CREMASTER ANATOMIES: Beiträge zu Matthew Barneys CREMASTER Cycle aus den Wissenschaften von Kunst, Theater und Literatur [1. Aufl.] 9783839421321

In exhibition settings, the »CREMASTER Cycle« by Matthew Barney turns out to be a medial hybrid, constructed from films,

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German Pages 258 Year 2014

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Table of contents :
Inhalt
Anatomien des CREMASTER Cycle – Skulpturzyklus, Filmzyklus, Ausstellungszyklus
Matthew Barney – vir heroicus sublimis: Einleitung zum Begriff einer künstlerischen Athletik
Linie, Kreis, Polygon: Matthew Barneys CREMASTER Cycle aus narratologischer Sicht
Matthew Barneys und Elizabeth Peytons Gemeinschafts performance Blood of Two – eine Rhetorik des Mythos oder »wahre Mythologie«?
»A sculpture that is made up of moving images, object systems, and still images« – skulpturale Dimensionen des CREMASTER Cycle
Unleashing of the Imaginary and a Search for the Perfect Form: The Significance of Masonic References in Matthew Barney’s CREMASTER 3 (2002)
Das Innere nach außen kehren – zur physiologischen Bildmetaphorik in Matthew Barneys CREMASTER Cycle
Im Zeichen der Assoziation – zur Genese und Wirkmacht von Matthew Barneys Feldzeichen
Matthew Barney, or the body as machine
Queer Time & Space in Matthew Barneys CREMASTER Cycle
Stoffwechsel. Mimesis als Prinzip der Überschreitung in Matthew Barneys CREMASTER Cycle
Autorinnen und Autoren
Bildnachweis
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CREMASTER ANATOMIES: Beiträge zu Matthew Barneys CREMASTER Cycle aus den Wissenschaften von Kunst, Theater und Literatur [1. Aufl.]
 9783839421321

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Christiane Hille, Julia Stenzel (Hg.) CREMASTER ANATOMIES

Film

Für Siegfried Hille (1948-2012) und Klaus Stenzel (1938-2013)

Christiane Hille, Julia Stenzel (Hg.)

CREMASTER ANATOMIES Beiträge zu Matthew Barneys CREMASTER Cycle aus den Wissenschaften von Kunst, Theater und Literatur

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2014 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Installation photography, Subliming Vessel: The Drawings of Matthew Barney, May 10 through September 2, 2013, Morgan Stanley Gallery West. Photography by Graham S. Haber, 2013. Courtesy of: The Pierpont Morgan Library, New York. Lektorat: Sabrina Eisele Satz: Matthias Stenzel Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-2132-7 PDF-ISBN 978-3-8394-2132-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt Anatomien des CREMASTER Cycle – Skulpturzyklus, Filmzyklus, Ausstellungszyklus Christiane Hille und Julia Stenzel | 7

Matthew Barney – vir heroicus sublimis: Einleitung zum Begriff einer künstlerischen Athletik Christiane Hille | 17

Linie, Kreis, Polygon: Matthew Barneys CREMASTER Cycle aus narratologischer Sicht Miriam Drewes | 57

Matthew Barneys und Elizabeth Peytons Gemeinschafts performance Blood of Two – eine Rhetorik des Mythos oder »wahre Mythologie«? Birgit Kulmer | 79

»A sculpture that is made up of moving images, object systems, and still images« – skulpturale Dimensionen des CREMASTER Cycle Eva Wruck | 105

Unleashing of the Imaginary and a Search for the Perfect Form: The Significance of Masonic References in Matthew Barney’s CREMASTER 3 (2002) Kristiane Hasselmann | 131

Das Innere nach außen kehren – zur physiologischen Bildmetaphorik in Matthew Barneys CREMASTER Cycle Stephanie Syring | 155

Im Zeichen der Assoziation – zur Genese und Wirkmacht von Matthew Barneys Feldzeichen Josef Bairlein | 177

Matthew Barney, or the body as machine Giovanna Zapperi | 191

Queer Time & Space in Matthew Barneys CREMASTER Cycle Sascha Pöhlmann | 205

Stoffwechsel. Mimesis als Prinzip der Überschreitung in Matthew Barneys CREMASTER Cycle Julia Stenzel | 223

Autorinnen und Autoren | 251 Bildnachweis | 253

Anatomien des CREMASTER Cycle – Skulpturzyklus, Filmzyklus, Ausstellungszyklus Christiane Hille / Julia Stenzel

[It is the] melting of two things: one a consistent sculptural body that needed a host body, and those locations provided this host, and in doing that they created aspects of this narrative. Matthew Barney

Matthew Barneys CREMASTER Cycle bildet einen ästhetischen Komplex, der gleichermaßen als skulptural wie filmisch, als narrativ wie performativ, als Erfahrungs- wie als Bedeutungsraum gesehen werden kann und gesehen worden ist. Der Künstler selbst, der sich als Bildhauer versteht, hat das komplexe Ineinander nicht nur der medialen, sondern auch der möglichen interpretativen Ebenen als Kalkül seiner Arbeit benannt: Das hier als Motto vorangestellte Zitat beschreibt einen Skulptur-Körper, der gleich einem parasitären Organismus Ort und Form seiner Erscheinung in Symbiose mit den je spezifischen Darstellungsdispositiven immer anderer Medien findet, die ihm als Wirtskörper dienen. Betroffen ist die Gesamtheit des künstlerischen Medien- und Materialkataloges, in dessen Aneignung der CREMASTER-Zyklus sich in der Morphologie von Installation, Kinofilm, Performance oder Bildatlas präsentiert. Diese plurimediale Prozessualität kann in der Wahrnehmung einen paradoxalen konzeptuellen Umschlag erfahren, in dem der Fluss des Arbeitsprozesses unter dem Signum des Skulpturalen zugleich still und auf Dauer gestellt wird. So positioniert sich die vom Künstler selbst immer wieder als Thema des Zyklus benannte – und als solche in der Literatur lakonisch wiederholte – ›Entwicklung einer

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Idee‹ in der Statik des vom Künstler lancierten Gattungsbegriffs der Plastik. Barneys ›Entwicklung einer Idee‹ versteht sich als Allegorie der Formwerdung, welche dem Filmzyklus – in Analogie zur physiologischen Funktion des musculus CREMASTER (Hodenheber) – das Konnotat eines von Bildungskraft belebten Organismus einschreibt, welcher zur Selbsterhaltung, Fortpflanzung und Entwicklung fähig ist. Die von Barney betriebene Naturalisierung des Werkbegriffs und dessen metaphorische Fassung als Organismus, der als korporales Prinzip die Vorstellung eines funktional gegliederten Ganzen aufruft, korrespondiert mit der verschiedenste Medien und Materialien integrierenden Arbeitsweise des Künstlers. Lässt man sich auf den Bildgehalt der Metapher ein, wird auch die in Barneys zahlreichen Interviews als Leitgedanke seines künstlerischen Tuns benannte Methode der Hypertrophie – der Biosynthese von Nerven- und Muskelfasern, sichtbar als Wachstum des Muskelgewebes – als metaphorischer Systembegriff sinnfällig; in dessen Herleitung aus der kybernetisch überformten Biologie des 20. Jahrhunderts aktualisiert sich der für den künstlerischen Werkbegriff seit der Moderne immer wieder in Frage gestellte Organismus-Begriff noch einmal. Derart zum Sinnbild transformatorischer Potenz überhöht, bleibt das Motiv des CREMASTER das statisch-plastische Element, welches sich im Wechsel seines jeweiligen medialen Habitats dynamisiert. In der Analyse erweist sich das Nebeneinander der verschiedenen medialen Ebenen des CREMASTER Cycle nicht einfach als ein Phänomen der Überlagerung oder Schichtung, sondern vielmehr als nicht-hierarchisches Geflecht medial je spezifischer Kontexte. Die strukturell dynamische Medialität der fünf, numerisch nicht der chronologischen Reihenfolge ihrer Entstehung folgenden Teile des Film-Zyklus1 wird erst in der Perzeption des Rezipienten in einem Verhältnis von Kern versus Akzidens, Oberfläche versus Tiefenstruktur, Objekt versus Hintergrund konzeptualisiert. Denn die Teil-Filme des Zyklus werden sowohl im Raum der Kunstausstellung, im cinematischen Raum des Filmfests, als auch im virtuellen Raum des Internet präsentiert 1 | CREMASTER 4 ist mit dem Entstehungsjahr 1994 der älteste Film; es folgten CREMASTER 1 (1995), 5 (1997), 2 (1999) und 3 (2002). Allerdings bestand das Konzept für alle Filme im Grundsatz schon vor der Entstehung von CREMASTER 4. Vgl. Spector, Nancy: »Nur die perverse Phantasie kann uns noch retten«, in: Nancy Spector (Hg.), Matthew Barney: The CREMASTER Cycle, Ausst.-Kat., Ostfildern-Riut: 2002, S. 2–91.

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und entsprechend – je nach Ort und Umständen der Präsentation – immer wieder aufs Neue mit ihren Entstehungs- und Rezeptionsbedingungen konfrontiert. Während im cinematischen setting Narration und Ästhetik des Films im Zentrum stehen, erweist sich der CREMASTER-Zyklus in der Ausstellungssituation als ein medial hybrides Konstrukt aus Filmen, Objekten, Fotos und Zeichnungen; neben Entwürfen für Filmszenen, -requisiten oder -figuren kommen Fragmente der Szenenbilder, Fotos vom Dreh und nach-, neu- oder umgebaute Objekte zu stehen. Die Filme selbst werden nebeneinander auf mehreren, wie die übrigen Exponate der Ausstellung präsentierten Bildschirmen gezeigt, während die ihnen zugehörigen production shots, wie jüngst in der Ausstellung Subliming Vessel: The Drawings of Matthew Barney (Morgen Library & Museum, Mai bis September 2013) in Collage mit Zeichnungen des Künstlers, Newpaperclippings, aber auch historischen Drucken und Zeichnungen der Renaissance präsentiert werden. Erst im Wandern des Blicks zwischen der Diachronie der synchron präsentierten Film-Narration und der – sich in der Wahrnehmung des Besuchers in die Diachronie auffaltenden – Synchronie der Ausstellungssituationen entsteht der Cycle; der Zuschauer-Betrachter-Besucher vollendet das Werk mit seinem Weg durch die Ausstellung als einem performativen Akt immer neu, und das heißt unter kontingenten Umständen immer anders. Der CREMASTER Cycle bleibt auch dadurch work in progress. Kunst- und filmwissenschaftliche, aber auch die wenigen theaterwissenschaftlichen Arbeiten zum CREMASTER haben sich bislang zumeist auf die Interpretation der Filme und möglicher (zu einem guten Teil von Barney selbst nahe gelegter) mythisch aufgeladener, oft psychoanalytisch grundierter Substrate oder aber auf die der Objekte, Fotografien und Zeichnungen konzentriert.2 Auch 2 | Vgl. etwa die ausführlichen Einlassungen der Kuratorin Nancy Spector im Katalog der Ausstellung im New Yorker Guggenheim Museum (siehe Anm. 1). Zudem die bildwissenschaftlich geprägte Monografie von Bürgel, Deborah: Typologie des Hybriden: Eine Perspektive auf Matthew Barneys CREMASTER Cycle, Saarbrücken: 2005. Aus theaterwissenschaftlicher Perspektive nähert sich vor allem Jörg von Bricken den Arbeiten Barneys; den theoretischen Hintergrund bilden dabei die poststrukturalistische Theorie nach Gilles Deleuze und Ansätze zum Phänomenbereich des Synaisthetischen (in erster Linie zum haptischen Sehen). Vgl. etwa Brincken, Jörg von: »Bilder, die das Auge berührt. Zum Verhältnis von Film und Körperkunst bei Matthew Barney«, in: Henry Schoenmakers et al. (Hg.), Theater und Medien. Theatre and the Media. Grundlagen – Analysen – Perspektiven. Eine Bestandsaufnahme, Bielefeld: 2008, S. 171-178. Einen Zugang, der

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wenn die meisten Studien zum CREMASTER den Primat der Filme voraussetzen (auch implizit, indem sie die Narration der Filme als Organisationsprinzip für ihre eigenen Interpretationen respektive Lektüren nutzen), ist seine mediale Varianz als ein In-, Über- oder auch ein Nebeneinander verschiedener medialer Dispositive, mithin als Herausforderung für die Wahrnehmungsgewohnheiten des Kino- wie auch des Ausstellungsbesuchers durchaus gesehen worden. Entsprechend sind die Attribute, mit denen der zwischen 1994 und 2002 entstandene CREMASTER Cycle belegt wird, ebenso heterogen wie vielfältig: semibegriffliche Bezeichnungen wie »Gesamtkunstwerk«3 oder »Crossmedia«4, Adjektive sich dem Verhältnis des Skulpturalen und des Narrativen bei Barney widmet, verspricht der parallel zu diesem erscheinende Band von Wruck, Eva: Matthew Barneys CREMASTER Cycle. Narration – Landschaft – Skulptur, Berlin: 2014. 3 | In diesem Zusammenhang wird etwa der Begriff des Gesamtkunstwerks, der an die Theaterutopien Wagners und Versuche zu ihrer Umsetzung in der Klassischen Moderne (Adolphe Appia, Edward Gordon Craig und andere) denken lässt, ebenso gern wie unzureichend reflektiert verwendet. So setzt ihn etwa Miriam Dagan, die zudem einen für Barney wenig einleuchtenden Werkbegriff vertritt, ohne jede Problematisierung gleich mit medialer Vielfalt. In der in mancher Hinsicht verdienstvollen Arbeit von Deborah Bürgel wird er gar völlig undiskutiert zum Synonym für ›Zyklus‹. Vgl. Dagan, Miriam: Matthew Barneys CREMASTER Cycle. Verhältnis zwischen Werk und der Außenwelt des Kulturbetriebs, Saarbrücken: 2008; D. Bürgel: Typologie des Hybriden. Der Gesamtkunstwerk-Gedanke nach Wagner impliziert aber nicht die additive Zusammenführung verschiedener ›Künste‹, erst recht nicht ein kontrastreiches Miteinander, sondern ein auf Harmonie ausgerichtetes Ineinander, das letztlich auf eine Entsprechung von Form und Inhalt hinausläuft: »Das große Gesammtkunstwerk, das alle Gattungen der Kunst zu umfassen hat, um jede einzelne dieser Gattungen als Mittel gewissermaßen zu verbrauchen, zu vernichten zu Gunsten der Erreichung des Gesammtzweckes aller, nämlich der unbedingten, unmittelbaren Darstellung der vollendeten menschlichen Natur, – dieses große Gesammtkunstwerk erkennt er nicht als die willkürlich mögliche That des Einzelnen, sondern als das nothwendig denkbare gemeinsame Werk der Menschen der Zukunft.« (Richard Wagner, Das Kunstwerk der Zukunf t, 1849, Kap. 5) Damit steht es einem – für einen Zugang zu Barneys Arbeit sicherlich weniger geeigneten – Konzept der medialen Komplementarität nahe, wie es im Kontext der Medien- und Filmwissenschaft vorgeschlagen wurde. 4 | So etwa schon 1999 im New York Times Magazine: http://partners.nytimes. com/library/magazine/home/19991010mag-barney-film.html (3.3.2014). Der

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wie »intermedial«5 oder gar »monumental«6. In den seltensten Fällen sind die entsprechenden Termini theoretisch fundiert oder methodologisch begründet, und noch seltener werden sie analytisch fruchtbar gemacht oder in ihrer konkreten Anwendung methodisch eingebunden. Wie in der Installation der Raum des Objekts und der Raum des Betrachters zusammenfallen und Eindrucksparameter wie Nähe und Distanz zu expressiven Variablen der Erfahrung werden lassen, so aktualisiert sich das Sinnpotenzial des CREMASTER-Zyklus im jeweiligen Zusammenspiel von dessen medialer Erscheinung und der Medienerfahrung des Betrachters. Eine analytische Auseinandersetzung mit diesem in Barneys Skulpturbegriff angelegten Zusammenspiel ist bislang Desiderat. Die in diesem Band versammelten kunst-, theater-, film- und literaturwissenschaftlichen Beiträge wagen aus ihrer jeweiligen disziplinären Perspektive den Blick auf Wege der Wahrnehmung, wie sie in Barneys Arbeiten begegnen. Im Zentrum des Bandes stehen entsprechend die Prozesse der mäandernden Wahrnehmung, wie sie der Zuschauer-Betrachter-Besucher des CREMASTER Cycle erleben kann. Dabei bildet der Zyklus in seiner medialen Heterogenität Begriff ›Crossmedia‹ wurde vor allem von einer auf die journalistische und/oder kommerzielle Umsetzung orientierten Publizistik/Medienwissenschaft geprägt; viele praktische Anleitungen und Lehrbücher zum Thema Werbung und Öffentlichkeitsarbeit tragen ihn im Titel (vgl. exemplarisch Schultz, Stefan: Brücken über den Medienbruch. Crossmediale Strategien zeitgenössischer Printmedien, Münster: 2007; Drew Davidson et al. (Hg.), Cross-Media Communications. An Introduction to the Art of Creating Integrated Media Experiences, Breinigsville, PA: 2010). Entsprechend ist er ganz wesentlich produktions-/produzentenorientiert und setzt einen recht rudimentären Begriff ›der‹ Medien als Massenmedien voraus. 5 | Vgl. etwa der entsprechende Beitrag in der in erster Linie an Studierende gerichteten Überblicksdarstellung von Jones, Amelia (Hg.), A Companion to Contemporary Art since 1945, Malden u.a.: 2006, S. 121: »Perhaps no work more embodies the intermedia impulse of this era (i.e. die 1990er und frühen 2000er Jahre, die Hg.) than Matthew Barney’s CREMASTER Cycle […].« Zum Konzept der Intermedialität vgl. grundlegend Rajewsky, Irina O.: Intermedialität, Tübingen: 2002; aus theaterwissenschaftlicher Perspektive Christopher Balme/Markus Moninger (Hg.), Crossing Media. Theater – Film – Fotografie – Neue Medien, München: 2004. Eleganterweise greift Balme im Titel des Sammelbands das (zu Beginn der 2000er Jahre ubiquitäre) Schlagwort der Crossmedialität auf, um es dann auf ein theaterwissenschaftlich perspektiviertes Konzept von Intermedialität hin zu spezifizieren. 6 | Vgl. etwa http://kultur-online.net/node/20443 (3.3.2014).

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den Ausgangspunkt, ohne ausschließlicher Gegenstand zu sein; Beiträge zu anderen Arbeiten und zu Performances von Matthew Barney bieten – etwa im Aufsatz von Birgit Kulmer – Ausblicke auf weitere Aspekte seiner Ästhetik. Dem Verständnis des CREMASTER Cycle als eines organischen Anschauungsganzen folgend, haben wir im Winter 2010 eine Reihe von Kolleginnen und Kollegen aus Kunstgeschichte, Theater-, Film- und Literaturwissenschaft eingeladen, im Rahmen eines fünftägigen Kollegs eine erste Anatomie dieses über alle medialen Grenzziehungen hinweg als Einheit zu begreifenden Corpus vorzunehmen. Die gemeinsam entwickelten Fragestellungen führten im Durchgang durch die den unterschiedlichen Disziplinen je eigenen Begrifflichkeiten und Diskurstraditionen zu einem Kaleidoskop möglicher Zugriffe auf Barneys CREMASTER Cycle, von welchen der vorliegende Band nun einige versammelt. Der Beitrag von Christiane Hille stellt den CREMASTER Cycle in den Kontext eines der amerikanischen Kunstgeschichte spezifischen Diskurses über die Anschauung des künstlerischen Feldes als Arena. In der medialen Aktualisierung der wahrnehmungstheoretischen Implikationen dieses Raumbegriffs in den Arbeiten Barneys zeigt sich die Arena als symbolische Epochen-Form, die das skopische Regime der perspektivischen Weltauffassung in eine Zirkelbewegung des Blicks überführt, in dessen Rund die Figur des Künstlers einer Ökonomie der Athletik und das Gebot der Kunst erneut den Prinzipien von Übung und Meisterschaft unterstellt wird. Ausgehend von einem Konzept von Narrativierung als Organisation einer Reihe von Ereignissen beleuchtet Miriam Drewes die über Strukturen des Raumes gezogenen Verbindungen zwischen Darstellungsmustern und einzelnen Erzählschichten des Zyklus. Barney knüpfe mit dem gattungstranszendierenden Filmzyklus und dessen Erweiterung in den Rezeptionsraum des Internet ein ›filmisches Möbiusband‹, das sich Erwartungen von Linearität, Gerichtetheit oder Teleologie entzieht. Während Versuche, den Zyklus als einsinnige Narration zu rekonstruieren, zum Scheitern verurteilt sind, lässt sich dennoch eine filmische Tektonik von vier innerwerklichen Bezugssystemen – biologisch, objekt-/körperbezogen, (landschafts-)architektonisch und ästhetisch/narrativ – identifizieren, die im Aufscheinen räumlich konstituierter Erzählkontexte erkennbar werden. Ihre Ausbreitung in den offenen Rezeptionskreislauf des weltweiten Netzes bilde das medienstrukturelle Äquivalent des gattungstranszendierenden Universums des Cycle.

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Birgit Kulmer stellt in ihrem Beitrag die Frage, ob sich Barneys exzessiver Rückgriff auf mythologische Topoi als ›Rhetorik des Mythos‹ oder ›wahre Mythologie‹ verstehen lässt. Eine Verschiebung mythischer oder mythoider Themen durch ihre Rekonstruktion unter in erster Linie ästhetischen Vorzeichen kann in diesem Sinne nicht mehr ausschließlich als Deutung archaischer Narrative, sondern muss vielmehr als Erneuerung und Reformulierung der mythologischen Erkenntnispraxis selbst verstanden werden. Dabei vollzieht Barneys künstlerische Aneignung, wie Kulmer zeigt, zuweilen einen so weit über ikonografisch etablierte Horizonte hinausreichenden Umbau des eingeführten Mythenbestands, dass sich eine Verrätselung der Bildinhalte einstellt. Sie fordert einen hermeneutischen Zugriff heraus, ja scheint nach einem solchen geradezu zu verlangen. Die sich in diesem Sinne verändernden Darstellungsbedingungen mythischer Erfahrung sowie Barneys damit verbundene Reflexion der künstlerischen Mittel wie auch des Künstlersubjekts selbst erschließt neue Quellen ästhetischer Erkenntnis und generiert neue Konzepte künstlerischer Aussage, die schließlich selbst Züge annehmen, die man mit Roland Barthes als mythopoetisch bezeichnen kann. Auch Eva Wruck beschäftigt sich in ihrem Beitrag mit den ästhetischen Strategien, welchen Barney die Gestaltung von Raum im CREMASTER-Zyklus unterwirft. Wruck setzt sie als analytische Parameter für ihre Befragung der skulpturalen Aspekte an, die sie im Werkkörper des Zyklus ausmacht: seiner Materialästhetik, seiner Ortsspezifik und seiner Verlebendigung im Medium des Films. Wruck versteht, der vom Künstler selbst behaupteten Affinität des CREMASTER Cycle zum Skulpturalen folgend, den Werkkörper als Zyklus plastischer Objekte, deren Produktions- und Rezeptionsbedingungen Barney im filmischen Medium untersucht. Dabei generiert diese über kinematografische Stilmittel erzeugte Befragung auf der Seite des Rezipienten zum einen eine vorstrukturierte Wahrnehmung, erlaubt dem Betrachter aber zugleich erst die Fülle der materialästhetischen und ortsspezifischen Bezüge der für die Filme wie für ihre Ausstellung jeweils separat gefertigten plastischen Objekte zu gewahren. Kristiane Hasselmann untersucht in ihrem Beitrag die ikonologischen Bezüge in CREMASTER 3 und der daraus als DVD ausgekoppelten Filmsequenz The Order zur Symbolsprache der Freimaurer. Barney bildet die ritualisierte, beständige Arbeit an der Vervollkommnung des eigenen Selbst als Hindernisparcours im Inneren des New Yorker Chrysler Buildings ab, in welchem er den Prozess des »self-sculpturing in the socio-political context of societal structures« entlang eigener Assoziationen und motivischer Interventio-

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nen als Machtspiel zwischen Lehrling und Meister befragt. Hasselmann rekurriert auf die in der Forschung bislang wenig zitierte psychoanalytische Kategorie des radikalen Imaginären (Cornelius Castoriadis), um die im Verlauf dieses Prozesses durch die von Barney freigesetzte, deutungsoffene Bilderflut als emanzipatorische Befragung des künstlerischen Selbst im Spannungsfeld von archaischer und gesellschaftlich bedingter Produktivität aufzuzeigen. Der Beitrag von Stephanie Syring untersucht exemplarisch biologische Bildmetaphern in The Order. Hierbei wird eine Klassifizierung zwischen rein bildhaften, räumlichen und prozessualen Bildmetaphern vorgenommen: Erstere beziehen sich auf Bilder, die in der Zweidimensionalität verbleiben, während die räumlichen Bildmetaphern sich darüber hinaus auf Architektur oder Landschaft erweitern lassen und letztere sich auf Prozesse oder Bewegungen beziehen. Die Betrachtung ausgewählter Bildmetaphern dient der Untersuchung der Bedeutungspotenziale des CREMASTER Cycle und ergründet dessen Körperbild, welches in einer paradoxen Dichotomie zwischen willenlosem Objekt und auktorialem Subjekt oszilliert. In diesem Zusammenhang kommt auch die angesprochene Analogie zwischen physiologischen und künstlerischen Prozessen in den Blick. Das im Gesamtwerk Barneys immer wieder emblematisch in Erscheinung tretende Feldzeichen lässt sich, wie Josef Bairlein zeigt, als Form einer agency verstehen, die die Vielzahl der im CREMASTER Cycle angebotenen Bilder, Assoziationen und Verweise gleich einem Gurt umspannt. In Rückgriff auf Alfred Gell und insbesondere auf Bruno Latours Actor Network Theory interpretiert Bairlein den CREMASTER Cycle als distribuierte Entität und das mit einem Balken durchzogene Feldzeichen als einen (auf narrativ-inhaltlicher wie auf struktureller Ebene) eigene Handlungsmacht ausübenden Akteur, über dessen Symbolkraft Barneys Werk in ständigem autoreferentiellem Verweis mit sich selbst kurzgeschlossen ist. Giovanna Zapperi befragt das Personal des CREMASTER Cycle vor der Folie von Mary Shelleys Frankenstein bis hin zu Francis Picabias Fille Née Sans Mère hinsichtlich in ihm konkretisierter Körperbilder und bezieht ihre Analysen auf das Arbeitsprinzip, entlang dessen Barney sein Aushandeln von Künstlerschaft betreibt. Barneys Arbeit ziele nicht auf das Schaffen von Einzelwerken, sondern vielmehr auf das prozesshafte Vorstoßen zu einem Gesamtwerk, das auf ein komplexes Sinnbild künstlerischer Tätigkeit ziele. Barneys prothetische Erweiterung des menschlichen Körpers verlängert das in der Renaissance zum Topos gewordene Streben nach dem/des perfekten

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Kunstkörper/s in das Zeitalter von Gentechnik und Robotik. Der Geniebegriff, wie er in den Künstlerlegenden der Renaissance ausformuliert wurde, wird hier auf sein Verhältnis zum Mechanischen und zu den künstlerischen Mitteln befragt. So könnten Barneys Arbeiten als exemplarisch für künstlerische Imaginationen des menschlichen Körpers in einer ›post-humanen‹ Zukunft gelten. Dass die damit verbundene Frage nach der im Zyklus ausdifferenzierten Form von Geschlechtlichkeit, wie sie oft als leitmotivisch für die Folge der fünf Filme gesehen und unmittelbar an den gegenwärtigen Diskurs der Biotechnologie angeschlossen wird, dabei nicht auf die schlichte Binarität eines männlichen oder eines weiblichen Geschlechts, ebenso wenig aber auf ein Konzept von Transgender zurückgeführt werden kann, ist die Ausgangsthese des Beitrags von Sascha Pöhlmann. Über diese Reduktion von Geschlecht auf eine biologische und soziale Idealisierung hinausweisend, stellt Pöhlmann heraus, dass die ästhetische Verunsicherung, die der CREMASTER-Zyklus auf Seiten des Betrachters produziert, weniger eine Frage von gender trouble betrifft, als eine gequeerte Verfasstheit von Raum und Zeit zu behaupten und zugleich zu problematisieren, die die normativen Konzepte von Linearität und Ortsdifferenz unterläuft. ›Queer‹ wird so bei Pöhlmann abstrahiert im Sinne einer Figur der Überschreitung binärer Codierungen von Welt überhaupt. Anhand der Inszenierung von Blickverhältnissen in CREMASTER 5 thematisiert Julia Stenzel die komplexe Relation je medial spezifischer Wahrnehmungsdispositive, wie sie dieser Teil von Barneys Cycle insbesondere in seinem filmischen Aspekt verhandelt. Stenzel skizziert ein Modell von Mimesis als aneignende Wiederholung und bezieht sie auf die Aktualisierung des theatralen Dispositivs in CREMASTER 5. Sie analysiert, wie der Blick der Kamera im fünften CREMASTER-Film, der unter anderem im neobarocken Opernhaus von Budapest und in den Gellért-Bädern spielt, den Blick des Theaterzuschauers mimetisch nachvollzieht und in einem zweiten Schritt diesen Nachvollzug selbst zum Gegenstand der Präsentation macht, indem er innerdiegetisch sowohl das Schauen als auch das Angeschaut-Werden zeigt. Bis ein Buch in den Druck gehen kann, geht es bekanntlich durch viele Hände, und auch am Zustandekommen dieses Bandes sind zahlreiche Personen und Institutionen beteiligt. Danken möchten wir den Studierenden des Departments Kunstwissenschaften der LMU, die durch rege Diskussion und hartnäckiges Nachfragen während des Winterkollegs CREMASTER

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Anatomies 2010 den ersten Anstoß gegeben haben zu einer Publikation, die dezidiert interdisziplinär sein will und programmatisch Beiträge aus den Wissenschaften von Kunst und Theater, von Film und Literatur versammelt; ebenso den Autoren, die sich auf das Thema und unsere Frageperspektiven eingelassen haben. Der Sammlung Goetz, die uns für die Dauer des Kollegs die CREMASTER-Filme großzügig für ein internes Screening zur Verfügung stellte, verdanken wir die Möglichkeit zu intensiver, gegenstandsnaher Diskussion. Das Department Kunstwissenschaften der LMU München hat den Band mit einer großzügigen finanziellen Unterstützung allererst möglich gemacht; dafür gebührt ihm, namentlich Regina Wohlfahrth, ein herzlicher Dank. Für kritische Lektüre danken wir Dr. Jan Mohr und Sabrina Eisele, die zudem für ein sachlich informiertes Lektorat sowie die Korrespondenz mit den Autoren eine unverzichtbare Partnerin war. Matthias Stenzel danken wir für sein kritisches Auge auf die finale Textgestalt und für den professionellen Satz. Dem Lektorat des Transcript-Verlages, namentlich Christine Jüchter, die den Band bis Mai 2013 betreute, und Anke Poppen, die seinen Abschluss begleitete, danken wir für ihre unermüdliche Unterstützung und ihre Geduld.

Matthew Barney – vir heroicus sublimis: Einleitung zum Begriff einer künstlerischen Athletik Christiane Hille

Abb. 1: Barnett Newman, Vir heroicus sublimis, 1950/51

Abb. 2: Jackson Pollock, One: Number 31, 1950

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Fünf schmale Streifen unterbrechen das Rot der monumentalen Leinwand von Vir Heroicus Sublimis an fünf – gemäß Barnett Newman – lokal bezugslosen Stellen (Abb. 1). Ihre Lesart als atmende Konturen, welche der Künstler über Ornament I von 1948 eingeführt hatte, stellt sie aufrecht in das Feld eines farblichen Monochroms, dessen Ausdehnung über das Blickfeld der Nahsicht in den Bewegungsraum des Betrachters im Akkord mit der Neuverhandlung des physisch-physiologischen Verhältnisses von Leibraum und Bildraum durch die New Yorker Kunstszene der Nachkriegsjahre schwang1. Bis heute fordert bei Ausstellung von Newmans Vir Heroicus Sublimis ein kleines Schild dazu auf, nah an das Bild heranzutreten; so nah, dass man die Randzonen der Leinwand aus den Augen verliert, der Blick auf dem Farbfeld aufläuft, und der Leib sich in seinem Inneren bewegt – eine Erfahrung, die ihr realweltliches Äquivalent in den farblich markierten Feldern des Sports, dem Basketballfeld, dem Schwimmbecken, dem Footballstadion findet. Hergeleitet aus diesem Verständnis des Tafelbildes als Ereignisfeld physischer Aktivität lässt sich Newmans Vir Heroicus Sublimis als Modell für den CREMASTER deuten: Denn Barneys in diesem Sport geschultes Auge mag in der durch die vertikalen zips stark schematischen Flächengliederung von Vir heroicus sublimis an die Demarkation eines American-Football-Feldes, mit seiner Unterteilung in fünf aufeinanderfolgenden Felder (end zone|red zone|team area|red zone|end zone) erinnert worden sein (Abb. 7 & 8). Das Längen-Breiten-Verhältnis von Leinwand und Spielfeld ist mit 2,235 gegenüber 2,264 ähnlich genug, auch wenn die Verteilung der fünf zips über die Bildfläche nicht exakt jener der Grenzlinien eines Football-Feldes entsprechen, und eine von ihnen nahe des äußersten rechten Bildrandes diese Deutung scheinbar negiert, ist der Eindruck der beiden inneren, in ungemischtem Weiß beziehungsweise Schwarz gehaltenen Vertikalen, so dominant, dass in dem erblickten Feld des Bildes durchaus das erinnerte Schema des Spielfeldes aufscheinen mag. In der traditionellen Hängung des Museum of Modern Art findet sich mit Jackson Pollocks 269,5 x 530,8 cm messender Leinwand One: Number 31 von 1950 jedoch zunächst eine andere formale Entsprechung (Abb. 2). Die Entgrenzung des Tafelbildes in den Raum des Betrachters vollzieht sich hier 1 | Newman, Barnett: »The Sublime is Now«, in: Tiger’s Eye, Bd. 1, Hef t 61 (1948), S. 51–53. Zu Newman und dem Begriff des ›American Sublime‹ noch immer grundlegend: Imdahl, Max: Barnett Newman ›Who’s Afraid of Red, Yellow and Blue III‹, Stuttgart: 1971.

E inleitung

zum

B egriff

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als in die Vertikale gestelltes Aktionsfeld, dessen Bearbeitung – wie im Sommer desselben Jahres durch die Kamera von Hans Namuth aufgezeichnet – Pollock auf dem Boden seiner Malerscheune vollzogen hatte. Die filmische Dokumentation der sogenannten Dances of Dripping hatte auch das Bildmaterial zur Illustration des im Mai desselben Jahres in der Zeitschrift Art News erscheinenden Aufsatzes »Pollock Paints a Picture« von Robert Goodnough geliefert.2 Die Bildunterschrift der zu einem Filmstreifen angeordneten Fotos lautet: »The unusual painting technique of Jackson Pollock begins, when the clean canvas is tacked to the painter’s studio floor, and ends some two hours later as Pollock stands erect, completely exhausted.«3 Namuths zehnminütiger Film Jackson Pollock 51 bewahrte die ephemere Performance des künstlerischen Akts nicht nur vor seiner Stillstellung auf der Leinwand, sondern ließ den Künstler auch ein Szenarium der Überlieferung betreten, welches sein Werk und seine Person dem Urteil einer Mit- und Nachwelt übergab und mithin in den Modus der Legende überführte.4 Das Programm von New York School und Nachmalerischer Abstraktion, Kunst jenseits ihrer tradierten Bedingungen und aus sich selbst geschaffen produzieren zu wollen, schuf ein Vakuum, das die Kritik mit der Einberufung eines Helden zu füllen suchte, zu welchem sich Jackson Pollock in besonderer Form zu eignen schien. Vorbereitend dazu hatte die Zeitschrift Life in ihrer Augustausgabe von 1949 den wortkargen Künstler aus den unbesiedelten Weiten des Cowboy State Wyoming als »greatest living artist in the United States« betitelt.5 Das allseitige Bedürfnis, die 1999 durch die New York 2 | Zum politisch-ideologischen Einsatz der Künstlerfiguren im amerikanischen Spielfilm der Jahrzehnte nach Ende des 2. Weltkrieges liegt bislang nur vor: Fischer, Ellen: »Das Künstlerbild im amerikanischen Film der 50er und 60er Jahre«, in: Joachim Paech (Hg.), Film, Fernsehen, Video und die Künste: Strategien der Intermedialität, Stuttgart: 1994, S. 103–113. 3 | Goodnough, Robert: »Pollock Paints a Picture«, in: Art News, 50/3 (1951), S. 38–41, 60–61, zitiert nach: Karmel, Pepe (Hg.), Jackson Pollock. Interviews, Articles, and Reviews, New York: 1999, S. 74–78, S. 76. 4 | Grundlegend zur Inszenierung des Künstlers als ›Ersatzheld‹ im photografischen und filmischen Bild: Falkenhausen, Susanne von: »Das Verlangen nach Bedeutung: Zur Lesbarkeit moderner Kunst«, in: Susanne von Falkenhausen/Gert Mattenklott/Angela Lammert (Hg.), Raum und Körper in den Künsten der Nachkriegszeit, Berlin: 1998, S. 18–32. 5 | Zur Stereotypisierung Jackson Pollocks zum amerikanischen Künstler-Helden in der Figur des naturverbundenen, anti-intellektuellen Cowboys vgl. Gibson, Ann

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Times ausgerufene Ernennung Barneys zum »most important American Artist of his Generation« zu zitieren, erklärt sich wohl auch daraus, dass mit ihr die tabula rasa-Generation der amerikanischen Nachkriegskunst zu jener der Väter historisiert wird. Die Gegenüberstellung beider Leinwände, Newmans Vir Heroicus Sublimis und Pollocks One: Number 31, versinnbildlicht die Kontroverse von Verneinung und Evokation des Mythos künstlerischer Schöpfung, welche den malerischen Ausdruck in den Gründungsjahren der amerikanischen Nachkriegskunst an den Scheideweg von Color Field und Action Painting führte. Während die Malerei Newmans mit der Tiefenräumlichkeit auch jeder Erzählung entsagte, erlaubten die Farbspuren von Pollocks Dances of Dripping ein erinnerndes Nachspüren der vormaligen Anwesenheit des schöpferisch tätigen Künstlers. Gelegen ist mir hier nicht an einem neuerlichen Konstatieren dieser Differenz, sondern an dem Hinweis darauf, dass im Integral beider Bildauffassungen eine Ästhetik künstlerischer Athletik aufscheint. Ihre Genese als Entwicklungsmoment künstlerischer Raumauffassung und Diskursmodus der amerikanischen Nachkriegskunstkritik gilt es im Folgenden herauszuarbeiten und auf ihre mediale Aktualisierung im Frühwerk Matthew Barneys zu befragen. Dabei wird es nicht um ein Resümee der verschiedenen, in der Forschung bereits umfassend besprochenen Wege gehen, auf welchen die Künstler der New York School und der ihnen folgenden amerikanischen Neo-Avantgarden den territorialen Anspruch der Kunst über die Maße der Leinwand hinaustrieben. Wie es im Folgenden zu erläutern gilt, erlaubt die Frage nach der Konvergenz von Color Field und Action Painting vielmehr einen der amerikanischen Kunstgeschichte spezifischen Diskurs über die Anschauung des künstlerischen Feldes als Form der Arena herauszustreichen, welche als im Panofskschen Sinne symbolische Epochen-Form die im New York der Nachkriegszeit erneuerten Bedingungen der Kunst zu fassen sucht Eden: Abstract Expressionism. Other Politics, New Haven: 1997. Dazu weiterführend: Elzer, Bernd/Ulz, Melanie: »Queering Cowboys. Hollywoods neue Männlichkeit«, in: Kritische Berichte 35 (2007), S. 65–77. Wiederum weiterführend zur Neuverhandlung des klassischen Heldenbildes im Animationsfilm: Pawlak, Anna: »Leonidas zwischen Heldentod und medialer Auferstehung. Zur (De-)Konstruktion eines antiken Heroen in Film und Comic der Gegenwart«, in: Kritische Berichte, Themenheft Superhelden: Zur Ästhetisierung und Politisierung menschlicher Außerordentlichkeit, hg. v. Joseph Imorde und Jörg Scheller, Bd. 1 (2011), S. 34–50.

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und damit unbewusst eben jenen in der symbolischen Form der Athletik notwendig verkörperten Mythos der Heldenerzählung lebendig hielt, von dem sich die Künstler dieser und der folgenden Jahre zu distanzieren suchten.6 Als Betrachtungshorizont für die künstlerische Arbeit Matthew Barneys schließlich spannt die Geschichte dieses Diskurses eine Folie, vor der die Selbstreflexion des Künstlers als vir (lat. Mann, Mensch) heroicus sublimis Konturen gewinnt. Bereits das Feldzeichen als nicht allein dem CREMASTER Cycle emblematisch vorangestelltes Signum der Arbeiten Matthew Barneys lässt sich auf das Langrund des römischen Circus zurückführen, wie er in der Antike als Arena für Wettstreit und Kampf um eine gemauerte Gerade (spina) errichtet wurde, die im Barney’schen Feldzeichen in die Orthogonale gedreht scheint. Erst vor diesem Hintergrund wird der CREMASTER Zyklus als Engführung von sportlichem und künstlerischem Wettkampf und damit verbunden als Restitutionsbestreben eines leistungsbasierten Kunstbegriffs deutlich, das sich gleichermaßen gegen die mit der Autonomisierung der Kunst einhergehenden Verdeckung des physischen Aspekts künstlerischer Arbeit wie gegen die durch die Avantgarden formulierte Absage an das Ideal individueller Produktion und ihre kapitalwirtschaftlichen Dimensionen stemmt. Die unter Kunsthistorikern und Kritikern gleichermaßen verbreitete grobe Verkürzung der in Barneys Arbeiten vorgenommenen Entgrenzung des Feldes der Kunst in jenes des Sports als biografisch motiviert und auf die verworfene Karriere des Künstlers als Quarterback im American Football rückverweisen hat deren wohl wichtigste Implikation bislang übersehen lassen: Mit der Überführung der künstlerischen Aktivität auf das Spielfeld des Sports trägt Barney den kreativen Prozess künstlerischen Tuns in die Ökonomie einer Wettkampfform ein, die den traditionell herbeigeführten Vergleich der nur durch den Wettstreit zur Anschauung gelangenden Varianz ästhetischer Produktion nach dem Prinzip des Paragone auf das Streben nach der Identifikation des einen, in seiner Leistung aus der Gruppe aller anderen am Wettstreit Beteiligten herausstechenden Meisters akzeleriert. Barney verschränkt die der Ökonomie des Sports implizite Logik, den am Mannschaftsspiel beteiligten Athleten durch eine individuell herausragende Leistung reüssieren zu sehen, mit einem für 6 | Grundlegend zur Bedingtheit des Mythos durch die eigene Evidenz: Boehm, Gottfried: »Mythos als bildnerischer Prozess«, in: Karl Heinz Bohrer (Hg.), Mythos und Moderne. Begriff und Bild einer Rekonstruktion, Frankfurt a. M.: 1983, S. 528–544.

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die Geschichte der Kunsttheorie topischen Vorstellungskatalog zum Ausnahmetalent des Künstlers. Die Engführung des künstlerischen mit dem sportlichen Wettkampf provoziert einen Komplex von Überlegungen, in welchen besonders ein der Geschichte der amerikanischen Kunst letztlich als terminus technicus eingeschriebener Begriff – die Arena – eine kritische Renaissance erlebt. Als womöglich folgenreichste, sicher aber sprachmächtigste Metapher in der historischen Kritik der New York School hatte Harold Rosenberg das Bild der Arena 1952, anlässlich der ersten Einzelausstellung Jackson Pollocks in der New Yorker Sidney Gallery zur Erklärung der durch den amerikanischen Modernismus errungenen Auffassung des künstlerischen Feldes herangezogen: »At a certain moment the canvas began to appear to one American painter after another as an arena in which to act […] what was to go on the canvas was not a picture but an event.«7 Das Sinnbild, arena – (lat.) ursprünglich sandiger Platz, benannte das künstlerische Feld als den für die Aufführung des Wettkampfs bereiteten Ort. Als, im Panofskschen Sinne eine epochale Wertvorstellung veranschaulichende, symbolische Form fokussiert sie die der amerikanischen Nachkriegszeit eigene Logik des ästhetisch-sozialen Feldes der Kunst in ein räumlich-sinnliches Zeichen, welches mir als Ausgangspunkt für die Diskussion eines Begriffs der künstlerischen Athletik dienen soll.8

7 | Rosenberg, Harold: »The American Action Painters«, in: Ar t News Bd. 51, H. 8 (1952), S. 22; reprinted in Rosenberg, Harold: The Tradition of the New, London: 1970. 8 | Zur Abgrenzung der Auffassung Panofskys gegenüber dem durch Cassirer formulierten Begriff der symbolischen Form vgl. insb.: Alloa, Emmanuel: »Ist die Perspektive eine symbolische Form?«, in: Gertrud Koch (Hg.), Perspektive – Die Spaltung der Standpunkte. Zur Perspektive in Philosophie, Kunst und Recht, München: 2010, S. 13-27. Ich schließe mich der hier herausgestellten Spezifizierung des Panofskschen Symbolformbegriffs als Epochenmerkmal an. Zu Cassirers Begriff der Symbolischen Form grundlegend: Lauschke, Marion: Ästhetik im Zeichen des Menschen. Die ästhetische Vorgeschichte der Symbolphilosophie Ernst Cassirers und die symbolische Form der Kunst, Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft, Sonderheft 10, Hamburg: 2007; sowie weiterführend: Horst Bredekamp, Marion Lauschke und Alex Arteaga, Bodies in Action and Symbolic Forms, Berlin: 2012.

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Eine intuitive Formulierung der Einsicht, dass der Aktivität des Künstlers zwangsläufig der Modus einer Athletik eignet, findet sich bereits in einer Bemerkung Allan Kaprows: »I am convinced that to grasp Pollock’s impact properly, we must be acrobats«, schreibt der Konzeptkünstler in seinem Nachruf auf Jackson Pollock von 1958 und stellt in dem von ihm gestalteten Katalogheft zur Galerieausstellung Assemblage, Environments & Happenings drei Jahre später der Abbildung seiner Arbeit Yard (1961) eine der von Hans Namuth aufgenommenen Fotografien Pollocks im Akt des Arbeitens zur Seite (Abb. 3).9 Die Abbildung des Hinterhofs der New Yorker Martha Jackson Gallery, den Kaprow für Yard mit einer Überzahl ausrangierter Autoreifen gefüllt hatte, die von ihren Betrachtern nach Belieben überstiegen werden konnten, versammelt die jüngst auf der Formalebene etablierten Bedingungen, denen gemäß sich das Kunstwerk seither als das die Größe des Körpers überschreitende, ereignishaft bearbeitete und in Aufsicht rezipierte Feld zeigt. Ein Jahr später, 1962, folgte mit Clement Greenbergs After Abstract Expressionism die vorerst definitive Herleitung dieser phänomenalen Wahrnehmungsdimension aus der »immateriellen Flächigkeit« des malerischen Farbraums. Er wird das für die Erfahrung durch den Betrachter geöffnete Feld der Kunst.10 Diese Konzentration auf die medienspezifische Offenheit der modernistischen Farbfeldmalerei, aus der Greenberg langfristig seine Definition der gegenwärtigen und zukünftigen Hochkunst herleitete, eichte den Diskurs auf die medienontologischen, den Betrachter betreffenden Aspekte der neuen Kunst.11 Bezeichnenderweise erfolgte die Revision der Greenbergschen Erzählung des Abstract Expressionism, als einer eigenständigen Traditi9 | Kaprow, Allan: Assemblage, Environments & Happenings, New York: 1966 (unpag.). 10 | Greenberg, Clement: »After Abstract Expressionism«, in: Art International Bd. 8, Oktober (1962), S. 24–32. 11 | Mit Hinweis auf die Malerei Barnett Newmans äußerte Greenberg bereits in dem 1960 unter dem Titel Modernist Painting druckgelegten Radiointerview: »Let it suffice to say that by the new openness they have attained, they point to what I would risk saying is the only way to high pictorial art in the near future.« Neudruck: John O’Brian (Hg.), Clement Greenberg. The collected Essays and Criticism, Chicago/London: 1986 (Bd. 1 und 2), 1993 (Bd. 3 und 4), hier: Bd. 4, S. 121.

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on fünfzehn Jahre später entlang eines ebenfalls medienontologisch aufgestellten Zugriffs. So erkannte Rosalind Krauss’ 1979 erschienener Aufsatz »Grids« in der malerischen Adaption des Gitternetzes als Bildsujet, die Koordination des Bildfeldes in eine geometrisch geordnete, anti-mimetische Fläche, welche diese der Bildfläche bereits ontologisch gegebene Struktur durch Wiederholung zu verdecken

Abb. 3: Allan Kaprow, Yard, 1961

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suchte.12 Krauss identifizierte das Raster nicht nur als Merkmal der Malerei des amerikanischen Modernismus, sondern als jene künstlerische Grundformel, anhand welcher die Avantgarde den Bildbegriff der Repräsentation räumlich und zeitlich zu überwinden vermochte: räumlich in ihrem Desinteresse gegenüber der Darstellung, zeitlich im Verwehren des für die Bilderzählung nötigen illusionistischen Existenzraums. Befasst mit der aktiven Zurückweisung der malerischen Darstellung und des in diese erkennend eintretenden Betrachters, errichtet das Gitter das Bild als psychologische Grenze – ein ästhetisches Feld, zu dem kein Zugang möglich ist, das jede Begehung verwehrt: »The grid is an abstract tool describing a space, which always begins at a point just in front of the person, who views it. […] the grid, forever leaves the viewer outside looking in.«13 Krauss’ Auffassung des Bildraums, der gemäß der Betrachter in einem beständigen Außen verbleibt – in Bezug, aber getrennt –, zeigt sich deutlich als ein Sprechen aus der Perspektive der Kritik. In der Tat ist es das System der Perspektive, welches – Erwin Panofsky hatte dies in seinen Studien zur Ikonologie gezeigt – überhaupt erst den Abstand herzustellen vermochte, der den Geist zur Einsicht über das Betrachtete befördern vermag.14 Studies in 12 | Vgl. Krauss, Rosalind: »Grids«, in: October Bd. 9 (1979), S. 50–64. In der deutschen Übersetzung des Aufsatzes wurde für den Titel ›Grids‹ das Wort ›Raster‹ gewählt. Wie die Diskussion der folgenden Seiten zeigen wird, scheint mir ›Gitter‹, welches ebenfalls unter die Wortbedeutungen des englischen Worts fällt, sehr viel treffender. 13 | Krauss, Rosalind: »Richard Serra: Sculpture Redrawn«, in: Artforum Bd. 10, Heft 9 (1972), S. 38–43, hier S. 38. Für die Folie, vor der sich dieses Verständnis formuliert vgl. Greenberg, Clement: »Abstract, Representational and so forth«, in: Art and Culture. Critical Essays, Boston: 1961 [1954], S. 133–139, insbes. S. 136–137: »The picture has now become an entity belonging to the same order of space as our bodies; it is no longer the vehicle of an imagined equivalent of that order. Pictorial space has lost its ›inside‹ and become all ›outside‹. The spectator can no longer escape into it from the space in which he himself stands.« 14 | Die Passage liest sich in voller Länge: »Ebenso, wie es im Mittelalter unmöglich war, das moderne System der Perspektive zu erarbeiten, das auf der Erkenntnis einer feststehenden Entfernung zwischen dem Auge und dem Gegenstand beruht und es so dem Künstler ermöglicht, umfassende und folgerichtige Bilder sichtbarer Dinge herzustellen, war es ihm unmöglich, die moderne Idee der Geschichte zu entwickeln, die auf der Erkenntnis einer intellektuellen Entfernung zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit beruht und es dem Gelehrten

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Iconology, das englische Original von Panofskys Text, erschien 1962, dem Jahr von Krauss’ Graduiertenstudienbeginn am damals noch sogenannten Department of Fine Arts der Harvard University in seiner zweiten Auflage. Fünf Jahre später, 1967, erscheinen beinahe zeitgleich Richard Rortys The Linguistic Turn in Philosophy: Recent Essays in Philosophical Method (Chicago) und Jaques Derridas De la grammatologie (Paris). 1968 eröffnet das Metropolitan Museum mit der Ausstellung The Great Age of Fresco. Giotto to Pontormo vielen der in dieser Zeit mit der Formulierung eines neuen Begriffs der Kunst befassten Künstlern, Kritikern und Kunsthistorikern Amerikas die Gelegenheit zu einer erstmaligen Begegnung mit der Freskenmalerei der italienischen Renaissance. Die katastrophale Überschwemmung von Florenz im Winter 1966 und die in ihrer Folge notwendig gewordene Abnahme vieler Fresken hatte zu der Ausstellung der zuvor in situ festgehaltenen Malerei jenseits des Atlantik, aber auch zu der Entdeckung der den Systemräumen der Renaissancekunst gleichsam skelettartig unterliegenden Sinopien geführt.15 Zwar wird die Referenz nicht eigens ausgewiesen, doch bildet Panofskys historische Kritik der Perspektive als symbolischer Erkenntnis-Form die Folie, vor der Krauss später ihren Begriff des Bildgitters entwickelt.16 ermöglicht, umfassende und folgerichtige Vorstellungen vergangener Epochen zu etablieren.« Panofsky, Erwin: Studien zur Ikonologie. Humanistische Themen in der Kunst der Renaissance, Köln: 1980 (engl. Original 1962), S. 48f. 15 | Mel Bochner, einer der New Yorker Künstler, die damals die Ausstellung im Metropolitan Museum besuchten, hat sich kürzlich für die Zeitschrift October noch einmal an ihre Bedeutung für die damalige künstlerisch-intellektuelle Situation erinnert: Bochner, Mel: »Why Would Anyone Want to Draw on the Wall?«, in: October Bd. 130 (2009), S. 135–140. 16 | Zwar liegt Panofskys Aufsatz erst seit der sehr schönen Übersetzung von Christopher Wood auch in englischer Sprache vor, doch ist davon auszugehen, dass Krauss den Text im Rahmen ihres Studiums in Har vard – wo mit Millard Meiss, der dem 1966 gegründeten Komitee zur Rettung der Florentiner Fresken vorsaß, ein Schüler Panofskys gelehrt hatte – den Text im Original gelesen, oder zumindest im Seminar diskutiert haben wird. Zusammenfassend zu Panofskys Geschichte des westlichen religiösen, wissenschaftlichen und philosophischen Denkens in der als konkretes Symbol des kulturellen Feldes verstandenen Figur des Bildes und ihrer Rezeption durch die Kunstwissenschaft vgl. insbesondere Mitchell, William J. Thomas: »Pictorial Turn«, in: William J. Thomas, Bildtheorie, Frankfurt a. M.: 2008, S. 101–135; weiterführend: Krämer, Sybille: »Zentralperspektive, Kalkül, Virtuelle Realität. Sieben Thesen über die Weltbildimplikationen

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Deutlich wird dies in der recht kurzen Passage, die Krauss darauf verwendet, das Gitter (grid) von dem der Perspektivdarstellung zugrunde liegenden Linienraster (perspective lattice) zu unterscheiden. Die kulturelle Verfasstheit der Perspektive als historische Form des Wissens von der Welt – und damit Panofskys Beitrag – wohl registrierend, benennt Krauss in dieser Passage das Bildgitter als rein materialistisches, die physikalische Natur des Bildfeldes ästhetisch wiederholendes Zeichen. Als inneres Gerüst (armature) der realen Welt erlaube das Raster der Perspektive, die Wirklichkeit und ihre Darstellung aufeinander abzubilden, während die einzige Abbildung, welche das jede darstellende Erzählung zurückweisende Gitter der modernistischen Malerei verfolge, jene der Bildfläche selbst sei.17 Mit dem Hinweis auf die Ablösung der Episteme des perspektivbasierten Bildraums der europäischen Renaissance durch das die Moderne kennzeichnende Prinzip der ästhetischen Wiederholung benennt Krauss das Bildgitter als symbolische (Epochen-)Form ihrer Gegenwart. Als reine, allein an den Ort des Bildes als Materie gebundene Form erinnert der Zeichenkörper des Bildgitters dabei an einen Index, wird von Krauss aber in ihrem zwei Jahre später erscheinenden Aufsatz zur »Originality of the Avantgarde« unter dem Begriff des Signifikanten besprochen.18 Der linguistische Zugriff ermöglicht in der sich hierin herausbildenden Deutung des grids als einem nicht zu vergegenständlichenden Bildzeichen, dessen vormals determinierten reinen Materialismus zugunsten einer nunmehr fiktiven, auf der Verabredung einer ›bereits getroffenen Entscheidung‹ beruhenden Objekthaftigkeit sprachlich zurückzulassen. Der Schritt ist entscheidend, denn erst durch die Benennung als Konvention qualifiziert sich das Bildgitter als Formungssymbolischer Formen«, in: Gianni Vattimo/Wolfgang Welsch (Hg.), Medien-Welten Wirklichkeiten, München: 1998, S. 27–37. Für die luzide kommentierte Übersetzung des Aufsatzes, vgl.: Erwin Panofsky: Perspective as Symbolic Form, übers. v. Christopher S. Wood, New York, 1991. 17 | »Perspective was the demonstration of the way reality and its representation could be mapped onto one another, […] the first being a form of knowledge about the second. Everything about the grid opposes that relationship […]. The physical qualities of the surface, we could say, are mapped onto the aesthetic dimensions of the same surface. […] Considered in this way, the bottom line of the grid is a naked and determined materialism.« Krauss, Rosalind: »Grids«, S. 52. 18 | Krauss, Rosalind: »The Originality of the Avant-Garde«, in: Rosalind Krauss, The Originality of the Avant-Garde and Other Modernist Myths, Cambridge/MA: 1986, S. 151–70.

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prinzip einer historisch und kulturell spezifischen Anschauung im Sinne der symbolischen Form von Panofskys Perspektive. Erst diese Prämisse des Bildgitters als symbolischer Form erlaubt ihr die Opazität der modernen Bildfläche, welche für Krauss das Fundament bildet, auf dem die Avantgarde den Mythos ihrer Authentizität und Originalität errichtete, als im doppelten Wortsinn haltlose Fiktion zu durchblicken. Als »System von Reproduktionen ohne Original« vermöge jedes der von den Künstlern der Avantgarde immer wieder neu geschaffene Bildgitter lediglich den »Signifikanten eines anderen, früheren Systems von Rastern auszumachen«, welches selbst mit einem solchen vorgehenden Modell korrespondiere und »auf einen schwindelerregenden Fall in ein bodenloses System der Reduplikation verweist«.19 Was sich hier noch im Symptom des Schwindels bemerkbar macht, bedeutet nichts anderes als die Definition des Bildfeldes als bodenlose Grundfläche. Im perpetuierten Fall der Malerei aus der raumschaffenden Repräsentation einer perspektivisch errichteten Welt verliert auch der Prozess der Sinngenese sein Subsidium; die symbolische Form der Moderne scheint dem Bodenfeld eines Lüftungsgitters zu gleichen, welches in ähnlicher Weise eine Tragfläche über dem Nichts errichtet, deren Betreten eine besondere, nicht ohne weiteres zu meisternde Herausforderung darstellt. Wie bereits Panofsky in Hinblick auf die Perspektive, korreliert in diesem Sinne auch Krauss das Bildgitter mit der psychologischen Disposition des Leibes. Hier muss eingewandt werden, dass Schwindel (vertigo) als Wahrnehmung einer die eigene Stasis gefährdenden Scheinbewegung des Umraums allerdings allein den Körper des Betrachters betrifft, welcher in kritischem Abstand am Rande des Bildes verbleibt. Der athletischen Psyche des in der ästhetischen Produktion dem Feld der Kunst zuallererst physisch verpflichteten Künstlers hingegen ist diese Disposition augenscheinlich fremd. Der Modus des künstlerischen Körpers ist die Bewegung, seine volitive Verfassung die des Wagnisses. Lohnend scheint in diesem Zusammenhang, die in der Besprechung der Metapher bislang unkommentiert gebliebene Charakterisierung des Gitters als plane, statische Geometrie des Schweigens theoriebildend an die in der Rezeptionsgeschichte der New York School so zentrale Metapher der Arena anzuschließen. Dabei erweist sich in der Verdichtung beider Termini die Ausstellung der medienontologischen Struktur (Gitter) auf der ästhetischen Ebene des Bildfeldes als Kenn-Zeichnung des im Gebot der Bewegung struk19 | »[…] a transparency that opens onto a dizzying fall into a bottomless system of reduplication«, ebd. S. 181, meine Hervorhebung.

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turierten Spielfeldes (Arena). Die Umlagerung des Gitters zur Grundfläche, wie sie dieser Verweis mit sich führt, wandelt das Emblem interesseloser Stasis in ein Schema des Apells, der nach einer Aktivierung des Feldes durch die Bewegung zuallererst des Künstlers verlangt und dessen besondere Verpflichtung zur actio in Anschlag bringt. Anders als für den Rezipienten, dessen kritische Betrachtung ein intellektuelles, emotionales und eben auch physisches Zurücktreten vom Gegenstand voraussetzt, stellt das Bildfeld, wie das Feld der Kunst allgemein, für den Künstler notwendig einen Ort der Aktion. Die Krauss’sche Unterscheidung von perspektivischem Linienraster und modernistischem Bildgitter lässt vergessen, dass der Künstler gerade im Errichten des perspektivischen Bildraums die Aufgabe wahrnahm, das Bildfeld als motorisches Reizmuster und den Raum der Malerei als Ort von Bewegung zu gestalten. Bereits seit Beginn seiner Vermessung durch die Malerei, spätestens aber mit der Etablierung der tavola quadrata, die das Normrechteck der Bildtafel als territorial vakantes Gebiet ausweist, ist dem Feld der Malerei eine Bewegungsaufforderung eingeschrieben. Mit der Erfindung der Perspektive als dem Kacheln dieser Vakanz auf Basis eines dem Fluchtpunkt des imaginären Raums entgegengekippten Rasters gelang dem Künstler mithin nicht nur die überzeugende Darstellung von Bewegung auf dem in der Kunsttheorie der Renaissance als Bildgrund (campo) besprochenen Feld, sondern zuallererst seine Besetzung.20 Zwar beruht das in die Perspektive organisierte Quadratraster hier zunächst auf dem Prinzip eines einfühlenden Durchmessens der imaginierten Dimension durch die geistige Bewegung des Künstlers, doch ist das Feld des Bildes dadurch bereits mit einem Vermessungssystem überzogen, das immer schon die Imagination eines physischen Eintretens bereithält. Eine erhöhte Aufmerksamkeit kommt dieser künstlerischen Deutung des Bildrasters als Notationsfeld der Bewegungen nach dem Ende der Renaissance erstmals wieder in ihren Registrierungen durch die historischen Avantgarden zu, deren Interesse am Zufälligen des schöpferischen Prozesses die Frage von Raster und Gitter in der ästhetischen Kategorie des Spiels 20 | Zum kunsttheoretischen Begriff ›campo‹ als Handlungsort der Bildfigur, vgl.: Stumpel, Jeroen: »On Grounds and Backgrounds. Some Remarks about Composition in Renaissance Painting«, in: Similous. Netherlands Quarterly for the History of Art Bd. 18, H. 4 (1988), S. 219–243; sowie jüngst Burioni, Matteo: »Grund und campo. Die Metaphorik des Bildgrundes in der frühen Neuzeit oder: Paolo Uccellos Schlacht von San Romano«, in: Gottfried Boehm/ Matteo Burioni (Hg.), Der Grund. Das Feld des Sichtbaren, München: 2012, S. 95–149.

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und, ihr verbunden, des Spielfeldes wiederentdecken ließ. Noch bevor die Begriffe von Arena und grid erstmals im Raum standen, entwickelte Marcel Duchamp in seiner Auseinandersetzung mit der visuellen Systematik des Schachspiels ein Modell dieses ludischen Zugriffs auf das Bildfeld.21 Das im Zusammenkommen von Regelfolge und Kairos entstehende Moment des Spiels als einer potentiell beherrschbaren Aktion bereitete dem Mythos von Originalität und Selbsterschaffung einen besonders fruchtbaren Boden. Als in die Horizontale organisierte Vermessung des künstlerischen Feldes führt es die Aufforderung zu einer ästhetischen Verortung schöpferischer Energie. Als bildgebende Struktur, deren Wahrnehmung seit der malerischen Umlagerung der Leinwand von der Staffelei auf den Boden immer auch die Dimension der Horizontalen eingeschrieben ist, verkörpert das Raster somit weniger eine Grenze, als vielmehr die Aufforderung zu einem Übertritt der das Feld markierenden Schwelle.

Abb. 4: Hans Namuth, Pollock paints a Picture, 1950

21 | In Duchamps 1932 gemeinsam mit Vitali Halberstadt verfasstem Traktat Opposition und Schwesternfelder dient das Schachbrett als Ausgangspunkt theoretischer Überlegungen zur Bewegung durch mehr als zwei Dimensionen. Vgl. Strouhal, Ernst: Duchamps Spiel, Wien: 1994; Joselit, David: Infinite Regress. Marcel Duchamp 1919–1941, Cambridge/MA: 1998; sowie Holeczek, Bernhard: »Zufall als Glücksfall. Die Anfänge eines künstlerischen Prinzips der Avantgarde«, in: Bernhard Holeczek/L. v. Mengden (Hg.), Zufall als Prinzip – Spielwelt, Methode und System in der Kunst des 20. Jahrhunderts, Heidelberg: 1992, S. 15–24. Zu Duchamps Schachbrett als Gesichtsfeld und Gefühlsraum weiterführend: Pichler, Wolfram: »Zur Kunstgeschichte des Bildfeldes«, in: Boehm/Burioni, Der Grund (2012), S. 440–472.

