit des Handelns und die Individualität der Gebete: keyn gebet ist uch als gĤt als das uwer ist, darumb so gedenckt vor uchselber (vgl. PL V, 490,3f.). Der Gralserlöser ist nicht im Stande, für seinen Vater ein gutes Wort einzulegen. Lancelot selbst muss die Verantwortung übernehmen. „Galaad löst Lancelot zwar als besten Ritter ab, doch er erlöst ihn nicht“ – es kommt somit zu einer Ablösung aber nicht zu einer Erlösung des Vaters durch den Sohn.233 Ein letztes Mal noch gelangt der Ritter auf die Gralsburg und weiß anfänglich wieder nicht, dass er sich auf Corbenic befindet. Lancelot verhält sich typisch für einen Ritter, wenn er unversehens sein Schwert zückt, als er in die scheinbar einsame Burg einreitet (vgl. PL V, 490,29ff.). Dies ist der Beweis, dass er sich noch immer nicht auf Gottes Beistand verlässt (PL V, 490, 33ff.). Als er jedoch erkennt, 229 Vgl. hierzu Burns (1998), S. 24. 230 Vgl. hierzu „(d)evilish gender-crossing“ (Burns (1998), S. 21ff.). 231 An dieser Stelle des Prosa-Lancelot wird der Eindruck erweckt, dass Lancelot erst jetzt, da ihm bereits einige Zusammenhänge, wie beispielsweise der Einfluss seiner Liebe zu Ginover auf das Scheitern im Gralsabenteuer, klar gemacht worden sind, für das Wissen um seine Verwandtschaft mit Galaad einsichtig ist. In der Handlung wurde schon zuvor mehrere Male auf die Möglichkeit, dass Lancelot der Vater von Galaad ist, hingewiesen und der Ritter hat dies jedes Mal geflissentlich übergangen. 232 Vgl. zu Galaads Heiligkeit den Vergleich mit einem Engel auf Erden PL V, 272. 233 Klinger (2001), S. 332. Klinger ergänzt mit diesem Argument zu Recht Elisabeth Schmid, die sowohl Erlösung als auch Ablösung von Vater und Sohn in allen Gralsromanen ausschließt (Schmid (1986), S. 3).
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dass die Burg den Gral beherbergt (PL V, 492, 33ff.), bittet er Gott, ihm etwas vom heiligen Gefäß zu offenbaren. Lancelot darf den verhüllten Gral sehen, jedoch ist es ihm nicht erlaubt in das Zimmer einzutreten, in dem sich der Kelch befindet. Wie an der Kapelle muss Lancelot auch auf Corbenic Abstand zum Gral wahren und darf ihn nur aus der Ferne beobachten. Annäherung und Erkenntnisgewinn sind ihm aufgrund seiner Verfehlungen nicht erlaubt (vgl. PL V, 494,9-11). Als der Priester der Gralsmesse zu stürzen droht, prescht Lancelot in den Raum (vgl. PL V, 494, 27ff.). Diese Überschreitung bleibt nicht ungestraft. Lancelot wird von einem heißen Windstoß aus dem Zimmer geweht und danach aus der Kapelle getragen (vgl. PL V, 494,35-496,5). Der heiße Wind, der Lancelot aus der Nähe des Grals vertreibt, erinnert an die Hitzigkeit des Ritters, der er seine Leidenschaft für die Königin und sein Scheitern vor dem Gral zu verdanken hat. Nachdem er aus der Nähe des Grals vertrieben worden ist, fällt Lancelot in einen komaartigen Zustand. Als er erwacht, bemerkt er mit Entsetzen, dass er das härene Hemd, das Symbol seiner Bußfahrt, nicht mehr trägt (vgl. PL V, 500,7). Mit dem Verlust des Hemdes endet auch die Suche nach dem Gral. Dies bestätigt eine Jungfrau, die ihm frische Kleidung bringt: Ir mögent wol das herin hemde laßen, wann ir hant uwer suchung zu ende bracht. Und nit arbeytent furbas me den heiligen gral zu suchen, wann ir findent es nit me dann ir es gesehen hant. NĤ múß uns got die schier herre senden die es me gesehen sollent (PL V, 500,17-21).
Die Gralssuche hat Lancelot, den seine Bußfertigkeit von uneinsichtigen Artusrittern wie Gawan abhebt, bis zu diesem Punkt geführt. Es ist ihm jedoch nicht bestimmt, an der vollen Entfaltung des Gralswunders teilzuhaben.234 Lancelot, der ehemals beste Ritter, muss seinem Sohn und dessen Gefährten Bohort und Perceval das Feld überlassen.235 Somit rückt Galaad, der keusche Gralserlöser, in den Vordergrund.
234 Vgl. Remakel (1995), S. 88. 235 Laut Elisabeth Schmid verläuft die Demontage Lancelots in zwei Phasen. Die erste ist, Lancelots Identität die Würde zu nehmen und diesen zu demütigen. Die nächste Phase ist dem Ritter, der nun alles verloren hat, was ihm zuvor wichtig erschien, vorzuführen, dass einzig Gott zählt. Von nun darf Lancelot nicht mehr auf seine adlige Abstammung setzen oder auf die Verwandtschaft zu seinem Gralserlöser-Sohn hoffen. Vgl dazu Schmid (1986), S. 241f.
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3. ANDERE G RALSSUCHER 3.1 Die Stationen eines schwierigen Weges im Parzival Wie alle anderen Gralssucher erhält auch Parzival auf seinem Weg zum Gral Unterstützung. Nicht nur der Aufenthalt bei seinem Eremitenonkel, sondern auch die vier Begegnungen mit seiner Cousine Sigune sind für ihn von entscheidender Bedeutung.1 Für Parzivals Inszenierung als Ritter, Mann und Gralssucher sowie für die unterschiedliche Bewertung von Geschlecht und Begehren im Artusbereich und in der Gralssphäre ist zudem die Darstellung Gawans, des zweiten Protagonisten im Parzival, besonders wichtig.2 3.1.1 Die hilfreiche Cousine Die vier Begegnungen mit seiner Cousine Sigune bieten Parzival entscheidende Hinweise für seinen weiteren Weg.3 Bei der ersten Begegnung klärt sie Parzival über seine väterliche Herkunft auf. Zunächst erkundigt sie sich nach Parzivals Namen. Da dieser nicht weiß, wie er wirklich heißt, nennt er der Dame seine Kosenamen: bon fîz, scher fîz, bêâ fîz (v. 140,6). Sigune erkennt, dass der Sohn ihrer Tante Herzeloyde und somit ihr Cousin Parzival vor ihr steht. Sie klärt ihn über seine Abstammung und seinen Namen auf und es wird deutlich, dass Sigune seine Cousine ist: deiswâr du heizest Parzivâl. [...] dîn muoter ist, mîn muome, und sag dir sunder valschen list die rehten wârheit, wer du bist. dîn vater was ein Anschevîn: ein Wâleis von der muoter dîn bistu geborn von Kanvoleiz die rehten wârheit ich des weiz.
1
Vgl. dazu das folgende Kapitel II.3.1.1.
2
Vgl. dazu Kapitel II.3.1.2.
3
Die Parzival-Forschung spricht von vier Sigune-Szenen: Erste Sigune-Szene (v. 138,9142,2), zweite Sigune-Szene (v. 249,11-255,30), dritte Sigune-Szene (v. 435,2-442,25) und vierte Sigune-Szene (v. 804,8-805,15). Vgl. dazu Braunagel, Robert: Die Frau in der höfischen Epik des Hochmittalters. Entwicklung in der literarischen Darstellung und Ausarbeitung weiblicher Handlungsträger. München 2000, S. 79. Vgl. dazu auch Brinkervon der Heyde (1997), S. 314.
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du bist och künec ze Norgâls: in der houbetstat ze Kingrivâls. (v. 140, 16-30)
Dass der Gralssucher erst jetzt Kenntnis von seinen Namen gewinnt, ist ein Motiv, das auch in Dan Browns Roman The Da Vinci Code anzutreffen ist.4 Von nun an ist Parzival in eine Herkunft und einen vollständigen Familienzusammenhang eingebettet. Dass er den Namen seines Vaters erfährt, ist ein wichtiger Schritt in Richtung seiner männlichen Ritteridentität: Er stammt von Gahmuret ab, der intensiv geliebt sowie gekämpft hat.5 Außerdem schildert Sigune die Umstände des Todes ihres Geliebten Schionatulander (vgl. v. 141,1ff.). Zum einen habe ihr Geliebter aufgrund der Verwandtschaft zu Gahmuret in Parzivals Dienst gestanden und für diesen das Erbe verteidigt. Parzival sei indirekt an Schionatulanders Tod schuld, da dieser im Dienst für den Cousin erschlagen worden sei: dirre fürste wart durch dich erslagen (v. 141,2). Zum anderen sei Schionatulander Sigune im Minnedienst verpflichtet und diese somit der eigentliche Grund für seinen Tod. Mehr erfährt man über Schionatulanders und Sigunes Liebes- und Lebensgeschichte nicht. Parzival verlässt seine Cousine nicht ohne den Schwur, ihren toten Geliebten zu rächen (vgl. v. 141,25ff.). Das zweite Aufeinandertreffen folgt auf den ersten Gralsbesuch des Ritters. Auf einer Linde sitzt eine trauernde Frau, die Parzival nicht als Sigune wiedererkennt, und hält einen toten, einbalsamierten Ritter in ihren Armen.6 Der Erzähler hebt die
4
Vgl. dazu die Überlegungen zur Figur von Silas im Da Vinci Code und zum Namen-des-
5
Beides steht bei Parzival noch aus, doch sein erster Zweikampf lässt nicht lange auf sich
Vaters in Kapitel I.2.3. warten: Noch bevor er dem Artushof seinen ersten Besuch abstatten wird, kämpft Parzival mit dem Ritter Ither. In seiner tumpheit ist ihm nicht ersichtlich, dass er mit dem Roten Ritter, wie Ither auch genannt wird, einen Verwandten erschlagen hat. Parzival nimmt diesem die rote Rüstung ab und reitet ohne Bedenken weiter seines Weges. 6
Die Platzierung Sigunes auf der Linde hat in der Sekundärliteratur einige Diskussionen hervorgerufen. Zumeist ist man sich über die mariologischen Anspielungen einig, die in der Sigune-Figur sichtbar werden. Aufgrund der Ähnlichkeit der Darstellung Sigunes mit der Pietà-Gebärde des ausgehenden Mittelalters könnte dieses möglicherweise eine Frühform der Bildvorstellung sein. Zu einem Überblick über die Diskussion rund um ‚Sigune auf der Linde‘ vgl. Brinker-von der Heyde (1997), S. 324ff. Für sie ist die hervorstechendste Eigenschaft der Linde deren herzförmige Blätter und deren symbolischer Bezug zur Liebe in den mittelhochdeutschen Texten. Beispielsweise begegnet Parzival Liaze das erste Mal unter einer Linde (v. 162,8), ebenso ruht er mit Condwiramurs unter einer Linde (v. 185,6). Vgl. Brinker-von der Heyde (1997), S. 326f.
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triuwe der Dame gegenüber ihrem Geliebten hevor (vgl. v. 249,15).7 Wie bei der ersten Begegnung bietet Parzival der Dame auch in dieser Situation seine Hilfe an. Doch dieses Mal hat er andere Beweggründe: Bei der ersten Begegnung wollte er den Mörder seines Verwandten finden und diesen rächen. Bei dieser zweiten Begegnung veranlasst ihn das Mitleiden mit Sigune zu seinem Hilfsangebot (vgl. v. 249,27-30).8 Nachdem Sigune sich für Parzivals Angebot bedankt hat, fragt sie ihn, wo er in dieser Einöde übernachtet habe, und der Ritter erzählt ihr von seinen Erlebnissen auf der mysteriösen Burg. Wiederum vermittelt Sigune Parzival tiefere Einblicke und klärt ihn über die Gralsburg Munsalvaesche sowie über die Gralsfamilie auf (vgl. v. 251,2ff.). Nachdem sie von Anfortas und dessen Bruder Trevrizent erzählt hat, erkennt sie schließlich in dem Ritter ihren Cousin Parzival (v. 251,28f.) und fragt ihn nach seinen Erfahrungen mit dem Gral. Parzival weicht der Antwort aus, indem er sich erschüttert über Sigunes Veränderung äußert. Ihr roter Mund habe seine Farbe verloren, ihr braunes Haar habe sie sich ausgerissen, sie sei kahl und ihr Körper ohne Kraft: ôwê war kom dîn rôter munt? bistuz Sigûne, diu mir kunt tet wer ich was, ân allen vâr? dîn reideleht lanc prûnez hâr, des ist dîn houbet blôz getân zem fôrest in Brizljân sah ich dich dô vil minnec1ich, swie du wærest jâmers rîch du hâst verlorn varw unde kraft. (v. 252,27-253,5)
Um ihrer Trauer Linderung zu verschaffen, bietet Parzival seiner Cousine an, den toten Geliebten zu begraben, doch Sigune möchte sich nicht von Schionatulanders Leichnam trennen. Zu ihrer Treue gehört es, bei dem Geliebten, sei er tot oder lebendig, auszuharren.9 Als sie schließlich das Schwert entdeckt, das Parzival vom Fischerkönig empfangen hat, wendet sie sich erneut den Vorkommnissen auf der Gralsburg zu. Vor allem interessiert sie, ob es Parzival gelungen sei, die entscheidende Frage zu stellen (vgl. v. 254,26-30). Parzival muss zugeben, dass er nicht ge7
triuwe bzw. untriuwe sind zu Anfang der Begegnung zwischen Sigune und Parzival die zentralen Begriffe (vgl. v. 249,15/20/24).Vgl. hierzu auch Braunagel (2000), S. 81. Durch diese Beschreibung ist den Leser_innen schon vor Parzival klar, wen er auf der Linde vor sich hat.
8
Vgl. dazu auch Braunagel (2000), S. 82, FN 147.
9
Der Erzähler rekurriert an der Stelle auf Lunete, die ihrer Herrin Laudine rät, sich nach dem Tod des Geliebten schnell nach Ersatz umzusehen (vgl. v. 253,10-14).
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fragt habe, woraufhin sich Sigunes Verhalten verändert. Sie verwandelt sich von der leblos Trauernden in eine wütende Furie. Aus Enttäuschung über Parzivals Versagen und im Wissen um die weitreichenden Folgen verflucht sie ihren Cousin (vgl. v. 255,12ff.) und macht seinen Wunsch nach unmittelbarer Wiedergutmachung zunichte: ir lebt, und sît an sælden tôt (v. 255,20). Auf das Nicht-Fragen des Ritters auf Munsalvaesche folgt die Redeverweigerung seiner Cousine (vgl. v. 255, 28f.) und so bleibt Parzival nichts übrig, als allein und unglücklich über sein Versäumnis davonzureiten. Die dritte Begegnung findet statt, nachdem Parzival bereits eine wahre Irrfahrt hinter sich hat,10 ohne dem Gral nähergekommen gekommen zu sein. Im Wald sieht Parzival eine Klause, in der eine Jungfrau lebt, die ihr Leben Gott gewidmet hat: er vant ein klôsnærinne, diu durch die gotes minne ir magetuom unt ir freude gap. wîplîcher sorgen urhap ûz ir herzen blüete alniuwe, unt doch durch alte triuwe (v. 435,13-17)
Bei der Frau, die der Erzähler als Sigune identifiziert, ist der einbalsamierte Leib ihres Geliebten Schionatulander. Über seinem Leichnam kniet und betet Sigune den ganzen Tag und leidet größten Schmerz (vgl. v. 435,20ff.). Wieder deuten ihre Lippen auf ihre Verfassung hin. Die ehemals roten Lippen, das Symbol der höfischen Liebe, sind noch bleicher und lebloser als bei der zweiten Begegnung mit Parzival. Vom früheren Rot ist nichts mehr zu erkennen: ir dicker munt heiz rôt gevar / was dô erblichen unde bleich, / sît werltlîch freude ir gar gesweich (v. 435,26-28). Sigunes Leiden ist ein Effekt ihrer Treue, die sie ihrem Geliebten noch nach seinem Tod entgegenbringt (vgl. v. 436,1-4). Liebe und Treue erhebt Sigune über alle Frauen, die sich nach dem Tod ihrer Männer der Liebe wieder zugewandt haben.11 Parzival erkennt seine Cousine in mehreren Schritten. Zuerst bittet er die Frau, an das Fenster zu treten. Sie begrüßt den Ritter freundlich, obwohl sie ein Bild des Jammers bietet: Sie ist bleich, dem Tode nahe und trägt ein Büßergewand (vgl. v. 437,20ff.). Auffällig an Sigunes jammervoller Erscheinung ist ein goldener Ring, den sie am Finger trägt. Parzival fragt sogleich nach den Lebensumständen der Klausnerin, die er noch immer nicht als seine Verwandte erkannt hat. Sie erklärt ihm, dass Cundrie, die Gralsbotin, ihr einmal in der Woche Speisen vom Gral brin10 Mit 234 Versen ist dies die längste Begegnung zwischen Sigune und Parzival. Vgl. Braunagel (2000), S. 83. 11 An dieser Stelle zieht der Erzähler erneut einen Vergleich mit Laudine, um Sigunes Verhalten über das aller anderen Frauen zu loben (vgl. v. 436,5ff.).
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ge. Parzival zweifelt an der Geschichte und fragt nach der Bewandtnis des auffälligen Rings. Als die Frau ihm erzählt, wie sie zu dem Ring gekommen sei und warum sie ihn trage, erkennt Parzival, dass es sich um seine Cousine handelt (vgl. v. 440,20ff.). Den Ring, so erzählt Sigune, trage sie als Andenken an ihren toten Mann und an die nicht mit ihm vollzogene Ehe. Den Körper ihres Geliebten habe sie immer bei sich, seit dieser von Orilus getötet worden sei (vgl. v. 439,23ff.). Schionatulander sei zu Lebzeiten ihr ergebener und erfolgreicher Ritter gewesen und schon damals habe sie ihn geliebt. Doch hätten sie die Ehe nicht vollzogen, ehe er in ihrem Dienst gestorben sei: magetuom ich ledeclîche hân: / er ist iedoch vor gote mîn man (v. 440,7f.). Obwohl Sigune als Klausnerin lebt und als Jungfrau noch immer eine Braut Gottes werden könnte, sieht sie sich mit Schionatulander verheiratet. Aus diesem Grund trägt sie den Ehering (vgl. v. 440,13ff.) und lebt eheähnlich mit ihrem toten Geliebten zusammen: ich pin hinne selbe ander: / Schîânatulander / ist daz eine, dez ander ich (v. 440,17-19).12 Sigune sieht sich, obwohl noch Jungfrau und nicht mit Schionatulander verheiratet, als seine Ehefrau. Darin gleicht sie den beiden anderen jungfräulichen Ehefrauen des Parzival, Herzeloyde und Condwiramurs, die ihre ersten Männer ebenfalls vor dem Vollzug der Ehe verloren haben. Bei letzteren ist der Erhalt der Jungfräulichkeit und ihre kiusche einer der Gründe, weswegen sie für die Helden, Gahmuret und Parzival, als Ehefrauen in Frage kommen. Während sie ihre Herzen und Körper an einen neuen Ehemann verschenken, bleibt Sigune Schionatulander auch nach seinem Tod treu und lebt eine imaginäre Ehe mit ihm. Sie ist auf ihren toten Geliebten fixiert und richtet ihr Begehren nicht auf ein neues Ziel. Nachdem Parzival seine Cousine erkannt hat, zeigt er ihr sein Gesicht, und auch sie erkennt ihren Familienangehörigen (vgl. v. 440,26ff.). Sigunes erste Frage gilt der Suche nach dem Gral und Parzival teilt ihr seinen Kummer mit. Er habe sein Königreich und seine geliebte Frau verlassen, um den Gral zu finden, sei diesem aber weder einen Schritt nähergekommen noch besonders glücklich mit seiner Lage (vgl. 441,4ff.). Nachdem er sein Leid geklagt hat, bittet er Sigune, ihm sein Versagen zu verzeihen. Sie vergibt ihrem geläuterten Cousin und rät ihm, den noch frischen Hufspuren von Cundries Maultier zu folgen, da sie nach Munsalvaesche führen (vgl. v. 442,15ff.). Doch verliert Parzival Cundries Spur und verspielt so die Möglichkeit, erneut auf die Gralsburg zu gelangen: sus wart aber der grâl verlorn (v. 442,30). Die vierte und letzte Begegnung erfolgt, als Sigune bereits gestorben ist. Parzival ist zu diesem Zeitpunkt schon ernannter Gralsherr und, wiedervereint mit seiner Familie, auf dem Weg nach Munsalvaesche, um seine Herrschaft anzutreten. Er 12 Auch an dieser Stelle im Text steht Schionatulanders Name allein in einer Verszeile (vgl. auch: v. 138,21), wie eine sinnstiftende Überschrift über Sigunes gesamtes verbleibendes Leben. Vgl. auch Braunagel (2000), S. 79f.
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verbindet diesen Weg mit Besuchen bei seinen Verwandten. Nachdem er seinen Onkel Trevrizent gesehen hat, sucht er seine Cousine auf. Seine Begleiter bestätigen ihm, dass in der Nähe eine Klause sei, in der eine Frau in ständigem Klagegebet auf einem Sarg wohne: […] dâ wont ein magt / al klagende ûf friundes sarke: / diu ist rehter güete ein arke (v. 804,14-16). Als Parzival dort ankommt, ist Sigune aufgrund ihrer Trauer bereits wie eine Pflanze verdorrt (vgl. 804,23). Der neue Gralskönig erweist seiner Cousine die letzte Ehre und bestattet sie im Sarg ihres Geliebten, so dass sie im Tod endlich vereint sind: man leit si nâhe zuo zim dar, / diu magtuomlîche minne im gap / dô si lebte, und sluogen zuo daz grap (v. 804,30-805,2). Als Zeichen der ewigen Liebe über den Tod hinaus teilen sich Sigune und Schionatulander wie andere höfische Liebespaare (Lancelot und Galahot, Tristan und Isolde) eine Grabstätte. Auch Condwiramurs ist in tiefster Trauer, denn sie verbindet mit Sigune eine gemeinsame Vergangenheit: Sigunes Mutter, Parzivals Tante Schoysiane, verstarb bei der Geburt ihrer Tochter; Sigune wuchs in Condwiramursތ Familie auf, weshalb die Frauen einander so nahestehen wie Schwestern (vgl. v. 805,2ff.). Sigune wählt im Parzival eine eigene Form des Heilswegs. Ihr Leben ist kontrastiv auf Parzival bezogen. Dieser findet sein Glück im Leben als Gralskönig und mit Condwiramurs vereint. Sigune dagegen findet ihre Erlösung in der Todes- und Grabesgemeinschaft mit Schionatulander.13 Sigunes Trauer verändert sich im Laufe der drei Treffen mit Parzival. Zuerst wendet sie ihren Schmerz gegen sich selbst, sie reißt sich die Haare aus und klagt lautstark (vgl. v.138,13ff.). Bei den folgenden Begegnungen ist von Autoaggression keine Spur mehr, vor allem zeugt ihr äußeres Erscheinungsbild von der Veränderung ihrer Trauer. Nach Selbstkasteiung und Klage hat sie nun alle Farbe verloren und tritt schließlich bleich und im Büßergewand auf (vgl. v. 437,24ff.). In der Verinnerlichung ihrer Trauer verabschiedet sich Sigune immer mehr von der Welt. Dies wird oft als unbedingte Hinwendung zu Gott gedeutet.14 Doch ist die Veränderung Sigunes nicht primär mit ihrer Weltabkehr und Zuwendung hin zu Gott zu begründen. Vielmehr ist sie eine Folge ihrer komplexen Beziehung zu Schionatulander. Die Gründe für Sigunes Veränderung liegen im Begehren nach dem toten Geliebten, den sie sich als Ehemann auserkoren hat. Sigune bezeugt mit dem Tragen eines Eherings, obwohl sie nie verheiratet war, dass sie ihrem Geliebten auch nach seinem Tod den Vorzug vor Gott gibt (vgl. v. 440,8). Obwohl sie sich als Klausnerin von der Welt zurückgezogen hat und noch immer Jungfrau ist, begehrt sie weiterhin Schionatulander und stirbt ihm nach.
13 Vgl. dazu Braunagel (2000), S. 88 und ebenso Bumke (1991), S. 125. 14 Vgl. z.B. Braunagel (2000), S. 92f. Dies erinnert auch an Herzeloydes Rückzug nach dem Tod Gahmurets.
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Der Beginn ihrer Liebesgeschichte findet sich nicht im Parzival, sondern wird in einem anderen Buch Wolframs von Eschenbach erzählt, dem Titurel.15 Der fragmentarische Text, der nach dem ersten Gralskönig benannt ist, liefert Informationen über den Gral vor der Zeit des Gralssuchers Parzival und erzählt das spätere Schicksal der Gralssippe. Im Mittelpunkt steht die Geschichte von Sigune und Schionatulander. Im ersten Fragment des Titurel wird geschildert, wie Sigune nach dem Tod ihrer Mutter zuerst mit Condwiramurs in Tampunteire lebt (vgl. Ti, Str. 25,1f.) und dann von ihrer Tante Herzeloyde aufgenommen wird. Sigunes Heranwachsen wird besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Mit dem Heranreifen ihres Körpers nehmen, so betont der Erzähler, auch ihr Stolz und ihre Eitelkeit zu:16 Nu hœret frömde wuonder von der maget Sigaunen. do sich ir prüstel dræten und jr rayd fal har beguonde braunen, do huep sich in jr hertzen hochgemüete. sy begunde stoltzen und losen und tet daz doch mit weiplicher güete (Titurel, Str. 36).
Danach setzt die Geschichte Schionatulanders ein, der von Gahmuret aufgezogen wird. Obwohl Sigune, die aus der Gralssippe stammt (vgl. Titurel, Str. 43), in der höfischen Hierarchie über Schionatulander steht, verlieben sich die beiden ineinander. Bevor sie einander ihre Liebe gestehen, besprechen sie ihre Gefühle mit ihren Bezugspersonen Gahmuret und Herzeloyde. Auffällig sind die Ähnlichkeiten der Lebenswege vor allem bei Herzeloyde und Sigune. Wie ihre Tante zieht sich auch Sigune nach dem Tod ihres Geliebten in die völlige Einsamkeit und aus der Gesellschaft zurück. Beide leben somit nur für die Treue gegenüber ihren verstorbenen Partnern und beide Frauen erhalten – untypisch für die höfischen Romane – eine eigene Biografie.17 Das zweite Fragment des Titurel beginnt mit einer Szene, in der Schionatulander und Sigune auf einer Waldlichtung ihr Lager aufschlagen. Zu diesem Zeitpunkt ist Schionatulander bereits Sigunes Ritter und ihr treu ergeben. Diese Idylle wird jäh zerstört, als das Gebell eines Jagdhundes zu hören ist. Schionatulander fängt ihn ein und bringt ihn Sigune als Minnegabe dar. Um den Hals trägt das Tier, das Grâhardeiz heißt (vgl. Titurel, Str. 141), ein kostbares Band, auf dem eine Geschichte zu lesen ist. Das Brackenseil erzählt zwei Liebesgeschichten: zum einen von Illinot, dem Sohn von Artus, und der Dame Florie, zum anderen von deren Schwester Clauditte mit dem Grafen von Ekunat, dem der Hund gehört. Als der Hund entläuft, 15 Der Titurel von Wolfram von Eschenbach besteht aus 170 Strophen und zwei unverbundenen Fragmenten. Die Stellenangaben werden im Folgenden im Text gemacht. 16 Vgl. Brinker-von der Heyde (1997), S. 320. 17 Zumindest in erwähnenswerten Teilen und mehr als andere weiblichen Figuren im Parzival. Vgl. hierzu auch Brinker-von der Heyde (1997), S. 317.
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kann Sigune die Geschichten auf dem Seil nicht mehr zu Ende lesen. Schionatulander bietet ihr an, den Hund wieder einzufangen. Dies gelingt ihm jedoch nicht. Schionatulander verletzt sich beim Versuch, den Hund zu greifen, was als Vorbote seines späteren Todes gelesen werden kann. Sigune überlegt sich daraufhin, dass dies eine geeignete Minneprobe sein könnte und stellt ihrem Geliebten die Aufgabe, den Hund für sie einzufangen. Schionatulander willigt ein. Dann bricht das zweite Fragment des Titurel ab. Wie die Geschichte der beiden Liebenden und des Brackenseils endet, ist aus dem Parzival bekannt. Das Brackenseil hat Schionatulanders Tod verursacht. Sigune gibt sich die Schuld am Tod ihres Geliebten, weil sie es war, die ihm den Auftrag gab, den Hund und das Seil zurückzubringen. Auf der Suche nach dem Hund ist Schionatulander Orilus begegnet, der ihn im Kampf getötet hat. Der Parzival setzt mit der Sigune-Handlung unmittelbar nach dem Verlust ihres Geliebten ein. Doch schon zu Schionatulanders Lebzeiten liegt auf der Liebe ein „Schatten.“18 Von Beginn an werden die beiden gewarnt, dass sie noch zu jung für ihre Zuneigung seien (vgl. Titurel, Str. 47; Str. 48; Str. 49), obwohl der Erzähler die Reinheit und Richtigkeit ihrer Liebe betont (vgl. Titurel, Str. 53). Während Schionatulander glaubt, dass sie füreinander bestimmt seien, behauptet Sigune von der Minne noch nichts zu wissen: Minne, ist daz ein êre? maht du minne mir tiuten? ist daz ein site? kumet mir minne, wie sol ih minne getriuten? muoz ich si behalten bî den tocken? oder fliuget minne ungerne ûf hant durh die wilde? ich kan minne wol locken? (Titurel, Str. 64)
Außerdem vertritt sie die Ansicht, dass Schionatulander wie ein fremder Ritter um sie werben, also eine „nicht bestehende Fremdheit simulieren soll“:19 Owê, kund diu minne ander helfe erzeigen, dane daz ich gæbe, in dîn gebot mînen frîen lîp für eigen! mich hât dîn iugent noch niht reht erarnet. du muost mich under schilteclîchem dache ê gedienen: des wis vor gewarnet! (Titurel, Str. 71)
Die Ähnlichkeit ihrer Lebensgeschichte mit Herzeloyde sowie ihre Herkunft aus dem Gralsgeschlecht legen den Schluss nahe, dass sich auch Sigunes Begehren in 18 Schmid (1986), S. 199. 19 Schmid (1986), S. 199. Dies erinnert an Sigunes Hang zur Eitelkeit, der sie schon von frühester Jugend an begleitet (vgl. Titurel, Str. 43).
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für die Gralssphäre programmatische Weise dem Normativen entzieht. Sie liebt im Parzival einen Toten und zögert die Trennung von ihm so lange wie möglich hinaus: nu minne i´n in alsô tôten (v. 141,24); durch minne diu an im erstarp, / daz si der fürste niht erwarp, / si minnete sînen tôten lîp. / ob si worden wær sîn wîp (vgl. v. 436,1-4). Parzival trägt Sigune an, Schionatulander beizusetzen, aber sie weigert sich. Auch als ihr Geliebter schließlich einbalsamiert ist, setzt sie weiter auf körperliche Nähe, indem sie immer auf dem Leib ihres Geliebten kniet und betet. Als Jungfrau hat Sigune noch nie körperliche Liebe erfahren, erst der Tod „schafft die Vereinigung, die im Leben nicht geschlechtlich hat ausgelebt werden können, ohne dass das Paradox der jungfräulichen Geliebten aufgehoben werden müßte“.20 Sigune wahrt ihre Jungfräulichkeit bis zum Tod, dennoch ist sie mit ihrem Geliebten auf innigste und intimste Art vereint. Zu Lebzeiten hat sie Schionatulander die Liebe verweigert, zu einer sexuellen Vereinigung kommt es nicht. In seinem Tod und in Sigunes Nachsterben nähern sich die beiden jedoch immer mehr an. Sigunes Begehren, Schionatulander seelisch und vor allem auch körperlich nahe zu sein, wächst, bis sie sich im Tod mit ihm mystisch vereint. Auch Sigune, die, wie der Titurel betont, zum Gralsgeschlecht gehört (vgl. Titu21 rel, Str. 43), lebt mit dem leidvollen Erbe der Sippe, das der Stammvater benennt: iâ muoz al mîn geslähte imer wâre minne mit triuwen erben (Titurel, Str. 4). Auch ihr Lebensweg zeichnet sich durch für die Gralssippe typische „Heraustreten aus den Konventionen, sowohl im Positiven wie im Negativen“ aus.22 Dies gilt bei allen Mitgliedern der Gralsfamilie insbesondere für den Bereich der Liebe und des Begehrens. Sigunes Liebe zu Schionatulander ist ein weiteres Beispiel dafür, dass im Parzival unkonventionelle Formen des Begehrens vorgeführt werden. Mit dem Verlust Schionatulanders beginnt Sigunes Rückzug aus der höfischen Gesellschaft, der wiederum im Parzival erzählt wird. Das Verhältnis hat sich geändert: Obwohl Schionatulander ihre Liebe nicht mehr erwidern kann, erfüllt sich nun außerhalb der Gesellschaft ihre Liebe und ihr Begehren nach ihm.23 Sie wird die jungfräuliche Gattin eines Toten, dem sie in lebenslanger Treue verbunden bleibt. Sigune kann sich von seinem Leib nicht lösen, sie begehrt einen Leichnam. Ihr Begehren zeichnet sich somit durch eine nekrophile Tendenz aus. Obwohl das Begehren der Cousine Parzivals und Nichte Herzeloydes heterosozial ist, kann man es nicht als nor-
20 Brinker-von der Heyde (1997), S. 321. 21 Vgl. Brinker-von der Heyde (1997), S. 318. 22 Mertens (1998), S. 113f. Vgl. dazu auch das Verhalten von Herzeloyde im Bezug zu Gahmuret in Kapitel II.1.1.1 dieser Arbeit. 23 Vgl. Braunagel (1999), S. 59.
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mativ definieren. Es gehört zur „eigentümlich queeren [mit anderen Worten nicht (hetero-)normativen] Ordnung“ der Gralssphäre.24 3.1.2 Der begehrende Liebhaber Gawan, der zweite Held in Wolframs Parzival, gilt als Sinnbild des perfekten höfischen Ritters. Er ist der Lieblingsneffe von Artus und eines der bekanntesten Mitglieder der Tafelrunde. Er ist der ideale Freund für viele Helden, wie sich beispielsweise auch im Iwein Hartmanns von Aue zeigt, zudem besitzt er enormen Heldenmut und auch Kampfkraft. Gawan hat jedoch auch eine nicht so positive Seite: „In verse romances, he [Gawan] becomes the object of generally affectionate humor and irony as the poets take advantage of his idealism to place him in embarrassing situations. Much more damaging, however, is his decline in the prose romances where his shortcomings (particularly vengefulness) are contrasted with increasing severity, to the virtues of newer heroes like Lancelot and Tristan, Galahad and Perceval.“25
Bei seiner ersten Begegnung mit Parzival allerdings beweist Gawan Mut und Weisheit. Er befreit diesen in der so genannten Blutstropfenszene aus der Liebestrance. Nachdem Parzival trotz seiner Versunkenheit schon andere Artusritter geschlagen hat, reitet Gawan, seiner Eingebung folgend, unbewaffnet auf den Liebeskranken zu, um dessen Identität aufzudecken. Mit seiner höfischen Art erkennt er, dass Parzival in einem Bann verharrt: dô dâhte mîn hêr Gâwân waz op diu minne disen man twinget als si mich dô twânc, und sîn getriulîch gedanc der minne muoz ir siges jehen? (v. 301,21-25)
Er bedeckt die Blutstropfen im Schnee und befreit Parzival mit dieser Geste. Die Ritter erkennen sich sogleich als ebenbürtige Partner und schließen Freundschaft. Gawan ist das alter ego von Parzival und umgekehrt. Die beiden stärken sich – trotz ihrer Unterschiedlichkeit – in ihrer jeweiligen Identität als Artusritter oder Gralssucher. Wie Parzival droht auch Gawan beim Hoffest von König Artus Unglück. Nachdem Cundrie Parzival aufgrund seines Versagens auf der Gralsburg verflucht hat, erscheint auch für Gawan ein Unheilsbote. Der Ritter Kingrimursel klagt ihn inmit24 Michaelis (2007), S. 38. 25 Thompson/Busby (2006), S. 1.
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ten der Hofgesellschaft an, seinen Herren erschlagen zu haben (vgl. v. 321,1ff.). Die Wahrheit dieser Anklage soll binnen vierzig Tagen in der Stadt Schanpfanzun in einem Zweikampf unter Beweis gestellt werden: lougent des hêr Gâwân, des antwurte ûf kampfes slac von hiute [über] den vierzegisten tac, vor dem künec von Ascalûn in der houbetstat ze Schanpfanzûn. ich lade in kampflîche dar gein mir ze komenne kampfes var. (v. 321,16-22)
In der Artusgesellschaft macht sich Empörung darüber breit, dass dem vorbildlichsten aller Ritter eine so schamlose Tat zur Last gelegt wird (vgl. v. 322,13ff. bzw. v. 323,1ff.). Obwohl Gawan sich keiner Schuld bewusst ist, lässt er diese Schande nicht auf sich sitzen und beschließt, sich der Herausforderung zu stellen (vgl. v. 323,27ff.). Die doppelte Anklage initiiert einen Parallelismus der Lebenswege Gawans und Parzivals. Beide Ritter sind von adliger Abstammung und edler Schönheit, hervorragende Mitglieder der Tafelrunde und erfolgreiche Ritter. Beiden werden schändliche Taten vorgeworfen: Parzival soll mit seinem Versagen vor dem Gral die gesamte Artusgesellschaft ins Unglück gestürzt, Gawan einen wehrlosen und unschuldigen Mann getötet haben. Die Anklagen, die gegen die Ritter erhoben werden, sind strukturell ähnlich aufgebaut. In beiden Fällen sind die Ritter nur so lange schuldig, wie sie ihre Unschuld nicht beweisen können.26 Deswegen brechen sie nacheinander vom Artushof auf, um sich ihrer Schuld zu stellen bzw. den Beweis ihrer Unschuld zu erbringen. Weitere Parallelen kommen hinzu: Cundrie ruft außer der Gralssuche noch ein weiteres schwieriges Abenteuer aus, das von einem Artusritter bewältigt werden soll. In einer mysteriösen Burg mit Namen Schastel marveil leben vier Königinnen und vierhundert andere adlige Jungfrauen in Gefangenschaft, die es zu befreien gilt (vgl. v. 318,13-24). Obwohl das Abenteuer nicht direkt an Gawan adressiert wird, ist es doch, wie die weitere Handlung zeigt, für ihn bestimmt.27 Während sich Parzival der Gralssuche widmet, sucht Gawan nach der verzauberten Burg.
26 Vgl. hierzu Classen (2006), S. 218. 27 Parzival ist derart gefangen von der Anklage, die Cundrie gegen ihn richtet, dass neben seinem Wunsch, den Gral zu erlösen, und seinem Hass gegenüber Gott, die Befreiung von Schastel marveil scheinbar nicht einmal in sein Bewusstsein dringt. Vgl. hierzu auch Classen (2006), S. 219.
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Auf seiner Abenteuerreise begegnet Gawan zahlreichen Frauen. Wolfram deutet die Figur gegenüber der Chrétienschen Vorlage in entscheidender Weise um: Gawan wandelt sich „(v)om Aventiuren- hin zum Minneritter“.28 Der Blick auf Gawans Liebesbeziehungen zeigt nicht nur, warum dem Ritter der Ruf als klassischer erotischer Held der mittelalterlichen Literatur vorauseilt,29 sondern auch in welch unterschiedlicher Weise Geschlecht und Begehren in der Grals- und in der Artusgesellschaft verhandelt werden. In der Sekundärliteratur wehrt man sich zwar gegen ein eindimensionales Bild von Gawan als Liebhaber und gegen ein Übergewicht der Minnehandlung, um jedoch Geschlecht und Begehren bei dieser Helferfigur Parzivals analysieren zu können, muss darauf fokussiert werden.30 Nach Parzivals Aufbruch vom Artushof konzentriert sich die Erzählung auf die Abenteuer ihres zweiten Helden (vgl. v. 338,1-7). Gawan trifft auf zwei Heere, die sich im Krieg befinden. Wie Gawan im Gespräch mit einem Knappen erfährt, ziehen sie zur Stadt Bearosche, die von Lippaut regiert wird. Grund der Auseinandersetzung ist ein Zerwürfnis des Königs Meljanz mit Lippauts Tochter Obie. Meljanz hatte um Obie geworben, doch diese wies ihn mit harschem Spott zurück: si verfluochte im sîne sinne, / unde vrâgte in wes er wânde / war umb er sich sinnes ânde (v. 345,30-346,2). Außerdem forderte sie von Meljanz, dass er fünf Jahre lang Rittertaten zu ihren Ehren vollbringen müsse, bevor sie ihn erhören werde (vgl. v. 345,29ff.). Meljanz zeigte sich nach diesen Forderungen so gekränkt, dass er sich im Zorn von Obie abwandte und ihrem Vater den Krieg erklärte (vgl. v. 347, 7-14): „So führen hochvart und unfuoge auf beiden Seiten zu einem Konflikt, der mit Waffen ausgetragen wird.“31 Obwohl Gawan auf dem Weg zu seinem Gerichtskampf in Schanpfanzun ist, entschließt er sich nach Bearosche zu ziehen (vgl. v.
