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German Pages 322 [321] Year 2015
Paul Mecheril, Monika Witsch (Hg.) Cultural Studies und Pädagogik
Paul Mecheril, Monika Witsch (Hg.)
Cultural Studies und Pädagogik Kritische Artikulationen
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. © 2006 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat: Paul Mecheril, Monika Witsch Satz: Hannes Meder-Wernicke Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 3-89942-366-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
I N H A LT PAUL MECHERIL /MONIKA WITSCH Cultural Studies, Pädagogik, Artikulationen. Einführung in einen Zusammenhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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RAINER WINTER Kultur, Reflexivität und das Projekt einer kritischen Pädagogik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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ANDREAS HEPP Cultural Studies, die Globalisierung der Medien und transkulturelle Medienpädagogik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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S. KARIN AMOS Zur Imagination der komplementären pädagogischen Praktiken des „Rettens“ und „Jätens“: Überlegungen im Anschluss an Cultural Studies und Gouvernementalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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SVEN SAUTER Die Schule als Kampfplatz und als Aushandlungsraum. Über die soziale Bedeutung des Wissens aus der Perspektive der Cultural Studies. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 ANA LAURA GALLARDO GUTIÉRREZ Das mexikanische Erziehungssystem. Historische und systematische Anmerkungen zum Problem „Interkulturalität“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 ALICIA DE ALBA Der Kulturelle Kontakt. Anknüpfung an die Concheros, den Jazz, die Mariachis und an Mozart . . . . . . . . . 189
KIEN NGHI HA /MARKUS SCHMITZ Der nationalpädagogische Impetus der deutschen Integrations(dis)kurse im Spiegel post-/kolonialer Kritik . . . . 225 VALERIE SCATAMBURLO-D’ANNIBALE /PETER MCLAREN Class dismissed? Historical Materialism and the Politics of “Difference” . . . . . . 267 HARM PASCHEN Öffnen, aber auch Schließen. Ein Kommentar zu „Cultural Studies und Pädagogik. Kritische Artikulationen“ . . 295 Autorenverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319
PAUL M ECHERIL / M ONIKA W ITSCH
C U LT U RA L S T U D I E S , P Ä DAG O G I K , A RT I KU L AT I O N E N . E I N F Ü H R U N G I N Z U SA M M E N H A N G
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Zu Beginn des 21. Jahrhunderts befinden wir uns in einer akademischen Situation, in der innerhalb der Sozial- und Geisteswissenschaften der Hinweis auf die prinzipielle Bedeutung der kulturellen Dimension gesellschaftlicher Realität weithin akzeptiert ist. Zu dieser kulturellen und kulturalisierenden Auffassung von Gesellschaft und ihren Teilbereichen, von sozialen Beziehungen und Interaktionen, von Organisationen und Institutionen wie beispielsweise Bildungsinstitutionen haben im angloamerikanischen Bereich die Cultural Studies (CS) nicht nur einen wesentlichen Beitrag geleistet, der Prozess ihrer akademisch-universitären Institutionalisierung und ihr hoher Bekanntheitsgrad sind Indiz dieser zuweilen cultural turn genannten Entwicklung. Hierbei ist es insgesamt so, dass CS nicht als spezifische wissenschaftliche Disziplin zu verstehen noch einer bestimmten wissenschaftlichen Disziplin zugeordnet sind, sie werden auch nicht primär über vorgegebene Gegenstandsbereiche definiert, sondern durch eine bestimmte Herangehensweise. Diese Herangehensweise möchten wir – so wie sie sich uns im Rahmen unseres Versuchs, über Zusammenhänge zwischen CS und Pädagogik nachzudenken, darstellt und dienlich ist – einführend skizzieren, um daran anschließend die Idee, Anliegen und „Machart“ dieses Buches zu erläutern. Mit der Gründung des Centre for Contemporary Cultural Studies in Birmingham Mitte der 1960er Jahre setzte zunächst im britischen, später auch im nordamerikanischen Raum die Entwicklung, Konsolidierung und Differenzierung einer Forschungstradition ein, die durchaus auf eine „Erfolgsgeschichte“ zurückblicken kann. So kennzeichnet Lawrence Grossberg CS als „weltumspannende[s] Feld intellektueller Praxis“ (1999: 47). Mit der Expansion der CS ging die Intensivierung einer in der Praxis dieser Tradition von jeher
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angelegten Beweglichkeit, Vervielfältigung, Anschmiegsamkeit und Neueinstellung des intellektuellen Tuns bezogen auf empirische Felder, Gegenstände, Fragestellungen und Problemlagen einher, die es sehr schwer macht, CS als Programm oder Forschungsidee wiederzugeben. „Cultural Studies ist solch ein umkämpfter und seit neustem gängiger Ausdruck“, heißt es mehr oder weniger lapidar bei John Fiske (1999: 238), „daß ich alle Ansprüche aufgeben muß, ihn zu definieren oder für das gesamte Gebiet zu sprechen“. Wie also Cultural Studies darstellen? In Umkehrung der Vorliebe der CS, Heterogenität, Diversität und Widersprüche in den Blick zu nehmen, geht es uns hier nicht um eine Darstellung von CS, die dieser methodologischen Präferenz entspricht, also weniger um eine Darstellung der CS, die diese in ihren Kontroversen und internen Differenzen zur Geltung bringt, sondern eher um eine mögliche Lesart der Art und Weise, wie Fragen in den CS gestellt und Probleme behandelt werden. Diese Lesart wird zwar von dem Zusammenhang divergierender Auffassungen innerhalb der CS getragen. Inwiefern die skizzierte Auffassung aber als angemessen bezeichnet werden kann, ist – methodologisch gesprochen – in erster Linie eine Frage ihres operativ-praktischen Nutzens und ihres kommunikativen Anregungsgehaltes und nur nachgeordnet eine Frage der „korrekten Repräsentation“. Auch im deutschsprachigen Bereich ist in den letzten Jahren ein breites Interesse an Methoden, Fragestellungen und Thematisierungsformen der CS entstanden. Dies kann mit der zunehmenden Beachtung der kulturellen Dimension sozialer Verhältnisse in Zusammenhang gebracht werden, die zumindest im angloamerikanischen Bereich zu einer Art kulturwissenschaftlichen Wende in den Sozial- und Geisteswissenschaften beigetragen hat. Kulturellen Fragen kommt aufgrund einer „Expansion der Kultur in alle Bereiche des sozialen Lebens“ eine immer größere Bedeutung zu (Hörning & Winter 1999: 7). In den CS wird „Kultur“ als relativ autonome Sphäre gedacht, die zwar von ökonomischen und sozialstrukturellen Verhältnissen vermittelt und beeinflusst ist, der jedoch ein eigenes Potenzial der Bestätigung von Differenz- und Ungleichheitsverhältnissen, aber auch das Potenzial ihrer Verschiebung und Verflüssigung zugesprochen wird. Die kulturelle Sphäre, so wie sie sich in den sozialen Verhältnissen darstellt, die im Rahmen der CS von Interesse sind, ist weniger durch Homogenität, Stabilität und Klarheit gekennzeichnet. Vielmehr breitet die Offenheit von Kultur
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gewissermaßen ein Forum aus, in dem Kämpfe um Bedeutungen geführt werden. „Kultur“ ist eine Perspektive, die von den CS eingebracht wird, um die polyphonen, stets umstrittenen und umkämpften, komplexen Prozesse der Konstruktion von sozialen Differenzen und Identitäten zu beschreiben und zu untersuchen. Im Mittelpunkt der kulturellen und, wenn „Kultur“ als analytische Perspektive verstanden wird, die erkenntnisproduktiv ist, also Zusammenhänge nicht allein wiedergibt, sondern sie auch erzeugt, kulturalisierenden Studien steht hierbei eine analytische Haltung, die die enge Verbindung von Subjektivität und Macht zum Ausgangspunkt und Gegenstand des Interesses macht. „Meiner Ansicht nach“, schreibt Richard Johnson (1999: 143f.), der in den 1980er Jahren die Position des Direktors des Birminghamer Centre inne hatte, „beschäftigen sich die Cultural Studies mit den historischen Formen des Bewußtseins oder der Subjektivität, oder mit den subjektiven Formen, in denen und durch die wir leben, oder – eine etwas gefährliche Verkürzung, wenn nicht gar Reduktion – mit der subjektiven Seite der gesellschaftlichen Verhältnisse.“ Wenn Kultur als Medium der Verschränkung von Macht und Subjektivität gedacht wird und das zentrale Interesse der CS in der Analyse dieser Verschränkung wiederzufinden ist (Kögler 1999: 196), dann stellt sich im Bereich der CS die Frage, wie soziale Praktiken der Macht mittels kultureller Sinnproduktion zur Konstitution der Subjekte beitragen. Dieses „wie“ ist in den CS sowohl eine theoretische als auch empirische Frage. Das Subjekt, das in den CS zum empirischen und theoretischen Thema wird, ist somit ein von Machtprozessen nicht nur durchzogenes und gezeichnetes Subjekt, sondern eines, das gar nicht anders als in sozialen, politischen und gesellschaftlichen Kräftefeldern nahegelegtes und hervorgebrachtes Phänomen zu verstehen ist (Mecheril 2006). Die empirische Analyse von kulturellen Phänomenen der Differenzierung und Identifizierung in der Tradition der CS greift auf unterschiedliche Ansätze der qualitativen Forschung zurück. CS kann als intellektuelles Feld beschrieben werden, in dem unterschiedliche empirische Zugänge zu sozialer Wirklichkeit anzutreffen sind, die von zwei Prämissen ausgehen. Die erste Prämisse besagt, dass für soziale Wirklichkeit das Prozessieren von kulturellen Bedeutungen konstitutiv ist. „Wenn man das Hauptaugenmerk auf das Kulturelle im Gegensatz zum Sozialen legt“, schreibt Stuart Hall (1999: 99), „so muß man sich zwangsläufig mit Fragen der
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Bedeutung befassen, das heißt, wie Individuen ihrem Alltag und ihrem Platz darin Sinn geben“. Dass diese Bedeutungsabläufe der Bestätigung des Vorherigen, der Absetzung vom Vorherigen, der Strukturierung der Welt in Differenzfiguren immer mit der Frage der Macht verknüpft sind, also nicht nur an soziale Asymmetrien, rechtliche und politische Dominanzverhältnisse anschließen, sondern in diesem sozialen Kräftefeld selbst machtvoll produktiv sind, kann als zweite grundlegende Prämisse bezeichnet werden. Mit Bezug auf kulturelle Subjektivierungsformen ist die Analyse des Subjekts in den CS „heruntergekommen“, und zwar insofern sie sich nicht allein mit dem Abstraktum Subjekt, sondern, dieses herabgeholt, mit konkreten Formen der Konstituierung und Konstruktion von empirischen Subjekten beschäftigt. Es gibt insbesondere starke Bezüge zwischen den CS und ethnographischen und kulturanthropologischen Ansätzen, die am Paradigma der anthropology at home orientiert sind. Das Interesse an der Beforschung der Subjektperspektive (Analyse von Erfahrungen und von Handlungskonzepten der Alltagssubjekte) koaliert hier mit dem Interesse an der Analyse der „überindividuellen“ kulturellen Strukturen. Eine solche Analyse alltagsweltlicher Phänomene imponiert dort, wo es – wie in prominenten Beispielen der CS, etwa in den Studien von Paul Willis (1977) oder Phil Cohen (1994) – gelingt, die Bezogenheit auf kulturelle Praktiken von Alltagssubjekten mit einem deutlichen Interesse an der begrifflichen Reflexion von alltagsweltlichen und wissenschaftlichen Voreinstellungen in der methodologischen Absicht der Generierung von theoretischer Einsicht zu verbinden. CS sind also alles andere als ein kulturelle Phänomene archivierendes Beschreibungsprojekt. Ihr Hauptanliegen kann als Theoretisierung von kulturellen Alltagspraktiken bezeichnet werden, ein Anliegen, das zwar in einer theoretischen Tradition und einem Denkrahmen steht, diese Traditionen (etwa Althusser, Gramsci) aber überlagert (etwa durch die Rezeption Foucaults, feministischer und poststrukturalistischer Texte), um das theoretische Projekt der CS weiterzuführen. Stuart Hall hat diesen Prozess als „Ringen mit den Engeln“ bezeichnet (2000: 39). Lawrence Grossberg (2000: 194) beschrieb dies so: „Cultural Studies erzeugen sich immer neu, indem sie auf eine Welt reagieren, die immer neu erzeugt wird.“ Hierbei, und darin unterscheiden sich CS von vielen anderen universitär-akademischen Ansätzen, ist die analytische, auf Er-
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kenntnis zielende Praxis nicht „Letztzweck“ des Projektes. CS beschäftigen sich mit kulturellen Differenz- und Machtverhältnissen, tun dies aber in einer durchaus unnüchternen Weise. Auch deshalb stellen die CS weniger ein spezifisches Forschungsprogramm dar, sondern sind vielmehr zu verstehen als methodisches und erkenntnispolitisches Strategienbündel in der Analyse von Alltagspraxen und kulturellen Subjektivierungsformen. „Cultural Studies kann als intellektuelle Praxis benannt werden, die beschreibt, wie das alltägliche Leben (everyday life) durch und mit Kultur definiert wird, und die Strategien für eine Bewältigung seiner Veränderungen anbietet“ (Lutter /Reisenleitner, 1998: 9). Das Anliegen der CS ist charakterisiert durch die produktive Verschränkung eines analytischen Zugangs zu Alltagspraxis mit intellektuellem Engagement. In diesem Sinne sind CS nicht allein ein akademisches, sondern auch ein politisches Projekt, das bei der Generierung von theoretischen Einsichten nicht stehen bleibt, sondern diese Einsichten und Perspektiven immer als politische Einsichten versteht und auf ihren politischen Gehalt hin reflektiert. „Cultural Studies“, so beschreibt dies Grossberg, „sind immer daran interessiert, nachzuspüren, wie Macht in die Möglichkeiten der Menschen, ihr Leben auf würdige und sichere Art zu verbringen, eindringt, sie beschneidet und sich ihrer bemächtigt“ (1999: 62). Mit der politischen Ausrichtung und dem politischen Anspruch der CS ist ein Wissenschaftsmodell verknüpft, das als pragmatistisches Modell bezeichnet werden kann. Die theoretische Arbeit, der es bedarf, „um die Dunkelheit des Offensichtlichen zu erhellen“ (Hall 1999: 119), dient etwas Wichtigerem – dem Engagement für eine „bessere Welt“. Besonders deutlich wird diese Orientierung etwa in den Texten von Lawrence Grossberg, der theoretische Einsichten als Werkzeuge versteht, die nicht nur zu tentativen und allein vorläufig gültigen Antworten auf die Frage, wie situierte und kontextualisierte „Individuen ihrem Alltag und ihrem Platz darin Sinn geben“ (Hall), führen, sondern deren Gebrauchswert auch in ihrem Beitrag zu finden ist, den sie zum diskursiven Bezug auf wünschenswertere Verhältnisse leisten: „Obwohl Cultural Studies keinen Anspruch auf Totalität oder Universalität erheben, versuchen sie dennoch, ein besseres Verständnis davon zu entwickeln, wo ‚wir‘ uns befinden, so daß ‚wir‘ an einen anderen, hoffentlich besseren Ort gelangen können. Wobei allerdings die Frage, was besser ist und wie Entscheidungen getroffen werden, wie auch die Frage, wer ‚wir‘
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sind, offen gelassen wird“ (Grossberg 1999: 58; Hervorhebung PM/MW). Grossbergs Kennzeichnung des Grundanliegens von CS macht die grundlegende Figur deutlich, in der sich ein intellektuelles Denken befindet, das aus den Erfahrungen (mit) kritisch-normativer Orthodoxie und ihrer unbarmherzigen Gewissheit gelernt hat, vorsichtig und in gewisser Weise zurückhaltend geworden ist, dennoch den Anspruch, soziale Prozesse in einem kritischen Sinne zur Geltung zu bringen, nicht aufgegeben hat. Wir erkennen hier eine inhaltlich zurückgenommene Haltung von „Kritik“, die „kritisch“ (ausgerichtet) ist, ohne festgelegt zu haben, welches die exakten Kriterien der Kritik sind. In dieser in gewisser Weise reflexiv gebremsten und enthaltsamen Variante der Kritik, eine Art negative Suchperspektive, die nicht genau weiß, wonach sie sucht, gewinnen CS eine Stärke, die in gleichem Maße ihre Schwäche ist. Überzeugend ist die kritische Perspektive dort, wo sie sich in empirischer Anschmiegsamkeit und einer theoretischen „Lernfähigkeit“ zeigt, welche die Wechselspiele von Macht und Subjektivität empirisch und theoretisch anregend zum Thema machen, schwach, im Sinne von unbefriedigend und unwirksam, dort, wo die offene Ausrichtung der Kritik sich als belanglose Variante eines „anything goes“ darstellt. Wenn CS die „Formen abstrahieren, beschreiben und in konkreten Untersuchungen rekonstruieren [will], mittels derer Menschen ‚leben‘, Bewußtsein erlangen, ihr Leben im subjektiven Sinne meistern“ (Johnson, 1999: 145f.), dann legt es die kritische Perspektive der CS auf die Analyse der Bedingungen an, aufgrund derer das Meistern nicht gelingt – ohne auf der einen Seite einen normativen Begriff von „Meistern“ der je konkreten Analyse überzustülpen, und ohne auf der anderen Seite die Beantwortung der Frage nach dem Meistern und nach dem Gelingen in einer idealistischen Überhöhung subjektiver Alltagspraxis und praktischer Subjektivität ganz dem lebenspraktischen Urteil der Subjekte zu übergeben (vgl. auch Kögler 1999). Diese kritiktheoretische und methodologische Spannung, die in empirischen Forschungsprojekten (Studien beispielsweise über Rockmusik, Fernsehshows, Schulpauseninteraktionen oder über Kinofilme) gewissermaßen aufgesucht wird, trägt zu Auffassungen von „Meistern“ bei, die im „Kampf mit den Engeln“ (Hall) und in der Anschmiegung an Empirie gewonnen, verloren, gewonnen, verloren werden. CS stellen mithin weniger ein spezifisches Forschungsprogramm dar, sondern sind vielmehr ein lose gebündeltes Ensemble
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methodischer und erkenntnispolitischer Strategien der Analyse von Alltagspraxen. Im Mittelpunkt dieses Strategienbündels steht ein Verständnis, das Kultur als kontextualiserte machtvolle soziale Praxis versteht. Auf diesen Punkt möchten wir ein wenig genauer eingehen. Insgesamt ist das Aufkommen der CS an eine Krise, eine doppelte Beschädigung des klassischen, traditionellen Kulturbegriffs geknüpft, nämlich an die im vergangenen Jahrhundert einsetzende kulturindustrielle Expansion einerseits und andererseits an die durch die Kritik an elitären Bildungsansätzen ermöglichte Entdeckung der Würde der Alltagskultur. CS untersuchen alltägliche Praxen der Darstellung, der Stellungnahme, der Auseinandersetzung, des Einverständnisses usw. in sozialen Kontexten unter der Perspektive „Kultur“. Wer sich nun die Grundidee der CS für eine erziehungswissenschaftliche Reflexion zunutze macht, entscheidet sich in einem methodologischen Sinne dafür, pädagogische Situationen, pädagogische Handlungen und Konzepte, aber auch außerpädagogische Situationen, Handlungen und Konzepte, so sie pädagogisch relevant sind, als „kulturelle Phänomene“ zu verstehen und unter der Perspektive „Kultur“ zu analysieren. CS gehen im Zuge dieser Kulturalisierung dezidiert davon aus, dass nicht allein dem Hochkulturellen analytische Aufmerksamkeit gebührt, sondern dass alltagsweltliche Erfahrungen und Praxen als kulturelle Erfahrungen und Praxen empirisch und theoretisch ernst zu nehmen sind und den interessanteren Ort der (Re-)Produktion von Kultur darstellen. In den Kulturwissenschaften ist es nicht unüblich, Kultur als System von Symbolen zu verstehen. Dieses symboltheoretische Verständnis von „Kultur“ vereinseitigt aber dann seinen Gegenstand, wenn sie die Symbolkomponente von Kultur zu Lasten kultureller und sozialer Handlungsformen überbetont. In Abgrenzung von dem Kultur einseitig auf „Dargestelltes“ festlegenden Verständnis ist es insofern in Anknüpfung an insbesondere die Tradition der CS, die der intellektuellen Praxis des Centre for Contemporary Cultural Studies verbunden ist, sinnvoll, eine Vorstellung in den Vordergrund rücken, die Kultur als soziale Praxis, als „Darstellendes“ versteht. Der Praxisbegriff betont den Vollzug und die Erfahrung von Tätigkeiten. Kulturelle Praktiken sind Weisen der Unterscheidung, sie erzeugen Unterschiede und werden durch Unterscheidungen erzeugt. Kulturelle Praxen zu untersuchen heißt
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insofern: in alltagsweltlichen Handlungen ersichtlich werdende und diese Handlungen konstituierende symbolische Unterscheidungsweisen zu analysieren. Bei solchen kulturellen Unterscheidungen etwa zwischen „jung und alt“, „mann und frau“, zwischen „fremd und nicht-fremd“ ist in der CS-Tradition, die wir hier modellieren, die Untersuchung der Unterscheidungen von der erkenntnispolitischen Annahme geleitet, dass es sich immer um machtvolle Differenzpraxen handelt, die mit ungleichen, praktisch wirksam werdenden symbolischen Zuteilungen von Ressourcen, Anerkennung und Positionen verknüpft sind. Bei in dieser Weise zur Geltung gebrachten kulturellen Unterscheidungspraxen handelt es sich nicht um „freie“, singuläre Vorkommnisse, sondern um solche, die in historische, politische, (welt-)gesellschaftliche etc. Strukturen, Kontexte und Prozesse eingebunden sind. Wichtig an diesem in einem radikalen Sinne kontextualisierten und kontextrelativen „Nachspüren des Eindringens von Macht“ (Grossberg) ist, dass CS dies in einer an durch empirische Studien geleiteten theoriegenerativen Weise tut, die Theorie nicht als Wahrheitsbeschafferin, sondern als – in einer Art pragmatistischer Epistemologie – tentatives Werkzeug der Generierung von analytischen Lesarten und der Kritik versteht. CS geht dabei von – so ist dies von Hans-Herbert Kögler (1999) formuliert worden – einer Doppelthese aus, die Kulturanalyse auf der einen Seite als Analyse der Verstrickung der Subjekte in und mit machtbestimmte(n) Schemata versteht, andererseits aber kultureller Welterschließung prinzipiell ein kreatives, reflexives und widerständiges Potenzial zuschreibt. Wenn man dieses Potenzial als Bildungsmöglichkeit versteht, als Bildungsprozess untersucht und darüber nachdenkt, aufgrund welcher Ermöglichungsbedingungen sich dieses Potenzial aktualisieren kann, ist die grundlegende pädagogische und erziehungswissenschaftliche Relevanz der CS angesprochen. Dass diese Relevanz mit Bezug auf CS eine gewissermaßen organische Qualität hat, können wir uns mit einem Blick in die Anfänge der britischen CS in der Mitte des 20. Jh. vergegenwärtigen, die maßgeblich von aus der Erwachsenenbildung stammenden Akteuren wie Richard Hoggart oder Raymond Williams beeinflusst wurden (vgl. etwa Bromley 1999). Auch im gegenwärtigen pädagogischen Diskurs finden sich, insbesondere im Feld solcher erziehungswissenschaftlichen Ansätze, die an „kritische“ Traditionen in der Erziehungswissen-
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schaft anknüpfen, Bezüge auf die CS. Wiewohl es also Verbindungen zwischen den CS und erziehungswissenschaftlichen Diskursen gibt, fehlt aber im deutschsprachigen Bereich letztlich eine Auseinandersetzung, die nach dem systematischen Wert der CS für pädagogisches Deuten und Handeln fragt. Diesem Zusammenhang widmet sich das vorliegende Buch. Es fragt nach der Relevanz der Cultural Studies für ein kritisches Nachdenken über pädagogisches Handeln und über pädagogische Perspektiven. Es geht um die allgemeine Frage, inwiefern das „politische Theorieprojekt“ der CS (Stuart Hall 2000) nicht nur zur Erhellung pädagogisch relevanter Felder (z.B. virtuelle Welten oder „kleine“ Alltagsrealitäten) und pädagogisch relevanter Sachverhalte (z.B. rassistische Gewalt, subalterne Identitäten) beiträgt, sondern in der Lage ist, angemessene pädagogische Ausrichtungen (im Sinne von: („theoretischem“) Text, Selbstverständnis, Habitus oder Routine) zu profilieren. Dieser Frage wollen wir in dem vorliegenden Buch in einer Weise nachgehen, die unterschiedliche Perspektiven zur Geltung bringt und nutzt, um Antworten auf die Frage kontrovers, explikativ und anregend zu diskutieren. Es geht hier nicht um eine gewissermaßen enzyklopädische Auslegung des Zusammenhangs zwischen Cultural Studies und Pädagogik, sondern vielmehr um eine Aspekte und Facetten markierende und ins Gespräch bringende sowie möglicherweise in sich spannungsvolle Eröffnung und Fortschreibung des Nachdenkens über den Zusammenhang. Die im vorliegenden Band zur Sprache kommenden Autoren und Autorinnen, die in verschiedenen disziplinären, lingualen und geo-politischen Kontexten mit je eigenen methodischen Zugängen Zusammenhänge zwischen CS und Pädagogik herstellen, spezifizieren, aber auch kritisch in den Blick nehmen, akzentuieren den Zusammenhang von CS und Pädagogik in unterschiedlichen Aspekten und aus unterschiedlichen Perspektiven. Wichtig war uns dabei die Eröffnung eines Diskussionsfeldes, in dem Verbindungslinien zwischen CS und Pädagogik artikuliert werden. Kritische Artikulationen meint eine kontingente Praxis von Verbindungen, von Anschlüssen und kritischen Äquivalenzketten ohne dass damit eine endgültige Anordnung festgeschrieben werden soll. Der Begriff der Artikulation verweist auf einen aus unterschiedlichen Elementen gestalteten Zusammenhang, der ein kontingentes und temporalisiertes Gefüge ergibt, das nur im Kontext spezifischer historischer Bedingungen verstanden werden kann. Der im Unter-
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titel des Buches auftauchende Begriff der Artikulation bezieht sich also auf die Verknüpfung von CS und Pädagogik, auf das Verhältnis und das in Verhältnissetzen diskursiver Stränge, eine Verhältnissetzung, die „kritisch“ ist – wiederum eine mehrfachkodierte Redewendung – weil sie anschließt an (gesellschafts-)kritische Traditionen, aber auch weil sie darauf verweist, dass diese Verbindung für die eine wie für die andere Seite riskant sein mag. Dieses Verständnis von „Artikulation“ verstehen wir als Motto für eine im deutschsprachigen Raum erst beginnende Rezeption der CS für pädagogische Theoriebildung und pädagogisches Handeln. Die hier versammelten Beiträge nehmen dabei verschiedene pädagogische Räume kultureller Praxis in den Blick und machen die Stellen sichtbar, an denen unter Rückgriff auf eine CS-Perspektive nicht nur Prozesse zur Erzeugung und Reproduktion von Identität, Differenz und Zugehörigkeit (macht-)analytisch zugänglich gemacht werden können, sondern an denen auch pädagogisches Handeln und Denken heraus- und aufgefordert ist, Positionierungen und Zuständigkeiten zu überdenken. In einer mehr grundsätzlichen Perspektive beschäftigt sich Rainer Winter in seinem Beitrag mit der Verbindung von CS und einer kritischen Pädagogik und sieht in deren Zusammenschluss eine Quelle für pädagogisches Handeln, das den Sinn von Kultur und den Eigensinn von kultureller Praxis kritisch aufeinander bezieht. Andreas Hepp nimmt die technologische Globalisierung als Anlass, um damit einhergehende veränderte Kommunikationsprozesse nicht nur analytisch zu durchdringen, sondern mit ihnen auch ein Konzept transkultureller Medienpädagogik zu profilieren. Karin Amos reflektiert und beschreibt in der Metaphorik von „Jäten“ und „Retten“ die diskursiv-kulturelle Praxis des schulischen Ausschlusses als eine hegemonial konstituierte Strategie, die bereits im Verhältnis von Staat und Bürger angelegt ist. Sven Sauter thematisiert am (Miss-)Verhältnis von schulischer Wissensvermittlung und Wissensgebrauch als sozialer Praxis die noch offenen, weil bislang nicht eingelösten Ansprüche an eine schulische Lehr- und Lernkultur im Sinne einer Kultur der Verhandlung und der Irritation. Ana Laura Gallardo Gutiérrez zeichnet den Weg des mexikanischen Erziehungssystems nach, über einen Mythos der Gleichheit und des Mestizentums eine Idee von gemeinsamer Gesellschaft zu denken und zu formen, die aber bis heute nicht erreicht hat, die Differenz von Indigenen und Mestizen in eine
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Einheit von Gesellschaft einzubringen. Alicia de Alba formuliert angesichts der strukturellen Krise (politisch, wissenschaftlich), kulturelle Probleme in den Griff oder gar lösen zu können, ein Konzept des „kulturellen Kontaktes“, mit dem sie autobiographisch die im Kontakt, in der Auseinandersetzung mit anderen sichtbar werdenden Irritationen von Identität fruchtbar macht für eine Transformation, eine Neueinstellung des Eigenen. Kien Nghi Ha und Markus Schmitz gehen in ihrem Beitrag dem nationalpädagogischen Impetus deutscher Integrations(dis)kurse nach und untersuchen die Integrationspraxis in ihrem Äquivalenzverhältnis zu kolonialer Einschreibungen. Valerie Scatamburlo-D’Annibale und Peter McLaren analysieren das Differenzphänomen als Klassendifferenz und argumentieren vor dem Hintergrund postmarxistischer Kritik, indem sie sowohl einen ökonomischen Determinismus als auch einen ökonomischen Reduktionismus zurückweisen, gleichwohl an der zentralen Bedeutung der Klassendimension zur Erklärung von Ungleichheit und der Produktion von Differenz festhalten. Wir danken den Autoren und Autorinnen herzlich für die Mitwirkung an diesem Buchprojekt; dies umso mehr als sie sich durch das „diskursive Konzept“ der Publikation auf ein in seinem Ergebnis nicht vorhersehbares Projekt und der Einbettung ihrer Texte darin eingelassen haben. Wir haben die Kollegen Norbert Meder und Harm Paschen, beide eher in der Allgemeinen Pädagogik als in den CS „zu Hause“, gebeten, die Beiträge des Buches zu kommentieren und die in den Texten angesprochenen und verborgenen Zusammenhänge zwischen CS und Pädagogik zu beleuchten, sie zu bestätigen, zu differenzieren und zu explizieren, sie zu ergänzen und auch anzuzweifeln. Diese Kommentare – der Kommentar von Harm Paschen findet sich am Ende des Buches als fortlaufender Text; bei der Wiedergabe des Kommentars von Norbert Meder haben wir uns für eine Zweispalten-Darstellung entschieden, so dass im Buch nachvollziehbar wird, auf welche Passagen der Beiträge der Kommentar sich bezieht – diese kritischen Artikulationen, diese auch riskanten Verknüpfungen werden durch das vorliegende Buch nunmehr auch den Autoren und Autorinnen zugänglich. Wenn, wie mit diesem Buch initiiert, Verkettungs- und Verbindungslinien sowie wechselseitige Anschlussmöglichkeiten zwischen den CS und der Pädagogik, zwischen unterschiedlichen diskursiven Kontexten und Praxen nachgegangen werden soll, so sollten eben beide Diskurse zur Sprache gebracht, d.h. gehört wer-
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den. Die Idee, beide Sprachspiele zusammen zu bringen, möglicherweise gegeneinander auszuspielen, wird, wie sollte es anders sein, nicht von dem Erfordernis, schließlich zu einem konsensualen Ergebnis zu gelangen, organisiert. Das Konzept dieses Buches artikuliert vielmehr eine Sympathie für das Widerstreitende und zwar in dem Sinne, wie Lyotard den Widerstreit versteht „als der instabile Zustand und der Moment der Sprache, in dem etwas, das in Sätze gebracht werden können muß, noch darauf wartet“ (Lyotard 1989: 33). In diesem Sinne hoffen wir auf eine intensive Fortführung des hier begonnenen Dialogs und bedanken uns herzlich bei Norbert Meder und Harm Paschen an der Eröffnung dieser am Anfang stehenden Debatte mitgewirkt zu haben. Danken möchten wir weiterhin jenen, die an dem Zustandekommen dieses Buches mitgewirkt haben, indem sie Vorfassungen der Beiträge gelesen, kommentiert und bearbeitet und uns in der editorischen Tätigkeit unterstützt haben: Ulrike Niermann, Daniela Probadnick und Anne Broden. Ein besonderer Dank gilt Daniela Adán für die Übersetzungen der spanischen Texte und Hannes Meder-Wernicke für die professionelle Gestaltung des Buches.
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Literatur Bromley, Roger (1999) Cultural Studies gestern und heute. In: Roger Bromley /Udo Göttlich /Carsten Winter (Hg.) Cultural Studies. Grundlagentexte zur Einführung. Lüneburg: zu Klampen, S. 9-24. Cohen, Phil (1994) Verbotene Spiele. Theorie und Praxis antirassistischer Erziehung. Hamburg: Argument. Fiske, John (1999) Frauen und Quiz-Shows. Konsum, Patriarchat und widerständige Vergnügen. In: Jan Engelmann (Hg.) Die kleinen Unterschiede. Frankfurt a.M.: Campus Verlag, S. 175-186. Grossberg, Lawrence (1999) Was sind Cultural Studies? In: Karl H. Hörning / Rainer Winter (Hg.): Widerspenstige Kulturen. Cultural Studies als Herausforderung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 43-83. Grossberg, Lawrence (2000) Cultural Studies in /and New Worlds. In: ders. What’s Going on? Cultural Studies und Populärkultur. Wien: Löcker, S. 209-221. Hall, Stuart (1999) Ein Gefüge von Einschränkungen. Gespräch zwischen Stuart Hall und Christian Höller. In: Jan Engelmann (Hg.). Die kleinen Unterschiede. Frankfurt a.M.: Campus Verlag, S. 99-122. Hall, Stuart (2000) Das theoretische Vermächtnis der Cultural Studies. In: ders. Cultural Studies. Ein politisches Theorieprojekt. Hamburg: Argument, S. 34-51. Hörning, Karl /Winter, Rainer (1999) Widerspenstige Kulturen. Cultural Studies als Herausforderung. In: dies. (Hg.): Widerspenstige Kulturen. Cultural Studies als Herausforderung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 7-12. Johnson, Richard (1999) Was sind eigentlich Cultural Studies? In: Roger Bromley /Udo Göttlich /Carsten Winter (Hg.) Cultural Studies. Grundlagentexte zur Einführung. Lüneburg: zu Klampen, S. 139-188. Kögler, Hans-Herbert (1999) Kritische Hermeneutik des Subjekts. Cultural Studies als Erbe der Kritischen Theorie. In: Karl H. Hörning/Rainer Winter (Hg.) Widerspenstige Kulturen. Cultural Studies als Herausforderung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 196-237. Lutter, Christina / Reisenleitner, Markus (1998) Cultural Studies. Eine Einführung. Wien: Löcker. Lyotard, Jean-François (1989) Der Widerstreit. München: Wilhelm-Fink Verlag. Mecheril, Paul (2006). Das un-mögliche Subjekt. Ein Blick durch die erkenntnistheoretische Brille der Cultural Studies. In: Joachim Hohl /Felicitas Esser /Heiner Keupp (Hrsg.) Subjektkonzeptionen im Diskurs. Bielefeld (im Erscheinen). Willis, Paul (1977) Learning to Labour. How Working Class Kids Get Working Class Jobs. Farnborough: Saxon House.
R AINER W INTER
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DA S
„Utopie bedeutet, sich nicht in die Dinge zu ergeben, wie sie sind, und für die Dinge zu kämpfen, wie sie sein sollen, dass die Welt es nötig hat, wie ein Vers von Brecht sagt, geändert, das heißt erlöst zu werden“ Claudio Magris (2002: 11).
Einleitung Die Geschichte von Cultural Studies zeigt, dass dieses intellektuelle und politische Projekt von Anfang an eng verbunden mit Fragen der Erziehung und der Pädagogik war. Denn es entstand im vitalen und intellektuell vielseitigen Milieu der Erwachsenenbildung in den 50er Jahren in Großbritannien (vgl. Grossberg 1997, Steele 1997). Im produktiven Austausch mit reifen Studenten aus der Arbeiterklasse entwickelten Edward P. Thompson, Raymond Williams und Richard Hoggart ihre kreativen Ideen zur Kulturanalyse und schrieben die grundlegenden Werke dieser neuen transdisziplinären Forschungsrichtung, die – wie die Erwachsenenbildung – die Spezialisierung des Wissens überwinden und dessen mögliche praktische Relevanz hervorheben möchte.
Kommentar: Norbert Meder Die innere Verbindung zwischen Cultural Studies und Pädagogik hängt daran, dass der pädagogische Handlungszusammenhang der soziale Ort ist, an dem Kultur auf doppelte Weise performant wird: Sie wird gelebt und ist zugleich fraglich. Ob in der Familie oder Schule, im Streetworking oder in der Erwachsenenbildung der pädagogische Handlungszusammenhang aktualisiert sich als Auseinandersetzung um die faktische Geltung von kulturellen Phänomenen auf der Basis von kulturellen Selbstverständlichkeiten (Lebensform).
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Wie holistisch man auch den Kulturbegriff fasst, so erscheint es sinnvoll andere gesellschaftliche Praktiken außen vor zu lassen, um klare Grenzziehungen machen zu können. Auf der Ebene von Gesellschaftstheorie kann man so eine klare Unterscheidung zwischen dem sozialstrukturellen Ansatz und dem kulturwissenschaftlichen machen, auf der Ebene der Praxis zwischen rechtsstaatlichem und formal institutioneln Handeln einerseits und kultureller Praxis andererseits. Wie immer man solche Grenzen zieht, sie werden nie scharf sein und es wird immer auch um die Überschneidungen, Einbettungen und Vernetzungen gehen. Wenn man stattdessen von einem alles umfassenden Kulturbegriff ausgeht, was man theorietechnisch natürlich auch machen kann, dann ergeben sich Fra-
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Leitend war dabei ein umfassender Kulturbegriff, der besonders in den Arbeiten von Williams theoretische Kontur gewann, so z.B. in Culture and Society 1780-1950 (1958) und in The Long Revolution (1961). Er arbeitete die Vielschichtigkeit und Komplexität von Kultur heraus, die nicht nur die Hochkultur umfaßt, sondern auch die Populärkultur. Indem er zudem Kultur in einem anthropologischen Sinne als „ganze Lebensweise“ [a whole way of life] begriff, lenkte er die Aufmerksamkeit auf ihre Verbindungen und Vernetzungen mit anderen gesellschaftlichen Praktiken. Wie Thompson hob er die besondere Rolle der „Erfahrung“ in der Kulturanalyse hervor, denn sie ermöglicht ein Wissen über und ein Zugang zu kulturellen und gesellschaftlichen Zusammenhängen, die durch abstrakte Theorien nicht erworben werden können. Im Kontext der Erwachsenenbildung, wie in der „workers’ education“, waren die Rollen von Professoren und Studenten nicht so hierarchisch definiert wie an der Universität. Diese nicht traditionellen Studenten, denen der Zugang zur „higher education“ verwehrt war, akzeptierten nicht zwangsläufig die Autorität des Professors, bezogen das Gelernte auf ihr eigenes Leben und stellten im Unterricht Fragen, die praktische Relevanz für ihre eigene Erfahrung hatten (Williams 1989: 152) und die Grenzen von akademischen Disziplinen nicht akzeptierten. Diese „radikale Herausforderung“ (Grossberg 2000: 12) führte nicht nur dazu, dass neben der Literatur u.a. die Presse, das Radio und der Film zum Thema wurden, sondern dass es auch möglich wurde, die Studenten dazu anzuleiten, ihr eigenes Leben im Kontext der gesellschaftlichen Verhältnisse zu
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begreifen, und in einem zweiten Schritt Möglichkeiten aufzuzeigen, wie es verändert werden kann, um mehr soziale Gerechtigkeit und Gleichheit herzustellen. Es waren diese zur Universität alternativen Institutionen, die in Großbritannien einen Raum für Cultural Studies eröffneten. Hierbei ist Kultur, die in neueren Studien als ein „Netzwerk eingebetteter Praktiken und Repräsentationen (Texte, Bilder, Verhaltenscodes und die narrativen Strukturen, die sie organisieren)“ (Frow /Morris 2000: 316) bestimmt wird, der Ort, an dem Machtverhältnisse stabilisiert, aber auch in Frage gestellt und verändert werden können. Cultural Studies analysieren also nicht nur, sondern sie haben auch einen interventionistischen Charakter (Grossberg/Nelson/Treichler 1992). An die Stelle der Arbeiterklasse sind seit den 60er Jahren neue soziale Bewegungen, marginalisierte Minoritäten und unterdrückte Gruppen getreten, deren „agency“ gesteigert werden soll, indem sie lernen, ihre konkrete Lebenssituation gesellschaftlich zu kontextualisieren und Möglichkeiten der Veränderung zu erkennen und zu ergreifen. Der Zusammenhang von Cultural Studies und einer kritischen Pädagogik soll im folgenden in fünf Schritten analysiert werden. Zunächst möchte ich kurz auf die eher randständige Bedeutung der Pädagogik am Centre for Contemporary Cultural Studies in den 60er und 70er Jahren eingehen (1). Anschließend werde ich die (amerikanische) Weiterentwicklung des dort entwickelten „ethnography of reading“-Ansatzes untersuchen und seine pädagogischen Implikationen herausarbeiten (2). Dann werde ich die Verbindungen von Cultural Studies und der in
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gestellungen, wie ich sie am Rande des AmosTextes formuliere. Wichtig für eine Theorie des pädagogischen Handlungszusammenhangs ist ein differenzierter Kulturbegriff, der nicht nur hochkulturelle Objektivationen des Geistes umfasst, sondern auch die nichtobjektivierten und nie ganz objektivierbaren Lebensweisen, Praktiken, Rituale und Handlungsweisen.
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den USA beheimateten kritischen Pädagogik erörtern. Diese radikale Theorie der Erziehung wird von einigen ihrer Vertreter in neueren Arbeiten als die „practical politics of cultural studies“ bestimmt (3). In einem nächsten Schritt werde ich den interventionistischen Ansatz der performativen Ethnographie betrachten, der sich im Kontext von kritischer Pädagogik und qualitativer Sozialforschung in den USA entwickelt hat (4). Eine Schlussbetrachtung, die das zentrale Motiv der Cultural Studies, die Kunst des Eigensinns betrachtet, beendet den Beitrag (5). Die Arbeit des CCC S und ihre pädagogischen Implikationen Am Birmingham Centre for Contemporary Cultural Studies, das zunächst von Richard Hoggart und später von Stuart Hall geleitet wurde, der auch aus der Erwachsenenbildung kam und zur New Left gehörte, wurden „media studies“, die Analyse von Film und Fernsehen, der Presse etc. zu wichtigen Themen. Fragen der Pädagogik wurden explizit allerdings nur am Rande behandelt, auch wenn das Centre für seine Jugendstudien weltberühmt wurde (vgl. Grossberg 1997: 376). Trotzdem lassen die beiden wesentlichen Forschungsrichtungen, die Jugendstudien mit ihrem Modell von Inkorporation und Widerstand auf der einen Seite, die Medienforschungen mit ihrer ideologiekritischen Analyse medialer Texte auf der anderen Seite, Merkmale erkennen, die für eine kritische Pädagogik von Relevanz sind. So wird sowohl in bezug auf die Jugendlichen aus der Arbeiterklasse, als auch in bezug auf Fernsehzuschauer gezeigt, dass sie
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keine „cultural dopes“ sind, sondern im Umgang mit vorgegebenen Produkten bzw. kulturellen Waren ihre eigenen Kulturen schaffen. Zweifellos liegt in Birmingham der Schwerpunkt auf der „agency“, die immer schon zumindest rudimentär vorhanden ist, aber auch durch soziale Bedingungen eingeschränkt wird. Die Populärkultur wird im Anschluß an Gramscis Hegemoniekonzept zur „zone of contestation“. „Die Populärkultur ist einer der Bereiche, in denen sich der Kampf für und gegen die Kultur der Mächtigen vollzieht: sie ist der Einsatz, der im Kampf gewonnen oder verloren werden kann. Sie ist die Arena von Zustimmung und Widerstand“ (Hall 1981: 239).
Die interdisziplinären Untersuchungen von Cultural Studies zielen darauf, die „agency“ zu erweitern, indem sie z.B. zeigen, wie Nachrichten im Fernsehen ideologisch strukturiert sind und wie vor dem Hintergrund der eigenen Interessen kritisch mit ihnen umgegangen werden kann. Da die Forschungen ihren Ausgangspunkt in konkreten Fragestellungen von praktischer Relevanz haben, fällt es nicht schwer, die Verbindungen zu den Lebenswelten der Untersuchten herzustellen. Dabei beschränken Cultural Studies sich nicht auf die Analyse kultureller Objekte oder Institutionen, sondern untersuchen, wie Menschen in unterschiedlichen Kontexten Kultur schaffen und erfahren, wobei sie deren produktive und transformative Kraft ins Zentrum rücken. „Für Cultural Studies wird ‚Wirklichkeit‘ durch kulturelle Praktiken beständig neu geschaffen und erst verfügbar gemacht“ (Grossberg 1997: 379).
Die Fassung der Cultural Studies als zwischen Strukturalismus und Kulturalismus po-
26 sitioniert, ist theorietechnisch besonders raffiniert. Denn sie erlaubt sowohl eine wechselseitige Grenzziehung als auch die Entwicklung einer Dialektik im Gebrauch, die Kultur prozessualisiert. Kulturelle Prozesse werden damit zu aktiven Prozessen der auch politischen Auseinandersetzung und Gestaltung – im übrigen ein Motiv, das auch einem jeden pädagogischen Handlungszusammenhang innewohnt. Das macht die Theorie von diesem Handlungszusammenhang entweder zur Kontrollpädagogik oder zur kritischen Pädagogik. Der Kampf um Lebensform und symbolische Vernetzungen ist Kritik – in Theorie und Praxis als Kampf um Geltung. Die Verhältnisbestimmung von Kultur und Politik ist eine weichenstellende Theorieentscheidung. Ist Politik als System formalen Handelns eine „jener anderen gesellschaftlichen Praktiken“ oder ist sie Teil der Kultur – als politische Kultur. Oder ist sie in ihrer Formalität zwar kulturtranszendent aber in den sozialdifferenzierenden Effekten kulturimmanent. Politische
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Stuart Hall hat gezeigt, dass sich auf theoretischer Ebene das Projekt von Cultural Studies zwischen den Paradigmen von Kulturalismus und Strukturalismus entfaltet, was sich sowohl an den Jugend- als auch an den Medienstudien sehr gut zeigen lässt (Winter 2001). Sie machen nämlich deutlich, dass Strukturen nicht ahistorisch und stabil sind, sondern sie sind immer „Strukturenim-Gebrauch“, wobei die Formen des Gebrauchs nicht im voraus bestimmt werden können (Frow /Morris 2000: 326). Zur wissenschaftlichen Untersuchung von aktuellen Fragestellungen, die sich im britischen Kontext ergaben, griffen die Vertreter des CCCS eklektisch und innovativ auf unterschiedliche, dafür geeignete Theorien und Methoden zurück, so dass der Forschungsprozess, wie es bei qualitativer Forschung oft der Fall ist, zu einer Bricolage wurde (Denzin 1994). Das auf soziale Veränderung zielende interventionistische Motiv von Cultural Studies wird in den rückblickend von Stuart Hall geäußerten Worten deutlich: „Unsere Fragen zur Kultur [...] richteten sich auf die sich verändernden Lebensformen von Gesellschaften und Gruppen sowie auf die Netzwerke von Bedeutung, mittels derer Individuen und Gruppen sinnhaft die Wirklichkeit konstruieren und miteinander kommunizieren [...] Cultural Studies insistieren auf der Notwendigkeit, die zentralen, drängenden und beunruhigenden Fragen einer Gesellschaft und einer Kultur in der ernsthaftesten intellektuellen Weise, die möglich ist, zu behandeln“ (Hall 1996: 336f.).
Zum einen wird hier klar, warum das Birmingham Projekt eine kritische Pädagogik impliziert, auch wenn sie nicht ausbuchsta-
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biert ist, zum anderen wird auch verständlich, warum Vertreter der in den USA beheimateten Varianten kritischer Pädagogik, die in Auseinandersetzung mit der Tradition des westlichen Marxismus, so mit der Frankfurter Schule, entstanden sind, seit den 80er Jahren an die Cultural Studies anknüpfen. Bevor wir uns diesen Ansätzen zuwenden, soll im folgenden an einem Beispiel die Weiterentwicklung der in Birmingham entwikkelten „audience ethnography“ in den USA näher betrachtet werden, da auch sie für unsere Fragestellung von besonderer Relevanz ist. Audience Ethnography: Polysemie und plurale Gebrauchsweisen Stuart Halls „Encoding-Decoding“ Modell und die an ihn anschließenden Studien von David Morley schufen die Grundlage für einen äußerst fruchtbaren und innovativen Ansatz in der Medienforschung: die „audience ethnography“ (vgl. Hay /Grossberg /Wartella 1996). Wenig diskutiert wurde bisher dessen pädagogisches Potential. Es war vor allem John Fiske (1987, 1989), der in seinen synthetisierenden Arbeiten Ende der 80er Jahre, ausgehend von einer dekonstruktiven Analyse von Fernsehtexten deren polysemen Charakter herausarbeitete, um das heterogene Potential pluraler Aneignungsformen sichtbar zu machen, das je nach sozialer und historischer Situation der Zuschauer von diesen unterschiedlich realisiert werden kann. Die Rezeption und die Aneignung von Texten wird in seiner Lesart zu einer kontextuell verankerten gesellschaftlichen Praxis, in der die Texte als Objekte nicht vorgegeben sind, sondern erst auf der Basis sozialer Er-
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Entscheidungen bestimmen zumindest auch Alltagskulturen mit und umgekehrt. Die gleiche Fragestellung ergibt sich für die moderne Ökonomie, gleichgültig ob sie kapitalistisch oder marxistisch ausgeprägt ist. Der Übergang vom Gebrauchswert zum Tauschwert stellt die entscheidende Formalisierung der Ökonomie ins Monetäre dar. In diesem Schritt transzendiert die Ökonomie das Kulturelle und geht gleichwohl neue Verschränkungen mit ihm ein.
Die Rezeption des Kunstwerkes wie auch des medialen Angebotes ist ein aktiver mitgestaltender Aneignungsprozess. Dem korreliert die Deutungsoffenheit des Kunstwerkes wie auch des medialen Angebotes. Wenn es auf die Schließung deutungsoffener Stellen ankommt, dann kann die natürlich auch widerständig und revoltierend geschehen, muss aber nicht. Deutungsoffenheit ergibt in jedem Fall einen Spiel-
28 raum der im Sinne des foucaultschen Machtspiels genutzt werden kann. In diesem Umstand steckt das kritische Potenzial von Medien und Kunst. Darin steckt auch die objektive Möglichkeit zu subjektiven Bildungsprozessen im Sinne der Selbstverwirklichung.
Die medialen Produkte müssen zum einen als Rahmungen, d. h. als äußere Grenzsetzungen für Bedeutungen aufgefasst werden, zum anderen aber sind solche Grenzsetzungen zugleich die Eröffnung von Bedeutungsspielräumen nach Innen. Nur wenn man dieses Wechselspiel im Blick hat ergeben sich die unterschiedlichen Varianten medialer Rezeption. Revolte z. B. ergibt sich als gegen die äußere Begrenzung gesetzte inne-
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fahrungen produziert werden. Dabei knüpft Fiske zum einen an die Arbeiten aus Birmingham an, zum anderen an Michel Foucaults Unterscheidung zwischen Macht und Widerstand und an Michel de Certeaus Analyse kreativer Alltagspraktiken. ‚Widerstand‘ kann in spezifischen historischen Situationen im Verhältnis von diskursiven Strukturen, kultureller Praxis und subjektiven Erfahrungen entstehen. Im eigensinnigen Gebrauch der „Ressourcen“, die das (kapitalistische) System in Form von medialen Texten und anderen Konsumobjekten zur Verfügung stellt, versuchen die alltäglichen Akteure ihre Lebensbedingungen selbst zu definieren und ihre Interessen auszudrücken. Vor allem in seinen späteren Analysen widmet Fiske (1993; 1994) sich spezifischen Raum-Zeit-Momenten des Mediengebrauchs und bestimmt die Einzigartigkeit und Signifikanz kultureller Praktiken, die an einem besonderen Ort zu einer besonderen Zeit realisiert werden. Damit reagierte er auf Kritiken, die ihm vorwarfen, er würde davon ausgehen, jeder Konsum populärer Medien wäre potentiell subversiv. Sinnvollerweise scheint es zu sein, Widerständigkeit als mögliche Option populärer Texte zu bestimmen, wobei geklärt werden muss, ob die subversive Artikulation von Bedeutungen auf den spezifischen Kontext der Medienrezeption beschränkt bleibt oder auch in anderen Bereichen des Alltags seine Wirkung entfaltet. Allerdings müssen die mobilisierten Gefühle und ausgehandelten Bedeutungen nicht zwangsläufig im Sinne von „empowerment“ organisiert sein. Douglas Kellner (1995: 38f.) hebt in seiner Kritik hervor, dass zwischen verschiedenen Formen des Widerstandes un-
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terschieden werden sollte. Er weist darauf hin, dass Widerstand und Vergnügen bei der Aneignung kultureller Texte nicht per se progressiv einzuschätzen sind. Vielmehr ist es erforderlich, deren spezifische Bedingungen zu analysieren, um ihre jeweiligen Wirkungen bestimmen zu können. Außerdem legt Grossberg dar, dass untersucht werden sollte, wie das tägliche Leben mit der Politik der Gesellschaftsformation im ganzen artikuliert ist. Verändern die Momente des Widerstands überhaupt gesellschaftliche Strukturen? „Durch die Gleichsetzung von Struktur und Macht wird die Illusion geschaffen, man könne ihnen entkommen“ (Grossberg 1992: 94). Eine solche vereinfachende Gleichsetzung, die Anlass zu polemischen Kritiken von Gegnern der Cultural Studies gibt, hat zur Folge, dass die Analyse des Verhältnisses zwischen den Formen des Vergnügens sowie der Bedeutungsproduktion, mit denen bis zu einem bestimmten Grad eine Kontrolle über die eigenen Lebensbedingungen ausgeübt und die Differenzen zu anderen behauptet werden kann, und den Strukturen der Gesellschaftsformation oft nicht erfolgt. Zudem reduziert sich die Analyseperspektive leicht darauf, Praktiken primär unter den Aspekten von Selbstermächtigung und Widerstand zu begreifen. Dagegen stellt Grossberg fest, dass die lustvolle Aneignung von Texten dominante Vorzugsbedeutungen nicht zum Verschwinden bringen muss. Semiotischer Widerstand muss nicht in politische Praxis münden. „Und Kampf ist nicht immer widerstand, der einen spezifischen Antagonismus voraussetzt. Und Widerstand ist nicht immer Opposition, die bestehende
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re Ausfüllung der Leerstelle, die deutungsoffen gegeben ist.
Die rezeptionsästhetischen Überlegungen können in einer Prozesstheorie der Bildung vertieft werden. Bildungsprozesse müssen als Abgleichung bzw. als Kongruenzen innerer Potentialitäten mit äußeren Possibilitäten verstanden werden. Potentialitäten sind innere Möglichkeiten, die der Einzelne als Anlage, als Kraft oder vorgängige kulturelle Prägung be-
30 sitzt. Possibilitäten sind äußere Möglichkeiten, die durch Rahmung, Konstellationen und Dispositive gegeben sind. Erst wenn es zwischen diesen beiden Möglichkeiten zu einer Art Passung kommt, werden Bildungsprozesse ausgelöst. Wenn beispielsweise ein musikalisch begabtes Arbeiterkind niemals mit Musikinstrumenten in Berührung kommt, wird es seine Potentialitäten nicht entwickeln können. Die Deutungsoffenheit in der medialen Rezeption erscheint vor diesem Hintergrund als eine notwendige Bedingung dafür, dass Bildungsprozesse überhaupt ausgelöst werden können, denn sie eröffnen einen Spielraum für die Entfaltung innerer Potentialitäten. Die rahmenhafte Begrenzung solcher Spielräume kann bei geeigneter Setzung das hinreichende prozessauslösende Moment sein – etwa, indem es widerständig ist und Revolte auslöst.
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Machtstrukturen aktiv und explizit herausfordert“ (Grossberg 1992: 95f.). Trotz der zum Teil berechtigten Kritik an der „audience ethnography“ führt diese innovative Forschungsrichtung aber anschaulich vor, dass sich die für den Alltag relevante Bedeutung von Texten in deren sozialen Gebrauch realisiert. Freilich, ist die Rezeption und Aneignung in der postmodernen Medienwelt sowie die Subjektivität der Konsumenten unterschiedlichen bestimmenden Einflüssen ausgesetzt. Dabei gilt das pädagogische Interesse von Cultural Studies (Winter 2001) aber primär den Bedeutungen und Vergnügen, die Personen und Gruppen helfen können, ihre Interessen zu artikulieren, Freiräume zu entfalten, Fluchtlinien zu finden und ihre Handlungsmächtigkeit zu erweitern. Auf diese Weise sind Texte in die Zirkulation von Bedeutungen und affektiven Energien innerhalb einer Kultur eingebunden. Das politische Ziel von Cultural Studies ist gerade die Herstellung von Zusammenhängen zwischen den einzelnen Momenten der Selbstermächtigung und den umfassenderen kulturellen und gesellschaftlichen Prozessen. Hierzu ist jedoch auch eine Kritik an den bestehenden Herrschaftsverhältnissen erforderlich und eine Analyse der Möglichkeiten zur sozialen Transformation. Wie Douglas Kellner (1995: 96) fordert, müssen die strukturellen Ungleichheiten ins Zentrum der Analyse gerückt werden. Cultural Studies sollen einen Dialog mit den Mitgliedern unterdrückter Gruppen beginnen. Vor allem der in den USA entwickelte Ansatz der kritischen Pädagogik beschäftigt sich explizit mit diesen Zielen und der Schaffung einer radikalen Demokratie.
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Kritische Pädagogik als Cultural Studies Ausgangspunkt der kritischen Pädagogik in den USA zu Beginn der 80er Jahre waren die von Bourdieu/Passeron und anderen durchgeführten Untersuchungen des Bildungswesens, die zeigen, dass es zur sozialen Reproduktion und zur Aufrechterhaltung bestehender Verhältnisse beiträgt. Die Vertreter dieser ideologiekritischen Richtung (Apple 1979, 1982; Aronowitz / Giroux 1985) beschränkten sich jedoch nicht darauf, soziale Reproduktion als strukturellen Effekt zu analysieren. In Auseinandersetzung mit den theoretischen und empirischen Arbeiten aus Birmingham, insbesondere mit der Rezeption von Gramscis HegemonieKonzept und den Jugendsubkulturstudien, wurden Schulen vielmehr als hegemoniale Orte von Praktiken sowie Ritualen und Ideologien als gelebte Erfahrung und Praxis analysiert, insbesondere in der grundlegenden Arbeit Schooling as a Ritual Performace (1986) von Peter McLaren. Wie bereits Paul Willis (1977) zeigte, ist die Erfahrung der sozialen Welt nicht von externen Determinanten ableitbar und bestimmbar, sondern sie ist widersprüchlich, uneinheitlich und veränderbar. Die Kultur ist der Bereich, in dem die Strukturen erfahren und gelebt, reproduziert, jedoch auch transformiert werden. Gerade hier setzt die kritische Pädagogik an, welche die kritische Handlungsfähigkeit von Schülern und Schülerinnen entwickeln und stützen möchte, um Strategien des kulturellen und politischen Widerstandes zu entwikkeln. Dabei gibt es ganz unterschiedliche Positionen (Carlson /Apple 1998). Im folgenden werde ich primär auf die eingehen, die dem Projekt von Cultural Studies am nächs-
Schule als institutioneller Rahmen und als Setting kultureller Rituale und Praktiken ist der Sozialraum äußerer Possibilitäten, der nur dem eine Chance für Bildungsprozesse liefert, der schon habituell (familiär) vorgeprägt die Potentialitäten mitbringt. Das ist der Reproduktionsmechanismus in Bildungsprozessen. Für diejenigen, die solche Vorprägung nicht mitbringen, zündet nichts, lässt Unverständnis keinen Kontakt zu oder löst möglicherweise nur Aggression aus, die sich nicht in Selbstgestaltungsprozesse kanalisieren lässt. Kritische Pädagogik muss sich einerseits gegen eine solche gesellschaftliche Praxis richten und andererseits erforschen, welche kontaktauslösenden Momente bei den Unterprivilegierten, den Marginalisierten und Unterdrückten zu Bildungsprozessen führen. Im Sauter-Text ist genau das am Ende das Thema.
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Die Vermittlung von Kulturalismus und Strukturalismus kann nur eine solche sein, die einer bipolaren dialektischen Logik von causa materialis und causa formalis folgt. Diese biplolar dialektische Logik ist eine Art Metalogik, die über die Logiken der beiden causae ergeht. Wir kennen sie bislang nur als Logik der Passung, d.h. als Logik der Ästhetik. Das Ästhetische penetriert sowohl das Kulturelle wie auch das Strukturelle. Wenn diese Vermittlung als Moment des pädagogischen Handlungszusammenhangs genommen wird, dann wird sie als ästhetische Darstellung der Welt derart in die Zeit potentieller Bildungsprozesse projektiert, dass die causa formalis mit der causa finalis sowie die causa materialis mit der causa efficiens je eine Symbiose eingehen. Die Form bestimmt das Ziel einer strukturell gerechten Politik als Wahl der Mittel der nächsten Schritte auf dem Weg dahin, wobei dies an die Materialität des Kulturellen gebunden ist. Der Umstand, dass
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ten stehen und es explizit mit der kritischen Pädagogik verbinden. So vermittelt Henry Giroux, einer der führenden Vertreter dieser Synthese, bereits in einer frühen Arbeit zwischen Kulturalismus und Strukturalismus bei seinem Bemühen, die Ideologiekritik in die Unterrichtspraxis einzubringen. Hierzu sollen die Schüler und Schülerinnen in der Klasse über ihre sozialen Erfahrungen reflektieren und verstehen, wie diese durch die in den schulischen Praktiken verankerten Ideologien verstärkt, in Frage gestellt oder unterdrückt werden (Giroux 1983: 150). In einem Prozess dialogischen Lernens (Freire 1973) sollen sie ihr Selbst dekonstruieren, indem sie es im Kontext der gesellschaftlichen Verhältnisse begreifen. Dies ist die Voraussetzung dafür, zum potentiellen Akteur im Geschichtsprozeß zu werden und durch Kampf und Kritik die bestehenden Verhältnisse zu ändern. Giroux’ Pädagogik des Widerstandes ist auf die Transformation der Gesellschaft ausgerichtet und so mit Hoffnung, Transzendenz und Utopie verbunden. Eine intensive Beschäftigung mit poststrukturalistischen, postmodernen und postkolonialen Ansätzen innerhalb der Cultural Studies führte Giroux, wie auch Peter McLaren (1995), allmählich zu einer Transformation seines Ansatzes (Giroux et al. 1984, Giroux 1992, 1993, 1994). Er vertritt heute eine explizit an Cultural Studies orientierte kritische Pädagogik, die eine Politik der Differenz mit einer Forderung nach einer radikalen Demokratisierung der Gesellschaft verbindet (Kellner 2001). Zum einen hebt er die wichtige Bedeutung von Cultural Studies für das Verständnis von Erziehung, Kultur und Politik hervor. Dabei ist es sein Bemühen,
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die Pädagogik zu einem wesentlichen Bestandteil von Cultural Studies zu machen. Er plädiert für eine Politik des Performativen, die Theorie, Wissen und politische Praxis eng miteinander verknüpft (Giroux 2000: 135). Andererseits kritisiert Giroux die Selbstgenügsamkeit der „textualist readings“ und der „audience studies“, die sich auf die Analyse des lustvollen, subversiven Gebrauchs von Medien beschränken. So hebt er z.B. in einer Analyse des Disney-Imperiums hervor, dass viele Disney-Texte wohl zu oppositionellen Lesarten einladen, diese jedoch dessen Macht, das Alltagsleben mit seinen Ideologien zu durchdringen (Giroux 1999: 7), nicht zum Verschwinden bringen. Daher können die „audience studies“ von der kritischen Pädagogik lernen, dass kreative und subversive Lesarten während der Rezeption und Aneignung nicht genügen, um mehr Demokratie zu verwirklichen. Die kritische Pädagogik macht vor allem die Aushandlung [negotiation] und die Produktion von Bedeutungen zwischen Lehrern und Schülern zu ihrem Thema, die sie im Kontext von diskursiven Praktiken und Macht/Wissen Beziehungen kritisch analysiert. Die radikale Pädagogik wird als eine Form kultureller Politik betrachtet, mittels derer die ideologischen Interessen dominanter Gruppen bekämpft werden sollen (Giroux /McLaren 1995: 36). Im Zeitalter des Neoliberalismus und der zunehmenden Privatisierung öffentlicher Räume ist, wie Giroux (2001) und auch Peter McLaren (1995, 1997) zeigen, die Entwicklung einer Ethik erforderlich, die das Verhältnis von Macht, subordinierten Subjektpositionen und gesellschaftlichen Praktiken reflektiert. „Kritische Pädagogik verpflichtet sich zu Formen
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man eine politische Form nicht einfach nur überstülpen kann, sondern die Form auch kulturell korrellieren muss, belegt meine These.
Aushandlung ist der Prozess der Passung aller vier causae. Da keine gottgewollte Passung auszumachen ist und da sie sich empirisch höchst selten einfach so ereignet, ist Aushandlung die basale Handlungsform im pädagogischen Handlungszusammenhang. Im engeren Sinne einer Prozesstheorie der Bildung hat die Aushandlung das Ziel, jene prozessauslösenden Momente zu erzeugen, dass innere Potentialitäten und äußere Possibilitäten sich so koppeln können, dass es zu ei-
34 ner Verbesserung von Selbst und Welt kommt.
Die kritische Pädagogik muss mithin auch die kulturell bestimmende Basis transzendieren, um die politischen und moralischen Möglich-
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des Lernens und des Handelns, die in Solidarität mit subordinierten und marginalisierten Gruppen vollzogen werden“ (Giroux / McLaren 1995: 32). Ausgehend von den aktuellen gesellschaftlichen Konflikten soll der ethische Diskurs nicht nur (ethnische) Differenzen anerkennen, sondern auch zeigen, wie Gerechtigkeit verwirklichbar ist. Weiterhin sollen sich die Lernenden mit der Vielfalt von Erzählungen und Traditionen, die die heutigen multikulturellen Gesellschaften kennzeichnen, auseinandersetzen und die Geschichte sowie ihre eigene Subjektivität als Ort von gesellschaftlichen Kämpfen begreifen. So sollen Studierende verstehen lernen, wie sich „conflictual social relations“ ihrem Habitus eingeschrieben haben. Dieses Verständnis soll zu neuen Formen von Subjektivität führen (McLaren 1995: 74), die „agency“ der Studierenden soll erweitert werden. Zum einen ist die kritische Pädagogik eine kulturelle Praxis, zum anderen eine Form des gesellschaftlichen Gedächtnisses. Dies wird besonders in dem Projekt der „postmodern counternarratives“ ersichtlich (Giroux et al. 1996), in dem Cultural Studies selbst als eine „counternarrative“ bestimmt werden, die die technokratische und marktorientierte Rationalität im Lehren und Lernen zugunsten einer demokratischen Aneignung von Wissen und kulturellen Texten zurückweist, was in eine scharfe Kritik an der „corporate university“ mündet (vgl. Giroux /Myrsiades 2001). Unter verschiedenen politischen Blickwinkeln leitet die kritische Pädagogik auch zu einer Auseinandersetzung mit bestehenden Theorien an, die neu gelesen und auch reformuliert werden, damit sie der jeweiligen Fragestellung gerecht werden können. Wie
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in Birmingham sollen auf diese Weise disziplinäre Grenzen durchbrochen werden, um neue Formen des Wissens hervorzubringen, die demokratischere und gerechtere Lebensweisen erlauben. Hierzu muss die kritische Pädagogik eine Sprache der politischen und moralischen Möglichkeiten erforschen, die den ironischen Nihilismus und Zynismus der postmodernen Sensibilität (Grossberg 1992: 224ff.) überwindet und zur politischen Partizipation führt. Cultural Studies mit ihrem Schwerpunkt auf alltäglichen Erfahrungen und Praktiken analysieren die Bedingungen kritischer Handlungsfähigkeit, wie Grossberg (1996) zeigt, und schaffen so ein Fundament für eine praktische kulturelle Politik. So sollen vor allem Kinder und Jugendliche, die zunehmend durch die kommerzielle Konsumkultur sozialisiert werden, eine kritische Handlungsfähigkeit entwickeln, kooperative Beziehungen einüben und sich an demokratischen Werten orientieren. Die Gestaltung des öffentlichen Lebens soll zu einer Form praktischer Politik werden (Giroux 2001: 24f.), wobei die Förderung von „multicultural literacy“ hierbei ein besonderes Anliegen ist. Ein Schwerpunkt der an Cultural Studies orientierten „critical pedagogy“ ist die „popular culture“, insbesondere die Analyse von populären Filmen. So deckt Giroux in dekonstruktiven und kritischen Analysen die Merkmale der Pädagogik von Hollywood auf. Er untersucht, wie Norman Denzin in seinen Analysen des Hollywood-Kinos (Denzin 1991, 2002), die mediale Politik der Repräsentation, indem er die Diskurse und Bilder von „race, gender, class and sexuality“ analysiert. So zeigt er z.B., wie die medialen Repräsentationen von Schwarzen „a white
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keiten sichtbar zu machen. Möglichkeiten sind immer Formen, die Wirklichkeiten werden können, wenn sie sich materialisieren, d. h. inhaltlich füllen. Die formalen Möglichkeiten, die sich kritisch anbieten, sind die demokratische Rechtsstaatlichkeit und die formale Moralität des kategorischen Imperativs. Mehr scheint mir nicht in Sicht, wenn man mal von der ökonomischen Verteilungsgerechtigkeit bei Marx absieht.
Es ist eine Errungenschaft der Cultural Studies, die Korrelation von politsch formaler Kritik einerseits und der Analyse von materialem Leid andererseits entwickelt zu haben. Dieses diagnostiziert und analysiert man wissenschaftlich auch nur
36 in den Untersuchungen zu Alltagskulturen. Die Lebensform der Marginalisierten muss Gegenstand der empirischen Forschung sein. Und sie muss interessierte Forschung vor dem Hintergrund der Habermasschen Überlegungen zu „Erkenntnis und Interesse“ sein. Forschung findet nicht im interessefreien Raum statt, sie kann sich natürlich widerständig und revoltierend von (Herrschafts-)Interessen frei machen, aber sie findet niemals in einem interessefreien Raum statt. Wenn dem so ist, dann ist eine Forschung, die sich zu ihren Interessen und Parteinahmen von Anfang an bekennt, zumindest ehrlich und kann diese Ehrlichkeit immer auch als wissenschaftstheoretisches Argument ins Feld führen.
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moral panic“ hervorgebracht haben (Giroux 1996). Giroux interessiert sich dafür, wie Filme und andere mediale Texte Bedeutung, Vergnügen und Identifikationen mobilisieren, die soziale Wirklichkeitskonstruktionen und Selbstdefinitionen beeinflussen (vgl. auch Fiske 1994). Auf diese Weise eröffnen populäre Filme aber auch einen pädagogischen Raum in einer Bilder gesättigten Kultur. Sie sind eines der wenigen Medien, die es erlauben, in Gesprächen Politik, persönliche Erfahrungen und das öffentliche Leben mit umfassenderen sozialen Fragestellungen zu verbinden“ (Giroux 2002: 7). Hier trifft sich Giroux mit der kritischen Medienpädagogik, die Douglas Kellner (1995, 2003; Winter 2005) in seinen Arbeiten zur Medienkultur verfolgt. Auch er knüpft an die British Cultural Studies an, verbindet sie aber vor allem mit der Frankfurter Schule, weil er es zum einen für nötig hält, den Bereich der Produktion und die politische Ökonomie der Kultur zu berükksichtigen. Zum anderen strebt er eine Kulturkritik an, die den gegenwärtigen Moment der Geschichte theoretisch artikuliert und dabei auch seine utopischen Möglichkeiten offen legt (Kellner 1995: 60). Eine kritische Medienpädagogik soll die Zuschauer ermächtigen, die Botschaften, Ideologien und Werte in medialen Texten zu dechiffrieren, um der Manipulation zu entgehen und eigene Identitäten und Widerstandsformen entwickeln zu können. Darüber hinaus soll sie politisch engagierten Medienaktivismus initiieren und unterstützen, um alternative Formen von Kultur und Gegenöffentlichkeiten hervorzubringen, die von entscheidender Bedeutung für eine lebendige Demokratie sind (Kellner 1995: 337). Wie Giroux ist
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auch Kellner der Auffassung, dass die Medienkultur zu einer kritischen Erkenntnis der gegenwärtigen neoliberalen Verhältnisse wie der neuen globalen Ökonomie beitragen kann und durch „empowering representations“ informiertere, kritischere und aktivere Formen von Subjektivität anleiten kann. Hierzu ist vor allem die pädagogische Arbeit von Lehrern, und anderen „cultural workers“ erforderlich, die ihr Wissen und ihre Kompetenz einbringen sollen, um öffentliche Räume zurückzuerobern und eine Kultur der Partizipation und der „active citizenship“ zu schaffen (Giroux 1994). Durch den Erwerb von Medienliteralität in einem dialogisch und auf Zusammenarbeit angelegten Kontext kann auch das Verständnis für andere Kulturen und Subkulturen geweckt und vertieft werden. Freilich, gehört hierzu auch eine Dekonstruktion der sozialen und politischen Konstruktion von „whiteness“, die eine in spezifischen politischen, sozialen und historischen Arrangements artikulierte Ideologie darstellt (McLaren 1997: 8). Es soll gezeigt werden, dass die weißen, kulturellen Praktiken kontingent und historisch produziert sind. Durch individuelles und kollektives Handeln sind sie potentiell transformierbar. Insbesondere die neuen Medien erfordern die Entwicklung neuer und vielfältiger Formen von „media literacy“, die den interaktiven Bereichen von Computer und Multimedia angemessen sind (Kellner 2002: 96). Kellner ist der Auffassung, dass eine an Cultural Studies orientierte kritische Pädagogik im neuen Millenium gerade im Bereich des Cyberspace Studenten helfen muss, ihre eigenen Räume und Interaktionsformen zu
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In den Neuen Medien entstehen urwüchsig neue Öffentlichkeiten, neue Kommunikationsräume und neue Politikkulturen, wie man zum Beispiel an der Open-Sourceund
38 Open-Content-Szene erkennen kann. Die Bewegung gegen die Patentierung von Algorithmen oder die sogenannte Urheberrechtsbewegung sind Vernetzungen im Internet.
Die neoliberale globalisierte Herrschaft des Kapitals kann nach wie vor am besten beschrieben werden mit marxistischen Konzepten und Begriffen. Vieles, was wir derzeit beobachten können, kann als empirischer Beweis der Prognosen von Marx gedeutet werden. Insbesondere der Klassenbegriff hat sich nicht zu Gunsten des Begriffs der kulturellen Milieus aufgelöst. Das geht auch nicht, weil er zuvorderst ein formaler Begriff ist, der sich aus der Ausbeutungsrelation ergibt.
RAINER WINTER
entwickeln, um das Projekt einer radikalen Demokratie zu verwirklichen. Eine andere Richtung schlägt Peter McLaren ein. Als Reaktion auf die postfordistische Ökonomie fordert er neuerdings im Anschluß an die Arbeiten von Paulo Freire, Antonio Gramsci und Karl Marx eine „kritisch-revolutionäre Pädagogik“ (McLaren 2000; Allman 2001). Sie soll die Vielfältigkeit und Kreativität menschlichen Handelns in der Ära der neoliberalen Globalisierung bewahren und fördern. Um deren Marktideologie entgegen treten zu können, hält es McLaren für erforderlich, die marxistische Analyse der Gesellschaft und des Bildungswesens wieder aufzunehmen und zu vertiefen. Auch im Bereich der qualitativen Sozialforschung in den USA, die die poststrukturalistische Kritik an der Möglichkeit einer mimetischen Repräsentation von Wirklichkeit anders als die deutschsprachige Diskussion zur Kenntnis nimmt, werden im Anschluss an Giroux und McLaren Forschung, Sozialkritik und das Eintreten für soziale Gerechtigkeit und Demokratie eng miteinander verknüpft, was insbesondere in deren „performative turn“ deutlich wird. Wenn die Unterscheidung von Tatsachen und Fiktion Effekt textueller Traditionen ist, dann sind die traditionellen Formen wissenschaftlichen Schreibens nicht mehr die privilegierte Form der Darstellung von Forschungsergebnissen. So wird in der amerikanischen Sozialforschung die Performance zu einer Methode ethnographisch orientierter Forschung, zu einer Weise des Verstehens, in der die Bedeutungen kultureller Erfahrungen gemeinschaftlich bestimmt werden, und zu einer
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Form der Repräsentation von Forschungsergebnissen. Der „performative turn“ in der qualitativen Sozialforschung und seine Bedeutung für die kritische Pädagogik Die interpretative oder auch „neue“ Ethnographie ist ein relativ junger Ansatz in der qualitativen Sozialforschung. Ihr zentrales Merkmal ist, dass der/die ForscherIn nicht nur die Erfahrungen, Praktiken und Lebensweisen von Anderen beschreibt und darstellt, sondern dass er/sie sich selbst dabei thematisiert. Die Selbstthematisierung bleibt kein Appendix, sondern wird ein wesentliches Element der Forschung und vor allem der Darstellung der Ergebnisse. Im Forschen und vor allem im Schreiben entstehen die Welten, in denen wir leben und in denen wir zurechtkommen müssen. In der „Aufführung“ der Forschungsergebnisse wird diesem konstruktiven Prozess Rechnung getragen, indem er sichtbar gemacht wird und seine Möglichkeiten ausgeschöpft werden. In ethnographischen Performance-Texten wird nicht über oder für Informanten gesprochen, sondern es wird mit Ihnen und dem Publikum interagiert (Conquergood 2003). Daher mündet für Norman Denzin (1999, 2003), dem wichtigsten Vertreter dieses Ansatzes, die interpretative Ethnographie in eine performative Soziologie und kritische Pädagogik: „Die kritische PerformanceAutoethnographie [...] bewegt Menschen zu handeln und hilft ihnen ihre Welt und deren Formen von Unterdrückung auf neue Weise zu verstehen [...] Kritische Ethnographen gehen von dichten Beschreibungen lokaler Situationen zu durch Widerstand und Performace geprägten Texten/Ereignissen über,
Eine differenztheoretische qualitativ verfahrende Kulturtheorie muss die kulturelle Differenz zwischen Forscher und Beforschtem mitsetzen. Im Forschungsprozess wird sie unweigerlich performant und muss deshalb in methodischer Reflexion thematisiert werden.
Wer immer den Vorrang der Performanz vor dem, was sich aus der Performanz ergibt, ansetzt, der verfährt auch korrelationslogisch. In einer Korrelationslogik geht man nicht von dem Alltagsverständnis aus, dass es da zwei Dinge gibt, die dann auch noch – gewissermaßen nachträglich – mit einer Relation verbunden werden. Vielmehr hat die Relation Vorrang vor den Relata. Aus ihr heraus werden die Relata erzeugt. Weil Korrelation ist, sind auch Relata. Der Modus der Erzeugung ist Performanz. Diesen Denkstil haben die jüdischen Ver-
40 treter des Neukantianismus in einer Weise vertreten und vorgemacht, wie dies vermutlich in keiner philosophischen Schule je zuvor geschehen ist. Darin besteht auch die sachliche Nähe zu den Cultural Studies. Simmel, Cassirer, Cohn und Hönigswald sind wohl die Hauptvertreter dieses Denkstils. Hönigswald hat die Korrelation so ausgedrückt: In der Forschung scheiden sich Forscher und Beforschtes. In Schreiben scheiden sich Autor und Text (Inhalt). Im Bildungsprozess scheiden sich Einzelner und Gemeinschaft oder Einzelner und Welt oder Einzelner (Ich) und Selbst.
Wo liegt das zentrale Problem der Pädagogik – in Theorie und Praxis? In Praxis: Wir müssen jemanden in einen kulturellen Zusammenhang bringen, mit Wittgenstein: in ein Sprachspiel einführen, von dem er noch nicht einmal die Spielsteine kennt. Wir müssen als
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um soziale Transformationen zu bewirken“ (Denzin 2003: 33). Im Anschluss an McLaren (2001) liegt die Bedeutung kritischer Ethnographie darin, dass sie die Welt durch Praxis verändert. Qualitative Forschung ist im Kontext von Cultural Studies also keine Ware, die gekauft oder verkauft werden kann, sondern eingebunden in die moralische Gemeinschaft von Forschern und Informanten, zwischen denen dialogische Beziehungen hergestellt werden sollen. Zum einen fordern dialogische Beziehungen den Forscher dazu auf, über seine eigenen medialen Erfahrungen und Praktiken, seine Vorlieben und Abneigungen, nachzudenken und sie kritisch zu hinterfragen. Zum anderen werden die Informanten, die z.B. über Formen problematischen Medienkonsums berichten, als Subjekte ernst genommen, die eine eigene Sicht entwickelt haben (vgl. Winter 1995). Zudem werden sie aufgefordert, diese zur Darstellung zu bringen. Der Forscher nimmt nicht die Rolle des unabhängigen Beobachters ein. Er ist eher ein unterstützender Mitspieler. Seine Subjektivität wird wie die der Untersuchten durch die medialen Praktiken der heutigen Gesellschaften, insbesondere durch die Populärkultur, geprägt, worüber er sich im Forschungsprozess klar werden sollte. „Die Populärkultur ist relevant (…), gerade weil ihre Bedeutungen, Effekte, Folgen und Ideologien nicht genau bestimmt werden können. Als Konsumenten und Kritiker setzen wir uns mit dieser Vervielfältigung von Bedeutungen auseinander, wenn wir versuchen, unser soziales Leben und unsere kulturellen Identitäten zu verstehen“ (Jenkins et al. 2002: 11).