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Die physische Provokation dieser Schwellensituation und der Prozess ihrer Überschreitung zeigt sich am deutlichsten wohl im Werk von Jackson Pollock selbst: Agieren dort, wo dies durch die kleineren Formate noch möglich ist, zunächst nur Hand und Arm des Künstlers innerhalb des von der Leinwand besetzten Feldes, während das Standfeld von Füßen und Unterkörper noch an dessen Grenze zurückbleibt, tritt Pollock 1950 schließlich mit dem ganzen Körper in das Bildfeld ein (Abb. 4). Wegbereitend für diesen Eintritt hatte Pollock in den späten 1940er Jahren sukzessive das Verhältnis von Bildgrund und ikonischer Figuration durch ein Aus-Malen des sie different haltenden Zwischenraums einander angenähert und in ein malerisches All-Over nivelliert.22 Seine das Tafelbild zum Ereignisfeld umwidmende Praxis des Action Painting erweiterte in diesem Sinne die im Bildgitter angelegte Möglichkeit eines linearen Durchkreuzens der Bildfläche – vor, zurück, seitlich und orthogonal – in eine polyfokale künstlerische Akrobatik. Die in den späten 1960er und durch die 1970er Jahre hindurch folgende Welle parachoreografischer Experimente in den New Yorker Ateliers der Künstlergeneration von Bruce Nauman, Robert Rauschenberg, Trisha Brown, Yvonne Rainer und Eva Hesse untersuchten diesen in die Formlosigkeit entlassenen Akt erstmals außerhalb der Leinwand.23 Besonders Nauman trieb dabei in seinen zum Teil noch in seinem Studio in Kalifornien durchgeführten Schwarz-Weiß-Videos und 16-mm-Filmen, Walking in an Exaggerated Manner around the Perimeter of a Square (1967–68), Dance or Exercise on the Perimeter of a Square (1967–68), und Revolving upside down (1969), die Frage nach dem strukturellen Einfluss des künstlerischen Feldes auf die schöpferische Bewegung des Künstlers weiter voran (Abb. 5).24 Im gewählten Verzicht auf Virtuosität orientiert Naumann hier seine Bewegungen am Strukturmuster des Quadrats, welches der Künstler im Sprung vom einen auf das andere Bein bis zu dem Moment nachvollzieht, an dem das Überschreiten seiner körperlichen Belastbarkeit das 22 | Zur Verhandlung von Grund und Figur bei Jackson Pollock ausführlich: Krauss, Rosalind: »Jackson Pollock’s Drawings«, in: Artforum January (1971), S. 58–61; Rose, Bernice: Jackson Pollock. Drawing into Painting, New York: 1980. 23 | Zur Differenz in der Raumauffassung von Jackson Pollock und Trisha Brown weiterführend: Lepecki, André: Exhausting Dance. Performance and the Politics of Movement, London: 2006. 24 | Ausschnitte der Videoarbeiten können im Internet angesehen werden. http:// www.youtube.com/watch?v=Qml505hxp_c (20.09.2013); http://www.youtube. com/watch?v=5rLe17YI72s (20.09.2013); http://www.vdb.org/titles/revolving-upside-down (20.09.2013).

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programmierte Scheitern und mit ihm das Ende der Performance herbeiführt, in der das Kunstwerk, der allgemeinen Begriffsverschiebung dieser Jahre folgend, nunmehr als Prozess eher denn als Ergebnis eines solchen begriffen wird.25 Naumans Raumdiagramme wie auch die choreografischen Notationen von Trisha Brown und die Performances von Yvonne Rainer widmeten sich erstmals systematisch der Frage der Aufführbarkeit von Bewegung und ihrer Modellierung des Raums, in welchem sie zur Aufführung kommt.26 Als ebenso folgenreich, wenn nicht für die Geschichte des besprochenen Diskurses gar noch sehr viel weiter tragend als das physische Ausloten des Raums als Bezugsgröße des Künstlers und dessen Körpers, erwiesen sich die in diesen Arbeiten vorgenommenen Untersuchungen zur Bedeutung von Schwerkraft für den Prozess künstlerischer Produktion, deren Implikationen für die phänomenologische Auffassung des künstlerischen (Boden-)Feldes noch einer systematischen Untersuchung harren. Im für den Raum-Feld Diskurs der amerikanischen »Postmoderne« bereits als prägend angezeigten Jahr 1968 formulierte Robert Morris in seinem Manifest zur Anti-Form den bis dahin experimentell verbliebenen Gedanken der Formlosigkeit mit radikalerer Präzision: »A function of the well-build, form is thus vertical because it can resist gravity; what yields to gravity, then, is anti-form.«27 Morris’ eigene, den Zusammenhang 25 | Zur Maxime des Scheiterns in den Versuchen Naumans, die Verbindung zwischen Körper und Raum zu vollenden, zuletzt noch einmal: Jones, Amelia: »Kunsthandeln. Bruce Naumans Body Pressure und das Scharnier«, in: Karin Gludovatz et al. (Hg.), Kunsthandeln, Zürich: 2010, S. 15–36; weiterführend: Lüthy, Michael: »Die eigentliche Tätigkeit. Aktion und Erfahrung bei Bruce Nauman«, in: Erika Fischer-Lichte et al. (Hg.), Auf der Schwelle. Kunst, Risiken und Nebenwirkungen, München: 2006, S. 57–74. 26 | Aus der mittlerweile großen Zahl der Forschungsbeiträge zu Trisha Brown, Yvonne Rainer und den zur Bewegung des postmodernen Tanzes beigetragen habenden Künstlern sei hier insbesondere verwiesen auf: Lammert, Angelika: »Trisha Brown – Tänze auf Papier und Zeichnungen in der Luft«, in: Armen Avanessian/Frank Hofmann (Hg.), Raum in den Künsten. Konstruktion – Bewegung – Politik, München: 2010, S. 147–157; und zuletzt: Rosenberg, Susan: »Trisha Brown. Choreography as Visual Art«, in: October Bd. 140, H. 1 (2012), S. 18–44. Weiterführend anschließend an diese Diskussion wäre aber beispielsweise auch Andy Warhols Dance Diagram von 1962. 27 | Morris, Robert: »Anti Form«, in: Artforum Bd. 6, Heft 8 (1968), S. 33–35, reprint in: Continuous Projects Altered Daily. The Writings of Robert Morris, Cambridge/MA: 1993, S. 46. Weiterführend vgl.: Bois, Yve-Alain/Krauss, Rosalind: Formless. A User’s Guide, New York: 1997, bes. die Einträge im Kapitel »Horizontality«, S. 89–131.

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Abb. 5: Bruce Nauman, Exercise on the Perimeter of a Square, 1967/68

Abb. 6: Robert Morris, Wall Hanging, 1969/70

von Form und Schwerkraft befragende Arbeiten gelangen 1967 an einen entscheidenden, das Verhältnis beider als Widerspruch herausstellenden Punkt. In seinem Atelier hatte er das Stück einer großen Filz-Bahn auf den Boden

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gespannt, diese mit einem Muster paralleler, aber im Innern des Feldes verbleibender Schnitte versehen und schließlich an die Wand gehängt. Pollocks Achsenverschiebung des künstlerischen Feldes zwischen Horizontalität und Vertikalität wiederholend, stellte die titellos gebliebene Arbeit ein ikonisches Abbild der Zerrkraft dar, mit welcher das Gesetz der Physik die Integrität der Form unterminiert. (Abb. 6) Die Synthese beider Positionen formulierte wenig später Trisha Brown, deren erstmals im Rahmen der Werkgruppe Dances in and around 80 Wooster Street (1970) zur Aufführung kommende Arbeit Man Walking down the Side of a Building nicht das künstlerische Feld, sondern den Körper des Performers von der vertikalen in die horizontalen Ebene verlagerte, in welcher er sich – im Sinne der Gravitation nach unten, aber ihrer Gesetzmäßigkeit entgegen – als formstabile Lot-Senkrechte bewegte.28 Der bereits an die Artistik des Trapezkünstlers erinnernde, noch einmal gesteigerte Aspekt physischer Gefahr, welcher sich der Performer von Browns Man Walking down the Side of a Building aussetzt, verwebt den künstlerischen Diskurs von Anti-Form und Minimalism um ein weiteres mit der bereits von Allan Kaprow angemahnten Praxis des Akrobaten.

B arne y

im symbolischen

F orm -F eld

des

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Der Begriff des Künstlers als Akrobat, der hier in seiner kunsttheoretischen Topik für die amerikanische Nachkriegskunst preliminär nachvollzogen wurde, scheint in Matthew Barneys künstlerischen Arbeiten einer systematischen Kritik unterzogen. Barneys Verständnis des künstlerischen Feldes gründet in einem der Figur des Akrobaten im Kontext von Schaukunst und Leistungssport in ähnlicher Weise assoziierten Verständnis von Raum-Zeit als Zustand gesteigerter Aufmerksamkeit, wie er an die Metapher der Arena anzuschließen ist, die mit dem Ausspruch Harold Rosenbergs als Sinnbild für die mit dem All-Over von Action und Colorfield Painting gewonnene Erfahrung eines Feldes der reinen Sichtbarkeit formuliert worden war. Für den im Trainingsethos und 28 | Im Kontext dieser Untersuchung zu den Bedingungen des Gehens wäre an dieser Stelle auch die Korrespondenz zwischen Trisha Brown und der NASA ausführlicher zu besprechen. Die US-Behörde für Luft- und Raumfahrt nahm Browns künstlerische Befragung der Schwerkraft mit Interesse wahr – Neil Armstrong hatte am 21. Juli 1969 die ersten Schritte auf dem Mond getan – und lud die Choreografin für weitere Experimente in ihre zentrale Forschungsstation nach Langley, Virginia ein. Vgl. S. Rosenberg: Trisha Brown, S. 30, Fußnote 42.

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Abb. 7: Schema eines American Football Spielfeldes

Abb. 8: Barnett Newman, Vir heroicus sublimis, 1950/51

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Turniergeist einer der traditionellen amerikanischen Nationalsportarten sozialisierten Barney trägt die Metapher der Arena wohl ungleich weitgreifendere Konnotationen als für den ohne sportliche Vorbildung auf das künstlerische Feld tretenden Akteur. Die mit der Äußerung Kaprows in die Geschichte der amerikanischen Nachkriegskunst getretene Figur des Akrobaten, der seiner Definition nach danach strebt, das für den Betrachter unmöglich erscheinende wie eine leichte Übung aussehen zu lassen, findet sich bei Barney folglich zu jener des Athleten abstrahiert, der – dem Tätigkeitsprofil des Künstlers vergleichbar – durch stete Überforderung des eigenen physischen und psychischen Vermögens dieses zu neuen Dimensionen zu erheben und in die Routine des Wettkampfs (agon) zu überführen sucht. Vorformuliert wurde dieser Anspruch bereits in der Figur des OTTOshaft, die Barney für die Video-Trilogie Jim Otto Suite (OTTOdrone, 1991; OTTOshaft, 1992: Autodrone, 1992) nach dem Vorbild des legendären American-Football-Spielers Jim Otto entwickelte. Otto, der in seiner Position als Center, das heißt zentraler lineman der Offensivspieler mit dem snap des Footballs durch die eigenen Beine die Ballübergabe an den Quarterback und damit die Initialbewegung jedes Spielzuges vollzog, dient Barney als Personifikation des wettbewerbsgetriebenen Sportlerwillens, der das Grundpotenzial jener Energie bereithält, die in die Produktion des Spielverlaufs investiert wird.29 Formentscheidend tritt diesem im Wettkampfstreben des Jim Otto versinnbildlichten Aspekt der ungelenkten Leistungskraft die auf das Erzeugen der künstlerischen Illusion gerichtete, einem vorherigen Entwurf folgende, erwogene Akrobatik bei, die Barney in der Verkörperung des Entfesselungskünstlers Harry Houdinis aufrief, den er Otto als Quarterback gegenüberstellt.30 In der Figur des Künstlers 29 | »Otto was a quintessential, over-determined competitor. […] He would play injured, essentially. He was a masochist. He was known as a kind of iron man. Nothing could stop him.« Zit. aus einem Interview Hans Ulrich Obrists mit Matthew Barney und Jonathan Bepler, 2001, in: Obrist, Hans Ulrich: Matthew Barney, The Conversation Series, No 27, Köln: 2013, S. 7–34, S. 9. 30 | Zwar spricht Barney davon, dass er die volle Bedeutung der Identität Houdinis als showman erst zu einem späteren Zeitpunkt erkannte, doch scheint die in OTTOshaft formulierte Bedeutungszuordnung des konzeptuellen Energiepols der Paarung Otto – Houdini auf die Seite des Illusionskünstlers diesen bereits in der Tradition des Zeuxis zu verstehen: »[…] this tended to ignore the fact that Houdini was a showman. It was more about the fact that Houdini learned the devices of restraint so thoroughly that his escape became an intuitive practice. […] His was a very physical and highly intuitive practice within the realm of magic and illusion, and that interested me a lot.« Ebd.

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als Athlet – welcher Kampfeslust (agon) und Trainingsdisziplin (askesis) in sich vereint – findet sich mithin eine zeitgenössische Allegorie für die Verschleifung der in der Regel polar verbleibenden Merkmale von Potenzial und Übung, Begabung und Lehre, von Ingenium und Meisterschaft, wie sie das Bild des Künstlers seit seiner Kanonisierung erkennbar machen. In der west-europäischen Kulturgeschichte entsteigt der Athlet dem von Jacob Burckhardt so benannten heroischen Zeitalter des antiken Griechenlands, in welchem er seinen den höchsten Ansprüchen unterstellten Körper in den kultischen Aufführungen des Spiel und Sport verbindenden Agons als lebendiges Kunstwerk zur Schau stellte. Seine Betrachter verstanden die Athletik als eine dem künstlerischen Tun verwandte Tätigkeit, denn wie der Athlet erwählt der Künstler zu Beginn seiner Karriere eine bestimmte Lebensführung, welche das Erlangen von Ruhm und Ehre für den eigenen Namen ermöglicht. Wie Burckhardt im neunten Abschnitt seiner Griechischen Kulturgeschichte herausstellte, ist uns dieser Körper des heroischen Griechenlands nur als jener des mythischen Menschen überliefert. Sein Überleben ist nicht urkundlich, sondern nur im Nachruhm der Erzählung, im Modus des Mythos gesichert, dessen Überführung des Heldenkörpers in ein übernatürliches Narrativ ihn zu einer göttlichen Figur werden lässt, welche die Größe ihrer Taten vor allem im Kampf beweist.31 In Nachfolge Burckhardts hat Friedrich Nietzsche diese Wesensbestimmung des Kampfes später von der Voraussetzung eines direkten Gegners oder Wettstreiters entbunden und in der Metapher des Spiels als zentrale Kategorie bestimmt, in welcher die Zweckfreiheit der Kunst in Erscheinung und das Grundverlangen des Willens nach Ausdruck in eine soziale Form findet.32 Statt mit dem üblichen establishing shot beginnt CREMASTER 1 mit einer Detailansicht der Beine der im Stadion aufgereihten Revuetänzerinnen, um den 31 | Für ein Verständnis des Wettkämpfers im antiken Griechenland als mit einer mimetischen Reproduktion der gesellschaftlichen Verhältnisse befasst vgl. auch Geertz, Clifford: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt a. M.: 1983. Zum Künstlerbild des Helden grundlegend: Michelsen, Peter: »Der Künstler als Held und Charakter. Über die biografische Darstellungsweise in den ›Vite‹ des Giorgio Vasari«, in: Archiv für Kulturgeschichte, Bd. 82 (2002), S. 293–312. 32 | Vertiefend hier: Kowatzki, Irmgard: Der Begriff des Spiels als ästhetisches Phänomen. Von Schiller bis Benn, Bern: 1973; Behler, Ernst: »Nietzsche und die romantische Metapher von der Kunst als Spiel«, in: Ernst Behler, Studien zur Romantik und zur idealistischen Philosophie, Bd. 2, Paderborn: 1993.

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Blick des Betrachters dann in das blaue Farbfeld des Stadionbelags zu führen, dessen Textur hier in formaler Analogie zur von Barnett Newman für seine Leinwände empfohlenen Betrachtungspraxis der Nahansicht und mit dem damit verbundenen Verlust der räumlichen Orientierung studiert wird. Dabei drängt sich der Kameraflug über die Yardlinien des Football-Feldes in CREMASTER 1, welche als eine Folge von Horizontalen durch das Filmbild fallen, als hintersinnige Erinnerung an die in den frühen Auseinandersetzungen mit Pollocks Malerei geführte Debatte um Konsequenzen der an der gestischen Malspur ablesbaren Rotation der Leinwand aus der Vertikalen in die Horizontale auf (Abb. 9). Die Fahrt der Kamera endet nach einem Aufwärtsschwenk auf der Ansicht des in 10 Fuß Höhe installierten Tores, dessen hochrechteckige Form und weiße Rahmung hier salopp an den traditionellen Bestimmungsort der Bildtafel in der Vertikale und über dem Boden gemahnt, um dessen Wahrung Clement Greenberg so bemüht war. Immer wieder lässt Barney das Auflaufen der beiden Gruppen von je 25 Revuetänzerinnen auf dem mit dem Field-Zeichen markierten blauen Astroturf des Bronco Stadiums in Aufsicht zeigen. Wie auf einem Spielfeld ikonischen Sinns konvergiert hier die Anschauungserfahrung der aktionistischen Malerei Pollocks – »Within half an hour the entire surface had taken on an activity of weaving rhythms« – mit jener der in der Spielzugbeobachtung der auf dem gridiron des American Football registrierten Passrouten.33

Abb. 9: Matthew Barney, Yardline; CREMASTER 1, Still

33 | R. Goodnough: Pollock Paints a Picture, S. 76.

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Der Widerstreit der zu zwei Mannschaften zusammengeschlossenen Athleten auf dem Spielfeld erzeugt eine ephemere, in den verschiedenen Konstellationen der spielerischen Aktionen verschiedentlich aufscheinende Präsenz der Form.34 In entschleunigter und aus der Vogelperspektive gefilmter Ansicht wird dieser agon um die Form von der immer nur wenige Sekunden andauernden Spielbewegung des American Football in die Musterbildung der adrett beschaulichen Choreografie der Revue-Girls im Bronco Stadium von CREMASTER 1 übersetzt. Der Wechsel dieser auf dem Spielfeld zur Sichtbarkeit kommenden, jedoch in beständigem Durchgang durch sich selbst ephemer verbleibenden Formationen ist bislang als Hinweis auf die Unabgeschlossenheit der Geschlechtsentwicklung gedeutet worden, die oft als das alle fünf CREMASTER-Videos verbindende Thema genannt 34 | Hans Ulrich Gumbrecht hat das Erlebnis eines solchen Formeindrucks im Spielverlauf eines von ihm besuchten American Football Matches mit Hinblick auf seine Arbeit an einer Kategorie des Nicht-Hermeneutischen als Ereignis von Präsenz diskutiert, wobei er die formative Kraft des Angriffsspielzuges als Negentropie und die diesem Vorwärtsdrängen entgegengewandte Energie der verteidigenden Mannschaft als Entropie benennt. Vgl. Gumbrecht, Hans Ulrich: »Form without Matter vs. Form as Event«, in: MLN 111, 3 (1996), S. 578–592. Sowie Gumbrecht, Hans Ulrich: »Die Schönheit des Mannschaftssports: American Football im Stadion und im Fernsehen«, in: Hans Ulrich Gumbrecht: Präsenz, Frankfurt a. M.: 2012, S. 261ff. Besonders interessant sind die frühen Überlegungen, welche noch die Frage nach dem Wesen der Form berücksichtigen, die in der weiteren Entwicklung des Themas zurücktritt. Gumbrechts Aufsatz zum American Football reiht sich dagegen in eine Tradition der ästhetischen Kritik des Sports, die so etwas wie das Hobbyhorse der Medienphilosophie darstellt, vgl. Roland Barthes Text zur gemeinsam mit Hubert Aquin 1961 produzierten Dokumentation Le sport et les hommes; erstmals druckgelegt als: Barthes, Roland (2007): What is Sport?, übers. von Richard Howard, New Haven: 2007; und Bredekamp, Horst (1993): Florentiner Fußball: Die Renaissance der Spiele. Calcio als Fest der Medici, Frankfurt a. M.: 1993, dessen Hinweis auf die sozialpolitische Bedeutung des calcio fiorentino als institutionalisiertem Ventil der Ableitung (isforgare) sich im Volkskörper anstauender Aggression den bei Barney in den Figuren von OTTOshaft und Houdini exemplifizierten Kreislauf von Ladung und Enthemmung ästhetischer Energie bereits andenkt. Zur Ästhetik des Sports zuletzt auch kursorisch: Welsch, Wolfgang: »Sport: Ästhetisch betrachtet – und sogar als Kunst?«, in: Kunstforum International Bd. 169 (2004), Themenheft Kunst und Sport, S. 65–81, und schließlich noch einmal Gumbrecht, Hans Ulrich: In Praise of Athletic Beauty, Cambridge/MA: 2006, Englisch im Orig., Deutsch bei Suhrkamp als Lob des Sports, 2005.

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wird. In doppelter Präsenz befindet sich die Figur der Goodyear in zwei über den Revuetänzerinnen schwebenden Kleinluftschiffen, welche allgemein als Sinnbild des weiblichen Reproduktionssystems gelesen werden. Aus den darin transportierten grünen und blauen Trauben, formt sie zum einen einen Kreis (grün, das heißt Konnotation weiblich) und zum anderen zwei parallele Linien (blau, das heißt Konnotation männlich). Ihrer Formation korrespondiert jene der Tänzerinnen auf dem Spielfeld darunter, welches seine von Barney eingeführte Funktion als Ort ikonischer Produktion – als Bildfeld – in einem durch die der lebendigen Linie der in Aufsicht gefilmten Revue-Girls erzeugten Ritornell kontinuierlich entstehender und zerfallender Muster markiert. Diese Korrespektivität des Geschehens am Boden mit jenem innerhalb der in statischem Auftrieb befindlichen Luftschiffe macht deutlich, dass die reproduktionsbiologische Metapher, auf welche sich die Rezeption des CREMASTER-Zyklus bislang konzentriert, letztlich auf den noch weit grundlegenderen Gedanken der ontologischen Trennung von göttlicher Idee und sinnlichem Abbild in zwei Welten zurückgeht, wie ihn Platons Timaios grundgelegt hat und welchem das Bild der Amme des Werdens entstammt, welche die wachsende Form im Weltall aufzieht.35 Die gemäß der in den Kleinluftschiffen gelegten Vorbilder auf dem Spielfeld darunter alternierende Formation der Tänzerinnen verschränkt sich schließlich zu der beide Elemente in sich vereinenden Form des für den CREMASTER-Zyklus emblematischen Feldzeichens: jener von einem horizontalen Streifen durchschnittenen Ellipse, welche der Künstler selbst als Symbol des eingedämmten Energieflusses und mithin als Zone des reinen Potenzials definiert hat, dass sich im Sinne eines Körperzeichens zum Wappen nicht nur des CREMASTER Cycle sondern der Person des Künstlers selbst verstetigt hat.36 Nimmt man Barneys Aussage zum 35 | Zur Verschränkung der biologisch-prokreativen und handwerklich-technischen Schöpfungskraft in Platons Timaios vgl. Hall, Thomas S.: »The Biology of the Timaeus in Historical Perspective«, in: Arion 4 (1965), S. 109–122; Reale, Giovanni: »Platons protologische Begründung des Kosmos«, in: Rudolph Enno (Hg.), Polis und Kosmos. Naturphilosophie und politische Philosophie bei Platon, Darmstadt: 1996, S. 3–25. 36 | Barney selbst sprach in einem Interview mit Hans Ulrich Obrist vom coat of arms des CREMASTERs, in welchem das Feldzeichen als Heroldsschild zu identifizieren ist. Vgl. Obrist, Hans Ulrich: »Interview mit Matthew Barney und Jonathan Bepler, 2001«, in: Hans Ulrich Obrist, Matthew Barney, The Conversation Series, No 27, Köln: 2013, S. 7–34, S. 28. Zum Zusammenhang von Wappenschild und Portraittafel weiterführend: Belting, Hans: »Wappen und Porträt. Zwei Medien des Körpers«, in: Martin Büchsel/Peter Schmidt (Hg.), Das Porträt vor der Erfindung des Porträts, Mainz: 2003, S. 89–100.

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Maßstab, wird deutlich, dass der begonnene Prozess nicht mit der Differenzierung geschlechtlicher Formalternativen befasst ist, sondern mit der noch sehr viel grundlegenderen Herausbildung von Form überhaupt, das heißt ihrer Disziplinierung aus dem naturgegebenen Zustand der Formlosigkeit in die Vertikalität, für welche der Phallus nur ein, wenn auch immer noch schnell zur Hand genommenes Beispiel darstellt. Mit der Adaption dieses Diskurses in den Regelkanon des American Football findet Barney ein sehr viel feinsinnigeres Sinnbild des Widerstreits von Formstreben und Schwerkraft (gravitas), welches das physikalische Gesetz, nachdem nur die im Widerstand gegen die Schwerkraft befindliche Materie Form annimmt, auf die Allegorie des seine Vorwärtsbewegung nur im Schutz der erfolgreichen Hemmnis (blocking) des gegnerischen Angriffs auf seinen aufgerichteten Körper (tackle) durch die Mitspieler der eigenen Mannschaft auszuführen vermögenden Ballträgers überträgt.37 Gewendet auf die Anforderung an den Künstler, resultiert die hier auf der Bildebene des Football-Feldes exemplifizierende Bedingtheit von Form durch das Hemmen der ihr entgegenwirkenden Gravitationskraft im Ideal eines in Kraftausübung und Kunstfertigkeit ausgebildeten Athleten. Das darin formulierte Gebot von Gewinnstreben und Leistungsethos stellt Barneys Künstlerbild in den wohl stärksten Kontrast zu der symbolisch-ideologischen Dekonstruktion des Autors und Künstlers als einem göttlich inspirierten, autonomen Schöpfer, wie es vor allem die künstlerischen Bewegungen der 1950er und 1960er Jahre durch einen dem Zufall des schöpferischen Akts selbst entspringenden Kunstbegriff überschrieben hatten. Barneys demgegenüber in Anschlag gebrachte Rückermächtigung künstlerischer Zeugungsfähigkeit durch die neuerliche Biologisierung von Kreativität in der Metapher des Kremastermuskels als Sinnbild der neuromuskulären Steuerung männlicher Prokreation unterstellt einen der wirkmächtigsten Topoi innerhalb des westlichen Kunstverständnisses 37 | Mit Referenz auf die Ästhetik von Animationsfilmen und Cartoons benennt Barney selbst die Negation des Eindrucks von Schwerkraft als Manifestation eines Wirklichkeitsbezugs als maßgebliches Interesse in seinen ersten Bearbeitungen des Mediums Video mit für den Film entwickelten Montage- und Schnitttechniken. Vgl. Interview mit Matthew Barney am 5. Oktober 2007, Mönchehaus Museum für Moderne Kunst Goslar. Zur Beziehung von Mythos und digitalem Bild, vgl. weiterführend: Mitchell, William J. Thomas: »Realismus im digitalen Bild«, in: Hans Belting (Hg.), Bilderfragen. Die Bildwissenschaft im Aufbruch, München: 2007, S. 237–255; lohnenswert aber auch in diesem Zusammenhang: Flusser, Vilém: Lob der Oberflächlichkeit, Mannheim: 1993.

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den Bedingungen eines athletischen Programms.38 Evoziert wird die Phantasie hypertropher Kreativität, mit welcher Barney die Vorstellung von einem gleich der Natur mit der Akt der Kreation (natura naturans) durch die dem Feld des Sports entnommene Idee einer dem Muskeltraining unterstellbaren künstlerischen (Schaffens-)Kraft überschreibt, die Albertis Ermahnung studium et ingenium, ingenium et industria um eine zeitgenössische Metapher ergänzt.39 Das Vorbild dieses aus dem Prinzip eines physischen Ringens um einen Superlativ künstlerischer Leistungsschau hergeleiteten Formbegriffs findet sich letztlich in Vasaris Lobrede auf die unermüdliche Übung und 38 | Zur Analogisierung biologischer Reproduktion und künstlerischer Kreativität: Pfisterer, Ulrich: »Zeugung der Idee – Schwangerschaft des Geistes. Sexualisierte Metaphern und Theorien der Werkgenese in der Renaissance«, in: Ulrich Pfisterer/Anja Zimmermann (Hg.), Transgressionen – Animationen. Das Kunstwerk als Lebewesen, Berlin: 2005, S. 41–72; Christadler, Maike: »Natur des Genies und Weiblichkeit der Natur. Zur Rekonstruktion moderner Mythen in Künstler-Viten der frühen Neuzeit«, in: Kathrin Hoffmann-Curtis/Silke Wenk (Hg.), Mythen von Autorschaft und Weiblichkeit im 20. Jahrhundert, Marburg: 1997, S. 32–43; Begeman, Christian/Wellbery David E. (Hg.), Kunst – Zeugung – Geburt. Theorien und Metaphern ästhetischer Produktion in der Neuzeit, Freiburg: 2002; Zimmermann, Anja: »Von Produktion und Produktivität. Blut und Sperma als Kreativstoffe in der Kunst um 1960«, in: Roger Fayet (Hg.), Verlangen nach Reinheit oder Schmutz? Gestaltungskonzepte zwischen Rein und Unrein, Wien: 2003, S. 97–114. Sowie Bonnet, Anne-Marie: »Bild-Körper/Körper-Bild. Die Kunstgeschichte, eine Junggesellenmaschine?«, in: Hans Belting/Siegfried Gohr (Hg.), Die Frage nach dem Kunstwerk unter den heutigen Bildern, Stuttgart: 1996, S. 17–30. 39 | Zum Begriffsfeld von studium und industria in der Kunsttheorie des Seicento vgl. die Einträge in Filippo Baldinuccis Vocabulario dell’arte del Disegno, 2 Bde., Mailand: 1809. Zur frühneuzeitlichen Rezeption des aus der antiken Rhetorik hergeleiteten künstlerischen Tugendideal der labor vgl. Irle, Klaus: Der Ruhm der Bienen. Das Nachahmungsprinzip der italienischen Malerei von Raffael bis Rubens, Münster: 1997. Zur labor als kunsttheoretischem Topos: Váczy, Peter: »Die menschliche Arbeit als Thema der Humanisten und der Renaissance«, in: Acta Historiae Artium Bd. 13 (1967), S. 149–176; Herrmann-Fiore, Kristina: »Il tema ›Labor‹ nella creazione artistica del Rinascimento«, in: Matthias Winner (Hg.), Der Künstler über sich und sein Werk. Internationales Symposium der Bibliotheca Hertziana Rom 1989, Weinheim: 1992, S. 245–292; und jüngst mit ausführlicher Bibliografie: Jonietz, Fabian: »Labor omnia vincit? Fragmente einer kunsttheoretischen Kategorie«, in: Jan-Dirk Müller et al. (Hg.), Aemulatio. Kulturen des Wettstreits in Text und Bild (1450 – 1620), Berlin: 2011, S. 573–681.

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beständige Erweiterung der Ansprüche des Künstlers an sich selbst, welcher sich auf diesem Weg die Zusprache der Ehrenbezeichnung divius erarbeitet.40

Abb. 10: Matthew Barney, Notes on Hypertrophy, 1990

40 | Als meist einschlägiges Beispiel sei hier allein die paradigmatische Exemplifikation des durch Fleiß und harte Arbeit seinen Weg in den Künstlerolymp gegangenen Michelangelo genannt, wie er besonders im Cinquecento als Dvinio artista gefeiert wurde. Clements, Robert J.: »Michelangelo on Effort and Rapidity in Art«, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes Bd. 17 (1954), S. 301–310.

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Als Zeit der Übung in diesem Sinne sind die frühen, zunächst ohne die Anwesenheit eines Publikums durchgeführten Video-Performances Barneys zu verstehen. 41 Die 1987 begonnene Performance-Folge Drawing Restraint stellt in ihrem Aufbau eine Situation her, die immer wieder mit jener eines Fitnessstudios verglichen worden ist – ein Bezug, der sich mit Hinblick auf die zunehmende Ausdifferenzierung der Geräteanlagen und damit einhergehenden Erhöhung des körperlichen Schwierigkeitsgrades in den nachfolgenden Performances der Drawing-Restraint-Serie anbietet. Mit Blick auf die aus Vaseline nachgebildete Langhantel aus Drawing Restraint 3 (1988), den für das Training von Bein- und Durchschlagkraft im American Football genutzten Blockschlitten aus Drawing Restraint 4 (ebenfalls 1988), die Tontaubenwurfmaschine (Drawing Restraint 5, 1989) und das Zimmertrampolin, über welches der Künstler in Drawing Restraint 6 (ebenfalls 1989) die Zimmerdecke erreicht, konstatierte Nancy Spector lakonisch, Barney ersetze künstlerischen Ausdruck durch sportliche Kunststücke.42 Eine Deutung, die an der Oberfläche verbleibt, was daran liegen mag, dass die polyvalent lesbaren Definitionen der für die Werkserie titelgebenden Hemmkraft (restraint), wie sie David Joselit kürzlich prägnant differenziert hat, im Allgemeinen unter dem Oberbegriff der Bewegung behandelt wird. Joselits gibt zu bedenken, dass der Werktitel neben der 41 | Barney selbst fasst rückblickend zusammen: »Most of those four years were spent making duration experiments with my body in the studio. I was compelled from the start to put my own experience into the things I was making, and my life up to that point was dominated by athletics. I realised that through those experiences I had an ability to use my body as a tool toward a creative end, and if my body could belong to a sculpture-making language, as artists like Beuys had proven, then this crossover into the studio would feel very natural to me. I came to the understanding that the competitive athlete has the ability to be simultaneously inside and outside of their body. They have the ability to perceive the field in plan, section, and elevation as they move through it.« Zitiert nach: »A Dialogue on Blood & Iron: Matthew Barney and Arthur C. Danto on Joseph Beuys«, Modern Painters, September 2006. Eine systematische Studie zum Begriff der künstlerischen Übung, welcher unter den Grundbegriffen der Ästhetik noch kein selbstständiges Lemma führt, ist in Vorbereitung: Hille, Christiane: Askesies of Art-Making, voraussichtlich 2015. 42 | »In the suggestion that sport is a form of artistic work, Barney exchanges artistic expression for the feat of strength per se.«; zitiert nach: Spector, Nancy: »Only the Perverse Fantasy Can Still Save Us«, in: Nancy Spector (Hg.), Matthew Barney: The CREMASTER Cycle, Ausstellungskatalog, New York: 2002, S. 2–91, S. 7.

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gängigen Übersetzung von restraint als »Einschränkung, auf das Zeichnen angewandt«43 sowohl die zeichnerische Darstellung des Eingeschränktseins, als auch die vom Zustand der Einschränkung ausgehende Anziehung anspricht, wie sie wiederum zu deren freien Wahl, also dem Heranziehen der Einschränkung führen kann. 44 Die ungeachtet des grammatischen Fehlschlusses dominante Übersetzung des Verhältnisses der Einschränkung als adverbial zum Akt des Zeichnens erklärt sich freilich aus dem Aufbau der ersten Performance in der Serie – Drawing Restraint 1 – in der der Künstler sich ein mit dem Boden verbundenes elastisches Band wie ein Geschirr um beide Oberschenkel schlang, welches die Zielbewegung seines Körpers in Richtung des Zeichengrundes an Decke und Wänden hemmte). Mit einer je anderen Konstruktion der Hemmnis thematisieren die Performances von Drawing Restraint 1–15 die durch den Akt des Zeichnens an den Künstler gestellte physische und psychische Herausforderung. Sie deshalb im Sinne eines diesen Hindernissen entgegen gerichtetes Krafttrainings zu deuten, dessen Effekt die Arbeit an der physischen Erscheinung des Künstlers betrifft, wie es Julia Gelshorn jüngst vorgeschlagen hat, griffe dennoch zu kurz.45 Eine solche Arbeit am künstlerischen Selbst – als welches auch die plastische Verfasstheit der eigenen Gestalt angesprochen ist – ließe sich zwar ohne weiteres als Prozess der Formbildung an den Aktivitätskomplex künstlerischen Tuns anschließen. Doch zielen die in der Performance-Serie eingerichteten Hindernisanordnungen ja gerade nicht auf einen 43 | Veranschaulichen ließe sich dieser Zusammenhang etwa im Hinweis auf die von Leonardo da Vinci betriebene Praxis des Zeichnens mit dem Stahlgriffel auf wächsernem Untergrund, welche meines Erachtens noch nicht eingehender befragt wurde. 44 | »Mit anderen Worten umfasst ›drawing restraint‹ gleichermaßen die Erschwernisse der Kunst, das physische und psychische Hindernis und auch die perverse oder masochistische Begierde danach.« Joselit, David: »Matthew Barneys Drawing Restraint«, in: Eckhard Schneider (Hg.), Mythos: Joseph Beuys, Matthew Barney, Douglas Gordon, Cy Twombly, Bd. 2, Köln: 2007, S. 81–83. 45 | Gelshorn, die diese Überlegungen im Rahmen eines Aufsatzes formuliert hat, der Barney nur als ein Beispiel in einer Reihe von vier Künstlern nennt, deren Arbeitsprozesse sie bespricht, deutet den im CREMASTER-Zyklus dargestellten Formprozess – ungeachtet der Genese des Phänomens aus der Ästhetik des camp – als bodybuilderisches Selbstportrait des Künstlers. Vgl. Gelshorn, Julia: »Creation, Recreation, Procreation. Matthew Barney, Martin Kippenberger, Jason Rhoades, and Paul McCarthy«, in: Wouter Davidts/Kim Paice (Hg.), The Fall of the Studio. Artists at Work, Amsterdam: 2009, S. 141–161.

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mimetischen Akt des Formerreichens als darstellerischer Angleichung an das Formideal eines gegebenen Körperbildes, sondern bedienen vielmehr ein leistungsgerichtetes Verständnis des Sich-in-Form-Bringens beziehungsweise In-Form-Haltens im Sinne einer endogenen Konversion des gewöhnlichen Körpers zu jenem des ihm im Sinne der Athletik überlegenen Körpers des Künstlers. Nicht Leistung, sondern Form ist der Fetisch des Bodybuilders. Seine Trainingsleistung zielt auf den ästhetischen Effekt eines sichtbaren Zuwachses an Muskelmasse. Im Gegensatz dazu findet die Leistung, welche Barney in der montierten Hemmnis seines künstlerischen Ausdrucks zu steigern sucht, ihren Sinn in sich selbst. Barneys Studioübungen formieren sich zu einer Folge experimenteller Befragungen dem Körper des Künstlers topisch zugeschriebenen schaffenden Kraft (vivacità), die sich, im Sinne der Entelechie, durch die Übung in einen Zustand der Überhöhung bringen lässt.46 Als Konversion zum Können erschließt die Übung jenen Raum, innerhalb dessen sich die Kunst in der Transformation des ontologischen Nichts zu einer perfektionierten Aktion ihre selbstbegründete Existenz sichert. Im bildkünstlerischen Übungswesen der west-europäischen und hier erst einmal italienischen Renaissance institutionalisierte sich dieser Geltungsraum im Trainingskomplex der Akademie, welche das Prinzip geistig-physischer Exerzitien auf die Schulung des Künstlers übertrug und die ästhetische Zielgerichtetheit künstlerischen Schaffens gemäß eines eigenen, für die Außenwelt nicht gültigen Regelkanons steigerte. Im Durchlauf des dieserart festgeschriebenen Anforderungskatalogs trat die Figur des Künstlers in einen nicht nur theoretischen, sondern durchaus auch physischen Wettbewerb ein, welcher die Vollendung seiner Anlagen in der Steigerung seiner Anstrengungen herbeizuführen suchte. Diese letztlich der monastischen Praxis entlehnte übende Selbstgestaltung des Künstlernovizen ist einer Steigerungsarbeit verpflichtet, welche dem der Herausforderung zugewandten Lebensführung des Leis46 | Auf den Nutzen der sportlichen Ertüchtigung für die Erhaltung der Lebenskräfte des Körpers weist bereits Alberti hin: »Dicono e’ fisici, e’ quali lungo tempo hanno con diligenza notato e conosciuto quanto ne’ corpi umani vaglia, l’essercizio conserva la vita, accende il caldo e vigore naturale, schiuma le superflue e cattive materie, fortifica ogni virtù e nervo. Ed è l’essercizio necessario a’ giovani, utile a’ vecchi; e colui solo non faccia essercizio, el quale non vuole vivere lieto, giocondo e sano.« Alberti: Libri della famiglia, in: Cecil Grayson (Hg.), Opere volgari, 3 Bde., Bari: 1960–1973, Bd. 1, S. 48f. Auch diese dem Gesundheitserhalt dienliche Praxis des Sports ist von der Steigerungsarbeit einer Athletik zu unterscheiden.

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tungssportler verwandt ist.47 Wenn Barney sich in den Videoübungen der Drawing-Restraint-Serie ausgerechnet der Gattung der Zeichnung zuwendet, rekurriert er deshalb nicht allein auf jene Einschreibung der amerikanischen Kunst in die Tradition der west-europäischen Malerei, die Clement Greenberg zuvor durch die von Rosalind Krauss so vehement kritisierte Betonung des zeichnerischen Gestus in das Werk Jackson Pollocks betrieben hatte. Er aktualisiert darüber hinaus das im Cinquecento zur Definition gelangende Konzept des disegno, dessen Ideal mit der Gründung der Accademia delle Arti del Disegno 1563 in Florenz an den Anfang jeden Strebens nach Meisterschaft in der Kunst gestellt wurde und im Verlauf eines zeitintensiven Prozesses zur diskursiven Konditionierung gedachten Beziehung von Hand und Auge durch die motorische Übung zu erreichen ersucht wurde. Die in der Regel unter Ausschluss eines Publikums durchgeführten Video-Performances der Drawing-Restraint-Serie erheben neben der im fertiggestellten Kunstwerk traditionell der Anschauung vorenthaltenen, ihm aber immer vorausgehenden Mühe und Anstrengung des künstlerischen Prozesses auch die Triebhaftigkeit des Begehrens als tieferen Antrieb dieses Prozesses zum Thema. Ins Bild gesetzt wird hier jener obsessive Drang zum Zeichnen, den Vasari bereits bei Giotto als spezifische Qualität des qua Geburt zur Kunst befähigten Ingeniums ausmacht und der sich motivisch bis zur Vita Michelangelos verfolgen lässt, in Hinblick auf welche er durch Francisco de Hollanda schließlich zur einer allgemeinen Arbeitslust (trabalho) weitergedeutet wird.48 Barneys wiederholte Aussage, dass der CREMASTER Cycle mit der Entwicklungsgeschichte einer Idee befasst sei, rekurriert letztlich auf die metaphorische Verschleifung der Schöpfung der Welt und jener des Kunstwerks und 47 | Im Cinquecento gehört die Anempfehlung anhaltenden Fleißes (diligentia), harter Arbeit (labor), und anderweitigem Verzichts zum Regelkorpus künstlerischer Traktate, so etwa bei Alberti oder Lomazzo. Zur der sich in diesem Zusammenhang schärfenden Kontur der Unterscheidung von fatica mentale und fatica corporale bes. bei Vincenzo Borghini (Selva di notizie), vgl. Feser, Sabiene: »Geschmiedete Kunst – Vasaris selbsternanntes Erstlingswerk ‚Venus mit den drei Grazien’ im Kontext seiner Autobiographie«, in: Katja Burzer et al. (Hg.), Le Vite del Vasari. Genesi, topoi, ricezione – Die Vite Vasaris. Entstehung, Topoi, Rezeption, Venedig: 2010, S. 53–66; und Mendelsohn, Leatrice: »Simultaneität und Paragone. Die Rechtfertigung der Kunst im Auge des Betrachters«, in: Hannah Baader et al. (Hg.), Im Agon der Künste. Paragonales Denken, ästhetische Praxis und die Diversität der Sinne, München: 2007, S. 294–334. 48 | Francisco de Hollanda, Quattro dialogos da pintura antigua, Rom, 1538.

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deren kunsttheoretische Rückführung auf den Begriff ›disegno‹ als Prinzip der Grundlegung der Künste in der Praxis der Zeichnung. Mehr noch: In der künstlerischen Arbeit Barneys gelangt der frühneuzeitliche Begriff zu einer auf die Leistungsfähigkeit der Abbildungs- und Imaginationsverfahren der neuen Medien akzelerierten Darstellung. Dabei reanimiert Barney den Nobilitierungseffekt, mit dem der disegno-Begriff zuerst den Bildkünsten der Renaissance eine ethische Eigenleistung im Sinne eines göttlichen Urplans zugesprochen hatte.49 Barneys in den beiden Raumkammern der Kleinluftschiffe untergebrachte Idee ist als ein Derivat dieser 1547 im Rahmen eines Arguments gegen den obsolet gewordenen Diskurs des Paragone und für die Ranggleichheit von Malerei und Skulptur von Benedetto Varchi als dem künstlerischen Ausdruck des disegno unmittelbar vorgängig identifizierten idea beziehungsweise invenzione zu sehen. Gelang es mit der Einführung des disegno-Begriffs, den Prozess, innerhalb dessen Absicht, Idee und Intention des künstlerischen Formfindens zu einer nachfolgenden Ausführung des Formvollzugs im praktischen zeichnerischen Vermögen führten, kunsttheoretisch zu fassen, verblieb doch eine Unterscheidung der beiden innerhalb dieses Denkmodells des Schaltkreises von Körper und Geist zusammengeführten Komponenten als Theorie, die den Widerstand der Auseinandersetzung mit den Naturgesetzen erst zu ahnen begann, im Analog der Sprache.50 Auch Benvenuto Cellinis Spezifizierung des disegno in zweierlei Art51 und die daraus resultierende Differenzierung des Begriffs in den Wirkzusammenhang von 49 | Dieser Zusammenhang zuerst in Antonfrancesco Donis Disegno (1549): »Il primo disegno è un’invenzione di tutto l’universo, immaginato perfettamente nella mente della prima cause, innanzi che venisse all’atto del rilievo e del colore«. Antonfrancesco Doni, Il Disegno, Venedig 1549, 8r. 50 | »… perché da questa cognizione nasce un certo concetto e giudizio, che si forma nella mente quella tal cosa che poi espressa con le mani si chiama disegno, si può conchiudere che esso disegno altro non sia che una apparente espressione e dichiarazione del concetto che si ha nell’animo, e di quello che altri si è nella mente imaginato e fabricato nell’idea«. Vasari, Giorgio: Le vite de’ più eccellenti pittori scultori ed architettori, hg. v. R. Bettarini und P. Barocchi, Bd. 1, (Testo), Florenz: 1966. Zum disegno immer noch grundlegend: Kemp, Wolfgang: »Disegno. Beiträge zur Geschichte des Begriffs zwischen 1547 und 1607«, in: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft, Bd. 19 (1974) S. 219–240. 51 | »Il Disegno è di due sorte, il primo è quello che si fa nell’Imaginativa, et il secondo tratto da quello si demostra con linee.« Benvenuto Cellini: Handschriftliche Erläuterung zum zeichnerischen Entwurf eines Siegels für die neugegründete

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disegno interno und disegno esterno in den ersten kunsttheoretischen Vorträgen Federico Zuccaris an der 1593 in Rom gegründeten Accademia di San Luca reichten über diese Modellhaftigkeit nicht hinaus.52 Das in zahlreichen seiner Interviews immer wieder zum Leitgedanken seines künstlerischen Tuns ernannte Modell der Hypertrophie, als dem Begriff für den Wirkzusammenhang der durch den Motorkortex veranlassten Produktion von Muskelmasse, verdeutlicht den Kunstbegriff Barneys im traditionellen Sinne als Wissenschaft von der Natur, als deren früheste Studien zur Physiologie des Zeichnens die anatomischen Studien Andreas Vesalius gelten dürfen.53 Das Größenwachstum des Muskelgewebes, welches der Begriff der Hypertrophie benennt, resultiert aus einer Leistungszunahme der durch die Erregungsübertragung der Nerven- auf die Muskelfasern stimulierten Biosynthese und stellt damit gleichsam das organische Zeugnis der Erregungsübertragung zwischen Nerven- und Muskelfasern dar, deren Steigerungsfähigkeit Barney aus dem Kontext seiner sportphysiologischen und medizinischen Vorbildung vertraut ist. Als Handlungsdirektive seiner Performances erlaubt das biochemische Modell dem Künstler, die im frühneuzeitlichen disegno-Begriff auf die Zeichnung verkürzte Sichtbarkeit der Impulsübertragung im Schaltkreis von schöpferischem Geist und agieAccademia del Disegno in Florenz, München, Staatliche Graphische Sammlung, von 1569, zit. nach W. Kemp: Disegno, S. 231. 52 | Vgl. R. Alberti-F. Zuccari, Origine progresso dell’Accademia del Disegno di Roma, in: F. Zuccari, Scritti d’arte, hg. v. D. Heikamp, Florenz 1961, S. 28f. Ausführlicher werden die gleichen Zitate in Zuccaris ›Idea‹ besprochen, s. ebd. S. 200f. Ausführlich zur Disegno-Theorie Zuccaris: Pfisterer, Ulrich: »Die Entstehung des Kunstwerks. Federico Zuccaris L’Idea de’Pittori, Scultori et Architetti«, in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft Bd. 38 (1993), S. 237–268. 53 | »A witness to Vesalius’s 1540 anatomical demonstration reported the benefits of the practice as enumerated by the dissecting physician: ›Observe‹, (Vesalius) said, ›that all muscles take their rise from the bones, beginning from the sinews where their head is, and then ending in tendons or cords they are fastened again to the bones, in order to effectuate voluntary movement‹.« Vgl. Eriksson, Ruben: Andreas Vesalius’ First Public Anatomy at Bologna 1540: an Eyewitness Report by Baldasar Jeseer Medicinae Scolaris …, Uppsala: 1959, S. 88–89. Vgl. auch: Barzman, Karen-Edis: »Perception, Knowledge, and the Theory of Disegno in Sixteenth-Century Florence«, in: Larry J. Fineberg (Hg.), From Studio to Studiolo. Florentine Draftsmanship under the first Medici Grand Dukes, Seattle: 1991, S. 37–48; Carlino, Andrea: Books of the Body. Anatomical Ritual and Renaissance Learning, Chicago: 1999.

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render Hand in eine symbolische Entäußerung zu erweitern.54 Die Stöcke, Bänder, Sprungbretter und Trampoline in den Übungsanordnungen der Drawing-Restraint-Serie dehnen als jeweils prothetische Verlängerungen die körperinnere Spannweite, die der sprachliche Kurzschluss von künstlerischer Idee und ihrer Ausführung impliziert, in das Feld des Sichtbaren aus. Bildgebend exerziert wird hier der Umstand, dass Kunst immer von einer Spannung ausgeht, die der Latenz zwischen ästhetischer Agitation und deren gestischem Ausagieren entspringt. Das elastische Band, welchem Kontraktion als inaktiver Modus grundliegt, versinnbildlicht dies besonders deutlich: Erst im Hinausziehen über seine eigentliche Länge, welche ihn zuvor vom Erreichen des Zeichengrundes zurückhält, vollbringt Barney die physische Aktivierung der im Verborgenen bereitstehenden Direktive und bringt den schöpferischen Impuls zu materiellem Ausdruck. Barneys Performances erweisen sich hier als experimentelle Befragung des dem Epistem des handwerklichen Bildes (techne) entstammenden disegno-Begriffs unter dem Dispositiv der seither vollzogenen Technologieumbrüche bildgebender Verfahren, das heißt der Einführung des technisch reproduzierten und schließlich des digitalen Bildes. Dabei entspricht das Auseinanderfalten der im historischen disegno-Begriff angelegten Unteilbarkeit des künstlerischen Prozesses in separate Phasen der Wahrnehmung – und Darstellung – in die auf den ganzen Körper und seine Situation im Raum ausgedehnte, experimentell veranschaulichte Aktion, der im 19. Jahrhundert entwickelten und noch heute im Bereich der Sportdokumentation genutzten Technik der Zeitlupe, welche mithilfe einer Hochgeschwindigkeitskamera Bewegungsabläufe, deren Eindrucksgeschwindigkeit die Wahrnehmungsfrequenz des menschlichen Auges übersteigt, auf eine größere Zahl von Einzelbildern extrapoliert.55 Mit dem der physiologischen Chemie 54 | Dieses für die Steuerung der Hand zuständige Netzwerk motorischer Hirnareale umfasst den dorsalen und ventralen prämotorischen Cortex, den superioren und inferioren temporalen Cortex, sowie den posterioren mediotemporalen Gyrus und den inferioren temporalen Cortex. Dazu ausführlich: Binkofski, Ferdinand/Menz, Mareike: »Zur Wechselwirkung zwischen Hand, Hirn und Werkzeug. Der Eureka! Effekt«, in: Thomas H. Schmitz/Hannah Groninger (Hg.), Werkzeug – Denkzeug. Manuelle Intelligenz und Transmedialität kreativer Prozesse, Bielefeld: 2012, S. 263–274. 55 | Die in den Forschungslabors von Étienne-Jules Mareys und Eadweard Muybridges entwickelten Reihenbilder, die bei der Erforschung der Bewegungsvorgänge

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entlehnten Begriff der Hypertrophie schließlich führt Barney ein zelluläres Erklärungsmodell für die der produktionsästhetischen Grundformel des disegno systemimmanenten Wechselwirkung von Idee und Formausdruck ein, welches der computertechnischen Digitalisierung als einer Differenzierung des in seiner Geschlossenheit gleichsam organischen Bildganzen in identifizierbare Minimalbestandteile und des darin vollzogenen medialen Quantensprungs entspricht. Im künstlerischen Nachvollzug dieser Einführung von Differenzen in das Kontinuum des Bildes, welche mit der Erfindung der Digitalkamera vollzogen wurde, überführt Barney das frühneuzeitliche Konzept des disegno in eine digitale Gültigkeit, die dem Betrachter die Historizität von Bewegungsvorstellungen in Erinnerung ruft.56 Barneys den Theoriekomplex des Künstlerwettstreits aufrufender Überbietungsgestus errichtet für jeden der fünf CREMASTER-Videos eine andere Arena: die Rennstrecke der irischen Tourist Trophy auf der Isle of Man (CREMASTER 4, 1995), das Bronco Stadium (CREMASTER 1, 1996), die Proscenium-Bühne der Budapester Oper (CREMASTER 5, 1997), die Rodeo-Arena in der Salzwüste Uthas (CREMASTER 2, 1999), sowie die Saratoga Springs Trabrennbahn in New York State (CREMASTER 3, 2002). Die im freien Handel als DVD erhältliche, CREMASTER 3 ergänzende Sequenz The Order schließlich, verklammert die skopischen Ordnungen von Sportarena und Kunstausstellung in der Rotunde des Guggenheim Museums in New York. Das in Bezug auf den sich über die fünf ›Level‹ der Rotunde des New Yorker Guggenheim Museums erstreckenden Parcours für gewöhnlich mit einem Computerspiel verglichene Videointervall The Order findet seinen konzeptuellen Hintergrund nicht nur im Verweis auf das durch die Präsentation der Fahnen und gegnerischen Akteure als Vorbild einberufene Zeremoniell des Super Bowl. Als Entered Apprentice den gewundenen Pfad zum Olymp erklimmend, betreibt Barney eine Wiedereinberufung des Meisterschaftsprinzips, und dem ihm vorausgehenden Weg der Lehre, als jener die Überbietung des Lehrmeisters vorbereitenden Zeit der Übung. Ihr Gelingen in der Nachfolge des titanengleich anmutenden Richard Serra und ihrer Physiologie helfen sollten, vollzogen die medientechnische Revolution optischer Bewegungswahrnehmung in Form der Chronofotografie, aus welcher ihrerseits zur Erfindung des Kinematografen hervorging. 56 | Mein Verständnis der medientechnischen Revolution der Digitalisierung verdanke ich vor allem der klaren und konzisen Zusammenfassung in Lorenz Engells. Vgl. insb. Lorenz Engell, Playtime: Münchner Film-Vorlesungen, Konstanz: 2010.

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erscheint beinahe unmöglich. Nicht nur Barneys beständiger Hinweis auf das eigene Selbstverständnis als Bildhauer, sondern auch das bislang weitgehend als Form der Hommage beziehungsweise des mythologemen Eklektizismus marginalisierte Schauspiel produktiver Nachahmung und kreativer Anverwandlung, als welches der CREMASTER Cycle verstanden werden muss, gewinnt in diesem Kontext eine neue Bedeutung. Als werktreibend zeigen sich hier die kunsttheoretischen Kategorien von imitatio, aemulatio und superatio, die Barney nicht ohne Ironie, aber mit ungleich größerer Muskelleistung hinter die postmoderne Verabschiedung des schöpferischen Künstlergenies in ein ästhetisches Produktionsmodell zurückführt, welches bereits im Prozess seiner kunsttheoretischen Ausbildung aus dem Abstand eines didaktischen Zugriffs gelesen wurde. Diese im Sinne der superatio zu verstehende Demonstration künstlerischer Überlegenheit wiederholt sich in Barneys Durchsteppen eines der quadratischen Bodenfelder innerhalb des White Cube, welcher einem Überbietungsgestus von Bruce Naumans Videoperformance Dance or Exercise on the Perimeter of a Square von 1968 gleichkommt.57 Das gleichmäßige Schlagen des Chronometers, nach welchem Nauman die Bewegung seiner Beine entlang des mit Klebeband auf dem Boden des Ateliers demarkierten Quadrates ausrichtet, hallt in der vielfach höheren und darüber hinaus rhythmisierten Frequenz des Klapperns der Plättchen an den Steppschuhen Barneys nach, dessen Anspruch auf Virtuosität die Bewegungen Naumans retrospektiv recht ungelenk erscheinen lassen. Barney scheint die Schrittfolgen selbst auszuführen – die hohe Konzentration der noch mit Bedacht ausgeführten Choreografie ist deutlich zu sehen, und ebenso wie bei Naumans systematischer Bewegung um das markierte Feld lässt diese ab einem gewissen Punkt nach: Barneys Wettstreit mit dem Vorbild geschieht – wenngleich zeitversetzt – auf einer realphysischen Ebene, auf welcher der Leistungsvergleich hinsichtlich der jeweiligen Ausdauer und motorischen Agilität einem Messen der schöpferischen Kraft gleichkommt. Dabei erlangt Barneys physische Anstrengung ihre Sichtbarkeit in der unter der zunehmenden Frequenz der Steppschritte immer dünner werdenden Bodenfläche. Letztlich schwillt der schöpferische Furor des Künstlers soweit an, dass das Feld seiner Tatkraft ihm nicht mehr standhalten kann. Im Boden der am Ende eines Piers über der Küste der Isle of Man errichteten Hütte entsteht ein Loch, durch welches hindurch der 57 | Zum Topos der superatio ausführlich: Pochat, Götz: »Imitatio und Superatio in der bildenden Kunst«, in: Paul Naredi-Rainer (Hg.), Imitatio. Von der Produktivität künstlerischer Anspielungen und Mißverständnisse, Berlin: 2001, S. 11–47.

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Künstler mehrere Meter tief in das Wasser hinabfällt. Das Raster des weißen Bodens insinuiert dabei den Aktionsort des Künstlers als jenen ästhetisch entleerten Raum der interessenlosen Reinheit, den die historischen Avantgarden für sich erbaut zu haben glaubten, und findet im karikierten Zitat des für Jackson Pollock sprichwörtlich gewordenen Bildes vom Brechen des Eises gleich noch ein Sinnbild, das der Aktivität des Künstlers in diesem Raum einen Anschein von historischer Tragweite verleiht. Gemäß des Greenbergschen Mythos von der amerikanischen Nachfolge des französischen Impressionismus durch den Abstract Expressionism der New York School, zählen sowohl Pollock wie auch Newman zu der letzten Generation der sich im Prinzip der superatio übenden Künstler des amerikanischen 20. Jahrhunderts. Nach ihnen formulierte sich mit der Anti-Form-Bewegung der 1960er Jahre die endgültige Absage an die vorgefasste Form, und die durch ihre künstlerische Registrierung vollzogene Bestätigung der in den traditionellen Gattungshierarchien vorformulierten Ordnung dieser über ihr Material. Der Herausbildung der im Begriff der Process Art verzeichneten, formbefreiten Artikulation von Skulptur und Installation korrelierte eine Desystematisierung des künstlerischen Ausbildungsbetriebs.58 Mit ihr einhergehend, verschob sich der in den Lehrklassen der Kunstschulen angezeigte Werkbegriff von einem Verlangen nach dem Erarbeiten eines die Grenzen des eigenen Könnens überdehnenden Meisterwerks, als dem Kumulativ vorhergehender Übung, erlernter Technik und investierten Fleißes, auf einen Begriff des Werks als dem unabgeschlossenen Prozess der vor allem im sprachlichen Diskurs erörterten, andauernden Tätigkeit.59 Happenings wie Yvonne Rainers The Mind is a Muscle, welches die Künstlerin an drei Abenden im April 1968 im New Yorker Anderson Theater in Zusammenarbeit mit Becky Arnold, William Davis, Gay Delanghe, David Gordon, Barbara Lloy, Steve Paxton und Harry De zur Aufführung brachte, waren darauf ausgerichtet, die physische Realität des Körpers, »its actual

58 | Zur Wahrnehmung dieser didaktischen Veränderung mehr als Verlust von Orientierung denn als Gewinn von Freiheit vgl.: Elke Bippus/Michael Glasmeier (Hg.), Künstler in der Lehre. Texte von Ad Reinhardt bis Ulricke Grossarth, Hamburg: 2007. 59 | Vgl. Howard Singerman: Art Subjects. Making Artists in the American Universities, Berkeley: 1999.

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weight, mass and unenhanced physicality« zur Ausstellung zu bringen.60 Während Rainer ausdrücklich darauf bestand, dass vor Beginn der Performance und während der Pausen zwischen den einzelnen Sequenzen, Getränke und Knabbereien an das Publikum verkauft wurden, um damit die Entgrenzung ihrer künstlerischen Arbeit in die Domänen der Unterhaltungsindustrie zu verdeutlichen, zeichneten sich ihre für das Geschehen auf der Bühne gedachten Anweisungen durch besondere Monotonie und visuelle Simplizität aus. Rainers The Mind is a Muscle kommt wegen des darin experimentell beleuchteten Verhältnisses von mentaler und körperlicher Arbeit eine besondere Stellung im Diskurshorizont der Arbeiten Barneys zu. Bereits Rainer, die während ihres Studiums an der Martha Graham School of Dance eine athletische Bildung ihres Körpers erwarb, beschäftigten die Auswirkungen körperlicher Trainingsroutinen auf die Bewegungen des Geistes.61 The Mind is a Muscle widmete sich einer künstlerischen Befragung des Austauschprozesses zwischen der ästhetischen Vorstellung und ihrer materiellen Umsetzung, zu der Barneys psychophysische Untersuchung des Zusammenspiels von geistigem Formwillen und manueller Formentäußerung in klarer Tradition steht. Während jedoch Rainers »unhurried repetition« funktionsenthobener Bewegungen – wie das vermeintliche Heben oder 60 | Zitiert aus der einseitigen konzeptuellen Anweisung für The Mind is a Muscle, in: Tulane Review 10/2 (1965), S. 178. Alle Grundmotive des abendfüllenden Ereignisses kehren, wenn auch in veränderter Form, in den Filmen des CREMASTER-Zyklus wieder: die Dreierfigur von Trio A und Trio B in den Fairies des CREMASTER 4; Harry De Dios Auftritt als Magic-Man in der Figur des Harry Houdini im CREMASTER 2 und 5; die galoppierenden Pferde der sechsten Szene von The Mind is a Muscle auf Barneys geisterhafter Rennbahn in CREMASTER 3; die filmische Einblendung der mit dem Kicken eines Volleyballs befassten Füße (Footfilm beziehungsweise Volleyball von 1967) und die dazu auf der Bühne des Anderson Theaters verschiedene Formationen bildenden Tänzer im CREMASTER 1; die Steppsequenz in Rainers Szene 8 in jener des Laughton Candidate im CREMASTER 4. 61 | In frühen Performances, in denen Rainer durch die farbliche Angleichung von Körper und Gesicht, deren ästhetische Differenz zu nivellieren suchte, ging es der Künstlerin in erster Linie um eine Umkehrung der traditionellen, im klassischen Tanz gegebenen Hierarchie zwischen dem der Kontrolle durch den Geist untergebenen Rumpf, und dem dessen Mühen in stets entspannter Mimik verbergenden Gesicht des Tänzers umzukehren. Vgl. Rainer, Yvonne: A Woman who … Essays, Interviews, Scripts, Baltimore: 1999, S. 64.

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Stoßen von etwas – dem industriell beschleunigten Konsumbedürfnis die symbolische Zehrung durch den produktlosen Produktionsprozess entgegenzusetzen suchten, richtet sich die Barneys Werk entnehmbare Kritik am Ford’schen Modell der Massenproduktion gegen die mit ihm verbundene Einschränkung von Qualität und Varianz.62 Geriet bei Rainer die Darstellung von Anstrengung zum ästhetischen Mittel für den Hinweis auf die fehlende Anerkennung der durch automatisierte Fertigung unkenntlich gewordenen Arbeitsleistung der anonymen Mehrheit, macht Barney den tatsächlichen physischen Leistungseinsatz – zu welchem auch das Akquirieren enormer Kapitalmittel für die Realisierung hoch anspruchsvoller Produktionen zu rechnen ist – zur Voraussetzung und mitunter zum eigentlichen Gegenstand der ästhetischen Äußerung. Sein Verlangen nach dem Höhertreiben der Herausforderung, nach dem Selbstbeweis und der Steigerungsarbeit münden im Anspruch auf eine elitäre Wertschöpfung, die das künstlerische Tun als Ausnahmeleistung und Autorschaft als Mittel der Individuation reklamiert. Barneys wortlose Demonstration physischer Tatkraft (activitas) stellt der Maxime einer rein konzeptuellen Künstlerschaft, die ihre Wirkung aus der Inszenierung intellektueller Aktivität generiert, das Heldenbild einer künstlerischen Athletik entgegen, die ihre Aufgabe im Streben nach einem die Grenzen des eigenen Könnens überdehnenden Meisterwerk als Kumulativ vorhergehender Übung, erlernter Technik und erbrachter Mühe sieht. Der Zyklus betreibt die Rückkehr zu der Frage nach der sinnlichen Präsentation der absoluten Idee, für deren Darstellung auch nach dem Ende der Geschichte der Kunst das mit dem Gründungsmythos befasste Epos die Gattung der Wahl bleibt. Die nach dem Abtritt der Figur als Ort der Farbe (khroma) zurückgebliebene Fläche der Malerei wurde als Arena zum territorial gesonderten und sozial evaluierten Grund eines medial erweiterten, vermeintlich unbeschrittenen Feldes künstlerischer Produktion, auf welchem sich der Künstler einzutragen aufgefordert sah. In den Arbeiten Matthew Barneys findet sich diese Strukturanalogie von Bild- und Sportfeld bereits 1991 mit der Arbeit Stadium (Abb. 12) erstmals thematisiert. Ihre in den fünf Filmen des CREMASTER vorgenommene Systematisierung vor der Folie der amerikanischen ‚Postmoderne’ abstrahiert das Feld der Kunst als den für die Selbstbehauptung des Künstlers freigehaltenen Grund, auf welchem sich dieser dem Urteil des Betrachters stellt. Dabei wird sinnfällig, dass die vormals auf die Entgrenzung des künstlerischen Feldes in den Raum des Betrachters, und mithin auf die Angleichung des Status von Betrachter 62 | Vgl. Rainer, Yvonne: Work 1961 – 73, New York: 1974, S. 51.

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und Künstler angelegte Symbolform der Arena, als historisches Anschauungsmodell vielmehr der agonalen Grundstimmung von Künstlerschaft zu neuer Deutlichkeit verhilft. Dem Sinnbild des Ausnahmeathleten folgend, der auf dem Gridiron des American Football Feldes den Ausdruck absoluter Individualität mit jenem des allgemeinen Ideals vereint, stellt sich Barney die Aufgabe, die Rückkehr des von der offiziellen Ideologie der sogenannten Postmoderne lange verabschiedeten Künstlerhelden in der eigenen Person zu vollziehen, in dessen Individualität sich die Gestalt (eidos) der Kunst offenbart. Die Referenz auf den sportlichen Wettkampf führt einen der Soziologie entnommenen, relationalen Feldbegriff in die Phänomenologie künstlerischer Produktion ein, welcher dem Gedanken einer gleichberechtigten Partizipation von Betrachter und Künstler im legendenfreien Ereignisraum der Kunst, das im skopischen Regime der Arena eingeschriebene Hierarchiegefälle zwischen dem als Helden agierenden Athleten, und dem seine Leistung mythisch bezeugenden Zuschauer zur Seite stellt. Die Arena gehört der stets im Bodenlosen ausgeführten Formtätigkeit des Künstlers, der mit den Mitteln der akrobatischen Athletik (ákros = höher, und baínô = gehen) das für den Betrachter nur mit den Augen erreichbare Feld der ästhetischen Produktion erklimmt. Der Betrachter bleibt hier notwendig am Rand des Feldes zurück.