28 Emmerling, Sonja: Geschlechterbeziehungen in den Gawan-Büchern des ‚Parzival‘. Wolframs Arbeit am literarischen Modell. Tübingen 2003, S. 69. 29 Vgl. im Original: „(T)he almost classical erotic hero of medieval literature.“ (Classen (2006), S. 219) 30 Gegen eine einseitige Interpretation der Gawan-Figur, vgl. Mohr, Wolfgang: „Parzival und Gawan.“ In: Rupp, Heinz (Hg.): Wolfram von Eschenbach. Darmstadt 1968, S. 287318, v.a. S. 293; ebenso: Maurer, Friedrich: „Die Gawangeschichte und die Bucheinteilung in Wolframs Parzival.“ In: Ders.: Dichtung und Sprache des Mittelalters. Gesammelte Aufsätze. Bern/München 1971, S. 421-442, hier S. 434; Rupp, Heinz: Die Bedeutung der Gawan-Bücher im Parzival Wolframs von Eschenbach. London 1983, S. 1-17. 31 Emmerling (2003), S. 10. Ebenso dies., S. 13: „Unsicherheit, Zorn und die Angst, das Gesicht zu verlieren, verhindern eine Aussprache. Voll jugendlicher Überheblichkeit manövrieren die beiden [Meljanz und Obie] sich in eine fast ausweglose Lage.“
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350,1ff.).32 Während er auf die Stadt zureitet, bemerken ihn eine Fürstin und ihre beiden Töchter. Obie hält Gawan für einen Krämer, Obilot – so heißt die zweite Tochter – erkennt hinter der Fassade des Fremden sogleich einen Ritter, denn lieht antlütze und hôhe brust (v. 361,22) sind Kennzeichen eines Helden, nicht eines Kaufmanns.33 Obilot möchte ihn als ihren Ritter gewinnen: er ist sô minneclîch getân, / ich wil in zeime ritter hân / sîn dienst mac hie lônes gern: / des wil ich durch liebe wern (v. 352,23-26). Obliot wiederholt ihre Sehnsucht vor ihrem Vater, Fürst Lippaut: ich wil den fremden ritter biten / dienstes nâch lônes siten (v. 368,17f.). Dann wendet sie sich an Gawan selbst. Nachdem er sich bei ihr für die Verteidigung seiner Person bedankt hat, bittet sie ihn, ihr Ritter zu werden, und bietet ihm ihre Liebe und ihren Leib an:34 mîns lîbes namen sult ir hân: nu sît maget unde man. ich hân iwer und mîn gegert […] sît mîn magtuomlîchiu fluht iwer genâde suochet. ob ir des, hêrre, ruochet, ich wil iu geben minne mit herzenlîchem sinne (v. 369,19-30)
Gawan weist zögernd darauf hin, dass Obilot zu jung sei, um ihm Liebe zu schenken (vgl. v. 370,15ff.), aber dann wandern seine Gedanken zu Parzival, der in Liebesdingen stets auf Gott vertraut hat. Aus diesem Grund entschließt sich Gawan, trotz des Altersunterschieds in Obilots Dienst zu treten, zumal er von der Reinheit und Aufrichtigkeit ihrer Absichten überzeugt ist (vgl. v. 370,25-28). Im folgenden Dialog ist nicht mehr zu merken, dass Obilot fünf Jahre zu jung ist für die Liebe des Ritters – auch Gawan scheint dies zu vergessen. In für den höfischen Roman typischer Weise entspinnt sich ein Liebesdialog, in dessen Verlauf Obilot Gawan Liebe 32 Es wird nicht deutlich, ob es sich tatsächlich um einen Krieg gegen Bearosche oder eine Auseinandersetzung im Turnier handelt. Meljanz selbst formuliert es wie folgt: ez sî strîten oder turnei (v. 347,13). 33 Vgl. zum Einzug Gawans und zum Erkennen seiner Person durch Obilot auch Emmerling (2003), S. 13, v.a. FN 15; 16. 34 Im Gegensatz zu dem weinenden Kind der Chrétienschen Vorlage ist Obilot nun eine kleine (Minne-)Dame, „Nicht mehr ganz Kind, schon ein wenig Backfisch mit Ansprüchen auf eigene Meinungen und eigenes Lebensrecht in der Gesellschaft.“ Mohr, Wolfgang: „Obie und Meljanz. Zum VII. Buch von Wolframs ‚Parzival‘.“ In: Rupp, Heinz (Hg.): Wolfram von Eschenbach. Darmstadt 1966, S. 261-286.
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und Freuden (vgl. v. 371,1-16) und der Ritter seiner Herrin im Gegenzug Treue und Leben verspricht (vgl. v. 371,17-20).35 Der Minnedienst wird mit der Übergabe eines symbolischen Liebespfands bekräftigt. Obilot überreicht Gawan einen Ärmel aus rotem Brokat, den er im Kampf bei sich tragen soll (vgl. v. 375, 20ff.). Sie selbst trägt Gewänder aus demselben kostbaren Stoff. Gawan, der den Ärmel an seinem Schild befestigt, ist im Kampf erfolgreich und es gelingt ihm sogar Meljanz gefangenzunehmen.36 In Kampf um Bearosche spielt das Liebespfand erneut eine Rolle. Gawan nimmt den Ärmel von seinem Schild ab und gibt ihn nach erfolgreichem Kampf an seine junge Dame zurück. Die Beschreibung des zerzausten Zustandes, in dem sich der Ärmel befindet, erinnert an das zerstochene und zerhauene Hemdchen Herzeloydes, das Gahmuret als Liebespfand mit in den Kampf nahm. Auch der Ärmel von Obilots Kleid durchstochen und durchslagn (v. 390,25). Dies scheint ein Indiz für die Intensität der Liebesgeschichte zwischen Gawan und Obilot zu sein, auch wenn dies Liebe nicht körperlich vollzogen wird. Gawan gibt sich mit dem Sieg gegen Meljanz nicht zufrieden. Er setzt sich zum Ziel, die verblendeten Liebenden Meljanz und Obie auszusöhnen (vgl. v. 392,1719).37 Dies gelingt ihm tatsächlich, und so erfüllt Gawan seine Aufgabe als Friedensstifter und „Katalysator der Menschlichkeit“.38 Von seiner Herrin Obilot muss sich Gawan nun verabschieden. Die Liebe der beiden, so höfisch sie auch sein mag, hat keine Zukunft, denn Obilot kann Gawan für seinen Dienst keinen Lohn gewäh-
35 Vgl. zu dem „formvollendeten Minnegespräch“ Emmerling (2003), S. 19. 36 Im Zuge des Kampfes hat auch der Gralssucher einen kurzen Auftritt, allerdings kämpft er auf Seiten von Meljanz. Dieses kurze Auftauchen hat mehrere Bedeutungen: Zum einen stehen Gawan und Parzival sich auf gegnerischen Seiten gegenüber, was jedoch auch wieder die Parallelität ihrer Wege betont und zeigt, dass eine Parteiergreifung in dieser verfahrenen Situation schwierig ist. Zum anderen werden beim Kampf die unterschiedlichen Prioritäten der Ritter deutlich: Bei Gawan geht es um den Dienst für eine Frau (vgl. v. 388,6f.), Parzival hat den Gral (vgl. v. 388,29 und v. 389,10) und die Sehnsucht nach Condwiramurs im Kopf. 37 Obwohl sich Obie gegenüber Gawan grundlos abfällig verhält und auch ihre kleine Schwester verspottet, wird ihr Verhalten dennoch nicht negativ kommentiert. Im Gegenteil, der Erzähler liefert während der ganzen Episode Erklärungen für das Verhalten des Mädchens, beispielsweise Verwirrung, die die Liebe in ihr auslöst (vgl. v. 365,1ff.). 38 Mohr, Wolfgang: „Parzival und Gawan.“ In: Euphorion 52 (1958), S. 1-22, hier S. 14. Gawans Menschlichkeit hat sich beispielsweise schon darin gezeigt, dass er Parzival aus der Liebestrance befreit und zurück an den Artushof gebracht hat. Dadurch ist ihm schon eine erste ‚Versöhnung‘ gelungen. Der Höhepunkt seiner Tätigkeit als Friedensstifter wird die „Zähmung“ des für das Artusreich ärgerlichen Störenfrieds Orgeluse sein. Vgl. hierzu auch Classen (2006), S. 220.
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ren. So muss Gawan das Mädchen verlassen (vgl. v. 397,12-20), obwohl er seine Kämpfe Obilot zu Ehren ausgefochten hat und sie auch küsst und herzt.39 Gawan setzt seinen Weg zum Gerichtskampf fort. Auf dem Weg nach Schanpfanzun gelangt er zuerst nach Askulan, wo eine zweite Liebesgeschichte auf ihn wartet: „First, however, other character traits emerge, and these are his overarching interest in women and his own erotic attractiveness, which are identity markers of his masculinity.“40 In Askulan wohnt König Vergulaht, der Ankläger in Gawans Gerichtskampf. Gawan deckt seine wahre Identität nicht auf, so dass Vergulaht den fremden Ritter arglos und nach allen Regeln der Gastfreundschaft empfängt (vgl. v. 401,5ff.). Weil der König dringende Geschäfte außerhalb von Askulan zu verrichten hat, übergibt er Gawan in die Obhut und Gastfreundschaft seiner Schwester Antikonie auf der Burg Schanpfanzun (vgl. v. 402,20ff.). Der Erzähler lobt Antikonie für ihren Liebreiz, ihren Adel und vor allem ihre Treue (vgl. v. 403,22-404,16).41 Antikonie heißt Gawan willkommen und begrüßt ihn mit einem Kuss. Das höfische Begrüßungsritual ist nicht so unschuldig, wie es auf den ersten Blick scheint. Der Erzähler hebt Form und Farbe von Antikonies Lippen hervor und betont, dass der Kuss nicht nur aus Gastfreundschaft geschehen sei: ir munt was heiz, dick unde rôt, / dar an Gâwân den sînen bôt. / da ergienc ein kus ungastlîch (v. 405,19-21). Der Hinweis auf die roten Lippen des Mädchens erinnert an die Beschreibung von Jeschutes und Parzivals Mund, der diese nicht nur als schöne Menschen, sondern auch als Objekte des Begehrens auszeichnet.42 Hinzukommt Antikonies Herkunft aus
39 Vgl. dazu: Gâwânn man kuss ouch niht erliez, / und daz er næm sîn frouwen dar. / er dructez kint wol gevar / als ein tockn an sîne brust: / des twang in friwentlîch gelust (v. 395,20-24). 40 Classen (2006), S. 220. Vgl. hierzu auch Hahn, Thomas: „Gawein and Popular Chivalric Romance in Britain.“ In: Krueger, Roberta (Hg.): The Cambridge Companion To Medieval Romance. Cambridge 2000, S. 218-234, hier S. 220. 41 Die lobende Einstellung des Erzählers ist es auch, was die Interpretation des kurzen Liebesverhältnisses zwischen Gawan und Antikonie so schwierig macht. Eigentlich ist Antikonie eine weibliche Verführerin, aber in Diskrepanz dazu steht das wiederholte Lob ihrer Person (vgl. dazu Emmerling (2003), S. 33f. und auch S. 33, FN 1). 42 Herta Zutt dagegen sieht das anders: Für sie ist der Kuss keine Provokation im Sinne der Verführung des Ritters, vgl. dazu Zutt, Herta: „Gawan und die Geschwister Antikonie und Vergulaht.“ In: Schnell, Rüdiger (Hg.): Gotes und der werlde hulde. Literatur in Mittelalter und früher Neuzeit. Festschrift für Heinz Rupp zum 70. Geburtstag. Bern/Stuttgart 1989, S. 97-117, hier S. 108. Ich denke jedoch, dass auf jeden Fall ein Mehr an Begehren in diesem Kuss angedeutet ist, v.a. im Hinblick darauf, dass Antikonie schon wenige Verse später dem für sie fremden Ritter Gawan ihre Liebe anbietet: und enweiz doch, hêrre, wer ir sît; / doch ir an sô kurzer zît / welt mîne minne hân (v. 406,9-
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dem Feengeschlecht. Diese wird nur mittelbar deutlich: Einerseits zeigt sie sich über die Beschreibung von Vergulaht, der wie seine Schwester mit Gahmuret und Parzival verwandt ist und große Ähnlichkeit aufweist (vgl. v. 400, 5-18, v.a. 400,16f: unt daz er Gahmuretes mâl hete), andererseits spricht Antikonie von Gahmuret als ihrem Oheim (vgl. v. 406,4f.). Das Feenblut, das in Antikonies Adern fließt, erklärt neben ihrer außergewöhnlichen Schönheit ihren Hang zu Liebe und Begehren. Gawan verbirgt im nachfolgenden Gespräch seine Identität, bringt aber zum Ausdruck, dass er ebenso adlig und von gleicher art sei (vgl. v. 406,14-20). Herta Zutt schreibt: „Der Hörer aber wird durch die Aussage über den gleichen art daran erinnert, dass beide [Antikonie und Gawan] aus dem Feengeschlecht stammen, dessen Schicksal die Anfälligkeit für minne ist […]. So kann sich der Hörer nicht über die schnell entflammte Leidenschaft wundern (des willn si bêde wârn bereit 407,9), die Wolfram auch keineswegs verurteilt […].“43
Im Laufe ihres ersten Gesprächs entbrennen Gawan und Antikonie leidenschaftlich füreinander. Sie ziehen einander magisch an (vgl. v. 407,6-9). Nachdem Antikonie mit dem Kuss den Anfang gemacht hat, greift ihr der Ritter unter den Mantel: ich wæne, er ruort irz hüffelîn / des wart gemêret sîn pîn (v. 407,3f.).44 „In Wolfram’s usage as we shall see below, huf and hüffelîn can refer to womenތs genitals.“45 Mehr noch als als Zeichen für die (weibliche) Geschlechtlichkeit des Körpers im mittelalterlichen Roman, wird an dieser Stelle Begehren ausgedrückt. Die Dame steht dem Ritter nicht nach: von der liebe alsöhle nôt gewan beidiu magt und ouch der man, daz dâ nâch was ein dinc geschehen, hetenz übel ougen niht ersehen. des willn si bêde wârn bereit (v. 407,5-9).
Dies mündet übrigens in eine gleichberechtigte Annäherung von Ritter und Dame, denn nicht nur Antikonie, auch Gawan ergreift beim ‚Liebesspiel‘ die Initiative. Somit sehe ich auch Sonja Emmerlings Argument bestätigt, dass Antikonie in der 11). Zudem wirken rote Lippen, wie diejenigen von Antikonie aphrodisierend. Vgl. dazu auch Schultz (2007), S. 35. 43 Zutt (1989), S. 109. 44 Die Verwendung des Wortes hüffelîn in diesem Zusammenhang ist als Anspielung auf den Liebesakt zu lesen. Vgl. den Hinweis des Erzählers auf Jeschutes Hüfte v. 130,18; ebenso: Schultz (2006), S. 41. 45 Schultz (2006), S. 41.
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Sekundärliteratur zu schnell die Rolle der bösen Verführerin zugeschoben bekommt, während Gawan von jeglichem Verdacht frei gesprochen wird.46 Bevor es zum Liebesakt kommt, werden sie von dem überraschend auftauchenden Ritter Vergulahts entdeckt. Dieser erkennt Gawan als Mörder von Vergulahts Vater und beschuldigt ihn der Vergewaltigung Antikonies (vgl. v. 407,16ff.) Da Gawan mit Antikonie im Bett überrascht wird, ist er unbewaffnet und unbekleidet und so bleibt ihm anstelle der Verteidigung nur die Flucht. Mithilfe eines Schachbretts versuchen Gawan und Antikonie die wütende Meute aus der Stadt fernzuhalten. Die pikante Szene ist von besonderer Komik gekennzeichnet. Die Stadtbevölkerung von Schanpfanzun kämpft gegen einen nur mit einem Schachbrett bewaffneten Ritter, dessen Geliebte mit Schachfiguren um sich wirft. Dass Antikonie in für Frauen untypischer Weise in den Kampf eingreift, kommentiert der Erzähler wie folgt: diu küneginne rîche streit dâ ritterlîche […] swâ harnaschrâmec wirt ein wîp, diu hât ir rehts vergezzen, sol man ir kiusche mezzen, sine tuoz dan durch ir triuwe. (409, 5-15)
Antikonie erweist sich als mulier virilis und übernimmt die Verteidigung ihres Gastes.47 Sie behauptet sich selbstbewusst gegenüber ihrem Bruder, der das Gastrecht Gawans aufs Gröbste verletzt hat, in dem er den Ritter töten wollte:48 „Antikonie wird zur Antagonistin des Königs, und durch ihre formalrechtlich korrekte Position – sie verteidigt das Gastrecht für Gawan – erhält sie das Oberwasser, das sie braucht, um
46 Vgl. Emmerling (2003), S. 33f. 47 An dieser Stelle muss jedoch auch festgestellt werden, dass Gawan mit der Annäherung an Antikonie das Gastrecht überschreitet: „He does not stay within his proper role of guest, but takes the liberties of a amorous lover.“ Buettener, Bonnie: Gawan in Wolframތs Parzival. Ithaca 1984, S. 98. 48 Antikonie ist sich ihrer Rolle als Frau trotz allem bewusst. Gegenüber ihrem Bruder verteidigt sie jedoch ihre Vorgehensweise und führt diesem sein falsches Verhalten vor Augen: trüege ichz swert / und wær von gotes gebot ein man, / daz ich schildes ambet solde hân, / iwer strîten wær hie gar verzagt. / dô was ich âne wer ein magt, / wan daz ich truoc doch einen schilt, / ûf den ist werdekeit gezilt (v. 414,14-20).
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energisch und in aller Öffentlichkeit für ihre Auffassung der Dinge und damit auch für ihr Selbstverständnis als höfische Dame eintreten zu können.“49
Obwohl Antikoie als Sinnbild der Tugend und Reinheit beschrieben wird, zögert sie nicht, sich Gawan sexuell hinzugeben (vgl. v. 406,1-11).50 So höfisch damenhaft sie der Erzähler schildert, so untypisch weiblich ist ihr Einschreiten zur Verteidigung Gawans. Einerseits erscheint sie als fügsame Schwester, da sie den Vorgaben ihres Bruders folgt und seinen Gast aufnimmt. Andererseits lehnt sie sich gegen Vergulaht auf, wenn sie das Recht ihrer Gäste verletzt sieht. Antikonies heftiges Pochen auf das Gastrecht und die Vermittlung des Landesgrafen Kingrimursel versöhnen König Vergulaht schließlich. Er stellt nur eine Bedingung: Gawan sei dann frei, wenn er sich auf den Weg mache und den Gral für Vergulaht erringe (vgl. v. 428,19-22). Der König erinnert so an Parzival, der auch dafür bekannt ist, seine bezwungenen Gegner auf die Suche nach dem Gral zu schicken.51 Mit dieser Aufgabe kommt für Gawan der Abschied von Schanpfanzun und das Ende des Verhältnisses mit Antikonie. Während die Dame in der Verteidigungsrede gegen Vergulaht ihre Liebe zu Gawan öffentlich bekennt, scheint der Ritter zunächst nur von der Ausstrahlung der begehrenswerten Antikonie angezogen gewesen zu sein.52 Erst jetzt, beim unausweichlichen Abschied, erkennt Gawan sein Versäumnis und bietet Antikonie seinen Dienst an, was ohne Folgen bleibt (vgl. v. 431,6-11): „Die besonderen Umstände machen jedoch ein echtes Minneverhältnis zu Gawan unmöglich, sie erlauben keinen besseren Ausgang für Antikonie und Gawan.“53 Vergulaht und Gawan brechen gemeinsam auf, um den Gral zu suchen, doch geht jeder seiner eigenen Wege: si fuoren beide sunder dan, Vergulaht unt Gâwân, an dem selben mâle durch vorschen nâch dem grâle, aldâ si mit ir henden mange tjoste muosen senden. 49 Emmerling (2003), S. 40. In dieser Position, als Gegnerin des Königs, ähnelt Antikonie ihrer antiken Namensschwester Antigone. Vgl. dazu Clifton-Everest, John M.: „Wolfram und Statius: Zum Namen ‚Antikonie‘ und zum VIII. Buch von Parzival.“ In: ZfDPh Bd. 116 (1997), H. 3, S. 321-351. 50 Vgl. auch Classen (2006), S. 221. 51 Vgl. z.B. v. 388,26-30 oder 425,1-14. 52 Gawan reduziert Antikonie zu Anfang wiederholt durch groteske Bilder auf ihre Körperlichkeit. Vgl. Emmerling (2003), S. 44. 53 Zutt (1989), S. 112.
228 | DIE MITTELALTERLICHEN GRALSROMANE wan swers grâles gerte, der muose mit dem swerte sich dem prîse nâhen. sus sol man prîses gâhen (v. 503, 21-30)
Der Gral wird hier als Ziel und Preis genannt, nach dem Gawan und Vergulaht streben. Trevrizent hatte Parzival mitgeteilt, dass sich der Gral erjagen noch durch Kampf erringen lässt (vgl. v. 468,12ff.). Zu Beginn von Gawans Suche erfährt man jedoch, dass sich derjenige, der auf dem Weg zum Gral Ehre im Kampf erringt, sich verdienter um ihn macht als andere (vgl. v. 503,28-30). Dieser Widerspruch passt zur geheimnisvollen Aura des Grals ebenso wie die Tatsache, dass nur derjenige Gralssucher erfolgreich ist, der der Familie des Gralskönigs Anfortas angehört.54 Dies ist einer der Gründe, warum Gawan dem Gral nicht näherkommen kann, als ihn als Ziel seiner Suche zu nennen. Außerdem ist seine eigentliche Aufgabe eine andere. Nach zwei komplizierten und gefährlichen Liebschaften trifft Gawan nun endlich auf sein wahres Ziel – die Eroberung Orgeluses de Logroys.55 Während das Verhältnis zu Obilot sich durch dienst ohne lôn und das zu Antikonie durch lôn ohne dienst auszeichnete, sollen die vorhergehenden Missverhältnisse in der vollkommenen Liebe zu Orgeluse aufgehoben werden. Sie bedeutet für den Ritter Glück und Leid zugleich: da ersaher niderhalben sîn / freude und sîns herzen pîn (v. 508,15f.). Orgeluse ist, neben Condwiramurs, die schönste und edelste Frau auf Erden56 und somit die perfekte Partnerin für Gawan. Schon beim ersten Zwiegespräch entspinnt sich ein Disput. Gawan bietet ihr ritterlich sein Herz, seinen Dienst und seine Liebe an (vgl. v. 509,2ff.), Orgeluse dagegen möchte ihm ihr Herz nicht überlassen (vgl. v. 509, 28-30). Gawan beharrt darauf, in ihren Dienst einzutreten, und so nimmt Orgeluse schließlich sein Angebot doch an, nicht ohne dem Ritter zu prophezeien, dass der Dienst gefährlich sei und möglicherweise seiner Ehre schaden könne (vgl. v. 511,17ff.). Gawan muss seiner Dienstherrin wiederholt beweisen, dass er der perfekte höfische Ritter ist. Sie treffen auf eine große Burg, in deren Fenster zahlreiche Damen zu erkennen sind (vgl. v. 534,28-30). Bei dem Bauwerk handelt es sich um Schastel marveil, dessen Befreiung Cundrie am Artushof als großes Abenteuer ausgerufen hat. Gawan will sich dieser Herausforderung stellen. Orgeluse verlässt Gawan mit höhnischen Worten, verspricht ihm jedoch, dass er sie aufsuchen dürfe, sobald er die erstrebte Ehre erreicht habe (vgl. v. 536,1ff.).57 54 Vgl. zu den Verwandtschaftsverhältnissen und deren Einfluss auf das Gralskönigtum im Parzival auch Kapitel III.4.1 dieser Arbeit. 55 Vgl. Emmerling (2003), S. 34, FN 3. 56 Vgl. v. 508, 21-26. 57 Dass Gawan seine Gewohnheiten als Frauenheld abgelegt hat, zeigt die Episode, als er vor der Befreiung von Schastel marveil bei einem Fährmann und dessen bildschöner
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Gawan erfährt, dass sich die verzauberte Burg, so wie er selbst, im Reich Clinschors (vgl. v. 548,5), dem Terre marveil (vgl. v. 557,6), befindet. Die erste Prüfung, die Gawan bestehen muss, ist das Abenteuer des so genannten Lît marveil, eines verzauberten Bettes (vgl. v. 567,1ff.). Kaum ist dem Ritter gelungen, sich in das Bett zu legen, rast dieses wie wild durch den Raum (vgl. v. 567,14ff.). Erst als Gawan sein Schicksal in Gottes Hände legt, hört das Bett auf, sich zu bewegen. Schon droht die nächste Gefahr: Fünfhundert auf das Bett gerichtete Schleudern beschießen den Ritter mit Steinen (vgl. v. 568, 20ff.), danach folgen fünfhundert Armbrüste und Pfeile (vgl. v. 569,3ff.). Ein Löwe fällt den Ritter an (vgl. v. 571,12ff.). Bevor er das Tier töten kann, wird er von diesem schwer verletzt und bricht ohnmächtig zusammen. Eine der Damen, die in dem Schloss wohnen, findet den Ritter. Es ist Arnive, Artus’ Mutter (vgl. v. 574,5). Gemeinsam mit zwei anderen Jungfrauen wäscht sie Gawans Wunden aus und bemerkt dabei, dass er noch lebt. Gawan wird gesund gepflegt und begegnet Orgeluse wieder. Nach weiteren Verspottungen und Prüfungen erklärt ihm Orgeluse endlich die Gründe für ihre Traurigkeit, ihre Verbitterung und ihren Männerhass. Ihr Geliebter Cidegast wurde von König Gramoflanz erschlagen, weswegen sie auf Rache sinnt (vgl. v. 615,27ff.). Um Vergeltung zu erlangen, sucht sie seit Cidegasts Tod nach Rittern, die Gramoflanz jagen. Einer dieser Ritter, der ihr daraufhin seinen Dienst antrug, war Anfortas selbst. Die Liebe zu Orgeluse führte schließlich zur Verwundung des Gralskönigs, weswegen sie sich verantwortlich fühlt (vgl. v. 616,19ff.). Noch immer angetrieben von dem Wunsch nach Rache für ihren toten Geliebten, hat Orgeluse einen Pakt mit dem Magier Clinschor geschlossen. Sie hat all die Kleinodien, die ihr Anfortas geschenkt hat, dem Zauberer übergeben und ihm sogar ihre Liebe versprochen. Auch viele andere Ritter hat Orgeluse ins Verderben gestürzt, nur einer hat sich von ihren Verlockungen nicht beirren lassen. Parzival, dem die Fürstin ihre Liebe antrug, lehnte das Angebot ab (vgl. v. 618,19ff.). Zum einen weil er bereits eine schönere Frau habe, die auf ihn warte, zum andern weil er den Gral finden müsse (vgl. v. 619,8-12). Nach diesem Geständnis und der langersehnten Erklärung für Orgeluses abweisendes Verhalten nähern sich Gawan und seine Herrin endlich an. Mit Orgeluse wird eine Frauenfigur eingeführt, wie sie bislang im Parzival nicht anzutreffen war. Orgeluse ist mächtig und stark und spielt eine nahezu gleichberechtigte Rolle in der höfischen Gesellschaft.58 In ihrem Hass und ihrer Abneigung gegenüber Gawan Tochter, Bene, einkehrt (vgl. v. 549,1ff.). Er verliebt sich weder in sie noch in eine der 400 schönen Jungfrauen von Schastel marveil (vgl. v. 582,1-5). Seine Gedanken sind einzig Orgeluse besetzt (vgl. z.B. v. 628,11-14). Wie Lancelot auf Ginover ist auch er bei Tag und Nacht, im Wachen und im Schlafen auf die Königin konzentriert. 58 Vgl. Classen (2006), S. 227. Zur Orgeluse-Figur vgl. auch Friedrich Michael Dimpel: „Dilemmata: Die Orgeluse-Gawan-Handlung im Parzival.“ In: ZfDPh (2001) 120, H. 1,
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und der Gesellschaft weist sie individuelle Züge und somit eine Sonderstellung auf.59 Ein neues Frauenbild wird an Orgeluse sichtbar, das in vielerlei Hinsicht vom Ideal der höfischen Dame abweicht.60 Als jungfräuliche Witwe versucht sie ihr Schicksal selbst zu lenken. In diesem Verhalten erinnert sie an Herzeloyde; doch im Gegensatz zu dieser, die sich in Gahmuret verliebt und ihn heiratet, will sich Orgeluse nicht von einem Mann abhängig machen. Die Männer, die ihr nahekommen dürfen, werden von ihr instrumentalisiert. Wie Ginover schlüpft Orgeluse in die männlich codierte Rolle des Eroberers. Obwohl nie ein Zweifel daran aufkommt, dass sie ebenso schön und begehrenswert ist wie andere höfische Damen, passt ihr Drang, ihre Ziele strategisch und auch ohne männliche Unterstützung zu erreichen, nicht in das traditionelle Bild höfischer Weiblichkeit. Doch ist Orgeluses undamenhaftes Verhalten nur temporär möglich und endet mit der Liebe zu Gawan. Zwischen ihr und dem Ritter entspinnt sich, wie Wolfgang Mohr schreibt, eine „großartige Minnekomödie […] edler als Shakespeares Burleske von der Widerspenstigen Zähmung, mit der sie motivisch zusammengehört, tiefer als sie, weil nach und nach offenbar wird, daß die Widerspenstige keine abstrakte Figur in einem spannenden novellistischen Schema ist, sondern ein echter Mensch, eine kluge, herrscherliche Frau, die durch harte Erfahrungen verbittert wurde.“61 S. 39-59; Emmerling (2003); Scheuble, Robert: Mannes manheit, vrouwen meister. Frankfurt am Main 2005; Zimmermann, Gisela: „Untersuchungen zur Orgeluse-Episode in Wolfram von Eschenbachs Parzival.“ In: Euphorion 66 (1972), S. 128-150; Baisch, Martin: „Orgeluse – Aspekte ihrer Konzeption in Wolframs von Eschenbach Parzival.“ In: Kasten, Ingrid/Haas, Alois M.: Schwierige Frauen – schwierige Männer in der Literatur des Mittelalters. Bern u.a. 1999, S. 15-33; Wynn, Marianne: „Orgeluse. Persönlichkeitsgestaltung auf chrestienischem Modell.“ In: German Life and Letters 30, 1976/77, S. 127-137; Gibbs, Marion E.: Wîplichez wîbes reht. A Study of the Women Characters in the Work of Wolfram von Eschenbach. Pittsburgh 1972, S. 197ff. 59 Vgl. Wynn (1976/77), S. 129. Zu der „Sonderstellung“ und ihren mannhaften Gebärden vgl. auch, wie sie kämpferisch ihre Haube trägt: Si hete mit ir hende / underm kinne daz gebende / hin ûfez houbet geleit / kampfbæriu lide treit / ein wîp die man vindet sô: / diu wær vil lîhte eins schimpfes vrô (v. 515,1-6). 60 Vgl. dazu auch Bumke, Joachim: „Geschlechterbeziehungen in den Gawanbüchern von Wolframs Parzival.“ In: Mehler, Ulrich/Touber, Anton H.: Mittelalterliches Schauspiel. Festschrift für Hansjürgen Linke zum 65. Geburtstag. Amsterdam 1994, S. 105-121, hier S. 112. 61 Mohr (1958), S. 295. Zu der Motivverwandtschaft mit der Widerspenstigen Zähmung von Shakespeare vgl. auch Szlavek, Lilo: „Der Widerspenstigen Zähmung in Parzival.“ In: Wallinger, Sylvia/Jonas, Monika: Der Widerspenstigen Zähmung. Studien zur bezwungenen Weiblichkeit in der Literatur vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Innsbruck 1986,
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Obwohl Orgeluse Gawan immer wieder abweist und beleidigt, zahlt sich seine Beharrlichkeit aus. Am Ende gesteht sie ihm die Beweggründe ihres Handelns und Gawan heilt ihre seelischen Wunden.62 Die endgültige Zusammenführung findet im Zusammenhang der größten Tat des Artusritters statt: der Befreiung von Schastel marveil, die Cundrie am Artushof ausgerufen hat. So vollbringt Gawan eine eigene Erlösungstat. Er befreit die vierhundert adligen Damen nebst vier Königinnen aus dem verzauberten Schloss. Damit erweist er sich, wie Raymond H. Thompson und Keith Busby betonen, als der beste Artusritter: „(T)he transposition of Perceval to the transcendent Grail realm does not entail a concomitant mocking and downgrading of Gawein. Gawein remains the best knight, but in the Arthurian world only“.63 Für die Artusgesellschaft ist Gawans Befreiungstat bedeutender als diejenige Parzivals. Unter den gefangenen Frauen befinden sich viele weibliche Mitglieder der Artusgesellschaft, unter anderem Gawans Schwester Itonje und König Artus ތMutter Arnive. Die Zeit der Gefangenschaft auf der Burg des Zauberers Clinschor ist für die gefangenen Jungfrauen heikel, weil sie zur Keuschheit gezwungen werden. Dies liegt zum einen an der Isolation des Schastel marveil aufgrund von Clinschors Zauberbann und zum anderen an der forcierten Trennung der Geschlechter innerhalb der Burg.64 Die Geschlechtertrennung widerspricht der sozialen Struktur der höfischen Gesellschaft. Gawan, der als Erlöser der verzauberten Burg auftritt, hat nach der Befreiung der Jungfrauen aus Clinschors Zauberbann eine weitere Aufgabe zu erfüllen, nämlich die Zusammenführung der Geschlechter. Damen und Ritter sind einander noch nie begegnet, obwohl sie in der derselben Burg gefangen waren: si wârn ein ander unbekant, / unt beslôz se doch ein porte, / daz si ze gegenworte / nie kômen, frouwen noch die man (v. 637,20-23). Gawan erkennt dieses Problem und versucht es schrittweise zu lösen. Zuerst sitzen Frauen und Männer noch getrennt voneinander, nur er selbst und Orgeluse sitzen an einem gemischtgeschlechtlichen Tisch. Gawan führt ein Gespräch mit seiner Schwester Itonje über ihre Liebe zu Gramoflanz, der für den Tod von Orgeluses Ehemann verantwortlich ist. Es schmerzt Itonje zu sehen, wie Gramoflanz von Orgeluse und ihren Helfern gejagt wird (vgl. v. 634,17ff.). Auch in diesem Konflikt wird ihr Bruder Gawan eine Lösung finden und sich erneut als Friedensstifter präsentieren. Schon während des Essens werfen sich die Damen und Herren gegenseitig Blicke zu (vgl. v. 638,25ff.),
S. 43-65. Vgl. zu der „Anziehung und Abweisung“ zwischen Orgeluse und Gawan auch Braunagel (2000), S. 70, v.a. FN 126. 62 Vgl. Bumke (1994), S. 113. 63 Thompson/Busby (2006), S. 10. 64 Die Trennung der Geschlechter ist nur eine der Eigenschaften, die, obwohl anders motiviert, Clinschors Schastel marveil und die Gralsburg gemeinsam haben.
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und beim anschließenden Tanz (vgl. v. 639,15ff.) mischen sich die Geschlechter.65 Nach dem Tanz wird die getrennte Sitzordnung aufgehoben und Frauen und Männer sitzen bunt gemischt (vgl. v. 641,2-4). Höhepunkt der Annäherung ist das symbolische Beilager Gawans und Orgeluses in der Nacht nach dem Hoffest. Der Erzähler schildert den sexuellen Akt als Heilung des kranken Gawan, dem die Herzogin alle Lebensfreude geraubt hatte (vgl. v. 643,11): diu wurz was bî dem blanken brûn. muoterhalp der Bertûn Gâwân fil li roy Lôt, süezer senft für sûre nôt er mit werder helfe pflac helfeclîche unz an den tac. sîn helfe was doch sô gedigen deiz al daz volc was verswigen (v. 644,1-8)
Die Ehe zwischen Gawan und Orgeluse wird jedoch, anders als die Ehen zuvor, nicht schon durch dieses Beilager geschlossen, sondern erst später am Artushof (vgl. v. 730,15ff.).66 Die Erlösungstaten der Protagonisten des Parzival spielen sich auf zwei verschiedenen Burgen ab, dem Schastel marveil einerseits und Munsalvaesche andererseits. Jeder der beiden Ritter muss sich mit anderen Begehrensverhältnissen auseinanderzusetzen. Gleichwohl erscheint ein Vergleich angebracht. Das mysteriöse Bett, dessen Prüfungen Gawan auf dem Weg zum Erfolg zu durchleiden hat, kann es durchaus mit den geheimnisvollen Objekten der Gralsburg aufnehmen. Die Prozession der Jungfrauen, die Parzival bei seinem Besuch auf Munsalvaesche beobachtet, ähnelt dem Zug der auf Schastel marveil gefangenen Jungfrauen. Doch unterscheiden sich die Rollen, die die Frauen jeweils spielen. Auf der einen Seite dienen die Jungfrauen aufgrund ihrer Erwähltheit und Keuschheit dem Gral freudig und hingebungsvoll, auf der anderen Seite zwingt ein verbitterter Zauberer die edlen Damen den Männern auf seiner Burg fern zu bleiben. Die Trennung der Geschlechter im verzauberten Schloss Clinschors ist erzwungen, widernatürlich und muss durch den Helden aufgehoben werden, um die Ordnung wiederherzustellen. Auf der Gralsburg hingegen sind die geschlechterspezifische Teilung der Aufgaben und die Enthaltsamkeit der dort Lebenden eine Vorgabe des Grals, die wie selbstverständlich erfüllt wird. Zuwiderhandlung zieht, wie das Beispiel Anfortas’ zeigt, schwere Strafen nach sich. Eine weitere Entsprechung besteht darin, dass beide 65 Bumke (1994), S. 107, v.a. FN 6. 66 Vgl. Bumke (1994), S. 108. Bei diesem Hoffest wird auch die letzte Stufe der Integration geschafft: die Verbindung der Gesellschaft von Schastel marveil mit der Artusgesellschaft.
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Burgen von Herren regiert werden, deren Geschlecht in Frage steht. Wie Anfortas, der entmannte Gralskönig, wurde auch Clinschor, der Herrscher von Schastel marveil, seiner Männlichkeit beraubt. Beider Krankheit wirkt sich auf die Bewohner der betreffenden Burgen aus. Anfortas ތGefolge leidet mit seinem König und lebt in ständiger Trauer. Auch die Bewohner von Schastel marveil haben unter Clinschors Schicksal zu leiden. Doch sind die Beweggründe der beiden Herrscher unterschiedlich. Der entmannte Zauberer lässt keine Zusammenkünfte zwischen den Geschlechtern zu, da er sich selbst nicht dem weiblichen Geschlecht annähern kann; auf der Gralsburg ist die Trennung der Geschlechter hingegen heiliges Gesetz. Während Anfortas nach seiner Entmannung keine böse Absicht hegt, ist Clinschor verbittert. Er lässt seine Umgebung leiden, weil er selbst leidet. Artus’ Mutter Arnive klärt Gawan über Clinschors Schicksal auf. Bevor dieser ein böser Magier wurde, verliebte er sich in Iblis, die Frau des sizilianischen Königs Ibert. Der König erwischte Clinschor und die Königin in flagranti. Es werden drei verschiedene Versionen der Geschichte präsentiert, wie Ibert Clinschor entmannt hat.67 Die wiederholte und gehäufte Schilderung der Kastration betont deren Gewalttätigkeit. Während der Zauberer nach seiner Entmannung nur Hohn von der Außenwelt erntet – auch Gawan lacht über ihn –, bleibt Anfortas auf der Gralsburg von Spott verschont. Vielmehr wird alles daran gesetzt, den Gralskönig von seiner Wunde zu heilen und seine Schmerzen zu lindern. Clinschor hegt seit seiner Entmannung tiefen Hass gegen seine Umwelt: durch die scham an sîme lîbe wart er man noch wîbe guotes willen nimmer mêr bereit; ich mein die tragent werdekeit. swaz er den freuden mac genemn, des kan von herzen in gezemn (v. 658,3-8).
Im Vergleich zu Anfortas, den seine Entmannung zu passivem Leiden verurteilt, spielt Clinschor sein Weder-Frau-noch-Mann-Sein (vgl. v. 658,4) in aktiver Bösartigkeit aus. Beide Herrscher führen zwei Seiten derselben Medaille vor: Clinschors queeres Leiden äußert sich in aktivem Hass gegen Geschlechtlichkeit, wohingegen Anfortas passiv und zurückgezogen leidet. Somit werden, wie Klosowska hervorhebt, zwei unterschiedliche Verhaltensformen entmannter Männer vorgeführt: 67 Vgl. zu den drei Versionen: 1.: zeim kapûn mit eime snite / wart Clinschor gemachet (v. 657,7f.); 2.: er wart mit küneges henden / zwischenn beinn gemachet sleht (v. 657,20f.); 3.: der [Ibert] besneit in an dem lîbe / daz er decheinem wîbe / mac ze schimpfe niht gefrumn (657,23ff.).
234 | DIE MITTELALTERLICHEN GRALSROMANE „The […] doubling of characters allows for differentiation between castration whose meaning is limited to punishment for adultery (Clinschor) and Anfortas’s ‚wounding‘ whose narrative significance includes, but is not limited to, that causality (philandering): Anfortas’s wound is interesting in itself. The treatment of the wound and its link to the macrocosm of Anfortas’s kingdom are described at length. One could almost say while Clinschor’s castration functions as a result, Anfortas’s is a process; and it is to that process that the narrator devotes his attention while Clinschor’s is one of the lesser ‚adventures‘.“68
Während Anfortas ތWunde im Zentrum der Aufmerksamkeit seiner männlichen Entourage steht und in den Kontext queerer Begehrensverhältnisse im Gralsbereich gestellt wird, begründet Clinschors Kastration eine dichotome und normative Trennung der Geschlechter auf Schastel marveil. Somit zeitigt die indifferente Geschlechtsidentität jeweils andere Folgen. Während der entmannte Gralskönig und die homosozialen Begehrensstrukturen im Gralsbereich eine heteronormative Ordnung destabilisieren, wird diese durch Clinschors Gegenmaßnahmen wieder festgeschrieben. Er trennt zwar die Geschlechter, aber durch Gawans Einsatz wird diese Trennung in eine normative Geschlechtergemeinschaft überführt. Nun stellt sich die Frage, wie das Verhältnis zwischen Gawan und Parzival zu verstehen ist. Stehen beide Protagonisten gleichberechtigt nebeneinander oder wird durch ihre Zuordnung zur Artusgesellschaft bzw. zur Sphäre des Grals eine Hierarchie etabliert? Obwohl sich die Wege der Protagonisten nicht kreuzen und ihre Aufgaben in unterschiedlichen Bereichen der Romanhandlung angesiedelt sind – Parzivals in der Gralssphäre und Gawans in der Artusgesellschaft –, handelt es sich, wie Classen zeigt, um komplementäre Figuren: „In order to understand Parzival, we must examine Gawan’s experiences, and in order to understand these, we need in turn to understand Parzivals’ growth in character, intellect, and spirituality.“69 Beide sind laut Mohr „Muster der Männlichkeit, des Mutes, des ritterlichen Ehrgefühls“, was sich in ihren Taten niederschlägt.70 Die Figuren sind parallel angelegt: Gawan berührt die Gralssphäre zwar, doch bleibt sie für ihn flüchtig und nicht recht fassbar, obwohl er sich im Unterschied zu Parzival nie gegen Gott stellt. Die fehlende Nähe zum Gral schließt zur Folge aus, dass Gawan jemals eine Krise vergleichbaren Ausmaßes erlebt.71 Der Unterschied zwischen Parzival und Gawan wird vor allem im Bereich der Liebe manifest. Parzival ist verheiratet, sucht den Gral und sein Verhältnis zu Frau68 Klosowska (2005), S. 30. Vgl. zu der unterschiedlichen Wertigkeit der Verwundungen von Anfortas und Clinschor auch Groos, Arthur: Romancing the Grail: Genre, Science, and the Quest in Wolfram’s Parzival. Ithaca 1995, S. 148. 69 Classen (2006), S. 219. 70 Mohr (1958), S. 288. 71 Classen (2006), S. 219.