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Als Teil des Ganzen sind auch seine Forschungsinteressen und -ergebnisse nicht unabhängig. Damit problematisiert die interpretative Ethnographie die ideologischen Annahmen der traditionellen Ethnographie, die einen realistischen Anspruch hat und den „native point of view“ zur Darstellung bringen möchte. Durch direkte Beobachtungen können, so die Auffassung, „wahre“ Aussagen über die Welt gemacht werden. Um ein möglichst differenziertes Verstehen des Anderen geht es aber auch der interpretativen bzw. der Performance-Ethnographie, die eine Perspektive, die von „außen“ kommt, den Untersuchten zum Objekt eines voyeuristischen Blicks macht, zu vermeiden versucht. Hierzu muss sich der Ethnograph auf die Erfahrungswelt des Anderen einlassen. Deshalb spielt die Phänomenologie eine wichtige Rolle (Maso 2001). Sie erschließt die Erfahrungen von Anderen in Bezug auf die Ähnlichkeiten und Differenzen zu unserer eigenen Erfahrung. Dabei gilt jedoch, dass das Leben immer komplexer als jede Sinnexplikation ist (Van Maanen 1990: 18). In einer dialogischen Auseinandersetzung zwischen dem Selbst des Forschers und der Perspektive des Anderen werden die Grenzen des eigenen Verständnisses zum Thema mit dem Ziel, die eigene Sensibilität für fremde Welten zu steigern (Saukko 2003: 57). Im Zuge der narrativen Wende sollen Forscher hierbei auf die persönlichen Geschichten achten, die Menschen über die wichtigen Ereignisse in ihrem Leben erzählen (Denzin 1989). Diese „gelebten Textualitäten“ (Denzin 1997: 47) sind mögliche Anknüpfungspunkte für einen Dialog, der auch biographische Erlebnisse des Forschers mit
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wissenschaftliche Pädagogen erklären können, wie das geht, jemanden in ein Sprachspiel zu bringen, von dem er keine Ahnung hat. Wie kommt man in ein gänzlich unbekanntes Spiel hinein? Das ist die Schlüsselfrage aller Pädagogik. Man hat in der pädagogischen Praxis nur eine Chance, den, der das Spiel überhaupt nicht kennt, irgendwie ins Spiel hineinzuziehen, d. h. der Performanz des Spieles auszusetzen. In der Performanz werden sich dann die Spielsteine von den Regeln scheiden. Wissenschaftstheoretisch kann dies nur mit dem Vorrang der Korrelation vor den Relata beschrieben werden, d. h. in einer Korrelationbslogik. Dasselbe gilt auch für die Erfahrung wirklich fremder Kultur. Auch hier muss ich mich einlassen, d. h. mich der Performanz der Begegnung hingeben und überlassen. In dieser Performanz scheiden sich dann das Eigene und das Fremde der Kultur. Hier liegt auch das systematische Moment des Begriffs vom kulturellen Kontakt. Dieser Begriff fasst diese erste Performanz,
42 der nichts vorhergeht und die erste Unterscheidungen erzeugt (gut beschrieben bei Alicia De Alba). Auf der wissenschaftstheoretischen Seite heißt dies eben, dass erst die Relation bzw. Korrelation, eben erst die Beziehung, die Relata herausbringt. Der Vorrang der Relation vor den Relata bringt den Vorrang des Peformativen vor dem Seienden mit sich und nicht umgekehrt. Wenn nun aber die Performanz das Erste sowohl im Forschungsprozess als auch in der Logik ist, und dieses Erste als methodisches Moment erscheint, dann muss es nach den Regeln der Wissenschaft auch reflektiert und legitimiert werden. Da die erste inititierende Performanz, das Sich-Einlassen, eine vereinzelte Erfahrung des Forschers ist, wird aus der methodischen Reflexion zugleich eine Art der Selbstreflexion. Die Refexion gibt sich den Gegenstand, über den nachgedacht werden soll und muss.
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einbeziehen kann und ihm hilft, die Schlüssellochperspektive des Voyeurs zu verlassen. In diesen Prozess werden vermehrt emotionale und verkörperte Formen des Wissens berücksichtigt, die zu persönlichen und literarischen Formen des Schreibens führen können (Richardson 2000). Darüber hinaus wird in Gestalt der Performance-Ethnographie der ethnographische Textualismus in Frage gestellt, der in distanzierter Weise die Kultur als offenes Buch liest. Hier wird nun die Teilnahme, der Dialog, die Kontingenz, die kontextspezifische Artikulation von Praktiken und Texten gefordert (Conquergood 2003). Texte, Kontexte und kulturelle Praktiken lassen sich in einer Performance nicht trennen, die zu einer tiefgehenden emotionalen Begegnung mit anderen Menschen und Kulturen führen kann. Ein weiterer hiermit zusammenhängender Aspekt der interpretativen Ethnographie ist die Selbstreflexivität. Da davon ausgegangen wird, dass es keine unvoreingenommene Forschung geben kann, kommt der Reflexivität die Funktion zu, für eigene Vorannahmen zu sensibilisieren, sich der eigenen sozialen Verankerung bewusst zu werden und offen für andere Perspektiven auf die untersuchten Welten zu sein. Das Selbst des Forschers, seine sozialen und moralischen Verpflichtungen, seine Auffassungen werden kritisch reflektiert, um der Perspektive des Anderen gerecht zu werden. Dabei impliziert Selbstreflexivität aber nicht, dass ein „wahreres“ Wissen der Welt möglich ist (Haraway 1997: 16). Eher zeigt sie die Begrenzungen unserer Weltsicht auf und, dass verschiedene Interpretationen unserer eigenen Welt und der der Anderen möglich sind. In den Formen kritischer Autoethnographie
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führt die Selbstreflexivität dazu, dass der Forscher untersucht, welche Erlebnisse und sozialen Diskurse seine Erfahrung bestimmt haben. Ergänzend wird auf Polyvokalität Wert gelegt. Gelebte Erfahrungen sollen von verschiedenen Stimmen wiedergegeben werden, um zu vermeiden, dass eine Stimme für die „Wahrheit“ einer Erfahrung steht und um die Spezifität einzelner Erfahrungen angemessen zu erfassen (Saukko 2003: 64ff.). Auch in den Darstellungen der Forschungsergebnisse kommt es zu einer Interaktion zwischen den Stimmen der Anderen (der Untersuchten), der Stimme des Forschers und der Stimmen der „Zuhörer/Zuschauer“, in dem in einer Koperformanz ein Feld geteilter emotionaler Erfahrung geschaffen werden soll (Denzin 2003: XI). So können die persönlichen Erfahrungen der Beteiligten ein wichtiger Ausgangspunkt für eine Kritik und Veränderung sozialer Kontexte sowie ihrer Formen sozialer Ungleichheit und Ungerechtigkeit sein. Die qualitative Sozialforschung mündet in eine kritische Performance-Pädagogik, in der die Hoffnung auf eine radikale Demokratie und gerechte Gesellschaft aufbewahrt bleibt. Schlussbetrachtung Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Interessen von Cultural Studies einer Kritik der Macht und einer Kunst des Eigensinns (Winter 2001) gelten, die sich z. B. in der produktiven und kreativen Auseinandersetzung mit medialen Texten und anderen kulturellen Formen in alltäglichen Kontexten entfalten können. Sie verabschieden nicht das Subjekt, sondern ihr pädagogisches Ziel ist es, seine „Agency“,
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Es kann nichts anderes als Narration sein, weil das was thematisiert wird, ein Erstes ist, was sich einfach so ereignet hat. Ein Erstes kann man nicht begründen, sonst wäre es nicht ein Erstes. Es kann also nur beschrieben werden und muss so dicht wie möglich beschrieben werden und die dichteste Beschreibung ist die genaue Erzählung. Ihre Form nennt man das Narrative. Wir Pädagogen hoffen immer auf das Bildungserlebnis, wir hoffen auf Bildungsanlässe, die zu einer Art Umkehr in der Sicht auf Welt und Gesellschaft führen. Wir hoffen also auf initierende Ereignisse. Solche Ereignisse finden statt – das ist empirisch nicht zu beschreiben. Wenn wir erforschen wollen, wie und unter welchen äußeren Bedingungen sie stattfinden, dann ist die einzige empirische Datenbasis die Erzählung der eigenen Bildungsbiografie.
44 Der Boom der Biografieforschung in der deutschen Erziehungswissenschaft hat sicherlich seine systematischen Wurzeln an dieser Stelle – einer Stelle, die im performanztheoretischen Ansatz der Cultural Studies stark gemacht wurde.
Den Cultural Studies geht es in ihrem Forschungparadigma immer auch darum, Kultur als einen Prozess der Konstruktion und Dekonstruktion von Bedeutung zu begreifen. Die theoretischen Grundlagen für ein solches Begreifen hat Derrida in seiner Philosophie der Zeichendifferenz, der Verschiebung von Bedeutung im Gebrauch der Zeichen dargelegt. Schaut man genau hin ist auch seine Theoriekonstruktion
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seine Handlungsfähigkeit, zu steigern. Dabei erweist sich die Kultur als Medium sozialer Konflikte und Auseinandersetzungen. Es geht um alltägliche Veränderungen in Bedeutungen, Einstellungen und Wertorientierungen, um die Entfaltung des produktiven und kreativen Potentials der Lebenswelt, um die Kritik an Machtverhältnissen, um Momente der Selbstermächtigung, die vielleicht schnell vergehen, aber trotzdem prägend und einflussreich sein können. In Form von Filmen, Fernsehserien, Songs oder einer Performance kann Kultur zu „Epiphanien“ oder zu sozialen Konfrontationen führen, die auch die Politik beeinflussen. „Wir können nie vorhersagen, wie Kultur sich überträgt, wie sie einzelne Menschen erreicht. Aber sie tut es ständig. Sie verbreitet sich wie ein Virus. Man weiß nie, wohin dieser Virus geht und was die Symptome sein werden“ (Marcus 2005: 58). Kultur wird in der Perspektive von Cultural Studies nicht mit Objekten gleichgesetzt oder auf das reduziert, was auf sie spezialisierte Institutionen produzieren und distribuieren. Statt dessen geht es um den Prozess der Entstehung und Hervorbringung von Kultur, um die Zirkulation von Bedeutungen und Energien, um die Mobilitäten und Möglichkeiten im alltäglichen Leben, um die Entfaltung der kreativen Aspekte von Kultur und um die Schaffung einer gemeinsamen Kultur. Diese verallgemeinerte Kreativität zielt auf eine Kritik der Macht, auf eine Transformation des Bestehenden. Deshalb ist ein wesentliches Ziel pädagogischer Praxis im Rahmen von Cultural Studies, die im Alltag oft verborgene Kunst des Eigensinns sichtbar zu machen, sie zu fördern und ihr kritisches Potential zu entfal-
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ten. Dazu gehört auch, Menschen dabei zu unterstützen, ihre Erfahrungen anders als im Rahmen der existierenden Kultur zu interpretieren und so zur Schaffung neuer geteilter Bedeutungen beizutragen, die aus der Interaktion von historisch entstandenen geteilten Bedeutungen und individuell kreierten Bedeutungen hervorgehen (Williams 1961). Wie die Arbeiten von Henry Giroux, Douglas Kellner, Peter McLaren, Norman Denzin und anderen zeigen, sollten Medienund Kulturanalyse im Rahmen von Cultural Studies immer auch mit einer kritischen Pädagogik verknüpft sein, die der impliziten Pädagogik medialer Texte opponiert und eine produktive Auseinandersetzung mit Texten und gesellschaftlichen Kontexten intensivieren oder erst ermöglichen möchte. Dabei wird der Alltag als „contested terrain“ bestimmt, der auf einen kollektiven Dialog hin geöffnet werden soll, damit viele unterschiedliche Stimmen sich artikulieren können, um eine demokratischere und gerechtere Gesellschaft zu schaffen. Die kritische Pädagogik und die performative Ethnographie im Rahmen von Cultural Studies begreifen sich nicht nur als wissenschaftliche, sondern auch als moralische Diskurse. Selbstthematisierung, neue Formen des Schreibens und der Aufführung von Forschungsergebnissen sind die Grundelemente einer performativen qualitativen Forschung, die die realistische Agenda des Positivismus subvertiert und nach neuen Wegen für eine kritische Theorie und Praxis in interventionistischer Absicht sucht. „Diese Sozialwissenschaft bringt sich in die Welt in einer ermächtigenden Weise ein. Sie benützt die Worte und Geschichten, die Menschen einander erzählen, um Performance-Texte zu
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eine Theorie der Performanz und theorietechnisch geht auch er im Rahmen einer Korrelationslogik vor. Anmerkung am Rande: Auch Derrida ist Jude. Vielleicht ist die Theorietechnik des Korrelativen ein jüdischer Denkstil, vielleicht sogar ein Denkstil, der der semitischen Sprache inhärent ist, die ja neben Aktiv und Passiv die grammatische Form des Ereignisses hat, was in unserer Sprache nur in Formen wie „es regnet“ vorkommt, im Griechischen immerhin aber noch als Form des Medialen grammatikalisch zu fassen ist.
Die kritische Pädagogik als kritische Wissenschaft lässt sich ein, begibt sich in Perfomanzen, die sowohl den pädagogischen Gegenstand konstituieren als auch beforschen. Kritische Pädagogik als Wissenschaft erzeugt damit auch Differenzen, die es gilt in die Pädagogik als Praxis hineinzutragen. Insofern diese Praxis eine revolutionmäre
46 Praxis sein soll (McLaren), müsste eigentlich die Praxis in die Forschung „Involviert“, „hineingezogen“ werden, damit sie der Performanz ausgesetzt ist wie die Forschung. Dies ist im übrigen ein Gedanke von Hartmut von Hentig, der für die Professionalität des Lehrers gefordert hat, dass er nicht nur lehrt, sondern sein Lehren reflexiv auch beforscht.
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gestalten, in denen neue Welten imaginiert werden, Welten, in denen Menschen werden können, was sie zu sein wünschen, frei von Vorurteilen, Unterdrückung und Diskriminierung“ (Denzin 2003: 105). Cultural Studies werden durch eine Ethnographie, die sich der Performance und der Interpretation verpflichtet fühlt, bereichert und bewahren die Hoffnung auf Veränderung. „Die Hoffnung gleicht dem Geist der Utopie, wie Bloch lehrt, sie bedeutet, dass hinter jeder Wirklichkeit andere Möglichkeiten stehen, die aus dem Kerker des Existierenden befreit werden müssen“ (Magris 2002: 15f.).
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A NDREAS H EPP
C U LT U RA L S T U D I E S , D I E GLOBALISIERUNG DER MEDIEN U N D T RA N S KU LT U R E L L E
M E D I E N P Ä DAG O G I K Cultural Studies, transkulturelle Kommunikationsforschung und Medienpädagogik Die deutschsprachige Medienforschung war in den letzten Jahren dadurch gekennzeichnet, dass sie – gerade im Vergleich zu der anglo-amerikanischen – Fragen der Globalisierung von Medien eher am Rande behandelte. Zwar gibt es seit längerem im deutschsprachigen Raum den Versuch, die Perspektive einer internationalen bzw. interkulturellen Kommunikation zu etablieren. Hierfür stehen schon früh Publikationen wie die von Gerhard Maletzke (1966; 1981), später die Veröffentlichungen von Miriam Meckel (1996; 2001). Doch vergleicht man diese mit dem Stand der internationalen Diskussion, so fallen diese deutlich – einzelne Arbeiten wie beispielsweise die von Friedrich Krotz (2001) und Hans J. Kleinsteuber (1995) explizit ausgenommen – hinter den internationalen Standard zurück: Während insbesondere im britischen Raum auch vermittelt durch die Cultural Studies kulturtheoretisch differenzierte Arbeiten vorgelegt wurden und man sich mit dem mit der Globalisierung der Medien verbundenen kulturellen
Kommentar: Norbert Meder Auch in den deutschen medienpädagogischen Arbeiten zu den Neuen Medien – insbesondere zu den Communities – wird Globalisierung als Unabhängigkeit von Raum und relativ auch von der Zeit zumindest implizit stets mitgedacht.
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Unabhängigkeit von Raum bedeutet auch unmittelbar den Verlust der Wirksamkeit territorialer Bestimmtheit. Die Frage ist, ob diese Bestimmungsgröße durch etwas anderes ersetzt wird oder schlicht und einfach entfällt. Wenn letzteres der Fall ist, dann vereinfacht sich die mediale Konnektivität, sie konzentriert sich auf den semiotischen Raum der jeweils genutzten Sprache, von dem aus der semantische Raum kultureller Weltbestimmung aufgespannt wird.
Man muss sich genau überlegen, ob man von Unter- oder Überkomplexität in diesem Zusammenhang spricht. Die Kommunikation in den globalen Netzen wird einfacher – eben weil Territorialität als
ANDREAS HEPP
Wandel in Bezug auf verschiedene Einzelfragen auseinander setzt (vgl. exemplarisch für andere Sreberny-Mohammadi et al. 1997; Tomlinson 1999 und Morley 2000), überwiegen in der deutschsprachigen interkulturellen und internationalen Kommunikationsforschung nach wie vor Vorstellungen der Territorialität von Kultur: Medienkultur wird der Tendenz nach als Kultur von territorial bezogenen Nationalstaaten begriffen und entsprechend national-komparativ untersucht. Hierin nicht aufgehende Prozesse kommunikativer Konnektivität – die gerade mit der Globalisierung der Medienkommunikation nachhaltig an Relevanz gewonnen haben – geraten so kaum in den Blick. Dies steht durchaus in Beziehung zu der der Argumentation zugrunde liegenden kulturtheoretischen Begrifflichkeit: Die kulturtheoretischen Konzepte, mit denen in der sozialwissenschaftlichen Medien- und Kommunikationsforschung operiert wird, scheinen in weiten Teilen kaum mehr angemessen, die gegenwärtige Komplexität der Globalisierung von Medienkommunikation zu fassen, deren kultureller Wandel sich gerade als fortschreitender Prozess der Aufweichung der scheinbar natürlichen Beziehung zwischen Kultur und sozialen bzw. geografischen Territorien begreifen lässt (vgl. Hepp 2004a). Aus dieser kulturtheoretischen Unterkomplexität hat jedoch auch die deutschsprachige Kulturwissenschaft der sozialwissenschaftlichen Medien- und Kommunikationsforschung kaum heraus geholfen. Zwar gibt es früh im deutschsprachigen Raum einzelne kulturwissenschaftliche Entwürfe, in denen darauf hingewiesen wird, dass territorialisierende Kulturbegriffe nicht geeignet
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erscheinen, Prozesse der Globalisierung analytisch zu fassen (vgl. exemplarisch Welsch 1992). Diese wurden dann auch – leider wiederum nur vereinzelt – im Bereich der Kommunikationswissenschaft aufgegriffen (siehe hierzu insbesondere Luger 1994). Jedoch wurde die sich auf Fragen der Globalisierung fokussierende transkulturelle Medien- und Kommunikationsforschung vor allem durch die Cultural Studies stimuliert (vgl. exemplarisch für andere Busch et al. 2001; Hepp / Löffelholz 2002; Hepp 2004a; Hipfl et al. 2004; Hepp et al. 2005). Als zentralen Ausgangspunkt dieser transkulturellen Kommunikationsforschung kann man das Verständnis begreifen, dass gerade mit fortschreitender Globalisierung sich vielfältige Konnektivitäten ‚quer‘ zu Nationalkulturen verstärken. Um solche Konnektivitäten in Bezug auf Medienkommunikation analytisch fassen zu können, erscheinen traditionelle Konzepte sozialwissenschaftlicher Medien- und Kommunikationsforschung nicht immer zielführend. In diesem Sinne kann die transkulturelle Kommunikationsforschung – ähnlich wie auch die „Soziologie der Globalisierung“ (Beck 1997) – als Versuch begriffen werden, im Hinblick auf die Globalisierung der Medienkommunikation adäquate begriffliche Konzepte zu entwickeln. Nun kann man an dieser Stelle die Frage aufwerfen, was dies mit Medienpädagogik zu tun hat. Geht es hier nicht einfach nur um einen Rezeptionsstrang von Cultural Studies innerhalb der deutschsprachigen Kommunikations- und Medienwissenschaft? Und was sollte dies dann die Medienpädagogik interessieren? Wie ich im Weiteren argumentieren möchte, ist dieser Diskurs sehr wohl interes-
53 Beschränkung wegfällt. Sie wird möglicherweise komplexer aufgrund kommunikativer Dichte und aufgrund der Zahl der Kommunikationspartner, die ja alle jeweils individuelle Perspektiven der Kulturgemeinschaft einbringen.
Die Frage nach den begrifflichen Konzepten, die neu entwickelt werden müssen, kann meines Erachtens nach nur mit Präzisierungen im symbolischen Raum beantwortet werden. Denn dieser Raum wird zentral.
54 Ich stelle mir hier die Frage, ob es um die Globalisierung der Medien geht oder um die Medien der Globalisierung. Ist die gegenwärtige Globalisierung überhaupt denkbar ohne die Neuen Medien? Es ist klar, dass die Alten Medien (Film, Musik, Zeitung, Video etc.) globalisiert werden, aber nur auf der Grundlage der Globalisierung, die von den Neuen Medien getragen wird.
ANDREAS HEPP
sant für die Medienpädagogik. Denn gerade die Globalisierung der Medien stellt eine erhebliche Herausforderung auch für diese dar. Deswegen erscheint es m.E. sinnvoll, das Aufgreifen der Cultural Studies in der transkulturellen Kommunikations- und Medienforschung stärker als bisher in der Medienpädagogik zu berücksichtigen. Möglicherweise kann dies zu einer spezifischen ‚transkulturellen Medienpädagogik‘ führen, die innovatives Potenzial für den pädagogischen Diskurs im Allgemeinen hat. Um solche Überlegungen deutlich zu machen, möchte ich in drei Schritten vorgehen. In einem ersten Abschnitt überschrieben mit „Cultural Studies und Globalisierung“ geht es mir darum, die Cultural Studies selbst in dem zu verorten, was wir gemeinhin als ‚Globalisierung‘ bezeichnen. Der darauf folgende Abschnitt „Globalisierung von Medienkommunikation“ konkretisiert dies weiter im Hinblick auf die Medien. Ein letzter Abschnitt „Transkulturelle Medienpädagogik“ versucht schließlich, aus dem Gesagten einige Schlussfolgerungen für eine weitere Perspektivierung von Medienpädagogik zu ziehen – Schlussfolgerungen, die sicherlich vorsichtig gesehen werden müssen, stammen sie doch nicht aus dem ‚Kern‘ des Faches, sondern dem angrenzenden wissenschaftlichen Bereich der Kommunikations- und Medienwissenschaft. Cultural Studies und Globalisierung Generell haben sich die Cultural Studies in den letzten Jahren zu einem Ansatz entwikkelt, der die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Medien international umfassend angeregt hat. Es kann hier jedoch nicht
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darum gehen, einfach einen weiteren Verweis auf die Cultural Studies unterzubringen oder eine Rezeptionsgeschichte der Cultural Studies in der Medien- und Kommunikationswissenschaft nachzuzeichnen (siehe hierzu beispielsweise Mikos 1999; Göttlich / Winter 1999; Göttlich et al. 2001; Winter 2001; sowie Hepp 2004b). Vielmehr möchte ich aufzeigen, dass die Cultural Studies bezogen auf eine Auseinandersetzung mit Fragen der kulturellen Globalisierung eine revidierte Auseinandersetzung möglich machen. Als einer der zentralen Ausgangspunkte von Cultural Studies kann man die Kritik an einem universalistischen Verständnis von Wissenschaft begreifen, die sich im Verständnis der „radikalen Kontextualität“ (Grossberg 1994; Ang 1999) der eigenen empirischen Forschung und Theoriearbeit manifestiert. In diesem Zusammenhang ist insbesondere auf einen Artikel von Jon Stratton und Ien Ang zu verweisen, in dem sie sich mit der Globalisierung innerhalb der Cultural Studies auseinander setzen. Argumentativer Ausgangspunkt ist eine Gegenüberstellung von Cultural Studies und (funktionalistischer) Soziologie. Die Soziologie ist demnach als eine moderne Disziplin zu begreifen, die gerade aufgrund ihrer Spezifik als Disziplin der Moderne stets versucht hat, ihren eigenen Wissensbestand als universell darzustellen (vgl. Stratton /Ang 1996: 364). Hierbei dient der Ausdruck ‚Gesellschaft‘ innerhalb des soziologischen Diskurses als ein hegemonialer, alles einschließender singulärer Begriff, der eine umfassende, integrierte Gesamtheit bezeichnet. Aufgrund der primär funktionalen Perspektivik erheblicher Teile von Soziologie beste-
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Die Kontextualität des wissenschaftlichen Beobachters ist unaufhebbar. Da helfen auch Konzepte reflexiver Beobachtung nicht. Der Beobachter (dritter Stufe) des Beobachters (zweiter Stufe) der Beobachtung (erster Stufe) mag möglicherweise die Kontextualität schrittweise eliminieren, verliert aber dabei den Inhalt des Beobachteten aus dem Blick. Am Ende bleibt nur noch reine Form, die sich ins Unendliche iteriert. Von Verstehen differenzierter kultureller Kommunikation in den Medien kann dann nicht mehr die Rede sein. Denn Verstehen ist an den Inhalt gebunden.
Die Polarisierung von funktionalistischer Soziologie und Kulturwissenschaft halte ich für überaus fruchtbar.
56 Denn sie macht die wechselseitigen Stärken und Schwächen deutlich. In meiner Kommentierung stütze ich mich vornehmlich auf Luhmann. Nach ihm ist zwar Gesellschaft der universale Begriff, unter den alles zu subsumieren ist bzw. auf den hin alles zu orientieren ist, aber er fasst dennoch Gesellschaft differenztheoretisch. Darin ist er raffinierter als Kulturwissenschaftler meinen. Der Ausgangspunkt ist die formale Differenz von System und Umwelt. Das umfassendste System ist Gesellschaft als Weltgesellschaft in Differenz zu Umwelt. Alle weiteren Differenzen leiten sich aus dieser formal – gleichsam axiomatisch – angesetzten Differenz ab. Die Cultural Studies gehen umgekehrt vor. Sie arbeiten die Differenz aus dem Gegebenen heraus. Differenz ist ihnen induktiv gegeben und setzt sich in den Generalisierungen fort. Und ein zweites ist dies, dass Differenz im Inhaltlichen verankert ist und dort herausgearbeitet werden muss. Formale Differenz kann nur Abstraktion sein,
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hen in diesem Diskurs zwar Raum für Differenzen – beispielsweise in der Form von Klassenunterschieden, Gender-Differenzen und ethnischen Differenzen. Jedoch werden diese Fragen gewöhnlicher Weise in Bezug auf Integration und Inklusion innerhalb einzelner Gesellschaften und weniger in Bezug auf eine zunehmende Radikalisierung von Differenz diskutiert, was quer zu einem Integrationsfokus läge. Die Gedanken von Stratton und Ang fortführend, kann man ein solches Denken mit dem Ausdruck des ‚universalisierenden Partikularismus‘ charakterisieren. Auf der einen Seite ist die (funktionale) Soziologie insoweit universalisierend, als sie davon ausgeht, dass sich ihre Konzepte und Theorien eignen, um soziale Interaktion in allen Kontexten der Welt gleichermaßen zu beschreiben. Ihr Begriff von Gesellschaft wie ihr gesamter Begriffsapparat zielt auf ein universales Verständnis von Welt. Gleichzeitig geschieht dies – zumindest außerhalb der Soziologie der Globalisierung (siehe beispielsweise Urry 1999, 2003) – ausgehend von der partikularistischen Annahme, dass die Welt in klar abgegrenzte (nationale) Gesellschaften strukturiert ist, deren Differenzen aber gerade mit dem universalistischen Begriffsapparat der Soziologie beschrieben werden können: „Differenzen können erfasst werden als bloße Varianten desselben.“ (Stratton /Ang 1996: 364) Grundlegend kann man der bisherigen Argumentation möglicherweise vorhalten, sie sei überzeichnend und Soziologie weit differenzierter, als sie hier erscheine. Was Jon Stratton und Ien Ang skizzieren, ist sicherlich eine Tradition der Soziologie, nämlich die funktionalistisch-empirische. Daneben
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gibt es andere, insbesondere interpretative und kritische Traditionen von Soziologie, die wie die so genannte Chicago School sowie die interpretative Sozialforschung mit ihrem Fokus auf Fragen von Identität, Alltagsleben und Konflikten den Cultural Studies durchaus nahe stehen, wie Elizabeth Long zeigt (vgl. Long 1997: 5-9). Jedoch weist auch Long darauf hin, dass aus ihrer Perspektive die Soziologie nach dem Zweiten Weltkrieg in der Tendenz durch einen empirisch-funktionalistischen Zugang dominiert wurde, der Kultur insbesondere aber die Auseinandersetzung mit kulturellen Konflikten marginalisierte. Zwar sieht sie für die letzten Jahre ein Erstarken der Kultursoziologie, was die Soziologie näher an die Cultural Studies bringt, insgesamt streicht jedoch auch sie heraus: „Cultural Studies has in general been more willing than sociology, with its strongly universalizing bent, to grant that knowledge may be inherently perspectival – or to put it differently, may be both limited and enabled by the knower’s historical, cultural, and social access to the world, including the world of intellectual traditions – and more eager to explore the links between knowledge and social domination.“ (Long 1997: 15)
Diese Argumentation bringt nochmals vieles von der bereits einleitend formulierten Kritik an dem territorialen Verständnis von Gesellschaft und auch Kultur im Rahmen der traditionellen sozialwissenschaftlichen Medien- und Kommunikationsforschung auf den Punkt. Was aber darüber hinausgehend zentral erscheint, ist, dass der Rahmen für ein Verständnis von Cultural Studies entwikkelt wird, das jenseits von Schemata der
57 die den Phänomenen übergestülpt wird. Ich bin sicher, dass der hier aufgemachte Gegensatz von funktionalistischer Soziologie und Cultural Studies auf dem Gegensatz der folgenden zwei Erklärungsmuster beruht: der Causa formalis und der Causa materialis. Die Frage ist: Bestimmt die (sozial-strukturelle) Form die inhaltlichen Phänomene oder bestimmen die inhaltlichen Differenzen die formalen Strukturen von Gesellschaft? Die Position der sozialstrukturellen Formalisten geht dahin, dass der Inhalt nichts anderes als die Eigenform ist. Die soziale Form (auch der Differenz) bestimmt die Semantik (Inhalt) gesellschaftlicher Auseinandersetzung. Theoriepositionen, die sich dem Konzept der Causa formalis hingeben, universalisieren immer. Das hat positive und negative Effekte. Zum einen muss man festhalten, dass Universalisierung ohnehin nicht qualitativ möglich ist, sondern nur formal. Ein gutes Beispiel ist Kants kategorischer Imperativ, aber auch sein Konzept einer
58 friedlichen Weltgesellschaft. Also das Positive: Die Form ist das einzige, worauf man sich zurückziehen und einigen kann, wenn man die Freiheit der Wahl des Inhalts gewährleisten will. Nun die negative Seite: Aus der Form lässt sich keine inhaltliche Wahl oder Entscheidung ableiten. Cultural Studies haben deshalb die Tendenz zu pluralisieren, weil sie vom Inhalt und nicht von der Form ausgehen. Inhalte sind in ihrer empirischen Gegebenheit immer anderes und anders. Wer am inhaltlich Konkreten interessiert ist, braucht nicht die Abstraktion ins Universale. Die ist natürlich immer möglich, aber wozu? Wittgenstein soll mal gesagt haben, man könne natürlich jeden Gegenstand solange ein- und umwickeln, bis er rund ist, um die Aussage zu verifizieren, dass alle Gegenstände rund sind.
ANDREAS HEPP
(funktionalen) Soziologie als ‚universalisierende Disziplin der Moderne‘ operiert. Zwar kann man seit den 1980er Jahren eine ähnliche internationale Ausbreitung des Ansatzes der Cultural Studies ausmachen, wie sie für die Soziologie kennzeichnend ist. 1 Das Besondere dieser internationalen Cultural Studies in diesem Zusammenhang ist aber darin zu sehen, dass es hier nicht gleichzeitig um die Entwicklung eines universalistischen Paradigmas geht, sondern diese gerade durch einen Widerstand gegen eine Universalisierung gekennzeichnet sind. Umgekehrt sollen aber auch nicht verschiedenste ‚nationale Projekte‘ von Cultural Studies entwickelt werden. Auch dies würde letztlich den Aspekt, wie traditionelle funktionale Soziologie Differenz fasst – nämlich als Differenz zwischen territorialisierten nationalen Gesellschaften – nur reproduzieren. Vielmehr geht es um einen pluralistischen Ansatz von Cultural Studies, d.h. eine intellektuelle Praxis von Cultural Studies, die Universalisierung vermeidet, indem sie nicht einfach jede angebliche Partikularität aufwertet, sondern die Prozesse der Partikularisierung selbst reflektiert, um deren Politiken zu hinterfragen (vgl. Stratton /Ang 1996: 367). Sieht man die aktuellen Publikationen der Cultural Studies an, so kann man feststellen, dass gerade diese von Jon Stratton und Ien Ang noch als Ziel formulierte Entwicklung seit den 1990er Jahren vollzogen wurde: Die internationalen Cultural Studies werden als verschiedene lokal bezogene Formen der Cultural Studies in unterschiedlichen Kontexten der Welt greifbar. Diese existieren nicht einfach nebeneinander, sondern deren Vertreterinnen und Vertreter sind kommunikativ vernetzt. Dennoch bestehen
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sie aber auf die jeweilige kontextuelle Rückbezüglichkeit ihrer Form einer kritischen Auseinandersetzung mit kulturellen Prozessen. Aus australischer Perspektive weisen bereits John Frow und Meaghan Morris (1996) auf solche eigenständigen Traditionen hin, eigenständige lateinamerikanische Traditionen werden in den Arbeiten von Jesus Martín-Barbero (1993) greifbar, aus asiatischer Perspektive thematisiert diesen Zusammenhang Kuan-Hsing Chen (1996), um hier nur einige frühe Beispiele zu nennen. Gerade dies kann man als eines der zentralen Potenziale der Cultural Studies bei einer Auseinandersetzung mit Prozessen der Globalisierung im Allgemeinen bzw. der Globalisierung von Medienkommunikation im Speziellen begreifen, nämlich dass hier nicht von vornherein eine ‚westliche‘ Vorstellung von soziokultureller Entwicklung universalisiert und als impliziter Referenzpunkt für eine wissenschaftliche Auseinandersetzung genommen wird. Inwieweit dies einem Selbstverständnis von Wissenschaft auch jenseits der von David Morley (1996) so bezeichneten „EurAm“-Perspektive entspricht – also einer Perspektive, in der sich Europa und Nordamerika selbst ins Zentrum der Bewertung soziokultureller Prozesse einer global gedachten ‚westlichen Modernisierung‘ setzen –, macht der lateinamerikanische Kulturtheoretiker Néstor García Canclini deutlich, wenn er einleitend zu seinem Buch „Hybrid Cultures“ schreibt:
Wenn man nicht universalisierend, nicht wissenschaftlich hegemonial, nicht abstraktiv formal in der Wissenschaft agieren will, dann gibt es nur die Strategie der Vernetzung, wenn man eine Verinselung der eigenen wissenschaftlichen Arbeit vermeiden will. Vernetzung heißt, einen Zusammenhang schaffen. Das ist etwas ganz anderes als eine holistische Einheit bilden. Vernetzung folgt dem Prinzip der Familienähnlichkeiten (Wittgenstein), d. h. wechselnder Ähnlichkeiten, die Ketten bilden – ohne ein tertium comparationis für alle Glieder der Kette. Der ‚Westen‘ aber beansprucht, in jedem Zusammenhang das tertium comparationis zu sein.
„What are the strategies of entering and leaving modernity in the nineties? We phrase the question in this way because in Latin America, where traditions not yet disappeared and modernity has not completely arrived, we doubt that the
Hier erhält plötzlich das ‚tertium non datur‘ eine völlig neue Bedeutung.
Was aber ist, wenn ein tertium comparationis nicht gegeben ist bzw. nicht anerkannt wird? Wie kann es dann weitergehen, wenn man ein Minimum von Zusammenhang nicht aufgeben will?
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ANDREAS HEPP primary objective should be to modernize us, as politicians, economics, and the publicity of new technologies proclaim.“ (García Canclini 1995: 1)
Globalisierung von Medienkommunikation
Es geht darum Zusammenhänge darzustellen, aber nicht zu universalisieren. Zusammenhänge stellt man her, indem man die Beziehungen aufdeckt, d. h. die sachlogischen Relationen angibt, die zwei Dinge verbinden. Dazu braucht man kein universalistisches System.
Man kann an dieser Stelle also zuerst einmal festhalten, dass sich die Cultural Studies gerade durch deren radikale Kontextualität sowohl in der Theoriearbeit als auch in ihrer Empirie zu einem zentralen Bezugspunkt für eine angemessene Auseinandersetzung mit Globalisierung entwickelt haben. Dies konkretisiert sich vor allem in drei Aspekten. Erstens versuchen die Cultural Studies keinen universalistischen Begriffsapparat zu entwickeln, der als vom Westen ausgehendes Modell implizite Richtschnur für lokal kontextualisierte Prozesse ist. Hierdurch sind sie hochgradig offen für verschiedene Wissenschaftstraditionen, die auch außerhalb des Westens entwickelt wurden und deren Wissen zentral ist für eine Einschätzung von Globalisierung im Allgemeinen und Globalisierung der Medienkommunikation im Speziellen. Inwieweit ein solches Wissen bezogen auf die Globalisierung von Medienkommunikation wichtig ist, wird an dem Beispiel der Strukturierung von Medienorganisationen deutlich. Im Westen wird hier gemeinhin von einer Dichotomie von auf allgemeine Interessen fokussierten öffentlichen Medien (z.B. öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten) und nach kapitalistischen Interessen operierenden privaten Medien ausgegangen. Solche Schemata greifen außerhalb des Westens nicht zwangsläufig, wie an verschiedenen Formen staatsnaher privater Medien
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oder aber kapitalistisch organisierter Staatsmedien deutlich wird. Deshalb wird im Kontext von Studien, die außerhalb des Westens entstanden sind und die sich mit solchen Zusammenhängen auseinander setzen, gerade einbezogen auf den lokalen Kontext entwickelter Begriffsapparat gefordert (vgl. Hallin 2000; Lee 2000; Waisbord 2000). Die Cultural Studies sind ein Ansatz, der ein solches in der aktuellen transkulturellen Medien- und Kommunikationsforschung gewünschtes „De-Westernizing“ (Curran / Park 2000) seit Jahren nicht nur fordert, sondern praktiziert. Zweitens verfallen die Cultural Studies nicht in einen auf territoriale Nationalstaaten bezogenen Partikularismus der Betrachtung. Gleichwohl geht es aber darum, Differenz zu thematisieren ebenso wie den Prozess des Entstehens von Partikularitäten – aber eben ohne dass der territoriale Nationalstaat a priori zur primären Partikularität innerhalb der Welt erklärt wird. Hierdurch wird es möglich, die im Globalisierungsprozess so zentralen Partikularitäten jenseits des Nationalen zu fassen – ohne aber das Nationale als eine mögliche Form der Partikularität von vornherein auszuschließen. Drittens schließlich geht es innerhalb der Cultural Studies darum, eine Auseinandersetzung mit aktuellen kulturellen Prozessen dezidiert kritisch zu betreiben. Zentral erscheint hierbei, dass die Cultural Studies neue Formen der Kritik in das Blickfeld rücken, die bei jeweils bestehenden lokalen Handlungsmöglichkeiten ansetzen. Die traditionelle Kritik der sozialwissenschaftlichen Medien- und Kommunikationsforschung war hingegen insbesondere eine durch Besitzverhältnisse begründete Medienkritik:
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Man muss den Fokus auf die Bewegung der Akteure (Kommunikanten) im symbolischen Raum der Kulturgemeinschaft legen. In diesem Raum können sich dann möglicherweise nationale wie geografische Differenzen als Effekte der Kommunikation ergeben, aber sie sind nicht Voraussetzung oder Bedingung der Kommunikation gewesen.
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Theoretische wie auch praktische Konzepte, die auf Vernetzung setzen und familienähnliche Zusammenhänge bei wechselnden Ähnlichkeitsrelationen in Ansatz bringen, können viel leichter lokalstrategische Koalitionen eingehen und die Perspektiven der Kritik flexibel wechseln. Das ist nicht nur strategisch besser, sondern vermei-
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Schlecht war die Bildung großer Konzerne, von Oligopolen oder gar Monopolen als Inbegriff der manipulativen „Kulturindustrie“ im Sinne von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer (1988). Gut waren öffentliche Medien, insbesondere aber alternative Medien und ‚Medien von unten‘ – also Kommunikationszusammenhänge, die auf eine Gegenöffentlichkeit verweisen (vgl. Negt / Kluge 1973). Mit der Globalisierung der Medienkommunikation wurde die Sachlage deutlich komplexer (vgl. Hepp 2004a): Kritisch und alternativ Eingestellte bedienen sich bewusst großer Medienkonzerne, um eine Vielzahl von Publika zu erreichen, wie das Beispiel des Musikers Manu Chao deutlich macht, dessen jüngste Veröffentlichungen seit seinem selbst gewählten Abschied von Virgin über Frankreich und Spanien hinaus kaum mehr wahr genommen werden, weil sie schlichtweg distributiv nicht verfügbar sind. Global agierende Medienkonzerne mussten lernen, differenziert bezogen auf den jeweils adressierten Kontext zu agieren und haben die Bereitschaft entwickelt, auch abweichende und kritische Stimmen im Angebot ihrer Medienprodukte zuzulassen, solange sie sich verkaufen lassen (vgl. Hall 2002). Aber auch öffentliche Medien sind nicht per se gut, sondern ebenso einer Kommerzialisierung ausgesetzt, wie lokale Medien durchaus auch aus Perspektive einer Medienkritik problematische Tendenzen beispielsweise als Sprachrohr Rechtsradikaler entwickeln können. Dies macht deutlich, wie sehr ein Ansatz von Kritik notwendig ist, der nicht ausschließlich in Fragen der Besitzverhältnisse aufgeht, sondern lokale Handlungsmöglichkeiten und deren mögliche Beschränkun-
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gen als Referenzpunkte von Kritik nimmt. Was die Cultural Studies hier bieten ist eine komplexere Form multiperspektivischer Kritik. So verwies bereits Richard Johnson auf die notwendige „Offenheit und theoretische Vielseitigkeit“ von Kritik, „also nicht bloßen Kritizismus oder Polemik, sondern Verfahrensweisen, die andere Traditionen auf ihren positiven Gehalt wie auf ihre Beschränkungen hin untersuchen“ (Johnson 1999: 140). Diese offene Form von Kritik prägt gerade aktuelle Arbeiten der internationalen Cultural Studies im Feld der transkulturellen Kommunikation. Dabei bestreiten Vertreterinnen und Vertreter der Cultural Studies keineswegs die Notwendigkeit einer Kritik problematischer Besitzverhältnisse, was etwa Arbeiten zur Verbreitung des globalen Kapitalismus deutlich machen (vgl. Ang 1996; 2003). Vielmehr geht es darum zu zeigen, dass in der gegenwärtig zunehmend komplexeren und widersprüchlicheren Welt Kritik nicht mehr eindimensional auf Besitzverhältnisse reduziert werden sollte, weil dann viele andere und ebenfalls maßgebliche, auch diskursiv vermittelte Ursachen für Ungleichheiten wie etwa Rasse, soziale Lage oder Geschlecht unberücksichtigt blieben. Ziel sollte also eine Differenzierung und Erweiterung der Basis von Kritik sein, die die Beschneidung alltäglicher Handlungsmöglichkeiten und Handlungsfähigkeiten von Menschen in den Mittelpunkt rückt. Transkulturelle Medienpädagogik Zentral erscheint mir vor dem Hintergrund des Formulierten, auf die Notwendigkeit einer Perspektive in der Pädagogik hinzuweisen, die sich vielleicht als ‚transkulturelle
63 det auch einen universalistischen Dogmatismus, der für die partikulären Unterschiede blind macht.
Die multiple, in wechselnden Zusammenhangsrelationen artikulierte Kritik orientiert sich allein an dem negativen Moment, Handlungsmöglichkeiten einzelner Menschen nicht zu beschneiden. Sie ist damit recht eigentlich bildungstheoretische Kritik: Alles, was der Entwicklung eigener Potentiale sowie deren performanter Verwirklichung entgegensteht, ist pädagogisch abzulehnen.
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Das Konzept der Diaspora für virtuelle Kommunikationsgemeinschaften einzuführen, bedarf eines Rückbezugs darauf, dass das Paradigma der Diaspora das Judentum ist. Die weltweit verstreuten Juden haben zwar auch hybride Formen jüdischer Kultur ausgebildet, aber dennoch eine klare explizite formale Identität ausgeprägt – nämlich die Formalität des Vertrages mit Gott, der die Juden zum auserwählten Volk macht. Zwar hat der Vertrag in den 10 Geboten auch einen Inhalt, aber identitätsstiftend ist das Faktum des Vertrags, d. h. das vertragsförmige Verhältnis zu Gott. Bei der über das Judentum hinausgehenden Verallgemeinerung des Begriffs der Diaspora muss man also beachten, dass man nicht Bedeutungsgehalte mitnimmt, die explizit jüdisch sind. Jedenfalls muss bedacht werden,
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Medienpädagogik‘ bezeichnen lassen könnte. Was hierunter verstanden werden könnte und warum für eine solche transkulturelle Medienpädagogik die Cultural Studies ebenfalls einen zentralen Referenzpunkt darstellen, dies möchte ich abschließend zeigen. Stellt man sich die Frage, wie sich das spezifische ‚Partikularitätsverständis‘ der selbst zunehmend ‚globalisierten‘ Cultural Studies in Bezug auf die empirische Auseinandersetzung mit transkulturellen Kommunikationsprozessen konkretisiert, so wird dies vor allem anhand der Forschung zu Medien und Diaspora deutlich. Versteht man unter einer Diaspora so viel wie ein Netzwerk einer vorgestellten ethnischen Gemeinschaft von Personen, die dauerhaft außerhalb der Lokalitäten ihres geografischen ‚Ursprungs‘ über verschiedene Territorien unterschiedlicher (National-)Staaten verteilt leben, so kann man konstatieren, dass mit diesem Konzept der Diaspora eine grundlegende Umorientierung der Auseinandersetzung mit ‚Medien und Migration‘ verbunden ist: Während in der klassischen Medienund Kommunikationsforschung im deutschsprachigen Raum Fragen von Medien und Migration von vornherein auf die Integration von ‚Minderheiten‘ in ‚Nationalkulturen‘ fokussiert verhandelt worden sind (siehe hier exemplarisch die Beiträge in Schatz et al. 2000), verweist das Ansetzen beim Konzept der Diaspora auf eine andere Ausrichtung der Forschung. Hier geht es um die Frage, inwieweit Medien Ressourcen der Aufrechterhaltung von (zunehmend selbst hybridisierten) ‚Kulturgemeinschaften‘ in der ‚Fremde‘ sind (vgl. zu dieser Perspektive überblickend Clifford 1994; Dayan 1999; Cottle 2000; Karim 2003). Medien werden
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also nicht von vornherein als Instrumente nationalkultureller Integration begriffen, sondern auch in deren Potenzial für Prozesse fortschreitender kultureller Segregation bzw. Hybridisierung gesehen. Inwieweit gerade elektronische Medien (Fernsehen, Video, digitale Medien) Diaspora-Gemeinschaften fördern, haben verschiedenste Studien in der Tradition der Cultural Studies gezeigt. Exemplarisch sei verwiesen auf Arbeiten zur Punjabi-Diaspora (Gillespie 1995; 2000; 2002), zur Trini-Diaspora (Miller / Slater 2000), zur türkischen Diaspora (Aksoy / Robins 2000, 2001) oder zur karibischen Diaspora (James / Harris 1995). Über die verschiedenen Detailergebnisse hinweg können die einzelnen Untersuchungen zeigen, dass gerade vermittelt durch die Globalisierung der Medienkommunikation diasporische Kommunikationsnetzwerke in erheblichem Maße an Stabilität gewonnen haben und dass die Etablierung digitaler Medien (Netzkommunikation, Mobilkommunikation) diesen Prozess weiter fördert. Was heißt das aber für eine transkulturelle Medienpädagogik? Um diese Frage zu beantworten, bietet es sich zuerst einmal an, sich den Begriff der Medienpädagogik nochmals zu vergegenwärtigen. Jürgen Hüther und Bernd Schorb fassen diesen – Überlegungen von W. Neubauer und G. Tulodziecki aufgreifend – wie folgt: „Medienpädagogik umfasst alle Fragen der pädagogischen Bedeutung von Medien in den Nutzungsbereichen Freizeit, Bildung und Beruf. Dort wo die Medien als Mittel der Information, Beeinflussung, Unterhaltung, Unterrichtung und Alltagsorganisation Relevanz für die Sozialisation des Menschen erlangen, werden sie zum Gegenstand der Medien-
65 dass nicht alle verstreut lebenden Kulturgemeinschaften ihre Identität so explizit angeben können wie das Judentum. Die Möglichkeiten globalisierter Kommunikation werden vermutlich eher genutzt von Kulturgemeinschaften, deren Identität nicht derart explizit formal angegeben werden können, weil solche Gemeinschaften sich ihrer Identität in der Performanz lebendiger Kommunikation immer wieder versichern müssen.
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ANDREAS HEPP pädagogik […]. Gegenstände medienpädagogischer Theorie und Praxis sind die Medien, ihre Produzenten und Nutzer im jeweiligen sozialen Kontext. Medienpädagogik untersucht die Inhalte und Funktionen der Medien, ihre Nutzungsweisen sowie ihre individuellen und gesellschaftlichen Auswirkungen. Sie entwirft Modelle für die medienpädagogische Arbeit, mit der sie Nutzer über die Kompetenzstufen Wissen und Analysefähigkeit in ihren spezifischen Lebenswelten zu medienbezogenem und medienbeziehendem Handeln geführt werden sollen.“ (Hüther /Schorb 2005: 265)
Man ist den Medien ausgeliefert, weil man sich in ihnen vorfindet. Wenn die medienpädagogische Forschung beispielsweise zum Resultat käme, dass ein Medium Bildungsprozesse behindert, dann wäre eine praktische Bewahrpädagogik das angemessenen Konzept und würde sich in die Tradition pädagogischer Maßnahmen einreihen, die ein Moratorium für Bildungsprozesse geschaffen haben.
Die mediale Durchdringung der gesamten Lebenswelt einen „Metaprozess der Mediatisierung“ zu nennen, legt nahe, dass es sich
Letztlich verweist ein solches Grundverständnis von Medienpädagogik auf deren Entwicklung selbst: Will man die Geschichte der Medienpädagogik knapp – und damit auch etwas holzschnittartig – skizzieren, so ist sie ein Prozess weg von einer ‚Bewahrpädagogik‘, die Medien als insbesondere Jugendliche gefährdende Instanzen begriff, über eine emanzipatorische und kritische hin zu einer handlungs- und lebensweltorientierten Medienpädagogik. Letztere zeichnet sich – wie auch das Zitat deutlich macht – durch den Versuch der Analyse und Vermittlung von lebensweltbezogenen, kommunikativen Kompetenzen aus: Es geht im weitesten Sinne darum, Menschen zu helfen, Medien produktiv in ihre Lebenswelt zu integrieren. Als eine erste Herausforderung der letzten Jahre für diese handlungs- und lebensweltorientierte Medienpädagogik ist sicherlich der Metaprozess der „Mediatisierung“ (Krotz 2001) zu begreifen, d.h. die insbesondere durch digitale Medien vermittelte zunehmende Durchdringung verschiedenster lebensweltlicher Bereiche mit Medienkom-
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munikation. Der Umgang mit Medien betrifft längst nicht mehr nur den ‚Freizeitbereich‘, sondern das private und öffentliche Leben insgesamt: Mit Computer und Mobilkommunikation wurde bspw. ‚Arbeit‘ in verschiedensten Bereichen auch ‚Medienarbeit‘. Während die Herausforderung dieses Metaprozesses in der handlungs- und lebensweltbezogenen Medienpädagogik reflektiert wird, erscheint dies für einen anderen Metaprozess – nämlich den der Globalisierung im Allgemeinen und der Medienkommunikation im Speziellen – nicht hinreichend der Fall zu sein. Eine Herausforderung stellt die Globalisierung der Medienkommunikation für die Medienpädagogik nicht einfach nur deswegen dar, weil zunehmend auch ‚fremde Inhalte‘ medienvermittelt in unterschiedlichsten Lebenswelten verfügbar sind. Eine Herausforderung ergibt sich vielmehr, weil vermittelt durch die Globalisierung der Medienkommunikation veränderte Prozesse der Partikularisierung in Gang kommen, wie die Diskussion um Diasporas zeigt. Vor diesem Hintergrund lässt sich die transkulturelle Medienpädagogik als Teil der Tradition einer handlungsund lebensweltbezogenen Medienpädagogik begreifen, die sich vor allem durch zwei Punkte auszeichnet: 1. Als erstes geht es hier um die medienpädagogisch verortete Analyse transkultureller Kommunikationsprozesse. Die Forderung einer solchen Fokussierung mag zuerst einmal trivial klingen, auf den zweiten Blick wird jedoch deren Komplexität deutlich. In gewissem Sinne kann man nämlich argumentieren, dass transkulturelle Kommunikationsprozesse in hohem Maße ‚flüchtige‘ und in vielen Fällen nicht hinreichend be-
67 um einen unitarischen Prozess handelt. Dagegen steht, dass es um eine Vernetzung von Medien geht – um einen Zusammenhang der Medien, der uns nicht mehr aus dem medialen Raum entrinnen lässt.
Die Beispiele, die sich auf Diasporas beziehen, erscheinen mir nicht als transkulturelle Kommunikationsprozesse, sondern eher als Stabilisierung fremder Kultur in verstreuten Territorien.
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In der Ausgrenzung des lokal benachbarten Fremden findet gerade keine Transkulturalität statt. Vermutlich lässt sich die „Enklave des Fremden“ nur leben, weil man das Eigene transterritorial kommunizieren kann.
Erst da, wo die transterritoriale Kommunikation zum Austausch von kulturellen Manifestationen führt, kann es zu transkulturellen Kontakten und einer entsprechenden Kommunikation kommen.
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kannte Phänomene sind, die oft nur schwer greifbar erscheinen (vgl. Hepp 2005). Wir können dies nochmals an dem Beispiel der Diaspora konkretisieren: Angehörige von Diaspora-Gemeinschaften im definierten Sinne sind als Personen (‚Migrantinnen‘ und ‚Migranten‘) in der lokalen Nachbarschaft sehr manifeste ‚Fremde‘ und mit entsprechenden Prozessen bspw. sozialer Ausgrenzung konfrontiert. Wesentlich weniger greifbar erscheinen aber die medienvermittelten Prozesse der Artikulation solcher DiasporaGemeinschaften. Eine Kenntnis, in welchem Maße verschiedenste sprachlich und kulturell kontextualisierte Medienprodukte auch in Deutschland verfügbar sind und inwieweit diese zur Stabilisierung von Diaspora-Gemeinschaften beitragen, ist in vielen Fällen nicht hinreichend präsent. Man denke dabei nicht nur an die Empfangsmöglichkeiten von verschiedensten Satellitenkanälen – die man häufig nicht sinnhaft als ‚ausländisch‘ charakterisieren kann, weil sie nirgendwo auf ein ‚Inland‘ fokussiert sind – oder die Erhältlichkeit entsprechender Zeitungen. Ebenso ist zu denken an den Umstand, dass beispielsweise Homevideo-Produktionen aus afrikanischen, lateinamerikanischen und asiatischen (trans)kulturellen Kontexten über entsprechende Migrantenläden verfügbar sind. Ähnliches gilt für Karten für Mobiltelefone bzw. für günstige Telefonmöglichkeiten in entsprechenden Telefonläden oder für die intensive kommunikative Vernetzung von Diaspora-Gemeinschaften durch das Versenden von selbst erstellten Familien-Videos an zerstreut lebende Familienmitglieder, die Nutzung von E-MailKommunikation oder das Chatten in solchen Netzwerken von Diaspora-Gemein-
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schaften. Hierbei handelt es sich nicht einfach um den Umstand, dass bestimmte ‚nationalkulturelle Produkte‘ in anderen ‚Nationalkulturen‘ verfügbar sind und deswegen ein Hindernis von ‚Integration‘ wären. Vielmehr geht es darum, dass die Globalisierung der Medienkommunikation die Aufrechterhaltung von Diaspora-Gemeinschaften als einem spezifischen kulturellen Segment der Gegenwart gestattet. Noch viel ‚flüchtiger‘ werden transkulturelle Kommunikationsprozesse, wenn wir uns weiter von dem Beispiel der DiasporaGemeinschaften lösen: Angepasste Formate von transkulturell gehandelten Soap Operas oder Quiz-Shows werden bspw. häufig als ‚nationale Sendungen‘ wahrgenommen, ohne dass ein Wissen über deren ‚deterritorialen Charakter‘ besteht (siehe bspw. Moran 1998; Müller 2002; Hallenberger 2005). Und wenn ein Wissen hierüber im Alltag besteht, so wird transkultureller Formathandel unter vereinfachenden Konzepten wie beispielsweise dem der ‚Amerikanisierung‘ oder ‚Homogenisierung‘ gefasst – selbst wenn die international gehandelten Formate eher aus Europa denn den USA stammen. Auch in solchen Fällen ermöglicht es erst die detaillierte Kenntnis der Spezifik transkultureller Kommunikationsprozesse, sich Gedanken darüber zu machen, was diese für Menschen und Medienhandeln bedeuten. Aufgabe einer transkulturellen Medienpädagogik wäre folglich, Forschungsarbeiten im Feld der transkulturellen Kommunikation aufzugreifen und in Bezug auf eine handlungs- bzw. lebensweltbezogene kommunikative Kompetenz zu konkretisieren. 2 2. Zweitens sollte eine transkulturelle Medienpädagogik Prozesse neuer, durch die
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Viele Medienformate werden im Hinblick auf ihre globale Vermarktung geschaffen. Sie können dann nicht mehr einfach nur als transkulturell betrachtet werden, sondern müssen auch als kulturelle Verwischungen analysiert werden – als kulturelle Abstraktionen im Hinblick auf Familienähnlichkeiten verschiedener Kulturen.
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Wichtig ist zu beachten, dass die Globalisierungskritiker sich in einem anderen Sinne globalisieren als die ökonomische Globalisierung. Letztere geht auf die formale Einheit des Kapitals und auf die formalen Prozesse der Geldwirtschaft. Dagegen setzen die Globalisierungskritiker auf die Vernetzung des Verschiedenen in der Anerkennung des Pluralen. Dies herausgearbeitet zu haben, ist ein Verdienst der Cultural Studies.
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Globalisierung der Medienkommunikation vermittelter Partikularisierung fokussieren. Wie ich versucht habe zu argumentieren, tragen die mit der Globalisierung der Medienkommunikation bestehenden, zunehmenden kommunikativen Konnektivitäten nicht eindimensional zu einem wechselseitig besseren ‚Verständnis‘ bei. Vielmehr führen sie auch zu kulturellen Verdichtungsprozessen, die sich als ‚neue Partikularisierungen‘ quer zu Nationalstaaten bzw. -kulturen begreifen lassen. Ein hierfür exemplarisch diskutiertes Beispiel waren die Diasporas, weitere Beispiele wären im Hinblick auf politische Aspekte soziale Bewegungen unterschiedlicher Ausrichtung oder im Hinblick auf kommerzielle bzw. themenfokussierte Aspekte populärkulturelle Gemeinschaften wie sog. Jugend- und Freizeitkulturen bzw. Szenen. All diese sind in ihrer nationale Kontexte übergreifenden Spezifik gerade durch transkulturelle Kommunikationsprozesse getragen. Gemeint ist damit Folgendes: Die Globalisierung im Allgemeinen bzw. die Globalisierung der Medienkommunikation im Speziellen hat nicht einfach – wie bereits mehrfach heraus gestrichen – zu einer weltweiten ‚kulturellen Homogenisierung‘ geführt. Aber sie hat dazu beigetragen, dass wir über verschiedenste Nationalkulturen hinweg Verdichtungen von spezifischen kulturellen Segmenten haben. Die HipHop-Kultur konkretisiert sich sicherlich überall lokal, ist aber ihrem Selbstverständnis nach in Bezug auf Nationen eine transkulturelle Vergemeinschaftung. Die globalisierungskritische Bewegung operiert über verschiedenste lokale Gruppen, hat aber in ihrer Globalisierungskritik ein transkulturelles Selbstver-
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ständnis als politische Vergemeinschaftung. Man kann Diasporas, Jugend- und Populärkulturen oder soziale Bewegungen in einem gewissen Sinne als ‚transkulturelle kulturelle Verdichtungen‘ begreifen. Wichtig erscheint mir, dabei im Auge zu haben, dass solche ‚Partikularitäten‘ durchaus auch Potenziale bieten können für eine transkulturelle Verständigung. Indem diese verschiedenste Nationalkulturen übergreifende Bezugspunkte von Bedeutungsproduktion bieten, können sie zu einer besseren wechselseitigen Verständigung beitragen. Aufgabe einer transkulturellen Medienpädagogik wäre entsprechend nicht die (abermalige) Profilierung eines Diskurses der ‚nationalen Integration‘ solcher Partikularitäten. Vielmehr ging es darum, sowohl ‚innerhalb‘ als auch ‚im Umfeld‘ dieser kulturellen Verdichtungen eine Kompetenz des Umgangs mit deren auch medienvermittelter Partikularisierung zu vermitteln, die einer wechselseitigen Verständigung dient. Für beide Punkte bieten sowohl die transkulturelle Kommunikations- und Medienforschung als auch die in dieser aufgegriffenen Cultural Studies zentrale Bezugspunkte. Insofern sind aus meiner Perspektive die Cultural Studies bis heute als hoch relevant für die Pädagogik im Allgemeinen und Medienpädagogik im Speziellen anzusehen.
71 In dieser neuen Dialektik von formaler Einheit versus inhaltlicher Vernetzung von Pluralem liegt der Zündstoff aktueller politischer Auseinandersetzung. Hier liegt die postmoderne Transformation des Klassenkampfes in den Kampf pluraler Vielfalt gegen reine Form.
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Anmerkungen 1 Von einer zunehmenden Internationalisierung der Cultural Studies kann man seit Anfang der 1990er Jahre sprechen, als dieser Ansatz Verbreitung in der englischsprachigen Welt gefunden hat, neben Großbritannien insbesondere in Australien und den USA, aber auch in Ländern wie Südafrika oder der wieder zu China zählenden ehemaligen britischen Kronkolonie Hongkong. Auch in Lateinamerika entwickeln sich, wie in verschiedenen europäischen Ländern neben Großbritannien, Cultural-Studies-Zusammenhänge. 2 Aktuell zeichnen sich exakt solche Diskussionen in der Medienpädagogik ab. Exemplarisch kann man diesbezüglich auf das Thema des Forums 2005 der Gesellschaft für Medienpädagogik und Kommunikationskultur verweisen, auf dem es um Migration, Globalisierung, Medien und neue Bildungskonzepte geht.
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Z U R I M AG I N AT I O N
D E R KO M P L E M E N T Ä R E N P Ä DAG O G I S C H E N P RA K T I K E N D E S „R E T T E N S “ U N D „J Ä T E N S “: Ü B E R L E G U N G E N I M A N S C H LU S S A N C U LT U RA L S T U D I E S U N D G O U V E R N E M E N TA L I T Ä T
Die Bezüge zwischen Cultural Studies und Pädagogik sind vielfältig und gleichzeitig punktuell; eine widersprüchlich scheinende Feststellung, die dennoch und nicht allein auf die deutsche Rezeption bezogen, die im folgenden kurz angesprochen werden soll, eine zutreffende Beschreibung abgibt. Die Vielfalt erklärt sich aus der Bandbreite der Anregungen, die vor allem von Stuart Halls Enkodierungs-/Dekodierungsmodell auf die Medienpädagogik (vgl. Moser 2004) und generell von den jugend(sub)kulturellen Studien des Center for Contemporary Cultural Studies (CCCS) auf die ethnographisch orientierte pädagogische Jugendforschung ausgegangen ist. Die Rezeption der Cultural Studies findet darüber hinaus in der Gender- und in der Migrationsforschung statt – durchaus unter Aufnahme von Weiterentwicklungen der Cultural Studies zu den Postcolonial oder Subaltern Studies. Sind (der Umgang mit) Populärkultur, Eigensinn, Eigenaktivität, Widerständigkeit und Subversivität der Subjekte – nicht zuletzt in Auseinandersetzung mit den Anmu-
Kommentar: Norbert Meder Der Eigensinn der Neuen, die sich dem Überlieferungs- und Tradierungsbegehren
78 der Alten widersetzen, ist ein Kerngedanke moderner Pädagogik. Dass dabei ein aktiver Aushandlungsprozess entsteht, darauf hat Hannah Arendt hingewiesen. Theorietechnisch ist es eine hochinteressante Variante, den Kulturbegriff so weit zu fassen, dass er sogar noch seine eigene Transzendenz als kulturelles Phänomen enthält. Gemeint ist damit Folgendes. Während andere Positionen im Raum der Cultural Studies sich gerne gegen die sozialstrukturellen Formalisierungen und die damit verbundenen Universalisierungen abgrenzen, wird hier ein Kulturbegriff angesetzt, der selbst noch die sozialstrukturelle Formalisierung und Abstraktion umfasst und damit Gesellschaftlichkeit zu einem kulturinternen Phänomen macht. Das ist theoretisch überaus interessant, weil es den Versuch darstellt, gleichsam den Spieß herumzudrehen und der funktionalistischen, systemtheoretischen Soziologie ihre strukturäquivalente Gegentheorie vorzuhalten. Während dort Kultur als ein Teilsy-
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tungen institutionalisierter Erziehung – beherrschende Themen der handlungsbezogenen und akteurszentrierten pädagogischen Rezeption von Cultural Studies, so möchte ich im folgenden zeigen, dass die Perspektive der Cultural Studies auch für die Reflexion des Verhältnisses von Staat, Zivilgesellschaft und Kultur fruchtbar gemacht werden kann und dass die zentrale Bedeutung des Pädagogischen auch und gerade in dieser Perspektive augenfällig wird. Dabei greife ich allerdings auf einen Kulturbegriff zurück, der nicht gruppenspezifisch/partikularistisch, sondern gesellschaftsumgreifend/universalistisch also hegemonial angelegt ist. Dieser Kulturbegriff schließt zum einen an den der Hochkultur und ihrer Artefakte an und bezieht sich zum anderen auf idealisierte und institutionalisierte kulturelle Praktiken, in welchen sich das Verhältnis zwischen Staat und Bürgern konstituiert und anhand derer sich Art und Abstufung der Zugehörigkeit oder aber auch der Nicht-Zugehörigkeit entscheidet. Bei der Untersuchung der Legitimations- und Diffusionsprozesse der angesprochenen Praktiken, Vorstellungen und Normen und ihren entsprechenden Semantiken spielen die massenkulturellen Medien, vor allem die klassischen Printmedien sowie Film und Fernsehen eine zentrale Rolle. Mit der hier angelegten Perspektive kommt darüber hinaus die Frage der Regierungstechniken im Sinne der Fremd- und Eigenlenkung ins Spiel, die unter dem auf Michel Foucault zurückgehenden Begriff der Gouvernementalität, seiner Aufnahme und Weiterentwicklung im anglophonen Raum zu den Governmentality Studies (vgl. Bennett 2003; Rose 1999) bei der Analyse der (wohlfahrts)staatlichen Umsteuerung ertragreich genutzt
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wird (vgl. Bröckling/Lemke/Krassmann 2000; Pongratz 2004). Ein zentrales Verbindungsstück zwischen Cultural Studies, Governmentality Studies und dem Pädagogischen bildet die Tradition und moderne Variation des „Pastoralen“. Dieses Konzept werde ich aufnehmen und am Beispiel des pädagogischen Äquivalents zum Hirtenamt – aus dem das christliche Pastorat hervorgegangen ist – nämlich dem Amt des Lehrers, an Lloyd und Thomas (1998) anschließend, zur Anwendung bringen. Von zentralem Interesse ist dabei der Umgang des Hirten mit seiner Herde, analog zu welchem sich das Verhältnis von Priester/Pastor und seiner Gemeinde und dann auch das zwischen Lehrer und seiner Schulklasse konstituiert. Dieses Verhältnis ist um den Kern des zentralen Auftrags des Hirten, sich „omnes et singulatim“ zu widmen, konstitutiert; einem Auftrag, der zwischen der Entscheidung, das eine irregeleitete Schaf unter Gefährdung der gesamten Herde zu retten oder aber das Schaf zu opfern, um die Herde nicht zu gefährden, oszilliert (Foucault 2004 I: 173-278). Die pastoralen Aspekte des Lehrerhandelns spielen im anglophonen Raum eine zentrale sich auch in massenmedialen Darstellungen widerspiegelnde Rolle. Anhand des populären amerikanischen Spielfilms The Blackboard Jungle wird die Strukturlogik zwischen „retten“ und peisgeben – „jäten“ näher beleuchtet werden. Handlungspraktisch konkret im schulischen Kontext heißt preisgeben oder jäten ausschließen, verweisen. Aufgrund des komplexen, im Laufe des 19. Jahrhunderts deutlich konturierten Zusammenhangs zwischen Kultur, Staat, Religion und Pädagogik der den Nucleus der nationalstaatlich organi-
79 stem der Gesellschaft zu fassen versucht wird, erscheint nun hier aus kulturwissenschaftlicher Sicht Gesellschaft als ein Teil der Kultur. Die europäische Aufklärung ist unumstritten ein kulturelles Phänomen. Sie zu deuten als neue Form der Regierung, Gouvernmentality bindet das Gesellschaftliche in den Prozess der Kultur ein.
Die Verankerung des Pädagogischen im kulturellen Schema des Pastoralen steht den gegenwärtigen Tendenzen insbesondere die sozialpädagogische Praxis als Dienstleistung zu begreifen diametreal entgegen. Das Pastorale ist unabhängig vom Leistungskonzept und unabhängig von Konzepten ökonomischer Kalkulationen, die bei Dienstleistung mitgedacht werden. Von ökonomischen Kategorien gedacht, ist das Pastorale einerseits irrational und unberechenbar und andererseits kontingent, weil es sich in der situativen Entschei-
80 dung des Hirten, für das einzelne Schaf oder für die ganze Herde vollzieht. Dienen und Dienstleistung erscheinen so als zwei inkommensurable Kategorien. Dienen gegen Dienstleistung auszutauschen, ist fahrlässig und in ihren Folgen nicht abzuschätzen.
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sierten Gesellschaftsform bildet, ist schulischer Ausschluss im Sinne des Resultats einer pastoral begründeten Handlung immer mit über die Nicht-Zugehörigkeit zur Organisation Schule hinausgehenden Aussagen verbunden. Schulischer Ausschluss hat in diesem Sinne also immer einen über die Bezeichnung des reinen Sachverhalts hinausgehenden Bedeutungshof, sozusagen einen konnotativen Überschuss. Gemeint ist somit nicht nur die Verlustigkeit des Tauschwerts durch nichterlangte Bildungsabschlüsse – im Sinne der Perspektive auf Bildungsabschlüsse als „Tickets“, als Eintrittskarten in die Berufstätigkeit oder als Zugangsberechtigungen zum tertiären Sektor. In Rede steht darüber hinaus und vor allem eine moralische Verfehlung, ein persönliches Versagen. Diese Sichtweise wird in der Wahrnehmung der Beteiligten um so evidenter, je mehr „die andere Seite“, nämlich die des Lehrers und der Schule plausibel machen kann, dass alles erdenkliche getan wurde, um den „Irregeleitenden“ oder „Fehlentschiedenen“ zu „retten“. An dieser Stelle lässt sich für die deutsche Diskussion in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts beobachten, dass von der Praxis des schulischen Ausschlusses hierzulande selbstredend Gebrauch gemacht wird, diese aber nicht an einen dem angelsächsischen Zusammenhang entsprechenden Pastoraldiskurs explizit rükkgebunden ist. Welche Schlüsse aus dieser Beobachtung gezogen werden können, wird Gegenstand des letzten Teils dieses Beitrags sein. Fest steht jedenfalls: Diese Differenz mit dem Verweis auf unterschiedliche Konstellationen zwischen Staat und Kirche, auf unterschiedliche Säkularisierungstraditionen
„RETTEN“ UND „JÄTEN“
abzutun, greift zu kurz, setzt er doch bereits voraus, was erst zu erklären wäre. Wer sich mit Cultural und Governmentality Studies beschäftigt, bewegt sich nicht nur in einem inter- oder transdisziplinären sondern auch in einem internationalen Feld; einem Feld, das freilich durch eine starke anglophone Dominanz gekennzeichnet ist. Der vorliegende Beitrag intendiert keine bloße Fortsetzung dieser Diskussionen, sondern möchte zeigen, dass nicht nur die Pädagogik durch die Cultural Studies, sondern auch die Cultural Studies durch die Pädagogik bereichert werden können. Dies ist bislang eine auch in der internationalen Auseinandersetzung eher unterbelichtete Perspektive – bei aller Interdisziplinarität und bei aller Prominenz einzelnder Studien, wie beispielsweise Paul Willis’ Klassiker Learning to Labour. Grundsätzlich bietet die Analyse der Dynamik zwischen internationalen Strukturhomologien und der Emergenz und Persistenz nationaler Traditionen ein reiches Feld für weitere Untersuchungen. Der Beitrag ist wie folgt aufgebaut: Zunächst wird die hier veranschlagte Cultural Studies-Perspektive in Bezug auf die Untersuchung der Beziehung zwischen Staat und Kultur sowie der Rolle, die dabei dem Pädagogischen zukommt, dargelegt. Das bei dieser Gelegenheit angesprochene Konzept des Pastoralen wird im nächsten Schritt im Kontext von Gouvernmentalität wieder aufgenommen und im Anschluss durch einen einschlägigen erziehungswissenschaftlichen Beitrag zu dieser Thematik vertieft. Schließlich werden die auf diese Weise gewonnenen Teile für die Betrachtung von Blackboard Jungle zusammengefügt. Abschließende, das
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Ich komme noch einmal auf den Widerstreit der Neuen und Alten zurück, wie er von Hannah Arendt für den pädagogischen Handlungszusammenhang als konstitutiv herausgestellt worden ist. Das Feld dieser Auseinandersetzung ist die Kultur als das symbolisch vermittelte Verhältnis zur Welt und zu sich selbst. Die symbolische Vermittlung ist in ihrer Performanz hochgradig kontingent, wie Derrida in seiner Zeichentheorie und die Schule des darauf basierenden Dekonstruktivismus gezeigt haben. Diese Kontingenz wird thematisch im pädagogischen Handlungszusammenhang. Insofern sind viele Forschungen im Bereich der Cultural Studies systematisch in der Pädagogik zu verorten.
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Problem der Übertragbarkeit adressierende Überlegungen runden den Beitrag ab. Die Relation von Kultur und Staat als Thema der Cultural Studies
Man kann den Emile von Rousseau aus zwei Perspektiven lesen. Einmal formuliert er eine Bildungstheorie der freien Entfaltung aller Anlagen und Vermögen des Einzelnen, zum anderen wird im Emile die Reproduktion funktional differenzierter Gesellschaften entwickelt. In ihnen wird das Vererbungs- bzw. das Abstammungsprinzip durch das Prinzip des funktional Besten ersetzt. Wie ermittelt man den funktional Besten? Man muss die gesellschaftlichen Ressourcen in den Blick nehmen, sie pflegen und d. h. den Einzelmenschen zu seiner höchstmöglichen Performanz bringen (Perfectibilité). Dabei muss die Ressource so original wie möglich, also frei von gesellschaftlichen Einflüssen, entwickelt werden, d. h. in negativer Erziehung.
David Lloyd, Literaturwissenschaftler und Paul Thomas, Politikwissenschaftler, setzen sich in ihrer Cultural Studies inspirierten Untersuchung mit dem Verhältnis zwischen Kultur und Staat auseinander und thematisieren die Relevanz des Pädagogischen. Ausgangspunkt ihrer Überlegungen ist die Beobachtung einer im Europa des späten 18. Jahrhunderts bis zum späten 19. Jahrhundert andauernden Konvergenz zwischen Staatstheorie und Kulturtheorie. Am Ende eines langen Prozesses der Auseinandersetzung und Ausdifferenzierung habe sich ein Kulturbegriff durchgesetzt, der am ehesten dem des deutschen Begriffs der Bildung entspräche, nämlich Kultur (Bildung) als „gradual formation of an ethical human subject, characterized by disinterested reflection and universally valid judgments“ (Lloyd/Thomas 1998: 2). Der breit gefasste Kulturbegriff, der sich auf die harmonische Entfaltung aller Anlagen und Vermögen des menschlichen Subjekts bezieht, wird zu einer Zeit in Anschlag gebracht, als sich Arbeitsteilung und Spezialisierung bereits deutlich abzeichneten. Eine Verengung auf Literatur und die Schönen Künste als exemplarische pädagogische Objekte habe erst im Laufe der sich langsam vollziehenden Emergenz staatlicher Institutionen stattgefunden. Zentral für den Staatsbegriff der Autoren ist die Unterscheidung zwischen Ancien Régime und modernem, demokratischem Staat. Lloyd und Thomas schließen hier an diejenigen Theorien
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an, welche die Zäsur zwischen vormodernen und modernen Staaten mit den Legitimationssträngen „Nation“ und „Demokratie“ begründen, denn der moderne Staat ist durch „das Volk“ autorisiert und legitimiert. Die Beziehung zwischen Regierenden und Regierten ist nicht länger durch die Vorstellung bestimmt, dass zwischen beiden ein Bruch, eine Zäsur der Art veranschlagt werde, dass zwischen absolutem Herrscher und Bevölkerung ein quasi Wesensunterschied, begründet in der für die Konstitution absoluter Herrschaft zentralen Vorstellung der Statthalterschaft Gottes auf Erden, bestünde; vielmehr wird in der modernen Staatstheorie der Gedanke der Kontinuität zentral und damit auch die Idee der Repräsentation. Von nun an ist der Staat als voll entwickelter Repräsentant eines nationalen Volkes gedacht: „The state is at one an institution that derives from the people and one which expresses at a higher level the still developing essence of the people, ideally moving them towards the realization of their own essence and towards an ever greater approximation to universality“ (ebd.: S. 3).
Aufgrund dieser staatstheoretischen Rekonstruktion, welche die Idee des Staates in den Vordergrund rückt – einer Idee, die prägend sowohl auf die Institutionen als auch auf die Subjekte wirke – unterscheidet sich die Analyse von Lloyd und Thomas von der Analyse Foucaults, so sehr sie mit seiner Beschreibung der „Gouvernementalität“ als Ensemble von Diskursen und Dispositiven, das die Teilung und Regulierung der Bevölkerung in lenkbare Gruppen vorsieht, übereinstimmen. Wichtiger noch als der Bezug zu Foucault ist der zu Raymond Williams, ei-
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Demokratie ist die Politikform funktional differenzierter Gesellschaften, weil sie Repräsentant der Bevölkerung sein will, d. h. Repräsentant der Ressourcen für die optimale Besetzung von Funktionsstellen in der Gesellschaft. Der Staat wird damit insofern auch zum Erziehungsstaat als er einerseits den Freiraum individueller Perfectibilité sicherstellen muss und andererseits für die optimale Rekrutierung der Funktionsstellen zu sorgen hat. Als Erziehungsstaat steht dann die Politikform der Demokratie selbst im kulturellen Paradigma des Pastoralen, sie steht in der Dialektik, jeden Einzelnen retten zu müssen - er könnte ja die optimale Besetzung einer wichtigen Funktionsstelle sein - wie auch die ganze Herde nicht zu gefährden.