Abb. 11: Matthew Barney, Stadium, 1991

Linie, Kreis, Polygon: Matthew Barneys CREMASTER Cycle aus narratologischer Sicht Miriam Drewes

Der CREMASTER Cycle von Matthew Barney hat seit seiner Fertigstellung im Jahr 2002 in den Kunstwissenschaften Publikationen nach sich gezo gen, die sich mit inhaltlichen Aspekten auseinandersetzen und wenigermit strukturellen oder spezifisch ästhetischen. Auf den ersten Blick ver wundert diese etwas einseitige und zudem eher geringe Bereitschaft zurAuseinandersetzung mit dem opus magnum eines Künstlers, der als einer der bekanntesten Vertreter amerikanischer Gegenwartskunst gilt. Doch auf den zweiten Blick wird man einer Strategie gewahr, die nicht ganz unschuldig an diesem zunächst erstaunlichen Umstand ist. Gemäß den Gepflogenheiten des Kunstbetriebs verfügte Barney ein Vorführungsverbot außerhalb des Ausstellungs- beziehungsweise Filmfestivalkontexts. Von dem Filmzyklus sind lediglich 20 Kopien in Umlauf, deren Besitz sich auf wenige Galerien und Museen beschränkt. Die Strategie der Begrenzung ist damit nicht als Versehen zu bewerten, sondern als Teil des künstlerischen Konzepts, das ei ner ansonsten entauratisiert geltenden Kunstform, wie es der Film aufgrundseiner Reproduzierbarkeit nun einmal ist, seine Aura qua Beschränkung zurückverleihen will. Genau diese führt im Kunstbetrieb nun aber zu jenen ökonomischen Erhitzungen, die wiederum nicht nur für die Wertsteigerung von Künstler und Werk verantwortlich gemacht werden, sondern bisweilen auch für den Verfall des ästhetischen (Mehr-)Werts.1 Dass nun ausgerechnet 1 | Vgl. Alberro, Alexander: »Introduction. The Way out Is the Way in«, in: Alexan der Alberro/Sabeth Buchmann (Hg.), Art after Conceptual Art, Cambridge, MA:2009, S. 13–25.

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die Strategie der Begrenzung einen dieser entgegengesetzten, jedoch ebenso wirksamen Effekte hervorgebracht hat, ist einer Parallelentwicklung der letzten Jahrzehnte zu verdanken: Wie andere urheberrechtlich geschützte Werke ist auch Barneys Zyklus im Internet zu finden und somit für jeden Interessenten frei zugänglich. Die Demokratisierungsbewegungen des Internets stehen hier dem aristokratischen Anspruch des Künstlerschöpfers – oder auch dem ökonomischen des Kunstbetriebs – gegenüber. Zugleich dürfte allerdings geltend gemacht werden, dass genau diese Entwicklung dem Künstler entgegenkommt, denn nur durch die weltweite Verbreitung seiner Werke via Internet kann er sich einer umfassenden Rezeption auch gewiss sein. Zwei Marketingstrategien wirken also wechselseitig effizienzsteigernd: Die Begrenzung erhöht Barneys Marktwert im Kunstbetrieb, die Verbreitung im Internet seinen Bekanntheitsgrad. Man könnte sogar so weit gehen, zu sagen, dass die ursprünglich (rezeptions-)ästhetische Intention der Multiperspektivität des Zyklus’ über das Internet noch erweitert wurde und damit Barneys umfassenden Anspruch erst zu sich selbst kommen ließ. Das Narrativ einer kunstwissenschaftlichen Einordnung hat sich also über Barneys ursprüngliche Absicht hinweg zugunsten einer in der Tat multiperspektivischen Wahrnehmung und somit Popularisierung verschoben.2 Wie und auf welchen unterschiedlichen Ebenen die damit verbundenen jeweiligen Narrative gefasst sind, soll Gegenstand der folgenden Ausführungen sein.

2 | Die Popularisierung produzier te schließlich auch unterschiedliche Wahrnehmungen auf Kommentarebene: Zu den zunächst traditionellen und eher weihevollen Rezensionen im Printbereich gesellten sich schließlich auch parodistische Filmkommentare, die für das Internet produziert wurden. Vgl. Kothenschulte, Daniel: »Kino nach allen Regeln der Kunst«, in: Frankfurter Rundschau vom 06.10.2005, S. 26. Poschardt, Ulf: »Schläge für den Menschenpark«, in: Süddeutsche Zeitung vom 01.10.1999, S. 18. Parodistisch: Der kleine Filmclip, der auf der Plattform Folding Ideas der Website Blip.tv eingestellt wurde. Diese bietet professionellen wie nichtprofessionellen Filmemachern die Gelegenheit, selbst gestaltete Filmkommentare zu kulturellen Themen jeglicher Art in das Netz zu stellen. Vgl. http://blip.tv/foldablehuman/the-cremaster-cycle-part-1-5492894 (04.09.2012).

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M e taerz ählungen An dieser Stelle soll nun weniger eine Suche nach den Ursachen für das oben beschriebene Phänomen der raren Sekundärschriften betrieben werden. Von Interesse ist im vorliegenden Kontext vielmehr die Herausforderung, die Matthew Barneys Zyklus an das wissenschaftliche Konzept der Narratologie stellt und umgekehrt, ob und wie dieses auf den Zyklus überhaupt anwendbar ist. Denn abgesehen davon, dass die Narratologie lange Zeit hauptsächlich im Bereich der Literatur- und Filmwissenschaft zur Anwendung kam, wurden darüber hinaus in erster Linie jene Erzählformen untersucht, die dem ›klassischen Geschichten-Erzählen‹ zuzuordnen sind, als Veranschaulichung fiktiver oder im Falle der Geschichtsschreibung tatsächlicher Ereignisse. Erforscht wurden also jene Erzählweisen, die den eng gefassten Bereich einer kausallogischen, linearen und damit kohärenten Handlungsfolge nicht verlassen. Doch genau dieses herkömmliche Verständnis von Narration erfüllt der CREMASTER Cycle in mehrerlei Hinsicht nicht: Da er weder eindeutig der bildenden Kunst noch der Performance Art oder dem experimentellen Film und schon gar nicht dem ›narrativen‹ Kinofilm3 zuzuordnen ist, sondern im Gegenteil all diese Medien mehr oder weniger offensichtlich integriert, ist auch die Narration nicht länger aus einer einzelnen Perspektive – etwa aus rein linguistischer oder visueller – zu ermitteln. Zwar könnte man die Filme der Kategorie des Expanded Cinema zuordnen. Hinzu kommt, dass Barney in den Filmen zu sehende Objekte, Zeichnungen und Fotografien sowie weitere Ausstellungsmaterialien als Teile des Gesamtzyklus bestimmt und diese deshalb auch als Ansichtsobjekte mit den Filmen zusammen an den jeweiligen Ausstellungsorten präsentiert hat. Diese Hybridität ist ein ›narrativer‹ Sonderfall und am ehesten noch der Installation Art zuzuordnen. Dabei gibt der Begriff ›Installation Art‹ nicht nur Aufschluss über die Ausdrucksweisen einer Kunstform, die sich seit den 1970er Jahren in den westlichen Industrieländern im Grenzbereich zwischen den Künsten entwickelt hat. Die diskursgeschichtliche Perspektive verweist darüber hinaus auf eine Metaebene, die wiederum ein Index für eine umfassendere Kontextualisierung ist: Es zeigt sich, dass die angesprochene Grenzüberschreitung sowohl auf Objekt- wie auf Diskursebene anzutreffen ist und damit den narrativen Modus ebenso betrifft wie den

3 | Die Analyse des narrativen Films hat David Bordwell entscheidend geprägt. Vgl. Bordwell, David: Narration in the Fiction Film, Wisconsin 1985.

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inhaltlichen, mithin den (bild-)semantischen und schließlich auch den der Methodik der wissenschaftlichen Untersuchung, den narratologischen. Zunächst ist die künstlerische Grenzüberschreitung, als deren Exponent Matthew Barney in der gegenwärtigen Publizistik beschrieben wird,4 nichts Ungewöhnliches. Insbesondere die Bezeichnungen ›Transformation‹, ›Immersion‹, ›Transgression‹ und ›Osmose‹, die seit einigen Jahren den Jargon des Wissenschaftsbetriebs beherrschen, weisen hier auf die Attraktivität hin, die das Verlassen herkömmlicher Gattungs- wie Genregrenzen im Bereich der Praxis wie der Theorie gleichermaßen besitzt. Die Frage, die im Folgenden gegenüber einer Beschreibung oder kunsttheoretischen Einordnung der Installation Art von besonderem Interesse sein wird, ist nun aber, ob dem Begriff der Grenzüberschreitung gerade in Kombination mit dem der Narratologie mehr als nur das Zugeständnis an die Brauchbarkeit einer offensichtlich alles erklärenden Metapher abgewonnen werden kann. Sinnvoll scheint es deshalb, zunächst das Begriffsfeld der Installation Art zu skizzieren, das nicht nur eine Beschreibung gattungstranszendierender Kunstformen, sondern immer auch ein (mehr oder weniger verstecktes) Instrumentarium rhetorischer und ideologisch aufgeladener Gebrauchsformeln bereithält. Auf dem Weg zur Abstraktion der Künste, der Integration jeweils neuer Techniken und dem Verlassen ihrer jeweiligen Bezugsräume, wie Museum, Theater und Kino, haben im Verlauf der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch herkömmliche Beschreibungskategorien ihre Gültigkeit eingebüßt. Spätestens seit den 1970er Jahren lassen sich etwa Videoarbeiten von Nam June Paik, Body-Performances von Marina Abramovic, die Sound- und Video-Arrangements von Janet Cardiff bis hin zur Site-specific Art von Thomas Hirschhorn weder allein aus kunsthistorischer noch aus theater- oder filmwissenschaftlicher Perspektive zureichend erörtern. Die Verabschiedung des Repräsentationsparadigmas sowie die Unzulänglichkeit gattungsspezifischer Analysemethoden haben schließlich zur Entwicklung neuer methodischer Kategorien geführt. Das vieldiskutierte Konzept der Performativität etwa hat seither diesen Verlust von Eindeutigkeit auf gattungsspezifischer Ebene ebenso wie bei der Subjekt-Objekt-Relation zumindest teilweise kompensiert. Dort, wo man nicht länger von linearen, kohärenten und damit semantisch plausiblen Erzähl- und Darstellungsweisen sprechen konnte, hat es mit der Rede von der ›Produktion von Präsenz‹ oder der Entwicklung 4 | Vgl. Biesenbach, Claus: »Transformer. Performance-Spezial: Matthew Barney«, in: Monopol – Magazin für Kunst und Leben o. Jg. (2009), H. 11, S. 28–41.

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selbstreflexiver beziehungsweise -referentieller Erzähl- und Darstellungsweisen, die nun als überkommen geltende binäre Logik einer im weitesten Sinne mimetischen Kunst ersetzt. Ebenso unscharf wie, gleichwohl aber nicht weniger ideologisch als der Begriff ›Performance Art‹,5 vermochte auch die Bezeichnung der von dieser nicht kategorisch zu unterscheidenden ›Installation Art‹ zahlreiche der hier nur kursorisch erläuterten Entwicklungen zu bündeln. Während die ›Performance Art‹ primär körperzentrierte Aktionen nichtrepräsentationaler Kunst umfasst, fallen unter den Begriff ›Installation Art‹ auch solche Kunstproduktionen, die mit der Abwesenheit des Körpers und damit häufig mit statischen Arrangements arbeiten. Als Spezifikum der Installation Art gilt mithin deren Ortsgebundenheit, ihre situationsbezogene Repräsentation, die auch das jeweilige Umfeld maßgeblich als (rezeptions-)ästhetische Kategorie miteinbezieht. Weniger in den Typologien und Skalierungen von Installationen als in der auf sie bezogenen ästhetischen Theorie beziehungsweise dem (kunst-) philosophischen Kontext lassen sich allerdings auch heute noch pejorative Denkmuster dem Massenmedium Film gegenüber identifizieren. Juliane Rebentisch etwa verortet die kinematografische Installation im Gegenentwurf zum massentauglichen Kino, das anders als die Installation überall und jederzeit verfügbar sei. Auf Walter Benjamins und Theodor W. Adornos gleichermaßen kulturkritische Einwände Bezug nehmend, schreibt sie: Zwar bleibt diese Form der musealen Auratisierung des Films durch die Installation diesem äußerlich – die technische Reproduzierbarkeit ist im industriellen Medium Film selbst begründet –; jedoch restituiert die Installation gegen diese wenn auch nicht die Qualität der Echtheit bezie5 | Obwohl sich der Diskurs der Performance Art, ebenso wie die auf die historische Avantgarde zurückreichende Praxis, gegen erstarr te Konventionen im Theater wie der bildenden Kunst richtete, trat er selbst bald nicht weniger ›unifizierend‹ auf. So etwa bei Peggy Phelan, die allein im transitorischen nunc stans der Performance eine Durchbrechung petrifizierter Identitäten sieht, oder bei Richard Schechner, der die ›Diffusität‹ der Per formance-Studien als der Ideologiekritik der Performance analoge Strategie begreift. Vgl. Phelan, Peggy: »The Ontology of Performance: Representation without Reproduction«, in: Peggy Phelan (Hg.), Unmarked. The Politics of Performance, New York/London: 1993, S. 146–166. Schechner, Richard: »What Is Performance Studies Anyway?«, in: Peggy Phelan/Jill Lane (Hg.), The Ends of Per formance, New York: 1998, S. 357–362.

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M iriam D rewes hungsweise Originalität, so doch die der auratischen Einzigkeit [Herv. i. O.] des Kunstwerks. Dies gilt selbst dann noch, wenn ein paar wenige Reproduktionen derselben Arbeit zirkulieren: Das durch die kinematografische Installation präsentierte Material ist dem Betrachter nicht anders verfügbar als im Hier und Jetzt seiner aktuellen Installation vor Ort [Herv. i. O.].6

Davon abgesehen, dass gerade solche kinematografischen Entgrenzungstendenzen dazu geführt haben, dass nun auch Installationen außerhalb des jeweiligen Ausstellungsorts im Internet verfügbar sind – wenngleich auch nicht in derselben Rezeptionsanordnung, was im Übrigen für jeden Kinofilm ebenso gilt –, so verweist diese hier aufgerufene Dichotomie – massentaugliches Kino versus singulär präsentische Installation – auf mindestens zwei historisch relevante Diskurstopoi: Erstens wird, wie schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts, das Kino gegenüber dem Exklusivitätsanspruch der Kunst stabilisiert. Zweitens wird auf den Gegenstand der Entgrenzung – die Installation – der Modus scharfer Grenzziehungen – hier narratives Kino, dort Installation – appliziert. Ähnliche Vorbehalte zumindest gegenüber dem narrativen Erzählkino lassen sich auch an anderer Stelle im Diskurs zur Installation finden, die wiederum das Produzieren binärer Deutungsmuster der Kritischen Theorie anzeigen.7 Naturgemäß fallen die skeptischen, durchaus gleichermaßen ideologischen Vorbehalte gegenüber der Installation als Nutznießer filmischer Erzählkunst im kunstwissenschaftlichen Diskurs eher gering aus. Hier 6 | Rebentisch, Juliane: Ästhetik der Installation, Frankfurt a. M.: 2003, S. 183f. 7 | Ursula Frohne, die einen sehr aufschlussreichen Bericht zum Film in der Installation Art bietet, konzediert lediglich dem selbstreflexiven Film, wie sie ihn etwa in Billy Wilders Sunset Boulevard (USA 1950, R. Billy Wilder) ausmacht, ein der Installation ebenbürtiges ästhetisches Verfahren, »[…], denn ähnlich wie Wilders entlarvende Darstellung der Konstruktionsparameter des Films und der Dynamiken des Hollywoodsystems richten die Found-Footage-Installationen die Wahrnehmung auf die Konstruktions- und Wirkungsweisen filmisches Erzählstrukturen und ihrer kontextuellen Rahmenbedingungen. Durch die Linse ihrer verfremdenden Depotenzierung werden die Nahtstellen der filmischen Logik sichtbar, die auch Wilder als Momente der Reflexion einsetzt.« Frohne, Ursula: »Cinema on Display. Film in installativen Konzepten«, in: Henry Keazor/Fabienne Liptay/Susanne Marschall (Hg.), Filmkunst – Studien an den Grenzen der Künste und Medien, Marburg: 2011, S. 57–86, hier S. 57.

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scheint es nur konsequent, dass die andere Seite der Exklusionsrhetorik, die sich mit der Installation Art am weitesten vom Kino, inhaltlich, wie ideologisch, entfernen will, die Sorge betrifft, das Erzählkino könne seiner Spezifik beraubt werden.8 Während die Performance Art also eher einen nun seinerseits traditionellen Gegenentwurf zum konventionellen Texttheater anstrebt, findet die Installation Art ihre Identität in der größtmöglichen Opposition zum narrativen Kino. Schließlich ist es inzwischen auch der Hybridität des Hollywoodfilms zu verdanken, dass derlei Grenzziehungen inzwischen nicht mehr ganz so emphatisch ausfallen wie zur Blütezeit der Kritischen Theorie. Zumindest aber haben sie selbst dank der Entwicklung und Verbreitung neuer Technologien, wie Internet, digitale Aufnahme- und Distributionsverfahren sowie der damit einhergehenden Produktion unterschiedlichster filmischer (Kleinst-)Formate, eine Ausdifferenzierung in sämtliche Subsysteme vom Fernsehen bis zum Handydisplay erfahren, so dass die mit den jeweiligen weltanschaulichen Narrativen einhergehenden Aporien immer unentwirrbarer werden. Nicht zuletzt deshalb sind die oben beschriebenen Diskursphänomene inzwischen auch im Mainstream-Kino und seiner Rezeption angekommen.9

N arr atologien Bezogen auf das Narrativ der Narratologie zeigt sich, dass auch dieses zum Großteil vom oben skizzierten binären Denken geprägt war. Eine solche Entwicklung ist nur konsequent, denn diese Analogie hat schließlich auch mit der umfassenden Zurückweisung linearer, fortschrittszentrierter und 8 | Vgl. Pantenburg, Volker: »Zur Vergangenheit des Kinos in der Gegenwar t der Kunst: Harun Farockis Installationen«, in: H. Keazor/F. Liptay/S. Marschall, Filmkunst (2011), S. 39–56, hier S. 42f. Wie Volker Pantenburg einsichtig macht, schließen an diese Argumentation diverse Binäroppositionen an: »Illusion vs. Illusionsbrechung, Unmündigkeit vs. Souveränität, Manipulation vs. Eigenverantwortung, Passivität vs. Aktivität, anästhetische Betäubung vs. Ästhetische Erfahrung.« Vgl. ebd., S. 44. 9 | Vgl. Maase, Kaspar: »Die ästhetische Würde des Kassenerfolgs. Zum Verhältnis zwischen Mainstream-Diskurs und Massenpublikum«, in: Irmbert Schenk et al. (Hg.), Experiment Mainstream? Differenz und Uniformierung im populären Kino, Berlin: 2006, S. 17-30.

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damit geschichtsphilosophischer Konstruktionsprinzipien sowie binärer Logiken zu tun, die sich insbesondere aus dem Reservoir des poststrukturalistischen Diskurses speist. Sie findet sich dabei gleichermaßen in der Methodik der Literaturwissenschaften wie der Historiografie, nicht zuletzt deshalb, weil beide wechselseitig wichtige Impulse voneinander bezogen haben. Ein Blick auf den Methodenwandel der Geschichtsforschung seit Ende des 19. Jahrhunderts zeigt, dass der Topos der Narration und damit der Darstellungsweise von Geschichte mit Nietzsches folgenreicher Historismuskritik über den weitreichenden Einfluss der Historiker der Schule der Annales – benannt nach der 1929 gegründeten Zeitschrift Annales d’histoire économique et sociale – bis hin zur Integration kulturanthropologischer und ethnologischer Modelle, eine folgenreiche Revision erfahren hat.10 Nicht nur die vielzitierte Absage an die ›großen Erzählungen‹ basiert auf einer kritischen Einschätzung dessen, was unter anderem die (Geschichts-)Wissenschaft bis weit ins 20. Jahrhundert hinein als historisch berichtenswerte (fortschrittszentrierte) Ereigniskette auffasste. Diese betraf vor allem das in der Historiografie zentrale Verhältnis von Ereignis- und Strukturgeschichte: Es geriet in dem Moment ins Ungleichgewicht, als es aufgrund der Kritik an einer sich auf herausragende Einzelereignisse beschränkenden (Politik-)Geschichtsschreibung zur Überbewertung der Strukturen kam. Das Problem dieser Methodik ergab sich dabei in erster Linie aus der scharfen Trennung beider ontologisch, aber auch faktisch schwer zu bestimmenden Kategorien.11 Inzwischen haben auch in der Geschichtsschreibung Begriffe und Metaphern wie ›Dispositiv‹, ›Multiperspektivität‹ oder ›Netz‹ als der neuen Weltwahrnehmung adäquate Beschreibungsinstrumentarien die binäre Logik von Ereignis- und Strukturgeschichte wenn nicht aufgehoben, so doch zumindest relativiert. Zwar stand der Status der Narration in Historiografie und Fiktion somit gleichermaßen auf dem Prüfstand, was dabei aber für die Historiografie die Evidenzgrundlage jeglicher historiografischer Repräsentation bildet, nämlich dass man über einen Grundkonsens dessen, was Realität überhaupt sei, nur

10 | Vgl. Rüsen, Jörn: Zerbrechende Zeit. Über den Sinn von Geschichte, Köln: 2001. 11 | Vgl. Koselleck, Reinhar t: Ereignis und Struktur, in: Reinhar t Koselleck/ Wolf-Dieter Stempel (Hg.), Geschichte – Ereignis und Erzählung, München: 1990 [1973], S. 560–571, hier S. 561.

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philosophisch, nicht aber historisch streiten möge,12 gilt für das Sprechen über das Fiktionale nicht in gleichem Maße. Denn während für die Historiografie die res gestae trotz aller Skepsis gegenüber dem epistemologischen Status empirischer Faktualität nach wie vor die zentrale Bezugsgröße bildet, ist der Referent von Fiktionserzählungen unter Umständen Teil des neu geschaffenen ästhetischen Universums, also der Diegese. Die Bezugsgröße ›Realität‹ ist für die Artefakte möglicherweise eine nur mittelbare Kategorie, was wiederum innerhalb der Narratologie von Fiktionserzählungen zu der der Historiografie zwar verwandten, aber über sie hinausgehenden Methodenvarianz geführt hat. Dabei ist der Vorbehalt gegenüber dem Paradigma der Narration, verstanden als Darstellung einer kohärenten, kausallogischen Geschichte, im Bereich von Fiktionserzählungen mithin zwar nicht mit denselben weitreichenden Effekten, aber nicht weniger vehement ausgefallen.. Schließlich ist auch hier der entscheidende Impuls, die Negation einer auf kausallogischer Ordnung basierenden und daher als unifizierend begriffenen Methodik. Der Verdacht der Manipulation des Rezipienten einerseits und eine moralisch konnotierte Argumentationsstruktur – Kunst als pädagogische wie distinguierende Größe – stellt, wie oben beschrieben, bis heute noch die Basis aller Einwände gegen das Paradigma des Geschichten-Erzählens dar.13 Komplementär zur Krise der Repräsentation führte die Krise der Narration in den Kunstwissenschaften schließlich zu einer Relektüre des Narrationsparadigmas, so dass der Kategorie der Narration nicht länger der Status einer allein illusionsfördernden und damit manipulativen Größe zugeschrieben wird.14 Die Auffassung von Narration als crossmedial phenomenon15 erlaubt es, diese nicht länger als gattungsspezifische – etwa nur lite12 | Die am weitesten von einem derartigen Konsens sich entfernende Position dürfte auf Hayden Whites Kritik am Narrationsparadigma als ontologischem Merkmal von Geschichtsschreibung zurückgehen, die er seinerseits mit der Methodik rhetorischer Stilfiguren als Grundtropen von Historiografie beantwortete. Vgl. White, Hayden: Die Bedeutung der Form. Erzählstrukturen in der Geschichtsschreibung, Frankfurt a. M.: 1990, S. 45. 13 | Vgl. Demand, Christian: Wie kommt die Ordnung in die Kunst?, Springe: 2010, S. 161f. 14 | Vgl. Herman, David: »Introduction: Narratologies«, in: David Herman (Hg.), Narratologies. New Perspectives in Narrative Analysis, Columbus: 1999, S. 1–30. 15 | Vgl. Meister, Jan Christoph/Kindt, Tom/Schernus, Wilhelm (Hg.): Narratology beyond Literary Critisicm: Mediality, Disciplinarity, Berlin: 2005.

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rarischen Texten zugehörige –, sondern vielmehr als gattungsübergreifende Kategorie einzusetzen. Die ehemals oppositionellen Begriffe ›Mimesis‹ und ›Diegesis‹ beziehungsweise ›Darstellen‹ und ›Erzählen‹ werden dabei nicht nur wechselseitig aufeinander bezogen, sondern sind als im hohen Maße komplementäre Konzepte zu begreifen: Der narrative Gehalt rein visueller Darstellungen ist ebenso evident wie der darstellende von erzählerischen Formen.16 Zur Disposition stehen damit jene der Narration als wesenhaft zugeschriebene Kategorien wie die Konsistenz von Zeit und Raum, die psychologisch plausible Charakterisierung von Figuren und schließlich die logische Abfolge von Ursache und Wirkung. Als Basiskategorie von Narration entwarf die oben beschriebene Öffnung des Narrationsparadigmas demgegenüber die temporale Organisation von Einzelereignissen, deren je spezifische Anordnung Anschlussmöglichkeiten an offene oder mit Leerstellen versehene Darstellungsformen bildet.17 Wie Marie-Laure Ryan hierzu treffend bemerkt, versammelt der Begriff ›Narration‹ nicht länger das »conventional story-telling or the production of literary criticism«, sondern vielmehr »the representation of an event or a series of events«.18

N arr ative R äume Setzt man als Basistheorem von Narration nun die Organisation einer Reihe von Ereignissen voraus, so erweist sich der Begriff als durchaus anschlussfähig für all jene Artefakte, die sich, wie Barneys CREMASTER Cycle, besonders weit von kausallogischen und auf Figurenebene psychologisch 16 | Vgl. Grünzweig, Walter/Solbach, Andreas: »Einführung«, in: Walter Grünzweig/ Andreas Solbach (Hg.), Narratologie und interdisziplinäre Forschung, Tübingen: 1999, S. 1–15, hier S. 6. 17 | Vgl. Riffaterre, Michael: »Chronotopes in Diegesis«, in: Walid Hamarneh/Calin Andrei Mihailescu (Hg.), Fiction Updated: Theories of Fictionality, Narratology, and Poetics, Toronto: 1996, S. 244–256, hier S. 245 u. 250. 18 | Ryan, Marie-Laure: »On the Theoretical Foundations of Transmedial Narratology«, in: J. Meister/T. Kindt/W. Schernus, Narratology (2005), S. 1–23, hier S. 5. Vgl. auch: Dinkla, Söke: »Virtuelle Narration. Von der Krise der Erzählung zur neuen Narration als mentales Möglichkeitsfeld«. www.medienkunstnetz.de/ themen/medienkunst_im_ueberblick/narration/ (04.09.2012).

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plausiblen Erzählformen entfernen. Dabei greift auch der bisweilen als ›Gesamtkunstwerk‹ beschriebene CREMASTER Cycle auf ein Reservoir historischer Erzähltechniken zurück, die sich spätestens mit Aufkommen des experimentellen Films, und damit dem des Films als solchen, ausdifferenziert haben: Zu ihnen zählen bekanntlich die Dehierarchisierung der Darstellungsebenen und -elemente, eine akausale Montagetechnik beziehungsweise Schnittfolge, die Dissonanz von Bild und Ton sowie auf Figurenebene die Dispersion von Sprechersubjekt und Figurenrede beziehungsweise voice-over. Weder in der Binnenstruktur der Filme noch in der Relation der Filme untereinander lässt sich eine Haupt- beziehungsweise Nebenhandlung identifizieren, genauso wenig wie Haupt- oder Nebenfiguren, dasselbe gilt auch für die Darstellung von Schauplätzen und Bildmotiven. Das heißt nicht, dass es im CREMASTER keine zentralen Themen und Motivkomplexe gäbe. Im Gegenteil: Barney bezieht sein filmisches Wissen aus einem weit gespannten Spektrum an Mythen, kulturellem (Bild-)Gedächtnis und (historischen) Filmgenres. Dies führt dazu, dass vor allem auf Symbolebene Indizes geboten werden, die dazu einladen, Barneys Referenz etwa auf die Mythologie der Freimaurer in CREMASTER 3 ebenso zu identifizieren19 wie seine intertextuellen Verweise auf Norman Mailers Roman The Executioner’s Song (dt. Gnadenlos), der die Geschichte des 1977 hingerichteten Mormonen und Doppelmörders Gary Gilmore aufgreift, die wiederum auch in CREMASTER 3 als Chiffre für körperliche Transformation schlechthin figuriert:20 vom Mann zur Frau, vom lebenden zum toten Körper, vom Leib zum Objekt. Der Zyklus bedient auf ikonischer, indexikalischer wie auch auf symbolischer Ebene durchaus eine Semantik, die das binäre Verhältnis von Präsenz und Repräsentation bisweilen eher bestätigt als durchbricht. Statt der von der Forschung bereits geleisteten primären Suche nach den Referenzgrößen von Barneys Kunstprojekt lohnt an dieser Stelle eine Beleuchtung der Verbindung narrativer Darstellungsmuster mit einzelnen Erzählschichten über die Berücksichtigung einer den Zyklus meiner Meinung nach umfassend strukturierenden Kategorie: der des Raums. Nimmt

19 | Vgl. Bürgel, Deborah: Typologie des Hybriden. Eine Perspektive auf Matthew Barneys ›CREMASTER Cycle‹, Saarbrücken: 2008. 20 | Vgl. Spector, Nancy: »Nur die perverse Phantasie kann uns noch retten«, in: Nancy Spector (Hg.), Matthew Barney: The CREMASTER Cycle, Ausst.-Kat., Ostfildern-Riut: 2002, S. 2–91.

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man Barneys Selbstbeschreibung ernst, er sei in erster Linie »Bildhauer«,21 so wird deutlich, dass eine angemessene Erörterung des CREMASTER Cycle nicht allein über das Entschlüsseln seiner Semantik oder das Dechiffrieren einer in der Tat non-linearen Dramaturgie erfolgen kann, sondern über die Analyse der Strukturierung und der Anordnungen des Raums sowie sämtlicher raumkonstituierender Elemente und Verfahrensweisen, die damit erst bestimmte Semantiken generieren. Darüber hinaus wird zu zeigen sein, dass die Kategorie des Raums, jene Größe ist, die die Binnenstruktur des CREMASTER Cycle mit der installativen Repräsentationssituation verbindet. Aus narratologischer Sicht bedeutet dies, dass die Kategorie des Ereignisses nicht allein als temporales Organisationsmerkmal zu bestimmen ist, das ein zeitliches Kontinuum und damit all seine Bezüge durchbricht. Vielmehr geht es darum, das Ereignis auch als raumkonstituierendes Moment zu begreifen. Obschon das Ereignis in seiner philosophischen Dimension in jüngster Zeit hauptsächlich als Modus ästhetischer, zeittranszendierender Erfahrung aufgefasst wird,22 interessiert hier sein Status als kontextuell und medienspezifisch je verschieden verortbares Verbindungsglied einer narrativen Kette. Ebenso wie für die methodisch schwer zu fassende Kategorie der Zeit gilt auch für den Raum, dass die Perspektive seiner Betrachtung ganz entscheidend sein ontologisches, aber auch historisches Verständnis mitbestimmt.23 Abseits dessen bildet im CREMASTER, zunächst unabhängig von Barneys Raumkonstitutionsverfahren, das Raumkonzept des euklidischen Raums die Grundlage aller weitergehenden Konnotationen: Hier lässt sich eine Position jeweils mithilfe eines geradlinigen, orthogonalen Koordinatensystems beschreiben. Entscheidend für das Konzept der Narration ist demgemäß die Analyse der spezifischen, raum-zeitlichen Anordnung durch die als relevant identifizierten Ereignisse. Was Eric Rohmer einst für den narrativen Film notierte, gilt als Basisdefinition zunächst auch für den CREMASTER Cycle: »Die Formen des räumlichen Ausdrucks werden so mit den generellen Ausdrucksformen der verschiedenen Zeitebenen

21 | C. Biesenbach: Transformer, S. 32. 22 | Vgl. Drewes, Miriam: Theater als Ort der Utopie. Zur Ästhetik von Ereignis und Präsenz, Bielefeld: 2010, bes. S. 239ff. 23 | Vgl. Dünne, Jörg /Günzel, Stephan (Hg.): Raumtheorie. Grundlagen aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a. M.: 2006.

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schließlich zusammengebracht. Jede Verformung des Raums wird von einer Verformung der Zeit […] begleitet.«24 Weiterführende Kriterien wie Perspektivierung, Modus, Dauer und Frequenz sollen Aufschluss über den spezifischen narrativen Gehalt des CREMASTER Cycle geben.25 Bei einer sich herkömmlicher Semantisierung verweigernden Ästhetik gewinnt, wie zu zeigen ist, vor allem ein ausdifferenziertes Tableau von Wiederholungsbeziehungen strukturbildende Bedeutung.26 Bereits auf der filmischen ›Makroebene‹ zeigt sich, dass Barney das Prinzip zeitlicher wie räumlicher Konsistenz bewusst vermeidet. Zunächst durchbricht der Zyklus selbst jede Form logischer Chronologie. Die fünf Filme sind zu einer Reihe arrangiert, die mit ihren Produktionszeiten nicht identisch ist: CREMASTER 1 (1995), CREMASTER 2 (1999), CREMASTER 3 (2002), CREMASTER 4 (1994), CREMASTER 5 (1997). Über eine Mehrfachprojektion während der Ausstellungszeit sowie der Dispersion von Simultaneität – die Filme weisen eine je unterschiedliche Dauer auf – will Barney den im Kino üblichen monoperspektivischen Blickmodus vermeiden. Bis in die Mikrostrukturen des Films hinein verlängert Barney also das Konzept zeitlicher, aber vor allem räumlicher ›Transformation‹. Durch die erhöhte Frequenz der Montage von zwei- mit dreidimensionalen Raummotiven zeigt sich, dass der Bildhauer und Filmemacher Barney die stereometrischen Grundkategorien von Punkt, Linie und Kreis als Voraussetzung aller Flächenstrukturierung ernst nimmt, sie um das geometrische Figurenarsenal wie Kugel, Zylinder und Quader und andere erweitert, um sie dann auf sämtlichen Erzähl- wie Darstellungsebenen durchzudeklinieren. Die Geometrie ihrer Anordnung ergibt eine Ästhetik filmischer Tektonik, die zugleich die Frage nach dem ontologischen Ort des narrativen Ereignisses offen lässt. Aufschluss über diese spezifische Tektonik geben ferner vier Ebenen, die vor allem über Barneys Verfahren visueller Analogiebildung miteinander verbunden sind: 1. biologisch, 2. objekt/körperbezogen, 3. (landschafts-)architektonisch, 4. ästhetisch-narrativ. 24 | Rohmer, Eric: »Film, eine Kunst der Raumorganisation (1948)«, in: J. Dünne/S. Günzel, Raumtheorie (2006), S. 515–528, S. 517f. 25 | Angeregt sind diese Kategorien von Gérard Genettes Katalog zur Analyse von Erzählungen. Vgl. Genette, Gérard: Die Erzählung, München: 1998. Hierzu siehe auch: M. Drewes: Theater als Ort der Utopie, S. 316–319. 26 | Vgl. auch den Beitrag von Julia Stenzel in diesem Band.

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Erstens: Die allumfassend titelgebende Bezeichnung ›CREMASTER‹ wird für den Gesamtzyklus zur Metapher eines Lebenskreislaufs, der die Evolution des menschlichen Individuums wie seiner Spezies als grundsätzlich endlosen, zirkulären Prozess begreift. Der Begriff ›CREMASTER‹ bezeichnet hier zum einen die Funktion eines Muskels, der über das Heben und Senken der Testikel für die Wärmeversorgung und die Kühlung des Hodens und so für die Zeugungsfunktion verantwortlich ist. Zugleich aber steht der Begriff, bezogen auf den Gesamtzyklus, für die Ausdifferenzierung des Geschlechts im embryonalen Stadium, also den Prozess der biologischen Individuation des menschlichen Körpers. 27 Barney reduziert nun diesen biologischen Mechanismus zunächst auf ein Emblem, das in den Filmen wiederholt als zeichenhafte Figur einer mit einem Querbalken versehenden Ellipse auftaucht. Die Ellipse als gedrungener Kreis und der Balken als begrenzende Linie entleeren die rein biologische Bestimmung und ermöglichen so diese zur Grundkategorie der Entstehung und Entwicklung menschlichen Lebens zu transformieren, die, wie Barney suggeriert, praktisch alle Existenzbereiche betrifft. Man könnte zunächst annehmen, dass es Barney in erster Linie um die Veranschaulichung männlicher Virilität als Agens für potentes Künstlerschaffen gehe. Hierfür spricht tatsächlich seine Selbstinszenierung als Entered Apprentice in CREMASTER 3/The Order und als Loughton Ram in CREMASTER 4. Doch die Kondensierung der Muskelfunktion zum zeichenhaften Code gibt auf fast infantilisierende Weise an, dass der ›Kreis‹ der ›Linie‹ beziehungsweise das ›Loch‹ des ›Stabes‹ bedarf, um den unendlich währenden Evolutionsprozess am Laufen zu halten. Barney geht es also nicht allein um die (Selbst-)Darstellung transgeschlechtlicher Verkörperungen im Sinne eines gesellschaftskritischen gender-crossing.28 Er macht sich vielmehr das Verfahren permanenter Umcodierung von Zeichen zunutze, um den Transfer der Zeichen ebenso endlos am Laufen zu halten, wie er es auch für den von ihm vielfach symbolisierten Lebensprozess begreift. Barneys Bildgebung verweist hier durchaus auf eine eher lebensbejahende Perspektive, die den Aspekt geschlechtlicher Differenzierung und all ihrer gesellschaftlichen Konnotationen als Begleitumstand mitvollzieht. Seine augenscheinlich ›phallozentristische‹ Fixierung schließt zumindest das zur Penetration ergo Evolution notwendige Vorhandensein beider Geschlechter nicht aus. Man muss vor diesem Hintergrund nicht die psychoanalytische Filmtheo27 | Vgl. N. Spector: Nur die perverse Phantasie kann uns noch retten, S. 12. 28 | Vgl. auch den Beitrag von Sascha Pöhlmann in diesem Band.

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rie bemühen, um Barneys fast obsessive Fixierung auf Genitalsymboliken zu erkennen. Hier könnte durchaus auch ein kontextueller Verweis auf die pornografisch aufgeladene Kunst eines seiner Vorbilder, Paul McCarthy, Aufschluss über einen offenbar nur fetischisiert möglichen Weltbezug geben. McCarthy hat, ganz seiner Absicht gemäß, mit seinen überlebensgroßen Genitalskulpturen im prüden, aber pornografisch äußerst aktiven Amerika dereinst für Skandale gesorgt. Bei Barney relativiert sich dieser pornografische Zugang zum interpikturalen Verweis auf das Bildwissen einer Gruppe von Kunstkennern, was wiederum den Blick freilegt für eine zusätzliche narrative Strategie, mithin die Integration der Autorenperspektive: Der Einsatz bekannter (Film-)Bilder liefert das Bildwissen als immer schon vermitteltes Wissen gleich mit. Zwar bedient er sich pornografischer oder dem Horrorfilm zugehöriger Bildsprachen, doch sind die Versatzstücke der Genres immer auch mit dem Bildwissen aufgeladen, das sich aufgrund der kontextuellen Verschiebung vom Porno- oder Horror- zum Kunstfilm ergibt. Die dem Genre zugehörige Bedeutung ist also immer nur mittelbar, nicht unmittelbar zugänglich. Dies wiederum relativiert die affektgeladene Rezeption von Porno- beziehungsweise Horrorfilm, da der Bruch im Narrativ der affektgeladenen Genres und somit der Bruch der Affektion als solcher ebenso zum Kalkül visueller, also narrativer Selektion gehört, wie der Einsatz ihrer Bilder. Diese Strategie sich überlagernder Kombination und Unterbrechung von Motiven betrifft auch das alles strukturierende principium individuationis. Angemessen scheint hier, dass der erst 1995 produzierte CREMASTER 1 retrospektiv den Anfang des Zyklus bildet. Barney koppelt hier stereometrische mit geometrischen Formgebungsverfahren, indem er, wie die syntaktische Anordnung der Bilder zeigt, die stereometrischen als Vorstufe der geometrischen ausweist und so den Prozess der künstlerischen Formgebung (man könnte auch Schöpfung sagen) mit dem der menschlichen Entwicklung analogisiert. Linie und Kreis sind auch die beiden Grundkategorien, die das blaue Spielfeld des Bronco Stadium des US-Bundesstaats Idaho strukturieren. Zwar triggert die Semantik das Wissen um Barney als Sportler, doch auch hier verdeutlichen die visuellen Wiederholungsbeziehungen, worum es zusätzlich geht. Barney montiert Totalen des Stadions mit Filmbildern, die lediglich die weiße Linie als Querbalken auf blauem Grund zeigen, so dass hier zwar die filmische Raumkonsistenz unterbrochen ist, ›Line‹ und ›Kreis‹ aber als die den Film strukturierenden, stereometrischen Grundkategorien betont hervorgehoben werden. In weiteren Sequenzen werden die Kreis- und Linienbewegungen aufgegriffen, nun aber über

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das Arrangieren von Körperaktionen ins Dreidimensionale erweitert. Eine Gruppe von mit schwingenden Reifröcken ausgestatteten Tänzerinnen führt eine Tanzformation aus, die ihrerseits wiederholt Kreis- und Linienbildungen vornimmt. Barney montiert hier Nahaufnahmen der nun im Bild als dreidimensional kenntlichen Gruppenformation mit solchen, die die tänzerischen Choreografien aus der Vogelperspektive zeigen, so dass das Dreidimensionale wieder zur Fläche, so wie auch wiederholt der Punkt – visualisiert durch die Draufsicht auf eine Tänzerin mit Reifrock – zur Linie und zum Kreis wird, um sich schließlich erneut in andere Formationen zu verwandeln. Dasselbe Gestaltungsprinzip, die Fluktuation von zwei- und dreidimensionalen Raumkonstitutionen, gilt für eine weitere, die biologische Metaphorik aufnehmende Visualisierung: Via Draufsicht zeigt das Arrangement der Gruppenformation eine Verwandlung des CREMASTER-Emblems zu einem die Grundform weiblicher Eierstöcke anzeigenden Schema. Den Motivkomplex ›Zeugung/Geburt/Menschwerdung‹ symbolisiert Barney dann schließlich auch über die gefilmte Aktion einer Einzelperformerin, die unter einem im Zeppelin sich befindenden Tisch ein kreisrundes Loch reißt, um auf dem Tisch lagernde Trauben zu sich unter den Tisch zu holen. Die wiederholte Transformation sowie die repetitive Fluktuation der Formen tragen also überhaupt erst zur Stabilisierung des Narrativs ›Menschwerdung‹ bei. Die Ebenbürtigkeit der Formen wiederholt sich dabei in der Gleichsetzung der Künste, wie wiederum eine nun Filmgenres zitierende Sequenz veranschaulicht: Etwa über die Imitation der Penetration in CREMASTER 2, wenn die Kamera das Befüllen eines Autotanks mit dem Tankstutzen geradezu ausstellt oder das Überprüfen des Ölstands, im Zuge dessen der Tankwart den Ölstab aus dem Ölbehälter zieht, um ihn anschließend wieder hineinzustecken. Eine Sequenz, die, ein typisches Thriller-Narrativ zitierend, allerdings auch gekoppelt ist an die Veranschaulichung des Todes, der die Individuation erst vervollständigt: Der Tankwart wird durch den Schuss aus einer Waffe ›penetriert‹, ehe eine serielle Addition desselben Bildkaders die affektgeladene Situation wieder in ihre Ästhetisierung auflöst, also das Narrativ des Genres unterbricht. Zweitens: Barney verfolgt also über die Transgression der Formen und Gattungen nicht nur die Vermittlung von zum Teil recht vordergründigen, aber variationsreich getriggerten Semantiken, die über die unterschiedlichen Formgebungen überhaupt erst als derart variabel produziert werden. Wie oben bereits angedeutet, erweitert er die Metaphorik seines ›Leitmo-

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tivs‹ auf sämtliche Objekte: So wird auch das Spiel der Performerin aus CREMASTER 1 mit den Trauben zum Spiel mit etlichen Kugeln, die wiederum im weitesten Sinne den männlichen Hoden symbolisieren, ebenso wie bei den beiden Bowling-Kugeln, die zwei Performerinnen am Ende von CREMASTER 1 in die Kamera halten. Barneys metonymischer Umgang mit den stereometrischen wie geometrischen Formen produziert dabei überhaupt erst die Subjektivierung von Objekten und die Objektivierung von Subjekten, die den Menschen letzten Endes mit derselben Dehierarchisierung belegen wie sämtliche Objekte und ihre Repräsentationsweisen. So ist es nur konsequent, dass mit Ausnahme von Barney, dessen künstlerischem Mentor Richard Serra und dem Entfesslungskünstler Harry Houdini sämtliche Figuren, die in den CREMASTER-Filmen auftauchen, entindividualisiert sind. Dieser Umstand ist in der Tat als egozentrische Fixierung und Selbststilisierung des Künstlerschöpfers zu werten. Doch auch diese Erzählstrategie ist ambivalent, wie eine weitere Perspektivierung zeigt: Barney nimmt sich aus der buchstäblichen Selbstobjektivierung keineswegs aus. Das gilt für seine Inszenierung als Zwitterwesen zwischen Tier und Mensch als Loughton Ram in CREMASTER 4 ebenso wie für die in die Operndiva hinein verlagerten Selbstimaginationen in CREMASTER 5. Die den menschlichen Körpern etwa in The Order anhängenden Prothesen sind neben der Metaphorik der prinzipiell existentiellen Fragilität und eben des grundsätzlichen Scheiterns des principium individuationis auch eine Form der Verknüpfung von ontologisch kategorial getrennten Bereichen. Die Prothese wird zur Schnittstelle von menschlicher Existenz und Objektebene, so dass der grundsätzlich dehierarchisierte Status, den Barneys Objektskulpturen in den Filmen einnehmen, überhaupt plausibel wird. Als eine solche Schnittstelle fungiert schließlich auch der Einsatz von Materialien, der über den permanenten Wechsel ihrer Aggregatszustände auch ihren Objektstatus in Frage stellt. Der Wechsel von fest zu flüssig bei der Verwendung von Vaseline etwa symbolisiert erneut sich überlagernde Mehrfachfunktionen menschlicher Sekrete: In CREMASTER 4 zwängt sich Barney als Loughton Candidate durch einen überdimensionalen, schleimigen Geburtskanal, dessen Optik aber nicht der des Gebärmutterausgangs, sondern der einer riesigen Spermaskulptur gleicht. Drittens: Zur Konstitution von Raum gehören naturgemäß nicht nur raumschaffende Bewegungsfolgen, wie sie in den gefilmten Performances vollzogen, oder raumgebende Objekte, wie sie über den Einsatz von Skulpturen vermittelt werden, sondern auch die Raumkunst schlechthin, die Architektur. Barney weist die Maßgeblichkeit des Paragone weit von sich,

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indem er ihr als neben den anderen Künsten gleichberechtigter Kunstform Tribut zollt. Dabei wendet er sein Verfahren der Transformation auch auf die Architektur an, erweitert diesen Radius noch hin zur Landschaft, indem er sie als formbildende Naturarchitektur auffasst. Während beispielsweise das New Yorker Chrysler Building oder eine aus mehreren Türmen zusammengesetzte ›Science-Fiction-Burg‹ in CREMASTER 2 erneut das phallische Modell explizieren, wird über Innen- also Hohlräume das vaginale Prinzip aufgerufen. Auch bei den Landschaftsdarstellungen wiederholt Barney seine ›penetrativ-zeugende‹ Weltsicht. In CREMASTER 2 schiebt sich, aus Vogelperspektive gefilmt, ein Dampfer durch eine schmale, eisfreie Gasse eines zugefrorenen Flusses; auch der erwähnte Vaseline-Tunnel, durch den sich Barney in CREMASTER 4 kämpft, und der sich, so die filmische Suggestion via Parallelmontage, unter der Landschaft der Isle of Man befindet, ist in diesem Kontext zu sehen. Doch Barney verharrt nicht bei der trotz aller Transformationsleistungen trivialen Raumsemantik. Er stellt die über die Gestaltung des filmischen Raums hinausgehende Frage nach dessen ontologischem Ort. Dabei bringt er ein Verfahren filmisch zur Anwendung, wie es bereits der niederländische Künstler Maurits Cornelis Escher (1898–1972) mit seinen grafischen Fraktalwelten projektierte. Barney verweigert nicht nur über die Montage heterogener Filmräume jegliche raum-zeitliche Konsistenzbildung. Er verweigert diese auch über die Gestaltung des Filmraums in den jeweiligen Filmkadern. So bleibt etwa in CREMASTER 1 unentschieden, wie der Raum außerhalb des Zeppelins beschaffen ist, ob das Luftschiff über dem Bronco Stadium durch den schwarzen Nachthimmel fährt oder ob es von einem artifiziellem Nicht-Raum umgeben wird. Diese Unentscheidbarkeit vermittelt sich über die sukzessive Anordnung heterogener Bildräume, die nur mittelbar über das Flugobjekt Zeppelin miteinander verbunden sind: Der Tanz einer Performerin mit zwei Zeppelin-Ballon-Skulpturen auf dem blauen Astroturf des Stadions suggeriert, dass der Innenraum des Zeppelins ein artifizieller Raum ist, der Imagination des Künstlers geschuldet, während demgegenüber die Nachtaufnahme eines fliegenden Zeppelins die Reise eines solchen Flugobjekts in einem ›realistischen‹ Filmraum vermittelt. Bei der Ansicht der ›Science-Fiction-Burg‹ wiederum lässt Barney via Montage, also über die serielle Organisation minimal unterschiedlicher Filmbilder, den Zuschauer im Unklaren darüber, ob es sich um einen tatsächlichen Filmraum oder um das Architekturmodell für eine Filmausstattung handelt: Die Beleuchtungskörper, die nicht in jedem Bildausschnitt um die Burg herum ange-

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bracht sind, suggerieren einen Innenraum, obwohl die genuine Bestimmung des Gebäudes von seiner Positionierung im Außenraum abhängt. Der Abschluss der Filmreihe mit dem 1999 produzierten CREMASTER 5 scheint nun ebenso logisch wie der Beginn mit CREMASTER 1. Dort war die narrative Variation des alles umgreifenden principium individuationis mit metaphorisch biologischem Schwerpunkt auszumachen, in CREMASTER 5 hat sich Barney zur Verbindung von Abstraktem und Existentiellem vorgearbeitet. Nicht umsonst steht in CREMASTER 5 das Abfilmen einer Oper in ungarischer Sprache im Zentrum. Barney bedient sich der Theatrum-Mundi-Metapher, um über die Integration des theatralen Raums der grundsätzlich unbestimmbaren Differenz von Präsenz und Repräsentation visuelle Evidenz zu verleihen. Nicht umsonst blendet Barney das Bühnenportal aus dem Filmkader nicht aus. Er bringt es als Hinweis für die alles entscheidende Kategorie über die grundsätzliche Verortung von Raum und seiner ihn anhängenden Weltanschauungen in sein visuelles Narrativ mit ein. Es steht für die Frage nach der Bedeutung von ›Grenze‹ schlechthin, wie er sie auch schon in den Landschaftsaufnahmen von CREMASTER 2 als Unbestimmbarkeit des Verlaufs der Horizontlinie aufscheinen ließ. Viertens: Barney kombiniert ohne Frage die in jeglicher Erzählung üblichen Dramaturgien von linearen und zirkulären Erzähl- und Darstellungsformen. In den einzelnen Sequenzen werden kleine, zielgerichtete Handlungsfolgen erkennbar, die sich im Film-im-Film von CREMASTER 3, genannt The Order, im Wettbewerb zwischen dem Architect und dem Entered Apprentice gar zu einer veritablen Heldenreise ausweiten, wie sie für das traditionelle Erzählkino als Genrespielart üblich ist: Hier ist das im klassischen Erzählen vorherrschende Prinzip von Hindernisüberwindung und Entwicklung des Helden unter Verwendung einer etwa im Genre des Thrillers üblichen zeitlichen Begrenzung auf die Ebene des Kunstschaffens übertragen. Barney kombiniert das Erzählmuster der Repetition mit dem der Sukzession ohne wechselseitige Hierarchisierung. Die Dehierarchisierung setzt sich in der Raumgestaltung, mithin in der Raumsemantik und damit im grundsätzlichen Raumverständnis des Films fort. Die für den Raum des Horrorfilms übliche Bezeichnung ›transitorischer Raum‹, die dort den unbestimmbaren Ort zwischen Diesseits und Jenseits anzeigt, lässt sich auch für den CREMASTER Cycle geltend machen. Während aber für den Horrorfilm beide Raumgrößen immer noch als ontologisch bestimmbare Räume identifizierbar sind, gilt das für den CREMASTER Cycle nicht. Der transitorische Raum ist in dem Sinne auch nicht ein Raum mit fluktuierenden Personen – so ist der Begriff im Diskurs über Architektur besetzt.

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Vielmehr weist der transitorische Raum dem Übergangsstatus qua variabler Formgebung jene Bedeutung zu, die ansonsten nur Ideen oder Situationen in Bewegung eignen. Die Erweiterung des Raums initiiert Barney zudem über die Rezeptionssituation der simultanen Mehrfachprojektion, die vorgibt, dass die Filme zeitgleich in einem Raum auf fünf Leinwände projiziert werden. Der Rezipient kann und muss also selbst entscheiden, welchem Film er seine primäre Aufmerksamkeit schenkt, einhergehend mit der Offenheit all der im nunc stans der Betrachtung sich einstellenden Bezüge. Die im Installationskontext übliche multiperspektive Präsentationsform gewährleistet dabei noch lange nicht eine ebenso multiperspektive Rezeption. Es bleibt rein produktionsästhetisches Kalkül, ob die bereits bei Bertolt Brecht avisierte Auffächerung der Wahrnehmungssituation sich beim Betrachter auch einstellen mag. Hinzu kommt, dass die simultane Repräsentationssituation die kognitiven Perzeptionsleistungen grundsätzlich an ihre Grenze stoßen lässt. Hier muss die Ontologie des Werks prinzipiell von der Ontologie der Rezeptionssituation unterschieden werden.29 Festzustellen bleibt aber, dass die polygonale Vorführsituation die von Barney aufgestellten Analogiebildungen noch zu potenzieren vermag. Barney selbst scheint sich aber nicht auf dieses Kalkül zu verlassen. Er verlagert die Erweiterung der Multiperspektivität, indem er den Blick einer der Performerinnen über das Kameraobjektiv hinaus auf den Betrachter lenkt. In CREMASTER 1 schaut eine der Flugbegleiterinnen mehrfach aus dem Kabinenfenster des Zeppelins in einen dunklen Nicht-Raum (der in weiteren Einstellungen mehrfach umcodiert wird). In der folgenden Sequenz sieht man die Frau, die ihren Blick durch das Kameraobjektiv auf den naturgemäß unbestimmten Außenraum des Films richtet. Der Blick ist suchend, es ist nicht eindeutig auszumachen, ob ein möglicher Betrachter fokussiert wird. Die Diffusität der Raumgrenzen setzt sich über den Filmraum hinweg also fort, womit man wieder bei der grundsätzlichen Frage nach dem ontologischen Status von Raum wäre, der sich Barney als Bildhauer in besonderem Maße stellen muss. Der narrative Modus des Zitierens und Reinszenierens unterschiedlicher Genres und Dramaturgien knüpft ein filmisches Möbiusband, dessen 29 | Skepsis gegenüber rezeptionsästhetischen Vorannahmen gebührt also den von Kate Mondloch versammelten affirmativen Positionen zu neueren Phänomenen der Installation Art. Vgl. Mondloch, Kate: Screen. Viewing Media Installation Art, Minneapolis: 2010, S. 52f.

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Ausgangs- und Endpunkt ebenso wenig eindeutig ist wie der Charakter von Raum und Zeit und das Bestehen einer logischen Ursache-Wirkungs-Relation. Die Analyse auf der Grundlage eines offenen Narrationsbegriffs hat aber ergeben, dass der CREMASTER Cycle durchaus einer Logik folgt, die Bezugssysteme schafft, die sich wiederum erst über die Analogiebildung mittels ganz basaler raumkonstituierender Momente ergeben. Metaphorisch gesprochen visualisiert Barney das kantische Apriori des Raums, wonach Raum (und Zeit) vor aller Erfahrung liegen und Wahrnehmung als solche überhaupt erst ermöglichen. Als Bildhauer erörtert er naturgemäß nicht den ontologischen Ort des Raums, aber er setzt ihn als ästhetische Bezugsgröße oder auch nur als Arbeitsgrundlage voraus. Die Anordnung des Raums in all seinen Spielarten schafft hier erst jene Kontexte, die schließlich dazu führen, dass Barney auch als Mytheneklektiker bezeichnet werden kann. Erweitert man die werkimmanente Perspektive scheint es nur konsequent, dass derlei Deterritorialisierungen ihre Ausbreitung ins weltweite Netz gefunden haben. Hier überlagern sich ästhetisches und produktionsbeziehungsweise distributionstechnisches Narrativ in einer Weise, die den von Barney avisierten offenen Rezeptionskreislauf buchstäblich ins Unendliche zu erweitern vermögen. Wie Ute Holl geschrieben hat, verändert die Präsentationsweise des Web 2.0 nicht nur die Produktion, sondern ganz entscheidend auch die Wahrnehmung mit all ihren Effekten auf die Herstellung neuer Inhalte und Formate: Wir können Texte, Bilder und Filme selbstbestimmt ansehen, wiederholt analysieren, kommentieren und diskutieren. Diese Formate wiederum lassen sich in unterschiedlichen Situationen rezipieren: privat vor dem eigenen Computer, durch die neuen tragbaren Geräte auch in öffentlichen Räumen, in Bewegung, begleitet von zahlreichen Nebengeräuschen, die die Wahrnehmungssituation ebenso prägen, wie die Ausblendung sämtlicher Geräusche im dunklen Kinosaal,30 oder die gedämpfte Atmosphäre in einem Museum oder in einer Galerie. Damit, so Holl, verändere sich aber nicht nur der indexikalische Wert, denn der Referent des Netzes sei nicht allein eine netzexterne Realität, sondern vielmehr auch eine Zusammensetzung verschiedener Datensätze. Noch entscheidender ist, dass sich das Verhalten der Rezipienten, die nun als Nutzer bezeichnet werden, dahingehend wandle, dass sie dieses beobachten können. Die zunächst und an dieser Stelle interessanteste 30 | Vgl. Holl, Ute: »Cinema on the Web and Newer Psychology«, in: Ger trud Koch/Volker Pantenburg/Simon Rothöhler (Hg.), Screen Dynamics. Mapping the Borders of Cinema, Wien: 2012, S. 150-168, hier S. 155f.

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Wendung dürfte sein, dass sich sämtliche durch die mit der Kritik am herkömmlichen Narrationsparadigma verbundenen Vorstellungen von einer ideologiekritischen Ästhetik nahezu erfüllt haben: Nicht die installative Ausstellungssituation generiert in erster Linie einen engagierten Beobachter beziehungsweise Nutzer,31 sondern das Internet, das eben auch den CREMASTER Cycle einem größeren Publikumskreis überhaupt erst zugänglich macht. Die polygonale Produktions- und Wahrnehmungssituation bildet also überhaupt erst das Äquivalent zur ästhetischen Strategie. Zumindest auf der Ebene des Weiterschreibens und -lesens wird damit auch der enzyklopädische Anspruch des Werks Matthew Barneys eingelöst.

31 | Vgl. ebd., S. 155.

Matthew Barneys und Elizabeth Peytons Gemeinschaftsperformance Blood of Two – eine Rhetorik des Mythos oder »wahre Mythologie«? 1 Birgit Kulmer

›C ontempor ary M y thology‹ Matthew Barney, der in den 1990er Jahren von Michael Kimmelmann, dem führenden Kunstkritiker der New York Times, als »most important American Artist of his generation«2 und von Florian Illies, damals bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, später Mitbegründer des Kunstmagazins Monopol, »als kühnstes zeitgenössisches Talent« bezeichnet wurde, ist längst an Superlative gewöhnt. Als Künstler, »dem die Heimholung der Mythologie in die Kunst gelingt«,3 wird er häufig mit Joseph Beuys verglichen. Barney

1 | Barthes, Roland: Mythen des Alltags, Frankfurt a. M.: 1964, S. 121. 2 | Kimmelman, Michael: »The Impor tance of Matthew Barney«, in: New York Times Magazine vom 10.10.1999. ht tp://w w w.ny times.com/1999/10/10/ magazine/the-impor tance-of-matthew-barney.html?pagewanted=all&src=pm (1.7.2012). 3 | Illies, Florian: »Muskelspiele einer neuen Mythologie. Miss Goodyear, die gute Fee im Luftschiff über der Erde: Matthew Barneys ›CREMASTER 1‹ in der Kunsthalle Wien«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 10.1.1998, S. 33.

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gilt als »Myth Maker«4 oder »Myth Machine«,5 weniger jedoch als Mythos entschleiernder »Mythologe[ ]«6 im Sinne Roland Barthes. Matthew Barneys und Elizabeth Peytons Gemeinschaftsprojekt Blood of Two fand im Juni 2009 aus Anlass der Eröffnung des Slaughterhouse, eines neuen privaten Projektraums des einflussreichen griechischen Sammlers Dakis Joannou, auf der Insel Hydra statt. Erwartungsgemäß wurde es in der Kunstzeitschrift Monopol unter dem Titel »Mythologie heute« lanciert: »Die Götter müssen verzückt sein: Für einen Dienstag im Juni war Hydra Mittelpunkt der Kunstwelt. Matthew Barney und Elizabeth Peyton luden auf die griechische Insel zur Gemeinschaftsperformance ›Blood of Two‹.«7 Diese bestand in der feierlichen Bergung einer zuvor im Meer versenkten Tischvitrine mit Blut- und Bleistiftzeichnungen der beiden Künstler, die anschließend in einer gemeinsamen Prozession der geladenen Gäste zum Ausstellungsraum geleitet und so als Heiligtum inszeniert wurde. Im modernen Medienzeitalter, argumentiert Barthes, könne schlechthin alles zum Mythos werden.8 Man könne nicht prinzipiell zwischen mythischen und nichtmythischen Phänomenen unterscheiden. Ausschlaggebend sei die sprachliche oder symbolische Form, in der diese präsentiert würden: 4 | Jones, Jonathan: »The My th Maker«, in: The Guardian vom 16.10.2002. http://www.guardian.co.uk/film/2002/oct/16/ar tsfeatures?INTCMP=SRCH (01.04.2009). Bonami, Francesco: »The Legacy of a Mythmaker (Joseph Beuys)«, in: TATEetc. vom 1.1.2005, S. 75f. http://www.tate.org.uk/context-comment/ articles/legacy-myth-maker (01.04.2010) . 5 | Birnbaum, Daniel: »Master of Ceremony. Bayreuth Can Wait: Matthew Barney’s CREMASTER Cycle«, in: Artforum International 41(2002), S. 181–185, hier S. 182. 6 | R. Bar thes: Mythen des Alltags, S. 111. »Wenn ich mich auf ein erfülltes Bedeutendes einstelle, in welchem ich deutlich Sinn und Form unterscheide und von da aus die Deformation, die die Form beim Sinn bewirkt, zerstöre ich die Bedeutung des Mythos und nehme ihn als Betrug auf: der grüßende Neger wird zum Alibi für die französische Imperialität. Diese Art der Einstellung ist die des Mythologen. Er entziffert den Mythos, er versteht ihn als Deformation.« 7 | Hohmann, Silke: »Mythologie heute«, in: Monopol – Magazin für Kunst und Leben o. Jg. (2009), H. 8, S. 26–35, hier S. 26. 8 | Den Begriff ›Mythos‹ verwendet Barthes vorrangig heuristisch-methodologisch, ohne eine Funktions- oder Begriffsgeschichte zu geben. Vielmehr setzt er den Begriff, seinem heutigen Sprachgebrauch entsprechend, als eine Rede ein, die auf keinen konkreten Autor zurückgeht und Allgemeingültigkeit beansprucht.

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»Der Mythos definiert sich nicht durch den Gegenstand seiner Botschaft, sondern durch die Art und Weise, in der er diese vorbringt.«9 Das wesentliche Element der Rhetorik des Mythos ist nach Barthes, die Geschichte der Dinge zugunsten einer imaginierten ›Natur‹ und ihrer ewig verbindlichen Ordnungsmuster auszublenden. In seiner Essaysammlung Mythen des Alltags zeigt Roland Barthes, wie Objekte des Alltags, Persönlichkeiten und Zeremonien semiotisch so aufgeladen werden, dass von einem Mythos gesprochen werden kann. [D]er Mythos ist eine entpolitisierte Aussage. [...] [E]r macht sie [die Dinge, B.K.] unschuldig, er gründet sie als Natur und Ewigkeit, er gibt ihnen Klarheit, die nicht die der Erklärung ist, sondern die der Feststellung. [...] Er schafft die Komplexität der menschlichen Handlungen ab und leiht ihnen die Einfachheit der Essenz, er unterdrückt jede Dialektik, jedes Vordringen über das unmittelbar Sichtbare hinaus, er organisiert eine Welt ohne Widersprüche, weil ohne Tiefe, eine in der Evidenz ausgebreitete Welt, er begründet eine glückliche Klarheit. [...] Die Dinge machen den Eindruck, als bedeuteten sie von ganz allein.10

Über die Rhetorik des Mythos tastet sich Barthes an eine kulturelle Dimension heran, mittels derer sich die prominente Stellung von Objekten und Persönlichkeiten in der Populärkultur erklären lässt. Da die Mythologisierung zumeist den ideologischen Interessen gesellschaftlicher Akteure und ihrem Statuserhalt diene, versteht Barthes seine semiologische Analyse der Mythen als Ideologiekritik. Doch er beschreibt auch die Schwierigkeit des Mythologen bei der Entschleierung des Mythos, um zu der Schlussfolgerung zu kommen, dass man den Mythos nur mit dessen eigenen Mitteln schlagen könne: Der Mythos kann in letzter Instanz immer auch den Widerstand bedeuten, den man ihm entgegensetzt. Die beste Waffe gegen den Mythos ist in Wirklichkeit vielleicht, ihn selbst zu mythifizieren, das heißt einen künstlichen Mythos zu schaffen. Dieser konstruierte Mythos würde eine wahre Mythologie sein.11

9 | R. Barthes: Mythen des Alltags, S. 85. 10 | Ebd., S. 131f. 11 | Ebd., S. 121.