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en sowie seine männliche Geschlechtlichkeit erscheinen wie ausgesetzt. Gawan hingegen exerziert verschiedene Stufen der Liebe durch, bevor er die einzige geeignete Partnerin trifft. Somit zeigen Gawans Liebesgeschichten drei Facetten von Liebe und Rittertum, die Zutt wie folgt zusammenfasst: „Dienst ohne Minneerfüllung (Obilot), Minneverlangen ohne Dienst (Antikonie), Gleichgewicht von Dienst und Minne (Orgeluse)“.72 Der Unterschied kulminiert im unterschiedlichen Umgang mit Orgeluse, denn als Roter Ritter erhält Parzival von ihr ein Liebesangebot. Orgeluse hat ihm ihr Herz schenken wollen, wenn er sie gegen Gramoflanz verteidigt. Der Rote Ritter hat dieses Angebot jedoch aus zwei Gründen abgelehnt: zum einen sei er schon mit einer schöneren Frau verheiratet, zum anderen lasse er sich von seiner Suche nach dem Gral nicht abbringen (vgl. v. 619,1ff.). Classen führt aus: „Nothing could make clearer to the audience the difference between Parzival’s religious and Gawan’s erotic quests and purpose in life. Both are undoubtfully paragons of chivalry, but Wolfram clearly positions Parzival as the predestined successor to the throne of the Grail kingdom. […] As such, Parzival has little interest in the mundane business of secular knighthood. This does not make Gawan less important, especially since he is as successful as Parzival in accomplishing his own tasks, but they differ in their goals and so truly belong to two separate levels of chivalric existence.“73
Die unterschiedlichen Ebenen von Ritterschaft treten deutlich hervor, als sich Parzival und Gawan schließlich doch begegnen. Zufällig treffen Parzival, der Gralssucher, und Gawan, der Befreier des Schastel marveil, aufeinander. Gawan begegnet auf dem Weg zum Kampf gegen Gramoflanz einem Ritter, den er fälschlicherweise für seinen Gegner hält (vgl. v. 679,15ff.). Parzival und Gawan erkennen einander nicht und kämpfen gegeneinander. die tjoste brâhte iewedriu hant, daz die mâge unt die gesellen ein ander muosen vellen mit orse mit alle nider. alsus wurben si dô sider (v. 680,18-22) 72 Zutt (1989), S. 97. Ebenso: „Gawan’s love affair with Obilot, if that is what we may call it, demonstrates his high degree of chivalry, sensitivity, and kindness; his love affair with Antikonie illustrates how much erotic passion lies behind his courtly behavior and restrained comportment; and his love affair with Orgeluse proves that he is much more than simply a ladies’ man. Love drives Gawan, but it is love intimately coupled with chivalry and spirituality.“ (Classen (2006), S. 224f.) 73 Classen (2006), S. 224. Vgl. v.a. auch Rupp (1983), S. 12.
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Beinahe droht Gawan zu unterliegen (vgl. v. 688,11ff.), da kommt ungeahnte Hilfe. Kinder vom Artushof, die Zeuge des Kampfes werden, rufen Gawan mit Namen an. Parzival erkennt seinen Fehler und wird von großer Trauer darüber ergriffen, dass er erneut gegen einen Verwandten gekämpft hat (vgl. v. 688,19ff.).74 Die Ausgeglichenheit der Kampfhandlung zeigt, dass sich Gawan und Parzival auf Augenhöhe befinden. Gawan steht Parzival in nichts nach, beide haben, wie Classen betont, ihre Erlösungstat vollbracht: „Just as Parzival restores harmony and unity to the Grail society, so does Gawan return true love, friendship, trust and forbearance to chivalric society.“ 75 Dennoch fällt, wie Meyer zur Capellen darlegt, auf, „wie lebendig, farbig, sinnlich, konkret, mit wie viel erzählender Behaglichkeit die RitterAventiuren-Welt des Gawan von Wolfram geschildert wird und wie blaß, schemenhaft, randständig, nur angedeutet, und, wenn im Mittelpunkt (bspw. bei Sigune, bei Trevrizent, im Kampf mit dem Gralritter, bei der Begegnung mit dem Ritter und den Töchtern am Karfreitag), wie dürr und steif, wie schwierig gedacht, wie immer wieder beinahe leblos die Begegnungen Parzivals sind (bspw. mit Sigune und dem toten Bräutigam, mit dem asketisch fastenden Ritter, während Trevrizents bemühter Unterweisung über Christus, Gott und den Gral – Trevrizent, der gern selbst ein abenteuernder Ritter war).“76
Wie sehr sich die Bereiche der beiden Ritter, die einander in Adel, Schönheit und Kampfesruhm nicht nachstehen, unterscheiden, zeigen die vorgeführten Begehrensstrukturen. Parzival lehnt Orgeluses Hilfeanfrage brüsk ab, denn sein Begehren richtet sich allein auf den Gral und seine Ehefrau. Gawan hingegen zeigt Gefühle wie Liebe, Hass und Scham und richtet sein Begehren auf mehrere Frauen. Die Artusgesellschaft wirkt facettenreicher als die Gralssphäre, da sie nicht nur von heldenhaften Rittern, sondern auch von eigenwilligen Frauenfiguren belebt wird. Gawan begegnet bei seinen Abenteuern einer großen Zahl selbstbewusster und mächtiger Frauen wie Obilot, Antikonie und Arnive. Zudem werden an der Figur Gawans unterschiedlichste Schattierungen des Begehrens aufgezeigt. Während die Zuneigung zur kindlichen Obilot von geistiger Art ist und in ein Dienstverhältnis mündet, kommt es bei der kurzen Begegnung mit Antikonie zum körperlichen Vollzug des Begehrens. Neben der wiederholten Profilierung des tapferen Ritters – mit jeder Frauengeschichte sind erfolgreiche Kämpfe verbunden – zielen die vorgeführten Spielarten der Liebe darauf ab, Gawan als ebenso begehrenden wie begehrenswerten Mann zu inszenieren. Auch wenn die Damen, denen Gawan sein Herz 74 Aber Parzival verflucht erneut seine tumpheit, wieder gegen einen Verwandten gekämpft und diesen beinahe getötet zu haben, vgl. v. 698,5-8. 75 Classen (2006), S. 228. Vgl. auch ebd., S. 227. 76 Meyer zur Capellen (1993), S. 125f.
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schenkt, zur Kategorie der starken Frauen gehören, verbleibt die Darstellung des Begehrens grundsätzlich in heterosozialen Strukturen. Orgeluse erhält im Liebesverhältnis zu Gawan ihre Vormachtstellung lange aufrecht. Bis sie in der Ehe mit Gawan ihre Unabhängigkeit aufgibt, erinnert ihr kämpferisch-mutiges Auftreten und männlich codiertes Verhalten an eine Erobererin.77 Leider verebbt, wie sich gezeigt hat, das Potential der widerständigen OrgeluseFigur. Obwohl sie lange nicht der in mittelalterlichen Romanen klassischen weiblichen Rolle entspricht, verliert sie diese Besonderheit durch ihre Hingabe an Gawan; sie wird im wahrsten Sinne des Wortes ‚gezähmt‘.78 Mit der Heirat unterwirft sie sich gemäß der höfischen Ordnung ihrem Mann. Obwohl auch im Artusbereich Geschlechtsidentitäten und Geschlechterhierarchien ins Wanken geraten, fügen sich die Begehrensstrukturen in einen normativen Rahmen ein. Die auf den ersten Blick hinsichtlich der Geschlechterverhältnisse egalitäre Artusgesellschaft bleibt dem klassischen heterosozialen Rahmen verhaftet: Die Liebesbeziehungen sind allesamt dichotom und heteronormativ angelegt.79 Dies unterscheidet den Artus- ganz deutlich vom Gralsbereich. Die Gralssphäre ist homosozial dominiert und ihre Mitglieder begehren nicht gemäß normativen Gesetzen. Der hauptsächliche Grund, warum der Parzival zwei Helden und ihre Taten vorführt, ist folgender: Während Gawan den arthurischen Bereich abdeckt, sich um dessen Probleme kümmert und die heterosoziale Art des Begehrens vollzieht, ist es Parzival möglich, sich ausschließlich der Gralssphäre zu widmen und deren nicht-normative Begehrensstrukturen aufzuzeigen.80
77 Obwohl Ginover analysiert wird, lassen sich ähnliche Dynamiken (z.B. Wechsels der Geschlechterrollen) auch auf Orgeluse übertragen, vgl. Burns (1996), S. 247-277. 78 Vgl. hierzu auch Wynn (1976/77), S. 134: „Die Geradlinigkeit der Orgelusegestalt wird gebrochen, ihr individueller Grundton verklingt.“ 79 Vgl. beispielsweise auch die Massenverheiratung am Ende des Hoffestes von Joflanze. 80 Die Gawein-Figuren werden in den unterschiedlichen Gralsromanen jedoch immer anders inszeniert. Im Prosa-Lancelot ist Gawein zwar seinem Freund Lancelot besonders zugetan, doch dies bleibt ohne Folgen. Er kümmert sich zudem mehr um die Frauen als um den Gral (vgl. PL III, 160,25-34). Ganz anders wird Gawein in der Crône inszeniert, da er dort die Doppelfunktion besterArtusritter und erfolgreicher Gralserlöser inne hat, vgl. Kaptiel II.2.4 dieser Arbeit.
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3.2 Die Unterstützung für die Heldenmaschine in der Crône 3.2.1 Der magische Mentor Bevor Gawein in der Crône zur Gralssuche aufbricht, erhält er von Artus’ Mutter Igerne den Ratschlag sich von einer ganz bestimmten Person Hilfe für die Suche zu erbitten (vgl. v. 25747ff.). Der Gralssucher soll den Zauberer81 Gansguoter aufsuchen, der zugleich Igernes Geliebter und der Onkel von Gaweins Frau Amurfina ist. Schon zweimal ist der Held mit dem Zauberer oder dessen Taten konfrontiert worden, bevor die Gralssuche das erklärte Ziel des Ritters wird. Schon in den beiden vorherigen Begegnungen hat Gawein mithilfe von Gansguoter entscheidende Schritte in Richtung Gral unternommen. Dass ein Zauberer in einen Gralsroman und insbesondere in die Geschichte Gaweins involviert ist, kennt man aus dem Parzival. Dort ist es der böse Magier Clinschor.82 Die magischen Personen oszillieren in ihrem Anderssein zwischen Gut und Böse. Der Zauberer kann sowohl Freund und Mentor des Helden (wie Gansguoter für Gawein) oder auch dessen Feind (wie Clinschor für Gawan) sowie beides zugleich sein.83 Während Clinschor im Parzival aufgrund seiner Entmannung verbittert ist und deswegen den Menschen nichts Gutes will, ist Gansguoter – wie schon sein Name sagt84 – viel positiver gezeichnet. Er
81 Thomas (2002), S. 72. Für einen Überblick über die Bewertung von Gansguoter vgl. Vollmann (2008), S. 213, FN768. 82 Laut Jillings (1977) soll Gansguoter dem Zauberer aus dem Parzival, Clinschor, nachgezeichnet sein (vgl. ebd., S. 204ff.). Dies bestätigt auch: Dick, Ernst: The Hero and the Magician. On the Proliferation of Dark Figures from Li Contes Del Graal and Parzival to Diu Crône. In: Haymes, Edward R./Cain Van D’Elden, Stephanie: The Dark Figure. Göppingen 1986, S. 134f. Man kann jedoch auch noch weiter zurückgehen und auf den Zauberer Merlin verweisen. Dieser hat vor allem in der (alt-)englischen Überlieferung der Artus- und Gralsgeschichte seinen festen Platz und ist möglicherweise viel mehr Vorbild für Heinrichs Zeichnung von Gansguoter als andere magische Figuren der mittelhochdeutschen Literatur. Vgl. dazu Thomas (2002), S. 75. 83 Vgl. hierzu: „(B)eings from the other side who can seem, confusingly, both enemy and friend.“ (Gaylord, Arthur T.: „Arthur and the green world.“ In: Fries, Maureen/Watson, Jeanie: Approaches to Teaching the Arthurian Tradition. New York 1992, S. 56-60, hier S. 60). 84 Zur Etymologie des Namens Gansguoter von Micholde, vgl. Mentzel-Reuters, Arno: Vröude: Artusbild, Fortuna- und Gralkonzeption in der Crône des Heinrich von dem Türlin als Verteidigung des höfischen Lebensideals. Frankfurt am Main 1989, S. 179f. In dem Namen des Zauberers sieht auch Danielle Buschinger den Grund, dass er eben nicht Clinschor nachempfunden ist, sondern ein „ganz Guter“ sei (Buschinger (1981), S. 8f.).
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ist, obwohl ihn die Aura des Geheimnisvollen umgibt,85 für die Gralshandlung eine positiv besetzte Figur. Gansguoter erweist sich als steter Helfer des Gralssuchers. Obwohl von ihm immer als Zauberer gesprochen wird, basieren seine Wundertaten nicht allein auf Zaubersprüchen und -tränken, sondern er beherrscht zudem Naturwissenschaft und Baukunst, wie sein sich drehendes Schloss beweist.86 Gansguoter taucht das erste Mal lange vor der Gralssuche auf, nämlich in der so genannten „Zaumzeug-Episode“. Die Schwestern Amurfina, Gaweins zukünftige Frau, und Sgoidamur streiten sich um ein Zaumzeug, das symbolisch für Besitz und Herrschaft eines großen Landes steht (vgl. v. 12611ff.).87 Gawein, der in den Streit involviert ist, kämpft unwissentlich nicht für seine geliebte Amurfina, sondern für deren Schwester. Der Ritter gelangt auf der Suche nach dem Zaumzeug zu einen wundersamen, sich drehenden Palast (vgl. v. 12967ff.).88 Dort trifft er auf einen Herrn, der von schillernder Schönheit ist. Der Fremde, der zunächst in die edelsten Gewänder gehüllt ist, verwandelt seine Gestalt und seine Kleidung vor Gaweins Augen (vgl. v. 13011ff.). Die Vorführung seiner Macht ist der erste Hinweis auf die Zauberkräfte des Fremden, der sich als Gansguoter entpuppt.89 Noch bevor der Name der Figur genannt wird, werden ihre wichtigsten Merkmale und Eigenschaften vorgeführt. Als shape shifter vermag er sich zwischen verschiedenen Identitäten zu bewegen. Erst dann wird der namentlich vorgestellt: Es handelt sich um Gansguoter von Micholde, den Onkel der streitenden Schwestern und den Geliebten von Artus’ Mutter Igerne (v. 13034-39). 85 Zu den ‚dunklen‘ Figuren wird Gansguoter in der älteren Forschung aufgrund seiner Zauberkraft und seiner Geheimnisse gezählt (Vgl. Haymes, Edward R.: „Preface.“ In: Ders./Cain van D’Elden (1986): The Dark Figure […], S. iii). Thomas (2002) betont jedoch, dass der Zauberer aus der Crône ein Vertreter der weißen Magie („white magic“) sei (vgl.: Thomas (2002), S. 73). 86 Zur Wertung von Gansguoter als Zauberer und/oder Naturwissenschaftler vgl. Maksymiuk, Stephen: „Knowledge, politics and magic: the magician Gansguoter in Heinrich von dem Turlin’s Crône.“ In: GQ (1994), S. 470-483, hier S. 470. Thomas (2002) zeichnet in seiner Analyse der Figur nicht das Bild eines Magiers, sondern sieht in Gansguoter eher einen zaubernden Naturwissenschaftler: „Gansguoter [is] more proto-engineer than magician“ (Thomas (2002), S. 78). Ebenso Mentzel-Reuters (1989), S. 252. 87 Die Grundlage der Zaumzeug-Geschichte ist die Erzählung La Mule sanz Frain. Vgl. zur französischen Vorlage auch: Kratz, Bernd: „Die Geschichte vom Maultier ohne Zaum. Paien de Maisières, Heinrich von dem Türlin und Wieland.“ In: Arcadia 13 (1978), S. 227-241. Heinrich hält sich in seiner Version der „Zaumzeug-Episode“ – bis auf den Schluss – eng an die französische Vorlage, vgl. Vollmann (2008), S. 54, v.a. FN 187. 88 Vgl. zu der wundersamen Burg auch: Glaser (2004), S. 253ff. 89 Erst in v. 130025ff. wird gesagt, dass Gansguoter der Zauberei mächtig ist.
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Die Burg, auf der Gawein Gansguoter begegnet, hat dieser für Amurfina und Sgoidamur gebaut und mit einigen Hindernissen, die fremdes Eindringen verhindern sollen, ausgestattet (vgl. v. 13041ff.). Der Zauberer empfängt Gawein freundlich, teilt ihm jedoch mit, dass sich die Suche nach dem Zaumzeug schwierig und möglicherweise tödlich gestalten werde (vgl. v. 13066ff.). Neben den Verwandlungskünsten scheint Gansguoter auch allwissend zu sein, denn obwohl Gawein selbst nicht erwähnt hat, weswegen er in den Palast gekommen ist, weiß der Zauberer, dass es dem Ritter um das Zaumzeug geht. Gansguoter wird trotz seiner magischen Eigenschaften weder verurteilt noch negativ gezeichnet. Vielmehr wird er als eleganter Adliger und höfischer Mann vorgestellt. Er erweist sich als herzlicher Gastgeber, der den Ritter warmherzig empfängt; er nimmt Gawein bei der Hand, um ihn fürstlich zu bewirten und ihn dann zu einer erholsamen Schlafstatt zu führen (vgl. v. 13078ff.). Bevor der Ritter sich hinlegt, bietet ihm Gansguoter eine Abmachung an. Diese reiht sich in zahlreiche noch anstehende Prüfungen ein, in denen Gansguoter Gawein in seiner Rolle als Gralssucher und bester aller Helden prüfen möchte. Neil Thomas schreibt: „[It is] the initial step in a premeditated narratorial plan to bring the hero to the point where he can give incontrovertible proof of his worth in Gansguoter’s chivalric academy […]. Gansguoter is well placed to put a family cadet through his paces, and his influence and that of his family extends from the initial testing role to that of supporting the Arthurian knights in the Grails quest.“90
Nachdem Gawein die Prüfung bestanden hat – Gansguoter den Kopf abzuschlagen, der als Zauberer unverletzt bleibt – steht er am nächsten Morgen zu der Abmachung und liefert sich mutig den Schlägen des Zauberers aus. Dieser will den Ritter jedoch nicht verletzen, sondern nur herausfinden, wie mutig und mannhaft Gawein ist: daz er daz gerne sach / wie manhaft er wære (v. 13170f.). Dass Gawein seine Männlichkeit beweisen muss, weist darauf hin, dass diese nicht zu jeder Zeit gewährleistet ist.91 Auch die phallische Qualität der Mutprobe – der Ritter penetriert den Zauberer mit einem Schwert – verweist auf das prekäre Verhältnis zwischen Gawein und Gansguoter. Gawein besinnt sich des Grunds seines Besuchs und fordert das Zaumzeug. Gansguoter garantiert ihm, dass er es bekommen solle, doch müsse er zuvor noch weitere Hindernisse überwinden. Im nächsten Schritt muss der Ritter einen Kampf 90 Thomas (2002), S. 74. Nicht nur Gansguoter hilft Gawein mit magischen Hilfsmitteln oder Anweisungen, wie der Ritter seinen listenreichen Gegnern entgehen kann, am Ende ist es die Schwester des Zauberers, die Gawein die entscheidenden Anweisungen für das Verhalten auf der Gralsburg gibt. 91 Vgl. zu Gaweins problematischer Männlichkeit auch Kapitel II.3.2.4 dieser Arbeit.
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gegen zwei wilde Löwen bestehen. Vom Zauberer ausgerüstet, kämpft Gawein entschlossen gegen die Tiere und gewinnt (vgl. v. 13304). Wieder hält Gansguoter den Ritter hin und spielt mit ihm das „Beheading-Game“.92 Gawein muss sich einem Duell mit dem Ritter Berhardis aussetzen und den Gegner enthaupten. Nachdem Gawein Berhardis besiegt hat, ist bereits die Nacht hereingebrochen. Er kehrt mit Gansguoter in den Palast zurück und beide legen sich schlafen: sie giengen vrœlîchen dan / mit einander ûf den palas, / dâ er des nahtes gelgen was, / und entwâfente sich an der stat (v. 13391-13394). Eine letzte Prüfung steht noch aus: Zwei gefährliche Drachen gilt es zu besiegen und wieder ist Gawein erfolgreich. Im Laufe der Prüfungen sind sich Ritter und Zauberer nähergekommen. Beide reden sich mit vriunt an (vgl. v. 13417 und v. 13434), was für die Intimität ihres Verhältnisses spricht. Nach dem Drachenkampf klärt Gansguoter seinen Freund über die Verwandtschaftsbeziehungen und Allianzen auf.93 Gawein habe für eine der Nichten des Zauberers, Sgoidamur, gekämpft und ihr das Zaumzeug bzw. die Landesherrschaft zurückerobert. Dadurch habe er jedoch Amurfina und sich selbst um den Besitz des Landes gebracht. Gleichwohl habe er, so der Zauberer, für die richtige Schwester gekämpft, denn seine Schwägerin sei die rechtmäßige Besitzerin (vgl. v. 13555f.). Wie Vollmann ausführt, besteht die Pointe „darin, dass Gawein im ersten Teil der Amurfina-Handlung ja bereits eine Verbindung mit der ‚bösen‘ Schwester eingegangen ist, d.h. Gawein agiert bereits in der Rolle des Wahrers der Landesherrschaft und damit auch des herrschaftssichernden Zaumzeugs, das er der ‚bösen‘ Schwester (Amurfina) in seiner Rolle als Verteidiger der ‚guten‘ Schwester (Sgoidamur) wieder abgewinnen soll.“94
Vor allem aber betont Gansguoter, dass sämtliche Abenteuer, denen sich Gawein gestellt habe, wichtige Prüfungen für zukünftige Taten gewesen seien.95 Schließlich bekennt Gansguoter seine Gefühle für den Helden: mir möhte immer sîn geschehen / kein liep, daz mir wære / ein sô gar süezez mære, / sô daz ich dich gesehen hân (v. 13578-81). Die tiefe Freundschaft zwischen dem Zauberer und dem Ritter ist homoerotisch aufgeladen. Dafür spricht auch die hierarchische Komponente der Leh92 Vollmann (2008), S. 53. 93 Wichtig sind Gansguoters vielverzweigte Verwandtschaftsbeziehungen: Er ist der Geliebte von Igerne, der Mutter von König Artus, der Onkel von Amurfina und Sgoidamur sowie der Bruder der Gralsträgerin. Heinrich von dem Türlein weist ihm somit durch die „vermittelten Verwandtschaftsbeziehungen eine integrative Funktion“ zu (Schmid (1986), S. 205). 94 Vollmann (2008), S. 55. 95 Zur Vorausdeutung auf die Gralshandlung vgl. Mentzel-Reuters (1989), S. 179ff. oder Keller (1997), S. 306ff.
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rer-Schüler-Konstellation. Der Schüler Gawein lernt nach jeder Etappe etwas Neues; der Lehrer Gansguoter bewundert im Gegenzug nach jeder erfolgreichen Lehreinheit seinen Schüler immer mehr, bis er ihm schließlich offenbart, dass er ihm das Liebste auf der Welt sei. Die Zuneigung steigert sich mit jeder weiteren Begegnung, bis es am Ende zu einem Kuss kommt (vgl. v. 27231-33). Es handelt sich um einen rituellen Begrüßungskuss, doch macht der Zauberer keinen Hehl daraus, dass er Gawein den anderen Gästen vorzieht, denn nur ihn empfängt er mit derartiger Intimität. Hier wird die affektive Dimension des Mentor-Schüler-Verhältnisses erneut deutlich.96 Als Zeichen seiner immerwährenden Zuneigung schenkt der Zauberer Gawein ein schützendes Kettenhemd sowie ein besonders scharfes Schwert und stattet ihn mit prächtiger Kleidung aus (vgl. v. 13591ff.). Nachdem Gansguoter verschwunden ist, trifft der Artusritter auf Amurfina, seine zukünftige Frau. Nach ihrer Rückkehr zum Artushof wird der Streit der Schwestern geschlichtet und durch eine Doppelhochzeit zwischen Gawein und Amurfina sowie Sgoidamur und Gasozein aus der Welt geschafft (vgl. 13861ff.). Wie Vollmann betont, löst sich der Konflikt Gaweins durch die Hochzeit auf: „Die Lösung besteht in einem Kompromiss: in seiner Rolle als Verteidiger der ‚guten‘ Schwester (Sgoidamur) übergibt Gawein dieser – wie in der französischen Vorlage – das Zaumzeug; in seiner Rolle als Gatte der ‚bösen‘ Schwester (Amurfina) dagegen verzichtet er – anders als in der französischen Erzählung – auf den Liebeslohn, den die ‚gute‘ Schwester in Aussicht gestellt hat, und verheiratet diese stattdessen – und das ist der Punkt, in dem beide Handlungsstränge des ersten Romanteils zusammenlaufen – mit dem ‚bösen‘ Entführer Gasozein.“97
96 Vgl. zu den homosozialen Verhältnissen von Männern bzw. zum queeren Freundschaftsdiskurs im Mittelalter Boswell, John: Christianity, Social Tolerance and Homosexuality: Gay People in Western Europe from the Beginning of Christianity to the Era of the Fourteenth Century. Chicago 1980, S. 221ff.; zum höfischen Freundschaftsdiskurs und dessen homosozialer Ausprägung vgl. Jaeger (1999), S. 59ff. oder auch Kraß (2006b). 97 Vollmann (2008), S. 56. Mit den „Handlungssträngen des ersten Romanteils“ ist zum einen die Geschichte über das Kennenlernen und Verlieben zwischen Gawein und Amurfina gemeint und zum anderen die Gasozein-Episode: In dieser taucht der Ritter Gasozein am Artushof auf und behauptet, der rechtmäßige Geliebte der Königin Ginover zu sein. Als diese sich nicht freiwillig mit ihm fortbegibt, entführt er Ginover. Gawein ist es, der seine Tante rettet und wohlbehalten wieder an den Artushof zurückbringt.
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Auf die erste Sequenz der Prüfungen folgt eine zweite.98 Diesmal tritt Gansguoter nur indirekt durch seine Taten in Erscheinung. Wieder muss sich Gawein einem großen Abenteuer stellen und zwar auf einem zweiten von Gansguoters Schlössern.99 Die besagte Burg heißt Salîe, Gansguoter hat sie für Artus ތMutter gebaut. Igerne ist, so erfährt Gawein, nach dem Tod ihres ersten Ehemanns mit fünfhundert Jungfrauen dorthin gezogen. Das Zauberschloss, das Hunderte von Jungfrauen beherbergt, erscheint sowohl bei Chrétien (Schloss der Frauen) als auch bei Wolfram (Schastel marveil) und gehört zum Kanon der Abenteuer, die Gawein zu bestehen hat.100 Während Igerne in der Crône scheinbar freiwillig in das Schloss gezogen ist, wird sie bei Wolfram vom bösen Zauberer Clinschor dorthin entführt. Somit zeigt sich, dass Gansguoter erneut positiver charakterisiert wird als Clinschor: „Verführer ja, Entführer nein!“101 Bevor Gawein zur Burg gelangt, kehrt er beim Fährmann Karadas ein und beobachtet die Vorgänge im Palast von der Ferne. Den Jungfrauen auf der Burg scheint es auf den ersten Eindruck recht gut zu gehen. Scheinbar haben sie weder Mangel an Essen noch an edler Kleidung (vgl. v. 20358ff.), doch das Schloss sei verzaubert, klärt Karadas Gawein auf (vgl. v. 20380 ff.). Obwohl das Schloss Salie als uneinnehmbar gilt, bittet Gawein seinen Gastgeber, ihn dorthin zu bringen, damit der die Jungfrauen und die schöne Igerne sehen könne (vgl. v. 20452ff.). Der Fährmann warnt Gawein vor schrecklichen Begegnungen auf dem Weg zur Burg, doch der Held zögert wiederum nicht – auch nicht im Angesicht des Todes. Gawein trifft einen Ritter und eine Jungfrau mit Namen Manicipelle (vgl. v. 20505, 20525). Zwischen den Rittern entbrennt ein Kampf, den Gawein gewinnt – erneut eine Auszeichnung für den Artusritter. Am nächsten Tag geleitet Karadas Gawein dann zur Burg Salie (vgl. v. 20562ff.). Dort angekommen, führt eine schöne Jungfrau den Ritter zu seiner Prüfung, dem magischen Bett (vgl. v. 20601-12). In das wundersame Bett kann sich nur der eine Erwählte legen, der von Kindheit an keine böse Tat begangen hat, andernfalls wird der Versuch tödlich enden. Trotz der Warnungen von Karadas wagt Gawein die Probe. Während sein Begleiter wütend das Schloss verlässt, legt sich Gawein risikobereit in das Bett. Die fünfhundert Jungfrauen, die in der Burg wohnen, warten außerhalb des Zimmers besorgt auf den Ausgang des Abenteuers (vgl. v. 20702ff.). Kaum hat Gawein sich hingelegt, beginnt das Bett sich zu drehen und Glocken erklingen. Die Fenster schließen sich und Armbrüste 98
Vgl. dazu Dick (1968), S. 144.
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Bestimmte Abenteuer-Episoden der Crône, die sich in ähnlicher oder gleicher Form auch in Wolframs oder Chrétiens Gralsromanen finden, werden als Wolfram-ChrétienAbenteuer bezeichnet. Wie die Episoden bei Chrétien und Wolfram sowie im Vergleich bei Heinrich ausgestaltet sind, vgl. detailliert in Vollmann (2008), S. 86-104.
100 Vgl. dazu auch Buschinger (1981), S. 1ff. 101 Vollmann (2008), S. 99.
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sowie Bögen richten sich schussbereit aus. Fünfhundert Pfeile und andere Geschosse werden auf das Bett abgefeuert. Gawein überlebt den Angriff, weil er tatsächlich von Geburt an nichts Schändliches getan hat: wan er aller schanden bar / was gewesen unz dar (v. 20719f.). Danach ertönen wiederum die Glocken, was die wartenden Jungfrauen als Zeichen für Gaweins Tod missdeuten und sogleich in Wehklagen ausbrechen. Als sich eine der Jungfrauen zu ihm begibt, um ihn zu bestatten, entdeckt sie, dass Gawein gesund und unverletzt ist (vgl. v. 20795ff.). Von diesem Wunder unterrichtet, eilt Königin Igerne unverzüglich mit ihrem Gefolge zu Gaweins Bett. Karadas, der aus Sorge wieder an Gaweins Seite geeilt ist, rät dem Ritter, sich schnell zu bewaffnen, da schon das nächste, möglicherweise tödliche Abenteuer bevorstehe. Wenn Gawein es jedoch bestehe, werde ihm das ganze Land untertan sein und er werde eine der Jungfrauen zu seiner Frau erwählen (vgl. v. 20871ff.).102 Sogleich erscheint ein Bauer und schlägt mit seiner Keule ein Loch in die Wand, aus dem ein fürchterlicher Löwe springt. Im anschließenden Kampf besiegt Gawein das Tier und erweist sich als der von Karadas beschworene und von Gott gesandte Befreier (vgl. v. 20885ff.). Gaweins Befreiungstat verbreitet sich bei den Damen auf der Burg wie ein Lauffeuer. Im allgemeinen Freudentaumel erscheinen Königin Igerne und ihre Nichte, die schöne Clarisanz, um dem neuen Herrn die Ehre zu erweisen (vgl. v. 20967ff.). Bei der ersten Nennung der Burg Salie und ihrer Bewohnerinnen ist betont worden, dass Igerne mit fünfhundert Frauen Gansguoter „gefolgt sei“ (vgl. v. 20380ff.) – von Zwang oder Entführung ist keine Rede. Nach Gaweins Befreiungstat macht sich jedoch unter den Damen eine solch unbändige Freude breit, dass man meinen könnte, der Ritter habe sie tatsächlich aus einer Gefangenschaft des Zauberers befreit.103 Es ist fraglich, wie die Jungfrauen auf das Schloss von Gansguoter gelangt sind und ob sie dort von Anfang an Gefangene gewesen sind. Die Freude, die Gaweins Taten auslösen, und die wiederholte Bewertung des Abenteuers als Befreiungstat sprechen dafür, dass die Damen unter einem Zauberbann gestanden haben. Die Rolle des Zauberers erweist sich als ambivalent. Gansguoter tritt in dieser Episode nicht auf, sie spielt sich aber in einem seiner Bauwerke ab, wo der Ritter magischen Dingen wie beispielsweise dem Wunderbett, das von Zauberhand geschaffen wurde, begegnet. Da in der Crône – anders als im Parzival oder auch im ProsaLancelot – nur eine Figur für die Erlösungstaten im Grals- und Artusbereich zu102 Dass Gawein eine Frau angeboten wird, ist schon das erste Indiz dafür, dass die Bewohner von Salie ihn nicht erkennen und wie sich später herausstellt, offenbart der Held zunächst seinen Namen nicht. 103 Vgl. v. 20946ff.; vgl. außerdem zu der Bewertung der Tat als Befreiung zum Beispiel Danielle Buschingers Aufsatz: „Burg Salîe und der Gral. Zwei Erlösungstaten Gaweins in der Crône Heinrichs von dem Turlîn.“ (Buschinger (1981), S.12).
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ständig ist, erweist sich die Rettung der Jungfrauen als weitere Bewährung auf dem Weg des Helden zum Gral. Als magischer Mentor fordert der Zauberer Gawein mehrfach heraus, um ihn in seiner Entwicklung zum Gralssucher zu unterstützen. Die Befreiung der fünfhundert Jungfrauen, unter denen sich außer Artus ތauch Gaweins Mutter und Schwester befinden, kommt in erster Linie dem Artusbereich zugute. Zugleich ist die Tat ein weiterer Schritt auf Gaweins Weg zum perfekten Helden und zum wahren Gralserlöser. Aber was sagt die Episode über seinen Mentor aus? Gansguoter weist Bezüge zu Clinschor im Parzival auf. Beide Figuren beherrschen Magie und Wissenschaft, beide halten auf ihren Burgen Frauen gefangen (darunter die Mutter des König Artus); beide trennen die Geschlechter voneinander. Auf Salie sind keine Männer anwesend,104 auf dem Schastel marveil werden Männer und Frauen separat gefangen gehalten. Vor allem wird die Geschlechtsidentität der Zauberer ins Zwielicht gezogen: Clinschor wurde entmannt, Gansguoter kann seine Gestalt verändern und somit auch sein Geschlecht. Gansguoters Verhältnis zu Gawein wird als besonders eng dargestellt, der Zauberer ist ihm als vriunt sehr zugetan. Aus Zuneigung hilft er seinem Schützling auf dem Weg zum Gral, indem er ihn mehreren Bewährungsproben aussetzt. Bei den ersten beiden Begegnungen mit der Zauberei von Gansguoter muss sich Gaweins zahlreichen Prüfungen stellen. Er inszeniert sich auf beiden Burgen des Zauberers als bester aller Helden und ist dadurch für die ‚Krone‘ aller Abenteuer, d.h. das Gralsabenteuer, gewappnet. Auch die dritte Begegnung mit Gansguoter ist eine wichtige Station auf Gaweins Weg zum Gral. Gawein hat sich bereits dazu verpflichtet, den Gral und den Speer für Angaras zu suchen, und befindet sich kurz vor seinem Aufbruch noch am Artushof. Dort erscheint ein Ritter, der behauptet, er sei von Frau Sælde geschickt worden, um Gawein Instruktionen für die Gralssuche mitzuteilen. Tatsächlich hat ihn jedoch die intrigante Giramphiel gesandt (vgl. v. 24720-25730). Der Ritter verkündet, dass für das Gelingen der Gralssuche die beiden Glücksbringer der Sælde, ein Ring und ein Glücksstein, unabdingbar seien (vgl. v. 24859ff.): solte unbetwungen sîn / ûf aller slahte ritterschaft (v. 14946f.). Der fremde Ritter erschleicht sich durch eine List Glücksring und Glücksstein und löst sich in Luft auf. Der unsichtbare Mann offenbart aus dem Nichts den Grund seiner List: Ginover und Gawein hätten Fimbeus Stein entwendet und er habe nur genommen, was rechtmäßig dem Geliebten der Giramphiel gehöre.105 Zum Schluss warnt er Gawein, dass dieser ohne die glücksbringenden Gegenstände auf der Gralssuche scheitern werde (vgl. v. 25455ff.). Nur Gansguoter kann Gawein noch
104 Nicht nur auf Salie zeichnen sich interessante Geschlechterverhältnisse ab, sondern auch auf der Gralsburg, vgl. dazu Kapitel III.4.2 dieser Arbeit. 105 Es ist unklar, wem der Glücksstein rechtmäßig gehört: Fimbeus oder Gawein. Vgl. dazu auch Vollmann (2008), S. 73 und v. 14990-15000.
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zum Erfolg verhelfen (vgl. v. 25700ff.).106 Auch Igerne, Artus’ Mutter, bestätigt, dass die Lösung für die Probleme beim Zauberer liege: des muoz noch alles werden rât, / sît allez dîn gewerbe stât / an Gansguoter, mînem man (v. 25745ff.). Wieder ist es Gansguoter, der auf dem Weg zum Gral als wichtige Station auftaucht; wieder ist er derjenige, der dem Held bei einem entscheidenden Schritt in Richtung Gralsgeheimnis hilft. Vollmann schreibt: „Zwei Objekte spielen jeweils eine Rolle: das vom Artushof entwendete und das vom Helden zu gewinnende Objekt. […] Im zweiten Romanteil handelt es sich um zwei wundertätige Gegenstände: den Glücksstein, der durch Giramphiel vom Artushof entwendet wird, und um den Gral, zu dessen Suche Gawein durch den Ritter Angaras verpflichtet wird, wobei der Glücksstein mit Frau Sælde, der Gral dagegen mit dem göttlichen Geheimnis in Verbindung steht.“107
Gawein möchte auch im Angesicht der Schwierigkeiten, den Gral weiterhin suchen (vgl. v. 25828ff.) und bricht mit drei weiteren Artusrittern, Lanzelet, Keii und Kalocreant, auf. Nach einer langen Reise mit zahlreichen Entbehrungen und Kämpfen, gelangen die vier Gefährten schließlich in Gansguoters Reich (vgl. v. 2712ff.). Diese dritte Begegnung mit dem Zauberer ist besonders signifikant. Gansguoter ist über die Ankunft seines Freundes höchst erfreut und empfängt ihn liebevoll mit einem Kuss: Gâwein er minneclîche enpfie, / den er an der brücken vant, / und kuste in, als er in bekant (v. 27231-33). Dagegen heißt er Gaweins Gefährten zwar gastfreundlich, aber ohne Austausch von Zärtlichkeiten willkommen (vgl. v. 27235ff.). Weitere Indizien sprechen für das homosoziale Begehren, das Gansguoter auf Gawein richtet. Zum einen gelingt es ausschließlich dem Gralssucher in das magische Bett des Zauberers zu gelangen (vgl. v. 20601ff.); zum anderen scheint es so, als ob die Beziehung zwischen dem Zauberer und Igerne der Vergangenheit angehört. Dieser Eindruck wird durch mehrere Sachverhalte untermauert. Erstens tritt das angebliche Liebespaar nie gemeinsam auf, zweitens wird von ihrem Liebesverhältnis nur indirekt gesprochen und drittens freut sich Artus ތMutter über ihre Befreiung aus dem Palast ihres Geliebten. Sie kehrt an den Artushof zurück, statt beim Zauberer zu bleiben. Die Zuneigung Gansguoters gehört jetzt alleine Gawein. Sie wird in einem Maße betont, dass man zumindest von Seiten des Zauberers von homoerotischen Begehren sprechen kann. Nachdem Gawein von seinem Freund Gansguoter so freudig begrüßt wurde, nennt der Ritter den Grund seines Kommens und bekommt vom Zauberer ein magisches Kettenhemd (vgl. v. 27343ff.). Mit dessen Hilfe bringt Gawein die wunderund glücksbringenden Gegenstände wieder in seinem Besitz. Zusammenfassend 106 Vgl. v.a. v. 25710-25715. 107 Vollmann (2008), S. 208.
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lässt sich sagen, dass bei allem Glück, das der Gralssucher hat, der Zauberer Gansguoter für Gaweins Weg zum Gral von größter Bedeutung ist. Aus allen Begegnungen mit dem Magier und seinen Wunderwerken geht Gawein noch tüchtiger hervor, als er es zuvor schon gewesen ist.108 Durch die diversen Prüfungen, denen sich Gawein stellen muss, kommt er sowohl seinem Ziel, die ‚Krone‘ aller Abenteuer zu bestehen, als auch dem Zauberer näher. Die beiden sind auch durch ihre familiäre Abstammung miteinander verbunden. Gansguoter scheint in gewisser Weise ein „genealogische[s] Zentrum des Romans“ zu sein.109 Der Zauberer ist Teil der Gralssphäre – über seine Schwester, die Gralsträgerin –, steht aber ebenso – über seine (ehemalige) Geliebte Igerne und seine Nichten – der Artussphäre nahe. Gansguoter ist wie sonst nur Gawein mit beiden Bereichen verbunden, aber seine Funktion ist in beiden Sphären auf den Protagonisten fokussiert. Seine hauptsächliche Aufgabe ist es, Gawein auf dem Weg zum Gral zu helfen. Während dieser Zeit, in der er als Mentor des Helden fungiert, entwickelt er eine enge Zuneigung zu ihm. Wenngleich Gansguoter mit der Artus- wie der Gralssphäre genealogisch verbunden ist, erscheint er dennoch nicht ganz Teil von beiden zu sein: Der Zauberer herrscht über sein selbstgeschaffenes Zauberreich in Mandarp und lebt zeitweise allein auf seiner magischen Burg. Aufgrund seiner flexiblen Identität als Zauberer ist Gansguoter ein Außenseiter, aber prägend für den zukünftigen Gralssucher. Der Ritter, dem ewiges Glück garantiert ist, emanzipiert sich von allen wundertätigen Gegenständen – bis auf seinen ursprünglichen Talisman, den Stein der Sælde. Durch die Erfahrungen mit Gansguoter gestärkt, ist er nun bereit, sich dem größten aller seiner bisher erlebten Abenteuer zu stellen und den Gral zu suchen. Ernst Dick stellt fest: „The final conception of the hero corresponds to this ideal when Gawein no longer depends on magic objects of dubious origins and questionable value, but on his Sælde and his own resources. As Parzival depends on Trevrizent’s help to receive his spiritual education, Gawein needs Gansguoter to become a true knight.“110
Ganz so positiv und bereichernd sieht Nicola Kaminski die Rolle, die Gansguoter spielt, nicht. Ihrer Meinung nach hat der Zauberer entscheidenden Einfluss auf Gaweins Erfolg sowie mittelbar auf seine Männlichkeit. Der Ritter ist durch Gansguo108 Vgl. Dick (1986), S. 145. 109 Vollmann (2008) S. 213. Während Keller (1997, S. 303ff.) Gansguoter nur dem Gralsbereich zuordnet, sollte man jedoch beides betonen, die Verbindung zum Artus- sowie zum Gralsbereich. 110 Dick (1986), S. 146. Vgl. ebenso Thomas (2002), S. 77ff. Dieser sieht in Gansguoter auch einen aktiven Helfer („active helper“) und erkennt zudem, dass Gawein die magischen Objekte für seinen Erfolg schließlich nicht mehr braucht („success without them“ [mit den magischen Gegenständen]).