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Es ist eine Konsequenz der Konzeption eines hegemonialen Kulturbegriffs, dass die Idee des Staates, der Formalismus sozialstruktureller Formationen sowie der monitäre Formalismus kapitalistischer Wirtschaftsform als kultureller Effekt mit-
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nem der Gründerväter der Cultural Studies, der mit Culture and Society, 1780-1950 (1958) bereits einen ähnlich gelagerten Versuch unternommen hatte, die Beziehung zwischen Politik und Kultur sowie die Beziehung zwischen Kulturtheorie und sozialem Wandel zu theoretisieren. Der Titel Culture and the State ist einerseits eine Hommage an Williams, andererseits markiert er aber keine bloße Fortsetzung, sondern vielmehr auch eine Kritik an Williams’ Projekt, indiziert er doch mit dem Ersetzen von Society durch State, dass Lloyd und Thomas auch bei Williams einen ausgearbeiteten und theoretisierten Staatsbegriff vermissen. In Auseinandersetzung mit Williams wird die Perspektive von Culture and the State nochmals deutlich: Statt ideengeschichtlich orientiert Debatten und Positionen zu untersuchen, die im fraglichen Zeitraum zwischen den unterschiedlichen Akteuren geführt und bezogen wurden, legen Lloyd und Thomas Wert auf die transversale Bedeutung des Diskurses um Repräsentation, die kulturtheoretisch immer implizit mitgeführt wurde und folglich in ihrer Verbindung zu den entsprechenden Debatten über Repräsentation, seien sie von „radicals“, „socialists“ oder „protosocialists“ geführt worden, zu untersuchen ist. Kritisiert wird somit der Versuch von Williams, den Kulturdiskurs zu retten, indem er gegen die negativen Folgen der Arbeitsteilung sozialistisch veranschlagt wird, „culture as the whole man“ oder „a whole way of life“, weil er eine weitere Analyse der formalen Eigenschaften des Kulturdiskurses verhindere. Anhand von Matthew Arnolds berühmtem Diktum: „Culture suggests the idea of the State“, verdeutlichen die Autoren
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ihr zentrales Argument: die Wholeness, Ganzheit(lichkeit) um die es hier gehe und die mit Kultur in Verbindung gebracht werde, und gegen die Arbeitsteilung, welche soziale Spaltungen verursacht habe, in Stellung gebracht werde, mache nur Sinn, wenn Kultur analog zum Staat als Ort der Befriedung und des Ausgleichs verstanden werde. Anders als der Staat, der zwischen unterschiedlichen Interessengruppen zu vermitteln habe, sei Kultur konzipiert, „to interpellate individuals into the disposition of disinterested reflection that make’s the state’s mediation possible“ (ebd. S. 14). Kultur produziere den Boden für die Staatsform der repräsentativen Demokratie, indem sie durch jede konkrete Partikularität und Singularität der Person hindurch auf deren repräsentative Disposition durchgreifen könne. Das ethische Moment in jedem Individuum, Matthew Arnolds „best self“ weise auf den Staat hin, der wiederum als kollektiver Repräsentant, als Summe der individuellen ethischen Dispositionen gedacht sei. Konzipiere man den differentiellen Ort von Kultur in Bezug auf das Politische und das Ökonomische, so lasse sich deren grundsätzliche Bedeutsamkeit bis in die Postmoderne verfolgen. Im Laufe der weiteren Ausführungen zu Culture and Society, deren zentrales Argument hier nur sehr verkürzt referiert wurde, legen die Autoren überzeugend dar, wie sehr der deutsche Idealismus und die deutsche Romantik in England und über England hinaus auch in den USA im Kontext des Aufstiegs der repräsentativen Demokratie als bestimmendes Moment moderner (bourgeoiser) Gesellschaft bedeutsam wurde. Durch das Prinzip der Repräsentation sei – im englischen Fall – eine Bevölkerung ohne Wahl-
85 gedacht und damit das Feld des Kulturellen im engeren inhaltlich Symbolischen zugleich transzendiert wird. In dieser Selbsttranszendenz des Kulturellen im engeren Sinne liegt dann das eigentliche Prinzip interkultureller Verständigung. Angesichts von Formalität als Staatsprinzip, als Wirtschaftsform und als Differenzierungsform der Gesellschaft erscheint das Mannigfaltige des Kulturellen einerseits als gleichgültig und anderseits als bloßes Schmiermittel sozialer Differenzierung, also als Mittel zum Zweck formaler Differenzierung. Formalisierung als Repräsentanz, Wirtschaftsform und gesellschaftliche Differenzierung, wenn sie selbst als kulturelle Errungenschaft gefasst wird, muss als ein Moment der Überlieferung gefasst werden. Hönigswald hat Kultur und Überlieferung aus gutem Grund zirkulär definiert: Kultur ist das, was wert ist von einer Generation auf die übernächste Generation vermittels der Nächsten überliefert zu werden. Überlieferung
86 – mithin Pädagogik – ist der Vollzug von Kultur unter dem Gesichtspunkt der faktischen Geltungsbewährung. Die Funktionseliten der modernen westlichen Gesellschaften mussten demnach die Formalisierung gesellschaftlicher, polititischer wie auch wirtschaftlicher Prozesse konsequenterweise zu ihrem pädagogischen Programm machen. Staatlich organisierte Erziehung ist im 19. Jahrhundert deshalb moralisch, weil sie im Horizont Kantischer Moraltheorie steht. Kants Ethik des kategorischen Imperativs ist die Formalisierung moralischer Regeln des Handelns. Als Resultat kultureller Entwicklung wird hier die Materialität der 10 Gebote in ein formales Prinzip transformiert.
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recht, von einer gebildeten Minorität mentoriert und erzogen, mit dem Staat verbunden worden. Die Gebildeten, so Lloyd und Thomas, seien unabdingbar notwendig für die Einschätzung der ideologischen Rolle, die Kultur und Bildung im Kontext der Staatenbildung spiele. „This role of the ‚instructed‘ instantiates the ideological role which culture (cultivation, Bildung) perforce plays within the context of state formation...“ (Lloyd /Thomas 1998: 5). Sie weisen darauf hin, dass die Vorstellung von Mündigkeit eine der politischen Partizipation vorgängige moralisch-ethische Prägung des Subjekts voraussetzt. Um Matthew Arnolds berühmtes Diktum nochmals zu bemühen: Culture suggests the idea of the state. In diesem Zusammenhang des ästhetisch-ethisch-politischen also wird der deutsche Bildungsbegriff Goethescher und Schillerscher Prägung von den englischen Vermittlern, Carlyle, Arnold und Coleridge aufgenommen. Kultur im Sinne der Definition von Raymond Williams als „the independent and abstract noun which describes the works and practices of intellectual and especially of artistic activity“ (Williams 1976: 80) und die Bedeutung der exemplarischen Biographie sind konstitutive Elemente des für Nationalstaaten typischen Verhältnisses zwischen dem Staat und seinen Bürgern. Grundsätzlich ist staatlich organisierte Erziehung im 19. Jahrhundert vor allem auf Moralerziehung ausgerichtet und weit weniger mit Kompetenzvermittlung befasst. Lloyd und Thomas haben gezeigt, wie die auf breites öffentliches Interesse an den Biographien herausragender Persönlichkeiten stoßende Idee der persona exemplaris in der Konzeption der öffentlichen Erziehung figuriert. Vermittelt
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worden seien diese Vorstellungen durch kirchliche Strukturen und die Theologie. Diese hätten das Modell für die Institutionalisierung einer nationalen Erziehung geboten, was aber nur deshalb möglich gewesen sei, weil zu diesem Zeitpunkt die Kirche ihre Funktion bei der Formung und Disziplinierung königlicher Untertanen verloren hatte und diese Funktion durch die Kulturinstitutionen ersetzt worden war. Bestand die Funktion der Kirche traditionell darin, die gesellschaftliche Spaltung in ungleiche Stände zu rationalisieren, so besteht die Funktion der Kultur darin, die politische Identität in der Form der Staatsbürgerschaft zu universalisieren und eine formale Gleichheit zu produzieren, die bestrebt ist, die tatsächlichen materialen Ungleichheiten der Zivilgesellschaft zu überwinden (Lloyd /Thomas 1998: 68). Die herausragende Bedeutung der Theologie wird erklärt mit: „It [theology] had precedency, because under the name of theology, were comprised all the main aids, instruments, and materials of NATIONAL EDUCATION, the nisus formativus of the body politic, the shaping spirit, which educing, i.e. eliciting the latent man in all the natives of the soil, trains them up to citizens of the country, free subjects of the realm“ (Coleridge 1976: 47f., zit. n. Lloyd/Thomas: 69, Hervorhebung im Original).
In diesem Kontext taucht eine lange vergessene Figur auf, die aber durchaus nicht nur für den britischen Kontext von hoher Relevanz ist. In der Figur des Pastors, des Parson, verbindet Coleridge institutionelle Dimensionen beginnender staatlicher Erzie-
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hung mit Modi interpellativer Praktiken (ebd.: S. 69). Coleridge erläutert unter Nutzung des Wortspiels parson/person: „Persona ... persona exemplaris; the representative and exemplar of the personal character of the community or parish; of their duties and rights, of their hopes, privileges and requisite qualifications, as moral persons, and not merely living things“ (Coleridge 1976: 53, zit. n. Lloyd/Thomas: 69, Hervorhebung im Original).
In der Hilfe scheiden sich Bezug auf den Anderen und die Kraft des Pastoralen. Das eigene Handeln an dem Einzelnen, an dem einen verlorenen Schaf auszurichten, heißt, dass der Einzelne der einzige Referenzpunkt ist, der das Handeln bestimmt. Diese korrelative Charakteristik kann als Definition von Hilfe als einem pädagogischen Grundbegriff gelten. Die Referenz auf die ganze Herde ist zweitrangig in dem Sinne, dass sie erst dann „erlaubt“ ist, wenn alles versucht worden ist, das eine verlorene Schaf unter Einsatz des eigenen Lebens zu retten.
Das Moment der Autonomie unterscheidet den Menschen und Bürger von den „bloßen“ „natives of the soil“. Der Pastor besitzt beispielhaft Eigenschaften einer Persönlichkeit, die in anderen Individuen nur latent angelegt sind und darauf harren, durch die exemplarische Kraft des Pastors und in der Folge dann eben auch des Schulmeisters, dessen Modell er ist, zur Entfaltung zu kommen. Der Pastor ist durch seine Kultiviertheit der beispielhafte repräsentative Mensch und steht damit für eine größere Annäherung an die Verwirklichung eines harmonischen Menschheitsideals als andere es erreicht haben. Der Pastor/Lehrer interpelliert Individuen zu Staatsbürgern, zu „free subjects of the realm“ durch seinen exemplarischen Rang und nicht durch das, was und wie er im Einzelnen lehrt. Von Bedeutung ist hier auch die von Coleridge bewirkte Verschiebung von einem Repräsentationsbegriff, der auf Interessengemeinschaften basiert, hin zu einem in einer ethischen Erzählung begründeten. Es ist daher von zentraler Bedeutsamkeit, dass der beispielhafte Pastor/Lehrer zu der Gemein-
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schaft, für die er repräsentativ sein soll, von Die Referenz auf und außen hinzutritt und nicht dieser entstammt. an die Herde erscheint Foucaults Gouvernementalitätskonzept und dessen Ursprünge im christlichen Pastorat Michel Foucault entwickelte eine fragmentarisch gebliebene Genealogie des Regierens und Sich-Selbst-Regierens, für welche er den Begriff der Gouvernementalität prägte (1998; 2003; 2004). In seinen kürzlich veröffentlichten Vorlesungen aus den Jahren 1978/79, erläutert Foucault in der Sitzung vom 1. Februar 1978, dass er mit Gouvernementalität folgendes zum Ausdruck bringen wollte: „Ich verstehe unter Gouvernementalität die aus den Institutionen, den Vorgängen, Analysen und Reflexionen, den Berechnungen und den Taktiken gebildete Gesamtheit, welche es erlauben, diese recht spezifische, wenn auch sehr komplexe Form der Macht auszuüben, die als Hauptzielscheibe die Bevölkerung, als wichtigste Form die politische Ökonomie und als wesentliches technisches Instrument die Sicherheitsdispositive hat. Zweitens verstehe ich unter „Gouvernementalität“ die Tendenz oder Kraftlinie, die im gesamten Abendland unablässig und seit sehr langer Zeit zur Vorrangstellung dieses Machttypus geführt hat, den man über alle anderen hinaus die „Regierung“ nennen kann: Souveränität, Disziplin, und die einerseits die Entwicklung einer ganzen Serie spezifischer Regierungsapparate und andererseits die Entwicklung einer ganzen Serie von Wissensarten nach sich gezogen hat.
als eine Art von Scheitern in der eigentlichen Sache: Quantität siegt über die Qualität des Lebens, die schon ganz in dem einzelnen Leben gegeben ist.
Wenn man bedenkt, dass Governmentality eine Regierungsform darstellt, die auf den Menschen geht und nicht auf die Person als Rechtsträger oder Staatsbürger, dann zielt die Regierung auf die ganze Kontingenz, die im neuzeitlichen Menschen mitgedacht wird: seine Unbestimmbarkeit in der Dialektik von Freiheit und Zwang, seine Nichtberechenbarkeit in den Prozessen des Sich-bildens und der Tatsache, dass das Leben bildet. Simmel hat diese Kontingenz in seiner transzendentalen Deduktion der Gesellschaft als Residuum des „nicht-zuvergesellschaftenden Restes“ gefasst. Der Zugriff des Regierens auf diese Kontingenz muss als versuchte Stei-
90 gerung der Macht verstanden werden. Da dieser Zugriff oder besser Übergriff auf die Kontingenz des Menschseins nur indirekt möglich ist, kann die Strategie nur dahingehen, dass der Mensch veranlasst wird, sich selbst zu regieren. Die pädagogische Aufklärung muss dann als die Abrichtung zur Selbstregierung verstanden werden. Die Staatsmacht kontrolliert nur noch, ob die Selbstregierung den gewünschten Output bringt – nämlich die Bereitschaft, die Funktionsstelle im System optimal auszufüllen, die einem zugewiesen wird.
Gouvernmentality übernimmt zwar aus dem Pastoralen das Motiv, dass es um den einzelnen und um den ganzen Menschen geht, insofern sich in ihm schon das Ganze des Menschseins ausprägt, aber negiert die Übernahme der Bürde und der Mühe. Das Schaf soll sich selbst hüten, soll über sich selbst wachen. Und wenn ihm dies nicht gelingt, dann ist es selbst schuld. Die Schuld, die der Hirte in jedem Falle auf sich nimmt, ob nun das eine
S. KARIN AMOS Schließlich denke ich, dass man unter „Gouvernementalität“ den Vorgang oder vielmehr das Ergebnis des Vorgangs verstehen sollte, durch den der mittelalterliche Staat der Gerichtsbarkeit, der im 15. und 16. Jh. zum Verwaltungsstaat wurde, sich nach und nach „gouvernementalisiert“ hat“ (Foucault 2004: 162f.; vgl. auch Foucault 2003: 820).
In der folgenden Sitzung vom 8. Februar 1978 fragt Foucault danach, welcher Machttyp durch das Wort „regieren“ abgedeckt werde und vertritt die These, dass die Gouvernementalität angetreten sei, das Problem des Staates und der Bevölkerung anzugehen. Nach einem ausführlichen Durchgang durch das weite semantische Feld der französischen Wortgeschichte von „gouverner“, konstatiert Foucault, dass bei aller Bedeutungsvielfalt der zentrale Punkt der sei, dass „gouverner“ sich auf den Menschen beziehe und damit im deutlichen Unterschied zum antiken Wortgebrauch stehe, denn die Idee, dass es eine Regierung der Menschen geben könne und dass die Menschen sich regierten, sei nicht griechischen Ursprungs. Die Idee der Regierung der Menschen sei vielmehr eine Vorstellung, die im Orient, und zwar zunächst im vorchristlichen Orient gesucht werden müsse. In diesem Zusammenhang thematisiert Foucault die vor allem in der christlichen Tradition zentrale Stelle einnehmende Idee des Pastorats. Ursprünglich bezeichne das Pastorat einen grundlegenden Verhältnistypus zwischen Gott und den Menschen. Die pastorale Macht, so Foucault, sei eine grundlegend wohltätige Macht, eine Macht der Pflege. Sie manifestiere sich anfänglich in ihrem Eifer, ihrer Hingabe, ihrem Fleiß. Der Hirte zeichne sich nicht durch Überlegenheit aus, sondern
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dadurch, dass er wache. Sein Amt sei zunächst nicht von der Seite der Ehre her definiert, sondern von der Seite der Bürde und der Mühe. Alle Sorge des Pastors sei eine, die sich auf andere richte, doch nicht auf sich selbst. Schließlich sei die pastorale Macht eine individualsierende Macht: omnes et singulatim. Dies, so Foucault, sei ein Problem des christlichen Pastorats aber auch der modernen Machttechnologien. Der Hirte müsse sich selbst für seine Herde zu opfern bereit sein, aber er müsse auch die Gesamtheit der Herde für jedes seiner Schafe zu opfern bereit sein sowie er auch umgekehrt, ein jedes Schaf für die Herde zu opfern bereit sein müsse. In der wechselseitigen Opferbereitschaft des Einen für das Ganze und des Ganzen für das Eine bestünde das moralische und religiöse Paradox des Hirten. Mit dem neuen Machttypus, der durch das christliche Pastorat in Gang gesetzt wurde und der für Foucault das Präludium der Gouvernementalität bilde, befasst er sich über mehrere Sitzungen. Er schließt mit Überlegungen zu den Modi der Individualisierung, die durch das Pastorat und dessen Institutionen in die abendländische Geschichte eingegangen seien und kennzeichnet diese mit den Stichworten: analytische Identifikation, Unterwerfung, Subjektivierung (Foucault 2004: 267f.). „Der Lehrer und der Kampf um die Seele“ Rettung, Erlösung, messianische Überhöhung spielen im pädagogischen Gedankengut traditionell eine herausragende Rolle. Man begegnet der messianischen Überhöhung des Kindes bei so unterschiedlichen
91 Schaf opfert oder die ganze Herde, diese tragische Schuld wird an das „Schaf“ übergeben. Während dem Hirten durch den einen Gott – alle nomadisierenden Kulturen sind monotheistisch – kann dem Schaf deshalb nicht vergeben werden, weil es vor sich und von sich nicht sagen kann, dass es sein eigenes Leben riskiert habe. Es fehlt die dritte Instanz, die der Hirte verkörpert: die stellvertretende Übernahme von Last.
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Als Säkularisierung vieler religiös kultureller Motive ist die moderne Pädagogik sicherlich auch die Säkularisierung des Pastoralen. Das hat nicht nur gesellschaftlich systematische Gründe, sondern auch sozialgeschichtliche, insofern viele der ersten modernen Pädagogen aus dem klerikalen Milieu kamen.
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Ikonen wie Pestalozzi und dessen amerikanischem Bewunderer und Seelenverwandtem Amos Bronson Alcott, bei Ellen Key und Maria Montessori. Noch verbreiteter aber ist die umgekehrte Bewegung, nicht die Erlösung des Pädagogen, sondern die des Kindes: Die „Rettung“ der kindlichen Seele ist vielleicht der Topos modernen pädagogischen Schrifttums. In den USA findet dieser Gedanke in der Child Saving-Bewegung zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts einen prominenten Ausdruck. Mit den bildungspolitischen und handlungspraktischen Widersprüchen des pädagogischen „Rettungs“gedankens und dessen Bedeutung für die „Konstruktion“ des Lehrers hat sich Thomas Popkewitz in mehreren Schriften auseinandergesetzt (vgl. Popkewitz 1998; Popkewitz 1999 und 2001). Er kann zeigen, dass ausgerechnet diejenigen akademisch zertifizierten pädagogischen Praktiken und Diskurse, welche einerseits den (angehenden) Lehrern gute Absichten bescheinigten, andererseits gleichzeitig diejenigen seien, welche die Möglichkeiten intellektueller Entfaltung von sozial benachteiligten und ethnischen Minderheiten angehörenden Kindern signifikant beschränkten. Obwohl Erziehung und Bildung in Form öffentlicher Schulen besonders in den amerikanischen Minderheiten-Gemeinschaften als Hauptvehikel zur Unterbrechung des Teufelskreises von Armut und Verzweiflung gelten, würden Schulen seit langem dafür kritisiert, die gleichen Muster von Diskriminierung und Vorurteil, die „draußen“ herrschten, im Klassenzimmer zu wiederholen. Popkewitz geht es darum zu zeigen, wie einige Schüler zu „anderen“ werden und ihnen dabei systematisch der Zugang zu intellektuel-
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ler Erfahrung ausgerechnet durch diejenigen Diskurse und Lehrpraktiken verwehrt werde, von denen Pädagogen glauben, dass diese ihnen helfen sollten. In Popkewitz’ Perspektive geht es im Anschluss an Foucault darum, „Macht“ als produktives Element des Sozialen zu verstehen. Es geht im Besonderen darum nachzuvollziehen, wie das Wissen der Pädagogik den Lehrer oder das Kind „macht“, welches – in bezug auf gesellschaftliche Teilhabe – entweder „qualifiziert“ oder „disqualifiziert“ sei. Wissen und Praktiken der Normalisierung, Disziplinierung und Prüfung (vgl. Foucault 1992: 237ff.), nicht selten in die „Rettungs“- und „Heils“thematik eingelagert, produzierten Ausschlüsse, weil Kinder, die dem Ideal des vernünftigen, verantwortungsbewussten, autonomen zukünftigen demokratischen Staatsbürgers nicht entsprächen, durch dieses Wissen erst „hergestellt“ würden. Besonders seine Ausführungen zur Beziehung zwischen „Pakt“ und „Partnerschaft“ als Ausdruck der wechselseitigen für die nationalstaatliche Gesellschaftsorganisation kennzeichnende, Loyalitätsbeziehung zwischen Staat und Bürgern können mit den Arbeiten der Neoinstitutionalisten um John Meyer zu Schule und Nationalstaat aber auch mit der Cultural-Studies Perspektive von Lloyd und Thomas in Beziehung gesetzt werden. Die modernen Formen der sozialstaatlichen oder sozialistischen Staaten sind nach Popkewitz Manifestationen des Pakts, weil der Staat unterschiedliche Leistungen für seine Bürger erbringt, die in den Formen der Partnerschaften, in den USA im Ausdruck „We, the people“ versinnbildlicht ihren Widerpart haben. Pakt und Partnerschaft stünden in komplementärer Beziehung zu-
93 Ich frage mich, ob die christliche Kultur nicht auch andere Motive kennt, die das Pastorale sprengen könnten. Das Pastorale ist ja gar kein genuin christliches Motiv. Es ist alttestamentlich und, wenn Foucault recht hat, orientalischen Ursprungs. Liegt nicht in der christichen Denkweise auch das gnadentheologische Moment, nach dem keiner geopfert werden darf – radikal keiner, nicht einmal der Sünder, nicht einmal der Feind? In dieser Traditionslinie des Christentums kann das Schema von Inklusion und Exklusion nicht zur Anwendung kommen, worauf im übrigen auch Luhmann in seinem späten Aufsatz mit dem gleichnamigen Titel hinweist. Das gesellschaftliche Teilsystem der Religion ist das einzige aus dem man nicht herausfallen kann. Die Kirche mag exkludieren, die Religion nicht. Wenn pädagogisches Handeln die Säkularisierung des gnadentheologischen Pastorats sein soll, dann kann es keine Exklusion aus dem Teilsystem der Bildung geben – beispielsweise keinen Schulverweis. Schule als institu-
94 tioneller Repräsentant des gnadentheologischen Pastorats versagt und wird schuldig, wenn sie exkludiert.
Das Spiel von Pakt und Partnerschaft ist das Spiel von Obrigkeit und Untertan im Motiv des Souveräns. Diese Spiel kann natürlich auf den pädagogischen Handlungszusammenhang übertragen werden, macht dann aber nur die Muster deutlich, in denen Pädagogen zu Handlangern des Staates werden. Ich verwende diesen Ausdruck bewusst, weil er in internen Diskursen von Sozialpädagogen und Sozialarbeitern in den siebziger Jahren immer wieder aufgetaucht ist. Dort ging es aber auch darum, dass das pädagogische Handeln einadvokatorisches Handeln gegen mögliche Übergriffe
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einander, denn einerseits drücke sich im „We, the people“ die partnerschaftliche Dimension aus, es gehe in diesem Sinne um die Partizipation und Regierung des Volkes, zum anderen aber, ist das „Wir“ die Regierung, welche das Volk repräsentiere. Insofern sei es auch Ausdruck des zwischen Staat und Volk geschlossenen Pakts. Die Schule sei historisch der Schauplatz dieser doppelten Bewegung, weil der Staat die Schule organisiere und mit der Vermittlung der moralischen und sozialen Ziele der Gesellschaft betraue. Damit werde das Kind „produziert“, das aktiv an der Gestaltung der sozialen, kulturellen und moralisch-ethischen Agenda teilhabe. Die zwischen Pakt und Partnerschaft vermittelnden Regeln seien keine formal institutionellen Prozeduren, sondern würden durch die Unterscheidungen, Differenzierungen und Kategorien gebildet, die der pädagogisch ordnenden Wahrnehmung von Kindern dienten, daher seien Theorien der Kindheit, Persönlichkeit und des Wachstums grundlegend. Die Gemeinschaft – community – ist für Popkewitz die zentrale Metapher von Pakt und Partnerschaft. Die Vorstellung von Gemeinschaft, nicht zuletzt eben auch der nationalen Gemeinschaft (Anderson 1996), sei durchdrungen von Diskursen über Pädagogik und Reform, die in entscheidender Weise über Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit entschieden. (Für eine ausführliche Diskussion unterschiedlicher Perspektiven auf und Konstellationen von „Zugehörigkeit“, vgl. Mecheril 2003). Auch bei Popkewitz, ähnlich wie bei Lloyd und Thomas und in Übereinstimmung mit Foucaults Genealogie des Pastoralen, ist vom Lehrer als vorbildlichem Bürger die Rede.
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Vor dem Hintergrund der Debatten um Gouvernementalität (Rose 1994 und 1999; Rose/Miller 1992) legt Popkewitz nahe, dass die über pädagogische „Rettungs“- und „Heils“diskurse vermittelte Bildung des Bürgers eine Neugestaltung erfahre, insofern als dieser als aktives auf sich selbst einwirkendes Subjekt konzipiert sei, das die „Geschäftsführung“ über sich selbst übernehme, das autonom über seine persönliche Ethik und kollektiven Allianzen entscheide. Auf der von Popkewitz angesprochenen Ebene der Professionalität des Lehrberufes lässt sich eine weitere, aus dem britischen Kontext stammende Facette anführen: In Großbritannien ist ausdrücklich die Rede von den seelsorgerischen, auf Pflege und Hilfe angelegten Dimensionen der Lehrtätigkeit. Aufschlussreich ist in diesem Kontext eine Betrachtung des Kommunikationsorgans der 1982 gegründeten National Association for Pastoral Care in Education (NAPCE) mit dem gleichnamigen Titel: Pastoral Care in Education: The journal for personal and social education. Zu den in diesen Interessenbereich fallenden einschlägigen Themen zählen: Umgang mit Disziplinproblemen und Verhaltensauffälligkeiten, Sozial- und Moralerziehung, Gesundheit, Schulausschluss, Staatsbürgerschaftskunde, emotionale Entwicklung, Beratung und Fürsorge. Wie lassen sich nun die auf Förderung, Hilfe und Fürsorge bezogenen Dimensionen der pädagogischen Seelsorge, mit denen auf strenge Disziplinierung und Exklusion ausgerichteten, vereinbaren. Offensichtlich ist hier der gleiche Widerspruch angedeutet, den Foucault in seiner Erörterung des christlichen Pastorats im Kontext der Gouverne-
95 des Staates ist. Im pädagogischen Handlungszusammenhang wird mithin auch stets ein anarchistisches Moment kultiviert.
In der Gemeinschaft korrellieren Partnerschaft und Pakt. Und in dieser Korrelation wird das Spiel mit Gleichheit und Ungleichheit, mit Symmetrie und Asymmetrie gespielt. Korrelation heißt hier, dass faktisch immer neue Proportionen und Konstellationen zwischen den Polen von Gleichheit und Ungleichheit, von Symmetrie und Asymmetrie auszuhandeln sind und ausgehandelt werden. Im Contrat Social hat Rousseau dieses korrelative Spiel bis in die Arithmetik von Proportionen hinein vorgeführt.
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Hilfe als pädagogischer Grundbegriff bezeichnet die säkularisierte Form der Nächstenliebe. Liebe hat Luhmann als die Ego-AlterSynthese bezeichnet, in der Ego sein Handeln ausschließlich aus der
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mentalität thematisierte: omnes et singulatim. Um den Bestand der Herde nicht zu gefährden, ist der Hirte unter Umständen gezwungen ein einzelnes Schaf zu opfern. Erinnert man die Ausführungen von Coleridge zur persona exemplaris des parson/teacher, so ließe sich schließen, dass in dieser Tradition weniger spezifische Aspekte der Professionalität als vielmehr persönliche Charaktereigenschaften in Rede stehen. Im Folgenden soll die Popkewitzsche These von der Zentralität des Rettungsgedankens – to save: retten, ([er]sparen – man beachte die doppelte Wortbedeutung!) schützen, sichern, bewachen – aufgenommen werden. In Zuspitzung dieser These – vor dem Hintergrund der Überlegungen von Foucault und angeregt durch die Darlegungen von Lloyd und Thomas – geht es darum zu zeigen, dass die den Rettungsgedanken komplementär ergänzenden Praktiken nicht das unerwünschte Resultat einer unreflektierten Praxis sind, sondern im Gegenteil: der Ausschluss notwendige Bedingung für die Rettung ist und umgekehrt. Des weiteren wird die These vertreten, dass sich dies nicht in spezifischen Techniken der Professionalität abspielt, sondern eher in einem moralisch überhöhten allgemeinen Ethos der Educational Leadership angesiedelt ist. Da diese Praktiken weitgehend der direkten Beobachtung unzugänglich sind – sie vollziehen sich im Klassenzimmer in der direkten Interaktion zwischen Lehrern und Schülern ohne die Gegenwart Dritter, bietet sich hier ein anderer Weg an. Nicht die unmittelbare empirische Realität, sondern die Zirkulation und Dissemination von Bildern werden untersucht und zwar in dem Bereich, dessen Relevanz die Cultural Studies klar etabliert
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haben: der Populärkultur. Betrachtet werden sollen also nicht Modi der Professionalisierung des Lehrers und nicht der Status von Expertenwissen, sondern die Dissemination und Zirkulation von Bildern über Lehrer (vgl. hierzu auch Fischmann 2000). Spezifisch geht es darum, nach dem „harten Fall“ der pädagogischen Seelsorge zu fragen: dem Ausschluss, auch bekannt unter der biologischen Metapher: to weed out. „Weeding Out“ in The Blackboard Jungle Vor dem Hintergrund des dargelegten ist eine Re-Interpretation des Filmklassikers aus dem Jahre 1955 – Blackboard Jungle – zu deutsch: Saat der Gewalt möglich. Kurze Zwischenbemerkung Fünf Jahre nach Blackboard Jungle untersuchte Jack Schwartz für die Jahre 1950 bis 1958 Darstellungen des Lehrers im Spielfilm (Schwartz 1960). Er greift dabei den Topos des Lehrers als Vorbild auf und zwar sowohl in bezug auf die je spezifische Gemeinde, in deren Schule er tätig ist als auch grundsätzlich in seiner Rolle als Staatsbürger. Moralische Einstellungen und Verhaltensweisen, so seine Beobachtung, sind die zentralen Eigenschaften, die filmisch in Szene gesetzt werden. Zum Hintergrund Blackboard Jungle ist nicht zuletzt deshalb in die Filmgeschichte eingegangen, weil Bill Haley und die Comets’ „Rock around the Clock“ mit diesem Film berühmt wurden und damit die in der öffentlichen Wahrnehmung verankerte Verknüpfung von Rock-
97 subjektiven Sicht des Alter ableitet. Alter ist die einzige Referenz des Handelns von Ego. Wenn man Hilfe so fasst, dann kann sie mit Disziplinierung, mit Kontrolle und Exklusion nichts zu tun haben. Sie kann auch nicht als Dienstleistung ökmonomisiert werden.
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musik mit jugendlicher Rebellion zementiert wurde. Der unmittelbare Hintergrund ist die in den fünfziger Jahren breit geführte Debatte um Jugenddelinquenz (vgl. Cohen 1997; Engelhardt 1995; Gilbert 1986 und Molotch 1986). Für Gilbert ist die Jugenddelinquenzdebatte der fünfziger Jahre ohne Zweifel Beispiel für eine Moralpanik, die alte und neue Moralunternehmer auf den Plan rief; sie ist kein durch einschlägige statistische Daten abgesichertes empirisches Phänomen. Seit G. Stanley Hall den Begriff der Adoleszenz in die wissenschaftlichen und öffentlichen Debatten brachte (1904), ging es um Kontrolle und Zensur, um Schutz der Jugend vor schädlichen Einflüssen einerseits und um den Erhalt nationaler Konformität/Einheit andererseits. Besonders in den USA, hatte die Jugendzensur deutlich christlich moralische und rassistische Untertöne. Die fünfziger Jahre gelten nicht zuletzt deshalb als eine der Schlüsselepochen in der Auseinandersetzung mit Jugenddelinquenz, weil sie eben nicht nur eine Zeit wirtschaftlicher Prosperität und damit des Massenkonsums, sondern auch eine Ära der Angst vor innerer und äußerer Bedrohung (Eiserner Vorhang, Koreakrieg, Rassenunruhen, McCarthyismus) waren. Bei der Erhaltung des empfindlichen Gleichgewichts zwischen Stabilität und Fragilität kam der sozialen Kontrolle eine besondere Bedeutung zu. Die Abwesenheit der Väter und die Berufstätigkeit der Mütter wurde als Schwächung der familialen Kontrollfunktion diskutiert. Die beschädigten oder zerbrochenen Familien wurden mit dafür verantwortlich gemacht, dass die Jugendlichen außer Kontrolle, außer Rand und Band geraten seien, sich zu gefährlichen Re-
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bellen oder antriebsarmen Bummlern entwickelt hätten – verwöhnt und verzogen durch Wohlstand und Überfluss. Eine Fülle von Ratgebern war darum bemüht, den Erwachsenen die Kontrolle über die Jugendlichen zurückzugeben, derer sie, so einer der meist beachteten damaligen Propheten, James Coleman, durch das Auseinanderdriften der Welten, verlustig gegangen seien. Die Angst vor „den Roten“, die kurz vor Dekadenmitte ihren Höhepunkt erreichte, legitimierte die gründliche „Reinigung“ der politischen Kultur, die nicht nur alles, was im Ruche des Kommunismus stand, erbarmungslos verfolgte, sondern auch eine Reihe aus anderen Gründen suspekt erscheinende Personen, Ideen und Artefakte ins Visier nahm. Das „Reinigen“ der Gesellschaft von schädlichen Einflüssen – ja man könnte sagen: das „Keimfrei machen“ – wurde zu einer anerkannten Aktivität, gestützt durch Repräsentanten der gesellschaftlichen Eliten (vgl. Cohen 1997: 256). Die Ängste und Befürchtungen der Erwachsenen vor schwer erziehbaren und unfolgsamen Kindern und vor allem Jugendlichen, die sich an einer Reihe jugend(sub) bzw. massen-kultureller Ausdrucksformen: Comics, Filme, Musik und Fernsehen festmachte, nahm seit der Mitte der vierziger Jahre eine bestimmte Form an: Entweder galten die Jugendlichen als weich und verletzlich und damit als leichte Beute für „feindliche“ Einflussnahme oder sie wurden als bereits abgehärtet und abgebrüht und damit schon zu „Aliens“ geworden, betrachtet (Englehardt 1995: 135). Die Schulen wurden zu einem zentralen Schauplatz der Auseinandersetzung. Blackboard Jungle beginnt mit einer dramatischen Warnung in weißen Lettern vor
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schwarzen Hintergrund musikalisch untermalt durch das dumpfe Schlagen einer Militärtrommel: • We in the United States are fortunate to have a school system that is a tribute to our communities and our faith in American youth. • Today we are concerned with juvenile delinquency – its causes – its effects. We are especially concerned when this delinquency boils over into our schools. • The scenes and incidents here are fictional. • However, we believe that public awareness is a first step toward a remedy for any problem. • It is in this spirit and with this faith that The Blackboard Jungle was produced. Der Schauplatz von Blackboard Jungle ist eine Highschool in einer amerikanischen Inner City. Damit ist bereits ein problematischer und prekärer Ort bezeichnet, der in den sich auf ihn beziehenden Diskursen mit Schmutz und Dreck assoziiert ist, mit Grenzziehung und Reinhaltung (vgl. Sibley 1988 und 1995; Douglas 1966 und Bernstein 1970). Der prekäre Ort ist sozialräumlicher Ausdruck des prekären Status seiner Bewohner, die sich zwar physisch im Zentrum der Stadt, aber metaphorisch am Rande der Gesellschaft befinden. Bereits der Titel Blackboard Jungle nutzt rassistische Stereotypen, um auf eine wenig subtile Art zu verdeutlichen, dass hier ein Krieg zwischen Barbarei und Zivilisation geführt wird. Die Frage, die hier diskutiert werden soll, lautet: Welche der Jugendlichen werden „gerettet“ und welche nicht und wie ist das Aufgeben derer, die nicht gerettet werden, legitimiert?
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Zur Handlung Die Eingangsszene zeigt ungehobelt und grob wirkende „rowdyhafte“ Jugendliche auf dem Schulhof, „wild“ zu den Rhythmen von Bill Haley tanzend. Auf der Suche nach einer Anstellung als Lehrer betritt Richard Dadier, ein schüchterner junger Veteran aus dem Koreakrieg die Szene. Der Hinweis „Kriegsveteran“ im Kontext mit dem Koreakrieg ist bedeutsam, weil hier die Figur des „Bürgers in Waffen“ angesprochen ist und damit die ultimative staatsbürgerliche Loyalitätsbekundung in Rede steht (vgl. zur symbolischen Funktion des Soldaten im nationalstaatlichen Kontext Anderson 1996). Die Freude über den neuen Job ist schnell getrübt, als Dadier der ernsthaften Disziplinprobleme gewahr wird. Ein Kollege kommentiert trocken: „You can’t teach a disorderly mob. They hire fools like us with college degrees to sit on that garbage can and keep them in school so women for a few hours a day can walk around the city without being attacked.“ Aber Dadier weigert sich zu glauben, dass alle Schüler verdorben und schlecht sein sollen. Bereits die ersten eigenen Erfahrungen belehren ihn eines Besseren. Eine attraktive junge Kollegin erntet ein stürmisches Pfeifkonzert, als sie sich im Rahmen der Begrüßungsfeier zu Schuljahresbeginn den Schülern vorstellt – die Masse gerät außer Kontrolle. Später kann nur durch Dadiers mutiges und beherztes Eingreifen verhindert werden, dass es zu einer Vergewaltigung kommt. Die Figur der Miss Hammond hat zudem die undankbare Aufgabe, den unschuldigen und aufrechten Dadier in Versu-
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chung zu führen um damit dessen bedingungslose Hingabe und Loyalität zu Family Values (er ist jung verheiratet und seine blonde schöne Frau erwartet ihr erstes Kind) zu unterstreichen. In der populären Sichtweise der fünfziger Jahre ist Dadier damit also zum einen als vorbildlicher Staatsbürger charakterisiert, der, wenn es die Pflicht erfordert, den Dienst an den Waffen versieht, und er ist zum anderen ebenso als vorbildlicher, weiblichen Versuchungen widerstehender und die Launen und Eifersuchtsanfälle seiner (schwangeren) Frau geduldig ertragender Ehemanns und werdender Vater typisiert. Als Lehrer durchschaut Dadier, wer in seiner Klasse das Sagen hat – West, der „schlechte“ Delinquent, der durch Gegenfragen und unkooperatives Verhalten, oder auch durch massive Störung und Boykott einen ordnungsgemäßen Unterrichtsablaufs verhindert. West ist der Anführer einer Gang und unumstritten in seiner Rolle als Tonangeber. Damit dem Zuschauer auch nicht entgehe, dass Dadier ein Wortspiel mit Daddy ist, wird seine erste Unterrichtsstunde sogleich durch ein wildes Rufen von Dadier- Daddyo unterbrochen. Dadier ist also auch für seine Schüler eine Vaterfigur. Dadier als Vaterfigur ist also zweifach begründet: zum einen, weil er Familienvater wird und zum anderen, weil er als Lehrer durchaus so etwas wie eine geistige Vaterschaft für seine Anbefohlenen übernimmt und damit an die Stelle – in loco parentis – der nicht der Erziehung ihrer Kinder fähigen oder willigen biologischen Eltern tritt. Als er in einer dunklen Gasse von einer Gruppe seiner Schüler schwer misshandelt
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wird, weigert er sich deren Namen preiszugeben. Der ermittelnde Polizist kommentiert: „I’ve handled lots of problem kids in my day ... kids from both sides of the tracks – they were five and six years old in the last war – father in the army – mother in the defense plant – no home life – no church life – no place to go.“ Und schließlich: „Maybe kids are like the rest of the world today: mixed up, suspicious, scared.“ Damit hat der Polizist indirekt Verständnis für die Solidarität Dadiers mit seiner Klasse signalisiert und damit auch akzeptiert, dass der Lehrer in der Rolle des sich für seine Herde opfernden Hirten handelt. Dieses Opfer ist notwendiger Bestandteil der Mission der Rettung des „gesunden“ Teils der Herde. Der Überfall ist nicht das letzte Widerfahrnis, mit dem Dadier fertig werden muss. Die „wilde Meute“ zerstört in einem Ausbruch roher Gewalt die kostbare Jazzplattensammlung seines besten Freundes, die dieser in blindem Vertrauen und in der besten Absicht, seine Musikbegeisterung mit den Schülern zu teilen, in die Klasse gebracht hatte. Dadier und seine schwangere Frau werden um ein Haar von rücksichtslosen, sich Autorennen liefernden Jugendlichen überfahren. Seine Frau verliert fast ihr Kind vor lauter Kummer ob der anonymen denunziatorischen ihren Mann und Miss Hammond einer Liebesaffäre bezichtigenden Schreiben, deren Urheber wie sich herausstellen wird, kein anderer als West ist; Dadier wird des Rassismus bezichtigt, weil er in seiner Klasse gegen das Verwenden derogativer rassistischer Epitheta predigt. Letzteres ist aber kein Indiz dafür, dass es sich hier um einen sozialkritischen Film handelt: In diesem Film gibt es keine strukturelle Un-
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gleichheit, keine zwei Gesellschaften – getrennt und ungleich, keinen Rassimus und keine sozialen Klassenunterschiede. Recht und Unrecht, gut und böse, sind hier gänzlich personalisiert in Szene gesetzt. Dadier gelingt es schließlich in einer Unterrichtsstunde zu den Jugendlichen vorzudringen, sie anzusprechen, zu erreichen. In dieser Stunde nutzt er einen Cartoon (man muss die Jugendlichen da abholen, wo sie stehen), um ihnen eine kleine Predigt über die Notwendigkeit selbständigen Denkens zu halten. Die Ironie, dass es um selbständiges Denken im schulisch vorgegebenen Rahmen geht, bleibt ihm verborgen. Dadier, entschlossen, zumindest einige der Jugendlichen zu retten, kämpft nach diesem Teilerfolg verbissen weiter und trägt schließlich den endgültigen Sieg davon. Zuvor muss er allerdings eine tiefe Krise durchleben. Er ist nahe daran aufzugeben, als er seinen ehemaligen Professor aufsucht. Zur Hintergrundmusik des Star-Spangled Banner besucht er eine Bilderbuchschule in der gut erzogene Kinder und Lehrer in freundlicher, inspirierender Lernumgebung dem Geschäft der Bildung nachgehen. Der weise Professor verdeutlicht ihm, wie sehr er gerade unter den widrigen Bedingungen seines „Dschungels“ gebraucht werde: Auch lernunwillige Schüler mit niedrigem IQ, die sich wie wilde Tiere verhalten, haben den Drang zu kreativem Ausdruck. Dadier, überzeugt, dass seine Mission darin bestehe, „to sculpt their minds“, kehrt zurück in seinen „Dschungel“. Seine Anstrengungen werden schließlich belohnt. Er schließt mit Miller 1 einen Pakt, in dem sich beide verpflichten, an der Schule zu bleiben und bedrängt ihn, seinen Einfluss als natural born leader in Gebrauch zu neh-
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men, gegen die Gangs vorzugehen und den Einfluss Wests zu brechen. Damit wendet sich das Blatt. Ein Schüler entwaffnet West, ein anderer reißt die amerikanische Flagge aus der Verankerung und schlägt West damit nieder. Der Symbolismus dieser Tat ist wohl weder den damaligen Zuschauern entgangen, noch bleibt er heutigen verborgen. West and seine Gang sind erledigt. Dadier fordert seine Klasse auf, West und seinen Gefolgsmann zum Zimmer des Direktors zu begleiten. „Für die beiden ist in unserer Klasse kein Platz mehr“. Von nun an kann die Klasse sich ihrem Lernstoff widmen; die „Herde“ befindet sich nicht länger auf gefährlichen Abwegen, sondern in sicheren Gefilden. Die schlechten Pflanzen sind „gejätet“ und können ihr Gift der Gewalt und Verderbnis nicht weiter verbreiten. Oder in der vertrauten Metaphorik: Die schlechten Schafe können die Herde nicht mehr anstecken, die Herde ist gerettet. William Ayres (1996) leitet seine Kommentierung von Blackboard Jungle ein mit genau dem Hinweis, dass die Filme die Geschichte von Lehrern als Rettern der ihnen Anvertrauten erzählen, dass Kinder vor ihren Familien, vor Drogenhändlern, vor Gewalt in den Strassen, vor ihrem eigenen Leichtsinn und Fehlurteil gerettet werden müssten, dass die Lehrer diesem hohen Anspruch natürlich nur selten gerecht würden. Dennoch zeige sich manchmal die Ausnahme des wahrhaft Auserwählten, der seine Aufgabe voll und ganz auszufüllen in der Lage sei. Ayres unterstreicht hier zu Recht, dass es hier nur um die männliche Form gehen kann. Dieser Superlehrer muss die rettbaren von den anderen, die nicht mehr
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erreicht werden können, trennen und die ersteren einem besseren Leben zuführen. Die „Rettung“ ist ein einsamer und gefährlicher Kampf gegen andere Erwachsene und Jugendliche, wie beispielsweise die Eltern oder die Peergroup, vielleicht auch gegen andere Kollegen und die Schulverwaltung. Es ist auch ein Kampf gegen die Zeit. Wenn ihm dies nicht rechtzeitig gelingt, besteht die Gefahr, dass „the chosen few are sucked irredeemably back into the sewers of their own circumstances.“ Schlussbemerkung Diese gewaltige Anstrengung des Rettens, Schützens, Reinigens, Bewahrens, kann nur dann zum Erfolg führen, wenn der Lehrer alle gesellschaftlich positiv konnotierten Dimensionen der imaginierten Männlichkeit in sich vereint. In der Figur des Lehrers als persona exemplaris sind die nationalstaatlich gewendeten unterschiedlichen Formen subjektiver Identität „aufgehoben“: Ehemann, Vater, Soldat, Seelsorger. So jedenfalls die Imagination des zur erfolgreichen Gefahrenabwehr und Verteidigung des Gemeinwesens Berufenen in der spezifischen Ausprägung, die der immerwährende manichäische Kampf zwischen Gut und Böse in den fünfziger Jahren angenommen hatte. Und weil das Böse wirklich böse und das Gute wirklich gut sein muss, muss das Böse und Schlechte unschädlich gemacht, ausgeschlossen werden, damit das Gute gut sein kann. Wäre das Böse nicht wirklich böse, müsste es gerettet werden, denn es ginge keine wirkliche Gefahr von ihm aus, weder für die Gruppe noch für die (Schul)Gemeinde noch für die Welt der Erwachsenen. Daher kann der
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wirklich Berufene, so der Mythos, unter hohem persönlichen Einsatz zwischen den Würdigen und den Unwürdigen unterscheiden, kann darüber urteilen, wer die volle gesellschaftliche Mitgliedschaft verdient und wer nicht – kann Miller „retten“ und West „jäten“. Das „weeding out“ ist als Schutzund Sicherheitsmaßnahme rationalisiert – ohne „Jäten“ kein „Retten“. In der etablierten Logik, die in der filmischen Erzählung von Blackboard Jungle zum Ausdruck kommt, ist Ausschluss nicht die unreflektierte Kehrseite eines bestimmten Verständnisses von Professionalität, sondern nachgerade im Gegenteil: Ein bewusster und notwendiger Akt zum Schutze des Gemeinwesens. Ja mehr noch, das Gemeinwesen wird nicht nur geschützt, sondern in seiner Funktionsfähigkeit erst hergestellt und zwar so, dass Ausschluss als individuelles Versagen rationalisiert wird. Die eingangs gestellte Frage nach der Anschlussfähigkeit der anglophonen Debatten für den deutschen Kontext nochmals aufnehmend ließe sich argumentieren, dass sich der hier angesprochene Dualismus von „Retten“ und „Jäten“ im breiteren Feld dessen, was in Herbartianischer Tradition als erziehender Unterricht, speziell unter den Begriffen der „Regierung“ und „Zucht“ gefasst ist, verorten ließe. Modern formuliert geht es letztlich um die Forderung nach Übernahme spezifischer Haltungen bzw. sozialer Tugenden, um moralische Erziehung. Die Reibungen und Widerstände, die diese Forderung im Kontext schulischer Organisation erzeugt, beschäftigt die Pädagogik seit zweihundert Jahren. Sehr viel seltener thematisiert die Pädagogik die durch diese Widerstände evozierten Gegenreaktionen.
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In seinen Analysen zur Inklusion und Exklusion in funktional differenzierten Gesellschaften hat Luhmann herausgearbeitet, dass solche Gesellschaften üblicherweise dieses Problem auf die Teilsystemebene verlagern. Wer aus einem Teilsystem ausgeschlossen wird kann in ein anderes Teilsystem wieder integriert werden. Wenn dies aber auf der Ebene von Teilsystemen nicht gelingt, dann stoßen funktional differenzierte Gesellschaften an die Grenze ihrer Operabilität. Wenn die Hartz4-Armen noch nicht einmal über 1Euro-Jobs integriert werden können, dann entsteht ein Armutsbereich am Rande der Gesllschaft, in dem Menschen nur noch als Körper nicht mehr als Personen erscheinen. Körper aber, die nicht mehr Träger von Person-sein sind, können nur noch als physische Gewalt agieren und sich artikulieren. Auch Luhmann ist ratlos darüber, was sich hier mit Gesellschaft ereignet. Die Systemtheorie stößt an ihre Grenzen der Erklärbarkeit.
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Anmerkung 1
Auch wenn dies nicht der Fokus des vorliegenden Beitrags ist, so soll doch darauf hingewiesen werden, dass die Tatsache, dass es sich bei dem farbigen Miller um den „guten“ Delinquenten handelt, nicht bedeutet, dass diese Figur nicht in den zeitgenössischen rassistischen Diskurs eingelagert wäre (vgl. Cripps 1967). In diesem Zusammenhang ist auch darauf hinzuweisen, dass Dadier „selbstverständlich“ Weißer ist.
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D I E S C H U L E A L S K A M P F P L AT Z U N D A L S A U S H A N D LU N G S RA U M . ÜBER DIE SOZIALE BEDEUTUNG D E S W I S S E N S AU S D E R P E R S P E K T I V E D E R C U LT U RA L S T U D I E S . Einleitung Die Geschichte der Begegnung zwischen den Cultural Studies und der Pädagogik kann als Geschichte einer verpassten Chance erzählt werden. Es fiel beiden schwer, jeweils sinnvoll zueinander zu finden und das in einer gegenseitigen Durchdringung liegende Potenzial zu erkennen und voll auszuschöpfen. In diesem Zusammenhang möchte ich die These begründen, dass der Umgang und die grundlegende Missrezeption, also die verpasste Begegnung, zwischen den Cultural Studies und der deutschsprachigen Pädagogik exemplarisch an der Rezeption von Paul Willis Studie „Learning to Labour“ aufgezeigt werden kann. Freilich kann es an dieser Stelle nicht um eine vollständige Rezeptionsgeschichte dieser für die Begründung der Forschungsperspektive der Cultural Studies im Hinblick auf den pädagogischen Theorieund Handlungsrahmen außerordentlich wichtigen Studie gehen. 1 Aufgezeigt werden soll aber ein nachhaltig wirkendes Missverständnis bezüglich des Forschungsansatzes und der theoretischen Grundprämissen der Cultural Studies, das paradigmatisch im
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Kontext der Studie von Willis aufgezeigt werden kann. Daneben ist es mein Anliegen, in diesem Beitrag anhand der erkenntnistheoretischen und -politischen Positionen der Cultural Studies einen alltagstheoretischen Kulturund Lernbegriff, der sich unter scheinbar idealen Bedingungen und hartnäckig im Pädagogischen hält, aufzuklären und dessen Beschränkungen deutlich zu machen. Anhand eines Beispiels – als Lesart des Populären – versuche ich entlang der Theorietradition der Cultural Studies zu zeigen, wie bedeutsam dieser Ansatz ist und welche Potentiale er eröffnen kann, um die Kämpfe um Bedeutungsverleihung im Kontext von Bildung und sozialer sowie kultureller Ungleichheit angemessen verstehen zu können und vor allem pädagogisch zugänglich zu machen. Cultural Studies und Pädagogik: Gegenstandsbezüge und Hindernisse Das disparate Feld von Pädagogik und Cultural Studies scheint aus der Analyse des Pädagogen und Kulturkritikers Henry A. Giroux besonders entlang des Diskurses über die Krise der Jugend sichtbar zu werden. In seiner Studie „Fugitive Cultures: Race, Violence and Youth“ (1996) versucht er aus der Perspektive einer kritischen Pädagogik die Themen Jugend, Pädagogik und Cultural Studies in einem innovativen Analyserahmen zusammenzubringen. Dabei steht zunächst folgende Frage im Vordergrund: Warum kamen – obwohl es sowohl hinsichtlich der Themenbezüge als auch der Inhalte eine große Nähe gibt – Pädagogik und Cultural Studies kaum zusammen?
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Giroux nennt einige Gründe. Zunächst sollen nur diejenigen Gründe genannt werden, die im Kontext der Befunde von Willis wichtig sein werden: Giroux schreibt diesbezüglich: „For many youths, the experience of schooling becomes synonymous with the disciplining of the body and the policing of knowledge. […] Of course, schools are not merely disciplinary factories exercising power in a relatively seamless and frictionless way. They are also spaces of contradiction, resistance, and accommodation.“ (Giroux 1996: 14) Schule erscheint in diesem Kontext eingebettet in die moderne Obsession der sozialen Kontrolle und Verfügbarmachung von Wissen innerhalb einer bestehenden sozialen Ordnung. 2 Demgegenüber steht der Ansatz der Cultural Studies, den Giroux so beschreibt: „Cultural Studies […] has always been critical to the changing conditions influencing the socialization of youth and the social and economic contexts producing such changes. In many ways, Cultural Studies has unconsciously and indirectly challenged the conventional wisdom of teachers and offered progressive educators a new language and a new set of questions and social relations through which to address the ‚problem’ of youth as symptomatic of a wider crisis in public life.“ (1996: 15) In diesem Zusammenhang spielt der theoretisch avancierte Kulturbegriff der Cultural Studies eine große Rolle, der Kultur im weitesten Sinne als aktiven Prozess der Bedeutungsgebung und Aushandlung (Willis 1990: 12; signifying practice, vgl. Hall 1997) versteht. Genau diese Sichtweise des Kulturellen ist im pädagogischen Feld eher selten anzutreffenden. 3 Die Cultural Studies
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Kommentar: Norbert Meder Die moderne Theorietradition von Pädagogik steht in der Bipolarität von Freiheit und Zwang, von Autonomie- und Kontrollpädagogik. Darin spiegelt sie die faktischen gesellschaftlichen Verhältnisse mit Bezug auf das Bildungssystem. Es ist nämlich den bipolar dialektischen Ansprüchen der Gesellschaft und des Einzelnen ausgesetzt: Selbstverwirklichung auf der einen Seite und funktionale Eingliederbarkeit auf der anderen Seite, Freisetzung und Kontrolle. Fasst man Kultur im Sinne von Hönigswald als Prozess, dann handelt es sich um den Prozess der Geltungsbewährung. Bedeutungsgebung und Aushandlung sind Momente der
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sehen Kultur als pluralistisch, veränderlich und hybrid an, demgegenüber scheint es in der pädagogischen Sichtweise vor allem um Eindeutigkeit, Planbarkeit und das singuläre Moment zu gehen. Darüber hinaus ist der Kulturbegriff im Pädagogischen noch immer ungeklärt und theoretisch unterkomplex konzeptualisiert. 4 Eine bedeutsame Unterscheidung zwischen den Cultural Studies und der Pädagogik ist von daher zunächst auf der strukturtheoretischen Ebene zu konstatieren. Die von Giroux scharf kritisierten „technokratischen Modelle“ der Mainstream-Pädagogik entfalten besonders im Hinblick auf eine lange Tradition des Anti-Intellektualismus von Lehrern ein sehr eingeschränktes Verständnis pädagogischer Professionalität. Auch dem steht die Sichtweise der Cultural Studies entgegen: „Cultural Studies poses a threat to this type of professionalism by challenging any claim to ideological and political neutrality around the production, distribution, and circulation of ideas and texts.“ (Giroux 1996: 16) Dass der Umgang mit Wissen als bevorzugtes Forschungsfeld der Cultural Studies sich geradezu im Feld der schulischen Produktion von Wissen bewährt, das zeigt sich, wenn der Kontext Schule, Kultur und gesellschaftspolitische Struktur in die Analyse mit einbezogen wird. Diese Perspektive findet in einer strikt entpolitisierten Sicht auf die Schule, die den meisten erzieherischen Modellen unterliegt, kaum Berücksichtigung. „Contrary to this view, cultural studies focuses on the critical relationship among culture, knowledge, and power; therefore, it is not surprising, that mainstream educators often dismiss the field as being too ideological, or
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simply ignore its theoretical implications for addressing how education generates a privileged narrative space for some social groups and a space of inequality and subordination for others.“ (Giroux 1996: 17 – meine Hervorhebungen) Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass das Feld schulischer Erziehung vor allem reingehalten werden soll von den gesellschaftspolitischen Implikationen und den Verstrickungen in machtpolitische Diskurse, die die Lehrerarbeit wesentlich strukturieren. Ob dies nun bewusst gehalten oder eher verschleiert wird, spielt im Hinblick auf die Effekte keine große Rolle. Wichtig ist jedoch, sehen zu können, wie diese Verstrickungen auf Seiten der Schülerschaft und der Lehrerschaft verhandelt werden. Kritische Pädagogik – nirgends? Vor dem Hintergrund der geschilderten Ausgangslage wäre es zu einfach, eine einseitige Schuldzuweisung feststellen zu wollen. Gerade im Hinblick auf das Fehlen einer kritischen Pädagogik macht Giroux deutlich, dass eher von einem beiderseitigen Ignorieren gesprochen werden kann, als dass es klare Nachlässigkeiten in nur einem Feld gäbe. „Educational theorists demonstrate as little interest in cultural studies as cultural studies scholars do in more recent theories of schooling and pedagogy.“ (Giroux 1996: 18) Angesichts der Ursprünge und der Gründungsgeschichte der Cultural Studies irritiert dieser Befund, denn vieler Forscherpersönlichkeiten wie beispielsweise Richard Hoggart, Raymond Williams und E.P. Thompson entstammen dem pädagogischen Kontext, nämlich aus dem Bereich der Er-
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wachsenenbildung. Sie brachten nicht nur ihre persönlichen Erfahrungen mit ausgegrenzten kulturellen Formen und Praktiken ein, sondern machten auch den Graben zwischen den bildungselitären Lehrinhalten und der Erwachsenenbildung sichtbar (vgl. Lutter /Reisenleitner 1998: 23; Giroux 2002). Da Giroux mit Bezug auf Williams darauf hinweist, dass Pädagogik ein Akt der kulturellen Produktion ist, erscheint es folgerichtig, Lernen und Politik zusammen zudenken. „Cultural Studies also rejects the traditional notion of teaching as a technique or set of neutral skills and argues that teaching is a cultural practice that can only be understood through considerations of history, politics, power, and culture.“ (Giroux 2002: 2 – Hervorhebung von mir) Es liegt sicher nicht an diesen höchst abstrakten Größen oder dem vermeintlichen Fehlen eines breit konsensfähigen theoretischen Modells der Cultural Studies, dass sich die sozialwissenschaftlich inspirierte und erkenntnispolitische Forschungsperspektive mit dem pädagogischen Denken und Handeln kaum durchdrungen hat. Es können nur strukturtheoretische Gründe sein, die dieses Verhältnis so schwer bestimmen lassen. So ist es mit Bezug auf die Cultural Studies möglich, im Hinblick auf Lehr- und Lernprozesse, einen prinzipiell anderen Umgang mit Unbestimmtheit zu entwickeln: „Cultural Studies requires that teachers be educated to be cultural producers, to treat culture as an activity, unfinished, and incomplete. […] This means learning how to be sensitive to considerations of power as it is inscribed on every facet of the schooling process. “ (Giroux 2002: 19)
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Wenn es im Pädagogischen vor allem darum geht, didaktische Interventionen und methodische Ansätze zielgenau zu planen, die prinzipielle Unbestimmbarkeit von pädagogischen Prozessen möglichst zu minimieren und gegenwärtig ein kognitivistisch verkürztes input-outcome orientiertes Verständnis von Lernen zu etablieren, dann steht dies in Widerspruch zu dem von den Cultural Studies klar aufgezeigten unabschließbaren, prinzipiell offenen Lern- und Lehrbegriff 5, der sich gewissermaßen von seinen technokratischen Zwängen befreit hat. Bis jetzt dürfte klar geworden sein, dass es eine kategoriale Nähe zwischen den Cultural Studies und der Pädagogik gibt, die sich beispielhaft am institutionalisierten Lernort Schule aufzeigen ließe. Schule ist aus dem Grund für die hier geführten Überlegungen zentral, weil wir es hier mit einem gesellschaftlich organisierten Lernort zu tun haben und darin der Verweisungszusammenhang von Kultur, Wissen und Macht eine bedeutsame Rolle spielt: „Schulisches Lernen ist in erster Linie Erziehung von Mitgliedern der bestimmten Gesellschaft, in der sie geschieht.“ (Haug 2003: 61). Eine wichtige Erweiterung mit Blick auf die noch zu führende Diskussion von Willis’ Betrachtung der Schule wird allerdings notwendig sein: Nämlich die Schule in diesem gerade erwähnten Zusammenhang nicht nur als soziales, sondern auch und vor allem als kulturelles Feld verstehen zu können. Es handelt sich um ein kulturelles Feld, das – eingelassen in Auseinandersetzung mit dem Gesellschaftlichen – die Lernprozesse maßgeblich prägt. „Gegen die Möglichkeit, gemeinsam im Klassenverband zu lernen, steht eben auch, dass die Lernsubjekte Kinder der gesell-
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Erziehung als Auseinandersetzung der Alten mit den Neuen im Ringen um die richtige gemeinsame Welt (Kultur) ist die zentrale Aussage von Hannah Arendt in ihrem Vortrag „Über Erziehung“. Neugeborene Menschen sind eben nach Arendt nicht einfach nur Junge, wie die Tierjungen, sondern Neue, weil sie in die kulturell geschaffene Welt der Alten eintreten. Diese Welt der Alten ist nicht selbstverständlich, wie es die ökologische Nische bei Tieren ist, sondern muss sich legitimieren. Genau dieser Umstand ist die Angriffsfläche der neuen Generation: Warum habt Ihr die Welt so gemacht, wie Ihr sie gemacht habt? Sie ist ungerecht! Wir werden es anders machen! Im pädagogischen Auseinandersetzungsprozess
118 müssen die Alten ihre kulturelle Welt verteidigen, die Neuen greifen an. Bildungsprozesse sind in einem solchen pädagogischen Handlungszusammenhang situiert.
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schaftlichen Verhältnisse sind und der Schulraum in gewisser Weise die Struktur ebendieser Gesellschaft wiederholt.“ (Haug 2003: 211). Diese Kontexte spielen beim Lernen eine bedeutsame Rolle, nicht nur für das lernende Subjekt sondern auch für eine Analyse dessen, was innerhalb dieser Kontexte an kulturell motivierten Aushandlungsprozessen und Bedeutungsgebungen stattfindet. Sichtbar wird dabei das lernende Subjekt im Kontext gesellschaftlicher Verhältnisse, zugänglich wird dabei eine auch im pädagogischen Handlungsraum beobachtbare „Kultur der Verhandlung“ (vgl. Dannenbeck 2002: 19). Es ist diese Kultur der Verhandlung, die vielschichtige Prozesse eröffnen kann, indem sie die in der Verhandlung notwendig entstehenden Irritationen in den pädagogischen Prozess hereinholt und Bedeutungsaushandlungen als zentrales Moment der sich eröffnenden Lernwege begreift. Erkennbar wird in diesem Zusammenhang aber auch das widerspenstige, Lernen verweigernde Subjekt – je nach Perspektive. Lernen ist daher nicht nur subjektiv, sondern auch kulturell funktional, so wie es auch und vor allem das Nicht-Lernen ist. An dieser Stelle kommt die äußerst anschlussfähige Studie von Frigga Haug „Lernverhältnisse“ (2003) ins Spiel, die aus subjektwissenschaftlicher Perspektive die subjektive Bedeutungsgebung von Lernen im Kontext gesellschaftlicher Strukturen erschließt. 6 Dieser Zusammenhang muss im Folgenden weiter erschlossen werden.
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Learning to Labour – eine kulturelle Praxis Wenn – mit Giroux gesprochen – Lehren als kulturelle Praxis gedeutet werden kann, dann ist komplementär dazu auch das Lernen als kulturelle Praxis zu sehen. Hier kommt die Studie von Paul Willis „Learning to Labour“ ins Spiel. Paul Willis kann als wichtigster Exponent der ethnographischen Forschung im Kontext des Birminghamer Centre for Contemporary Cultural Studies (CCCS) gesehen werden. Seine zum Klassiker avancierte Studie „Learning to Labour – How Working Class Kids get Working Class Jobs“ (1977) wurde in Deutschland unter dem irreführenden Titel „Spaß am Widerstand – Gegenkultur in der Arbeiterschule” (1979) veröffentlicht. Diese auf einer intensiven Feldforschung beruhende Untersuchung des Übergangs von der Schule in die Arbeitswelt zeichnete am Beispiel einer informellen Gruppen, der so genannten lads, die Prozesse nach, die dazu führten, dass die Schulabgänger die Entscheidung für unqualifizierte Jobs im Bereich der materiellen Produktion quasi als Minderqualifizierte angelernte Arbeiter als eine bewusste und auf kulturelle Einflussgrößen zurückgehende Wahl verstehen (vgl. Linder 2000). Willis selbst bezeichnete seine Studie als eine „Ethnographie der Schule“ und erforschte insbesondere die oppositionellen Formen einer Arbeiterkultur in dieser (Willis 1982: 9). Die Untersuchung gliedert sich in zwei Teile: der erste Teil präsentiert die Befunde und die wichtigsten Resultate der methodisch reichhaltigen ethnographischen Untersuchung, während der anschließende zweite Teil die theoretischen Bausteine dazu liefert, die innere Bedeutung, Rationalität
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Nach Hannah Arendt ist Lehren das Proponieren einer kulturellen Welt. Lernen ist das Opponieren der Neuen gegen diese Welt der Alten. Deshalb findet und muss im pädagogischen Handlungszusammenhang auch politische Auseinandersetzung stattfinden. In der Theoriekonstruktion ist dabei wichtig, ob man politisches Handeln als einen Teil der Kultur fasst oder ob man politisches Handeln, weil es auf der Formalität des Rechts beruht, als außerhalb der Kultur oder gar als deren Gegenpart fasst.
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Die Mikroprozesse der Macht waren auch schon Thema der Neukantianer Richard Hönigswald und Jonas Cohn im Kontext der Auseinandersetzung um Geltung in der kulturellen Überlieferung. Schon das Setzen eines Geltungsanspruchs, schon dessen schiere Formulierung ist in sofern ein Akt der Macht, als die Performanz des Anspruchs als einem Akt in der Zeit andere mögliche Ansprüche verdrängt. Jede Setzung ist Selektion, die andere mögliche Selektionen verdrängt. Denn die Zeit der Performanz eines Geltungsanspruches kann nur einmal besetzt werden. Und die Zeit vergeht uneinholbar. Zeiterfüllung ist Macht.
Derjenige hat die Macht, der die Zeit, auch die Unterrichtszeit bzw. die Schulzeit, füllen darf und kann. Demjenigen, dem keine Zeit und mithin auch
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und Dynamik dieser kulturellen Prozesse zu erschließen. Die überraschende Wendung liegt darin, dass Willis zeigt, wie diese kulturellen Prozesse nicht nur zur Arbeiterkultur beitragen, sondern darüber hinaus auch einen entscheidenden Anteil an der Erhaltung und Reproduktion der Gesellschaftsordnung haben. Willis hat in der kritischen Tradition des dialektischen Denkens die Mikroprozesse der Macht in einem besonders wichtigen Feld, nämlich dem der Bildung analysiert. Die Frage, wie Arbeiterkinder Arbeiterjobs kriegen, bringt Willis auf den Punkt, indem er nach ihrer Selbstbeteiligung fragt. Willis will zeigen, „[…] daß scheiternde Jugendliche aus der Arbeiterklasse sich nicht einfach dort in die abfallende Kurve der Berufsverteilung einreihen, wo die erfolglosesten Jugendlichen der Mittelschicht oder die erfolgreichsten Jugendlichen der Arbeiterschaft ihnen Platz lassen.“ (Willis 1982: 12) In den Fokus seiner Analyse stellt Willis das „kulturelle Muster des Scheiterns“ (ebd.), das er an den Reibungspunkten der oppositionellen Formen der lads in der Schule erkennt. Lokalisiert hat Willis die Untersuchung im industriellen Ballungsraum Englands, in den Midlands, wo bereits zum Zeitpunkt der Untersuchung ein immer schärfer werdender Strukturwandel, die industrielle Organisationsstruktur in Frage zu stellte und vor allem für die jungen Schulabgänger erste Erfahrungen mit Arbeitslosigkeit mit sich brachte. Die lads also sind in diese Prozesse eingelassen, rebellieren offen und verdeckt gegen die schulischen Strukturen und Angebote und können wegen der eher ungünstigen Startbedingungen als benachteiligte Schüler
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bezeichnet werden. Darüber wird vom Lehrpersonal ihre oppositionelle Gegenschulkultur in ihrer sensationsträchtigen Form vor allem als Gewalt und Disziplinlosigkeit wahrgenommen. In diesem Zusammenhang komme ich auf das eingangs erwähnte Missverständnis in der Rezeption der Studie von Willis zu sprechen. Ein Missverständnis Im Zusammenhang mit den biographischen Erfahrungen in Bildung und Ausbildung gescheiterter Jugendlicher haben die Autoren 7 der Studie „Jugendliche Außenseiter“ einen Blick auf die Studie von Willis geworfen, der ein exemplarisches Beispiel für das in der Einleitung behauptete Missverständnis darstellt. 8 In der Einleitung von Arno Combe wird bereits der Bezug zu Paul Willis hergestellt. Combe arbeitet sich zunächst an der Individualisierungstheorie ab und konstatiert strukturelle Veränderungen in den Lebensbereichen Familie und Schule. In diesem Zusammenhang will er die eigene methodologische Sicht legitimieren und schulische Misserfolgskarrieren benachteiligter Jugendlicher theoretisch neu fassen. Hinsichtlich der in diesem Kontext zu verzeichnenden Disziplinschwierigkeiten schreibt Combe: „So löste die Entdeckung des Widerstands von Arbeiterjugendlichen gegen die Schulbildung in Paul Willis’ ‚Learning to Labour‘ (1977) ein mittelgroßes Erdbeben aus und mußte den – akademisch sozialisierten und disziplinierten – Pädagogen wie ein Ereignis auf einem fremden Planeten erscheinen, das sie auf eigentümliche Weise faszinierte. Auch die gemäß akademischen Standards verfestigte Distanz zu den Unter-
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keine Macht – als Freiheitsspielraum – gelassen wird, der kann nur verdeckt, d. h. nicht in Raum und Zeit artikuliert, revoltieren. Die verdeckte Revolte ist eine Konsequenz pädagogisch falsch ausgeübter Macht. Da wo solches stattfindet, sind pädagogische „Kunstfehler“ begangen worden, weil man der Auseinandersetzung um Kultur nicht (Zeit-) Raum gegeben hat.
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Weil es im Kulturraum letztlich um Geltung geht – um das gute Leben, um die richtige Weltsicht, um die geglückte Selbstkonzeption und um den Glauben an die richtige Stellung zur grundsätzlichen Kontingenz des Lebens (Religion) – deshalb ist die Psychologisierung dieser Fragen grundsätzlich abzulehnen, weil es um erkenntnistheoretische Probleme geht, die nur im sozialen Konflikt und Austausch zu lösen sind. An der Auseinandersetzung um Geltung nehme ich nicht als Psyche bzw. in meiner individualpschychischen Existenz teil, sondern nur als immer
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suchungsobjekten, die sich die empirisch arbeitende Erziehungswissenschaft zu eigen gemacht hatte, wurde bei der ins Heroische verzeichneten deutschen Rezeption der Untersuchung von Willis […] vielfach über Bord geworfen.“ (Combe 1991: 12 – Hervorhebung von mir) Combe spricht dabei die Regel verletzenden und oppositionellen Verhaltensweisen der lads an und behauptet, dass sich die Schul- und Unterrichtsforschung darauf verständigt habe, nur aktiv kämpferisches, aber nicht passiv stummes Lernen für untersuchenswert zu halten (vgl. ebd.). Combe plädiert stattdessen für seinen Neuansatz, der in einer hermeneutischen Rekonstruktion des Einzelfalls liegt. Meine Kritik an der Sichtweise von Helsper et al. setzt da an, wo sie spezifisch subkulturelle Problemlagen individualisieren und psychologisieren. Die kulturellen Phänomene werden darüber hinaus eindimensional verkürzt zuungunsten eines seiner Handlungsfähigkeiten beraubten Individuums, das nicht mehr innerhalb eines klar umrissenen Subjektstatus, sondern vielmehr als getriebenes Objekt gesellschaftlicher Strukturen erscheint. Dass so genannte randständige Jugendliche auf diese von den Autoren identifizierten „Anspruchsentfaltungen des autonomen, modernen Selbst“ weitaus differenzierter reagieren, sie transformieren und verhandelbar machen, besonders vor ihrem kulturellen Hintergrund, das hat Paul Willis in seiner Studie klar aufgezeigt. Im Ausblick und der abschließenden Diskussion fassen die Autoren der Studie „Jugendliche Außenseiter“ ihre Befunde zusammen. Weitsichtig definieren sie dabei die Marginalisierung Jugendlicher als komplexes
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Prozessgeschehen, das vor dem Hintergrund und im Zusammenwirken von Generationslage, gesellschaftlichen Entwicklungs- und Modernisierungsprozessen, familialem Hintergrund und individuellen Besonderheiten gesehen werden muss (vgl. ebd. 260). Vor allem das Konzept der Generationenlage erweise sich als analytisch besonders differenziert, weil damit berücksichtigt werden könne, dass beispielsweise Jugendliche (in der Bundesrepublik Deutschland) in den 1980er Jahren gegenüber anderen Jugendgenerationen benachteiligt waren, weil mehr Lehrstellen nachgefragt als angeboten worden sind. In diesem Zusammenhang machen die Autoren auf ein „Bildungsparadox“ aufmerksam, dass sich darin äußere, dass die Erhöhung schulischer Abschlüsse als Voraussetzung für berufliche Platzierungen immer wichtiger werde bei der gleichzeitigen Entwertung und Inflationierung der Bildungszertifikate (ebd.). Die Logik und die Tragik der kulturellen Reproduktion Bei dieser resümierenden Betrachtung fällt zweierlei auf, dass zum einen zwar die Benachteiligung in einem komplexen Bedingungsgeflecht gesehen wird, es aber eine Position des „Opfers“ ist, aus der heraus die Betroffenen in ihren Handlungsfähigkeiten schicksalhaft begrenzt bleiben. Zum anderen lässt sich das Bildungsparadox, wie noch zu zeigen sein wird, ganz anders darstellen: Nämlich aus der Perspektive eines grundsätzlich sozial geteilten Bildungsraumes 9, der gesellschaftliche Platzierungsanweisungen und Potentiale vergibt und also auch Lebenschancen zuteilt. Gerade die lads bei
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schon eingebunden in die Verständigungsgemeinschaft einer Kultur.
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Ein Hauptproblem der Gebundenheit in eine Kultur ist das Verhältnis von explizitem und implizitem Wissen um die eigene – partikulare – Kultur. Dieses Verhältnis ist prinzipiell nicht aufzulösen. Jede Kultur hat als das eigentlich Tragende des sozialen Bandes der Gemeinschaft einen Bestand an implizitem nicht artikulierbarem Wissen darum, wie etwas gemacht zu werden hat. Wenn eine Kultur nur explizites Wissen hätte, dann wäre sie permanent in allen ihren Positionen der Kritik ausgesetzt, weil es zu jeder Position eine Negation gibt. Eine solche Kulturgemeinschaft wäre als Gemeinschaft nicht lebbar. Bildungsprozesse werden ausgelöst, wenn
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Willis lassen erkennen, dass sie ihre Situation zwar erkennen und skeptisch die Mobilitätsversprechungen der Schule ablehnen, ihre Widerstandsformen sich aber ins Gegenteil verkehren, weil sie ihre Situation nur aus ihrer kulturellen Perspektive heraus durchdringen können. Hier fehlt eine andere Perspektive und eine Vermittlung durch Wissen, die ermöglichen könnte, die soziale Lage, die Reproduktionszusammenhänge und die darin eingebetteten kulturellen Formen zu transformieren und in einem Zusammenhang sehen zu können, der differenzierte Erkenntnismöglichkeiten bietet. Dann wären die intuitiven und kulturspezifischen Formen des Widerstands erweitert, wissensbasiert und damit analytisch zugänglich. Mir scheint dies eine wichtige Umdeutung und Erweiterung des Wissensparadoxes zu sein und damit auch der eher begrenzenden Benachteiligtenperspektive. Gerade weil die genannten Autoren unter Verweis auf Hildenbrand fragen „Was macht der Mensch aus dem, was die Verhältnisse aus ihm gemacht haben?“ 10 so muss verwundern, dass sie das Individuum letztlich aus einem defizitären Blick heraus betrachten. Die Dialektik von Selbstbefreiung und Selbstverstrickung kann damit kaum zugänglich gemacht werden. Konkret zu benennen wäre in diesem Kontext das, was Willis als die Logik und Tragik der kulturellen Reproduktion der lads bezeichnet hat. Die Verfasser von „Jugendliche Außenseiter“ sehen allerdings die lads nur als eingebunden in eine „expressiv-oppositionelle Jugendkultur“ (vgl.: 261), was Marginalisierungsprozesse nicht zufrieden stellend erklären könne. Mit dieser Halbierung 11 der Erkenntnisse von Willis’ Analysen ist in der
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Tat nicht viel versprechend weiter zu arbeiten. Willis behauptet hingegen nicht, dass die lads scheitern, weil sie eine subkulturelle Gruppe bilden, die der Schule ablehnend gegenüber steht. Eine solche Aussagen käme einer Trivialisierung des komplexen Theorierahmens gleich, den Willis ausgearbeitet hat, um die Verhandlungsprozesse der Individuen im kulturellen Raum sichtbar zu machen. Haben Helsper et al. die Bedeutung der kulturellen Dimension, die Willis unter dem Paradigma der Cultural Studies so weit reichend abgesteckt hat, nicht hinreichend verstanden? Vieles spricht für diese Annahme. Hat sich aus der Perspektive einer kritischen Erziehungswissenschaft, die sich die erkenntnistheoretische Forschungsperspektive der Cultural Studies zu Eigen gemacht hat, die Kritik an eindimensionalen Forschungszugängen und den üblichen und weit verbreiteten Essentialismen in den erziehungswissenschaftlichen Forschungen überholt? Und, um diese Frage weiter zuzuspitzen: Resultiert also die geschärfte Bedeutung des Kulturellen auch in einer gleichsam theoretisch unterkomplexen Trivialisierung der kulturellen Dimension? 12 Sicherlich kann behauptet werden, dass Helsper et al. die Bedeutung der kulturellen Dimension nicht hinreichend bedacht haben und ihre methodologische Neuorientierung vor allem aufgrund einer nicht haltbaren Trivialisierung von Willis’ Befunden stark machen sowie kein schlüssiges Konzept vorlegen können, wie die Aushandlungsprozesse von Ungleichheit, Benachteiligung und Marginalisierung empirisch zugänglich sind, ohne die Akteure als schlichte Opfer ihrer Verhältnisse zu konstruieren. Es geht mithin
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interne Potentialititäten derart auf externe Possibilitäten treffen, dass es zu einem kontaktauslösenden Moment kommt, das den internen Prozess der Verwirklichung von Potenzialitäten mit den äußeren Possibiltäten synchronisiert. Vor diesem theoretischen Analysekonzept müssten Selbstbefreiung und Selbstverstrickung expliziert werden. Dabei sind unter kulturwissenschaftlichem Gesichtspunkt die internen Pontenzialitäten natürlich nicht nur die biologisch gegebenen Begabungen, sondern immer auch schon die durch Sozialisation angelegten internalisierten kulturellen Muster. Das heißt die kulturelle Selbstverstrickung ist immer schon gegeben und setzt den Rahmen der Selbstbefreiung.
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Die grundsätzliche Theorie-Frage bzgl. der möglichen kritischen Distanzierung von eigener kultureller Prägung ist, ob ich, um solche nicht abweisbare Phänomene erklären zu können, nicht doch theorietechnisch ein nicht-kulturell bestimmtes Moment theorietechnisch ansetzen muss. Kant hat dies in normativer Absicht mit dem formalen Prinzip des kategorischen Imperativs getan. Der Neukantianismus hat es getan, indem er das formale Prinzip der Geltung als Movens des Kulturprozesses in Anschlag gebracht hat.
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nicht nur darum, was die Schule mit den Schülern macht, sondern auch danach zu sehen, welche Wechselwirkungen und komplementären Reaktions-, Bewältigungs- und Verarbeitungsweisen auf Schülerseite entstehen. Es wird dabei Folgendes sichtbar: Wie pädagogische Akteure nicht als schlichte Opfer einer Bildungsorganisation kollektiv freizusprechen sind und darüber hinaus, dass die Beobachtungskraft des Systems durch die Diskriminierten genauer in den Blick zu nehmen ist (vgl. Schroeder 1998: 51). 13 Es muss noch einmal ganz deutlich darauf verwiesen werden, dass Willis seine Untersuchung innerhalb einer theoretischen Analyse der Bedingungen des modernen Kapitalismus angestellt hat. Innerhalb dieser Analyse treten Widersprüchlichkeiten und Paradoxien zu Tage, die nicht mit dem Feld der Untersuchung selbst verwechselt werden dürfen. Nur mittels des Mediums der Interpretation kann – so Willis – die zum Naturalismus neigende oberflächliche Betrachtung der Ethnographie überwunden werden. Insofern liefert der zweite Teil in „Learning to Labour“ die theoretischen Bausteine, die die Begrenzungen der Ethnographie überwinden können und im Kontext der Perspektiven der Cultural Studies den „Kampf um Bedeutungen“ empirisch sichtbar machen. „Die Ethnographie“, so Willis, „beschreibt das Feld, auf dem Impulse und Beschränkungen zusammenwirken, aber sie kann sie nicht theoretisch isolieren oder separat aufzeigen.“ (1982: 185) Was Willis mit „Durchdringungen“ bezeichnet, das erscheint als eine charakteristische Forschungsperspektive der Cultural Studies, nämlich die qualitative Analyse kultureller Prozesse innerhalb von Machtver-
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hältnissen (vgl. Winter 2000: 212). Was diese Widersprüchlichkeit zunächst auszeichnet, ist in der Tatsache enthalten, „[…] daß eine Klassengesellschaft in liberalen und demokratischen Formen existiert; daß ein unfreier Zustand freiwillig eingegangen wird.“ (Willis 1982: 185). Selbst Helsper et al. haben innerhalb ihres rekonstruktionslogischen Ansatzes kein ausreichendes Werkzeug entwickeln können, um diese Paradoxie hinreichend zu berücksichtigen und verstehbar zu machen. So bleibt bei ihnen ungeklärt, was die „subjektive Selbstvorbereitung der Arbeitskraft“ (ebd.) innerhalb der informellen Gruppe der lads oder auch vergleichbar innerhalb Strukturen benachteiligter Jugendlicher an vielschichtigen und widersprüchlichen Potenzialen entfalten kann. Wenn Willis die Hauptthese seiner Studie benennt, dann erscheinen die Logik und die Tragik der kulturellen Reproduktion in vollem Ausmaß: „Eine romantische Auffassung von den Kulturformen der Arbeiterklasse will, daß sie konkrete Pläne für das Leben nach dem Sturz des Kapitalismus entwerfen. Unvorstellbar, daß solche Phantasien versprechen, was sie bieten, oder geben, was sie versprechen. Es wäre falsch, die Kultur oder das Bewußtsein der Arbeiterklasse optimistisch als Avantgarde auf dem Weg zu Rationalität und Sozialismus darzustellen. Wenn überhaupt […] wirken diese Elemente von Rationalität und einer zukünftigen Arbeiterkultur, besonders jener in der Schule, sich in ihrer gegenwärtigen gesellschaftlichen Form und in nicht intendierten komplexen Formen dahingehend aus, genau dies zu verhindern.“ (Willis 1982: 190)
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Die Cultural Studies haben ein solches Geltungsmoment von Anfang an enthalten. Es ist das Moment der politisch-ökonomischen Kritik aus marxistischer Perspektive. Der Marxismus ist eine transkulturelle Theorie der Form von Ausbeutungsprozessen und der polischen Form des Widerstands. Die Formalisierung im Marxismus findet über die Wert-, Kapital- und Geldtheorie statt. Sie transzendiert alle kulturellen Partikularitäten, Differenzen und qualitativen Bestimmtheiten. Der Reiz der traditionellen Cultural Studies besteht aus meiner Sicht gerade in der Dialektik von marxistisch formaler Perspektive und der qualitativen Sicht auf die Kultur der Marginalisierten.