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Innerhalb seines ideologiekritischen Projekts betont Barthes somit nicht nur die Künstlichkeit der sich als natürlich ausgebenden Mythen des Alltags, sondern auch die Künstlichkeit seines eigenen Projekts, indem er »seinen eigenen Diskurs gleichsam als Mythologie zweiter Ordnung zu erkennen gibt« und »wiederum als mytopoietisches Unternehmen« ausstellt.12 Selbst eine zugleich ideologiekritische und selbstreflexive Kunst komme nicht umhin, neue Mythen zu produzieren und Objekte mit dem Schein des Auratischen zu umgeben. Sie könne jedoch die Konstruktionsprinzipien jenes Scheins als ›reflektierte Ideologie‹ mit zur Anschauung bringen.13 Vor diesem begrifflichen Hintergrund könnte die »Contemporary Mythology«14 Matthew Barneys einerseits in Hinblick auf die werkimmanente »mythische Matrix«,15 in ihrer überbordenden Kombination und Variation verschiedenster, tradierter, mythologischer Erzählungen, wie beispielsweise der griechisch-römischen oder germanisch-keltischen, untersucht werden. Darüber hinaus ließe sich (ganz im Sinne Barthes) der Künstlermythos ›Matthew Barney‹ untersuchen, der gesteuert durch gezielte Selbstoffenbarungen die typischen narrativen Muster aufweist. Hierzu zählt das frühe Talent, sein zu außergewöhnlichen Leistungen anspornendes Leiden sowie das Genie des Künstlers, das ihn im Sinne des divino artista aus seinem

12 | Brune, Carlo: Roland Barthes. Literatursemiologie und literarisches Schreiben, Würzburg: 2003, S. 99. 13 | Diese ›wahre Mythologie‹ im Sinne Roland Barthes erinnert stark an Friedrich Schlegels »künstlichste(s) aller Kunstwerke« in seiner Rede über die Mythologie. Schlegel, Friedrich: »Rede über die Mythologie (Auszug)«, in: Athenaeum 3 (1800) [Nachdruck bei der wissenschaftlichen Buchgesellschaft, Darmstadt 1960], S. 101–103. 14 | Gambari, Olga: »The Contemporary Mythology of Matthew Barney«, in: Olga Gambari (Hg.), Matthew Barney. Mitologie Contemporanee, Fondazione Merz, Ausst.-Kat., Turin: 2009, S. 152–163. 15 | Wunenburger, Jean-Jacques: »Mytho-phorie. Formen und Transformationen des Mythos«, in: Wilfried Barner/Anke Detken/Jörg Wesche (Hg.), Texte zur modernen Mythentheorie, Stuttgart: 2003, S. 291–300, hier S. 298. »Indem sich der Schriftsteller auf eine mythische Matrix bezieht, mythisiert er die Literatur wieder, denn er erkennt an, dass der Mythos ein symbolisches Gewicht in sich birgt, das durch die individuelle Vorstellungskraft nicht eingeebnet ist und sich nicht einebnen lässt.«

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unerschöpflichen Inneren schaffen lässt.16 Doch scheint es, als hätten auch zuletzt erschienene Ausstellungskataloge, wie Contemporary Mythology und Matthew Barney. Prayer Sheet with the Wound and the Nail den zweiten Aspekt nicht mehr im Blick als frühere Veröffentlichungen und stellten sich von daher selbst wieder in den Dienst des Künstlermythos. »His art is a temple that one reaches barefoot and in silence, pure as children listening to fairy tales, without hurry«,17 beschreibt die Kuratorin der Ausstellung, Olga Gambari, ihre eigene Erfahrung. Die gleichermaßen opulent wie hermetisch daherkommende Bildregie scheint auf die Kapitulation der Urteilsfähigkeit des Rezipienten hin angelegt. »You can theorise it, analyse it, tell stories about it. But the magic has already disappeared [Herv.i.O.].«18 Mit dem geläufigen Verweis auf Barneys »mythic imagination [Herv.i.O.]«19 scheint allein die Wiedergabe der nicht vorhandenen storyline auszureichen, einen Sinn zu postulieren und so eine Evidenz zu erzeugen, die Barthes zufolge dem Mythos eigen ist. Indem »jede Dialektik, jedes Vordringen über das unmittelbar Sichtbare hinaus« unterdrückt und damit »eine Welt ohne Widersprüche, weil ohne Tiefe« erschaffen wird, machen die Dinge den Eindruck »als bedeuteten sie von ganz allein [Herv.i.O.]«.20 Die von Neville Wakefield kuratierte Ausstellung Matthew Barney. Prayer Sheet with the Wound and the Nail im Schaulager Basel setzt auf die vermeintliche Wiederkehr christlicher Ikonografie im Werk Barneys, die der Kurator

16 | In ihrer Studie Die Legende vom Künstler (1934) gehen Ernst Kris und Otto Kurz in Hinblick auf Giorgio Vasaris Viten der engen Verknüpfung zwischen Leben und Werk eines Künstlers und der Kultivierung autobiografischer Anekdoten nach, wobei sie bestimmte, wiederkehrende narrative Muster herausarbeiten, wie das frühe Talent eines Künstlers, das Leiden eines Künstlers, welches ihn erst zu außergewöhnlichen Leistungen anspornt, oder das Genie eines Künstlers, das ihn gottähnlich aus seinem Inneren heraus, im Sinne eines divino artista, sein Werk erschaffen lässt. Sie konstatieren auch ein soziologisches Interesse: »Wir dürfen vermuten, dass das Verhalten der Umwelt durch die Persönlichkeit des Künstlers, durch sein Wesen und seine Fähigkeiten, bestimmt sei und auch die Haltung der Umwelt ihrerseits wieder auf den Künstler einwirke.« Kris, Ernst/Kurz, Otto: Die Legende vom Künstler. Ein geschichtlicher Versuch, Frankfurt a. M.: 1995, S. 21. 17 | O. Gambari: The Contemporary Mythology of Matthew Barney, S. 152. 18 | J. Jones: The Myth Maker. 19 | Ebd. 20 | R. Barthes: Mythen des Alltags, S. 131f.

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als Ausdruck einer »säkularen Theologie künstlerischen Schaffens«21 versteht und daher die Ausstellung als »mehrgeschossige Kirchenarchitektur mit Hauptschiff und Krypta«22 inszeniert. Verweigert man sich beim Eintritt in diesen künstlichen ›Tempel‹ dem Schrumpfungsprozess in eine naive Kindlichkeit und damit dem Eintritt ins vermeintliche Wunderland, lässt sich noch ein anderer Zugang gewinnen.23 Diesen möchte der vorliegende Beitrag anhand von Matthew Barneys und Elizabeth Peytons Gemeinschaftsperformance Blood of Two aufzeigen, indem er Blood of Two als Mythifizierung der eigenen Mythifizierung versteht, so dass hier letztlich von einer ›wahren Mythologie‹ im Sinne Roland Barthes gesprochen werden kann. Die Frage wäre konkret: Stellt Blood of Two eine performative Mise en Scène des eigenen Starkults im Feld der Kunst unter Einbeziehung der Hauptakteure eines sich als Kultsystem bekennenden Kunstsystems dar? Und liegt in dieser selbstreferentiellen Geste letztlich ein kritisches Potenzial oder bleibt es bei der kunst- und machtvollen Verstärkung eines eingeschliffenen Macht- und Geschlechterdiskurses?24

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Auf der kleinen, griechischen Insel Hydra, (zurück)versetzt an einen Ort diffusen mythologischen Ursprungs, sind gemeinschaftlich auf der Insel geschaffene Blut- und Bleistiftzeichnungen der Künstler in eine Vitrine gebettet und diese über drei Monate im Meer versenkt worden. Auf dem Meeresgrund den Kräften der Natur und dem eindringenden Wasser ausgesetzt, findet eine symbolische Transformation der Werke in eine Pseudo-Natur oder ein Nicht-von-Menschenhand-Geschaffenes, ein

21 | Wakefield, Neville: »Matthew Barney. Prayer Sheet with the Wound and the Nail«, in: Laurenz-Stiftung/Schaulager Basel (Hg.), Matthew Barney. Prayer Sheet with the Wound and the Nail, Ausst.-Kat., Basel: 2010, S. 8–17, hier S. 10. 22 | Ebd., S. 11. 23 | Vgl. O. Gambari: The Contemporary Mythology of Matthew Barney, S. 152. 24 | Vgl. Volkart, Yvonne: »Matthew Barney, Review, Kunsthalle Wien / Museum für Gegenwartskunst Basel. Wien / Basel. 28.11.1997 – 8.2.1998«, in: Springerin o.Jg. (1998), H. 1. http://www.springerin.at/dyn/heft.php?id=2&pos=3&textid=770&lang=de (01.09.2010).

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Vera Ikon,25 statt. Auf diesem Wege werden die Papierarbeiten der beiden Künstler Teil eines Narrativs, das sich an Entstehungslegenden von Kultbildern anlehnt. Solche Legenden, die das Kultbild authentifizieren und ihm göttliche Kraft verleihen, erachten die Intervention eines Malers als störend. Sie legen hingegen Wert auf einen ›übernatürlichen‹ Ursprung. Dieser wird im zweiten Kapitel von Blood of Two, in der drei Monate später unter den Augen der Zuschauer inszenierten Bergung der Vitrine aus dem Meer, vorgestellt. Liegt die suggestive Kraft des Kultbildes in seiner physischen Präsenz, so wird diese zusätzlich dramatisiert, indem sich das Bild in Bewegung zu setzen scheint. Daher spielen »Bildprozessionen [...] eine wesentliche Rolle in Präsentationstechniken verehrter Bilder. In einer solchen Kultregie nahm das Bild ein quasi personales Leben an, wirkte als Individuum, das nicht mit anderen Bildexemplaren verwechselt werden konnte.«26 An die feierliche Bergung der Vitrine schließen Peyton und Barney entsprechend eine Bild- oder Reliquienprozession an, die das eigene Werk zum Mittelpunkt einer Kultregie und damit zum Kultobjekt macht. Bild und Reliquie kommen im Kult die gleichen Funktionsmerkmale zu – nämlich »[...] Gefäß einer höchst realen Präsenz des Heiligen«27 zu sein. In Blood of Two übernehmen die in einem gläsernen Schrein liegenden Zeichnungen nur bedingt personalen Charakter. Dieser wird vielmehr von einem noch blutverschmierten Hai übernommen, der im Anschluss an die Bergung auf der Tischvitrine festgezurrt und von der Menge in Richtung Schlachthaus geleitet wird. 25 | Vgl. Belting, Hans: Bild und Kult: Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst, München: 1991, S. 64. »Unter dem Aspekt ihrer Entstehung lassen sich zwei Arten von Kultbildern unterscheiden, die im Christentum öffentlich verehrt wurden. Die eine Gattung, zunächst nur für Christusbilder und ein Tuchbild des hl. Stephanus in Nordafrika belegt, umfasst ungemalte und deshalb besonders authentische Darstellungen, die entweder himmlischen Ursprungs waren oder durch mechanischen Abdruck zu Lebzeiten des Modells hervorgebracht wurden. Dafür bürgerte sich der Begriff ›a-cheiro-poietos‹ (nicht von Menschenhand gemacht) [...] ein. [...] Die zweite Gattung von Kultbildern, unter die zunächst nur Marienikonen fallen, wird ebenfalls in apostolische Zeit zurückverlegt, gilt aber als Werk eines Malers. Nur war es kein gewöhnlicher Maler, sondern kein geringerer als Lukas der Evangelist, von dem man glaubte, Maria habe ihm zu Lebzeiten für ein Porträt Modell gesessen.« 26 | Ebd., S. 61. 27 | Ebd.

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Auf Hydra findet alljährlich am Abend des Karfreitags eine Prozession statt, die eine reich mit Blumen und Kerzen geschmückte und als ›epitaphio‹ bezeichnete Bahre mit dem Leib Christi vom Stadtviertel Kamini hinunter zum Meer führt. Die Träger schreiten unter den Augen der Kerzen tragenden Menge ins Wasser und lassen den epitaphio über der Meeresoberfläche schweben. Das Meer, in der christlichen Ikonografie ein Symbol des Todes und der Auferstehung, hat für das einstige Seefahrervolk Hydras eine besondere, zugleich lebenserhaltende und -bedrohende Bedeutung. Mit der Berührung des Meeres durch den Leib Christi soll in der Karfreitagsprozession auf Hydra das Meer geheiligt und milde gestimmt werden. Umgekehrt erfährt der Leib Christi durch diese Berührung eine Profanierung, die über die Vergegenwärtigung eine neuerliche Verlebendigung des Heiligtums bewirkt. Solchermaßen erneuert bringen die Träger den epitaphio wieder an Land, wo eine gemeinsame Messe abgehalten wird. Bezugnehmend auf diese lokale Tradition lassen Peyton und Barney die Vitrine mit ihren gemeinsam geschaffenen, die Spuren von Blut tragenden Zeichnungen am 16. Juni 2009 bei Sonnenaufgang zurück an Land bringen. In der darauffolgenden Prozession der geladenen Gäste, allesamt ›Funktions- und Würdenträger‹ der Kunstwelt, nehmen die Zeichnungen in ihrem Schrein die Position von Reliquien ein, die einer neuen Weihestätte zeitgenössischer Kunst zugeführt werden.

Abb. 1: Matthew Barney and Elizabeth Peyton, Blood of Two, 2009

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Die Prozession (von lat. processio – Zug/Geleit) stellt ein gemeinsames, zielgerichtetes Gehen dar, das zumeist um ein identitätsstiftendes Objekt organisiert ist. Indem bestimmte Räume abgeschritten, Orte miteinander verknüpft und so in ein Narrativ eingebunden werden, das die Gruppe mit den für sie identitätsstiftenden Orten verbindet, werden Körper und Raum zu Orten der Sinnproduktion. Als öffentliches Bekenntnis drückt die Prozession somit aus, was die Identität einer Gruppe ausmacht. Clifford Flanigan bemerkt: To be in a procession is to participate in a group activity that minimises individuality, since every member must be part of the moving group and direct his or her own body in terms of the rhythms set by the group. Indeed, togetherness, or solidarity, is the most characteristic feature of processions, a feature that applies to the motion itself, the succession of participants in the procession, and even the route which the procession takes, since all participants must go the same way and at the same pace. 28

Innerhalb eines Systems, zu dessen Axiomen die Individualität des Künstlers wie die des Betrachters gehört, erscheint eine solche symbolische Aktionsform, die auch an die Orchestrierung von Körpern im Dienste der Macht denken lässt, zunächst erstaunlich. Die Prozession ist wie kaum ein anderes Ritual traditionalisierendes Instrument, indem sie Eigenschaften wie Wiederholung, Stilisierung, Ordnung und beschwörende Form der Darstellung als formale Aspekte in sich vereint. Dies ermöglicht ihr, »die rhythmischen Imperative und Prozesse des Kosmos zu imitieren und dadurch gewissen Dingen, die eigentlich soziale Konstrukte sind, Dauerhaftigkeit und Legitimität zu verleihen [Herv.i.O.]«.29

28 | Flanigan, C. Clifford: »The Moving Subject: Medieval Liturgical Processions in Semiotic and Cultural Perspective«, in: Kathleen Ashley/Wim Hüsken (Hg.), Moving Subjects. Processional Performance in the Middle Ages and the Renaissance, Amsterdam/Atlanta: 2001, S. 35–51, hier S. 39. 29 | Tambiah, Stanley: »Eine performative Theorie des Rituals«, in: Uwe Wirth (Hg.), Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a. M.: 2000, S. 210–242, hier S. 218. Tambiah bezieht sich auf Moore, Sally F./ Myerhoff,

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Aus diesem Grund ist die Prozession auch die genuine Kommunikationsform des Mythos, indem sie das Ur-Ereignis der Kultlegende, in dem der Kult und dessen narrative Fixierung gründen, in ritueller Wiederholung aktualisiert. Sie lässt damit Natur geschichtlich und Geschichte natürlich erscheinen. Scheinbar ewig verbindliche Ordnungsmuster, die im Mythos an die Stelle von Geschichte treten, werden so inkorporiert. Als Kommunikationsform des Mythos ›reinigt‹ die Prozession die Dinge, »macht sie unschuldig, [...] gründet sie als Natur und Ewigkeit, [...] gibt ihnen Klarheit, die nicht die der Erklärung ist, sondern die der Feststellung [Herv.i.O.]«.30 Selbst im Falle einer neu entwickelten, einmalig aufgeführten Prozession wie Blood of Two, ist diese so konstruiert, dass ihre interne Wiederholung von Form und Inhalt sie »traditionell mach[t]«.31 Auch beruht die gemeinschaftsbildende Kraft der Prozession auf der Einhaltung und der Wiederholung einer Form und weniger auf geteilten Vorstellungen, Wünschen und Überzeugungen. Diese sind innerhalb einer Prozession auch nicht verhandelbar. »Das Ritual ist ein Ort der communio jenseits der Kommunikation«,32 schreibt daher Sybille Krämer.

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Prozessionen und Paraden tauchten schon häufiger in Barneys künstlerischer Praxis auf. Hier wäre zunächst das Defilee der Helden aus den frühen CREMASTER-Filmen zur Eröffnung der ersten Barney-Retrospektive im Museum Boijmans Van Beuningen 1995 zu nennen. Bereits hier ließ der Künstler zur Ausstellungseröffnung sämtliche Figuren aus seinen ArbeiBarbara G.: »Introduction: Secular Ritual: Forms and Meanings«, in: Sally F. Moore/ Barbara G. Myerhoff (Hg.), Secular Ritual, Assen: 1977, S. 3–24, hier S. 8f. 30 | R. Barthes: Mythen des Alltags, S. 131. 31 | S. F. Moore/B. G. Myerhoff: Introduction: Secular Ritual, S. 8f. »Even if it is performed once, for the first and only time, its stylistic rigidities, and internal repetitions of form and content make it tradition-like [...] Such a ceremony may fail to convince outsiders but it is intended for insiders. Though performed only once it is supposed to carry the same unreflexive convictions as any traditional repetitive ritual, to symbolize for the participants all that they share in common, and to insist to them that it all fits together by putting it together as one performance.« 32 | Krämer, Sybille: »Sprache – Stimme – Schrift. Sieben Gedanken über Performativität als Medialität«, in: U. Wirth, Performanz (2000), S. 323–346, hier S. 335.

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ten der Reihe nach auftreten. Er selbst, verkleidet als zweieinhalb Meter großer Satyr namens ›The Kid‹, wurde von den Goodyear-Hostessen ins Freie eskortiert und beendete neben Helena Christensen als ›Braut‹ diesen Triumphzug. De Lama Lâmina (2004) als Prozession einer barneyesk ausgestatteten, bahianischen Karnevalsgesellschaft im Rahmen des Karnevals von Salvador de Bahia stellt nach der langjährigen Beschäftigung des Künstlers mit dem CREMASTER Cycle eine bislang singuläre Arbeit im Œuvre Matthew Barneys dar. In Zusammenarbeit mit dem Musiker Arto Lindsay entwarf Barney einen Prunkwagen, Kostüme und die Musik für 1.000 Mitziehende und konfrontierte seine künstlichen Welten, die er schon früher an authentischen Orten sich entfalten ließ, mit dem öffentlichen, weitgehend unregulierten Stadtraum, der im Karneval selbst zum Fiktionsraum wird. Mit Drawing Restraint 9, einem Film, der größtenteils auf dem japanischen Walfangschiff Nisshin Maru spielt, besinnt sich Matthew Barney wieder auf die Vorzüge des gänzlich inszenierten filmischen Raums. Die Anfangssequenzen des Films zeigen auf dem Gelände einer japanischen Ölraffinerie eine Prozession von Menschen in traditionell anmutenden, japanischen Kostümen, die nach einem ebenso traditionell anmutenden, treibenden Rhythmus hölzerner Musikinstrumente sich tanzend vorwärts bewegt.33 Die Prozession geleitet einen Lastzug mit heißer Vaseline zu einem gewaltigen Fabrikschiff, das mit der weichen Masse in die Antarktis aufbricht. Die Sequenz hat eine symbolische Funktion; sie verweist auf die Geschlossenheit, Meisterschaft und Tradition Japans, als dessen »Occidental Guest«34 sich der Protagonist hier inszeniert. Blood of Two kehrt zur Performance in Echtzeit zurück. Hier sind es nicht mehr die Anderen, die eine Prozession abhalten, wie bei De Lama Lâmina und Drawing Restraint 9. Es sind auch nicht mehr die mythologischen Figuren seiner eigenen Kosmologie, die hier inszeniert werden, sondern diejenigen, die den ›Mythos Barney‹ innerhalb des Kunstsystems mitbegründen und stützen. Während partizipative Ansätze häufig mit dem Anspruch auftreten, ›kunstferne‹ Schichten in den Vollzug zu integrieren, ist Blood of Two sichtlich ein Heimspiel – die Kunstwelt unter sich als ihr eigenes Publikum »im Raum massenmedialer Resonanzsteuerung«.35 Set 33 | Die Musik von Drawing Restraint 9 wurde von Björk für den Film komponiert. 34 | Die Ausstellung der Barbara Gladstone Gallery, in der Drawing Restraint vorgestellt wurde, hieß Matthew Barney: The Occidental Guest (7.4.2006–13.5.2006, New York). 35 | Assmann, Jan/Assmann, Aleida: »Mythos«, in: Hubert Canicik/ Burkhard Gladigow/Karl-Heinz Kohl (Hg.), Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe. Bd. 4, Stuttgart u.a.: 1998, S. 179–200, hier S. 197.

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und Setting dieser Performance auf den Straßen von Hydra sind so gewählt, dass sich der reale Raum dem des Filmsets annähert und den Regisseuren im Hintergrund weitgehende Kontrolle über den Hergang lässt. Der Titel der Gemeinschaftsperformance Blood of Two ruft eine zeremonielle Verbindung im Sinne der Blutsbrüderschaft auf, die hier durch die Vermischung von Blutstropfen auf Zeichenpapier im Vorfeld geschlossen wurde. Elizabeth Peyton geht damit eine Verbindung ein, in der sie ihr Blut für die Kunst zu geben und sich mit Barney in die Tradition des Künstlers als Märtyrer36 zu stellen scheint – ist sie ansonsten doch für ihre eher zurückhaltenden und doch ikonenhaft wirkenden Portraits eben jener Märtyrer-Künstler bekannt. Ihre meist kleinformatigen, stilisierten und androgyn wirkenden Portraits so unterschiedlicher, mythologisierter Persönlichkeiten, wie Kurt Cobain, Lady Diana oder Oscar Wilde, ebenso wie von Freunden, wie Matthew Barney selbst, verbinden fragil und melancholisch nach innen gewandte Züge, die einen bestimmten Typus kennzeichnen. Es ist die Diva und »ihre unnachahmbare Authentizität – mit ihrer Nähe zur Versehrtheit [...] und mit dem Umstand, daß ihr Starkörper immer eine körperliche Substanz mit dem für sie typischen Image verschränkt«.37 Der ihnen so verliehene Nimbus der Unerreichbarkeit paart sich mit dem Versprechen der Nähe, das mitunter in der gekonnt nachlässigen, pastosen Maltechnik auf kleinem Format liegt, wobei zwischen der Künstlerin und den meist nah herangerückten Modellen eine Intimität zu herrschen scheint, die durch die Titel der Bilder wie Nick and Pati (Nick Mauss und Pati Hertling) noch verstärkt wird, so dass der Eindruck entsteht, man erhielte Einblick in ein persönliches Album. In der Verschmelzung von privatem und öffentlichem Leben liegen auch die Authentizismen, die jenen »Heldinnen«38 des Starsystems zugeschrieben werden, die Peyton malerisch in ihre fiktive, persönliche ›Freunde- und Ahnengalerie‹ aufnimmt.39 In ihrer Überblendung von Porträt und Typisierung hin zu einer überzeitlichen Ebenbildlichkeit verschwimmt die Trennung von Sein und inszenierter Darstellung.

36 | Vgl. Hersinger von Waldegg, Joachim: Der Künstler als Märtyrer – St. Sebastian in der Kunst des 20. Jahrhunderts, Worms: 1998. 37 | Bronfen, Elisabeth: »Vorwort«, in: Elisabeth Bronfen/Barbara Straumann (Hg.), Die Diva. Eine Geschichte der Bewunderung, München: 2002, S. 7. 38 | http://www.monopol-magazin.de/artikel/20101462/Elizabeth-Peytons-Heldinnen.html (1.7.2010). 39 | Vgl. E. Bronfen/B. Straumann: Die Diva (2002).

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Biografische Bezüge ziehen sich wie ein roter Faden auch durch die Arbeit Barneys. Die Selbstdarstellung Barneys innerhalb seiner Kunst und seiner Interviews kombiniert seine unterschiedlichen Rollen als Student der Medizin, Leistungssportler, Fotomodell, Künstler, Ehemann und NichtMehr-Ehemann von Björk. Dabei korrespondiert Barneys Beschäftigung mit Kultfiguren wie beispielsweise Gary Gilmore, dessen Rolle er selbst in CREMASTER 2 übernimmt, mit seiner eigenen Rolle als Kultfigur des Kunstsystems. Norman Mailer selbst, der die Geschichte des Raubmörders Gilmore in seinem Buch The Executioner’s Song fiktionalisiert und darin die Behauptung aufstellt, der Entfesselungskünstler Harry Houdini sei Gilmores Großvater, spielt in CREMASTER 2 Houdini und damit Barneys Großvater. Die Fiktionalisierung der eigenen Person beziehungsweise die Verwischung der Grenze zwischen fiktiver und realer Rolle, die den Personenkult kennzeichnet, findet fortwährend statt und wird zugleich verhandelbar. In seiner Kombination aus Personenkult, Geheimbund und Medienereignis ist auch Blood of Two von jener Verschmelzung von Privatem und Öffentlichem bestimmt, die den Starkult kennzeichnet. An die geladenen Gäste richten sich das Versprechen des Auserwählt- und Eingeweihtseins und die Möglichkeit, sich vor aller Augen im Abglanz der Stars zu inszenieren. Peytons und Barneys Interesse für Kultfiguren der (Populär-)Kultur korrespondiert mit der eigenen Starstellung im Kunstsystem und einer kultisch ritualistischen Rezeption ihres Werks.

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Zu den elementarsten der im Mythos getroffenen Unterscheidungen gehört jene zwischen dem Heiligen und dem Profanen, dem Außeralltäglichen und dem Alltäglichen, die sich vorrangig räumlich niederschlägt. Die Räume der Kunst sind häufig als Kulträume beschrieben worden. Carol Duncan beschreibt das Museum als rituelle Struktur: The museum’s sequenced spaces and arrangements of objects, its lightning and architectural details provide both the stage set and the script – although not all museums do this with equal effectiveness. The situation resembles in some respects certain medieval cathedrals where pilgrims followed a structured narrative route through the interior, stopping at prescribed points for prayer or contemplation. 40

Auch der Kultcharakter der geheiligten Hallen des Guggenheim Museums findet Eingang in den CREMASTER Cycle. In The Order inszeniert Barney das Museum als Kultraum, in dem daraufhin die Ausstellung zum CREMASTER Cycle selbst wieder ihre höheren Weihen erhält. Die Überfahrt der Gäste vom Festland auf die kleine, kaum mehr als 50 Seemeilen vor Athen gelegene Insel ist als Übergang in eine Sphäre des Außeralltäglichen zu deuten. In einer Art Rückzug vom Kunstbetrieb der Metropolen wird die Peripherie zum Inbild einer außeralltäglichen Sphäre, die auch die Sphäre des Festes ist, in der Prozessionen seit jeher ihren festen Platz einnehmen. Hydra, die »Insel der Seefahrer und Künstler«,41 die einst mit ihrer starken Handels- und Kriegsflotte die napoleonische Seeblockade durchbrach, sich erfolgreich den Angriffen der Piraten widersetzte und gegen die türkische Fremdherrschaft kämpfte, geriet in Vergessenheit bis in den 1950er Jahren ein mittelmäßiger Film mit Sophia Loren sie schlagartig berühmt machte: Der Knabe auf dem Delphin.42 Plötzlich wurden die Bewohner des kleinen Hauptortes der Insel, der sich wie ein Amphitheater über der schmalen Hafeneinfahrt der Mandraki-Bucht erhebt, Zeugen eindrucksvol40 | Duncan, Carol: Civilizing Rituals: Inside Public Art Museums, London/New York: 1995, S. 12. 41 | Diverse Reisemagazine werben so für die kleine Insel im Saronischen Golf. 42 | (USA 1956, R: Jean Negulesco).

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ler Auftritte vieler Künstler, darunter Henry Miller, Maria Callas, Leonard Cohen und Jeff Koons, die die Insel zu ihrem Refugium erklärten. Heute leben nur noch wenige Hydrioten auf der Insel. Sie haben sich mit den illustren Fremden und den immensen Grundstückspreisen der inzwischen vollständig unter Denkmalschutz stehenden Insel arrangiert. In ihrem Bühnencharakter – »Hier kommt man nicht einfach an, hier tritt man auf. Ob mit eigener Jacht, wie die griechischen Millionäre, oder dezent mit dem Linienfährschiff«43 – dient diese Insel in einer Art bereinigter Geschichtlichkeit als natürliche Kulisse für Peytons und Barneys Prozession. Es dämmert noch, als sich die ersten kleinen Gruppen schillernder Persönlichkeiten der Kunst- und Glamourwelt auf den schmalen Küstenwegen über der Bucht auf den Weg machen.44 Nach den großen Events des Kunstsommers, wie der Venedig Biennale 2009 Fare Mondi / Making Worlds mit der Eröffnung der Francois Pinault Foundation an der Punta della Dogana und der Art Basel, ist dieses Treffen, das in Athen mit der Eröffnung der Ausstellung A Guest + A Host = A Ghost von Massimiliano Gioni (New Museum, New York) in der DESTE-Foundation begann, als eine Art Höhepunkt zu verstehen, der lediglich dem exklusiven Kreis auf der Gästeliste vorbehalten ist.45 Dieser auf der Insel versprengte, den Sonnenaufgang erwartende inner 43 | S. Hohmann: Mythologie heute, S. 26. 44 | »Tom Holert spricht von ›Glamour‹ als ›Sichtbarkeit-garantierendes Treibmittel für Medien-Präsenz‹, das kulturellen Mehrwert verspricht und ›eine mit Geld nicht aufzuwiegende Aura des Erfolgs und des Dabeiseins mit sich führt‹.« Berger, Doris: »Willing to Perform. Künstlermythen und Celebrity-Kultur«, in: Melanie Franke (Hg.), Ich kann mir nicht jeden Tag ein Ohr abschneiden. Dekonstruktionen des Künstlermythos, Ausst.-Kat., Berlin 2008, S. 54–58, hier S. 54. Berger zitiert hier Holert, Tom: »Bildfähigkeiten. Visuelle Kultur, Repräsentationskritik und Politik der Sichtbarkeit«, in: Tom Holert (Hg.), Imagineering. Visuelle Kultur und Politik der Sichtbarkeit, Köln: 2000, S. 14–33, hier S. 31. 45 | »Collector Jean-Pierre Lehmann had high praise for Joannou, who tends to favor work in any medium that probes the darker reaches of the human psyche. ›Dakis is the best private collector I know,‹ [sic] Lehmann said. ›He leaves people like Pinault in the dust.‹ Judging from the presence of connoisseurs like Marion Lambert, Panos and Sandra Marinopoulos, Patrizia Sandretto Re Rebaudengo, Andy Stillpass, Laura Skoler, David Teiger, Julia Stoschek, and the entire Rubell family of Miami, I don’t think anyone there would have argued.« Yablonsky, Linda: »Greek Mythology«, in: Artforum.com Diary vom 23.6.2009. http://artforum.com/ diary/id=23143 (1.6.2010).

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circle findet sich zum verabredeten Zeitpunkt um sechs Uhr auf dem Küstenweg unterhalb des Slaughterhouse ein. Einige der Gäste hatten gar nicht geschlafen und den Morgen in der Pirate Bar erwartet. Scheinbar rechnet man hier mit der »großen soziologischen Bewegkraft der Erwartung«, die »im Publikum die wirre Neugier« erzeugt, »die ganz und gar bereit ist, das wirklich zu sehen, worauf man es [das Publikum, B.K.] warten läßt«.46 Als im gleißenden Morgenlicht in Sichtweite ein Fischerboot ausfährt, um an einem verabredeten Ort zwei Taucher in die Tiefen zu entsenden – an dem Ort, an dem vor drei Monaten eine mit Zeichnungen und Aquarellen von Peyton und Barney bestückte Tischvitrine versenkt wurde – haben sich alle Gäste an der steinernen Brüstung der Küstenstraße eingefunden. Mit Hilfe von Seilen, die von den Tauchern um den massiven Stahlrohrrahmen der Vitrine geschlungen werden, ziehen die Fischer dieses, an einen Reliquienschrein oder eine Totenbahre erinnernde, Objekt mit Hilfe eines Krans an Bord des Bootes. Auf der kupfern korrodierten Bodenplatte der Vitrine sind fünf mit Spannhaken befestigte Holzkassetten montiert, unter deren Glasdeckel sich mythologische Darstellungen von Artemis und Aktaion neben Tierdarstellungen von Möwen, Schafen und einer Katze, die einen Fisch verzehrt, befinden. Mit einer Kupferplatte bedeckt und mit Spannhaken zusammengepresst, liegen weitere Zeichnungen nicht einsehbar am Kopfende der Vitrine. Am schroff steinigen Ufer angekommen, hebt der Bootskran die Tischvitrine an Land, um unter dem Kommando eines grauhaarigen, zwirbelbärtigen, hydriotischen Fischers über die steilen, steinernen Treppen hinauf zum Küstenweg gewuchtet zu werden. Oben angekommen wird unter gedämpften Zurufen ein erlegter, an den Kiemen blutverschmierter Hai auf der Tischvitrine mit Seilen festgezurrt. Als die Fischer die geborgene Bahre mit dem Hai-Kadaver in einen Holzkarren gehoben und einen geschmückten Esel eingespannt haben, kommen auch die Zuschauer zu ihrem Einsatz. Sie folgen sommerlich festlich gekleidet gemessenen Schrittes dem Eselskarren, der unter dem Geleit der Fischer gen Schlachthaus gezogen wird, das wie eine kleine Kapelle auf Felsen über dem Meer thront. Die Ikonizität und Gemessenheit dieser Gemeinschaftsaufführung wird nicht unerheblich dadurch gestört, dass sämtliche Teilnehmer, mit Digitalkameras und Mobiltelefonen bewaffnet, ein eigenes Bild des Geschehens und dabei unvermeidlich auch von anderen mit Digitalkameras und Mobiltelefonen bewaffneten Teilnehmern schießen, die dadurch so gar nicht bei der Sache scheinen. 46 | R. Barthes: Mythen des Alltags, S. 12.

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Abb. 3: Matthew Barney and Elizabeth Peyton, Blood of Two, 2009

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die nautische

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Das Meer, Schiffe, Inseln und Fische spielen in der Drawing Restraint-Serie Matthew Barneys wiederkehrend eine entscheidende Rolle. Nautisch geprägt war neben Drawing Restraint 9 auf dem japanischen Walfangschiff Nisshin Maru auch Drawing Restraint 15, bestehend aus einem 41-minütigen Film, Zeichnungen mit Grafit, Tinte, Fischblut und Erbrochenem sowie Schnitzereien auf Walknochen, die während einer fünfmonatigen Atlantiküberquerung des Künstlers zusammen mit seinem langjährigen Exegeten Neville Wakefield von Gibraltar nach New York auf einem Fischdampfer entstanden (sein sollen). Auf der offiziellen Drawing Restraint-Webseite wird Drawing Restraint 15 folgendermaßen beschrieben: Embracing the obstacles of motion sickness, spatial constraints, and the turbulence of the seas, the sustained action of Drawing Restraint 15 is manifested in an array of twenty-four drawings related to the immediate and temporal experience on board the Dimma. 47

47 | http://www.drawingrestraint.net (1.9.2010).

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Die Identifikation des Künstlers mit dem Seefahrer und Reisenden, eine Metapher, die Matthew Barney nach Drawing Restraint 9 und Drawing Restraint 15 in Blood of Two erneut aufgreift und die von Elizabeth Peyton in einem kleinformatigen Portrait des Künstlers mit Seemanns-Wollmütze in der Ausstellung noch unterstrichen wird, entspricht einem antiken Topos, demzufolge Dichter das Verfassen eines Werks mit einer Schifffahrt verglichen haben.48 Nach der in der Drawing Restraint-Serie angedeuteten künstlerischen Odyssee, die das tradierte Bild des leidenden, aus der Gesellschaft ausgeschlossenen Künstlers erneut ins Werk setzt, besiegelt Blood of Two mit der Ankunft im sicheren Hafen und der feierlichen Ehrung der Heldentaten des Künstler-Seefahrers die Bedeutung des so entstandenen Meisterwerks. Die vorübergehende Übergabe der Vitrine mitsamt ihrem Konvolut von Zeichnungen an das Meer macht eine genauere Betrachtung von Roland Barthes Essay »Nautilus und Trunkenes Schiff« aus den Mythen des Alltags interessant. Es ist sein Essay über das stählerne, fischförmige Unterseeboot Nautilus des Kapitän Nemo aus Jules Vernes Romanen 20.000 Meilen unter dem Meer und Die geheimnisvolle Insel sowie über das Langgedicht Arthur Rimbauds über Das trunkene Schiff, welches eine rauschhafte und schließlich vernichtende Fahrt ohne Steuermann aufnimmt. Jules Vernes Fantasie der Nautilus steht Barthes zufolge für einen Konformismus mit der bürgerlichen Ideologie, deren »wesentliche Interessen« Barthes im »Universalismus«, in der »Ablehnung einer Erklärung« und einer »unveränderlichen Hierarchie der Welt« sieht.49 Oberflächlich betrachtet sei das Schiff zwar ein Symbol des Aufbruchs, aber im Grunde sei es ein Emblem der Einschließung, eine Pseudo-Erforschung, die nur sich selbst wiederfindet. [...] [D]as Schiff kann zwar Symbol des Aufbruchs sein, aber es ist auf noch tiefere Weise Chiffre der Einschließung. Sinn für das Schiff ist immer die Freude, sich vollkommen einzuschließen, die größtmögliche Zahl von Objekten zur Verfügung zu haben, über einen absolut begrenzten Raum zu verfügen. [...] Die meisten Schiffe der Legende oder der Fiktion sind in dieser Hinsicht wie der Nautilus Thema einer geliebten Einschließung, 48 | Vgl. das Kapitel zu den »Schiffahrtsmetaphern« in Curtius, Ernst Robert: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern/München: 1967, S. 138–141. 49 | R. Barthes: Mythen des Alltags, S. 145.

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denn es genügt, das Schiff als Wohnstätte des Menschen aufzuweisen, damit der Mensch es sogleich als rundes glattes Universum genießt, in dem er im übrigen durch eine ganze Seefahrermoral zugleich zum Gott, Herrn und Besitzer wird (Einziger Herr an Bord usw.). In dieser Mythologie der Seefahrer gibt es nur ein Mittel, um das Besitzerische des Menschen zu bannen, nämlich den Menschen zu beseitigen und das Schiff allein zu lassen. 50

Trotz des Titels »Nautilus und Trunkenes Schiff« erwähnt Roland Barthes das Trunkene Schiff erst im letzten Paragraf seines Essays, doch ist es jene Stelle, an der sein Vergleich Fahrt gewinnt und seine Intention enthüllt: »Das wirklich gegensätzliche Objekt zum Nautilus von Jules Verne ist das Trunkene Schiff [Herv.i.O.] von Rimbaud, das Schiff, das ›ich‹ sagt und das den Menschen von einer Psychoanalyse der Höhlung zu einer wirklichen Poetik der Erforschung führen kann.«51 So treibt das verlassene, für den Ozean untaugliche Schiff als lyrisches Ich steuerlos die Flüsse hinab aufs Meer hinaus. Drawing Restraint 9, das sich im Bauch des berüchtigten japanischen Walfangschiffes Nisshin Maru abspielt, lässt sich »als rundes glattes Universum« im Sinne Roland Barthes deuten, »in dem er [der Mensch, B.K.] im übrigen durch eine ganze Seefahrermoral zugleich zum Gott, Herrn und Besitzer wird (Einziger Herr an Bord usw.)«.52 Das von ihm selbst geschaffene Universum betritt der Darsteller Barney in der Rolle des ›Occidental Guest‹, um Teil eines scheinbar von höheren, unsichtbaren Mächten geleiteten Rituals zu werden, an dessen Ende die blutige Vereinigung und zugleich gegenseitige Opferung, Selbstauflösung und Wiedergeburt des Liebespaares Barney-Björk als Wale steht. Auf einer anderen Klaviatur der ›Mythologie der Seefahrer‹ spielt Drawing Restraint 15. Scheinbar allein (gefilmt wird Barney von Wakefield, Kurator und langjähriger Exeget Barneys) stemmt sich der Künstler in einem kleinen Fischdampfer gegen die Übermacht der stürmischen See. Lässt diese physisch und psychisch strapazierende Atlantiküberquerung mit einem kleinen Fischdampfer auch an die steuerlose, wilde Fahrt des Trunkenen Schiffes

50 | Ebd., S. 41f. 51 | Ebd., S. 42. 52 | Ebd., S. 41.

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denken, so lässt Barney hier ebenfalls die ›Mythologie der Seefahrer‹ für sich arbeiten. Auf dem Grat hingegen, der die Nautilus vom Trunkenen Schiff trennt, spielt Blood of Two. Die alles entscheidende, formale Bewegung Rimbauds war für Barthes »das Schiff, das ›ich‹ sagt«.53 Dies macht das Gedicht zu einer »poetologischen Entdeckungsreise«,54 denn hier beginnt ein Gedicht über das Dichten – oder eine ›wahre Mythologie‹. Die dem Meer übergebene, wieder geborgene und sodann dem Publikum überlassene Vitrine mit Zeichnungen der Künstler wird insofern zu einer ›poetologischen Entdeckungsreise‹, als sie Rückschlüsse über das gesellschaftliche und mediale Konstruiertsein des zeitgenössischen Kunstwerks zulässt. Angeleitet durch die Zurufe des bereits erwähnten Fischers als Zeremonienmeister der Vätergeneration, sind die ersten Amtsträger der Prozession allesamt dem virilen Typus des kräftigen, gebräunten, einheimischen Naturburschen in Jeans und Turnschuhen verpflichtet, der seine Muskeln unter kurzen Hemdsärmeln spielen und sich leicht von den geladenen Gästen unterscheiden lässt. »The workers struggle occasionally disturbed«, bemerkt ein Journalist, »it was like Santiago Sierra without the consolation prize of the stinging message.«55 Gerade Prozessionen, als stark auf visuelle Reize setzende Spektakel, erlangen ihre soziale Bedeutung nicht nur durch eine symbolische Choreografie im geografischen Raum, sondern auch durch die Nutzung von spezifischen Farben und speziellen Kostümen. So werden Teilnehmer einer Prozession über ihre Kleidung mit einem gewissen Rang oder einer bestimmten Profession assoziiert und damit nicht in erster Linie als Individuen, sondern als Teil einer Gruppe erfahrbar.

53 | Ebd., S. 42. 54 | Harbusch, Ute: Gegenübersetzungen. Paul Celans Übertragungen französischer Symbolisten, Göttingen: 2005, S. 248. Ute Harbusch weist auch darauf hin, dass Das trunkene Schiff als ein Gedicht über das Dichten wiederum auf einen antiken Topos zurückgreift, demzufolge Dichter das Verfassen eines Werks mit einer Schifffahrt verglichen haben. Vgl. E.R. Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, S. 136ff. 55 | Velasco, David: »Matthew Barney and Elizabeth Peyton. Deste Foundation Project Space«, in: Artforum International 48 (2009), S. 251.

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Wenn es sich hier auch nicht um dezidiert kostümierte oder uniformierte Gruppen handelt, so ist es immerhin als ein starkes, visuelles Signal in Hinblick auf die Identität und den Status der jeweiligen Gruppe zu werten, wenn die ›einheimischen Fischer‹ hier in Arbeitskleidung auftreten, während die ›Gäste‹ einem festlichen Dresscode entsprechend gekleidet sind. Die gemeinsame Kostümierung innerhalb der Gruppen verstärkt den Zusammenhalt der ›bruder- und schwesterschaftlichen‹ Bünde und bringt ihn zur Aufführung. Prozessionen stiften Gemeinschaft »nicht durch Verständigung, sondern durch das Einhalten einer Form«.56 Obgleich sie häufig mit Momenten der Transformation (Hochzeit, Tod, Auferstehung) verbunden sind, inszenieren und bestätigen Prozessionen paradigmatische Erkenntnisgrenzen, soziale Rollen und grundlegende Unterscheidungen wie ›Wir und die Anderen‹.57 Barney und Peyton selbst treten während ihrer Performance kaum in Erscheinung. Vielmehr beobachten sie, mal als Teil des Zuges, mal als Publikum am Rande stehend, das Geschehen, das unter ihrer Regie und ihnen zu Ehren inzwischen seinen Lauf genommen hat. Dass die Vitrine an Land von den einheimischen Fischern mit einem erlegten Hai versehen wird, unterstreicht neben der christlich eucharistischen Prägung der Prozession58 auch den Bezug auf lokale Legenden. Denn wie es die Seefah56 | Krämer, Sybille: Sprache, Sprechakt, Kommunikation, Frankfurt a. M.: 2001, S. 145. 57 | Identität muss, wie Stuart Hall schreibt, erst »durch das Nadelöhr des Anderen gehen, bevor sie sich selbst konstruieren kann«. Dieses »Eingeschriebensein der Identität in den Blick des Anderen« wird in Prozessionen überdeutlich. Hall, Stuart: Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften. Bd. 2, Hamburg: 1994, S. 45 und 73. 58 | Der Fisch ist in der christlichen Kunst ein Symbol für die Gläubigen, die von Christus dem Fischer aus dem Meer gefangen werden, wobei der Fischfang »Sinnbild der Rettung des Christen aus dem gefahrvollen Meer der Welt und Sinnbild der Wiedergeburt aus der Taufe ist«. Dölger, Franz Joseph: Ichthys. Das Fischsymbol in frühchristlicher Zeit. Bd. 5, Münster/Westfalen: 1943, S. 664. Dass zur Bezeichnung Christi ›ICHTHYS‹ (griech. Fisch) verwendet wurde, hängt Franz Joseph Dölger zufolge mit der in ›ICHTHYS‹ gegebenen Kürzung des Namens Jesu Christi zusammen. Das Fischsymbol und die Folge I (Jesus), CH (Christus), TH (Gottes), Y (Sohn), S (Erlöser) als Akrostichon spielte in der frühchristlichen Kunst eine bedeutende Rolle wie beispielsweise in der Lucina-Krypta der San Callisto-Katakombe in Rom. Anknüpfend daran wurde die Eucharistie in den Wandmalereien

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rerlegende der Insel will, sollen sich am Fuße der Klippen unterhalb des Schlachthauses Haie getummelt haben, als hier noch das Blut der Schafe ins Meer floss: die ungezähmte, wilde gegenüber der domestizierten Natur. Die vor der Prozession in Abwesenheit des Publikums vollzogene Tötung und für den Abend angesetzte festliche Verspeisung eines Vertreters dieser Spezies, lässt sich im Sinne des Blutopfers als Aktivierung und Aneignung eines lebenshaltigen Prinzips deuten. Opfertiere werden einer Gottheit oder einer Naturgewalt geweiht, der sie (in ihrem Tempel) dargebracht werden. Im Falle von Blood of Two wird der Hai anstelle des ungebändigten Stieres, der in der Phallus-Prozession der griechischen Dionysien für Virilität und Fruchtbarkeit steht, den beiden in das Schlachthaus als neuem Kunsttempel eingezogenen Künstler-Göttern dargebracht. Als die Prozession schließlich das Schlachthaus erreicht, in dessen Räumen bereits Arbeiten installiert sind, wird der Hai von der Trage gehoben und die Vitrine in den für die Menge viel zu kleinen, ehemaligen Schlachtraum gebracht. Hier wird die Verglasung geöffnet, so dass das Wasser auf den Steinboden schwappt und im Inneren der Vitrine die vom Wasser angegriffenen Blut- und Bleistiftzeichnungen in ihren Holzrahmen sichtbar werden. Eine Bleistiftzeichnung zeigt Artemis, die Göttin des Waldes und der Jagd, auf einem Hirschen reitend, während eine andere Blut- und Bleistiftzeichnung, einer attischen Vase nachempfunden, den Tod des Aktaion zeigt, nachdem er auf der Jagd Artemis mit ihren Nymphen beim Bade ertappt hatte. Die Göttin verwandelt Aktaion in einen Hirschen, der sodann von seinen eigenen Jagdhunden zerfleischt wird. Sie trägt hier in Abwandlung der Vorlage keine lodernde Fackel, sondern einen mit Blut gefüllten Krug, den sie über dem Speer des Aktaion ausgießt. Die anderen drei in der Vitrine sichtbar eingeschlossenen Bleistiftzeichnungen zeigen alltäglichere, allerdings ebenfalls mit der Jagd verwandte Szenen: Zwei Möwen, die ins Meer stoßen, um einen Fisch zu fangen, eine Katze, die einen am Boden liegenden Fisch verspeist und zwei Schafe, die durch einen Zaun hindurch auf den Betrachter blicken und möglicherweise ihrer eigenen Schlachtung frühchristlicher Grabstätten oftmals als wundersame Vermehrung der fünf Brote und zwei Fische zur Speisung der Fünftausend symbolisiert (Joh. 6, 1–15), bei der Jesus seinen Leib verheißt (Joh 6,51): »Ich bin das lebendige Brot, das vom Himmel herabgekommen ist. Wer von diesem Brot isst, wird in Ewigkeit leben. Das Brot, das ich geben werde, ist mein Fleisch, (ich gebe es hin) für das Leben der Welt.« Das Fischmotiv übernimmt daher auch die symbolisierende Darstellung des Abendmahl-Sakraments.

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entgegensehen. Unter einem kupfernen Buchdeckel liegen weitere lose Zeichnungen und Skizzenbücher verborgen. Die Besucher drängen sich um die Tischvitrine und die wenigen, kleinformatigen Arbeiten an den Wänden. In einer Art Stall findet sich hinter Gittern neben dem Hauptraum das Stillleben eines Fisches mit Zitrone sowie Peytons bereits erwähntes Portrait Matthew Barneys mit einer dunklen Seefahrer-Wollmütze. Auf einem winzigen, quadratischen Gebäude unterhalb des Schlachthauses reckt sich eine Bronze-Skulptur Barneys in den Himmel. Bei genauerem Hinsehen wird die Basis der Skulptur als eine zweiteilige, sitzende Katze erkennbar, die nach oben in eine fantastische, scheinbar vom Wasser ausgewaschene Felsformation überzugehen scheint. Für die Besucher kaum erkennbar führt eine, von Barney aus Bronze gegossene, Rinne an der Stelle vom Schlachthaus hinab ins Meer, wo früher über eine steinerne Rinne Blut und Schmutz ins Wasser gespült wurde. Auf jene Rinne referiert eine weitere Zeichnung, die ein Schlachthaus zeigt, das mit roter Farbe angefüllt ist, welche über eine Rinne ins Meer fließt. So schließt sich auch hier ein mythologischer Kreis. Nach der Ausstellung lässt sich das Künstlerbuch Matthew Barney. Elizabeth Peyton. Blood of Two. 16 June 2009 als vorläufig letztes Kapitel von Blood of Two betrachten. Mit dem enigmatischen, Subjektivität und Wissenschaftlichkeit fortwährend vermischenden Katalogtext von Angus Cook, der auf ein Gedicht von T.S. Eliot fünf Seiten beschreibende Kommentare (»BLOOD OF TWO is installed in and around an abandoned slaughterhouse«),59 darauf zwei Seiten antithetischer Begriffe (»action/belief; action/contemplation; action/feeling«)60 und darauf zirka zwanzig Seiten Fußnoten folgen lässt, die wiederum mit Fußnoten versehen sind, ist dieser Text als Versuch zu verstehen, die Widersprüche von Blood of Two auszuhalten. Blood of Two is a network of overlaps and criss-crosses. As much as its conflicted terms strive for balance and fusion, it is Blood of Two’s greater resistance to these impulses, is failure to surrender unconditionally to

59 | Cook, Angus: »Some Aspects of Blood of Two as a Key to Its Interpretation, Fußnote c«, in: Matthew Barney/Elizabeth Peyton (Hg.), Blood of Two. 16 June 2009, Athen/New York: 2010, S. 16–93, hier S. 18. 60 | Ebd., S. 23.

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Wenn Barney in der Prozession auf der Seefahrerinsel Hydra sein Werk zusammen mit Peyton als verehrungswürdige Reliquie und gemeinschaftsstiftendes Symbol inszeniert und unter Geleit des ihn stützenden Kunstapparates in eine neue Weihestätte zeitgenössischer Kunst überführt, schlägt die Mythologisierung des Künstlers in eine Mythologisierung zweiter Ordnung, nämlich die des ihn rahmenden Kunstapparates, um. Diese neue Mythologisierung ließe sich als ›wahre Mythologie‹ im Sinne Roland Barthes lesen, da sie die diskursive Struktur der eigenen Arbeit sichtbar werden lässt. Zu dieser Rahmung gehören auch andere Kunstwerke. So lässt die Tischvitrine mit dem darauf festgezurrten Hai an Damien Hirsts The Physical Impossibility of Death in the Mind of Someone Living, einen knapp vier Meter langen Tigerhai in einem mit Formaldehyd gefüllten Aquarium, denken.62 Diese Anklänge an ein skandalisiertes, für eine »Kunst in den Zeiten des beschleunigten Kapitalismus«63 stehendes Werk der 1990er Jahre sind im Zusammenhang mit Blood of Two als Rekurs auf den Kunstbetrieb lesbar. Während auf der einen Seite der Hai in Formaldehyd dem Publikum zwar dargeboten, aber doch entzogen bleibt, so wird er zumindest den geladenen Gästen bei Blood of Two dargeboten und deren unmittelbar-leiblicher Erfahrung zugänglich gemacht: Mit Sonnenuntergang wird der Hai auf dem offenen Feuer gebraten und an einer langen Tafel gemeinschaftlich verspeist. Während die Kunst für die geladenen Gäste zum Inbegriff des Festes inszeniert wird, vergrößert sich der Abstand zu jenen, die von dem 61 | Ebd., S. 91. 62 | Saatchi hatte das Werk 1991 bei Damien Hirst in Auftrag gegeben. Dieser ließ den Hai eigens vor der australischen Küste fangen, töten und nach England verfrachten. Als Saatchi Anfang 2004 sämtliche Werke Damien Hirsts veräußerte, wurde das Aquarium neben anderen Werken in einem ungeheuren Coup am Künstler und seinem Galeristen Jay Jopling zurückgekauft, um über Larry Gogosian zu einer geschätzten Summe von neun Millionen Euro an den Hedgefonds-Manager Steven A. Cohen überzugehen. Als eines der höchstbezahlten Werke zeitgenössischer Kunst geriet der Tigerhai einige Jahre später erneut in die Schlagzeilen, da der Fisch sich trotz des Formaldehyds in Selbstauflösung befand, was die Frage aufwarf, ob er ausgetauscht werden dürfe. 63 | http://www.faz.net/-00m1wi (10.08.2010).

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Ereignis nur hören. Während der Hai in Formaldehyd für jeden gleichermaßen unberührbar bleibt, geht es hier darum, wer ihn berühren und wer ihn letztlich essen darf und wer nicht. Die kultisch-ritualistischen Motive von Blood of Two stehen in einer ständigen Wechselwirkung mit der Kultstellung der beiden Künstler und ihrer Werke in der realen Welt. Die Welt des Kunst- und Kulturbetriebes wird in Blood of Two wie in früheren Werken Matthew Barneys in die mythologische Matrix eingebunden und damit als Kultsystem dargestellt und bestätigt.64 Die in Blood of Two um ein Konvolut skizzenhafter Zeichnungen inszenierte Kulthandlung bezieht eine Vielzahl von Akteuren mit ein, die den Starkult um Matthew Barney mit aufgebaut haben und stützen. Sie werden in Blood of Two nicht nur zu Komplizen der eigenen Mythifizierung, sondern zu den eigentlichen Hauptakteuren eines sich als Kultsystem bekennenden Kunstsystems. Die Rhetorik des Mythos setzt Barthes zufolge auf ein Wissen über ›natürliche‹ Unterschiede zwischen ›uns‹ und ›den Anderen‹. Blood of Two trägt demgegenüber Züge der ›wahren Mythologie‹, da hier eine Relativierung des jeweiligen Blicks stattfindet und man sich als Rezipient zugleich innerhalb und außerhalb jenes künstlichen Kultes wähnt. In dieser selbstreferenziellen Geste, welche weniger die institutionelle als die personelle Rahmung des Kunstwerks zur Anschauung bringt, liegt insofern ein kritisches Potenzial, als sie ein Unbehagen darüber weckt, ob man dem richtigen Kult angehört.

64 | In CREMASTER 3 zum Beispiel findet ein symbolisch patriarchalischer Konflikt mit der Figur des freimaurerischen Architekten, gespielt von Richard Serra, und Matthew Barney als Entered Apprentice statt. Serra, dessen Werk mit Splashing oder Tilted Arc wegweisend für die darauffolgende Generation von Bildhauern wie Barney selbst wurde, legt die Regeln für die Ausführungen in CREMASTER 3 fest.

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Abb. 4: Matthew Barney and Elizabeth Peyton, Blood of Two, 2009

»A sculpture that is made up of moving images, object systems, and still images« 1 – skulpturale Dimensionen des CREMASTER Cycle Eva Wruck Amy Jean Porter »Would you consider the term ›CREMASTER‹ as one of the major clues to understanding the series?« Matthew Barney »No. It’s part of one of the structures within the sort of biological model – it’s one of the structures that I’ve taken and abstracted into a system.« 2

Verfolgt man die kunstgeschichtliche Diskussion um Matthew Barney und speziell um sein Opus Magnum The CREMASTER Cycle (1994–2002), so ist zunächst die motivische Hervorhebung des Körpers und des Hybriden auffällig. Vor allem der psychoanalytisch orientierte Katalogbeitrag Nancy Spectors zur ersten Werkschau des Zyklus 2002/03 in Köln, Paris und New York hat dazu beigetragen, der Thematik des Körperlichen in der Werkrezep1 | Interview mit Matthew Barney: Matt, Gerald: Interviews. Band 2, Köln: 2008, S. 42–53, hier S. 45. 2 | Inter view mit Matthew Barney: Por ter, Amy Jean: Fluid Talk. http://www. stunned.org/barney.htm (16.12.2008). Zuerst erschienen in: Circa Art Magazine o. Jg. (2000), H. 93.

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tion Gewicht zu verleihen. Ihr Ansatz wurde immer wieder paraphrasiert3 und prägt damit eine inhaltliche Deutung, die der Komplexität des Werks allerdings nicht gerecht wird. Die Präsenz dieser Thematik in der Forschung liegt zuallererst im Titel des Werks begründet, der auf den CREMASTER-Muskel rekurriert, welcher für das Heben und Senken des Hodens verantwortlich ist. Eine genaue Analyse des filmischen Materials sowie der zeichnerischen, fotografischen und plastischen Objekte jedoch weist diesen Versuch des Zugangs zum CREMASTER Cycle recht bald als beschränkend aus. Barney selbst bezeichnet sich immer wieder als Bildhauer und den CREMASTER Cycle als Skulptur, die aus dem Geist der US-amerikanischen Earthworks der 1960er und 1970er Jahre entstanden sei.4 So äußert er sich, als er 2006 anlässlich seiner Funktion als Berlinale-Juror interviewt wurde, zur Thematik des Skulpturalen wie folgt: It is important to say that it is never stopped being – whether it was a handheld piece or a more produced cinematic work I think it never stopped being a program in sculpture, that’s what its always been, to create a narrative line and to make the sculpture from that. [...] They [die CREMASTER-Filme, E.W.] are not distributed on video because they’re sold as limited edition sculpture and that’s the way they’re filmed. 5

Die behauptete Nähe des CREMASTER Cycle zur Skulptur6 soll im Folgenden als mögliche Deutungskategorie des Werks befragt werden. Dabei ist der 3 | Zuletzt aufgegriffen von Urbaschek, Stephan: »… der Versuch, Objekten, diesen größeren Strukturen, emotionale Wirkmacht zu verleihen – ein Ausstellungsrundgang«, in: Ingvild Goetz/Stephan Urbaschek (Hg.), Matthew Barney, Ausst.-Kat., München: 2007, S. 21–45. 4 | So unter anderem im Inter view mit Por ter (vgl. Anm. 2) oder in G. Matt: Interviews, S. 42–53. 5 | Gespräch mit Matthew Barney: http://tarartrat.blogspot.com/2006/10/matthew-barney-at-babylon-theatre.html (20.04.2010). 6 | Die im Folgenden synonyme Verwendung der Begriffe ›Skulptur‹, ›Plastik‹ und ›Objekt‹ orientiert sich am amerikanischen Verständnis des Skulpturbegriffs, der spätestens seit den 1960er Jahren nicht mehr zwischen Plastik und Skulptur unterscheidet. Mit ›sculpture‹ sind sowohl aus Stein gehauene Werke gemeint als auch Plastiken, räumliche Installationen und Objekte, die Licht, Ton oder Text integrieren. Dies wird in einschlägigen Texten amerikanischer Kunsthistoriker

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von Spector angemerkte rezeptionsästhetische Vergleich, ein mehrmaliges Ansehen der Filme sei notwendig, um einen tiefer greifenden Eindruck zu erhalten, ähnlich wie das Umschreiten einer dreidimensionalen Skulptur notwendig sei, um Nah- und Fernwirkung erfassen zu können, zu vernachlässigen.7 Die Feststellung, erst ein genaues und wiederholtes Anschauen eröffne einen intensiveren Einblick ins Werk, gilt ebenso für jede andere Kunstgattung. Über diese Beobachtung hinausgehend sollen stattdessen nachstehend drei Aspekte des Skulpturalen untersucht werden: Materialität, Werkpräsentation und filmästhetische Gestaltung. Die Kategorie des Skulpturalen bezieht sich erstens auf den Komplex der Materialität, der Materialästhetik sowie auf die Frage der räumlichen Präsenz eines Objekts. Dabei ist der künstlerische Rekurs Barneys auf die Objektkunst und die Earthworks der Land Art der 1960er und 1970er Jahre zu entfalten: Die Künstler der sogenannten ›New Sculpture‹ wie Robert Morris und Richard Serra sind ebenso zu nennen wie Robert Smithson. Vor allem die Tatsache, dass Barney die jeweiligen Spielorte als Ausgangspunkte der filmischen Ikonografie und Narration wählt, macht den Bezug auf Robert Smithson evident und räumt zudem dem Ort des Geschehens einen besonderen Stellenwert ein. Ein zweiter Aspekt des Skulpturalen betrifft die museale Installation des CREMASTER Cycle, die die Integration der plastischen Objekte berücksichtigt. Neben der kinematografischen Präsentation des Werks in Kinosälen findet sich in Ausstellungen vor allem die Simultanpräsentation der Filme auf einer Fünf-Kanal-Installation. Ergänzend stehen dabei unter den fünf Flachbildschirmen die zugehörigen Vitrinen mit den signierten Film-Disks und ausgewählten Requisiten der einzelnen Filme. Hinzu kommt die Präsentation von Zeichnungen und Fotografien, die an der Wand in einheitlich gestalteten Rahmen hängen. Ergänzt werden diese durch die Skulpturen,

deutlich, so unter anderem bei Krauss, Rosalind: Passages in Modern Sculpture, Cambridge, MA: 1977. 7 | Vgl. Spector, Nancy: »Nur die perverse Phantasie kann uns noch retten«, in: Nancy Spector (Hg.), Matthew Barney: The CREMASTER Cycle, Ausst.-Kat., Ostfildern-Riut: 2002, S. 3–91, hier S. 76. Spector verweist hier auf ein Interview, das Linda Yablonsky für das Magazin Time Out mit Barney geführt hat. Im Gespräch deutet Barney diesen Sachverhalt an.

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die im Ausstellungsraum gezeigt werden und damit Teil der installativen Präsentation sind.8 Drittens ist die filmästhetische Gestaltung selbst als skulptural zu bezeichnen, da die filmische Inszenierung von Figuren und Objekten den Rezeptionsmodi dreidimensionaler Werke nachempfunden ist.

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Drei Unterpunkte – Materialästhetik, Ortsspezifik sowie die Beziehung zwischen den Plastiken und den Filmen – sollen innerhalb dieses Themenkomplexes skizziert werden, um die Relevanz der Materialität in ihren unterschiedlichen Facetten zu verdeutlichen.

Materialästhetik Die Herleitung der künstlerischen Strategie Barneys aus der postminimalistischen Objektkunst US-amerikanischer Künstler der 1960er und 1970er Jahre wird deutlich, wenn man sich Barneys Interesse an Materialien und ihren spezifischen Eigenschaften vergegenwärtigt: What happens when you put a piece of porcelain nex t to a piece of leather? What resonance does that create? These sor t of questions belong to sculpture, and I think that as the project became more of a project of cinema, I never stopped making decisions that way, right down to the way people were cast and the way scenes would develop. I think when things like that happen in the story, it doesn’t carry narrative

8 | Das Arrangement der Installation wird an den Ausstellungsraum angepasst. In der Retrospektive, die 2007 in der Sammlung Goetz zu sehen war, fanden sich auch Zeichnungen und Skulpturen in der Ausstellung. In der Ausstellung Fast Forward 2 im ZKM Karlsruhe 2010 hingegen wurde nur die Fünf-Kanal-Installation mit den zugehörigen Vitrinen gezeigt. Im Katalog wird die installative Präsentationsvariante auch als Videoskulptur bezeichnet. Vgl. Ingvild Goetz/Stephan Urbaschek (Hg.): Fast Forward 2: The Power of Motion. Media Art Sammlung Goetz, Ausst.-Kat., Ostfildern: 2010.