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ters Hilfe bei der Wiederbeschaffung der glücksbringenden Objekte abhängig. Gerade beim Kampf gegen Giramphiels Geliebten offenbart sich das komplexe „Wechselspiel von Zauber und Ent-Zauberung“, das entscheidenden Einfluss auf Gaweins Männlichkeit hat.111 In Abhängigkeit von den magischen Kleinoden wird Gawein zuerst seiner manheit beraubt, um im Gegenzug mit der magischen Rüstung, die alle Zauberkraft abwendet, den Kampf zu gewinnen.112 Nicht aus eigener Kraft heraus besiegt er Fimbeus, sondern nur mithilfe von Gansguoter. Er wird so zu einer „ritterlichen Marionette“ entmündigt und seine Männlichkeit wird erneut in Frage gestellt.113 Die Frage, die Kaminski dann im Weiteren stellt, ist, ob der Zauberer zu Gaweins „Entmachtung“ oder im Gegenteil zu seiner „potentiellen Widerermächtigung“, beiträgt.114 Meiner Meinung nach ist es beides: Wie schon die Einnahme von Amurfinas Liebestrank hat auch die magische Einflussnahme von Gansguoter – in Form wundertätiger Requisiten oder den Ritter belehrender Prüfungen – Auswirkungen auf Gaweins Geschlechts- und Ritteridentität. Die Prüfungen des Zauberers und der magische Stein sowie die Rüstung sind weitere Stationen, in denen sich Gawein – wie auf der gesamten Gralssuche – von seiner ursprünglichen Identitätsdefinition wegbewegt und dadurch seine Inszenierung als Mann und Ritter in Frage gestellt wird. Anders ist bei den Begegnungen mit Gansguoter jedoch, dass der Ritter zwar selbst nicht begehrt, aber vom Zauberer begehrt wird. Gawein ist ihm das Allerliebste auf der Welt, er zieht seinen Schützling allen anderen Gralssuchern vor, indem er ihn küsst, und nur er als wahrer Gralserlöser darf bei dem Zauberer in die Lehre gehen. 3.2.2 Die weiblichen Helferfiguren Nicht nur Gansguoter bringt Gawein auf seinem Weg zum Gral weiter. Auch andere, vor allem weibliche Helferfiguren retten dem Ritter das Leben oder befreien ihn aus brenzligen Situationen. Die Inszenierung von Szenen, in denen dem Ritter entweder der Zufall, sein unbändiges Glück oder eben eine (weibliche) Helferfigur zur Seite steht, ist ein wichtiges Motiv in der Crône. Wie Peter Stein betont, bildet das „Phänomen der von außen kommenden Unterstützung für den andernfalls hilflosen Helden […]eines der auffälligsten Motive in der Gestaltung der Gralaventiure“.115 Die wichtigsten Begegnungen mit weiblichen Helferfiguren, die sich auf Gaweins Gralssuche auswirken, sollen im Folgenden kurz analysiert werden.
111 Kaminski, Nicola: wâ ez sich êrste ane vienc, daz ist ein teil unkunt: Abgründiges Erzählen in der ,Krone‘ Heinrichs von dem Türlin, Heidelberg 2005, S. 258. 112 Kaminski (2005), S. 258. 113 Kaminski (2005), S. 258. 114 Kaminski (2005), S. 259. 115 Stein (2000), S. 177.
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Nach der ersten Wunderkette erscheint als Gaweins große Widersacherin die böse Schwester der Sælde, Giramphiel. Sie will sich an Gawein rächen und verwickelt ihn in einen beinahe tödlichen Kampf gegen einen Drachen. Danach ist der Ritter körperlich geschwächt und hat Waffen, Rüstung, Kleidung und Pferd verloren: alsô muost er sîn alles bar / zu vüezen ûf die strâzen gên (v. 15214f.). Nackt und schutzlos, ohne Insignien der Ritterschaft gelangt der Held zum Haus von Siamerac von Lembil. Diese pflegt ihn zunächst gesund und stattet ihn dann ritterlich aus (vgl. v. 15231ff.). Auf den ersten Blick erhält man keine Erklärung für die Gründe, die die Jungfrau dazu bewegen, dem Helden zu helfen. Bei genauerem Hinsehen jedoch bietet der Erzähler ein Motiv an. Der Waffenrock, den Siamerac Gawein übergibt, soll ein Symbol der Jungfrau sein, so dass der Ritter ihrer gedenkt, wann immer er diesen anlegt: daz er ir alle mâle / sît er in vüerte, gedœhte (v. 15253f.). Dies weist auf die unterschwellige erotische Komponente im Verhältnis zwischen Siamerac und Gawein hin, die der Grund für die Hilfe sein könnte: Der Ritter kommt nackt und bloß bei der Dame an, diese empfängt ihn spätabends und der Held verlässt am nächsten Tag nach einer kurzweiligen Nacht ihr Haus: diu naht verswant undr in dô / von maneger kurzwîle (15383f.).116 Folglich ruft der passive und nackte Held Siameracs Begehren hervor. Doch wie die Einkehr bei der Jungfrau ohne Folgen bleibt, bleibt sie auch für Geschlecht und Begehren des Gralshelden selbst, dessen einziges Ziel der Gral ist. Neben Gansguoters Hilfe findet Gawein auch bei einer gotin namens Manbur117 entscheidende Hinweise auf den Gral. Gawein gelangt, von seinen Gefährten getrennt, in das Land einer schönen Frau. Er wird dort freundlich empfangen. Seine Gastgeberin instruiert ihn während des gemeinsamen Gastmahls, wie er sich verhalten solle, um zu seinem erwünschten Ziel, dem Gral, zu kommen (vgl. v. 28466ff.): Er dürfe nichts trinken und nicht einschlafen. Schlafen ist laut Meyer eng mit dem Tod verknüpft und dieser wiederum ist, wie die Wunderketten (und später auch die Handlung auf der Gralsburg) zeigen, der Gralssphäre inhärent.118 Sobald Gawein Manbur wiedersehe bzw. wiedererkenne, solle er direkt nach dem Gral fragen: swâ er sie sæhe / dâ solte er vrâgen von dem grâl (v. 28483f.).119 Nach dem Gral zu fra116 Vgl. dazu Stein (2000), S. 161ff. 117 Es gibt eine Diskussion um den Namen der Göttin – und Gralsträgerin – (vgl. Vollmann (2008), S. 82, FN 294). Der Name fällt nur einmal in v. 28605: die manbur enbot. Endgültig kann jedoch nicht entschieden werden, ob es sich hier um einen Eigennamen handelt oder nicht. Da jedoch der größte Teil der Sekundärliteratur von Manbur spricht, wird dies im Folgenden auch in dieser Betrachtung der Crône so gehandhabt. 118 Vgl. Meyer (1994), S. 161. So eröffnet sich die Verbindunglinie: Schlaf – Tod – Traum – Gral – und wie sich zeigt – Geschlechterverhältnisse. 119 Zur Handlung auf der Gralsburg vgl. v. 29352-554. Wie sich zudem herausstellt, ist Manbur die Gralsträgerin (vgl. v. 29397ff.).
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gen, ist das Wichtigste und darf unter keinen Umständen versäumt werden. Um ihre Ratschläge zu bekräftigen, weist die Göttin auf die familiäre Verbindung zu Gawein und zu seinem Mentor hin. Sie ist die Schwester von Gansguoter und zugleich die Tante von Gaweins Frau Amurfina (vgl. v. 28511ff.).120 Die Begegnung Gaweins mit Manbur ähnelt stark derjenigen mit Enfeidas (vgl. v. 18709ff.). Beide Frauen sind gotinne, beide sind mit dem Ritter verwandt, bereiten Gawein einen ehrenvollen Empfang und versichern Gawein, dass er das jeweils folgende Abenteuer unbeschadet überstehen werde (vgl. v. 18766f. bzw. v. 28557ff.). Auf den ersten Blick gibt es einen Unterschied: Die Einkehr bei Enfeidas ist eine einzelne Episode ohne Folgen, die Ratschläge Manburs scheinen dagegen wegweisend für Gaweins Gralssuche. Auf den zweiten Blick ändert sich der Eindruck: Beide Begegnungen rücken den Helden näher an den Gral. Auch das Aufeinandertreffen mit Enfeidas hat gewissen Verweischarakter. Sie warnt Gawein vor seiner Weiterreise nach Karamphi, aber weist ihn zugleich dorthin. Der Ritter erhält dort den Gralsauftrag von Angaras und die Gralssuche beginnt.121 Beim Besuch von Manburs Palast befindet sich Gawein bereits auf der Zielgeraden: Die Göttin weist ihn an den Ort, wo er die Suche erfolgreich beenden und sein Versprechen einlösen kann. Manbur scheint das weibliche Pendant ihres Bruders Gansguoter zu sein. Der Zauberer führt die Hierarchie aller Figuren, die Gawein zu Seite stehen, an, da sich beide ungleich näher stehen. Auffällig ist bei den Begegnungen Gaweins mit weiblichen Helferfiguren zudem, dass er sich stets passiv verhält. Er lässt sich das Leben retten und nimmt schweigend Anweisungen entgegen. Die Passivität des im ritterlichen Kampf sonst so aktiven Helden ist schon bei den Wunderketten aufgefallen. Sie schafft eine Verbindung zwischen den Szenen, in denen weibliche Figuren dem Ritter helfen, und der Gralssphäre. Die Aktivität, die der Ritter in den Prüfungen des Zauberers aufweist, zeigt sich auf dem ihm bekannten Terrain des Kampfes, wo er automatisch und vom Glück begünstigt zu funktionieren scheint. Wenn es dagegen darum geht, Zusammenhänge zu erkennen und verstehen, muss ihn Gansguoter nicht nur real, sondern auch geistig bei der Hand nehmen. Insofern verhält sich Gawein auch in diesen Begegnungen passiv. Zusammenfassend lässt sich festhalten, was auch auf Gansguoter zutrifft: Die Retterinnen bringen Gawein voran und bringen ihm zugleich Glück.122 Der Grals120 Zur Genealogie in der Crône und den familiären Verbindungen in der Gralssphäre vgl. Kapitel III.4.2. 121 Für Enfeidas’ Verbindung mit der Gralssphäre spricht beispielsweise auch die Charakterisierung als Herrin von Avalon (vgl. v. 18725) und die Verkettung des Inselreichs mit der Artus- bzw. Gralsgeschichte. 122 Unterstützung bekommt Gawein von den beschriebenen Helferfiguren, Frau Sælde verleiht ihm ewiges Glück und außerdem wird ihm ewige Jugend geschenkt (vgl. v. 17577ff.): „Man könnte nicht deutlicher den Kulminationspunkt bezeichnen, der in der
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sucher bewältigt seinen Weg zum Gral wie in Trance, besteht erfolgreich unzählige Abenteuer und kann sich dabei stets auf sein Glück und auf Hilfe von außen verlassen. Obwohl Gawein seine Kraft im Kampf mit Menschen oder Tieren stetig unter Beweis stellt, wirkt er passiv. Der beste Ritter des Artushofs ist zwar eine Kampfund Abenteuermaschine, aber dies bleibt seltsamerweise ohne Folgen für seine Geschlechtsidentität. Diese wirkt – ähnlich wie bei Gaweins Ehe mit Amurfina – in der Zeit der Gralssuche wie ausgesetzt. Die Crône zeigt eine Bruchstelle auf, die in ihrer Grundstruktur aus anderen Gralsromanen bekannt ist, hier aber eine besondere Ausgestaltung erfährt. Einerseits müssten jedem Artusritter, der so viele und schwierige Abenteuer wie Gawein bestanden hat, die Damen reihenweise zu Füßen liegen, da in der höfischen Begehrensökonomie der beste Ritter oftmals der größte Liebhaber ist. Dies kennt man aus der Zeichnung Gaweins als unbesiegbarer Kämpfer und bekannter Frauenheld. Andererseits ist er nun nicht mehr nur Artus-, sondern vielmehr auch Gralsritter, dessen Suche von dauerhafter Passivität geprägt ist. In den anderen höfischen Gralsromanen bewirkt die Suche eine wie auch immer geartete Veränderung des Helden, also ein aktives Moment. In der Crône wird sie hingegen von einer seelenlos wirkenden Kampfmaschine absolviert, der automatisch alles gelingt. Dies hat Auswirkungen auf die Inszenierung von Gaweins Geschlechtsidentität. Als nackter Ritter kann er, wie es das Beispiel mit Siamerac von Lembil zeigt, durchaus noch zum Objekt von Begehren werden – allerdings bleibt dies nur eine Randepisode. Seine Identität als Ritter und Mann wird von Gaweins Dasein als Gralssucher überlagert. Dieses verlangt von dem Ritter Enthaltsamkeit, sein Begehren soll sich einzig auf den Gral richten. Doch mag man es der Crône nicht so recht abnehmen, wenn man sie mit den anderen Gralsromanen vergleicht. Gawein wird zwar überwiegend als keuscher Gralssucher inszeniert, der weder Begehren hervorruft noch selbst welches empfindet. Das Bild eines keuschen Gralshelden wie bei Parzival und Galaad mag sich dennoch nicht schlüssig aufbauen. Es scheint beinahe so, als ob Heinrichs Experiment, in seinem Gralsroman dem traditionellen Frauenhelden der höfischen Literatur am Ende nicht eine Frau als Preis zur Seite zu stellen, sondern ihn den Gral erringen zu lassen, nicht gelingt.
Gawein-Figur angelegt ist: Ohne geschichtlichen Wechsel immer in gleicher Gestalt alle möglichen Aventiuren siegreich zu bestehen […]“ (Cormeau (1977), S. 150). So auch Bleumer, Hartmut: Die ‚Crône‘ Heinrichs von dem Türlin. Form-Erfahrung und Konzeption eines späten Artusromans. Tübingen 1997, S. 204 und Ringeler, Frank: Zur Konzeption der Protagonistenidentität im deutschen Artusroman um 1200. Aspekte einer Gattungspoetik. Frankfurt am Main et al 2000, S. 255.
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3.3 Die Begleiter des perfekten Ritters im Prosa-Lancelot Im Prosa-Lancelot begleiten drei weitere Suchende den Gralserlöser Galaad: die Gralsritter Bohort und Parceval, die am Ende mit Galaad vor den Gral treten dürfen, sowie Parcevals Schwester, die allen drei Rittern wertvolle Erklärungen für das Mysterium des Grals liefert. Im Gegensatz zu den männlichen Gralssuchern führt der Weg von Percevals Schwester123 nicht zum Gral sondern in den Tod. Noch bevor die Gralssucher vor das heilige Gefäß treten, opfert die Jungfrau aus Nächstenliebe ihr Leben. Die drei Ritter, die den Gral unverhüllt zu sehen bekommen, teilen allesamt reynigkeit, warheit und abstinencia (PL V, 316,18f.). Man muss diese drei Eigenschaften aufweisen, um sich dem Gral nähern zu dürfen. Während der perfekte Galaad, für dessen Erwählung es keiner Begründung bedarf,124 die Gralssuche schnell und ohne Hindernisse durchläuft, müssen sich Bohort und Parceval der Prüfung „ihrer geistlichen Ethik“ unterziehen.125 Diese Proben bestehen aus Versuchungen, die sich auf affektive Handlungen einerseits (Verführung Parcevals durch eine Frau) und verwandtschaftliche Verbindlichkeiten andererseits (Lionel fordert Beistand von seinem Bruder Bohort) beziehen. Die Versuchungen sollen zeigen, ob die beiden Gralssucher würdig sind, den Gral zu finden, und ob sie bereit sind, irdischen Werte zugunsten geistlicher Ritterschaft abzuschwören.126 Zugleich durchlaufen die Begleiter des Gralserlösers Entwicklungen, die im Gegensatz zum übermenschlichen Galaad, für gewöhnliche Menschen machbar sind.127 Die drei erfolgreichen Sucher werden unterschiedlich tief in das Geheimnis des Grals eingeführt und einzig Galaad darf es vollkommen erfassen. Die Hierarchie der drei Gefährten wird in der Auslegung eines Traums von Gawan erklärt, der von drei Stieren handelt, von denen zwei weiß sind und einer gefleckt ist: Die zwen die da waren wiß und schön bedúdent Galaat und Parczifal, die da sint vil schöner und vil wißer dann keyn ander, wann sie sint vol macht in allen tugenden und vol reynikeit; darnach man mag keynen finden, er hab eynen flecken. Der dritt der da hatt ein zeichen von eim flecken das waß Bohort, der da ettwann hett mißedan in syner kúscheyt. Wann er hatt sither wol gethan in syner reynikeit das die úbeltat im alle ist verziegen. (PL V, 308,11-18)
123 Percevals Schwester bekommt keinen eigenen Namen, sie wird nur als jungfrauw oder Parcevals Schwester bezeichnet. Dadurch basiert ihre Identität nur auf ihren Eigenschaften, als Schwester eines Gralsritters als reine Jungfrau usw. 124 Schmid (1986), S. 234; ebenso Haug (2007), S. 255f. 125 Schmid (1986), S. 235. 126 Vgl. Schmid (1986), S. 235. 127 Vgl. Haug (2007), S. 256.
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Die reinen, weißen Stiere sind Symbole für die jungfräulichen Gralsritter Galaad und Parceval. Das gefleckte Tier hingegen deutet auf Bohort hin, der zwar von ebenso keuscher Gesinnung wie seine beiden Freunde ist, jedoch aufgrund einer List seine Jungfräulichkeit verlor. Schließlich wird nur Bohort an den Artushof zurückkehren und den erfolglosen Artusrittern von den Abenteuern rund um den Gral berichten. Galaad und Parceval bleiben in der Sphäre des Grals ohne Gedanken an eine Wiederkehr (vgl. PL V, 310,13-20). 3.3.1 Der keusche Gefährte Wie Lancelot wird Parceval als potentieller Gralserlöser eingeführt. Auch er gelangt von außerhalb an den Artushof und erhält von Anfang an eine Sonderrolle. Wie aus Wolframs Parzival oder Chrétiens Perceval bekannt, versucht Parcevals Mutter im Prosa-Lancelot, ihren Sohn von der Ritterschaft fernzuhalten: Ritter […] sol er nÿmer werden (PL IV, 636,19f.). Doch auch in dieser Version der Jugendgeschichte Parcevals ist es dessen innigster Wunsch, Artusritter zu werden (vgl. PL V, 638,14ff.). Parceval verlässt seine Mutter, die wie Herzeloyde aufgrund des Kummers über den Verlust ihres Sohnes stirbt (vgl. PL IV, 644,4-10). Am Artushof wird Parceval schon einen Tag nach seiner Ankunft zum Ritter geschlagen (vgl. PL IV, 646,32f.). Auch auf das erste Abenteuer muss der neue Ritter nicht lange warten. Schon bei seinem ersten Zusammentreffen mit der Tafelrunde wird Parceval als besonderer Ritter exponiert. Weil er noch keine Rittertaten aufzuweisen hat, hält er respektvollen Abstand zur Tafelrunde. Die Stellung am Rande ist ihm jedoch nicht vorherbestimmt. Ein eigentlich stummes Fräulein tritt an den Ritter heran und weist Parceval seinen richtigen Platz zu: ‚Uff dem seß sol der gut ritter siczen und du by im zur rechten syten darumb das du im in der jungfreulichkeyt glich solt syn; und zur lincken syten sol Bohort siczen.‘ (PL IV, 648,13-15). Die Weissagung des Fräuleins macht zweierlei deutlich: Zum einen ist der Platz des Ritters wie der von Galaad und Bohort vorherbestimmt, und zum anderen deutet die Prophezeiung auf das gemeinsame Gralsabenteuer der drei hin.128 Noch bevor die Gralssuche beginnt, hat Parceval – wie auch Bohort – eine erste Begegnung mit dem Gral. Er verlässt den Artushof auf der Suche nach Lancelot und nach weiteren Abenteuern. Auf seiner Reise trifft er zufällig auf Hector, Lancelots Bruder. Die beiden erkennen sich zunächst nicht und liefern sich einen heftigen Kampf (vgl. PL IV, 658,9-660,2), an dessen Ende sie dem Tod näher sind als dem Leben. Während die Gefährten gemeinsam sterben wollen, bricht plötzlich eine überirdische Helligkeit über beide herein (vgl. PL IV, 662,22f.). Das heilige Gefäß erscheint und sie werden auf wundersame Art von ihren Wunden geheilt:
128 Vgl. hierzu Mertens (1998), S. 169 f.
254 | DIE MITTELALTERLICHEN GRALSROMANE Darnach sahen sie ein vaß, das gemacht was in der gesteltniß eins kelchs, mit eynem grunen tuch gedeckt […]. Und an stunt kam yn ein groß abentur zu das sie sich off riechten und sich neygten gegen dem faß, das sie hoch und heilig achten, und gewunnen so groß gesuntheyt der wunden, sie hatten, das sie keyn we me enfulten (PL IV, 662,25-32).
Hector klärt Parceval über den heiligen Kelch auf: Es sei der heilig gral (PL IV, 664,9) gewesen, der sie soeben geheilt habe. Im Weiteren fasst Lancelots Bruder die wichtigsten Punkte der Geschichte des Grals zusammen: Der Gral sei das Gefäß gewesen, das Jesus am Gründonnerstag beim letzten Abendmahl benutzt habe. Das Gefäß sei von Joseph von Arimathia nach Britannien gebracht worden und speise seine Nachfahren (vgl. PL IV, 664,14ff.).129 Wie später auch Gawan schwört Parceval, dass er nicht eher ruhen werde, bis er den Gral unverhüllt gesehen habe: und ich wird nÿmer me fro biß ichs eygentlich gesehen und wißen da von hab […] (PL IV, 664,25f.). Nach seinem Aufbruch vom Artushof kehrt Parceval bei einer Klausnerin ein (vgl. PL V, 144). Diese bestätigt ihm, dass er selbst, Bohort und Galaad die einzigen sein werden, die vor den Gral treten sollen (vgl. PL V, 146,15ff.). Über Erfolg und Misserfolg der Gralssuche entscheidet letztendlich, in welchem Zustand sich Körper und Geist der Gralssucher befinden. Sind beide jungfräulich – wie im Fall Galaads oder Parcevals – oder keusch – wie im Fall Bohorts – scheint der Erfolg vorprogrammiert.130 Die Einsiedlerin, die Parcevals Tante ist (vgl. PL V, 144,14; 146,31), klärt den Ritter zudem über die Bedeutung der drei Tafeln auf. An der ersten habe Jesus mit den Aposteln gespeist (vgl. PL V, 148,27ff.), die zweite sei der Tisch, an dem der heilige Gral sein Speisewunder vollbringe (vgl. PL V, 150,2ff.), und die dritte symbolisiere die von Merlin ins Leben gerufene Tafelrunde (vgl. PL V, 152,22ff.). An letztgenannter sollten schon die seit Merlins Zeiten vorherbestimmten Gralssucher sitzen, von denen zwei jungfräulich und ein dritter keusch sei (vgl. PL V, 154, 10). Das Geheimnis des Grals zur Gänze erfassen, vermöge der Sohn, der seinen Vater ablöse, wie der Löwe, der den Leoparden an kúscheit und kĤnheit übertreffe (vgl. PL V, 154,10ff.). Bevor die Klausnerin Parceval entlässt, warnt sie ihn vor der fleischlich samenung (PL V, 158,34), denn diese lasse ihn seine Rolle auf der Gralssuche einbüßen
129 Als Nachfahren des Joseph von Arimathia zählt Hector hier konig Pelles und all syn gesinde (PL IV, 664,21) auf. 130 Vgl. dazu: zwen sollent myde sin und der dritte kĤsch (PL V, 146,18f.). Diese Formel ist programmatisch für die Gralssucher und folgt von nun – mit geringen Abweichungen – in einer ständigen Wiederholung. Vgl. beispielsweise auch: zwen reyne megde syn und der dryt kúsch (PL V, 154,10).
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(vgl. PL V, 160,1ff.).131 Aus diesem Grund bittet sie ihren Neffen inständig, dass er seine Jungfräulichkeit bewahre: Darum bitten ich uch das ir uwern lip behaltent also reyn (als unser herre det) in der ritterschafft, das ir mogent komen zu dem heiligen grale unbeflecket mit unkúscheit und das ir sint von einer so schönen biederbkeit das ye ritter getet. Wann alle die jhenen die da sint in der tafelrĤnden ist nit einer alleyn, er hab synen magthĤm gebrochen, one ir und Galaat der gĤt ritter, von dem ich uch sagen. (PL V, 160,4-11)
Wenn Parceval sein Leben lang seine Unschuld bewahrt und sich als ausgezeichneter Gralsritter exponiert, bleibt die Frage, warum er nicht – wie in anderen Gralsromanen – die Rolle des Gralserlösers übernimmt? Warum muss er zugunsten Galaads zurücktreten? Der Grund liegt im Verstoß gegen das Keuschheitsgebot.132 Parceval hätte seine Jungfräulichkeit verloren, wenn Gott ihn nicht gerettet hätte. So stellt Mertens fest: „In welchem Maße die sexuelle Keuschheit zum entscheidenden Qualifikationsmerkmal wird, zeigt die Versuchung Parcevals durch eine Frau, der er beinahe nachgibt.“133 Nachdem Parceval seine Tante verlassen hat, begegnet er mehrere Male dem Teufel. Da das Böse sich zum Ziel gesetzt hat, die Gralssucher zu verführen, bringt es auch Parceval in Versuchung. Der Teufel erscheint dem Gralssucher zweimal in Gestalt einer Frau. Das erste Mal trifft Parceval nachts auf ein wip (PL V, 180, 35), das ihm als Belohnung für seinen blinden Gehorsam ein Pferd verspricht. Der Ritter achtet nicht darauf, wen er vor sich hat, und verspricht, alles für das Reittier zu tun. Doch steckt in seinem Gegenüber der Teufel: [er] wonte das es were ein wip; da was es der fynt, der yn gern darczu hett bracht das er die sele verlorn hett (PL V, 182,7f.).134 Zwar tritt Parceval dem schwarzen Streitross zunächst ängstlich entgegen (vgl. PL V, 172,17f.), doch nimmt er es als Geschenk an. Als der Gralssucher nach schnellem Ritt an einen reißenden Fluss gelangt, will er mit dem Kreuzzeichen sein Leben schützen (vgl. PL V, 182,32).135 Die Geste des unerschütterlichen Glaubens bewirkt, dass der Teufel 131 Die Klausnerin weist an dieser Stelle auch dezidiert darauf hin, dass Lancelot seinen Anteil an der Gralserlösung eingebüßt habe, weil er unkeusch geworden ist: als Lanczelot von dem Lache, der durch syn unreyne unkúscheit hat verlorn zu enden, darumb yczunt die andern sint in arbeit (PL V, 160,2-4). 132 Mertens (1998), S. 171. 133 Mertens (2003), S. 113. 134 Dies erinnert an die Geschichte des heiligen Antonius, der in seinen Visionen vom Teufel in Gestalt eines dunkelhäutigen Knabens oder einer verführerischen Frau in Versuchung gebracht wurde. 135 In der Episode ist es doch eher Gott, auf dessen Rettung Parceval mit dem Schlagen des Kreuzes hofft.
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ausgetrieben wird. Das laute Schreien (vgl. PL V, 182,35ff.) und die Flammen, in denen der Fluss steht (vgl. PL V, 184,1f.), lassen Parceval erkennen, dass er es wahrhaftig mit dem fynt (PL V, 184, 4) zu tun hatte. Nach langem Gebet bemerkt Parceval, dass er sich nicht mehr am Ufer des reißenden Flusses befindet, sondern auf eine wilde und bergige Insel entführt worden ist (vgl. PL V, 184,25f.). Er ist orientierungslos, da er kein Festland ausmachen kann, und hat Angst vor wilden Tieren, die ihn umgeben. Doch gibt er seiner Furcht nicht nach und überantwortet sein Schicksal in Gottes Hände. Er hat erkannt, dass nicht weltliche Ritterschaft, sondern allein Gott ihn zu retten vermag: dann er sach wol das umb biederbkeit oder umb keyne irdenische rittterschafft er zu eim ende komen möcht und gerumen, unser herr gott húlff im dann (PL V, 186,3-5).136 Nach einem Gebet (vgl. PL V, 190) träumt der Ritter von zwei Frauen, von denen eine jung und schön und die andere alt und hässlich ist. Die junge Frau reitet auf einem Löwen, die alte auf einem Drachen. Die junge Frau warnt Parceval, dass ihm auf der Insel eine Probe bevorstehe, die mit einem überaus gefährlichen Gegner zu tun habe: wann ir múßent morgen stryten wiedder den kempffer der aller meynst ist zu forchten in der welt (PL V, 192,8-10). Die ältere fordert Parceval dagegen auf, ihr Vasall zu werden, da er zuvor im Kampf ihren Drachen getötet habe. Als der Ritter aus seinem Traum erwacht, bekreuzigt er sich (vgl. PL V, 194,254-26).137 Obwohl die Insel sehr abgeschieden liegt, legt ein Priester mit einem weißen Schiff an und deutet Parcevals Traum. In der Auslegung kündigt sich die nächste Begegnung des Ritters mit dem Bösen an. Die junge Frau stehe für den Neuen Bund und die neue Art des Glaubens und der Ritterschaft, die auch die Gralssuche einschließe. Diese basiere auf Jesus, den das Reittier der jungen Frau, der Löwe, symbolisiere (vgl. PL V, 200,12-202,29). Die Jungfrau sei gekommen, um Parceval vor der Auseinandersetzung zu warnen, die ihm bevorstehe, und diese sei der Kampf mit dem Teufel selbst: der fynt […] das ist der kempffer gein dem du must striten (PL V, 202, 18-21). Die ältere Frau hingegen sei der Alte Bund oder die Synagoge.138 Sie lasse sich nicht von ihrem Reittier „dissoziieren“.139 Die alte Frau komme auf dem Lindwurm bzw. dem Teufel selbst dahergeritten (vgl. PL 204,5ff.). Dem bösen fynt sei Parceval – wie schon am Ufer des reißenden Flusses – entkommen, weil er sich bekreuzigt habe (vgl. PL V, 204, 20ff.). Aber weder beim ersten Treffen mit dem Teufel noch in seinem Traum hat Parceval seinen Glauben eingesetzt, um sich
136 An dieser Einsicht zeigt sich erneut der Wandel von irdischer zur himmlischen Ritterschaft: Die erwählten Gralssucher ergeben sich vollkommen Gottes Willen. 137 Die Geste des Sich-Bekreuzigens ist typisch für Parceval. 138 Vgl. Schmid (1986), S. 240. 139 Vgl. Schmid (1986), S. 240.
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gegen das Böse zu wehren. Beide Male ist ihm der Zufall zu Hilfe gekommen.140 Auch seine nächste Begegnung mit dem Teufel wird nach diesem Schema ablaufen. Weil diese Auseinandersetzung mit dem Teufel noch ansteht, ist es dem Priester nicht möglich, Parceval von der Insel zu befreien (vgl. PL V, 206,8-22). Nach einer Weile legt erneut ein Schiff an der Insel an. Dieses ist im Vergleich zum ersten schwarz und beherbergt eine junge Frau: da sach er ein jungfrauwe darinn siczen, die was ußer maßen schön und was gecleyt zu mal rychlich, als ein frauw mocht syn (PL V, 208,10-12). Sie spricht Parceval auf seine einsame und gefährliche Situation an. Als der Ritter zum Ausdruck seines festen Glaubens an Gott mit einem Bibelzitat antwortet, wechselt die junge Frau das Thema (vgl. PL V, 208,26-28).141 Sie erzählt Parceval, dass sie aus dem wústen forst komme und über Galaad zu berichten wisse (PL V, 208,33/34). Erneut weist sie Parceval auf seine Gefangenschaft auf der Insel hin und versucht, ihn mit dem Angebot, ihn zu befreien, zu locken. Der Ritter beharrt aber noch immer auf seine Rettung durch Gott (vgl. PL V, 210,26ff.). Die junge Frau verunglimpft den Priester, der zuvor auf der Insel gewesen ist (vgl. PL V, 212), und redet Parceval ein, dass er entweder an Hunger oder durch die wilden Tiere sterben werde. Danach verspricht sie, ihn aus seiner einsamen Lage zu befreien (vgl. PL V, 212,15f.). Nachdem Parceval und die junge Frau etwas Zeit miteinander verbracht haben, trinkt der Ritter beim gemeinsamen Mahl so viel Wein, dass er sich erhitzt: Und er dranck also viel das er da von erhiczt wart men dann er solt (PL V, 216, 9f.). Das ‚Erhitzt-Sein‘ steht wie schon bei Lancelot als Synonym für ‚Erregung‘. Dies lässt ihn die junge Frau in ganz anderem Licht sehen: Und er besahe die jungfrauwe, die da was ußer maßen schöne, als yne beducht, das er nye hett gesehen yren glichen von schön. Und sie geviel im als wol und gelust yn also sere durch den glimpff den er sach an ir und durch die súßen rede die sie im hett geseyt, das er wart men enczúnt dann er solt (PL V, 216,10ff.).
Parceval bittet um ihre Liebe (vgl. PL V, 216,17), doch sie zögert und ziert sich, was Parcevals Begehren umso mehr steigert: mere nach ir enbrúnde und ir mer gelúste (vgl. PL V, 216,18f.). Nachdem das Fräulein erkennt, dass die Hinhaltetaktik aufgegangen ist, und sie nun scheinbar leichtes Spiel hat (vgl. PL V, 216,20), fordert sie Parcevals ewige Treue. Dieser stimmt zu und nun steht dem Liebesakt 140 „Perceval ist und bleibt […] der reine Tor. [...] Er besiegt die Versuchungen ohne ihre Natur zu verstehen, indem er stets in den entscheidenden Momenten das Kreuzzeichen schlägt.“ (Schmid (1986), S. 237) 141 Dass die junge Frau nicht auf Parcevals Glaubensbekenntnisse eingeht und im Gegensatz zu dem heiligen Mann auf einem schwarzen (!) Schiff auf die Insel gelangt, sind schon erste Hinweise darauf, dass mit ihr etwas nicht stimmen kann.
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nichts mehr im Weg. Dass es sich tatsächlich um den Vollzug des Sexualakts handelt, geht eindeutig aus den Worten des Fräuleins hervor: ‚Mich begnúget wol da mit, und ich sol thun alles das uch gelust. Und wißent sicherlichen das ir hant myn nye so viel begeret, ich hab uwer noch vil men begeret, wann ir sint ein ritter von der welt, nach dem mich men hat belanget.‘ (PL V, 216, 26-30)
Als sich Parceval neben die junge Frau legt, hilft ihm auch in dieser Situation der Zufall, seine Unschuld zu verteidigen. Kurz bevor es zum Beischlaf mit dem vermeintlichen Fräulein kommt, fällt sein Blick auf das Kreuzzeichen am Knauf seines Schwertes. Dieses Symbol bewegt ihn dazu, sich zu bekreuzigen (vgl. PL V, 218,3f.). Nach dieser Geste bricht die Hölle los. Übler Gestank macht sich breit, vor Rauch und Nebel kann Parceval nichts mehr erkennen (vgl. PL V, 218,4ff.) und das Fräulein beschimpft ihn, sie verraten zu haben (vgl. PL V, 218,14f.). Nachdem der Spuk vorbei und das Mädchen verschwunden ist,142 erkennt Parceval, dass er beinahe seine Jungfräulichkeit hergegeben hätte: also viel bin ich gewest böse und unreyn, das ich als bald bin bracht an die stat zu verliesen das das nymant mag wiedderbringen, das ist jungfrauwelichkeit, die nÿmant mag wiedder gewinnen, wann er sie eins verlúset (vgl. PL V, 218,30-34).
Am nächsten Tag wird Parceval zudem klar, dass es der Teufel in Gestalt einer Frau gewesen ist, dem er sich in seiner Prüfung hat stellen müssen (vgl. PL V, 220,28f.).143 Als der Priester mit seinem weißen Schiff erneut an der Insel anlegt, bestätigt er Parcevals Vermutung: die jungfrauw, mit der du hast gerett, das ist der fynt und der 142 Bei der Forschung über die Teufel und Dämonen im Mittelalter bilden „etwa die Versuchungen sexueller Art, wobei die dämonische Natur des Buhlen oder der Buhlerin sich oft in ihrem plötzlichen spurlosen Verschwinden offenbart, wenn sie beschworen werden“ ein eigenes Kapitel. Vgl. dazu Dinzelbacher, Peter: Angst im Mittelalter – Teufels-, Todes- und Gotteserfahrungen: Mentalitätsgeschichte und Ikonographie. Paderborn et al. 1996, S. 105. 143 Zu der Tatsache, dass der Teufel in die Gestalt einer „mit allen Reizen ausgestatteten Frau“ schlüpft, vgl. Dinzelbacher (1996), S. 105. Außerdem gilt das Laster der Wollust (= luxuria) u.a. als Auslöser des Sündenfalls. Die Trägerinnen der Wollust sind die Frauen, allen voran Eva, die Adam verführte, die ihre männlichen Opfer zu Unkeuschheit und Sünde verleiten wollen. Vgl. zu der Ikonografie der Wollust als verführerische Frau auch: Blöcker, Susanne: Studien zur Ikonografie der sieben Todsünden in der niederländischen und deutschen Malerei und Grafik von 1450-1560. Münster/ Hamburg 1993, v.a. S. 115ff.
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meyster von der hellen, der úber alle fynde hat macht (PL V, 222,28-30). Der Teufel selbst sei ein gefallener Engel und deswegen ebenso schön wie die anderen Himmelsgestalten (vgl. PL V, 222,30ff.). Sein Wunsch sei es, Ritter wie Parceval zum Bösen zu verführen (vgl. PL V, 224/226). Der fromme Mann ermahnt Parceval, nicht noch einmal der Sünde anheimzufallen. Danach verschwindet er und eine göttliche Stimme fordert Parceval auf, das weiße Schiff zu besteigen, das ihn zu seinen Gefährten Bohort und Galaad bringen werde (vgl. PL V, 228, 10-13). In der Prüfung seiner Keuschheit und Unschuld steht Parceval mehrfach dem Teufel gegenüber. Es zeigt sich, dass das Böse kein spezifisches Erscheinungsbild hat. Der Teufel kann als Ginover auftreten, um Lancelot zu verführen, oder in die Gestalt eines jungen Mädchens schlüpfen, um sich Parceval anzunähern.144 Deswegen lässt sich die Frage, die Jane Burns in ihrem Aufsatz Devilish Ways stellt, ob der Teufel, wenn er keinen festen Körper habe, ein bestimmtes Geschlecht haben könne, nur schwer beantworten. Jedenfalls muss sich der Teufel, wenn er ein wandelbares Äußeres hat, nicht an die festgeschriebene Geschlechterdichotomie halten. Er kann in jeglichen Körper einfahren und sich diesen zu Nutze machen bzw. Trugbilder nach seinen Vorstellungen entstehen lassen. Die Frage müsste daher eher lauten: Warum ist es zumeist ein weiblicher Körper, der den Plänen des Bösen als Werkzeug dient? Weiter müsste geprüft werden, welchen Einfluss die hybride geschlechtliche Erscheinung des Teufels auf die Geschlechtsidentität und die Begehrensstruktur der verführten Person hat. Was bedeutet es für die Geschlechtszuschreibung der Ritter, wenn sie ein Wesen, das zwar in Frauengestalt auftritt, aber männlich codiert ist, begehren? Der Teufel erscheint in der Regel als der fynt und ist somit männlich bestimmt.145 Auch in der Erscheinung des jungen Mädchens, dem Parceval beinahe verfällt, wird ein metaphorisches cross-dressing vorgeführt. Der Teufel nimmt einen weiblichen Körper in Besitz, um durch dessen Schönheit Männer zu verführen.146 Die Begegnungen mit dem Teufel, der in seiner hybriden Existenz den Gralssucher verführen soll, lassen Geschlechtszuschreibungen ins Schwanken geraten. Die dichotome Welt von Ritter und Dame wird für einen Mo144 Vgl. Burns (1998), S. 18. 145 Vgl. dazu auch Burns (1998), S. 18. Zur „grammatical gender fluidity“, vgl. Burns (1998), S. 22. Auch McCracken, die sich auf die Queste del saint graal bezieht, bestätigt diese maskuline Codierung im altfranzösischen Text, auch wenn der Teufel zuvor in Frauengestalt aufgetreten ist: „(A)lthough devils are sexless beings that do not properly have a gender, the Old French text assigns a definite masculine identity“ (McCracken (2001), S. 128). 146 Vgl. hierzu die Figuren der männlichen und weiblichen Nachtdämonen (incubi bzw. succubi) im Mittelalter, die für ihr lüsternes Wesen bekannt waren: Voltmer, Rita/Irsigler, Franz: Incubi succubi. Hexen und ihre Henker bis heute. Ein historisches Lesebuch zur Ausstellung. Luxemburg 2000, S. 40.
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ment unterbrochen. Dies geschieht im Gralsroman auf besondere Weise.147 In den besprochenen Szenen verwischt der Geschlechterwechsel die Grenzen zwischen weiblich und männlich und eröffnet somit einen Raum für nicht normative Begehrensstrukturen. Der Teufel markiert in seinem Geschlechterwechsel eine Leerstelle.148 Er zeigt zugleich, dass Schönheit nicht immer Herzensgüte bedeuten muss. Der Teufel ist aufgrund seines himmlischen Ursprungs ein schönes Wesen – so schön wie die Frauen, deren Gestalt er annimmt –, aber hinterlistig. Während die Engel androgyne Wesen geschlechtlich uneindeutig codiert erscheinen und ebenso zwischen den Geschlechtern stehen, schlüpft der Teufel entweder in die Erscheinung des Mannes oder der Frau. Jane Burns deutet in Devilish Ways die Enthaltsamkeit des jungfräulichen Gralsritters in der Weise, dass sein Körper nicht durch einen Geschlechtsakt verunreinigt ist.149 Frauen stehen für das Böse150 und werden deswegen von der Gralssuche und dem Gralswunder ausgeschlossen: „The successful completion of the Grail quest depends upon the existence of clearly-defined and recognizable cultural categories of women and men which the devil, by his hybrid and dissonant gender, calls repeatedly into question.“151 Der Teufel verkörpert nicht jene morphologische Stabilität, die sein Name evoziert.152 Er ist – und das kann man für die Geschlechterrollen in den Gralsromanen auch sagen: „a (s)he and a he and a he and a s(he) and a shehe and a heshe.“153 Mit diesem gender shift trifft der Teufel in das Zentrum der Enthaltsamkeit, mit der die Sphäre des Grals untrennbar verbunden ist. Auf den ersten Blick tritt der Teufel in Form einer wunderschönen Frau auf, um die Eignung und Keuschheit der Gralsucher zu testen. Auf den zweiten Blick werden 147 Vgl. Burns (1998), S. 20f. 148 Vgl. Burns (1998), S. 24. 149 Burns (1998), S. 25. 150 Vgl. dazu in der Auslegung des frommen Mannes gegenüber Parceval: Der Teufel ist die Schlange und die Schlange ist die Frau, was im Umkehrschluss heißt, dass der Teufel und die Frau synonym benutzt werden (vgl. PL V, 204). Vgl. dazu auch: Burns (1998), S. 23f. 151 Burns (1998), S. 25. Selbst Parcevals Schwester, die eine ganze Weile an der Gralssuche teilnehmen darf, stirbt, noch bevor sie vor den Gral gelangen könnte. 152 Zur Travestie und zur Geschlechterparodie vgl. Butler (1991), S. 198-208, v.a. S. 202f. Außerdem, so argumentiert Jane Burns weiter, wenn Adam und Eva nun Mann und Frau sind, dann ist der Teufel zugleich männlich und weiblich, aber auch zugleich weder ganz das eine noch das andere. Vgl. Burns (1998), S. 26. 153 Cixous, Hélène: „‚Tancredi Continues‘. Coming to Writing and Other Essays.“ Übersetzung Deborah Jenson. Cambridge, MA 1991, S. 78-103, hier S. 84. Cixous zeigt darin, wie sich alternative Wege in der Geschlechtszuschreibung gehen lassen und dadurch Heteronormativität zu stören ist.