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Wenn man so will, dann hat Willis einen bedeutenden Anteil an einer allgemeinen Theorie der kulturellen Formen und der sozialen Reproduktion entwickelt, der vor dem Hintergrund einer weiterhin anhaltenden Ökonomisierung 14 und der damit verbundenen Verfestigung der sozialen Ungleichheit des Bildungswesens eine wichtige Rolle zukommt. Auf diese Verbindung der kulturellen Formen mit der sozialen Reproduktion wird noch zurückzukommen sein. Das Problem Montag morgen und die Bedeutung des Wissens Im letzten Teil seiner Studie „Learning to Labour“ entwickelt Willis aus der ethnographischen Untersuchung und der theoretischen Durchdringung eine Reihe von programmatisch ausgerichteten Implikationen, die sich direkt an die Ebene der Praktiker in der Berufsberatung und der schulischen Erziehung wenden. Diese Vorschläge sind sorgfältig aus dem empirischen Material heraus rekonstruiert und unter einer wertschätzenden Perspektive für die „Praktiker“ geschrieben. Es geht Willis darum, die Möglichkeiten der Veränderung zu durchleuchten, ohne ein neues technokratisches Programm zu starten, dass sehr wahrscheinlich wieder scheitern wird, weil es nicht hinreichend die kulturellen Reproduktionsprozesse berücksichtigt. Er findet für die Praktiker die Metapher vom „Problem Montag morgen“, das ich hier zunächst schildern möchte, um danach die direkt an die Praktiker gerichteten Aussagen zu schildern. Zu prüfen wäre, ob sie noch ausreichend aktuell und brauchbar erscheinen, die Situation von strukturell be-
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nachteiligten Jugendlichen im Übergang von der Schule zum Beruf und angesichts schulischer beziehungsweise pädagogischer Fördermaßnahmen angemessen zu verstehen und auch verändern zu können. Das Problem Montag morgen schildert Willis so: „Wenn wir nicht sagen können, was Montag morgen geschehen soll, dann bleibt alles bei einer puristischen, strukturalistischen, lähmend reduktionistischen Tautologie: nichts kann getan werden, solange nicht die Grundstrukturen der Gesellschaft verändert sind, aber die Strukturen hindern uns ja daran, irgendwelche Veränderungen vorzunehmen.“ (Willis 1982: 264)
Willis sieht keinen Widerspruch darin, wenn Praktiker auf zwei Ebenen gleichzeitig arbeiten: den unmittelbaren Problemen entgegenzutreten und ihr Bestes für die Klienten zu tun auch wenn sie wissen, dass sie dabei die Strukturen reproduzieren, aus denen das Problem erwächst. Das heißt für ihn, dass es durchaus Spielräume und Handlungsmöglichkeiten gibt, die den Angehörigen der Kulturen, die Willis untersuchte, eine gewisse Selbstaufklärung vermittelt, nämlich ihnen deutlich zu sagen, was ihre Kultur ihnen über die strukturellen und sozialen Orte sagt, in denen sie sich bewegen. Was damit ins Spiel kommt, sind allerdings Konflikte und das Ringen um Bedeutungen. Es erscheint klar, dass unter dem weithin dominierenden Paradigma eines störungsfreien Unterrichts diese Aushandlungsprozesse kaum als pädagogisch notwendig und unverzichtbar erscheinen können, um zum einen etwas über die kulturelle Produktion der Schülerschaft zu erfahren und zum anderen die tatsächlichen oder die zugeschriebenen
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Der Montagmorgen ist nur zu bewältigen, wenn ich weiß, worum es wirklich geht in der Frage um ein gutes Leben – und zwar um ein gutes Leben, das nicht erst übermorgen wirklich werden kann. So zukunftsorientiert pädagogisches Handeln auch immer sein kann und vielleicht auch sein muss, die Performanz des Pädagogischen findet dennoch stets jetzt statt. Jetzt müssen die Probleme kultureller Dissonanzen behandelt werden – mit welchem Ziel auch immer. Wenn man am Ende der Woche als Pädagoge sagen kann: es war eine gute Woche, dann hat man am Montag richtig angefangen. Makarenko hat die Zukunftsorientierung im pädagogischen Handlungszusammenhang differenziert in drei Stufen zeitlicher Perspektivierung. In der ersten Stufe realisiert sich das Ziel jedenfalls in einem überschaubaren Zeitraum, den man noch Gegenwart nennen kann.
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Differenzen erst verhandelbar zu machen, in dem individuelle Lerngeschichten sichtbar werden, die die je eigenen Lernwege und -widerstände reflektieren. Die Kultur der Verhandlung hat in diesem Prozess ihren markanten Ort. Da es in diesem Zusammenhang ein wichtiges Ziel ist, Handlungsmöglichkeiten und Spielräume auszuloten, gibt es zuvor einige Prinzipien und Voraussetzungen, die auf ihre Aktualität und Wirkmächtigkeit hin zu prüfen sind. Aus der veränderten Perspektive einer Analyse der kulturellen Ebene und deren Kontextualisierung im Rahmen von Lernprozessen, schlägt Willis folgendes vor: • erkenne die strikte Sinnlosigkeit und Konfusion der heutigen Proliferation wertloser Qualifikationen, • erkenne die innere Sinnlosigkeit und Langeweile der meisten unqualifizierten und halb-qualifizierten Arbeit, • erkenne den Widerspruch zwischen einer meritokratischen Gesellschaft und einem Erziehungssystem, wo die Mehrzahl verlieren muß, wo aber von allen verlangt wird, die gleiche Ideologie zu glauben, • erkenne die Möglichkeit der Arbeitslosigkeit sowohl als erzwungene wie als erwählte Alternative zu den gebotenen realen Chancen und zu dem, was Arbeiten wirklich bedeutet – mit oder ohne die kulturelle Ebene (vgl. Willis 1982: 268). Diese Anregungen von Willis verbinden sich vor allem mit dem wichtigsten Befund der Studie zu einer sinnvollen und analytischen Einheit: nämlich dass die „unzufriedenen Jugendlichen aus der Arbeiterklasse weniger auf den Stil des Lehrers und den Inhalt des
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Unterrichts reagieren, als auf die Struktur der Schule und das herrschende Lehr-Paradigma im Kontext ihrer allgemeinen, durch die Klasse geprägten kulturellen Erfahrung und Lokalisierung“ (Willis 1982: 268 – meine Hervorhebung). Das erscheint mir als pointierte Hauptthese, die es vor dem Hintergrund des Lehrens als kultureller Praxis zu stärken gilt: Wenn die Schüler gegen das System Schule rebellieren, dann zeigt sich zugleich, dass alleine die Veränderungen von Beziehungen und Inhalten – und darunter wären auch die Konzepte einer spezifischen Förderung oder andere pädagogische Organisationsformen zu verstehen – nicht sehr weit greifen. Die Strukturen der Schule und das darin herrschende Lehr-Paradigma (als kulturelle Praxis, wie mit Bezug auf Giroux hervorzuheben ist) lassen sich noch viel schwerer verändern als ein routinisierter Lehr-Stil. Diesen Grundwiderspruch zu sehen und auch aushalten zu können, ist schwierig genug, denn es bleibt unumgänglich, dass die Lehrer den Kontakt mit den unzufriedenen Jugendlichen halten müssen. Das macht schließlich die gelungene pädagogische Beziehung aus. Vor dem Hintergrund dieser Befunde von Willis erscheint es sinnvoll (statt der individuellen), die soziale Macht des Wissens in den Lernprozessen zu vermitteln (vgl. Willis 1982: 271). Dies wird möglich über ein verändertes Selbstverständnis der Lehrkräfte: Wird die Bedeutung der kulturellen Ebene erkannt, dann kann der Lehrer, so Willis, einen anderen, skeptischeren und glanzlos realistischen Blick auf die Prozesse der Industrie, der Wirtschaft und der Klassenstruktur richten. Statt in moralische Panik zu geraten wegen Störungen, Lernverweigerung
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Spielräume zu ermöglichen heißt im Machtspiel bzw. besser im Macht-Freiheitsspiel dem Gegner Zeit zu geben. Dies gilt auch im pädagogischen Machtspiel. Wenn ich als Lehrender 50% der Unterrichtszeit einnehme, die restliche Zeit sich auf 30 Lernende verteilt, dann sind die Machtverhältnisse klar. Im sozialen Kontext heißt eben Macht, die Zeit des anderen zu besetzen, inhaltlich auszufüllen und für seine freie Wahl, also für die freie Wahl des Anderen, zu vernichten.
Die sozialstrukturellen Soziologen würden hier ins Spiel bringen, dass nur das herrschende
132 Lehrparadigma und die Struktur der Schule eine strukturelle Kopplung erlaubt oder verhindert. Kulturwissenschaftlich gedacht kann die „strukturelle Kopplung“ nur im symbolischen Raum stattfinden, d. h. als Kopplung semantischer Verweisungsstrukturen.
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und Aggressionen im Kassenzimmer, wiederkehrenden Themen der gängigen pädagogischen Schulpraxis, können die Lehrer die oppositionelle Schul-Gegenkultur in ihren angemessenen sozialen Kontext stellen und ihre Implikationen für die langfristige Zukunft ihrer Mitglieder erörtern – ungeachtet der Probleme vor die sie ihr eigenes Überleben vor der Klasse stellt (ebd.). Durch die gängige Benachteiligtenperspektive, die das pädagogische Handeln in diesem Kontext jedoch durchzieht, geht der Blick auf die soziale Dimension des Wissens verloren bzw. droht erst gar nicht zu entstehen (vgl. Hogan /Sauter 2005). So wie bei der Studie „Jugendliche Außenseiter“ von Helsper et al. exemplarisch gezeigt, werden die Schüler im pädagogischen Blick auf Gefangene ihrer sozialen Lage oder als Opfer der Verhältnisse reduziert. Sie können gewissermaßen als defizitäre Objekte kaum in den Status der Aneignung und Transformation dieser Verhältnisse geraten. Aus diesem Grund fällt die dialektische Beachtung der kulturellen Ebene bei Combe et al. so bescheiden aus, weil nämlich die Ebene des subjektiven Ansatzes nicht verlassen werden kann. Eine Analyse der Bedeutung der kulturellen Ebene, ihrer spezifischen Logik und eigenständigen Struktur fehlt dabei gänzlich. Was Willis in dieser Hinsicht vorschlägt, ist der weit reichende Prozess einer Selbstveränderung, die die Lehrkraft mehr als Lernhelfer oder Moderator von Bildungsprozessen versteht, damit der Montag morgen nicht notwendig eine endlose Wiederholung des gleichen Montagmorgens sein muss. Pädagogik – das wäre meine These in diesem Zusammenhang – kann ihren blinden
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Fleck für die vielschichtigen Verhandlungsformen kultureller oder sozialer Ungleichheit überwinden, wenn sie die Aushandlungsprozesse, die unter der Cultural Studies-Perspektive sichtbar werden, als Lerngegenstand in den pädagogischen Prozess einbezieht. Die Effektivität des Pädagogischen sieht Willis dementsprechend ganz klar auf der kulturellen Ebene: „Die kulturelle Ebene zu identifizieren und zu verstehen ist ein aktiver Schritt, um sie dem Bewusstsein und daher dem Politischen näherzubringen und um in der Materialität ihrer Ergebnisse die Möglichkeit zu erkennen, daß das Kulturelle auch eine materielle Macht wird.“ (Willis 1982: 273)
Als äußerst voraussetzungsvoll erscheint die von Willis angesprochene Selbstveränderung, die allerdings wesentliche Anteile dazu beisteuern kann, die Macht des Formellen über das Informelle zu entwirren. Dabei steht die Schule für den formellen Teil des Lernens, das informelle Lernen wird durch die dagegen stehenden Widerstandspotentiale repräsentiert. Beschämung, Widerstand und die soziale Macht des Wissens. Mehdi Charefs Film „Lerne zu leben“ Um diese Gedanken weiter zu entwickeln, möchte ich zum Abschluss auf ein Beispiel zurückgreifen. Was unter der sozialen Macht des Wissens zu verstehen ist, das macht der Film von Mehdi Charef „Lerne zu leben“ 15 sehr anschaulich. Wie auch in seinem Aufsehen erregenden und vielfach prämierten Debütfilm „Der Tee im Harem des Archimedes“ (1985) hat der französische Filme-
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134 Da die Logik der entelechetischen Selbstverwirlichung – als ein Prozess des Übergangs von angelegten Möglichkeiten zu performant auftretenden Wirklichkeiten – der Logik von causa formalis, d. h. der Zweckrationalität folgt, ist die zentrale theoretische Frage diejenige, wie äußere Umstände – ob hinderlich oder befördernd – als Maßnahmen oder Ereignisse in der Logik der causa efficiens zweckrationale Prozesse auch nur betreffen können. Wie und unter welchen Bedingungen verschränken sich diese beiden Logiken und führen dann in ihrer Verschränkung zu einem pädagogischen Wirkungskomplex? Da die Erfahrung zeigt, dass manches die internen Entwicklungsprozesse behindert, anderes sie überhaupt nicht tangiert und wieder anderes sie befördert, ist das die empirisch signifikante Forschungsfrage, was es denn ausmacht, dass es zu einer Kopplung von finaler Logik der Selbstverwirklichung und der Wirklogik der äußeren Umstände kommt.
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macher einen subtilen Blick auf das Leben und die Bewältigungsformen marginalisierter Jugendlicher in Frankreich geworfen. In „Lerne zu leben“ stehen fünf Jugendliche in einer Sonderklasse für „schwer Erziehbare“ im Mittelpunkt der Erzählung. Ihr cholerischer alter Lehrer Raffin versucht die Schüler zu unterrichten, was ihm jedoch nicht gelingt. Er scheitert an ihrem Widerstand. Anders als die lads äußern sich die fünf Jugendlichen Abou, Momo, Ariel, Pierre und Jean jedoch nicht in lautstarkem und aggressivem Widerstandsverhalten, sondern im Schweigen. Ihre gesenkten Blicke im Klassenraum verraten Beschämung. Aber das sieht ihr Lehrer nicht. Alle Belehrungsversuche von Raffin prallen an ihnen ab, sie verweigern hartnäckig alles, was reduziertes schulisches Lernen im Kontext der Sonderklasse ausmacht. „Ich gebe euch irgendwelche Zensuren, dass man denkt, dass Ihr arbeitet“, ruft Raffin in das Schweigen der Klasse. In der Klasse ist beispielsweise Abou, der aus Algerien geflüchtet ist und dort zusehen musste, wie französische Soldaten seine Familie erschossen, er lebt im sozialen Abseits einer „Barackensiedlung“, ebenso wie das Mädchen Momo, deren Mutter drogenabhängig ist. Ariel schließlich hat zwar als ehemaliger Klassenbester (einer anderen Schule) scheinbar bessere Voraussetzungen. Er macht aber als Jude beschämende Erfahrungen mit Rassismus und leidet an der Tatsache, dass seine Mutter als Prostituierte arbeitet. So versucht der alte und kranke Lehrer wenigstens den schulischen Schein zu wahren und lässt die Schüler unsinnigerweise endlose Zahlenreihen aufsagen, um wenig-
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stens ihre Stimmen zu hören und Unterricht zu simulieren. Darüber hinaus ist ihr Ansehen in der Schule denkbar schlecht, sie sind nicht nur den Demütigungen ihres Lehrers ausgesetzt, auch die anderen Lehrer und Schüler machen den Fünf deutlich, dass sie in ihren Augen nichts wert sind. In diesem scheinbar hierarchischen Verhältnis ist es aber auch deutlich zu sehen, wie sich die Bedürftigkeit der Schüler mit der Bedürftigkeit des Lehrers jeweils ergänzt. Als Raffin eines Tages im Unterricht einem Herzinfarkt erliegt 16, kommen die Fünf an eine andere Schule. Die junge Lehrerin Alexina nimmt sie an ihrer Schule am Rand des Meeres auf. Allmählich und in mühevoller pädagogischer Arbeit gelingt es Alexina, das Vertrauen der Jugendlichen zu erlangen und sie erhält einen Einblick in die teilweise traumatischen biographischen Situationen der Schüler. Nicht nur biographische Traumata wie Krieg, sexueller Missbrauch und Drogensucht der Eltern stellen sich dabei dem Lernen der Fünf in den Weg, auch ihre soziale Situation wird dabei sichtbar. Bewegend ist die Szene, in der der aus Algerien geflüchtete Abou seine Schuhe mit Plastiktüten umwickelt, weil er nicht möchte, dass man ihn daran erkennt, weil er aus der „Barackensiedlung“ kommt, deren Straßen nicht befestigt sind aus diesem Grund im Morast liegt. Alexina erkennt den Bedeutungsgehalt der Geschichten, bringt die Jugendlichen zum Sprechen und entwickelt ein schulisches Arrangement, das den individuell und sozial ausgegrenzten Jugendlichen Ausdrucksmöglichkeiten gibt, ihre Situation darzustellen. Die Lehrerin fragt nach, was sie am Irritierenden der Erzählungen der Fünf nicht versteht „Was willst Du mir zeigen?“ – so geht
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Im Rahmen der Cultural Studies spitzt sich diese Frage darauf zu, ob diese Kopplung im Rahmen des kulturellen Kontaktes auf Grund inhaltlich symbolischer Struktur zustande kommt oder sozialstrukturell auf der Basis formaler quantitativer Größen.
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sie mit den Geschichten der Jugendlichen auf Spurensuche zum Ausgangsort ihrer teilweise bizarren Erlebnisse. Schaut man in diesem Zusammenhang wieder mit der Optik von Helsper et al., die eingangs vorgestellt und kritisiert wurde, dann wird zunächst ein wichtiges Thema auffällig, das auch der Film thematisiert. Die zentrale Bedeutung der Schule als Institution und als Schauplatz persönlicher Sozialbeziehungen lässt sich vor dem Hintergrund der biographischen Entwicklungen von marginalisierten Schülerinnen und Schülern analysieren. Der Kampf war in der Sonderklasse von Raffin dargestellt durch das Schweigen und die Lernverweigerung der Schüler. Aber auch mit der neuen Lehrerin Alexina geht es nicht ohne Kampf und schwierige Situationen, in der die fünf Jugendlichen Alexina an den Rand des Scheiterns führen. Die Lehrerin muss viele Kränkungen erleben, kann diese Kränkungen aber gewissermaßen im Spiegel der erlebten Kränkungen der Jugendlichen sehen. So verstanden erkennt sie den Aushandlungsraum, der von ihr und ihren Schülern jedoch permanent gestaltet werden muss. In diesem Aushandlungsraum werden auch die spezifischen Marginalisierungen thematisierbar. Anhand der Fallstudien aus der Studie „Jugendliche Außenseiter“ zeigt Hermann Müller auf, wie der Zusammenhang von psychosozialer Problematik und Schulversagen zu erklären ist. Dabei wird deutlich gemacht, dass spätere Marginalisierung sich bereits im Grundschulalter abzeichnet, viele Programme für ‚Benachteiligte’ aber erst dann einsetzen, wenn der Prozess der Marginalisierung bereits weit fortgeschritten ist, sie also nur reaktiv und nicht mehr präventiv
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wirken können (vgl. 224). Schule ist in diesem Sinne ein „Kampfplatz“ (231) für Schüler mit konfliktbelasteter Sozialisation, wo diese Lehrer-Schüler-Konflikte ausagiert werden. „Eine Institution wie die Schule, die Disziplin, Unterordnung und Respektierung der Autorität der Lehrer verlangt, bietet sich solchen Schülern als Kampfplatz geradezu an.“ (233)
Die sozialen und strukturellen Hintergründe, wie Rassismus, soziales Abseits der Barackensiedlung, wie auch die individuellen und biographischen Zusammenhänge werden in der Art der spezifischen Bedeutungsgebung von Alexina erkannt und verstanden. Sie sieht den Kampfplatz und gibt ihren Schülern Entwicklungsmöglichkeiten an die Hand. Aber sie besteht auch auf einer reflexiven Beachtung und dringt darauf, die Geschichten der Jugendlichen erzählt zu bekommen. Eines Tages, als sich Abou bekümmert zurückzieht, erzählt er Alexina, dass er sich für seine Mutter schäme, weil sie in Frankreich nichts mehr wert sei. Ihre Lieder und ihre Geschichten drohen verloren zu gehen. Alexina insistiert dabei auf der unverbrüchlichen Beziehung zwischen den Beiden, die auf Zuneigung beruhe, macht aber auch klar, dass Abou nach vorne schauen müsse. „Ich schäme mich schon für sie mit ihren langen Gewändern und Tätowierungen oder wenn die Leute sich nach ihr umdrehen, wenn sie spricht“, so sagt Abou. „Erzähl’ das deiner Mutter! Sie wird bestimmt lachen“, entgegnet Alexina. „Kein Mensch muss sich schuldig fühlen, weil er eine andere Sprache spricht.“ In diesem Kontext erscheint das Lachen als Distanzierungsmittel und Reflexionsinstrument.
Die hier gemachten Analysen legen nahe, dass die Kopplung innerer und äußerer Bildungsbedingungen als prozessauslösendes Moment für Bildung kulturspezifisch material gegeben sind.
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Die Institution Schule ist aus dieser Sicht das formale Arrangement, das zur Kontaktauslösung von Bildungsprozessen führt, die widerspenstig revoltierend verlaufen – sich zwar nicht im Sinne des Systems entwickeln, aber dennoch den Einzelnen weiterbringen.
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Vor diesem Hintergrund lässt sich zwischen den lads und den fünf Schülern bezüglich der Bedeutung des Lachens ein wichtiger Unterschied herausarbeiten. Hatte das Lachen (the „laff“, vgl. Willis 1982: 52) bei den lads noch seinen klaren Bezug in der informellen Struktur des Widerstandshandelns, war es „Bestandteil eines respektlosen, marodierenden Fehlverhaltens“ (Willis 1982: 53) und in der Gegen-Schulkultur ein facettenreiches Mittel von außerordentlicher Bedeutung, weil die lads sich vor allem darüber definieren konnten, wer die Anderen zum Lachen bringt. In Lerne zu leben erscheint das Lachen in anderer Gestalt. Als Mittel der Distanzierung der Beschämung durch die Anderen fordert Alexina Abou auf, mit seiner Mutter zu lachen. So gewendet ist Lachen keine informelle Widerstandsstrategie mehr, sondern transformiert sich zu einer Bewältigungsform: „Denn jeder Belustigung, ob sie von außen oder von innen kommt, liegt ein Schmerz zugrunde, Verschmerzt wird im Lachen die Melancholie darüber, dass wir der dauerhaften Aufhebung von Sinn standhalten.“ – so Wilhelm Genazino (2004: 175) in einem seiner erhellenden Essays 17 über das Lachen. Der Aufhebung von Sinn wird eine eigene Sinngebung gegenübergestellt, die den beschämenden Blick der Anderen zurückwirft und somit aus dem verlachten Objekt ein lachendes Subjekt machen kann. Nur so, im neuen Blick auf sich selbst, könne Abou eine neue Perspektive auf sich, sein Leben und seine Zukunft entwickeln. „Es ist hart, ich muss ganz neu anfangen“, so sagt er in diesem Zusammenhang. Genau diesen Prozess erkennt die Lehrerin und unterstützt Abou darin, in dem sie ihn auch
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auf seine aufkommende Liebe für Momo anspricht. „Du darfst nicht aufstecken. Im Leben, wie in der Liebe“, entgegnet Alexina und thematisiert damit die zu erkämpfende Möglichkeit von Abou, sich in Zukunft anders positionieren zu können. Die Zukunft kann mithin eine andere Zukunft werden, wenn sich die Vergangenheit anders deuten lässt, vorausgesetzt, dass die kulturelle Ebene hinreichend exploriert ist. Damit lässt sich das „kulturelle Muster“ des Scheiterns erkennen und durchbrechen. Dieser Aspekt muss unbedingt hervorgehoben werden, will die Perspektive erkennbar auf der pädagogischen Hervorbringung einer erweiterten Handlungsfähigkeit liegen. Gegen Ende des Films droht die Situation kurzfristig noch einmal zu eskalieren, als die Polizei vorfährt, um Jean zu befragen. Momo wirft der Lehrerin vor, dass sie die Jugendlichen an die Polizei verraten habe und sie nun alle in ein Heim eingewiesen werden. „Lässt du uns auch im Stich?“ fragt Pierre. Alexina reagiert geschickt und gibt den Kindern nicht mehr als eine Deutung ihrer möglichen Zukunft und damit die Verantwortung für ihre Entwicklung an sie zurück. „Ich werde euch sagen, was mit euch passiert. Nach allem, was ihr euch erarbeitet habt, fahrt ihr nicht einfach wieder nach Hause.“ Sie entwirft ein mögliches Bild der Zukunft der Schüler, das sie in einer verantworteten Situation leben lässt. In diesem Zusammenhang kommt die soziale Dimension des Wissens ins Spiel. Ich würde vor dem Hintergrund des Films dies so übersetzen: ‚Anerkenne, woher du kommst. Überwinde deine Scham und sehe klar die Situation, wo du dich jetzt befindest. Kämpfe um deine Zukunft und
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behalte im Blick, wo du unter Verwendung deines neu gewonnenen Wissens später sein kannst.‘ Das nimmt die Gesamtheit der verzweigten Lernprozesse, die davor stattfanden auf und verweist gleichzeitig auf die Verschränkung der individuellen und der gesellschaftlichen Kontexte. Nach allem was ihr euch erarbeitet habt, meint, dass die Schüler einen anderen Blick auf diese ineinander verschränkten sozialen und individuellen Situationen werfen können und an einer anderen, als deren destruktiven, weil selbstbehindernden Bewältigung arbeiten können. Weil sie sich im Lernen verändern können entfaltet dieser Veränderungsprozess eine differenzierte und differenzierende Perspektive auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Weil sie im Lernen verlernen, wäre aus der Perspektive von Frigga Haug (2003: 65) hinzuzufügen, die betont: „Einen Lernprozess organisieren heißt Erfahrungen in die Krise führen. Dafür benötigen Schüler Lehrer, die Verunsicherung herausfordern und das SichEinrichten immer wieder in Frage stellen.“ Zumindest das Sich-Einrichten im altbewährten Modus der Konfliktbearbeitung (oder präziser: Konfliktvermeidung) wird dabei herausgefordert. Grundsätzlich entfalten sich durch die Beachtung der sozialen Dimension des Wissens, im Rahmen des veränderten Selbstverständnisses der Lehrkräfte, wie es im Film idealtypisch von Alexina repräsentiert wird, die Aushandlungsprozesse von individueller und sozialer Situation. In ihrer gegenseitigen Durchdringung werden sie sichtbar, verhandelbar und damit erst pädagogisch zugänglich. Diese Aushandlungsprozesse in den pädagogischen Prozess einzubeziehen, eröffnet die Möglichkeit, unumstößlich schei-
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nende Situationen im eben beschriebenen Sinne transformierbar zu machen. Dabei wird nicht auf eine individuelle Wissensakkumulation verwiesen, sondern vor allem auf eine Erweiterung der Aneignung und Transformation sozialer Positionen, die durch die kulturelle Dimension limitiert erscheinen. Die weiter oben angesprochene Selbstveränderung erfährt hierbei eine wichtige Bedeutung. Alexina selbst macht einen Lernprozess durch, der sie dahin bringt, die Schüler und ihre Handlungsweisen anders zu sehen. Das wiederum eröffnet einen Aushandlungsraum der Möglichkeit zur Veränderung der Schüler. Mit Willis gesprochen holt sie über eine selbstreflexive Technik und das analytische Moment die Irritationen in den pädagogischen Prozess herein. Mit diesen Irritationen und Verzerrungen lässt sich methodisch weit reichend arbeiten: „Statt ‚Probleme’ zu sein, sind gerade die ‚unlösbaren’ Schwierigkeiten dieser Methode ihr spezifischer Vorteil. Dies betrifft die Fähigkeit des Forschers, den Schnittpunkt seiner eigenen sozialen Paradigmen mit denen der Leute, die er verstehen will, reflexiv zu analysieren. Ein solcher Schnittpunkt zeugt natürlich genauso von dem Forscher und seiner Welt, wie er über jede andere Welt etwas aussagt.“ (Willis 1981: 245) Alexina gelingt es, gleichsam tastend und forschend, diese Schnittpunkte zu erkennen und selbstreflexiv zu analysieren. Genau dies kennzeichnet ihren gelungenen Prozess der Selbstveränderung. Die genannten Schnittpunkte sind auch – wenn man es so ausdrükken will – die Ränder der Plattform auf der die Verhandlungen stattfinden. Diese Plattform muss jedoch immer wieder hergestellt und erkämpft werden. Sie ist nicht voraus-
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Der Topos der Herkunft ist das wirkmächtigste Moment der Selbstverortung. Die Anerkennung der Herkunft ist zugleich die Anerkennung der unvordenklichen Bestimmtheit meiner selbst – einer Bestimmtheit, die wenngleich determinierend dennoch zufällig ist. Die Anerkennung der Herkunft ist auch die Anerkennung der Kontingenz des Lebens.
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setzungslos und gewissermaßen natürlich gegeben. Willis hat das dafür notwendige Werkzeug als selbstreflexive Technik beschrieben (247) durch die sich methodisch abgesichert die „Landkarte der Realität eines anderen“ (246) erkunden lässt. 18 Ausblick
Irritation ist vermutlich das sicherste Moment, Bildungsprozesse auszulösen. Die praktische Frage bleibt, wie löst man genau jene Irritationen aus? Auch die wissenschaftliche Frage ist noch nicht geklärt: Gibt es Regeln der Produktion von Irritation?
Die Perspektive der Cultural Studies beschreibt Willis vor allem im Verhältnis zum kulturellen Moment: „Das kulturelle Moment […] betrifft die […] spezifisch menschliche, kollektive Aktivität der Bedeutungsgebung – der Sinngebung, wenn man so will, und zwar in Bezug auf eine strukturelle Verortung, nämlich in Bezug auf die Position in einem sozialen Verhältnis und in einer Produktionsweise.“ (Willis 1990: 12) Willis thematisiert mit dieser Sichtweise den aktiven Prozess der Bedeutungsgebung sozialer Akteure, der auch mit dem Begriff der kulturellen Produktion umschrieben werden kann. Dies ist der bevorzugte und charakteristische Zugriff der Cultural Studies, nämlich diesen Prozess zu analysieren und weit reichend zu kontextualisieren. Dadurch wird eine differenzierte, als nur die einseitige Sicht auf die Akteure möglich, die ich anhand der Studie „Jugendliche Außenseiter“ beschrieben habe. „Die sozialen Akteure werden […] als aktiv aneignende begriffen; sie produzieren Bedeutungen und kulturelle Formen, indem sie mit Hilfe von Werkzeugen bestimmte Materialien in Produkte verwandeln. Dies geht ganz ähnlich vonstatten, wie die materielle Produktion. Kulturelle Produktion ist der Prozeß des kollektiven, kreativen Gebrauchs von Diskursen, Bedeutungen, Materialien, Praxen und
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Gruppenprozessen, wodurch bestimmte Positionen, Verhältnisse und materielle Möglichkeiten erkundet, verstanden und kreativ besetzt werden.“ (ebd.: 14 – Hervorhebung im Original) Einen solcherart vielschichtigen Prozess zu erkennen, zu unterstützen und dem pädagogischen Handlungsfeld zugänglich zu machen, so wie es in Mehdi Charefs Film „Lerne zu leben“ eindrücklich aufgezeigt wurde, käme auf diese Weise als wichtiger Impetus pädagogischer Interventionen zum Vorschein. Dabei kommt der lehrenden Person eine wichtige Rolle und methodisch abzusichernde Aufgabe zu: An sich selbst kann es ihr über das selbstreflexive Erkennen der „Schnittpunkte“ gelingen, innere und äußere Verhältnisse zu explorieren und in den pädagogischen Prozess einzubeziehen. Diese Explorationen theoretisch und methodisch zu fundieren, das wären die noch zu realisierenden Aufgaben, die eine vollständige Durchdringung von Cultural Studies und (kritischer) Pädagogik zu bewerkstelligen hätte – ohne dabei den Kontext von Erziehung und sozialer Reproduktion aus dem Blick zu verlieren. Müsste also eine kritische Pädagogik, die sich durch die kategorialen, theoretischen und empirischen Neuformierungen, die sich damit ergäben, „statt sich mit einer Anordnung der Lernproblematik in der Frage nach Wissenserwerb und seiner Ermöglichung zufrieden zu geben, nicht eher dort anfangen, wo nicht gelernt wird, subjektiv nicht, und objektiv strukturelle Blockaden die handlungsrelevante Erkundung von Welt behindern – zusätzlich zur Vorenthaltung von Wissen durch Armut und fehlende Schulen.“ (Haug 2003: 57 – meine Hervorhebung)
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Alexina bewegt sich an der Grenze. Wenn man dies einfach nur formal nimmt, dann befindet sie sich im Kontakt ihrer inneren Möglichkeiten und zugleich gewisser äußeren Möglichkeiten, die sie beschränken oder ihr Möglichkeiten eröffenen, an der Grenze Verschiebungen vorzunehmen. Jedenfalls an der Grenze findet ein Kontakt statt, zumindest dann, wenn die Grenze als solche erfahren wird. Der Begriff des kulturellen Kontaktes bei de Alba fasst genau dieses Phänomen. Die Frage ist: Was ist Bedeutung? Was ist Sinn? Wer gibt die Bedeutung? Wer hat die Macht der Bedeutungsgebung? Wer revoltiert gegen diese Macht im Namen der Bedeutung? Wenn man in der Tradition von Frege Sinn als die situative Sichtweise auf Bedeutung fasst, dann ist die Frage radikaler zu stellen: In welchem Sinn (mit welcher Machtperspektive) wird welche Bedeutung durchgesetzt? Aber auch umgekehrt: In welchem Sinn, mit welcher revoltierenden Perspektive, wird eine Bedeutung dekonstruiert?
144 Was Willis hier im Blick hat ist das Bildungsideal des Sprachspielers, der sich aktiv und gestaltend in diese Prozesse der Bedeutungsgebung einbringt und seine Sebstverwirklichung im Rahmen solcher Bedeutungsbeziehungen verortet.
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Diese Frage aufwerfen zu können und danach zu beantworten, kennzeichnet die wesentliche Herausforderung, welche die Cultural Studies an die Pädagogik stellt.
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Mit Bezug auf das theoretische Vermächtnis der Cultural Studies schreibt Clemens Dannenbeck, „dass die entsprechenden Rezeption eines solchen Forschungsparadigmas im Kontext von Kultur und Ethnizität hierzulande noch weitgehend in den Kinderschuhen steckt.“ (Dannenbeck 2002: 17) Vgl. dazu Bauman 1992. Festgehalten werden muss aber, dass es in einem spezifischen Feld des Pädagogischen, das ursprünglich von der klassischen Heil- und Sonderpädagogik besetzt war, eine weit reichende Veränderung gegeben hat. Die aus der politischen Behindertenbewegung der 1970er Jahre hervorgegangenen Disability Studies lassen sich auch als Cultural Studies verstehen, wenn sie machttheoretische Fragen nicht nur durch die Sichtbarmachung der Herstellungsprozesse von Behinderung verstehen, sondern auch als Kategorie begreift, die als Element von Selbst- und Fremdzuweisungen zu analysieren ist. So zumindest sehen es Claudia Franziska Bruner und Clemens Dannenbeck (2002) in ihrem Aufsatz zu Disability Studies in Deutschland. Da sich dieser Diskurs jedoch erst formiert, wäre darauf zu achten, wie sich die Disability Studies innerhalb der erkenntnistheoretischen und forschungspraktischen Prämissen der Cultural Studies positionieren. Behinderung kann damit, wie auch Identität, Differenz und andere, von den Cultural Studies dekonstruierte essentialistische Kategorien, innerhalb von Verhandlungsprozessen analytisch zugänglich werden. Als übergeordnete Thematik ließe sich auf diese Weise der individuelle und institutionelle Umgang mit Heterogenität, Differenz und Identität als erziehungswissenschaftliches Forschungsfeld bestimmen. Aktuelle Beispiele aus der aktuellen Migrationsforschung im Kontext Erziehung und Schule wären diesbezüglich: Badavia 2002; Hummrich 2002. An beiden Studien ist zunächst positiv zu verzeichnen, dass sie aufstiegsorientierte Migrantenjugendliche in den Blick nehmen und damit defizitorientierte Stereotypen zurückweisen. Was jenseits einer biographisch zugänglichen Subjektkonstruktion migrantisches Leben bestimmt, bleibt hingegen ungeklärt. Kultur erscheint hier wieder als eindimensional gedachte Kultur der Anderen und nicht eingelassen in den Kontext von Kultur, Wissen und Macht. Wer zum Beispiel in einem durchschnittlichen und beliebigen deutschen Studienseminar mitbekommen hat, wie den teilweise noch theoretisch inspiriert denkenden ehemaligen Studierenden die genaue Plan- und Verfügbarkeit von Wissen bezüglich der Schülerschaft vermittelt wird, wie sie zu Lehrern „gemacht“ werden und darüber hinaus die Schule als jenseits des sozialen Raumes angesehen wird, der hat eine ungefähre Ahnung davon, wie sehr sich diese beiden Perspektiven ausschließen und wie angemessen die Kritik von Giroux ist. Die Hauptthese von Haug ist, dass die Lernverhältnisse in sozialen Kontexten und institutionellen Strukturen präformiert werden. Lernen geschieht immer in Auseinandersetzung mit diesen Strukturen. Damit erweitert sie den subjektwissenschaftlichen Zugriff von Klaus Holzkamp, indem sie Lernen als widersprüchliche Bewegung von Lernen und Verler-
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Kommentar: Norbert Meder
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D A S M E X I KA N I S C H E ERZIEHUNGSSYSTEM. H I S T O R I S C H E U N D S Y S T E M AT I S C H E A N M E R KU N G E N Z U M P R O B L E M „I N T E R KU LT U RA L I T Ä T “ Einführung Die zeitgenössische Schule und das Erziehungssystem können als Instanz der kulturellen Vermittlung zwischen den Bedeutungen, Sinngehalten und Zielen des Programms der Moderne betrachtet werden. Als Konsequenz der radikalen Veränderungen des politischen und wirtschaftlichen Gefüges auf dem Gebiet der Werte, Ideen und Gewohnheiten, welche die heutige Kultur ausmachen, werden Sinn und Charakter dieses Systems, seine soziale Funktion und die Natur pädagogischen Handelns aus unterschiedlichen Perspektiven in Frage gestellt. Es gibt verschiedene Betrachtungsweisen der aktuellen Situation der Erziehungssysteme dieser Welt. Die vorherrschende Betrachtungsweise war und ist die der neoliberalen Logik, die Erziehung als Geisel der Nationalstaaten betrachtet; ihre „Liberalisierung“ erscheint deshalb als ein Weg zur Besserung und als ein Weg des Fortschritts. Für andere wiederum markieren die aktuellen Existenzbedingungen Grenzen, die auf eine epochale Krise hinweisen, welche den Neoliberalis-
Sofern sich Schule funktional nicht primär an der Gesellschaft orientiert, sondern an der Kulturgemeinschaft, stellt sich die Frage nach der Proportion von Anpassung und Widerstreit nicht im gesellschaftlich sozialen Proporz, sondern im Hinblick darauf, wie der je Einzelne in seiner kulturellen Position das Sich-Bilden in der Korrelation von Anpassung und Geltungsnachfrage ausrichtet. Wenn man über den funktionalen Beitrag der Schule zum Ganzen der Kultur nachdenkt, dann kann er nur – auch unter dem Gesichtspunkt der Bestandserhaltung – darin bestehen, dass der Einzelne in seinem Tun, d.h. in seinen Aktionen, die objektive, ihm vorgegebene Kultur performant macht, d. h. zur subjektiven Kultur transformiert. Das geschieht empirisch sicherlich unterschiedlich. Für die nicht-statische, sondern dynamische Kulturverständnisse ist dabei das je vereinzelte und spezifische Verhältnis von Anpassung und Streit um Geltung in seiner Performanz (Aktualität) wesentlich.
150 Wenn die Orientierung an Geltung der dominante kulturelle Wert ist, dann hat die Schule den Auftrag, die Proportion von Geltungsstreit versus Anpassung in jedem Einzelnen im Namen des Fortschritts zu optimieren. Auch dies spricht dafür, dass Schule nicht ohne den Bezug auf Bildung als subjektiver Kultur zu bestimmen ist.
In die Kultur werden wir hineingeboren, in ihr wachsen wir auf und werden erzogen, um uns dann irgendwann mit ihr auseinanderzusetzen im Hinblick darauf, was richtig und falsch ist. Schule ist Bildungsanstalt. Die soziologische Perspektive auf eine Theorie der Schule verkürzt die Problematik der Schule, wenn nur sozialstrukturell auf Output und Leistung für benachbarte Teilsysteme geschaut wird. Sowohl für das gesellschaftliche Ganze als
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mus beinhaltet. Die Zerstörung der Umwelt durch den Menschen oder die wachsende weltweite Armut und deren ungleiche Verteilung, um nur einige Phänomene anzusprechen, symbolisieren das Scheitern, zumindest die Schwäche des aufklärerischen Projekts, angesichts derer die Erziehungssysteme als Unterstützer und Agenten der Aufklärung demselben Schicksal unterliegen. Einer der relevantesten Aspekte in diesem Moment der Destabilisierung findet sich in dem, was als kulturelle Interpretation des sozialen Lebens bezeichnet werden kann. Die kulturalistische Interpretation sozialen und politischen Lebens ist außerordentlich wichtig; sie ereignet sich in einer Epoche des Zeitumbruchs, einer Zeit der radikalen, tiefgreifenden, allgemeinen und schwindelerregenden Veränderungen gesellschaftlicher Identitätsformen. „Das Kulturelle ist immer allgegenwärtig als Ursprung und Zustand der Möglichkeiten und wirkt auf entscheidende Weise auf kollektives und individuelles Verhalten in der sozialen Welt ein, welches wiederum den Lauf der Geschichte beeinflusst“ (Echeverría 2001: 17).
Kultur gibt nicht die eine oder die andere Richtung vor, aber sie stattet historische Prozesse immer und in jedem Falle mit Sinn aus. Kultur besitzt in enger Interaktion mit dem Politischen und dem Wirtschaftlichen eine bedeutsame intellektuelle Kraft. Wenn die symbolischen Produkte menschlicher Interaktionen innerhalb einer sozialen Gruppe, d.h. der Gesamtheit der Bedeutungen, Erwartungen und Verhaltensmuster, Wurzeln schlagen und weiterleben, dann nur, weil sie einen gewissen Grad an Funktionalität aufweisen, um sich unter den sozialen und öko-
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nomischen Bedingungen des Umfelds zu entfalten. Hierbei ist Erziehung eine konstitutive Dimension gesellschaftlicher Funktionalität. Nun können Beziehungen zwischen kulturellen, sozialen und ökonomischen Bedingungen nicht mechanistisch gedacht werden. Auch wäre es unangemessen, die Kategorie kultureller Bildung ganz in sozialen Klassenverhältnissen aufgehen zu lassen. Im Kern geht es darum, eine theoretische Artikulation vorzunehmen, die es erlaubt, über den ökonomischen Determinismus hinaus die Konstitution zeitgenössischer Gesellschaften zu verstehen. Die Probleme, die sich auf Nationalität, ethnische Zugehörigkeit, Sprache oder Religion beziehen, besitzen, so wie Bell (1996) es anspricht, eine tieferliegende Dimension, die mit dem Problem der Ungerechtigkeit und der Gleichheit in der Produktion und Verteilung von Gütern verknüpft ist. Der Bezug auf diese artikulatorische Verknüpfung ist notwendig, um eine mechanistische Interpretation zu vermeiden. Zugleich sollte das analytische Potenzial beachtet und anerkannt werden, das der Kategorie der Klasse einen Sinn gab; die Kategorien „Bourgeoisie“ und „Proletariat“ hören nicht auf, gültig zu sein. Es wäre also unangemessen, kulturelle Phänomene auf idealistische Weise als isolierte Einheiten zu verstehen. Sie müssen auf die Konflikte sozialer Beziehungen bezogen werden; dort gewinnen sie ihre Bedeutung. Kultur und Hegemonie sind nicht Teil unterschiedlicher Sprachspiele, sondern sind in der diskursiven, sozialen, historischen Realität miteinander verflochten. Dieses Verständnis distanziert sich von essentialistischen Kategorien und verweist auf die Kontingenz, die Ungewissheit und Historizität der kategorialen
151 auch für das kulturelle Ganze hat die Schule einen Beitrag dahingehend zu leisten, dass die Einzelnen ein Verhältnis zur Welt und Gemeinschaft ausbilden, das mit den Hauptnormen der Kultur verträglich ist. Verträglich heißt hier soviel, dass das je ausgebildete Verhältnis in den allgemeinen Verständigungsprozess eingebracht werden kann.
Der Ausdruck Geltung wird hier ganz explizit gebraucht, weil er sich auf alle Bereiche der Lebenswelt bezieht. Geltung differenziert sich zu Wahrheit für alle Bereiche, wo es um die Feststellung von Tatsachen geht. Sie spezifiziert sich zu gutem Leben, wo es um das Glück aller geht. Sie spezifiziert sich in richtiges, gerechtes Handeln, wenn es um Sitten und Gebräuche, um Normen und Werte geht. Geltung heißt auch Verteilungsgerechtigkeit, wenn es um die Reproduktion des Lebens, also um das Ökonomische geht.
152 Wenn Schule als der institutionelle Ort moderner Gesellschaften gefasst werden muss, an dem die Auseinandersetzung um Geltung in allen Geltungsbereichen geht, dann kann aus dieser Auseinandersetzung nichts ausgeklammert werden. Basis und Ausgangspunkt jeder Auseinandersetzung um Geltung ist das Kulturelle. Denn die Kultur liefert den Stoff für den Widerstreit.
Geltung muss ausgehandelt werden zwischen den Neuen und Alten in der eigenen Kultur, zwischen Neuen und Alten verschiedener Kulturen, zwischen Neuen der einen Kultur und Neuen anderer Kulturen sowie zwischen Alten der einen Kultur und Alten anderer Kulturen. Schule als Ort der Geltungsbewährung im Generationenwechsel wird so zum Brenn-
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Konstruktionen von Wirklichkeit (Laclau 1993; Zizek 1996). In diesem Sinne ist der kulturelle und kulturalisierende Ansatz in der Lage, die Situation der Erziehungssysteme als Teil sozialer, politischer und ökonomischer Zusammenhänge zu verstehen. In Mexiko ist hierbei deutlich geworden, dass die mechanische Übertragung des usamerikanischen Multikulturalismus nicht angemessen ist, um interethnische Beziehungen nicht nur zu erklären, sondern auch zu demokratisieren. Die Lobpreisung „kultureller Unterschiede“ als zentrales Moment im Kampf um Rechte und Ansprüche lässt sich nicht ohne weiteres übertragen auf Gesellschaften in denen, im Gegensatz zur us-amerikanischen, das konfliktive Mestizentum die Achse der Interkulturalität darstellt (Morales 2004). In Gesellschaften, in denen das symbolische Mestizentum die kulturelle Basis bildet, ist, um interethnische Dynamiken zu verstehen, die Untersuchung jener zahlreichen Formen bedeutsam, in denen sich kulturelle Differenzen artikulieren und unzählige Varianten des Mestizentums aufweisen. Die Unterscheidung zwischen Indigenen und Mestizen oder Ursprungsvölkern und westlicher Kultur genügt nicht; auch wenn sie andererseits anerkannt werden muss, um die Beziehungen von Herrschaft und Ausschluss vom Erziehungssystem zu analysieren. In diesem Kontext ist das Interesse der vorliegenden Untersuchung angesiedelt: Es geht darum, das mexikanische Erziehungssystem als eine Einrichtung der Moderne und in seinem Verhältnis zur kulturellen Diversität des Landes zu analysieren. Ausgangspunkt ist hierbei die Diskussion der aktuellen Lebensbedingungen und die Frage, wie diese die mexika-
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nische Erziehungssysteme beeinflusst haben. Der notwendigen Reflektion der Erziehungssysteme von dem Ort aus, der der mexikanischen Region im (Sprach-)Spiel der der westlichen Moderne zurechenbaren Idee von Entwicklung zufällt, ist hierbei ein wichtiges Moment. Vor diesem Hintergrund werden in einem nächsten Schritt jene artikulativen Verknüpfungen zum Thema, welche das mexikanische Erziehungssystem seit seiner Entstehung, Entwicklung und seiner aktuellen Krise erfahren hat. Am Ende des Beitrags stehen Überlegungen, die die Bedingungen der Möglichkeiten eines mexikanischen, interkulturell pädagogischen Diskurses befragen. Die Arena des Kampfes: Die Debatte zwischen Moderne und Postmoderne In den letzten Jahren kann eine gravierende kulturelle Krise weltweiten Ausmaßes beobachtet werden. Zentrale Kennzeichen dieser Krise sind: der Niedergang des realen Sozialismus, das Wiederauftauchen politischer neokonservativer, religiös- fundamentalistischer und nationalistischer Tendenzen. Diese Geschehnisse scheinen die letzten Anzeichen jener Krise zu sein, die die Moderne als Projekt der Aufklärung endgültig problematisiert. Vom Blickwinkel postmoderner Philosophien aus resultiert die Krise aus dem Scheitern des europäischen Modells der Rationalität. Das rein rationale und fortschrittsgeleitete Modell des Westens, welches zu einer Globalisierung geführt hat, befindet sich gegenwärtig in einer grundlegenden Krise. Als ein Krisenphänomen darf in diesem Zusammenhang gewertet werden, dass sich ein mehrdeutiges kulturelles Be-
153 punkt aller Geltungskonflikte. Die Geltungsprobleme sind schulisch dann gelöst, wenn der Einzelne ein dreifaches Verhältnis ausgebildet hat, das es ihm erlaubt, an der gesamtgesellschaftlichen Kommunikation teilzuhaben. Es handelt sich um das Verhältnis des Einzelnen zu den Sachen und Sachverhalten in der Welt, zu den Anderen in der Gemeinschaft und zu sich selbst im Entwurf seiner Biografie. Dieses dreifache Verhältnis nenne ich Bildung. Die Krise, deren Artikulation die Postmoderne ist, ist die Krise der Aufklärung. Die Krise der Auklärung ist das Sichtbar-Werden der Dialektik der Aufklärung, der Negativität, die zwangsläufig in der Aufklärung enthalten ist. Die Aufklärung als Heilsbotschaft der Moderne an die ganze Menschheit entwickelte nämlich nicht nur republikanische Demokratien, rechtsstaatliche Systeme und den weltbürgrlichen Rahmen, der das friedliche Miteinander unverträglicher Kulturen ermöglicht, sondern auch den Aus-
154 schluss all derer, die sich der Aufklärung entgegensetzten bzw. die Aufklärung nicht benötigten. Von dem Philosophen Hans Radermacher kommt beispielsweise die Analyse, dass Aufklärung ein Sonderproblem christlicher Religion ist, insofern der alttestamentarische Monotheismus angesichts dessen, dass Jesus nicht nur Prophet sondern Gottes Sohn ist, in eine Trinitätstheologie transformiert werden musste. Da kulturell betrachtet das Gottessohn-Schema aus der hellenistischen Kultur kommt, hat die griechische Aufklärung fast zwangsläufig Eingang in die Religion gefunden. Damit trägt das Christentum fast schon von Anfang an den Keim der Aufklärung in sich.
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wusstsein zu entwickeln beginnt (Arriarán 2000). In diesem Rahmen ist seit einigen Jahrzehnten in verschiedenen Bereichen das Konzept der Postmoderne ein Signifikant, das nicht nur wichtige Beiträge zum Verständnis der aktuellen Realität mit sich gebracht, sondern die Krise der Moderne noch ausdehnt. Ist die Postmoderne im Hinblick auf die westliche Kultur nun ihr Ende oder ihre in Verzweiflung glückende Rettung? Diese Frage hat einen doppelten Sinn: zum einen steht „Postmoderne“ für eine Art Artikulationsraum, eine Oberfläche ontologischer, theoretischer, politischer, ethischer, kultureller Einschreibungen, von welchen aus die im Diskurs konstruierte Realität benannt und mit Sinn ausgestattet wird, kurz, Postmoderne steht für: Positionierung. Daneben bezieht sich das Zeichen auf Bedingungen der Existenz in gegenwärtigen Kontexten, beansprucht also, Zeitdiagnose und kontemporäre Kultur- und Subjektdiagnose zu sein. „Selbst wenn es die postmoderne Realität nicht geben sollte, oder wenn diese in ihrer Existenz durch die postmoderne Sicht verzerrt erscheinen sollte, so ist die Postmoderne in all ihren Vagheiten und Varianten eine Tatsache. Und die Tatsachen – so wie Lenin zu sagen pflegte – sind sehr dickköpfig“ (Sánchez Vázquez 1997: 319).
Diese doppelte Situation lässt die Vorhabe, ein Verständnis der Formen zu erlangen, in welchen sich die Diskurse über Postmoderne und die aktuellen Bedingungen der Existenz kreuzen, mit dem Ziel, die erzieherische Realität sowohl in Lateinamerika als auch speziell in Mexiko zu begreifen, zu einem
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Risiko werden. Wer über die Positionierung bezüglich der Postmoderne in Lateinamerika nachdenkt, wird zurzeit deshalb folgende Merkmale bedenken: a) den tiefen Pessimismus, der aus dem Verlassen der Moderne resultiert, dem Ende der Ideologien, der Geschichte und dem Tod des Subjekts sowie die Erneuerung der Nostalgie und des Neokonservatismus der politischen und sozialen Systeme und schließlich den wirtschaftlichen Neoliberalismus in der Region. b) die intensive Kritik an einem sozialen System, die weit davon entfernt ist, mit der expansionistischen Logik des modernen Marxismus zu brechen, eröffnet eine dritte Phase dieser Expansion, in der keine Enklaven – sei es nun im Hinblick auf Kunst, Natur, Unterbewusstsein, Natur oder Dritte Welt – implementiert sind. Es bleibt mithin zu sagen, dass Lateinamerika weiterhin die Peripherie der westlichen Welt und ihren Produktionsbeziehungen darstellt und ein Ausbrechen aus diesem Verhältnis erscheint nur möglich, wenn das sozialistische Projekt vollendet wird. c) eine Tendenz, die man als progressiv bezeichnen könnte, da sie sich den Bemühungen eines politischen Programms der Neuen Linken verschrieben hat und sich von den praktischen und theoretischen Formen traditioneller, orthodoxer oder dogmatischer marxistischer Bewegungen abwendet (Arriarán 2000:23), wodurch weitere Phänomene der Interpellationen in den Blick kommen (Torfing 1998). Der Reduktionismus des strukturellen Marxismus kann nicht jene Identitätsprozesse berücksichtigen, die nicht allein an die Kategorie der sozialen Klasse geknüpft sind;. Wenn mit Laclau und
155 Der immanente Druck der Aufklärung eines letztlich nicht Aufklärbaren innerhalb der christlichen Religion hat sich dann in alle anderen kulturellen Bereich fortgepflanzt und schließlich zu der Aufklärung des 17. und 18. Jahrhunderts geführt. Die damit einhergehende Säkularisierung ist möglicherweise gar nicht in erster Linie die Säkularisierung christlicher Begriffe und Motive, sondern die Säkularisierung der religiösen Aufklärung selbst. Sie wird zur weltlichen Aufklärung. Plötzlich soll nicht mehr die Theologie aufklären, sondern die Mathematik und Physik. Nicht der Priester muss im Rahmen der Theologie aufklären und das wahre Wissen verkünden, sondern der Pädagoge, indem er Physik, Mathematik, Ethik und Moral erklärt. Meine Deutung der postmodernen Krise ist die, dass die Säkularisierung der innerchristlichen Aufklärung in eine wissenschaftliche und pädagogische Aufklärung gescheitert ist. Wenn Aufklärung – mit Wurzeln in der griechischen Philosophie – ein Denkstil ist, der, wenn er aus dem Religiösen
156 ins Weltliche transformiert wird, alle Problemkomponenten des Christlichen mitschleppt, dann kann sie nur scheitern. Denn das Absolute lässt sich nicht rational – weder in Wissenschaft noch in Pädagogik verweltlichen. Die Postmoderne setzt den noch so kleinen Unterschied ins Zentrum des Interesses und verabschiedet sich vom modernen Fokus der Einheit, der Rationalität als Einheitsprinzip und von der Hoffnung, Gesellschaft auf das Telos des guten Lebens hin gestalten zu können. Damit reagiert die Postmoderne auf das Scheitern der säkularen Aufklärung, das schon Adorno diagnostiziert hat. Indem das postmoderne Denken in den südamerikanischen Diskurs eindringt, verändert sich kontextbedingt der Fokus. Für Mexiko scheitert das Projekt der Moderne nicht daran, dass Mexiko in seiner Modernisierung gescheitert ist, sondern daran, dass der Westen gescheitert ist, und ein wichtiger Baustein des Scheiterns die Nicht-Anerkennung der Modernisierung Mexikos war.
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Mouffle (1987) Hegemonie als diskursive Artikulation sozialer Identität verstanden wird, wird die kontingente Konstruktion der Subjektivität ersichtlich. Das mexikanische Erziehungssystem: Mythen der mexikanischen Moderne Das Wort „Postmoderne“, so wie es in Lateinamerika benutzt wird, problematisiert die auf europäischen und us-amerikanischen Begriffen basierende Konstruktion der Moderne, die auf dem Paradigma des Fortschritts und der Vernunft, des politischen und sozialen Determinismus und einer verschulten und genormten Pädagogik aufbaut. Denn ein solches Modell berücksichtigt nicht die Peripherie als Kondition der Moderne und leugnet, dass die Beziehung zwischen Zentrum und Peripherie ein internes Verhältnis darstellt. Die Vorstellung muss zurück gewiesen werden, dass in Lateinamerika die Moderne noch nicht ihre Blütezeit erreicht hat oder dass sie nur in einigen Bereichen der Gesellschaft Eingang gefunden hat. Armut, Abhängigkeit, Unterentwicklung sind Produktionsbedingungen der Moderne. Die Moderne in Lateinamerika ist kein noch zu erreichendes Ziel, sondern durch eine spezifische Einbeziehung in die internationale Einteilung von Arbeit, Reichtum und Kultur bereist realisiert. Insgesamt haben die lateinamerikanischen Erziehungssysteme verschiedene Entwicklungsgrade erreicht. Der Versuch, mittels öffentlicher Anweisung eine hegemoniale erzieherische Kraft zu formen, ist eine der Säulen der modernen erzieherischen Konzeption gewesen und äußerte sich in ver-
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schiedenen Formen der Beziehung zwischen erzieherischem System und Gesellschaft. Das napoleonische Gründermodell, das die Basis des modernen Erziehungswesens ist, hat sich auf vielseitige Weise mit kulturellen, politischen und pädagogischen Elementen lokaler Kontexte Lateinamerikas kombiniert. Die vollständige Entwicklung der von den lateinamerikanischen Liberalen des 19. Jahrhunderts ersonnenen Systeme ist aber eine Utopie geblieben. In politisch-pädagogischer Hinsicht haben sie sich sehr ungleich entwickelt und haben das Ziel der Homogenisierung der lateinamerikanischen Gesellschaften mittels öffentlicher Anweisung nicht erfüllen können. Statt Homogenisierung resultierte aus den pädagogischen Bemühungen eher eine Reproduktion ökonomischer und sozialer Ungleichheiten (Puiggrós 1995: 180). Somit ergibt sich eine Situation, für die zwei ausschließende Lesarten möglich sind: Wenn dem Erziehungssystemen eine homogenisierende Funktion im Dienste des Programms der Moderne zukommt, bleibt seine Logik anderen kulturellen Projekten und Diskursen gegenüber verschlossen. Auf der anderen Seite ist es möglich, von einer Inkommensurabilität, in den Worten von Villoro (1993: 43), zwischen den Weltenfiguren auszugehen, zwischen denen Prozesse des kulturellen Kontaktes ein fruchtbares Element für das Verständnis der Risse des Erziehungssystems darstellen – hier kommt das Paradigma Interkulturalität ins Spiel. Auch wenn die mesoamerikanische Kultur 1 formale Erziehungsräume aufwies, in welchen Krieger, Astronomen und Anführer sich die Kenntnisse aneigneten, die für den Erhalt der theokratischen Strukturen und die
157 Sofern das westliche Projekt der Aufklärung als wichtigsten Baustein die Etablierung des Erziehungssystems hatte, können die Bemühungen Mexikos um die Etablierung eines nationalen Erziehungssystems als der Versuch einer mexikanischen Modernisierung und Aufklärung verstanden werden.
Dabei haben die südamerikanischen Aufklärungstendenzen und damit auch die Institutionalisierung der Bildung eine ungleich komplexere und schwierigere Ausgangslage gehabt. Das, was hier Homogenisierung als Funktion des Erziehungssystems genannt wird, gab es im Ausgang der westlichen Aufklärung im 18. Jahrhundert nicht. Die Funktion des Erziehungssystems war im europäischen Kontext eigentlich nur eine, den Generationenwechsel so zu gestalten, dass er der Idee des bürgerlichen Standes germäß war.
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Anders im südamerikanischen Kontext. Hier verband sich mit dem Generationenproblem das der heterogenen kulturellen Herkunft und das Problem, dass eine kulturelle Prägung – nämlich die westliche
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Expansion der großen Imperien erforderlich war (Varese 1982), begann die systematische Erziehung für Indigene in Neuspanien erst während der Kolonialzeit. Die „Erfindung“ des Indios und die Handhabe dieser Erfindung als westliche Repräsentation der Differenz sind kennzeichnend für diese Epoche. Im 16. und 17. Jahrhundert koexistierten zwei paradoxe, aber einander ergänzende Visionen. Auf der einen Seite entfaltete die koloniale Administration an vielen Orten des aktuellen mexikanischen Territoriums eine Politik der sozialen Segregation. Gegründet auf rassistischen Stigmata und hierarchischen Systemen, welche bestimmte biologische, somatische und genetische Attribute mit moralischen, ästhetischen und intellektuellen Eigenschaften spezifischer Ethnien in Beziehung setzten, identifizierten die Kolonisatoren sich mehrheitlich mit der überlegenen „Rasse“ und nahmen die kolonisierten Indios als unterlegen war. Auf der anderen Seite bemühten sich katholische Missionare darum, den Katholizismus und die spanische Sprache zu verbreiten, überzeugt von den Fähigkeiten der anderen „Rasse“, sich neue kulturelle Werte bezüglich Besitz, Arbeit, dem Gebrauch von Geld und des guten sittlichen Benehmens anzueignen (Gómez Izquierdo 2000). Die religiösen Gebote entfalteten als Konsequenz dessen systematische an die Indios gerichtete erzieherische Handlungen. Die kirchlichen Schulen, die Priesterseminare und de Prozess der der Evangelisierung und die Verbreitung der spanischen Sprache zielten eher auf die Bildung neuer lokaler und regionaler Identitäten als auf deren Eliminierung ab (Molina 1999; Pérez Rivero 1997).
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Dennoch war der Prozess der religiösen Konvertierung insgesamt nicht erfolgreich. Obwohl die Mönche, Vizekönige und kolonialen Autoritäten gegen die Gültigkeit der alten Kulte kämpften und als solche die Götzenanbetung, einschließlich der Wahrsagerei, dem Aberglauben und der Enthauptung von Neugeborenen und dem Verzehr ihres Fleisches benannten und empfahlen, diejenigen, die sie praktizierten, der Autorität der Inquisition zu überantworten, simulierten die Indigenen der abgelegenen Regionen ihre Konvertierung zum Katholizismus ,hielten aber ihre alten Kulte dennoch lebendig (de la Fuente 1977). Auch half die religiöse Konvertierung den indianischen Völkern dabei, Handel betreiben zu können und die kommunale Kontrolle über ihre Territorien in den kolonialen Steuerbehörden, den Geschäftsverteilungen und den früheren Heeresverwaltungen aufrechtzuerhalten (Cruz 1990). Die relative Autonomie der indianischen Völker wurde weiterhin ebenfalls begünstigt durch das Verbot der Mischung der Kasten, welches die Bewahrung von den der Kolonisatoren abweichenden kulturellen Konzeptionen ermöglichte (Bertely 1996). Der Mythos der Gleichheit Im 19. Jahrhundert hatte der Unabhängigkeitskrieg die Abschaffung der Indianergesetze zur Folge und hatte die sich sprachlich und kulturell unterscheidenden Völker mit Rechten, Pflichten und einem legalen Staus ausgestattet. Die Konflikte zwischen liberalen und konservativen Strömungen, welche von ersten Bemühungen um eine Konsolidierung des mexikanischen Nationalstaates motiviert waren, markierten neue Prioritäten und eine bedeutende Wende in
159 – auch noch die Herrschaft beanspruchte bzw. innehatte. Es kam also zur Generationendifferenz nicht nur die kulturelle Differenz hinzu, sondern auch noch die politische Differenz der Herrschaft. Das ist im Namen der Homogenisierung ein schier unlösbares Problem. Da das Religiöse einen Kernbereich des Kulturellen ausmacht, macht auch das Scheitern der religiösen Homogenisierung das Scheitern der gesamtkulturellen Homogenisierung aus. Dabei spielt es keine Rolle, ob man die Strategie segmentaler Autonomie oder die der Integration in einen Funktionsbereich der Gesellschaft favorisiert. Die Ausgangslage für ein Erziehungssystem ist einfach als Verschränkung dreier Differenzen zu komplex, als dass es sozialstrukturell gelöst werden könnte. Wenn Schule als Teil des Bildungssystems Differenz leugnet – ganz gleich welcher Art die Differenz ist – dann verfehlt sie ihre Funktion, die sie in modernen Gesellschaften hat.
160 Ich nehme erneut das Motiv der Auseinandersetzung um Geltung auf. In ihr muss der Nationalstaat eine Balance von politischer Form und Kultur finden. Wenn er eine solche Balance nicht findet, bleibt letztlich nur politische Unterdrückung und wirtschaftliche Ausbeutung übrig – und die Gewalt der Unterdrückten. In multikulturellen Gesellschaften, wie es mittlerweile ja auch die Bundesrepublik Deutschland ist, muss die kulturelle Differenz in den pädagogischen Prozess der Auseinandersetzung aufgenommen werden. Wo dies nicht geschieht, kommt es zu Gewalt. Die Schule kann die politischen und wirtschaftlichen Probleme nicht lösen, auch wenn dies in einer Art der Verschleierung der eigentlichen Ursachen vom Staat gefordert wird. Schule darf aber auch nicht das Gegenteil tun und sozialstrukturelle Herrschaftsverhältnisse reproduzieren. Auf der Grundlage der Auseinandersetzung muss Schule die Heranwachsenden in die Lage versetzen, sich selbst in der Gesellschaft zu verorten.
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der Geschichte der Erziehung für Indigene. Auch wenn den Mitgliedern der restaurierten Republik die Wichtigkeit einer Erziehung der Indigenen 2 nicht entgangen war, lag ihre Ambition eher darin, sie „aus den Krallen der Kirche zu entreißen“, wofür die Schule den Weg – Institution der Befreiung und zugleich der Aufnahme in das Projekt liberalen Fortschritts – markierte. „Sie wissen nichts und taugen lediglich als Arbeiter oder Soldaten; diejenigen die aus ihresgleichen herausragen, bilden die Ausnahme. Ihre Erinnerungen sind im Widerspruch zur Gegenwart, ihre Bräuche sind bescheiden, ihre Bedürfnisse spärlich, ihre Sprachen erzeugen Isolation [...], um auf sie als Bürger zählen zu können, müssen wir damit beginnen sie zu Menschen zu machen“ (Díaz Covarrubias 1857: 141). Hier kann man sehr klar sehen, dass die Aufnahme des Indios in den Diskurs der liberalen Pädagogik sein symbolisches Verschwinden bedeutete, um ihn mittels Erziehung dem Fortschritt anzugleichen. „Die Indigenen sollten sich selber kennen lernen und einen exakten Begriff haben von all dem, was um sie herum geschieht, nicht als Weise, sondern als für ihre Handlungen verantwortliche Menschen und als Mitglieder einer befreienden und erhabenen Gesellschaft“ (Díaz Covarrubias 1857: 142). Die ethnische Diskriminierung über das Rassekonstrukt und über die kolonisatorische Annahme von der Unterlegenheit „des Anderen“ hielt eine westliche Sicht von anderen Formen der Wirklichkeitskonstruktion aufrecht. Linguistische und kulturelle Diversität wurde im Zeichen des aufgeklärten Bürgertums symbolisiert und der Begriff des Indios aus den offiziellen Dokumenten
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von 1824 bis 1917 getilgt. Die „moderne Pädagogik“ war eine symbolische Eliminierung der indigenen Gemeinschaften. José María Luis Mora, einer der führenden liberalen Ideologen dieser Reform bestand darauf, dass in der mexikanischen Gesellschaft allein ökonomische Unterschiede anzuerkennen seien und das Wort Indio aus der Amtsprache gestrichen werden und folglich per Gesetz die Inexistenz der Indios verkündet werden solle. 3 Die spezielle Artikulation, die sich zwischen der liberalen Bourgeoisie und den ihres Landes enteigneten Massen an Indigenen und Mestizen produzierte, äußerte sich in einem politischen ideologischen Block. Im Reformkrieg brach dieser die Basis der wirtschaftlichen Macht des konservativen geistlichen Blocks. Assimilierung als eine artikulatorische Fähigkeit des kreolischen, mestizischen und indianischen Diskurses ist eine Dimension, die zu besagtem Bruch beitrug. Mit den Gesetzen der Reform versuchten die Liberalen, die ganze Macht des Klerus zu zerstören und errichteten einen unerschütterlichen Glauben in die transformatorische Tugend der Erziehung, um so auch die spirituelle Macht der Institution zu zerbrechen. Die Anweisung ist „die erste Basis des Wohlstands eines Volkes und zugleich das Mittel, um Machtmissbrauch unmöglich zu machen“ (Martínez Della Rocca 1983: 51). Die theoretischen Konzeptionen einer freien Bildung verboten es den Liberalen, sich als neue Monopolisten der Erziehung darzustellen, obgleich sie vorausahnten, dass ihre Kämpfe für eine kulturelle und ideologische Hegemonie dadurch behindert würden. Die Eliminierung des Begriffs Indio ist eine Operation der Inklusion und der Exklusion
161 Bildung vollzieht sich in der Dialektik von Freiheit und Zwang, vollzieht sich als „Sichbilden“ und „das-Leben-bildet“. Nur über diese Dialektik, die immer wieder zu neuen Proportionen von Freiheit und Zwang führt, entsteht die Dynamik moderner Gesellschaften. Der moderne Staat muss diese Dynamik im Namen der Wirtschaft ( des Kapitalismus ) garantieren. Deshalb muss er einerseits für Schulen sorgen, sich aber andererseits aus dem schulischen Leben heraushalten, weil es sonst nicht zu dem freien Spiel in der Korrelation von Sichbestimmen und Bestimmt-werden kommt. Das hat Humboldt schon so gesehen. Bildung im deutschsprachigen Verständnis hat immer auch ein anarchistisches Moment. Es ist gesellschaftlich falsch, den Schulauftrag auf verwertbare Kompetenzen zu reduzieren. Am Ende der Schule muss auch ein Einzelner (als gesellschaftliche Performanz) herauskommen, der sich in der gegebenen gesellschaftlichen Welt und
162 in der gegebenen kulturellen Gemeinschaft so bestimmt, dass er über richtig und falsch für sich entscheiden und diese Entscheidung in den Geltungsdiskurs einbringen kann. Dies ist mehr als Funktionieren in der Gesellschaft, weil der Geltungsdiskurs über dem Funktionieren steht und über ihm stehen muss, weil sonst keine Veränderung – mithin keine Innovation – möglich ist. Für die Erhaltung des Gesellschaftssystems mag es sein, dass zu viel „Geltungsquerulanten“ den Betrieb stören. Aber das gänzliche Fehlen derselben bedeutet Stagnation.
Für die Funktionsbestimmung des Bildungssystems, insbesondere des Schulsystems, bedeutet dies, dass es nicht um ein Entweder-Oder von Verwertung/Anpassung auf der einen Seite und Geltung/Widerstreit auf der anderen Seite geht, sondern um das soziale Optimum im Verhältnis von Anpassung und Widerstreit.
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der ethnischen Diversität des Landes, für die die Prämisse einer Gleichheit kennzeichnend ist, die mittels der Kontrolle und der Festschreibung des Lehrplans andere soziale Zusammenhänge ausradiert (wobei Lehrplan verstanden werden kann als „die Synthese der kulturellen Elemente (Kenntnisse, Werte, Gewohnheiten, Glaubensinhalte, Bräuche) welche einen politisch- erzieherischen Vorschlag bilden, erdacht und angestoßen von diversen Gruppen und sozialen Zusammenhängen, deren Interessen unterschiedlich und widersprüchlich sind, wenn auch einige dazu tendieren, dominant zu sein, und andere, sich dieser Dominierung zu widersetzen“ [de Alba 1991: 86]). Zusammengefasst radiert der Mythos der Gleichheit die kulturelle Diversität aus und hegemonisiert mittels liberaler Konzeption von Bildung den bürgerlichen Charakter der Erziehung. Dieser Umstand ist von großer Bedeutung, weil das Projekt des Nationalstaates die Figur des Indios als störend für den Fortschritt ansah, eine Ansicht, die der Diskurs der liberalen Pädagogik mit dem Zeichen Signifikant der Gleichheit zu symbolisieren suchte. Neben dem Interesse an der Konsolidierung eines starken und souveränen Nationalstaates kam das Bestreben hinzu, die Industrialisierung des Landes voranzutreiben; ein Ziel welches wichtiger schien als die Erhöhung der Anzahl der Schulen. Während seiner Diktatur (1877-1880, 1884-1910) modernisierte und vergrößerte General Porfírio Díaz (inspiriert vom sozialen Positivismus von Comte, in Mexiko entwickelt von Gabino Barreda) das Eisenbahnnetz, die Bergbauindustrie, die Manufaktur und die Mais- und Kaffeeplantagen mit der Absicht,
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ausländische und interne Investitionen zu begünstigen. Trotz der Intensivierung der wirtschaftlichen Beziehungen, dem gestiegen Bedarf nach spezialisierten Aktivitäten und der Entwicklung von Mechanismen differentieller Akkumulation fuhren die indigenen Bewohner damit fort, den ägyptischen Pflug zu verwenden, um die Menge Mais zu säen, die den unmittelbaren Bedarf zum Leben deckte, sie unterhielten Weiden mit Vieh und erhielten ihre traditionellen Lebens-, Konsum- und Handelsformen aufrecht. Damit das Volk Zugang zum Fortschritt findet und sein intellektuelles, moralisches und ästhetisches Niveau hebt, sei es, so eine vorherrschende Meinung, notwendig, die Schulen zu hierarchisieren, zu differenzieren und in Klassen zu unterteilen. So wurden zum Beispiel in einer Einheit mit einer hohen indigenen Zusammensetzung wie Oaxaca die Vorschulen und die Primarstufe der ersten Klasse gegründet, die höheren Schule, die aufbauenden Schulen, das Institut für Wissenschaften und Künste in der Hauptstadt des Staates sowie die Primarstufen der zweiten und dritten Klassen in den weiter entfernten und peripheren Regionen (Berteley 1998). In Fällen wie diesen stimmten die politischen Führer, die Mitglieder der Ausschüsse und die Lehrer darin überein, dass die Schulen ihrer Wichtigkeit nach klassifiziert werden sollten: vom Zentrum hin zur Peripherie. Die Unterschiede zwischen den Schulen bezüglich der Qualität der Gebäude, der Geräumigkeit und Anzahl der Räume, der Beratung, der Belüftung, den hygienischen Konditionen etc. hingen mit der geographischen Lage der Schule zusammen. Die Schulen der Hauptstädte und diejenigen, die in
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Die indigene Kultur hat an der Geltung des wirtschaftlichen Prinzips vom Gebrauchswert festgehalten und sich nicht auf das kapitalistische Prinzip des Tauschwertes eingelassen. Aus hegemonialwestlicher Sicht haben sie sich der Aufklärung entzogen, und die Aufklärungspolitik hat sie ausgesondert, exkludiert. Die sogenannte Aufklärung reagiert darauf mit einem Schulsystem, das sozial differenziert und mindestens partiell ausschließt.
Wenn ein Schulsystem sich zu einem rein politischen Instrument der Reproduktion von sozialer Ungleichheit zum Zwecke der Erhaltung von Herrschaft entwickelt, dann ist es keine pädagogische Institution, kein Bildungssystem im modernen Sinne mehr.
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den näherliegenden Stadtbezirken lagen, konnten mit den besten materiellen Bedingungen für die Lehre rechnen. In den Anfängen der Institutionalisierung des Erziehungssystems wurde dieses als differentiell ausschließendes und elitäres System etabliert. Das staatliche Erziehungssystem expandierte, aber aufgrund des oligarchischen Modells, welches die dominanten Klassen begünstigt, zeichnet es das Muster für den Ausschluss anderer sozialer Gruppen. Das politische erzieherische Projekt dieser Ära konsolidiert den monokulturellen und monolingualen Charakter des Systems. Auf diese Weise schränkten Prozesse der Erweiterung des Erziehungswesens paradoxer Weise die Einbeziehung anderer sozialen Gruppen ein. Der Mythos des Mestizentums
Der kulturelle Prozess der Vermischung kann dann angemessen analysiert werden, wenn man strukturell bestimmtes Begriffsinventar besitzt, das die Analyse systematisch macht. Vor diesem Hintergrund schlage ich folgenden Kulturbegriff vor:
Der Prozess des Mestizentums in Mexiko ist, sowohl in der Kolonialzeit als auch im 19. und 20. Jahrhundert, ein fundamentaler Teil der Geschichte von Herrschaft. Er enthält zwei voneinander untrennbare Aspekte: Die genetische Mischung zwischen Spaniern, Indigenen und von den Spaniern versklavten Afrikanern und die Mischung der Kulturen. Das Symbolische besitzt einen bivalenten Charakter, da es eine genetische Relation gibt, die aber ihrem Hintergrund nach eine symbolische Vermischung ist. Das Kulturelle und die Natur weisen keine explizite Trennung voneinander auf. Es ist bekannt, dass der Tod eines Großteils der indigenen Bevölkerung eine breite genetische Vermischung unmöglich machte, und dennoch bringt die kulturelle Mischung die Metapher des Mestizentums hervor und
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spiegelt sich in den Praktiken der zeitgenössischen mexikanischen Gesellschaft wider. Nun konservierte die kulturelle Sphäre der Mestizen und auch der Kolonialisten viele kulturelle Züge der indigenen Welt und versuchte zugleich, so viel wie möglich die europäische dominante Kultur zu imitieren. Während des 17. und 18. Jahrhunderts stellten die Mestizen eine wichtige Präsenz als freie Arbeitskraft in den wirtschaftlich dynamischsten Zonen dar: In den Städten, den Minen und auf den Plantagen. Nach und nach tauchte die Ideologie des Mestizentums im 19. Jahrhundert als der Anspruch einer bisher untergeordneten, sich nun in vollem Aufstieg befindenden Gruppe dar und immer mehr setzte sich der Begriff der Mexikanität als eine Identität durch, die der indigenen und europäischen entgegengesetzt war. Der doppelte Gegensatz trägt dynamische Bedeutungen in sich. Auf der einen Seite wurden in der Ideologie des Mestizentums die Europäer als Kolonialisten und Invasoren abgelehnt, dennoch sahen sie Europa als die Wiege der Zivilisation und des Fortschritts und als ein erstrebenswertes Modell an. Die Indios wurden aufgrund ihrer regionalen Verbundenheit, ihrer vermeintlichen Passivität und ihrer Armut abgelehnt; zugleich jedoch wurde die prähispanische Vergangenheit als Quelle nationalistischer Symbole und als Möglichkeit einer eigenen Geschichte glorifiziert, die nicht nur eine eifrige Imitation der europäischen oder nordamerikanischen Geschichte darstellte. Die Ideologie, welche Mexikanität, Freiheit und Fortschritt mit Mestizentum gleichsetzte, war den unabhängigen, reformistischen, revolutionären und potsrevolutionären Regierungen von großem Nutzen. Der Fluss
165 Kultur ist das dreifache Verhältnis einer menschlichen Gemeinschaft zu den Sachen und Sachverhalten in der Welt; zu den Anderen in der Gemeinschaft; zu sich selbst als Kontinuität der Gemeinschaft. Diese dreifach relationale Struktur kann als die Elementargrammatik – in Anlehnung an Wittgenstein – des Kulturellen aufgefasst werden. Als eine solche Grammatik ist sie analytisch für Forschung, die Qerschnittsanalysen zum Bestand einer Kultur machen will, als auch für Forschungen zu kulturellen Prozessen unter dem Gesichtspunkt der Veränderung. Da Kultur als symbolischer Raum heute auch unter dem Gesichtspunkt der Differance nach Derrida betrachtet werden muss, sind kulturelle Prozeese immer Veränderungsprozesse. Prozesse ereignen sich in Raum und Zeit. Das heißt: die dreifache Relationsstruktur muss als Vollzug, als soziale Performanz der Gemeinschaft in den Blick genommen werden.