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as much as it does this attempt to create presence, in the sculptural sense of the word. 9

Fragestellungen dieser Art werden nicht nur in Aussagen des Künstlers virulent, sondern sind vor allem an den Werken selbst nachvollziehbar. Das Fehlen einer auf den ersten Blick nachvollziehbaren logischen Handlung zugunsten der starken Präsenz einzelner Figuren und Objekte in den Filmen, bildet den zentralen Hinweis auf die Perspektivierung des Werks selbst. Die perfektionistische, detailreiche Gestaltung der Requisiten, der Figuren sowie der plastisch überformten Spielorte lenkt das Augenmerk auf ebenjene und verleiht dem Skulpturalen Relevanz. Diese wiederum wird zudem bestärkt durch die inszenierten Fotografien, die die Figuren porträtieren.10 Entweder zeigen diese Bilder die Figuren in ihrer zugehörigen filmischen Umgebung, die somit zu einem die Figuren charakterisierenden Attribut erhoben wird (vgl. Entered Apprentice),11 oder die fotografische Figureninszenierung arbeitet deutlicher mit Strategien skulpturaler Inszenierung. Hier posieren die Figuren vor einem teils ornamental gestalteten, immer aber flächigen Hintergrund (vgl. Faerie Field oder Her Giant),12 anhand dessen die plastische Struktur der Körper besonders hervorsticht.13 Überdies betonen natürlich die aus den Filmen herausgelösten, narrativ aufgeladenen Objekte die Be9 | Gespräch mit Matthew Barney: Foundas, Scott: Self-Portraiture meets Mythology: Matthew Barney talks about his CREMASTER Cycle. http://www.indiewire. com/article/self-portraiture_meets_mythology_matthew_barney_talks_about_ his_CREMASTER_c (16.10.2008). 10 | Dass auch die Landschaft beispielsweise in der dreiteiligen Fotografie Genealogy (1999, C-Prints in Acrylrahmen) um 90 Grad in die Vertikale gedreht, also kompositionell angeglichen an die Por träts, präsentier t wird, gibt einen deutlichen Hinweis auf die zentrale Bedeutung, die der Landschaft im CREMASTER Cycle zukommt. Landschaft fungiert dementsprechend ebenso wie die Figuren als Protagonist der Filme. 11 | 2002, C-Print im Acr ylrahmen oder Par tition, 2002, drei C-Print s in Acrylrahmen. 12 | Faerie Field: 1994, vier C-Prints in Rahmen aus selbstschmierendem Kunststoff. Her Giant: 1997, C-Print im Acrylrahmen. 13 | Diese Inszenierung erinnert formal an Darstellungsmodi des Porträts im 16. Jahrhundert; vgl. beispielsweise Jean Clouet: François I, um 1525, Öl auf Holz, 96 x 74 cm, Musée du Louvre Paris oder Agnolo Bronzino: Lodovico Capponi, 1550–1555, Öl auf Holz, 116,5 x 86 cm, Frick Collection New York.

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deutung des Skulpturalen im CREMASTER Cycle. Dabei werden jedoch die Requisiten nicht lediglich zu Ausstellungsobjekten umfunktioniert, sondern die Skulpturen werden neu für den musealen Kontext hergestellt.14 In der Betrachtung dieser Skulpturen zieht insbesondere die Behandlung der Oberfläche die Aufmerksamkeit auf sich. Ähnlich wie Constantin Brancusi oder Hans Arp legt Barney besonderen Wert auf die Beschaffenheit der Hülle eines Objekts. Seien es der mit Spiegelglasmosaik überzogene Sattel (Teil der CREMASTER 2 zugehörigen Rauminstallation The Drones’ Exposition, 1999), der in einer Vitrine in Salzkristalle und Bienenwaben gebettete Stuhl (The Cabinet of Frank Gilmore, 1999, Abb. 1) oder der Tisch mit zurückgeschlagener Tischdecke (Teil des Goodyear Field, 1996, Abb. 3): Immer ist die Oberflächenästhetik ein zentrales Moment der Gestaltung und zeichnet sich durch einen gewissen Grad der Abstraktion aus. Die Formen – wie Waben, Kristalle, Tischdecke – sind auf das Elementarste reduziert, oft geglättet und damit frei von individualisierenden Tendenzen. Vor allem jedoch rückt die Form als solche aufgrund der ungewöhnlichen Materialien, aus denen sie gefertigt ist, in das Blickfeld. Vaseline, Acryl, Teflon oder Prothesenkunststoffe finden am häufigsten Verwendung. Durch das unübliche Aussehen, das sie bekannten Dingen verleihen, wird die Aufmerksamkeit des Betrachters für sie geschärft. Hierin erinnern sie an Claes Oldenburgs Objekte, vor allem an die ab 1962 entstandenen Soft Sculptures. Indem Oldenburg Gegenstände des alltäglichen Gebrauchs im Mantel eines ungewohnten, meist zum Nutzen des Gegenstandes paradoxen Materials oder stark vergrößert präsentiert, enthebt er sie ihres Gebrauchswerts und setzt sie in den Kontext der Kunst. So werden aus festen, beispielsweise stählernen, Gegenständen weiche, mit Schaumgummi gefüllte Objekte, wie dies etwa bei Soft Typewriter15 der Fall ist. Hiermit werden nicht nur Fragen existentieller Bedingungen von Kunstobjekten eröffnet, sondern auch die Form eines Gegenstandes sowie seine Materialität thematisiert. Vergleichbares ist bei Barney zu beobachten, der beispielsweise den Stuhl des Cabinet of Frank Gilmore aus Nylon fertigt und die kristalline Struktur des Salzes herausarbeitet, indem er es in Epoxidharz gießt und damit formal fixiert. 14 | Vgl. Matthew D. Ryle in The Body as Matrix – Der Körper als Matrix (USA/D 2002, R: Anna Maria Tappeiner): »I think the film becomes kind of a place to experiment with these things quickly and then to make them again proved and much stronger as a sculptural thing.« 15 | 1963, Vinyl, Kapok, Plexiglas, Nylonschnur, 22,9 x 66 x 69,9 cm, Privatbesitz.

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Abb. 1: Matthew Barney, The Cabinet of Frank Gilmore, 1999

Die Irritation besteht nicht nur darin, dass alle Gegenstände in derselben gelblichen Farbe gehalten sind, auch das Arrangement des Stuhls auf Salzkristallen und Bienenwabe in einer Vitrine verstärkt diese Irritation. Die Semantik der Objekte wird im Detail zudem erst durch das Anschauen der Filme nachvollziehbar, denn die Objekte bilden die materielle Essenz der Filme, indem sie filmische Schlüsselmomente kompilieren. Diese Auseinandersetzung Barneys mit der Materialästhetik der verwendeten Werkstoffe verweist auf die US-amerikanische Objektkunst der 1960er und 1970er Jahre. Hier ist zunächst auf Robert Morris als einem der Protagonisten der sogenannten ›postminimalistischen Anti-Form-Kunst‹ näher einzugehen. Der kurze, aber einflussreiche Aufsatz Anti Form, den Robert Morris 1968 in der Zeitschrift Artforum veröffentlichte, bringt die Interessen der postminimalistischen Kunst auf den Punkt. In Abgrenzung zur Minimal Art geht es bei den Werken der Anti Form nicht mehr um industriell gefertigte Objekte, deren Platzierung im Galerieraum als »specific objects«16 wahrnehmungsreflexive Vorgänge auslösen soll. Vielmehr werden mit Morris’ 16 | Judd, Donald: »Specific Objects«, in: Charles Harrison/Paul Wood (Hg.), Art in Theory 1900–1990. An Anthology of Changing Ideas, Oxford/ Cambridge: 1992, S. 809–813. Zuerst erschienen in: Arts Yearbook 8 (1965), S. 74–82.

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Filzobjekten oder den frühen Blei- und Gummi-Arbeiten Richard Serras die Eigenschaften des Materials selbst in den Mittelpunkt der künstlerischen Befragung gerückt. Morris leitet die Formen und Strategien der Anti Form aus dem Abstrakten Expressionismus her. Er hebt hervor, dass Jackson Pollock und Morris Louis nicht nur den Prozess der Herstellung des Bildes sichtbar machen: Mit ihnen sei eine »investigation of means, tools, methods of making, nature of material«17 aufgekommen. Zudem gingen sie über die Personalisierung dieses Prozesses hinaus, um das Material selbst in den Blick zu nehmen.18 Seitens der Skulptur sei – so Morris – Claes Oldenburg derjenige, der die Fragestellungen des Abstrakten Expressionismus aufgreife und weiterentwickle. Er bringe neue Stoffe in die skulpturale Praxis ein, die nicht mehr, wie in der Minimal Art, zwingend industrielle Materialien seien. Seither sei eine direkte Befragung der Materialeigenschaften im Gange, die zudem eine erneute Prüfung der Werkzeuge in Relation zum Material beinhalte. Der Fokus verschiebe sich von der Prozesshaftigkeit der Produktion von Skulptur auf die Herstellung und die Eigenschaften des Materials selbst.19 Morris führt aus: In these cases considerations of gravity become as important as those of space. The focus on matter and gravity as means results in forms which were not projected in advance. Considerations of ordering are necessarily casual and imprecise and unemphasized. [...] Chance is accepted and indeterminacy is implied since replacing will result in another configuration. Disengagement with preconceived enduring forms and orders for things is a positive assertion. It is part of the work’s refusal to continue aestheticizing form by dealing with it as a prescribed end. 20

Der Prozess des Zufälligen und die Befragung der Eigenschaften von Materialien, die bis dahin jenseits des künstlerischen Gebrauchs lagen, münden

17 | Morris, Robert: »Anti Form«, in: Artforum 6 (1968), S. 33–35, hier S. 35. Vgl. auch Morris, Robert: »Notes on Sculpture 4: Beyond Objects«, in: Artforum 7 (1969), S. 50–54. 18 | Vgl. R. Morris: Anti Form, S. 35. 19 | Vgl. ebd. 20 | Ebd.

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bei Morris in Werken wie Untitled (Dirt),21 Threadwaste22 oder auch seinen Filzobjekten. Insbesondere das Moment des Zufälligen und Unvorherbestimmten bildet einen Anknüpfungspunkt an Barneys Werk, dessen Interesse an Vaseline als Werkstoff in genau diesen Aspekten gründet. Bei Barneys Vaseline-Objekten ist die Form eine prekäre, von der Raumtemperatur abhängige Größe. Sie halten ihre Form nur in einer Umgebung, deren Temperatur 38 Grad nicht überschreitet. In den Präsentationen des CREMASTER Cycle finden sich immer aus Vaseline hergestellte Objekte, die mit dem Moment des Zufalls und des Entropischen spielen (wie etwa CREMASTER Plate).23 Auch anlässlich der Premiere der Vorführung der CREMASTER-Filme im Londoner Ritzy Cinema 2003 wurde eine solche Vaseline-Skulptur installiert. Die Umrisse des als Signet des Barneyschen Œuvres fungierenden sogenannten ›Feldzeichens‹ – ein von einem Querbalken durchschnittenes Oval – wurden im Foyer des Kinos aufgebaut und mit Petroleumöl gefüllt. Das später zu Vaseline verfestigte Öl brach in unkalkulierbarer Weise zu den Seiten weg, als die stabilisierende Form entfernt wurde. Barney spielt mit dieser Unberechenbarkeit des Materials, das Moment der Formgebung wird dem Zufall überlassen. Am Beispiel eines von Morris’ Anti-Form-Werken hat Maurice Berger das Resultat des Zufalls als »indeterminate object with an indefinite set of sculptural possibilities«24 bezeichnet. Die Kriterien der Unbestimmtheit und der einhergehenden skulpturalen Möglichkeiten lassen sich ebenso treffend auf Barneys Vaseline-Objekte beziehen, denn die unterschiedlichen Aggregatzustände des Werkstoffs entfalten uneingeschränkte Formvarianten. Betrachtet man nun die Ausstellungsobjekte des CREMASTER Cycle, so scheint die Relevanz von Zufall und Unbestimmtheit zunächst in den Hintergrund zu rücken, sind die Objekte doch zu einem Großteil aus stabilen Materialien geformt. Allerdings ist zum anderen der fragile Eindruck 21 | 1968, Erde, Fett, Moos, Ziegelstein, Stahl, Kupfer, Aluminium, Messing, Zink, Filz; Installation in der Ausstellung Earth Show, Virginia Dawn Gallery, New York (zerstört). 22 | 1968, Faden, Asphalt, Spiegel, Kupferrohre, Filz; The Museum of Modern Art, New York. 23 | 2003, Astrup Fearnely Museet for Moderne Kunst, Oslo. 24 | Berger, Maurice: Labyrinths. Robert Morris, Minimalism, and the 60s, New York: 1989, S. 69.

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zu berücksichtigen, den sie hinterlassen. Dieser Eindruck wird zum einen durch die Vitrinen unterstrichen, suggerieren sie doch die Notwendigkeit des besonderen Schutzes der darin befindlichen Gegenstände. Auch die frei stehenden Werke arbeiten mit der Suggestion des Prekären.

Abb. 2: Matthew Barney, LanchÌd: The Lament of the Queen of Chain, 1997

Die durchsichtige Treppe Lánchíd: The Lament of the Queen of Chain beispielsweise erweckt den Anschein des Zerbrechlichen, indem einerseits ihre Transparenz an Glas erinnert und andererseits die Treppengeländer so feingliedrig-geschwungen auslaufen, dass ihnen kaum Standfestigkeit zuzutrauen ist. Auch die schwarzen Wände links und rechts scheinen in Bewegung: Sie vermitteln durch den Faltenwurf des Kunststoffs den Eindruck des Fließenden, Wehenden. Da nicht erkennbar ist, wie diese Wände an der Raumwand befestigt sind, und die Form am oberen Abschluss überragt, wird auch hier suggeriert, es handle sich um Stoff, der jeden Moment in sich zusammenfallen könnte. Die Objekte sind zwar aus festen Materialien gefertigt, erwecken jedoch den gegenteiligen Eindruck des Flüchtigen oder Zerbrechlichen. Barneys Verwendung von Materialien schließt überdies insofern an die Anti-Form-Kunst an, als auch er keine Hierarchie der Werkstoffe voraussetzt oder konstruiert. Die Materialien repräsentieren dabei zuvorderst sich selbst, vor allem ihre formbildenden Eigenschaften sind ausschlaggebend

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für ihre Auswahl. Nur in Einzelfällen besitzen sie einen vagen symbolischen Gehalt, der beispielsweise im Falle der Lanchíd-Skulptur mit Fragilität benannt werden kann und einerseits (hinsichtlich des gesamten Zyklus) auf das labile Gleichgewicht des im Abstieg begriffenen Systems verweist sowie andererseits (bezüglich der Story von CREMASTER 5) auf den Abschied der Protagonisten Queen of Chain und Her Magician.25

Ortsspezifik Bei der plastischen Materialbefragung lässt der Künstler es indes nicht bewenden, denn der CREMASTER Cycle besteht nicht ausschließlich aus skulpturalen Objekten; er umfasst auch fünf Filme. Die Problematisierung von Form und Materialität wird in den Filmen mit narrativ vermittelten Inhalten verflochten, die aus Fragen der Ortsspezifik heraus entwickelt werden. Die Spielorte der jeweiligen Filme dienen als Ausgangs- und Angelpunkt jeder weiteren filmisch-narrativen Ausgestaltung, sei es auf der Ebene der Figuren, des Tons oder der Ikonografie. Am Beispiel des CREMASTER 2 soll dieser Zusammenhang knapp skizziert werden. Barney wählt die Region der Bonneville Salt Flats in Utah als Ausgangspunkt des Films. Es kann hier darauf verzichtet werden, die biografische Motivation dieser Wahl zu entfalten. Es gilt lediglich aufzuzeigen, dass der Bundesstaat Utah stark von der Glaubensgemeinschaft der Mormonen geprägt ist und das Motiv des Bienenkorbs als Zeichen des Fleißes im Wappen trägt. Sowohl das Salz als auch die Biene sind somit als zentrale, ikonografische Bestandteile des CREMASTER 2 aus dieser Ortsspezifik heraus motiviert. Handlung und Figuren basieren auf der Vorlage des Tatsachenromans The Executioner´s Song von Norman Mailer, der ebenfalls in Utah spielt. Schnell wird deutlich, dass die spezifischen Charakteristika des jeweiligen Spielorts die Grundlage der filmischen Details bilden. In der Erweiterung des Themas der Materialästhetik um den Aspekt der Ortsspezifik wird der inhaltliche Konnex Barneys zur sogenannten ›Land Art‹ sichtbar, die historisch parallel zur Objektkunst Ende der 1960er Jahre in den USA entstanden ist und sich insbesondere durch ebenjenes Krite25 | Die Ausnahme gilt auch für jene Materialien der Skulpturen, die unverändert integriert werden, wie beispielsweise der blaue Astroturf-Bodenbelag (vgl. Goodyear Field, 1996) oder der karierte Manx-Tartan (vgl. [PITCH] Field of the Ascending Faerie, 1995). In diesen Fällen eröffnen die Materialien Assoziationshorizonte, die auf die Handlungsorte der jeweiligen Filme verweisen und die entsprechenden inhaltlichen Implikationen transportieren.

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rium der Ortsspezifik auszeichnet. Walter de Maria, Michael Heizer oder Robert Smithson als drei herausragende Vertreter der Land Art verwenden (wenn auch mit anderen künstlerischen Schwerpunkten) das, was sie in der Landschaft vorfinden, als künstlerisches Material. Dabei arbeiteten sie entweder direkt in der Landschaft mit dem Material vor Ort, so wie Robert Smithson, der Spiral Jetty (1971) im Great Salt Lake, Utah, realisierte oder Michael Heizer, der Double Negative (1969/70) in die Wüste von Nevada grub. Ebenso wurde der umgekehrte Weg beschritten, wenn etwa Walter de Maria in der Installation Earth Room (1968) die Galerie Heiner Friedrich in München mit Erde füllte. Auch wenn die Künstler der Land Art differierende Positionen ausbilden, verbinden sie doch die umfassenden Aspekte der Materialität und der Ortsspezifik. Speziell das site/nonsite-Konzept Robert Smithsons befasst sich mit ortsgebundenen Fragen, während die groß dimensionierten Werke Michael Heizers oder Walter de Marias auch in anderen wüstenähnlichen Gegenden denkbar wären. Smithson entwirft hingegen ein dialektisches Modell aus site und nonsite, das sich immer mit einem spezifischen Ort auseinandersetzt. Dabei verweisen die in der Galerie installierten nonsites als gleichwertige Objekte auf existierende Orte, tendieren aber dazu, so der Künstler, sie zu negieren.26 Dies geschieht vor allem aufgrund der Tatsache, dass der Rezipient nie site und nonsite zeitgleich erfahren kann. Entweder befindet er sich in der Galerie und sieht die nonsite, oder er ist draußen, um die site anzuschauen. In der Anschauung der nonsite wird dem Rezipienten die Abwesenheit der site bewusst, umgekehrt wird durch die nonsite die site erst zu einem Ort der künstlerischen Reflexion. Da Existenz an sich in diesem Modell zu einer prekären Größe wird, versteht Smithson diese Dialektik als eine den Ort negierende: »no sites exist at all.«27 In Barneys CREMASTER-Filmen sind die Schauplätze zwar wiedererkennbar und mittels des Mediums Film erhält der Zuschauer den nahezu illusionistischen Eindruck, sie tatsächlich vor sich zu sehen. Anders als die eindeutige Aufspaltung in den Ort in der Landschaft und sein artifizielles Pendant in der Galerie, suggeriert der dem filmischen Medium inhärente Illusionismus die Möglichkeit des Eintauchens in die filmische Projektion des Orts. Barney bricht diese Illusion jedoch auf, indem er die topografisch, 26 | Vgl. Interview mit Robert Smithson: Norvell, P.A.: »Fragments of an Interview with P.A. Norvell, April 1969«, in: Lucy Lippard (Hg.), Six Years, Berkeley/ Los Angeles: 2001 [1973], S. 87–90, hier S. 89. 27 | Ebd.

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aber nicht temporal lokalisierbaren Orte verfremdet. Die Figuren muten eigentümlich an und auch die Handlung trägt nicht zur vollständigen Illusionierung des Zuschauers bei. Man kann demzufolge behaupten, dass Barney eine mediale Weiterentwicklung der site/nonsite-Problematik Robert Smithsons entwirft. Smithson betont überdies, dass die Herstellung eines Werks durch das Sammeln von Material bedingt wird. Während er in den site/nonsite-Installationen tatsächliches, physisch greifbares Material wie Steine, Schlacke oder Salz ausstellt, sammelt Barney die für einen Ort typischen Bilder und kompiliert sie in der filmischen Collage, verflicht sie narrativ im filmischen Medium. In diesem Sinne könnte man die Filme Barneys als nonsites bezeichnen, die als Pendant zu den tatsächlichen Drehorten – den sites – existieren. Die Verbindung von Material- und Ortsspezifik spielt darüber hinaus für Barneys Interesse an Richard Serra eine Rolle. 1968 zeigte Serra im Rahmen der New Yorker Ausstellung Nine at Castelli unter anderem die Arbeit Splashing,28 die durch das Schleudern flüssigen Bleis in die Kante zwischen Boden und Wand des Galerieraums entstanden war. Ausschlaggebend für die Besetzung Serras im Intermezzo The Order (CREMASTER 3) als Repräsentant von CREMASTER 5 war – so Barney – die Tatsache, dass er aus dem formal undefinierten Material des flüssigen Bleis eine Form schuf, indem er es in die Bodenkante des Raums schleuderte und dort trocknen ließ.29 Die Arbeit zeichnet sich durch ihren Fokus auf die Eigenschaften des Bleis aus sowie durch die materielle Betonung der Raumkante mittels des Bleis. Zudem gewinnt die Prozessualität der Herstellung an Bedeutung. Serra 28 | 1968, Blei, 45,7 x 7,9 cm, Installation in der Ausstellung Nine at Castelli, Leo Castelli Warehouse, New York (zerstört). 29 | »And I started thinking how Richard’s thrown lead pieces were the perfect way of visualizing CR5. This act of taking what is an undifferentiated mass and throwing it against the wall and seeing it diffentiate, […] So I think that the initial proposal of just having him create that gesture to represent this other idea was interesting to him.« Interview mit Matthew Barney: Flood, Richard: »A conversation«, in: Olga Gambari (Hg.), Matthew Barney. Mitologie Contemporanee. Fondazione Merz, Ausst.-Kat., Turin: 2008/2009, S. 181–191, hier S. 184. Indem Barney Serra in The Order flüssige Vaseline gegen zwei Stahlplatten schleudern lässt, nimmt er eine Art Aktualisierung der Splashing-Aktion vor. Dass dies keine Vereinnahmung, sondern eine Form der Weiterentwicklung ist, wird in der Besetzung Serras als er selbst deutlich.

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versteht die Splashing-Herstellung zwar nicht als Performance, gleichwohl ist der Akt der Wiederholung einer Geste zur Produktion des Objekts ein zentraler Bestandteil des Werks.30 Ähnliche Aspekte finden sich in Serras vorangegangenen Arbeiten aus vulkanisiertem Gummi, dessen Flexibilität es ihm erlaubte, mit Linie, Fläche, Volumen und Gravitationskraft zu experimentieren.31 Die Problematisierung der Ortsspezifik hingegen findet sich in einem anderen Werkkomplex Serras, zu dem beispielsweise Dialogue with Johann Conrad Schlaun32 oder Spin out (for Bob Smithson)33 zählen. Serra entwirft für bestimmte Orte Plastiken, die auf den Ort formal eingehen (Dialogue) oder aber in die vorgefundene Topografie des Standorts eingepasst (Spin out) und daher einzig dort denkbar sind. Barney führt diese Vorgehensweise weiter, indem er Filme dreht, die ohne ihren Bezug zum jeweiligen Ort nicht möglich sind. Da sie im Ort als Ausgangspunkt gründen, sind sie von diesem abhängig und insofern ortsspezifisch. In der Thematisierung des umgebenden Raums, die in Serras Objekten je spezifisch virulent wird, ist gleichzeitig die wahrnehmungsreflexive Frage der Verortung des Rezipienten im Verhältnis zur Skulptur inbegriffen. Während Serras Plastiken dem Betrachter oft in ihrer Geste des körperlich Bedrohlichen nachgerade auf den Leib rücken, bleiben die Barneyschen Skulpturen auf Distanz. Sie scheinen aufgrund ihrer perfektionistischen Oberflächenbeschaffenheit hermetisch geschlossen, in sich funktional und sind aus den Requisiten als ihren filminternen Pendants heraus begründet.

Kongruenz von Plastiken und Filmen? Ein weiterer Aspekt des Skulpturalen soll anhand der Beziehung der Plastiken zu den Filmen des CREMASTER Cycle erläutert werden. Hierbei soll die Übertragung von filmischer Bewegtheit auf das fixierende Material einer Plastik problematisiert werden. Darüber hinaus stellt sich die Frage der Funktion der Skulpturen. 30 | Vgl. McShine, Kynaston: »A Conversation about Work with Richard Serra«, in: Richard Serra/Kynaston McShine/Lynne Cocke (Hg.), Richard Serra. Sculpture: Forty Years, Ausst.-Kat., New York 2007, S. 15–40, hier S. 24f. 31 | Vgl. ebd., S. 27. 32 | 1996, Nienberge/Münster (in Sichtweite zu Johann Conrad Schlauns Haus Rüschhaus). 33 | 1973, Kröller-Müller Museum, Otterlo (Skulpturenpark).

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Abb. 3: Matthew Barney, Goodyear Field, 1996

Am Beispiel des (vom Bodenbelag abgesehen) aus weißen Kunststoffen gefertigten Werks Goodyear Field kann die Problematik erläutert werden. Die Tischdecke, die auf dem ovalen Tisch liegt, wird an einer Seite gelüftet und gibt den Blick unter den Tisch frei. Dort stehen Damenschuhe und von einem jeden ausgehend liegen locker gedrehte Bänder mit einer Kugel am jeweiligen Ende auf dem blauen Astroturf-Boden. Diese wiederum weisen in Richtung der Zwischenräume zwischen den weißen Kopfhauben der Revuegirls, aus denen zahllose kleine Kügelchen sich in strenger Form auf den blauen Boden ergossen haben. Auf dem Tisch befindet sich die an Adnexe erinnernde Skulptur inmitten des Haufens aus Trauben, die wiederum auf einer ebenfalls ovalen Platte liegen. Das Objekt besitzt sein filmisches Requisiten-Pendant in CREMASTER 1. Dort sieht man die Tischdecke im Anfangsteil des Films leicht aufwehen und in der Folge beobachtet die Kamera die unter dem Tisch agierende Figur namens ›Goodyear‹. Die Damenschuhe und die Hauben sowie die Bänder mit den Perlen sind als abstrahierte, da vereinfachte, Ausstattungselemente der Tänzerinnen der Handlung auf dem Football-Spielfeld zuzuordnen. Die Skulptur Goodyear Field synchronisiert folglich mehrere Momente des Films und fixiert sie in der verfestigten Form der verschiedenen Werkstoffe. Das Objekt fungiert als ein Feld der Attribute, die den CREMASTER 1 auszeichnen. Aus anorganischen Materialien mit meist glatter Oberfläche werden somit spezifische gegenständliche Arrangements in einem bestimmten Moment

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fixiert und verweisen damit auf die klassische Bildhauerpraxis und auf Lessings Diktum des fruchtbaren Moments.34 Dasselbe Phänomen zeigt sich auch bei anderen Skulpturen, wie [PITCH] Field of the Ascending Faerie.35 Bei diesen Objekten stehen weniger Eigenschaften und Verhalten des Materials im Vordergrund, sondern aufgrund ihrer Gegenständlichkeit vielmehr die Repräsentationsfunktion eines plastischen Objekts. Damit stehen sie einem klassischeren Konzept von Skulptur näher, ohne jedoch mit einem solchen identisch zu sein. Auch hinsichtlich des Paradigmas der Lebendigkeit nähert sich Barney einem klassischen Skulpturbegriff an. Die unter anderem von Hans Körner36 am Beispiel der Skulpturen Gian Lorenzo Berninis angeführte Diskrepanz von Anschein und Tatsächlichkeit der Materialbeschaffenheit und die damit einhergehende (Ent-)Täuschung der fühlenden Hand trifft auch auf Barneys Skulpturen zu. Die Behandlung des Materials der Plastiken evoziert häufig den Eindruck des Weichen, obwohl sie aus hartem Kunststoff gefertigt sind.37 Ähnlich verhält es sich mit dem Anschein von Bewegung. Dynamische Formen wie die aufwehende Tischdecke des Werks Goodyear Field scheinen trotz ihrer Erstarrtheit leicht und flexibel, weil sie im Akt der Bewegung fixiert sind. Dies alles ist gegenüber klassischen Skulpturen wie denjenigen Berninis noch kein Novum. Doch durch die Filme erhalten die Skulpturen des CREMASTER Cycle eine über die Materialität hinausgehende Dimension: Die bewegten Erinnerungsbilder des Films verschmelzen in der Anschauung mit den Ausstellungsobjekten. Das filmische Requisit als Pendant des Ausstellungsstücks dient dazu, den Eindruck der Lebendigkeit der Skulptur zu unterstützen. So ist die wehende Tischdecke in CREMASTER 1 ein wiederholt auftauchendes, Spannung erzeugendes Bildmotiv, das eine Handlung unter dem Tisch suggeriert. Diese Suggestion löst sich ein, denn unter dem Tisch operiert Goodyear als Regisseurin der Tanzformationen, die 34 | Vgl. Lessing, Gotthold Ephraim: Laokoon Oder über die Grenzen der Malerei und Poesie, Stuttgart: 1987 [Berlin 1766], S. 23 u. 114ff. 35 | 1995, Ringermatte, Leinen, Spitze, Manx-Karo, Prothesenkunststoff, grobkörnige Tapioka, Polyester, Silikon, Satin-Bänder, Porzellan, Sterlingsilber, Perlmutt. 36 | Vgl. Körner, Hans: »Die enttäuschte und die getäuschte Hand. Der Tastsinn im Paragone der Künste«, in: Valeska von Rosen/Klaus Krüger/Rudolf Preimesberger (Hg.), Der stumme Diskurs der Bilder. Reflexionsformen des Ästhetischen in der Kunst der Frühen Neuzeit, München/ Berlin: 2003, S. 221–242. 37 | Im Gegensatz dazu sind die Soft Sculptures (insbesondere ihre Ghost-Versions) von Claes Oldenburg tatsächlich weich, obwohl ihre glänzende Vinyloberfläche bisweilen Zweifel an der Beweglichkeit des Materials aufkommen lässt.

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auf dem Stadionspielfeld stattfinden. Der Zuschauer des Films wird das bewegte Bild mit der tatsächlich wehenden Tischdecke in der Wahrnehmung der Skulptur, deren aufwehende Tischdecke in ebendieser Bewegung fixiert ist, nicht ausblenden können. Das Paradigma der Lebendigkeit wird in den CREMASTER-Skulpturen folglich durch die Parallelisierung von Objekt und Film verstärkt, da die medialen Eigenschaften des Films Lebendigkeit auf der Ebene des Dargestellten anderweitig vermitteln können, als es eine unbewegte Figur vermag. Gleichzeitig wird durch die Starrheit des Objekts die Differenz zwischen Filmrequisit und Ausstellungsobjekt betont: Es handelt sich nicht um dasselbe Objekt, sondern lediglich um ein gleiches. Barneys Skulpturen vertiefen somit vor allem im Zusammenspiel mit den Filmen die klassischen Fragen der Bildhauerkunst nach Lebendigkeit der Skulptur und Täuschung der Hand durch Imitation von Lebendigkeit im bildhauerischen Material.

Kino versus Installation Entsprechend seiner Vielfalt der zugehörigen Objekte findet der CREMASTER Cycle zwei grundlegend unterschiedliche Formen der Präsentation im Ausstellungskontext, die im Folgenden erläutert werden sollen. Dabei stellt sich die Frage, welche rezeptionsästhetischen Verschiebungen durch die unterschiedlichen Präsentationsformen evoziert werden. Dass die Filme neben ihrer Ausstellung im Museum auch in Kinosälen vorgeführt werden, ist laut Barney nicht von Anfang an beabsichtigt gewesen. Erst die Aufführung des zuerst fertiggestellten CREMASTER 4 brachte dieses Variante der Präsentation hervor: The first chapter, CREMASTER 4 was shot on video, largely handheld, and I had the intention of broadcasting it on television during the TT [Tourist Trophy, E.W.] races, which take place on the Isle of Man where that was shot, I wanted that to happen the following year and that would be the distribution of this what I considered to be a side [sic] -specific sculpture. [...] After that Film Forum in New York offered to play it on the screen, but they didn’t have a video projector so we had to make a transfer to film and that’s the only reason it ended up in that cinema, it wasn’t really a part of my program to make films, the program was to make a five-part art site-specific piece, […] a piece of land art superimposed over it, that’s how I was looking at it at that point. As the pieces were made and as the opportunities to have them in cinemas was very satisfying to me to see, whereas it would be

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E va W ruck very unsatisfying for me to put it in a gallery, project it and have people come in in the middle of it and leave after a couple of minutes, it wasn’t intended to be that way, so the cinema worked as a playback mechanism.38

Neben dem Hinweis auf den Kontext der Land Art wird in dieser Aussage vor allem deutlich, dass der CREMASTER Cycle nicht vordergründig als Kinofilm geplant war. Die Präsentation im Kinosaal eröffnet dem Rezipienten jedoch nicht nur die Wahrnehmung der Filmbilder auf einer großen Leinwand, sondern gewährleistet zudem die Möglichkeit des konzentrierten Zuschauens. Durch den Kontext des Kinos richtet sich die Aufmerksamkeit des Rezipienten zunächst auf die narrative Struktur der Filme und ihre filmästhetische Gestaltung. Vor allem jedoch sieht sich der Zuschauer mit nur einem Film konfrontiert, wohingegen die installative Präsentationsform alle fünf Filme simultan vorführt. Des Weiteren werden in der kinematischen Präsentation nicht zwingend alle fünf Filme gezeigt, sondern die Vorführung kann sich auch auf ausgewählte Filme beschränken.39 Immer jedoch findet der Zuschauer in der Kinopräsentation eine reduzierte Variante des CREMASTER Cycle vor. Um die narrativen Strukturen der Filme und filmästhetische Details zu fokussieren, ist diese Variante der Vorführung die geeignetere. Die Fülle seiner skulpturalen Dimensionen hingegen ist nur in seinen Bezügen zum Raum und den dort ebenfalls ausgestellten Fotografien, Zeichnungen und Plastiken erfassbar. Barney liegt aufgrund seines Selbstverständnisses als Bildhauer und den bereits dargelegten Bezügen zum Skulpturalen an der musealen, installativen Präsentation: I think that the project can be read in a much more accurate way in that environment, where the secondary and tertiary information is there, in the drawings, photography and objects, which attempt to distill character groups and different aspects of the narrative. All those things are useful in reading the project.40

38 | Gespräch mit Matthew Barney: http://tarartrat.blogspot.com/2006/10/ matthew-barney-at-babylon-theatre.html (20.04.2010). 39 | Inwiefern die eingeschränkte Präsentationsvariante sinnfällig ist, sei als noch zu diskutierende Frage dahin gestellt. 40 | Gespräch mit Matthew Barney: S. Foundas: Self-Portraiture meets Mythology. http://www.indiewire.com/article/self-portraiture_meets_mythology_matthew_barney_talks_about_his_cremaster_c (16.10.2008).

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Die installative Präsentation kann in zwei Formen erfolgen, die im Folgenden kurz skizziert werden sollen. Zum ersten gibt es die Installationen, die ohne direkte Kontextualisierung mit den Filmen gezeigt werden, beispielsweise The Ehrich Weiss Suite41 oder die bereits genannte Lánchíd: The Lament of the Queen of Chain. Diese Installationen sind raumfüllend und weisen dem Zuschauer einen bestimmten Radius zu, aus dem heraus er die Installation wie ein Bild betrachten kann. Das Abschreiten des gesamten Umfangs – wie dies bei Skulpturen wie The Cabinet of Gary Gilmore and Nicole Baker42 der Fall ist – ist hier nicht möglich. Die zweite Installationsvariante bietet die gleichzeitige Ausstellung von Filmen und Objekten an. Hier unterscheiden sich nochmals drei Formen: Eine ist als kinosaalartige Rauminstallation zu bezeichnen, wie zum Beispiel The Drones’ Exposition.43 Eine weitere ist die thematische Zuordnung eines Raums pro Film, in dem auf Flachbildschirmen der jeweilige Film im Loop gezeigt wird und die zugehörigen Skulpturen, Fotografien, Zeichnungen und Vitrinen ausgestellt sind. Die letzte Variante ist diejenige, in der alle fünf Filme in einer Fünf-Kanal-Installation zeitgleich abgespielt werden. Auch in dieser Präsentation werden ausgewählte Plastiken, Fotografien und Zeichnungen im Raum ausgestellt. Hinzu kommen die unter dem jeweils zugehörigen Flachbildschirm platzierten, an Joseph Beuys erinnernde Vitrinen, in denen signifikante Requisiten aus den Filmen sorgfältig zusammen mit den jeweiligen signierten Film-Disks arrangiert sind.

41 | 1997, Acryl, Prothesenkunststoff, Vivak, Pyrex-Glas, innen geschmierter Kunststoff, Glas und Skulptur aus Sterlingsilber; zwei C-Prints und ein Gelatine-Silberdruck in Acrylrahmen; Grafit, Acryl und Vaseline auf Papier in Acrylrahmen, sieben Jakobinertauben. 42 | 1999–2000, Honigwabe aus Polycarbonat, Bienenwachs, Paraffin, Vaseline, Nylon, Polyester, Vinyl, Teppich, Chrom, Prothesenkunststoff, in Epoxidharz gegossenes Sonnensalz, Sterlingsilber, zwei Vitrinen aus Nylon und Acryl. 43 | 1999, 35 mm-Film und zweiteilige Skulpturinstallation: Nylon, Acryl, Stahl, Salz, in Epoxidharz gegossenes Sonnensalz, verchromtes Gravurmessing, Leder, Sterlingsilber, Messing, Blei, ungarischer Seitensattel, Teppich, Teppicheinlage und gesteppte Wandpolsterung; zwölf Seidenflaggen mit Nylonstangen und Wandhalterung; fünf Zeichnungen: Grafit und Vaseline auf Papier in Nylon-Rahmen; z wölf C-Prints in Acr ylrahmen. Im Vorraum des Kinosaals wurden die Skulpturen gezeigt, im Kinosaal der Film und die Fotografien sowie der motivisch gestaltete Teppich.

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Vor allem in dieser Ausstellungsform des Zyklus spielt das Moment des Akustischen eine wichtige Rolle.44 Da alle fünf Filme simultan abgespielt werden, füllt sich der Raum mit einem Geräuschteppich, der die Einzelrezeption der Filme mehr oder minder unmöglich macht. In dieser Ausstellungsinstallation werden ganz andere Aspekte virulent, die in einer cineastischen Vorführung nicht zum Tragen kommen. Besagte Form der Inszenierung der Filme wurde in der ersten CREMASTER-Gesamtschau im New Yorker Guggenheim Museum gewählt. Mittig in der Rotunde hing eine nahezu diamantenförmige Konstruktion aus fünf riesigen Flachbildschirmen, auf denen je ein The Order betitelter Ausschnitt aus CREMASTER 3 zu sehen war. Im Aufgang der Rotunde repräsentierten – an die Anordnung von The Order angelehnt – auf fünf Ebenen skulpturale Objekte, Fotografien und Fahnen je einen der Filme. Auch in der Retrospektive in der Münchener Sammlung Goetz 2007 fand eine an diese Präsentationsform anschließende Inszenierung des Werks Anwendung. Da keine Sitzgelegenheiten vorgesehen sind, ist die intensive Auseinandersetzung mit den Filmen in diesem Rahmen offenbar nicht intendiert. Der durch die Simultanprojektion entstehende Klangkörper ergänzt die plastischen Objekte durch seine permanente und in der ganzen Ausstellung hörbare Präsenz. Die so erzeugte Stimmung bewirkt eine Aufmerksamkeit dem Werk gegenüber, die eine assoziative Verknüpfung der fotografischen und plastischen Objekte mit den Geräuschen und Bildfetzen der Filme forciert. In der installativen Präsentation des CREMASTER Cycle findet über die akustische Komponente eine antizipatorische Aufladung des Raums statt, 44 | In Analogie zum visuellen Vorgehen der Filme, die aus den Charakteristika des jeweiligen Orts ihre ikonografische Ausstattung und die Handlung erhalten, sind auch Geräusche und Musik der Filme entwickelt. Der Klang wird nicht über die Bilder gelegt, sondern aus den Gegebenheiten des Orts entnommen. So ist beispielsweise der Dudelsack in CREMASTER 4 ein ortstypisches Instrument und die Motorengeräusche erklären sich aus der Tourist Trophy. Entsprechend der Handlung – des Wettstreits der Motorräder und der ›Reise‹ des Satyrs durch das Innere der Isle of Man – befinden sich auch die motivisch zugeordneten Geräusche in einem Widerstreit. Entsprechend des Anspruchs, den Ort zum Protagonisten der Filme zu erheben, entwickelt sich auch die akustische Komponente der Filme aus dem Ort heraus. Vgl. Stousy, Brandon: »Verhängnisvolle Formen für das Fleisch – Über den Sound im CREMASTER Cycle/Formulas Fatal to the Flesh – On the Sound of the CREMASTER Cycle«, in: I. Goetz/S. Urbaschek: Matthew Barney (2007), S. 152–195.

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die – dem Visuellen vorauseilend – von den Bildern der Filme nur schwerlich eingeholt werden kann. Der narrativen Strategie eines Horrorfilms folgend kündigen Geräusche und Musik aus allen fünf Filmen zeitgleich verschiedene Ereignisse an und erzeugen somit Spannung. Bezogen auf die CREMASTER-Filme kann man von Neugierde sprechen, die mittels dieser Installation evoziert wird und nur durch Anschauung der Filme befriedigt werden kann. Jene ist jedoch innerhalb dieses Präsentationsrahmens kaum möglich, da der Rezipient nicht zur intensiven Betrachtung der Einzelfilme eingeladen wird, ja geradezu durch den das Gehör belastenden Geräuschteppich abgeschreckt wird. Zudem führt die Simultanprojektion zur Überforderung der Konzentration: Verfolgt man die akustische Fährte eines Films, strahlen von den anderen vier Filmen neue Ereignisse ankündigende Geräusche aus, die vom gerade betrachteten Film ablenken und die Aufmerksamkeit zerstreuen. Dementsprechend ist ergänzend zur Installation die kinematografische Vorführung der Filme notwendig, möchte man diese Zerstreuung vermeiden.

Filmästhetische Gestaltung Ein dritter und letzter Bereich des Skulpturalen findet sich in der ästhetischen Gestaltung der Filme selbst. Hier sind insbesondere zwei Aspekte zu skizzieren: die Thematisierung von Zeitlichkeit und vor allem die Gestaltung von filmischem Raum. Die Erfahrung von Zeitlichkeit in den Filmen wird ausgelöst durch das langsame Tempo der Kamerabewegung, durch das Objekt oder die Figur umkreisende Kamerafahrten, die die Bewegung eines Rezipienten bei Betrachtung einer dreidimensionalen Skulptur aufgreifen, und schließlich durch lange Einstellungen. Wenngleich all diese filmischen Stilmittel die Wahrnehmung des Films an die Rezeption einer dreidimensionalen Skulptur anzugleichen versuchen, so ist doch ein wesentlicher Unterschied zu nennen. Während der Betrachter einer Skulptur den sie umgebenden Raum in selbst gewähltem Tempo abschreiten kann, so werden im Film Geschwindigkeit und Bewegungsrichtung von der Kamera vorgegeben. Die filmische Rezeption ist demnach eine starre, gelenkte Form der Wahrnehmung. Im Fall der CREMASTER-Filme wird diese Tatsache durch das langsame Tempo der filmischen Narration besonders hervorgehoben, vor allem in Hinblick auf die kinematografische Vorführung. Der Zuschauer muss die Filme förmlich körperlich im Kinosessel aushalten, ihre bisweilen Langeweile erzeugende

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Langatmigkeit macht ihm nicht nur den Akt der Rezeption bewusst. Zugleich ähnelt die Bewusstwerdung des eigenen Körpers derjenigen, die während der Wahrnehmung einer dreidimensionalen Skulptur ausgelöst wird. Sowohl die kinematografische als auch die installative Präsentation des Zyklus provoziert folglich auf ganz unterschiedliche Weise die Auseinandersetzung mit dem Körper. Ein weiterer Aspekt der Übertragung des Skulpturalen auf das Medium Film wird produktionsästhetisch hinsichtlich der Schaffung von Räumlichkeit relevant, für die vor allem die Kameraführung von Bedeutung ist. Während die Kameraperspektive weniger auffälligen Einsatz findet, sind als dominante Stilmittel vor allem Einstellungsgröße (Detail, Close-up, Nah, Halbnah, Halbtotale, Totale, Panorama) sowie Kamerabewegung (Stand, Schwenk, Fahrt, Rollen) für den CREMASTER Cycle zu nennen. Mittels dieser übersetzt Barney sowohl rezeptionsästhetische als auch produktionsästhetische Gesichtspunkte aus dem Medium der dreidimensional-materiellen Skulptur in das filmische Medium und verleiht den Filmen auch auf diese Weise ihren skulpturalen Charakter. So entspricht der fließende Wechsel von fotografisch-fixierenden Nah- beziehungsweise Detailaufnahmen und Totale-Einstellungen der sich durch die Bewegung des Betrachters im Raum verändernden Wahrnehmung einer Skulptur. Die langsam fließenden Kamerabewegungen – meist Fahrten – um die Objekte und Figuren herum imitieren das Abschreiten einer dreidimensionalen Skulptur im Raum durch den Betrachter. Auch die Inszenierung von Oberflächen erhält durch den Einsatz von Detail- und Close-up-Aufnahmen Aufmerksamkeit. Barney erweitert die plastische Befragung der materialen Oberflächenbeschaffenheit sowie das Zusammenwirken unterschiedlicher Stoffe um filmische Parameter wie die Größe der Kameraeinstellung. So wird beispielsweise in CREMASTER 4 die schleimige Oberfläche der aus den Jacken der Motorradfahrer kriechenden Gonaden durch Detailaufnahmen prononciert. In CREMASTER 1 betont eine nahe Kameraeinstellung die Transparenz und Leichtigkeit zweier Seifenblasen, die in den nächtlich schwarzen Himmel aufsteigen. Darüber hinaus dient die Inblicknahme der Oberflächendetails durch Close-up-Einstellungen schlicht dazu, Information zu vermitteln. Anhand eines Close-up der Maurerkelle in CREMASTER 3 zum Beispiel wird ihre Gravur für den Zuschauer lesbar und das Werkzeug somit durch die nun erkennbaren Symbole als Freimaurerkelle identifizierbar. Diese Information ist für den Film von elementarer Bedeutung, basiert die Handlung doch auf freimaurerischen Ritualen.

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Barney evoziert nebstdem im Modus der filmischen Aufnahme eine Räumlichkeit, die nicht selten mit dem Verlust der Orientierung im Bildraum spielt. Dies geschieht zum einen durch zahlreiche Detail- und Close-up-Aufnahmen, die anstelle der im Spielfilm üblichen establishing shots (meist Totale-Einstellungen) filmische Sequenzen eröffnen. Der Zuschauer erhält durch die Nahsicht keinen in die räumlichen Gegebenheiten einführenden Überblick der Szenerie, sondern wird zunächst mit Details von Gegenständen konfrontiert. Die Orientierung im filmischen Raum wird somit unterbunden und erst durch das Herauszoomen aus der Detailaufnahme in die Halbtotale oder Totale gewährt. Im Gegensatz zum Spielfilm, der üblicherweise von der Totale ins Detail geht, wählt Barney den umgekehrten Weg und irritiert so den Zuschauer. Zum anderen wird die räumliche Wahrnehmung des Zuschauers herausgefordert durch das Schwanken zwischen dem Anschein der Zwei- und der Dreidimensionalität des Bildes. In CREMASTER 5 beispielsweise nimmt man den großen Deckenleuchter des Budapester Opernhauses zunächst wie ein in die Deckenmalerei integriertes Bild wahr. Der Eindruck ist ein zweidimensional-flächiger. Dann jedoch schwenkt die Kamera, so dass der Leuchter als plastisches Objekt diese Flächigkeit aufzubrechen scheint, das Filmbild gewinnt Tiefenräumlichkeit und erscheint dreidimensional. Neben der Wahrnehmung des Flächigen ruft diese Bildästhetik zudem die Anmutung des Stillgestellten, Zeitlosen hervor. Erst mit der Bewegung der Kamera und dem Kippen des Leuchters in den Raum gewinnt der Zuschauer den Eindruck des Bewegten und Plastischen. So werden Fragen der Bildhaftigkeit von Architektur,45 aber auch der Bildhaftigkeit von Skulptur und ihrer Darstellung im Medium des Films virulent. Für Barney ist der Film mit einer Qualität ausgestattet, derer die materiell gebundene, haptische Skulptur entbehrt: die Schwerelosigkeit der Objekte und Figuren, die im Film scheinbar hervorgebracht werden kann. Diesbezüglich führt Barney am Beispiel der sehr artifiziell und kühl wirkenden Ästhetik des CREMASTER 1 aus: The way the stadium light removes the shadow; the way the even color field behind the figure makes the figure pop from the ground: all of those were things that I found to be interesting tools if the goal is to try to relieve this moving image from gravity and from those qualities that make object-making a bit restrictive. To make an object stand in space you’re always battling with gravity, and I think 45 | Vgl. zu einer ähnlichen Fragestellung Krauss, Rosalind: »Léger, Le Corbusier and Purism«, in: Artforum 10 (1972), S. 50–53.

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E va W ruck one of the things that led me to video in the first place was the fact that it could suspend that.46

Auch hier zeigt sich wieder, was bereits anhand mehrerer Aspekte ausgeführt wurde: Der Künstler untersucht mittels seiner eigentümlichen Narration und Gestaltung im (und für das) Medium des Films Fragestellungen des Skulpturalen. Die Detail- und Nahaufnahmen besitzen eine dritte Komponente, die abschließend angedeutet werden soll. Im Modus der Kameraeinstellungen, die einen Gegenstand oder eine Figur aus der Nähe zeigen, wird der Zuschauer affiziert. Dies ist nicht nur im konventionellen Spielfilm ein gängiges Stilmittel, um beispielsweise anhand einer Close-up-Aufnahme eines Gesichts Einfühlung zu bewirken oder Nähe zum Gefühlsleben der entsprechenden Figur zu suggerieren. In den CREMASTER-Filmen wird mittels dieser Kameraeinstellungen vor allem ein affektiver Bezug des Rezipienten zum Film selbst hergestellt. Denkt man an blutige Szenen wie jene in CREMASTER 3, in der dem Entered Apprentice ein Metallschrottklumpen gewaltsam in den Mund gedrückt wird, woraufhin er seine Zähne anal ausscheidet, so wird die affektive Bindung des Zuschauers an die Filmbilder deutlich. In einer dem Horrorfilm ähnlichen Weise spielt Barney mit grundlegenden, menschlichen Gefühlen wie beispielsweise Ekel.47 Dabei wird das Visuelle durch akustische Mittel in seiner Wirkung bestärkt, vor allem durch besonders pointiert aus der Stille hervorstechende Geräusche. In einer weiteren Wendung jedoch entschärft Barney diese körperliche Affizierung des Zuschauers durch die ästhetisierende Glätte der filmischen Bilder, die so eine Distanz zum Geschehen auf der Leinwand aufbaut. Die Rezeption der Filme schwankt folglich zwischen der Evokation starker Gefühle und einer damit verbundenen Bewusstwerdung des eigenen Körpers unter gleichzeitiger Distanzierung von den Bildern des Films und ihrer affizierenden Wirkung, die durch die Ästhetisierung des Ekelerregenden bewerkstelligt wird.48 46 | Gespräch mit Matthew Barney: S. Foundas: Self-Portraiture meets Mythology. http://www.indiewire.com/article/self-portraiture_meets_mythology_matthew_barney_talks_about_his_CREMASTER_c (16.10.2008). 47 | Zum Ekel vgl. vor allem Menninghaus, Winfried: Ekel. Theorie und Geschichte einer starken Empfindung, Frankfurt a. M.: 2002. 48 | Vgl. dazu auch Brincken, Jörg von: »Bilder, die das Auge berührt – Zum Verhältnis von Film und Körperkunst bei Matthew Barney«, in: Henri Schoenmakers

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Bezüglich dieser Inszenierung von Körperlichkeit ist Barneys Werk in der Kunst der 1990er Jahre zu verorten, denn es befasst sich in Teilen mit bestimmten Themen, die bereits dreißig Jahre zuvor virulent gewesen sind. Die Thematik des Körpers ist eine, die sich nicht nur bei Barney findet, sondern ebenso bei Künstlern wie Vanessa Beecroft, Jake und Dinos Chapman oder Cindy Sherman. Gleichwohl bleibt anzumerken, dass bei diesen Künstlern und auch bei Barney die Radikalität im Umgang vor allem mit dem Thema des Körpers stark ästhetisiert wird, kaum vergleichbar mit dem Orgien-Mysterien-Theater eines Hermann Nitsch oder den Performances eines Vito Acconci. Während die Künstler der 1960er Jahre und des Folgejahrzehnts den Körper ungeschönt einsetzen, wird beispielsweise die Szene der Zahnoperation des Entered Apprentice in CREMASTER 3 ästhetisiert. Zwar ist das Moment des Ekelhaften und Abstoßenden nicht von der Hand zu weisen, doch ist die ästhetische Überformung des Ganzen durch glatte Materialoberflächen (wie die des weißen Plastiks), brillant fotografierte Filmbilder und die Distanz des Filmbildes (im Gegensatz zum Videobild) stärker und lässt den Rezipienten zwischen Gefallen am schönen Bild und Ekel vor dessen Semantik schwanken. Anhand dieser Beobachtung wird ferner deutlich, dass Barney kein politisch motiviert arbeitender Künstler ist. Seine Werke sind zwar teils in politisch aufgeladenem Umfeld situiert (beispielsweise Drawing Restraint 9 an Bord des Walfangschiffs Nissin Maru), »ohne aber, und das ist von elementarer Bedeutung, ein politisches Urteil abzugeben«.49 Barneys Interesse an Zwischenräumen, an Orten und Situationen des Übergangs im Allgemeinen, spiegelt sich auch in seiner unpolitischen Haltung wieder; er arbeitet nicht historisierend-kritisch, sondern erzählerisch in einem temporalen Vakuum. Die Inszenierung von Gegensätzen und ebenjenen Zwischenräumen im weitesten Sinne des Worts ist das die Werke durchziehende künstlerische Interesse oder Motiv. Die Spielorte und Handlungsstränge werden dementsprechend nicht nach politischer Brisanz ausgewählt, sondern nach ihrem Potenzial, Spannungen als solche anschaulich zu machen. Dass dies nicht lediglich eine Behauptung des Künstlers ist, die der Selbstinszenierung dient, macht ein Blick auf das jeweilige Werk selbst deutlich. So ist beispielsweise die Szene in Drawing Restraint 9, in der die beiden Gäste des Schiffs sich im Anschluss et al. (Hg.): Theater und Medien/Theatre and Media. Grundlagen – Analysen – Perspektiven. Eine Bestandsaufnahme, Bielefeld: 2008, S. 171–178. 49 | Barney, Matthew: »Kunst ist ein sehr spirituelles Streben. Ein Gespräch mit Oliver Zylock anlässlich der Verleihung des Kaiserrings der Stadt Goslar«, in: Kunstforum International o. Jg. (2008), H. 189, S. 217–227, hier S. 220.

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an die Teezeremonie gegenseitig zerfleischen, derart ästhetisch überhöht, dass der Gedanke an eine politisch motivierte (Kultur-)Kritik des Walfangs völlig abwegig erscheint. Ebenso verhält es sich mit dem CREMASTER Cycle und auch den neueren Werken wie De Lama Lâmina. Barney greift kulturelle Phänomene auf und überformt sie mittels seiner eigenen künstlerischen Sprache, instrumentalisiert das Vorgefundene als Basis seiner Werke. Dies ist unter anderem auch im Umgang mit dem Freimaurertum in CREMASTER 3 zu beobachten. Das dahinterstehende künstlerische Vorgehen lässt sich mit dem Begriff der Entkontextualisierung benennen. Ähnlich verhält es sich mit der skulpturalen Praxis des Künstlers. Barney greift zwar Fragestellungen der Objektkunst der 1960er und 1970er Jahre auf, produziert davon ausgehend jedoch Plastiken, die aufgrund ihrer eingeschränkten formalen Abstraktion und ihrer semantischen Anbindung an die Filme eine Mischung aus klassisch-abbildhaften und abstrahierenden Objekten darstellen und damit von einer Nachahmung der Objektkunst weit entfernt sind. Der in den 1990er Jahren zu beobachtende Rekurs auf die 1960er und 1970er Jahre entspringt keiner nachahmenden Haltung, sondern ist als grundlegende Folie zu verstehen, vor der Matthew Barney und andere Künstler seiner Generation ihren eigenen künstlerischen Ansatz entwickeln und zu einem je individuellen Ausdruck bringen. Das bei Matthew Barney augenfällige künstlerische Verfahren der Collagierung, Kompilierung und Uminszenierung von Motiven und Themen bringt es mit sich, dass insbesondere der CREMASTER Cycle mit gattungsbeschränkenden Begriffen kaum noch fassbar ist. Vielmehr entwickelt Barney Werke, die solchen Kategorien nur in einer programmatisch weit gefassten Definition die Anwendung ermöglichen, wie sich hier vor allem am Beispiel des Skulpturbegriffs gezeigt hat. Der Eindruck, den Barneys Arbeit beim Rezipienten hinterlässt, scheint somit am ehesten mit dem Ausdruck der Entgrenzung als Prinzip künstlerischen Vorgehens benennbar zu sein. Auch inhaltlich ist diese Strategie in Form einer thematischen und motivischen Vielfalt zu beschreiben, in die sich die Thematik des Körperlichen als eine unter vielen einreiht, die Barney zwar bewusst einsetzt, jedoch nicht kritisch-reflektierend weiterbearbeitet.

Unleashing of the Imaginary and a Search for the Perfect Form: The Significance of Masonic References in Matthew Barney’s CREMASTER 3 (2002) 1 Kristiane Hasselmann

When in the third – in the order of production, the final – film of his five-part CREMASTER Cycle (1994–2002), Matthew Barney, in the role of a masonic apprentice, scales the floors of New York’s Chrysler Building, travelling a fantastic odyssey to attain ›masterhood‹, cultural myths, societal-historical institutions, biographical and imaginary features become bizarrely compressed and juxtaposed, oscillate, permeate and overlay one another in dizzying manner. In her analysis of CREMASTER 3, Nancy Spector is correct to speak of a »distillation« of Matthew Barney’s »major themes and signature aesthetic devices, filtered through an elaborate symbolic matrix involving Freemasonry, Celtic lore, and Art Deco desires«.2 1 | The paper was initially produced in the context of the Theatrum Alchemicum Conference held in Berlin in 2007 and will be published in the German-language anthology Spuren der Avantgarde: Theatrum alchemicum. Frühe Neuzeit und Moderne im Kulturvergleich, edited by Helmar Schramm, Jan Lazardzig and Michael Lorber, Berlin/New York. I am much obliged to the editors for their permission to publish this English-language version. My lecture given at the Third Winter School in the School of Arts at Ludwig-Maximilians-Universität München in 2010 was based on this text. 2 | Spector, Nancy: »Only the Perverse Fantasy Can Still Save Us«, in: Nancy Spector (Ed.), Matthew Barney: The CREMASTER Cycle, exhibition catalogue, New York: 2002, pp. 2–91, here p. 43.

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This essay will focus on Matthew Barney’s uncanny dalliance with socio-cultural institutions, such as the ancient order of freemasons, and the amalgamation of different art forms and artistic genres, such as film, architecture, performance art, revue, sculpture, etc. If one examines the imagery created by Matthew Barney in its interconnection with the myths and rituals of the fraternity of freemasons in the light of a common hermetic heritage, new perspectives indeed emerge in relation both to Barney’s artistic oeuvre and the inherent questioning in that work of contemporary standards of rationality and analysis effected by reference to pre-rational structures of the self, which I wish to interrogate having regard to Cornelius Castoriadis’ concept of the imaginary. As in each of the elements of the CREMASTER Cycle, the starting point for CREMASTER 3 is a sensually striking and biographically relevant location, which inspires the imagination of the artist and conjures up those associative connections from which he can develop his narrative. New York is for Matthew Barney both a place of residence and the central focus of his activities. The Chrysler Building, the construction period of which (1928–1930) is chosen as the backdrop for the core piece of his CREMASTER Cycle, reflects the New York of the Great Depression, in which Irish trade unions battle for their rights and organised crime extends its mighty tentacles. That art déco style building stretching high into the clouds captures the observer’s eye through a previously unknown diversity of geometrical forms culminating an apex of curved elements faced in stainless steel creating corona-like effects. Reflections of the sunlight and the facade’s neo-gothic elements bestow on the building a mythical aura and a particular fascination. The edifice testifies to a major advance in contemporary techniques of skyscraper construction. In addition to the load-bearing steel frame incorporated within the external walls, the building is supported at its centre by a vast internal concrete shaft housing numerous elevators and the building’s entire supply systems. Thanks to a clever trick, its architect William van Alen ensured last-minute victory in the competition with the Bank of Manhattan tower, also under construction at the time. Shortly before the skyscraper’s completion, he crowned its apex with a decorative metal pinnacle known as the ›vertex‹, secretly pre-assembled in one of the building’s elevator and heating shafts with the result that on its inauguration in 1930 the 319 metre high Chrysler Building not only counted as one of the most beautiful but for a short period also held the title as the tallest building of its time. The pursuit of architectural innovation and beauty encapsulated by this

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exceptional endeavour makes it a suitable canvas for Barney to incorporate the constructional and architectural myths of freemasonry which structure and inform CREMASTER 3. Last but not least, the automobile tycoon and instigator of the skyscraper project, Walter Percy Chrysler (1875–1940), was himself a freemason. Matthew Barney decorates the interiors of the Chrysler Building with a multiplicity of freemasonry ornaments. Drawing on freemasonry rites on the perfectioning of the self, he translates transformation into an obstacle-laden challenge to reach the apex of the building, reinvented as a masonic lodge, in which he, in the character of an apprentice mason is subjected to seemingly surreal challenges. According to Nancy Spector, »[i]n Freemasonry’s use of architectural phraseology, which both conceals and communicates its spiritual teachings, Barney discovered an analogue to his own hermetic structures. He adopted its language as yet another vessel through which to explore internal thresholds and the application of will. Masonic symbols permeate CREMASTER 3, adding another interpretive level to the cycle’s already multivalent coded system.« 3

The following observations focus on the significance of these borrowings from freemasonry and their diverse links and superimpositions. At the same time, it is recognised that an exhaustive analysis on the interplay of all the symbols and themes involved cannot be undertaken within the constraints of this chapter. Instead, the aim is to establish the features essentially uncovered by the freemasonry prism located within Barney’s oeuvre. What new connections within its specific spectrum of symbols does the prism produce? To what extent does it further differentiate the existing spectrum? What do omissions and reinterpretations in the selective adaptation of the masonic topos reveal of Barney’s artistic interests and intentions?

3 | Ibid., p. 44.

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S elf - sculp turing

within a socie tal fr ame work

In CREMASTER 3, Barney externalises more resolutely than before the productive tension which, in his view, underlies each and every process of shaping and differentiation. He interrogates self-sculpturing in the socio-political context of societal structures, in particular, those aiming to shape both individual and society in a particular form. Such an institution is the masonic fraternity. Since the late eighteenth century, the aims of that organisation have included the intellectual and moral improvement of its members and a modification of their behaviour patterns. In other words, it has striven to create a performative habitus that is consolidated beyond the routine of the lodge to achieve practical application in everyday life. In this sense the fraternity of freemasons pursues the formation of enduring moral dispositions that initially find expression in, and are acquired through, ritual.4 The motto of the third CREMASTER episode, in which Barney cites the legendary American football coach Vince Lombardi, exhibits a striking closeness with that aim. Lombardi is quoted as calling for the development of a firm attitude of character as the basis for all intentional (and also unintentional) actions: »Character is the integration of habits of conduct superimposed on temperament. It is the will exercised on disposition, thought, emotion, and action. Will is the character in action.«5 In that statement, the character features which regulate individual drives are identified as the objective and engine of self-development. Consequently, the potential contained in human emotions and desires lies in their transformation to productive and meaningful energy, expressed through a firm attitude of character. For Barney, that will to shape, from a cultural history perspective, is anchored in freemasonry and reflected in the central myth of masonic tradition.

4 | On that point see my monograph: Hasselmann, Kristiane: Die Rituale der Freimaurer. Zur Konstitution eines bürgerlichen Habitus im England des 18. Jahrhunderts, Bielefeld: 2009. In that volume, I analyse the masonic aim of shaping the self as a model of a habitus ethic embedded in the Aristotelian tradition and revised in the 18th century. See also: Hasselmann, Kristiane: »Performing Freemasonry: The practical-symbolic Constitution of a Civic Habitus in 18th-Century England«, in: Journal for Research into Freemasonry and Fraternalism 2 (2010), pp. 186–196. 5 | Cited in N. Spector: Only the Perverse Fantasy Can Still Save Us, p. 43.

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Masonic self-sublimation as one’s own cultural achievement relies on its staging and symbolic agency, for which the community has devised an extensive repertoire of symbols and legends.6 On admission to the community of initiation, the new member passes through initiation rites unknown to him at the time. In keeping with the old guild system, the masonic ›lore‹ is organised on three basic levels: the degrees of Entered Apprentice, Fellow Craft and Master Mason. These craft degrees include in substance all the features which define freemasonry. Higher degrees expand on and amplify their content by way of additional material. A member remains within each degree until the lodge master considers him to be ready for admission to the next. Promotion rituals shape the transition to the next higher masonic degree and structure the step-by-step accumulation of knowledge. A member goes through each stage of initiation only once in his life. Initiation rituals are considered unrepeatable and irreversible in their effect on a candidate. The raising of the candidate in the third degree ritual, which confers on the member the master’s degree, is embedded in a narrative that tells of the murder of one of the three builders of Solomon’s Temple, Hiram Abiff, by three journeymen seeking to extort from him the Master Word. According to legend, three journeymen working on the construction of Solomon’s Temple decided to extract the Master Mason’s secrets in order to themselves work for a master’s wage. Their attempt failed and ended with the slaying of the tight-lipped master, their tools (gauge, square and gavel) serving as weapons. When King Solomon became aware that his architect had disappeared, he sent out fifteen loyal brothers to search for him. Their priority was to rediscover the lost Master’s Word. If that proved impossible, the brothers decided to treat the first word spoken on the discovery of Hiram as the new word of the Master. After fifteen days they discovered Hiram’s body decomposing under a mossy knoll. King Solomon ordered that they give the corpse an appropriate burial and, as a sign of their own innocence, to wear white aprons and gloves on the interment. According to the legend, on attempting to recover Hiram’s body, the state of the corpse made it difficult for the brothers to lift. First, they tried with the grip of an apprentice but the skin simply came away from the bones. With the fellow’s grip, too, 6 | Hasselmann, Kristiane: »Freemasnonry and Performance«, in: Henrik Bogdan/ Jan A.M. Snoek (Ed.), Brill Handbook on Contemporary Freemasonry, Leiden: 2014, p. 330-356.