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sowohl beim Teufel in Frauengestalt als auch bei dem zu verführenden Ritter feste Geschlechtszuschreibungen und normative Begehrensstrukturen aufgelöst. Dies führt, wie auch Peggy McCracken in ihrem Aufsatz Chaste Subjects feststellt, zu der Frage, wie sich der Geschlechterwechsel des Teufels auf die unterschiedlichen Begehrensstrukturen, die der mittelalterliche Text vorführt, auswirkt bzw. wie er das enthaltsame Subjekt und dessen Geschlechtszuschreibung irritiert.154 Durch die Enthaltsamkeit stehen nämlich nicht nur die Geschlechtszuschreibungen des Teufels, sondern auch der keuschen Gralssucher zur Disposition. Nachdem der Ritter erfahren hat, dass er nicht eine Frau, sondern den Teufel begehrt hat, schlagen die Liebesgefühle in Selbsthass um, und er sticht sich mit dem Schwert in den Fuß, so dass das Blut nach allen Seiten spritzt (vgl. PL V, 218,23ff.). McCracken erinnert dies an die Verwundung des Fischerkönigs zwischen den Beinen, denn laut dem Originaltext rammt sich Parceval das Schwert in den cuisse, d.h. in den Oberschenkel: „Perceval’s wound in the left thigh recalls that of the infirm king, guardian of the grail, who is wounded ‚between the legs‘ or ‚in the thigh‘.“155 Parcevals Erregung wandelt sich nicht nur in Autoaggression, sondern auch in die Lust zum Kampf gegen die Frau: ir hant mir also viel gesagt von der frauwen das ich wol weiß das es ist der kempffer wiedder den ich solt fechten (PL V, 226,1820). Beide Elemente – Kampf und Liebe – sind Ausdruck männlich-ritterlicher Identitätsbildung.156 Parcevals Begegnung mit dem geschlechterwechselnden Teufel destabilisiert beide Arten des Begehrens: dasjenige nach Liebe und dasjenige nach Kampf, und stellt so die Zuschreibung von Parcevals geschlechtlicher Identität in Frage.157 Erschwerend kommt hinzu, dass die Jungfräulichkeit Parceval laut 154 Vgl. McCracken (2001), S. 129. Im Bezug auf Burns (1998) vgl. McCracken (2001), S. 140, FN 17: „Whereas Burns is interested in the ways that representations of the devil’s changing gender challenge conventional categories of femininity and masculinity, I am interested in how the devil’s shifting gender may point to anxieties about the gender identity of the chaste knight.“ 155 McCracken (2001), S. 137 Obwohl sie sich auf den altfranzösischen Text bezieht, ist die Geschichte genauso in den Prosa-Lancelot übertragen. Laut McCrackens Analyse könnte auf den jungfräulich-enthaltsamen Parceval – wie auf den altfranzösischen Perceval – der Vergleich mit einem Kastraten zutreffen, je nachdem, wo er sich am Fuß oder (zwischen) den Oberschenkeln selbst verletzt hat: „If Perceval’s wound represents a renunciation of desire, it may also be seen to enact a renunciation of gender“ (ebd., S. 137). Neben der Interpretation der Verletzung als Entmannung wäre als andere Lesart noch möglich, dass die Verletzung tatsächlich an dem Fuß war und der Schmerz, den der Ritter dann verspürt, die aufgrund des unterbrochenen Aktes nicht vollzogene Ejakulation ersetzt. 156 Vgl. McCracken (2001), S. 129. 157 Vgl. McCracken (2001), S. 129.
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McCracken zu einem virgin subject macht – ganz im Sinne der neuen Werte des Gralsromans. Die Fokussierung auf Keuschheit und Jungfräulichkeit liegt außerhalb der konventionellen Begehrensökonomie des höfischen Romans.158 Das Begehren nicht zu begehren, wie es neben Parceval auch Bohort und Galaad aufweisen, ist die Haupteigenschaft der Gralssucher.159 Mit diesem Impetus grenzen sie sich von Artusrittern wie Lancelot und Gawan und andererseits von den im höfischen Roman geforderten Mustern der Geschlechtsidentität ab. Das Nicht-Begehren bzw. das Begehren, das sich auf Objekte wie den Gral richtet, ist eines, das außerhalb heteronormativer Strukturen liegt. Die Gralsromane, nicht nur der Prosa-Lancelot, führen ihre Protagonisten als keusche bzw. jungfräuliche Subjekte vor, die que(e)r zu den heteronormativen Strukturen begehren. Die Helden sind somit queere Subjekte („queer subjects“), die nicht nur in den mittelalterlichen sondern auch in einem modernen Verständnis normative Konzepte von Körper, Begehren, Identität ins Wanken bringen.160 Homosoziales Begehren ist omnipräsent und die Gralsritter sind queere Helden im Sinne McCrackens.161 3.3.2 Der verführte Gefährte Während Parceval arglos und kindlich ist und den Zustand der Jungfräulichkeit verkörpert,162 steht Bohort auf einer anderen Entwicklungsstufe. Der Ritter gehört zum einen der Vätergeneration an: Er ist der Cousin von Lancelot und somit älter als seine beiden Gefährten auf der Gralssuche. Auch bezüglich des heiligen Gefäßes ist er erfahrener, denn er hat dieses bereits zweimal auf der Gralsburg Corbenic sehen dürfen.163 Zum anderen hat Bohort auch bereits „Geschlechtlichkeit kennen[gelernt], um sich sodann, en conaissance de cause, für die Enthaltsamkeit zu
158 Vgl. McCracken (2001), S. 135. 159 Laut McCracken: „desire not to desire“ (vgl. S. 139). Wie das Begehren, nicht zu begehren, die heteronormative Ordnung stört und sich für ein Queer Reading anbietet, führt Meyer am Beispiel Galaads spannend aus. Vgl. hierzu Meyer (2008), S. 206, vgl. dazu auch Kapitel III.2.3.2 oder 2.3.3 dieser Arbeit. 160 Vgl. dazu McCracken (2001), S. 139: Nicht-Begehren und Enthaltsamkeit sind in ihrer Verneinung von Begehren auch eine Form von queeren bzw. nicht-normativen Begehrensstrukturen. 161 Vgl. zu den „queer hero(s)“ McCracken (2001), S. 139. 162 Vgl. Schmid (1986), S. 238. 163 Bei den Gralsbesuchen, die vor der eigentlichen Gralssuche liegen und die auch anderen Artusrittern wie Gawein und Lancelot zuteil wurden, hat sich Bohort hervorgetan und zugleich lernfähig gezeigt (vgl. Remakel (1993), S. 94f.). Aufgrund seines spirituellen Verständnisses des heiligen Grals darf er zusammen mit der Sohngeneration (Galaad und Parceval) auf die Suche gehen.
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entscheiden“.164 Obwohl sich Bohort der Keuschheit verschrieben hat,165 muss auch er sich einer Prüfung unterziehen, die parallel zu der von Parceval abläuft. Zuerst trifft Bohort auf einen Geistlichen – wie sein Gefährte Parceval auf die Klausnerin –, der ihm bestätigt, dass nur die Tapfersten und Reinsten an der Gralssuche teilnehmen können, die Unreinen jedoch ausgeschlossen sind (vgl. PL V, 320,20ff.). Weiter erklärt der alte Mann dem Ritter, dass die Beichte das Wichtigste auf dem Weg zum Gral sei (vgl. PL V, 320, 25ff.). Nachdem er Bohort über das Wesen der Suche ausführlich aufgeklärt hat, rät er diesem jedoch, an den Artushof umzukehren (vgl. PL V,324,8-12). Ein Einsiedler, bei dem Bohort und der Priester einkehren, räumt kurze Zeit später die Unsicherheit aus, dass Bohort besser nicht an der Suche teilnehmen solle. Der Eremit bestätigt dem Ritter, dass er mit zwei Gesellen zum Gral gelangen werde. Als Zeichen seiner Buße ringt er Bohort das Versprechen ab, dass dieser sich ausschließlich von Wasser und Brot ernähre. Bohort verspricht, dies zu tun, und beichtet danach alle seine vergangenen Sünden (vgl. PL V, 328,10ff. bzw. 328,3134). Auf seiner weiteren Suche nach dem Gral und nach Galaad muss sich Bohort wie auch Parceval verschiedenen Prüfungen unterziehen. Die schwerste lässt nicht lange auf sich warten. Er trifft auf fremde Ritter, die seinen misshandelten Bruder Lionel mit sich führen. Zugleich sieht Bohort eine junge Frau, die gewaltsam verschleppt wird. Im Gegensatz zu dem still leidenden Lionel fleht die Frau Bohort lautstark um Beistand an. Der Gralssucher steht am Scheideweg: Auf der einen Seite will er seinem geliebten Bruder zu Hilfe eilen und auf der anderen Seite verliert die Jungfrau ihre Unschuld, wenn er sie nicht rettet (vgl. PL V, 346,1-5). Er überlässt seinen Bruder Gottes Beistand und befreit stattdessen die Jungfrau. Somit rettet er sowohl die Seele des Mädchens als auch diejenige ihres möglichen Vergewaltigers. Die Entscheidung gegen den Bruder war eine schwere Prüfung, doch bestätigt sich später, dass Bohort sich stets im Sinne Gottes verhalten und dadurch als Streiter des himmlischen Rittertums erwiesen habe: ir warent ein ritter Jhesu Cristi (PL V, 364,18). Obwohl die Gralssuche und das Verhältnis der Gefährten untereinander als brüderlich gezeichnet werden,166 war es im Fall Lionels richtig die weltliche Bruderpflicht zu verdrängen. Eine weitere Begegnung zwischen Bohort und Lionel bestätigt dies. Lionel ist vom vorangegangenen Verrat gekränkt und droht seinen Bruder zu töten (vgl. PL V, 370,30ff.). Bohort fleht um Vergebung und erhebt sein 164 Schmid (2986), S. 238; vgl. auch Remakel (1993), S. 94: „Bohort verliert nur seine körperliche Jungfräulichkeit, innerlich aber bleibt er im Gegensatz zu dem in sündhafter Liebe verstrickten Lancelot rein und keusch.“ 165 Vgl. McCracken (2001), S. 127. 166 Vgl. zu der homosozialen Gleichheit unter den Rittern auch Burns (1998), S. 20.
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Schwert nicht gegen seinen Bruder, da er sonst Gefahr liefe, „Brudermord zu begehen“.167 Lionel ignoriert seinen Bruder und dessen Versöhnungsgesten.168 Als Bohort nach einer Weile schließlich doch sein Schwert in die Hand nimmt, um Lionels Raserei zu beenden, verhindert Gott, dass er schuldig wird und trennt die Kämpfenden durch einen Feuerstrahl (vgl. PL V, 380,4ff.). Bohort sieht das Eingreifen Gottes als Zeichen und verabschiedet sich von Lionel. Der Gralssucher hat von der göttlichen Stimme erfahren, dass er sich nicht mehr in der Gesellschaft seines Bruders aufhalten, sondern ans Meer ziehen solle. Dort warte Parceval auf ihn (vgl. PL V, 380,15ff.). Somit endet die Prüfung Bohorts wie diejenige Parcevals: Der Ritter besteigt das Schiff, das mit weißem Samt überzogen ist, und trifft dort seine Gefährten auf der Gralssuche (vgl. PL V, 382,23f.). Bei den Prüfungen, die Bohort wie Parceval auf dem Weg zum Gral durchläuft, werden – wie gezeigt – die von den Gralssuchern geforderten Eigenschaften (reynigkeit, warheit und abstinencia, PL V, 316,18f.) auf die Probe gestellt. Neben der körperlichen Reinheit spielt auf der Gralssuche auch die geistige Reinheit eine große Rolle, wie die Geschichte Bohorts zeigt. Der Gralssucher hat zwar durch eine List seine Jungfräulichkeit verloren, zeigt aber auf dem Weg zum Gral geistige Stärke. Indem er sich gegen seinen Bruder und auf Seiten der Jungfrau stellt, erweist er sich als Verkörperung der geistlichen Ritterschaft und Beschützer der neuen Werte. 3.3.3 Das jungfräuliche Opfer Während Bohort und Parceval bereits zusammen sind, findet auch Galaad eine Weggefährtin. Während er in einem Kloster Rast macht, kommt eine junge Frau, die nach ihm sucht (vgl. PL V, 390,26ff.). Sie bittet den guten Ritter, ihr zu folgen, denn sie will ihm zum höhste[n] abenture (PL V, 390,36-392,1) führen. Nach einer kurzen Reise vereint die junge Frau Galaad mit seinen beiden Gefährten Bohort und Parceval (vgl. PL V, 392,33ff.). Galaad selbst betont dabei die wichtige Rolle der jungen Frau, da sie die Freunde zusammengeführt habe (vgl. PL V, 394,27-30).169 167 Schmid (1986), S. 243f. Lionel dagegen, der im Gegensatz zu seinem erwählten Bruder ein Repräsentant der alten Ordnung bleibt, ist bereit zum Brudermord und geht dabei, mit der Tötung des Einsiedlers und eines anderen Artusritters, sogar über Leichen. Vgl. hierzu PL V, 370-380. 168 Wie Bohort richtig erkannt hat, ist der Brudermord bzw. der Kampf der Brüder mit tödlichem Ausgang eine Sünde, die beide zu tragen haben: ‚wann kömt es darzu, lieber bruder, das ich uch erschlagen oder ir mich, wir múßen von sunden sterben.‘ (PL V, 378,27-29) 169 Die drei bzw., wenn man die junge Frau einschließt, vier Gralssucher auf dem Schiff sind vollzählig. Auf Nachfrage Bohorts, der gerne auch Lancelot dabei gehabt hätte, antwortet Galaad, dass das nicht Gottes Wille sei (vgl. PL V, 394,35-37).
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Sie stellt sich als Schwester Parcevals vor (PL V, 396,34), führt die drei Ritter durch das Schiff und erzählt seine Geschichte. Zuerst fällt ein prächtiges Bett auf, an dessen Kopfende eine goldene Krone liegt und an dessen Fußende sich ein glänzendes Schwert befindet (vgl. PL V, 398,26ff.). Auf dem Schwertgriff befindet sich eine Inschrift, die besagt, dass diese Waffe nur der Person gehöre, die den Griff zu umfassen vermöge (PL V, 400,15-20). Weder Parceval noch Bohort gelingt dies. Galaad entdeckt auf der Scheide des Schwertes eine weitere Inschrift, wonach das Schwert nur von einer einzigen Person aus der Scheide gezogen werden dürfe und alle anderen verletzt oder den Tod finden werden (vgl. PL V, 400,36-402,3). Parcevals Schwester kennt die Geschichte des Schwerts, das aus dem Besitz König Davids stamme (vgl. PL V, 436,1), und weiß, dass es einzig Galaad bestimmt ist, es aus der Scheide zu ziehen: wißent das das ziehen ist allen verbotten dann im alleyne (PL V, 402,8f.).170 Parcevals Schwester klärt die drei Gefährten auch darüber auf, warum das kostbare Bett gefertigt worden ist und woraus es besteht. König Salomo, der Sohn König Davids, ließ es fertigen (vgl. PL V, 434,23ff.). Seine eigene Krone habe er an den Kopfende des Bettes gelegt und das Schwert seines Vaters an dessen Ende. Das Gehenk, mit dem das Schwert befestigt werden kann, ist aus minderwertigem Material (vgl. PL V, 436,27ff.), doch dies solle noch ersetzt werden: wann ein reyne jungfrauwe sol sie daran machen (PL V, 436,32f.). So erfüllt schließlich Parcevals Schwester ihre Aufgabe, indem sie ein neues Gehenk für das Schwert an Galaad übergibt. Dieses ist, wie es die Prophezeiung verlangt, aus Dingen gefertigt, die sie am liebsten auf dieser Welt hat (vgl. dazu PL V, 406,6f.):171 das ich sie macht von den dingen uber mir, das ich lieber hett, das was von mynem hare (PL V, 442,36444,1). Nachdem alle Auflagen für die Übergabe des Schwertes erfüllt sind, umfasst Galaad als Auserwählter dessen Griff (vgl. PL V, 34ff.). Parcevals Schwester erteilt ihm den endgültigen Ritterschlag und überreicht dem Gralserlöser das Schwert seines Urahnen König David (PL V, 446,4ff.). Galaad schwört ihr im Gegenzug ihr als Ritter zu dienen (vgl. PL V, 446,14). Dieser Eid wurde oft als Verbindung oder Verheiratung zwischen Parcevals Schwester und Galaad gelesen.172 Da ihrer Beziehung jedoch jegliche Unkeuschheit fehlt, nimmt Parcevals
170 Dies erinnert motivisch an König Artus, der als Zeichen seiner Auserwähltheit als einziger das Schwert Excalibur aus dem Stein zu ziehen vermag. 171 Zur der Inschrift auf dem Gehenk, die sich um dessen Auswechslung dreht, vgl: PL V, 406,3-9. Außerdem soll diese Jungfrau den richtigen Namen des Schwertes sowie der Scheide nennen. Vgl. PL V, 444,17-19. 172 Laut Schmid ist es einleuchtend, dass die Verbindung von Parcevals Schwester und Galaad das Gegenbild der Lancelot-Ginover-Minne ist. Die weltliche Passion soll durch geistliche Liebe ersetzt werden.
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Schwester für Galaad lediglich die Rolle der „mythische(n) Braut“173 oder „geistliche(n) Gefährtin“ ein.174 Das Begehren zwischen Galaad und Parcevals Schwester weist in seinem unkörperlichen Ausdruck Analogien zu demjenigen zwischen Condwiramurs und Parzival auf. Nur geistiges Verlangen zwischen Mann und Frau kann neben dem Begehren nach dem Gral und den homosozialen Begehrensstrukturen in der Gralssphäre Platz haben. Nach einigen Wundern und Abenteuern kommen die drei Gefährten und Parcevals Schwester an die Burg Gyech (vgl. PL V, 460,16), deren Bewohner den tödlichen Brauch haben, jeder Jungfrau, die vorbeizieht, eine Schüssel ihres Bluts abzuverlangen (vgl. PL V,460,36-462,1). Da sich unter den Gralssuchern mit Parcevals Schwester die reinste aller Jungfrauen befindet (vgl. PL V, 460,22f.), soll auch diese ihr Blut geben und ihr Leben opfern. Doch die drei Ritter, allen voran Galaad, stellen sich vor die Jungfrau, die nicht zur Teilnahme an diesem lebensbedrohlichen Ritual gezwungen werden soll.175 Es kommt zu einem Kampf, bei dem sich die drei Gralssucher einer Übermacht an Gegnern gegenübersehen. Galaad, der schon auf seine eigene Abenteuerreise übermenschliche Kräfte gezeigt hat, steigert seine Stärke aufgrund des neuen Schwertes ins Wunderbare (vgl. PL V, 462, 29-32). Der Kampf dauert lange und so wird für die Nacht Waffenruhe und die Einkehr der Gefährten in die Burg Gyech verabredet. Dort werden die Gralssucher darüber aufgeklärt, warum alle Jungfrauen, die an der Burg vorbeiziehen, eine Schüssel voller Blut zurücklassen müssen. Die Herrin der Burg ist an Aussatz erkrankt und laut einer Prophezeiung kann dieser nur durch das Blut einer Jungfrau, die keusch in Gedanken und Werken ist (vgl. PL V 464,28f.), geheilt werden. Die wahre Rettung kann der Burgherrin jedoch nur von einer bestimmten Jungfrau zuteil werden: die eynes koniges dochter were und were Parczifals schwester, der auch reyn ist (PL V, 464,29f.). Seit dieser Vorhersage suchen die Bewohner der Burg die geeignete Jungfrau. Dieselbige ruft, nachdem sie die Geschichte der Burgherrin erfahren hat, Galaad, Bohort und ihren Bruder zu sich, da sie bereit ist, sich zu opfern (vgl. PL V, 466,9ff.). Während das Blut aus ihrem Körper läuft und sie sich ihres bevorstehenden Todes bewusst ist, übermittelt sie den drei Gefährten ihren letzten Willen: ‚Darumb so bitten ich uch das ir mich nit begrabent in also fremden landen. Wann als bald als ich dot bin, so legent mich in ein schiff […], und laßent mich furen als mich abentúr fúret. Und ich sagen uch, als bald als ir koment in die stat Saras, dahien ir múßent faren nach dem 173 Schmid (1986), S. 246f., wobei sie auch einräumt, dass die Schilderung von Parcevals Schwester kein Loblied einer mystischen Braut ist, wird sie doch vom Text eher lieblos gezeichnet (vgl. Schmid (1986), S. 247). 174 Mertens (2003), S. 115. 175 Dass die Jungfrauen, die zuvor Blut gegeben hatten, ihr Leben gelassen haben, sieht man an den über vierzig Gräbern, die Galaad und Parceval finden. Vgl. PL V, 474,25ff.
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heiligen grale, das ir mich dann findent an dem staden under dem torne. Dann thúnt als viel umb mynen willen und umb myne mynne das ir mynen lichnam da dĤnt begraben in dem geistlichen pallast. […]‘ (PL V,468,10-19)
Nachdem Parcevals Schwester den Wunsch nach ihrer letzten Ruhestätte geäußert hat, sagt sie voraus, dass neben ihr auch Galaad und ihr Bruder im Land des Grals begraben werden. Schließlich weist sie die Gefährten an, sich nun zu trennen. Auf jeden von ihnen warten bis zum Wiedersehen im Haus des Verwundeten Königs eigene Aufgaben (vgl. PL V, 468,22ff.). Nachdem Parcevals Schwester gestorben ist, wird die Burgherrin gesund, und die drei Gefährten handeln nach der Anweisung der Jungfrau. Sie balsamieren ihren toten Leib, betten diesen auf einem Schiff zur Ruhe und geben ihr einen Brief mit, der von den großherzigen Taten der Jungfrau berichtet (vgl. PL 470,3ff.). Nachdem die drei Gefährten die Burg Gyech verlassen haben, bricht ein Unwetter aus und die Burg mitsamt ihren Bewohnern fällt ihm zum Opfer. Galaad und Perceval vermuten, dass es eine Strafe Gottes sein müsse (vgl. PL V, 474,14f.). Diesen Verdacht bestätigt eine göttliche Stimme: ‚Diße rache ist von dem blĤte der heiligen jungfrauwe, das hieinn ist verstört, umb des willen das ein böse sunderin genese‘ (PL V, 474,17-19). Weil die Burgherrin eine Sünderin gewesen ist, hat sich Parcevals Schwester umsonst geopfert. Die Gefährten dagegen halten sich an ihre Anweisung und trennen sich auf ihrem Weg zum Gral. Auf den ersten Blick könnte man meinen, dass mit Percevals Schwester tatsächlich eine Frau „mit in die Gralwelt“ einbezogen und die „Möglichkeit der Vollkommenheit für alle Menschen ohne Unterschiede des Geschlechts“ gezeigt werde.176 Dem ist jedoch nicht so. Betrachtet man das Schicksal der Jungfrau genauer, fällt das vermeintlich Progressive in sich zusammen. Sicher ist Parcevals Schwester nicht bloße Deuterin, sondern aktiv am Geschehen beteiligt und somit „göttliches Werkzeug“.177 Sie ist es, die das Gehenk fertigt, am Davidschwert befestigt und somit die Prophezeiung erfüllt, die Galaad endgültig zum Ritter macht. Galaad ist nicht nur ein sondern ihr Ritter. Die Verbindung der beiden, des jungfräulichen Gralserlösers und der reinen Jungfrau, ist jedoch eine rein spirituelle. Parcevals Schwester ist die einzige Frau im Prosa-Lancelot, im Gegensatz zu Ginover, die körperlich-begehrende Liebe ablehnt und ausschließlich geistig-spirituell liebt, wie es die Gralssphäre von allen Gralssuchern fordert.178 Obwohl ihre Opferung für die
176 Mertens (2003), S. 115. 177 Schmid (1986), S. 248. 178 Vgl. hierzu Fries, Maureen: „Gender and the Grail.“ In: Arthuriana 8.1, Spring (1998), S. 67-79, hier S. 75.
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leprakranke Burgherrin179 keinen tieferen Sinn hat – die Geheilte wird von Gottes Zorn bestraft und vernichtet –, ist Parcevals Schwester die Einzige, die sich durch ihr Opfer und ihr Leiden einer imitatio Christi annähert.180 Ist Parcevals Schwester also ein weiblicher Held bzw. eine weiblicher Gralssucher? Obwohl sie bis zu einem gewissen Punkt an der Suche teilnehmen darf, Führerin der Gralssucher ist, ihre Taten sie in die Nähe einer Heiligen rücken und sie am Ende zwischen Parceval und Galaad auf der Gralsburg bestattet wird, ist sie den Rittern gegenüber doch nicht gleichberechtigt. Parcevals Schwester klärt zwar die drei Gralssucher auf Salomos Schiff über viele unbekannte Zusammenhänge auf und übergibt Galaad Davids Schwert, hat aber – bis auf die Opferung – kaum einen eigenständigen Handlungsanteil. Sie dient vielmehr als Folie, um Galaads Erwählung noch deutlicher hervorzuheben. Sie ist dem Gralserlöser zu- und untergeordnet; es zählt in erster Linie der Nutzen, den sie für ihn bringt.181 Dieses Ungleichgewicht widerspricht auch der These, dass Parcevals Schwester Galaads Partnerin sei. Die sinnlose Auslöschung von Parcevals Schwester noch bevor die Gralssucher nur in die Nähe des Grals gelangen, zeigt die problematische Vereinigung von höfischen und spirituellen Werten im Geschlechterkontext des Gralsromans.182 Am Ende bleibt die Gralssphäre den Frauen verschlossen oder sie finden doch nur als blutleere Tote ihren Platz. Je mehr sich die Gralsromane mit ihren Ritualen rund um das geheimnisvolle Gefäß in einem christlichen Deutungsschema bewegen, wie dies im Prosa-Lancelot
179 Den Glauben daran, dass das Blut von jungfräulichen Menschen (Jungfrauen oder Kindern) Aussatz heilen kann, zeigen viele mittelalterliche Texte, die dieses Motiv beinhalten. Vgl. zur Opferung einer Jungfrau und der anschließenden Heilung des Protagonisten die Geschichte vom Armen Heinrich: Hartmann von Aue: Gregorius, Der arme Heinrich, Iwein. Hrsg. und übersetzt von Volker Mertens. Frankfurt am Main 2004. Vgl. zur Opferung von Kindern: Konrad von Würzburg: Engelhard. Hrsg. von Ingo Reiffenstein, 3. neubearbeitete Auflage d. Ausg. von Paul Gereke. Tübingen 1982. 180 Laut Haug in seinem Aufsatz über „Das erotische und religiöse Konzept des ProsaLancelot“ ist Parcevals Schwester die einzige Figur, die sich wirklich aufopfert, indem sie sich selbst für andere opfert. Galaad dagegen erlöst nur sich selbst und geht einen singulären Weg, indem er zusammen mit dem Gral der schlimmen Welt ‚entflieht‘. Vgl. Haug (2007), S. 261. 181 Vgl. dazu Schmid (1986), S. 249; diese ebenso weiter: „Von einer mystischen Kommunikation der beiden Figuren, von einer innigen, das Herz erhebenden Liebe zwischen Braut und Bräutigam kann in der Gestaltung dieser Beziehung auch spiritualiter keine Rede sein.“ 182 Fries (1998), S. 76.
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der Fall ist, umso mehr ist der Zugang zur Gralssphäre den Männern – und ausschließlich ihnen – vorbehalten. 183 Wie eine Reliquie begleitet Parcevals Schwester die Erzählung und die Gralssuche weiter, nur als Leiche darf sie nach Sarras und in die Nähe des Grals kommen.184 Durch ihren Tod gliedert sich Parcevals Schwester wieder in das homosoziale Projekt der Gralssuche ein, da sie von nun an die drei Gefährten nicht mehr stört. Sie ist nach ihrem Tod geschlechtsneutral, denn zum einen hat sie das Weiblich-Sündige ihres Körpers ausgeblutet und zum anderen figuriert sie eine Reliquie. Parcevals Schwester wird spätestens nach ihrem Tod nicht mehr als Frau wahrgenommen und kann als Tote die Gralsritter zum Gral begleiten. Mit ihrem Auftreten und ihrer christusähnlichen Opferung aus Nächstenliebe, die die neuen Werte des Grals verkörpert, irritiert sie das male bonding der Gralsritter kurzzeitig.185 Doch muss sie aus der Gruppe der Gralssucher verschwinden. Der Mittelpunkt des Gralswunders, von dem Parcevals Schwester ausgeschlossen wird, ist nämlich die Transubstantiation. Zeugin dieser zu werden, ist Frauen verboten.186 Nur die drei Gefährten sollen in die Nähe des Grals gelangen. Frauen sind und bleiben im Prosa-Lancelot vom Zutritt zum Gralsbereich ausgeschlossen. Dass sich auch in den zeitgenössischen Gralsromanen nichts geändert hat, zeigt ein weiteres Mal der Vergleich dieser Figur des Prosa-Lancelot mit Sophie Neveu im Da Vinci Code von Dan Brown: Frauen, die dem Geheimnis des Grals zu nahe kommen, werden entweder ausgelöscht oder selbst zum Objekt der Suche degradiert. In diesem Sinne stellt auch McCracken fest: „(G)rail romances offer a progressive gendering of sacred space and of access to sacred objects: as the grail becomes more explicitly associated with eucharistic ritual, its access is increasingly restricted to men.“187 Wie Kiening betont, kann sich Parcevals Schwester nur als Tote dem Gral annähern: „Erst als toter kann der Körper, integral bewahrt oder wiederhergestellt, in der leiblichen Auferstehung optimiert und spiritualisiert werden. Als lebendiger
183 Zur Bedeutung des Blutes im Geschlechterverhältnis vgl. McCracken, Peggy: The Curse of Eve, the Wound of the Hero. Blood, Gender, and Medieval Literature. Philadelphia 2003, dort v.a., S. 105. 184 Vgl. Haug (2007), S. 261. 185 Vgl. Fries (1998), S. 77. 186 Frauen durften im 12. und 13. Jahrhundert nicht am eucharistischen Wunder teilnehmen Vgl. dazu Aronstein, Susan: „Rewriting Perceval’s Sister: Eucharist Vision and Typological Destiny in the Queste del San Graal.“ In: Women’s Studies 21 (1992), S. 21-30. 187 McCracken (2003), S. 105. Dies ist anders im Parzival: Hier haben Frauen Zugang zur Gralssphäre.
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hingegen ist er vor allem Moment der Gefährdung.“188 Die Gefährdung, die nach mittelalterlicher Auffassung vom Körper ausgeht, findet ihre Steigerung im weiblichen Körper. Als Frau gehört Parcevals Schwester, solange sie lebt, zum Störfeld des weiblichen Geschlechts, das seit Eva für die Sünde steht. So jedenfalls propagiert es der Prosa-Lancelot: Nu saget uns die abenture von dem heiligen grale alhie das es geschahe das die erst súnderin, die da was die erste frauwe, hett genomen radt an dem dötlichen finde, das was der tufel, der da zu der stĤnde begunde nyden das menschlich geschlecht und zu döten (PL V, 414,14-18)
Die Erzählung nennt eine Vielzahl sündiger Frauen: Eva (vgl. PL V, 414-422), Salomos schlaue Frau (vgl. PL V, 430ff.), die verführerische Amide oder Ginover, die mit ihrer Liebe den besten Ritter der Welt zu Fall bringt. Parcevals Schwester ist trotz ihrer Heiligkeit auch eine Frau, die irritiert. Durch die Einbalsamierung wird ihr weiblicher Körper konserviert, ihre weibliche Kleidung und die Betonung ihres Daseins als Jungfrau stützen dies. Doch muss auch betont werden, dass ihr Leben als Jungfrau an sich jegliches Begehren unterbindet bzw. abtötet. Die Reinheit, die der Körper der Jungfrau nun symbolisiert, wird zudem dadurch betont, dass jegliches Blut aus ihren Körper geflossen ist und mit diesem die Essenz ihrer Weiblichkeit.189 Der Körper einer Heiligen blutet nicht mehr, v.a. hat er keine Menstruation, da er nicht sündig ist wie derjenige von Eva.190 Mit dem Blut ist die Weiblichkeit aus dem Körper der Jungfrau geflossen, sie ist nurmehr eine geschlechtslose Hülle.191 Der Prosa-Lancelot erhält eine makabere Trophäe: „Das Ideal der makellosen Jungfräulichkeit [ist] in der blutleeren Leiche erfüllt.“192
188 Kiening, Christian: „Regimen corpusculi oder: Die Körper und das Zeichen des Guibert de Nogent.“ In: Müller, Jan-Dirk/Wenzel, Horst (Hg.): Mittelalter. Neue Wege durch einen alten Kontinent. Stuttgart 1999, S. 63-80, hier S. 65. 189 Vgl. McCracken: The Curse of Eve (2003): 1ff. Bezüglich Percevals Schwester, v.a. das Kapitel „Virgin’s Blood“ (ebd., S. 2-6). 190 „(T)he pure body does not bleed because it is not tainted with the curse of Eve through the original sin, like the Virgin Mary’s body.“ In: McCracken (2003), S. 4. Hier ist sicher in erster Linie das Menstruieren gemeint, doch es lässt sich auch sehr gut auf das Beispiel der Jungfrau anwenden. Vgl. im Weiteren auch das Kapitel „The Grail and its Host“ (ebd., S. 92-109). 191 Es scheint fast so, als ob in der Inszenierung der Figur nicht gereicht hätte zu betonen, dass sie eine keusche und enthaltsame Jungfrau ist, sondern diese als Krönung oder Versicherung ihres geschlechtslosen (und somit sündlosen) Status noch ihr Blut lassen muss. 192 Schmid (1986), S. 249.
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4. D IE G RALSGESELLSCHAFT 4.1 Die Schatten auf der Utopie im Parzival Im Vergleich zu der fünfjährigen Gralssuche, der Einkehr bei Trevrizent und dem Lernprozess, den Parzival durchlaufen hat, geht die endgültige Gralserlösung schließlich schnell vonstatten. Nachdem die Abenteuer Gawans erzählt sind, fokussiert der Parzival wieder den Titelhelden. Noch immer ist Parzival dem Gral nicht näher gekommen und wird weiter von der Sehnsucht umgetrieben, ihn zu erringen. Nachdem er sein Versäumnis wiedergutgemacht und den Gral gefunden hat, könnte er endlich zu Condwiramurs zurückkehren. Er verlässt schließlich die Artusgesellschaft, um weiter nach dem Gral zu suchen und danach seine Ehefrau wiederzusehen (vgl. v. 733,20ff.). Doch Parzival findet zunächst nicht den geheimnisvollen Stein, sondern seinen Bruder Feirefiz. Der ältere Sohn Gahmurets, der aus dessen Verbindung mit der heidnischen Belakane hervorgegangen war, ist auf der Suche nach seinem Vater. Da sich die Brüder nicht als solche erkennen, entbrennt zunächst ein heftiger Kampf. Beide werden durch die Liebe zu einer Frau angetrieben, den Sieg zu erringen. Im Fall Feirefiz ތhandelt es sich um die Liebe zu seiner Herrin Secundille (vgl. v. 736,1-8; v. 740,7-12), im Fall Parzivals um die Liebe zu Condwiramurs (vgl. v. 740,19-22; v. 743,12-14). Im Verlauf des Zweikampfs spielt der Erzähler darauf an, dass es sich bei den Gegnern um Brüder handelt (vgl. v. 742,1417). Ferner wird das Schicksal von Parzivals Ehefrau während der letzten fünf Jahre erzählt: In der ersten Liebesnacht hat die Herrin von Pelrapeire Zwillinge empfangen. Ihre Söhne heißen Loherangrin und Kardeiz (vgl. v. 743,15-22). Durch die Mehrfachnennung Condwiramurs ތwird diese für den Protagonisten wieder präsenter. Ihre Rückkehr in die erzählte Handlung ist mit dem Finden des Grals verbunden. In einer Kampfpause stellt sich der fremde Ritter als Feirefîz Anschevîn vor (v. 745,28). Als Parzival hört, dass sich der Heide mit dem Namen seines Vaters schmückt, ist er zunächst empört. Dann ruft er sich jedoch in Erinnerung, dass er einen Bruder in der Fremde hat, der auch den Namen seines Vaters trägt (vgl. v. 746,19). Nachdem die Brüder die Helme abgenommen haben, sieht Parzival seinen schwarz und weiß gefleckten Bruder das erste Mal1. Danach weicht die anfängliche Feindschaft der Freude: Feirefîz unt Parzivâl / mit kusse understuonden haz (v. 748,8f.). Nun will Parzival Feirefiz am Artushof vorstellen, damit dieser die Verwandtschaft Gahmurets kennen lernt (vgl. v. 753,25ff.). Am Artushof breitet sich
1
Die hervorstechendste Eigenschaft von Feirefiz ist seine schwarz-weiße oder auch „elsternfarbene“ Hautfarbe (vgl. z.B.: v. 747,26-28; v. 748,7; v. 758,18f.; v. 805,30).
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die Freude aus: Gawan freut sich, einen weiteren Cousin gefunden zu haben (vgl. v. 758,16ff.), die Damen der Gesellschaft heißen Feirefiz herzlich willkommen (vgl. v. 758,24ff.) und selbst König Artus ist von ihm angetan (vgl. v. 766,23ff.). Parzivals Stimmung ist aufgrund der ausstehenden Gralserlösung noch immer gedrückt, seine wahre Aufgabe steht noch aus. Wieder erscheint Cundrie und überbringt Parzival neue Informationen bezüglich des Grals. Zunächst wird die Gralsbotin nicht erkannt, da sie ihr Antlitz verschleiert hat, doch kann man ihren Bezug zum Gral an den Insignien ihres Mantels feststellen: wol geworht manc turteltiubelîn / nâch dem insigel des grâles (v. 778,22f.). Noch bevor sie sich als Cundrie zu erkennen gibt, bittet sie Parzival um Verzeihung für den Kummer, den sie ihm bereitet habe (vgl. v. 779,22-26). Danach entblößt sie ihr Gesicht und alle erkennen sie als Gralsbotin Cundrie (vgl. v. 780,11ff.). Ihre Botschaft richtet sie direkt an Parzival, den die erschienene Inschrift auf dem Gral als nächsten Gralskönig und Erlöser seines Onkels Anfortas benannt hat: daz epitafjum ist gelesen: du solt des grâles hêrre wesen Condwîr âmûrs daz wîp dîn und dîn sun Loherangrîn sint beidiu mit dir dar benant dô du rûmdes Brôbarz daz lant, zwên süne si lebendec dô truoc. Kardeiz hât och dort genuoc […] den künec Anfortas nu nert dîns mundes vrâge, diu im wert siufzebæren jâmer grôz wâ wart an sælde ie dîn genôz? (v. 781,15-30)
Parzivals vormaliger Kummer löst sich in Tränen und Freude auf. Er zeigt zudem Einsicht in doppelter Hinsicht. Zum einen sei er beim seinem ersten Gralsbesuch noch nicht bereit gewesen, die Nachfolge des Anfortas anzutreten (vgl. v. 7832,6ff.), zum anderen habe er verstanden, dass sich der Gral nicht erstreiten lasse, sondern seinen Herren selbst aussuche (vgl. v. 786,5-7). Parzival hält sich nicht länger am Artushof auf und reitet in Begleitung seines Bruders und Cundries nach Munsalvaesche. Bevor er auf der Gralsburg ankommt, wird erneut über das große Leiden des amtierenden Gralskönigs berichtet. Die Krankheit bereitet Anfortas derartig große Schmerzen, dass er sterben möchte (vgl. v. 787,4). Doch will sich der erlösende Tod nicht einstellen, zumal ihn der Anblick des Grals mit seiner stärkenden Kraft am Leben erhält (vgl. v. 788,21ff.). Die Erlösung naht in Person von Parzival. Kaum ist dieser in Munsalvaesche angekommen, wird er allseits freudig emp-
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fangen, als ob die Bewohner schon wüssten, dass er der zukünftige Gralsherr ist (vgl. v. 793,29f.). Anfortas begrüßt seinen Neffen in der Erwartung, dass er endlich Frieden im Tod finden könne. Doch sieht die Erlösung, die Parzival seinem Onkel bringt, anders aus. Er stellt die mitleidige Frage: œheim, waz wirret dier? (v. 795,29) Kaum hat Parzival die Worte ausgesprochen, wird Anfortas geheilt: Anfortas wart gesunt unt wol genas (v. 796,3f.). Die Gralsgesellschaft bestätigt die Wahl Parzivals zum Gralskönig (vgl. v. 796,17ff.). Sogleich macht sich Parzival auf, um seiner Frau entgegenzureiten. Bevor sich die Liebenden wiedersehen, trifft Parzival als neuer Gralskönig zunächst auf seinen Onkel Trevrizent (vgl. v. 797,16ff.).2 Er hält sich nicht lange bei diesem auf, sondern reitet weiter zu Condwiramurs, die er fünf Jahre nicht gesehen hat (vgl. v. 799, 2f.). Er überrascht seine schlafende Frau in ihrem Zelt (vgl. v. 800,20ff.). Parzival begrüßt zunächst seine Zwillingssöhne Loherangrin und Kardeiz und zieht sich dann mit Condwiramurs zurück (vgl. v. 802,1ff.). Dass Parzival seine Frau schlafend und nur mit einem Hemdchen bekleidet antrifft (vgl. v. 800,30), ist eine Anspielung auf die erste Annäherung der beiden, bei der Condwiramurs ebenfalls spärlich bekleidet war (vgl. v. 192,15). Die erotische Spannung entlädt sich im Liebesakt der Eheleute. Schließlich kehren sie als König und Königin zur Gralsburg zurück. Auf dem Weg dorthin erfahren sie vom Tod Sigunes, die gemeinsam mit Schionatulander begraben wird (vgl. v. 804,23-805,2). Es scheint gerade so, als ob im letzten Buch des Parzival alle wichtigen Personen der Gralsfamilie/-sphäre noch einmal in den Fokus genommen werden, auf dass ihre jeweiligen Biografien und Geschichten zu einem (wie auch immer gearteten) Ende gebracht werden können: Der neue Gralskönig besucht zunächst Trevrizent, dann schaut er mit seiner Frau nach Sigune, die er schließlich beerdigt. Dieses Motiv zieht sich bis zum Schluss durch, denn alle Mitglieder der Gralsfamilie sowie deren Schicksal werden noch einmal benannt. Bei der ersten Gralszeremonie des neuen Königspaars wird eine weitere Eigenschaft des Grals offenbar. Feirefiz, der als Gast seines Bruders auf der Gralsburg weilt und sich dort in die Gralsträgerin Repanse de Schoye verliebt hat, kann den Gral nicht sehen: hêr, seht ir vor iu ligen den grâl? / dô sprach der heiden vêch gemâl / ich ensihe niht wan ein archmardî (v. 810,9-11; v. 813,10-14). Es stellt sich heraus, dass der Gral für den ungetauften Heiden unsichtbar ist. Feirefiz entschließt sich daraufhin die Taufe nachzuholen – weniger um den Gral sehen, sondern vielmehr um die Gralsträgerin Repanse ehelichen zu können (vgl. v. 814,24ff.). Nach2
Diese Stelle wird in der Sekundärliteratur als „Trevrizents Widerruf“ bezeichnet. Es herrscht jedoch keine Einigkeit darüber, wie der Widerruf zu deuten ist. Vgl. zu den unterschiedlichen Positionen u.a.: Groos (1981); Schirok (1987). Zu einer interessanten Deutung des „Widerrufs“, vgl. Schumann, Martin: „Trevrizents „Widerruf“: Von Kausalität und Finalität.“ In: Ders.: Reden und Erzählen. Figurenrede in Wolframs Parzival und Titurel. Heidelberg 2008, S. 176-191.