166 Bei kulturellen Vermischungen überlagern sich mehrere solcher dreifacher Relationsstrukturen. Im Beispiel von Mexiko sind es mindestens die drei folgenden: indigene, spanische und afrikanische R e l a t i o n s s t r u k t u r. Wenn sich aus solcher Vermischung eine neue Kultur entwickelt, dann entsteht eine neue Gemeinschaft – sei es als Vereinigung aller vorgängigen Gemeinschaften, sei es als eine Art Durchschnitt aller Gemeinschaften. Im Entstehungsprozess wird die dreifache Relationsstruktur zur Performanz einer dreifachen Korrelation: 1. im Weltverhältnis erzeugen sich symbolisch Gemeinschaft und Sachverhalte, 2. in der Gemeinschaft erzeugen sich symbolisch Gemeinschaft und das Anderssein in der Gemeinschaft, 3. in der Kontinuität der Gemeinschaft erzeugen sich symbolisch der Kern der Gemeinschaft und ihr Prozess in der Zeit. Dieser korrelative Erzeugungsprozess geschieht als Selektion und Neuverweisung von Symbolen der vorgängigen Kulturen. Kommt es nicht zu einer vollständigen Ver-
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von Bedeutungen des Mestizentums verfestigte sich, als er sich in einen nationalistischen Mythos verwandelte, d.h. in eine Totalität von Kategorien, Glaubensinhalten und Symbolen, artikuliert in einer kohärenten Literatur, welche den Ursprung und das unvermeidliche Schicksal der Nation darlegte. Diese Literatur konstituierte sich zunächst als „neuer histographischer Kanon“, der versuchte, einen ursprünglichen und einzigartigen Werdegang des mexikanischen Volkes zu definieren, gezeichnet vom Auftauchen der ersten prähispanischen Herrschaften bis hin zum Triumph der liberalen Republik: eine „Heimatgeschichte“. Der Begriff des Mestizentums setzte sich in seiner Bedeutung somit neu zusammen. Er bezeichnete nicht mehr das blinde Resultat einer biologischen Vermischung, sondern den Höhepunkt eines teleologischen Prozesses der „Verbesserung“, der darüber hinaus die Schöpfung einer neuen Kultur mit sich brachte. Diese „Verbesserungs“-Maxime beeinflusste das erzieherische System. Im Jahre 1921 eröffnete die Regierung des revolutionären Generals Álvaro Obregón das Ministerium für Öffentliche Erziehung. Dieses neue Ministerium war der Idee verpflichtet, Schulen auf das Land zu verteilen und die Indigenen in der spanischen Sprache zu unterweisen. Ziel war es, eine kreative Kultur hervorzubringen, die den europäischen und mesoamerikanischen Wurzeln einerseits die Treue hielt und zugleich aber in Malerei, Architektur und Denken eine neue Synthese erreichen sollte. José Vasconselos, erster Minister für Öffentliche Erziehung, schrieb „Die kosmische Rasse“ (1925), das den Mythos des Mestizentums zum Rang des universalen Schicksals der
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Menschheit emporhob. Die Kraft der Mythen speist sich aus der unbewussten Einschreibung in die kollektive Imagination einer Gesellschaft. Dieser Einschreibungsprozess ist dafür verantwortlich, dass sich das Mestizentum, zumindest für die politischen Eliten und zahlreiche urbane Sektoren, in eine „natürliche“ Kategorie wandelte, in der die Zukunft des Landes erdacht und seine Gegenwart ausgewertet wurde (de la Peña 2002). Die Notwendigkeit, das Erziehungssystem zu vereinheitlichen, wurde zur vorrangigen Aufgabe. Moisés Sáenz, vierter Erziehungsminister, war der Knotenpunkt in der Konsolidierung und Entwicklung des mexikanischen postrevolutionären Erziehungssystems. Er widmete sich der Aufgabe, die unterschiedlichen ministeriellen Programme zu integrieren, deren Ziel letztendlich die Schaffung mexikanischer Nationalität sein sollte. Das Bestehen kultureller und „rassischer“ Unterschiede sollte durch das Mestizentum ersetzt werden. Die Kraft dieser auf einem Mythos gründenden Idee führte dazu, dass sich ihre Ideale auf dem Feld moderner Erziehung durchsetzten. Im „Haus des indigenen Studenten“ (La Casa del Estudiante Indígena), gegründet von Sáenz in der Hauptstadt der Republik, wurde die Integration des Indios in den Mythos der Revolution realisiert, indem aufgezeigt wurde, dass diese trotz ihres „rassischen“ Unterschieds zu den Europäern die evolutionäre Distanz, die sie von der westlichen Zivilisation trennte, durch den Besuch und die Erfahrungen in einer pädagogischen Einrichtung überwinden konnten. Die wenigen Internatsschüler, die die prekären institutionellen Bedingungen ertrugen und den
167 einigung der vorgängigen Symboliken, dann wird aus dem NichtSelektierten das Fremde, auch wenn es subjektiv noch verstanden wird.
Interessant an der mexikanischen Geschichte – aus Sicht eines Euro-
168 päers – ist, dass dort eine historische Situation aufkommt, in der gewisse Kreise der Gesellschaft die kulturelle Vermischung und die damit verbundenen Konstruktion einer neuen Kulturgemeinschaft zum Programm macht. Dass damit auch die Dekonstruktion vorgängiger Kulturgemeinschaften einhergeht, macht die Sache nur noch spannender.
Das, was man heute Europa oder europäische Kultur nennt und möglicherweise aus mexikanischer Sicht als eine Einheit sieht, ist selbst eine kulturelle Vermischung höchst heterogener Art. Sie ist die Vermischung römischer und germanischer Kultur, die urwüchsig in einer Zeit von 1000jähriger Geschichte entstand. Im Verlauf dieser kulturellen Vermischung kam es noch zu entscheidenden Einflüssen der arabischen Kultur in einer Zeitspanne von mindestens 300 Jahren. Ohne diese Vermischungen ist das heutige Europa, ja sogar
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Konflikt, eine Schule zu besuchen, die an die mestizischen und kreolischen Bevölkerung gerichtet war, akkulturierten sich, integrierten sich in das städtische Leben, ohne Zweifel daran zu hegen, dass eine Rückkehr in ihre Gemeinschaft der größte Fehler wäre. Die Abwesenheit einer sozialen und kulturellen Einheit stellte für Sáenz das größte Problem Mexikos dar. So wurde die Integration der Indigenen und die des ländlichen Milieus im Allgemeinen sein Hauptanliegen, auf das er all seine Bemühungen richtete. Im Diskurs von Sáenz sollten diese Einrichtungen Einfluss auf die Bereiche Wirtschaft, Gesundheit, Erziehung und Unterhaltung haben und den Indio, seine Sprache und seine Kultur der nationalen Gemeinschaft unterordnen und in einer neu erfundenen, ländlichen Klasse zusammenfassen. Das Vorherrschen der Kategorie der Klasse als einer rein ökonomisch verstandenen Einheit und das Leugnen der Existenz des Indios in Mexiko macht deutlich, dass der Ausdruck arm mit dem des Indios eine Äquivalenz bildet, die bis heute gültig ist. Auf dem ersten interamerikanischen indigenen Kongress, der im Jahre 1940 in Pátzcuaro stattfand, prägte Präsident Lázaro Cárdenas die Worte, welche sich zu der integrativen, unter dem Namen des Indigenismus bekannt gewordenen Politik des Staates formen sollten: „Wir wollen nicht Mexiko indianisieren, wir wollen die Indigenen mexikanisieren“. Hier lässt sich gut erkennen, dass der Mythos des Mestizentums zu einer historischen und sinnstiftenden Quelle für die indigenen Kulturen wird. Zwei Strategien sind hier signifikant: marktwirtschaftliche Integration der Indios und Beschulung der Indios, damit sie Spanisch lernen und sich Kenntnisse der
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als modern geltenden Zivilisation aneignen. Die Durchsetzung dieser Strategien erforderte eine aktive Mitarbeit derer, auf die die Strategien bezogen warten; junge Indios wurden rekrutiert, kulturelle Mittler zu zweisprachigen Lehrern ausgebildet Im Vergleich zu den Liberalen des 19. Jahrhundert setzte der Indigenismus den Mythos vom Mestizentum mit sophistischeren Methoden um, sah sich jedoch dem Widerstand der Indios gegenüber, der in vielen Fällen passiv war; die Leute schickten ihre Kinder nicht zur Schule, schenkten den Überzeugungsversuchen der Funktionäre keinerlei Beachtung oder ersetzten ihre Verwaltungssysteme nicht durch das städtische System der Republik. Während der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts begann die Institutionalisierung des Indigenismus auf erzieherischem Gebiet mit der Gründung des „Allgemeinen Direktorats für Außerschulische Erziehung im Indigenen Milieu“, welches die nationalen Dienste kultureller Mittler und zweisprachiger Lehrer vorantrieb. Auf diese Weise manifestierte sich der erzieherische Diskurs zugunsten einer Erziehung für alle mit einer Politik der Revitalisierung traditioneller Formen indigener Autorität, z.B. Formen des Schmucks, der Kleidung und der Rituale der Völker, eine Art Requisitentum, welche kulturelle Praktiken folklorisierte. Zur gleichen Zeit äußerten die organisierten Lehrer die Notwendigkeit, ein spezielles Erziehungssystem zu schaffen, das den Indigenen die grundlegende, normale und universitäre Bildung zukommen lassen sollte. Dieses Moment der Entwicklung und Artikulation des Mythos des Mestizentums, der das Erziehungssystem durchzieht, kann als
169 das, was man die westliche Welt bezeichnet, nicht zu denken. Aber, wie schon gesagt: das ist urwüchsig entstanden und nicht als staatliches Programm wie in Mexiko. Eine Chance hat solch ein Programm nur, wenn es die Schule zu einem Ort macht, an dem die kulturelle Differenz anerkannt wird und ein Raum für Auseinandersetziung entsteht.
Offensichtlich hat man dies in Mexiko getan und dies ist unabhängig vom Erfolg von überaus großer Bedeutung als Phänomen kultureller Prozesse, die es zu untersuchen gilt. Wir als multikulturelles Immigrationsland können davon lernen.
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Beginn einer Praxis verstanden werden, sich kulturellen Gruppen gegenüber zu öffnen, die aufgrund ihrer kulturellen Identität ausgeschlossen und in der von der liberalen und revolutionären Erziehungspolitik geschaffenen Einheit eingeschlossen sind. Damit war eine prinzipielle Notwendigkeit in das Erziehungssystem eingelassen, Gruppen, die aufgrund ihrer Besonderheiten ausgeschlossen waren, durch die Anerkennung dieser Besonderheiten zu entsprechen. Die Krise des Mythos Die Bilingualität in Bildungssystemen wird auch derzeit in der Bundesrepublik Deutschland kontrovers diskutiert. Man sollte auch auf Erfahrungen sehen, die außerhalb gemacht wurden. Multilingualität als Idee ist jedenfalls der Versuch und vielleicht die notwendige Bedingung dafür, dass kulturelle Auseinandersetzung um Geltung stattfinden kann. Da es nur die notwendige Bedingung darstellt, bleibt der Ausgang natürlich offen.
Mit der Gründung des „Allgemeinen Direktorats Indigener Erziehung“ (Dirección General de Educación Indígena – DGEI) im Jahre 1978 als Reaktion auf den Druck, den Lehrer und Lehrerinnen sowie zweisprachige Vermittler auf das Erziehungsministerium ausgeübt hatten, wurde das bilinguale bikulturelle Modell bestätigt und legitimiert. Dieses Modell hob in seiner bilingualen Dimension die Notwendigkeit hervor: „einen Bilingualismus anzuregen, der den Wert der nativen und der spanischen Sprache gleichsetzte und außerdem den Gebrauch beider Sprachen förderte, um den wechselseitigen kulturellen Austausch zu stimulieren“ (Varese 1983).
Die linguistischen und semiotischen Studien über die Transformationen innerhalb der indigenen Sprachen führten zu interessanten Ergebnissen, die es erlaubten, in alternativer Form über eine Belebung und Erweiterung des sozialen Raums nachzudenken. In Folge dessen wurden Strategien für eine Planung entworfen, die sowohl über eine Revitalisierung der nativen Sprachen das Gefühl ethnischer Zugehörigkeit stärken, als auch über eine allgemeine Beherrschung der spani-
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schen Sprache die geographische und politische Integration in das Land fördern sollten. Im Kontrast zu der bilingualen Dimension regten die pädagogischen, soziologischen und anthropologischen Strömungen, die gegen das bikulturelle Modell opponierten, einen Diskurs an, der die Lehre ethnischer Inhalte anstoßen sollte – auf Kosten nationaler Inhalte, die als verwestlicht und mestizisch bewertet wurden. Die bikulturelle Erziehung der DGEI wies einen dichotomen Blickwinkel auf. Er nutzte die Theorie sozialer Reproduktion und symbolischer Gewalt (Bourdieu) und ebenso marxistische Thesen über Kolonialisierung, Imperialismus und Herrschaft, unter denen Schule als ideologischer Apparat des Staates erschien (Althusser 1969). Die ethnische Identität zu entkolonisieren, sie wieder mit Wert auszustatten, sie zu erhalten, Widerstand zu leisten, zu befreien und gegen die westliche Kultur zu schützen, machte eine politische Reaktion auf die Gewalt, den Sprachkonflikt und die Ausgrenzung notwendig, welcher sich die indigenen Völker in Mexiko seit jeher ausgesetzt sahen. Die Verteidigung und der Schutz der eigenen Kultur nahmen einen paradoxen Verlauf an, da dem westlichen Eurozentrismus im 19. Jahrhundert und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, welcher von dem bikulturellen Erziehungsmodell kritisiert wurde, ein Ethnozentrismus entgegengesetzt wurde, der versuchte, die Schule der „fremden“, nicht im diskursiven indigenen Universum enthaltenen Inhalte auszuschließen. Für diejenigen, die erste Vorschläge zu einem bikulturellen Curriculum entworfen hatten, war klar, dass die spanischsprachige Gesellschaft und die westliche Kultur für die
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Der offene Ausgang der Auseinandersetzung in der Schule ist für all diejenigen gefährlich, die etwas verlieren können. Das sind auf der einen Seite die Herrschenden, die ihre Herrschaft auf der kulturellen Differenz aufbauen oder sie wenigstens in ihr stabilisieren, es sind auf der anderen Seite diejenigen, die die Reinheit ihrer Kultur gefährdet sehen und erhalten wollen. Letzteres ist unabhängig davon, in welchem politischen Lager man ist.
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Offener Ausgang von Auseinandersetzungen bedeutet immer auch Kontingenz. Ausdruck dieser Kontingenz ist der nicht kontrollierbare kulturelle Kontakt als Ereignis. Ereignisse brauchen einen Raum, um stattfinden zu können. Ereignisse kann man nicht steuern, aber man kann sie verhindern, indem man ihnen keinen Raum lässt. Die mexikanische historisch kulturelle Entwicklung scheint mir von einem ständigen Kampf um den Raum zu sein, den kultureller Kontakt haben oder nicht haben darf.
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traditionelle indigenen Gesellschaft eine Bedrohung darstellten. In vielen ihrer Aussagen kreiste das bikulturelle Paradigma um die idyllische Vision der indigenen, ländlichen, harmonischen, solidarischen Gemeinschaft, die dem Fortschritt, der Zivilisation und dem konfliktiven und individualistischen Leben in der Stadt entgegengesetzt war. Beide Visionen, die der Gleichheit (Moderne) und die der Ethnizität (Ursprungsvölker), haben die Rolle des kulturellen Kontaktes wesentlich geprägt, als einen Prozess der Identifikation im Sinne einer (imaginierten) Reinheit. Die Hervorhebung der daraus resultierenden Spannung ist unumgänglich, denn Herrschaftsprozesse als Teil interethnischer Beziehungen verweisen nicht auf den deterministischen Charakter der einen oder der anderen Kultur, sondern auf Machtbeziehungen zwischen den Mitgliedern einer multikulturellen Gesellschaft wie der mexikanischen. Wenn man unter kulturellen Aspekten von einer Sackgasse des mexikanischen Erziehungssystem spricht, so lehnt dies an den kulturellen Kontakt im mexikanische Kontext an (de Alba 2002: 81): ungleich (Dominanzbeziehungen), konfliktiv (multiple Identifikationsprozesse) und produktiv (Gestaltung von Identitäten). In den letzten Jahren des vergangenen Jahrhunderts sah sich das Erziehungssystem mit einer Neuartikulation des neoliberalen Diskurses konfrontiert, die seit dem Fall des realen Sozialismus als einziges weitreichendes soziales Projekt gelten kann. In Mexiko, mit den Regierungen von Miguel de la Madrid (1982-1987) und Carlos Salinas (19881994) wurden große strukturellen Staatsre-
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formen begonnen, die auch das Erziehungssystem betreffen. Womöglich ist der relevanteste Beitrag dieser neuen Politik der, eine ökonomische Perspektive auf das System der Erziehung gerichtet zu haben. Unter dieser Perspektive zeigt sich das Erziehungssystem weder als effizient noch als ausreichend leistungsfähig. Dass das mexikanische Erziehungssystem nicht angemessen die Forderungen des neoliberalen Modells erfüllte, war – so unsere Auffassung – darauf zurückzuführen, das die kulturelle Dimension fehlte. Die neoliberalen Veränderungen im Bereich der Erziehung bezüglich der Indigenen führten zu kompensatorischen Programmen. So zum Beispiel zu dem Programm für Bildungsvernachlässigte (Programa para el Rezago Educativo – PARE), welches die prekären Bedingungen aufzeigte, unter denen die in den ländlichen und indigenen Kommunen unseres Landes angesiedelten Schulen Ende des 20. Jahrhunderts arbeiteten (Ezpeleta 2000). Mitte der 1990-er konnten nur Zweifünftel der siebenjährigen Kinder, die eine indigene Sprache sprachen, lesen und schreiben; von diesen besuchten 70% die Primarschule (wohingegen insgesamt 87% dieser Altersgruppe zur Schule ging). Außerdem absolvierten von 100 Sprechern indigener Sprachen nur annähernd 24 die Primarstufe (Manrique 1994). Die Erziehungspolitik für die Indigenen im 20. Jahrhundert beruhte auf einem widersprüchlichen Ansatz. Auf der einen Seite setzte sie auf die Anerkennung der linguistischen und ethnischen Diversität der mexikanischen Nation und stützte damit die ökonomischen, politischen und sozialen Ungleichheit der Indigenen unseres Landes, un-
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Die kulturelle Auseinandersetzung hat wohl eher auf der Makroebene der Bildungspolitik und bestenfalls noch auf der Mesoebene, wo es um institutionelle Lösungen geht, stattgefunden, ist
174 aber nicht richtig auf der Mikroebene angelangt, auf der der kulturelle Kontakt performant werden kann. Denn kultureller Kontakt findet nur dort statt, wo Performativität in Frage steht, und das ist intersubjektiver Handlungsvollzug.
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ter der sie auch noch zu Beginn des 21. Jahrhunderts leiden. Andererseits kursierte die Vorstellung einer homogenen mexikanischen Identität, die Ungleicheiten zwischen den Gruppen ausblendete und auch die Diversität bezüglich kulturellen Repräsentationen und Erwartungen, die gegenüber der Schule gehegt wurden; durch dieses Homogenität unterstellende Modell verschärfte sich das Erzeihungssystem gleichsam die soziale Ungleichheit. Insgesamt kann man festhalten, dass die Erziehungsanstrengungen, die der mexikanische Staat und die mexikanische Gesellschaft für die indigene Bevölkerung durchgeführt haben, mit Hilfe unterschiedlicher Mythen die Segregation und den grundlegenden Rassismus der interethnischen Beziehungen im Land reproduziert, befördert und auch demaskiert hat. In diesem Zeitraum hat sich der Diskurs der interkulturellen Erziehung formieren können. Er tritt dem mexikanischen Erziehungssystem mit Forderungen entgegen, der eine verstörende Wirkung besitzen, weil er die Risse und Grenzen markiert, die es zu rekonfigurieren gilt. Wir wissen nicht, welche Konsequenz diese Verstörung hat, und ob der Diskurs im paradoxen und schlimmsten Fall zu einer rassistischen und segregierenden Rückwende beiträgt. Diese Gefahr verweist darauf, wie erforderlich in diesem Prozess eine kritische Wachsamkeit ist. Interkulturelle Erziehung: Brüche und Risse Der Diskurs der interkulturellen Erziehung taucht in der Erziehungspolitik mit Bezug auf die indigene Bevölkerung in den meisten
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lateinamerikanischen Ländern im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts auf. Er bildet Teil der innovativen Rhetorik der experimentellen Pionier-Projekte bilingualer und der ersten Schulsysteme für indigene Schüler in den 80-er Jahren (Mexiko). Obgleich mit Bezug auf die indigenen Schülerinnen und Schüler die Erziehungsund bildungspolitische Tradition Änderungen im Hinblick auf Normsetzungen sowie partielle Reorganisationen und eine Verbesserung der Infrastruktur vorgenommen hat, lassen sich in der Erziehungsrealität kaum Anzeichen einer Umkehrung der institutionellen, monokulturellen und monolinguistischen Orthodoxie ausmachen. Kontextualisieren wir diese Situation. Der 1. Januar 1994 war das vereinbarte Datum für das Inkrafttreten des Freien Handelsabkommens für Nordamerika (TLCAN). An genau diesem Tag brach die indigene Rebellion der Zapatistischen Armee der Nationalen Befreiung (Ejército Zapatista de Liberación Nacional – EZLN) in Chiapas aus, die sich auf den Anführer der Bauern und Indigenen Emiliano Zapata berief und an die Nation appellierte, die illegitime und antipopulistische Regierung zu stürzen. Bekanntermaßen reagierte die mexikanische Regierung, indem sie das mexikanische Militär aussandte, um die Rebellen zu zerschlagen. Nach nicht einmal zwei Wochen jedoch musste der mexikanische Präsident eine Einstellung des Feuers befehlen. Das Militär blieb in Position und führt von nun an einen so genannten „Krieg der niedrigen Intensität“, immer wieder abgelöst von Versuchen des Dialogs und Episoden offener Gewalt. Die EZLN ihrerseits hat „Demokratische Konventionen“, Volksberatungen
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Vielleicht ging es auch niemals wirklich um Bildung des Einzelnen, sondern stets nur um die Durchsetzung des westlichen Kapitalismus. Man hat dies mal mit dem Formalismus der Gleichheit, mal mit der kulturspezifischen Schule der Ungleichheit, mal mit dem Mestizentum, mal mit der Bilingualität versucht, aber letztlich ging es immer nur darum, Mexiko in den westlichen Kapitalismus zu integrieren. Wie schon oben gezeigt, scheint die indigene Kultur hier besonders resistent, was für einen Linken nicht nur sympatisch sondern auch hochinteressant ist. Wie und wodurch gelingt es den Zapatisten, sich zu widersetzen?
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Dies ist nur der erste Sieg des zapatistischen Kampfes um die Unabhängigkeit. Er ist ein verfassungsstaatlicher Titel, der multikulturellen Verfassungspatriotismus ermöglicht. Dies scheint mir für Mexiko – wie aber auch für die meisten multikulturellen Staaten – die einzige Grundlage für ein Bewusstsein gemeinsamer Nationalität zu sein.
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und in jüngerer Zeit als Ausdruck der Kapazität, autonom zu handeln und sich politisch und sozial zu organisieren, die „Juntas der Guten Regierung“ organisiert. Dies hat die indigenen Organisationen mit Inspiration und ideologischer Orientierung ausgestattet. Sie versuchen, gemeinsame Plattformen zwischen den indigenen Gruppen des Landes zu schaffen, um so die aus der indigenen Politik des neuen sozialen Liberalismus der salinsitischen, zedillistischen und nun foxistischen Regierungen resultierende Fragmentierung zu bekämpfen (Harvey 1998; Polanco 1997; Meyer 2000). Die Reflektion und Verschiebung hin zum pluralistischen Projekt einer multikulturellen Nation lässt sich an der Änderung des Artikels 2 der Verfassung festmachen. In diesem wird die plurikulturelle Zusammensetzung der mexikanischen Nation anerkannt, wobei der Ursprung dieser Zusammensetzung auf die indigenen Völker zurück geführt wird.. Dieser Verfassungartikel garantiert den indigenen Völkern das Recht auf die Erhaltung ihrer Sprachen, Kenntnisse und Kulturen und weist im Sinne einer Regierungspflicht auf die Notwendigkeit der Errichtung politischer Strategien und sozialer Institutionen hin, die sich an Chancengleichheit, der Beseitigung diskriminierender Praktiken und einer integrativen Entwicklung unter aktiver Beteiligung der Indigenen selbst orientieren. Dennoch hat diese verfassungsrechtliche Direktive nicht zu einer Veränderung beigetragen, die als ausreichend gelten kann. Selbst wenn die Verfassung auf Druck der zapatistischen Bewegung verändert wurde, haben sich in der von Bundesregierung, dem EZLN sowie der Zivilgesellschaft geschlos-
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senen Vereinbarungen von San Andrés Larráinzar zentrale Anliegen der indigenen Völker nicht durchsetzen können. Hier ist vor allem die Anerkennung zu nennen, ein Subjekt des Rechts und nicht ein Objekt der Zuwendung zu sein, was zugleich die Anerkennung der ökonomischen, politischen und sozialen Autonomie der indigenen Bevölkerung impliziert. Es ist nicht möglich, die Präsenz der indigenen Völker als politische kollektive Akteure zu ignorieren, welche etwas einfordern, was bis vor kurzem noch paradox klang: dass das Recht auf kulturelle Differenz mit dem Bürgerrecht einhergeht. Bürger zu sein, nicht nur in Begriffen der Moderne, sondern als ein ethnischer Bürger, bedeutet, dass die Zugehörigkeit zu einer kulturellen Gruppe innerhalb der Nation nicht ein Hindernis für die Bürgerschaft oder für Gleichheit darstellt, sondern vielmehr eine spezifische Form ist, sie auszuüben und gelegentlich auch zu genießen. Gleichheit müsste demnach nicht von einem universalen Mythos aus, sondern als Serie von Artikulationen, Äquivalenzen und Exklusionen verstanden werden, welche in einem politischen erzieherischen Projekt imstande ist, hegemoniale Qualität zu entwickeln. So erstrebenswert und unumgänglich dieser Prozess ist, so langwierig und schwierig wird der zu beschreitende Weg sein. Das Nationale Erziehungsprogramm 2001-2006 (Programa Nacional de Educación – PRONAE) weist darauf hin, dass weil Mexiko ein ethnisch vielgestaltetes Land ist, die Verbindung der unterschiedlichen Kulturen von Bedeutung ist. Das Erziehungsprogramm geht davon aus, dass es der Entwicklung einer authentischen interkulturel-
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Civilitas im Sinne der Rechtsstaatlichkeit ist der einzige Rahmen, innerhalb dessen man auch mit Multikulturalität unter den Bedingungen der Unverträglichkeit des Kulturellen zurechtkommen kann. Beim Zapatismus darf man aber nicht übersehen, dass es nicht nur um die Anerkennung der eigenen Kultur als gleichberechtigt geht, sondern auch um eine Gegnerschaft zum globalisiert agierenden Kapitalismus, der dann die Pluralität nicht mehr duldet, wenn sie gegen die Vereinheitlichung des Wirtschaftssystems steht. Das ist aber bei den indigenen Kulturen offensichtlich der Fall: Gebrauchswert gegen Tauschwert! Wenn Anerkennung der Kultur in plurikulturellen Gesellschaften auch Anerkennung der ökonomischen Dimension der Kultur heißt, dann müsste eine solche Gesellschaft auch plurale Wirtschaftsformen zulassen und vor allem angesichts des globalen Kapitalismus zulassen können.
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len Erziehung bedürfe, wenn Erziehung ein Moment der Affirmation nationaler Identität sein soll. „Zur Erziehung gehört es, das Wissen und den Stolz der Kultur, der man zugehörig ist, zu stärken, um so interkulturelle Beziehungen aufzunehmen, die Möglichkeiten der Symmetrie aufweisen; es obliegt ihr die Sprache zu unterrichten, die es erlaubt, die Welt zu benennen und ihre Kultur zu stärken genauso wie die Sprache zu unterrichten und zu bereichern, welche es uns erlaubt als Mexikaner zu kommunizieren; ihr kommt die Aufgabe zu, dass wir die kulturellen Beiträge der Völker kennen und schätzen lernen, die unser Territorium mit uns teilen; sie muss erreichen, dass die diversen Kulturen auf respektvolle und wechselseitig bereichernde Weise zusammenleben; und zuletzt ein Bewusstsein im Bürger zu wecken, welches sich um Ungerechtigkeit sorgt und das Werkzeug bietet, um sie im alltäglichen Leben zu bekämpfen“ (PRONAE: 46).
Auch formuliert das Erziehungsprogramm unmissverständlich, dass Erziehung dazu beitragen soll jede Art der Diskriminierung, des Vorurteils und des Rassismus gegen Mitglieder anderer Kulturen und Minderheiten zu eliminieren. Es geht um die Anerkennung und Wertschätzung der Vielfalt Mexikos; darum, dass Mexiko ein multikulturelles Land ist, das die einzelne Person und das Kollektiv bereichert. Das Erziehungssystem soll diese Ziele für die gesamte Bevölkerung – indigen oder nicht, Kind, Jugendlicher oder Erwachsener – erreichen. Dafür setzt das Programm auf zwei politische Prinzipien: a) Eine Politik der Stärkung erzieherischer Zuwendung für die indigene Bevölke-
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rung, die die Entwicklung eines interkulturellen bilingualen pädagogischen Modells für die Grundausbildung vorsieht und die Qualität der Erziehung in den indigenen Vierteln verbessert. b) Eine Politik der Interkulturellen Erziehung und Bildung für alle, welche die Entwicklung (pädagogischer) Positionen zur Anerkennung von Diversität anregt und das Bewusstsein fördert, dass sich in dieser Vielfalt der Reichtum als Nation ausdrückt. In der aktuellen Erziehungspolitik Mexikos wird interkulturelle Erziehung und Bildung als für alle Bewohner und Bewohnerinnen des Landes bedeutsam verstanden. Die Grundthese der interkulturellen Erziehung für alle markiert einen wichtigen Paradigmenwechsel, da vorausgesetzt wird, dass Interkulturalität nicht nur für die indigenen Völker, sondern für alle Mexikaner von Bedeutung ist. Dieser Ansatz kann allerdings die Rückkehr zu einer Segregation implizieren, welche aus dem Bestreben resultiert, die historische Schuld, welche die nationale Gesellschaft gegenüber seinen indigenen Völkern hat, begleichen zu wollen. Denn dieser Ansatz beinhaltet ein Verständnis des „Anderen“ und erkennt an, dass die vitalen Erfahrungen von Mitgliedern ethnischer Gruppen ein fundamentales und positives Element ihrer eigenen Identität und somit ihrer Weltsicht konstituieren – aber nur insoweit sie nicht auf Kosten der Einheit der Gesellschaft gehen (Outlav 2000: 56). Wenn sie dies tut, untergräbt dies die Suche nach dem Gemeinsamen zugunsten eines gefährlichen kulturellen Relativismus. Ob diese Möglichkeit wahrscheinlich ist oder nicht, hängt von verschiedenen Fakto-
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Die Gefahr einer Erziehung, die nationale Identität bejaht, besteht nur, wenn man das Gemeinsame einer Nation in einer gemeinsamen kulturellen Welt sucht und festmacht. Wenn man sich mit einem Verfassungspatriotismus begnügt, der sich ja auf formales Recht bezieht hat man dieses Problem nicht. Die Frage der rassistischen Differenz, Ungleichheit und Unterdrückung über den Weg des Kapitalismus ist damit alledings nicht gelöst, wie man am Beispiel der USA leicht
180 sieht. Mit der Anerkennung der Civitas muss auch die Anerkennung einer regionalen Wirtschaftsordnung einhergehen. Diese Forderung ist für westliche Vorstellungen wirklich revolutionär. Dialektik und Widerstreit in der Klassendifferenz mündet in die Dialektik und den Widerstreit von globaler und regionaler Wirtschaft.
Die Logik der Artikulation ist ein Moment der Auseinandersetzung im pädagogischen Raum der Geltungsbewährung und der
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ren ab. Dennoch ist es weder logisch, sozial oder historisch notwendig, dass solche Konsequenzen folgen (Outlav 2001: 57). Etwas wie der Relativismus würde wie eine Maskerade des neokonservativen Arguments wirken. Interkulturalität stellt aber nicht eine idealistische Harmonie dar, sondern „wir können sogar die Pflicht haben, diejenigen Praktiken und Kulturen zu bekämpfen, die wir als schädlich erachten, aber wir können nicht die unsrigen zum universalen Paradigma erheben, um über die anderen zu urteilen“ (Panikkar 1995: 9). Vor diesem Hintergrund kann man nach dem Charakter der interkulturellen Erziehung fragen. An dieser Stelle ist es angemessen zu klären, inwiefern wir uns für eine Auflösung des Erziehungssystems aussprechen sollen, da es scheinbar der einzige Weg ist, um sich der Brandung der neoliberalen mexikanischen Betrachtungsweise – der Bedeutungsverschiebung von Erziehung hin zu einem Gut oder Dienstleistung – entgegen zu stellen. Ich plädiere hier dafür, die Krise des mexikanische Erziehungssystems als Anlass für die Thematisierung der Frage nach dem Diskurs Interkultureller Erziehung zu nehmen und zugleich auch danach zu fragen, wie ein „unangemessener“ Diskurs es vermag, einzureißen. Ein produktiver Begriff und Ansatz, der in diesem Zusammenhang hilfreich ist, ist die Logik der Artikulation (Laclau 1993; Puiggrós; Buenfil 1993 und de Alba 2002). Vom Blickwinkel der interkulturellen Erziehung aus würde die Logik der Artikulation die These der konstitutiven Spannung zwischen Verschiedenheit und Gemeinsamkeit als Grundlage eines jeden politischen erzieherischen Projekts stützen. Die Kon-
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struktion von homöomorphischen Äquivalenzen in Richtung einer Kondensation der Elemente, welche von der Verschiedenheit aus eine Kette der Äquivalenzen aufbauen und die Negativität zerstören, welche die Identität derjenigen, die an besagtem Projekt teilnehmen, bedeutet, erlaubt ein konstantes Wechselspiel von Inklusion und Exklusion in jedwede Identität, in diesem Fall die Identität interkultureller Erziehung als eines pädagogischer Diskurses. Da die Herausforderung interkultureller Erziehung eine Erschütterung des mexikanischen Erziehungssystems in seinen Existenzbedingungen darstellt, befindet sich der Diskurs interkultureller Erziehung und Bildung in Mexiko in einem eher wenig strukturierten Zustand der Aufruhr (Bertely 2003). Der vorliegende Beitrag stellt insofern nur den Versuch einer Annäherung an das dar, was als ein Projekt epistemischer, theoretischer, erzieherischer Artikulation bezeichnet werden könnte. Interkulturelle Erziehung in Mexiko bedarf der Dekonstruktion der Mythen von Gleichheit und Mestizentum. Es erfordert eine neue Beziehung zu dem „Anderen“ 4, dem „Indianischen“, das nicht so „fern“ von dem ist, was mexikanische Identität genannt wird. Diesbezüglich merkte Guillermo Bonfil (1989: 165) an, dass „die Geschichte uns fünf Jahrhunderte der kolonialen Herrschaft hinterlassen hat. Eine der Erbschaften ist die Verzerrung mit der wir unsere eigene Realität sehen, wir sehen sie durch die eigenen kulturellen Vorurteile der ungebrochenen Ideologie der Kolonisatoren. Diese Wahrnehmung beruht auf der Bewertung des Anderen, des Beherrschten und bestätigt die Überlegenheit des Beherr-
181 Geltungskonstruktion, die gerade im interkulturellen Diskurs notwendig ist. Das Ergebnis aber schon planen zu wollen – in Ketten von Äquivalenzen etc. – verkennt, dass der Ausgang interkultureller Auseinandersetzung kontingent ist. Jede Planung des Ausgangs ist schon eine Maßnahme der Herrschaft des Planenden, eine Nicht-Anerkennung des Anderen, der nicht plant oder nicht planen kann. Aber zuvorderst ist es die Nicht-Anerkennung der Performativität von Konstruktion und Dekonstruktion im kulturellen Raum.
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ANA LAURA GALLARDO GUTIÉRREZ schers [...], dieses ideologische Baugerüst zu demontieren, impliziert die Anerkennung des tiefen Mexikos [ 5 ], das zugleich Substrat unserer eigenen Identität ist und die Einsicht, dass wir einen Mythos der Mexikanität (das imaginäre Mexiko) auf der Basis der Exklusion und der Annullierung der kreativen Potentiale vieler Schichten der Bevölkerung kreiert haben, unter anderem der indigenen Völker“.
Da Auseinandersetzungen im symbolischen Raum der Kommunikation stattfinden und da Kommunikation immer einzelner Personen bedarf, weil sonst die Beiträge der Kommunikation nicht eindeutig zuzuordnen sind, bildet eine solche Auseinandersetzung. Sie bildet, indem sich die Einzelnen kommunikativ verorten oder kommunikativ ihren alten Ort verlassen. In jedem Falle gestalten sie die dreifache Relationsstruktur im symbolischen Raum der Kultur um in ein Verhältnis, das sie selbst zu den Sachen und Sachverhalten in der Welt, zu den anderen in der heterogenen (mexikanischen Verfassungs-)Gemeinschaft und zu sich selbst haben.
Wer die Interkulturalität Mexikos in dieser Weise versteht, konzipiert interkulturelle Erziehung als Prozess, der die Kontakte deutlich macht und ermöglicht, die Identitäten der Subjekte in Diversität zu konstituieren als in Prozessen der Wiederherstellung, des Verständnisses, der Produktion, des Austausches, der Wiederbedeutungsgebung und der Aneignung der Kulturen (de Alba: 2001: 7). Interkulturelle Erziehung und Bildung impliziert die Anerkennung der jeweiligen eigenen Identität, um den Anderen zu verstehen, um ihn als Subjekt wahrzunehmen, das uns in seiner Art der Beziehung zur Geschichte, zur Welt und der Wahrheit unmittelbar beeinflusst. Wir können uns – ethisch gesprochen – diesem Prozess im Sinne einer Einladung, in einen interkulturellen Dialog 6 zu treten, zuwenden. Interkulturelle Erziehung kann man somit verstehen als eine Methode, um die Traditionen, welche wir jeder Kultur als zugehörig zuschreiben, zu relativieren, sie zu kontextualisieren, in ihrer konstitutiven Abhängigkeiten von anderen Kulturen zu begreifen und vor allem ihre Konservierung und Transformation in eine Art Spannung zu versetzen, um so ein Kennenlernen der eigenen und anderer Kulturen zu ermöglichen.
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Für Mexiko gilt, dass diese Aufgabe eine Resignifikation des „tiefen“ Mexikos beinhaltet, ebenso aber auch die anderer Konstruktionen kultureller und nationaler Wirklichkeit. Dies ist keine einfache Arbeit, aber der mit ihr und durch sie nahegelegte Dialog lässt sich als ein Raum der produktiven Begegnung charakterisieren, da er die Möglichkeit eröffnet, die eigene kulturelle Logik neu zu erarbeiten (de Alba 2001) und angesichts der kulturellen Vielfalt, die einen Reichtum bezeichnet, Brücken zu konstruieren, die mehrgleisig sind, auf denen also zu gleicher Zeit mehrere Züge in unterschiedliche Richtungen fahren – ohne zu kollidieren.
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Anmerkungen 1 2 3 4 5
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Unter mesoamerikanischer Kultur werden die Gesellschaften verstanden, die von der westlichen Region Mexikos aus bis Zentralamerika vor Ankunft der Spanier im 15. Jahrhundert aufgebaut wurden. Viele von ihnen gehörten selbst zu dieser sozialen Gruppe, wie auch der Präsident Benito Juárez, mexikanischer Liberaler, der das Reformprojekt im Land konsolidierte. Um sich bei Mora einzuschmeicheln, verwendeten andere herausragende Liberale, wenn sie sich auf diese Völker bezogen, die Wendung „die früher als Indios Bezeichneten“. Der Ausdruck „Andere“ verweist auf eine Kategorie, die aus der Identitäten konfigurierednen Unterscheidung „Andere“ „Wir“ resultiert; mit dieser Unterscheidung werden Subjekte geformt. Für Bonfil steht der Ausdruck „das tiefe Mexiko“ für eine Bezugnahme darauf, dass die indigene Bevölkerung durch die Geschichte Mexikos als Nationalstaat marginalisiert und ausgeschlossen wurden. Auch, wenn ihre Identitäten angegriffen, verschlissen und transformiert wurden, sind sie nicht verschwunden und leben in einigen sozialen und kulturellen Praktiken des imaginären Mexikos und der mestizischen Bevölkerung, welche die Mehrheit des Landes ausmacht, weiter. Unter interkulturellem Dialog versteht man die Methodik, welche der kulturelle Dialog voraussetzt. Es ist anzumerken, dass es der ontologische negative Charakter dieses Dialogs ist, der das Spiel zwischen Inklusion und Exklusion erst zulässt, so dass das Phantom des Relativismus allein dies ist: ein Phantom nämlich.
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ANA LAURA GALLARDO GUTIÉRREZ
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Kommentar: Norbert Meder
A LICIA D E A LBA
D E R K U LT U R E L L E K O N TA K T. ANKNÜPFUNG AN DIE C O N C H E R O S 1, D E N JA Z Z , D I E M A R I A C H I S 2 U N D A N M O Z A RT Vorbemerkung In dieser Arbeit werden einige zentrale Elemente des Begriffs des kulturellen Kontaktes vorgestellt. Der kulturelle Kontakt stellt die Beziehung alltäglicher und historischer Realitäten innerhalb einer kulturellen, sozialen Verflechtung dar, er ist ein seiendes Sein kultureller Beziehungen zwischen den Menschen. Er ist die Verflechtung des zeitlichen Seins zwischen verschiedenen sozialen Gruppen und sozialen Einteilungen. Er ist ein sozialer, kultureller und historischer Prozess, der zutiefst vom Politischen beeinflusst ist. Zugleich ist er gegenüber den kulturellen Beziehungen zwischen Völkern, Gruppen und sozialen Subjekten eine ontologische, epistemische, theoretische und politische Haltung. Der kulturelle Kontakt ist mehr mit den Cultural Studies als mit der Anthropologie verwandt und nährt sich aus der antiessentialistischen Philosophie. 3 Die kulturelle Beziehung entsteht durch die Interaktion von Innerem und Äußerem der Individuen, der Gruppen und der Völker. Der kulturelle Kontakt ist zugleich ein Teil dessen, die Komplexität der gegenseitigen Berüh-
Es findet schon in der Vorbemerkung ein kulterureller Kontakt zwischen meinem und dem Denken von De Alba statt. Die kulturelle, soziale Verflechtung ist das sozialstrukturelle Arrangement, dass sich eine Autorin dem kritischen Kommentar eines anderen Wissenschaftlers aussetzt und umgekehrt, dass sich der Kommentierende in die sozialstrukturelle Rolle der Kontrolle von Geltungsansprüchen bringt. Eine kulturelle Beziehung wird es, wenn die symbolischen Verweisungen, die der Kommentator gebraucht, mit den symbolischen Verweisungen, die von der Autorin gebraucht werden, versuchsweise zur Dekkung gebracht werden. Diese Deckung wird aber bereits an dem Ausdruck, der kulturelle Kontakt sei ein seiendes Sein, problematisiert. Wenn der kulturelle Kontakt eine Beziehung ist, dann ist er kein Sein, sondern eher eine Funktion. Die Wendung seiendes Sein kann bedeuten, dass eine zugrundeliegende Substanz zum
190 Dasein kommt, d. h. performant und beobachtbar wird. Diese ontologische Deutung von Welt und Kultur ist aber äußerst umstritten. Der kulturelle Kontakt wird zwar getragen vom Habitus derer, die in Kontakt kommen, aber ist selbst nicht ein Habitus, d. h. keine Haltung. Die Haltung kann zwar einen Kontakt wahrscheinlich machen, aber ist nie der Kontakt selbst. Der Kontakt ereignet sich. Eine antiessentialistische Philosophie ist mit einer Seinsphilosophie nicht verträglich. Der Kontakt schließt innere Möglichkeiten mit äußeren Möglichkeiten kurz. Das ist der zentrale tragende Gedanke. Das Eigene sind die inneren Möglichkeiten, die man kulturgeprägt hat, die äußeren Möglichkeiten sind das Fremde, an dem man sich abarbeiten muss. Postmodern ist am Konzept des kulturellen Kontakts das Moment, dass eine Beziehung zwischen inkommensurablen Größen statthat, obwohl sie logisch nicht möglich ist.
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rung der Identität des Eigenen und des Anderen anzunehmen. Der kulturelle Kontakt taucht als Gegenstand in den Grauzonen oder den Grenzbereichen zwischen den Cultural Studies und den antiessentialistischen, postmodernen Perspektiven auf. 4 Mit den Cultural Studies kann der kulturelle Kontakt gesehen werden als aus dem Inneren des Selbst stammender Prozess kultureller Aktivität. Der radikale Unterschied zwischen der Anthropologie und den Cultural Studies liegt in diesem Punkt: Letztere betrachten sich selber, erstere studieren den Anderen. Aus der Diskussion zwischen Moderne und Postmoderne, speziell aus den Beiträgen antiessentialistischer und postmoderner Theoretiker, nimmt das Nachdenken über den kulturellen Kontakt die Radikalität der Kritik an der westlichen Kultur auf und nimmt damit den kontingenten, ungewissen und offenen Charakter an, die allen – zumindest kulturellen – Formen zugrunde liegt sowie auch die radikale Historizität und Relativität jeden Prozesses, jeden Systems und jeder Aktivität. In diesem Konstitutionsraum entfaltet sich der „kulturelle Kontakt“ in den Grenzen zwischen Cultural Studies und antiessentialistischen Beiträgen; er ist historisch, beziehungsgeprägt, komplex, konfliktiv, unbeständig und produktiv. Um eine in diesem Sinne vorgenommene Darstellung des Begriffs des kulturellen Kontaktes und einiger seiner konstitutiven konzeptionellen Elemente geht es in dem vorliegenden Beitrag, wobei viele Überlegungen einer Weiterentwicklung bedürfen, eine Aufgabe, die zukünftigen Arbeiten vorbehalten bleibt.
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Der vorliegende Text umfasst auch narrative Passagen, die sich auf einige autobiographische Erfahrungen beziehen. 5 Der erzählende Stil folgt hierbei einem Erzählstrang, der sich im Verlauf dieser Arbeit an bestimmten Punkten und verschiedenen Passagen weitet oder innehält. Oktober/November 2004. Nach Jahren des Winterschlafs taucht die Frage des kulturellen Kontaktes auf
191 Anthropologie untersucht das Gemeinsame von Fremden und Eigenem. Anthropologie ist so gesehen abstrakt. Cultural Studies dagegen schauen auf die konkrete Kultur, in die das eigene Selbst zwar involviert sein kann, aber nicht wirklich zum Gegenstand wird.
Die Concheros im Zentrum von Cuernavaca. Der kulturelle Kontakt ist relativ und historisch Es ist der letzte Oktobersonntag in der Stadt Cuernavaca 6. Meine Kollegin und Freundin Leonor Arfuch von der Universität Buenos Aires in Argentinien bleibt eine Weile überrascht stehen als sie die Concheros vor dem Cortés-Palast tanzen sieht. 7 Sie fragt mich: Wer sind die Concheros? Als Mexikanerin, die ihr ganzes Leben lang Concheros gesehen und von ihnen gehört hat, merke ich nun, dass in Wirklichkeit meine Ignoranz groß ist. In Wirklichkeit weiß ich nicht, wer die Concheros sind. Es bleibt die Unruhe der Unwissenheit, ich fange an zu lesen und ein wenig über das Thema nachzuforschen. Während ich dies tue, steigen mir erneut Fragen nach der Kultur und nach dem kulturellen Kontakt in den Kopf, die Akademie, meine Position 8 in und von Mexiko aus, die Einladung von Monika Witsch, ausgesprochen von Ana Gallardo, um einen Beitrag für diesen Band der Cultural Studies zu erarbeiten, meine Arbeit mit mexikanischen indigenen Intellektuellen, meine geliebte Lehrerin und Freundin
Entgegen anderer Forschungsmethoden lassen die Cultural Studies beteiligte – ja involvierte – Beobachtung als Form der Datenerhebung zu. Auch die Selbstbeobachtung ist zugelassen. Das Involviert-Sein als Beobachter schließt immer auch die Selbstbeobachtung mit ein, weil sonst eine Datenerhebung, die das Verstehen der fremden Kultur zum Ziel hat, nicht gelingen kann. Es wird gegen diese Verfahren oft eingewandt, dass sie nicht generalisierbar sind, dass sie nicht intersubjektiv replizierbar sind.
192 Man muss Folgendes dagegen halten: Angenommen, sie wären wirklich nicht replizierbar, dann muss man solche Verfahren dennoch als heuristische zulassen. Ihre Ergebnisse können ja dann durch geeignete quantitative Verfahren generalisiert werden, wenn man es für nötig hält. Im Übrigen ist das ja in der Triangulation üblich.
Ein fremdes Sprachspiel – mit Wittgenstein – verstehen heißt, sich einzulassen bis ans Ende der Begründung, wo nur noch die Handlungsweise, die Mythologie der Lebensform ist. Ob dies gelingt oder gelingen kann, ist eine andere Frage. Aber wenn eine Aussicht auf Gelingen besteht oder wenn auch nur eine Annäherung möglich ist, dann nur, indem man sich auf das Andere einlässt. Was hat mit all dem der kulturelle Kontakt zu tun? Ist er gesucht in solcher Einlassung oder wird er gefunden, findet er statt und ereignet sich? Bedarf es be-
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Adriana Puiggrós in Argentinien, Lede Badilla in Costa Rica, Mario Díaz Villa in Kolumbien und meine Zeit nach dem Studium in Essex in England mit Ernesto Laclau. Ich, ich, ich, ich kann es nicht vermeiden, ich gehe von mir aus. Ich bin mein Selbst, das sich mit Anderen in Mexiko, in Europa, in Lateinamerika und in Afrika verständigt. In jedem Raum, in jeder Zeit, an jedem Ort ist dieses Selbst, das ich bin, in der Lage, einen kulturellen Kontakt zu initiieren oder nicht, in Beziehung mit ihm zu treten oder nicht. Der kulturelle Kontakt ist radikal beziehungsgeprägt. Er impliziert die Begegnung zwischen verschiedenen Bräuchen, verschiedenen Sprachen und verschiedenen Sprachspielen (im Sinne von Wittgenstein 1952). Der Tag in Cuernavaca geht dem Ende zu. Mit meiner Freundin Leonor Arfuch schaue ich mir die Concheros an und in einem Gemisch aus Erinnerung, Emotionen, Konzepten, Wünschen, Vorstellungen, Zweifel und Unsicherheiten befinde ich mich plötzlich in Kapstadt in Afrika. Dort halte ich inne, das Auftauchen von Kapstadt konfrontiert mich mit einem Thema, dass mich von nun an beschäftigen wird: der kulturelle Kontakt. Ja, Afrika war eine flüchtige und sehr spezielle Erfahrung dieses Selbst, das ich bin; dieses Ichs, das sich mit dem kulturellen Kontakt beschäftigt. In diesem Raum 9 quer durch Afrika finde ich im Sommer des Jahres 1998 den letzten Punkt meiner Gedanken über den kulturellen Kontakt. Es ist so spannend, komplex, schwierig und hoffnungsvoll an den kulturellen Kontakt zu denken, in einer Situation des kulturellen Kontaktes zu sein, die Beziehung zwischen den Kulturen vom „kulturellen Kontakt“ aus zu sehen. Es
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ist eine Herausforderung an die Vorstellungskraft und an das Engagement. Dort in diesem Raum, in dieser Erinnerung verharre ich eine unbestimmte Zeit lang. Als ich aus Cuernavaca zurückkehre, beginne ich zu schreiben. Ich fühle mich erleichtert, ich möchte die Aufgabe annehmen, aber wie im Jahre 1998 kostet es mich viel Arbeit, es ist schwierig über den kulturellen Kontakt nachzudenken, über ihn zu sprechen und über ihn zu schreiben. Im Jahre 1998 schrieb ich den Prolog für die spanischsprachige Ausgabe des Buches „Revulotionärer Multikulturalismus“ von Peter McLaren (de Alba 1998). Und zu genau dieser komplexen Aufgabe führten mich damals die Concheros von Cuernavaca und deswegen spüre ich, dass auch dieses Schreiben wesentlich von diesem Prolog beeinflusst ist. Was war dies für eine Art zu schreiben? Und welche Art zu schreiben ist es dieses Mal? Damals gestaltete ich es als einen Brief an Adriana Puiggrós, in dem ich mich an die spanischsprachigen Leser des Buches von McLaren wandte und eine Diskussion über einige Sichtweisen, Ideen und Konzepte des Autors führte. Kultur separiert auf radikale Weise ebenso wie Sprache. Kulturen, Sprachen und der kulturelle Kontakt sind von Machtstrukturen durchzogen. Für wen schreibe ich also? Was für eine Art zu schreiben erfordert das Thema? Diese Arbeit wird auf Deutsch gelesen werden. Erneut befinde ich mich vor der Möglichkeit, einen kulturellen Kontakt zu initiieren oder es nicht zu tun. Ich kann diese Arbeit lediglich als akademische Partizipation gestalten oder sie als neue Herausforderung annehmen, um mich sehen zu las-
193 stimmter Sensibilität, damit sich der kulturelle Kontakt ereignen kann? Was wird da kurzgeschlossen, was berührt sich? Und dann: Was löst der Kontakt aus, was folgt ihm? Setzt vielleicht erst dann der Versuch an, sich einzulassen und zu verstehen, auch wenn es noch so partikular ist, nachdem der kulturelle Kontakt stattgefunden hat?
Weil Kultur das inhaltliche Moment von Gemeinschaft ist – gegenüber etwa den formalen Momenten, die der Sozialstrukturalismus herausarbeitet, kann Kultur erkenntnistheoretisch nur als Mannigfaltigkeit von Kulturen gefasst werden. Sofern das Inhaltlich-qualitative zu vor-
194 derst das Gegebene ist, ist es auch das erkenntnistheoretisch Plurale. Das ist seit Kants Analysen in der Kritik der reinen Vernunft kaum bestritten. Das Plurale, das Mannigfaltige muss zur Einheit gebracht werden. Das geht nur formal. So wird aus der Gemeinschaft die Einheit der Gesellschaft. Mit der Formalität und dem Einheitsstreben kommt das Machtspiel auf. Es entsteht die Frage: Wieviel Spielraum darf das Qualitativ-Plurale unter Einheitsgesichtspunkten haben, damit es die Einheit nicht gefährdet? Gibt es eine Alternative zum Einheitsdenken? Kann das mannigfaltig Gegebene auch anders geordnet werden als in Einheiten? Ja, man kann und muss es in Zusammenhang bringen. Für den Zusammenhang des Heterogenen scheint der kulturelle Kontakt konstitutiv zu sein. Um den Zusammenhang herzustellen, besitzen wir keine formalen Regeln. Das ist klar, weil sie ja auf die Seite der Einheitsform gehö-
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sen und zu versuchen, den Anderen zu sehen. Vielleicht ist dies die schwierigste Entscheidung, wenn ich über den kulturellen Kontakt schreibe. Welche Art zu schreiben wähle ich? An wen wende ich mich schreibend? Mich interessiert der akademische Austausch, das ist wahr. Mich interessiert auch das deutsche Volk, seine Philosophen, seine Pädagogen, seine Kultur, sein Geist. Monika interessiert mich, ich kenne sie nicht und ich lerne sie über diese Arbeit kennen. Ich nehme die Herausforderung an, eine Schreibweise legt sich mir auf, die mir im Gegensatz zu anderen meiner akademischen Arbeiten fremd ist. Die Schreibweise legt sich mir auf. Ich nehme die Herausforderung an. Erneut stehe ich vor einer Sprachbarriere, ich kam nie gut mit dem Englischen aus und in diesem Moment wäre ich gerne in der Lage, auf Deutsch zu schreiben. Werde ich eines Tages die deutsche Kultur verstehen, im Sinne eines kulturellen Kontaktes? Ich weiß, es ist eine neue Herausforderung, eine andere Tür, die sich mir öffnet. Die Einladung, einen Beitrag zu verfassen, ist eine Einladung in kulturellen Kontakt zu treten. Monika weiß sich sehr gut mit dem Spanischen zu behelfen und sie wird im Sommer des Jahres 2005 nach Mexiko kommen und für einige Monate in diesem Land bleiben. Es sind zwei verschiedene Momente, die aufeinander treffen und sich vereinen in undurchdringlicher, physischer, mentaler, emotionaler und konzeptioneller Räumlichkeit. Kapstadt in Afrika im Sommer des Jahres 1998 und Cuenervaca in Mexiko im Winter des Jahres 2004. Beide Momente sind präsent und nun beginnen sie sich in diesem Schreiben zu entfalten. Es ist diese histori-
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sche Spur, die das Menschliche, die Zeit und den Raum ausmacht. Eine historische Spur, die von der Vergangenheit ausgeht und die, wenn sie heraufbeschworen wird, zur Geschichte in der Gegenwart wird und erlaubt, den Blick in die Zukunft zu richten. Eine Spur, die den kulturellen Kontakt konstituiert. Der kulturelle Kontakt ist historisch, er konstituiert sich und leitet sich aus dem historischen Geschehen ab. Der Tag der Toten. 10 Der kulturelle Kontakt ist komplex und konfliktiv Ich habe Leonor gesagt, dass ich eine Opfergabe darbieten werde. Die Opfergabe, die ich jedes Jahr meinen Toten widme. Zuhause, als ich klein war, wusste ich wenig über diese Feierlichkeiten. Ich lernte diese Tradition kennen als ich mit indigenen Mexikanern arbeitete. Ich bin Agnostikerin. Vielleicht gerade deswegen scheint mir der Tag der Toten als ein wunderschöner Kult, tief und intensiv. Er erlaubt es mir, meiner Toten zu gedenken, in Kontakt mit ihnen zu sein, mit ihnen und über sie zu sprechen, sie an diesem Tag komplett an meinem Leben und an meinem Raum teilhaben zu lassen. An diesem Tag stelle ich meine Opfergabe auf den Altar. 11 Dort befinden sich meine Eltern, mein Bruder, meine Großeltern, die Großeltern väterlicherseits meines Sohnes, meine geliebten Tanten und Onkels, andere geliebte Verwandte, meine engsten Freunde und meine unvergesslichen Haustiere. 12 Es war schwer für mich an den Punkt zu kommen, den Tag der Toten als Teil von mir zu betrachten. Der Tag der Toten ist ein Tribut an die Geliebten, die gegangen sind. Es ist eine würdige Form mit ihnen zu sein,
195 ren. Was uns bleibt ist die Semantik unserer Sprache und der Symbolgehalt unserer Wortzeichen, der sich im Gebrauch zeigt. Über den Symbolgehalt zeigen sich uns Verweisungen, die bis tief in die Lebensform reichen. Wenn sich solche Verweisungen beim Aufeinandertreffen fremder Kulturen kreuzen, verstärken oder aufheben, dann kommt es – so scheint mir – zum kulturellen Kontakt.
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Wenn sich symbolische Verweisungen kreuzen, dann kann man vermutlich zuerst nur erzählen. Das Narrative einer Geschichte schafft den ersten Zusammenhang. Man könnte einwenden, dass ein solcher Zusammenhang doch nur durch die formale Einheit des Textes als einer Menge von Zeichen, die inzidieren, zustandekommt. Das stimmt aber nur dann, wenn man die Semiotik von der Semantik löst. Wenn man dies nicht tut, dann entfalten Zeichen, die man raumzeitlich-formal zusammenstellt, einen semantischen Verweisungsraum, in dem sie „semantisch“ zusammenhängen.
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ihnen einen Tag im Jahr zu widmen. Die Altäre sind sehr verschieden gestaltet. Dieses Jahr war meine Opfergabe sehr einfach, ich brauchte ein wenig mehr Privatsphäre. Der Altar ist ein Raum, der paradoxer Weise geteilt wird und nicht geteilt wird. Es wird im engsten Kreis gefeiert, mit der Familie, den nächsten Freunden und Liebsten. An diesem Tag fehlten mir diese Intimsphäre und meine Familie. Weder kann noch möchte ich für Leonor sprechen, aus diesem Grunde möchte ich nur kurz diesen Tag schildern. Leonor hatte mich gebeten, einen dieser Totenköpfe aus Zucker aufzustellen, welcher ihr einige Monate zuvor verstorbenes Haustier repräsentieren sollte und sie sagte – mehr für sich selber und kaum hörbar für mich – so etwas wie „Etwas für meine Eltern aufzustellen, würde mich aggressiv machen“. Dies war ein sehr konfliktiver Moment, ich fühlte mich schlecht, entblößt und tausend Emotionen überfluteten mein Selbst. Mein Wunsch war es in diesem Moment, mich in diesem Selbst, in dieser inneren differenzierenden Identität des Ichs einzuschließen, um so den Konflikt zu vermeiden. Ich empfand den Einfall, ihres Haustiers in meinem für einen menschlichen Verstorbenen gedachten Altar zu gedenken als aggressiv. Das Selbst meines Seins fühlte den Einschlag des Anderen, die Andersheit einer anderen Kultur. Was fühlte Leonor angesichts eines Altars mit Totenköpfen aus Zucker? Ich weiß es nicht, heute frage ich danach. Ihre kaum hörbaren Worte waren für mich Ausdruck dieses Einschlags des Selbst, das ich war, im Anderen, in ihr. Inmitten dessen, was vor sich ging, trafen zwei verschiedene kulturel-
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le Formen aufeinander. Sie trafen aufeinander am Tor des kulturellen Kontakts. Der kulturelle Kontakt ist komplex und konfliktiv. Er ist komplex, weil zwei semiotische Codes, zwei Formen der Emotivität, der Verständlichkeit, des Lebens, der Konstruktion von symbolischer Realität sich gegenüber stehen. Er ist komplex, weil er auf verschiedenste Art und Weise alle Fasern der Intimität, der Seele und des Geistes berührt. Die Komplexität des kulturellen Kontaktes wird dann richtig verstanden, wenn Einschlag des Anderen im Selbst anerkannt wird und der Einschlag der eigenen kulturellen Praktiken im Anderen wahrgenommen wird. Der kulturelle Kontakt setzt voraus, dass die Komplexität der Wechselwirkung zwischen der Identität des Selbst und der Identität des Anderen angenommen wird. Der kulturelle Kontakt ist konfliktiv. Vor dem Anderen Fragen der eigenen Kultur darzulegen, ist eine Einladung zum kulturellen Kontakt und zugleich macht dies den Umstand aus, unter dem man sich darlegt, weil zum Einstieg die Bedeutungen der kulturellen Inhalte des Anderen noch nicht greifbar sind. Angesichts der Opfergabe für meine Toten fühlte ich mich berührt. Ich verschloss mich, es war schwer. Es war schwer, diese Feier mit dem teilnehmenden Blick einer anderen Kultur zu erleben. Es ist eine komplexe und konfliktive Situation. Diese Feier löste auch in Leonor Irritation aus. Sie konnte es bestätigen. Am Tag der Toten gingen wir zu der Plaza des Dorfes Chichoncuac in Morelos (Mexiko). Die Dorfeinwohner hatten zahlreiche Altäre mit ihren Opfergaben aufgestellt. Einen Augenblick lang fühlte Leonor sich berührt, sie war
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Erzählungen entfalten die volle Komplexität von Sprache und Sprachen, weil sie Zeichen, Bedeutung und Gebrauch in ein freies Spiel bringen. Das heißt: Die Triade von „Semiotik“, „Semantik“ und „Pragmatik“ geht ein komplexes Wechselspiel ein, in dem sie die volle Symbolik der Sprache und gegebenenfalls mehrerer Sprachen entfalten können. Unter Symbolik einer oder mehrerer Sprachen verstehe ich also den vollen Verweisungszusammenhang, den Zeichen in ihrer Bedeutung in Abhängigkeit ihres pluralen Gebrauchs entwickeln können.
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aufgewühlt, zwei Tränen liefen über ihre Wangen. Es waren wunderschöne Szenen, lebendig und intensiv an jenem 1. November des Jahres 2004 in Chichoncuac. Wir schauten uns Tanz- und Musik- Gruppen des Dorfes an, wir hörten einem Liedermacher zu. Ich fühlte mich gut und beeindruckt. Leonor und ich befanden uns in einem Raum der Folklore, in einer Versenkung in Traditionen. An diesem Tag befanden wir uns in einem starken Raum des kulturellen Kontaktes. Als wir nachts nach Hause zurückkehrten, eröffnete ich den Prolog vom Jahre 1998 und die Erinnerung kehrte zu mir zurück: „Ivenhoe, Essex, England, 1. November 1998 Liebe Adriana: Heute ist Totensonntag in Mexiko. Gestern Nacht kamen zu unserem Haus die Kinder der Nachbarschaft, sie sagten trick oder treta mit den typischen Verkleidungen des nordamerikanischen Halloween […] Steven und Maria widmeten einen guten Teil ihrer Zeit damit, mir zu erklären, dass dies eine Tradition aus den USA sei, dass sie nicht englisch sei. Sie sagten mir, die Feierlichkeiten würden in England seit zehn Jahren gefeiert und dass es die Kinder gewesen seien, die damit angefangen hätten, weil sie es im Fernsehen gesehen hätten […] Sie waren ein wenig besorgt, so als würde es ihnen etwas ausmachen, dass ich denken könnte, dieser Brauch sei ein englischer Brauch. Ich erzählte ihnen ein wenig vom Tag der Toten in Mexiko.“ (de Alba, 1998: xxx)
Gefeiert von englischen Kindern in Ivenhoe, nach dem Tag der Toten in Mexiko, beendete ich an diesem 1. November 1998 den Prolog. Sechs Jahre später, zwischen den Concheros vor dem Cortés-Palast in Cuer-
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navaca und dem Tag der Toten in Chichoncuac, begann ich den vorliegenden Text zu verfassen. Dezember 2004: Die Jungfrau von Guadalupe. Die Erinnerung, die Sehnsucht. Der Begriff des kulturellen Kontaktes Nachdem nun ein wenig mehr als ein Monat vergangen ist, ist es schon wieder geschehen: Ich habe große Schwierigkeiten über den kulturellen Kontakt zu schreiben. Was ist der kulturelle Kontakt? Warum wühlt er mich auf diese Weise auf? Warum lähmt mich in bestimmten Momenten selbst der Gedanke an den kulturellen Kontakt? Erneut präsentieren sich mit großer Kraft Begriffe, Konzepte, Sichtweisen, Formen der Lebensführung und der Intellektualität über Multikulturalität, Interkulturalität und kulturellen Relativismus. All die Versuche, Bemühungen, Sprachspiele, die erfassen wollen, was geschieht, wenn zwei Kulturen aufeinander treffen und die „Formen“ der Beziehung und der Begegnung zwischen den Kulturen vorschlagen wollen. Erneut ist der kulturelle Kontakt mit seiner symbolischen Last aufgetaucht in Form des Prologs zu dem Buch von McLaren, verfasst als ein Brief an Adriana Puiggrós in meinem Sabbatjahr 1998 in England an der Universität in Essex (unter der Aufsicht und Begleitung von Professor Ernesto Laclau). Dasselbe Jahr, in dem auch der Weltkongress für vergleichende Erziehungswissenschaft in Kapstadt in Südafrika stattfand, in dem ich die Sommerferien in Mexiko, meiner Heimat verbrachte, in dem ich einen kurzen Aufenthalt in Madrid, Spanien, hatte. Ein war ein
Wenn der heterogene Gebrauch der Sprache vor kulturell heterogenen Horizonten gesprächsweise oder in Erzählungen stattfindet und es dabei zu schmerzhaften Irritationen kommt, dann – so scheint mir – ist es zum kulturellen Kontakt gekommen.
In der Kultur scheiden sich Kultur und Multikulturalität, hätte der Neukantianer Hönigswald, Altersgenosse von Cassirer und mit
200 ihm gut bekannt bis befreundet, gesagt. Er hat damit gemeint, dass die Idee der einen Kultur, die vom Anspruch der richtigen Weltsicht getragen ist, in Korrelation zur Vielfalt der Kulturen steht. Oder anders und noch besser ausgedrückt: Indem ich mich kulturell betätige, d. h. indem in meinem Tun Kultur performant wird, scheiden sich die Idee der einen Kultur und die Heterogenität der Kulturen. In einem solchen theoretischen Verständnis liegt das Primat alles Kulturellen in der Performativität (der Korrelation), weil erst aus ihr die Idee der einen Kultur wie die Erfahrung der Differenz von Kulturen entsteht. Dabei wird die eine Kultur als der machtfreie Zusammenhang aller Kulturen verstanden.
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besonderes Jahr, in dem sich der kulturelle Kontakt mit großer Kraft als konzeptuelles, ontologisches und epistemisches Anliegen sowie als alltägliches Erleben an verschiedenen Orten der Erde offenbarte. Erneut ist dies ein schwieriges Thema für mich. Es ist eine Konstante in meinem akademischen Leben, in meinem alltäglichen Leben, in meiner Seele 13. Dennoch drückt sich das Thema in mir mehr als Abwesenheit und Stille aus. Es ist schwer darüber zu sprechen, nun versuche ich es erneut. Es begeistert mich sehr zu wissen, dass diese Arbeit auf Deutsch publiziert wird. Es begeistert mich, mich an Leser in der Welt zu wenden, um auszudrücken, was ich über den kulturellen Kontakt denke und fühle. Es ist eine Herausforderung. Sie begeistert und ängstigt mich zugleich. 12. Dezember: Tag der Jungfrau von Guadalupe. Der kulturelle Kontakt ist produktiv Wie im Jahre 1998 habe ich meine Notizen vor mir liegen und es ist ein reines Kopfzerbrechen, die Deadline rückt näher, aber ich hoffe, dass ich es rechtzeitig schaffe: Ich möchte mich mitteilen. Heute ist der 12. Dezember 2004, der Tag der Jungfrau von Guadalupe. Die Concheros werden in Villa tanzen, auch andere Tänzer werden kommen. In der Nacht zuvor wurden die Mananitas 14 gesungen; allein in den letzten vier Tagen haben sich in Villa 6.500.000 Gläubige aufgehalten. 15 Das Sprechen über den kulturellen Kontakt verweist mich auf das Moment, in dem ich lebe, auf mein ganzes Leben, auf das Leben zwischen den Menschen, auf den heutigen Tag, auf die nähere Vergan-
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genheit, auf die ferne Vergangenheit, auf die Geschichte und auf die Zukunft. Es ist schwierig, sich im aktuellen Moment, in der aktuellen Welt in Beziehung zur Kultur, in den Wechselwirkungen zwischen den Kulturen und dem Raum, von dem aus Kulturen und Wechselwirkungen zwischen diesen verstanden und erklärt werden, zu positionieren. Wie ich bereits sagte, vollzieht sich der kulturelle Kontakt in den Grenzen zwischen den Cultural Studies und den postmodernen, antiessentialistischen Positionen. Dies ist heute ein komplexes und von Treibsand durchzogenes Gebiet. Über den Zustand der Cultural Studies im letzten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts schreibt García Canclini: „Ich finde keine bessere Umschreibung, um die aktuelle Situation der Cultural Studies zu charakterisieren, als die Formel, die von den Ökonomen erfunden wurde, um die Krise der 80ger Jahre zu beschreiben: Stagnation mit Inflation. In den letzten Jahren häufen sich die den Cultural Studies gewidmeten Kongresse, Bücher und Zeitschriften, aber der Schwall an Artikeln und Vorträgen bietet selten mehr Kühnheiten als die praktischen Übungen der gewohnheitsmäßigen Fragen eines Poeten des 17. Jahrhunderts, oder ein dem Kanon fremder Text, eine marginale Widerstandsbewegung, welche noch nicht mittels des regelrechten Vernehmungsstils reorganisiert wurde. Die Zunahme der kleinen Debatten, die über Internet verbreitet werden, kann den Anschein einer Dynamik der Cultural Studies erwecken, aber – sowie es auch in anderen Bereichen mit dem Angebot und der Nachfrage geschieht – tendiert eine solche global zirkulierende
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Hier wird die Hönigswaldsche Korrelation des Kulturellen optimal zum Ausdruck gebracht. Sie wird im Ringen der Autorin performant – auch und gerade in der Verschränkung des Problems der Cultural Studies, eigener Erfahrung und des postmodernen, antiessentialistischen Diskurses.
Mir scheint, dass im Methodenstreit um die Cultural Studies zwei Unklarheiten vorherrschen, die es verhindern, dass sich die Cultural Studies gegen die
202 quantitativen Methoden emanzipieren. Und dieser Umstand macht dann auch aus, dass der interne Diskurs nicht selbstbewusst geführt wird. 1. Quantitativ zu verfahren heißt formal zu verfahren. Formale Generalisierung geht also auf die Zahl und die Menge. Qualitativ zu verfahren heißt symbolisch (inhaltlich) zu verfahren. Generalisierung im qualitativen Bereich kann demnach auch nur symbolische Generalisierung heißen. Das heißt der symbolische Raum muss tendentiell auf das Ganze aller Kulturen hin erweitert werden, so wie die Quantitativen tendentiell auf das Unendliche der Zahl nach gehen. Beides hat seinen methodischen Wert, kann aber nicht wirklich in Konkurrenz stehen. Die Verfahren sind komplementär, so wie die extensionale zur intensionalen Begriffskonzeption komplementär ist. Kein Logiker würde dies je bestreiten. 2. Bei den Cultural Studies wird zwischen Daten und Interpretation der Daten bei der Datenerhebung nicht scharf unterschieden und getrennt. Das geht bei qualitativen Verfahren auch gar nicht, weil
ALICIA DE ALBA Menge dazu, sich bald zu erschöpfen; sie lässt nicht zu, dass neue Konzepte und Hypothesen sich in längerfristigen Untersuchungen erproben und so verbringen wir unsere Zeit mit Überlegungen darüber, was man in der nächsten Saison tragen, welches Modell wir uns beim nächsten internationalen Kongress überstülpen werden.“
Diese Vision von García Canclini stößt mit der Realität oder den Realitäten, die an verschiedenen Punkten der Erde gelebt werden, zusammen. Mir ist klar, dass eine Sache die Prozesse und die kulturellen Praktiken sind, und eine andere das Verstehen dieser, die Bemühungen, Erklärungen über ihre Struktur, ihr Funktionieren, den Charakter ihrer konstitutiven Beziehungen etc. zu finden. Es scheint so, dass sich die Cultural Studies trotz ihrer Jugend in einer Krise befinden, einer Situation des Umbruchs. Michael Peters (1999) und andere glauben, dass genau in den Cultural Studies sich mit großer Kraft der Bruch der Disziplinen ausdrückt, die Notwendigkeit einer neuen Form der Humanwissenschaften. Es scheint so, dass es dieses instabile und komplexe Gebiet ist, dem sich der kulturelle Kontakt verschreibt. Nach García Canclini und anderen Autoren ist das Festhalten am Konzept der Multikulturalität oder der Interkulturalität hinderlich, um den kulturellen Kontakt zu sehen und zu verstehen. Doch ist es notwendig anzumerken, dass es wichtige Unterschiede. Gegenwärtig versucht sich das Konzept der Interkulturalität als eine soziale Bewegung zu positionieren, als ein dissidenter Diskurs (von Indigenen, Immigranten und anderen sozialen und kulturellen Gruppen), zugleich hat es sich nach
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und nach mittels der Regierungspolitik sowie nationalen und internationalen Programmen, die versuchen, den eben erwähnten sozialen, kulturellen und politischen Gruppen eine Antwort zu geben, institutionalisiert. Ein entscheidender Aspekt, den es in dieser Arbeit zu erwähnen gilt, ist der, dass Interkulturalität bezüglich des Verstehens kultureller Relationen zwischen Gruppen, Völkern und Nationen und bezüglich der Positionierung in und gegenüber der Beziehung zwischen verschiedenen Kulturen einen sehr bedeutenden Fortschritt impliziert. Dennoch bleibt sein Ausgangspunkt immer das Andere. An diesem Punkt ist der Gedanke angemessen, dass der kulturelle Kontakt sich in dem Einschlag und der Produktivität des Eigenen in dem Anderen und des Anderen in dem Eigenen konstituiert. Dies ist ein radikaler Unterschied gegenüber der Anthropologie, den Cultural Studies, dem kulturellen Relativismus, dem Multikulturalismus und dem Interkulturalismus. Der kulturelle Kontakt bezieht sich sowohl auf Prozesse und Praktiken als auch auf den ontologischen, epistemischen, theoretischen und ethischen Raum, um diese Prozesse und Praktiken zu verstehen und sie zu erklären. Der kulturelle Kontakt impliziert einen radikalen Wechsel der Sichtweise, der Wahrnehmung und der Konzeptualisierung des Kulturellen. Er lässt sich in den Grenzen und Grauzonen der Cultural Studies und antiessentialistischer postmoderner Perspektiven der politischen Philosophie verorten und könnte sich dem Gebiet verschreiben, das Peters (1999) darstellt, wenn er von der Krise der Cultural Studies spricht, die mit den Grenzen der Disziplinen bricht und sich als
203 das Zeichen (Indikator bei den Quantitativen) immer symbolischer Träger von Bedeutungen ist. Und Zeichen sind ja nur Zeichen, weil sie Träger von Bedeutungen sind, ansonsten wären es physikalische Gegenstände. Bei den quantitativen Methoden versucht man Datenerhebung und Interpretation so zu trennen, dass man die Sprache künstlich trennt in Beobachtungssprache und Theoriesprache. Die erstere ist für die Datenerhebung, die letztere für die Interpretation zuständig. Wie beide Sprachen aufeinander bezogen werden können, hat noch kein empirischer Rationalist erklären können. Carnap sprach von Korrespondenzregeln, konnte aber keine angeben. Kurzum: Das Problem von Zeichen/Indikator und Bedeutung/ Interpretation ist bei beiden methodischen Verfahren letztlich nicht geklärt, wobei die Qualitativen an dieser Stelle die besseren Karten haben. Sie haben das Problem permanent methodisch im Blick und reflektieren es, während die Quantita-
204 tiven meist nach der Maxime verfahren „das haben wir immer schon so gemacht“ oder aus dem Bauch heraus pragmatisch entscheiden. Darüber hinaus verbessern die Cultural Studies permanent ihre Verfahren, gehen dichter an die Realtät, erhöhen ihre Komplexität, verfeinern die Sichtweisen, während die Quantitativen ganz auf Standardisierung setzen.
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fruchtbarer Boden für eine neue Vision der Humanwissenschaften anbietet. Diese Perspektive erlaubt und begünstigt die Produktion und die Kreation neuer Bedeutung und auf mittlere oder lange Sicht gesehen, auch das Auftauchen neuer Kulturen. Dies lässt sich historisch bestätigen. Die Concheros in Cuernavaca, die Concheros in La Villa am 12. Dezember sind lebendige Ausdrücke des kulturellen Kontakts, der symbolischen Produktion des kulturellen Kontaktes und seines Potentials, Identitäten zu überschreiten und neue und komplexe semiotische Codes, Sprachspiele, Lebensformen zu produzieren. Der kulturelle Kontakt ist produktiv. Der Begriff des kulturellen Kontakts
Georg Simmel hat die Differenz von objektiver und subjektiver Kultur eingebracht. Ich will es frei interpretieren: Objektive Kultur ist der Gesamtbestand von symbolischen Verweisungen, die eine Gemeinschaft kulturell ausmacht, subjektive Kultur ist das, was in einem Einzelmenschen an objektiver Kultur performant wird. Da letzteres nie oder höchst selten die ganze objektive Kultur ausmacht, sondern vielmehr partikulär bleibt, ergibt sich ein Spannungsfeld mit vier Po-
Diverse Ansätze und Studien und Sichtweisen haben wertvolle Beiträge für das Verständnis der kulturellen Wechselbeziehungen zwischen Völkern, Nationen, sozialen Gruppen und Individuen geleistet. Jede dieser Bemühungen bedeutete einen wichtigen Fortschritt hinsichtlich der Aufgabe, die Elemente zu verstehen, zu konzeptualisieren und einzubringen, um die kulturellen Wechselbeziehungen zu regulieren, zu organisieren, zu er- oder entmutigen, auf- oder abzuwerten. Einige der wichtigsten Fortschritte sind der kulturelle Relativismus, der Multikulturalismus und der Interkulturalismus. Die kulturelle Wechselbeziehung entfaltet sich in der Interaktion von Innerem und Äußerem 16 der Individuen, der Gruppen und der Völker. Er empfängt das Andere und verbindet sich mit dem Anderen. Ausgehend vom Einschlag des Anderen im Eigenen und
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der Anerkennung des Einschlags des Eigenen in dem Anderen, nimmt der Kontakt die Komplexität der gegenseitigen Berührung der Identität des Eigenen und des Anderen an. In weiter fortgeschrittenen Momenten des kulturellen Kontaktes hat das Selbst einiges seiner Identität verloren und sich etwas vom Anderen, von der Kultur einverleibt, von der Welt, die bisher fremd war und die vielleicht auch weiterhin in vielerlei Aspekten fremd bleibt, aber derer sich das Selbst in manchem Moment zugehörig fühlt. Im kulturellen Kontakt gerät Identität in Unordnung; im kulturellen Kontakt sieht sich die Identität bedroht (Robin 1996). Das Ich, das Selbst nimmt eine klare und starke Distanz zu dem Ich, dem Selbst wahr, welches es noch zu Beginn des kulturellen Kontaktes war. In den Worten von Batjin, „Nicht ich bin es, der vom inneren Blick heraus die Welt betrachtet, sondern ich sehe mich selbst mit den Augen der Welt, mit den fremden Augen, ich bin besetzt vom Anderen“ (zit. nach http://www.proyectopuentes.com.ar/Ponencias%20Congreso/ ponenciabarchilon.htm). Der kulturelle Kontakt stellt die Beziehung alltäglicher und historischer Realitäten innerhalb einer kulturellen, sozialen Verflechtung dar, ist ein seiendes Sein kultureller Wechselbeziehungen zwischen den Menschen. Er ist die Verflechtung des zeitlichen Seins zwischen verschiedenen Gruppen und sozialen Sektoren. Er ist ein sozialer, kultureller und historischer Prozess. Zugleich ist er eine Stellungnahme gegenüber den kulturellen Beziehungen zwischen Völkern, Gruppen und sozialen Subjekten. Genau das ist er: ein sozialer Prozess und das Einneh-
205 len: die eigene subjektive Kultur, die fremde subjektive Kultur, die eigene objektive, aber nur partikulär bekannte Kultur und die fremde objektive, aber auch im Fremden nur partikulär bekannte Kultur. Dieses feinere Theoriekonzept könnte das Phänomen des kulturellen Kontaktes besser fassbar machen.