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they were unable to keep hold of Hiram’s hand. In the ritual, the Lodge Master demonstrates on the candidate lying on the floor the successful lifting technique based on the ›five points of fellowship‹. He takes the candidate’s hand with a firm grip and in the same move teaches him the new master grip. Hand to hand, foot to foot, cheek to cheek, knee to knee, and hand in back the candidate is brought to an upright position and, at the same time, thus, literally elevated to the next masonic degree. The Master whispers into his ear the new word of the Master: ›Machbenah‹ which according to earlier texts revealing masonic rituals means »the Builder is smitten«.7 The narrative is recited and reenacted during the ritual, arguably making it the most spectacular of the three initiation rituals. The candidate is assigned the protagonist’s role in the ritual drama of Hiram’s murder and the community’s restitution with the help of a new word. The events are symbolically enacted around him. He must endure the blows – merely implied in the ritual – of the attackers in Hiram’s place. Alluding to the master builder’s fate, the initiate is laid down on the ground, the symbolic final resting place of Hiram’s body, from where he is then reawakened to new life. Tears of mourning surround the coffin depicted on the lodge carpet and, at the same time, signify cleansing dewdrops in the process of decomposition and fusion with the mythical archetype. When, in the ritual, the Fellow Craft is assigned the role of the divine master builder Hiram, whose death and resurrection he symbolically experiences, a ritual unio mystica is intended. The initiate should temporarily become one with the divine architect, on elevation to the status of Master henceforth prove himself as the bearer of Hiramic knowledge and take that knowledge as the starting point for his own moral refinement and the improvement of the world in which he lives. The candidate is meant to imbibe Hiram’s being through the ritual and let it live on within himself. It becomes his task to find an outward expression for this newly-acquired knowledge and resource. Renewal is imagined as the activation of a lost potential through regression to an originary unity – fusion with the divine, ›the Universal One‹ – which becomes the starting point for ongoing work on the self.

7 | Prichard, Samuel: »Masonr y Dissected (1730)«, in: Douglas Knoop/G.P. Jones/Douglas Hamer (Ed.), The Early Masonic Catechisms, Manchester: 1963, p. 170.

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The masonic fraternity’s initiation and body staging rituals serve as catalysts for individual processes of self-invention which can be read as a performative, symbolic process along the lines of a collective imaginary. The gentleman’s club offers a trans-individual form of regulation within which to acquire a differentiated scheme of action that is initiated through ritual embodiment and rehearsed through social interaction among the brothers. The fraternity conceives a heterotopic space with its own socio-symbolic structure which the Freemasons –to speak with Victor Turner– can use as a »drawing board on which creative actors sketch out what they believe to be more apt or interesting ›designs for living‹«.8 The realisation of these new designs begins with a ritual in which the candidate experiences the interplay of emotional impressions that firmly integrate him into the community and awaken his desire for moral refinement. The objective of the ritual drama is a release from the ›profane‹, offering a taste of higher values and initiating change. Thus, in freemasonry, visualisation of the desired process of acquisition and transformation does not remain within the realm of the imaginary, of inner show, but the imaginary is realised through performance and thus achieves symbolic status. In masonic rituals, the collective imaginary of the community is manifested. The masonic fraternity operates as a closed community which seeks to establish a specific communal value system to henceforth guide and gauge the process of self-invention. It regards itself as a corrective institution to a society which has fallen into a moral crisis. The goal is to acquire an enduring mind-set, a masonic habitus that emerges and is consolidated in the ritual to subsequently unfold its practical application in everyday life. The Masonic habitus emerges via a specific symbolic process on the body which is linked to the ritually-induced engram and marks the beginning of a life-long, individual learning process accompanied by images and metaphors.9 The neophyte must gradually discover the meaning of 8 | Turner, Victor W.: The Anthropology of Performance, Baltimore/London: 1988, p. 24. 9 | ›Engram‹ literally means ›inscription‹ and describes a mnemic trace. In 1904, Richard Semon (1859–1918) developed his influential hypothesis of engrams in his book The Mneme (translated 1921). According to his theory, stimuli produce an engrammic effect, a mnemic trace that is »written or engraved on the irritable substance«. (Semon, Richard: Die Mneme als erhaltendes Prinzip im Wechsel des organischen Geschehens, Leipzig: 1911, p. 15.) Semon states that engrams

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these images and metaphors. By living through them, these experiences gradually begin to get into a coherent whole, which is meant to anchor the associative link between ritual event and directed accompanying concepts in the body’s memory. The lived experience endows the ritual event with a deep-rooted, enduring meaning for the entire remaining life context. 10 can be revived through a pars pro toto signalling mechanism: »The particular complex of original sensations is triggered and maintained by the simultaneous effect of a complex of stimuli, which we will call the original complex of stimuli. It is not necessary for the complex of stimuli to be revived for the corresponding mnemic complex of sensations to be released; rather, a minor trigger is usually enough. [...] The complex of stimuli survives in the partial return of the energetic situation that previously bore the engrammic effect.« (Ibid., p. 187). In terms of the aggregate of engrams accumulated in a lifetime, Semon distinguished between the inherited and individually acquired wealth of engrams. »An inherited engramm describes the product of a stimulus that affected earlier generations.« (Ibid., p. 81). More than anything, the notion of the hereditariness of engrams as dispositions has rendered Semon’s hypothesis obsolete. Taking into consideration modern research, I am using the idea of engrams in a broader sense. My notion is coterminous with Semon’s in terms of exploring the neuro-anatomical foundations of mnemic traces but does not proceed from the assumption that it can be localised. Rather, multiple regions of the brain collaborate when mnemic traces are activated (see the entry ›Gedächtnis‹, in: Stefan Gall/Rudolf Kerschreiter/ Andreas Mojzisch (Ed.), Handbuch Biopsychologie und Neurowissenschaften, Berne: 2002, pp. 92–94). Moreover, today’s usage of the term no longer takes into consideration its hereditariness. David Hartley paved the way for all subsequent engrammic concepts with his association psychology. According to David Hartley, traces of sensations and ideas – which he defines as elements of the brain – form clusters underpinned by linguistic connections in which mnemic traces are secured and from which they can be retrieved. Reinterpreting the concept of engrams also becomes necessary for conceptual reasons since Freemasons have taken up Hartley’s theories of association and memory. For further reading, see the chapter ›Die Macht der Assoziation im Prozess der Formung eines Habitus der Uneigennützigkeit‹ in my dissertation. K. Hasselmann: Die Rituale der Freimaurer, p. 295 et seq. 10 | The Masonic notion of experience (Erlebnis) is a very specific one. Experience attests to and is defined as the engrammic effect of the ritual process – it is, indeed, determined by the very intensity of this process. In contrast to the far more complex and subject-oriented modern concept of experience, ›ritual experience‹

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In masonic rituals the body does not merely picture transformation in a subsequent mode; it serves as the co-actor and mimetic generator of lasting changes that culminate in the formation of a virtuous, tolerant, and humanitarian freemason.11 Matthew Barney is interested in the fraternity as a transformative agency. However, he is not concerned to achieve a faithful reproduction, incorporation or interpretation of masonic symbols and structures. Rather, he allows the ivy of his own imaginations to grow over them, infiltrates them with personal associations, disturbs original meanings and coherences and, thus, substantially transforms their appearance. The structure of masonic initiation rites and the masonic legend of Hiram are adapted by Barney as an alien narrative in which to embed his own story. Freely drawing on the myth of Hiram, Barney translates the dynamic tension between unbridled power and disciplining measures as a personal play of forces between Master and Apprentice. This does not unfold as a mentoring situation of trust and respect. On the contrary, Barney establishes a clearly antagonistic power relationship based on honour, obedience and disgrace. The attempt by the Apprentice to circumvent the Master’s requirements, in seeking to avoid the laboriousness of chiselling an unhewn rock to a perfect cube as proof of constant efforts towards self-perfection and using, instead, an elevator cage as a mould, is punished with uncompromising rigour. Barney does not celebrate discretion and loyalty (derived in masonic ›lore‹ from the character of Hiram) as moral virtues, but frees himself from a moral discourse by having lays emphasis on the immediate present of the ritual event performed on the body of the would-be initiate. Its defining influence on the body and mind thus bears the potential to form the basis for future ethical decisions. The particular constellation of performance and symbolism enables and conditions a comprehension of masonic signs that is determined by an emotional immediacy which goes beyond the mere routine of decoding. 11 | »Whenever someone completes an action with reference to an already existing world and thus invents a world of his own, a mimetic relationship asserts itself between the two; for example: when one imitates another’s movement, when one acts according to a model, when one represents something, when one expresses an image physically. It is crucial to see that these do not just describe imitative acts. Representation is not just simple reproduction that follows the original point by point; - it describes the creation of something new.« Gebauer, Gunter/Wulf, Christoph: Spiel, Ritual, Geste. Mimetisches Handeln in der sozialen Welt, Hamburg: 1998, pp.18-19.

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the Master and his accomplices punish in bloodily fashion the Apprentice’s transgression, enacting barbaric physical deeds of bullying and punishment in the style of notorious crime syndicates. Barney is not interested in adherence to discipline and compliance with rules as devices of civic virtue. For him, they are ›technical‹ requirements necessary to maintain a productive tension which allows for transformation. The fraternity, as portrayed by Barney in his film, exhibits the patriarchal structures of organised crime. He merges two extremely heterogeneous societal and political organisations which, notwithstanding certain common structural features, in their nature substantively differ. In Barney’s account, camouflaged under masonic robes are the members of an Irish Cosa Nostra, determined at all costs to retain power. Barney amalgamates the history of Ireland – home country of both his own forefathers and those of the workers engaged in large numbers in the late 1920s on the construction of the Chrysler Building – as a political nation and culturally deeply-divided country with the power struggles of the American mafia in New York. For the first 30 years of the twentieth century, the famous ›five families‹ share power in the city by common accord, until in 1930 a member of the original Italian mafia, Salvatore Maranzano, known as ›Moustache Pete‹ attempts to overturn the supremacy of the family of Guiseppe (Joe) Masseria in order, himself, to become the capo di tutti capi (›boss of bosses‹). However, murder of the interloper ensures that the existing power structure remains. Under the influence of Lucky Luciano, the status quo position of the five families is accepted and demands for a central authority figure are relinquished.12 In CREMASTER 3, following punishment of the disreputable interloper/ deceitful Apprentice, the fraternity has occasion to celebrate itself. It transforms the Chrysler Building into some kind of maypole, from the roof of which orange and green coloured garlands descend, weaving themselves in the course of what appears to be a Celtic summer festival to a baldachin beneath which the brothers gather around their Master (fig. 1). Notwithstanding the heterogeneity within, the structure retains its unity. It is evident from this that Barney is interested in the institution as a network of productive tension which presents itself to the outside world as closed, whereas within a complex play of forces is at work, ensuring its individual elements remain in motion.

12 | Raab, Selwyn: Five Families. The Rise, Decline, and Resurgence of America’s Most Powerful Mafia Empires, New York: 2005.

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Fig. 1: Richard Serra as Master Mason under the vertex of the Chrysler Building

Barney follows this narrative of institutional power struggles with an interlude titled ›The Order‹ in which, as if through a magnifying glass, the gaze may focus on individual levels of transformation. The insert, set in the rotunda of Frank Lloyd Wright’s Guggenheim Museum in New York, translates the transformation process into an ascent through different levels in which Barney/the Apprentice vertically scales the rotunda’s various floors by way of the balustrade, to succeed in ordeals placed in various settings. The different levels reflect the step-by-step process of masonic initiation and incorporate central motifs from both the preceeding and subsequent CREMASTER films.

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Design and flow of the contest are reminiscent of a computer-animated video game in which characters battle to progress from one level to the next, scoring points on conquering various obstacles.13 Within the interlude a distinct space-time continuum operates. Not only are gravitational forces for short moments disabled, the translation of the self to a man-made avatar also permits everyday physical limitations, generally speaking, to be ignored. The contest begins with a presentation of the main characters and their opponents on a revolving podium flanked by all but naked showgirls. Mini-stickers featuring square and compasses, emblem of the masonic fraternity, barely cover their nipples. The revue format adopted and long musical loops emphasise the game-like character of this interlude. The candidate, dressed in a Scottish kilt of pink tartan and a tall feathered hat, enters the field of play as a contrived figure still bearing the wounds inflicted as punishment for his attempt at deceit. His mouth, a bloody mess, is stuffed with a salmon-coloured cloth which hangs from his face like a huge fold of skin. He subjects himself willingly to the given scheme and embarks with a running jump on the climbing challenge. In the course of the climb, without any previous knowledge, the candidate should discover tasks and their solutions. In the first round, Barney/the Apprentice scales the various levels, searching and investigating as he goes. However, he is unable to recognise at once the secrets and challenges within the levels. On the fifth level, he meets the sculptor Richard Serra, who in the main part of the film plays the Master Mason and here, in black protective clothing, throws hot vaseline from a ladle against the balustrade wall. A trickle of slowly-moving grease flows along the inward-facing surface, down through the individual floors, and, for the candidate, henceforth operates implicitly as a time-limit for accomplishment of the tasks. At the heart of The Order is the confrontation with the self in the figure of an alter ego whom Barney/the Apprentice encounters on the third level. It 13 | These aesthetic parallels are clearly evidenced in a short film available on Youtube created by a user with LittleBigPlanet on PlayStation 3. In that film, Barney/the Apprentice from The Order, in the form of a small avatar, jumps and swings up and down from level to level, collecting bonuses for mastering a range of challenges with the result that at the end of the game, with 3,000 points accumulated and ›no lives lost‹ he celebrates his personal victory by way of a short dance. CREMASTER Sackboy in The Order: http://www.youtube.com/ watch?v=xWGzObjvFNA (15.05.2014).

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awaits him, first, in the form of a woman with prosthetic glass legs dressed in a long white gown – played by the top paralympic athlete and model Aimée Mullins. Her head is covered by a nursing cap bound together at the rear with the masonic square and compasses. Barney/the Apprentice transmutes into her physical likeness, they approach each other and embrace, touching at the five points of fellowship (fig. 2).

Fig. 2: Matthew Barney CREMASTER 3: Mahabyn, 2002

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However, the attempt at conjunctio with the candidate’s other half fails. In the moment of the embrace, she turns on him aggressively, transforming herself into a vicious cheetah. The Master’s word spoken by his alter ego in the moment of the embrace, here, is not the key to unification but seals the irreversible division of the originary psychical monad. The cheetah embodies those untamed, uncontrolled and dangerous energies which have to be killed off to acquire Masterhood. The Apprentice must kill off and conquer the undomesticated, animal side of his self in order to be admitted to the masonic fraternity. The initial task, at the first level, is to overcome the force field of the Order of the Rainbow for Girls, a dance troop of show girls dressed as lambs. After the candidate has crawled through the narrow passage between their dangerous tap-dancing hooves, a white apron from a small lamb is tied around him, reminiscent of the lamb’s leather apron traditionally awarded to a newly admitted brother in the course of his admission to the first degree. The ladies blindfold him with a thin pink ribbon and cast him over the balustrade into the foam-filled showgirl pool. Following that somewhat unconventional ›baptism‹, he moves on to the second level where, finding himself in the midst of a contest between two punk bands and torn between the gravitational fields of their frantic fans, he is set a puzzle to solve. At the very moment in which the Christian cross forms a perfect cube, he gets hold of the masonic tools, gauge, square and gavel, which, on his return to the third level, will serve him as weapons as they did the three Fellows in the masonic legend. With the masonic tools, the candidate slays the cheetah, killing his animal and undomesticated other self. This proves to be a necessary precondition for perfect assimiliation to the community as represented in the fourth level game entitled ›The Five Points of Fellowship‹. In this game, the candidate must, as if caber-tossing Celtic style, plant five pipe columns onto the body of a giant white ram such that after five successful throws the object resembles a set of bagpipes. The candidate throws, fails and experiments with a whole series of columns until finally he succeeds in combining body and columns to a functioning unit, that is, to a ›playable‹ instrument. Notable in this context is Barney’s three-fold staging of the (masonic) initiation death. First, there is the killing of the alter ego in the interlude The Order. Meanwhile, in the main film, Barney/the Apprentice breaks free of the dentist’s chair where he has been tortured, advances to the uppermost floor of the Chrysler Building where the Master is in wait and slays his adversary with a hammer. Finally, the Apprentice himself dies, struck with a fatal blow registered by the plinth of the tower. Whereas in the masonic ritual the candidate embodies the very person of Hiram Abiff, symbolically expe-

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riences destruction and renewal on his own body and as a result is cleased and endowed with new skills, in Barney’s account, the narratives are split between a struggle with a personified alter ego and a typical gangster-style act of revenge. The internal processes which in the masonic ritual result from the superimposing of real individuals, mythical figures and metaphysical forces are translated by Barney in two distinct external settings. He illustrates the separation from excessive drives and desires by way of a necessary act of self-disciplining in a struggle with the alter ego. In that struggle, the Apprentice is denied the ritual unificatory act which in the masonic tradition functions as a source of moral aspirations and abilities. In the final image, Barney leaves behind, depicted as a tamed novice, his slain alter ego, Aimée Mullins. She is clothed as a first degree initiate, her eyes blindfold, a rope around her neck, her prosthetic legs shattered, and riding a sledge drawn by five lambs (fig. 3).

Fig. 3: Aimée Mullins as the tamed alter ego sitting on a sledge

On the other hand, Barney places the death of the Apprentice and the Master in a surreal narrative on creative might and the might of creations, in which the building takes revenge on its architect. Barney is interested in freemasonry as a narrative and experimental framework for the reconstruction of a unity between the world and the self, a closed system in which the imaginary and the symbolic are aligned

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as closely as possible with one another. At the heart of the masonic visual repertoire stands the Temple of Solomon, an edifice »the foundation of [which] was laid prodigiously deep, and the stones were not only of the largest size, but hard and firm enough to endure all weathers; mortised into another, and wedged into the rock«.14 The temple follows a divine design – it is a work moulded by the hand of the world’s Maker. As imago mundi, it acts as »model of and for the world. Thus, working for the Temple of Solomon means working for the world«.15 The temple attests to the desire for permanence and stability of a community erected on truth, virtuousness and brotherly love. Its hierarchical division into different sections provides a symbolic cartography for the masonic heterotopia. During the ceremony of admission to the first degree, the initiate learns that he has entered King Solomon’s temple, which he sees indicated on a floor drawing. He is told that the entire structure rests on three pillars – wisdom, strength and beauty – »wisdom to contrive, strength to support and beauty to adorn«.16 The continuing effort to improve oneself is symbolically represented by moving into the sanctum sanctorum of Solomon’s Temple, where the great builder lies buried. In Barney’s version, too, the Master and his building become one, with the latter, ultimately, obtaining revenge for the murder of its maker. Barney’s recourse to masonic symbol systems incorporates a critical commentary. Entering the community is interpreted as incapacitation and in relation to the ritual discovery of the other self, the lost potential, Barney emphasises, above all, the destruction – necessary according to masonic ›lore‹ – of the compulsive self, with the result that in the final image of the The Order the alter ego in the form of a masonic novice is portrayed as a ›baby lamb‹ which is blindfold, tamed and ready for admission.

14 | Words of the Jewish historian Josephus, regarded by Hutchinson as a successful description of the society’s ›mystical fabrick‹. Hutchinson, William: Spirit of Masonry (1775). George Oliver (Ed.), Kessingers Publishing’s Rare Mystical Reprints, undated (first publication, 1775), pp. 266-267. 15 | Snoek, Jan A.M.: »Die drei Entwicklungsstufen des Meistergrades«, in: Jahrbuch der Forschungsloge Quatuor Coronati 41 (2004), p. 25. 16 | That explanation is contained in numerous revelatory publications. Le Maçon Démasqué (1751) is the first to provide a written account of that explanation as an address to newly-admitted brothers. Harry Carr (Ed.), The Early French Exposures, London: 1971, p. 439 et seq.

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Here, at the latest, it becomes evident that Barney is not interested in the possible moral implications of disciplining and domesticating originary potential in the course of a process of rationalisation. Barney imagines a field in which that potential continues to be active, where the fundamental dialectic between freedom and the need for a rigid structure remains virulent. He interprets freedom as the attainment of a state of self-determination. Its starting point is the reactivation of a lost potential, which can be made productive through the influence of resistances and disciplining measures. According to Mark C. Taylor, Barney’s work is »ancient in the origin of its vision, modern in its transformative mission, and postmodern in its performance of the impossibility of accomplishing this mission and realizing this vision«. 17 Barney explores the extent to which in artistic terms effectively he can come close to that archaic imagery and seeks to locate the thresholds thereto in the form of an artistic experimentation on the self.

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imaginary in an artistic

In his CREMASTER Cycle, Matthew Barney produces a seemingly indeterminate deluge of images and metaphors which withstands deliberately any attempt at exhaustive decoding. Layers of symbols and meaning overlay one another as a palimpsest, continually generating new fields of association and cross-references between the individual films of the cycle. In the extraordinary richness of that imagery, one appears to meet the associative productivity of an unleashed imaginary; an imaginary which withstands all verification of identity or truth, in which the narrative is subject to its own rules of time and space, in which things curiously fuse, arriving indivisibly, therefore, as an »indissociably representative/affective/intentional flux [...] that [...] escapes the most elementary logical schemata« and only inadequately capable of translation into language,18 since this can reproduce only approximately the diversity and richness of the performance. 17 | Taylor, Mark C.: »Forger y«, in: Nancy Spector (Ed.): Barney – Beuys. All in the Present Must Be Transformed, exhibition catalogue, Ostfildern: 2006, p. 115. 18 | Castoriadis, Cornelius: The Imaginary Institution of Society, Cambridge/ MA: 1987, p. 274.

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What we encounter here in Barney’s artistic experiment on the self constitutes the principal intellectual motif of the concept of a radical imaginary presented by the Franco-Greek philosopher and psychoanalyst Cornelius Castoriadis. That is not the only reason to read/view/consider Barney and Castoriadis together and to posit questions on the possibility of presenting the unconscious in the process of artistic production. It seems apt, in the light of Castoriadis’ concept, to speak of a metamorphotic ›alchemy‹ of the imaginary, which will be examined in relation to the particular work under discussion here. At the heart of Barney’s oeuvre, as Nancy Spector accurately summarises, is the desire for an undifferentiated primordial state, regression to a undifferentiated phase, a ›primordial moment‹ preceding all creation myths which explain the world in terms of division, differentiation and categorisation. That primordial moment »exists outside of language. Pre-Genesis (and pregenital), it lacks all definition or structure«. 19 Barney is concerned with the recognition of an originary potential within the self which, following Castoriadis, could be described as a »radical imaginary«; an imaginary which presides over ever y organization of drives, even the most primitive one, [...] is the condition for the drive to attain psychical existence, [and where] the drive borrows its ›delegation by representation‹, its Vorstellungsrepräsentanz, from a backdrop of primal representation (Ur-vorstellung). 20

In examining the imaginary as a force capable of generating performative reality, Castoriadis’ concept – by way of contrast to the Lacanian register – presents a hitherto little acknowledged alternative which defends the ›radical imaginary‹ preceding each and every representation against the privileged dimension of the symbolic. In an anthropology of abundance, Castoriadis identifies the imaginary as an »elementary and irreducible capacity of inducing images« gushing out as contingent magma and »the unceasing and essentially undetermined (social-historical and psychical) creation of figures/forms/images, on the basis of which alone there can ever be a question of ›something‹. What we call ›reality‹ and ›rationality‹

19 | N. Spector: Only the Perverse Fantasy Can Still Save Us, p. 23. 20 | C. Castoriadis: The Imaginary Institution of Society, p. 287.

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are its works.«21 He regards the distance between society in the process of its institution (the individual or societal imaginary) and that which is already instituted (understood by Castoriadis to be the symbolic) »not [to be] something negative or deficient«.22 In Castoriadis’ account, the imaginary does not fill the gap between desire and reality which in the Lacanian register the Real is insufficiently capable of filling. Rather, the radical imaginary constitutes »the ability to construct unknown forms which are not simply combinations of what already exists. Those forms,« as Castoriadis puts it in keeping with Freud, »follow what exists but are not determined by it«.23 Within the transition from the imaginary to the symbolic, the performative as a dynamic of the instituting process plays a central role. Namely, by way of a translation process barely capable of adequate perception, the imaginary manifests itself in social institutions (such as myths, cults, rituals, artforms, societal organisations, etc.) which have the potential, in turn, to supply the imaginary itself with new impulses.24 Only with knowledge of that dialectic of instituting processes can the particular nature of Castoriadis’ concept of the imaginary be understood. According to him, in the shaping and transformation of the imaginary, the »creative nature of history« is expressed. The distance from that which already exists is »what makes a society always contain more than what it presents«.25 In its quality as »other«, the imaginary functions as »the perpetual orientation of otherness«, as a source of change.26 Barney’s artistically intended release of the radical imaginary can, I suggest, following Castoriadis, be read as an emancipatory practice which does not dispense with work on existing forms and oppositions. In CREMASTER 3, he extends his previous attempts to establish tensions in closed systems, such as that of one’s own body, through the addition of institutional frame21 | Ibid., pp. 3 and 127. 22 | Ibid., p. 114. 23 | Castoriadis in conversation with Florian Rötzer: Florian Rötzer: Französische Philosophen im Gespräch. Baudrillard – Castoriadis – Derrida – Lyotard – Serres – Raulet – Levinas – Virilio, Munich: 1987, p. 51. 24 | See the entry for ›Bild‹ [image] by Michael Franz, in: Wolfgang Fritz Haug (Ed.), Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus, Hamburg: 1999, column 238. 25 | C. Castoriadis: The Imaginary Institution of Society, p. 114. 26 | Ibid., p. 369.

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works and technologies intended to generate an individual transformation process. Barney is interested in possibilities for overcoming obstacles as a mode of tailoring and rendering productive an underlying pure potentiality, which he expresses in the dialectic inherent in his opus of playful openness contrasted with an obsession for form, strict order and the detailed composition of the Cycle and its elements. Freemasonry assumes that man has a divine core which it is imperative to reach. According to this logic, recognition of that divine core empowers man to work actively on the self and establishes the goal. The ideal form of human interaction results from an awareness of the consummate divine plan which it is the task of mankind to accomplish. For Barney, the starting point for reactivation of an originary human potential does not lie in a metaphysical union with a ›divine being‹ of some or other kind. However, he, too, strives for a lost unity, for something which became lost in the course of individuation and searches for its remnants in himself. In so doing, Barney finds himself necessarily confronted with that impossibility described by Castoriadis, namely, [of reducing] all that will hencefor th appear as irremediably separated and dif ferentiated to a single world, at once subject to and at the absolute disposal of the subject ... (even as a pure phantasmic representation). […] This [aim] will make, to a degree much stronger than any type of repression, out of this ›state‹ that which can never truly be brought to speech, because its meaning lies in an elsewhere, lost forever. 27

Barney sets out to detect, hold together and visualise that self-differentiating manifold. The attempt to return to a monadic condition of an as yet unformed and contourless self, in which world and self overlap perfectly, entails a radical autistic self-reference.28 Matthew Barney turns his own person into the scene of an impossible attempt to recreate an undifferentiated monadic 27 | Ibid., p. 297. 28 | Castoriadis prefers the term ›autism‹ over ›narcissism‹, »for this [term] refers to a libido fixed upon itself to the exclusion of all the rest, whereas what is in question here is a totalitarian inclusion. [...] This autism is ›undivided‹: not the autism of representation, of the affect and of the intention as separate, but a single affect which is immediately (self-)representation and the intention of the atemporal permanence of this ›state‹«. Ibid., p. 294.

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condition. His entire surroundings, the locations, workers and fellow actors which he incorporates in this search become accessories in an endeavour »in which the subject [Barney, K.H.] is everywhere, in which everything, including the mode of coexistence, is only subject [Barney, K.H.].«29 Barney translates his imaginary perceptions into obsessive designs and shapes, turns his fellow actors into accomplices in his mindscape, for which he himself is the stage and in the depiction of which a mysterious and unknown subject in the guise of a ›character in action‹ appears to self-generate. In view of the impossibility of returning to a lost, homogeneous, substantive self, Barney concocts – as Mark Taylor aptly observes – a »creative forgery that brings art to life by transforming life into the work of art«.30 Whereas in The Order, on a narrative level, union with his other self (played by Aimée Mullins as a cheetah), in the form of a conjunctio according to ›masonic‹ model, does not prevail, on an aesthetic level, Barney succeeds to undermine binary oppositions and transform them to »a holding-together of distinct-indistinct components of a manifold«. In this holding-together, class-forming operations of ensemblist logic, have to be thought of »as simultaneous, multiple dissections which transform or actualize these virtual singularities, these components, these terms into distinct and definite elements«.31 Castoriadis’ inquiry into the specific modes of being of the imaginary is as purposeful as the related shaping and signification processes remain obscure. He hints simply at their diversity, identifying as potential participable representative support of these significations […] images or figures, in the broadest sense of the term: phonemes, words, bank currency, jinns, statutes, churches, tools, uniforms, body paintings, numerical figures, border-posts, centaurs, cassocks, lictors, musical scores – but also the totality of what is perceived in nature, that is or could be named by the society in question. 32

For the dialectic of the instituting process, what is crucial is that the imaginary itself is not regarded as something wholly lacking in structure. In that connection, Castoriadis provides an outline of the self-structuring of the 29 30 31 32

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Ibid., p. 295. M.C. Taylor: Forgery, p. 123. C. Castoriadis: The Imaginary Institution of Society, p. 344. Ibid., p. 238.

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imaginary which could indeed be described as its metamorphotic alchemy. The imaginary unfolds in dynamic and temporary playful structures, in images and figures of all kinds, »which present themselves or jostle one another, stay a while or flit by, enter into one another or move away« and are subject to the practically empty condition that »there is always figure and ground (but the figure can itself become ground and the ground, figure, as we know)«.33 According to Castoriadis, the radical imaginary denotes a spontaneous image production, not conditional on the existence of a deficit. However, it would »hardly be capable of positing new structures, if a functional interaction of the figural and operational was not already immanent therein.«34 On that basis, one could read CREMASTER 3 as a »fabulous allegory of the genesis of form itself« performed in its own symbolic cosmos. 35 In that cosmos, Barney prefers fusion to separation, celebrates the potential of connections and superimpositions heavy with tension in a self-contained system of endless citations and creates relations where, to quote Castoriadis again, »that which enters into this correspondence is constantly, redefined, remodeled, refigured, its manner of entering into relation is altered«.36 Of central importance in that regard is the choice of Richard Serra to play the legendary architect and Biblical metalsmith Hiram Abiff. In his person, the powerful master of the masonic order and mythical metallurgist Hiram Abiff fuses with Richard Serra, the teacher and mentor of Matthew Barney at Yale University to become a personal ›Master Artist‹. In the figure of Richard Serra featured in the fifth level of The Order, Barney overlays the works of pupil and master, with Serra executing his Casting performance as a ›creative act‹ in vaseline, Barney’s own primary working material. In addition, Barney turns Serra into a performance artist, demonstrating the process – preceding his finished work and usually unobserved – by which he creates his sculptures. There is no emancipatory event of redemption between him and his teacher, no patricide. Instead, Barney engages in a

33 | Ibid., p. 323. 34 | M. Franz: Bild, columns 237-238. 35 | That is the description which, in the context of a comparative analysis, Nat Trotman applies to the works of Joseph Beuys. Trotman, Nat: »Ritual Space/ Sculptural Time«, in: N. Spector: Barney – Beuys. All in the Present Must Be Transformed (2006), p. 141. 36 | C. Castoriadis: The Imaginary Institution of Society, p. 277.

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seemingly anti-oedipal act of superimposition and of becoming one with his role model (fig. 4).37

Fig. 4: Richard Serra’s vaseline-splashing on the fifth level of initiation of The Order

With his portfolio of far-reaching works, Serra does not simply in the case of his steel spatial sculptures take artistic production to the limits of the possible38 but on the basis of an extended notion of sculpture from an early stage has surpassed and challenged traditional artistic genres. In the pieces belonging to the group of works entitled Splashings (1968) and Castings (1969), cited by Barney in Serra’s appearance on the fifth level of initiation of The Order, Serra threw molten lead into the angle formed between wall and floor. Through that process he created three-dimensional forms which, although retaining the rigid template of the angle, on their open face displayed wild formations of an unforseeable character. Barney adopts that scheme of production: he interprets the process by which a primitive potential becomes productive as a shaping process, executed in line with existing structures, however, not entirely determined by such, but which, on the contrary, modifies and re-forms the parameters to which 37 | See N. Spector: Only the Perverse Fantasy Can Still Save Us, p. 81. 38 | Hasselmann, Kristiane: »Trig gering Latency Zones in Modern Society: Richard Serra’s Sculptures Within the Urban Setting«, in: Alice Lagaay/Michael Lorber (Ed.), Destruction in the Per formative, Amsterdam/New York: 2011, p. 153–177.

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it is related. For Barney, self-sculpturing constitutes a process of shaping which lies between prescriptive models and relative openness, a process of reciprocal influence between model and magma. The attempt, hinted at especially by the reference to the fraternity of freemasons, to influence transformation processes through initiation rituals and a series of artificial challenges may be regarded as contradicted only in part by the CREMASTER muscle, the very epitome of a lack of intention, from which the film derives its title. The CREMASTER muscle raises and lowers a man’s testicles in accordance with temperature, psychological and sexual factors. However, it is incapable of inducing intentionally that movement. Likewise, although the strategic construction of ritual frameworks for physical and emotional sensations and experiences will never make these entirely steerable, nonetheless, it is precisely these sensations and experiences which are critical to any change. Barney occupies a position located between the hubris of effecting single-handed improvement to divine works and humble observation of acts not susceptible to deliberate influence and abstains from an ultimate judgment on that relationship in order to focus on the fundamental significance of the imaginary itself. For Matthew Barney, the imaginary does not constitute a poetic residue incapable of integration which must be disposed of as the waste product of a rational world view. On the contrary, in his work, the imaginary produces rich and disturbing results, whose connections and interpretative possibilities appear inexhaustible. The articulations of the imaginary defy violent attempts at their division instituted through penetrative efforts of identitary and ensemblist logic, consistently producing – in the course of the conflict with that overly powerful ontology – new overlays and fusions. This can be read as a passionate plea for a revision of traditional logics of organisation, whose capacity to capture the complexity of being is inadequate, especially as these articulations of the imaginary hold a vigorous potential which, for the most part unnoticed, plays a decisive role in the shaping of our reality. Translated by Paul Skidmore

Das Innere nach außen kehren – zur physiologischen Bildmetaphorik in Matthew Barneys CREMASTER Cycle Stephanie Syring »In der Athletik betrachtet man seinen Körper als Werkzeug, man blickt auf ihn wie auf ein Objekt. So als könnte man ihn von innen nach außen kehren.«1

Der eigene Körper ist Ausgangspunkt von Matthew Barneys künstlerischem Schaffen. Das trifft auch für den CREMASTER Cycle zu. Allerdings muss er hier nicht so sehr sportliche Höchstleistungen vollbringen wie in Barneys frühen Arbeiten:2 Im CREMASTER wird der physische Zwang, der noch in OTTOshaft (1992) oder in den Anfängen der Drawing Restraint-Reihe (1988–2005) zentral ist, durch einen »metaphorischen oder projizierten, von einem Narrativ getragenen Zwang«3 ersetzt. 1 | Matthew Barney in The Body as Matrix – Der Körper als Matrix (USA/D 2002, R: Anna Maria Tappeiner). Zit. n. Bürgel, Deborah: Typologie des Hybriden – Eine Perspektive auf Matthew Barneys ›CREMASTER Cycle‹, Saarbrücken: 2008, S. 58. 2 | In den früheren Performances überwand Barney Hürden, die er seinem Körper als Widerstand auferlegte, beispielsweise wenn er mit elastischen Bändern verbunden, die den Körper zum Boden zurückziehen, Wände erkletterte, um dort seine Zeichnungen anzubringen. Vgl. http://drawingrestraint.net (04.04.2012). 3 | Interview mit Matthew Barney: Brandon Stosuy: »Matthew Barney«, in: The Believer 4 (Dez. 2006/Jan. 2007), S. 62. Deutsche Übersetzung zit. n.: Urbaschek,

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Während der kletternde, an Gummibändern befestigte, athletische Körper des Künstlers in den früheren Performances noch zentrales Darstellungsmittel war, werden im CREMASTER Cycle Maßstab und Funktionsstruktur der menschlichen Physis auf landschaftliche oder architektonische Szenarien übertragen.4 Dabei gilt das Interesse Zuständen und Prozessen, die als formgebend beschrieben werden können. So thematisiert der CREMASTER sowohl die geschlechtliche Differenzierung beim Embryo als auch die Praxis des Bodybuilding, wo durch Muskeltraining die äußere Gestalt des Menschen geformt wird. Auch Stoffwechselprozesse, bei denen rohe in verwertbare Energie umgewandelt und in konkreten Aktionen nutzbar gemacht wird, strukturieren Barneys Verständnis des menschlichen Körpers als Modell für Prozesse der Entstehung einer Form, eines künstlerischen Objekts. Der Künstler entwickelt ein abstraktes Strukturmodell (›The Path‹), das gleichermaßen Vorgänge im menschlichen Körper als auch die Entwicklung einer Idee im kreativen Prozess und ihre konkrete Formausbildung beschreibbar macht.5 Das System ›The Path‹ gliedert sich in drei Phasen oder Zustände. In der ersten Phase, ›Situation‹, herrscht eine ungerichtete und triebhafte Energie, die sich durch Wandlungsfähigkeit auszeichnet und noch unfähig ist, eine konkrete Form zu finden. In der zweiten, ›Condition‹, wird eine richtungsweisende, disziplinatorische Kraft aktiv, die das rohe Potenzial aus ›Situation‹ aufnimmt und in verwertbare Energie umwandelt. Die Phase ›Condition‹ ermöglicht es, der in ›Situation‹ herrschenden Energie Form zu geben. In der letzten Phase, ›Production‹, kommt dieser Prozess zu seinem Ziel und Ende.6 Das abstrakte Modell kann sowohl für den Stoffwechsel als auch für die Entstehung einer (gestalterischen) Idee stehen: Entsprechend diesem Modell werden physiologische Prozesse im CREMASTER Cycle zum Modell für die Entstehung von Form im künstlerischen Prozess: Die Geschichte, die in den ›CREMASTER‹-Filmen erzählt wird, handelt von dem Konflikt, dem die Entwicklung einer Idee ausgesetzt ist. Der Konflikt Stephan: »…der Versuch, Objekten, diesen größeren Strukturen, emotionale Wirkmacht zu verleihen – ein Ausstellungsrundgang«, in: Ingvild Goetz/Stephan Urbaschek (Hg.), Matthew Barney, Ausst.-Kat., München: 2007, S. 21–45, hier S. 30. 4 | Vgl. S. Urbaschek: …der Versuch, Objekten, diesen größeren Strukturen, emotionale Wirkmacht zu verleihen, S. 21. 5 | Vgl. D. Bürgel: Typologie des Hybriden, S. 24. 6 | Vgl. ebd.

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ist am Stärksten [sic], wenn die Idee Form annimmt. [...] Ein Modell im Körper, dem dieser dramatische Bogen gewissermaßen eingeschrieben ist, wird durch die Entwicklung des Fortpflanzungssystems repräsentiert. [...] Am Anfang [der Embryonalentwicklung, S.S.] ist das Geschlecht des Fötus noch nicht ausdifferenziert: er ist weder männlich noch weiblich. [...] Für mich ist das eine Analogie zur Entwicklung einer Idee, die auch Zeit braucht, um klare Konturen zu gewinnen. Der ›CREMASTER‹-Muskel bestimmt die Temperatur im Hoden und beeinflusst so das zukünftige Geschlecht des Fötus. Damit ist er für mich auch eine ausgezeichnete Metapher für die Herausdifferenzierung der Idee im kreativen Prozess.7

Im Folgenden soll die in Barneys Werk, insbesondere im CREMASTER Cycle, wiederholt vorkommende metaphorische Übertragung von Eigenschaften des menschlichen Körpers auf Bereiche der Architektur, Psychologie und Geologie einer systematisierenden Analyse unterzogen werden. Dazu ist zunächst eine Klärung des für die folgenden Überlegungen zentralen Begriffs der Metapher notwendig, der auf Barneys Arbeiten bislang meist eher diffus und methodisch unterbestimmt angewandt wurde. Ausgangspunkt einer Anwendung auf Film und bildende Kunst sind die Überlegungen Virgil C. Aldrichs zur visuellen Metapher; insbesondere werden aber Ansätze der kognitiven Metapherntheorie im Anschluss an George Lakoff und Mark Johnson methodisch fruchtbar gemacht. So soll insbesondere nachvollziehbar werden, warum es so nahe zu liegen scheint, den CREMASTER ›übertragen‹ zu lesen, und nicht zuletzt soll der hier versuchte Vorschlag einer metaphorisierenden Lektüre plausibel werden.

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der

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In seiner Theorie der ›visuellen Metapher‹ überführt Virgil C. Aldrich den Begriff der Metapher vom Bereich des Sprachlichen in den des Visuellen. Eine visuelle Metapher löst eine Art der Wahrnehmung aus, die Aldrich als »seeing as«8 beschreibt. Bekanntlich geht der Begriff ›Metapher‹ auf das 7 | Interview mit Matthew Barney: http://www.moenchehaus.de/traeger/barney/ PDF/Matthew_Barney_Interview.pdf (11.10.2012). 8 | Aldrich, Virgil C.: »Visuelle Metapher«, in: Anselm Haverkamp (Hg.), Theorie der Metapher, Darmstadt: 1983, S. 142–159, hier S. 147. Im metaphorischen Sehen

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griechische Wort ›meta-pherein‹ – ›übertragen‹ – zurück. Diese Etymologie legt die Zentralsetzung des Übertragens für den metaphorischen Prozess nahe. Die visuelle Metapher dient dazu – so könnte man sagen – abstrakten Sachverhalten eine Struktur zu verleihen und sie in ein Bild umzusetzen. Die Strukturierung von Abstraktem durch konkret-physisch Erfahrbares allgemein ist zentrale Ausgangshypothese der kognitiven Metapherntheorie: Der menschliche Körper stellt – so die Annahme – einen zentralen Ausgangspunkt für die Bildung von Metaphern dar. Er wird in diesem Sinne zum Maß aller Dinge.9 Der Körper als »unsere Verankerung in der Welt«10 verbindet uns mit unserer Umgebung und nur über den Körper kann diese auch wahrgenommen werden. Vor dem Hintergrund dieser – durchaus phänomenologisch grundierten – Annahmen erklärt sich für Lakoff und Johnson, warum der menschliche Körper den bedeutendsten Herkunftsbereich der Metapher darstellt. Jede von einem Individuum konzipierte und artikulierte Metapher stehe »in Verbindung zur physischen Wahrnehmung, zur körperlichen Erfahrung, zum rationalen Denken, zu den Emotionen sowie auch zum physischen und gesellschaftlichen Kontext des Individuums«.11 Mark Johnson entwickelt ausgehend von diesen Kernthesen das Konzept des kinesthetic image schema. Ein verkörpert Material M den Gegenstand A: »Im Hinblick auf dieses Phänomen kam ich dazu, von einer wechselseitigen ›Transfiguration‹ von A und M in B zu sprechen – einer gegenseitigen Beseelung [interanimation] von M und A, die sich in Form des Gehaltes B, der die Seele oder ›anima‹ bei diesem Vorgang darstellt, zum visuellen Erfassen anbietet. In Anbetracht dessen verschwinden der Gegenstand A als solcher und der Stoff M als solcher aus dem Bewusstsein zugunsten des Gehaltes B – der verkörperten Vorstellung, in welcher M und A transfiguriert oder ›expressiv dargestellt‹ […] sind.« V. C. Aldrich: Visuelle Metapher, S. 147f. 9 | Vgl. Lakoff, George/Johnson, Mark: Philosophy in the Flesh. The Embodied Mind and Its Challenge to Western Thought, New York: 1999, bes. S. 16–44. Vgl. auch Lakoff, George/Johnson, Mark: Metaphors We Live By, Chicago: 1980. Vgl. dazu ebenso Stenzel, Julia: Der Körper als Kartograph? Umrisse einer historischen Mapping Theory, München: 2010. Vgl. zudem Kohl, Katrin: Metapher, Stuttgart: 2007. 10 | Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin: 1966, S. 174. 11 | K. Kohl: Metapher, S. 6, im Anschluss an die Kernthesen von Lakoff und Johnson.

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image schema ist »a recurring dynamic pattern of our perceptual interactions and motor programs that gives coherence and structure to our experience«.12 Und diese image schemas – oder Wahrnehmungsschemata13 – sind auch zentral für die Bildung körperzentrierter Metaphern. Für den Zusammenhang dieses Beitrags sind insbesondere vier solcher Schemata zentral: Erstens das Behälter-Schema mit den »interaktionellen Eigenschaften ›Abgeschlossenheit‹ und ›Innen-Außen-Orientierung‹«,14 zweitens das Weg-Schema (mit Ausgang und Ziel), welches als konkreter Weg oder im Prozess der Fortbewegung erfahren wird, drittens das Schema der Vertikalität, welches etwa als Auftürmung von Gegenständen oder Substanzen oder im Prozess der Bergbesteigung erlebbar ist, und schließlich viertens das Schema der Verbindung, das dem Menschen etwa beim Händehalten, aber auch als Band oder Brücke begegnet. Im CREMASTER Cycle sind diese Schemata, die in jeder Konzeptmetapher strukturgebender Bestandteil sind, in unterschiedlichen Szenarien zentral. So findet sich das Wahrnehmungsschema ›Behälter‹ in CREMASTER 1 wieder, wenn Goodyear sich nicht nur im Zeppelin, sondern auch in einem abgeschlossenen Raum unter dem Tisch befindet. Die Erfahrung des ›Weges‹ zeigt sich in CREMASTER 4, wenn die Figur des Loughton Candidate durch einen Tunnel aus Vaseline kriecht. Das Schema ›Vertikalität‹ begegnet in CREMASTER 3 beim Emporklettern des Lehrlings im Chrysler Building und im Guggenheim Museum. Und die Erfahrung der ›Verbindung‹ zeigt sich in CREMASTER 2 durch den Tunnel zwischen den Autos von Gary Gilmore und seiner Freundin Nicole Baker. Die Metapher mit ihrem Potenzial, »das Nichtphysische in Begriffen [Herv.i.O.] des Physischen [...]; das heißt […], das weniger scharf Konturierte in Begriffen des schärfer Konturierten [zu] konzeptualisieren«,15 avanciert bei Lakoff und Johnson zum allgegenwärtigen Prinzip des Denkens. Ihre Thesen sind von der Annahme geprägt, dass eine auf den skizzierten fundamentalen Wahrnehmungsschemata basierende Form der Strukturierung, die ich im Folgenden entsprechend der kognitiven Metapherntheorie ›metaphorisch‹ nennen werde, Denken und Wahrnehmen des Menschen erst 12 | Johnson, Mark: The Body in the Mind. The Bodily Basis of Meaning, Imagination, and Reason, Chicago/London: 1987, S. XIV. 13 | Deutsche Übersetzung des Begriffs nach J. Stenzel: Der Körper als Kartograph?, S. 52. 14 | Ebd. 15 | Lakoff, George/Johnson, Mark: Leben in Metaphern. Konstruktion und Gebrauch von Sprachbildern. Heidelberg 1998, S. 73.

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ermöglicht:16 »[…] metaphor is pervasive in everyday life, not just in language but in thought and action. Our ordinary conceptual system, in terms of which we both think and act, is fundamentally metaphorical in nature.«17 Mittels der Metapher in diesem weiten Sinne kann »ein Sachverhalt im Lichte eines anderen Sachverhaltes«18 betrachtet und so ein abstrakter Kontext von konkret-sinnlichen Erfahrungszusammenhängen geöffnet werden.19 Und diese begriffliche Ausweitung lässt die konzeptuelle Metapher für eine Beschreibung von Barneys Kunst interessant werden, da eben auch Barney abstrakte Vorgänge wie die Ausbildung einer Idee im kreativen Prozess analog setzt zu Prozessen, wie sie im menschlichen Körper stattfinden. Die Umsetzung von ›The Path‹ im CREMASTER Cycle basiert auf konzeptueller Metaphorik, die durch den Bezug auf konkret-physische Erfahrung ein abstraktes Modell vorstellbar und damit auch visualisierbar macht. Konzeptmetaphern erscheinen dabei als übergeordneter Bezugsrahmen. Sie übertragen einen Gegenstandsbereich auf einen anderen, wenngleich nicht in all seinen Aspekten: »[...] metaphorische Strukturierung ist immer partial«.20 Sie setzt nur gewisse Eigenschaften oder Strukturen, die den jeweiligen Gegenstandsbereichen inhärent sind, zueinander in Bezug. Lakoff formuliert in diesem Zusammenhang das Prinzip der Invarianz: »Metaphorical mappings preserve the cognitive topology (that is, the image schema structure) of the source domain, in a way consistent with the inherent structure of the target domain.«21 Durch diesen inhärenten Abstraktionsprozess stellt die Metapher keine fixe Codierung dar, was sie für künstlerische Funktionalisierungen und Transformationen im künstlerischen Prozess öffnet. Die konzeptuelle Metapher ermöglicht es Barney, den Prozess der Herausbildung einer Idee oder Form im künstlerischen Prozess analog zu 16 | Vgl. Buchholz, Michael B.: »Vorwort«, in: G. Lakoff/M. Johnson: Leben in Metaphern, S. 7–10, hier S. 8. Vgl. kritisch zum Metaphernbegriff von Lakoff und Johnson, den unkritisch auch Kathrin Kohl übernimmt, J. Stenzel: Der Körper als Kartograph?, bes. S. 42–48. 17 | G. Lakoff/M. Johnson: Metaphers We Live By, S. 3. 18 | G. Lakoff/M. Johnson: Leben in Metaphern, S. 47. 19 | Vgl. ebd., S. 138. 20 | J. Stenzel: Der Körper als Kartograph?, S. 54. 21 | Lakoff, George: »The Contemporary Theory of Metaphor«, in: Andrew Ortony (Hg.), Metaphor and Thought, Cambridge: 1993, S. 202–251, hier S. 215. Vgl. Lakoff, George: »The Invariance Hypothesis: Is Abstract Reason Based on Image Schemas?«, in: Cognitive Linguistics 1 (1990), S. 39–74.

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Strukturen physiologischer beziehungsweise physikalischer Prozesse zu gliedern. Anders als im Modell nach Lakoff und Johnson haben Metaphern im CREMASTER oft keine eindeutige Übertragungsrichtung. So lassen sich Quell- und Zielbereich zumeist nicht zweifelsfrei bestimmen. Vor dem Hintergrund der kognitiven Metapherntheorie sollen nun ausgewählte Sequenzen des CREMASTER Cycle untersucht werden. Barney hat in seinen Arbeiten den Fokus erklärtermaßen immer weiter weg vom menschlichen Körper hin zu anderen Entitäten verlagert.22 Die folgende Analyse orientiert sich in der Wahl ihrer Beispiele an dieser Blickrichtung. Ausgehend vom menschlichen Körper kommt sie über die Architektur hin zur Landschaft und ihrer konzeptmetaphorischen Strukturierung. Mit Deborah Bürgel geht der Beitrag dabei von einer »fundamentalen Erweiterung des Körpers« aus, »die ihn begrifflich als solchen letztlich kaum noch fassbar werden lässt«.23 Er befindet sich so im Einklang mit Barneys eigener Einschätzung: »For me the word ›body‹ is somehow too limiting.«24

D er K örper

als

G renze

und seine

Ü berschreitung

Nicht nur die begrifflichen, auch die konkret-physischen Grenzen des menschlichen Körpers verschwimmen im CREMASTER; exemplarisch bei der Figur des Entered Apprentice in The Order, der mittleren Sequenz von CREMASTER 3. Die Hauptfigur erscheint grotesk stilisiert, ausgestattet mit einem blau-rot karierten Kilt und einem fleischfarbenen Tuch, das ihr aus dem blutigen Mund hängt. Der fleischfarbene Kilt des Entered Apprentice mit seinem blau-roten Karomuster kann Assoziationen wecken mit dem Adernsystem im Körper des Menschen; in dieser Metaphorik stünde der ebenfalls fleischfarbene Stoff, der ihm wie ein Hautlappen aus dem Mund hängt, für die Gedärme, das schlechte Innere, das nach außen gekehrt wird.25 Die Metapher nähme dann Bezug auf den antiken Mythos des Marsyas, dem zur Strafe für seine 22 | Vgl. S. Urbaschek: …der Versuch, Objekten, diesen größeren Strukturen, emotionale Wirkmacht zu verleihen, S. 21. 23 | D. Bürgel: Typologie des Hybriden, S. 73. 24 | Inter view mit Matthew Barney: Sans, Jerôme: »Matthew Barney, Héros moderne«, in: Art Press o.Jg. (1995), H. 204, S. 25–32, hier S. 27. 25 | Vgl. D. Bürgel: Typologie des Hybriden, S. 34.

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Überheblichkeit gegenüber dem Gott Apoll die Haut abgezogen wird. Wie Claudia Benthien deutlich macht, steht die Häutung in der abendländischen Kulturgeschichte aber nicht nur für die Bestrafung, sondern kann auch als reinigende Läuterung, als »Reinigungs- und Wachstumsprozeß«,26 verstanden werden. Das schlechte, alte Innere wird nach außen gekehrt und dadurch gewissermaßen abgelegt. Der so geschundene Entered Apprentice ist dem Meistergrad des Freimaurers eine Stufe näher. Er visualisiert nun den physischen wie auch spirituellen Zustand des Lehrlings.27 Die hier vorgeschlagene Interpretation fußt auf dem Wahrnehmungsschema ›Behälter‹: Das Innere des Körpers – hier auf das Abstraktum ›Wesen des Menschen‹ übertragen – wird aus dem ›Behälter‹ seiner Haut, (konzept-)metaphorisch also von den ihm auferlegten Grenzen, befreit: Die Grenze des menschlichen Körpers – seine Haut – wird entfernt, wodurch der Mensch sich zu einer neuen Stufe des Seins weiterentwickeln kann.28

E inzelne K örper

als ein

›K örper ‹

Auch die visuelle Darstellung nichtorganischer Gegenstände im CREMASTER erinnert oftmals an Körperhaftes und Organisches. Dabei können die Bildwelten Barneys zwischen Abstraktion und Konkretion schwanken: Wo nichtsichtbare Sachverhalte, wie physiologische oder biochemische Vorgänge im Inneren des menschlichen Körpers, zitiert werden, wird von diesen Vorgängen abstrahiert und sie werden in Bildern konkretisiert. Dieses Oszillieren zwischen Abstraktion und Konkretion zeigt sich exemplarisch in CREMASTER 1. Goodyear eignet sich die auf dem Tisch drapierten Trauben durch ein Loch in der Tischdecke an und verzehrt sie. Daraufhin fallen diese einzeln durch einen Trichter, der an ihrem Stöckelschuh angebracht ist, wieder aus ihr heraus. Dieses Bild ist als Verweis auf den Metabolismus und seine strukturbildende Funktion für das Modell ›The Path‹ zu lesen. Der 26 | Benthien, Claudia: »Häutungen. Folter – Enthüllung – Gestaltwandel. Zur Kulturgeschichte einer ›Entdeckung‹«, in: Paragrana 6 (1997), H.1, S. 197–217, S. 209. 27 | Auch Aimee Mullins als Alter Ego des Entered Apprentice in CREMASTER 3 und die Faeries aus CREMASTER 4 stellen Figuren dar, die metaphorisch auf den Versuch der Überschreitung physischer Grenzen verweisen. Vgl. D. Bürgel: Typologie des Hybriden, S. 51. 28 | Vgl. C. Benthien: Häutungen, S. 209.

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Stöckelschuh nimmt hierbei die Position des Anus ein. Die ausgeschiedenen Trauben werden von Goodyear zu bestimmten Formationen gelegt. Teilweise sind diese Formationen auch durch 3-D-Animationen dargestellt, in denen die Trauben zu gleichförmigen, kleinen Kugeln werden, die hier ohne Goodyears Zutun eine bestimmte Position einnehmen und dadurch eine Form bilden. Diese Traubenformation scheint wiederum die Revuetänzerinnen zu beeinflussen, die sich – sobald sich die Trauben beziehungsweise Kugeln formiert haben – ebenfalls in Bewegung setzen, um diese Position einzunehmen und dadurch eine spezifische Form darzustellen. Die Formen, die von den Trauben und darauf von den Revuetänzerinnen dargestellt werden, stellen unter anderem die Umrisse von stilisierten Eierstöcken und zuletzt das Emblem des CREMASTER Cycle, Barney ›Feldzeichen‹,29 und eine Art Körperöffnung oder Vagina nach:30 Gegen Ende von CREMASTER 1 bilden die Beine der aufgereihten Revuetänzerinnen einen dreieckigen Tunnel. Die Kamerafahrt durch diesen Tunnel weckt den visuellen Eindruck eines Endoskops, das in das Innere des Körpers eindringt. Die farbliche Dominanz des Inkarnats, das die Rahmung des Bildes darstellt und im Laufe der Kamerafahrt immer näher rückt bis der Kamerablick in der Hautfarbe verschwimmt, ist maßgeblich für die Assoziation eines anatomischen Bildes. Nach der schnellen Fahrt durch die Beine der Tänzerinnen hindurch sieht der Betrachter die Tänzerinnen in Aufsicht. Sie bilden eine Formation, deren Umriss das Emblem des CREMASTER Cycle darstellt. Durch die Projektion von vier gleichen, horizontal und vertikal gespiegelten Großaufnahmen Goodyears in die Mitte der Tänzerinnenformation erscheint das Bild zugleich wie eine nicht weiter spezifizierbare Körperöffnung. Nahegelegt wird diese Assoziation nicht nur durch die spezifische Form des Bildes, sondern auch durch die das Bild dominierenden, hautfarbenen Töne, die der Großaufnahme Goodyears geschuldet sind. Aufschlussreich erscheint hier die Bezugnahme Barneys auf Busby Berkeleys Choreografi29 | Zum Symbol oder Emblem des CREMASTER Cycle namens ›The Field‹, das für jeden filmischen Teil des Zyklus in einer eigenen Variation erscheint, vgl. den Beitrag von Josef Bairlein in diesem Band. 30 | Vgl. Siegrist, Hansmartin: »Barney im Kino. Synthesen im Zwischenraum«, in: Theodora Vischer (Hg.), Matthew Barney. CREMASTER 1, Ausst.-Kat., Basel: 1998, S. 9–26, hier S. 13.

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en,31 bei denen ebenfalls Tänzerinnen als geometrische Elemente eingesetzt wurden. Das Aufgehen in der Gruppe erscheint dort als »Augenblick der Transzendenz und Sublimation, vergleichbar mit einem Orgasmus, doch erfolgt die Eruption jenseits der Grenzen des Ego, um Individuum und Gesellschaft, Sexualität und Politik, Emotion und Ideologie miteinander zu verschmelzen«.32 Entsprechend ist auch das beschriebene Bild als eine »orgasmische Verschmelzung«33 der Tänzerinnen mit ihrer Choreografin Goodyear zu sehen. Die Tänzerinnen werden zur Abstraktion eines Körperteils beziehungsweise einer Körperöffnung. Siegfried Kracauer beschreibt in seinem Aufsatz Das Ornament der Masse das Phänomen, dass die einzelnen Tänzerinnen in einer Revue ihren individuellen Status zugunsten der Darstellung aufgeben: »Es ist die Masse, die eingesetzt wird. Als Massenglieder allein, nicht als Individuen, die von innen her geformt zu sein glauben, sind die Menschen Bruchteile einer Figur.«34 Kracauers Beschreibung lässt sich auf die Funktion des Revuetanzes in CREMASTER 1 übertragen, wobei die Formationen von dessen Revuetänzerinnen hier wieder auch Bezug nehmen auf physiologische Prozesse. Es entsteht der Eindruck, dass die Tänzerinnen im Körper verborgene physiologische Prozesse, wie den der Ausbildung des Geschlechts beim Embryo, darstellen. Dieser Aspekt wird dadurch unterstrichen, dass manche Bilder, die sich durch die Formationen ergeben, auf den ab- beziehungsweise aufgestiegenen Zustand der Geschlechtsdrüsen verweisen (vgl. Abb. 2). So erinnern die sich zu einer Teilchenstruktur formierenden Tänzerinnen in ihren geometrisch stilisierten Kostümen, die sie aus der Aufsicht zu runden Plättchen werden lassen, an molekularbiologische Modelle: Der Quellbereich

31 | Vgl. Spector, Nancy: »Nur die perverse Phantasie kann uns noch retten«, in: Nancy Spector (Hg.), Matthew Barney: The CREMASTER Cycle, Ausst.-Kat., Ostfildern-Riut: 2002, S. 3–91, hier S. 77. 32 | Rubin, Martin: »The Crowd, the Collective, and the Chorus: Bubsy Berkeley and the New Deal«, in: John Belton (Hg.), Movies and Mass Culture, New Brunswick/N.J.: 1996, S. 59–92, hier S. 78. Deutsche Übersetzung zit. n. Wakefield, Neville: »Das CREMASTER Glossar«, in: N. Spector (Hg.), The CREMASTER Cycle (2002), S. 94–115, hier S. 105. 33 | N. Wakefield: Das CREMASTER Glossar, S. 105. 34 | Kracauer, Siegfried: Das Ornament der Masse, Frankfurt a. M.: 1963, S. 51f. Weiters beschreibt Kracauer die symmetrisch schwingenden Beine von Revuetänzerinnen als abstrakte Bezeichnung der Leiber; ebd. S. 60.

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der Metapher wird durch diese Modifikation aus der Darstellung ausgeschlossen; die Metapher wird zum Modell. Die Farbgebung der Reifröcke der Tänzerinnen variiert zwischen rot und weiß, was dazu führt, dass die Tänzerinnen von oben und in Bewegung als Blutkörperchen und somit als abstrahierter Blutkreislauf erscheinen können. Zudem muten die Kostüme und Attribute der Tänzerinnen in CREMASTER 1 mit ihren weißen Hauben, Handschuhen, Schleifchen, Reifröcken und Plastikbällen aufgrund ihrer Materialität, Farb- und Formgebung stark artifiziell und somit eher künstlich als organisch an und erinnern auch dadurch an biologische Modelle. Denselben Effekt erzielt die starre, gleichmäßig-geometrische Formation, die alle Teilchen-Tänzerinnen zur Einhaltung desselben Abstands zwingt und auch Attribute wie die Bälle in gleichmäßigen Formationen erscheinen lässt. Nicht zuletzt wird die Assoziation mit biologischen Modellen durch die Einblendungen der 3-D-Animationen verstärkt, in denen die Trauben zu sich formierenden Kugeln stilisiert sind. Außerdem setzen sich sowohl bei einem biologischen Modell als auch beim Revuetanz die einzelnen ›Teilchen‹ zu einem großen Ganzen zusammen. So wie der Revuetanz hat auch das biologische Modell den Effekt, den menschlichen Körper abstrahiert darzustellen. Am Beispiel der Revuetänzerinnen aus CREMASTER 1 wird ersichtlich, dass die Metapher in ihrer Eigenschaft, nichtsichtbare Vorgänge über eine körperhafte Darstellung vorstellbar werden zu lassen, für den CREMASTER Cycle bedeutsam ist. Ein gewisses Paradox liegt darin, dass nur über die vereinfachende, abstrahierende Form die sich im Körper im Verborgenen abspielenden, komplexen Vorgänge wie die Geschlechtsausbildung konkret und greifbar gemacht werden können. Laut Siegfried Kracauer sind Massenornamente, wie sie im Revuetanz zu Unterhaltungszwecken entstehen, auf sich selbst bezogen und haben sich selbst zum Zweck.35 Sie gehen mit der Entwicklung kapitalistischer Produktionsprozesse einher, in denen das Individuum ausgeschaltet wird und in der Masse aufgeht. Das Individuum – das Subjekt – wird in ein Objekt verwandelt. Dies suggeriert auch die Gleichförmigkeit der Tänzerinnen. Ähnlich wird der Körper in der Medizin und im Sport zum Objekt: eine Gedankenfigur, die sich in dem Pendeln des Körperstatus innerhalb des CREMASTER Cycle zwischen dem Körper als autonomem Subjekt (Geschlechtsausbildung kann nicht willentlich bestimmt oder beeinflusst

35 | Vgl. ebd.

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werden) und dem Körper als einem dem Willen unterworfenen Objekt (zu welchem es im Sport und in der Medizin wird) ausdrückt. Zwischen der gesellschaftsstabilisierenden Funktion, wie sie Kracauer den Revuetänzen unterstellt,36 einerseits und der Handlung von CREMASTER 1 andererseits lässt sich eine weitere interessante Analogie beschreiben. So versucht Goodyear gegen Ende des Films die beiden Zeppeline, die sie wie Heißluftballons an einer Schnur hält, im Gleichgewicht zu halten. Ein Auf- oder Absteigen – im übertragenen Sinn: eine definite Ausbildung des Geschlechts – soll verhindert werden. Auch Goodyears Choreografie wechselnder Revuetanzformationen lässt die Ausbildung einer feststehenden Form nicht zu. Man kann hier die stabilisierende Funktion von Entertainment, wie sie Kracauer suggeriert, auf das biologische Gleichgewicht und den Machtkampf zwischen einer Auf- und Abwärtsbewegung des Hodens beziehen. Im Übrigen verweist auch das Setting von CREMASTER 1 durch den mit dem Bronco Stadium gegebenen Bezug auf Football, als einer der beliebtesten amerikanischen Sportarten, auf den Aspekt der Unterhaltung für ein Massenpublikum.

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als

›K örper ‹

In einigen seiner Bildmetaphern lässt Barney die Grenzen zwischen architektonischem Raum und Körperraum verschwimmen. So bilden die Beine der Rockettes in The Order einen architektonisch gegliederten Raum, eine Art Tunnel, durch den der Entered Apprentice kriechen muss, um auf seinem Weg zum freimaurerischen Meistergrad weitervorzudringen.37 Ähnlich wie bei den Revuetänzerinnen in CREMASTER 1 setzen sich die einzelnen Körper der Tänzerinnen hier zu einem körperhaften Gesamtgebilde, einer Art Tunnel, 36 | Vgl. ebd., S. 62. 37 | CREMASTER 3 weist einige Referenzen zur Geschichte der Freimaurer und ihren Ritualen auf. Vgl. dazu Hasselmann, Kristiane: »Entfesselung des Imaginären und Suche nach der perfekten Form. Zur Bedeutung freimaurerischer Referenzen in Matthew Barneys CREMASTER 3 (2002)«, in: Helmar Schramm/Ludger Schwarte/ Jan Lazardzig (Hg.), Spuren der Avantgarde: Theatrum alchemicum. Frühe Neuzeit und Moderne im Kulturvergleich, Berlin/New York: (im Erscheinen). Ich danke Kristiane Hasselmann herzlich für die Überlassung des Manuskripts vor Publikation.