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dem Feirefiz feierlich getauft ist, übergibt man ihm Parzivals Tante zur Frau und er kann den Gral erblicken: an den grâl was er ze sehen blint, / ê der touf het in bedecket: / sît wart im vor enblecket / der grâl mit gesihte (v. 818,20-23). So scheinen alle Geschichten der engeren und weiteren Mitglieder der Gralsfamilie glücklich zu Ende zu gehen. Feirefiz zieht mit Repanse in den Osten, wo ihr gemeinsamer Sohn, der Priesterkönig Johannes, die Nachricht des Christentums verbreitet (vgl. v. 822,21ff.). Der ehemalige Gralskönig Anfortas stellt sein Leben demütig als Tempelritter in den Dienst des Grals. Er möchte nur noch zu dessen Ehren und nie wieder für die Frauen kämpfen (vgl. v. 819,15ff.). Der Erzähler fasst das Schicksal der Gralsfamilie am Ende noch einmal zusammen (vgl. v. 823,11-26). Alle Kinder des Frimutel werden nacheinander aufgezählt und ihre Leistungen hervorgehoben: Repanse gebiert den Priester Johannes; Schoysiane und Herzeloyde, obwohl bereits verstorben, stachen zu Lebzeiten durch ihre triuwe und fehlende Falschheit hervor; Trevrizent entsagte dem ritterlichen Leben Gott zuliebe und Anfortas wird als besonders keusch und schön geschildert. In dieser Zusammenfassung sind alle Kinder der Gralsfamilie positiv gekennzeichnet, Anfortas’ falsches Begehren oder Herzeloydes Zuneigung zu Mann und Kind werden nicht erwähnt. Der Herzensadel von Frimutels Geschlecht ist das, was am Ende übrigbleibt. Die Eigenschaften der Gralsfamilie wirken sich auch auf die nachfolgenden Generationen aus: Während Parzivals Sohn Kardeiz für die weltliche Herrschaft erzogen wird, ist sein anderer Sohn Loherangrin zum Dienst am Gral bestimmt: mîn sun ist gordent ûf den grâl / dar muoz er dienstlîch herze tragn, / læt in got rehten sin bejagn (v. 820,14-16, ebenso v. 823,27-30). Volker Mertens fasst die Geschichte Loherangrin, des so genannten Schwanenritters, als beginnende Zersetzung der Gralsutopie auf: „Wolfram [schließt] einen Bericht vom Schicksal der dritten Generation an, der zwiespältig bleibt und einen Schatten auf die strahlende Utopie wirft: Parzivals und Condwîramurs’ Sohn Loherangrîn scheitert.“3
So endet die Geschichte der Gralsgesellschaft rasant: Parzival wird zum Gralskönig bestimmt, findet kurz zuvor noch seinen Bruder, ordnet seine weltlichen Angelegenheiten, trifft seine Ehefrau und seine Söhne wieder und auch der Rest der Gralsfamilie sieht einem guten Ende entgegen. Mit anderen Worten wird die Geschichte in heteronormative Bahnen zurück gelenkt. Das Begehren Parzivals kann sich nach Erringen des Grals wieder auf seine Ehefrau konzentrieren. Die Präsenz Condwi3
Mertens (2003), S. 80. So auch: „Der Parzival schließt keineswegs mit einem reinen Happy-end-Finale, am Ende steht vielmehr die Geschichte vom Scheitern des Parzivalssohnes Loherangrin.“ (Pratelidis, Konstantin: Tafelrunde und Gral. Die Artuswelt im Verhältnis zur Gralswelt im ‚Parzival‘ Wolframs von Eschenbach. Würzburg 1994, S. 186).
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ramurs ތnimmt im Laufe der letzten zwei Bücher immer mehr zu, während parallel dazu Parzival dem Gral immer näher kommt. Den Höhepunkt stellt die Wiedervereinigung der Eheleute dar. Nun bestimmen nicht mehr der Gral und seine Frau das Sehnen von Parzival, sondern letztere allein. Condwiramurs wird an seiner Seite regieren und so stärkt das neue Gralskönigspaar die heteronormative Ordnung, der auch Feirefiz und Repanse nachstreben.4 Auch Anfortas wird wieder gesund, insofern er durch Parzivals erlösende Frage von seiner Entmannung und seiner diffusen Geschlechtsidentität befreit wird. Der ehemalige Gralskönig verliert durch seine Heilung nicht das Potential, sich der heteronormativen Ordnung zu entziehen. Wie sein Bruder Trevrizent schwört er den Frauen und allem Begehren ab. Doch bald scheiden Anfortas und Trevrizent aus der Handlung aus und auch die weiblichen Mitglieder der Gralsfamilie – Herzeloyde und Sigune –, die die normative Ordnung noch hätten stören können, sterben. Die überlebende Gralsfamilie – Parzival, Condwiramurs und ihre Söhne – kehren in die Konventionen zurück. Die dichotome Ordnung ist wieder hergestellt. Ruth Sassenhausen führt aus: „Dass der Held Zwillinge gezeugt hat, ist sicherlich symbolträchtig, versinnbildlichen sie doch das duplizierende Prinzip, das dem Roman zugrunde liegt und sich auf verschiedenen Ebenen ausbildet: in der Präsenz zweier Gesellschaftssysteme – Artus- und Gralsverband –, im Nebeneinander von Orient und Okzident bzw. Heidentum und Christentum – Feirefiz und Parzival –, in der doppelten Handlungsführung – Gawan- und Parzivalpassagen. Last but not least werden zudem in den Zwillingen die art Gahmurets und diejenige Herzeloydes weitergegeben: Kardeiz erbt das Königreich Gahmurets und Loherangrin ist für den Gral bestimmt.“5
In die Reihe der Dichotomien ordnet sich die Opposition der Geschlechter ein. Auf diese Weise wird ein heteronormatives Bild der Gralsgesellschaft aufgebaut, das vor Parzivals Gralsherrschaft so nicht existiert hat. Einzig der Gral selbst büßt seine Uneindeutigkeit nicht ein. Über seine Gestalt wird im letzten Buch des Parzival nichts mehr gesagt. Zu seinen bisher genannten Eigenschaften kommt nur noch hinzu, dass er sich Nicht-Christen nicht zeigt. Bis zum Ende bleibt zudem fraglich, wie man den Gral tatsächlich erringen kann. Es scheint eine diffuse Mischung vorzuliegen. Einerseits durchläuft der Gralssucher eine Entwicklung. Er nimmt Strapazen auf sich, um den Gral zu finden, und macht sich so um ihn verdient. Andererseits weisen jedoch alle, denen es möglich ist, das Geheimnis des Grals zu lösen, eine 4
Bei dem zweitgenannten Paar kommt zudem hinzu, dass die Brisanz, die die unterschiedliche Religionszugehörigkeit enthalten könnte, ausgelöscht wird, indem sich Feirefiz seiner Repanse zuliebe taufen lässt.
5
Sassenhausen, Ruth: Wolframs von Eschenbach Parzival als Entwicklungsroman. Gattungstheoretischer Ansatz und literaturpsychologische Deutung. Köln et al. 2008, S. 437.
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verwandtschaftliche Zugehörigkeit zum exklusiven Gralszirkel auf. Somit kulminieren im Gral selbst die widersprüchlichen Zugänge zu Geschlecht und Begehren, wie sie Wolframs Parzival in sechzehn Büchern vorführt. Eigentlich ist, wie Schmid betont, „aus dem Herrschaftsbereich des Grals die geschlechtliche Natur verbannt. Der Gral nimmt nur ungeschlechtliche Wesen auf […]. Wer von Frauen und den Männern zur Prokreation bestimmt ist, wird in die Ferne geschickt. Aus ihren Kindern sollen dem Gralvolk neue Mitglieder erwachsen […]. Während die Frauen der Familie auf offiziellem Wege vermählt werden (vgl. Herzeloyde-Castis, Schoysiane-Kyot), müssen die Männer ihre Herkunft verheimlichen (vgl. Loherangrin).“6
Obwohl Geschlechtlichkeit und Fortpflanzung aus der Gralsgesellschaft verbannt sind, werden sie dennoch oder gerade deswegen zum Thema. Jede Lebens- und Liebesgeschichte der Mitglieder der Gralsfamilie, die Wolframs Gralsroman erzählt hat – jedenfalls bis Parzivals Antritt der Gralsherrschaft – Potential, traditionelle Geschlechterordnungen und heteronormative Begehrensstrukturen aufzubrechen. Selbst die Beziehungen, die die weiblichen Mitglieder der Gralsfamilie eingehen und die auf den ersten Blick heterosozial erscheinen, stimmen in ihrer an Wahnsinn grenzenden Intensität nicht mit der heteronormativen Ordnung überein. Die Begehrensstrukturen und Geschlechtsidentitäten der männlichen Mitglieder der Gralsfamilie sind viel offensichtlicher abweichend angelegt, hier finden sich von der Entmannung bis hin zur Enthaltsamkeit zahlreiche Anknüpfungspunkte für queere Interpretationen. Zu Anfortas’ Zeiten ist die Gralssphäre noch ein utopischer Raum,7 doch bereits mit Parzivals Einsetzung als Gralskönig wird die heteronormative Ordnung wieder hergestellt, in der Begehren ausschließlich in der Ehe kanalisiert ist.
6
Schmid (1986), S. 203.
7
Vgl. hierzu Homi Bhabas Theorie des dritten Raums, der „die Möglichkeit einer kulturellen Hybridität, in der es einen Platz für Differenz ohne eine übernommene und verordnete Hierarchie“ bietet (Bhaba, Homi K.: Die Verortung der Kultur. Tübingen 2000, S. 5). Zur Idee der Verbindung von Bhabas Theorie und queeren Räumen vgl. Malle, Julia: „Text und Begehren. Zu Andreas Kraß’ Verständnis von Queer Reading.“ In: Babka, Anna/Hochreiter, Susanne (Hg.): Queer Reading in den Philologien. Modelle und Anwendungen. Wien 2008, S. 47-49, hier S. 49; vgl. zum besseren Verständnis auch Kraß, Andreas: „Carmouflage und Queer Reading. Methodologische Überlegungen am Beispiel von Hans Christian Andersens Märchen Die kleine Meerjungfrau.“ In: Babka/Hochreiter (2008), S. 29-42.
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4.2 Die Auflösung ins Nichts in der Crône Der End- und Höhepunkt für Gaweins Profilierung als ‚Heldenmaschine‘ ist das Bestehen der Gralsaventiure als wahrer ‚Krone‘ aller Taten. Im Gegensatz zu Wolfram, bei dem das Gralsabenteuer einen heilsgeschichtlichen Aspekt hat und dadurch überhöht wird, ist Heinrichs Gralsepisode innerweltlich und ohne speziell religiöse Implikation. 8 Die Reise, die der Gralssucher zu bestehen hat, ist nicht einfach. Seit dem Aufbruch vom Artushof und auch nach der Trennung von seinen Gefährten bringt die Suche Gawein grôzen kumber (v. 28368). Die Entbehrungen nehmen auch nicht ab, nachdem Gawein bei Manbur die entscheidenden Ratschläge für den Gralsbesuch erhalten hat. Nach der Einkehr bei der Göttin gelangt er in ein verödetes Land, durch das er sechs Tage lang irrt. Er nimmt keine Nahrung zu sich und wird Zeuge der Geschehnisse der dritten Wunderkette. Noch immer ist er auf dem richtigen Weg zum Gral: gein Illes zuo der rîchen habe / kêrte er do sunder twâl / dâ im der viel edel grâl / gezeiget was ze vinden (v. 28613ff.). Nach der dritten Wunderkette zieht der Gralssucher monatelang orientierungslos umher. Schließlich gelangt er an einen Ort, der keine Wünsche offen lässt: ein irdisches Paradies (vgl.: irdeschez paradîs, v. 28966), wo er sich von seinen Schmerzen erholen kann. Schon am Artushof wurde die Gralsreise des Ritters mit dem Ziegenbock als entbehrungsreich dargestellt, so wird sie auch vom Herrn der Gralsburg charakterisiert.9 Doch der Vorzeige-Held Gawein und seine Gefährten beweisen Standhaftigkeit. Wie Wolframs Parzival betont auch die Crône, dass der Gral nicht zu erstreiten und durch Kampf zu erringen sei. Die Gralssuche verlangt das Erleiden von kumber, doch wird dieser im Unterschied zu Wolframs Roman nicht näher definiert. Das Leiden der Gralssucher bleibt, wie Stein hervorhebt, auf einer oberflächlichen Ebene: „Insgesamt zielt Heinrichs Darstellung der Gralfahrt nicht in auffallender Weise darauf ab, die Beschwerlichkeiten der Reise und die Tüchtigkeit, die die Ritter hierbei unter Beweis stellen, als außergewöhnlich hervorzuheben.“10 Die Schilderung selbst geht im ständigen Wechsel zwischen Entbehrung und Erholung nicht in die Tiefe, das zeigt sich auch daran, dass nicht allein der Gralsheld leidet. Es wird kein
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Vgl. Stein (2000), S. 179. Die Entsakralisierung des Grals und das Fehlen einer alternativen Gralsgesellschaft betonen auch Ebenbauer (1981), S. 40; Buschinger (1981), S. 27; Meyer (1994), S. 161f.
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Vgl. in dem Bezug, dass der Ritter mit dem Ziegenbock die Gralssuche als engestlîche reise (v. 24890) bezeichnet; zudem charakterisiert der Gralsherr diese rückblickend als voller vreisenrîche arebeit (v. 29475). Vgl. auch Stein (2000), S. 178.
10 Stein, S. 178f. und vgl. dazu auch Schröder in Bezug auf Gaweins Gralssuche: „Der Aufwand an Anstrengung und Leistung war eher geringer als bei früheren aventiuren“ (Schröder (1992), S. 170).
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Unterschied zwischen seinem und dem Kummer seiner Gefährten gemacht. Kalocreant, Keii und Lanzelet müssen ebenso Entbehrungen erleiden (v. 29103ff.). Nachdem Gawein die dritte Wunderkette hinter sich gebracht hat gelangt er zum zweiten Mal auf die Gralsburg. Dies erinnert an den ersten Gralsbesuch, der ebenfalls nach einer Abenteuerreise erfolgte. Gaweins Frageversäumnis beim ersten Besuch ist – im Unterschied zu Wolframs Parzival – ohne Folgen geblieben. Niemand hat ihm vorgeworfen, dass er die Gralserlösung versäumt habe, und es ist nicht sein Schicksal als Gralssucher jahrelang umherzuirren.11 Gawein erhält nach seinem ersten Besuch der Gralsburg von Angaras den Auftrag, den Gral zu suchen, und erledigt diese Aufgabe trotz aller Widrigkeiten zielstrebig und erfolgreich. Gawein wird somit als der einzige und wahre Held aller Abenteuer einschließlich der Gralserlösung inszeniert. Zumeist wird er gegenüber dem erfolglosen Parzival glorreich hervorgehoben, als wahrer Gralssucher übertrumpft und diskreditiert er die aus Wolframs Roman bekanntere Erlöserfigur. Die beiden ersten Besuche der Gralssucher verlaufen in der Crône und im Parzival beinahe parallel ab: Beide Helden gelangen auf die Gralsburg, erleben dort geheimnisvolle Dinge und fragen nicht nach deren Gründen. Parzival fragt nicht, weil er sich an Gurnemanz ތLehren erinnert. Zudem glaubt er, dass sich das Rätsel von allein aufklären werde (vgl. Parzival, v. 239,11-17). Gawein hingegen nimmt sich vor, nach den Zusammenhängen zu fragen, zögert jedoch so lange, bis es zu spät ist (Crône, v. 14795ff. oder 14808ff.). Er erkennt sein Versäumnis im Nachhinein und befürchtet, dass es für ihn Folgen haben könnte (vgl. v. 14903). Aber es passiert nichts dergleichen: Gawan bleibt weiterhin auf der Erfolgskurs. Sein Versäumnis beim ersten Gralsbesuch passt nicht recht dazu, dass er Parzival überflügelt. Parzival ist mit seinem Versäumnis gebrandmarkt, weswegen er kein Recht hat, die Nähe des Grals zu suchen und Gawein auf der Suche zu begleiten (vgl. 25920-43).12 Warum wird Gawein wiederholt über Parzival gestellt, wenn er selbst versagt hat? Diese Frage wird in der Forschung kontrovers diskutiert. Für die einen will Heinrich eine Entwicklung seines Helden aufzeigen, die von seinen ersten Abenteuern als Artusritter über das Bezwingen seiner ständigen Feindin Giramphiel und das Bestehen der Wunderketten bis hin zum höchsten aller Abenteuer reicht.13 Dem entgegen meinen andere, 11 Es werden zwar immer wieder Episoden dazwischengeschoben, in denen Gawein passiv oder zeitweise orientierungslos ist (wie beispielsweise in den Wunderketten), doch diese sind abgeschlossen und nicht so lang wie das fünfjährige Suchen von Parzival. 12 Auch später nach der Erlösung der Bewohner der Gralsburg feiert der Burgherr Gaweins Erfolg mit Hinweis auf Parzivals Versagen (vgl. v. 29484ff.). Vom ersten Besuch Gaweins spricht im Gegensatz dazu keiner mehr. 13 Jillings geht von einer Entwicklung des Helden aus (vgl. Jillings (1980), S. 129); Buschinger sieht eine andere Facette, nämlich, dass Gawein beim ersten Besuch auf der Gralsburg noch nicht von der „Frau Sælde beschützt“ sei (vgl. Buschinger (1981), S. 16).
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dass sich der Bruch nicht in das Gesamtbild des sonst strahlenden Helden einfügen lasse – die weiße Weste des erfolgreichen Gralssucher Gaweins sei und bleibe befleckt.14 Der Widerspruch löst sich auf, wenn man die Geschlechterverhältnisse in den Blick nimmt. Der strahlende Held nähert sich dem Gral nicht aus eigener Kraft, sondern mit Hilfe magischer Personen oder – zumeist– weiblicher Helferfiguren. Gawein ist nicht aus eigener Initiative Held der Gralssphäre, sondern wird durch äußeren Beistand dazu gemacht. Der Held ist auf Unterstützung angewiesen, ohne die er scheitern müsste. Der zweite Besuch verläuft anders als der erste. Gawein wird zunächst mit zwei seiner Gefährten, Lanzelet und Kalocreant, wieder vereint (vgl. v. 2997ff.). Keii dagegen sucht allein in Illes nach dem Gral, wo er sich den Geschichten nach befindet. Sein Versuch, den Gral zu erringen, ist demjenigen Gaweins vorgeschoben. Doch Keii gelingt es nicht, Männer und Frauen aus ihrem Kummer zu erlösen: lœsen vil manegen lîp, / beidiu man unde wîp, / die mit nôt wærn gevangen (v. 29018ff.). Unter welchem Kummer die Menschen leiden, geht aus der Schilderung nicht hervor. Doch wird deutlich, dass das Motiv des Leidens nicht nur auf der Gralssuche, sondern auch in der zu erlösenden Gralsgesellschaft selbst virulent und somit eine Haupteigenschaft der Gralsspähre ist. Ferner sticht hervor, dass sowohl Männer als auch Frauen leiden. Ihr Leiden ist zwar unterschiedlich, verweist aber erneut auf die Verschränkung von Geschlecht und Gral. Dass Frauen eine besondere Rolle in der Gralssphäre spielen, zeigt die Geschichte Keiis in einer weiteren Hinsicht. Der Held, der an der Aufgabe gescheitert und in Gefangenschaft geraten ist (vgl. v. 29021 und v. 29060), kann nur mit weiblicher Hilfe befreit werden. Die Frauen schließen ihn in ihre Gebete ein und bewirken so seine Befreiung: nu ist Keiî missegangen, / sô daz er ist gevangen, / und mohte nimmer wider komen, / heten in die vrouwen niht genomen / in ir gebet hin ze got (v. 29060ff.). Auch für Gawein und seine Gefährten geht es in Richtung Gral. Die nächsten Schritte bis zum Ziel vollziehen sich im Zeitraffer.15 Gemeinsam treffen die drei Ritter auf einen fremden Reiter, der sie herzlich begrüßt und einlädt, ihm auf die Burg seines Herrn zu folgen. Dort angekommen, werden Gawein und seine Gefähr14 Für Stein lässt sich keine Entwicklung des Helden im Text finden bzw. dieser liefert keine plausible Begründung für die unterschiedliche Bewertung der beiden Helden (Stein (2000), S. 183). Schröder will diese Unebenheiten im Text gar nicht glätten, sondern lastet dies Heinrich als epigonale Fehlleistung an (Schröder (1992), S. 166-69). Meyer erklärt die Widersprüche, indem er die erste Gralsepisode in den Bereich der Träume überführt. (vgl. Meyer (1994), S. 120-124), aber auch diese Interpretation stützt sich kaum auf Textstellen (dies gibt Meyer selbst zu, vgl. ebd., S. 121). 15 Die ‚Krone‘ der Abenteuer, die Erlösung des Grals, beschränkt sich auf 573 Verse (v. 29097-29660) in einem Buch mit 30.041 Versen. Dass sich die Ereignisse bei der Auflösung der Gralssuche beinahe überschlagen, ist bereits aus dem Parzival bekannt.
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ten zuerst vom Gefolge des Burgherrn (vgl. v. 29173ff.) und danach vom Gastgeber selbst (vgl. v. 29239ff.) willkommen geheißen und zum Essen eingeladen. Das Leuchten unzähliger Kerzen und die aufgetragenen Speisen schaffen eine Atmosphäre, die an andere Schilderungen der Gralsprozession erinnert. Auch in Gawein regt sich der Verdacht, dass etwas nicht mit rechten Dingen zugehe, als ein junger Mann ein Schwert hereinträgt und vor dem Burgherren niederlegt. Der Held wundert sich über dieses Ritual: Gâwein ditze mære, / und waz diu geschiht wære, / began mit alle bedenken (v. 29313ff.). Das Zögern des Ritters gipfelt darin, dass er weder isst noch trinkt, während Lanzelet und Kalocreant ihren Durst löschen und einschlafen (vgl. v. 29326f. bzw. v. 29151f.). Gawein hingegen hält sich an Manburs Anweisungen: Er schläft nicht ein16 und wird im Unterschied zu seinen Gefährten Zeuge der Gralsprozession. Diese verfolgt er aufmerksam, und als er schließlich auch noch Manbur als die Gralsträgerin erkennt, denkt er an ihre Ratschläge und stellt die erlösende Frage nach dem Gral. 17 In der hier angegebenen Gralsprozession finden sich das von Wolfram (und dem ersten Gralsbesuch der Crône) bekannte Inventar sowie die bekannten Protagonisten, nämlich Jungfrauen, die Kerzenhalter oder Leuchter tragen, und Junker, die Speere oder Schüsseln und Platten (tobliere, v. 29367) tragen: kam dar in den sal gegân zwô juncvrouwen wol getân: Die truogen zwei kerzestal: […] zwên juncherren giengen, die under in beviengen, dêswâr, ein viel kluoc sper. nâch den giengen aber her zwô ander juncvrouwen: die wâren wol erbouwen an lîbe und an gewande sunder aller schande mit rîcher geziere; 16 Wie bereits beschrieben, ist es beim Bestehen der Abenteuer in der Crône wichtig nicht einzuschlafen. „Mit der Schlafproblematik war Gawein ja bei den Blumen der Giremelanz und im Felsenloch gut fertig geworden […], er ist also für die Gralsaventiure bestimmt, das glückliche Ende ist somit in der Bedingung implizit“ (Mertens (1998), S. 201). 17 Vgl. zu Manburs Anweisungen v. 29400ff.: Gawein trinkt nichts auf der Gralsburg, denn durch den Trank würde er einschlafen und dadurch die Prozession sowie den richtigen Moment, die Frage zu stellen, verschlafen.
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von golde ein tobliere und von edelem gesteine truogen sie gemeine vor in in einem sigelât. (v. 29352ff.)
Statt Repanse de Schoye zeigt sich in der Crône Manbur, die etwas trägt, was aussieht wie ein Reliquienbehälter (kefse, v. 29385f.) und an den Gral mit der darin enthaltenen Hostie des Parzival erinnert: nâch disen vil lîse trat diu schœnste vrouwe, […] diu hât vür sich genomen in einem tiuren plîalt ein kleinôt, daz was gestalt als ein rôst von golde rôt: dar ûf ein ander kleinôt waz gestalt unde gemachet, dêswâr, daz niht swachet: gestein was ez und goldes rîch; einer kefsen was ez glîch, diu ûf einem alter stêt. […] Gâwein betrouc niht sîn sin: vil wol er sie kante: sîn herze in des mante, daz ez diu vrouwe wære, diu ime vor hin diu mære von dem grâle hâte geseit, und ermant, daz er wære bereit der vrâge, wâ geschæhe, daz er sie ersæhe und diese vünf mit ir. (v. 29371ff.)
Die Prozession zieht rund um den altherre, den Burgherren und Gralskönig. Dieser empfängt drei Blutstropfen (vgl. v. 29419), die aus der Lanze hervorquillen, und nimmt ein Stück Brot aus dem Reliquienbehälter zu sich. Nach dieser eucharistischen Handlung zögert Gawein nicht länger und stellt die erlösende Frage nach dem Wunder, dessen Zeuge er geworden ist:
282 | DIE MITTELALTERLICHEN GRALSROMANE tuont mir daz durch got bekant, herre, und durch sîn magenkraft, waz disiu grôz hêrschaft und daz wunder bediuhte (v. 29434-37).
Dies löst allgemeinen Freudentaumel unter der Burggesellschaft aus (vgl. v. 29438ff.) und der Burgherr klärt den Fragenden auf: Der Gral sei ein geheimnisvolles Wunder Gottes.18 Bevor er zu seiner Erklärung ansetzt, schickt er jedoch voraus, dass Gawein den Gral soeben gesehen (vgl. v. 29469) und ihn sein vorheriges Leiden zum Gral geführt habe. Zudem werde der Gralserlöser nicht mehr über den Gral erfahren als das, was er bereits gesehen habe (v. 29476ff.): ditz gotes wunder […] ez muoz wesen tougen: […] ez ist der grâl, den du sihest umb die arbeit dû geschihest […] von dem grâl wirt dir niht mê geseit wan als du hâst gesehen und sô vil, daz geschehen (v. 29463ff.).19
Innerhalb weniger Verse werden zentrale Merkmale der Gralssphäre deutlich. Erstens bestätigt sich, dass alle Abenteuer Gaweins im zweiten Teil der Crône – einschließlich der drei Wunderketten, des Auftretens der weiblichen Helferfiguren und der Hilfestellungen von Gansguoter – zugunsten des Grals geschehen sind. Die Gralsepisode ist somit Ziel und Höhepunkt von Gaweins bisherigen Taten und die Schwellenepisoden der Wunderketten sowie die Begegnungen mit den Helferfiguren sind dem Gral zuzuordnen: unde wizze daz vür wâr, / swaz du âventiure hâst gesehen, / daz si von dem grâle sint geschehen (v. 29549-29551). Zweitens rekurriert die Erklärung der Herkunft des Gralsgeheimnisses auf Parzival und sein Versäumnis. Der Mord, den Parzivals Onkel an seinem Bruder beging, brachte einen Fluch über das ganze Geschlecht (vgl. v. 29484ff.). Somit wird die Erklärung des Leidens, das der Gralssphäre inhärent ist, ein weiteres Mal mit der Motivation verknüpft, Gawein gegen den anderen Gralssucher zu stellen. Ringerler führt aus:
18 Im Text heißt es, der Gral sei von geheimnisvoller Art. Vgl.: wesen tougen (v. 20465). 19 Diese Worte, es werde nichts Weiteres über den Gral gesagt, spricht der Burgherr zwar gegenüber Gawein aus, gibt diesem dann im Anschluss aber doch noch eine erläuternde Erklärung über den Gral.
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„Die zeitliche Sukzession des Parzival wird an der Strukturstelle der ‚Krise‘ ‚angehalten‘, der Wolframsche Protagonist wird in die Crône integriert, um ihn als Brudermörder und Feigling vor dem Gral zu interpretieren. […]. Die Manipulation der Literaturtradition setzt an die Stelle des gescheiterten Parzival den eigenen fehler- und krisenlosen Protagonisten.“20
An dieser Stelle muss erneut betont werden, dass der Held Gawein tatsächlich krisen- und fehlerlos ist, aber ebenso identitätslos. Auch in der Gralsszene stellt er erneut seine Männlichkeit nicht unter Beweis, sondern führt aus, was ihm aufgetragen wurde. Die gesamte Gralsidee der Crône unterscheidet sich grundsätzlich von derjenigen des Parzival. Der Gralsherr verrät Gawein, was Parzivals Verfehlung Gaweins Gewinn sei. Die Gralsgesellschaft ist verflucht. Alle männlichen Mitglieder einschließlich des Burgherren sind tot, nur die weiblichen sind noch lebendig: ich bin tôt, swie ich niht tôt schîn; / unde daz gesinde mîn / daz ist ouch tôt mit mir / […] wan diese vrouwen sint niht tôt (v. 29532ff.). Gaweins Erlösungstat gestaltet sich laut dem Gralsherren derart, dass er die untoten Männer zum Tode hin befreit und die Frauen aus ihrer misslichen Lage errettet habe. Der Gral, das Geheimnis Gottes (vgl.: gotelîche tougen, v. 29596), so erklärt der Burgherr weiter, wird ihm einmal im Jahr vorgeführt, damit er und sein Gefolge sich daran laben können (vgl. v. 29547). Gemeint ist das Trinken von Blut und es erinnert auch beim zweiten rituellen Verzehr an das eucharistische Ritual. Im Weiteren weist der Burgherr Gawein darauf hin, dass dieser seine Suche nun beendet habe. Gaweins Konflikt mit Angaras sei nun, da die Suche innerhalb der vorgegebenen Frist erfolgreich abgeschlossen sei, gelöst. Doch mehr werde nicht über den Gral bekannt und niemand solle jemals wieder das Geheimnis in seiner Gänze erfahren (vgl. v. 29597ff.). Damit beendet der Burgherr das Gespräch und verschwindet mit dem Gral und seinem Gefolge vor den Augen des Ritters (vgl. v. 29606f.). Da der Gral am Ende der Gralserlösung verschwindet, ist es nicht Gaweins Aufgabe, die Nachfolge des ehemaligen Gralsherrn anzutreten. Sein Verdienst liegt in der Ehre, das göttliche Geheimnis gesehen zu haben.21 Das Geheimnis selbst wird ihm nicht offenbart: von dem grâl wirt dir niht mê geseit, / wan als du hâst gesehen (v. 29476f.). Im Gegensatz zur Definition des Grals als Stein oder Ding in Wolframs Parzival bleibt die Erscheinungsform des Grals in der Crône im Dunkeln, und es ist eines der größten Verdienste Heinrichs, eine ganz eigene Grals-
20 Ringeler (2000), S. 260f. 21 Vgl. dazu: „Dem Sehen-Dürfen geht das Sehen-Müssen voraus, das besondere Aufmerksamkeit erfordert, damit Gawein seinen Einsatz nicht versitzt (vgl. 28.485 und 29.432f.)“ (Ringeler (2000), S. 261).
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szene und Gralsversion geschaffen zu haben.22 Dies ist seine kreative Leistung. Der Gral kann diverse materielle Erscheinungen annehmen – als Schüssel (v. 29367: tobliere), als Kapsel (v. 29385: kefsen) oder als Speer, der den altherre mit dem aus ihm hervorquellenden Blut speist (v. 29418-21). Obwohl Schüssel oder Kapsel weiblich konnotierte Symbole sind, der Speer hingegen als Phallus lesbar ist, kann der Gral das eine oder andere oder auch beides sein. Somit bleibt er in der Crône wortwörtlich ein Geheimnis Gottes (u.a. v. 29465, 29583: tougen) und zwar für die Ewigkeit, da er am Ende verschwindet und somit nicht mehr ergründbar ist.23 Das Geheimnis der Gralssphäre erstreckt sich auch auf die Geschlechterverhältnisse und Begehrensstrukturen in der Gralssphäre. Diese werden wie im Parzival unter Einfluss des Grals teilweise uneindeutig, um am Ende wieder in Normative zurück geführt zu werden. Die weiblichen Mitglieder der Gralsgesellschaft, wie sie die Crône schildert, sind nun von ihrem Dienst am Gral befreit und bleiben zurück, nachdem der Gral, der Gralsherr und dessen männliches Gefolge verschwunden sind (vgl. v. 29610f.). Das Scheinleben der toten Männer, an deren Seite die Frauen gezwungenermaßen leben müssen, und deren Herr, der sich einzig an Blut ergötzt, ruft Unbehagen hervor. Die Gralssphäre mit Blut und Tod rückt in ein schillerndes Licht.24 Nach Gaweins Gralserlösung lösen sich diese Widersprüchlichkeiten auf. Die Männer gehen in den ersehnten Tod, die Frauen kehren zurück an den Artushof. Die Gralssphäre findet ihr Ende und das normativ gültige Lebenskonzept bleibt nur im Artusbereich lebbar. Einen alternativen Lebensbereich wie im Parzival gibt es in der Crône nicht. Da die Hierarchien verlagert werden, ist die Möglichkeit einer homosozialen Nebengesellschaft verschwunden.25 Die Ambivalenz der Geschlechtsidentität des männlichen Protagonisten und seine ständige Hilfsbedürftigkeit lösen 22 Vgl. dazu Heller (1942) S. 81: „Having observed the poet’s method through nearly thirty thousand lines, we are inclined to give him credit for having created his final grail scene independently.“ Hellers Argumentation hinkt dahingehend, dass Heinrich die Gralsszene ‚selbst erfunden‘ habe, denn er hat einige Motive von der ersten Fortsetzung des Perceval sowie aus dem Wolframschen Parzival übernommen. (Vgl. zum ersten Mal bei Golther, Wolgang: Parzival und der Gral in der Dichtung des Mittelalters und der Neuzeit, Stuttgart 1925, S. 228; ebenso: Reinitzer, Heimo: „Zur Erzählfunktion der Crône Heinrichs von dem Türlin. Über literarische Exempelfiguren.“ In: Ebenbauer, Alfred et al. (Hg.): Österreichische Literatur zur Zeit der Babenberger. Wien 1977, S. 177-196, hier, S. 191; Cormeau (1977), S. 196ff.; Thomas (2002), S. 86; Vollmann (2008), S. 106. 23 Vgl. dazu auch das folgende Kapitel III der vorliegenden Arbeit. Auch Keller betont die eigene Lösung der Gralsthematik von Heinrich, vgl. Keller (1997), S. 429. 24 Vgl. Butler (1991). 25 Das Bild einer nicht normativen Alternativgesellschaft, wie es im Parzival mit der Generation der Frimutel-Kinder inszeniert wird, wird am Ende durch Parzivals Gralskönigtum nicht weitergeführt.
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sich mit dem Gral und dem männlichen Teil der Gralsgesellschaft ins Nichts auf. Bevor dies geschieht, erreicht die weibliche Einflussnahme ihren Höhepunkt: Der Gralsritter erlöst sich selbst von der schwierigen Frage seiner Identitätsstabilisierung, indem er die Gralsgemeinschaft befreit. Dabei ist er auf die strikte Einhaltung der von Manbur empfangenen Anweisungen angewiesen. Die Instruktionen der Göttin reduzieren Gaweins große Tat auf eine „Erlösungsmechanik“26 ohne Verdienst des Helden und bestätigen seine Reduktion auf eine ritterliche Hülle. Fast scheint es, als würde die Crône es darauf anlegen, den Erfolg der Gralssuche von weiblicher Hilfe abhängig zu machen. Gawein hätte auch beim zweiten Besuch auf der Gralsburg nicht gefragt, wenn er sich nicht an die Anweisungen Manburs erinnert hätte (vgl. v. 29402f.). Die Forschung ist sich nicht einig, ob Manburs Anweisungen eine reine Formalie sind oder ob Gawein sie infolge seines bereits unter Beweis gestellten Auserwähltseins erhält.27 Konstruiert man den umgekehrten Fall, dass Gawein ohne Instruktionen auf die Gralsburg gekommen wäre, hätte er wohl aufgrund seiner Passivität die alles entscheidende Frage nach dem Gral nicht gestellt. Doch ist auch Manburs Einflussnahme, die sich entscheidend auf Gaweins Männlichkeit auswirkt, mit dem Untergang der Gralssphäre und der Rückkehr an den Artushof abgeschlossen. Der Held kann sich nun wieder als Mann und Ritter gerieren, die heteronormative Ordnung ist wieder hergestellt: „Ende gut, alles ‚ganz gut‘.“28 4.3 Die Entrückung in den Orient im Prosa-Lancelot Im Prosa-Lancelot setzt der engelsgleiche Held Galaad seine Gralssuche fort. Nachdem mit Parcevals Schwester ein Mitglied seiner Entourage gestorben ist, begegnet er ein letztes Mal seinem Vater Lancelot. Dieser besteigt auf Gottes Geheiß ein Schiff (vgl. PL V, 478,16f.), auf dem er die einbalsamierte Leiche von Parcevals Schwester vorfindet. Bei der Toten entdeckt Lancelot einen Brief, der vom Leben und Wirken der Jungfrau, aber auch von seinem Sohn berichtet: ‚Diße jungfrauwe was schwester Parczifals de Gales, und die was allewege und alle zyt ein reyne maget in willen und in wercken. Das ist die die da wehßelte das gehenck von dem fremden schwert das Galaat, Lanczelottes sĤn, yczu dreyt.‘ (PL V, 480,12-16)
26 Vgl. Meyer (1994), S. 162 und auch Stein, der Meyer zustimmt: vgl. Stein (2000), S. 179. 27 Zu der Theorie, dass es eine reine Formalie sei, vgl. beispielsweise Stein (2000), S. 180. Im Gegensatz dazu, sagt Buschinger, dass es ein Zeichen der Erwähltheit des Helden sei, überhaupt von Manbur Anweisungen zu erhalten (vgl. Buschiger (1981), S. 17). 28 Kaminski (2005), S. 247.
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Nachdem Lancelot über einen Monat mit der einbalsamierten Leiche der Jungfrau allein auf dem Schiff verbracht hat, begegnet er am Rande eines Waldes einem anderen Ritter, bei dem es sich um Galaad handelt. Vater und Sohn leben eine Zeit lang gemeinsam auf dem Schiff (vgl. PLV, 488,1ff.), bis Galaad die Nachricht erhält, dass er im Namen Gottes seinen Vater verlassen müsse, um das Abenteuer im Königreich Logres zu bestehen (vgl. PLV 488,21ff.). Dies bedeutet, dass Galaad zum Gral kommen muss. Der Abschied ist endgültig, Vater und Sohn werden sich nicht mehr wiedersehen. Während Galaad dies zunächst nur erahnt, ertönt alsbald eine Stimme aus dem Himmel, die diese Vermutung bestätigt (vgl. PL V, 488,3133). Unter Tränen und Verzweiflungsschreien bittet Lancelot seinen Sohn, ein letztes Mal bei Gott ein gutes Wort für ihn einzulegen, so dass auch er den Gral sehen dürfe. Galaad nimmt ihm jedoch die Hoffnungen (vgl. PL V, 490,3f.) und verlässt ihn.29 Auf seinem Weg nach Logres kehrt Galaad zuerst bei König Mordelas ein, von dessen Krankheit er schon von Parcevals Schwester gehört hat.30 Durch die bloße Präsenz des Gralsuchers geht es dem kranken König schlagartig besser (vgl. PL V, 508,8ff.). Dieser hat das Kommen von Galaad bereits erbeten und erwartet (vgl. PL V, 5104ff.). Der König Mordelas stirbt zwar in den Armen Galaads, aber seine Wunden sind bei seiner Bestattung wie durch ein Wunder geheilt (PL V, 5104ff.). Der Gralssucher vollbringt auf seinem Weg zum Gral weitere Wunder. Nach der Heilung und Erlösung von König Mordelas wandelt er eine heiße Quelle wieder in eine kühle um, die von da an nach ihm benannt ist (vgl. PL V, 510,10-16). Anschließend gelangt Galaad zu dem Kloster, das die Gräber von König Hosselice, dem Sohn Josephs von Arimathäa, und von Symeus beherbergt. Im Gegensatz zu seinem Vater, der am Flammengrab des Symeus scheiterte, lässt Galaad auch hier durch seine bloße Erscheinung die Flammen erlöschen (vgl. PL V, 510,30-33). So befreit Galaad auch seinen Vorfahren Symeus aus dem Flammengrab und erlöst ihn zum Tode hin.31 Bevor Galaad seine letzte Wundertat vollbringt und zum Gral gelangt, besteht er auf seiner fünfjährigen Suche gemeinsam mit seinem Gefährten Parceval alle noch ausstehenden Abenteuer im Königreich Logres (vgl. PL V, 512,30f.). Die beiden Gefährten treffen auch Bohort wieder und so kommen schließlich alle drei vereint auf der Gralsburg Corbenic an. Dort ist die Freude über die Ankunft Galaads groß 29 Wie schon gezeigt wurde, erhält Lancelot noch eine Chance, vor den Gral zu treten, doch aufgrund seiner vergangenen Sünden, ist ihm nur reglementierter Zugang gewährt und am Ende treibt ihn ein Feuersturm aus der Nähe des Kelchs (vgl. PL V, 492,33-496,5). 30 Dem König ist Galaads Kommen und seine damit zusammenhängende Erlösung bekannt. Vgl. PL V,170,9-13. 31 Wie schon beim Parzival und in der Crône wirkt auch im Prosa-Lancelot der letzte Teil der Gralssuche bis hin zur endgültigen Gralserlösung scheinbar beschleunigt.
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und als dieser erneut ein Wunder vollbringt – er fügt die Bruchstücke des Schwertes von Joseph von Arimathäa wieder zusammen (vgl. PL V 516,11ff.) –, ist auch den Bewohnern von Corbenic klar, dass dieser Ritter der Auserwählte sein muss. In der folgenden Nacht wird ein Bett vor den Burgherren, König Pelles, dessen Gefolge und die drei Gralssucher gebracht, in dem der Verwundete König liegt (vgl. PL V, 518,15f.). Auch dieser hat schon lange auf seinen Erlöser Galaad gewartet. Plötzlich ertönt eine Stimme, die alle, die bisher nicht den Gral gesucht haben, aus dem Zimmer verweist. Den drei Gefährten, die allein zurückbleiben, erscheint ein Bischof und vier Engel bringen den Gral (vgl. PL V, 518,35). Beim Bischof handelt es sich um Josephus, den ersten Bischof der Menschheit, der schon seit 300 Jahren tot ist. Auf die Wundererscheinung des Bischofs folgt die Prozession von Engeln, die nacheinander zwei Kerzen, ein Tuch aus rotem Samt und eine blutende Lanze bringen.32 Und die zwen saczten ir kerczen off die tafelen und der dritt die zwehele vor das heilig vaß; und der vierde hielt das spere stracks uber das heilige vaß, also das das blut das wiedder der tale floß das ranne in das heilige vaß (PL V, 520,22-25)
Nachdem Blut von der Lanze in den Gralskelch getropft ist, bedeckt Josephus diesen mit einem roten Tuch und vollzieht die heilige Messe. Er nimmt eine Hostie aus dem bedeckten Gral. Kaum hat er sie zum Himmel erhoben, erscheint die Gestalt eines Kindes. Das Kind fährt in die Hostie und das Brot erhält auf wundersame Weise eine menschliche Form. Das Messwunder und die Erscheinung des Grals sind schon Teil des Geheimnisses, wie Josephus Galaad und seinen Gefährten mitteilt. Als die Messe beendet ist, bittet Josephus die drei Gralssucher, sich an eine Tafel zu setzen. Es erscheint ein nackter Mann mit blutigem Leib, blutverschmierten Händen und Füßen (vgl. PL V, 522,15f.). Er lädt die Gralssucher zum Lohn für ihre Bemühungen, ihre Keuschheit und ihre Treue gegenüber Gott ein, an der Tafel zu speisen und einen Teil des Gralsgeheimnisses zu erfahren (vgl. PL V, 522,1822). Der nackte Mann legt Galaad und seinen zwei Gefährten jeweils ein Stück der Hostie aus dem Gral in den Mund. Nachdem die Gralssucher die Speise empfangen haben, erklärt der nackte Mann, dass es sich bei dem Kelch um den Abendmahlskelch handele und dass er der Gral sei: Es ist die schußel daruß das Jhesus aß das lamp off den grúnen donrstag mit synen jungern. Das ist die schúßel die da hat gedienet allen den zu danck die da sint gewest in mynem dinst. Diß ist die schússel die nye keyn gleubig man gesah, sie dynte im zu danck. Und darumb das sie hett gedienet allen lúten, so sol sie billich geheißen syn der Heylig Grale. (PL V, 524,713) 32 Auch bei dieser Zeremonie trifft man auf das altbekannte Inventar des Gralsrituals.