Simmels Theoriekonzept erlaubt zu sagen: Der kulturelle Kontakt erzeugt eine mindestens dreifache Irritation. Erstens gegenüber der fremden subjektiven Kultur (Bildung), zweitens gegenüber der eigenen unbekannten objektiven Kultur und drittens gegenüber der fremden objektiven Kultur, die auch in Tei-
206 len in der fremden subjektiven Kultur unbekannt ist. Wenn man von einem seienden Sein in den Cultural Studies auch nur im Ansatz sinnvoll sprechen kann, dann so: Die objektive Kultur ist das Sein, die subjektive Kultur ist das seiende Sein. In einem solchen Denken wird aber die objektive Kultur als wesenhaft unveränderliche Substanz gefasst, was der Dynamik in der objektiven Kultur, die ja durch die subjektive Kultur erzeugt wird, widerspricht.
Das macht den Ereignischarakter des kulturellen Kontaktes aus. Ereignisse werden oft nur registriert und wirken unbewusst weiter, ohne dass sie bewußt wahrgenommen oder reflektiert werden.
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men einer Position vor dem Hintergrund des Intelligiblen. Die kulturelle, semiotische, ontologische, epistemische, soziale, politische, erzieherische etc. Positionierung im kulturellen Kontakt sowie der Begriff des kulturellen Kontaktes haben auch ihre Grenzen, auch wenn diese ungenau sind. Sich in die Perspektive des hier skizzierten kulturellen Kontaktes zu begeben, ist eine Bemühung in Richtung eines Verständnisses der Kulturen und ihrer Wechselbeziehungen, es ist eine Bemühung, die auf die Schlüsselfrage nach Identität bezogen ist. Der kulturelle Kontakt bringt Identitäten durcheinander, deswegen ist er Risiko und Chance. Im Zentrum des kulturellen Kontaktes befindet sich stets die Bedrohung der Identität, welche nicht einfach vom kulturellen Relativismus, dem Multikulturalismus, der Interkulturalismus oder der kulturellen Hybridisierung aus zu verstehen ist. Es ist wichtig, an diesem Punkt zwei Dimensionen oder Aspekte zu spezifizieren. 1. Der kulturelle Kontakt produziert sich in zahlreichen historischen und sozialen Prozessen. Dennoch nehmen die eben genannten Perspektiven diesen gar nicht oder nur in einer radikal limitierten Art und Weise wahr, weil sie als entscheidenden und konstitutiven Aspekt des kulturellen Kontaktes nicht die Frage der Unordnung der Identität, nicht die wechselseitige Berührung des Selbst und des Anderen, den kulturellen Kontakt eben nicht als Risiko und Chance anerkennen. 2. Indem sie sich spezifischen Sprachspielen verschreiben, haben die Perspektiven des kulturellen Relativismus, des Multikulturalismus oder des Interkulturalismus und der Hybridisierung Auswirkungen auf die kulturellen Beziehungen und dies obwohl sie
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die Unordnung der Identität nicht wahrnehmen, eben weil diese Perspektiven den ideologischen und politischen Versuch nach sich ziehen, die Idee des kulturellen Kontaktes mit Hilfe diverser Argumente zu ignorieren und sie größtenteils zu vermeiden. Auch die renommiertesten Intellektuellen auf unserem Gebiet erkennen eine gewisse Antriebslosigkeit und Unfähigkeit, die kulturellen Probleme und Phänomene des letzten Jahrzehnts, der Jahrhundertwende anzugehen sowie neue konzeptuelle Elemente und neue konzeptuelle Perspektiven und Ideen einzubringen (García Canclini 1997). Diese Situation der Unfähigkeit, der Unsicherheit, des seifigen Untergrunds ist in den charakteristischen Krisenkontext 17 angesiedelt, in dem wir heute leben. Durch das Wiederaufnehmen der Perspektive des kulturellen Kontaktes befinden wir uns in einer Perspektive der Vorstellungskraft, der Hoffnung und des Engagements für neue Horizonte des aktuellen und komplexen Kontextes der allgemeinen strukturellen Krise (crisis estructural generalizada – CEG). Unter dieser allgemeinen strukturellen Krise versteht man die allgemeine Schwächung der Elemente 18 der relationalen Systeme verschiedener sich wechselseitig beeinflussender Strukturen, die wiederum eine höhere Struktur formen und die Identitäten in sozialen, politischen, kulturellen Räumen definieren, was zu einer Ausbreitung von fließenden Elementen führt. Eine allgemeine strukturelle Krise ist eher durch die Destrukturalisierung der Strukturen charakterisiert als durch die Strukturierung neuer Strukturen, auch wenn sich in ihrem Inneren komplexe Phänomene produzieren, auf die wir später eingehen werden. Nun sollen eini-
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Hier geht es um die Konfikte zwischen objektiven Kulturen, die sich aus vielfältigen kulturellen Kontakten auf der Ebene subjektiver Kultur ergeben. Die Krise objektiver Kulturen ist umso größer je häufiger sie auf der Ebene der subjektiven Kulturen performant werden. Mit dem Strukturbegriff muss
208 man hier sehr vorsichtig umgehen, damit man nicht ins Fahrwasser sozialstruktureller Analysen gerät. Natürlich ist auch der symbolische Raum strukturiert, aber die Struktur ergibt sich aus dem Inhalt (causa materialis) und nicht wie bei den „Sozialstrukturellen“ umgekehrt (causa formalis). Mit der Destrukturalisierung objektiver Kulturen sind stets Brüche, Einbrüche und Zusammenbrüche im semantischen Raum einer Kultur verbunden. Das macht solche Destrukturalisierungen so gefährlich und subjektiv unerträglich.
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ge der wichtigsten Charakteristika der allgemeinen strukturellen Krise so, wie sie sich im Übergang des 20. zum 21. Jahrhunderts präsentiert haben, vorgestellt werden: 1. Es handelt sich um Krisen, die sich in einem weiten zeitlichen Raum produzieren. Es ist nicht möglich, ihre Dauer vorauszusagen, aber es ist möglich sie insofern zu erkennen, als in allen Wechselbeziehungen, die eine Gesellschaft ausmachen, eine Destrukturalisierung der Strukturen stattfindet. 2. Die CEG ermöglichen, indem sie Strukturen destrukturalisieren, die Konstitution neuer Strukturen. Gerade deswegen ist es von höchster Wichtigkeit, ihnen auf kreative und engagierte Art zu begegnen. 3. Die Destrukturalisierung der Strukturen produziert sich in verschiedenen Zeiten und Räumen, auf sehr unterschiedliche Art und Weise, in Beziehung zu verschiedenen Punkten der Welt oder einer Religion oder eines Landes oder verschiedenen Gruppen, verschiedenen Sektoren. 4. Die CEG verlangen nach neuen Denkund Handlungsweisen. Sie bringen neue Sprachspiele, neue Lebensformen in die Praxis ein. Die CEG konstituieren sich als privilegierte Kontexte, die den kulturellen Kontakt ermöglichen. In der Tat lässt sich bestätigen, dass zur Zeit zahlreiche kulturelle Kontakte hergestellt werden, auch wenn man die Schwierigkeit anerkennen muss, diese wahrzunehmen, da die semiotischen Codes auf komplexe und konfliktive Art in den Kontakt eintreten.
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Januar 2005. Das Durcheinanderbringen der Identität Die Irritation der Identität im und durch den kulturellen Kontakt findet in zwei Bereichen statt: dem Äußeren und dem Inneren. Die Identität, trotz der Schwierigkeit sie zu definieren, wird hier verstanden als ein sich im Bilden und Gestalten befindender Prozess mit imaginären Momenten der Schließung (der Identifikation); so konstruiert sich Identität, befindet sich in Bewegung und ist ein wesentlicher Aspekt einer Kultur, eines Volkes, einer Gemeinschaft oder eines Individuums. Die Identität konstruiert sich, wenn eine Einheit (ein Subjekt) von einem Diskurs, der in der sozialen Verflechtung zirkuliert, unterbrochen wird. „Diskurs“ kann man verstehen als die Gesamtheit der an einer Bedeutungsoberfläche artikulierten Elemente (linguistisch und extralinguistisch). Die Artikulation geschieht mittels eines semiotischen Codes. Die Identifikation produziert sich in dem Moment der Antwort auf die diskursive Unterbrechung. Die Gestaltung der Identität besitzt zwei Logiken und zwei Bereiche. Die Logiken sind die der Exklusion und der Inklusion und die Bereiche sind die des Inneren (differenzielle Identität) und des Äußeren (äquivalente Identität). Eine Einheit besitzt eine differenzielle, eine sozusagen nach innen gerichtete Identität, die sich, in kulturellen Begriffen ausgedrückt und die sich auf den ersten Kern der Identität bezieht, wie die Familie, die Gemeinschaft oder das Strassenviertel, die Schule, etc. In diesem Bereich werden mittels Identifikationsprozessen Weltfiguren
Ich habe Probleme mit dem sozialwissenschaftlichen Begriff der Identität, weil er letztlich seinen logischen Gehalt nicht abstreifen kann. Logisch ist Identität „a=a“. a ist identisch mit b, dann kann b überall, wo es vorkommt, durch a ersetzt werden. Gerade letzteres geht aber bei sozialer Identität nicht, weil es sich hier um Prozesse, um ein Werden, handelt. Dominant im Werden ist die Differenz bei partiellen Gleichheiten. Also würde ich überall lieber von Kontinuität sprechen. Dieser Begriff vermeidet im Ansatz mögliche Missverständnisse und lenkt die Aufmerksamkeit in Richtung auf Differenz.
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Wenn ich äquivalente Identität produziere, dann gebe ich Diskontinuitäten in meinem Werden frei für Schließungen, die andere bei äquivalenten Diskontinuitäten anbieten. Westliche Gesellschaften haben z. B. ein Problem der Diskontinuität im Religiösen. Es gibt kulturelle Lücken im Bereich der Verarbeitung von Kontingenz. Das christliche Angebot der Verarbeitung von Kontingenz im Gebet überzeugt nicht mehr. Ein äquivantes Angebot ist die buddhistische Meditation, das aus einer ganz anderen Kultur stammt. Wenn es angenommen wird, findet eine äquivalente Identifikation statt. Das Beispiel ist nicht wirklich konfliktär, weil westliche Ge-
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(Kosmovisionen), Gefühlsformen, Formen der Weltkonstruktion, Werte und Bräuche erlernt. Die differenzielle Identität ist im Selbst verankert, im Ich, im psychischen Apparat. Sie tendiert dazu, starke Schließungsmechanismen zu produzieren und die Punkte zu negieren, an denen die Identität Risse und Zwischenräume hat. Der differenzielle Bereich der Identität funktioniert mittels der Logik der Exklusion. Er tendiert dazu, alles auszuschließen, was dieser Identität, welche sich in der Differenz zu dem Eigenen, zu dem, was ihr Inneres konstituiert und zentriert, entgegenläuft, sie bedroht. Die äquivalente Identität produziert sich, wenn eine Differenz einen Teil ihres differenziellen Raumes an eine andere Identität abgibt. Dies geschieht, wenn die Risse und Zwischenräume der differenziellen Identität von anderen Identitäten berührt werden. Die äquivalente Identität konstituiert sich auch mittels identifikatorischer Prozesse, indem sie sich – gemeinsam mit anderen differenziellen Identitäten, die auf dieselbe Weise agieren, – aus Äquivalenzen formt, die eine höhere Identität konstruieren. Die äquivalente Identität bezieht sich auf soziale, politische, kulturelle, institutionelle, individuelle Subjekte. Dieser Typ der Identität ist der, der sich mit der Ideologie, mit politischen Parteien, mit einer bestimmten Religion etc. verbindet. Die äquivalente Identität produziert sich im Bereich des Äußeren mittels der Logik der Inklusion. Eine äquivalente Kette ist somit stärker, da sie eine größere Fähigkeit zur Inklusion von Anderen und Anderem besitzt. Der kulturelle Kontakt produziert sich in initiierender Weise und im Allgemeinen im Äußeren der Identität, in seinem äquivalenten Ausdruck, obgleich es
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wichtig ist anzumerken, dass eine konstitutive Mehrdeutigkeit zwischen dem Inneren und dem Äußeren der Identität besteht. Wenn der kulturelle Kontakt das Äußere der Identität berührt, so präsentiert sich darin mit voller Kraft die Komplexität und Konfliktivität des kulturellen Kontaktes. Die Identität, deren Durcheinanderbringen eingeleitet wird, ist nicht allein bedroht, sondern wird berührt. Wenn das Innere der Identität auf solch bedeutende Weise berührt wird, ergeben sich neue Bedeutungen: Dies ist das produktive Moment des kulturellen Kontaktes, in welchem nun das Durcheinanderbringen der Identität die Bildung neuer Identitätspole und die Transformation vorhandener Identitätspole begünstigt und erlaubt. Argentinien. Das Äußere, die Äquivalenz, die Bewegung der Identität Fast den ganzen Oktober des Jahres 2004 hielt ich mich in Argentinien auf. Ich liebe dieses Land. Die Argentinier, die in Mexiko gelebt haben 19, nennt man Argemex. Da es sich stets um eine wechselseitige Angelegenheit handelt, haben wir auch viele Mexarg. Ich bin eine Argemex oder eine Mexarg. In den letzten Jahrzehnten hat es einen tiefen und produktiven kulturellen Kontakt zwischen Mexikanern und Argentiniern gegeben. Dieser kulturelle Kontakt hat vielen von uns erlaubt, uns als lateinamerikanische Subjekte zu konstituieren. Er hat uns – in einem weiten Sinne – das Verständnis zahlreicher kultureller Elemente erlaubt, die wir uns von einer bodenständig-geschlossenen differenziellen mexikanischen Identität aus nicht
211 sellschaften diese Äquivalenz bzgl. der Sinnfrage längst marktförmig eingebaut haben. Dennoch bleibt die Irritation des Kontaktes. Die fremde Lösung – hier der buddhistischen Meditation – muss gelernt werden, sie ist widerständig gegenüber der eigenen Kultur, und dennoch tangiert sie ein Bedürfnis innerhalb der eigenen Kultur.
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Der Flaneur will sehen und gesehen werden, er ist ein selbstverliebter Extravagant, den die Pluralität globalisierter Kulturerfahrung hervorbringt. Der Flaneur mag tolerant sein, aber er geht nicht auf Verstehen. Er beobachtet distanziert und verleibt fremdkulturelle Momente ein, sofern sie seinem Snobismus dienen.
Die hybriden kulturellen Formen des Argemex und des Mexarg verstehen sich als Ver-
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hätten eingliedern können (so wie es in der identifikatorischen Antwort des mexikanischen Nationalismus geschieht). In der Situation des kulturellen Kontaktes sehen sich Interessen, intellektuelle Formen, Bräuche, Gefühlsformen etc. berührt. Die äquivalente Identität sieht sich berührt, wenn sie in den Kontakt mit einer anderen Kultur kommt. Im kulturellen Kontakt wird der Raum des Betrachters, des teilnehmenden Forschers, des Touristen, des Immigranten, des Exilanten, des Flâneurs überschritten (McLaren 1997). Auch wenn der Beobachter, der teilnehmende Forscher, der Tourist, der Exilant, der Flâneur nicht seine differenzielle Identität verlieren, so geschieht es doch, dass sich diese Identitäten transformieren, wenn sie durcheinander gebracht, dezentralisiert werden. Indem sich die Identität neuen Identifikationspolen öffnet, wird sie durcheinander gebracht, dezentralisiert und verwandelt. In diesem Transformationsprozess, in dieser Öffnung gibt es recht bald einen gewissen Verlust der differenziellen Identität. In dem Prolog, den ich im Jahre 1998 schrieb, merkte ich an, dass der Revolutionäre Multikulturalismus von McLaren sich in den Grenzen des kulturellen Kontakts ansiedelt. Damals war es der Multikulturalismus und heute ist es der Interkulturalismus, der sich in den Grenzen des kulturellen Kontaktes befindet, sowohl in Form von kulturellen und sozialen Prozessen und Praktiken als auch bezüglich der Bemühungen, diese Prozesse und Praktiken zu verstehen. In dem Prolog sagte ich zu Adriana Puiggrós: „Liebe Adriana, die Geschichten unserer Beziehungen als Lateinamerikanerinnen und zwischen Lateinamerikanern
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sind verschieden. Ich glaube, dass es für uns schwer ist, uns in dem Raum „des Flâneurs/ der Flâneuse“ aufzuhalten, welcher der Raum zu sein scheint, in dem Peter McLaren sich selber sieht. Wir haben eher tiefe Prozesse des kulturellen Kontaktes als solche des Multikulturalismus erlebt. Aus diesem Grund erwachte ich eines Tages, nachdem du nach Argentinien zurückgekehrt warst, mit dem tiefen Bedürfnis, nach Buenos Aires zu reisen, um dich zu sehen und da begann ich zu verstehen, dass unsere Jahre des Zusammenlebens uns wechselseitig berührt und transformiert hatten. Von diesem Augenblick hatte ich gedacht, ‚Argemex‘ würde sich lediglich auf Seiten der Argentinier ansiedeln, doch nun begann ich, mich um meinen zuständigen Teil zu kümmern und zu überlegen, wie meine eigene Identität durcheinander gebracht worden war. Ab diesem Moment begann ich Lateinamerikanerin zu sein, einen Teil des ‚Argemex‘ der mich berührte, anzunehmen“ (de Alba, 1998).
213 schränkungen im symbolischen Raum, der sich als Vereinigung der objektiven Kulturen des mexikanischen und des argentinischen symbolischen Raumes versteht. Sie werden different als subjektive Performanzen des Kulturellen vor jeweils differenter Horizonte objektiver Kultur und differenter Verständnisse objektiver Kultur.
Der Tag der Candelaría: Tamales und Atole. Das Innere und die Differenz im kulturellen Kontakt Es nähert sich der Tag der Candelaría. Es ist der 2. Februar. Am 6. Januar wird der Dreikönigskuchen geteilt, in welchem kleine Männchen eingebacken sind. Wer in seinem Stück Kuchen ein Männchen findet, muss am Tag der Candelaría seinen Freunden und der Familie Tamales und Atole anbieten. Diejenigen, die dieser Feierlichkeit einen religiöseren Sinn beimessen, gehen an diesem Tag in die Kirche, um die Figur des kleinen Jesuskindes segnen zu lassen, die sie am 24. Dezember in ihrer Krippe aufgestellt hatten.
Feste, die auf Ritualen beruhen, reproduzieren die Bedeutung von Handlungsweisen, ohne auf diese Bedeutung explizit zu rekurrieren. Die Bedeutung versteckt sich hinter der Ritualität. Das schützt
214 sie vor Kritik und belässt sie in der unvordenklichen Gewissheit einer Handlungsweise, die alle trägt. Rituale feiern also Gemeinsamkeit, indem sie das Gemeinsame verstecken und gegen eine mögliche Kritik immunisieren.
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Das Anbieten von Tamales und Atole ist ein wichtiger Zug der Identität der Mexikaner aus der Mitte, dem Süden und dem SüdOsten der mexikanischen Republik. Es ist ein bedeutender Teil der differenziellen Identität, der sich in den Grenzen der differenziellen und äquivalenten Identität ansiedelt. Es ist eine gefestigte kulturelle Praktik, welche die differenzielle Anerkennung zwischen Basisgruppen der Gesellschaft wie Familien, Arbeitskollegen und Freunden erlaubt. Es ist ein identitätsstiftender Raum, der den, der ihn besitzt, mit einem Gefühl der Zugehörigkeit und Sicherheit ausstattet. Dieser Pol oder Zug der Identität hat sich zwischen denen, die diese kulturelle Praktik besitzen, normalisiert. Der Tag der Candelaría bedeutet einen Raum der Sicherheit, der Zuneigung, des Teilens gemeinschaftlicher Codes. Es ist heute ein gefestigter Identitätspol. Februar 2005. Rekapitulation. Adriana Puiggrós, Peter McLaren: Bemühungen um eine ordnende Neuschreibung im autobiographischen Raum Die Deadline der Arbeit drängt sich mir auf. Ich befinde mich erneut unter Druck und vor der Alternative: dem Wunsch, diese Arbeit zu beenden und abzusenden und der Schwierigkeit, erlebt als die Unmöglichkeit, sie zu vollführen. Die Notizen sind ausgeschöpft, das Kopfzerbrechen hat sich eingestellt. Was ich über den kulturellen Kontakt geschrieben habe, erscheint mir paradoxer Weise zugleich wenig und dicht. Ich lese es erneut. Einige der Ideen weiterzuentwickeln und andere so zu belassen ist ein Risiko, die
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Arbeit in ihrem jetzigen Zustand abzuschikken, ein anderes. Ich weiß, ich befinde mich an meinen Grenzen. Vor einigen Tagen habe ich Monika einen Entwurf geschickt, es ist das erste Mal, dass ich so etwas mache. Ich sage mir, dass sie es wohl am Wochenende lesen wird. Es ist 23.20 Uhr, Freitag der 18. Februar. Ich möchte ihr das Material erneut zuschicken, damit sie den vorherigen Entwurf nicht liest. Es fällt mir schwer, dies zu akzeptieren. Ich bin dabei diese Arbeit zu beenden. Doch die starke Präsenz zweier Personen durchkreuzt dies. Adriana Puiggrós und Peter McLaren. Sie durchkreuzten auch meinen Prolog aus dem Jahre 1998. Das erste, was auftaucht, ist die Zuneigung, das Wohlwollen, danach die Anerkennung ihres Werkes als zwei in der Aktualität herausragende erziehungswissenschaftliche Theoretiker mit einem unerschöpflichen sozialen Engagement. So vieles habe ich von beiden gelernt. Während beide sich geopolitisch gesehen und auch bezüglich des semiotischen Universum an zwei Extremen befinden, finde ich mich im Zentrum wieder. In Richtung Norden, die Vereinigten Staaten von Amerika, das Englisch, die angloamerikanische Kultur und Peter als Teil dieser Welt, kämpfend und sich einbringend. Stets an der äquivalenten Grenze des kulturellen Kontakts, in einer konstanten Bemühung einzutreten. Im Jahre 1988 lernte ich ihn in Mexiko Stadt kennen, wir hatten ihn an die Autonome Nationaluniversität Mexiko (Universidad Nacional Autónoma de México – UNAM) eingeladen, im Jahre 1989 besuchte ich ihn in Oxford, Ohio, wo er an der Universität an der Seite von Henry Giroux arbeitete. Die Beziehung, die ich mit Peter McLaren während dieser 16 Jahre un-
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Die immer nur performant fassbare subjektive Kultur klebt an dem je einzelnen empirischen Menschen, der in seinem spezifischen Menschsein niemals fassbar ist. In der Kulturgemeinschaft wird der Einzelmensch nur fassbar als ein singulärer Jemand, der objektive Kultur performant macht. Sofern dies einmalig ist, bestimmt es die Individualität des Einzelnen im Sinne der Unverwechselbarkeit.
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terhielt, war sporadisch, intensiv, vital und formend. Er vom Multikulturalismus aus, ich meinerseits in einem komplexen Versuch, in kulturellen Kontakt zu treten, verschanzt in meiner differenziellen Identität, versuchend, die Risse und Zwischenräume meiner Identität zu hüten und zugleich mit dem Wunsch, mehr über diese Kultur zu wissen, mit ihr in Kontakt zu treten. Ich befinde mich in dem Konflikt und der Ungleichheit des kulturellen Kontaktes. Ich weiß, dass ich diejenige bin, die Englisch lernen wird müssen. Ich weigere mich, es zu tun. Heute weiß ich nicht so recht, ob ich in der Lage bin, mich auf Englisch mitzuteilen. Ich habe es getan. Dieses Thema ist hart. McLaren ist ein sozialer Kämpfer, ein brillanter Theoretiker. Er riskiert etwas. Er wandert in Richtung Süden. Er nähert sich der Grenze, er überschreitet sie, er verbindet sich mit Anderen, den Anderen, von seiner Position des Flâneurs aus. Er kehrt in den Norden zurück. Von dort aus fliegt er in verschiedene Richtungen der Welt und sie hören ihm zu. Sein Werk ist herausragend. In den letzten Jahren hat er sich vom Norden der USA, Ohio nach Los Angeles, Kalifornien bewegt. Dort lebt er täglich mit Studenten anderer Kulturen zusammen. Seine differenzielle Identität ist sehr stark, dies ist mein Eindruck. Er bewährt sich auch in der Sicherheit der Sprache. Er lebt täglich mit spanisch sprechenden Menschen zusammen. In jedem Moment kann er in kulturellen Kontakt treten. Adriana Puiggrós befindet sich im Süden, in Argentinien, Südamerika. An der symbolischen Grenze der lateinamerikanischen Identität. Wir sprechen dieselbe Sprache, dies ist eine konstante Quelle der Identifikation für mich. Adriana ist in diesen
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Überlegungen über den kulturellen Kontakt ein wichtiger Teil gewesen. Ende der 1970er bis Anfang der 1980er Jahre des letzten Jahrhunderts lebte Adriana in Mexiko und gab Unterricht an der Fakultät für Philosophie und Sprachwissenschaft an der UNAM. Sie initiierte ein lateinamerikanisches Projekt, eröffnete den kulturellen Kontakt, suchte ihn und fürchtete ihn nicht. Als sie nach Argentinien zurückkehrt, ist sie eine Argemex. Meine Identität wurde durcheinander gebracht, sie hat sich geöffnet. Heute besitzt Adriana die mexikanische und die argentinische Staatsangehörigkeit. Ich habe von ihr viel über den kulturellen Kontakt gelernt. Dies wusste ich noch nicht als ich den Prolog aus dem Jahre 1998 als einen an sie gerichteten Brief verfasste. Nun weiß ich es: Adriana Puiggrós und Peter McLaren durchkreuzen meine konzeptuellen Überlegungen über den kulturellen Kontakt; ich befinde mich in einem Spannungsfeld zwischen dem Norden und dem Süden Amerikas, ich befinde mich in der Mitte: Mexiko. Außer dem Norden und dem Süden ziehen mich auch der Osten und der Westen an. Ich habe mich ins Zentrum des kulturellen Kontaktes gestellt, so meine Vorstellung. Es gefällt mir und ängstigt mich. Ich habe dieses Schreiben beendet. Und einmal mehr steigt mir der Prolog aus dem Jahre 1998 in den Kopf. Dort begann ich und dorthin kehre ich zurück. Ich habe in gewissem Sinne eine konzeptuelle Umsegelung vom biographischen Raum aus realisiert. Eine Synthese der Aufgabe, die mich nun erwartet, findet sich in dieser Arbeit. Immer noch gilt: „Von meinem Blickwinkel aus besteht der radikale Unterschied zwischen dem kulturellen Kontakt und dem Multikul-
Man tritt nicht in den kulturellen Kontakt, sondern man gerät in
218 ihn. Er ereignet sich, und wir sind Teil des Ereignisses. Wir verlassen auch nicht den Kontakt, sondern wir werden herausgeschleudert als andere, die die Kontinuität ihres Lebens nur so wahren können, dass sie einen hybriden kulturellen Zusammenhang als Horizont ihres Lebens annehmen. Der Kontakt als Ereignis geht jeder Reflexion voraus, sonst hat Reflexion gar keinen Sinn. Wir machen nicht den Kontakt, sondern sind sein Opfer.
ALICIA DE ALBA turalismus darin, dass der kulturelle Kontakt dich transformiert, du trittst in ihn ein und verlässt ihn als ein anderer Mensch. Im kulturellen Kontakt kannst du nicht allein ein Flâneur sein, da du ein konstitutiver Teil von ihm bist. Der kulturelle Kontakt ist wie der Liebeskontakt, er kann nicht nur transformieren, sondern auch in solch einem Maße kreieren, dass im Liebeskontakt ein neues Wesen hervorgebracht werden kann, genauso wie der kulturelle Kontakt ein neues kulturelles Wesen hervorbringen kann. Natürlich ist die Verschiebung ein konstitutiver Teil jeder neuen Produktion, aber wie in den Liebesbeziehungen, so muss es, um eine neue Einheit zu produzieren oder zu kreieren, auch in den kulturellen und erzieherischen Beziehungen eine Relation des Wir und Sie geben, mehr als ein Du oder Ich. Und besitzen Liebesbeziehungen, kulturelle und erzieherische Beziehungen auch ihre Momente der Konflikte und Abbrüche, so sind es nicht diese Momente, in denen produziert oder kreiert wird. Dies geschieht nicht in den Momenten der Trennung, sondern in Momenten der Verbindung“ (de Alba 1998).
Ich brauche einen Moment der Erholung. Ich lege Mozart auf. Ich liebe seine 40. Sinfonie, sie erfüllt mich mit Zuversicht und Vitalität. In ihren vier Sätzen erlebe ich Emotionen der Freude, des Friedens und der Ruhe. Sie bringen mich an einen anderen Ort, in eine andere Zeit und erlauben mir zugleich, hier präsent zu sein. Und während ich Mozart lausche, beginne ich über dieses Selbst nachzudenken, das mein Ich ist und über die Möglichkeit, neue soziale Verknüpfungen, neue Sprachspiele, neue Bedeutungen zu konstituieren und zu kreieren. Davon träumend, Teil der Konstruktion einer besse-
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ren Welt sein zu können, beende ich an dieser Stelle den Text.
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Gruppe von mexikanischen Tänzern deren ursprünglich prähispanischen Tänze in die katholische Religion einverleibt wurden. „Diese Tänzer, in der Aktualität auch bekannt als die Soldaten der spirituellen Conquista, […] versuchen zu einer Einheit zu verschmelzen, um einen ihrer Grundgedanken Einheit, Übereinstimmung und Eroberung zu erreichen. Mit diesen Feierlichkeiten hofft man, die Harmonie des Universums zu bewahren und die Seelen der 4 Winde – die Seelen der toten Concheros – um Kraft, Licht, und spirituellen Schutz zu bitten“ (Instituto Nacional de Antropología e Historia 2002). „Im 19. Jahrhundert florierte die Zeit der Mariachis. Aus den tiefsten Gefühlen der Seele, den Sorgen und Freuden der Mexikaner ziehen die Lieder eines Mariachi ihre Kraft und Emotionen. Die vibrierenden Töne der Trompete oder die Magie ihrer Violinen sprechen ebenso von der Liebe zu einer schönen Frau wie von der Sehnsucht nach der Ferne“ (http:// www. contactomagazine.com/marachi.htm). Die Anthropologie entsteht in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts in England als eine Wissenschaft, deren Untersuchungsobjekt der Mensch ist. Es der westliche, hauptsächlich der zentraleuropäische Mensch, der den Anderen studiert: den Primitiven, den Wilden, die Hochkulturen der Vergangenheit und die Gesellschaften, die aus anthropologischer Sicht auf einer niedrigeren zivilisatorischen Entwicklungsstufe stehen. Die Cultural Studies haben ihren Ursprung ebenfalls in England. Sie kümmern sich um das Wissen und die Untersuchung des Selbst im Inneren der Kultur, der Prozesse und kulturellen Aktivitäten in der Gesellschaft, in der dieses Selbst situiert ist. Antiessentialistische und postmoderne Positionen nehmen ihren Ausgang unter anderem an der radikalen Kritik westlicher Kultur, die Nietzsche vornimmt, an der Wiedergewinnung der ontologischen Perspektive mit Heidegger, an der starken Zentralisierung des Bewusstseins und des Ichs mit der Psychoanalyse Freuds. Eine interessante Untersuchung über die Beziehung zwischen Cultural Studies und der Postmoderne findet sich bei Follari (2000). Der biographische Raum „stellt Beziehungen, präsente oder auch nicht präsente, zwischen in verschiedenen Graden angrenzenden Formen vor, die weder notwendig noch hierarchisch sind, die aber ihren Sinn aus einem Zeit-Raum-Verhältnis, einer Gleichzeitigkeit von Geschehnissen ziehen und die eben deswegen in eine verständliche, nachvollziehbare Lektüre im weiten Rahmen des Zeitklimas transformiert werden können. Er erlaubt die Berücksichtigung spezifischer Eigenschaften, ohne seine rationale Dimension, seine thematische und pragmatische Interaktivität und seinen Gebrauch in verschiedenen Sphären der Kommunikation und Aktion aus dem Blick zu verlieren“ (Arfuch 2002: 50). Cuernavaca, bekannt als die „Stadt des ewigen Frühlings“, befindet sich eine Autostunde von Mexiko City. Hernán Cortés war der Eroberer Mexikos. In der Stadt Cuernavaca ließ er einen Erholungspalast bauen, heute bekannt als „Cortés-Palast“.
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Unter Position kann hier der ontologische, epistemische, theoretische, psychische, kulturelle, soziale, geopolitische, ökonomische etc. Raum verstanden werden, von dem aus gesprochen und konstruiert wird. „Der Raum (…) konstituiert sich in einem Bedeutungsfeld, das die Subjekte symbolisch konstruieren und mit Sinn ausstatten, indem sie verschiedene Bedeutungsträger um einen Knotenpunkt herum wiedergeben, organisieren und strukturieren“ (Gómez Sollano 2003: 97). „Im heutigen Mexiko besitzen wir dem Tod und dem Schmerz gegenüber ein bestimmtes Empfinden. Der Tod ist wie ein Spiegel, der reflektiert, wie wir gelebt haben und was wir bedauern. Wenn der Tod uns ereilt, erleuchtet uns das Leben. Wenn unser Tod keinen Sinn hat, dann besaß ihn auch nicht unser Leben, ‚Sag mir wie du stirbst und ich sage Dir wer du bist‘. Wenn man prähistorische Kulte und die christliche Religion gegenüberstellt, stellt man fest, dass der Tod nicht das natürliche Ende des Lebens, sondern nur die Phase eines ewigen Zyklus ist. (…) Der Glaube an den Tod ist das unvermeidliche Ziel jedes natürlichen Prozesses. Dies sehen wir jeden Tag, die Blumen erblühen und danach verblühen sie wieder. Tiere werden geboren und sterben dann. Auch wir werden geboren, wachsen auf, pflanzen uns fort in unseren Kindern, altern und sterben. (…) Es ist eine Tatsache, dass der Tod existiert, aber niemand denkt an seinen eigenen Tod. In den aktuellen Kulturen ist der Tod ein Wort, das man nicht ausspricht“ (vgl. http://www. amayantli.com.mx/artimoer.htm. Weitere Informationen: http://www.acabtu.com.mx/diademoertos/hollosday/index.html) „In einigen Haushalten in Mexiko war es üblich, den Altar für die Toten in den Wohnräumen des Hauses einzurichten, damit er von den Besuchern und Freunden gesehen werden konnte. Heute finden wir ihn eher in den intimeren Räumlichkeiten des Hauses. Die Fotografie des Verstorbenen nimmt den Hauptplatz des Altars ein und um sie herum werden Objekte platziert, die für die Person zeitlebens mit Genuss verbunden waren, z.B. seine Lieblingsgerichte, seine Lieblingslektüre, Zigaretten, sogar die Flasche Wein, die er bevorzugte. (…) der Tote könnte an diesem Tag nach Hause zurückkehren und so muss man ihn gut bewirten. Auch werden Heiligenbilder aufgestellt, wie z. B. von der Heiligen Jungfrau, eine Jesusfigur oder andere Heilige. Ebenso finden sich hier auch einige dekorative Elemente, wie z.B. Blumen, kleine Skelette aus Zucker und das so genannte Totenbrot. Räucherwerk durchtränkt die Luft und gibt dem Ganzen eine mystische Atmosphäre, die uns glauben lässt, dass die Toten tatsächlich kommen könnten. Bereits in der Nacht zuvor werden in Erwartung des Besuchs der Verstorbenen Kerzen und Leuchter angezündet (http://www.acabtu.com. mx/diademoertos/altar.html). Irgendwo fand ich speziell für diesen Anlass Hündchen aus Zucker; seitdem stelle ich sie auf dem Altar auf. Über die Seele schreibe ich in dem zitierten Prolog „der Jazz ist eine besondere Musik, eine Art der Seelenmusik und sei die Seele auch das, was sie für jeden Einzelnen bedeuten mag, sie ist ein Signifikant, der die Kreuzung der tiefsten Werte, Glaubensweisen, Gefühle, Kämpfe zu symbolisieren versucht“ (de Alba 1998: xxi). Volkslied, das an Geburtstagen gesungen wird.
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ALICIA DE ALBA
15 „Ungefähr 6,5 Millionen Gläubige sind in den letzten vier Tagen zu den mexikanischen Feierlichkeiten der Jungfrau von Guadalupe gekommen um den 473. Jahrestag ihrer Erscheinung auf dem Berg von Tepeyac zu gedenken. (…) Die Anbetung der Jungfrau von Guadalupe stellt den religiösen Hauptkult des Landes dar und die Mexikaner besuchen sie, um ihr zu danken, um Bitten vorzutragen oder Versprechen einzulösen. Alljährlich empfängt die Basilika zwischen 10 und 14 Millionen von Besuchern und ist damit die zweitbekannteste heilige Stätte der Welt, allein überragt vom Vatikan(vgl. http://mx.news.yahoo.com/041212/38/1bk54.html). 16 Man versteht unter dem Äußeren die Gesamtheit der Symbolischen Elemente, die ein semiotisches Universum schaffen, welches sich in einem weiten kulturellen und sozialen Kontext ausdrückt und den Pol der Identifikation von Gruppen, Kommunen, Völker, Nationen, Regionen etc. konstituiert. Identität, die sich durch eine entsprechende artikulatorische Bewegung konstituiert hat und die dazu tendiert, neue Elemente in besagtes symbolisch-semiotisches Universum zu integrieren. Unter dem Inneren fasst man die identifikatorischen Elemente, die sich im individuellen, familiären, sozialen, gemeinschaftlich orientierten, nationalen etc. Subjekt einverleibt haben und die durch eine differenzierende Bewegung konstituiert werden, die dazu tendiert, die Identität in besagten differenzierenden Elementen zu zentrieren und zu fixieren und die Elemente auszuschließen, die die Differenz von der aus die Identität konstituiert wird bedrohen. 17 Der Kontext wird verstanden als ein strukturierender und strukturierter Faktor, der mit dem Inneren und Äußeren dessen verknüpft ist, was ausgedrückt wird. 18 Gemäß Laclau und Mouffe betrachtet man „jede Differenz, die nicht diskursiv artikuliert wird“ als Element (1987: 119). 19 Als Exilanten während der Militärdiktatur in diesem Land – Ende der 70er bis Mitte der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts.
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DER KULTURELLE KONTAKT
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D E R N AT I O N A L P Ä DAG O G I S C H E I M P E T U S D E R D E U T S C H E N I N T E G RAT I O N S ( D I S ) KU R S E I M S P I E G E L P O S T-/ KO L O N I A L E R K R I T I K Freiheit! lautet das Motto des Schillerjahres 2005. Anlässlich seines zweihundertsten Todestages wird der Volksdichter und Klassiker bei zahllosen öffentlichen Veranstaltungen als deutscher Geistesheld zelebriert, um auf diese Weise den Kanon des nationalen Kulturerbes zu verfestigen. Während es jeder Person selbst überlassen bleibt, an solchen aus der literarischen Vereins- und Denkmalskultur stammenden Weihestunden teilzunehmen, werden seit Anfang des selben Jahres sogenannte integrationsbedürfige Ausländer 1 zum Erwerb maßgeblicher nationaler Bildungsgüter und Kompetenzen, zu vorderst zum Erlernen der deutschen Sprache verpflichtet. Auch wenn auf den ersten Blick die rechtlichen Umstände, Adressaten und Zielsetzungen der beiden Bildungsmaßnahmen denkbar verschieden erscheinen, verfügen sie doch über ein gemeinsames genealogisches Moment. Sie verweisen auf eine sich besonders hartnäckig behauptende Tradition der Konstruktion kollektiver deutscher Identitäten. Diese Vorgeschichte kultureller Selbsterschaffung auszublenden, würde riskieren, die nationalpädagogischen Kontinuitäten und kolonialrassistischen Kontingenzen in den aktuellen Integrationsdebatten zu übersehen. Bei der Analyse dieser Zusammenhänge können gerade postkoloniale Ansätze selbstreflexive Kritik und weiterführende Erkenntnisse ermöglichen: „‚Post‘kolonial bezieht sich weder auf eine vergangene historische Periode, noch beinhaltet der Begriff eine regionale ‚Dritte-Welt‘-Beschränkung; vielmehr wird zum Ausgangspunkt von Kritik eine historische Erfahrung – die des Kolonialismus –, deren Fortwirken sich in der Auseinandersetzung um westlich geprägte sozio-kulturelle Hegemonie und Interpretationsmuster niederschlägt“ (Küster 1998: 178 – 215, hier 179; vgl. auch Nghi Ha 2004: 95f.; Rodriguez/Steyerl 2003). Obwohl keine allgemeingülti-
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ge Definition postkolonialer Kritik existiert und dieser heterogene Diskurs sich jeder Vereinheitlichung widersetzt, lassen sich doch gemeinsame Ausgangspunkte herauskristallisieren. Für eine postkoloniale Hinterfragung deutscher Integrations(dis)kurse sind unseres Erachtens nach folgende Kritikansätze und Untersuchungsfelder der Postcolonial Studies von besonderer Relevanz: • Konstruktion des Eigenen und Anderen als binäre Opposition in einem historischen Prozess, der durch wechselseitige Konstitution und strukturelle Ungleichheit geprägt ist; • Fokus auf Machtrelationen, Ausbeutung, Hierarchien, In/Exklusionen, die mittels kultureller Repräsentation und politischer Kontrolle stabilisiert werden; • Kolonialisierung als gewaltsamer Prozess der Subjektkonstitution, die den domestizierten Anderen durch pädagogische und performative Praktiken erschafft; • Konformität und Normalisierung als pädagogische Ziele, die zu einer Internalisierung der Verobjektivierung und Identifizierung mit der dominanten Kolonialmacht führen; • Ambivalenz zwischen humanistischen Idealen der Aufklärung und der kolonialen Moderne; • Strategien und Methoden der Kontrolle durch Wissensproduktion und kulturelle Missrepräsentationen, die mittels Definitionsmacht und Etablierung eurozentristischer Wahrheitsregime durchgesetzt werden; • Untersuchung akademischer Disziplinen und kultureller Produktionen (z.B. Literatur, Images, Sprache), die nicht zuletzt als Ausdruck und Effekt von Machtartikulationen und Fremdkonstruktionen verstanden werden; • Aufdeckung des „westlichen“ Überlegenheitsanspruches als koloniales Ordnungsmodell, welches eine gesellschaftliche Entwicklungspyramide impliziert und den Prozess der Kolonialisierung legitimiert (vgl. Loomba 1998: 1-133; Young 2000: 231243). Bis heute wird in Deutschland die eigene koloniale Vergangenheit selten als fundamentaler und kritisch zu hinterfragender Bestandteil in der offiziellen Narration von deutscher Geschichte und Nationalidentität zugelassen. Die Auseinandersetzung mit der deutschen Kolonialgeschichte findet viel zu oft überhaupt nicht oder nur in Form von Fußnoten und Randbemerkungen statt. 2 Nach wie vor fällt es der Dominanzgesellschaft schwer sich einzu-
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gestehen, dass die Kolonialbeziehungen als geschichtsmächtiges Moment der Moderne nicht nur die gesellschaftlichen Strukturen Deutschlands in der Kolonialepoche durchdrangen, sondern auch für die Gegenwart von Bedeutung bleiben. Sowohl die sichtbaren Spuren kolonialer Präsenz im Stadtbild vieler urbaner Zentren als auch die unsichtbaren Negativfolien – etwa die verdrängten Tradierungen deutscher Kolonialkultur oder die blinden Flecken im kollektiven Gedächtnis – sind Ausdruck kolonialer Einschreibungen (van den Heyden/Zeller 2002; Kundrus 2003). Um die Bedeutung kolonialer Präsenzen zu erschließen, ist es wichtig den historischen Blick durch aktuelle Bezüge auszuweiten. Eine gründliche Aufarbeitung der Wechselwirkungen zwischen kolonialen und nationalen Formationen setzt die Bereitschaft voraus spät- bzw. neokoloniale Auswirkungen auf die Gegenwartsgesellschaft zu erforschen. So sind subalterne Gruppen, sowohl in kolonialen als auch in heutigen Migrationsgesellschaften, mit Praktiken und Anforderungen einer dominanten Macht und Kultur des „Westens“ konfrontiert. Diese strukturellen Asymmetrien legen eine Untersuchung ihrer Effekte nahe. Von hier wäre es dann auch möglich nach dem Zusammenhang von Migration, Integration und Nationalstaat im Kontext seiner historischen Genese und post-/kolonialen Einbettung zu fragen. Nach unserer Kenntnis unternimmt dieser Beitrag erstmalig den Versuch zentrale Fragestellungen postkolonialer Kritik auf die gegenwärtige Konzeption und Praxis deutscher Integrationspolitik anzuwenden. Eine solche Analyse ist umso wichtiger als das sie auf gesellschaftliche Blindstellen hinweist, die signifikanterweise bisher keinerlei wissenschaftliche Aufarbeitung erfahren haben. Aufgrund dieser Leerstellen können wir uns mit dem hier vertretenen Ansatz ebenso wenig auf unmittelbare Vorarbeiten beziehen. Dieser Essay beabsichtigt nicht, das wiederholt behauptete liberal-emanzipatorische Potenzial der staatlich verfügten Integrationspraxis zu affirmieren. Unsere Argumentation folgt nicht dem Effizienzdruck einer funktionalen Expertise im Dienste sogenannter nationaler Interessen. Noch behaupten wir politische oder akademische Neutralität. Vielmehr orientiert sich die folgende Analyse an den Subjektpositionen jener Menschen, die von den jüngsten Verschärfungen des Integrationsapparates und seinen Sanktionsmitteln unmittelbar betroffen sind. Daher werden die dominanten Konzepte und Praktiken von Integration nicht als ideologisch unschuldige
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Ergebnisse normativer Denkbewegungen oder als Konsens eines gleichberechtigten demokratischen Austausches, sondern mit Blick auf ihren Entstehungshintergrund von Macht und Geltung diskutiert. Es liegt auf der Hand, dass dabei eine strikte Trennung der verschiedenen empirischen Gegenstände und theoretischen Bezüge nicht immer möglich ist. Die notwendigerweise fragmentarische Kritik des aktuellen Integrations(dis)kurses ist also zu einem nicht geringen Anteil Ideologiekritik. Ohne sich je als abgeschlossen oder definitiv zu behaupten, behandeln die einzelnen Abschnitte des Textes verschiedene Aspekte der zur Disposition stehenden Debatte: ihre historischen Voraussetzungen, den rechtlichen Rahmen aber auch die unausgesprochenen Effekte und performativen Implikationen konkreter Disziplinarverfahren sowie ihre Wechselwirkung mit den sie begleitenden politisch-medialen Diskursen. Im Mittelpunkt unseres Interesses steht die Frage nach der fortwirkenden Macht kolonial-rassistischer Vergangenheits-, Identitäts- und Politikmuster. Von hieraus fragen wir nach dem Spielraum für widerständige Perspektiven, welche die Räume migrantischer Handlungsmacht erweitert. Wir hoffen, dass gerade der Verzicht auf systematische Abgeschlossenheit Anknüpfungspunkte für eine weiterführende kritische Diskussion schaffen kann. Historische Ressourcen der deutschen Wir-Konstruktion und die blinden Stellen postnationaler Vergemeinschaftungsmodelle Deutschland verfügt über eine lange Tradition der nationalen Vergemeinschaftung, in der die Durchsetzung der deutschen Sprache im Kontext völkisch-rassistischer Ideologien propagiert wurde. Die Spekulationen der Aufklärer über den Naturzustand des Menschen und die einhergehenden Abfassungen sozialer Utopien lösten im Deutschland des 18. Jahrhunderts bekanntlich keine Revolution mit der Devise Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit aus, sondern gingen in eine literarisch-philologische Bewegung ein. Anstelle eines demokratischen Ideals entdeckte man die Sprache als einziges Bindeglied zwischen allen Deutschen. Über dieses Medium sollten sie sich ihrer nationalen Zugehörigkeit vergewissern. So avancierte etwa bei Herder Sprache zum privilegierten Forschungsfeld. Seine Abhandlung über den Ursprung der Sprach (vgl. Herder 1960) (1772) trug entscheidend dazu bei, dass die Vorstellung von Volk und
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Volksgeist als irrationaler, mythischer Grund einer Gemeinschaft zum tragenden Faktor deutscher Identität wurde (Duala-M’bedy 1977: 112ff.). Die Nationwerdung ging mit der Rationalisierung und Ausdehnung der Staatsmacht einher. Im Zuge der Institutionalisierung der Pädagogik im Dienste nationaler Mission wurde Deutschland seit Anfang des 19. Jahrhunderts zu einem Land der Schulen, seine Gesellschaft zu einer Schulgesellschaft. Dabei orientierte sich die professionelle Erziehung zuerst in Preußen an der Idee eines einheitlichen Systems nationaler Pädagogik. Obwohl zahlreiche Bildungsreformen scheiterten, entstand sehr bald ein weitgehendes Einvernehmen darüber, dass der zum Schüler avancierte Untertan sich in Aneignung der überlieferten nationalen Kultur entfalten sollte. Die vaterländische Geschichte, ihre kanonisierte Literatur und Kunst sollten es ihm ermöglichen, sich mit dem Volk als eigentlich historisches Subjekt zu identifizieren. Seine Individualität ist der kollektiven Identität des Volkes, seiner Sprache, Sitten und Künste deutlich untergeordnet (Nipperdey 1991: 402ff.). Im Vormärz der zwischen Reaktion und Liberalismus gescheiterten Revolution von 1848/49 trafen sich namhafte Juristen, Historiker und Germanisten, um eine Vereinigung zugunsten des politisch zersplitterten Landes zu bilden. Die als Germanistenversammlung bekannte Tagung aus dem Jahre 1846 versuchte den organischen Zusammenhang der Nation und damit die Notwendigkeit der politischen Einheit besonders durch die Behauptung eines kulturell-sprachlich definierten Volkskörpers herzuleiten. Die Versammlungsbeiträge zeigen deutlich wie stark die Konstruktion homogener Herkunftsbezüge der Abgrenzung gegenüber einem deutlich als fremd gekennzeichneten Anderen bedarf: „Das Menschliche in Sprache, Dichtung, Recht und Geschichte steht uns näher zu Herzen als Tiere, Pflanzen und Elemente“, führt Jacob Grimm mit humanistischem Pathos aus, um dann hinzuzufügen: „Mit denselben Waffen siegt das Nationale über das Fremde“ (Habermas 1998: 18). Wie Wilhelm von Humboldt, der die Nation als „eine durch die Sprache charakterisierte geistige Form der Menschheit“ (Leitzmann 1907: 338-613) deutete, substantialisieren auch die Versammlungsteilnehmer den sogenannten Volksgeist und Volkscharakter durch die Erforschung der Sprache. Auf die Frage „Was ist das Volk?“ antwortet Jacob Grimm schlicht: „Ein Volk ist der Inbegriff von Menschen, welche dieselbe Sprache reden“ (Habermas 1998: 20). Diese biologistisch-organische Auffassung
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von Sprache und Sprachgemeinschaft mündet nicht nur in einer archäologischen Rückwendung zu den vermeintlich reinen Ursprüngen deutscher Monolingualität, sondern korrespondiert auch mit der Forderung, die eigene Sprache und Kultur von jenen „fremden Bemischungen“ (ebd.) zu schützen, die sich „unberechtigt eingedrängt“ (ebd.) hätten. Die xenophobe Rhetorik nationaler Sprachhygiene vermag kaum ihre Nähe zu den zeitgenössischen kolonial-rassistischen Diskursen über die Klassifizierung verschiedenwertiger Menschenspezies zu verbergen. In diesen fungiert die von den Sprachwissenschaftlern vollzogene biologistische Unterscheidung der Sprachen als politisches Ordnungsmuster für die manichäistische Aufteilung der Menschheit in Rassen. Wenn Wilhelm Grimm sich zahlreichen zoologischen Metaphern bedient, um vor der Unterwanderung des Eigenen durch das Fremde zu warnen, dann erinnert die Brutalität mit welcher der Co-Autor des Wörterbuches der deutschen Sprache über sein Projekt der kulturellen und völkischen Reinhaltung spricht, an die perverse Logik jener Ideologien, welche die Vertreibungen, Versklavungen und Genozide des 19. und 20. Jahrhunderts begleiten: „Alle Tore sperrt man auf, um die ausländischen Geschöpfe herdenweise einzutreiben. Das Korn unserer edlen Sprache liegt in Spreu und Wust: wer die Schaufel hätte, um es über die Tenne zu werfen! Wie oft habe ich ein wohlgebildetes Gesicht, ja die geistreichen Züge von solchen Blattern entstellt gesehen. Öffnet man das erste Buch, ich sage nicht ein schlechtes, so schwirrt das Ungeziefer zahllos vor unseren Augen“ (ders.: 26). Betrachten wir dieses Streben nach sprachlich-kultureller Reinhaltung, dann stellt sich die Frage inwieweit ein analoges Muster auch in den aktuellen Integrationsdebatten nachwirkt. Jürgen Habermas erinnert zum Ende des 20. Jahrhunderts an eben diese Versammlung im Vormärz, um auf den inneren Widerspruch zwischen dem Partikularismus einer sprachlich und kulturell homogenen Volksnation und dem Universalismus eines demokratischen Verfassungsstaates hinzuweisen. Er vergleicht die Probleme bei der Herstellung eines nationalen Zusammengehörigkeitsbewusstsein im Deutschland des kolonialen 19. Jahrhunderts mit den aktuellen identitäts- und integrationspolitischen Herausforderungen Europas. Zwar habe „die Idee der Nation in ihrer völkischen Lesart zu verheerenden Exklusionen geführt, zum Ausschluss von Reichsfeinden – und zur Vernichtung der Juden. Aber in ihrer kulturalisti-
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schen Lesart hat sie auch dazu beigetragen, einen solidarischen Zusammenhang zwischen Personen zu stiften, die bis dahin Fremde füreinander gewesen sind“ (ders.: 36). Es ist ebenso signifikant wie beunruhigend, wie der prominente und politisch überaus deutungsmächtige Philosoph der kommunikativen Vernunft mit Blick auf die politische Vollendung des Projektes der europäischen Moderne bemüht ist, die affirmativen Kräfte der kulturalistischen Konstruktion nationaler Identitäten von der xenophoben Gewalt völkischer Nationalismen zu trennen. Dabei sind die Relationen der selbstrefferenziellen Diskurse des kulturellen Eurozentrismus, der textuellen Etablierung des ontologischen Gegensatzes von Europa und seinem Anderen zu der materiellen Geschichte von Rassismus, Kolonialismus und Imperialismus seit langem bekannt (vgl. Fanon 1981; Said 1978, 1994). Habermas vernachlässigt hier die Wechselwirkung zwischen kultureller Selbstschaffung und Fremdrepräsentation, zwischen kultureller Integration, Exklusion und Expansion sowie die Interdependenz von kultureller Hegemonie und materieller Ausbeutung. Dies geschieht offensichtlich, weil er gemeinsame kulturelle Werte auch im Prozess der europäischen Integration für ein unerlässliches Substrat unionsbürgerlicher Solidarität hält: Die kollektive kulturelle Identität – wenn auch „eher gemacht als vorgefunden“ (Habermas 1998: 37) – als Ressource jener Solidarität, die bewirkt, dass „[d]ie Dänen [...] einen Spanier und die Deutschen einen Griechen ebenso als ‚einen von uns‘ [...] betrachten“ (ders.: 35). Die so fundierte Solidarität hat weitreichende Implikationen für diejenigen ImmigrantInnen, deren Herkunft, Sprache oder Religion von der imaginierten kulturellen Homogenität ausgeschlossen bleiben, weil sie nicht dem Anforderungsprofil des euronationalen Kollektivs gerecht werden wollen/können. Freilich benötigt der angestrebte europäische Verfassungsstaat keine Nationenidee als Herkunftsgemeinschaft. Nichtsdestoweniger geht die Einigung Europas unübersehbar mit einer bei weitem mehr als nur identitätspolitischen Schließung einher. Die überwiegende Zahl der mit dem Topos Migration und Integration befassten ExpertInnen mahnen zu einem ausgewogenen Verhältnis von Öffnung und Schließung, damit die politischen Gemeinschaften sich auch weiterhin durch kollektive Identitäten legitimieren können. Ähnlich argumentiert Habermas, indem er eine gemeinsame politische Kultur Europas in dem historischen Horizont angelegt sieht, den die europäische Entwicklung seit dem Beginn der Neuzeit vor-
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gebe. Zwar sei diese „stärker als andere Kulturen von Spaltungen, Differenzen und Spannungen charakterisiert“ (ders.: 155). Aber dieselben Konflikterfahrungen hätten auch „zum Erlernen toleranterer Umgangsformen und zur Institutionalisierung von Auseinandersetzung“ (ders.: 156) veranlasst. Toleranz, Intersubjektivität und erfolgreiche soziale Integration auf der Basis eines egalitären Universalismus prägen demnach das „normative Selbstverständnis der europäischen Moderne“ (ebd.) als Legitimitäts- und Identititätsgrundlage für ein „soziales Europa [...], das sein Gewicht in die kosmopolitische Waagschale wirft“ (ders.: 169). Für die politische Implementierung einer egalitären, demokratischen und inklusiven Gemeinschaft aller Menschen fehle hingegen vorerst diese historisch gewachsene „gemeinsame ethisch-politische Dimension“ (ders.: 163). Zwar benennt eine derart eurozentristische Deutung der Moderne die sich totalisierenden Züge der kapitalistischen Modernisierung. Doch ihre größere Aufmerksamkeit gilt dem sich fortschreitend entfaltenden kommunikativen Vernunftspotenzial als wichtigste Voraussetzung intersubjektiver Verständigung und reziproker Anerkennung. Ein solches Geschichtsbild lässt wenig Raum für eine Perspektive, in der die Geschichte der europäischen Rationalität als Prozess der Ausschließung erlebt wird. Noch geringer ist die Bereitschaft, den andauernden kolonial-rassistischen Kontingenzen zu begegnen. Das in Joseph Conrads viel zitierten sprachlichen Runen angedeutete „[…] Grauen! Das Grauen“ (Conrad 1991: 123), also jene außereuropäischen Leidenserfahrungen mit dem kolonialen Projekt der Moderne, erhalten keinen Platz in dem identitätspolitischen Entwurf des neuen alten Europas. Die postnationale Vergemeinschaftung der UnionsbürgerInnen zieht bei ihrer Suche nach Ressourcen für die Konstruktion einer gemeinsamen Identität eine als natürlich imaginierte kulturgeographische Grenze. Es liegt auf der Hand das eine solche Grenzziehung unmittelbar auf den Diskurs und die Praxis dessen wirkt, was wir Integration nennen. Integration auf gut Deutsch: Selektion und assimilative Nationalisierung Am 1. Dezember 2004 hat das rot-grüne Bundeskabinett die vom Innenminister Otto Schily vorgelegte „Verordnung über die Durchführung von Integrationskursen für Ausländer und Spätaus-
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siedler“ verabschiedet. 3 Im Kern schreibt die Integrationskursverordnung (IntV), die gemeinsam mit dem neuen Zuwanderungsgesetz zum 1. Januar 2005 in Kraft getreten ist, weniger das Recht als die nach § 44 (Abs. 1 Nr. 2) des neuen Aufenthaltsgesetzes auferlegte Pflicht zur Teilnahme an einem penibel überprüften Sprachund Orientierungskurs vor. Wie die ernüchternden Ergebnisse der PISA-Studie (vgl. Baumert 2002: 159-202; Auernheimer 2003), aber auch die unterprivilegierten Abschlüsse migrantischer SchülerInnen zeigen, haben viele Eingewanderte und ihre Nachkommen die selektiven Mechanismen des deutschen Bildungssystems eher als Instrument der sozialen Ausgrenzung erfahren. 4 Das ausgerechnet der Zwang zur sekundären Sozialisation nun als favorisiertes Mittel ihrer gesellschaftlichen Integration präsentiert wird, trägt nicht zur Vertrauensbildung bei. Vielmehr verfestigt sich der Eindruck, dass die Integration in ihrer imperativen Form mit dem Anspruch auf kulturelle und politische Vormachtstellung zugunsten der deutschen Leitkultur verbunden ist. Wie es in der Verordnung heißt, sollen die Integrationskurse neben dem „Erwerb ausreichender Kenntnisse der deutschen Sprache“ auch „Kenntnisse der Rechtsordnung, der Kultur und der Geschichte in Deutschland, insbesondere auch der Werte des demokratischen Staatswesens der Bundesrepublik Deutschland und der Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit, Gleichberechtigung, Toleranz und Religionsfreiheit“ (§ 3 IntV) vermitteln. Im offiziellen Politikverständnis der BRD fungiert die verwaltete Integration somit als ein nationalpädagogisches Mittel, dass den immigrierten Anderen die deutsche Kultur- und Werteordnung bei bringen will. Bereits 2005 sollen jährlich 138.000 Neuzugewanderte in insgesamt 630 Lernstunden diese zweite Sozialisationsinstanz durchlaufen, um nach erfolgreicher Prüfung das vom Goethe-Institut entwickelte Sprachdiplom Zertifikat Deutsch zu erwerben und ihre politische Gesinnung im Fach Staatsbürgerkunde weiterzuentwikkeln. Im Haushaltsentwurf 2005 plant der Bund die Integrationsindustrie durch öffentliche Investitionen zunächst in Höhe von 208 Mio. Euro aufzubauen. Darüber hinaus beabsichtigt die Bundesregierung in den nächsten fünf bis sechs Jahren Pflichtkurse für 280.000 bis 336.000 bereits in Deutschland lebende MigrantInnen als nachholende Integration durchzuführen. Für diese Aufgabe werden nochmals 380 Mio. bis 456 Mio. Euro veranschlagt.
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Die jüngste juristisch-administrative Verschärfung des deutschen Integrationsverständnisses gibt erneut Anlass in eine kritische Auseinandersetzung mit dieser Debatte einzusteigen. Gerade vor dem Hintergrund der entstehenden Integrationsindustrie scheint es wichtig die mit dem Begriff der Integration einhergehenden Vorstellungen und Praktiken aus einer postkolonialen Perspektive zu hinterfragen. Anstelle von Angeboten auf freiwilliger Basis wird mit dieser staatlichen Anordnung erstmals im Aufenthaltsrecht (ehemals Ausländergesetz) der Grundsatz des Integrationszwangs als nationalpädagogisches Machtinstrument für die kulturelle (Re-)Sozialisierung und politische Umerziehung migrantischer Subjekte institutionalisiert. Entscheidend ist dabei, dass die Integrationskurse ausschließlich für Migrierte aus Nicht-EULändern zwingend sind. In der BRD lebende EU-BürgerInnen verfügen dagegen über ein auf Freiwilligkeit basierendes Optionsrecht. Während UnionsbürgerInnen in Deutschland allein aufgrund von passiven Zugehörigkeitsmerkmalen alle Privilegien zur sozialen, ökonomischen und politischen Partizipation wahrnehmen, müssen sich alle anderen Eingewanderten bereits den Anspruch auf Aufenthalt durch einen aktiven Nachweis ihrer Integrationsfähigkeit erarbeiten. Ebenso wenig müssen EU-Angehörige bei als mangelhaft bewerteten Integrationsleistungen negative Sanktionen fürchten. Von den repressiven Auswirkungen sind migrantische Gruppen aus den postkolonialen Staaten des Trikonts, insbesondere muslimische Communities mit türkischen und arabischen Hintergründen betroffen. 5 Da die Umerziehungsmaßnahmen in spezifischer Weise postkoloniale MigrantInnen betreffen, sind koloniale Kontexte, Analogien und Konfigurationen im Konzept der Integrationsverordnung bei der Analyse zu berücksichtigen. Integration als Akt der politischen Kontrolle, kulturellen Überprüfung und juristischen Zertifizierung wirft besonders in seiner hoheitsamtlichen Form und massenwirksamen Funktion weitreichende Fragen auf. Sie betreffen sowohl die identitätspolitischen Selbstvergewisserungsstrategien der deutschen Dominanzgesellschaft (vgl. Rommelspacher 1995) als auch jenes post-/koloniale Machtverhältnis, das sich in der selektiven Migrations- und Integrationspolitik artikuliert. Die unabgeschlossene Geschichte kolonial-rassistischer Praktiken spiegelt sich in globalen Hierarchien wie in der Notwendigkeit durch Migration das Überleben zu sichern. Interkontinentale
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Migrationsrouten und Abhängigkeiten vermitteln einen Eindruck von dem historisch geschaffenen Wohlstands- und Machtgefälle zwischen der Peripherie im Trikont und den westlichen Metropolen. Postkoloniale Migrationsprozesse überschreiten globale Grenzziehungen und werfen durch ihre gesellschaftliche Existenz die Frage nach der Aktualität kolonialer Präsenzen inner- wie außerhalb westlicher Gesellschaften auf. So ist zu fragen, inwieweit die auf Zwang basierende Integration eine Form der Aneignung ist, die die produktiven und kulturellen Ressourcen des postkolonialen Anderen einverleibt. Wie die Zuwanderungsdiskurse der letzten Jahre zeigen, legt die deutsche Mehrheit vor allem Wert auf die effiziente und reibungslose Verwertung nützlicher ArbeitsmigrantInnen. Um als Nation im globalen Standortwettkampf bestehen zu können, wird die Modernisierung Deutschlands zur Einwanderungsgesellschaft als notwendig erachtet. So empfiehlt die Unabhängige Kommission Zuwanderung (2001) junge, hochqualifizierte und leistungsfähige VIP-MigrantInnen durch ein Punktesystem auszuwählen. Eine solche Politik revitalisiert koloniale Ordnungen, Arbeitsteilungen und Denkmuster, in denen die Existenz des Anderen nicht zuletzt der metropolitanen Interessens- und Bedürfnisbefriedigung dient. Dadurch werden Analogien zu den Anfängen der nationalstaatlich organisierten Arbeitsmigrationspolitik im Wilhelminischen Kaiserreich wachgerufen, die kolonialen Mustern folgen. 6 In ihrer Ein- und Unterordnungsfunktion ergänzen die Integrationskurse die arbeitsmarktpolitischen und nationalökonomischen Zielsetzungen des neuen Zuwanderungsgesetzes, das die ‚guten‘, d.h. gehorsamen und lernwilligen von den ‚schlechten‘, d.h. vermeintlich integrationsunwilligen bzw. integrationsunfähigen MigrantInnen zu trennen sucht. In den Integrationskursen wird die kulturelle Adaptionsfähigkeit und politische Zuverlässigkeit der MigrantInnen ermittelt und als mitentscheidendes Kriterium bei der Vergabe von Aufenthalts- oder Abschiebungstiteln herangezogen. Die Integrationsmaschinerie stellt sich als eine staatliche Sanktionspraxis dar, die auf die Regulierung migrantischer Inklusions- wie Exklusionsprozesse zielt. Im Unterschied zur früheren Strategie der migrationspolitischen Realitätsleugnung haben die Mehrheitsdeutschen sich nach annähernd einem halben Jahrhundert dazu durchgerungen die BRD als Einwanderungsland anzusehen. Selbst im erzkonservativen Milieu wird Einwanderung inzwischen als notwendiges Mittel zur
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Aufstockung des sozio-ökonomischen und intellektuell-kreativen Humankapitals nicht länger kategorisch verneint. Im links-liberalen Lager zeigt man sich darüber hinaus auch für den erhofften kulturellen Lustgewinn durch einen bunten Exotismus empfänglich. Der Abschied vom tradierten Deutschlandbild ethnischer und kultureller Homogenität wird von einer Stimmung der Trauer und der Angst vor Überfremdung begleitet. Entsprechend hat sich das neue Zuwanderungsgesetz zum Ziel gesetzt diese notgedrungene Entwicklung durch Begrenzung und Steuerung zu kontrollieren. Dabei wird ein Arsenal von Techniken eingesetzt, die zwischen Gefahrenabwehr und Konfliktmanagement sowie assimilativer Integration changieren. Das Integrationskonzept gehört zu jenen gesellschaftlichen Ordnungsvorstellungen, die über alle Parteiengrenzen hinweg einhellige Zustimmung finden. Aufgrund seiner normativ kaum noch hinterfragbaren Perspektive im monologischen Diskurs der deutschen Dominanzgesellschaft wird es zu einem umfassenden technokratisch gesteuerten Lösungskonzept stilisiert. In dem wir zwanghaft über die Notwendigkeit zur einseitigen Integration des Anderen sprechen, wird Integration als ein öffentlich zelebriertes Glaubensbekenntnis des eigenen guten Willens, der deutschen Offenheit wie der moralischen Überlegenheit westlicher Demokratien instrumentalisiert. Gleichzeitig scheinen im offiziellen Integrations(dis)kurs soziale Realitäten wie struktureller Rassismus, institutionelle Diskriminierungen und sozio-kulturelle Ausgrenzungen durch die deutsche Gesellschaft wenig relevant. Schon die Wahrnehmung migrantischer Dauerexistenzen und die gesellschaftliche Eingliederung des zuvor als fremd und unzugehörig markierten Anderen wird als Antithese zur rassistischen Ausgrenzung und sozio-kulturellen Abwertung präsentiert. Indem die rassistischen Einschreibungen dieser Gesellschaft unsichtbar gemacht werden, entfallen wichtige Ausgangspunkte für ein machtkritisches Verständnis von Migration, Rassismus und Integration. Stattdessen werden die migrantischen Anderen in hegemonialen Diskursen analog zum kolonialen Anderen per Definition als defizitär vorgeführt. Die positiven Konnotationen staatlicher Integrationspraxis stehen in einem krassen Gegensatz zu ihren repressiven und kolonialen Zügen. Der Widerspruch zwischen politischer Zielsetzung und öffentlichen Image ist ein beunruhigender Ausdruck der gesellschaftlichen Unfähigkeit zur Selbstreflexion. Selbst in offiziellen
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Selbstinszenierungsritualen schwingt regelmäßig ein drohender Unterton mit, der die Integration als disziplinierende Sozialtechnik der Anpassung ausweist. Obwohl die Ambivalenzen und Widersprüche der sich liberal und tolerant gebenden Integrations(an)gebote offenkundig sind, werden sie selten diskutiert. Angesichts des wiederkehrenden Postulats der Integration erscheint es um so dringlicher das Verhältnis zwischen germanophilen Integrationsprogrammen, 7 eurozentristischen Hierarchien und rassistischen Kolonialisierungspraktiken überhaupt als relevantes Thema zu denken. Neben ihren desintegrierenden und abwertenden Annahmen sind auch repressive Wirkungen zu berücksichtigen, um die verordnete Nationalisierung als diskriminatorische Praxis der migrantischen Verobjektivierung und kolonialanalogen Pädagogisierung analysieren zu können. So stellt die gewaltsame Integration in die Nation nicht nur die proklamierten Integrationsziele, also die angestrebte Verwirklichung der republikanischen Verfasstheit dieser Gesellschaft in Frage. Darüber hinaus negiert sie in eklatanter Weise das kulturelle und politische Selbstbestimmungsrecht von migrantischen Subjekten. Statt dessen herrscht ein Blick vor, der sie als gefügige Verwaltungsund Zugriffsobjekte nationalstaatlicher Agenturen unterwirft. Was ist in der vorherrschenden Diskussion mit dem scheinbar so einbeziehenden Integrationsbegriff tatsächlich gemeint? „In der politischen Diskussion wird er [der Begriff der Integration, Anm. d. Verf.] meist als Assimilation verstanden, das heißt, als Aufgabe der eigenen kulturellen und sprachlichen Herkünfte und im Sinne einer totalen Anpassung an die deutsche Gesellschaft“ (Meier-Braun 2002: 25f.). Anscheinend sollen durch Eingliederung und Unterordnung die konstruierten Defizite und die auferlegte Fremdheit migrantischer, vor allem muslimischer und Schwarzer 8 Gemeinschaften getilgt und domestiziert werden. Diese Zielsetzung deckt sich auch mit der Semantik des Integrationsbegriffs. Laut Duden bezeichnet Integration einen Prozess zur „[Wieder]Herstellung einer Einheit“ durch „Eingliederung in ein größeres Ganzes“ (Duden – Das Fremdwörterbuch 2000: 447). Ganz im Sinne der Germanistenversammlung von 1846 verteidigte Ministerpräsident Edmund Stoiber im bayerischen Landtag die Pflichtkurse als Beitrag zur Festigung des gesellschaftlichen Zusammenhalts, da „ohne gemeinsame Sprache keine Nation“ (Financial Times Deutschland 1.12.2004) möglich sei.
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Solange Integration auf eine umfassende Transformation migrantischer Identitäten abzielt, die das kulturelle Gedächtnis und die vielfältigen Loyalitäten der Eingewanderten neu zu programmieren sucht, solange kann sie als ein ideologisches Projekt der Nationalisierung und kulturellen Homogenisierung begriffen werden. Das deutsche Migrationsregimes ist bestrebt die imaginären Grundlagen der nationalen Kulturgemeinschaft und ihrer durch innere Widersprüche gefährdete Identität zu re-vitalisieren. Als selbstevidente Norm der kulturellen Vergesellschaftung und Subjektkonstitution sucht die Nationalisierung sich hegemonialund identitätspolitisch durchzusetzen. 9 Dabei ist dieser Diskurs bestrebt seine allgegenwärtigen und doch nicht verifizierbaren Vorstellungen nationaler Leitkultur als verbindlichen Standard in einer Gesellschaft zu konservieren, die durch Migrationsprozesse in einer globalisierten Welt unaufhaltsam einem andauernden Strukturwandel unterliegt. Überwachen und Integrieren Die innerdeutsche Existenzberechtigung der Integrationsbedürftigen hängt nicht zuletzt von der erfolgreichen Erfüllung integrativer Aufgaben – also von der amtlich abgeprüften Integrationsfähigkeit ab. Bei der Organisation, Durchführung und Überwachung der verordneten Integration nimmt das neu gebildete Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 10 „eine zentrale koordinierende und steuernde Funktion insbesondere auch auf regionaler und örtlicher Ebene“ 11 ein. Politische Kommentatoren wie Heribert Prantl prägten aufgrund des „subtilen Meldesystems“ und des ausufernden „Bürokratismus“ die Metapher vom „Monstrum Integration“ (Prantl 2004). 12 Das Bundesamt ist jetzt ermächtigt eigenwillige MigrantInnen, die sich nicht ergeben an den deutschen Integrationskurs anpassen, durch weit reichende Maßnahmen zu bestrafen. Neben der Weigerung an den Integrationskursen teilzunehmen, können auch unzureichende Prüfungsergebnisse zu negativen Sanktionen führen. Die Formen der Bestrafung können von der Verweigerung der Staatsbürgerschaft über die Kürzung der sozialen Grundsicherung (§ 44a Abs. 3 AufenthG) bis zu aufenthaltsrechtlichen Benachteiligungen (§ 8 Abs. 3 AufenthG) wie etwa der Ausweisung reichen. Auf diese Weise wird Integrationsbedürftigkeit zu einer juristischen Kategorie.