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zusammen. Er versinnbildlicht hier einen Geburtskanal, aus dem der Entered Apprentice in neuer Seinsform und neuer Identität hervorgeht, die ihn dem Meistergrad eine Stufe näher bringt. Durch einen anderen Kanal, dessen Passieren den Protagonisten ebenfalls transformiert, kriecht der Loughton Candidate in CREMASTER 4. Nachdem er sich ein Loch in den Boden eines Hauses auf einem Pier am Strand gesteppt hat, fällt er durch dieses Loch ins Meer. Am Meeresgrund gräbt er sich den Eingang zu einem Tunnel frei, der sich durch das Innere der Insel zu ziehen scheint. Er beginnt durch diesen Tunnel aus weißer Vaseline zu kriechen, um an einem bestimmten Punkt wieder an die Oberfläche der Insel zu gelangen. Allerdings taucht er als Loughton Ram – als prachtvoll geschmückter Bock – auf. Die Materialität des Tunnels weckt die Assoziation mit Organischem und erinnert sowohl an den Prozess der Geburt als auch an den der Defäkation; der Vaseline-Tunnel kann sowohl als Geburtskanal als auch als Verdauungstrakt gesehen werden. Der mit Vaseline beschmierte Loughton Candidate scheint zusehends mit dem ihn umgebenden Tunnel zu verschmelzen oder sogar von diesem verdaut zu werden.38 So wird das Modell physiologischer Prozesse, die zu einer Formveränderung führen, konkret. Eine eindeutige Denotation bleibt dennoch unmöglich. So scheint der Tunnel eine Art Modell darzustellen. Er kann allgemein für innerphysische Prozesse der Fortbewegung, der Veränderung, der Formveränderung stehen. Barney kombiniert in diesem Szenario verschiedene zentrale Wahrnehmungsschemata wie ›Behälter‹, ›Weg‹ und ›Verbindung‹.39 Es setzt sich hier nicht nur der menschliche Körper zu körperhaften Gebilden zusammen, auch werden die von Barney gebauten Räume wie der Tunnel aus Vaseline zu körperhaften Räumen, indem sie mit Eigenschaften besetzt werden, die man mit dem menschlichen Organismus verbindet.40 Räume, die metaphorisch Räume im Körper darstellen, finden sich auch in CREMASTER 1. So zum Beispiel die Tische, die jeweils in der Mitte der Zeppeline aufgestellt sind: Sie sind mit einem bodenlangen, weißen Tisch38 | Vgl. N. Spector: Nur die perverse Phantasie kann uns noch retten, S. 84. 39 | Vgl. J. Stenzel: Der Körper als Kartograph?, bes. S. 49–56. 40 | Vgl. Michel Onfray, der anmerkt, dass Barney mit der Dualität zwischen den Löchern im Körper und dem Körper in Löchern spielt. Zit. n. Gadegaard, Maria: »Gender Displacement. A Queer Theoretical Reading of Matthew Barney’s CREMASTER 4«, in: SMK Art Journal 6 (2002), S. 138–155, hier S. 148.

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tuch bedeckt und in ihrer Mitte ist eine ebenfalls weiße Skulptur platziert, die Eierstöcke darstellt. Um diese Skulptur herum sind auf dem Tisch Trauben drapiert. Verfolgt man den Weg der Eierstöcke zu dem Raum unterhalb des Tisches, wie es die Kamera in einer langsamen Abwärtsfahrt vorgibt, erhält man Einblick in einen engen, weißen Raum, in dem Goodyear auf einem um das Tischbein herumführenden Podest liegt und sich räkelt. Wie ein Versorgungskanal, eine Nabelschnur, scheint das weiß gepolsterte Tischbein sie geradewegs in die Körpermitte zu treffen. Der weiße Raum unter dem Tisch wird so als geschützter und abgeschlossener Raum der Gebärmutter lesbar. Die Farbgebung legt eine Assoziation zur platinblonden, weißhäutigen und weiß gekleideten Goodyear als Insektenlarve in ihrer Zelle nahe. Das Räkeln und das Durchstoßen des Tischtuchs mit einer Haarnadel wird aus dieser Perspektive zum Versuch des Schlüpfens oder Entpuppens. Wenn sie mit den Fingern gegen das Tischtuch drückt und schließlich mit ihrer Haarnadel ein Loch hinein stößt, um so Nahrung von außen aufnehmen zu können, erscheint das Tuch verstärkt wie eine Zellmembran oder ein Kokon. In der Nahaufnahme wird es zum Gewebe, hinter dem sich etwas Lebendiges befindet. Die Lufthostessen vermitteln durch Gesten, bei denen sie mit der Hand über die Tischdecke streichen oder den Tisch mit wachsamen Blicken langsam umrunden, dass es ihr Anliegen ist, sich um diese Zelle und die darin befindliche Goodyear zu kümmern. Diese Situation erscheint wie das Verhältnis einer Bienenkönigin zu ihrem Staat: Die ›Königin‹ Goodyear wird von den ›Arbeiterinnen‹ versorgt. Schon Kostüm und Haarschmuck heben Goodyear deutlich von den anderen Figuren ab und verleihen ihr etwas Majestätisches. So gesehen erscheint sie im schon beschriebenen Bild der ›orgasmischen Verschmelzung‹ mit den Tänzerinnen nicht nur als deren Choreografin, sondern als deren Königin, und gegen Ende des Films schreitet sie einer Herrscherin gleich auf einem Podest an den Tänzerinnen als ihrem Hofstaat entlang. Auch die wabenförmigen Kacheln, auf welche die ausgeschiedenen Trauben in der 3-D-Animation fallen, zitieren als Form das Zellgewebe von Bienenwaben, wodurch die Analogie zwischen Goodyear und einer Bienenkönigin, den Lufthostessen und den Arbeiterinnen sowie den Tänzerinnen und dem Bienenvolk verstärkt wird. Genauso wie eine Biene in einem Bienenvolk sind auch die Tänzerinnen austauschbar, ebenso die Lufthostessen, die durch dasselbe Kostüm, dieselben Ohrringe, dasselbe Make-Up gleichförmig erscheinen. Die Musik, die zu den Szenen, bei denen Goodyear in ihrer Zelle zu sehen ist, erklingt, steht in deutlichem Kontrast zu der pompös orchestralen

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Filmmusik, die zu den Revuetanzeinlagen ertönt. Sie erinnert an sanfte und langsame Spieluhrmelodien und weckt Assoziationen mit Kinderzimmern, wodurch die Konnotation zum Bildbereich ›Kind, Baby, Geburt‹ verstärkt und somit auch die Wahrnehmung des Raums unter dem Tisch als geschützte Zelle für die heranreifende Goodyear unterstützt wird. Mit dem Heranreifen geht auch die Thematik der eindeutigen Ausbildung des Geschlechts einher. Die Zeppeline stehen hier sinnbildlich für die Geschlechtsdrüsen bei einem Embryo, welche sich entweder nach oben, zu weiblichen, oder nach unten, zu männlichen Geschlechtsorganen, entwickeln.41 Goodyear versucht in dieser Lesart das Niedersinken der Zeppeline zu verhindern, indem sie die Revuegirls zu ständig mutierenden (weiblich konnotierten) Diagrammen des Reproduktionssystems choreografiert und durch diesen ständigen Wechsel die endgültige Ausbildung einer spezifischen Form(ation) oder im übertragenen Sinn geschlechtlichen Form hinauszögert. Das Reproduktionssystem bleibt folglich in der Schwebe.42

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Aber es werden nicht nur im Studio gebaute Räume mit menschlich-körperlichen Eigenschaften besetzt. Auch die Rotunde des Guggenheim Museums wird in The Order als lebendiger Organismus lesbar: Die Brüstungen vermitteln den Eindruck eines organischen Gerüsts, eines Skeletts, in dem die einzelnen Ebenen, die der Entered Apprentice auf seinem Weg zur Spitze des Gebäudes durchqueren muss, wie Organe angeordnet sind.43 Diese Organe »agieren alle simultan, während der Entered Apprentice diesen Körperraum oder Raumkörper gleich einem Blutkörperchen […] durchläuft«.44 Auch die von Richard Serra auf der höchsten Ebene des Gebäudes geschmolzene Vaseline rinnt an der Spirale entlang abwärts und scheint das Gebäude wie einen Organismus zu durchströmen.45 Barney macht die organologische Metaphorik auch für CREMASTER 5 explizit, wenn er dessen Schauplatz »als großen Körper« beschreibt, »der kleinere Körper beherbergt, die in 41 | Vgl. Horwarth, Alexander: »Einige Bilder zu Matthew Barney, CREMASTER 1 und Kino«, in: noëma o.Jg. (1998), H. 46, S. 32–39, hier S. 32. 42 | Vgl. ebd. 43 | Vgl. D. Bürgel: Typologie des Hybriden, S. 69. 44 | Ebd. 45 | Vgl. ebd., S. 64.

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seinem Inneren eine eher mikroskopische Ebene einnehmen«.46 Der auf der offiziellen CREMASTER-Website publizierten Genealogie zufolge sind auch die Figuren der fünf Teile auf je eine einzige zurückzuführen.47 So stammen etwa in CREMASTER 5 alle Figuren von der Queen of Chain ab. Gewissermaßen handelt es sich um je einen einzigen menschlichen Körper, der mit dem gesamten Figurenpersonal und auch mit der Architektur verwachsen ist:48 »I feel that there have been characters who really do become architecture in a way that’s very satisfying. And that goes into the design of their prothetics and costumes.«49 Insbesondere in der Queen of Chain verwirklicht sich dieser Anspruch: Ihr Kostüm ist nach ihrem Körperabguss angefertigt und ahmt ihn auf eine aufgrund ihrer monumentalen Präsenz architektonisch wirkende Art nach. Sie gleicht sich darin den monumentalen Maßstäben der barocken Budapester Oper an. Über Schnittfolgen und Kamerablicke durch den Thronsessel der Queen hindurch wird suggeriert, dass sich die Budapester Géllert-Bäder unterhalb der Oper befinden. Da der Sessel aufgrund seines Inkarnats und seiner dem Körper der Queen angepassten Form vorgibt, ein Teil ihres Körpers zu sein, erscheint der Blick durch ihn hindurch in die Géllert-Bäder wie der Blick in das Innere ihres Körpers.50 Die Kamera wander t unter die Röcke und zwischen die Schenkel der ›Queen‹ und schwenkt dann zurück zu den nassen Gefilden im Unterge46 | Gespräch mit Matthew Barney: Kothenschule, Daniel: »Wagner aus Vaseline. Ein Gespräch mit Matthew Barney«, in: Renate Buschmann/Marcel René Marburger/Friedrich Weltzien (Hg.), Dazwischen. Die Vermittlung von Kunst. Festschrift für Antje von Graevenitz, Berlin: 2005, S. 229–241, hier S. 236. 47 | Vgl. http://www.CREMASTER.net (29.03.2012). 48 | Das System des CREMASTER Cycle beschreibt Barney als »in sich geschlossen. Die verschiedenen Figuren, die da auftauchen, sind letztlich eine einzige Person. […] Ein Körper, der alles umfasst. Er kann eine Frau sein, ein Mann, ein Gebäude, ein Land.« Gespräch mit Matthew Barney: Christian Kämmerling: »Mein Kopf ist wie ein Cockpit«, in: Süddeutsche Zeitung Magazin Edition 46 vom 13.11.1998, S. 34–40, hier S. 40. 49 | Gespräch mit Matthew Barney: Jonathan Romney: »Matthew Barney«, in: transcript 3 (1999), S. 85–102, hier S. 97. Zit. n. D. Bürgel: Typologie des Hybriden, S. 67. 50 | Vgl. N. Spector: Nur die perverse Phantasie kann uns noch retten, S. 69.

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schoß – ein Indiz dafür, dass die folgende Szene in ihrem Körper stattfindet. Die Form des fleischigen Thrones erhärtet diese Vermutung: Er passt sich genau ihrem Gesäß an. Seine symmetrischen Einbuchtungen wiederholen sich in den Schwimmbecken darunter. […] Der Steg zwischen den Becken versinnbildlicht das Perineum der Queen. In dieser anatomischen Schwelle ist ›her Giant‹ beheimatet. 51

Weiterführend scheint hier Spectors Vorschlag, Her Giant im ›Körper‹ der Königin zu verorten. Dies legen die Namen der jeweiligen Figuren nahe, die stets mit dem Possessivpronomen ›her‹ beginnen, sowie auch das simultane Fallen und Sterben der Figuren. So stürzt die Queen neben ihrem Thron zu Boden, während darauf Her Magician von der Brücke in den Fluss springt und Her Diva auf dem Boden der Bühne zerschmettert zu sehen ist. In diesem Stürzen findet sich im übertragenen Sinn auch die Abwärtsbewegung der Gonaden beziehungsweise des CREMASTER-Muskels wieder. CREMASTER 5 repräsentiert den am tiefsten abgestiegenen Zustand der Gonaden.52 Das wird auch aus seiner Ästhetik ersichtlich. CREMASTER 5 zitiert in Drehort, Kostüm und Musik eine lyrische Oper, die von einer tragischen Liebesgeschichte handelt: »Biological metaphors shifted form to inhabit emotional states – longing and despair – that becomes musical leitmotives in the orchestral score.«53 Der Abstieg der Geschlechtsdrüsen und damit die unaufhaltbare geschlechtliche Differenzierung wird in CREMASTER 5 durch eine in erster Linie musikalisch vermittelte Atmosphäre der Sehnsucht und Verzweiflung emotional aufgeladen. In CREMASTER 5 steht die Darstellung eines Zustands im Zentrum. Dies zeigt sich auch an der narrativen Struktur. So gibt es kaum eine Weiterentwicklung der Handlung, da die unterschiedlichen Handlungssequenzen zumeist als Erinnerungen beziehungsweise Rückblenden oder simultane Ereignisse zu lesen sind. Barney inszeniert in CREMASTER 5 die bevorstehende Ausbildung eines eindeutigen Geschlechts als tragische Trennung zweier Liebender: der Queen of Chain und der Figur ›Her Magician‹. Spector beschreibt die Queen of Chain, deren Name eine Hoffnung auf Verbindung aufkommen lässt, als Scheiternde, die ihre Liebe zu Her Magician nicht überwinden könne.54 Da aber eine Trennung der beiden (die 51 52 53 54

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Ebd. Vgl. ebd., S. 65. http://www.CREMASTER.net/crem5.htm (28.03.2012). Vgl. N. Spector: Nur die perverse Phantasie kann uns noch retten, S. 69.

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geschlechtliche Differenzierung) unvermeidbar ist, scheitert die Königin der Ketten. Die Verbindung mit Her Magician sowie mit Her Diva und Her Giant kann nicht gelingen, was zum Tod der Figuren führt. Der Zustand des Gefangenseins im eigenen Körper zeigt sich auch im korsettartigen Kostüm der Queen, das nach einem Körperabguss angefertigt wurde und die Bewegungsfreiheit deutlich einschränkt. Die Queen kann die Grenzen ihres Körpers nicht überschreiten. Ein weiteres Beispiel für ein Gebäude, auf das menschlich-körperhafte Eigenschaften metaphorisch übertragen werden, ist das Chrysler Building als einer der wichtigsten Protagonisten in CREMASTER 3 und als solcher den Figuren gleichgeordnet. Es wurde 1930 eröffnet und konnte kurzzeitig den Titel des höchsten Gebäudes in New York für sich beanspruchen.55 Das höchste Gebäude der Stadt ist ein Symbol für die Macht, die Potenz – ›potentia‹ – des Auftraggebers: Das Gebäude ist als Phallussymbol lesbar, zugleich aber auch als lebendiger Organismus, »in dessen Innenraum die einzelnen Figuren wie Teilorganismen oder Organe funktionieren«:56 »[T] he Chrysler Building [...] is in itself a character – host to inner, antagonistic forces at play for access to the process of (spiritual) transcendence.«57 Denkt man diese Perspektivierung weiter, so spielt sich die Sequenz von The Order im Guggenheim Museum, welche in das Chrysler-Building-Szenario integriert ist, auf einer tiefer im ›Körper‹ des Chrysler Building gelegenen Ebene, also – nimmt man die Körperanalogie ernst – auf einer mikroskopischen Ebene ab. Zudem werden dem Chrysler Building menschliche Eigenschaften wie die Fähigkeit zum Handeln zugeschrieben, wenn es sich für den Tod seines Erbauers rächt und den Freimaurerlehrling mit seiner Spitze durchbohrt. Das Gebäude, so könnte man mit Kristiane Hasselmann argumentieren, zeigt Charakter und Willensstärke.58

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als

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Eine Landschaft, der man Eigenschaften eines Körpers zuschreiben könnte, stellt die Isle of Man in CREMASTER 4 dar. Dieser Teil des CREMASTER 55 56 57 58

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Vgl. K. Hasselmann: Entfesselung des Imaginären, S. 2 (n. Mskr.). D. Bürgel: Typologie des Hybriden, S. 68f. http://www.CREMASTER.net/crem3.htm (28.03.2012). Vgl. K. Hasselmann: Entfesselung des Imaginären, S. 15 (n. Mskr.).

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ist vom Motiv permanenter (Vorwärts-)Bewegung bestimmt. Zwei Motorradteams, Ascending und Descending Hack, rasen in entgegengesetzter Richtung um die Insel, während der Loughton Candidate sich im Untergrund – oder im Körperinnern – der Insel durch den besagten Tunnel aus Vaseline kämpft. Die Bezeichnung der Rennwagen als ›Ascending Hack‹ und ›Descending Hack‹ legt die Analogie zur Bewegung des Hodens durch den CREMASTER-Muskel nahe. Der Name ›Isle of Man‹ kann als Anthropomorphisierung der Insel gelesen werden.59 Barney zufolge projizieren die (wie Blut um den Inselkörper zirkulierenden)60 Motorräder und der durch den Tunnel kriechende Loughton Candidate die inneren Mechanismen des Organismus nach außen [...]. Auch wenn der Reproduktionsbegriff ein zentrales Element meiner Arbeit ist, und damit meine ich autoreproduktive Systeme, betrachte ich den Eingeschlossenen und die Motorräder eher als Metapher für die Verdauung. Die Bilder können natürlich unterschiedlich gelesen werden. Jemand war beispielsweise felsenfest davon überzeugt, darin einen Menstruationszyklus zu erkennen. Ich schätze diese unterschiedliche Wahrnehmung.61

Hier wird deutlich, dass es für die Rezeption des CREMASTER Cycle nicht ausschlaggebend ist, die dargestellten Szenarien eindeutig mit bestimmten körperlichen Vorgängen zu identifizieren. Wichtiger erscheint, dass in der Metapher verschiedene Bereiche über eine strukturelle Analogie kurzgeschlossen werden können. In einer Einstellung gegen Ende von CREMASTER 4 sind die zwei Rennteams über Bänder mit einem Gebilde verbunden, dass an einen Hodensack erinnert.62 Dadurch wird die Sichtweise der auf- und abwärtsfahrenden Rennautos als Metapher für die Bewegung des CREMASTER-Muskels gestärkt. Da das Skrotum visuell so inszeniert ist, dass der dazugehörige Körper die Insel selbst zu sein scheint, und indem die Autos ebenfalls die gesamte Insel umrunden, wird diese selbst zum Körper. Dabei stellt der organisch

59 60 61 62

| | | |

Vgl. M. Gadegaard: Gender Displacement, S. 146. Vgl. D. Bürgel: Typologie des Hybriden, S. 70. http://on1.zkm.de/kramlich/barney (14.03.2012). Vgl. ebd.

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anmutende Tunnel, durch den der Loughton Candidate kriechen muss, das Innere dieses Körpers dar.63 Die Situationen von Eingesperrtsein (Behälter-Sche m a ) u n d Tr e n n u n g u n d Ve r b i n d u n g ( Ve r b i n d u n g s - S c h e ma) sind auch zentrale Thematiken in CREMASTER 2. Zu Beginn von CREMASTER 2 wird die Landschaft der Bonneville -Salzebenen in Utah gezeigt. Zu sehen sind eine Gebirgskette und ihr sich im Salzsee spiegelndes Abbild. Dieses Bild wird nach wenigen Sekunden der Betrachtung vertikal gekippt, so dass die Landschaft etwas Abstraktes erhält. Die optisch gekippte Landschaft erinnert jetzt an eine ebenfalls durch Spiegelung entstandene Form eines Rorschachtests.64 Dies kann als Einladung zum freien Assoziieren gesehen werden: Durch die Ähnlichkeit, die diese vertikal gekippten Landschaftsbilder mit ihren Ausbuchtungen und Verengungen zu organischen Formen aufweisen, werden Analogien zwischen Landschaft und Körper gestiftet. Auf der narrativen Ebene verweist die Landschaft auf Gary Gilmore, der in dieser Gegend gelebt hat, und dadurch auch auf den Entfesselungskünstler Harry Houdini, der der Legende nach Gilmores Großvater war.65 Während die Kamera langsam den vertikal gekippten Gebirgskamm entlangfährt, ergeben sich an den dunkleren Stellen im Bild höhlenartige Formationen, welche auf Houdinis Situation des Eingesperrtseins während seiner Vorstellungen zu verweisen scheinen. Im weiteren Verlauf befindet sich auch Gilmore in einer eingeengten Lage: liegend auf die beiden vorderen Sitze eines Autos gezwängt, das über einen noch engeren Kanal mit dem Auto seiner Freundin Nicole Baker verbunden ist.

D as I nnere nach aussen kehren – der K örper als Z one der Tr ansformation Das Motiv der Körperöffnung spielt in Barneys Arbeiten generell eine zentrale Rolle.66 So kann er dadurch die Grenze zwischen Innen und Außen 63 | Vgl. http://www.CREMASTER.net/crem4.htm (27.03.2012). 64 | Vgl. N. Spector: Nur die perverse Phantasie kann uns noch retten, S. 35. 65 | Vgl. S. Urbaschek: …der Versuch, Objekten, diesen größeren Strukturen, emotionale Wirkmacht zu verleihen, S. 36. 66 | Schon in der Videoarbeit Field Dressing (orifill) aus dem Jahr 1989/90 rückt Barney seine eigenen Körperöffnungen thematisch in den Vordergrund, indem er diese im Laufe der Aktion mit Vaseline versiegelt.

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nach aussen kehren

thematisieren, ja sogar manipulieren – etwa wenn er Materialien verwendet, die eigentlich für das Innere eines menschlichen Körpers konzipiert sind, wie zum Beispiel Materialien für Endoprothesen. Barney beschreibt den Effekt für seine in Prothesenkunststoff gerahmten Zeichnungen: »Durch die Prothese erscheint das Bild wie eine Öffnung. Es soll wie ein künstliches Fenster wirken, durch das man nach innen schauen kann.«67 Auch Materialien wie Vaseline oder Silikon können in diesem Sinne interpretiert werden. Diese Materialien sind zwar anorganisch, doch sie verändern in Abhängigkeit von schon minimalen Temperaturschwankungen den Aggregatzustand. Noch deutlicher werden innere physiologische Prozesse nach außen übertragen und bildhaft sichtbar gemacht, wenn Instrumente zum Einsatz kommen, die den medizinischen Blick ins Körperinnere erlauben. So werden etwa in CREMASTER 1 chirurgische Instrumente verwendet, um das Loch in der Tischdecke offen zu halten, durch das Goodyear die Trauben angelt. Und auch in der Operationsszene in CREMASTER 3 wird mit chirurgischem Besteck gearbeitet.68 Im CREMASTER Cycle entsteht so ein Körperbild, »in dem die Trennlinie zwischen Körperinnerem und -äusserem [sic] radikal verwischt ist«.69 Barney richtet »sein Hauptaugenmerk auf die Möglichkeiten, wie diese Schwelle laufend überschritten werden kann«.70 Wie oben ausgeführt, visualisiert auch der Entered Apprentice in The Order mit seinem ›geäderten‹ Kilt und dem nach außen gestülpten Hautlappen einen geöffneten Körper, dessen Inneres nach außen gekehrt wird. Im CREMASTER Cycle ist der menschliche Körper zentrales Moment und zentraler Ort des Geschehens. Er wird einerseits dem disziplinatorischen Willen des Subjekts unterworfen; andererseits sind seine inneren Prozesse dem Subjekt weder zugänglich noch kann es sie beeinflussen. Barney sieht diese polaren Gegensätze im nichtintentionalen Prozess der geschlechtlichen Differenzierung einerseits, im Motiv des Bodybuilding als einer autonomen Gestaltung des eigenen Körpers andererseits verwirklicht. Dadurch wird der Körper zur »Zone, in der Transformationen und Experimente stattfinden. [...] Es erscheint so, als würde Barney den Versuch

67 | Gespräch mit Matthew Barney: C. Kämmerling: Mein Kopf ist wie ein Cockpit, S. 39. 68 | Vgl. D. Bürgel: Typologie des Hybriden, S. 64f. 69 | Bryson, Norman: »Matthew Barneys gonadotrope Kavalkade«, in: Parkett o.Jg. (1995), H. 45, S. 36–41, hier S. 38. 70 | Ebd.

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unternehmen, den phänomenologischen Raum des Körpers durch radikale Rekodifizierung aller festen Koordinaten neu zu bestimmen.«71 Der Zyklus dreht sich thematisch um die Unmöglichkeit einer endgültigen Bestimmung des Körpers, die modellhaft für die Unabschließbarkeit des kreativen Prozesses und auch seiner Interpretation steht.72 Was der Wissenschaftshistoriker Thomas Brandstetter über modellhaftes Denken in der Biologie sagt, kann man auch auf den CREMASTER übertragen: Die Biologie kenne nur wenige allgemeingültige Gesetze, dafür aber eine große Anzahl von Modellen. Modelle [gelten] nicht allgemein [...], und sie erheben nicht den Anspruch, eine endgültige Erklärung eines Phänomens zu liefern. Dieser provisorische Charakter ist es aber, der sie in der Forschungspraxis so erfolgreich macht. Denn gerade weil sie unbestimmt, offen und situativ sind, ermöglichen sie [...] ein exploratives Vorgehen [...]. Man kann Möglichkeiten testen, Spielräume ausloten und auch scheinbar absurde Ideen einmal ausprobieren.73

Ein solches exploratives Vorgehen ist ein wesentliches Prinzip des CREMASTER Cycle, seines Umgehens mit der Physiologie und Biologie entlehnten Modellen, die dann wieder in visuellen Metaphern konkretisiert werden. Und ein testendes, auslotendes Umgehen mit dem Cycle, ein Ausprobieren assoziativer und spekulativer Gedankenräume, kann auch dem kunstwissenschaftlichen Blick auf Barney neue Perspektiven öffnen.

71 | Birnbaum, Daniel: »More than Real. Varianten des Surrealismus & Eine Theorie der Seele«, in: Felix Zdenek (Hg.), Emotion. Junge britische und amerikanische Kunst aus der Sammlung Goetz, Ausst.-Kat., Ostfildern-Ruit: 1998, S. 128–134, S. 132. 72 | Vgl. D. Bürgel: Typologie des Hybriden, S. 66. 73 | http://science.orf.at/stories/1682019/ (01.03.2012).

Im Zeichen der Assoziation – zur Genese und Wirkmacht von Matthew Barneys Feldzeichen Josef Bairlein

Viele Zugänge besitzt das Werk Barneys, aus vielen Perspektiven lässt es sich beleuchten. Dies hat es mit anderen Werken gemein, doch Barneys Œuvre scheint ein Haupteingang zu mangeln. Die Fenster sind vermauert, das Portal verstopft. Einlass erlangt man nur durch das Erdreich oder durch die unzähligen Risse im Mauerwerk; und was man vorfindet, sind Schächte und Tunnel, Bahnen durch die Eingeweide eines Werks, das alles zu vereinen sucht – Narration und Performanz, Film, Skulptur und Performance, die Isle of Man, die Budapester Staatsoper und das Freimaurertum, Football und Gynäkologie, den Walfang und das Hodenheben. Dieser Aufsatz wählt den frontalen Weg, denn auf der Fassade Barney’schen Schaffens prangt ein Zeichen: das Feldzeichen, ein Oval und ein Balken. Mäandernd durch das Œuvre des Künstlers begegnet es dem Besucher immer wieder, an allen Ecken und Enden, in Vaseline gegossen, mit Grafit skizziert, betoniert oder gedruckt, auf Bildschirmen wie Fahnen. Im Folgenden soll nach der Funktion des Feldzeichens gefragt und die ihm eigene Handlungsmacht aufgezeigt werden. Es wird als komplexe und distribuierte Entität vorgestellt, die Interaktionen mit einer Vielzahl anderer Entitäten – menschlichen wie nichtmenschlichen – unterhält und sich in diesen performativen Prozessen konstituiert und transformiert.

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E rste A nnäherung : und E mblem

das

F eldzeichen

als

S ymbol

Das Feldzeichen durchzieht das Schaffen Barneys bereits seit dessen Anfängen. Schon seine frühen Performances stehen im Zeichen des Feldes. In Field Dressing (orifill) (1989)1 hing Barney an Gurt und Seilen von der Decke, spärlich bekleidet mit Turnschuhen und Badekappe. Er vollzog Übungen über dem aus Vaseline gebildeten Feldzeichen am Boden, aus dem er sich bediente, um sämtliche Körperöffnungen mit der zähen Masse zu verschließen – Anus, Mund, Augen, Nase, Penis. Seine Performances und Filme, sein Schaffen ist geprägt von der Praxis athletischen Körpertrainings, was sich insbesondere auch an seinen frühen Arbeiten ablesen lässt.2 Der Prozess künstlerischen Schaffens wird hier mit körperlichen Übungen verbunden und gleichgesetzt. Beim Training entwickelt sich der Muskel nach dem Prinzip von Spannung und Gegenspannung. Unter wiederholter extremer Belastung beginnt er zu brennen und bricht gewissermaßen zusammen, doch dann heilt er und wird dabei immer stärker. Diesen Prozeß, aus Widerstand Form zu erschaffen, wollte ich für die Kunst nutzen. 3

Barney bezieht sich hier auf das Prinzip der Hypertrophie, des Muskelaufbaus. Das Feldzeichen symbolisiert dabei das, was der Kunst Barneys als Idee, Prinzip und Schaffenspraxis zugrunde liegt: das Oval als Symbol reiner Potenzialität, der Balken als innewohnender Widerstand. Athletische und künstlerische Praxis wie körperliche Prozesse werden aufeinander bezogen und miteinander gleichgesetzt: »THE ATHLETE IS THE ARTIST«, »THE

1 | Zu Field Dressing und weiteren frühen Werken Barneys vgl. Spector, Nancy: »Nur die perverse Phantasie kann uns noch retten«, in: Nancy Spector (Hg.), Matthew Barney: The CREMASTER Cycle, Ausst.-Kat., Ostfildern-Riut: 2002, S. 3–91. 2 | In Drawing Restraint 1 und 2 (1987 und 1988) beispielsweise ist Barney mit Gummibändern am dem Boden seines Ateliers, das eher einem Kraftraum gleicht, fixiert. Um im Raum und an den Wänden Markierungen anzubringen, Spuren zu hinterlassen, bedarf es körperlicher Anstrengung. Vgl. hierzu ausführlicher N. Spector, Nur die perverse Phantasie kann uns noch retten, S. 4ff. sowie im Besonderen: http://www.drawingrestraint.net (14.8.2012). 3 | Interview mit Matthew Barney: http://www.spiegel.de/kultur/musik/kunststar-matthew-barney-spiel-mir-das-lied-auf-der-sho-a-411103.html (14.8.2012).

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der

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ARTIST IS THE ATHLETE«, so Mathew Barney.4 Ziel des Schaffens ist dabei kein abgeschlossenes Werk, sondern eine stets nur vorübergehende Anordnung oder Formation, insofern als jede gefundene Form neue Potenzialitäten bereithält. Hiermit thematisiert Barney aber nicht nur ein Prinzip der Formgenerierung oder Werkgenese, sondern auch dessen beständige Transformation. Das Feldzeichen »markiert den disziplinierten Körper als Arena des Möglichen«,5 formuliert Nancy Spector. Ikonisch lässt sich das Feldzeichen auch als Mund oder Körperöffnung lesen – im offenen (Oval) wie geschlossenen Zustand (Balken). Um die Funktions- und Verwendungsweisen des Feldzeichens zu charakterisieren, möchte ich hier von einem symbolischen Gebrauch sprechen, insofern als das Feldzeichen sinnlich Zeugnis für Ideenhaftes ablegt. Neben seiner Funktion als Symbol fungiert das Feldzeichen auch als Emblem im Sinne eines Markenzeichens oder (Firmen-)Logos, wobei die emblematische und die symbolische Verwendung häufig ineinander übergehen, ein und dasselbe Feldzeichen sowohl eine symbolische wie emblematische Funktion übernehmen kann. Emblematisch wiederholt sich das Feldzeichen beispielsweise im Vorspann der CREMASTER-Filme, auf den DVD-Hüllen oder auf der Website zum Cycle. Es durchzieht die verschiedenen Embleme der Filme und schafft Kohärenz, weist jeden der fünf Filme als zum CREMASTER Cycle und zum Werk Barneys gehörig aus. Die einzelnen Embleme der Filme stellen Modifizierungen oder Spezifizierungen des Feldzeichens dar; es sind Assoziationen verschiedener Embleme und Symbole mit dem Feldzeichen: Das Goodyear-Logo oder die Flagge Utahs, der mormonische Bienenstock, Freimaurersymbole oder die Triskele der Isle of Man, sie alle werden dem Feldzeichen eingeschrieben. In dieser Hinsicht steht das Feldzeichen für das Œuvre des Künstlers und als spezifiziertes, mit Symbolen und anderen Emblemen ergänztes Emblem für ein einzelnes Werk Barneys. Im Rahmen dieser Verwendungsweise lässt sich weiter differenzieren, erscheint das Feldzeichen doch innerhalb wie außerhalb des narrativen Zusammenhangs der Werke. Diese Feststellung mag marginal erscheinen, ist aber von entscheidender Bedeutung. Symbolisiert das Feldzeichen außerhalb der Narration lediglich ein Schaffens- oder Transformationsprinzip, so nimmt das Feldzeichen innerhalb der Werke als Symbol eine Rolle ein, spielt 4 | Notizen Matthew Barneys: http://www.drawingrestraint.net (14.8.2012). 5 | Spector, Nancy: »In potentia: Matthew Barney und Joseph Beuys«, in: Nancy Spector (Hg.), Barney – Beuys. All in the Present Must Be Transformed, Ausst.Kat., Ostfildern: 2006, S. 14–55, hier S. 25.

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mit. Es verläuft, schmilzt, erstarrt, wird gebildet, erbaut oder zertrümmert. Das Feldzeichen und mit ihm das symbolisierte Prinzip beziehungsweise das Œuvre selbst werden thematisch. Um die Handlungsweisen des Feldzeichens näher beschreiben zu können, das Spiel der Feldzeichen, ihre Aktions- und Interaktionsweisen im Werk Barneys nachzeichnen zu können, bedarf es einiger Erläuterungen zum Begriff und zur Funktionsweise des Œuvres im Allgemeinen wie zu Barneys Werk im Besonderen. Entfalten wir also im Folgenden das Œuvre als Netzwerk oder – in Alfred Gells Worten – als distribuiertes Objekt.

D istributionen und D elegationen R epr äsentation

im

Z eichen

der

Wie Alfred Gell aufgezeigt hat, lässt sich das Œuvre eines Künstlers als Netzwerk der einzelnen Werke (inklusive Skizzen und Vorzeichnungen) verstehen, insofern einerseits auf Werke zurückgegriffen (›regression‹) wird, andererseits zukünftige Werke vorweggenommen beziehungsweise antizipiert werden (›pretension‹). Gell betrachtet das Œuvre als »distributed object«, wobei er vor allem die zeitliche Dimension betont.6 Gells aus ethnologischen und sozialanthropologischen Studien7 gewonnenes Verständnis der Distribution gründet auf einem Konzept, das Kunstwerken ›agency‹ – Wirk- oder Handlungsmacht – zuschreibt und auch den repräsentierten Objekten oder, in Gells Worten, den Prototypen als an der Hervorbringung

6 | Vgl. Gell, Alfred: Art and Agency. An Anthropological Theory, Oxford: 1998, S. 232ff. 7 | Ein Vergleich zu spezifischen Praktiken der Idolatrie, wie sie Gell vorstellt, und damit einhergehend prämoderner Vorstellungen von Objektheit und Persönlichkeit muss an dieser Stelle, obgleich lohnend, unterbleiben. Neben der Untersuchung von Gell sei in diesem Zusammenhang auf Philippe Descolas Arbeiten wie Jenseits von Natur und Kultur (Frankfurt a. M.: 2011) verwiesen oder auch auf die Anthologie Animismus (hg. v. Irene Albers und Anselm Franke, Zürich: 2012). In beiden Werken wird die moderne Unterscheidung zwischen Kultur und Natur, zwischen unbelebten Objekten und belebten Subjekten einer grundlegenden Revision unterzogen.

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der

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des Kunstwerks aktiv Beteiligten anspricht.8 Diese Relation von Abbild und Modell bedarf zunächst der Erläuterung. Das Kunstwerk wird von Gell als Index im Peirce’schen Sinne verstanden. Es deutet auf das, was es hervorgebracht hat, es weist seine Genese aus. Und wie Rauch nicht nur Feuer indiziert, sondern auch Teil des Feuers ist, betrachtet Gell Abbilder als Elemente oder Teile der abgebildeten Entität (im Falle des Oeuvres: vorangegangener Werke). Gell verweist hier auf das Epikureische Prinzip der Emanation von Simulakren, die von den Dingen als Schichten, Häute oder Filme losgelöst und ausgesendet werden und das wahrnehmende Subjekt berühren; Simulakren haben als dessen äußerste Schicht an den Objekten Teil und stellen zugleich deren Abbilder dar.9 Wie das Lächeln einer Person oder ihre Erscheinung eine Wirkung der Person (ausgeübt auf andere) darstelle, so werde diese Wirkung durch das Porträt fortgeführt; die Person lächelt uns von der Wand aus an, wir werden ihrer Erscheinung gewahr. Das Abbild steht für das Abgebildete und kann in sozialen Interaktionen und Verhandlungen stellvertretend für die dargestellte Person oder das dargestellte Objekt agieren. Um zu wissen, wie der Eiffelturm aussieht, bedarf es nicht einer Reise in die französische Hauptstadt, sondern allein der Betrachtung eines seiner zahlreichen Abbilder. Das Abbild übernimmt als Index eine oder mehrere Funktionen des Repräsentierten, wird zu dessen Repräsentanten in einem doppelten Sinne: Es repräsentiert in der traditionellen zeichentheoretischen Bedeutung des Wortes, es repräsentiert aber auch in der Weise, wie es Botschafter oder Delegierte, Repräsentanten eines Staates oder Volkes tun.10 Hierin steht Gells Konzept den Untersuchungen der Akteur-Netzwerk-Theorie nahe. Auch dort werden Dinge als Repräsentanten betrachtet, wenn Bruno Latour beispielsweise auf die Etymologie des Begriffes ›Ding‹ verweist und das Ding als Assoziation oder Ansammlung anderer

8 | Gell versteht unter ›agency‹ »not just ›making‹, but any modality through which something affects something else« (Art and Agency, S. 42). Darüber hinaus unterscheidet er zwischen primärer und sekundärer ›agency‹, zwischen Entitäten, die Willen und Intentionen haben, und jenen, denen ein eigener Wille mangelt (vgl. ebd. S. 36). Diese Differenzierung wird hier nicht weiter berücksichtigt. 9 | Vgl. ebd., S. 104ff. Lukrez: Über die Natur der Dinge. Buch IV. Übersetzt von Hermann Diels, Berlin: 1957. 10 | Vgl. A. Gell: Art and Agency, S. 98.

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Dinge – materieller wie immaterieller – ausweist.11 Wie das Lateinische ›res‹ bezeichnet ›Ding‹ zunächst eine Versammlung, in der Mitglieder der Gemeinschaft oder deren Repräsentanten zusammenkommen. Die Sache, um die es geht, der Gegenstand der Verhandlung, ist ebenso mit dem Wort ›Ding‹ bezeichnet.12 Die Akteur-Netzwerk-Theorie versteht jegliche Entität als Relation anderer Entitäten.13 Das Œuvre als distribuierte Entität zu betrachten, erscheint vor allem in Bezug auf Barneys Werk sinnvoll. Sein Œuvre unterteilt sich in einzelne Werkgruppen, wie Drawing Restraint oder CREMASTER. CREMASTER selbst wird wiederum weiter differenziert in seine fünf Teile. Jeder dieser Teile umfasst aber seinerseits verschiedene Werke: Neben einem Film sind ihm auch Skulpturen und Zeichnungen gleichermaßen zuzurechnen. Auf der Internetseite werden darüber hinaus die Skulpturen in Beziehung zueinander gesetzt, indem sie grafisch mit Linien verbunden und somit gleichsam kartografiert, einem assoziativen Netz eingeschrieben werden. Manche Werke erfahren dabei eine weitere Unterteilung, wie beispielsweise Chrysler Imperial, dessen fünf Hauptelemente auch einzeln präsentiert werden. Das Œuvre wird so als Geflecht von Verbindungen dargestellt und ausgewiesen. Der Begriff des ›Œuvres‹, verstanden als Netzwerk aus Regression und Prätention, als ein zeitlich und räumlich verteiltes Objekt, lässt sich im Falle Barneys auch erweitern und über die Grenzen des künstlerischen Œuvres hinausführen. Greifen die frühen Performances wie Drawing Restraint I oder auch Field Dressing (orifill) nicht auf das nichtkünstlerische Schaffen Barneys zurück? Sind diese der gymnastischen und athletischen Praxis, wie sie Barney vollzog, nicht sogar stilistisch verwandt? Und symbolisiert das Feldzeichen nicht auch jenes Prinzip, das nicht nur dem Kunstschaffen, sondern auch dem athletischem Körpertraining oder Bodybuilding Barneys zugrunde liegt? Freilich lässt sich zwischen athletischem und künstlerischem Schaffen unterscheiden, zwischen Werken, die auf dem Kunstmarkt mitsprechen, und 11 | So beispielsweise in Latour, Bruno: Von der Realpolitik zur Dingpolitik. Oder wie man Dinge öffentlich macht, Berlin: 2005, S. 29ff. 12 | Vgl. hierzu beispielsweise Kluge, Friedrich: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, Berlin/New York: 1999, S. 181f. 13 | Hierbei handelt es sich um ein grundsätzliches Argument der Akteur-Netzwerk-Theorie. Einführung und Überblick in Latour, Bruno: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie, Frankfurt a. M.: 2007 und Bellinger, Andréa/Krieger, David J. (Hg.): ANThology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie, Bielefeld: 2006.

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der

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einem Körper, der in den Bereichen von Sport und Mode agiert.14 Dennoch aber lässt sich die athletische Praxis als unmittelbarer Vorläufer der künstlerischen Praxis verstehen. Das künstlerische Œuvre selbst scheint eingebettet in ein Netzwerk, das wie dieses selbst von Regressionen bestimmt ist.

E in das

rel ationales G eflecht : Œ uvre und sein B arne y

Als Index repräsentiert das einzelne Kunstwerk wie das Œuvre ebenso den Künstler, indem dessen Intentionen, Ansichten und Auffassungen von Welt und Kunst sich im Werk realisieren oder es seine Kompetenzen zeigt, oder auch – um Gells vierte Kategorie ins Spiel zu bringen – den Rezipienten, insofern er als Mäzen tätig wird, als Auftraggeber oder Sponsor an der Produktion beteiligt ist.15 Was wir erhalten, ist ein Netz von Dingen, das sich, je genauer wir hinsehen, immer weiter verzweigt, immer mehr Dinge miteinschließt: eine Delegation von Delegationen. Im narzisstischen Œuvre Barneys spielt Barney nicht nur als Künstler seiner Werke eine Rolle, sondern auch als Prototyp. Indem die Werke Barneys sich auf vorangegangene Arbeiten des Künstlers beziehen, referieren sie auch Barneys vergangene Leistungen als Künstler. Diesen Aspekt scheint Gell vor allem im Auge zu haben, wenn er das distribuierte Objekt des Œuvres als Index für die distribuierte Person des Künstlers beschreibt.16 In dieser Perspektive erscheint es keineswegs unsinnig, das Œuvre und damit auch jedes einzelne Werk als Teil einer zeitlich wie räumlich distribuierten Person zu sehen. Matthew Barney ist in seinen Werken anzutreffen. Die narzisstische Geste seines Schaffens enthüllt diese Verbindungen, erneuert und bestärkt sie. CREMASTER 1 spielt in eben jenem Football-Stadion, in dem auch Barney einst spielte; die Rocky Mountains lassen sich biografisch lesen wie die Stadt New York oder der Antagonist der von Barney gespielten Hauptfigur 14 | Barney war sowohl als Football-Spieler wie als Model für die Modebranche tätig. 15 | In dem, was Gell als ›Art Nexus‹ bezeichnet, können letztlich die vier Entitäten ›index‹ (Kunstobjekt), ›prototype‹, ›artist‹ und ›recipient‹ aufeinander einwirken, woraus Gell 16 unterschiedliche Relationen entwickelt – die jeweilige ›agency‹, die eine Entität auf sich selbst auszuüben vermag, eingeschlossen. Vgl. A. Gell: Art and Agency, S. 28ff. 16 | Vgl. ebd., S. 232.

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in CREMASTER 3, der Künstler Richard Serra, der Barneys Mentor war. Das künstlerische Œuvre wird zur Repräsentation Barneys, des Football-Spielers und Models, des ›privaten‹ Menschen wie des Künstlers. Hierdurch werden die Grenzen zwischen Mensch und Künstler, künstlerischem Schaffen und ›privatem‹ Agieren zwar nicht aufgehoben, aber sie finden sich in einem Netz zusammengeschlossen. Wie die Werke für den Künstler sprechen, ihn repräsentieren, so spricht auch der Künstler für seine Werke. (Oder wären Sie nicht enttäuscht, würde man Ihnen sagen, dass Ihr ›Picasso‹ nicht von Picasso stammt?) Wie das Œuvre als Teil der Person Barneys gesehen werden kann, so kann auch Barney als Teil seines Œuvres betrachtet werden. Barney ist in seinen Werken anzutreffen und seine Werke konstituieren seine Person, machen ihn zu einer Künstlerpersönlichkeit. Die Relation von Œuvre und Künstler ist symmetrisch. Beide bringen sich in wechselseitigen Austauschprozessen gegenseitig hervor; beide partizipieren aneinander; beide repräsentieren einander. Ausgeschlossen blieb bis hier, was Ausgangspunkt und Grund der Überlegungen zu Werk und Künstler war: das Feldzeichen. Nachdem damit begonnen wurde, das Netzwerk von Œuvre und Künstler zu entfalten, gilt es nun, das Feldzeichen in diesem Netzwerk zu verankern, seiner Bedeutung, Funktion und Handlungsmacht in diesem Geflecht wie anschließend auch in der Landschaft der Kunst und des Kunstmarktes nachzuspüren.

D as F eldzeichen

als rel ationales

O bjek t

Bisher wurde hier von dem Feldzeichen gesprochen, als ob es nur ein einziges gäbe. Vor dem Hintergrund des Œuvres als distribuiertes Objekt muss ›es‹ näher bestimmt werden, verbirgt sich hinter ›ihm‹ doch eine ganze Schar von Feldzeichen. Besitzt nicht jedes individuelle Feldzeichen seine Vorgänger, auf die es rekurriert – Feldzeichen, die in anderen Werken und Schriften, auf DVD-Hüllen und Buch-Covers in Erscheinung getreten sind und insofern Prototypen darstellen? Sprechen wir von dem Feldzeichen, ist eine distribuierte Entität angesprochen, ein Objekt, das über seine Erscheinungsformen verteilt und in ihnen anzutreffen ist.17 Dem Feldzeichen kommt entsprechend eine doppelte Repräsentationsfunktion zu: Es 17 | Herausgestellt sei, dass ›das Feldzeichen‹ keine abstrakte Entität oder Idee bezeichnet, ebenso wenig wie die bloße Summe konkreter Zeichen, sondern ein Netzwerk, das konkrete Zeichen und andere assoziierte Entitäten in ihrer Relati-

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der

A ssoziation

repräsentiert das Œuvre, indem es als Emblem auftritt, und es repräsentiert in seinem individuellen Erscheinen auch andere Feldzeichen, die selbst größtenteils zum Œuvre gehören. Es sagt sich selbst somit in mehrerlei Weisen aus: emblematisch, insofern es am Werk partizipiert, indexikalisch (im oben beschriebenen Sinn), insofern es für seine Vorläufer steht. In seiner Funktion als Emblem tritt es mit dem Œuvre in seiner Gesamtheit in Beziehung. Dies rechtfertigt auch, das Feldzeichen in dieser Untersuchung als eine dritte Entität neben Künstler und Œuvre anzusprechen. Das Feldzeichen – wenn auch von Barney entworfen – stellt mittlerweile eine mächtige Entität da, die den Künstler selbst bestimmt wie auch seine Werke. Es hat sich mit dem Œuvre verbunden, sich in den Filmen, Installationen und Zeichnungen eingenistet. Es wurde zum Teil des Werks und Teil der Biografie Barneys, zu seinem Begleiter, der für den Künstler und für sein Œuvre spricht. So agiert es auf dem Kunstmarkt und in der Kunstlandschaft – Museen und Galerien, Verlage und Buchhandlungen, Diskussionsforen, Symposien und wissenschaftliche Publikationen umfassend. Mit dem Feldzeichen schuf Barney eine Entität, die in seiner Unverwechselbarkeit dem Œuvre Barneys einen hervorgehobenen Platz in der gegenwärtigen Kunstlandschaft zu sichern vermochte. Es hat Teil an den Werken und als wesentlicher und wiederkehrender Teil der Werke fördert es die Bekanntheit des Künstlers, es trägt zu seiner Prominenz und Popularität bei.

R epr äsentationen

der

M acht

Diese Wirkungsmacht selbst wird in den Arbeiten Barneys repräsentiert und in den fiktional-narrativen Raum der Werke eingeführt. Dieses entscheidende Moment wurde zwar bereits mehrfach angesprochen, jedoch bislang ohne es in seiner Struktur und Wirkweise näher zu betrachten. Dies soll nun ausgehend von Barneys Installation Chrysler Imperial nachgeholt werden. Chrysler Imperial aus dem Jahr 2002 besteht im Wesentlichen aus fünf Elementen. Vier der Elemente ähneln sich in Form und Größe: Es sind halbe Ovale, die auf dem Boden hingestreckt liegen und wie der Raum mit seinen umgestoßenen Absperrpfosten von Verwüstung und Zerstörung zeugen. Das letzte Element der Installation besteht ebenso aus einem halben Oval sowie einem gegossenen Betonobjekt, das an das Heck eines Chrysler onalität umfasst. Die Unterscheidung von Abstraktem und Konkretem wird hier zugunsten hybrider Netze aufgegeben.

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Imperial erinnert, und einer glänzenden Platte aus Edelstahl, die zwischen Beton und Oval in die Höhe ragt. Jedes der fünf Elemente hat die Form eines – wenngleich auch zerstörten – Feldzeichens: Herausragende Stahlelemente, obgleich verbogen, nehmen die Positionen des Balkens ein.18 Als Index verweist die Installation unter anderem auf ein Handlungsgefüge aus CREMASTER 3, zu dessen (wenngleich jenseits der medialen Grenzen des Filmes distribuiertem) Teil es somit wird: Jedes der fünf Elemente steht für einen der Chrysler Crown Imperials in CREMASTER 3, Baujahr 1967 (das Geburtsjahr Barneys!), deren Tankdeckel vom Protagonisten, gespielt von Barney, mit Zement verspachtelt werden, um im Folgenden einen Chrysler Imperial New Yorker, Baujahr 1930, zu attackieren. Wie Eingeweide ragen Stahlelemente aus den Skulpturen, wie das Innenleben eines Körpers wird der Beton sichtbar, der größtenteils von einer weißen Hülle umgeben ist. Die Hülle zeugt, da sie gerafft und aufgeworfen erscheint, noch von der einstigen Größe der Skulpturen. Mit ›Skulptur‹ ist hier nicht das sichtbare Objekt gemeint, sondern der imaginierte Zustand vor dem Kampf, erinnern doch die präsentierten Objekte selbst an Marmorsockel und Marmormonumente. Den Skulpturen wird in dieser Anordnung eine aktive Rolle zugeschrieben; sie scheinen selbst Gewalt ausgeübt zu haben, einander oder anderes gerammt zu haben. Chrysler Imperial erzählt – auf der fiktional-narrativen Ebene – von einem Kampf verschiedener Feldzeichen; nun ruhen die Kämpfer demoliert und halb zerstört, unfähig den Kampf fortzusetzen, vielleicht aber auch nur neuen Atem schöpfend. Die Gestalten der Objekte, ihre ›Verletzungen‹ und Deformationen werden dabei den Feldzeichen selbst zugeschrieben. Die einzelnen Elemente erscheinen als energetische, handlungsmächtige Objekte, die ihren eigenen Willen, vielleicht eine eigene Seele besitzen. Ganz anders und in mancher Hinsicht doch vergleichbar erscheinen Feldzeichen als Embleme auch narrationsintern in den Werken Barneys. So beispielsweise in CREMASTER 3, im Kampf der Chrysler Imperials: Abwandlungen der Embleme der fünf CREMASTER-Teile prangen auf den Tankdeckeln der Chrysler und weisen diese als Stellvertreter der einzelnen CREMASTER-Episoden aus. Gemeinsam attackieren die Wagen den New Yorker, dann einander. In CREMASTER 2 wird die Hinrichtung an Gary Gilmore in Form eines Rodeos von einer Instanz vollzogen, deren Emblem 18 | Das halbierte Feldzeichen kann als Ausdruck eines Ungleichgewichts gesehen werden. Das vollständige Feldzeichen lässt sich in seiner Symmetrie als Ausdruck für Ausgewogenheit und Balance verstehen.

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eines der CREMASTER-3-Embleme19 ist. Es zeigt sich hier unter anderem auf dem Grund der Arena, auf den Fahnen – die zehn verlorenen Stämme Israels repräsentierend –, die die Staatsbeamten neben der US-Flagge mit sich führen, oder auf dem Gatter des Stieres. Wie die Reiter hier das Feldzeichen in einer Art Ballett nachbilden, so formieren sich auch die Tänzerinnen in CREMASTER 1 zu einem Feldzeichen. Auch dort befindet sich auf dem Boden des Football-Felds das Oval samt Balken an der Stelle, an der üblicherweise das Emblem des Vereins zu sehen ist. Das Feldzeichen steht – auf narrativ-fiktionaler Ebene – für einen handlungsmächtigen Akteur, der mal mit der exekutiven Gewalt (C 2), mal mit einem Football-Verein (C 1) in Verbindung gebracht wird, jedoch ohne damit jeweils gleichgesetzt zu werden. Was aufgebaut wird, ist eine Analogie. Das Feldzeichen tritt an die Stelle des Vereinslogos; es operiert wie dieses. Embleme sind in Marketing-Strategien eingebettet, sollen, indem sie sich distribuieren und in die Köpfe der Konsumenten oder – im Falle des Footballs – der Fans einprägen, dem Produkt oder der Organisation, die sie repräsentieren, einen Platz auf dem Markt sichern. (Was wäre Coca-Cola ohne seinen Schriftzug? Was Barney ohne sein Feldzeichen?) Und so sprechen die Filme auch im Namen ebenjener Instanzen wie Goodyear oder der Tourist Trophy der Isle of Man. Wie auf Plakate und in Werbespots, auf Autoreifen oder die Fronten von Werkstätten hat das Goodyear-Emblem seinen Weg in und auf das Emblem von CREMASTER 1 gefunden und sich mit ihm weiter distribuiert – eine Form des ProductPlacements. Inwiefern dies mit offizieller, ausdrücklicher Zustimmung der Leitung der jeweiligen Organisation geschieht, ist unerheblich. Auch Firmen, Vereine oder andere Gemeinschaften stellen sich als distribuierte Entitäten dar – distribuiert unter anderem auch in Emblemen und Logos, die als ihre Repräsentanten auftreten und für sie sprechen. Was sie erzählen, muss dabei nicht immer mit dem originären und ursprünglichen Handlungsprogramm übereinstimmen; keine Repräsentation gleicht dem 19 | Es handelt sich um ein alternatives Emblem, das sich von jenem mit Bienenkorb und Flagge Utahs versehenem Feldzeichen unterscheidet, indem es spiegelsymmetrisch zweimal den Buchstaben ›G‹ vor dem Feldzeichen zeigt. Die Buchstaben lassen sich als Initialen Gary Gilmores lesen. ›G‹ ist aber auch ein freimaurerisches Symbol, das vom Mormonentum aufgegriffen wird. Darüber hinaus lässt es sich – vor allem auch in seiner Verdopplung – als ›Gemini‹ verstehen und deutet so auf die zwillingshafte Verbundenheit der beiden Protagonisten, Gary Gilmore und Harry Houdini, hin, deren Biographien wechselseitig ineinander gespiegelt werden.

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Original, keine Repräsentation repräsentiert ohne das Repräsentierte zu übersetzen und zu verändern. Die Filme sprechen im Namen ihnen fremder Instanzen. Dies heißt auch, dass das Feldzeichen für mehr steht als nur für das Œuvre als Ansammlung verschiedener Werke. Oben wurde bereits die Verbindung zwischen künstlerischem und athletischem Schaffen, die Verknüpfung von Werk als distribuiertem Objekt und Matthew Barney als distribuierter Person aufgezeigt. Insofern die Embleme verschiedener Organisationen am Werk partizipieren, steht und spricht das Feldzeichen auch für jene. Nicht jedes Feldzeichen repräsentiert in gleicher Weise diese Institutionen, ebenso wie auch Matthew Barney oder andere Teile des Werks dies nicht immer gleichermaßen tun. Das Emblem zu CREMASTER 1 ist mit Goodyear in ganz anderer Weise verknüpft als jenes auf der DVD-Hülle zu CREMASTER 3. Die Verbindungen und Repräsentationsprozesse mögen schwächer oder stärker sein, sich wiederholen und verfestigen oder sich auf verschiedenen Wegen via anderer Mittler und Repräsentanten vollziehen, als Emblem steht das Feldzeichen auch immer für das gesamte Œuvre und seine Verbindungen. Das Feldzeichen gebiert sich also als mächtige Entität, die andere Entitäten in sich aufnimmt, wenn man das von der ANT vorgeschlagene Konzept von Macht voraussetzt: Macht stellt sich in dieser Perspektive nicht als die Ursache machtvollen Handelns dar, sondern als Effekt oder Konsequenz eines Prozesses der Übersetzung und Aushandlung.20 Machtvoll handeln kann nur, wessen Handlungen von einer Vielzahl von Entitäten mitgetragen werden. Mächtig ist, wer andere von sich überzeugen kann, wer mitspricht und einen Unterschied macht. Die Frage der Macht gestaltet sich als eine Frage der Assoziation. Oder wie es Latour formuliert: »klein sein heißt unverbunden sein, groß sein heißt verbunden sein.«21 Das Feldzeichen spricht und handelt im Namen vieler divergenter Entitäten. Es ist eine distribuierte Entität und steht für eine Vielzahl von Entitäten. Es ist machtvoll, versteht es, andere mächtige Embleme und Symbole – vom privatwirtschaftlichen Unternehmenslogo (wie Goodyear-Schuh und 20 | Vgl. hierzu insbesondere Callon, Michel/Latour, Bruno: »Die Demontage des großen Leviathans. Wie Akteure die Makrostruktur der Realität bestimmen«, in: A. Belliger/D. Krieger (Hg.), ANThology (2006), S. 75–101 oder Latour, Bruno: »Die Macht der Assoziation«, in: A. Bellinger/D. Krieger (Hg.), ANThology (2006), S. 195–212. 21 | B. Latour: Neue Soziologie, S. 310.

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Chrysler-Stern) über Staatsembleme (wie der Triskele der Isle of Man oder dem Siegel Utahs) bis hin zu religiösen und freimaurerischen Symbolen – in sich aufzunehmen, sich mit ihnen zu verknüpfen. In viele Werke hat es sich eingeschrieben und sich einen Platz in Museen und Galerien, eine Position auf dem Kunstmarkt gesichert. Das Feldzeichen zeigt und inszeniert seine Größe, seine Verknüpfungen und damit seine Macht. Aber diese Repräsentationen sind ihrerseits mächtig.

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Indem auf der narrativ-fiktionalen Ebene der einzelnen Werke das Feldzeichen aber mit seiner Handlungs- oder Wirkmacht kommuniziert und inszeniert wird, wird nicht nur ein weiteres Bild erschaffen, das von ihm kündet und von seiner Macht; vielmehr gewinnt es zusätzlich an Wirkkraft. Entworfen wird das Bild einer handlungsmächtigen Entität und hiermit wird nicht nur eben jene Faszination ausgesprochen, die vom Feldzeichen ausgeht und es umgibt, sondern sie wird zugleich konstituiert. Eine Entität als machtvoll zu inszenieren, kann ihr Macht verleihen. Das Abbild übersetzt die repräsentierte Entität. Oder anders ausgedrückt: Das Bild wirkt auf den Prototypen zurück, dessen Teil es darstellt. In der bildenden Kunst ist es zumeist die Macht weltlicher Herrscher oder Gottes Allmacht, die in Herrscherbildern und Ikonen dargestellt wird. (Mit beiden Bereichen, dem religiösen wie dem staatlich-politischen, wird das Feldzeichen wie oben ausgeführt assoziiert.) Und wie diese die Macht und Herrlichkeit des Dargestellten nicht nur anzeigen, sondern zugleich erhöhen und mehren, so vergrößert sich die (Wirk-)Macht des Feldzeichens mit der Repräsentation seiner Macht. In England, Norwegen oder den Niederlanden bringen Königshäuser Tausende dazu, gerüstet mit Fähnchen die Straßen zu säumen, und versammeln Millionen weltweit vor den Bildschirmen. Diese Macht speist sich nicht nur aus eben jenem kollektiven Prozess, sondern wird durch ihn gebildet: Kutschen, Pferde und guards umfassend, Fahnen und Fähnchen, die Jubelrufe des Volkes und Fernsehbilder involvierend. Erst sie verleihen dem Königshaus eine hervorgehobene und herausragende Stellung und damit auch seine Macht. Auf den Straßen und vor den Bildschirmen identifiziert man sich vollkommen zu Recht mit den Royals, da man selbst Teil des Herrscherhauses (aufgefasst als distribuierte Entität) ist. Die Macht oder vielleicht die Magie der Monarchen ist Effekt eines kollektiven Prozesses, Ergebnis der Vernetzung beziehungsweise

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der erfolgreichen Repräsentation ›ihrer‹ Macht. Wie ein Königshaus seine Macht und seinen Status anderen Entitäten zu verdanken hat, so ist auch die Macht des Feldzeichens (und des Œuvres) konstituiert durch andere und im Umgang mit anderen. Die Inszenierung von Macht stellt einen möglichen Umgang vor, projektiert ihn. Betrachten wir sie als Vorschlag, so kann sie angenommen wie auch abgelehnt werden; jede Repräsentation kann scheitern. Jeder Vorschlag aber wird umso überzeugender und wirkmächtiger, je mehr Entitäten ihn bereits mittragen. Man benötigt die Unterstützung von Kutschen und Kronen wie Pferden. Wenn der Kaiser ohne Kleider reitet, wird er schnell zum Gespött. Das Œuvre Barneys und mit ihm das Feldzeichen als dessen vornehmster Vertreter hat seine Unterstützer gefunden, nicht nur in den Galerien und in Kuratoren, nicht nur in Büchern und Ausstellungsbesuchern, sondern auch im Werk selbst. Glorifizierungen des Werks gibt es dort zur Genüge. So gehören zum CREMASTER Cycle auch den einzelnen Teilen zugeordnete Vitrinen, die den CREMASTER und mit ihm das Feldzeichen ausstellen und damit deren und ihren eigenen (Ausstellungs-)Wert inszenieren. Das Werk bespiegelt sich selbst und entwirft in dieser Selbstbezüglichkeit beständig neue Bilder seines eigenen Werts, seiner eigenen Macht. Das Feldzeichen als Repräsentant des Œuvres spielt ständig seine Rolle, die von seiner und des Œuvres Macht erzählt. In dieser Selbstbezüglichkeit erscheint das Werk Barneys hermetisch verriegelt, ein Mauerwerk ohne Einlass. Doch es zieht gewaltig in diesem Gemäuer. Und je genauer wir hinsehen, scheint sich das Mauerwerk in ein Gewebe zu verwandeln, in ein Netz im Wind. In ein starkes Netz – ohne Zweifel. Überhaupt sind Netzwerke vielleicht die subtilere Strategie. Sie trennen nicht zwischen einem Innen und Außen, sind durchlässig und sie sind stark, abhängig davon, woraus sie gesponnen sind, wie viele Fäden verwoben, wie viele Knoten geknüpft werden. Barney selbst schlängelt sich durch das Werk so wie ein Zeichen, das das Œuvre repräsentiert und Zusammenhalt schafft. Das Werk inszeniert sich selbst, doch um sich zu vernetzen. Es schafft Bilder seiner selbst, um sich weiter zu distribuieren, zeigt seine Stärke (die immer auch die Stärke der anderen ist), um stark und machtvoll zu werden. Hermetische Verschlossenheit und Offenheit sind dann keine Gegensätze mehr, sondern strategisch verbunden. Ein offener und ein geschlossener Mund, ein Oval und ein Balken.

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The becoming machine of the body I would like to begin by asking the question ›What kind of body can art imagine for the future?‹ In so doing, I will not provide an answer along the lines of ›this is the future of the body‹ or ›art is able to see how our bodies will be‹. Rather, I will focus on the way art has always already imagined the body, responding to cultural and social transformations that affect us as embodied subjects. My objective is to consider this issue through the work of Matthew Barney, an artist who – as the title of this series, CREMASTER Anatomies, indicates – has been involved in imaging the body’s possible transformations. Matthew Barney entered the art scene at a very young age. In the early 1990s, he graduated from Yale University. At that time his work dealt mainly with the athletic (male) body. In 1993, the exhibition Post-human helped secure his success. Curated by Jeffrey Deitch, the exhibition’s point of departure was the claim that we were entering a post-human era, an era that would radically modify the human body thanks to the increased sophistication of plastic surgery, biotechnologies, and medicine. In his introductory essay, Deitch celebrates these developments by referring to contemporary art and popular culture, explaining that the »extraordinary self-transformation of Ivana Trump (is) an example of a shuffling of reality and fantasy into a reassembled fictional personality that quickly becomes fact«1. Deitch emphasizes art’s crucial role in figuring these shifting boundaries of the human. With a mix of demagogy and vulgarization, he maintains: »In the future, artists 1 | Deitch, Jeffrey: Post Human, exhibition catalogue, New York: 1992, p. 36.

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may no longer be involved in just redefining art. In the posthuman future artists may also be involved in redefining life.«2 Yet has not art always been concerned in one way or another with the definition and representation of life? The idea that the body could be transformed through technology is one of the most powerful and persistent myths of the western artistic tradition. According to the ancient myth of Pygmalion, art is a response to the desire to create an artificial body that simultaneously resembles and overcomes the natural body. The attraction for creatures born of the encounter between the human and the artificial has long haunted the artistic as well as the popular imaginary. Before becoming the privileged theme of modern and contemporary science fiction, western culture faced the promise and the threat of becoming-machine. For example, with the historical emergence of new industrial forces and transformations in labor in the 19th century, the possibility of transforming the body became increasingly important. The body was conceived as a mechanism, according to the model of the modern machine.3 The figures of the mechanical Other – from Mary Shelley’s Frankenstein to Francis Picabia’s La fille née sans mere – express the idea that the body, especially since the industrial revolution, is no longer the site of nature and authenticity. Instead, the body is an ambivalent construction, a surface of projection for changing inscriptions. Within this historical framework – whose heritage remains with us today – the body is caught between nature and artificiality. In the beginning of the 20th century, representations of the interactions between technology and the embodied subject became a recurrent topic in art and popular culture. We could thus draw a line from the avant-garde’s »dreams of metalized flesh« – i.e., the metallic becoming of the futurist male body4 – up to contemporary visions of techno-bodies. In the context of modernity, the body’s transformation into a machine also addresses the question of art in the age of mechanical reproduction, thereby threatening established notions of identity, origin and originality. Accordingly, the incarnations that were labeled ›post-human‹ in the 1990s can be read as a response to the shift from the industrial machine to contemporary com-

2 | Ibid. 3 | See Rabinbach, Anson: The Human Motor. Energy, Fatigue, and the Origins of Modernity, Los Angeles: 1992. 4 | See Poggi, Christine: Inventing Futurism. The Art and Politics of Artificial Optimism, Princeton: 2008, S. 150–179.