288 | DIE MITTELALTERLICHEN GRALSROMANE
Die bisher geschehenen Wunder sind nur ein Teil des Gralsgeheimnisses. Alles Weitere kann Galaad erst im Palast von Sarras erfahren, wohin er den heiligen Gral begleiten soll (vgl. PL V, 524,14ff.). Der Gral verlässt das Königreich Logres, weil ihn dort niemand genug achtet. Der nackte Mann befiehlt Galaad, ausschließlich Parceval und Bohort auf seiner Fahrt mitzunehmen. Bevor Galaad aufbricht, heilt er mit dem Blut aus der Lanze den Verwundeten König, Mahagine. Er bestreicht die Beine des Königs mit dem Blut und dieser wird gesund: Und Galaat […] nam des blĤtes und kam zu dem konig und bestreych im die beyn da er durch gestochen was. Und da det er sich zuhant und sprang von dem bette gesunt und biederbe (PL V, 526,10ff.). Nach diesem letzten Wunder brechen Galaad und seine zwei Gefährten mit dem Gral in Richtung Sarras auf. Auf der Überfahrt dorthin äußert der Gralserlöser den Wunsch zu sterben, sobald er das ganze Geheimnis des Grals gesehen habe, weil ihn dann auf der Erde nichts mehr halte (vgl. PL V, 530,5ff.; 530,17ff.; 530,35f.). Mit dem Schauen des Grals erlebt Galaad seine höchste Freude. Ein größeres Begehren, eine größere Wollust gibt es nicht für ihn: in dem das ich gesah diße ding, die keynes menschen hercz mocht erdencken, da was myn hercz in solcher begirde (PL V, 530,21f.) bzw. und darumb das ich gesah das ich noch in als groß wollust und freude sol komen oder in viel größer dann ich were, darumb so thun ich diß gebet (PL 530,29f.).33 An dieser Stelle bestätigt sich, dass Galaad nicht in einem heteronormativen Sinne begehrt. Sein Begehren gilt einzig und allein dem Finden und Sehen des Grals und der Entdeckung seines Geheimnisses. Als die drei Gefährten Sarras erreichen, ist das Schiff mit der einbalsamierten Leiche von Parcevals Schwester schon angekommen (vgl. PL V, 532,22ff.) und die Gralsgefährt_innen sind wieder vereint. Galaad, Bohort und Parceval tragen die Tafel, auf der der Gral steht, vom Schiff. Danach bestatten sie ihre tote Freundin gebührend. Der heidnische König von Sarras glaubt den Gralsbegleitern nicht, als sie ihm von allem Geschehenen berichten, und lässt sie als Verräter gefangen nehmen. Nach einem Jahr Gefangenschaft wünscht sich Galaad von Gott, endlich von seinem irdischen Leben befreit zu werden (vgl. PL V, 534,31-33). Der König von Sarras, der inzwischen aufgrund einer Krankheit geläutert ist, sieht seinen Irrtum ein und entlässt seine Gefangenen. Nach dem Tod des Königs wird Galaad vom Volk von Sarras zum neuen Herrscher gekrönt. Schon ein Jahr nach seiner Ernennung wird Galaad vollständig über das Gralsgeheimnis aufgeklärt (vgl. PL V, 536,27ff.). Galaad tritt an den Kelch heran und schaut das Mysterium. Nachdem sein größtes Begehren erfüllt ist,34 stellt Galaad fest, dass für ihn nichts Größeres mehr kommen kann. Er äußert erneut den Wunsch in der himmlischen Gesellschaft leben zu dürfen: 33 Vgl. im Folgenden auch PL V, 536,33f.; 538,1-6. 34 Vgl. dazu: Herre, ich dancken dir das du mir hast erfúllet myn begirde… (PL V, 536,33f.).
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Und die wyle so es also ist, lieber vatter von hymmelrich, das ir mir hant erfullet myn begirde, darumb so gebent mir des ich allewegen begeret han. Nu bitten ich uch das ir mich in dem pont und in der freuden, da ich yczu inne bin, wollent nehmen von dießem irdenischen leben und wollent mich furen in die hymmelischen gesellschafft. (PL V, 538,1-6)
Nachdem Galaad sich von seinen Gefährten verabschiedet hat, kniet er nieder und stirbt (vgl. PL V, 538,23ff.). Kurz danach erscheint eine Hand am Himmel und ergreift den Gral, um ihn emporzuheben und den Menschen zu entziehen (vgl. PL V, 538,28-34). Bohort und Parceval bleiben allein zurück und bestatten Galaad. Danach trennen sich auch ihre Wege. Während Parceval ein geistliches Leben wählt und nach zwei Jahren in seiner Klause stirbt (vgl. PL V, 540,9f.), kehrt Bohort an den Hof von König Artus zurück, um dort vom Abenteuer der Gralssuche zu berichten (vgl. PL V, 540,16ff.). Der Prosa-Lancelot zeichnet sich durch die Ablehnung jeglichen heteronormativen Begehrens aus. In der Schilderung der Gralsgesellschaft sowie in der Auflösung des Gralsgeheimnisses am Ende der Suche wird deutlich, dass sich der engelsgleiche Galaad dem Prototyp des jungfräulichen Gralserlösers entspricht. Durch seine lebenslange Ablehnung sexuellen Begehrens beendet er die eigene Genealogie. Zugleich betont er die homosoziale Dimension der Gralssuche, indem er Bindungen zu Frauen ablehnt. So schreibt auch Meyer, dass „Galaad, der Gralsheld [ist], der jegliche Form von Begehren ablehnt; denn als Adliger, der sich nicht fortpflanzt, zerreißt er das Netzwerk von Einfluss, Reichtum und Macht, das durch die Genealogie aufgestellt wird, und er verweigert sich Frauenbeziehungen, die homosoziale Beziehungen konterkarieren und definieren…“35
Wie Gaalad verweigert sich auch Lancelot der Genealogie und Fortpflanzung:36 Die Zeugung seines Sohnes verläuft hinter seinem Rücken ab, wissentlich ist er einzig der Königin treu und beharrt ihr gegenüber auf „sexuelle[r] wie emotionale[r] Exklusivität“.37 Galaads Begehren ist jedoch anders gelagert: Lancelots Sohn bleibt bis zum Schluss der Ritter, der nicht begehrt, das enthaltsame und in jeder Hinsicht queere Subjekt.38 Sein Begehren beschränkt sich auf das eine Ziel, den Gral zu finden und mit dem Wissen um dessen Geheimnis zu sterben. Während Lancelot, der Vater, geschlechtliches Begehren auslebt und den Gral deshalb nicht erringen kann, hegt sein Sohn, der erfolgreiche Gralserlöser, ein geistliches Begehren, das sich allein auf den Gral konzentriert. In der letzten Konsequenz zeigt der Tod des Gralssu35 Meyer (2008), S. 206. 36 Meyer (2008), S. 207. 37 Meyer (2008), S. 207. 38 Vgl. hierzu auch Meyer (2009), S. 209 bzw. McCracken (2001).
290 | DIE MITTELALTERLICHEN GRALSROMANE
chers, dass die Erfüllung des Begehrens im Prosa-Lancelot früher oder später in Tod oder Zerstörung führt. 4.4 Die Geschlechter- und Begehrensstrukturen Die Gattung des mittelalterlichen Gralromans setzt hinsichtlich der Inszenierung von Geschlechterverhältnissen und Begehrensstrukturen eigene Akzente. Die Männer und Frauen in der Gralsgesellschaft erfüllen festgelegte Rollen. So lässt sich der Gral, dem weiblich konnotierte Funktionen wie Speisewunder und Lebensspende zugeschrieben werden, vielfach nur von Frauen tragen. Gleichwohl ist die Gesellschaft, die sich um den Gral formt, ein exklusiver Männerbund. Die Gralssucher und Gralskönige sind in den mittelalterlichen Gralsromanen stets männlich. Klosowska betont: „(T)he essential feature of Christian symbolic genealogy: its exclusive masculinity. It is, I believe, the key to the versatility of Perceval. The story can be read as a spiritual quest, or a knight’s apprenticeship, or male homoerotic fantasy, precisely because all three – Christianity, chivalry, and male homoeroticism – are principally for and about men.“39
In der Sphäre des Grals hat auch der weibliche Part eine festgelegte Rolle. Die Frauen sind Mütter der Gralserlöser, keusche Ehefrauen, jungfräuliche Gralsdienerinnen, Helferinnen in der Not und hilfsbedürftige Jungfrauen oder auch hässliche Gralsbotinnen und Teufel in Frauengestalt. William Burgwinkle fasst die Rolle der Frau in den Gralsromanen wie folgt zusammen: „Women in the Grail texts fall generally into the categories of: persecuted damsel in distress, rape victim, devil in disguise, other-worldly fairy, or ugly messenger – and often these roles overlap. The portrait of woman is not entirely negative, though, despite the generally misogynistic slant.“40
Trotz dieser klar definierten Rollen sind es die weiblichen Figuren, die den Fortgang der Gralsgeschichten garantieren. Im Parzival legt sich Condwiramurs unaufgefordert zu Parzival ins Bett, womit sie die keusche Ehe des Gralssuchers initiiert, die ihm während seiner Suche zum Vorteil gereicht.41. In der Crône retten die vie-
39 Klosowska (2005), S. 32f., kursive Hervorhebungen A. H. 40 Burgwinkle (2004), S. 100. 41 Vgl. zur Rolle der Frau des Gralssuchers auch Burgwinkle (2004). Dieser analysiert zwar das Verhältnis von Perceval und Blanchefleur in Chrétiens Gralsroman, aber die Über-
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len weiblichen Helferinnen, einschließlich Manbur, dem desorientierten Gawein das Leben und weisen ihm den richtigen Weg zum Gral. Im Prosa-Lancelot bestimmt Königin Ginover die Wege des gescheiterten Gralssuchers Lancelots, empfängt die Tochter des Pelles den zukünftigen Gralserlöser und gibt Parcevals Schwester Galaad die entscheidenden Hinweise auf seinem Weg zum Gral. Indem Frauen wie Ginover, Herzeloyde, Condwiramurs und Amurfina sich nehmen, was sie begehren, bringen sie die traditionellen Geschlechterverhältnisse der höfischen Welt ins Wanken. Dennoch ist diese Störung oft nur von kurzer Dauer. Der homosoziale Zirkel der Gralssucher sowie die männlich regierte Gralssphäre nehmen einen viel größeren Raum ein. Anhand der Gralssucher und ihrer Entwicklung wird männliche Identität in verschiedenen Facetten vorgeführt. Wer sich als Mann und Ritter profiliert hat, muss nicht unbedingt der geeignete Gralssucher sein, da diese Aufgabe andersartige Anforderungen an die Helden stellt. Der Gralssucher muss keusch sein, sein Begehren auf den Gral richten und sich in die homosoziale Gruppe einfügen. Das homosoziale Begehren der Männer spielt eine entscheidende Rolle. Es taucht in den Gralsromanen an verschiedenen Stellen auf. Im Prosa-Lancelot verbringt Galahot mit seinem Freund Lancelot die Nacht. In der Crône liebt und küsst Gansguoter Gawein. Im Parzival wird dem entmannten Gralskönig eine Lanze in die Wunde gebohrt, während sein Neffe, der Gralssucher, von Männern (und Frauen) aufgrund seiner androgynen Schönheit geliebt wird. Nicht normatives Begehren ist der Stoff, aus dem die Gralsromane gemacht sind. Viel nachhaltiger als alle anderen höfischen Erzählungen untergraben die Gralsromane die Grundfesten der Heteronormativität. Sie bieten eine neue Lesart von Geschlecht und Begehren jenseits der Herrschaft der Heteronormativität an. Dies gilt auch für die Genealogie. Beate Vollmer definiert die Bedeutung der Genealogie für die mittelalterliche Gesellschaft wie folgt: „Die Legitimität der Herrschaft ist dabei primär über die gemeinsame Linie des Blutes der Vorfahren garantiert, beruht jedoch zugleich auch auf der Kontinuität der Amtsinhaber, der lückenlosen Kette der Vorgänger, die im Nachfolger jeweils vergegenwärtigt sind.“42
Dies gilt auch für die höfischen Romane des Mittelalters. In ihnen wird ritterliche Potenz in der Blutlinie weitergegeben, wie McCracken hervorhebt: „Knights are generally represented as a descent group in medieval romances: great knights produce great sons who are destined to be great knights. Chivalric prowess is represented as legungen lassen sich zum großen Teil auf den Parzival übertragen. Vgl. Burgwinkle (2004), S. 108ff. 42 Kellner, Beate: „Kontinuität der Herrschaft – Zum mittelalterlichen Diskurs der Genealogie am Beispiel des Buchs von Bern.“ In: Müller/Wenzel (1999), S. 43-62, hier S. 45.
292 | DIE MITTELALTERLICHEN GRALSROMANE something like a bloodright, and the importance of lineage is particularly evident in romances about unknown knights who reveal their noble identity through their extraordinary powess.“43
Dieses Prinzip erscheint in der mittelalterlichen Auffassung als unverrückbare Garantie und trägt den Anschein von Überzeitlichkeit und Transpersonalität in sich.44 Auch in den Gralsromanen spielt Genealogie eine besondere Rolle. Zumeist stellt ein Geschlecht die Gralskönige und zentrale Aufgaben der Gralsgesellschaft werden von den Mitgliedern dieser Familie übernommen. Im Parzival ist erst Titurel, dann Frimutel, dann Anfortas der Gralskönig; das Amt wird über die väterliche Linie weitergegeben. Doch wird die patrilineare Kette gestört, da in der Kindergeneration des Frimutel keine Fortpflanzung stattfindet und somit kein männlicher Stammhalter geboren wird. Der amtierende Gralskönig Anfortas ist entmannt und somit nicht zeugungsfähig, sein Bruder Trevrizent hat körperlichem Begehren abgeschworen und lebt enthaltsam. Von ihren Schwestern kann nur eine Kinder gebären. Da Repanse als Gralsträgerin Jungfrau bleiben muss und Schoysiane tot ist, bleibt als einziger männlicher Nachfahre des Gralsgeschlechts der Sohn Herzeloydes. Die Gralsfamilie ist auf „nur einen Erben“ dezimiert,45 nur Parzival kommt in Frage. Auf den ersten Blick könnte man meinen, dass statt des tumben und beim ersten Gralsbesuch scheiternden jungen Mann eher der zweite Held des Parzival als Anwärter auf den Thron des Gralskönigs geeignet sei. Gawan, der strahlende Held, der nicht nur höfisch, sondern auch tapfer ist und gefestigter wirkt als Herzeloydes Kind, wird neben Parzival ebenfalls zum Gralssucher. Doch ist Gawan nicht derjenige, der den Gral findet. Die Figur des Gawan dient in erster Linie dazu traditionelle männliche und ritterliche Identität vorzuführen. Gawan ist im Parzival Mann und Ritter, er darf verschiedene heteronormative Liebesbeziehungen unterhalten und sein Begehren nach körperlicher Liebe erfüllen. Diese Lizenz bleibt Parzival vorenthalten. Als Gralssucher und zukünftiger Gralskönig muss er allem Begehren außer demjenigen nach dem Gral abschwören und enthaltsam leben, bis er den Gral gefunden und sich seiner würdig erwiesen hat. So spielt die Abstammung im Parzival eine krude Rolle: Einerseits kommt aus der Gralsfamilie nur einer für das Gralskönigtum in Frage, nämlich der einzige lebende männliche Nachfahre; andererseits scheitert dieser bei seinem ersten Gralsbesuch, da er dem Amt noch nicht gewachsen ist. Parzival muss sich erst als geeignet erweisen und um den Gral verdient machen – nicht im Kampf, sondern im Leiden und, wie ich ergänzen würde, im Begehren. Parzival muss bei seinem ersten Besuch scheitern; er muss lernen zu leiden und sein Begehren allein auf den Gral auszurichten. Ein Gralssucher muss 43 McCracken, Peggy: „The Poetics of Sacrifice: Allegory and Myth in the Grail Quest.“ In: Yale French Studies, Nr. 95 (1999), S. 152-168, hier S. 162. 44 Kellner (1999), S. 52. 45 Kellner (1999), S. 52.
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keusch sein und das heißt seiner väterlichen Abstammung, die nach minne und kampf giert, widerstehen und sich stattdessen auf sein mütterliches Erbe und die Gralsfamilie konzentrieren. Dies gelingt ihm erst bei seinem zweiten Gralsbesuch. Eine ähnliche Entwicklung vollzieht sich auch an Gawein in der Crône. Seine Figur vereint nicht nur die Abenteuer und Erlösungstaten der beiden Helden des Parzival, Parzival und Gawan, sondern auch deren Begehrenswelten. Gawein ist ursprünglich auch in Heinrichs Gralsroman ein begehrender und begehrenswerter Ritter, den der Ruf eines aktiven Liebhabers umweht. Da er jedoch diese Rolle aufbrechen muss, um die Identität eines wahren Gralserlösers annehmen zu können, wird er wie Parzival keusch verheiratet. Noch weniger als Condwiramurs spielt Amurfina auf der Gralssuche ihres Mannes eine Rolle. Im Gegensatz zu jener hat sie keinerlei Bezug zur Gralserlösung oder dem Gralskönigtum. Gaweins Ehe mit Amurfina hat zwei Vorteile: erstens, dass er sich besser in die homosoziale Gralssphäre einfügt; zweitens, dass er nun Teil ihrer Familie und dadurch mit Gansguoter und Manbur verwandt ist, die ihm bei der Gralssuche zur Seite stehen und die entscheidenden Hinweise zum Erringen des Grals liefern. In der Crône entscheidet zwar nicht die Linie der Mutter über die Zugehörigkeit zur Sphäre des Grals, gleichwohl trägt eine weibliche Verwandte, nämlich die Ehefrau, mit ihrer Familie entscheidend zum Erfolg des Helden bei. Im Prosa-Lancelot ist es wie im Parzival die matrilineare Abstammung, die den Sohn Lancelots mit dem Gral verbindet. Die Tochter des Pelles, die zugleich die Hüterin des Grals und die Tochter des Gralsherrn ist, lanciert mithilfe von Intrigen den Beischlaf mit dem besten Ritter, um von diesem ein Kind zu empfangen. Der Sohn ist von Beginn an nicht nur Nachkömmling der herrschenden Familie auf der Gralsburg, sondern auch seit jeher zum Gralserlöser bestimmt. Galaad überflügelt seinen Vater nicht nur im Bestehen von Abenteuern, sondern er ist im Gegensatz zu ihm auch noch keusch und jungfräulich. Er verneint jegliches Begehren – außer demjenigen nach dem Gral – und kann so als einziger die Suche erfolgreich zu Ende bringen. Während die Abstammung von den Vätern dafür wichtig ist, wie sich beim Helden Kraft, Mut und Männlichkeit ausgestalten, sind bezüglich der Zugehörigkeit zur Gralssphäre und des Erfolgs auf der Gralsfahrt weibliche Verwandtschaftsbeziehungen entscheidend.46 Mit Michel Foucaults Überlegungen zum Allianz- und zum Sexualdispositiv lassen sich die Verwandtschaftsverhältnisse der Gralsgesellschaft noch genauer analysieren. Foucault hat in seiner Studie Der Wille zum Wissen diese beiden Dispositive definiert, um die wechselseitige Abhängigkeit von Macht, Wissen und Lust zu bestimmen. Dieses Phänomen zeichnet sich bereits in den mittelalterlichen Gralsromanen ab. Der Gral übt durch die Verneinung von Begehren, die Unterdrückung von körperlicher Lust und die vom Gralssucher geforderte Keuschheit Macht 46 Vgl. Brinker (2004), S. 18.
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aus. Er ordnet die Geschlechter- und Begehrensverhältnisse und wer wider diese Ordnung begehrt, muss mit empfindlichen Sanktionen rechnen. In der Moderne bildet sich nach Foucault ein Sexualdispositiv aus, das das Begehren gemäß den Regeln der Zweigeschlechtlichkeit und Heteronormativität strukuriert.47 Im Mittelalter seien die gesellschaftlichen Machtstrukturen über Verwandtschaft gesteuert worden, was zum so genannten Allianzdispositiv geführt habe: „Man kann es für ausgemacht halten, dass die Sexualbeziehungen in der Gesellschaft zu einem Allianzdispositiv Anlass gegeben haben: einem System des Heiratens, der Festlegung und Entwicklung von Verwandtschaften, der Übermittlung von Namen und Güter.“48 Das Allianzdispositiv wirkte somit stabilisierend, wurde aber in der Gesellschaft der Moderne vom Sexualdispositiv überlagert.49 Dieser Überlappungsprozess kündigt sich bereits in den Gralsromanen an. In ihnen erweist sich das Allianzdispositiv als Regelsystem von Verboten und Vorschriften.50 Es reproduziert Beziehungen, erhält Gesetze aufrecht und schreibt Macht- und Geschlechterstrukturen fest.51 Der sich daraus ergebende Gesellschaftskörper privilegiert nur bestimmte Individuen und versammelt die Macht in wenigen Händen. Das Sexuelle steht im Dienst der Reproduktion. In der Gralsfamilie muss, ob die Verhältnisse gestört sind oder nicht, ein Nachfolger geboren werden, der den kranken oder toten Gralskönig ablöst. In der Sphäre des Grals wird aber zugleich deutlich, wie sich das Begehren dem Allianzdispositiv entzieht. Neben den keuschen Gralssuchern, die mit ihrer Enthaltung das System von Allianzen und Fortpflanzung durchbrechen, sind es vor allem Figuren wie Sigune, Herzeloyde oder Galahot, an denen unterschiedliche „Qualität(en) der Lüste“ vorgeführt werden.52 Bei ihnen spielt der konsumierende Körper eine große Rolle.53 Der Körper wird beim Sexualdispositiv Schauplatz der wechselseitigen Durchdringung von Sexualität und Macht.54 Während die Gralsgesellschaft einerseits von nicht normativen Begehrensstrukturen geprägt ist, versucht sie andererseits am System der Allianzen festzuhalten. Im Parzival wird zwar die Gralsgesellschaft von einer Familie regiert, doch ist ihr die Fortpflanzung untersagt. Im Prosa-Lancelot spielt Geschlechtlichkeit keine Rolle, insofern sich die Gralsgesellschaft am Ende auf die homosoziale Gruppe rund um Galaad beschränkt. Die Fortpflanzung wird einzig vom Gral gesteuert und
47 Foucault (1977), S. 128. 48 Foucault (1977), S. 128. 49 Vgl. Zur Definition des Sexualdispositivs Foucault (1977), S. 128f. 50 Foucault (1977), S. 128. 51 Vgl. Foucault (1977), S. 129. 52 Foucault (1977), S. 129. 53 Vgl. Foucault (1977), S. 129. 54 Vgl. Foucault (1977), S. 129.
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ebenso die Verheiratung des Gralskönigs. In der Crône etabliert die Verbindung zu Amurfina die Allianz des Helden mit der Gralsfamilie. So zeichnet sich die Sphäre des Grals vor allem dadurch aus, dass sich Allianzund Sexualdispositiv überlagern und somit unterschiedliche Auffassungen von Abstammung, Fortpflanzung, Körper, Geschlecht und Begehren überlappen. Die Gralsfamilie ähnelt Foucaults Definition der bürgerlichen Familienzelle. Diese folgt immer noch dem Allianzdispositiv, doch konstituiert sich das Begehren als zentraler Brennpunkt.55 Die Familie erweist sich als Umschlagplatz zwischen Sexualität und Allianz: „(S)ie führt das Gesetz und die Dimension des Juridischen in das Sexualdispositiv ein und transportiert umgekehrt die Ökonomie der Lust und die Intensität der Empfindungen in das Allianzregime.“56
55 Vgl. Foucault, (1977), S. 131. 56 Foucault (1977), S. 131.
III. Theorie des Grals
In allen vier Romanen, ob es sich um die zeitgenössische Geschichte des Grals im Da Vinci Code oder um einen der drei mittelalterlichen Texte handelt, stehen Geschlechterverhältnisse und Begehrensstrukturen im Fokus. In der Sphäre des Grals, die sowohl die Formung des Gralssuchers, die Gralssuche selbst, die anderen Gralssucher, die Gralsgesellschaft umfasst und deren Höhepunkt die Erlösung des Grals ist, entzieht sich das Spannungsfeld von Geschlecht und Begehren vielfach der Normativität. Dies ist auf den Gral selbst zurückzuführen, der als Zentrum alle Bereiche des Lebens ordnet und steuert. Somit eignet sich eine queertheoretischer Zugang besonders für die Analyse der mittelalterlichen Gralsromane, denn in ihnen ist die traditionell heterosoziale Begehrensökonomie zugunsten der homsozialen Gralssphäre verschoben und werden nicht-normative Geschlechterinszenierungen und Begehrensstrukturen vorgeführt. Darauf weisen explizit auch Burger und Schultz in ihrem Buch Queering the Middle Ages hin, wenn sie den Aufatz von Peggy McCracken einleiten, der sich um das Begehren der Gralssucher dreht: „Medieval romance is often read as representing a simplified even stereotypical, heroic masculinity; Peggy McCracken shows us, in the romances of the Grail quest, how this popular genre might, alternatively, reenvision gender and sexual conventions.“1
1
Burger/Kruger (2001), S. xvi/xvii.
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1. D ER G RAL ,
DAS QUEERE DINC
Der Da Vinci Code, als zeitgenössische Ausformung der Geschichte rund um den Gral, hat Widersprüchlichkeiten aufgezeigt. Der Roman tritt mit der nicht besonders neuen Idee an, den Gral als Sinnbild für die lebensspendende Kraft der Frau zu deuten. Doch obwohl die Gralssuche im Finden dieses ‚göttlich Weiblichen‘ endet und die Gralsgesellschaft den Gral oder die Frau, die er ist, anbetet, ist das Weibliche – trotz seiner Göttlichkeit – nicht übermächtig. Mit dem göttlich Weiblichen geht gemäß Dan Browns Gralsroman eine grundlegende und natürliche Harmonie der Geschlechter einher. Diese Deutung des Da Vinci Code wirkt vor allem in Bezug auf die unorthodoxe Annahme, Jesus und Maria Magdalena seien ein Liebespaar und Gründungseltern der Gralsfamilie gewesen, auf den ersten Blick subversiv. Im Fokus der Geschlechter- und kritischen Heteronormativitätsforschung zerfällt dieser Eindruck und die Gralsversion des Romans offenbart ihre (Hetero-)Normativität: Immer wieder werden Dualismen und Dichotomien aufgebaut. Die Beschreibung der Rätsel, die die Gralssucher auf ihrem Weg zum Gral lösen müssen, bietet daher eine passende Charakterisierung des Romans: „Alles paarweise. […] Der Doppelsinn als Prinzip. Männlich-weiblich. Das Weiße umfängt das Schwarze. [...] Weiß gebiert Schwarz. Jeder Mensch ist dem Weibe entsprungen. Weiß – weiblich. Schwarz – männlich.“ (S. 437)2
Dan Browns Roman teilt die Gralssphäre in zwei Prinzipien – schwarz und weiß – oder in Paare – männlich und weiblich. Somit bestätigt er die dichotome Geschlechterordnung. In der geschilderten Anbetung des göttlich Weiblichen durch die Prieuré de Sion, deren Höhepunkt ein ritueller Akt zwischen Mann und Frau ist, wird Heteronormativität mitgeformt und wiederholt manifestiert. Die Frauen, die eine besondere Rolle spielen, Sophie Neveu und Maria Magdalena, erscheinen nicht als gleichberechtigte Partnerinnen. Sophie wird von einer aktiven Gralssucherin, die von königlichem Geblüt und somit Teil des Gralsgeheimnisses ist, zum passiven Objekt der Suche. Maria Magdalena wird von einer wichtigen Autorität der frühen Kirche auf die traditionellen Aufgaben als Frau, Ehefrau und Mutter reduziert.3
2 3
Kursive Hervorhebungen und Absätze bestehen bereits im Original. Maria Magdalena hatte zudem ihre eigene Tradition in der bildenden Kunst und muss nicht auf anderen Gemälden ‚versteckt‘ werden, wie es der Da Vinci Code propagiert. Vgl. zu den Darstellungen: Gniosdorsch, Iris: „Maria Magdalena – Heilige und Hure. Theologische und kunsthistorische Bemerkungen.“ In: Valentin (2007), S. 77-110.
D ER G RAL,
DAS QUEERE DINC
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Hasenberg stellt treffend fest: „Jener Dan Brown, der die Kirche kritisiert, weil sie das Weibliche unterdrücke und der wahren Nachfolgerin Jesu, Maria Magdalena, nicht die gebührende Stellung eingeräumt habe, [entwirft] als geheime ‚Gegenkircheǥ und Träger der ‚wahrenǥ Tradition aber einen reinen Männerclub […], der sich dubiosen heiligen Hochzeiten hingibt? Sexuell konnotierte Rituale in dunklen Gewölben, vollzogen von in Kutten verhüllten Gestalten, [traumatisieren] […] die Heldin […], wenn sie auch nur einen Blick davon erhascht? Frauen spielen in der Prieuré des Sion, die die Größen aus Kunst, Literatur und Wissenschaft vereint, keinerlei tragende Rolle.“4
Der Da Vinci Code versucht sich in eine erfolgreiche Tradition einzureihen. Er benutzt einen der bedeutendsten Stoffe der Literatur, die Suche nach dem Gral und dessen Geheimnis, um seine Deutung dieses ‚Kulturobjektsǥ zu schreiben. Mit seinem Ursprung im längst vergangenen Mittelalter und dem Spektrum der Deutungen, die retrospektiv darauf projiziert wurden und noch werden, bietet der Gral tatsächlich viel Potenzial für neue Lesarten. Die Chance, das Verhältnis von Geschlecht und Begehren neu zu inszenieren, ergreift Dan Brown jedoch nicht. Wie mit den Kunstwerken Leonardo da Vincis geht er auch mit dem Gral um. Er erkennt zwar aufgrund der Beliebtheit und langen Rezeptionsgeschichte der Kunstwerke ihr Potential, neue Lesarten hervorzurufen, verharrt dabei aber an der Oberfläche.5 Obwohl sich der moderne Gralsroman am Ende auf die Offenheit des Grals, den „Reiz“ seiner „Unfassbarkeit“ und seine vielfältigen Deutungsmöglichkeiten beruft, da er für jeden etwas anderes bedeute (S. 594),6 stärkt er durch seine dichotome Behandlung der Geschlechter und die normative Zeichnung des Begehrens in der Gralsgesellschaft die Heteronormativität. Durch die eindeutige Festschreibung des Grals als Frau und die Huldigung der angeblich gottgewollten Harmonie von Männlichkeit und Weiblichkeit nimmt der Da Vinci Code dem Gral jene queeren Tendenzen, die sich in der mittelalterlichen Stoffgeschichte abzeichnen. Der Parzival Wolframs von Eschenbach ist einzigartig unter den mittelhochdeutschen Gralsromanen. Parzivals Geschichte und seine Lebensaufgabe als Gralssucher ist zwar der altfranzösischen Vorlage entnommen, aber in der Ausgestaltung seines Romans baut Wolfram ein eigenes Universum mit einem engmaschigen Netz von Figurenbeziehungen auf. Anhand der Mitglieder der Gralssphäre führt er nicht4
Hasenberg (2007), S. 167f.
5
Vgl. zu Dan Browns Umgang mit anderen Kult(-ur-)Objekten wie der Mona Lisa das Kapitel I.2 der vorliegenden Arbeit.
6
Dies erinnert an postmoderne Beliebigkeit. Vgl. Funk, Rainer: „Der postmoderne Mensch.“ In: Ders.: Ich und Wir. Psychoanalyse des postmodernen Menschen. München 2005, S. 53-100.
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normative Begehrensstrukturen und Geschlechtsidentitäten vor, vor allem in der Zeichnung der weiblichen Vertreterinnen der Gralssphäre: Herzeloyde, Sigune und Cundrie. Die Geschichten dieser Frauen zeigen das berühmte „Heraustreten aus den Konventionen, sowohl im Positiven wie im Negativen“,7 das die Gralssphäre im Parzival ausmacht. Die männlichen Vertreter der Gralssphäre, Parzival, Trevrizent und Anfortas, entziehen sich ebenfalls den traditionellen Begehrensökonomien. Sie zeigen drei Optionen, wie dichotome Geschlechterverhältnisse und heteronormative Begehrensstrukturen in Frage gestellt werden, wenn man sich enthält. Da wären zum ersten Anfortas und seine Enthaltsamkeit, die seiner Entmannung geschuldet ist. Er begehrt keine Frauen mehr, die der Grund seiner Verwundung sind, sondern findet stattdessen Linderung für seinen Zustand, indem er sich mit dem verletzenden Objekt, der Lanze, penetrieren lässt. So schafft ihm nur Linderung, was ihn zuvor verwundet hat. Sein Bruder Trevrizent zum zweiten nimmt die Verwundung von Anfortas als Auslöser, sich dem Weltlichen, allem voran dem weltlichen Begehren, zu entziehen. Auch er verhindert durch seine Keuschheit den Fortbestand der Gralsfamilie. Schließlich ist da noch zum dritten Parzival, der Neffe der beiden und Held des Romans. Dieser löst zwar mit seiner leuchtenden Engelsschönheit allseits Begehren aus, sein eigenes Streben richtet sich jedoch primär auf den Gral. Er entzieht sich durch seine Josephsehe und die Fixierung auf die Gralssuche den traditionellen Ansprüchen der höfischen Begehrensökonomie. Bis Parzival am Ende das Amt des Gralskönigs einnimmt und die heteronormative Ordnung wiederhergestellt wird, ist Wolframs Gralsroman ein Paradebeispiel dafür, wie ein mittelhochdeutscher Gralsroman Geschlecht und Begehren auf dekonstruktive Weise verhandeln kann. Die Crône Heinrichs von dem Türlin besticht zunächst durch ihre Rätselhaftigkeit und ihre Fülle an Handlungssträngen, die zum einen der Erzähltechnik und zum anderen der inhaltlichen Auseinandersetzung mit dem Artus- und Gralsstoff in ihren verschiedenen Stofftraditionen zu verdanken ist: „Die Virtuosität des Erzählens erfordert eine entsprechende Virtuosität der Rezeption“8 und die Einsicht, dass es keine allumfassende Deutung geben kann. So verhält es sich auch mit dem Gralsgeheimnis selbst. Diesem kommt man letztlich nicht auf die Spur, da es sich in der Crône ins Nichts auflöst und sowohl den Gralssucher als auch die Rezipient_innen mit einer knappen und nicht wirklich erhellenden Erklärung zurücklässt. Gawein, der in der Stofftradition des Artusromans einer der besten Ritter und in jedem Fall der größte Liebhaber ist, wird in Heinrichs „Fantasy-Satire“9 zum Gralssucher und erfolgreichen Gralserlöser. Grals- und Artusrittertum unterscheiden sich in dem Verhalten, das von ihren Trägern gefordert wird. Ist bei dem Ritter der Tafelrunde 7
Mertens (1998), S. 113f.
8
Vollmann (2008), S. 229.
9
Vollmann (2008), S. 205.
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das Erringen von Frau und Landesherrschaft das Ziel, ist bei den Gralssuchern das Sehen und Erfahren des Grals und seines Geheimnisses das höchste Gut. In der Crône ist der Gralssucher ein Ritter, der sich in den Bereichen des Kampfs und der Liebe hervortut und alle Probleme aus dem Weg räumt.10 Doch gerade die doppelte Aufgabe, die Erlösung der Artus- und Gralsgesellschaft zu leisten, mit der in anderen Romanen wie dem Parzival zwei Protagonisten betraut sind, beeinflusst Gaweins Identität als Ritter und Mann. Augenscheinlich hat er zwar durch die Verbindung mit Amurfina bereits erreicht, was das erklärte Ziel des Artusritters ist, auf den zweiten Blick tun sich jedoch Brüche auf. Nicht der männlich-erobernde Artusritter hat Amurfina für sich gewonnen, vielmehr hat sie ihn sich ausgesucht und an sich gebunden. Gawein hat auch nicht erst in der Verbindung mit seiner Zukünftigen deren Land erobert, eigentlich geschah dies bereits viel früher, als er ihren Vater besiegte. Zudem hat sich der als Schwerenöter bekannte Held des Artushofs seit seiner ersten erotischen Begegnung mit der zukünftigen Ehefrau verändert, denn er ist zum keuschen Partner und späteren Ehemann geworden. Gawein zieht sich jedoch nicht mit seiner Frau in sein Herrschaftsgebiet zurück, sondern kehrt an den Artushof zurück und begibt sich dann auf die Gralssuche. Dieses höchste aller Abenteuer verlangt Enthaltsamkeit von den Rittern, die es bestreiten wollen. Da Gawein die Wandlung zum keuschen Ritter bereits vollzogen hat, ist er der prädestinierte Gralssucher. Sein Begehren ist ausgeschaltet, und obwohl er in Ansätzen zum Objekt des Begehrens wird, werden diese Dynamiken nicht weiter ausgestaltet. Ein Ritter, der nicht begehrt, entzieht sich den im höfischen Roman vorgeführten traditionellen Begehrensökonomien. Insofern sind die enthaltsamen Subjekte der Gralsromane zugleich queere Ritter. So sehr Heinrich in seiner Gralsversion Parzival, den traditionellen Gralssucher, verunglimpft und seinen Protagonisten zum wahren Gralserlöser erhebt, haben die Gralssucher der Crône und des Parzival genau dies gemein, dass sie sich während der Gralssuche den traditionellen Geschlechterverhältnissen und Begehrensstrukturen entziehen. Geichwohl findet die Crône einen anderen Schluss. Der Gral bleibt hier ein Geheimnis und die Gesellschaft, die ihn umgibt, ist durch die klare Trennung und Hierarchisierung der Geschlechter geprägt. Die Männer des Gralsbereichs sind alle tot, während die lebendigen Frauen gezwungen sind, bei den Männern zu bleiben und ihnen zu dienen. Nach Verschwinden des mysteriösen Gefäßes mitsamt den untoten Männern bleiben nur die Frauen übrig, die der Held zurück in die Artusgesellschaft führt. Zudem kehrt der Beste aller Ritter selbst ohne größere Hindernisse zum Artushof zurück, zumal es nach der Auflösung der Gralssphäre keine Gesellschaft mehr gibt, deren Herrscher er werden könnte. Es entsteht kein Interessenskonflikt, denn „als Ehegat-
10 Dass Gawein auch im Artusbereich der heimliche König ist, erkennt man daran, dass Artus’ Hof scheinbar lebensunfähig wäre, würde er den besten seiner Ritter verlieren.
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te ohne Landesherrschaft und ein Gralsritter ohne Gral“11 ist ihm die Rückkehr in den Artusbereich ungehindert möglich. Trotz der Rätselhaftigkeit des Grals ist seine Gesellschaft eindeutig nach Geschlechtskategorien eingeteilt. Die anwesenden Frauen sind dazu da, den Männern zu dienen und den Gegenpart zur männlichen Gralsentourage zu bilden, so dass die Gralsgesellschaft Mitglieder beiderlei Geschlechts aufweist. Die dichotome Einteilung der Geschlechter durchzieht auch die Geschehnisse der Gralsprozession, bei der ein Speer – der Phallus – und ein Kelch – der Uterus – eine tragende Rolle spielen. Somit weist die Crône am Ende Ähnlichkeiten mit der Behandlung von Geschlecht im Da Vinci Code Code auf. Bei beiden ist die Gralsgesellschaft dichotom eingeteilt, obwohl sich die Sphäre des Grals in der mittelalterlichen mehr noch als in der zeitgenössischen Version heteronormativen Deutungen entzieht. Dies bietet Räume für andere Lesarten, die sich beispielsweise in den Episoden der Wunderketten, in der Beziehung des Protagonisten zu Gansguoter oder in der Keuschheit Gaweins auf der Gralssuche zeigen. Die Crône kehrt somit am Ende doch wieder zu einer normativen Einteilung der Geschlechter zurück und arretiert das queere Potential der Geschichte. Im Prosa-Lancelot vollendet nicht Lancelot, sondern sein Sohn Galaad die Gralserlösung. An den Beispielen von Vater und Sohn werden unterschiedliche Spielarten bezüglich der Geschlechterverhältnisse und Begehrensstrukturen durchdekliniert. Hervorzuheben ist das Begehrensdreieck, das sich zwischen Lancelot, Ginover und dem ‚guten‘ Freund des Ritters, Galahot, entspinnt. In dieser triangulären Struktur werden mehr als eine homosoziale und eine heterosoziale Beziehung verhandelt. Außerdem führt die Inszenierung des von Geburt an reinen Galaad den Idealtypus des keuschen Objekts und queeren Gralsritters vor. Er ist das Sinnbild der Enthaltsamkeit, weil er sich jeglichem weltlichen Begehren entzieht. Selbst die während der Gralssuche mönchisch lebenden Gralssucher Gawein und Parzival, deren Ehe auf der Abenteuerreise jeweils ausgesetzt ist, können sich nicht mit dem Helden des Prosa-Lancelot messen. Auch die Geschlechtsidentitäten und Begehrensstrukturen von Galaads Gefährten auf der Gralssuche, Parceval und Bohort, werden problematisiert, sind aber zugleich auch der Grund dafür, dass nur Lancelots Sohn das gesamte Geheimnis des Grals erfahren darf. Die Romane führen anhand der Gralsgesellschaft besondere Geschlechterverhältnisse und Begehrensstrukturen vor, die sich durch die Analyse der Erfolge oder des Scheiterns der Gralssucher sowie der Konstellation anderer Figuren, die die Gralssuche entscheidend beeinflussen und mitgestalten, näher bestimmen lassen. In allen vier Romanen handelt es sich bei der Gralsgesellschaft um einen exklusiven und erlauchten Kreis, zu dem man nur unter bestimmten Bedingungen Zugang erhält. Im Fall von Parzival und dem Da Vinci Code spielen sowohl die Blutsverwandtschaft als auch die Verdienste um den Gral eine wichtige Rolle für die Zuge11 Vollmann (2008), S. 211.