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Der verdächtige Migrant, dem kulturelle Rückständigkeit und soziale Korrekturbedürftigkeit diagnostiziert wird, befindet sich durch den Integrationskurs in einem langwierigen Zustand systematischer Untersuchungen und Befragungen. Da der Verdacht und nicht die gesellschaftliche Bereitschaft zur kulturellen Anerkennung und rechtlich-politischen Gleichstellung den Ausgangspunkt der Integration bildet, können sich die unfreiwilligen Integrationskurse zu Orten einer temporären 630stündigen Untersuchungshaft verwandeln. Dabei bedingt die Kontrolle der Einzelnen ihre fortschreitende Objektivierung als amtlich registrierte Individuen. Nur durch ihre Sichtbarmachung als korrekturbedürftige Objekte lassen sich MigrantInnen in die rassistische Gesellschaft eingliedern. In diesem Sinne kombinieren Eingangs- und Abschlussprüfungen des Kurses „die Techniken der überwachenden Hierarchie mit denjenigen der normierenden Sanktion“ (Foucault 1994: 238). Das Verfahren der klassifizierenden und bestrafenden Prüfung ist gleichzeitig der Ort, an dem die Integrationspädagogik erarbeitet wird. Die Integrationskurse kombinieren staatliche Machtausübung und Wissensformierung. Sie sind Teil eines Systems von Registrierung und Speicherung sowie administrativer Dokumentation. Der Unterricht prüft die Eignung der MigrantInnen, stellt ihr und ihre mögliche Nutzbarmachung fest. Auf ein solchermaßen generiertes Register kann die Behörde zurückgreifen, um das Fortschreiten oder Stagnieren der Integrationsfähigkeit der Einzelnen und der zu statistischen Größe reduzierten Gruppe zu überprüfen. Die Formalisierung von Integration durch Speicherung, Kategoriebildung, Durchschnittsermittlung und Normfixierung hat einen erheblichen Anteil an einem Disziplinierungssystem, das MigrantInnen als transparente und vergleichbare Fälle konstituiert, die der administrativen Entscheidung zugeführt werden. 13 Die Prüfung steht im Zentrum jener Prozeduren, „die das Individuum, als Effekt und Objekt von Macht, als Effekt und Objekt von Wissen konstituieren. Indem sie hierarchische Überwachung und normierende Sanktion kombiniert, erbringt die Prüfung die großen Disziplinarleistungen der Verteilung und Klassifizierung, der maximalen Ausnutzung der Kräfte und Zeiten, der stetigen Anhäufung und optimalen Zusammensetzung der Fähigkeiten“ (ders.: 247). Foucaults Analyse des Disziplinarsystems lehrt uns die Wirkung der Macht durchaus als Herstellung einer integrierten und zugleich kontrollierten Individualität zu begreifen, anstatt sie ausschließlich
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auf dem Feld der staatlichen Exklusion zu vermuten (vgl. ders.: 250). Zwar etabliert der Integrationskurs als Zwangsprinzip Homogenität durch normalisierende Sanktion, dennoch wirkt er individualisierend, indem er Unterschiede, Abstände und Niveaus aufeinander abstimmt. Während die nicht kontrollierbaren migrantischen Zonen – etwa die Moschee oder andere Artefakte der Parallelgesellschaft – die Autorität der nationalen Kultur zu unterminieren drohen, soll der Integrationskurs offensichtlich ein Ort der kontrollierten Transformation sein. Die einhergehende Etablierung staatlicher Bürokratien ermöglicht es, ein Wissen zu verwalten, das zugleich die Ergebnisse und die Bedingungen der repressiven Integrationspraxis in sich trägt: Es ist Wissen, das auf Definitionsmacht basiert. Denn erst die Diagnose der Integrationsbedürftigkeit erlaubt es, die MigrantInnen in das Feld der pädagogischen Repressionstechniken zu integrieren. Das Verhältnis von Migration und staatlicher Gewalt hat in jüngster Zeit durch eine Reihe von weltpolitisch wie national wirksamen Ereignissen wieder an Aktualität gewonnen. In einer Zeit, die von sog. Anti-Terror-Maßnahmen, ständigen Sicherheitswarnungen und diffusen Ängsten – etwa vor uneindeutigen Schläfern – regiert wird und bürgerliche Freiheiten wie rechtsstaatliche Grundsätze (bspw. Unschuldsvermutung) sukzessiv abgebaut werden (vgl. Heinz/Schlitt/Würth 2004; Heinz/Arend 2004), steht die undurchdringliche, zuweilen aufoktroyierte Fremdheit des ethnisierten Anderen unter dem Stigma der Rasterfahndung und des Generalverdachts. 14 Auf diesem Weg werden bestimmte kulturellreligiöse Differenzen politisch instrumentalisiert. In den letzten Jahren werden diese Differenzen, sobald sie vom dominanten westlichen Diskurs als islamistisch oder fundamentalistisch angesehen werden, als Sicherheitsrisiken definiert und einem eingehenden Aufklärungsprozess überantwortet. Angeheizt werden diese Debatten durch global ausstrahlende Ereignisse wie die Anschläge auf das World Trade Center in New York und den öffentlichen Nahverkehr in Madrid oder London. Ebenso werden viele besorgniserregende Entwicklungen im Nahen Osten immer wieder als Abziehbilder zur stereotypischen Ikonisierung muslimischer MigrantInnen genutzt (vgl. Bukow/Ottersbach 1999). In massenmedialen wie politischen Diskursen scheinen diese Konflikte zu belegen, dass die Gefahren eines global agierenden und koordinierten islamistischen Terrors – transportiert durch Migrationensbewegungen –
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immer näher an Deutschland heranrücken. Obwohl zwischen diesen Ereignissen nicht nur geographische Welten liegen, werden sie auch in westlichen Gesellschaften für eine handlungsmächtige Weltsicht instrumentalisiert, die die einflussreiche These Samuel Huntingtons vom Kampf der Kulturen reaktualisiert (Huntington 1996). Vor diesem Hintergrund haben auch die bundesweit scharf geführten Kontroversen über die Probleme und Bedrohungen durch nicht-westliche Flüchtlings- und Migrationsgruppen weiter an politischer Brisanz gewonnen. Im letzten Jahr stellten das rotgrüne Zuwanderungsgesetz, der sog. Kopftuch-Streit, die Verurteilung von Zwangsheiraten oder auch die mediale Skandalisierung der zunächst gescheiterten Abschiebung des islamistischen Predigers Metin Kaplan besonders umstrittene Reizthemen in der politischen Öffentlichkeit dar. Wie hochgradig emotionalisiert und irrational zuspitzt die deutsche Abschottungsdebatte verläuft, zeigte sich etwa nach der Ermordung des holländischen Filmemachers Theo van Gogh im November 2004. 15 Obwohl dieses Ereignis in keinem unmittelbaren Zusammenhang mit der Einwanderungssituation in Deutschland steht, wurde es als Anlass zur Generalabrechnung mit der unweigerlich zum Scheitern verurteilten, weil vermeintlich zu toleranten Integrationspraxis genutzt. Verstärkt durch den Umstand, dass der damals Verdächtigte ein Niederländer mit marokkanischen Hintergrund ist, dem unmittelbar islamistische Motive unterstellt wurden, 16 entbrannte auch hierzulande eine laute Diskussion über die von der deutschen Dominanzgesellschaft favorisierten gesellschaftspolitischen Konsequenzen. Dabei kamen merkwürdige Formen des Realitätsverlustes und der Amnesie zum Vorschein. Wiederholt wurde enttäuscht und wütend die multikulturelle Gesellschaft für gescheitert erklärt und dabei so getan, als verfechte Deutschland seit Jahrzehnten hartnäckig dieses liberale Modell politischer Vergesellschaftung. 17 Tatsächlich war die Idee des Multikulturalismus in Deutschland – von lokal begrenzten Initiativen abgesehen – nie Teil des bundesrepublikanischen Kanons noch der ausgrenzenden deutschen Ausländerpolitik. Nun mündet die Rede von der falsch verstandenen Toleranz in die Jetzt reichst!Forderung nach klaren staatlichen Vorgaben für die nicht den Argumenten der zivilgesellschaftlichen Vernunft zugänglichen EinwanderInnen. Diese bedürfen – so wird gefolgert – der klaren Grenzziehung durch die wehrhafte Demokratie, die nun selbstbe-
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wusst ihre Werte vertreten soll. Diese Rhetorik appelliert an ein deutsches Wir-Gefühl und inszeniert die deutsche Gesellschaft als Opfer von religiösen Fundamentalismus sowie sich bedrohlich ausbreitenden Parallelgesellschaften. Wie in anderen westlichen Metropolengesellschaften greift auch hier ein Kontrollblick auf postkoloniale Migrationen um sich, der kollektive Bedrohungsgefühle und -szenarien freisetzt. Die nicht abreißende Kette von Vorschlägen Migrations- und Fluchtbewegungen – etwa durch die Einrichtung von Lagern in Nordafrika (Schily) – zu überwachen und einzudämmen, bezeugen den Wunsch nach einer Ausweitung und Verfeinerung des EU-weiten Grenzregimes. Die Externalisierung der Selektion von MigrantInnen korreliert mit einer internen Praxis von Integrationskontrollen, die den unerwünschten Verbleib postkolonialer GrenzgängerInnen verhindern und die eigene Verwundbarkeit im Inneren minimieren sollen. Schließlich setzt die Abschottung nach außen die Integration nach innen voraus. Durch die Integrationskursverordnung werden die Einzelheiten und Bestimmungen des „Gesetzes zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern“ (Zuwanderungsgesetz) konkretisiert und nach innen verlegt. Während das Zuwanderungsgesetz die Immigration in die BRD im Sinne der übergeordneten deutschen Eigeninteressen beschränken soll, fungieren die Integrationsbestimmungen nach dem primären Grenzübertritt bei der Einreise als eine nachgeordnete Kontrollinstanz. Sie ist nur ein Element in einem weitergehenden rechtlich-administrativen Netzwerk, das im nationalen Interesse die Bedingungen gesellschaftlicher Zugehörigkeit festlegt. Reproduktion kolonialer Weltbilder und Hierarchien Die aktuelle Integrationsverordnung zeigt in ihren grundsätzlichen Annahmen, dass migrantische und Schwarze Subjekte im Normalisierungs- und Regulationssystem des deutschen Gesetzgebers – analog zur tradierten Praxis der deutschen Ausländerpolitik wie der kolonialen Kategorisierung des Anderen – als defizitäre und deviante Objekte definiert werden. Sowohl das aktuelle Integrationskonzept als auch die historischen Strategien der Zivilisierung und Missionierung beruhen auf eine manichäische Differenzkonstruktion (vgl. Fanon 1981: 31-34). Diese findet in
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der Herstellung des Dualismus zwischen innen und außen, Subjekt und Objekt, rational und irrational, gut und böse ihre grundlegendste Voraussetzung. Sie beruht auf der Grenzziehung zwischen dem je nach Kontext nationalen bzw. westlichen Wir und dem kategorischen Anderen, wodurch eine innergesellschaftliche wie transnational bedeutsame Hierarchie konstituiert und stabilisiert wird. Dazu werden die Anderen in einem ersten Schritt ungeachtet ihrer inneren Komplexität und Heterogenität entindividualisiert, vereinheitlicht und negativ konnotiert. Anschließend werden diese zugeschriebenen Kollektivmerkmale in einem Gegensatzverhältnis zu den in der BRD gültigen Normen und Werten des Westens fixiert. 18 Dadurch wird ein Blick reproduziert, der auch den Umgang der Übersee-Administration mit ihren kolonialisierten Untertanen prägte. In diesem erscheinen die Anderen nicht als Träger unveräußerlicher Individualrechte oder als politische Subjekte mit einem Recht auf Selbstdetermination. Statt dessen setzt die Erziehung des kolonialisierten Anderen seine Infantilisierung und Entmündigung voraus. In dem Maße wie die dominante Macht ihn pädagogisch, politisch und kulturell sozialisiert, wird auch seine gesellschaftliche Existenz und Subjektwerdung autorisiert. Die Integrationsverordnung geht davon aus, dass Migrierte im Gegensatz zu den anscheinend aufgeklärten und zivilgesellschaftlich vollentwickelten Deutschen die Prinzipien der Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Gleichberechtigung, Toleranz und Religionsfreiheit nicht oder nur unzureichend verinnerlicht hätten. Indem die Integrationspolitik des deutschen Staates mit solchen kollektiven Negativeigenschaften operiert, verdächtigt sie immigrierte Individuen allgemein autoritärer, sexistischer wie fundamentalistischer Grundhaltungen und Verhaltensweisen. Offensichtlich arbeitet die deutsche Integrationspolitik mit Fremd- und Feindbildern von MigrantInnen, wodurch tradierte rassistische und orientalistisch-islamophobe Stereotype staatliche Anerkennung finden. Die staatlich kontrollierte Integrationspraxis gerät zu einem Verfahren, das migrantische Existenz auf Inkompatibilität reduziert. Auf diese Weise werden Eingewanderte doppelt entwertet: Zum einen werden ihre kulturelle Kompetenzen negativ konnotiert, zum anderen werden der grassierende politische Extremismusvorwurf und der religiöse Fundamentalismusverdacht als Grundlage staatlichen Handelns legitimiert und generalisiert. Dieser Generalverdacht äußert sich auch in den Plänen für die nachholende Integration von alteingeses-
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senen MigrantInnen, die in einem Vorentwurf noch als Bestandsausländer tituliert wurden (Prantl 2004). Der Begriff des Bestandsausländers signalisiert eine kaufmännische Perspektive im Geschäft mit der Ware „menschliche Arbeitskraft“, die die MigrantInnen zu Objekten eines nationalen Inventars verwandelt. Sie sollen als abhängige Verfügungsmasse dem politischen Gestaltungswillen beliebig unterstehen. 19 Bereits die sprachliche Verdinglichung weist darauf hin, dass diese Form der Integration nicht auf Praktiken der Anerkennung hinausläuft. Vielmehr verstärkt sie die seit Jahrzehnten medial wie alltagskulturell zirkulierenden Bilder über die gefährliche Fremdheit und gesellschaftliche Nicht-Zugehörigkeit migrantischer Gruppen. 20 Die amtlich attestierte Integrationsbedürftigkeit setzt genau diese negativen Vorzeichen der Andersheit voraus. Migrierte erscheinen um so integrationsbedürftiger je stärker sie von der deutschen Gesellschaft als kulturell rückständig und bedrohlich wahrgenommen werden. Beim Überschreiten eines als bestimmt behaupteten und doch verschiebbaren Schwellenwertes, 21 der die Grenze des kollektiv Erträglichen markiert, schlägt die autoritär-paternalistische Hilfsdrohung jedoch in ein ebenso strenges Ausweisungsimperativ um. Statt die Priorität auf den Abbau von strukturellen Diskriminierungsdynamiken und die nachhaltige Herstellung von gleichen Rechten zu legen, 22 fördert die politische Rahmensetzung der rigiden Integration rassistische Praktiken. Das Stigma der Integrationsbedürftigkeit behandelt Migrierte wie Kinder oder Kranke, die auch als unmündig und unselbständig konzeptionalisiert werden. Da sie ihre wohlverstandenen Eigeninteressen nicht zu erkennen bzw. umzusetzen vermögen, sieht sich der deutsche Staat nicht nur berechtigt, sondern auch in der Pflicht ihre gesellschaftliche Aufgabe festzulegen. Wir befinden uns erneut in einer Situation, in dem es die Bürde des weißen Mannes ist den Anderen sein Glück in der Integration aufzuzwingen. Aus dieser manichäischen Differenzkonstruktion wird seit dem aufklärerischen Zeitalter der europäischen Entdeckungen und Expansionen ein Anspruch auf politische und kulturelle Überlegenheit abgeleitet. Historisch standen die gewalttätige Missionierung, Zivilisierung und (Unter-)Entwicklung des Anderen im Zentrum kolonial-pädagogischer Praktiken. Heute werden in der nach wie vor westlich dominierten Weltpolitik neoliberale und neoimperiale Kräfte verdächtigt vor allem Fragen der Werterziehung (kapitalistische Wirtschaftsweise, liberale Demokratie, Frauen- und Men-
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schenrechte, religiöse Freiheiten etc.) in den internationalen Beziehungen zu instrumentalisieren, um tiefgreifende Interventionen zu legitimieren. 23 Auch im hiesigen Integrationsdiskurs wird erst durch die dominante Perspektive das Paradigma der Defizitkompensation erschaffen, das die demokratische und kulturelle Werterziehung des postkolonialen Anderen als vordringliches Ziel der politischen Agenda vorschreibt. Im Integrationsdiskurs werden in unterschiedlichen Ausformungen und Abstufungen die rassistisch und kolonialistisch aufgeladenen Stigmata des Kulturkonflikts mittels pauschaler Unterstellungen und dichotomischer Zuordnungen als zentrales Problem westlicher Einwanderungsgesellschaften festgeschrieben. 24 Die diskursive und soziale Konstruktion fundamentaler Differenzen und Antagonismen im Verhältnis zwischen Deutschen und Ausländern birgt entscheidende Vorteile für die Dominanzgesellschaft. Mittels ihrer letztlich staatlich durchsetzbaren Definitionsmacht kann sie auf allen relevanten Ebenen ein Unterordnungsverhältnis zwischen deutscher Leitkultur und den als bedrohlich oder defizitär konstruierten migrantischen Kulturpraktiken etablieren. Die angenommenen Abweichungen migrantischer Provenienz werden oftmals kriminalisiert, fanatisiert und pathologisiert. 25 Erst so ist es möglich migrantische Subjekte auch gegen ihren Willen der als notwendig erachteten administrativen Behandlung zu zuführen. Integration wird so zu einer gesellschaftlichen Unterwerfungs- und kulturellen Unterordnungstechnik. Obwohl die Mittel sich unterscheiden, werden Einwanderungswillige – strukturell vergleichbar – wie die Insassen von kolonialen Strafinstitutionen und Besserungsanstalten sowohl zum Schutze der deutschen Gesellschaft als auch im wohlverstandenen Eigeninteresse der Betroffenen überprüft, korrigiert und ausgesondert. Sie werden als infantile SchülerInnen behandelt, die – von streng definierten Ausnahmen abgesehen (§ 4 Abs. 2 IntV) – der westlichen Aufklärung sowie der deutschen Kultur- und Spracherziehung bedürfen. Wie in der kolonialen Pädagogik, die den indigenen Untertanen die Zivilisierung durch die harte, aber gute Hand des Kolonialherrn aufdrückte, sollen postkoloniale MigrantInnen durch den Integrationszwang gefördert werden. Laut Bundesinnenminister Schily gilt auch in der deutschen Integrationspolitik zukünftig der Grundsatz des Förderns und Forderns.
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Dass die geltenden Praxis der Integration einem Kultur- und Erziehungsmodell folgt, das sich für koloniale Diskurse anschlussfähig ist, zeigt die Abwertung postkolonialer MigrantInnen durch die Missachtung ihrer außereuropäischen Hintergründe. Sie werden als RepräsentantInnen unterentwickelter Herkunftskulturen aus dem postkolonialen Trikont imaginiert und zwangsvergemeinschaftet. Entsprechend basiert eine Integration, die als intern agierende Entwicklungshilfe angelegt ist, auf einem linearen Konzept von Zivilisation und Kulturentwicklung. In dieser Integrationsperspektive werden die nationalen Kulturwerte innerhalb der pluralen Gesellschaft univeralisiert und diese an die Spitze einer nationalkulturell orientierten Entwicklungspyramide gesetzt. Auf diese Weise wird ausgerechnet der deutsche Michel zum Lehrmeister des Anderen berufen. Die Gefahr damit eurozentristische Ordnungsmodelle und koloniale Hierarchien zu reproduzieren, ist offensichtlich. Die Integrationspolitik folgt einer kulturellen und politischen Rangordnung, die die zivilgesellschaftlichen Werte als Monopol westlicher Gesellschaften beansprucht. Über die einseitige Festlegung der Bildungsinhalte in den Integrationskursen (§ 10 Abs. 2 IntV) wird die deutsche Kultur zur politischen Leitkultur erhoben und ihr Bestandsschutz zum politischen Leitbild migrationspädagogischen Handelns erklärt. In dem Maße wie die Ausländerpolitik die Anderen als politisch und kulturell unausgereifte, also als sozialisationsgeschädigte Mängelwesen festschreibt, wird die verklärte Selbstbeschreibung der Dominanzgesellschaft zur Projektionsfläche des eigenen Wunschbildes. Postkoloniale Kritik und das Recht nicht dermaßen integriert zu werden Wie wir dargelegt haben, stört die migrantische Präsenz die fetischisierte Imagination einer ursprünglichen und reinen nationalen Identität. Sie erinnert daran, wie stark die kulturellen Formationen der Moderne einander überlappen, dass sie ein Netzwerk voneinander wechselseitig abhängiger Erfahrungen bilden, das seinen Ursprung in der gemeinsamen Geschichte von Kolonialismus und Imperialismus hat. Eine gleichberechtigte Einbeziehung von ImmigrantInnen kann also unmöglich bedeuten, sie in der dominanten europäischen oder nationalen Narration einzuschließen. Vielmehr geht es darum, die einheimischen Erzählungen der Moderne einer
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„postkolonialen Archäologie der Moderne“ (Bhabha 2000: 381) auszusetzen. Das ist mehr als eine transkulturelle Erweiterung oder Revision der einheimischen Identitäts-, Vergangenheits- und Politikmuster und mehr als die humanistische Synthese einer gemeinsamen kulturellen Identität der geteilten Erfahrung. Dagegen stellen wir im Anschluss an Homi K. Bhabhas theoretischem Engagement die Frage der postkololonialen Handlungsfähigkeit in den Vordergrund (ders.: 273ff.). Aus dieser Perspektive ist der verpflichtende Integrationskurs als narrative Strategie der kulturellen Konstruktion von nationalem Sein als „Apparat symbolischer Macht“ (ders.: 209) zu deuten. Das Versprechen sozialer Kohäsion durch Integration kann weder über die zugrunde liegende organische Vorstellung von Kultur und Gemeinschaft hinweg täuschen noch soziale Ungleichheiten und Machtasymmetrien ausblenden. Die zum Kurscurriculum erhobenen Ausdrucksformen nationaler Zugehörigkeit, die homogene Sicht der erfundenen Gemeinschaft, wird von der Präsenz migrantischer Wirklichkeit in Frage gestellt (ders.: 214f.). Die nationalen Pädagogen der Integration reagieren auf diese Verunsicherung, indem sie das Nationale auf einen reinen Ursprung beziehen, der sich in der Gegenwart performativ wiederholen muss. Nun bedarf es allerdings einer sozialen Bezugnahme an den inneren Grenzen des nationalen Raum/Traum, so dass die Menschen in eine eigenartig gespaltene Subjekt-Objekt Position geraten: Sie „sind die historischen ‚Objekte‘ einer nationalistischen Pädagogik, die dem Diskurs eine Autorität verleihen, welche auf dem vorgegebenen oder konstituierten historischen Ursprung in der Vergangenheit beruht, die Menschen sind aber ebenfalls die ‚Subjekte‘ eines Signifikationsprozesses, der jegliche frühere oder ursprüngliche Präsenz des Nation-Volkes auslöschen muß, um die außergewöhnlichen, lebendigen Prinzipien des Volkes als Gleichzeitigkeit unter Beweis zu stellen“ (ders.: 217). Da die als ewig zusammenhängend imaginierte Nationalkultur durch die migrantische Präsenz an Plausibilität verliert, muss der „Akt narrativer Performanz einen wachsenden Kreis nationaler Subjekte einbeziehen“ (ders.: 218). Das sich nur widerwillig als Einwanderungsland bekennende Deutschland ist ein diskursiver Nationalraum, dessen Grenzen nicht nur nach Außen abschließen, sondern auch im Inneren verlaufen. Die von jeher in der Konstruktion der nationalen Gemeinschaft angelegte Ambivalenz „zwischen der kontinuistischen, akkumulativen Zeitlichkeit des Pädagogischen und der repe-
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tiven, rekursiven Strategie des Performativen“ (vgl. ebd.) tritt im Integrationskurs besonders offen zu Tage. Er lässt deutlich die Mechanismen und Widersprüche der Nation als eine überzeitliche Narration erkennen, die sich in der Praxis permanent wiederholen muss. Er ist einer jener Grenz- oder Bruchstellen, an denen sich die performative Herstellung nationaler Identität ereignet. Die staatlich sanktionierte Integration von Ausländern enthüllt jenen Ort, der jedem nationalen Diskurs kontingent ist. Sie behauptet und widerlegt gleichzeitig die homogene Ordnung einer nationalen Kultur. Jenes Wir sind ein Volk, das noch 1989 glaubte behaupten zu können sich aus der narrativen Autorität vergangener Generationen herzuleiten, um die Vereinigung als Wiederherstellung einer natürlichen kulturellen Einheit zu legitimieren, scheint angesichts der heterogenen, häufig antagonistischen Vorgeschichten migrantischer Gegenwart weniger denn je haltbar. Die Geschichte des deutschen Volkes kann nicht als Quelle interkultureller Referenz dienen. Trotzdem fungiert in dem Die sollen erstmal richtig deutsch lernen der hegemonialen Integrationspolemik die Annahme einer a priori gegebenen Normativität des Deutschen als wichtigstes pädagogisches Argument. Die Tradition des deutschen Volkes, die deutsche Sprache und die nationale Geschichte wird zum Ausgangspunkt und Ziel einer Integrationspraxis, die sich als performative Konstruktion der erweiterten nationalen Gemeinschaft erweist. Wenn aber das Bild des Volkes als Zeichen des nationalen Selbst herangezogen wird, um die migrantischen Minoritäten in die Nation einzugliedern, kann die erneute Selbsterzeugung nicht mehr leisten, als die soziale Aufspaltung in ein affirmiertes Wir und ein verobjektiviertes Sie. Dann bedeutet aber integriert sein germanisiert-sein, also eben ursprünglich nicht deutsch zu sein (ders.: 129). Dagegen weisen migrantische Praktiken kultureller SelbstRepräsentation das national-pädagogische Postulat langer Kausalitäten und organischer Teleologien zurück, und eröffnen das Performative, um selbst in die Referenzbegriffe des dominanten Diskurses einzudringen (vgl. Nghi Ha 2004: 163-202). Die Performanz kultureller Differenz konterkarriert gezielt die disziplinierende Fürsorge staatlicher Integrationseinrichtungen sowie deren pädagogischen Repräsentationen kultureller Hierarchien und nationaler Prioritäten. Die Minoritätendiskurse betonen die Widersprüche zwischen dem Pädagogischen und dem Performativen, welche der nationale Diskurs zu verbergen sucht. Sie unterlaufen die
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patriotische Einstimmigkeit des dominanten Diskurses. Als wichtigste Voraussetzung dieser Einstimmigkeit gilt nach wie vor Monolingualität, bei der die deutsche Sprache als Bindeglied der nationaler Narrative fungiert. 26 Nicht ohne Grund steht der Sprachkurs im Mittelpunkt des aktuellen Integrationsprogramms. Doch MigrantInnen wissen aus ihren Erfahrungen zu gut, dass soziale Ausgrenzung und rassistische Diskriminierung nicht auf sprachliche Missverständnisse beruhen. Vielmehr können politisch, sozial und ökonomisch marginalisierte ImmigrantInnen nur dann sprechen, wenn ihnen nicht länger ein subalterner Status zugewiesen wird. Für ihre Artikulationsfähigkeit sind nicht nur gesellschaftliche Asymmetrien, sondern auch die Position des dominantes Subjektes als Lehrer und Prüfer entscheidend. Solange der für jeden Sprechakt konstitutive Hörer nicht wahrnehmen will, kann auch die erfolgreichste Absolventin des 600-stündigen Sprachkurses kein Deutsch sprechen. 27 In diesem Zusammenhang ist es wichtig darauf hinzuweisen, dass das koloniale Verbot, die eigene Sprache zu Sprechen, ein wichtiges Instrument der Indoktrination und Entfremdung war. Auf dieser Weise wurde die präkoloniale Identität subalterner Gruppen abgewertet und beschädigt, um sie durch die Internalisierung kolonialer Modelle zu ersetzen. Bereits die Pädagogen der Kolonialisierung verwendeten kompromisslos die metropolische Sprache, um ein Subjekt zu erschaffen, das anschließend überwacht, beherrscht und ausgebeutet werden konnte. Darin unterscheidet sich die deutsche Missions- und Kolonialpraxis nicht von ihrem französischen und britischen Pendant (vgl. Adick/Mehnert 2001). Entsprechend spielte die Rückaneignung der eigenen Sprache als Grundlage einer befreienden Artikulation eine Schlüsselrolle im Prozess der Dekolonisation. Es ist zu bezweifeln, ob die normalisierende Strategie der Integration Orte migrantischer Artikulationen und politischen Empowerments hervorbringen kann, die Selbstdefinitionen ermöglichen. Denn der Kampf um migrantische Sprech-Positionen ist eher ein Kampf um die Etablierung neuer Bedeutungen als um die Teilhabe an dem geschlossenen Fundus nationaler Signifikanten. Es geht nicht darum, MigrantInnen in die Ordnung der Dominanzgesellschaft einzuschließen, sondern darum, „daß die Entstehung des Zeichens kultureller Differenz, das in der ambivalenten Bewegung zwischen der pädagogischen und der performativen Referenz aus-
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geformt wird, Anerkennung findet“ (Bhabha 2000: 243). In diesem Zusammenhang rekurriert Bhabha auf Walter Benjamins Essay Die Aufgabe des Übersetzers, (Bhabha 2000: 243) um auf die „Fremdheit der Sprache“ (ebd.) hinzuweisen. Er bezweifelt die emanzipatorische Kompetenz der sprachlich-kulturellen Integration nicht zuletzt, weil sich die sozialen Bedeutungen von Sprache und Kultur erst abhängig von den Bedingungen konkreter Artikulationsakte konstituieren: „Er [ein türkischer Migrant in Deutschland; Anm. der Verf.] lernte zwanzig Wörter der neuen Sprache“, heisst es in John Bergers Studie A Seventh Man, „[a]ber zu seinem anfänglichen Erstaunen änderte sich ihre Bedeutung, wenn er sie sagte. Er bestellte Kaffee. Für den Barkeeper bedeuteten diese Worte, daß er in einer Bar Kaffee bestellte, in der er keinen Kaffee bestellen sollte. Er lernte ‚Mädchen‘. Als er das Wort gebrauchte, bedeutete es, daß er ein geiler Bock war. Ist es möglich, die Undurchsichtigkeit der Wörter zu durchschauen?“ (ders.: 246). Eine postkoloniale Revision des deutschen Kanons verlangt ein kritisches Bewusstsein für die Macht kolonialer wie nationaler Vergangenheits- und Identitätsmuster. Solange diese Macht fortwirkt, orientiert sich migrantische Handlungsfähigkeit an der Möglichkeit die negativen Sanktionen der Integrationspädagogik zu unterlaufen. Das Wissen um die performative Herkunft von Identität sowie die Funktion des Anderen im Prozess nationaler SelbstDarstellungen fordert ein anti-rassistisches Aushandeln kultureller Differenz. Eine solche Perspektive zielt nicht auf die pluralistische Erweiterung des nationalen Diskurses, bei dem Differenz nur auftritt, um in einer multikulturell erweiterten gesellschaftlichen Totalität versöhnt zu werden. Sie sucht vielmehr eine strategische Unterbrechung des nationalisierten Signifikationsprozesses und widersetzt sich zugleich der Drohung vollständiger Exklusion wie dem multikulturellen Angebot des diversity managements. Solange Integration als nationalpädagogische Herstellung mehrheitsdeutscher Autorität und kultureller Differenz verstanden wird, muss sich das kritische Engagement auf die Erweiterung migrantischer Handlungsmacht konzentrieren. Hierzu wäre zu überprüfen, ob sich nicht aus Homis Bhabhas Hervorhebung des subversivemanzipatorischen Potentials der (post-)kolonialen Mimikry (ders.: 125ff.; 226ff.) migrantische Widerstandsmodelle gegen die Autorität des deutschen Integrationsapparats gewinnen ließen. Denn wenn sich nationale Identität durch den darstellenden Pro-
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zess der Alterität fundiert und die gesellschaftliche Ordnung im Verhältnis zwischen Mehrheitsdeutschen und migrantischen Minderheiten durch performative Grenzziehungen zwischen Integrationsbedürftigen, Integrierten und per Definition Einheimischen reguliert wird, dann kann die Formulierung widerständiger Strategien nur an den Grenzen der Selbst- und Fremdrepräsentation ansetzen. Der Integrationskurs ist ein solcher Ort, an dem gleichzeitig Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit konstruiert wird. Trotz der Behauptung einer ursprünglichen deutschen Normativität entlarvt er nationale Identität als wiederholten Akt performativ inszenierter Bedeutung. Wenn sich dabei das kolonial-analoge Begehren der Vereinnahmung und der Separation des Anderen manifestiert, könnten dann nicht die inneren Bruchstellen des Integrations(dis)kurses unmittelbar zur Subversion seiner Autorität genutzt werden? Untergräbt die Forderung der Integration, die die Differenz des zu Integrierenden behauptet und gleichzeitig beansprucht sie aufzuheben, nicht die Macht des Integrationsapparates? Folgt man Bhabhas Argumentation, dann könnte sich genau an den Grenzen von Identität und Autorität durch die Wirkung postkolonialer Mimikry eine subalterne Handlungsmacht entfalten, bei der die zur Integration verpflichteten durch Akte verfehlter Wiederholung, durch Persiflage und Maskerade die Differenz zwischen dem eingeforderten Ausdruck normativer Integriertheit und der Performanz der Imitation hervorbringen. Ihre Parodie würde offenbaren, dass die deutsche Identität selbst nur eine Konstruktion ohne Original ist und damit die Frage nach einer gelungenen Integration unentscheidbar bleibt. Jedoch riskiert eine solche Lesart des Integrationskurses die materiellen Bedingungen von Positionalität und Repräsentation, nicht zuletzt die existentiellen Drohszenarien aufenthaltsrechtlicher Sanktionen zu vernachlässigen, die ihnen nur wenig Raum für das Spiel eines postkolonialen Eulenspiegels lassen. Die theoretische Fixierung auf die kritische Dekonstruktion einer nationalpädagogisch regulierten Integration und die destabilisierende Wirkung postkolonialer Mimikry sollte nicht den Unterschied zwischen der privilegierten Außenstellung und den klinifizierten Orten im Inneren des Integrationsapparates verkennen. Der Integrationskurs lässt seinen Prüflingen nur wenig Raum für ungeahndete Subversionspraktiken. Zwar befindet sich die Macht nicht ausschließlich im Besitz der Lehrer, aber die diskursive Autorität und repres-
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siven Wirkungen der dominanten Integrationsideologie können nur dann nachhaltig unterminiert werden, wenn es gelingt die Repräsentation von nationalem Selbst und migrantischen Anderen auch außerhalb des abgeschlossenen (Um-)Erziehungsraums zu manipulieren. Angesichts der Geschichte der deutschen Ausländerdebatte, die mit einem Sammelsurium rassistischer Stereotypen zur Untermauerung von Überfremdungs- und Überflutungsthesen angefüllt ist, ist unseres Erachtens nach generelle Vorsicht vor einer unkritischen Affirmation offizieller Integrationsdiskurse angebracht. Wir erinnern daran, dass an diesen rassistischen Diskussionen nicht nur ranghohe legislative und exekutive Repräsentanten des Staates beteiligt waren. Involviert waren auch die deutsche Ausländerforschung und Ausländerpädagogik, die besonders in den 1970erund 1980er-Jahren oftmals als staatliche Auftragsforschung allzu dienstbereit die politischen Interessen der jeweiligen Regierung wissenschaftlich absicherten und pädagogisierende Vorschläge zur sekundären Sozialisation der als defizitär definierten MigrantInnen unterbreiteten. Im Sinne einer selbstkritischen Reflexion ist es wünschenswert, wenn sowohl die Pädagogik als auch die Migrationsforschung ihre Beteiligung an Prozessen der gesellschaftlichen Verobjektivierung und Diskriminierung überprüft. Die hier geforderte Revision der Integrationspädagogik setzt eine kritische Selbstbefragung der eigenen Disziplin vor dem Hintergrund ihrer Entstehungsbedingungen voraus. Im historischen Längsschnitt stellt sich die Aufgabe das Verhältnis zwischen den heutigen Integrationsbestimmungen und jenen erzieherischen Maßnahmen wie schulischen Praktiken zu sondieren, die in der Kolonialpädagogik eingesetzt wurden, um den außereuropäischen Anderen mittels Zivilisierung und anderen Taktiken der Befriedung in die erweiterte Nation einzugliedern, das heißt zum Untertan zu machen. Wer das Thema des Eurozentrismus und des Rassismus sowie ihre Relationen zum Kolonialismus in den Diskurs der Pädagogik einführt, kann die soziopolitischen und ideologischen Auswirkungen der aktuellen Integrationspraxis nicht losgelöst von einem historisch generierten Macht/Wissen-Komplex diskutieren, der unmittelbar mit der kolonialen Pädagogik verbunden ist. Ein wichtiges Ziel unserer Arbeit besteht darin strukturelle Asymmetrien stärker in der Analyse zu berücksichtigen und den wissenschaftlichen Diskurs für kolonialanaloge Elemente in der
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deutschen Migrations- und Integrationspolitik zu sensibilisieren. Um das bestehende Machtgefälle und die sozio-kulturelle Hierarchie zwischen der deutschen Gesellschaft und postkolonialen MigrantInnen angemessen sprachlich fassen zu können, plädieren wir im Anschluss an Birgit Rommelspacher für den Terminus „Dominanzgesellschaft“ als grundlegende Analysekategorie. Dieser Begriff bezeichnet nicht nur die von uns problematisierte Macht die eigenen Zuschreibungen und Projektionen gesellschaftlicher Fremdheit, kultureller Inkompatibilität und politischer Gefährlichkeit im öffentlichen Diskurs wie in legislatorischen Maßnahmen zu einem objektiven Tatbestand zu transformieren. Er kennzeichnet darüber hinaus eine Verfügungsmacht, welche aus der Etablierung der selbstverständlich erscheinenden deutschen Norm und der migrantischen Abweichung ein Recht zur Pädagogisierung nach deutschem Vorbild ableitet. Um eine kritische Perspektive zu gewinnen, halten wir es für zentral repressive Integrationsformen nicht zuletzt als Praktiken der Disziplinierung zu analysieren. In dieser Perspektive erweist sich Integration als Ideologie zur Erhaltung von gesellschaftlicher Hegemonie und kultureller Dominanz. Es ist Aufgabe der Dominanzgesellschaft sich mit den kolonialrassistischen Anteil ihrer nationalistischen Identitätspolitik auseinanderzusetzen und ihr Integrationsprojekt darin zu verorten. Die Angehörigen der Dominanzgesellschaft haben die Option sich einem Identitätsmuster zu widersetzen, das auf den ontologischen Antagonismus gegenüber dem Sie der außereuropäischen ImmigrantInnen gründet. Sie tragen die politische Verantwortung für die rassistische Stigmatisierung von MigrantInnen. Hierzu zu schweigen, bedeutet nicht einfach das selbstverständliche und folgenlose Bekenntnis zur eigenen kulturellen Herkunft oder zur nationalen Gemeinschaft, wie uns die patriotisch aufgeladene Debatte glauben lassen will. Die Performanz der ausschließenden Kollektiverzählung betrifft zu allererst die Lebenswirklichkeit der rechtlich sanktionierten ImmigrantInnen. Ihre wichtigste Bezugsgröße und Legitimationsgrundlage bildet aber der stillschweigende Konsens eines im kolonial-rassistischen Denk- und Handlungsmustern verharrenden deutschen Mehrheit. Solange die Entscheidung über gesellschaftliche Inklusion und Exklusion deutsches Monopolrecht ist, findet Selektion, aber keine Integration statt. Die Frage migrantischer (Selbst-)Repräsentation und minoritärer Selbstbestimmung kann
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nicht aus der Perspektive der politischen Souveränität der nationalen Dominanzgesellschaft beantwortet und reguliert werden. Angesichts der aktuellen globalen Transformationen ist es besonders wichtig, die inneren Widersprüche eines liberalen Integrationsversprechens zu erkennen, dessen ethnozentristischen Kontingenzen und rassistischen Prozeduren gleichsam sein Scheitern in Form von fortgesetzter Diskriminierung und Segregation vorwegnehmen. Soll die gleichberechtigte Teilhabe am demokratischen Prozess nicht weiterhin von Rassenkonstruktionen und kultureller Herkunft abhängig gemacht werden, dann reicht es nicht aus, die Idee der Integration nur in einem europäischen Sinne zu denationalisieren. Ohne die kritische Reflexion der kolonialen Genese europäischer Wir-Identitäten und ohne die Revision unserer darin fundierten Logik sozio-politischer Teilhabe bleibt das Recht auf Differenz das leere Versprechen eines in feste Binäroppositionen aufgespaltenen Universalismus. Eine Revision des vorherrschenden Integrationskonzeptes setzt den politischen Willen zur demokratischen Einbeziehung voraus, die migrantische Subjektpositionen als gleichberechtigt mit mehrheitsdeutschen Interessen behandelt und MigrantInnen als historisch und politisch Handelnde respektiert, anstatt sie weiterhin zu statistischen und rechtlichen Kategorien zu degradieren. Man muss nicht rechtsphilosophisch geschult sein, um eine anti-rassistische Politik der Anerkennung und sozialen Gerechtigkeit (vgl. Benhabib 1999: 33ff.) einzufordern, die das Recht auf gleichberechtigte Partizipation über nationale Privilegien stellt. Dass der autarke Anspruch auf Volkssouveränität zugunsten der politischen und kulturellen Rechte von ethnisch, sexuellen und religiösen Minderheiten begrenzt werden muss, ist in zahlreichen internationalen Konventionen, Protokollen und Resolutionen seit der Erklärung der Allgemeinen Menschenrechte festgehalten worden. In Anerkennung dieser Standards läge die vorrangigste Integrationsaufgabe des Staates nicht in der nationalpädagogischen Transformation migrantischer Subjekte, sondern in der anti-rassistischen Transformation der Lebensbedingungen für marginalisierte Gruppen. Der Abbau struktureller und institutioneller Diskriminierungen sowie die Gleichstellung hinsichtlich des Rechtes auf Selbstdefinition und kultureller Autonomie – sowohl innerhalb als auch parallel zur Mehrheitsgesellschaft – steht im Zentrum eines machtkritisch entwickelten Konzeptes migrantischer Partizipation. Erst dann ließe
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sich die Frage stellen, ob sich überhaupt eine Pädagogik der Integration denken lässt, die nicht für das Fortbestehen des nationalen Bildungskanons argumentiert, sondern Gerechtigkeit und Solidarität zum Ausgangspunkt wählt. Anstatt dabei die Bedeutung des Wortes Kanon in seiner legalistischen Etymologie aus dem arabischen qanun (Gesetz) herzuleiten, scheint es hilfreich sich seiner anderen, musikalischen Verwendung zu erinnern: Der Kanon als eine kontrapunktische Form zahlreicher sehr verschiedener, aber dennoch interagierender Stimmen(vgl. Said 2004: 25). Eine solche postkoloniale und postnationale Pädagogik wäre freilich an alle Menschen unabhängig von kultureller Herkunft und Ethnizität adressiert. Sie müsste die Bildung neuer Vergesellschaftungsformen begleiten, die fortwährend für divergierende Identitäten offen bleiben. Unser Versuch einer postkolonialen Kritik der nationalen Integrationspädagogik beabsichtigte nicht, die nationale Narration und ihre kolonial-rassistischen Kontingenzen unversehrt zu belassen oder eine verlorene Einheit wiederherzustellen. Unsere Argumentation wollte bewusst nicht integer sein, sondern weist die aus dem starren Kanon der deutschen oder europäischen Kultur gewonnenen Konzepte zurück. Hierzu war es nötig, die bleierne Harmonie nationaler Loyalität mit den Dissonanzen ihres Außen, mit ihren historischen Brüchen und blinden Stellen zu konfrontieren. Die postkoloniale Kritik des deutschen Migrationsregimes begibt sich in Opposition zu der informellen großen Koalition disziplinierender Integration. Dabei artikuliert sie nicht nur einen allgemeinen oder normativ begründeten Dissens bezüglich der essenzialistischen Identitätskonstruktionen euro-nationalistischer PatriotInnen. Anstelle der selektiven Umsetzung von Freiheit und Gerechtigkeit müsste jede postkoloniale Konstellation die anhaltende politisch-ökonomische Marginalisierung und rassistische Diskriminierung von MigrantInnen überwinden. Solange aber Integration in Deutschland vorrangig als ein Instrument zur Sicherstellung des Vorrechtes der Mehrheitsgemeinschaft begriffen wird, bleibt eine Kritik notwendig, die in Anlehnung an Foucaults Definition kritischen Engagements eine Gegenbewegung zur instrumentalisierten Regierbarmachung von MigrantInnen unterstützt: Die Kunst nicht auf diese Weise, nicht um diesen Preis, nicht dermaßen integriert zu werden (vgl. Foucault 1992: 12).
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Diskurszitate und Infragestellungen werden hier wie im folgenden nur bei erstmaliger Verwendung kursiv hervorgehoben. Siehe zur Diskussion von Ansätzen, die Fragen zur westlichen Dominanz und globalen Dezentrierung aufgreifen, Conrad/Randeria 2002. Die laut Grundgesetz Art. 116 volksdeutsche Gruppe der Spätaussiedler hat nach dem am 30.7.2004 abgeändertem Bundesvertriebenengesetz nun das Recht durch einen Integrationskurs ihre kulturelle Zugehörigkeit zur deutschen Nation zu revitalisieren bzw. neu anzueignen. Damit reagiert das Gesetz auf die seit Jahren von der deutschen Öffentlichkeit massiv beklagten Integrationskonflikte gerade mit sog. Russlanddeutschen. Ihre zunehmend ungewisse völkische Herkunft zeigen die Widersprüche des völkischen Verständnisses von Kultur und Nation im offiziellen Diskurs auf. Auch in diesem Fall stellen die Integrationskurse einen Versuch dar die ideologischen Risse und praktischen Probleme völkischer Politik im Migrationsbereich zu reduzieren. Detaillierte Darstellungen der migrantischen Unterschichtung finden sich im Sechsten Familienbericht der Bundesregierung 2000 und im ersten Armutsbericht (Lebenslagen in Deutschland 2001: 199-214). Der aktuelle Armutsbericht konstatiert eine zunehmende soziale Ausschließung: „Das Armutsrisiko von Personen mit Migrationshintergrund ist zwischen 1998 und 2003 von 19,6% auf 24% gestiegen und liegt damit weiterhin deutlich über der Armutsrisikoquote der Gesamtbevölkerung“ (Lebenslagen in Deutschland 2004: 146-159, hier: 159). Neben ökonomische und politische Erwägungen spielen auch kulturellreligiöse und ethnische Gesichtspunkte bei der Gestaltung von Integrationsregelungen und Einwanderungsbegrenzungen eine wichtige Rolle. Durch die unterschiedliche Vergabe von Rechten und Pflichten – etwa im Aufenthaltsrecht und Arbeitsförderungsgesetz – wird die EU- und völkisch-zentrierte Hierarchie unter den Eingewanderten ausgebaut und verfestigt. Für eine Analyse der kolonialen Elemente der deutschen Arbeitsmigrationspolitik siehe Nghi Ha (2003). Bereits vor mehr als 20 Jahren wurde das deutsche Integrationskonzept zu Beginn seiner programmatischen Diskussion von verschiedenen Seiten – etwa von Claus Leggewie (1980), Franz Hamburger (1983) und Ahmet Bayaz (1984) – als Strategie der Germanisierung kritisiert (Treibel 1990: 48). Analog zur anglo-amerikanischen Diskussion über black und Blackness kennzeichnen politisch-analytische Begriffe wie „Schwarz“ oder „die Anderen“ historisch und kulturell hergestellte Subjektpositionen, die durch die Präsenz kolonial-rassistischer Gesellschafts- und Produktionsverhältnisse hergestellt und stabilisiert werden. Siehe etwa die von Friedrich Merz losgetretene Leitkultur-Debatte (Oktober 2000), die zuletzt Ende 2004 im Zuge der parteienpolitischen Wertediskussion um ein Bekenntnis zum deutschen Patriotismus erneut aufgewärmt wurde. In der Bild am Sonntag forderte Merz am 3.12.2000:
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„Ausländer, die hier leben wollen, müssen sich an das Grundgesetz halten und die Gesetze achten. Zwingend ist, dass sie Deutsch lernen und unsere Sitten, Gebräuche und Gewohnheiten akzeptieren“ (Jungle World 2000). Diese Institution ist aus dem früheren Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge hervorgegangen. Aufgrund zahlreicher Fehlentscheidungen und auch menschenrechtlich bedenklichen Verfügungen stand sie im Mittelpunkt der Kritik von renommierten NGOs wie Amnesty International und Pro Asyl. „Informationen und Begründung der Verordnung über die Durchführung von Integrationskursen für Ausländer und Spätaussiedler (Integrationskursverordnung – IntV)“. Diese Begründungsversion basiert auf dem Beschluss des Bundeskabinett vom 01.12.2004. Zusätzlich soll das Migrationsamt das Ausländerzentralregister führen, Programme zur freiwilligen Rückkehr entwickeln und umsetzen, wissenschaftliche Begleitforschung zu Optimierungszwecken betreiben und den Informationsfluss zwischen den Ausländerbehörden, der Bundesagentur für Arbeit und den deutschen Auslandsvertretungen koordinieren um jederzeit über den „gläsernen Migranten“ im Bilde zu sein. Website: www.bafl.de Der bürokratische und organisatorische Aufwand zur Bewältigung dieser ineinandergreifenden Aufgabengebiete ist gewaltig: „Das Diagramm füllt eine ganze DIN-A4 Seite mit schwindelerregenden Pfeilen, Arbeitsschritten und Behördenzuständigkeiten. Dabei ist das, was das Bundesamt für Migration da aufgemalt hat, schon der vereinfachte Wegweiser durch ein neues Verordnungsgestrüpp. Mit diesem will das Bundesinnenministerium das vermeintliche Herzstück des Zuwanderungsgesetzes, die Integration der Einwanderer, regeln ... Heillos bürokratisch und unpraktikabel sei die 28-Seiten dicke Integrationskursverordnung (Gaserow 2004). Hier denken wir vor allem an jene die Durchführung der Integrationskurse begleitenden Forschungen und Datenerfassung sowie an die überbehördliche Vernetzung mit dem Ausländerzentralregister. Zeitgleich mit der Integrationsverordnung wird nach § 58a AufenthG eine Ermessungsabschiebung eingeführt, die aufgrund einer tatsachengestützten Gefahrenprognose gegen Verdächtigte erlassen werden kann. Der Rechtsschutz wird außerdem auf eine gerichtliche Instanz beschränkt. Auch geistige Brandstifter (§ 55 Abs. 2 Nr. 8 AufenthG), Angehörige verbotener Vereine (§ 54 Nr. 7 AufenthG), Schleuser (§ 53 Nr. 3 AufenthG) und sog. Unterstützer terroristischer Organisationen (§ 54 Nr. 5 AufenthG) sind von der Ermessens- oder Regelausweisung betroffen. Zusätzlich wird auch die Regelanfrage über verfassungsfeindliche Einstellungen vor der Erteilung einer Niederlassungserlaubnis oder eine Einbürgerung eingeführt. Interessanterweise spielten die anti-islamischen und antisemitischen Ausfälle van Goghs in dieser Debatte so gut wie keine Rolle. Am 26.7.2005 wurde der geständige Mohammed Bouyeri zu einer lebenslangen Haftstrafe ohne Aussicht auf vorzeitige Entlassung verurteilt. Er gab als Grund für den Mord, den er bislang nicht bereut, die Verletzung religiöser Gefühle an. Auch der zuständige Staatsanwalt van Straelen
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KIEN NGHI HA /MARKUS SCHMITZ beschrieb Theo van Gogh als „unverbesserlichen Kritikaster, der Beleidigungen zur Kunstform erhoben hat“. Die lebenslange Haftstrafe wurde folgendermaßen begründet: „‚Er ist und bleibt gefährlich‘, sagte der Staatsanwalt über Bouyeri, einen Niederländer marokkanischer Herkunft. Bouyeri müsse von der Demokratie ausgeschlossen werden, die er bekämpfe“ (http://www.n-tv.de/559796.html). Die Schlagzeilen in diesen Wochen lauteten: „‚Holland ist überall‘, warnt der SPD-Politiker Dieter Wiefelspütz. Die ‚Zeit‘ analysiert die ‚Tücken der Toleranz‘, die ‚Welt‘ inszeniert täglich den ‚Abschied von Multikulti‘ oder gar ‚vom Multi-Kulti-Trauma‘„ (Rosenkranz 2004). „Der bayerische Innenminister Günther Beckstein wies Schilys Ansatz [der Assimilierung] im Deutschlandradio als inakzeptabel und den Begriff ‚Assimilierung‘ als ‚Übertreibung‘ zurück. Die CSU setze im Gegensatz zu Schily auf die Anerkennung der deutschen Leitkultur durch die Ausländer. ‚Unsere westliche Zivilisation, geprägt durch Christentum, Aufklärung und den Humanismus, die muss jeder anerkennen, sonst hat er bei uns nichts zu suchen‘, zitierte der Sender den CSU-Politiker“ (n-tv 2002). Vgl. hierzu die Überblicksdarstellungen zur deutschen Ausländerpolitik in Dohse 1985; Bade 2000; Herbert 2001. Stellvertretend für viele andere mediale Ereignisse ist der Aufmacher auf dem Cover des SPIEGELS vom 14.4.1997 zu nennen: Der Spiegel: Gefährlich fremd – Ausländer und Deutsche. Das Scheitern der multikulturellen Gesellschaft, 16/1997: 1. Verstärkt wurde die Schlagzeile noch durch den kollektiven Beitrag der Spiegel-Redaktion: Zeitbomben in den Vorstädten: 78-93. Vgl. etwa die britische Diskussion über die Unmöglichkeit den „Hassprediger“ widerspruchsfrei zu definieren. Vgl. für eine Zusammenfassung der internationalen Kritik (darunter Berichte von UN-Organisationen, der Europäischen Kommission gegen Rassismus und Intoleranz, Menschenrechtsorganisationen) Addy 2003: 36 – 49. Ebenso verdeutlicht die nach EU-Maßgabe längst überfällige Überführung des Anti-Diskriminierungsgesetzes in nationales Recht genauso wie seine jüngste Infragestellung durch die Minister Clement, Eichel und Schily die unterschiedliche Prioritätensetzung. Nach Schily wäre die Rücknahme des geplanten Anti-Diskriminierungsgesetzes „ein echter Beitrag zum Bürokratieabbau“ (Berliner Morgenpost 2005: 1f.). In unzähligen Publikationen hat z.B. Noam Chomsky auf die globalen Machtverhältnisse hingewiesen. Kritisch hierzu Çaðlar 2002. Siehe etwa die medialen Diskursanalysen des Duisburger Instituts für Sprach- und Sozialforschung: Jäger/Link 1993; Jäger 1998. Zum Verhältnis von Monolingualität, Multilingualität und Identität siehe Simo 1998; Graf 2003: 83-103. Wir beziehen uns hier auf einen der Schlüsseltexte postkolonialer Kritik: Spivak 1985.
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Norbert Meder: Kommentar zu Kien Nghi Ha & Markus Schmitz Es ist dringend notwendig, dass die postkoloniale Perspektive auf die Bundesrepublik hier eingenommen wird. Das ehemalige Deutsche Reich als Kolonialmacht wird schlichtweg tabuisiert – ein Umstand, den ich aus eigener Sozialisierung nur bekräftigen kann. Ich verstehe auch zu wenig davon – was ja gerade Ausdruck der Tabuisierung ist – um diesem Text in einem ausführlichen Kommentar gerecht zu werden. Er ist für mich zu neu, ich habe ihn gespannt gelesen. Aus eigener Sozialisation kann ich nur ergänzen, dass die Gespräche mit meinem 1882 geborenen Großvater, der für mich Vaterersatz war – er hatte also den Kolonialismus des Kaiserreiches noch miterlebt – höchst ambivalent waren. Zum einen spürte ich stets einen nationalen Minderwertigkeitskomplex, weil es das deutsche Reich nicht geschafft hatte, mit den anderen europäischen Kolonialmächten gleichzuziehen. Zum anderen spürte ich das Bemühen, diesen Minderwertigkeitskomplex dadurch zu kompensieren, dass vorgehalten wurde, wir Deutschen wären die – human betrachtet – besseren Kolonialherren gewesen. Ich habe dies lange wirklich geglaubt, weil es mir ja mein Großvater so gesagt hatte (er hatte es wohl selbst geglaubt, denn er war Kantianer und hätte es sonst nicht so weiter getragen). Heute weiß ich, ohne dem wissenschaftlich auf den Grund gegangen zu sein, dass es sicher nicht so war. Ich kann zu dem Thema – im Sinne einer Fallstudie – nur meine eigene biografische Erfahrung beitragen. Sie kommt aus einer politisch liberalen Familie, deren Liberalität an Rechtsstaatlichkeit, d. h. an der Kant-Tradition orientiert war. Es gab ja in der Weimarer Zeit drei liberale Parteien: die National-Liberalen, die Wirtschaftsliberalen und die Bürgerrechtsliberalen. Mein Großvater, der sich als Realschulabgänger autodidaktisch in Kant eingelesen hat, gehörte zu der letzteren Gruppe der Liberalen. Ich habe im übrigen mit seiner Kant-Reclam-Ausgabe aus den Anfängen des 20.Jahrhundert meine eigenen Studien an der Universität betrieben. Seine Wurzeln der Liberalität lagen jedenfalls in der Rechtsstaatlichkeit in der Tradition kantianischen Denkens. Das wurde mir schon als heranwachsendem Knaben (mit etwa 7-8 Jahren) deutlich, wenn er, als Mitbegründer der FDP in Heppenheim, mir erzählte, dass es ein Fehler dieser Gründung war, die drei letztlich nicht verträglichen liberalen Strömungen aus der Weimarer Zeit in der FDP zu vereinen. Es hielt
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ihn Anfang der fünfziger Jahre natürlich aufrecht, dass Heuss ein Vertreter der Politisch-Liberalen (Kant-Tradition) war. Aber Dehler wurde bei Mittagsessensgesprächen schon äußerst kritisch behandelt. Und auch über Mende waren wir nicht wirklich glücklich. Erst die parteiliberale Generation von Maihofer, Dahrendorf, Baum, Hirsch u. a. haben uns familiär hoffen lassen. Ich schildere diese meine familiäre Situation, um mein alltagsorientiertes Verständnis des Themas dieser Abhandlung zu klären. Wir waren eine politisch liberale Familie und dennoch war das Thema der deutschen Kolonialpolitik irgendwie schwierig und aus meiner Sicht – ich rede von meiner Sozialisationszeit zwischen dem 8. und 14. Lebensjahr – unbefriedigend zu kommunizieren. Die Kommunikation ging hin und her zwischen den folgenden zwei Polen: Wir Deutschen haben erstens den Zeitpunkt versäumt, in dem man um die Vorherrschaft in der Kolonialisierung noch hätte machtpolitisch mitwirken können. Andererseits können wir froh sein, nicht in denselben Schlamassel hineingeraten zu sein, den England mit dem Empire oder Frankreich mit Algerien hatte. Aber dann drittens – und das war der Clou: Wenn wir Deutschen aber intensiver an der Kolonialisierung beteiligt gewesen wären, dann hätten wir alles besser gemacht. Wir hätten der Welt den „Ewigen Frieden“ gebracht, wie es Kant in dem Reclam-Bändchen von 56 Seiten – Hardcovergebunden in Braun ohne Jahreszahl der Herausgabe – beschrieben hat: Zum ewigen Frieden. Königsberg 1795. Kurz: Wir Deutschen – wenn wir denn gekonnt hätten – wären die besten aller Kolonialherren im Namen der Aufklärung gewesen. So erinnere ich die damals vorherrschende familiäre Auffassung. Wir hätten dann die drei Weltgesetze politisch durchgesetzt, die Kant in seiner Schrift formuliert hat; Gesetze, die auch heute noch die Statuten der UN bestimmen könnten. Es handelt sich um drei Regularien: „1. Die bürgerliche Verfassung in jedem Staate soll republikanisch sein. 2. Das Völkerrecht soll auf einem Föderalism(us) freier Staaten gegründet sein. 3. Das Weltbürgerrecht soll auf Bedingungen der allgemeinen Hospitalität eingeschränkt sein.“
Ein Kolonialismus muss die republikanische Verfassung bringen, also Gewaltenteilung und repräsentative Demokratie. Denn Staaten
DER NATIONALPÄDAGOGISCHE IMPETUS
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die so verfasst sind, setzen im Innern auf gewaltfreie, regelgebundene Konfliktbewältigung, was sich auch auf die Außenbeziehungen auswirkt – zumindest zwischen Republiken. Deshalb braucht es auch keinen Weltstaat. Ein Föderalismus, in dem die Staaten ihre Souveränität behalten. Und es reicht, dass jeder Weltbürger in jeder Republik der Welt das Gastrecht besitzt. Damit ist noch kein Bleiberecht verbunden. Das Absurde und Verlogene an dem Gedanken, ein deutscher Kolonialismus hätte von einem kantianischen Bewusstsein getragen sein können und den fremden Kulturen die Aufklärung bringen können, liegt natürlich darin, dass dies nicht mit Gewaltherrschaft geht und in Wahrheit ein Gedanke ist, der versucht, Gewaltanwendung zu legitimieren. Das weiß ich natürlich heute, aber damals, als ich mit 12 Jahren meinem Großvater zuhörte, klang das so, als ob der deutsche Kolonialismus der gute Kolonialismus gewesen ist. Die anderen waren die Bösen. Ich weiß nicht, ob diese meine familiengebundene Erfahrung verallgemeinerbar ist – etwa ob viele oder gar die meisten Deutschen ungefähr so dachten. Das hat im übrigen auch der Geschichtsunterricht im Gymnasium Mitte der 60er Jahre nicht aufgeklärt. Jedenfalls zeigt meine biografische Erfahrung, wie wichtig und verdienstvoll die Analyse in diesem Artikel ist. Er wäre allerdings noch spannender gewesen, wenn er den Duktus der Cultural Studies eingenommen und stärker differenztheoretisch auf plurale Kulturstränge abgehoben hätte. Es gibt eben auch einen Kulturstrang in Deutschland, der auf Vertragspatriotismus abhebt und in der Tradition kantischer Philosophie und kantischen Denkens steht. So kulturwissenschaftlich geprägt auch der Neukantianismus gewesen sein mag, so stark auch die kulturwissenschaftliche Erweiterung der kantischen Position gewesen sein mag, die rechtsstaatliche und republikanische Sicht auf die Nation hat er höchstens relativiert, aber nicht beiseite geschoben. Der rechtsstaatliche Liberalismus mag in Deutschland politisch vergleichsweise schwach gewesen sein – mit Blick nach England oder auch Frankreich – aber es hat ihn gegeben und gibt ihn auch heute noch. Er taucht in den Diskursanalysen des vorliegenden Textes nicht auf – vielleicht, weil er als Kulturstrang zu schwach ist und im Kaiserreich auch war?
VALERIE S CATAMBURLO -D’A NNIBALE / P ETER M C L AREN
C L A S S D I S M I S S E D ? H I S T O R I C A L M AT E R I A L I S M T H E P O L I T I C S O F “D I F F E R E N C E ”
AND
Introduction Perhaps one of the most taken-for-granted features of contemporary social theory is the ritual and increasingly generic critique of Marxism in terms of its alleged failure to address forms of oppression other than that of “class.” Marxism is considered to be theoretically bankrupt and intellectually passé and class analysis is often savagely lampooned as a rusty weapon wielded clumsily by those mind-locked in the jejune factories of the nineteenth and twentieth centuries. When Marxist class analysis has not been distorted or equated with some crude version of “economic determinism,” it has been attacked for diverting attention away from the categories of “difference”—including ‘race’ (Gimenez 2001). To overcome the presumed inadequacies of Marxism, an entire discursive apparatus sometimes called “post-Marxism” has arisen to fill the void. Serving as academic pallbearers at the funeral of the old bearded devil, post-Marxists (who often go by other names such as postmodernists, radical multiculturalists, etc.) have tried to entomb Marx’s legacy while simultaneously benefiting from it. Yet, the crypt designed for Marx, reverential in its grand austerity, has never quite been able to contain his impact on history. For someone presumably dead, Marx has a way of escaping from his final resting place and reappearing with an uncanny regularity in the world of ideas. His ghost, as Greider (1998) notes, “hovers over the global landscape” as he continues to shape our understandings of the current crises of capitalism that haunt the living present. Regardless of Marx’s enduring relevance and even though much of post-Marxism is actually an outlandish “caricature” of Marx and the entire Marxist tradition, it has eaten through the “left like a cancer” and has “established itself as the new common sense” (Johnson 2002: 129). What has been
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produced is a discourse eminently more digestible to the academic “Left” whose steady embourgeoisement appears to be altering the political palate of career social theorists. Eager to take a wide detour around political economy, postMarxists tend to assume that the principle political points of departure in the current “postmodern” world must necessarily be “cultural.” As such, most, but not all post-Marxists have gravitated towards a politics of “difference” which is largely premised on uncovering relations of power that reside in the arrangement and deployment of subjectivity in cultural and ideological practices (cf. Jordan/Weedon, 1995). Advocates of “difference” politics therefore posit their ideas as bold steps forward in advancing the interests of those historically marginalized by “dominant” social and cultural narratives. There is no doubt that post-Marxism has advanced our knowledge of the hidden trajectories of power within the processes of representation and that it remains useful in adumbrating the formation of subjectivity and its expressive dimensions as well as complementing our understandings of the relationships between “difference,” language, and cultural configurations. However, post-Marxists have been woefully remiss in addressing the constitution of class formations and the machinations of capitalist social organization. In some instances, capitalism and class relations have been thoroughly “otherized;” in others, class is summoned only as part of the triumvirate of “race, class, and gender” in which class is reduced to merely another form of “difference.” Enamored with the “cultural” and seemingly blind to the “economic,” the rhetorical excesses of post-Marxists have also prevented them from considering the stark reality of contemporary class conditions under global capitalism. As we hope to show, the radical displacement of class analysis in contemporary theoretical narratives and the concomitant decentering of capitalism; the anointing of “difference” as a primary explanatory construct; and the “culturalization” of politics, have had detrimental effects on “left” theory and practice. Reconceptualizing “Difference” The manner in which “difference” has been taken up within “postal” frameworks has tended to stress its cultural dimensions while marginalizing and, in some cases, completely ignoring the economic
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and material dimensions of difference. This posturing has been quite evident in many ‘post-al’ theories of “race” and in the realm of “ludic” 1 cultural studies that have valorized an account of difference—particularly “racial difference”—in almost exclusively “superstructuralist” terms (Sahay 1998). But this treatment of “difference” and claims about “the ‘relative autonomy’ of ‘race’ have been enabled by a reduction and distortion of Marxian class analysis” which “involves equating class analysis with some version of economic determinism.” The key move in this distorting gesture depends on the “view that the economic is the base, the cultural/political/ ideological the superstructure.” It is then “relatively easy to show that the (presumably non-political) economic base does not cause the political/cultural/ideological superstructure, that the latter is/ are not epiphenomenal but relatively autonomous or autonomous causal categories” (Meyerson 2000: 2). In such formulations the “cultural” is treated as a separate and autonomous sphere, severed from its embeddedness within socio-political and economic arrangements. As a result, many of these “culturalist” narratives have produced autonomist and reified conceptualizations of difference which “far from enabling those subjects most marginalized by racial difference” have in effect, reduced “difference to a question of knowledge/power relations” that can presumably be “dealt with (negotiated) on a discursive level without a fundamental change in the relations of production” (Sahay 1998). At this juncture, it is necessary to point out that arguing that “culture” is generally conditioned/shaped by material forces does not reinscribe the simplistic and presumably “deterministic” base/superstructure metaphor which has plagued some strands of Marxist theory. Rather, we invoke Marx’s own writings from both the Grundrisse and Capital in which he contends that there is a consolidating logic in the relations of production that permeates society in the complex variety of its ‘empirical’ reality. This emphasizes Marx’s understanding of capitalism and capital as a “social” relation —one which stresses the interpenetration of these categories, the realities which they reflect and, one that therefore offers a unified and dialectical analysis of history, ideology, culture, politics, economics and society (see also Marx 1972; 1976; 1977). 2 Foregrounding the limitations of “difference” and “representational” politics does not suggest a disavowal of the importance of cultural and/or discursive arena(s) as sites of contestation and
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struggle. We readily acknowledge the significance of contemporary theorizations that have sought to valorize precisely those forms of “difference” that have historically been denigrated. This has undoubtedly been an important development since they have enabled subordinated groups to reconstruct their own histories and give voice to their individual and collective identities. However, they have also tended to redefine politics as a signifying activity generally confined to the realm of “representation” while displacing a politics grounded in the mobilization of forces against the material sources of political and economic marginalization. In their rush to avoid the “capital” sin of “economism,” many post-Marxists (who often ignore their own class privilege) have fallen prey to an ahistorical form of culturalism which holds, among other things, that cultural struggles external to class organizing provide the cutting edge of emancipatory politics. 3 In many respects, this posturing, has yielded an “intellectual pseudopolitics” that has served to empower “the theorist while explicitly disempowering” real citizens (Turner 1994: 410). We do not discount concerns over representation; rather our point is that progressive educators and theorists should not be straight jacketed by struggles that fail to move beyond the politics of difference and representation in the cultural realm. While space limitations prevent us from elaborating this point, we contend that culturalist arguments are deeply problematic in terms of their penchant for de-emphasizing the totalizing (yes totalizing!) power and function of capital and for their attempts to employ culture as a construct that would diminish the centrality of class. In a proper historical materialist account, “culture” is not the “other” of class but rather constitutes part of a more comprehensive theorization of class rule in different contexts. 4 ‘Post-al’ theorizations of “difference” circumvent and undermine any systematic knowledge of the material dimensions of difference and tend to segregate questions of “difference” from class formation and capitalist social relations. We therefore believe that it is necessary to (re)conceptualize “difference” by drawing upon Marx’s materialist and historical formulations. “Difference” needs to be understood as the product of social contradictions and in relation to political and economic organization. We need to acknowledge that “otherness” and/or difference is not something that passively happens, but rather is actively produced. In other words, since systems of differences almost always involve relations of domina-
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tion and oppression, we must concern ourselves with the economies of relations of difference that exist in specific contexts. Drawing upon the Marxist concept of mediation enables us to unsettle our categorical approaches to both class and difference for it was Marx himself who warned against creating false dichotomies in the situation of our politics—that it was absurd to “choose between consciousness and the world, subjectivity and social organization, personal or collective will and historical or structural determination.” In a similar vein, it is equally absurd to see “difference as a historical form of consciousness unconnected to class formation, development of capital and class politics” (Bannerji 1995: 30). Bannerji points to the need to historicize “difference” in relation to the history and social organization of capital and class (inclusive of imperialist and colonialist legacies). Apprehending the meaning and function of difference in this manner necessarily highlights the importance of exploring (i) the institutional and structural aspects of difference; (ii) the meanings that get attached to categories of difference; and (iii) how differences are produced out of, and lived within specific historical formations. 5 Moreover, it presents a challenge to those theorizations that work to consolidate “identitarian” understandings of difference based exclusively on questions of cultural or racial hegemony. In such approaches the answer to oppression often amounts to creating greater cultural space for the formerly excluded to have their voices heard (represented). In this regard, much of what is called the “politics of difference” is little more than a demand for inclusion into the club of representation—a posture which reinscribes a neo-liberal pluralist stance rooted in the ideology of free-market capitalism. In short, the political sphere is modeled on the marketplace and freedom amounts to the liberty of all vendors to display their “different” cultural goods. What advocates of this approach fail to address is that the forces of diversity and difference are allowed to flourish provided that they remain within the prevailing forms of capitalist social arrangements. The neo-pluralism of difference politics (including those based on “race”) cannot adequately pose a substantive challenge to the productive system of capitalism that is able to accommodate a vast pluralism of ideas and cultural practices and cannot capture the ways in which various manifestations of oppression are intimately connected to the central dynamics of capitalist exploitation.
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An historical materialist approach understands that categories of “difference” are social/political constructs that are often encoded in dominant ideological formations and that they often play a role in “moral” and “legal” state-mediated forms of ruling. It also acknowledges the “material” force of ideologies – particularly racist ideologies – that assign separate cultural and/or biological essences to different segments of the population which, in turn, serve to reinforce and rationalize existing relations of power. But more than this, an historical materialist understanding foregrounds the manner in which “difference” is central to the exploitative production/ reproduction dialectic of capital, its labor organization and processes, and in the way labor is valued and renumerated. The real problem is the internal or dialectical relation that exists between capital and labor within the capitalist production process itself—a social relation in which capitalism in intransigently rooted. This social relation—essential to the production of abstract labor— deals with how already existing value is preserved and new value (surplus value) is created (Allman 2001). If, for example, the process of actual exploitation and the accumulation of surplus value is to be seen as a state of constant manipulation and as a realization process of concrete labor in actual labor time—within a given costproduction system and a labor market—we cannot underestimate the ways in which “difference”—(racial as well as gender difference) is encapsulated in the production/reproduction dialectic of capital. It is this relationship that is mainly responsible for the inequitable and unjust distribution of resources. A deepened understanding of this phenomenon is essential for understanding the emergence of an acutely polarized labor market and the fact that disproportionately high percentages of ‘people of color’ are trapped in the lower rungs of domestic and global labor markets (McLaren/Farahmandpur 1999). “Difference” in the era of global capitalism is crucial to the workings, movements and profit levels of multinational corporations but those types of complex relations cannot be mapped out by using truncated post-Marxist, culturalist conceptualizations of “difference.” To sever issues of “difference” from class conveniently draws attention away from the crucially important ways in which “people of color” (and more specifically “women of color”) provide capital with its superexploited labor pools—a phenomenon that is on the rise all over the world. Most social relations constitutive of racialized differences are considerably shaped by the relations of
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production and there is undoubtedly a racialized and gendered division of labor whose severity and function vary depending on where one is situated in the capitalist global economy (Meyerson 2000). 6 In stating this we need to include an important caveat that differentiates our approach from those who invoke the well-worn race/class/gender triplet which can sound, to the uninitiated, both radical and vaguely Marxian. It is not. Race, class and gender, while they invariably intersect and interact, are not co-primary. This “triplet” approximates what the “philosophers might call a category mistake.” On the surface the triplet may be convincing—some people are oppressed because of their race, some as a result of their gender, others because of their class—but this “is grossly misleading” for it is not that “some individuals manifest certain characteristics known as ‘class’ which then results in their oppression; on the contrary, to be a member of a social class just is to be oppressed” and in this regard class is “a wholly social category” (Eagleton 1998: 289). Furthermore, even though “class” is usually invoked as part of the aforementioned and much vaunted triptych, it is usually gutted of its practical, social dimension or treated solely as a cultural phenomenon—as just another form of “difference.” In these instances, class is transformed from an economic and indeed, social category to an exclusively cultural or discursive one or one in which class merely signifies a ‘subject position.’ Class is therefore cut off from the political economy of capitalism and class power severed from exploitation and a power structure “in which those who control collectively produced resources only do so because of the value generated by those who do not” (Hennessy/Ingraham 1997: 2). Such theorizing has had the effect of replacing an historical materialist class analysis with a cultural analysis of class. As a result, many post-Marxists have also stripped the idea of class of precisely that element which, for Marx, made it radical—namely its status as a universal form of exploitation whose abolition required (and was also central to) the abolition of all manifestations of oppression (Marx 1978: 60). With regard to this issue, Kovel (2002) is particularly insightful for he explicitly addresses an issue which continues to vex the Left—namely the priority given to different categories of what he calls “dominative splitting”—those categories of “gender, class, race, ethnic and national exclusion,” etc. Kovel argues that we need to ask the question of priority with respect to what? He notes that if we mean priority with respect to time, then the category of
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gender would have priority since there are traces of gender oppression in all other forms of oppression. If we were to prioritize in terms of existential significance, Kovel suggests that we would have to depend upon the immediate historical forces that bear down on distinct groups of people—he offers examples of Jews in 1930s Germany who suffered from brutal forms of anti-Semitism and Palestinians today who experience anti-Arab racism under Israeli domination. The question of what has political priority, however, would depend upon which transformation of relations of oppression are practically more urgent and while this would certainly depend upon the preceding categories, it would also depend upon the fashion in which all the forces acting in a concrete situation are deployed. As to the question of which split sets into motion all of the others, the priority would have to be given to class since class relations “entail the state as an instrument of enforcement and control, and it is the state that shapes and organizes the splits that appear in human ecosystems. Thus class is both logically and historically distinct from other forms of exclusion (hence we should not talk of ‘classism’ to go along with ‘sexism and ‘racism,’ and ‘speciesism’). This is, first of all, because class is an essentially man-made category, without root in even a mystified biology. We cannot imagine a human world without gender distinctions—although we can imagine a world without domination by gender. But a world without class is eminently imaginable—indeed, such was the human world for the great majority of our species’ time on earth, during all of which considerable fuss was made over gender. Historically, the difference arises because ‘class’ signifies one side of a larger figure that includes a state apparatus whose conquests and regulations create races and shape gender relations. Thus there will be no true resolution of racism so long as class society stands, inasmuch as a racially oppressed society implies the activities of a class-defending state. Nor can gender inequality be enacted away so long as class society, with its state, demands the super-exploitation of women’s labor.” (Kovel 2002: 123-124)
Contrary to what many have claimed, Marxist theory does not relegate categories of “difference” to the conceptual mausoleum; rather, it has sought to reanimate these categories by interrogating how they are refracted through material relations of power and privilege and linked to relations of production. Moreover, it has emphasized and insisted that the wider political and economic system in which they are embedded needs to be thoroughly understood in all its
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complexity. Indeed, Marx made clear how constructions of race and ethnicity “are implicated in the circulation process of variable capital.” To the extent that “gender, race, and ethnicity are all understood as social constructions rather than as essentialist categories” the effect of exploring their insertion into the “circulation of variable capital (including positioning within the internal heterogeneity of collective labor and hence, within the division of labor and the class system)” must be interpreted as a “powerful force reconstructing them in distinctly capitalist ways” (Harvey 2000: 106). Unlike contemporary narratives which tend to focus on one or another form of oppression, the irrefragable power of historical materialism resides in its ability to reveal (i) how forms of oppression based on categories of difference do not possess relative autonomy from class relations but rather constitute the ways in which oppression is lived/experienced within a class-based system and; (ii) how all forms of social oppression function within an overarching capitalist system. This framework must be further distinguished from those who invoke the terms “classism” and/or “class elitism” to (ostensibly) foreground the idea that ‘class matters’ (cf. hooks 2000) since we agree with Gimenez (2001: 24) that “class is not simply another ideology legitimating oppression.” Rather, class denotes “exploitative relations between people mediated by their relations to the means of production.” To marginalize such a conceptualization of class is to conflate an individual’s objective location in the intersection of structures of inequality with individual’s subjective understandings of who they really are based on their “experiences.” Another caveat. In making such a claim, we are not renouncing the concept of experience. On the contrary, we believe it is imperative to retain the category of lived experience as a reference point in light of misguided post-Marxist critiques which imply that all forms of Marxian class analysis are dismissive of subjectivity. We are not, however, advocating the uncritical fetishization of “experience” that tends to assume that experience somehow guarantees the authenticity of knowledge and which often treats experience as self-explanatory, transparent, and solely individual. Rather, we advance a framework that seeks to make connections between seemingly isolated situations and/or particular experiences by exploring how they are constituted in, and circumscribed by, broader historical and social circumstances. Experiential understandings, in and of them-
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selves are suspect because, dialectically, they constitute a unity of opposites—they are at once, unique, specific, and personal but also thoroughly partial, social, and the products of historical forces about which individuals may know little or nothing about (Gimenez 2001). In this sense, a rich description of immediate experience in terms of consciousness of a particular form of oppression (racial or otherwise) can be an appropriate and indispensable point of departure. Such an understanding, however, can easily become an isolated “difference” prison unless it transcends the immediate perceived point of oppression, confronts the social system in which it is rooted, and expands into a complex and multifaceted analysis (of forms of social mediation) that is capable of mapping out the general organization of social relations. That however, requires a broad class-based approach. “Having a concept of class helps us to see the network of social relations constituting an overall social organization which both implicates and cuts through racialization/ethnicization and gender [... a] radical political economy [class] perspective emphasizing exploitation, dispossession and survival takes the issues of [...] diversity [and difference] beyond questions of conscious identity such as culture and ideology, or of a paradigm of homogeneity and heterogeneity [...] or of ethical imperatives with respect to the ‘other.’” (Bannerji 2000: 7,19)
A radical political economy framework is crucial since various “culturalist” perspectives seem to diminish the role of political economy and class forces in shaping the edifice of “the social”—including the shifting constellations and meanings of “difference.” Furthermore, none of the “differences” valorized in culturalist narratives alone, and certainly not “race” by itself can explain the massive transformation of the structure of capitalism in recent years. We agree with Meyerson (2000) that “race” is not an adequate explanatory category on its own and that the use of “race” as a descriptive or analytical category has serious consequences for the way in which social life is presumed to be constituted and organized. The category of “race”—the conceptual framework that the oppressed often employ to interpret their experiences of inequality “often clouds the concrete reality of class, and blurs the actual structure of power and privilege.” In this regard, “race” is all too often a “barrier to understanding the central role of class in shaping personal and collective outcomes within a capitalist society” (Marable 1995:
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8,226). In many ways, the use of “race” has become an analytical trap precisely when it has been employed in antiseptic isolation from the messy terrain of historical and material relations. This, of course, does not imply that we ignore racism and racial oppression; rather an analytical shift from “race” to a plural conceptualization of “racisms” and their historical articulations is necessary (cf. McLaren/Torres 1999). However, it is important to note that “race” doesn’t explain racism and forms of racial oppression. Those relations are best understood within the context of class rule as Bannerji, Kovel, Marable and Meyerson imply—but that compels us to forge a conceptual shift in theorizing which entails (among other things) moving beyond the ideology of “difference” and “race” as the dominant prisms for understanding exploitation and oppression. We are aware of some potential implications for white Marxist criticalists to unwittingly support racist practices in their criticisms of “race-first” positions articulated in the social sciences. In those instances, white criticalists wrongly go on “high alert” in placing theorists of color under special surveillance for downplaying an analysis of capitalism and class. These activities on the part of white criticalists must be condemned, as must be efforts to stress class analysis primarily as a means of creating a white vanguard position in the struggle against capitalism. Our position is one that attempts to link practices of racial oppression to the central, totalizing dynamics of capitalist society in order to resist white supremacist capitalist patriarchy more fully. 7 We have argued that it is virtually impossible to conceptualize class without attending to the forms and contents of difference but we insist that this does not imply that class struggle is now outdated by the politics of difference. As Jameson (1998: 136) notes, we are now in the midst of returning to the “most fundamental form of class struggle” in light of current global conditions. Today’s climate suggests that class struggle is “not yet a thing of the past” and that those who seek to undermine its centrality are not only “morally callous” and “seriously out of touch with reality” but also largely blind to the “needs of the large mass of people who are barely surviving capital’s newly-honed mechanisms of globalized greed” (Harvey 1998: 7-9). In our view, a more comprehensive and politically useful understanding of the contemporary historical juncture necessitates foregrounding class analysis and the primacy of the working class as the fundamental agent of change. 8
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This does not render as “secondary” the concerns of those marginalized by race, ethnicity, etc. as is routinely charged by postMarxists. It is often assumed that foregrounding capitalist social relations necessarily undermines the importance of attending to “difference” and/or trivializes struggles against racism, etc., in favor of an abstractly defined class-based politics typically identified as “white.” Yet, such formulations rest on a bizarre but generally unspoken logic that assumes that racial and ethnic “minorities” are only conjuncturally related to the working class. This stance is patently absurd since the concept of the “working class” is undoubtedly comprised of men and women of different races, ethnicities, etc., (Mitter 1997). A good deal of post-Marxist critique is subtly racist (not to mention essentialist) insofar as it implies that “people of color” could not possibly be concerned with issues beyond those related to their “racial” or “ethnic” “difference.” This posits “people of color” as single-minded, one-dimensional caricatures and assumes that their working lives are less crucial to their self-understanding (and survival) than is the case with their “white male” counterparts. 9 It also ignores “the fact that class is an ineradicable dimension of everybody’s lives (Gimenez 2001: 2) and that social oppression is much more than tangentially linked to class background and the exploitative relations of production. On this topic, Meyerson is worth quoting at length: “Marxism properly interpreted emphasizes the primacy of class in a number of senses. One of course is the primacy of the working class as a revolutionary agent—a primacy which does not render women and people of color ‘secondary.’ This view assumes that ‘working class’ means white—this division between a white working class and all the others, whose identity (along with a corresponding social theory to explain that identity) is thereby viewed as either primarily one of gender and race or hybrid [...] the primacy of class means [...] that building a multiracial, multi-gendered international working-class organization or organizations should be the goal of any revolutionary movement so that the primacy of class puts the fight against racism and sexism at the center. The intelligibility of this position is rooted in the explanatory primacy of class analysis for understanding the structural determinants of race, gender, and class oppression. Oppression is multiple and intersecting but its causes are not.” (2000)
The cohesiveness of this position suggests that forms of exploitation and oppression are related internally to the extent that they are
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located in the same totality—one which is currently defined by capitalist class rule. Capitalism is an overarching totality that is, unfortunately, becoming increasingly invisible in post-Marxist “discursive” narratives that valorize “difference” as a primary explanatory construct. It is remarkable, in our opinion, that so much of contemporary social theory has largely abandoned the problems of labor, capitalist exploitation, and class analysis at a time when capitalism is becoming more universal, more ruthless and more deadly. The metaphor of a contemporary “tower of Babel” seems appropriate here—academics striking radical poses in the seminar rooms while remaining oblivious to the possibility that their seemingly radical discursive maneuvers do nothing to further the struggles “against oppression and exploitation which continue to be real, material, and not merely ‘discursive’ problems of the contemporary world” (Dirlik 1997: 176). Harvey (1998: 29-31) indicts the new academic entrepreneurs, the “masters of theory-in-and-for-itself ” whose “discourse radicalism” has deftly side-stepped “the enduring conundrums of class struggle” and who have, against a “sobering background of cheapened discourse and opportunistic politics,” been “stripped of their self-advertised radicalism.” For years, they “contested socialism,” ridiculed Marxists, and promoted “their own alternative theories of liberatory politics” but now they have largely been “reduced to the role of supplicants in the most degraded form of pluralist politics imaginable.” As they pursue the politics of difference, the “class war rages unabated” and they seem “either unwilling or unable to focus on the unprecedented economic carnage occurring around the globe.” Harvey’s searing criticism suggests that post-Marxists have been busy fiddling while Rome burns and his comments echo those made by Marx (1978: 149) in his critique of the Young Hegelians who were, “in spite of their allegedly ‘world-shattering’ statements, the staunchest conservatives.” Marx lamented that the Young Hegelians were simply fighting “phrases” and that they failed to acknowledge that in offering only counter-phrases, they were in no way “combating the real existing world” but merely combating the phrases of the world. Taking a cue from Marx and substituting “phrases” with “discourses” or “resignifications” we would contend that the practitioners of difference politics who operate within exaggerated culturalist frameworks that privilege the realm of representation as the
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primary arena of political struggle question some discourses of power while legitimating others. Moreover, because they lack a class perspective, their gestures of radicalism are belied by their own class positions. 10 As Ahmad (1997: 104) notes: “One may speak of any number of disorientations and even oppressions, but one cultivates all kinds of politeness and indirection about the structure of capitalist class relations in which those oppressions are embedded. To speak of any of that directly and simply is to be “vulgar.” In this climate of Aesopian languages it is absolutely essential to reiterate that most things are a matter of class. That kind of statement is [...] surprising only in a culture like that of the North American university [... b]ut it is precisely in that kind of culture that people need to hear such obvious truths.”