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hörigkeit zur Gralsfamilie. Erst nach und nach erfahren die Gralssucher, dass sie mit der Gralsfamilie verwandt sind. Sophie Neveu und Parzival müssen im Verlauf ihrer Suche einige Abenteuer und Entbehrungen überstehen und sich um den Gral verdient machen. Im Falle Parzivals sind dies nicht militräische, sondern spirituelle Verdienste. Der Eremit Trevrizent klärt ihn auf, dass der Gral nicht im Kampf erobert werden könne, sondern dass man berufen sein müsse: jane mac den grâl nieman bejagn, / wan der ze himel ist sô bekant / daz er zem grâle sî benant (Parzival, v. 468,12-14). So muss der Gralssucher Parzival nach langen Entbehrungen und Mühen lernen, was Mitleid ist, um bei seinem zweiten Besuch auf der Gralsburg seinen Onkel Anfortas zu fragen: œheim, waz wirret dier? (Parzival, v. 795,29) und so zu zeigen, dass er des künftigen Gralskonigtums würdig ist. So ähneln sich die Entwicklungen Sophie Neveus und Parzivals vom Gralssucherdasein zum exponierten Mitglied der Gralsgesellschaft. Beide haben nicht allein wegen ihrer Blutsverwandtschaft zur Gralsfamilie Zugang zum Gral gefunden, sondern sie haben sich auf verschiedene Weise um den Gral verdient gemacht. Sophie muss zunächst mit der tatkräftigen Hilfe Robert Langdons das Rätsel um ihre Herkunft, den Gral und Maria Magdalena lösen. Parzival wird erst zum König gekrönt, nachdem er erfolgreich geläutert ist, jeglichem Begehren außer demjenigen nach dem Gral entsagt, seine Frage gestellt hat und durch die Schrift auf dem Gral als Auserwählter bestätigt worden ist (vgl. Parzival, v. 796,16ff.). In allen Gralsgesellschaften werden unter dem Deckmantel ihrer Exklusivität Geschlecht und Geschlechterverhältnisse verhandelt. Die Männer dominieren, die Frauen werden entweder durch Erhöhung oder Dämonisierung ausgegrenzt. Im Prosa-Lancelot müssen die Frauen als Grund für das Versagen vor dem Gral herhalten. Im Parzival ist der Gral durch seine lebens- und nahrungsspendende Funktion weiblich konnotiert und sind Frauen Teil der Gralsgesellschaft. Wie wichtig die weiblichen Figuren tatsächlich für die Sphäre des Grals sind, hat sich gezeigt. In der Crône gehören die Frauen der Gralsgesellschaft schon deswegen nicht an, weil sie lebendig sind. Im Da Vinci Code wird zwar das göttlich Weibliche verehrt und Geschlechtergerechtigkeit propagiert, die Rolle der Frau aber doch in traditionelle Bahnen gelenkt. Die Sphäre des Grals ist homosozial ausgerichtet, das führen die Gralsromane des Mittelalters deutlich vor. Die Figur des Gralssuchers zeichnet sich durch nichtnormatives Begehren nach dem Gral sowie eine aufgrund von Enthaltsamkeit oder Jungfräulichkeit uneindeutige Geschlechtsidentität aus.12 Der Gralssucher repräsen12 Vgl. im Original: „(T)he emergent discourse of sodomy in the twelfth century was linked to a new elite, heroic masculinity of medieval romance“ ( Lochrie, Karma: „The SWord.“ In: GLQ A Journal of Lesbian and Gay Studies, Volume 11, Number 4 (2005b), S. 640-642, hier S. 640). Lochrie analysiert hier William Burgwinkles Sodomy, Masculinity, and Law in Medieval Literature und fasst so dessen Überlegungen zu einer neuen Männlichkeit und dem Diskurs über Homosexualität im 12. Jahrhundert zusammen. Der
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tiert eine neue Form der Ritterschaft, die geistliche und ritterlich-höfische Ideale verknüpft: das reine und keusche Gralsrittertum oder die so genannte militia Christi, deren ideale Verkörperung Galaad im Prosa-Lancelot ist.13 Wer den Ansprüchen des neuen Ritterstands nicht genügt oder der Sünde anheimfällt, wird auf der Gralssuche keinen Erfolg haben: „Out of this paradox emerges the phenomenon of masculine competition, as well as its failure in the Grail quest.“14 Keuschheit und somit die Verneinung traditionellen Begehrens sind das oberste Gebot der neuen männlichen Identität. Diese Form des Begehrens liegt que(e)r zur Norm und eröffnet neue Spielräume für eine widerspenstige Praxis gegen die heternormative Geschlechterordnung. Mit der Identität des Gralssuchers geraten sowohl das traditionelle Bild von Männlichkeit als auch ritterliche Geschlechterverhältnisse, die auf Kampf- und Liebesgewinn basieren, ins Wanken. Daher kommt die Dynamik des homosozialen Begehrens an die Oberfläche: „Slippage within discussion of ‚unnatural acts‘, between gender poles and between acts and identities, is thus very much a part of its initial conceptualization.“15 Der Gral ordnet Geschlecht und Begehren in spezifischer Weise. Er fordert Keuschheit, Enthaltsamkeit und Jungfräulichkeit von seinen Gralssuchern und der gesamten Gralsgesellschaft. Er verbietet heterosoziale Formen des Begehrens. Fortpflanzung ist nicht gestattet. Frauen spielen nur eine begrenzte Rolle, Männer hingegen treten in seiner Sphäre des Grals dominant hervor. Gleichwohl erhält der Gral eine weibliche Dimension: Er spendet Leben und Nahrung oder ist wie, im Da Vinci Code, ein Sinnbild des weiblichen Körpers. Die weibliche Konnotation erscheint als Ausgleich zu der homosozialen Sphäre, die der Gral sonst formt. Doch geht die Grundidee des Grals nicht auf. Ist heterosoziales Begehren in seiner Sphäre auch verboten, so schwelen doch andere Formen des Begehrens. Das Begehren verschwindet nicht. Für alle Mitglieder der Gralsgemeinschaft bleibt Begehren – und sei es durch seine Verneinung oder Kanalisierung auf den Gral hin – virulent. Zugleich geraten in der Sphäre des Grals die Geschlechtsidentitäten ins Wanken. Dies zeigt sich im Verbot von heterosozialem Begehren, in der Entmannung als Strafe im Gralsbereich oder in der keuschen Androgynität der Gralssucher. Somit ist die Ordnung von Geschlecht und Begehren in der Sphäre des Grals nur scheinbar von Verbot und Einschränkung geprägt. Tatsächlich wird das Begehren umgewertet und es findet Erfüllung in nicht-normativen Strukturen. Der Gral steuert Geschlecht und
Bezug zu den Gralsromanen ist auch in Burgwinkles Überlegungen integriert, da er seine Analyse u.a. am Beispiel des altfranzösischen Romans Perceval von Chrétien vollzieht. 13 Vgl. Burgwinkle (2004), S. 8. 14 Lochrie (2005b), S. 641. 15 Burgwinkle (2004), S. 5.
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Begehren, in einer Weise, die mit heteronormativen Rastern bricht und neue Optionen der Gestaltung aufzeigt. Die Neuordnung von Geschlecht und Begehren in den Gralsromanen ist schon bei den ersten Schritten zu erkennen, die die Protagonisten in Richtung des Grals tun. Der Da Vinci Code schickt, scheinbar innovativ, ein Gralssucherpaar ins Rennen. Aus Parzival und Lancelot müssen erst noch Gralssucher werden – ob am Ende erfolgreich oder nicht, ist teilweise schon in der Elterngeneration angelegt. Gawein ist seit jeher der wahre Held, deswegen muss er nicht erst eine lange Entwicklung durchlaufen, bevor er auf Gralssuche gehen kann. Die Gralssuche bedeutet dann für alle Gralssucher dasselbe. In der Annäherung an den Gral wird das Begehren nach ihm entfacht. Während in Dan Browns Gralsroman nur bei den konkurrierenden, negativ gezeichneten Gralssuchern wie Silas und Leigh Teabing heteronormatives Begehren und eindeutige Geschlechteridentität zusehends verschwinden, kann man in allen mittelhochdeutschen Gralsromanen sehen, dass sich das Begehren der Gralssucher selbst, das einen wichtigen Einfluss auf die jeweilige Geschlechtsidentität der Ritter hat, neu ausrichtet. Das normative Begehren des enthaltsamen Suchers wird unterdrückt oder fokussiert sich ausschließlich auf das rätselhafte Gefäß. In den Gralsromanen werden aus erfolgreichen Rittern und Liebhabern keusche Ehemänner, dies gilt für Parzival und Gawein. Lancelot darf aufgrund seiner Untreue und Sünde trotz aller Buße des Grals nicht ansichtig werden und wird deswegen von seinem reinen, engelsgleichen Sohn Galaad ersetzt. Die Gralssuche ist zudem stets ein männerdominiertes Unternehmen, das von homosozialen Begehrensstrukturen geprägt ist. Wer die Herausforderung der Suche annimmt, muss sich als enthaltsames Subjekt, das sein Begehren einzig auf den Gral konzentriert, beweisen. Die Protagonisten der Gralsromane lösen durch ihren Eintritt in die Sphäre des Grals die Störung der normativen Begehrensökonomien, wie sie die höfische Romanwelt sonst bereithält, aus. Das Nicht-Begehren der Gralssucher und ihre Enthaltsamkeit wirken somit zurück auf ihre Geschlechtsidentität, die nicht mehr in die höfische Definition von Männlichkeit, die auf der Kombination von Kampf und Liebe basiert, einzuordnen ist. Den Einfluss der Enthaltsamkeit auf Geschlecht und Begehren stellt auch Peggy McCracken fest: „The chaste grail knights enact an anomalous withdrawal from the sexual economy of chivalric romance, and their unique position defines their privileged status as grail knights. But at the same time, the chaste knight is also outside the normative sexual economy that – at last in part – defines gender identities in medieval romances.“16
Damit ist der höfischen Begehrensökonomie ein konstitutiver Faktor, nämlich Liebe und Begehren zwischen den Geschlechtern, genommen. Wird dieser Faktor mit 16 McCracken (2001), S. 132.
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einem anderen Vorzeichen – homosozial statt heterosozial – versehen, wird die Inszenierung der Geschlechtsidentität durchkreuzt und es entstehen Ungleichungen. Diese sind der Gralssphäre sowie den Geschlechtsidentitäten der Gralssucher inhärent. Um den Konflikt, der sich ergibt, zu kompensieren, wird teilweise auf andere Gralssucher rekurriert. Deren Geschlechterverhältnisse und Begehrensstrukturen dienen als Ergänzung oder Negativfolie für die späteren Gralserlöser. Wenn die Gralssucher auf die Gralserlösung zuschreiten und auf die Gralsburg oder in ihre Nähe gelangen, werden sie mit der Gralsgesellschaft konfrontiert. In dieser potenziert sich zumeist auf die eine oder andere Weise, was die Stabilität der Geschlechterverhältnisse und Begehrensstrukturen schon zuvor gestört hat. Auch wenn mit der Entdeckung des Gralsgeheimnisses wieder ein heteronormatives Ende erreicht wird, bleiben die Spuren der alternativen Begehrensräume, die sich in der Gralssphäre eröffnet haben, bestehen. Dies liegt am Gral selbst, bei dessen bloßer Nennung schon immer das Zusammenspiel von Geschlecht und Begehren mitgedacht werden muss. Der Gral ist es, der Geschlecht und Begehren ordnet. Dies ist eine seiner zentralen Funktionen in den Gralsromanen. In ihnen ist ritterliches Begehren im Gegensatz zu sonstigen höfischen Romanen anders gelenkt. Es geht nicht in Richtung Frauen, sondern immer in Richtung des Grals. Das Begehren kann sich auch innerhalb der männlichen Gralsritterschaft ins Homosoziale umwandeln, so dass man neben dem Gral zudem die Gefährten auf der Gralssuche oder wie Anfortas die Penetration durch eine phallische Lanze begehrt.
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Das Begehren nach einem Objekt, dem Gral, treibt die Suche stets voran. In der Gralsliteratur ist das höchste Ziel eines Ritters, den Gral zu erringen, vorher kann der jeweilige Protagonist nicht glücklich werden. Der Gral ist somit das Ziel des Begehrens. Als solches lässt er sich als Fetisch und ‚Ding‘ im Lacanschen Sinn beschreiben. Dies stellt schon Burgwinkle fest: „Thus the grail is clearly an object of fantasy: it functions like the object a in Lacanian psychoanalytic theory […]. It is an imaginary object which determines meaning through its presence or absence, deferral and displacement. It has no power in and of itself and its ultimate significance is, and can only ever be, veiled. It ‚means‘ only as a function of its relation with those who attribute value to it: to being, or claiming to be, positioned within its gaze. The knights of the Round Table are intensely mimetic performers: they identify with one another, compete with and desire each other´s desires, through the intermediary of the object at the center of their collective gaze. The object gains in significance as it becomes the mirror or screen onto which desire are projected and gazes meet.“1
Begehren ist in Lacans Theorie das Zentrum der seelischen Logik eines jeden Subjekts und bildet, weil die Bedürfnisse eines jeden und die Bitte um deren Erfüllung schon von Geburt an nicht zur Deckung kommen, eine Kluft im Inneren. Dieser Zwiespalt ist als Mangel allgegenwärtig. Im Zustand des Begehrens, das nie gestillt werden kann, fungiert der Lacansche Phallus als Kennzeichen des Mangels und des Begehrens zugleich.2 Da das Begehren nie gestillt werden kann, bleibt das Objekt des Begehrens unerreichbar. Somit dreht sich die Beziehung der Geschlechter immer um Sein oder Haben des Phallus. Dieser steht dann zugleich für beides: für den Mangel an sich und für das Begehren, da ohne Mangel kein Begehren denkbar ist. Ab dem Moment des Spiegelstadiums bleibt das Subjekt nun immerzu auf Objekte verwiesen, die die Lücke in ihm füllen. Hierbei unterscheidet Lacan zwischen dem anderen mit kleinem a (Objekt klein a), das der Grund des Begehrens ist, und dem Anderen. Begehren ist zugleich der Wunsch nach dem anderen (Objekt klein a) und der Wunsch des Anderen. Das Verwiesensein auf (ein) Anderes(s) ist immer durch Mangel gekennzeichnet. So schlagen Mangel und Begehren zwar die gleiche Richtung ein, müssen jedoch nicht zwangsweise einen Objektbezug bilden oder miteinander einhergehen. Wie Burgwinkle nahelegt, kann man sich mit dieser These Lacans auch dem Gral als Ziel und Zentrum des Begehrens der Gralssucher annähern. Der Gral ist
1
Burgwinkle, S. 94
2
Vgl. Lacan (1975), S. 127, v.a. auch 129ff.
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das verlorene oder unerreichbare Ding, das stets gesucht und erreicht werden will und somit im Zentrum jeglichen Begehrens steht. Lacan hat den Gral wohl auch so gesehen, wie aus seinen Überlegungen zu den Anamorphosen hervorgeht. Bei der Anamorphose handelt es sich um die Erzeugung von Bildern, deren Inhalte nur unter einem bestimmten Blickwinkel und durch einen Spiegel erschließ- und erkennbar sind. Man braucht somit zur Entschlüsselung ein Vehikel, sonst kann man sich nicht annähern. Doch selbst wenn man einen Schritt in Richtung Decodierung des Geheimnisses geschafft hat, bleibt der Kern doch unerreicht. Zwar wird das „Objekt […] in ein bestimmtes Verhältnis zum Ding gebracht, was getan wird, um gleichzeitig einzukreisen, zu vergegenwärtigen“, aber auch um „Abwesenheit zu erzeugen.“3 Je mehr man versucht sich der Lösung anzunähern, umso mehr verschwindet diese im Geheimnisvollen. Lacan wählt, um sein Konzept der Anamorphose zu illustrieren, das Beispiel der höfischen Liebe. In diesem Zusammenhang zieht er auch den Gral zum Vergleich heran: „Trotzdem, wie sollte man nicht berührt, ja bewegt sein vor diesem Etwas, wo das Bild eine Form annimmt, die auf- und absteigt? Vor dieser Art Spritze, die mir, ließe ich mich gehen, als eine Art Gerät zu Blutentnahme erscheinen könnte, zur Entnahme des Bluts des Grals? – wenn Sie sich nur daran erinnern, daß das Blut des Grals eben das ist, was dem Gral fehlt.“4
Lacan legt dar, dass dem Gral etwas fehlt und zwar das Blut, das in den meisten Geschichten untrennbar mit ihm verbunden ist. Somit fehlt dem Gral ein integraler Bestandteil, von dem man sich nicht vorstellen kann, dass er jemals nicht da sein könnte. Dies weist darauf hin, dass das Fehlen bzw. der Mangel auch beim Gral ein beständiger Begleiter ist. Dem Gral fehlt etwas, er ist nicht vollständig und insofern auch ein anamorphotisches Bild. Er kann nur mit Hilfestellungen deutbar gemacht werden und auch dann wird niemals sein ganzes Geheimnis oder sein Kern sichtbar. Wie der Mangel den Gral begleitet, ist der Gral selbst in seiner Unerreichbarkeit auch Verkörperung des Mangels und Ziel des Begehrens der Gralssphäre.
3
Lacan, Jacques: „Die höfische Liebe, anamorphotisch.“ In: Ders.: Das Seminar, Buch VII (1959-1969) – Ethik der Psychoanalyse. Hrsg. durch Jacques-Alain Miller und übersetzt von Norbert Haas. Weinheim 1986, S. 167-189, hier S. 174.
4
Lacan (1986), S. 174.
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Ein dritter Aspekt kommt hinzu: der Gral als „epistemisches Ding“. Dieser Terminus wurde von Hans-Jörg Rheinberger in die Wissenschaftsgeschichte eingeführt.1 Laut Rheinberger sind es die epistemischen Dinge, „denen die Anstrengung des Wissens gilt“.2 Sie müssen „nicht unbedingt Objekte im engeren Sinn, sondern können auch Strukturen, Reaktionen, Funktionen sein“.3 Rheinberger führt – im Rückgriff auf Derridas Idee der différance – weiter aus, dass die epistemischen Dinge „Bündel von Inskriptionen“4 seien, die zu einer „für sie charakteristischen, irreduziblen Verschwommenheit und Vagheit“5 führt. Auch Astrid DeuberMankowsky verbindet in ihren Überlegungen zur Zukunft der Geschlechterforschung den Begriff Gender mit einem epistemischen Ding.6 Bei ihrer Übertragung des epistemischen Dings auf das Feld der Geschlechterforschung stellt sie besonders die fehlende Materialität und die flüchtigen Spuren des epistemischen Dings heraus. Das epstemische Ding wird wie der Begiff Gender nur in seiner Variation und in der Verfehlung seiner Wiederholung materiell fassbar.7 Die vorangegangenen Überlegungen und Ideen lassen sich auch auf den Gral übertragen. Alle epistemischen Dinge sind nach Rheinberger im Werden begriffen. Sie besitzen ihre eigene, charakteristische „Vagheit und Verschwommenheit“.8 Dies trifft auch auf den Gral zu. Die Verschwommenheit und Vagheit des Grals ist das, was die Gralsgeschichten antreibt und sie nach Annäherung und einer möglichen
1
Rheinberger, Hans-Jörg: Experimentalsysteme und epistemische Dinge. Eine Geschichte der Proteinsynthese im Reagenzglas. Frankfurt am Main 2006, S. 27. Das epistemische Ding wird hierbei von Rheinberger vom technischen Ding unterschieden. Dabei geht es ihm nicht darum, einen neuen Binarismus zu festigen, sondern zum einen die Beweglichkeit von und den Austausch zwischen den epistemischen und technischen Momenten der Forschung zu definieren. Zum anderen soll die Produktivität des epistemischen Dings betont werden, die zugleich Veränderung und auch Unvorhergesehenes beinhaltet. Vgl. ebd., S. 30ff.
2
Rheinberger (2006), S. 27.
3
Rheinberger (2006), S. 27.
4
Rheinberger (2006), S. 89; zur différance vgl. auch ebd., S. 11.
5
Rheinberger (2006), S. 27.
6
Vgl. Deuber-Mankowsky, Astrid: „Gender – ein epistemisches Ding? Zur Geschichtlichkeit des Verhältnisses von Natur, Kultur, Technik und Geschichte.“ In: Casale, Rita/Rendtorff, Barbara (Hg.): Was kommt nach der Geschlechterforschung. Zur Zukunft der feministischen Theoriebildung. Bielefeld 2008, S. 169-190.
7
Vgl. Deuber-Mankowsky (2008), S. 184.
8
Rheinberger (2006), S. 27.
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Lösung drängen lässt: „Es ist das Vage […], das Unbekannte, das die Welt bewegt.“9 Dieser Antrieb ist nicht nur auf die Gegenwart der jeweiligen Gralsromane bezogen, sondern weist auch über diese in die Zukunft hinaus.10 Der Gral ist, wie jedes epistemische Ding, Anfang und Ende zugleich: Für den Gralssucher ist der Gral Ursache und Ziel der Suche zugleich. Der Gral ist im Prozess der Suchens und Forschens beständig anwesend und formt ihn mit.11 Zugleich verläuft die Annäherung an den Gral, das epistemische Ding, nicht linear. Obwohl das epistemische Ding Anfang und Ende des Prozesses ist, kann man aufgrund seines ständigen Wandels nur punktuell seine Materialität, seinen Kern festmachen – selbst wenn sich der Gral als Abendmahlskelch, als Stein, als Schale oder als weiblicher Körper konkretisiert. Dies bedeutet nur eine vorübergehende Manifestation, niemals aber eine vollständige Definition. Eine einzige Lösung kann es nicht geben, weil der Gral nicht nur selbst ein epistemisches Ding ist, sondern aufgrund seiner Verknüpfung mit Begehrensstrukturen und Geschlechterverhältnissen andere epistemische Dinge enthält. Untrennbar mit dem Gral sind Geschlecht und Begehren verbunden, die dieser kanalisiert, organisiert oder neu ordnet. Für den Gral als epistemisches Ding sind seine Widersprüche und Leerstellen entscheidend, an denen Geschlecht und Begehren nicht normativ verhandelt werden. Es sind die Stellen, die einen Schritt näher an das Zentrum, um das die Zeichen spielen, heranführen, bevor sich dieses erneut verlagert. Somit gilt auch für den Gral, was Judith Butler über die Performativität von Geschlecht festgestellt hat:12 Der Gral ist ein Diskursobjekt und in der Verfehlung der Wiederholung liegt seine Kraft, das dichotome Geschlechtersystem zu destabilisieren und heteronormative Strukturen aufzubrechen. Die missglückten performativen Wiederholungen und Binarismen eröffnen Raum für Subversion und Dekonstruktion. Die Unfassbarkeit des Grals, die nur eine schrittweise Annäherung an etwas erlaubt, das sich ständig entzieht, um von einem neuen Ort aus eine andere Annäherung zu fordern, ist das, was der Idee des Grals insbesondere hinsichtlich Geschlechterverhältnisse und Begehrensstrukturen etwas Faszinierendes und Zukunftsweisendes verleiht.13
9
Claude Bernard, zitiert nach Rheinberger (2006), S. 27.
10 „Ein solcher Prozess [Forschungsprozess und dessen Vagheit] […] ist von Vorneherein durch Mehrdeutigkeit charakterisiert: er ist nach vorne offen.“ (Rheinberger (2006), S. 25). Vgl. zur Handlungsbestimmung und Zukunftsfähigkeit auch die Übertragung auf die Geschlechterforschung: Deuber-Mankowsky (2008), S. 170. 11 Rheinberger (2006), S. 27ff. 12 Vgl. Butler (1991), S. 217; zu der Wiederholung, der Widerständigkeit und dem epistemischen Ding: Deuber-Mankowsky (2008), S. 184f. 13 Vgl. dazu „Epilog“ in: Rheinberger (2008), S. 280ff.
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Diese Dynamik des Grals lässt sich noch einmal an Jacques Lacans Theorie zum Begehren und der Rolle des Dings darin zurück koppeln.14 Es ist das Unmögliche und Fehlende zugleich, das nur in der Imagination und nie in der Realität erlangt werden kann.15 Nie kann das Ding, sondern es können immer nur dessen Repräsentationen erreicht werden,16 was in einem immerwährenden Mangel des Subjekts mündet und zu seiner Spaltung führt. Das bedeutet für den Zusammenhang von Geschlecht und Begehren folgendes: Das Begehren der Gralssucher richtet sich auf das uneinholbare Objekt, den Gral. Auf der Gralssuche versuchen sie den Mangel zu füllen und ihr Begehren zu stillen. Doch dies gelingt nicht, sie können sich dem Ding nur über dessen Repräsentationen annähern, denn das „Vollkommene ist unmöglich“ und liegt außerhalb des fass- sowie sagbaren Bereichs.17 Erst durch den „Bezug des Dings zum Todestrieb“ eröffnet sich für das Subjekt eine Möglichkeit, dem Gral nahezukommen und im Tod mit ihm zu verschmelzen.18 Somit ist der Gral und das Begehren nach ihm immer auch ein Begehren nach dem Begehren.
14 Widmer, Peter: „Das Ding – Von Meister Eckhart bis Lacan.“ In: Scholz, Susanne et al.: Dinge. Medien der Aneignung – Grenzen der Verfügung. Königstein im Taunus 2002, S. 239-250, hier S. 248. 15 Vgl. Widmer (2002), S. 248. 16 Vgl. Widmer (2002), S. 249. 17 Widmer (2002), S. 249. 18 Widmer (2002), S. 249. Vgl. im Weiteren zum „Begehren nach dem Begehren“ als synonym zum Begehren nach dem Lacanschen Ding: Widmer (2002), S. 250.
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Das Begehren nach dem Gral, das die Gralsromane inszenieren, kann auch als Begehren nach den Texten selbst verstanden werden. Wie Roland Barthes in seinem Buch Plaisir du Texte betont, muss der Text nicht nur beweisen, dass in ihm begehrt wird, sondern er muss auch beweisen, dass „er mich begehrt.“1 So soll sich das Begehren, das sich in den fiktionalen Strukturen der Texte artikuliert, zu einem Begehren nach und einer Lust am Text erweitern.2 Roland Barthes unterscheidet zwei unterschiedliche Ausformungen der Lust, die Lust (plaisir) zum einen und die Wollust (jouissance) zum anderen. Beide sind nicht voneinander zu trennen. „Plaisir/Jouissance, Lust/Wollust: terminologisch schwankt das noch, ich stolpere, ich verheddere mich. Auf jeden Fall gibt es da immer eine Spanne der Unentschiedenheit; die Unterscheidung wird nicht zu sicheren Klassifizierungen führen, das Paradigma wird knirschen, der Sinn wird prekär, revozierbar, reversibel, der Diskurs unvollständig sein.“3
Der Text der Lust, der „befriedigt, erfüllt, Euphorie erregt“ und „von der Kultur herkommt, nicht mit ihr bricht“, ist zugleich ein Text der Wollust, der „in den Zustand des Sich-Verlierens versetzt, der Unbehagen erregt.“ Beide Formen der Lust werden gleichsam von einem zweigespaltenen Subjekt in den Händen gehalten.4 Auch die Gralsromane können den Bereichen der Lust und der Wollust zugleich zugeordnet werden. Sie erregen, euphorisieren und sind tief in der Kultur, der sie entstammen, verwurzelt. Zugleich sind ihnen Momente des Sich-Verlierens inhärent und gerade, wenn sie das Thema Geschlecht verhandeln, hat man das Gefühl, sich zu verlieren und spürt zum Teil ein gewisses Unbehagen. Sie sind nicht klar zuzuordnen. Auch in dem Versuch einer weiteren Trennung von (Texten der) Lust und Wollust, die Barthes an anderer Stelle mithilfe der Psychoanalyse versucht, lassen sich die Gralsromane nicht einpassen. Laut der Psychoanalyse ist
1
Barthes, Roland: Die Lust am Text. Aus dem Französischen von Traugott König. Frank-
2
Vgl. hierzu auch die Überlegungen von Andreas Kraß zu Sedgwicks Textbegehren. In:
furt am Main 1974, S. 12. Kraß (2003), S. 22. 3
Barthes (1974), S. 8f. Er stellt zudem unter der Überschrift „Lust am Text, Text der Lust“ klar, dass Lust immer Wollust mit beinhaltet und auch immer beide Sinngehalte hat. Vgl. ebd., S. 30.
4
Barthes (1974), S. 22.
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Lust sagbar, Wollust dagegen ‚un-sagbar‘ und ‚unter-sagt‘.5 Die mittelalterliche wie zeitgenössische Gralsliteratur weist auch hier beide Züge auf. Was auf den ersten Blick untersagt wird und deswegen ungesagt bleiben soll, schwingt in dem, was der Text aussagt, doch immer mit. Da Lust und Text laut Barthes möglichst eng zusammengehören, können Texte als erotische Körper angesehen werden. Die größte Wirkung, die ein Text entfalten kann, die (Wol-)Lust,6 ist in seiner Brüchigkeit zu finden. So schreibt Barthes: „Ist die erotischste Stelle eines Körpers nicht da, wo die Kleidung auseinanderklafft? […] Die Unterbrechung ist erotisch, wie die Psychoanalyse richtig gesagt hat: die Haut, die zwischen zwei Kleidungsstücken glänzt […], zwischen zwei Säumen […]; das Glänzen selbst verführt, oder noch besser: die Inszenierung des Auf- und Abblendens…“7
Da Barthes’ Text und Körper oft synonym verwendet,8 könnte man hier auch sagen: Die (Wol-)Lust sucht sich die erotischste Stelle des Textes nicht dort, wo er einheitlich, sondern dort, wo er gespalten ist, denn hinter dem Spalt blitzt etwas ‚Glänzendes‘ auf. Zugleich ist es jedoch auch nicht die Lust, die dem Text selbst Brüche zufügt, denn „nicht Gewalt imponiert der (Wol-)Lust; die Zerstörung interessiert sie nicht; was sie will, ist ein Ort des Sich-Verlierens, der Riß, der Bruch, die Deflation, das fading, das das Subjekt mitten in der Wollust ergreift.“9 Die (Wol-)Lust trägt nach Barthes ungewöhnliche Momente des Neutralen in sich, Momente, in denen „jegliches Imaginarium des Redens erst einmal eleminiert ist.“10 Barthes hat somit das Objekt des Begehrens in den literarischen Text eingeschlos-sen und zugleich dessen immerwährende Heterogenität anerkannt.11 Das Moment des Neutralen in der erotischen Begegenung mit dem Text(-Körper) wurde wegen seiner Tendenzen zu einem de-gendering kritisiert: „Barthes fetischisiere vielmehr das Fragmentarische und neutralisiere den Text-Körper im Sinn von de-sexualisieren, unkenntlich machen in bezug auf geschlechtliche
5
Vgl. zum Unter-Sagen auch Lacan: Lacan, Jacques: „Subversion des Subjekts und Dialektik des Begehrens im Freudschen Unterbewussten.“ In: Ders. (1975), S. 167-204, hier S. 174f.
6
Um zu zeigen, dass die beiden Begriffe plaisir und jouissance nicht klar zu trennen sind
7
Barthes (1974), S. 16f.
8
„Der Text hat eine menschliche Form, er ist eine Figur, ein Anagramm des Körpers.“
und dual auftreten, wird im Folgenden immer diese Schreibweise verwendet.
Vgl. Barthes (1974), S. 25f. 9
Barthes (1974), S. 14.
10 Barthes (1974), S. 24. 11 Bossinade (2000), S. 69.
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Differenz.“12 Man kann diesen Vorwurf jedoch auch umkehren. Ist es denn nicht gerade die Stärke von Barthes Theorie sich statt auf Eindeutigkeit und Festschreibung auf Vielfalt und Brüche zu beziehen? Auch Anna Klosowska sieht in Roland Barthes ‚erotischem‘ Textbezug große Vorteile für einen queeren Zugang zum historischen Material: „For me, unlike historians or literary historicists, all fiction corresponds to an absolute reality – not of existence, but of desire that calls fiction into being, performed by the authors and manuscript makers; and continuing desire for it performed by the readers, a desire that sustains the book’s material presence across centuries. That desire is incorporated in an existence. It is the backbone of an identity. It is an essential part of the bundle of motives that lie behind all that the body does. A part essential because it is retrievable, but also because it is privileged: art reveals more of life than life does.“13
Die Kunst, die mehr vom Leben erzählen kann als das Leben selbst, schließt auch die Gralsliteratur mit ein. Die Gralsromane zeigen die Barthessche (Wol-)Lust am Text und andere Deutungen von Begehren wie keine andere Gattung. Hinzu kommt die permanente Verschiebung und Unfassbarkeit des Grals und der dennoch unablässige Versuch, das Begehren nach ihm zu stillen. Es ist genau das, was die Beschäftigung mit dem Gral so fesselnd macht. Der Gral und alles, was damit zu tun hat, belegt sowohl in den mittelalterlichen als auch in den zeitgenössischen Deutungen ein Geheimnis. In seiner Sphäre sind Begehren und Geschlecht, wie vor allem die mittelalterlichen Gralsromane zeigen, nicht eindeutig definier- oder festschreibbar.14 Ein geheimer Rest, die „Vagheit und Verschwommenheit“15 des epistemischen sowie die Unerreichbarkeit des Lacanschen Dings wohnt dem Gral in allen vier analysierten Gralsromanen inne. Er ist, mit einer Formulierung Foucaults, „Überschuss des Signifikats im Verhältnis zum Signifikanten“, ein „notwendigerweise nicht formulierter Rest des Denkens, den die Sprache im Dunkeln gelassen hat“, ein „Rückstand, der dessen Wesen ausmacht und der aus seinem Geheimnis hervorzuholen ist.“16 Aus diesem Grund werden zwar immer wieder Anstrengungen unternommen, den Gral und sein Geheimnis zu lösen, die Leerstelle, die er ist, zu 12 Zur Kritik von feministischer Seite, vgl. Bossinade (2000), S. 69. 13 Klosowska (2005), S. 7. 14 Vgl. Zum Geheimnis rund um die Themen Geschlecht und Begehren im Mittelalter: Lochrie, Karma: „Don’t Ask, Don’t Tell: Murderous Plots and Medieval Secrets.“ In: Fradenburg, Louise/Freccero, Carla: Premodern Sexualities, London 1996, S. 137-152, v.a. S. 138f. und 149f. 15 Rheinberger (2006), S. 27. 16 Foucault, Michel: Diskurstheorie und Literaturwissenschaft. Frankfurt am Main 1988, S. 245.
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füllen und das Begehren, das er auslöst, zu stillen. Die Gralsgeschichte ist immer auch eine „Geschichte von Spuren und Dingen.“17 Somit ist der Gral tatsächlich ein Ding und in dieser Definition vom Maskulinum in die Neutralität enthoben. Seit er oder es das erste Mal gedacht, geschrieben, interpretiert und rezipiert worden ist, galt und gilt bis heute: Der Gral ist das Ding, das „kein Ende“18 hat, ein Ding, das stets Geschlecht verhandelt und Begehren verschiebt.
17 Rheinberger (2006), S. 288. 18 Mertens, Volker: „Der mythische und der heilige Gral.“ In: Wer ist der Gral. Geschichte und Wirkung eines Mythos (2008), S. 7-15, hier S. 13. Dass die Gralsgeschichte untrennbar mit den Themen Geschlecht und Begehren verbunden ist, zeigt auch Wagners Parsifal: „Auch Wagners Gralsritterschaft im Parsifal kann bereits als Ästhetisierung derselben Dichotomie interpretiert werden, verbirgt sich doch hinter dem zwanghaften Ritual der Gralsenthüllung eine nach dem Verlust des heiligen Speers als männliches Sexualsymbol defizitär in der Folge neurotisch gewordener Geschlechtsidentität.“ (Friedrich, Sven: „Der Gral unter dem Hakenkreuz – Zur Bedeutung und Funktion des Gralssymbols für die NS-Ideologie.“ In: Wer ist der Gral. Geschichte und Wirkung eines Mythos, S. 27-37, hier S. 31). Nicht umsonst ist die Gralsversion Wagners zudem ein beliebtes Objekt der Queer Studies. Im Vgl. mit Wolframs Gralsroman: Wyss (2009); ferner auch Pursell, Tim: „Queer Eyes and Wagnerian Guys. Homoeroticism in the Art of the Third Reich.“ In: Journal of the History of Sexuality Vol. 17.1 (2008), S. 110-137.
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© Deutsches Dokumentationszentrum für Kunstgeschichte – Bildarchiv Foto Marburg, Aufnahme-Nr.: 1.003.613
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Abbildung 2: Leonardo da Vinci, Das Letzte Abendmahl, Detailansicht: Lieblingsjünger Johannes
© Deutsches Dokumentationszentrum für Kunstgeschichte – Bildarchiv Foto Marburg, Aufnahme-Nr.: 1.172.247
Abbildung 3: Albrecht Dürer, Die große Passion, Das letzte Abendmahl (1510)
© Deutsches Dokumentationszentrum für Kunstgeschichte – Bildarchiv Foto Marburg, Aufnahme-Nr.: 117.774
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Abbildung 4: Bernaert van Orley, Das letzte Abendmahl (um 1520), Wandteppich, gewebt von Pieter de Pannemaker, Robert Lehman Collection, 1975 (1975.1.1915), The Metropolitan Museum of Art, New York
© ARTstor CollectionMetropolitan Museum of Art – Images for Academic PublishingID, The Metropolitan Museum of Art, New York.
Abbildung 5: Leonardo da Vinci, Johannes Täufer (1513–1516), Musée du Louvre, Paris
© Deutsches Dokumentationszentrum für Kunstgeschichte – Bildarchiv Foto Marburg, Aufnahme-Nr.: 1.008.530
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Abbildung 6: Leonardo da Vinci, Das Letzte Abendmahl, Detailansicht: Jüngergruppe mit Philippus
© Deutsches Dokumentationszentrum für Kunstgeschichte – Bildarchiv Foto Marburg, Aufnahme-Nr.: 1.082.079
Abbildung 7: Leonardo da Vinci, Proportionsstudie von Vitruv (1505), Galleria dell’ Accademia, Venedig
© Deutsches Dokumentationszentrum für Kunstgeschichte – Bildarchiv Foto Marburg, Aufnahme-Nr.: 1.095.097
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Abbildung 8: Leonardo da Vinci, Mona Lisa (La Giaconda) (1503–1505), Musée du Louvre, Paris
© Deutsches Dokumentationszentrum für Kunstgeschichte – Bildarchiv Foto Marburg, Aufnahme-Nr.: 660.792
Abbildung 9: Marcel Duchamp, L.H.O.O.Q, 1919. Teil von Ders.: La boîte en valise (Schachtel im Koffer), 1964, Köln, Museum Ludwig, Inv.-Nr.: ML 76/SK 0282
© Rheinisches Bildarchiv, rba_207 083
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Abbildung 10: Philippe Halsman, Dalí Mona Lisa, 1953, Photomontage, The Vera and Arturo Schwarz Collection of Dada and Surrealist Art in the Israel Museum, The Israel Museum, Jerusalem
© The Israel Museum, Jerusalem and © Halsman Estate, Accession number: B99.1669.
Abbildung 11: Hieronymus Bosch, Garten der Lüste (um 1500), Mitteltafel, Museo del Prado Madrid
© Deutsches Dokumentationszentrum für Kunstgeschichte – Bildarchiv Foto Marburg, Aufnahme-Nr.: Z 21.905
Lettre Peter Braun, Bernd Stiegler (Hg.) Literatur als Lebensgeschichte Biographisches Erzählen von der Moderne bis zur Gegenwart April 2012, 412 Seiten, kart., mit farb. Abb., 36,80 €, ISBN 978-3-8376-2068-9
Eva Erdmann Vom Klein-Sein Perspektiven der Kindheit in Literatur und Film Dezember 2012, ca. 200 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN 978-3-89942-583-3
Annette Gilbert (Hg.) Wiederaufgelegt Zur Appropriation von Texten und Büchern in Büchern Juli 2012, 426 Seiten, kart., zahlr. Abb., 36,80 €, ISBN 978-3-8376-1991-1
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Lettre Ursula Hennigfeld (Hg.) Nicht nur Paris Metropolitane und urbane Räume in der französischsprachigen Literatur der Gegenwart August 2012, 260 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1750-4
Rudolf Käser, Beate Schappach (Hg.) Krank geschrieben Rhetoriken von Gesundheit und Krankheit im Diskursfeld von Literatur, Geschlecht und Medizin Januar 2013, ca. 378 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1760-3
Malte Kleinwort, Joseph Vogl (Hg.) Eingänge in »eine ausgedehnte Anlage« Topographien von Franz Kafkas »Das Schloss« Februar 2013, ca. 300 Seiten, kart., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2188-4
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Lettre Vera Bachmann Stille Wasser – tiefe Texte? Zur Ästhetik der Oberfläche in der Literatur des 19. Jahrhunderts
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Januar 2013, ca. 315 Seiten, kart., ca. 35,80 €, ISBN 978-3-8376-2099-3
Christine Bähr Der flexible Mensch auf der Bühne Sozialdramatik und Zeitdiagnose im Theater der Jahrtausendwende
Takemitsu Morikawa Japanizität aus dem Geist der europäischen Romantik Der interkulturelle Vermittler Mori Ogai und die Reorganisierung des japanischen ›Selbstbildes‹ in der Weltgesellschaft um 1900
September 2012, 520 Seiten, kart., 39,80 €, ISBN 978-3-8376-1557-9
Andrea Ch. Berger Das intermediale Gemäldezitat Zur literarischen Rezeption von Vermeer und Caravaggio
Dezember 2012, ca. 320 Seiten, kart., ca. 38,80 €, ISBN 978-3-8376-1893-8
Juli 2012, 266 Seiten, kart., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-2069-6
Oliver Ruf Zur Ästhetik der Provokation Kritik und Literatur nach Hugo Ball
Matteo Colombi (Hg.) Stadt – Mord – Ordnung Urbane Topographien des Verbrechens in der Kriminalliteratur aus Ost- und Mitteleuropa
Oktober 2012, 364 Seiten, kart., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-2077-1
Oktober 2012, 312 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1918-8
Daniel Henseler, Renata Makarska (Hg.) Polnische Literatur in Bewegung Die Exilwelle der 1980er Jahre Dezember 2012, ca. 370 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 36,80 €, ISBN 978-3-8376-2032-0
Thomas Lischeid Minotaurus im Zeitkristall Die Dichtung Hans Arps und die Malerei des Pariser Surrealismus
Stephanie Schmitt Intermedialität bei Rolf Dieter Brinkmann Konstruktionen von Gegenwart an den Schnittstellen von Text, Bild und Musik November 2012, 270 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-2224-9
Markus Tillmann Populäre Musik und Pop-Literatur Zur Intermedialität literarischer und musikalischer Produktionsästhetik in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur Dezember 2012, ca. 300 Seiten, kart., ca. 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1999-7
Juli 2012, 356 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 39,80 €, ISBN 978-3-8376-2103-7
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Dorothee Kimmich, Schamma Schahadat (Hg.)
Essen Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 1/2012
Mai 2012, 202 Seiten, kart., 8,50 €, ISBN 978-3-8376-2023-8 Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften bietet eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über »Kultur« und die Kulturwissenschaften – die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur sowie historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus wird mit interdisziplinären Forschungsansätzen diskutiert. Insbesondere jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen kommen dabei zu Wort. Lust auf mehr? Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen 11 Ausgaben vor. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften kann auch im Abonnement für den Preis von 8,50 € je Ausgabe bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]
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