Ahmad’s provocative observations imply that substantive analyses of the carnage wrought by “globalized” class exploitation have, for the most part, been marginalized by the kind of radicalism that has been instituted among the academic Left in North America. He further suggests that while various post-Marxists have invited us to join their euphoric celebrations honoring the decentering of capitalism, the abandonment of class politics, and the decline of metanarratives (particularly those of Marxism and socialism), they have failed to see that the most “meta of all metanarratives of the past three centuries, the creeping annexation of the globe for the dominance of capital over laboring humanity has met, during those same decades, with stunning success” (Ahmad 1997: 364). As such, Ahmad invites us to ask anew, the proverbial question: What then, must be done? To this question we offer no simple theoretical, pedagogical or political prescriptions. Yet we would argue that if social change is the aim, progressive educators and theorists must cease in displacing class analysis with the politics of difference. Conclusion “[...] we will take our stand against the evils [of capitalism, imperialism, and racism] with a solidarity derived from a proletarian internationalism born of socialist idealism.” (National Office of the Black Panther Party, February 1970)
For well over two decades we have witnessed the jubilant liberal and conservative pronouncements of the demise of socialism. Con-
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comitantly, history’s presumed failure to defang existing capitalist relations has been read by many self-identified “radicals” as an advertisement for capitalism’s inevitability. As a result, the chorus refrain “There Is No Alternative” sung by liberals and conservatives has been buttressed by the symphony of post-Marxist voices recommending that we give socialism a decent burial and move on. Within this context, to speak of the promise of Marx and socialism may appear anachronistic, even naïve, especially since the post-al intellectual vanguard has presumably demonstrated the folly of doing so. Yet we stubbornly believe that the chants of T.I.N.A must be combated for they offer as a fait accompli something which progressive Leftists should refuse to accept—namely the triumph of capitalism and its political bedfellow, neo-liberalism, which have worked together to naturalize suffering, undermine collective struggle, and obliterate hope. We concur with Amin (1998) who claims that such chants must be defied and revealed as absurd and criminal and who puts the challenge we face in no uncertain terms: humanity may let itself be led by capitalism’s logic to a fate of collective suicide or it may pave the way for an alternative humanist project of global socialism. The grosteque conditions that inspired Marx to pen his original critique of capitalism are present and flourishing. The inequalities of wealth and the gross imbalances of power that exist today are leading to abuses that exceed those encountered in Marx’s day (Greider, 1998: 39). Global capitalism has paved the way for the obscene concentration of wealth in fewer and fewer hands and created a world increasingly divided between those who enjoy opulent affluence and those who languish in dehumanizing conditions and economic misery. In every corner of the globe, we are witnessing social disintegration as revealed by a rise in abject poverty and inequality. At the current historical juncture, the combined assets of the 225 richest people is roughly equal to the annual income of the poorest 47 percent of the world’s population while the combined assets of the three richest people exceed the combined GDP of the 48 poorest nations (CCPA Monitor 2002: 3). Approximately 2.8 billion people—almost half of the world’s population—struggle in desperation to live on less than two dollars a day (McQuaig 2001: 27). As many as 250 million children are wage slaves and there are over a billion workers who are either un-or under-employed (Rosenthal 2000). These are the concrete realities of our time—realities
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that require a vigorous class analysis, an unrelenting critique of capitalism and an oppositional politics capable of confronting what Ahmad (1998: 2) refers to as “capitalist universality.” They are realities that require something more than that which is offered by the prophets of “difference” and post-Marxists who would have us relegate socialism to the scrapheap of history and mummify Marxism along with Lenin’s corpse. Never before has a Marxian analysis of capitalism and class rule been so desperately needed. That is not to say that everything Marx said or anticipated has come true, for that is clearly not the case. Many critiques of Marx focus on his strategy for moving toward socialism and with ample justification; nonetheless Marx did provide us with fundamental insights into class society that have held true to this day. Marx’s enduring relevance lies in his indictment of capitalism which continues to wreak havoc in the lives of most. While capitalism’s cheerleaders have attempted to hide its sordid underbelly, Marx’s description of capitalism as the sorcerer’s dark power is even more apt in light of contemporary historical and economic conditions. Rather than jettisoning Marx, decentering the role of capitalism, and discrediting class analysis, radical educators must continue to engage Marx’s oeuvre and extrapolate from it that which is useful pedagogically, theoretically, and most importantly, politically in light of the challenges that confront us. The urgency which animates Amin’s call for a collective socialist vision necessitates, as we have argued, moving beyond the particularism and liberal pluralism that informs the “politics of difference.” It also requires challenging the questionable assumptions that have come to constitute the core of contemporary “radical” theory, pedagogy and politics. In terms of effecting change what is needed is a cogent understanding of the systemic nature of exploitation and oppression based on the precepts of a radical political economy approach (outlined above) and one that incorporates Marx’s notion of “unity in difference” in which people share widely common material interests. Such an understanding extends far beyond the realm of theory for the manner in which we choose to interpret and explore the social world, the concepts and frameworks we use to express our socio-political understandings, are more than just abstract categories. They imply intentions, organizational practices, and political agendas. Identifying class analysis as the basis for our understandings and class struggle as the basis for political transfor-
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mation implies something quite different than constructing a sense of political agency around issues of race, ethnicity, gender, etc. Contrary to “Shakespeare’s assertion that a rose by any other name would smell as sweet,” it should be clear that this is not the case in political matters. Rather, in politics “the essence of the flower lies in the name by which it is called” (Bannerji 2000: 41). That task for progressives today is to seize the moment and plant the seeds for political agenda that is grounded in historical possibilities and informed by a vision committed to overcoming exploitative conditions. These seeds, we would argue, must be derived from the tree of radical political economy. For the vast majority of people today—people of all “racial classifications or identities, all genders and sexual orientations”—the common frame of reference arcing across “difference”—the “concerns and aspirations that are most widely shared are those that are rooted in the common experience of everyday life shaped and constrained by political economy” (Reed 2000: 142). While post-Marxist advocates of the politics of “difference” suggest that such a stance is outdated, we would argue that the categories which they have employed to analyze “the social” are now losing their usefulness, particularly in light of actual contemporary “social movements.” All over the globe, there are large anti-capitalist movements afoot. In February 2002, chants of “Another World Is Possible” became the theme of protests in Porto Allegre. It seems that those people struggling in the streets haven’t read about T.I.N.A., the end of grand narratives of emancipation, or the decentering of capitalism. It seems as though the struggle for basic survival and some semblance of human dignity in the mean streets of the dystopian metropoles doesn’t permit much time or opportunity to read the heady proclamations emanating from seminar rooms. As E.P. Thompson (1978: 11) once remarked, sometimes “experience walks in without knocking at the door, and announces deaths, crises of subsistence, trench warfare, unemployment, inflation, genocide.” This, of course, does not mean that socialism will inevitably come about, yet a sense of its nascent promise animates current social movements. Indeed, noted historian Howard Zinn (2000: 20) recently pointed out that after years of single-issue organizing (i.e. the politics of difference), the WTO and other anti-corporate capitalist protests signaled a turning point in the “history of movements of recent decades” for it was the issue of “class” that more than anything “bound everyone toge-
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ther.” History, to paraphrase Thompson (1978: 25) doesn’t seem to be following Theory’s script. Our vision is informed by Marx’s historical materialism and his revolutionary socialist humanism, which must not be conflated with liberal humanism. A socialist humanist vision whose fundamental features include the creative potential of people to challenge collectively the circumstances that they inherit remains crucial for Left pedagogy and politics. This variant of humanism seeks to give expression to the pain, sorrow and degradation of the oppressed, those who labor under the ominous and ghastly cloak of “globalized” capital. It calls for the transformation of those conditions that have prevented the bulk of humankind from fulfilling its potential. It vests its hope for change in the development of critical consciousness and social agents who make history, although not always in conditions of their choosing. The political goal of socialist humanism is, however, “not a resting in difference” but rather “the emancipation of difference at the level of human mutuality and reciprocity.” This would be a step forward for the “discovery or creation of our real differences which can only in the end be explored in reciprocal ways” (Eagleton 1996: 120). Above all else, the enduring relevance of a radical socialist pedagogy and politics is the centrality it accords to the interrogation of capitalism. We can no longer afford to remain indifferent to the horror and savagery committed by captitalist’s barbaric machinations. We need to recognize that capitalist democracy is unrescuably contradictory in its own self-constitution. Capitalism and democracy cannot be translated into one another without profound efforts at manufacturing empty idealism. Committed Leftists must unrelentingly cultivate a democratic socialist vision that refuses to forget the “wretched of the earth,” the children of the damned and the victims of the culture of silence – a task which requires more than abstruse convolutions and striking ironic poses in the agnostic arena of signifying practices. Leftists must illuminate the little shops of horror that lurk beneath “globalization’s” shiny façade, they must challenge the true “evils” that are manifest in the tentacles of global capitalism’s reach. And more than this Leftists must search for the crakks in the edifice of globalized capitalism and shine light on those fissures that give birth to alternatives. Socialism today, undoubtedly, runs against the grain of received wisdom but its vision of a vastly improved and freer arrangement of social relations beckons on
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the horizon. Its unwritten text is nascent in the present even as it exists among the fragments of history and the shards of distant memories. Its potential remains untapped and its promise needs to be redeemed.
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See Ebert (1996) for a discussion of “ludic” theory. Hence, while the charge of determinism may be appropriately lodged against some Marxists, when such a charge is leveled at Marx, “it is patently unjust” (Amin, 1998: 138). 3 There exists a marked distinction between underscoring the importance of culture and the rhetoric of culturalism, which not only reduces everything to questions of culture but also has a reductionist conception of culture. 4 See Scatamburlo-D’Annibale / Langman, 2002. 5 As Marx (1978: 207) noted in his discussion of wage labor, capital and slavery: [A] Negro {sic} is a “man of the black race.” “A Negro is a Negro. He only becomes a slave in certain relations.” 6 As Stabile (1997: 142-143) notes: “historical material analyses, instead of examining only one forms of oppression—like sexism, racism, or homophobia—would explore the way they all function within the overarching system of class domination . . . Sweatshop workers in New York City, for example, experience sexism and racism in quantitatively and qualitatively different ways than do middle class women. The racism directed at poor African-American youths occurs in a different context than that directed at African-American women in the academy. This is not to claim that the latter forms of oppression do not exist or are inconsequential, but by situating both forms within the material context and historical framework in which they occur, we can highlight the variable discriminating mechanisms that are central to capitalism as a system”. 7 Our point is that work which has attempted to remove the concept of racial oppression from the organ of social control exercised by state power on behalf white capitalist class interests is problematic. See Allen, 1998. 8 It is important to note that arguing that the working class is the fundamental agent of change is not the same as suggesting that it is the only agent of change. 9 It also ignores a lengthy history of black “working class” struggle. 10 See also Adolph Reed’s (2000) stinging critique of the “new” Black “public intellectuals.”
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Norbert Meder: Kommentar zu Valerie ScatamburloD’Annibale & Peter McLaren Dieser Aufsatz kreist in einer Weise um eine insgesamt durchgehaltene Fragestellung, die einen Kommentar aufs Ganze näher legt. Die Cultural Studies mussten – wenn ich dies richtig sehe – auf den hier artikulierten Konflikt zusteuern. Sie nahmen ihre Genesis aus zwei Forschungsinteressen oder besser: aus einem doppelten Forschungsinteresse. Es sollten differenztheoretisch partikulare Kulturen im Blick auf politische Probleme mit einem links-revolutionären Anspruch untersucht werden, der Handlungspotenziale in einem interventionistischen Sinne sichtbar werden lässt und aktivierbar macht. Die Verschränkung marxistischer und kulturspezifischer Sichtweisen war von Anfang an gegeben. Man untersuchte Arbeiterkulturen, Kulturen der Unterdrückten und Ausgebeuteten mit dem Interesse, Veränderungen in den kapitalistischen Gesellschaften zu initiieren. Das theoretische Verhältnis von marxistischer und kulturwissenschaftlicher Sicht- und Vorgehensweise ist zwar immer auch reflektiert, aber nicht wirklich geschärft worden. Dies tut der vorliegende Beitrag. Nachdem eine Phase poststrukturalistischer, postmoderner Einflüsse auf die Cultural Studies zu so genannten postmarxistischen Perspektiven und Kritiken geführt haben, wollen die Autoren wieder zurück zu den „roots“. Und diese auch auf aktuelle Formen des Kapitalismus bezogene Reflexion schärft die Unterschiede beider Sichtweisen. Globale, weltgesellschaftliche Entwicklungen beruhen auf formalen Relationen und Strukturen und lassen sich auch nur im formalstrukturellen Rahmen analysieren und gegebenenfalls bekämpfen. Der Globus, das menschliche Weltganze ist qualitativ betrachtet eine heterogene Vielfalt von Kulturen, die an vielen Stellen nicht verträglich sind. Zugespitzt formuliert könnte man von einem Chaos kultureller Tendenzen sprechen. Wer immer einen solchen Zusammenhang des Heterogenen und Inkommensurablen global ordnen will, muss das Kulturelle in die reine Form transzendieren. Das Transzendentalprinzip hat Kant im Moralischen mit der Konzeption seines Kategorischen Imperativs verfolgt, der nur ein negatives Kriterium zur nachträglichen Beurteilung der Güte einer Handlung abgibt. Das hat Kant auch im Rechtspolitischen getan als er im „Zum ewigen Frieden“ die drei Menschenrechtsgesetze vorstellt. Das hat Marx getan, indem er das formale Funktionieren des Kapitalismus analysiert und auf den Begriff gebracht hat. Das hat
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die Parsons-Tradition der Soziologie getan, als sie versuchte, Gesetzmäßigkeiten für alle kulturell je verschiedene Gesellschaften herauszuarbeiten. Man kann aus kulturwissenschaftlicher Perspektive zwar das kulturelle Phänomen in den Blick nehmen (Faktizität) und zum Gegenstand der Forschung machen, aber das ändert nichts an dem Umstand, dass alle Fragen des Global-Allgemeinen, des Menschheitsallgemeinen, des Ökonomisch-Allgemeinen, des Politisch-Allgemeinen nur auf der Ebene äußerster Abstraktion behandeln lassen, d. h. im Bereich des Formalen, in dem von allen inhaltlich kulturellen Differenzen abgesehen wird. Das formale Moment ist die Denkfigur des Einheitlichen, ohnedem eine Differenz als Faktizität nicht statthat oder anders ausgedrückt: jede Differenz als präsentes Faktum repräsentiert ein Moment der Einheit, in der sich Differenzen als wechselseitige Bezogenheit aufeinander zeigen. Die formale Ebene bildet die Basis, den korrelativen Verweisungshorizont, auf der inhaltlich kulturelle Differenzen keine konstitutive Rolle spielen, von wo aus Kulturalität aber performant werden kann. Im Kapitalismus als Prinzip sind kulturelle Differenzen repräsentiert als faktische Klassendifferenzen, als korrelative Wechselbezogenheit der einzelnen Klassen. Der Kapitalismus hat es historisch auch immer wieder geschafft, kulturelle Differenzen allererst zu erzeugen oder vorhandene zu verstärken, um die Klassendifferenz zu stabilisieren, die ja die Grundlage der Ausbeutung ist. In einem gewissen Sinne muss sich das Formprinzip des Kapitals, nachdem es sich von der Qualität der Kultur abgelöst hat, auch wieder rekulturalisieren, weil es seine Strukturen der Ausbeutung sonst nicht in die lebensweltlichen Kulturen einbetten und einschreiben kann. Rekultivierung der formalen Differenzen des Kapitals – sei es in die „Rassen“-Differenz oder in die Gender-Differenz – sind Forderungen der Performanz von formaler Klassen-Differenz. In den kulturell-inhaltlichen Differenzen und nur in diesen Differenzen wird die formale Klassen-Differenz performant, weil Leben nichts anderes heißt als die materiale Füllung von Form. Gleichzeitig werden die materialen Differenzen zur Verschleierung der Ausbeutung genutzt, und wenn die Verschleierung nicht gelingt, wird die Zugehörigkeit zu einer Klasse von der „Rasse“ abgeleitet und ihr zugerechnet. Die Verschleierung der Klassenstruktur findet auch auf der Ebene der Pluralisierung von Alltagskulturen und Milieus statt. Diese Pluralisierung darf nicht nur als Befreiungstendenz betrach-
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tet werden, sondern muss auch als Strategie des Kapitals analysiert werden. Konsumkulturen wie Modekulturen schaffen Identifikationsmöglichkeiten jenseits der Klasse und erhöhen gleichzeitig den Tauschwert von Waren, der die Akkumulation des Kapitals vorantreibt. Individualisierung, Identitätsverlust und Werte-Unsicherheit zerschlagen einerseits gewachsene kulturelle Zusammenhänge und machen andererseits den Weg frei für warenförmige, vermarktbare „Kultur“. Kultur als Ware wird damit selbst zu einem Moment der Ausbeutung; sie ist der Form des Kapitalismus einverleibt. Nicht jedes Kulturelle kann zur Ware gemacht werden. Das begrenzt die Einverleibungstendenz des kapitalistischen Systems. Nicht alles Kulturelle kann zum Gegenstand und damit auch zur möglichen Ware gemacht werden. Gewisse Faktoren der Lebensform sind unbegründbare, unfassbare Handlungsweisen, die etwas Mythologisches haben, wie Wittgenstein in „Über Gewissheit“ treffend herausgearbeitet hat. Man kann also von Resten ausgehen, die sich der Vergesellschaftung und damit auch der Ökonomisierung entziehen. Diese Reste zu erfahren, ansprechen und aktivieren zu können, ist Anliegen der Cultural Studies in ihrer Forschung. Diese Residuen der Vergesellschaftung muss auch jede dialektische Theorie, also auch der Marxismus annehmen, weil sonst keine Revolte, keine Gegenwehr möglich und organisierbar ist. Ob diese Gegenwehr nur noch als situative Vernetzung von heterogenen Lebensformen und Interessen möglich ist oder ob es noch einmal gelingt, ein Klassenbewusstsein zu entwickeln, ist auch in der Linken fraglich. Immerhin kann die Entstehung der internationalen Bewegung der Prekären als Entstehung eines neuen Klassenbewusstseins gedeutet werden. Es ist – denke ich – deutlich geworden, dass ich die Kritik der Autoren an der Engführung kultureller Analysen, denen es eigentlich um politisch-ökonomische Analyse von Herrschaft, Ausbeutung und Gewalt gehen sollte, teile. Insbesondere teile ich die Kritik an der Reihung von „race, class and gender“. In dieser Reihung liegt ein Kategorienfehler vor. Man kann nicht race und gender als Kennzeichen material-kultureller Differenzen auf eine Ebene mit einer formal-ökonomischen Differenz stellen, denn race und gender stellen Differenzen dar, die nicht in einem Formbegriff repräsentiert sind. Das führt zu einem abschließenden Gedanken. Die Autoren haben in ihrer Kritik an der kulturellen Orientierung von politi-
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scher Analyse da nicht Recht, wo sie die Dialektik von Diagnose und Programmatik, von Analyse und Revolte nicht im Blick haben. Auf der Ebene der Analyse kann man heute mehr denn je nur auf „Das Kapital“ von Marx zurückgreifen. Bei der Frage nach Veränderung, nach Revolte und Revolution muss man aber auch historische Betrachtungsweisen einbeziehen. Ob da die Theorie des historischen Materialismus ausreicht, wage ich zu bezweifeln. Hier sind die Analysen der kleinen Differenzen der Lebenswelt, wie sie von den Cultural Studies durchgeführt werden, die Basis, herausfinden zu können, wo die Handlungspotentiale, die Widerstandspotentiale pluraler prekärer Kulturen liegen, wie sie aktiviert, vernetzt und zu Veränderungen gebracht werden können. Die klassentheoretische Analyse ist besser bei der Diagnose, die kulturelle Analyse besser für die mögliche Performanz von Kritik. Und beides muss Hand in Hand gehen.
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Ö F F N E N , A B E R AU C H S C H L I E S S E N . E I N K O M M E N TA R Z U „C U LT U RA L S T U D I E S U N D P Ä DAG O G I K . K R I T I S C H E A RT I KU L AT I O N E N “ Den vorliegenden Band zu kommentieren, ist kaum möglich ohne einen selbstreflexiven Ansatz, da die vorliegenden Aussagen nicht nur selbst immer einer ‚Kultur‘ zugeordnet sind oder auch vom jeweiligen Autor werden, sondern dies auch für jede Art von Kommentar gilt. Wenn ich nicht aus dem Themengebiet komme, muss ich dies sofort als interkulturellen Kontakt, wie ihn Alicia de Alba dicht beschreibt, verstehen, wenn ‚Kultur‘, wie heute üblich, für jede unterscheidbare Umgangsform artifizieller Gestaltungen in Anspruch genommen wird, die von Individuen ausgenommen. Derartige methodologische Reflexionen sind aber einerseits seit der Instrumentalisierung des sogenannten Hermeneutischen Zirkels selbstverständlich und oft banal, auch langweilig und die eigenen Positionen und Aussagebedeutungen eitel wichtig nehmend. Das bedeutet, dass die in Cultural Studies eingehenden Phänomen- und Begriffsvorstellungen von Kultur, Verstehen, Differenz sowie ihr Erkenntnis- und Handlungsgewinn, sofern sie jeweils von Gruppen geteilt werden, selbst wieder Kulturen entsprechen, die es zu erkennen, zu verstehen und in ihren Differenzen wirksam zu machen gilt. Dies will ich hier ansatzweise versuchen. Indem ich aus den Beiträgen jene Hinweise entnehme, die einen ‚Komment‘ vermuten lassen, kommentiere ich sie, nicht im Sinne eines Kommentars zu einem Gesetzestext oder eines politischen Ereignisses, eher wohl, wie es im Duden weiter heißt, „ugs. überflüssige Anmerkung, Bemerkung.“ Einen ‚Überfluss‘ gegenüber einer Selbstgewissheit von Kulturen erzeugen Cultural Studies ja nun gewiss. Da es sich hier um kritische Pädagogik dem Titel nach (und von Rainer Winter bearbeitet) handelt, werden die Inhalte in einen Rahmen bewusster Intentionen gestellt, deren Prozessmomente folgen-
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de sind: Erfahrungen der eigenen und fremden Kultur – Aufdeckung von Differenzen – Reflexion, Kritik und Bewusstmachung – Veränderung von Wahrnehmungen, Einstellungen, Intentionen – mit dem Ziel einer verbessernden Veränderung einer dominanten Kultur oder der verstehender Toleranz in den Beziehungen zwischen Kulturen. Diese Intentionen sind in dem Band aber nicht eindeutig, eher gebrochen: Rainer Winter berichtet dazu, wie eine pädagogische Intention schon mit den Anfängen der Cultural Studies (wie z.B. durch Williams und Willis) gegeben war und besteht im Fazit auf der grundlegenden Intention nach mehr sozialer Gleichheit und Gerechtigkeit einer besseren Welt. Reflexivität wird im Studium von Kulturen pädagogische Quelle und Motor praktischer und theoretischer Aktivitäten dieser Intention. ‚Kultur‘ als kritischer Gegenstand hat damit die Stelle der sich selbst über das Eigentum an den Produktionsmitteln aufzuklärenden ‚Gesellschaft‘ marxistischer Aufklärung übernommen. Wie dort gibt es aber zwei Adressatengruppen für die Aufklärung, die unter einer diskriminierenden Kultur Leidenden und die Aufklärungsinteressierten unter ihren Nutznießern. Der vorliegende Band richtet sich aber weder an die Ersteren noch die Letzteren, sondern an die zwischen ihnen Kultur vermitteln wollenden Pädagogen. Drei Aspekte sind mir dabei aufgefallen, die Rainer Winter nicht verdeutlichen kann, weil sie womöglich integral sind, von Pädagogen professionell aber differentiell zu behandeln sind: Die Altersgemäßheit, die Unterscheidung von Forschung und Lehre und die Relation von Ansatz und Umsetzung. In der ersten Phase (von den vier dargestellten Entwicklungsphasen der Cultural Studies) geht es um reife Studenten in der Erwachsenenbildung, später sind es bei der kritischen Pädagogik vor allem Kinder und Jugendliche. Aufgrund des ‚interventionistischen Motivs‘, der ‚Politik des Perfomativen‘ (Giroux), um soziale Transformationen zu bewirken (Denzin) kann man eine durch Forschung und Lehre (also forschende Lehre oder lehrende Forschung) politisierende ‚Aufdeckung‘ der Kulturbrüche als das eigentliche pädagogische Mittel verstehen. Das heißt, es handelt sich um eine Bewusstmachungspädagogik, die darauf setzt, dass Bewusstmachung hinreichend wirkt. Dies scheint auch daher zu genügen, da man als Wirkungsmedium eben die Kultur und ihre dynamischen Begegnungs- und Veränderungsmöglichkeiten er-
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kennt. Da wir praktisch überhaupt nicht über institutionelle, curriculare, didaktische und methodische Organisationsvorstellungen informiert werden (weil es sie kaum gibt?), scheinen eben die zu analysierenden Materialien (z. B. Hollywood-Filme) und die Aufklärung der Pädagogen ausreichend erscheinende Wirkpunkte zu sein, die diese Pädagogik ausmachen. Für Rainer Winter handelt es sich in seiner Analyse zentral um eine Steigerung der Handlungsfähigkeit (agency) im Sinne einer ‚Kunst des Eigensinns‘, um ‚Momente der Selbstermächtigung‘ und um die ‚Schaffung einer gemeinsamen Kultur‘ durch ‚virusartige Übertragungen‘ (nach Marcus). Pädagogisch/erziehungswissenschaftlich fällt hier auf, dass die Voraussetzungen und Bedingungen der Gültigkeit einer solchen Pädagogik kaum thematisiert sind, wie die Cultural Studies setzt auch seine Darstellungsweise auf die Überzeugungskraft des pädagogischen Bewusstseins eines bewussten Pädagogen, enthält aber eine pädagogisch geringe Selbstreflexivität. Ähnliche Ansätze lassen sich an den in den USA entwickelten und einmal weit verbreiteten Bewegungen der ‚general semantics‘ oder des ‚critical thinking‘ studieren, die allerdings einerseits ideologiekritisch weniger bewusst, andererseits organisatorisch elaborierter waren. Pädagogisch genügen auf die Dauer weder überzeugende Notwendigkeit noch richtiges Bewusstsein, um in pädagogischen ‚Institutionen‘ Breite und Tiefe einer neuen Kultur zu gewinnen. Es könnte ja sein (und dann eine spezifische Pädagogik verlangen), dass die Verwandlung methodisch durch ‚Begegnung‘ emergiert, also eine Begegnungspädagogik verlangt, wie sie u. a. O. F. Bollnow und Werner Loch einmal geisteswissenschaftlich thematisiert haben. Das setzt begegnungsfähige Pädagogen voraus. Diese werden dabei selbst zum persönlichen Medium des kulturellen Kontakts, wie Alicia de Alba sensibel die eigene Erfahrung der Identitätsverunsicherung im Kontext der Theorien und Phänomene einer strukturellen Krise darstellt. Der kulturelle Kontakt wird von ihr (platonisch hypostasiert) selbst zum Agenten, der die ‚Identität[en] durcheinanderbringt‘. Er wird zum Symptom und zur Chance in einer allgemeinen strukturellen Krisensituation. Diese besteht in der Destrukturalisierung bestehender Strukturen. Besonders eindrucksvoll und pädagogisch interessant sind die Schilderungen der Begegnungen in sehr verschiedenen Ländern, zwischen verschiedenen Phänomenen, Personen, Interessen und nicht zuletzt Schreibstilen, die die Autorin bedenkt im Versuch, den kulturellen
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Kontakt zu erfassen. Dieser wird selbst zu einer selbständigen geistigen Kraft, die alles Bewusstmachende arrangiert, so ist ihr Eindruck. Was heißt das pädagogisch? Charakteristisch sind nicht nur die rationale Unplanbarkeit, sondern auch die Gelegenheiten, starke kulturelle Unterschiede erleben zu können. Unklar ist, was dieses Erleben ermöglicht, die eigene Sensibilität oder die wahrgenommenen kräftigen Anreize. Und zehrt nicht die Stärke der Reize von der Ausprägung des Exotischen. Gehören dazu nicht auch die Dabeistehenden, die argentinische Freundin, die Bekannten aus England, Südafrika, mit deren Augen erst kulturelle Elemente exotisch werden. Aus meinen eigenen Erfahrungen in vielen Kulturen habe ich gelernt, wie wenig auffällig die entscheidende Andersartigkeit bei vielen alltäglichen Phänomenen für oberflächliche Blicke oft ist. Und wie befremdlich die Wahrnehmung des Eigenen mit fremden Augen wird. Lässt sich daraus, aus den sehr subtilen und kräftigen Momenten eine funktionierende, in der Weite und Tiefe robuste Pädagogik machen? Und wird sie nicht wie globalisierende Weltwirtschaft, Touristik und Kultur eben die Phänomene des Anderssein zerstören, derer sie bedarf? Das betrifft zunächst den vom Kontakt Berührten, was Alicia de Alba auf den letzten Seiten beschreibt. Wer ist sie, wer sind die anderen, sie prägenden Menschen? Räumlich beschreibt sie das als ein Zwischen-Sein, zwischen Nord und Süd, zwischen Sprachen und Aufgaben. Und so auch selbst zu sein, wie die anderen es sind. Wie können wir das Andere und alle anderen anders sein lassen, trotzdem von ihnen berührt und verändert wir selbst sein? Und geht es uns nicht nur so mit außerordentlichen Menschen, exotischen Kulturen, nicht mit jedem und allen, nicht mit Kindern, Behinderten, Wissenschaftlern und Geliebten und Ungeliebten? Es ist dies doch die pädagogische Urvoraussetzung und Zielsetzung: die Fähigkeit, sich hineinzuversetzen, aufzunehmen, anzueignen bis zur gebildeten society of minds im eigenen Kopf (Marvin Minsky), zur kultivierten society of emotions im eigenen Gefühl, zur eingegangenen Kooperation aller Betroffenen im eigenen Handeln. Kann man daraus folgern, dass sowohl die Cultural Studies wie ihre kritische Pädagogik Phänomen eines Strukturwandels innerhalb vorherrschender und globaler Kulturen sind? Sind damit auch die intendierten Verhaltensweisen aufgeklärter, reflexiver, sich behauptender und zugleich toleranter Kulturen die erstrebte Endform oder eben nur eine Phase im Struktur- und Sinneswandel? Wirkt der
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kulturelle Kontakt (im Sinne der Autorin) nur dort, wo erst die Gelegenheiten bestehen, wo Privilegien vorliegen wie bei den Bildungsreisen/Kavalierstouren englischer Adliger nach Italien. Und wen verändert er wozu? Führt der Kontakt zu einer inneren Bereicherung bei den Pädagogen und wozu wollen sie andere ermächtigen? Oder geht es immer noch, wie Valerie Scatamburlo-D’Annibale und Peter McLaren insistieren, um die alten Muster von marxistisch inspirierten Klassendifferenzen, werden die Cultural Studies zur neuen Camouflage, zum Überbau eines globalisierten Kapitalismus, der ihre identitätsauflösende, kulturenrelativierende, kommunikative Kompetenzen interkulturell fördernde Wirkungen zur Formierung des flexiblen Menschen (Sennet, 1999) braucht und Subjektauflösungen (wie Reckwitz, 2006) begrüßen könnte? Zunächst muss ein Intellektueller meiner Generation (der immerhin Mitte der 50er Jahre im Gymnasium die Frühschriften Karl Marx studieren konnte, aber auch den realen Sozialismus wahrnehmen musste) wenig mit dem Enthusiasmus, der Radikalität und der Subkultur anfangen. Da hatte doch die sogenannte Studentenrevolution etwas performativer sich verhalten. Ein kontrafaktischer Standort ist radikalen Pädagogiken nicht fremd. Auch Roussseau als Naturmensch machte sich unglaubwürdig in der Pariser Gesellschaft des ancien regime. Aber welche Wirkungen hatte er, pädagogisch und politisch? Er wirkte durch die Brüche, Risse und Krisen der Gesellschaft, nicht zuletzt durch seine blitzende, auf verlorene Identität pochende Rhetorik. Aber er war wie Diderot und Voltaire, Marx und Engels Vorkämpfer im Kulturkampf neuer Ideologien. Wie beim jungen Marx leben die Autoren von den Versprechungen ganzheitlichen Menschseins. Aber ihre kulturellen Instrumente (Sprache, Texte, Rhetorik, Thesen, Standorte) sind längst Bestandteile der Kultur geworden. Sie müssen mit deren Mitteln sie selbst angreifen bzw. ihre Verwendung als Medium zur Verbesserung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Sie wollen die besprochenen Phänomene aus den Nebeln der Gespräche, Begegnungen, Diskurse in die Sonne der klaren Tatsachen der Klassendifferenzen und –kämpfe bringen. Aber sie bleiben darin, sie wechseln nur die Themen. Und sie setzen auf Pädagogik, eine wie Kultur offen erscheinende, vielfältige, tolerante, demokratisierbare Sphäre. Indem sie diese aber in der Sphäre des Kulturellen diffamieren (wenigstens für die Intentionen der Cultural Studies), bestätigen sie deren Emanzipationsmöglich-
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keiten und entkräften sie zugleich für die eigenen Intentionen. Bleibt die radikale Pädagogik Cultural Studies, also eine Pädagogik oder wird sie Aktion, performativ? Aus der modernen Linguistik wissen wir, dass es Sprechhandlungen gibt, dass Sprechende Handelnde sind; aber dies bleiben kulturelle Handlungen, weil sie in einer freien Gesellschaft für den Adressaten bei allen Manipulationsfunktionen nicht zwingend sind. Diese Kritik der Cultural Studies im Hinblick auf ihre politischen Intentionen kann also berechtigt sein, als Pädagogik aber sind sie erst noch zu überprüfen. Dazu liegt hier zu wenig Material vor. Dem können wir in den eher kulturellen Phänomen des Pädagogischen gewidmeten Beiträgen (Erziehung, Medien, Schule) nachgehen. Andreas Hepp versteht Cultural Studies methodologisch als eine Möglichkeit, anstelle des lange in der Soziologie vorherrschenden ‚universalisierenden Partikularismus‘, in der Betrachtung kultureller Phänomene, einen begriffstheoretischen und kontextbezogenen Pluralismus auch medienpädagogisch wirksam werden zu lassen. Auch hier zeigt sich zunächst eine Notwendigkeit, paradigmatische Zugangsprobleme aus der Sicht der Cultural Studies zum Grundlagenthema zu machen. Globalisierung der Medien und programmatisch eine transkulturelle Medienpädagogik sind zunächst Probleme von Forschungsperspektiven, die aber zugleich sich als die zu untersuchenden und für entsprechende Kompetenzen zu vermittelnden Phänomene erweisen. Zugrunde liegen einerseits etwa aus der Ethnologie, Philosophie, Psychologie altbekannte Aporien wie Verstehen des Anderen, die aber unter dem impact der Globalisierung aktuelle und universale Bedeutung erhalten. Allgemeine Formeln wie Prozesse der Partikularisierung selbst zum Thema zu machen, lokal bezogene Formen der Cultural Studies als Varianten in unterschiedlichen Kontexten zu verstehen und die kontextuelle Rückbezüglichkeit als kritische Auseinandersetzung mit kulturellen Prozessen zu nutzen, sowie die pädagogischen Intentionen einer Kompetenz des Umgangs, „[…]die einer wechselseitigen Verständigung dient.“, werden nun am Phänomen der ‚Diaspora‘ medienorientiert erschlossen. Und andererseits gebe es weltweite Subkulturen (HipHop‚ globalisierungskritische Bewegungen). Beides seien „Verdichtungen von speziellen kulturellen Segmenten“. Kann man dazu auch die Kultur der Cultural Studies zählen, deren Vertreterinnen und Vertreter kommunikativ vernetzt sind?
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Liest man dazu den Beitrag von Alicia de Alba, dann zeigen sich die in der Person auszutragenden Differenzen und Verstehensmöglichkeiten als Phänomene der Identität. Dazu sehe ich an dieser Stelle zwei Annahmen. Geht mit der medialen wie anderen Globalisierung, also der Entstehung universalen Medien (Information, WWW, Leitwährungen, Standards aller Arten), ein Zwang zur Identifizierung der lokalen, gruppenhaften, persönlichen Identitätsprofilierung einher, wie wir sie wenigstens unter Marketinginteressen (Tourismus, Waren mit Lokalkolorit, Imagepflege, corporate identity) beobachten? Und handelt es sich nicht überhaupt um einen Umbruchsprozess von Identitäten, in dem alte (territorale, traditionelle, eindeutige) aufgelöst und neue entstehen (vgl. dazu Manuel Castells, 2004). Nicht zuletzt muss ja daran erinnert werden, dass besseres Verstehen des oder der Anderen nicht nur zu gesteigerter Toleranz, sondern gerade zur Versicherung der (besseren) eigenen Identität führt, ein Phänomen, das vermehrt dort zu erwarten ist, wo Konkurrenz, Offenheit und multiple Identitäten bewältigt werden müssen. Auch eine interkulturell qualifizierte Identität bleibt wie alle menschlichen Orientierungen ambivalent. Nicht zuletzt hat der schon erwähnte Sennet Auswirkungen des kapitalistischen Interesses am flexibilisierten Menschen empirisch vorgeführt und kritisch bewertet. Sven Sauter kommt nun einem eher traditionellen Anlass von Irritationen der Identität in seinem Thema der Formen der pädagogischen Vermittlung von Wissen und ihrem kulturellen Moment möglicherweise näher. Ausgehend von der Beobachtung, dass Cultural Studies und Pädagogik entgegen der ursprünglichen pädagogischen Intention (bei Willis) kaum zusammen gekommen sind, geht er einigen aus der Literatur dargestellten theoretischen und praktischen intentionalen Differenzen zwischen ihnen nach und bezieht sich auf das Beispiel eines trivialisierenden Missverständnisses zwischen der eher Opfer orientierten empirischen Untersuchung jugendlicher Außenseiter und dem dabei falsch interpretierten Ansatz von Willis’ Learning to Labour, der von einem aktiven Aushandeln mit seinen intuitiven und kulturspezifischen Formen des Widerstands ausgeht. Dabei könnten die Orientierung und Methodologie von Cultural Studies nicht nur zur Erfassung eines Kampfes um Bedeutungen in der Schule wesentlich beitragen, sondern auch neue Formen des pädagogischen Aushandelns entwickelt werden. Dies gelinge aber nur als pädagogische Alternative zu einer vorherrschenden
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Struktur der Schule und des herrschenden Lehr-Paradigmas, auf das Schüler eher reagierten als auf leichter zu verändernde Unterrichtstile des Lehrers und die Inhalte des Unterrichts. Dies sei die pointierte Hauptthese von Willis, eben die vorherrschende Wissensvermittlung mit ihren sozialen Kontexten zu verbinden. Die vorherrschende, angeblich kontextfreie Vermittlungsform von Wissen wird dem pädagogischen Blick (beim Lehrer und im Unterricht) auf die soziale Dimension des Wissens gegenübergestellt. Und hier könnte (nicht nur wie im Demonstrationsbeispiels eines Films) ein entscheidender Ansatz zur Aufbrechung des circulus vitiosus zwischen den notwendigen Veränderungen innerhalb der bestehenden Grundstrukturen und notwendigen Veränderungen der Grundstrukturen selbst bestehen. Diese Aporie hat ja schon Comenius in seinen Schriften wie De Rerum Humanorum Emendatione Consultatio Catholica und den Clamores Eliae zeitlebens umgetrieben. Auch dabei ging es schon um die rechte Ordnung der Dinge und des Wissens, genauer der chresis, des rechten Gebrauch des Wissens. Insofern sind pädagogische Alternativen zur ‚reinen‘ oder ‚bloßen‘ Wissensvermittlung nicht neu und nicht unpädagogisch in vielen Reformpädagogiken konzipiert wie praktiziert, ebenso wie die unterrichtliche Thematisierung von Wissensvermittlung (vgl. Hillers Unterricht über Unterricht als didaktischem Ansatz; Hiller, 1974) wie auch das Aushandeln (in der kommunikativen Pädagogik von Schäfer/Schaller, 1973). Nicht zuletzt hat Piaget schon die Verschränkung von sozialen, moralischen und kognitiven Operationen dargestellt: „Die Logik ist eine Moral des Denkens, wie die Moral eine Logik des Handelns ist“ (Piaget 1973: 453). Der Zwang zum logischen Operationsdenken erfolgt nach ihm gerade aus den Kontakten in der peer group (während die konstruktivistische Didaktik hier radikal subjektiv bleibt). Die Ansatzstellen für Sven Sauter sind die Irritationen durch die strukturellen Differenzen von Kulturen, mit Willis die kulturellen Momente, die auch von einigen Pädagogen als Verstehensaufgaben der je eigenen Lernwege und -widerstände methodisch thematisiert werden (z.B. in neuerer Zeit neben der genannten Haug auch didaktisch-methodisch z.B. bei Engel 2004, Gallin/Ruf 1999). Das paradigmatische Beispiel für einen gewünschten pädagogischen Umgang mit der Kultur der Widerspenstigen zeigt aber wieder, realistischer oder nur raffinierter, das pädagogische Ziel der Erschließung der vorherrschenden Kultur. Dieses Dilemma hatte ja schon Mark Twain in Huckleberry Finn gezeigt.
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Nur der Lesen und Schreiben Lernende (Tom Sawyer) findet den Anschluss an die allgemeinere Kultur bzw. die Öffnung einer Aufstiegskultur, wie sie für demokratische Gesellschaften entwickelt ist, während die beiden anderen (Huck Finn und der von ihnen befreite Schwarze Jim) nur ins Injun country [Oklahoma] können. Für eine sogenannte Wissensgesellschaft wird die Vermittlung von Wissen noch mehr zu einer zentralen Ressource, deren Hauptproblem der zukunftsträchtige Umgang mit Wissen bzw. das Problem sehr großer, komplexer und heterogener Wissensbestände wird. So sehr die kulturelle Dimension des Wissens hier neu in die Aufmerksamkeit der Pädagogen gerückt wird, insbesondere ihre sozialstrukturierende Funktion im sozialkritischen Geist der Cultural Studies, so ist auch zu fragen, ob hier nicht eine Verengung auf die soziale Dimension des Wissens vorliegt. Zu Kulturen prägenden und schaffenden Wirkungen gehören nicht zuletzt pädagogische, aber auch für die Produktion wohl auch ästhetische, produktive, ethische und argumentative Dimensionen des Wissens sowie deren Verknüpfungen. Damit entstehen neue Anforderungen und neue Zugänge, in dem nicht nur eben kulturspezifisch bestimmtes Wissen vermittelt werden muss, sondern eben metatheoretisch alle möglichen Kontextfunktionen, Umgangsweisen und humanprogrammatische Aufgaben (was können, sollen, müssen, dürfen, wollen und mögen wir?). Es wird allerdings viel davon abhängen, ob es gelingt, dass dies nicht allein reflexiv als sozial strukturierendes Metawissen, sondern zum Grundwissen wird, ob es sozusagen in der Darstellung der Dinge, Wesen und Aufgaben elementar integriert vermittelt werden kann. Das aber erfordert einen neuen Blick, der Irritationen, Brüche, vor allem jedoch Aufgaben als die wichtigste Sinndimension des Wissens, als pädagogische Momente zukünftiger Kulturen sehen und einsetzen kann. Schule ist nicht völlig kontextabhängig, sondern ein eigener Kontext, dessen prinzipielle und geforderte Offenheit aber gerade deswegen eine Produktion oder Reproduktion nach außerschulischen Kriterien so leicht ermöglicht, wie uns schon Bourdieu/Passeron (1971) gezeigt haben. Deswegen ist die Aufklärung, wie wirklich gelehrt und vor allem gelernt wird, so wichtig und doch noch neuartig – aber es geht nicht nur um die soziale Dimension des Wissens. Möglichweise verstellt also die Aufmerksamkeit auf das Soziale andere, wichtigere Dimensionen oder Wissensbestände, Probleme zukünftiger neuer ‚Kulturen‘ (wie die Bevölkerungsentwicklung,
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die zunehmenden neuen Steuerungsmöglichkeiten, der globale Kampf um Ressourcen). In diesem Zusammenhang erhalten traditionelle, ‚nationale‘ oder religiöse Kulturen eine erhöhte Aufmerksamkeit als ideologisch zu überwindende Barrieren auf dem Wege zu einer kulturell toleranten und kreativen Weltkultur oder als hilfloser Widerstand gegen nicht akzeptierte ways of life, wie wir sie neuartig bei den einem weltweit marktorientierten Veränderungsprozess ausgesetzten Gesellschaften beobachten können. In diesem Kontext lese ich den Beitrag von Kien Nghi Ha und Markus Schmitz. In der zunächst sehr überzeugenden, gut gestützten Kritik der sozial differenzierenden Funktion von für Migranten obligatorischen Integrationskursen als Instrument einer (deutschen) Dominanzkultur, sichtbar gemacht durch ihre Kontextualisierung im Rahmen einer kolonialen, nationalpädagogischen Tradition, wird aus systemischen Gründen (der unterliegenden Differenzbildungen) ein Scheitern der Kurse im Sinne einer intendierten Integration vorhergesagt. Zwang, disziplinierende Praktiken, Nichtanerkennung der eigenen Kultur wie der Sprache und auch der verneinte Subjektstatus sowie die pädagogischen Kontrollen durch Prüfungen, administrative Erfassung würden psychisch wie mental gerade die Differenzen bestätigen, die zum Verschwinden gebracht werden sollten. Die hierbei aber gerade sichtbar werdenden Brüche in der deutschen Gesellschaft ließen die nationalen Pädagogen der Integration reagieren, in dem sie das Nationale auf einen reinen Ursprung beziehen. Dieser Ursprung wird nun aber nicht, wie generell im Text als Quelle vermutet, im Kolonialen gefunden, sondern wie richtig für Deutschland gezeigt, in Aktivitäten, das Deutsche als das Gemeinsame vor der Reichsgründung schon völkisch mit der deutschen Sprache zu identifizieren (wie bei Herder 1772 und der Germanistenversammlung von 1846). Die heutigen Integrationskurse zeigten also sowohl die Aktualität des nationalpädagogischen Impetus wie die Bruchstellen in der Notwendigkeit dieser Kurse, an denen sich die performative Herstellung nationaler Identität ereignet. Daraus wird viererlei pädagogisch gefolgert. Erstens, eine Pädagogisierung der Migranten erweist Integration als Ideologie zur Erhaltung von gesellschaftlicher Hegemonie und kultureller Dominanz. Zweitens sei ein pädagogischer Ansatz aus dem subversiv-emanzipatorischen Potential migrantischer Widerstandsmodelle u. a. von Persiflage, Maskerade, Parodie im Sinne Bhabbas (in der Nachfolge Willis, wie wir bei Hepp gelernt hatten) unrealistisch, übersähe die geringen Spiel-
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räume eines postkolonialen Eulenspiegels. Drittens: Da ein stillschweigender Konsens eine[r] im kolonial-rassistischen Denk- und Handlungsrahmen verharrenden deutschen Mehrheit vorherrsche, liege die vorrangigste Integrationsaufgabe des Staates nicht in der nationalpädagogischen Transformation migrantischer Subjekte, sondern in der anti-rassistischen Transformation der Lebensbedingungen für marginalisierte Gruppen. Und viertens, setze eine Revision der Integrationspädagogik eine kritische Selbstbefragung der Disziplin vor dem Hintergrund ihrer Entstehungsbedingungen voraus. Dies soll durch Aufklärung, Sensibilisierung, Umdenken geschehen, die bekannten Instrumente kritischer Pädagogik. Erst dann ließe sich die Frage stellen, ob sich überhaupt eine Pädagogik der Integration denken lässt, die nicht für das Fortbestehen des nationalen Bildungskanons argumentiert, sondern Gerechtigkeit und Solidarität zum Ausgangspunkt wählt. Die kritische Fruchtbarkeit des kontextuellen Ansatzes der Cultural Studies überzeugt hier unmittelbar in der Aufdeckung widersprüchlicher, wenn nicht paradoxer Intentionen im pädagogischen Medium. Aber gerade der Gedanken der Kontextualität führt weiter zu second thoughts. Die kritische Pädagogik der Autoren, der sie einerseits selbst mit ihrem Beitrag folgen und die sie der Disziplin im Ganzen verordnen möchten, stellt eine Pädagogik dar, die auch bestimmten Milieus einer Kultur zuordenbar ist. Man könnte sie die pädagogische Kultur des Moratoriums nennen, also von biographischen, sozialen, räumlichen oder funktionalen Freiräumen moderner Gesellschaften. Sie erst ermöglichen: multiple Erfahrungen, Polyvalenz, freie Erforschung von Möglichkeiten, Bestimmung des Eigenen, Freiheit von allen nicht-geistigen Zwängen, Offenheit, Gebrochenheit, Irritation, Kritik, ideale Kommunikationsbedingungen, Argumentation als alleinige Legitimation, Reflexion: Das sind ihre kreativen, explorativen Ideale, Aktivitäten, Phänomen, Kriterien. Daher neigen Personen in diesen biographischen Phasen wie als berufsmäßige Bewohner dieser Zonen, die dort vorherrschende Kultur zur allgemeinen Pädagogik zu machen, zu einem Instrument, geeignet alle Kontroversen, Widersprüche, Probleme aufzulösen. Aber diese Kultur ist ebenso pädagogisch beschränkt wie die Kultur der einer dominanten Kultur unterlegene Pädagogik, wie die Pädagogik einer dominanten gegenüber der einer anderen dominanten Kultur.
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Es fällt ja auf, dass fast alle kritisch betrachteten Momente der Integrationskurse ebenso für die staatlich verordnete allgemeinbildende Schule von deren Kritikern vorgetragen werden. Und ähnlich könnten wir systemisch-theoretisch schließen, diese Pädagogik verunmögliche sich selbst, durch ihren Selbstwiderspruch: gezwungen, einen sich selbst bildenden Menschen hervorzubringen. Und dies mag auch der Fall sein. Oder: wie wir Migrantenpädagogik in den Kontext der Allgemeinen Pädagogik stellen können, können wir auch die Schulpädagogik in den Kontext der Migrationspädagogik stellen. Diese letztere Stellung ist heute ja vielleicht noch entscheidender für die Gesellschaft in Deutschland als ‚Kurse für Migranten‘. Aber so wie die Schule ebenso wie akademische Institutionen als Zwangsanstalten mit einigen Moratoriumsbedingungen Formen der geistigen Auseinandersetzung und damit der Entwicklung bieten, sind sie Stätten der ‚Brechung‘ (lieber im optischen Sinne) einerseits des kindlichen, jugendlichen, andererseits des alltäglichen, unreflektierten, egozentrischen, interessegeleiteten und kulturspezifischen Denkens und Handelns und stellen so wichtige Schwellen in der Entwicklung dar. Das ist ihre Aufgabe und eine ähnliche Aufgabe erfüllt auch der vorliegende Beitrag. Aber er steht auch im Kontext seines Milieus. Und die Praxis einer integrativen Pädagogik kann nicht allein in Kritik, Reflexion, Sensibilisierung bestehen, noch auf die gesellschaftlichen Voraussetzungen ihrer Überflüssigkeit warten. Comenius hat zu seiner Zeit in den Wirren des dreißigjährigen Krieges beides versucht (Pampaedia und clamores eliae) und die richtige Ordnung der Dinge (wie schon im orbis pictus für Kinder) gelehrt, zum richtigen Gebrauch des Wissens erzogen und pansophisch gebildet: allen alles ganzheitlich; so lautet ja seine Formel. Ein Tscheche, der Lateinisch schrieb, ein Bischof, der alles in (Gottes) Ordnung bringen wollte, wurde zum Systematiker des Wissens und Vermittler systematischen Wissens. Im Beitrag von Karin Amos wird das Verhältnis von Cultural Studies und Pädagogik insofern im Vergleich mit den anderen Beiträgen radikal umgedreht, als nicht die Methode und Intention der Cultural Studies im Bereich der Pädagogik fruchtbar gemacht wird, sondern pädagogische Operationen (hier des ‚Rettens‘ und ‚Jätens‘) zum Verstehen der ‚Herstellung‘ von Kulturen in den Mittelpunkt gestellt werden. Mit Lloyd/Thomas erhält der Staat mit der Gestaltung seines Verhältnisses zum Volk durch Pakt & Partnerschaft und seiner Pädagogik eine zentrale Bedeutung in der
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hegemonialen Kultur. Die erziehungswissenschaftliche Analyse verallgemeinert die pädagogische Einstellung des Pastoralen (education as care) zum generellen Verhalten bei jugendlichen Rebellionen zum Schutze der Gemeinschaft im Kampf zwischen Barbarei und Zivilisation in einer Ära der Angst vor innerer und äußerer Bedrohung, wie es dann in der Interpretation des Film Blackbord Jungle belegt wird: Es geht darum zu zeigen, dass […] der Ausschluss [des schwarzen Schafes] notwendige Bedingung für die Rettung ist und umgekehrt. Die Widersprüche zwischen Seelenpflege und Disziplinierung, schon angelegt in der christlichen Pastoratsaufgabe omnes und singulatim würden im Kontext der modernen Gouvernementalität nach Foucault neu gestaltet, man könnte auch sagen verschärft werden. Dieses Phänomen aber sei nicht nur für die fünfziger Jahre (des analysierten Films) als Bild signifikant, sondern stehe in der Herbartianischen Tradition als erziehender Unterricht unter den Begriffen Regierung und Zucht. Modern formuliert geht es letztlich um die Forderung nach Übernahme spezifischer Haltung bzw. sozialer Tugenden, um moralische Erziehung. Damit werden diese Phänomene der Reibungen und Widerstände dem Allgemeinpädagogischen zugeordnet, es beschäftigt die Pädagogik seit zweihundert Jahren. Sehr viel seltener thematisiert die Pädagogik die durch diese Widerstände evozierten Gegenreaktionen. Die letzte Aussage überrascht zwar nach weitverbreiteten Thematisierungen einer schwarzen Pädagogik, nach radikaler Schulkritik, reformpädagogischen Ansätzen aller Arten, aber umgekehrt haben eine Illusion der Chancengleichheit doch Bourdieu/Passeron (1972), Luhmann/Schorr (1986) konstatiert, als Fiktion, als einen konstitutiven Irrtum strukturalistisch und systemtheoretisch zu entlarven versucht. In einer anderen Deutung wird allerdings die Annahme der (natürlich am Beginn fiktiven) Möglichkeit, eine neue Kultur sich anzu‚eignen‘ zur notwendigen Bedingung des Gelingens. Moderne Gesellschaften stellen überhaupt erhöhte disziplinäre Wissens-, neue Anpassungs- und nicht zuletzt Lernanforderungen an ihre Mitglieder, deren Grenzen heute immer häufiger erreicht werden. Angesichts immer abstrakterem Denken, immer komplexerer Orientierung, immer stärker belasteten Gesundheit und geforderten Fitseins und nicht zuletzt der zunehmenden Konkurrenz um Arbeitplätze und um Ressourcen werden die pädagogischen Vermittlungen immer mehr in das Dilemma von Fördern und Selegieren kommen. In diesem Sinne kann aber die Produktion von Verletzten, Gebrochenen, Behinder-
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ten ihr nicht den sie überfordernden Aufgaben angelastet werden. Hier greift ein Prozess der sozialen Selektion von oben nach unter an. Auch von den Autoren und für akademische Lernvorgänge werden selbstverständlich Regeln und Ansprüche der wissenschaftlichen Arbeit akzeptiert, bzw. die in der Ausbildung vorherrsche, je nach ‚Disziplin erbarmungslose‘ Selektion. Auch hier werden viele pädagogische Mediationen angeboten wie Abendschulen, Fernkurse, geöffnete Zugangsformen besonderer Art, die aber alle wie seelenpflegende Dozenten nicht die Standards der wissenschaftlichen Kultur unterlaufen bzw. bei subversiven Interessen diese zum Nachteil der Gesellschaft gefährden. Diese Anforderungen werden nun immer mehr nach unten, an jüngere Lernende weitergegeben. Wir wissen heute dazu aber zweierlei, auch diese Aufstiegs- oder Abstiegskulturen bevorzugen schichtspezifische Codebeherrschungen (von Basil Bernstein bis zu Bourdieu) und sie ermöglichen in der Tat (einige zumindest) Kulturerweiterungen. Das eigentliche pädagogische Problem scheinen mir daher nicht so sehr die Widersprüche, das Paradoxale, die Unterwerfung unter die Legitimation durch Verfahren zu sein, sondern der humane Preis, der dafür zu zahlen ist. Welche pädagogischen Möglichkeiten gibt es, notwendige Zumutungen und überflüssige Diskriminierungen zu unterscheiden und unterstützend zu gestalten? Weder Sozialromantik noch semantische Camouflage der Härten (wie sie besonders angelsächsisch entwickelt sind) scheinen mir adäquate Ratgeber. Mir scheint pädagogisch aufgegeben zu sein, die Anforderungen an individuelle, lernende Menschen und ihre Leistungen angesichts der widersprüchlichen Situationen zu verstehen und an sie dies Verstehen zu geben. Das entscheidende Mittel der Pädagogen ist aber die sich stellenden Aufgaben soweit wie möglich den möglichen Kräften anzupassen, adäquate Zeit- und inhaltliche Strukturen zu entwickeln. Dazu können nach pädagogischen Erfahrungen auch neue Kräfte entwickelt werden, um die widersprüchlichen Kulturerweiterungsprozesse praktisch zu bewältigen. Die Komplizenschaft im Missverstehen, d.h. ein strukturelles Desinteresse, Nichtverstehen auf beiden Seiten nicht zu thematisieren und die schichtspezifisch erfolgreiche Strategie einer Rhetorik der Verzweiflung, d.h. die bloße Imitation des geforderten Codes sind nach Bourdieu und Passeron der pädagogische Preis akademischer Veranstaltungen (in Frankreich), ‚abgeschlossene Halbbildungen‘ ein anderer. Darüber Aufgeklärte können die Systeme, in denen sie
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pädagogisch arbeiten, selbst ironisieren, zynisch destruieren und in ihnen bleiben, subversiv unterlaufen oder zu verändern versuchen. Alle diese Rollen sind vergeben und können in Cultural Studies aufgedeckt und beschrieben werden. Damit kann ich abschließend zu einem selbstbezüglichen Schritt kommen. Es wird nämlich deutlich, dass auch die pädagogisch motivierten Cultural Studies pädagogisch-kulturelle Kontexte haben. Diese Kontexte werden gleichsam selbst die zu verändernden, zu pädagogisierend objektivierten Subjekte und die Autoren der Beiträge zu ihren Pädagogen. Hier finden sich in dieser Sicht auf der Metastufe dieselben Zuschreibungen von an Sorge und Pflege orientierten Selbstverständnissen und die den Zwängen wissenschaftlicher Formen unterworfenen Darstellungen. Die in diesen Kontexten lebenden und arbeitenden Menschen sollen rational aufgeklärt, kritisch sensibilisiert und reflexiv aktiviert werden, also mit den Mitteln der eigenen selbstgewissen akademischen Kultur. Die Autoren selbst stehen auf der Seite der höheren Einsicht und humaneren Moral. Die zu Belehrenden haben ihre minderwertigen Kulturen zu verleugnen, in sich zu gehen, Widerständige können nur minderwertige Interessen haben oder diese unwissentlich stützen und müssen im Diskurs isoliert oder ausgeschlossen werden. Geht es kulturpolitisch auch hier um Retten und Jäten? Dieses hoffentlich verzerrte Bild soll nur deutlich machen, dass man pädagogischen Strukturen noch nicht dadurch entrinnt, dass man sich von ihnen distanziert, auch wenn es aus pädagogischen Gründen geschieht. Die radikalste Prüfung eines fruchtbaren Ansatzes besteht immer darin, ihn auf sich selbst anzuwenden. Ich bedanke mich bei den Herausgebern Monika Witsch und Paul Mecheril für die Gelegenheit, mich mit diesem Ansatz in beeindruckenden Beispielen beschäftigen zu müssen, die mir mehr, als mir lieb sein konnte, meine Pädagogik in kritische Kontexte stellte, und mit deren Kulturen ich zum Verhandeln gezwungen war. Daher erlaube ich mir zu ihrer Zusammenstellung noch einen kleinen Abschlusskommentar. Zunächst zum Titelteil: Kritische Artikulationen. ‚Kritisch‘ ist in diesen Kontexten nicht überraschend. Aber ‚Artikulationen‘ klingt erstens egalisierend wie ‚Texte‘, zweitens individualisierend wie Äußerungen von bestimmten Personen, die etwas von sich zur Sprache bringen und drittens als rhetorischer Begriff, in dem ein ‚betont und deutlich aussprechen‘ und ‚gehörig
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gegliederter Vortrag‘ angesprochen wird (vgl. Duden, Etymologie 1963), also zugleich individuelle ‚Stimmen, demokratisch Gleichberechtigte und rhetorisch-wissenschaftlich gehörig[e]‘, d. h. zunftmäßige Darstellungsweise integriert sind. Eine nicht unraffinierte Formel, weil sie zugleich Offenheit, aber auch Qualifikationsforderung signalisiert, in ähnlicher Art wie Originalstimmen, hier aber im sensus communis des Deutschen, vermittelt werden. Die Beiträge sind zugleich Bilder für eine geplante Tagung, die selbst aber sicher noch ganz andere ‚Artikulationen‘ (welche?) hervorbringen wird, um die fruchtbaren Aushandlungen wirklich zu machen. „Artikulationen“ evoziert auch eine beliebige, offene Reihe von Beiträgen unterschiedlichster Art (dies gilt auch, wenn sie spezifischer als ‚kontingente Verknüpfungen zwischen Diskursen und sozialen Kräften aufgrund derer die Genese von (politischer) Subjektivität rekonstruiert werden kann verstanden werden können 1 ), zu denen wohl auch die Kommentare gehören. Aber nicht zuletzt durch den Haupttitel ist auch ein Rahmen vorgegeben, gewissermaßen ein kultureller, der nicht durch Beiträge anderer wissenschaftlicher ‚Kulturen‘ ‚gebrochen‘ wird. Triangulation ist nicht vorgesehen. So wäre doch interessant zu wissen, wie sich diese ‚Diskurse‘ kritisch zu empirischen abgesicherten theoretischen Ansätzen wie z. B. die threat theory (je mehr % Minoritäten, um so mehr Probleme) vs. der intergroup contact theory (je mehr % Minoritäten, desto mehr Kontakte mit der Majorität und weniger Probleme) verhalten (vgl. Wagner 2005). Auch der Sammlung und Gliederung der Beiträge ist kulturell noch etwas abzugewinnen, insofern sie weder kunterbunt noch streng systematisch geordnet sind. Theoretische Ansätze und konkrete Beispiele wechseln einander ab, wie dies auch innerhalb der Beiträge geschieht. Die Perspektiven sind in die Enge und in die Weite unterschiedlich fokussiert. Die Autoren stellen keinen Bezug zwischen ihren Beiträgen her, was ungewöhnlich im Hinblick auf eine gemeinsame Konferenz erscheint. Bei einem gemeinsamen basso continuo (die kritischen Cultural Studies und ihre kritische Pädagogik), kann jede Stimme sich gleichsam autonom auf ihr Thema konzentrieren. Und bestätigen sich die Artikulationen damit ungesagt nicht auch immer gegenseitig, bis auf die von Valerie Scatamburlo D’Anninbale und Peter McLarens? Können kritische Diskurse auch selbstkritisch sein oder selbstreflexiv? Oder wird aus der Kritik der Kritik wieder das Kritisierte, schränkt sie sich daher
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selbst ein oder wird es daher den Kommentaren überlassen? Solche Fragen sind solange Spielereien von Kommentatoren, wie sie nicht auf die pädagogischen Intentionen der Cultural Studies bezogen werden. Sind die ‚Artikulationen‘ und ihre musikalische Struktur nicht aber selbst Modelle der gewünschten Begegnungen der ‚Differenzen in Einheit‘? Sind sie sich nicht zu einig, weil sie nicht different genug sind und alle aus demselben akademischen Milieu stammen? Und welch anderen Milieus könnten die Kommentatoren entstammen? Da diese nach dieser Auswahl nur leicht andersartige akademische Kulturen sein können, darf ich aus einer solchen kommend noch Schlussüberlegungen anhängen und dabei einen bisher von mir unkommentierten Beitrag einschließen. Abschließende Überlegungen führen mich zurück auf die vielleicht ebenfalls überflüssige Einbringung des pädagogischen Kontextes meines gegenwärtigen Interesses, das ja generell auf Pädagogiken gerichtet ist. In diesem Lichte stellt sich an eine Pädagogik der ‚Moratorien‘ mit ihren Merkmalen: Kontexte öffnen, Brüche, Risse bewusst machen, sensibilisieren, (politisch moralisieren) die Frage: Was folgt danach pädagogisch? Es fehlen weitere Lösungsmöglichkeiten bzw. Diskussion von Lösungen (außer den kritisierten der normativen, der dominanten Kultur). Andere übliche sozial-politische Lösungen, die hier nicht thematisiert wurden, sind z. B. a) semantische Camouflage: alle Menschen werden kommunikativ gleichwertig gemacht, b) offener, flexibler Arbeitsmarkt ohne vom Bildungssystem abhängige Berechtigungen (hire and fire), c) Aufstiegskulturen (inclusive pädagogisch angebotener Sonderformen (wie Durchlässigkeit, Abendschule, Eignungsprüfungen), aber darin scharfe Auslese. Bei diesen letzteren Selektionen nach Fähigkeiten können diese durchaus auch als Fähigkeiten zur Kulturerweiterung gedeutet werden. An dieser Stelle kann ich die Übersetzung des Beitrags von Anna Laura Gallardo Gutiérrez (nach verspätetem Empfang), auch sachlich passend kommentieren. Der Beitrag über die Entwicklung und Stand des mexikanischen Erziehungssystems ist ja der einzige Beitrag, der aus der nationalen Situation heraus eine lange Zeit von politisch-pädagogischen An-
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strengungen im Bildungswesen analysiert, thematisch passend angesichts immer wieder deutlicher Krisen von pädagogischen Versuchen, das sozial-politische Differenzproblem zu bewältigen. Die in der dichten Analyse sehr schön gezeigte und erklärte Abfolge von (meine Bezeichnungen) Kolonisierungspädagogik, Kirchenpädagogik, liberale Pädagogik, Neue Synthese, neue liberale Pädagogik und als vorletzte die des Nationalen Erziehungsprogramm (2001-2006) zeigt eigentlich nur eins, es gelingt nicht, die auch am Schluss propagierte ‚Einheit in der Differenz‘ zu realisieren. Dies scheint darin begründet, dass alle Modelle, die Differenzen, seien sie als rassische, klassenbezogene oder kulturelle kodiert, die sie aufheben wollten, immer wieder erhalten oder verstärken bzw. dafür instrumentalisiert werden konnten. Und dies sowohl durch Inklusion wie Exklusion, sei es durch einen Mythos der nationalen Einheit, sei es durch spezielle Unterstützung der Indigenen. Aber auch bei der propagierten Hoffnung, mit der ‚interkulturelle Erziehung‘ (die letzte Pädagogik) eine ‚Einheit in der Differenz‘ wirksam zu gestalten, werden deren Chancen als von Voraussetzungen abhängig, mit Skepsis realistisch und als ungewohnt betrachtet. Die ‚Wiederbedeutung des tiefen Mexikos‘, der ‚Raum der produktiven Begegnungen‘, die Erarbeitung der ‚eigenen kulturellen Logik‘, die ‚mehrgleisigen Brücken‘ angesichts ‚kultureller Unermesslichkeit‘ bleiben in diesem Text etwas vage (vielleicht der möglichen Textlänge geschuldet). Trotz der Bedingungen von ‚Vereinbarungen‘ sowie (kommunikativer) ‚Konstruktionen kultureller und nationaler Wirklichkeit im Raum der produktiven Begegnung‘ und der Erwartung, dass die Begegnung ungleich, konfliktiv, produktiv werde, bleibe die interkulturelle Erziehung im Sinne des entmythisierenden Diskurses keine ‚einfache Arbeit‘. In dreierlei Weise aber könnten Veränderungen, bei einer konstanten‚ ‚konstitutiven Spannung von Verschiedenheit und Gemeinsamkeit‘ erreicht werden: produktive Beeinflussungen der ‚Formen, in denen sich Lehrer und Schüler miteinander verbinden‘, sowie vom Kommunalwesen aus die Begegnung der Differenzen und Neukonstituierungen der Identität ermöglichen. So würde die ‚Interkulturelle Erziehung für alle‘ einen Paradigmenwechsel beinhalten, allerdings damit weder die Moderne bedienen, noch eine Revolution für bessere Bedingungen (!) sein. Ein entsprechendes Curriculum könne als Projekt bearbeitet werden. Das folgende Zitat macht aber zweierlei deutlich: Noch fehlt es an einer vorliegenden, geschweige denn geprüften Operationalisie-
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rung, und der eigenen Pädagogik entsprechend ist der ‚pädagogische Diskurs‘ selbst noch Ersatz (oder Modell?) für die notwendige Methodik. „Die Logik der Artikulation […] würde die These der konstitutiven Spannung stützen (…) zwischen der Verschiedenheit und der Gemeinsamkeit als Grundlage eines jeden politisch-erzieherischen Projekts stützen. Die Konstruktion von homöomorphischen Äquivalenzen in Richtung einer Kondensation der Elemente, welche von der Verschiedenheit aus eine Kette der Äquivalenzen aufbauen und die Negativität zerstören, welche die Identität derjenigen, die an besagtem Projekt teilnehmen, bedeutet, erlaubt ein konstantes Wechselspiel von Inklusion und Exklusion in jedwede Identität, in diesem Fall die Identität interkultureller Erziehung als eines pädagogischer Diskurses.“
Nicht vergessen dürfen wir aber auch jetzt vor dem Hintergrund aller gescheiterten Pädagogiken der mexikanischen Geschichte die altmodisch erscheinenden Mahnungen McLarens, dass die Klassenkonflikte immer wieder basale Begrenzungen für ihre pädagogische Uberwindungen schaffen. Es fällt auf, dass das eigentlich pädagogische Problem (Aufgabe) eben eine allgemeine bleibt. So kehre ich zu (m)einer (integrativen) Pädagogik zurück, eine fruchtbare Verbindung zwischen einerseits einer Berücksichtigung der Heterogenität von Kulturen (radikaler: von Individuen) und anderseits einer Vermittlung einer gemeinsamen integrative Kultur zu finden und zu gestalten. Unfruchtbar sind, wie hier ja hinreichend dargestellt, eine dominante Kultur und sie stabilisierende stigmatisierte Differenzierungen der nach- und untergeordneten bzw. ins Belieben gestellte (lokale, private, freizeitliche, künstlerische etc.) Kulturen. Entscheidend ist in meiner Sicht eine moderne Gestalt integrativer Kultur und ihrer pädagogischen Vermittlung (integrative Pädagogik) in verschiedener Hinsicht. Zur gesellschaftlichen Integration müssen physische, psychische und mentale kulturelle Differenzen als reichhaltiges Repertoire und in sozial-politischer Kooperation, Kommunikation, Koordination stabilisiert werden können: • Vielfalt und Identität als zu erhaltende, zu entwickelnde und zu vermittelnde Zielvorstellungen bedürfen zweier Operationen: die des Öffnens und die des Schließens. Kulturen, Pädagogiken, die nur Öffnen und Offenheit (mit entsprechender Toleranz) als einzigen Wert vermitteln, verstärken die Differenzkonflikte, weil sie sie nicht lösen, d. h. das Öffnen nicht auch schließen können.
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• Offenheit in Verbindung mit Selbstverantwortung (zu der immer dann auch Selbstverschuldung gehört) kann auf Dauer nicht allein vorherrschen, sie kann im Gegenteil Stress erhöhen, Personen überfordern und ihre Identität und Integrität gefährden. Multiple Identitäten sind eine romantische Vorstellung und kommen möglicherweise einem, die ‚Flexibilität‘ ausbeutenden ökonomischen Interesse entgegen. • Individuell wie kulturspezifisch müssen Fremdes, Neues, Objektiviertes oder einfach Anderes immer ‚angeeignet‘ werden, d. h. integriert werden, so dass Kohärenz (päd.: Bildung) und ein psychisch stabilisierendes Kohärenzgefühl (nach der Salutogenese Antonowskis, vgl. Wydler, 2002) entstehen, die umso stärker sein müssen, je heterogener, komplexer und gleich-gültiger die umgebenden Informationen, Wissensbestände und Lebensformen erscheinen. Wo viel geöffnet wird, muss auch das Schließen gelernt, sozialisiert und gebildet werden. Diese ‚Lösungen‘ können integrativ-pädagogisch nach drei systematischen Grundformen entwickelt werden (nach den uns zur Verfügung stehenden systematisch-pädagogisch möglichen Optionen, vgl. Paschen 2002): • Auf Lernen zielende Unterrichtung von integrativem Wissen und seinen Operationen des Öffnens und Schließens. • Auf Sozialisation zielende Erziehung zu einem Offenheit und Kohärenz verbinden Habitus mit Kompetenzen des Öffnens und Schließens. • Auf Entwicklung zielende Bildung von physischen, psychischen und mentalen ‚Organen‘ und Kräften des Öffnens und Schließens. Integrative Pädagogiken dieser Art sind in dem Sinne keine ganzheitlichen Pädagogiken, als sie voraussetzen, dass jede Pädagogik (leider) immer ganzheitlich wirkt auf die in der Rezeption ja ganzheitlichen Menschen. So wirkt jede Art einer Wissensvermittlung (z. B. eine disziplinär orientierte) auf Habitus (Identität) (z. B. ‚ich als Psychologe‘) und auf die Bildung von ‚Organen‘ (wissenschaftlich orientierte Urteilskraft). Zwischen den pädagogisch nur einseitig fokussiert auftretenden Grundformen besteht also in den Wirkungen eine Verschränkung. Verschränkungen zwischen heterogenen (z. B. sozialen und kognitiven) Wissensbeständen könnten allgemein eine Möglichkeit sein, Passungen und Nicht-Passungen
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zwischen Pädagogiken und kulturellen Intentionen ganzheitlicher beurteilen zu können. Integratives Schließen von Differenzen setzt Öffnen voraus und ermöglicht weiteres Öffnen. Nachdem pädagogisch in Konzepten das Öffnen weithin und immer wieder, wenigstens theoretisch, gefordert und praktisch- programmatisch entwickelt, als progressiv gilt, müssen heute für die Zukunft Formen und Inhalte von Differenzen erhaltenden Integrationen, ihre Schließfunktionen beachtet werden. Dort sind die Lösungen zu finden, die über eine Moratoriumspädagogik hinausgehen und damit auch in anderen Lebensphasen und Orten Kulturdifferenzen ‚lösen‘. Erste vorhandene Ansätze können wir nach dem Integrationskode Bernsteins (1971) finden bei folgenden Integrationen (vgl. auch Paschen 2005): Produktive Integrationen (päd.: z. B. Projektunterricht), ästhetische Integrationen (päd.: z. B. künstlerische Verarbeitungsformen wie bei Engel 2004), argumentative Integrationen (päd.: z. B. moderner rhetorischer Bildungstheorie: vgl. z. B. Bittner 2005). Es geht dabei sozusagen um die epistemischen Möglichkeiten und Voraussetzungen, soziale und kulturelle Differenzen einheitlicher zu rahmen. In einer Wissensgesellschaft wachsen damit die Chancen, auch wirtschaftliche Differenzen zu bearbeiten (eine leider sehr vage Formulierung, aber die moderne Produktion ist auf die Integration heterogener Wissensbestände angewiesen). Radikaler, wirksamer und sachgemäßer wären pädagogische Wahrnehmungen und Behandlungen von schon ganzheitlich in Phänomenen (wie Lebendigkeit, Landschaft, Aufwachsen) integriert erscheinenden heterogenen Wissensbeständen (Kulturen) (vgl. Paschen 2005). Vielleicht versucht die interkulturelle Waldorfschule Mannheim schon ähnliches erfolgreich, über die jetzt ein erster Zwischenbericht der Evaluation vorliegt. Mit diesen Schlussbemerkungen will ich ausdrücken, dass ‚Cultural Studies‘ pädagogisch erst der Anfang einer Entwicklung neuartiger Versuche integrativer Pädagogiken ist, ein grundlegender stepstone, der weitere Schritte verlangt, will er nicht auf seinem bisherigen Gültigkeitsbereich beschränkt bleiben. Das verlangt aber mehr ‚positive Proflexion‘ (Fischer 1985) als Reflexion.
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Anmerkung 1
Hinweis von Paul Mecheril auf die interne, besondere Verwendung von ‚Artikulation‘.
Literatur Bernstein, Basil (1972) Studien zur sprachlichen Sozialisation. Düsseldorf: Schwann. Bittner, Stefan (2005) Sinnerschließung als integrative Dynamik edukativer Prozesse. In: Bildung und Erziehung 58 (2005)1, S. 31-46. Bourdieu, Pierre /Passeron, Jean-Claude (1971) Illusion der Chancengleichheit: Untersuchungen zur Soziologie des Bildungswesens am Beispiel Frankreichs. Stuttgart: Ernst Klett. Castells, Manuel (2004) Die Macht der Identität. Das Informationszeitalter. Bd. II. Opladen Leske + Budrich. Comenius, Johann A. (1963): Pampaedia. Hrsg. von Dmitrij Tschizewskij. Heidelberg: Quelle & Meyer. Ders. (1977) Clamores eliae. Hrsg. von Julie Novakova. Ratingen: Henn. Engel, Birgit (2004) Spürbare Bildung: Über den Sinn des Ästhetischen im Unterricht. Münster (Diss. Univ. Bielefeld): Waxmann. Fischer, Franz (1985) Proflexion – Logik der Menschlichkeit. Späte Schriften und letzte Entwürfe 1960-1970, hg. v. Michael Benedikt und Wolfgang W. Priglinger. Wien/München: Löcker. Gallin, Peter /Ruf, Urs (1999) Dialogisches Lernen in Sprache und Mathematik. Bd. 1 & 2. Seelze-Velber: Kallmeyer. Hiller, Gotthilf G. /Hiller-Ketterer, Ingeborg (1974) Unterricht über Unterricht und pädagogische Verständigungen. In: Bildung und Erziehung 27 (1974), S. 268-277. Luhmann, Niklas /Schorr, Karl-E. (1979) Reflexionsprobleme im Erziehungssystem Stuttgart: Klett-Cotta. Dies. (1986) Zwischen Intransparenz und Verstehen. Fragen an die Pädagogik. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Paschen, Harm (1997) Pädagogiken. Zur Systematik pädagogischer Differenzen. Weinheim: Beltz. Ders. (2005) Zur Entwicklung menschlichen Wissens. Die Aufgabe der Integration heterogener Wissensbestände. Münster: Lit. Piaget, Jean (1973) Das moralische Urteil beim Kinde. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Reckwitz, Andreas (2006) Das hybride Subjekt. Weilerswist.
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AU T O R E N V E R Z E I C H N I S ALICIA DE ALBA, Dra., lehrt an der Nationalen Autonomen Universität in Mexiko City (UNAM – Universidad Nacional Autónoma de México) Pädagogik und Philosophie. S. KARIN AMOS, PD. Dr., lehrt am Fachbereich Erziehungswissenschaft der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt a.M. ANA LAURA GALLARDO Gutiérrez arbeitet im Erziehungsministerium in Mexiko City (SEP – Secretaría de Educación Pública) in der Abteilung für Interkulturelle Erziehung und Zweisprachigkeit (CGEIP - Coordinación General de Educación Intercultural y Bilingüe). KIEN NGHI HA, Politikwissenschaftler, forscht und lehrt zum Thema Ethnizität und Migration. ANDREAS HEPP, Prof. Dr., lehrt am Fachbereich Kulturwissenschaften der Universität Bremen mit dem Schwerpunkt Kommunikationswissenschaft /Kulturelle Bedeutung digitaler Medien. PETER MCLAREN, Prof. Dr., lehrt Pädagogik an der Graduate School of Education and Information Studies an der University of California in Los Angeles. PAUL MECHERIL, Dr. phil., ist Hochschuldozent an der Fakultät für Pädagogik der Universität Bielefeld mit dem Schwerpunkt Interkulturelle Pädagogik. NORBERT MEDER, Prof. Dr., lehrt am Institut für Gesellschaftswissenschaften der Universität Duisburg-Essen mit dem Schwerpunkt Systematische Pädagogik.
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AUTORENVERZEICHNIS
HARM PASCHEN, Prof. Dr. em., lehrt an der Fakultät für Pädagogik der Universität Bielefeld Allgemeine Pädagogik. SVEN SAUTER, Dr. phil., Privatdozent an der Fakultät für Kulturund Sozialwissenschaften, FernUniversität Hagen. VALERIE SCATAMBURLO-D’ANNIBALE, Dr., lehrt an der University of Windsor in Kanada an der Fakultät für Kommunikationsstudien. MARKUS SCHMITZ, Islamwissenschaftler, ist Doktorand an der Universität Potsdam. RAINER WINTER, Prof. Dr., lehrt am Institut für Medien- und Kommunikationswissenschaften an der Universität Klagenfurt. MONIKA WITSCH, Dr. phil., ist Lehrbeauftragte am Institut für Gesellschaftswissenschaften an der Universität Duisburg-Essen.
Pädagogik Paul Mecheril, Monika Witsch (Hg.) Cultural Studies und Pädagogik Kritische Artikulationen September 2006, 322 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN: 3-89942-366-6
Peter Kossack Lernen Beraten Eine dekonstruktive Analyse des Diskurses zur Weiterbildung September 2006, 218 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 3-89942-294-5
Autostadt GmbH (Hg.) DENK(T)RÄUME Mobilität Bildung – Bewegung – Halt 2005, 176 Seiten, kart., 17,80 €, ISBN: 3-89942-357-7
Thorsten Kubitza Identität – Verkörperung – Bildung Pädagogische Perspektiven der Philosophischen Anthropologie Helmuth Plessners 2005, 352 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN: 3-89942-318-6
Andrea Liesner, Olaf Sanders (Hg.) Bildung der Universität Beiträge zum Reformdiskurs
Ellen Schwitalski »Werde, die du bist« Pionierinnen der Reformpädagogik. Die Odenwaldschule im Kaiserreich und in der Weimarer Republik 2004, 394 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN: 3-89942-206-6
Thomas Brüsemeister, Klaus-Dieter Eubel (Hg.) Zur Modernisierung der Schule Leitideen – Konzepte – Akteure. Ein Überblick 2003, 426 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN: 3-89942-120-5
Thomas Höhne Pädagogik der Wissensgesellschaft 2003, 326 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 3-89942-119-1
Werner Friedrichs, Olaf Sanders (Hg.) Bildung / Transformation Kulturelle und gesellschaftliche Umbrüche aus bildungstheoretischer Perspektive 2002, 252 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN: 3-933127-94-7
2005, 164 Seiten, kart., 18,80 €, ISBN: 3-89942-316-X
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