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munication technologies and biology, from the material to immaterial. It is within this shift that I will situate Matthew Barney’s anatomies. In what follows, I will focus on Barney’s conception of the body in his early work and in the CREMASTER series. I will not go into a detailed analysis of his work’s narrative structure, but rather bracket this aspect of the work in order to more fully concentrate on his imaging of the body. By displacing the abundance of references, quotations, and heroic aspects of the series, I inscribe the work within the historical terrain of late 20th and early 21st centuries’ scientific and technological imaginary.

The creative process In 1991 Matthew Barney had his first solo exhibitions at the Barbara Gladstone Gallery in New York and Regent Projects in Los Angeles. Each exhibition was inspired by sport imagery, reproducing the space of the gym as a laboratory for the body’s constitution. He presented sculptures that made direct reference to gym equipment, while the encounter between the machine and the body was suggested through the use of materials such as Vaseline, wax, tapioca and glucose. At the Barbara Gladstone Gallery, the installation also included a monitor that showed a video of the artist climbing the walls and ceiling of the empty gallery. The performance, Mile High Threshold: Flight with the anal-sadistic warrior, suggests notions of resistance, heroism and physical challenge that strongly implicate sexuality. Moreover, while executing the task, Barney was scantily clothed, wearing only a shower cap and shoes, while metal objects hung close to his body’s orifices, thereby emphasizing the performance’s erotic implications. In this early work, Barney plays the role of his first artistic alter ego: the ›character of positive restraint‹. The character is inspired by the famous magician and escapologist Harry Houdini (alias Erich Weiss, 1874–1926), who was able to endure extreme physical situations. The ›character of positive restraint‹ is the protagonist of several of Barney’s early performances and remains a central to his later work. Harry Houdini also appears in the CREMASTER saga as a protagonist in CREMASTER 2 (1999), in which the American writer Norman Mailer plays his role, and again in CREMASTER 5 (1995), in which Barney’s character clearly suggests Houdini’s abilities. What is more, CREMASTER 5 tellingly takes place in Budapest, Houdini’s hometown. As a crucial figure in Barney’s personal mythology, Houdini represents the possibility of overcoming the body’s limits. Norman Bryson

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explains that the ›character of positive restraint‹ represents »a super-athlete with an absolute mastery of external space«.5 At this time, Barney was also interested in another historical figure: the football player Jim Otto. In the years 1960–1975, Otto played for the Oakland Raiders and he was famous for his prosthetic knees. Otto was the perfect prototype of the high-tech athlete whose performance was enhanced through the incorporation of artificial parts into the natural body. The image of a body extended by technology is a powerful fantasy in the sport imaginary: the machine-body represents a fusion of the organic and the mechanical that allows the human body to overcome its natural limitations. In his identification with the athlete, Barney appropriates this machine-body for his own artistic image.

Fig. 1: Matthew Barney, Jim Otto Suite, 1990

Houdini and Otto represent two different models for surpassing the limits of the body through resistance and control. If Houdini could rely on his mental techniques for the body, Otto used technology in order to 5 | Bryson, Norman: »Matthew Barney’s Gonadotrophic Cavalcade«, in: Parkett (1995), n. 45, pp. 28–35, here p. 31.

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achieve a similar goal. As Nancy Spector notes, these two figures are complementary: Houdini is hermetic (i.e., his actions relate to internal forces and inner concentration), while Otto aggressively invades the space around him.6 Together they incarnate two sides of the same ambition to overcome the human body’s limitations: one proposes a model of self-absorption that could be read as an act of will and omnipotence, and the other proceeds by the desire to posses the outer world. At stake for Barney is thus the creative and artistic possibilities opened up by this struggle. Houdini is perhaps the more crucial figure given his extreme discipline and control. The notion of the restraint, as the name of his alter ego indicates, is a key element for understanding Barney’s conception of the body. Barney developed the parallel between the artist’s and the athlete’s body in his early performances, which became a starting point for thinking the body as a site of transformation that echoes the creative act. At this time, while still an art student, Barney conducted a series of experimental actions that involved his body. These actions titled Drawing Restraint later became a series of works that included performance, photography, and video – as in, for example, Drawing Restraint 7 (1993) and Drawing Restraint 9 (2006). In the first of these performative actions in 1988, Barney fabricated a series of physical obstacles in order to transform the act of drawing into a complicated, even painful, experience. In an interview with Jerôme Sans, he explains: There were these studio experiments, the Drawing Restraint experiments. The first Drawing Restraint consisted of a ramp that were up (sic) two sides of a room and a flexible cord which was strapped around the thighs so that the higher you climbed the more resistance there was. At the top of the ramp different drawing tools were used. It made the act of drawing very difficult.7

The creative process is at the core of these actions, whereby the final product (i.e., the drawing) remains secondary. At times, the drawings were not even produced due to the unbearable effort involved in their execution. Crucial here is the action’s physical implication.

6 | See Spector, Nancy: »In potentia: Matthew Barney und Joseph Beuys«, in: Nancy Spector (Ed.): Barney – Beuys. All in the Present Must Be Transformed, exhibition catalogue, Ostfildern: 2006, pp. 14–55, here p. 27. 7 | Inter view with Matthew Barney: Sans, Jerôme: »Matthew Barney, Héros moderne«, in: Art Press (1995), n. 204, pp. 25–32, here p. 26.

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The DRAWING RESTRAINT experiments represent athletic training as a metaphor for the construction of the artist’s body in the creative process. Through these actions, Barney challenged his body while imposing obstacles to overcome his physical limitations. The body is thus constructed as a productive system that strives for potential metamorphoses. Barney, one might say, reproduces what happens in all athletic performances: he performs the need to constantly surpass oneself and go beyond previous achievements. Barney describes this process as a hypertrophic movement for which the ultimate goal is the development of a state of possibility within the body. Barney’s Drawing Restraint series relate to his diagram that illustrates the productive role of the constraint in the creative process. In his diagrammatic explanation the body emerges as a self-sufficient, living organism comparable to plants, animals and other living matter. Barney’s diagram is composed of three phases. He explains: I used to think about a three-phase diagram: situation, condition, production. Situation was a zone of pure drive, useless desire that needed direction, needed to be passed through a visceral disciplinary funnel, which was the second zone – condition. The third zone, production, was a kind of anal/oral production of form.8

Following Barney’s (rather obscure) argument, one observes that the body is taken as a given organism, a raw material with which the artist works through restrictive conditions in order to produce form. The diagram makes clear that for Barney the creative process takes place within the body. The early performances collapse the body’s struggle in the creative act and the dream of a perfectly functional athletic body. In this way, the athletic metaphor is largely instrumental: what is at stake is the correspondence between control over the body and a sort idealization of the self. In modernity the figure of the athlete has been historically constructed as a symbol of ideal beauty and as a masculine norm. Barney’s reference to this specific male figure indicates that the athletic metaphor evokes the correlation between control over the body and self-transformation into an ideal image. Moreover, his early self-experiments involve not only creativity but also sexuality: the eroticization of the artist’s body is highly present in his creative process, as Flight with the anal-sadistic warrior indicates. Indeed, 8 | Interview with Matthew Barney: Goodeve, Thyrza Nichols: »Travels in Hypertrophia. Thyrza Nichols Goodeve Talks with Matthew Barney«, in: Artforum (1995), n. 5, pp. 66–71 and 112 and 117, here p. 117.

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sexuality occupies a central role within the interaction of bodily functions and resistance. The history of modern sport clearly shows that the need to control the body is primarily enacted against the sexual drives, which need to be sublimated through performance.9 In his incarnation of the artist-athlete, Barney administers sexuality by way of the diagram, which shows how single actions are located within a productive system. It is precisely through self-control that the artist succeeds in creating a form out of the body. The body is at once the site where the creative process takes place and the privileged instrument for artistic creation.

Fig. 2: Matthew Barney, Condition 88, 1988

9 | See Mosse, George: The Image of Man. The Creation of Modern Masculinity, Oxford: 1998.

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Under the sign of metamorphosis How does a form develop out of formlessness? Like a pseudo-scientist, Barney observes how form can be created through hypertrophic movement. He explains: In those works, I was interested in the bodily functions as examples of the creation of a form through body and resistance. In observing the development of the muscle, I was able to establish how a form could be created out of resistance. Those issues concerned the fact that a form can be created from the body, but also how resistance can become something formal.10

Barney further develops the question of ›how to create a form‹ out of the body in the CREMASTER series, which was produced between 1994 and 2002. Here, once again, Barney defines the body as a field to be modified and redesigned. In this five-episode saga, the hero – usually played by the artist – must subject himself to a series of initiation journeys that require enormous physical effort. The title ›CREMASTER‹ refers to the muscle that supports the testicles and thus serves as a metaphor for potentiality. Moreover, the CREMASTER is the first sign of male sex in the development of a fetus, and thereby refers to the moment when the undifferentiated body becomes sexually determined. This transitional moment returns obsessively throughout all Barney’s work. Despite the evident sexual implications of this conception of the male body, for Barney the CREMASTER represents above all the threshold at which various possibilities remain available. This is the developmental stage that interests him most and that he metaphorically relates to the creative process. The CREMASTER series is centered on the possible metamorphosis of the human body. For Barney the borders of the body can be constantly redefined (in Houdini fashion) through an act of will: overcoming physical limitations relates to the struggle against the body’s biological destiny, a struggle that characterizes the contemporary scientific imagination. The videos’ various narrative plots focus on the potentialities embodied by the protagonist, who challenges both human and natural laws. In CREMASTER 4 (1994), for example, this challenge is expressed through the body’s 10 | Zapperi, Giovanna: »Come si crea la forma. Intervista con Matthew Barney«, in: Valentina Valentini (Ed.), Le pratiche del video, Rome: 2003, pp. 307–312, here p. 311.

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transformation and through an effort to go beyond sexual difference by maintaining the reproductive apparatus at an intermediate stage. The various protagonists in CREMASTER are typically characterized by a relentless will that leads them to challenge the conditions that determine their existence. Rather than real characters, the protagonists are revealed as abstract figures that lack psychological complexity in their relentless pursuit of their goals. Their mechanical actions and ambition translates into a will to power that elevates them above the human. In this way, Barney constructs a heroic image of the artist, recalling ancient ideas of art’s ambition to overcome nature. The different bodies that appear in the CREMASTER series suggest that their biological structure had been radically modified. Here the body emerges as an imaginary construction, suggesting both laboratory experimentation and the performative and eroticized body of the athlete. The CREMASTER series’ different characters present autonomous organisms that seek to achieve their goals in a masochistic struggle against their own body. Similar to the character of the positive constraint, here the bodies and the drives are entirely involved in the productive effort. As is by now well established, CREMASTER develops complex narratives, which have been subject to detailed description and analysis.11 What interests me, however, is less the abundance of references and citations than the repetitive features that resurface in the series. Indeed, Barney’s early concerns continue to operate as the driving force for the series’ complex and labyrinthine narrative architecture. Crucial for understanding the CREMASTER series is the relation between constraint and production, the metamorphoses of the body, and the expression of what Norman Bryson describes as a »will to power«12 that tirelessly strives to achieve a goal. If we return to Barney’s interest in the fetus’s differentiation process, it is striking to observe that his view of the male body corresponds quite precisely to pre-modern theories of the development of the reproductive system. According to Thomas Laqueur, until the 19th century and thus before modern medicine, scientific thought considered the feminine and masculine organs as two versions – i.e., internal and external – of the same apparatus.13 11 | See Wakefield, Neville: »The CREMASTER Glossary«, in: Nancy Spector (Ed.), Matthew Barney: The CREMASTER Cycle, exhibition catalogue, New York: 2002, S. 92–115. 12 | N. Bryson: Matthew Barney’s Gonadotrophic Cavalcade, S. 33. 13 | See Laqueur, Thomas: Making Sex. Body and Gender from the Greeks to Freud, Cambridge, MA: 1992.

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Implicit in such a theory was the primacy and autonomy of the male sexual apparatus, while the female was considered a complementary but underdeveloped version that remained inside the body. Barney’s conception of bodily development thus implies the centrality of the male body, its autonomy and self-sufficiency. Throughout the CREMASTER cycle metamorphosis is always presented as the ultimate goal, even as it remains in the realm of possibility. The state of potentiality lies more precisely in the tension between titanic ambition and inevitable disaster, whereby the effort to maintain this tension could allow transformation to happen. If Barney’s early work involved the body in the productive effort, the CREMASTER deploys the body as a tool to affirm the subject against nature’s limitations. Also, in Barney’s conception of the body-mind dualism, these two categories exist beyond any social or cultural conditioning. In CREMASTER 4 (1994) Barney plays a strange human-goat figure in a narrative that revolves around initiations and physical tests. This figure, the so-called ›Laughton Candidate‹, is a half-man and half-animal who dresses in a fin de siècle dandyish style. Key to understanding this figure is the desire to maintain his genital apparatus in an undifferentiated state and thereby overcome sexual difference. In so doing, the figure recalls what happens in the fetus’s body before the appearance of the CREMASTER muscle. This process implies the construction of a body in which opposites coexist: the body is both male and female, human and animal. In general the bodies that appear in the film are characterized by this state of in-between. The body of the Laughton Candidate suggests manipulation – be it genetic, medical or surgical. By surpassing the body’s boundaries, he also evokes images of ancient myths and monsters. In addition, the three fairies that follow him along the island of Man – where the narrative takes place – are similarly marked by this in-between status. Yet their feminine identities emerge from their clothes, hairstyle, and postures if not explicitly from their bodies. The three female body-builders that impersonate the fairies also recall the possibility of modifying one’s body through exercise and other types of manipulation (e.g., the chemical products that allow muscles to grow uncontrolled). Their androgynous appearance suggests the image of a sexually undifferentiated body and thus the dream of bodily totality and self-accomplishment that is not split into male or female. While narrative, landscape, and epic construction take on increasing importance in the course of the cycle, the bodies continue to be represented under the sign of metamorphosis. In CREMASTER 2, for example, the

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metamorphosis of the subject is developed through the tragic story of Gary Gilmore’s useless search for redemption in death. Gilmore’s body is involved in the transformative process only through his death, which means that he fails completely (although death certainly appears as a powerful drive in the entire cycle). In this context, the parallel stories of Gilmore and Houdini indicate a dichotomy between powerlessness and a will to power. Significantly, this parallel involves not only two distinct historical periods, but also two geographic areas that oppose each other as if they were autonomous organisms. To this end, Barney maintains: »It is not an accident that places Fay and Houdini in the fertile vastness of glaciers and Gary in the fragile ecology of a dead lake. Gilmore’s terrain is as blasted as the chances he’s run out of, while Fay and Houdini occupy a zone that is epic in its potential for metamorphosis.«14 Barney situates metamorphosis in relation to two very peculiar kinds of bodies: the body of Harry Houdini and the body of Fay La Foe, the bee-woman, who constantly – and presumably painfully – trains her waist and in so doing refers to the corset and its oppressive implications. The corset is historically considered as a pre-women’s liberation fashion garment, typical of the repressive 19th century, because it constrained the female body into an artificial form. In CREMASTER 2 the corset has gone awry: its repressive character has been exaggerated in order to create a new form from the body. In its most literal application, repression produces form, even when – at least in this instance – it no longer looks human. Fay La Foe’s body seems to be caught in a process of becoming-insect, as the references to bees suggest. But is this becoming-insect of the woman similar to the becoming-animal of the Laughton Candidate in CREMASTER 4? It is perhaps telling that the modified body makes its most spectacular appearance in CREMASTER 3, the last episode of the series, and more specifically in the episode called The Order. Filmed at the Guggenheim Museum in New York, The Order sums up the different parts of the cycle and brings together several elements of the series’ early conception within its most developed chapter: the hard rock contest, the bunny girls’ choreographies, the obstacle race, and the modified bodies. In the third part of The Order the two incarnations of the prosthetic female body suggest a becoming-machine and a becoming-animal. The glass knees and legs of Aimée Mullins, the actress 14 | Flood, Richard: »The Land of the Everlasting Hills«, in: Kathleen Mclean (Ed.), Matthew Barney: CREMASTER 2, exhibition catalogue, Minneapolis, MN: 1999, n. p.

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who plays the female character in the film, recall Jim Otto’s prosthetic body. Once again, the mutilated body is transfigured into potentiality and overcoming; it is an imaginary and material site where nature (the animal) and technology (the artificial legs) intersect. Moreover, the interaction between the female character and the male protagonist suggests interchangeability between different bodies. In the scene where the two meet, the Entered Apprentice’s body (played by Barney) is transformed: he is dressed similar to the woman, and wears a pair of glass sandals that recall the prosthetic nature of her legs. The bodies in the CREMASTER saga are always caught in the process of transformation. They are transformative but not transformed. Thus, what is most disturbing about the various examples described above is the fact that these various becomings never appear as truly liberating. Far from Deleuze and Guattari’s notion of becoming as a force that involves desire and subjectivity, these bodies are trapped.15 Here the transformative potential leads neither to a joyful liberation of the drives nor to a process that involves subjectivities, singularities, and shared experience. The transformation never happens and the process is bound to fail. The forces that are liberated through physical effort are immediately reinvested in the same process, like an endless and useless circle.

Life itself In the CREMASTER series body and subjectivity appear as two separate entities, bound to one another through a productive dialectic. Barney’s images evoke ancient hubris – i.e., the ambition to go beyond the limits imposed to the humans by the gods. Norman Bryson once remarked that Barney’s characters act according to a will to power: »What the will to power seeks is to transcend all limitations in the real and to place nature and the body under the control of its own designs and desires.«16 In this fantasy of a total control over an organism that is thought in terms of totality and unity, the will to power embodied by the different characters also expresses the artist’s ambition.

15 | See Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: A Thousand Plateaus. Capitalism and Schizophrenia, London: 1992 [1980], pp. 232–309. 16 | N. Bryson: Matthew Barney’s Gonadotrophic Cavalcade, S. 33.

M atthew B arney ,

or the body as machine

In his constant preoccupation with ›how to create a form‹, Barney could be considered a sort of hi-tech alchemist. His primary interest in the body indicates a parallel between art and biology, since the modified bodies of his works indicate that both art and biology are concerned with form. In the introduction to his 1952 La Connaissance de la vie, French philosopher Georges Canguilhem wrote that life and form go together. To be interested in living matter means to be interested in form: life means formation of forms.17 Barney also borrows from modern science the idea that the organism is an undivided, self-contained being, both self-sufficient and subject to inner transformations. As the early performances demonstrate, the artist’s studio became a laboratory where the artist carried out complex experiments upon his own body. But, once again, could we say that art, much like science, is an activity that involves observing and experimenting? Canguilhem interestingly points to the link between form and vision in science. He writes: »The living forms are totalities whose meaning lies in the fact that they tend to realize themselves as such […] they can be captured in a vision, never in a division.«18 To capture by vision recalls the power of vision to shape the object of the look against the potential loss of coherence and unity. But how should we interpret this parallel? Is art equal to science; or rather is art’s ambition radically distinct? Matthew Barney’s personal mythology is founded on the idea of the proximity between art and biology through the use of the body. He thereby suggests that the role of art should be to unveil the secrets of life. The struggle to overcome the body, and thus nature, implies, as we have seen, the possibility to modify its inner biological structure. As Nancy Spector notes, this Promethean ambition is bound to fail;19 nevertheless, I would like to add that this failure is the necessary condition for representing this ambition as a struggle. In his representation of the artist as a creator of forms that defy natural laws, Barney shapes a contemporary version of the ancient myths of the artist as demiurge. Barney’s grand vision of a future mediated between science and mythology has certainly contributed to his success. His complex and self-referential universe has made it possible to recover a conception 17 | Canguilhem, Georges: La Connaissance de la vie, Paris: 2003 [1952], p. 14. 18 | »Les formes vivantes étant des totalités dont le sens réside dans leur tendance à se réaliser comme telles au cours de leur confrontation avec leur milieu, elles peuvent être saisies dans une vision, jamais dans une division.« G. Canguilhem: La Connaissance de la vie, p. 14. 19 | See N. Spector: In potentia, S. 19.

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G iovanna Z apperi

of art centered on the figure of the artist as demiurge, capable of modifying his own bodily nature thanks to his imagination. From this perspective, Barney’s work re-actualizes a conception of art that dates back at least to the Renaissance. After the postmodernist deconstruction of the subject, the crisis of artistic mastery, the death of the author, and the feminist critique of artists’ masculinity, Barney’s success appears as a symptom of the contemporary nostalgia for unity. The ancient myths of art shaped by western society are restored and reconfigured through the operation of foregrounding ›creation‹. As the term ›CREMASTER‹ indicates, the saga of art also implies a male artistic subject: after all, CREMASTER contains the word ›master‹. The association between art and science also suggests a restoration of authority, truth, objectivity and control. But when watching Barney’s films, their monstrous bodies and intricate narratives, one is sure to notice that this authority has gone awry. The CREMASTER Anatomies are fascinating and problematic, reactionary and challenging. In short, they demand historical interpretation.

Queer Time & Space in Matthew Barneys CREMASTER Cycle Sascha Pöhlmann

Matthew Barneys CREMASTER Cycle entzieht sich auf vielerlei Weise ganzheitlichen Interpretationen. Dies liegt allein schon daran, dass die Grenzen dieses Kunstwerks sehr verschwommen sind und es auf gewisse Weise ungreifbar machen. Die fünf Filme nehmen sicherlich eine zentrale Rolle ein, aber der CREMASTER besteht auch aus dazugehörigen Skulpturen, aus der Ausstellungssituation, in der Filme und Skulpturen präsentiert werden, aus Skizzen Barneys, aus dem Ausstellungsraum (insbesondere in Bezug auf das Guggenheim Museum in New York) sowie nicht zuletzt aus dem Ausstellungskatalog, der sowohl einen essayistischen Interpretationsansatz wie auch ein Glossar enthält, das allerdings entgegen der Genrekonventionen kaum zum Verständnis des CREMASTER beiträgt, sondern dessen Bedeutungsnetzwerk nur noch mehr erweitert. Von einer Vollständigkeit des Kunstwerks kann somit nicht die Rede sein; der CREMASTER ist selbst nie komplett vorhanden, er befindet sich nie jemals in einem Endzustand, der ausgestellt werden könnte. Selbst der umfangreiche Katalog zur Ausstellung im New Yorker Guggenheim Museum stellt der Liste von Werken in CREMASTER 3 noch den Satz voran, es handele sich um »Works completed at time of publication«.1 Viele Interpretationen des CREMASTER berücksichtigen diese Vorläufigkeit auf angemessene Weise, indem sie nicht versuchen, den Zyklus als Ganzes zu fassen und ihn mit einer einheitlichen, durchweg schlüssigen Lesart zu belegen. Versuche zu umfassenden Interpretationen gelingen am besten 1 | »List of Works in the CREMASTER Cycle«, in: Nancy Spector (Hg.), Matthew Barney: The CREMASTER Cycle, Ausst.-Kat., New York: 2002, S. 510–513, hier S. 511.

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noch dort, wo sie sich in Abstraktion flüchten, wie etwa in der Aussage, im CREMASTER gehe es um Potenzial und Formwerdung;2 gleichzeitig liegt der Erkenntnisgewinn über das Werk umso niedriger, je abstrakter die Deutungen werden, denn welches Kunstwerk könnte man nicht als Untersuchung der Formwerdung betrachten? Eine Interpretation des CREMASTER tut demnach gut daran, dem Zyklus weder eine einheitliche Bedeutung aufzuerlegen noch bei solcherart leerer Abstraktion stehenzubleiben, sondern stattdessen seine Teile schlüssig zu deuten, ohne sie unbedingt als Pars pro Toto für das Gesamtkunstwerk zu lesen.3 In diesem Sinne betrachtet der vorliegende Aufsatz eine wichtige und weit verbreitete Interpretationsrichtung, die den CREMASTER hinsichtlich der Ausdifferenzierung des biologischen Geschlechts deutet. Er versteht sich als Kritik und Diskussionsbeitrag zugleich, indem er insbesondere bisher angebotene Lesarten des CREMASTER-Zyklus im Rahmen der queer theory hinterfragt und neue beziehungsweise alternative Möglichkeiten aufzeigt, den CREMASTER als queer zu betrachten. (Dabei beschränkt sich die Analyse auf die Filme des CREMASTER und vernachlässigt die anderen Komponenten des Kunstwerks.) Ich vertrete in diesem Aufsatz die These, dass der CREMASTER insgesamt zwar nicht eine Dekonstruktion von Heteronormativität oder binärer biologischer Geschlechtlichkeit zum Ziel oder zum Thema hat, da die Unbestimmtheit des Geschlechts eher als eine von vielen Möglichkeiten zu sehen ist, Potenzial zu begreifen, dass er aber dennoch produktiv mit den Mitteln der queer theory interpretiert werden kann. Diese klassischen Themen der queer theory bilden natürlich noch den Hintergrund meiner Argumentation, jedoch soll ein neuerer Aspekt bei meiner Analyse des CREMASTER-Zyklus im Vordergrund stehen, und zwar die Idee von queer time und queer space, wie sie Judith Halberstam entwickelt hat.4 Anstatt den CREMASTER als Werk über die Unbestimmtheit von Geschlecht zu verstehen, will ich hier herausarbeiten, wie der CREMASTER in seinem Spiel mit Potenzial teilweise Zeit und Raum auf eine Weise präsentiert, die man als queer begreifen kann. 2 | Vgl. Spector, Nancy: »Only the Per verse Fantasy Can Still Save Us«, in: N. Spector, The CREMASTER Cycle (2002), S. 2–91, hier S. 14. 3 | Problematisch daher auch der Ansatz von Deborah Bürgel, deren Interpretation auf der Annahme einer solchen Pars-pro-Toto-Funktion eines Teils von CREMASTER 3, The Order, fußt. Vgl. Bürgel, Deborah: Typologie des Hybriden. Eine Perspektive auf Matthew Barneys ›CREMASTER Cycle‹, Saarbrücken: 2008, S. 9. 4 | Vgl. Halberstam, Judith: In a Queer Time and Place: Transgender Bodies, Subcultural Lives, New York: 2005, bes. S. 1–21.

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Q ueere L ek türen

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CREMASTER

Eine solche alternative Interpretation des CREMASTER im Rahmen der queer theory scheint mir schon aus dem Grund wünschenswert, da die queer theory bisher nur wenig zum Verständnis des CREMASTER beitragen konnte. Dies hat zwei Gründe, die eng miteinander verbunden sind: Erstens gründeten die bisherigen Ansätze auf einem recht eingeschränkten Verständnis dessen, was queer theory ist, soll und kann, das sich oft darin erschöpft, dass sie hauptsächlich für Fragen des (unbestimmten) biologischen Geschlechts zuständig ist; zweitens ist der CREMASTER selbst, wie oben ausgeführt, schlicht zu vielschichtig und komplex, um auf diese Fragen reduziert zu werden. Einfach gesagt gibt es im CREMASTER einfach zu viele Dinge, die nichts mit dem biologischen Geschlecht zu tun haben, als dass man ihm eine schlüssige Gesamtinterpretation überstülpen könnte, die ihn als Meditation über Geschlechtwerdung liest. Die Problematik zeigt sich exemplarisch an Maria Gadegaards Aufsatz »Gender Displacement: A Queer-theoretical Reading of Matthew Barney’s CREMASTER 4«, der relativ bald an Grenzen innerhalb des CREMASTER stößt.5 Gadegaards Behauptungen, es handele sich beim CREMASTER 4 um eine »story of fluid and unstable gender positions« oder um einen »decadent, baroque dance around gender«,6 können den Eindruck erwecken, Geschlechtlichkeit sei das Hauptthema des Films, wohingegen sie bestenfalls ein wichtiges Thema ist, das nicht unbedingt relevanter ist als Themen von Zeitlichkeit, Räumlichkeit, Materie/Material, Form, Identität, Narration und viele mehr. CREMASTER 4 geht sicherlich nicht weit genug, um den Effekt hervorzurufen, den Gadegaard beschreibt: »Barney’s alternative genders and sexualities call on the viewer to abandon his or her notion of gender.«7 Dafür sind die Geschlechter im Film einfach nicht alternativ genug und Sexualität ist ohnehin kaum präsent. Gadegaard gründet ihre Interpretation von CREMASTER 4 auf der Annahme, die Geschlechtsidentitäten der Figuren seien allesamt fundamental unbestimmt und diese Irritation erwecke die Notwendigkeit, gegebene Vorstellungen von Geschlechtlichkeit zu hinterfragen. Allerdings trifft diese Unbestimmtheit nur auf die Fairies zu; im gesamten CREMASTER gibt es darüber hinaus keine einzige andere Figur, deren Geschlecht derart unlesbar ist. Hier zeigt 5 | Vgl. Gadegaard, Maria: »Gender Displacement: A Queer-theoretical Reading of Matthew Barney’s CREMASTER 4«, in: SMK Art Journal 6 (2002), S. 138–155. 6 | Ebd., S. 139. 7 | Ebd.

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sich ein Problem von Gadegaards Deutung; sie konzentriert sich auf die Präsentation von Geschlecht, zieht aber nicht in Betracht, dass Geschlecht gelesen und in diesem Akt des Lesens produziert wird. Dies zeigt sich am Loughton Candidate, von dem Gadegaard behauptet: It is not quite possible to determine the gender of Barney’s strange creature, and in the film it will later turn out that his subtle colour coding of yellow and blue refers to male and female respectively, for which reason one can justifiably regard his dancing across the middle of the blue and yellow panel as a sexual limbo between him, her and an indeterminate gender position. 8

Diese angebliche Unbestimmtheit mag von der nichtmenschlichen Natur des Satyrs herrühren, allerdings präsentiert der Loughton Candidate sich deutlich als männlich und wird wohl weitaus eindeutiger als männlich gelesen, als es bei den Fairies der Fall ist. Als Vergleich können hier die Porträtfotografien Catherine Opies dienen, die Judith Halberstam in Female Masculinity präsentiert, und an denen gerade nicht die Ambiguität, sondern die Performanz und die Rezeption des Geschlechts wichtig sind: »Indeed, these portraits are not ambiguous – they are resolute images of female masculinity.«9 Nach dem biologischen Geschlecht des Loughton Candidate zu fragen, wäre irreführend. Es kommt stattdessen gerade darauf an, dass er eine männliche Performanz präsentiert, die auch als solche gelesen wird. Er mag ein Dandy sein, aber er ist nicht weiblich. Gadegaards eigene Wahl des Pronomens ›he‹ lässt darauf schließen, dass auch sie ihn nicht für so unbestimmt hält, wie ihr Argument behauptet. Zudem sind die drei von ihr genannten Geschlechteridentitäten unglücklich gewählt, da sie implizieren, Unbestimmtheit sei immer Unbestimmtheit auf entweder das männliche oder weibliche Geschlecht bezogen; die Autorin zieht dabei nicht in Betracht, dass es präsentierbare und lesbare Identitäten jenseits dieser Binarität geben könnte. Parallel dazu ist die Beschreibung des Loughton Candidate allzu reduktiv, da sie ihn als »predisposed to all sexes – him, her and a third sex«10 beschreibt. Es wird nicht deutlich, ob ›third sex‹ hier ein Sammelbegriff für alle nichtmännlichen und nichtweiblichen Geschlechter ist oder ein einziges drittes Geschlecht meint, aber in jedem Falle bedeutet 8 | Ebd. 9 | Halberstam, Judith: Female Masculinity, Durham u.a.: 1998, S. 34. 10 | Ebd., S. 139.

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der Ausdruck eine Beschränkung der Geschlechtlichkeit, die eigentlich fest in der Binarität zwischen männlicher und weiblicher Identität verhaftet ist, ohne die Möglichkeit einer vom männlichen oder weiblichen Körper losgelösten Performanz von Männlichkeit und Weiblichkeit in Betracht zu ziehen. Die männliche Performanz des Loughton Candidate widerspricht auch Gadegaards Argument, die »story of gender« im CREMASTER 4 sei »a story of fluid and unstable gender positions that is merely presented in all its inciting potential«,11 denn bis auf die Fairies präsentiert praktisch niemand im gesamten CREMASTER-Zyklus eine instabile oder wechselnde Geschlechtsidentität und meistens entsprechen die Figuren (insbesondere die Hauptcharaktere gespielt von Marti Domination, Aimee Mullins, Ursula Andress, Richard Serra und Matthew Barney) sogar höchst stilisierten Idealen von Weiblichkeit oder Männlichkeit. Gary Gilmore taucht zwar nach seiner Exekution in CREMASTER 2 als weibliche Leiche in CREMASTER 4 wieder auf, aber seine beiden Identitäten sind je eindeutig männlich oder weiblich lesbar. Neben den Fairies scheint vorderhand der Entered Apprentice in CREMASTER 3 das Kriterium der Unbestimmtheit zu erfüllen, da er keine eindeutig männlichen oder weiblichen primären Geschlechtsorgane aufweist, allerdings reduziert dieses Argument Geschlecht auf eine biologische Idealisierung und ignoriert erneut die Tatsache, dass der Entered Apprentice eine eindeutig männliche Performanz anbietet, die dem Klischee des Mannes als starken, handwerklich arbeitenden Schöpfer entspricht. Zudem legt der den gesamten CREMASTER 3, insbesondere aber die Sequenz The Order, grundierende freimaurerische Kontext eine maskulinisierende Lektüre der Figur nahe.12 Aufgrund dieser Beispiele mag man Gadegaard auch nicht in ihrem Argument folgen, die Isle of Man als Schauplatz von CREMASTER 4 »must naturally be understood as ›Man‹ in the sense of a human being«.13 Bedenkt man die männliche Performanz des Loughton Candidate und die fast ausnahmslos eindeutig männliche oder weibliche 11 | Ebd., S. 139. 12 | Zur Relevanz freimaurerischer Symbolik und Mythologie für den CREMASTER Cycle vgl. Hasselmann, Kristiane: »Entfesselung des Imaginären und Suche nach der perfekten Form. Zur Bedeutung freimaurerischer Referenzen in Matthew Barneys CREMASTER 3 (2002)«, in: Helmar Schramm/Ludger Schwarte/Jan Lazardzig (Hg.), Spuren der Avantgarde: Theatrum alchemicum. Frühe Neuzeit und Moderne im Kulturvergleich, Berlin/New York: (im Erscheinen). Ich danke Kristiane Hasselmann herzlich für die Überlassung des Manuskripts vor Publikation. 13 | M. Gadegaard: Gender Displacement, S. 146.

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Performanz der Figuren im gesamten CREMASTER, kann man durchaus diesem ›naturally‹ widersprechen und behaupten, hier gehe es in der Tat um den Mann, nicht den Menschen. Gadegaards Aufsatz bietet allerdings nicht die einzige Interpretation des CREMASTER, die die Unbestimmtheit des Geschlechts in Barneys opus magnum überbetont. Wenn man Nancy Spectors Aufsatz »Only the Perverse Fantasy Can Still Save Us« im Ausstellungskatalog des CREMASTER als Versuch verstehen will, zukünftige Interpretationen in bestimmte Bahnen zu lenken und das Verständnis des Werks vorzuformen (und dieses Verständnis liegt schon aufgrund des Publikationskontexts nahe), so kann man sagen, dass Spector stark dazu beigetragen hat, diese Überbetonung herauszufordern: »Gender mutability has a key narrative function in Barney’s art, but it is not its subject matter in itself […]. Gender is raw material for Barney. He molds it as much as he molds space«,14 so Spector. In einer Fußnote trennt sie diese Formung aber von jeglichem politischen Anspruch: Though much has been made of the transgressive and liberatory possibilities of an undifferentiated ›third sex‹ in relationship to Barney’s work, the politics of gender binarism are not critically important to the artist. Like sports, anatomy, and genre, sexual difference is merely one among many narrative vehicles or filters through which Barney explores the creation of form.15

Diese Sinnentleerung im Dienste einer Depotenzierung des Politischen funktioniert allerdings nicht so einfach, da Geschlecht nicht neutralisiert werden kann und immer schon mit Bedeutung behaftet ist, was bei den Feldern von Sport, Anatomie und Genre sicherlich auch der Fall sein mag, aber in weitaus geringerem (und weitaus unpolitischerem) Maße. Man kann hier sicherlich Spectors Prämisse hinterfragen, Geschlecht könne sekundär sein, ein narratives Hilfsmittel, um primäre Phänomene zu kommunizieren. Wichtiger ist allerdings im Kontext meiner Interpretation, dass diese Entwertung der These widerspricht, sexuelle Mutabilität sei eine »key narrative function«16 im CREMASTER. Letztlich bleibt der CREMASTER genau deshalb der Geschlechterbinarität verhaftet, weil er Geschlecht nur auf einer solcherart metaphorischen Ebene verortet. Dieses Recht mag man dem 14 | N. Spector: Only the Perverse Fantasy Can Still Save Us, S. 14. 15 | Ebd. 16 | Ebd.

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Kunstwerk zugestehen, nur gibt es dann keinen Grund zu behaupten, der CREMASTER generell »rehearses a perpetual collapse of (sexual) difference«,17 oder »the underlying theme of a system in conflict with itself to remain undifferentiated, when all determining factors point toward differentiation, informs the CREMASTER project as a whole«,18 denn sexuelle Differenz ist im CREMASTER alles andere als instabil oder in der Schwebe. An anderer Stelle bezeichnet Spector CREMASTER 1 als »a narcissistic paradise of total undifferentiation«,19 obwohl sie zuvor die »sensibility« des Films »decidedly feminine« genannt hat.20 Diese Unentschlossenheit in Spectors formativem Aufsatz trug sicherlich dazu bei, dass der CREMASTER pauschal als Kunstwerk bezeichnet wurde, das die Unbestimmtheit von Geschlecht zum Thema hat, auch wenn in ihm eigentlich nicht allzu viel unbestimmt ist.

Q ueer Theory

diesseits des

G eschlechts

Wenn dies der Fall ist, was ist dann noch queer am CREMASTER-Zyklus? Was hat queer theory über den CREMASTER zu sagen, wenn er ihr kaum gender trouble anbietet? Eine produktive Möglichkeit besteht darin, den Strömungen in der queer theory zu folgen, die queerness von Geschlechtsfragen potentiell abstrahiert oder sie in Kontexten betrachtet, die über das ursprüngliche Feld der queer theory hinausgehen. David Halperin bezeichnete beispielsweise queer schon früh jenseits der Geschlechtsthematik als »by definition whatever is at odds with the normal, the legitimate, the dominant. There is nothing in particular to which it necessarily refers. It is an identity without essence.«21 Halperin denkt queer theory konsequent zu ihrer eigenen zwangsläufigen Nicht-Identität hin; eine Denkweise, die sich das Nicht-Normale oder Nicht-Normative zum Gegenstand wählt und damit immer auch den politischen Anspruch verbindet, die Regeln der Normativität zu hinterfragen und zu ändern, kann selbst letztlich nicht normativ sein 17 | Ebd., S. 82. 18 | Ebd., S. 18. 19 | Ebd., S. 34. 20 | Ebd., S. 33. Und auch diesen effeminierenden Grundton könnte man in Zweifel ziehen, spielt doch der Film auf einem Football-Feld, dem Austragungsort eines zutiefst männlich konnotierten, sportlichen Wettkampfs. 21 | Halperin, David: Saint Foucault: Towards a Gay Hagiography, New York: 1995, S. 62.

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wollen, auch wenn sie es aus pragmatischen Gründen oftmals sein muss. Halperin verwirft queer theory allerdings nicht als nutzlos, wie er es angesichts einer Flexibilität tun könnte, deren Radikalität queer theory jenseits aller Anwendbarkeit stellt; stattdessen präsentiert er queer theory sozusagen als Multifunktionswerkzeug, das eine Vielzahl von Anwendungsmöglichkeiten bietet, ohne eine ›originäre‹ oder ›korrekte‹ Verwendung zu haben. Diese Möglichkeit der abstrahierenden Erweiterung trug sicherlich dazu bei, dass queer theory nicht nur eine akademische Mode der 1990er Jahre blieb, sondern sich dauerhaft als komplexe Theorie etabliert hat, die in eine Vielzahl von Bereichen hineinwirkt. Judith Halberstams Überlegungen zu queer time und queer space stellen sicherlich einen der bedeutsamsten Versuche dar, queer theory über ihr ursprüngliches Anliegen der (biologischen wie sozialen) Geschlechtsidentität hinauszudenken, wenn auch nicht gänzlich von ihm zu lösen. Halberstam gründet ihre Überlegungen zu Raum und Zeit noch ausdrücklich in Geschlechterfragen, öffnet sie aber auch gegenüber anderen Anwendungen: Queer uses of time and space develop, at least in part, in opposition to the institutions of family, heterosexuality, and reproduction. They also develop according to other logics of location, movement, and identification. If we try to think about queerness as an outcome of strange temporalities, imaginative life schedules, and eccentric economic practices, we detach queerness from sexual identity […]. 22

Diese argumentative Bewegung, die queerness von sexueller Identität abhebt, ist genau der Schritt, der eine Interpretation des CREMASTER-Zyklus im Sinne der queer theory möglich macht, ohne sich in die Sackgasse des unbestimmten Geschlechts im CREMASTER zu begeben, in der die Möglichkeiten schnell erschöpft sind. Halberstam bietet verschiedene Ideen an, wie queer time und queer space verstanden werden könnten: Allgemein gesagt handele es sich dabei um Räume und Zeiten, die queerness produzieren, die also dem ›Normalen‹ zuwiderlaufen beziehungsweise die Kriterien von Normativität offenlegen, unterwandern und so weiter. Halberstams Beispiel für queer time ist ein Zeitverständnis, das der westlichen Zelebrierung des Langlebigen entgegenläuft: »[…] we create longevity as the most desirable future, applaud the pursuit of long life (under any circumstances), and

22 | J. Halberstam: In a Queer Time and Place, S. 1.

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pathologize modes of living that show little or no concern for longevity.«23 Eine andere Form von queer time findet sich im Drogenkonsum, der die sozialen Normativitätskriterien von Zeit hervorhebt: »But the ludic temporality created by drugs […] reveals the artificiality of our privileged constructions of time and activity.«24 In Bezug auf queer space nennt Halberstam zum einen »the place-making practices within postmodernism in which queer people engage and it also describes the new understandings of space enabled by the production of queer counterpublics«;25 zum anderen beschränkt sie auch diese Beschreibung nicht nur auf die Handlungen von queer people, sondern schließt abstraktere Raumverständnisse mit ein: »In queer renderings of postmodern geography, the notion of a body-centered identity gives way to a model that locates sexual subjectivities within and between embodiment, place, and practice.«26 Diesen Möglichkeiten, Räume und Zeiten – und nicht Raum und Zeit – in Relation zu Normativität und Identitätsproduktion zu verstehen, lassen sich natürlich noch weitere hinzufügen. Der CREMASTER-Zyklus bietet sich für eine Analyse hinsichtlich solcher queer times und queer spaces an, da diese eine weitaus zentralere Rolle in den Filmen spielen, als es die Geschlechtsidentität tut. Nancy Spector hebt beide Aspekte hervor: The most fundamental character or element in each CREMASTER film is the location in which the narrative takes place. […] Location took on a catalyzing role in the CREMASTER cycle. The entire narrative construct of each installment flowed directly out of its geographic and architectural setting. These spatial coordinates determined the degree of ascension or descension expressed, the identity of the characters, and the order of the cycle itself. 27 Beyond the iconographic links, of which there are many, the films connect through something far more ephemeral: time, a glacial pace that crystallizes action and clarifies tone. This is not to say that all of the CREMASTER films are slow, but they share an abstract temporality, an intense, deliberate pacing that allows elements usually considered sec-

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Ebd., S. 4. Ebd., S. 5. Ebd., S. 6. Ebd., S. 5. N. Spector: Only the Perverse Fantasy Can Still Save Us, S. 20f.

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S ascha P öhlmann ondary or even tertiary – such as landscape, color, costume, and set – to come to the fore. 28

Die folgende Analyse setzt sich zum Ziel, diese queer times und queer spaces in den fünf Teilen des CREMASTER-Zyklus exemplarisch herauszuarbeiten, um letztlich zu zeigen, dass queerness im CREMASTER weniger in Geschlechtlichkeit oder Sexualität vorhanden ist als vielmehr in Zeiten und Räumen.

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CREMASTER C ycle

Jede Interpretation des CREMASTER sieht sich vor die Entscheidung gestellt, die Teile des Zyklus entweder nach ihrer Produktionschronologie oder nach ihrer Nummerierung zu betrachten. Schon hier zeigt sich, dass die Präsentation des CREMASTER darauf ausgelegt ist, queer time und queer space zu produzieren beziehungsweise die Betrachter der Filme in solche queer times und queer spaces hineinzuversetzen. Die fünf Filme wurden bei bisherigen Ausstellungen gleichzeitig auf fünf Bildschirmen gezeigt, die so angeordnet waren, dass man bestenfalls zwei davon auf einmal betrachten konnte. Diese Gleichzeitigkeit, oder vielmehr die Unmöglichkeit einer Gleichzeitigkeit für einzelne Betrachter, wird noch dadurch verstärkt, dass die Filme durch ihre unterschiedliche Länge stets neue Kombinationen ergeben. Die Linearität, die durch die Zahlen in den Filmtiteln suggeriert wird, ist also im CREMASTER bestenfalls eine auferlegte Norm; wie wenig diese Norm dem CREMASTER angemessen ist, zeigt sich vermutlich dann am deutlichsten, wenn man die Filme in ihrer numerischen Reihenfolge hintereinander ansieht. Schon die Ausstellungssituation erschafft also queer time und queer space für den Betrachter, dem sich das Kunstwerk nie ganz und nie auf einmal präsentiert. Stattdessen zeigt es ihm seine eigene Körperlichkeit und ihre Beschränkungen auf, indem es ihm bewusst macht, dass er eigentlich seine Wahrnehmungsmöglichkeiten um mindestens vier Standpunkte im Raum erweitern müsste, um das Kunstwerk zu sehen. Dies ist auch ein zeitliches Problem, das sich daran besonders deutlich zeigt, dass Barney den CREMASTER als skulpturale Arbeit verstanden wissen will;29 die Schwierigkeit für den Betrachter liegt nun darin, diese Skulptur 28 | Ebd., S. 76. 29 | Vgl. ebd. und auch den Aufsatz von Eva Wruck in diesem Band.

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zeitlich so wahrzunehmen, wie er es mit herkömmlichen Skulpturen räumlich gewohnt ist. Die Objekte in der Nähe der Bildschirme fungieren dabei nur noch als Verstärker dieses Problems, da sie genau die Zeitlichkeit und Räumlichkeit aufweisen, welche den CREMASTER-Filmen als Skulpturen in einer queer time und einem queer space fehlt. Doch nicht nur in der spezifischen Strukturierung der Rezeption(ssituation), auch inhaltlich lassen sich solche Zeiten und Räume im CREMASTER aufspüren. CREMASTER 1 beginnt beispielsweise mit der Präsentation des strikt unterteilten Raums eines Football-Spielfelds, dessen gleichmäßige Strukturierung den überaus klaren Rahmen für die Choreografie einer Tänzerinnen-Kompanie bietet. Trotz der Dekontextualisierung des Spielfelds handelt es sich hierbei um normativen Raum, der Regeln vorgibt und dessen Grenzen die Tänzerinnen einhalten. Vor diesem Hintergrund, oder besser über diesem Untergrund, präsentiert sich jedoch ein anderer Raum, welcher der Eindeutigkeit des Spielfelds die Doppeldeutigkeit eines queer space entgegenstellt. In den beiden Goodyear-Zeppelinen, die über dem Spielfeld schweben, befindet sich unter zwei Tischen, auf denen jeweils rote und grüne Trauben liegen, die ›Protagonistin‹ des CREMASTER 1: Goodyear. Während ihre Präsentation von Weiblichkeit eher der Ästhetik der Mode- oder Werbefotografie zuzuordnen ist und zu keiner Zeit queer wirkt, kann hingegen der Raum, in dem sich Goodyear befindet, als queer verstanden werden: Sie befindet sich gleichzeitig in beiden Zeppelinen, was etwa durch eine filmische Überblendung deutlich gemacht wird, die zeigt, dass Goodyear sowohl am Tischtuch unter den grünen wie auch an dem unter den roten Trauben zieht. Nachdem es ihr gelungen ist, an die Trauben zu gelangen und diese scheinbar zu ›verdauen‹ und aus dem trichterförmigen Absatz ihres Schuhs auszuscheiden, wirkt sich der doppelte Raum der Zeppeline auch auf den zunächst eindeutigen Raum des Spielfelds aus und Goodyear beginnt, von ihrem queer space aus Einfluss auf den homogenen, klar strukturierten Raum unter sich zu nehmen: Die Bewegungen der Tänzerinnen entsprechen, wie die Montage es deutlich macht, der Anordnung der Trauben auf dem Boden unter den Tischen. Diese Verknüpfung und Verkomplizierung von Räumen geht sogar so weit, dass sich ehemals eindeutiger und ehemals zweideutiger Raum zu einem sozusagen dreideutigen Raum verwachsen, da sich Goodyear zusätzlich zu den Zeppelinen nun auch noch auf dem Spielfeld befindet. Allerdings belässt es CREMASTER 1 nicht bei dieser Trilokation, sondern faltet die Räume noch ein weiteres Mal auseinander, indem er zeigt, wie Goodyear die Zeppeline

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an Schnüren über das Spielfeld bewegt. Der so präsentierte queer space widerspricht der Vorstellung, Raum sei eine stabile oder neutrale Kategorie, bestenfalls ein Existenzrahmen für Orte, der jedoch selbst unsichtbar oder eine Leerstelle bleiben müsse. Stattdessen wird Raum selbst zum Thema, und indem er als manipuliert und veränderbar dargestellt wird, rücken die normativen Regeln der Räumlichkeit ins Blickfeld. Goodyears Identität ist somit nicht queer, weil ihr Geschlecht queer wäre, sondern weil ihre Existenz im Raum queer ist: Sie befindet sich an zwei oder drei Orten gleichzeitig. Der Betrachter wird nicht durch die Darstellung nichtnormaler Geschlechter dazu gezwungen, seine Haltung zu Geschlecht zu überdenken; stattdessen zwingt ihn die Darstellung dieser räumlichen Vielfalt dazu, die Normativität seiner Perspektive zu hinterfragen. Goodyear schafft spielend genau das, was der Betrachter für eine umfassende Erfahrung des CREMASTER-Zyklus schaffen müsste – sie ist an mehreren Orten gleichzeitig. CREMASTER 2 führt die Idee der Bilokation und multiplen Identität auf andere Weise fort, indem hier etwa Gary Gilmore im Zwischenraum zweier Autos gezeigt wird oder indem Johnny Cash von Dave Lombardo und Steve Tucker anstatt von einer Person dargestellt wird. Wichtiger ist jedoch, dass nach CREMASTER 1, wo sie dem Raum untergeordnet schien, nun auch die Zeit eine größere Rolle spielt. In CREMASTER 2 wird die bereits erwähnte Idee der Gleichzeitigkeit mit einer enormen Langsamkeit verbunden, die ein zentrales Stilmittel des CREMASTER-Zyklus ist. Wie die Bilokation im Fall des Raums hat Verlangsamung hier den Effekt, die Aufmerksamkeit auf die grundlegenden Kategorien menschlicher Existenz und Wahrnehmung zu richten, die normalerweise nur als unsichtbarer, unveränderbarer Rahmen dienen. Indem Zeit extrem verlangsamt wird, werden die Regeln und Normen der Zeit selbst hinterfragt und der Blick kann sich auf das richten, was sich ihm gewöhnlich zu entziehen sucht. Im CREMASTER 2 manifestiert sich die Langsamkeit am deutlichsten in den Eisskulpturen, die sich in der Halle befinden, in der der Entfesselungs- und Zauberkünstler Houdini seinen Trick durchführt. Die filmische Montage schneidet diese schmelzenden Objekte parallel zu Gletschern, an denen sich der Betrachter durch die Perspektive einer Hubschrauberkamera schnell vorbeibewegt, die selbst aber stillzustehen scheinen. Die Bewegung der Gletscher ist aufgrund der extremen Langsamkeit ebenso wenig sichtbar wie ihre unmerkliche Auflösung, aber sie wird im Film sichtbar gemacht, indem sie im Zusammenhang mit den schmelzenden Eisskulpturen und dem Schmelzwasser auf dem Boden der Halle gezeigt wird. Diese Montage

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impliziert nicht weniger als das unmerkliche Vergehen von Zeit und die Doppelung macht eine Zeit sichtbar, deren Dimensionen sich menschlicher Erfahrung eigentlich entziehen. Dies ist die queer time im CREMASTER 2: Die bildliche Verbindung zwischen schmelzenden Eisskulpturen und Gletschern ermöglicht die metaphorische Darstellung einer Zeit, die eigentlich außerhalb menschlich-körperlicher Zeiterfahrung liegt.

CREMASTER 3 führt die Präsentation alternativer Zeitlichkeiten fort, geht aber noch einen Schritt weiter und zeigt darüber hinaus die Sanktionierung von Vergehen gegen die als ›normal‹ ausgewiesene Zeit. Gleich zu Beginn des Films wird eine mythologische Schöpfung von Zeitlichkeit und Räumlichkeit präsentiert. Die Legende von Fionn mac Cumhaill erklärt die Entstehung des Giant’s Causeway in Nordirland; die Konstruktion durch den Riesen stellt einen beschleunigten Ablauf der naturwissenschaftlich-geologischen Erklärung gegenüber. Parallel dazu wirft der Riese am Ende von CREMASTER 3 ein Stück Land nach seinem schottischen Widersacher, das ihn jedoch nicht trifft, sondern in die irische See fällt und zur Isle of Man werden soll, dem Schauplatz von CREMASTER 4. Die Wandlung vom Wurfgeschoss zur Insel stellt eine gewaltige räumliche Verformung dar, die der zeitlichen Verformung in dieser Erzählung in nichts nachsteht. Queer times und queer spaces deuten ein weiteres Mal an, dass Zeit und Raum selbst formbar sind, anstatt starre Bedingungen für Formwerdung zu bieten. CREMASTER 3 fügt dieser Formung jedoch noch ein soziales Element hinzu, das sich in der Geschichte des Entered Apprentice zeigt. Anstatt die Bedingung zur Aufnahme in den Freimaurerbund zu erfüllen, durch Steinmetzarbeit einen perfekten Kubus zu produzieren, versucht der Entered Apprentice, einen solchen Kubus herzustellen, indem er eine Aufzugkabine mit Beton ausgießt. Natürlich löst er so zwar die Aufgabe, unterwandert aber auch die Zeitlichkeit des Initiationsrituals und dies wird hart bestraft. Diese alternative Produktionsweise setzt den Normen der Freimaurer Praktiken von queer time und queer space entgegen, welche die eigentlichen Regeln des Bundes offenlegen. Es geht im Initiationsritus nicht darum, eine Aufgabe zu lösen und ein Objekt zu produzieren, sondern es geht darum, sich auf eine gewisse, als korrekt empfundene Art und Weise zu Raum und Zeit zu verhalten, sich angemessen in Raum und Zeit zu positionieren und seine Identität aus beiden Kategorien zu beziehen, ohne sie in Frage zu stellen oder auch nur daran zu denken, sie zu beeinflussen. Die Strafe des Entered Apprentice ist eine Bestrafung für Verbrechen gegen Raum und Zeit, nicht für seinen Ungehorsam (denn streng genommen hat

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er seine Aufgabe natürlich erfüllt). Als Beispiel für zeitlich und räumlich ›korrektes‹ Arbeiten kann die Figur des Hiram Abiff, gespielt von Barneys Lehrer Richard Serra, gelten, dessen Auftürmen von Metallplatten zu streng geordneten Stapeln der Betrachter oder die Betrachterin in fast schmerzhafter Langsamkeit beobachten kann.30 Diese beiden Säulen ermöglichen Abiff den Aufstieg auf eine höhere Ebene des Chrysler Buildings; sein Aufstieg ist somit verdienter und ehrwürdiger als der des Entered Apprentice, der sich eine höhere Stufe erschwindeln wollte, während Abiff sie sich erarbeitet hat. An dieser Stelle bekommt der Entered Apprentice jedoch die Chance, einen akzeptablen Aufstieg durchzuführen, der kein Verbrechen gegen die Normen freimaurerischer Zeit beinhaltet: Die Sektion The Order wird oft mit einem Videospiel verglichen, in dem der Protagonist verschiedene Levels durchlaufen muss, um erfolgreich zum Ziel zu kommen;31 diese räumliche Metapher ist hier durchaus angemessen. Von zentraler Bedeutung ist zudem, dass dieses Spiel keine cheats erlaubt, dass es also ein Umgehen seiner Zeitlichkeit und Räumlichkeit nicht zulässt. Der Timer in Form von Serras unerbittlich herablaufender Vaseline kann nicht unterbrochen werden; der Raum des Guggenheim Museums erlaubt keine Abkürzungen jenseits der bereitgestellten Klettergriffe. Doch auch hier finden sich queer time und queer space. Die Musik von Agnostic Front und Murphy’s Law deutet noch auf Zeitlichkeiten hin, die der Norm entgegenlaufen, da beide Bands nur die Intros ihrer Songs spielen, dann aber abbrechen, bevor das eigentliche Lied beginnt. Die Bands unterlaufen so die Konventionen des Hardcore, den Song nach kurzem Spannungsaufbau losbrechen zu lassen, indem sie nur Spannung aufbauen, diese aber nicht lösen. So wie die Eisskulpturen in CREMASTER 2 Zeitlichkeit sichtbar machen, machen die angespielten Songs Zeitlichkeit hörbar und sie enttäuschen die Erwartungen der Hörer. Diesem Spiel mit der Zeit fügt The Order noch das Spiel mit dem Raum hinzu, wenn am Ende der Sequenz die Bildmontage die Handlungen des Entered Apprentice im Guggenheim und im Chrysler Building zu ein und 30 | Hiram Abiff begegnet im CREMASTER als Widersacher dem Entered Apprentice: »They are reenacting the Masonic myth of Hiram Abiff, purported architect of Solomon’s Temple, who possessed knowledge of the mysteries of the universe. The murder and resurrection of Abiff are reenacted during Masonic initiation rites as the culmination of a three-part process through which a candidate progresses from the first degree of Entered Apprenticeship to the third of Master Mason.« http://www.CREMASTER.net/crem3.htm (19.09.2012). 31 | Vgl. etwa K. Hasselmann: Entfesselung des Imaginären, S. 11 (n. Mskr.).

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derselben Handlung werden lässt – der Apprentice tötet das Hybridwesen auf Ebene 3 ebenso wie Hiram Abiff. Vielleicht ist diese implizierte Bilokation ein weiteres Mal ein Verbrechen, diesmal gegen die Normen des Raums, so dass der Entered Apprentice ein weiteres Mal eine Bestrafung erleidet und durch die herabfallende Nadel auf der Gebäudespitze getötet wird. Die Hybris des Entered Apprentice besteht nicht nur darin, sich unberechtigt selbst erhöhen und zudem noch den obersten Baumeister selbst töten zu wollen, sondern wieder auch darin, sich gegen die Normen von Zeit und Raum aufzulehnen. Während CREMASTER 2 durch seine Gletscherästhetik am deutlichsten der Langsamkeit verpflichtet ist, setzt sich CREMASTER 4 von allen Teilen des Zyklus am meisten mit Schnelligkeit auseinander. Das Motorradrennen auf der Isle of Man wird so über weite Strecken zur zeitgebenden Norm des Films, vor deren Hintergrund sich alternative Zeitlichkeiten (in Verbindung mit alternativen Räumlichkeiten) entfalten, die gerade im Kontrast zu dieser Geschwindigkeit als nichtnormal wahrgenommen werden können. Von Anfang an werden Szenen im Kontext des Rennens, deren Bildersprache klar Energie und Schnelligkeit impliziert, mit jenen verknüpft, die den Loughton Candidate in der Ruhe des Gebäudes am Ende des Piers zeigen. Hier begegnen sich Außenwelt des Rennens und Innenwelt des weißen Raums, die wie in CREMASTER 1 zu einem queer space vermischt werden; hier dadurch, dass die Kugeln, die die Fairies dem Loughton Candidate in die Taschen stecken, auf den Anzügen der Rennfahrer wieder auftauchen. Die Zeitlichkeiten vermischen sich weniger deutlich; dafür entpuppt sich vor allem die Zeit des Loughton Candidate als queer time, wenn er seinen Tanz darbietet. Seine Schritte wirken eingangs gegenüber den rasenden Motorrädern sehr langsam, allerdings zeigt sich bald, dass sie dennoch einen Effekt haben, der erst nach sehr, sehr langer Einwirkung denkbar wäre: Der Loughton Candidate tanzt sich durch den Fußboden. Während die Montage der Einstellungen des Rennens und des Tanzes Simultanität impliziert, erlaubt dieser destruktive Effekt die Vermutung, dass die Zeit des Loughton Candidate weitaus komprimierter ist als die der Rennfahrer. Besonders bedeutsam erscheint hierbei der räumliche und zeitliche Wechsel, der dann erfolgt, wenn der Loughton Candidate es geschafft hat, ein Loch in den Fußboden zu tanzen: Er fällt ins Meer unter dem Pier und diese räumliche Verschiebung versetzt ihn in ein Medium, dessen Beschaffenheit ihn deutlich verlangsamt und ihn wiederum in eine andere Zeitlichkeit bringt. Die Befreiung aus dem Wasser bringt keine Besserung

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mit sich; in der Höhle hat der Loughton Candidate mit verlangsamender Enge ebenso zu kämpfen wie mit bewegungseinschränkender Vaseline. Anstatt diesen Innenraum und seine Langsamkeit mit dem Außenraum und seiner Schnelligkeit zusammenzuführen, wie es sich andeutet, wenn der Loughton Candidate von unten an die Straße stößt, auf der sein Gegenpart – der Loughton Ram – steht, unterwandert CREMASTER 4 seine eigene Zeitlichkeit und Räumlichkeit, indem er beide als hochgradig konstruiert und manipuliert ausweist und ihnen jegliche Natürlichkeit abspricht. Die schnellen Bildschnitte deuten zunächst an, dass beide Motorräder gleichzeitig mit dem Bock kollidieren werden, allerdings wird dem Betrachter diese Kollision vorenthalten und die Kamera schwenkt nach oben und blendet aus. Dieser Kameraschwenk zeigt deutlich, was sich aufgrund der rasanten Schnittfolge bereits aufgedrängt hat, nämlich dass es sich bei der Szene um eine Inszenierung handelt. Der Film verweigert nicht nur die Darstellung der Kollision, sondern weist sich auch ausdrücklich als Film aus, wodurch der Raum, den er darzustellen vorgab, als von ihm erschaffen enthüllt wird. Der Bruch ist kein vollständiger, der eine Metaebene einführt, auf der etwa das Kamerateam zu sehen wäre, allerdings stellt er hinreichend die Räumlichkeit und Zeitlichkeit des Dargestellten in Frage, indem er die Konstruiertheit seiner Raumzeit ausstellt. Eine ähnliche Strategie zur Erschaffung von queer times und queer spaces oder zur Enthüllung der Normativität von Raum und Zeit, verfolgt auch CREMASTER 5 in einer Schlüsselszene, die hier abschließend diskutiert werden soll. Unter den Augen der Queen of Chain und unter Orchesterbegleitung findet in der Budapester Oper anstatt einer Aufführung eine artistische Darbietung statt, als Her Diva – durch Präsentation und Namensgebung von ambivalenter Geschlechtlichkeit – von der Bühne aus am Proszeniumsbogen entlang nach oben klettert, erfolgreich die horizontale Länge überquert, auf dem Weg nach unten allerdings offenbar abstürzt – eher her diver als Her Diva. Das langsame Entlangklettern am Proszeniumsbogen betont eine Grenzlinie, deren Existenz eigentlich verleugnet werden sollte; sie definiert die Räume der Bühne und des Publikums, darf aber selbst von keinem dieser Räume aus in dieser definitorischen Rolle erkannt werden, da beide Räume sonst verschmelzen oder kollabieren würden. Hier zeigt CREMASTER 5 deutlich die normativen Komponenten von Raum, indem er sie nachzeichnet und das in den Vordergrund stellt, was normalerweise nicht einmal Hintergrund sein darf, sondern zum Nicht-Raum werden muss. Das Lied der Queen of

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Chain betont, dass die Grenze des Proszeniumsbogens einen konstitutiven Effekt auf Her Diva hat: Prepare the proscenium arch She defines his step ……………….. Look through the proscenium arch She defines his stance 32

Jedoch wird Her Diva nicht nur durch den Proszeniumsbogen definiert; die Kletterbewegungen von Her Diva haben umgekehrt auch Auswirkungen auf den Proszeniumsbogen. Parallel zur Bestrafung des Entered Apprentice in CREMASTER 3 für seine Verbrechen gegen die Räumlichkeit und Zeitlichkeit der Freimaurer kann man so den Absturz von Her Diva als bestrafte Hybris verstehen: Sein/ihr Akt der Enthüllung einer verleugneten, aber konstitutiven Grenze läuft den Regeln des Raums zuwider und löst zudem das Individuum Her Diva aus diesem Raum, da sie/er sich an einer Örtlichkeit entlang bewegt, die eigentlich unbetretbar sein sollte. Indem der queer space des Proszeniumsbogens vorgeführt wird, präsentiert sich Her Diva selbst als queer, nicht nur im geschlechtlichen, sondern auch im räumlichen Sinne. Queer space und queer identity bedingen und produzieren einander in diesem Prozess der Wechselwirkung, der letztlich aber katastrophal von den Regeln der Räumlichkeit und Identität eingeholt wird; auch wenn queerness dadurch wieder in der Normalität aufgehoben wird, bleibt ihre Spur der kritischen Offenlegung von Normativität.

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Die Präsentation dieses Vorgangs in CREMASTER 5 deutet auf eine grundsätzlichere Tendenz im gesamten Zyklus hin: Indem im CREMASTER-Zyklus queer spaces und queer times dargestellt, produziert und zerstört werden, legt er den Prozesscharakter von Raum und Zeit selbst bloß – von Kategorien, die sich gemeinhin als statisch und naturgegeben präsentieren. Der Blick der queer theory auf diese Räume und Zeiten kann so eine Erkenntnis bieten, die einer rein auf das Geschlecht bezogenen Analyse vorenthalten bleiben. Der CREMASTER untersucht Formwerdung somit nicht, indem er die In32 | N. Spector: Only the Perverse Fantasy Can Still Save Us, S. 66.

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stabilität von biologischem oder sozialem Geschlecht präsentiert, sondern indem er die Instabilität zweier Phänomene betrachtet, die in der Regel als noch weitaus basaler verstanden werden. Er betrachtet also keineswegs nur das Potenzial der geschlechtlichen Differenzierung in Raum und Zeit, die selbst als gegeben betrachtet werden, sondern er setzt in seiner Erforschung von Potenzial grundlegender an, indem er die Produktion von Räumen und Zeiten nachvollzieht. Dennoch bietet die queer theory noch Konzepte an, mit denen diese Praxis verstanden werden kann. Judith Butler gründet etwa ihre Betrachtung der Materialität von Körpern explizit auf ein prozesshaftes Verständnis von Materie selbst und stellt so eine statische Kategorie in Frage, die zwar grundlegend für eine Diskussion von Geschlechtlichkeit ist, die sich aber bei weitem nicht in dieser Thematik erschöpft: Sie beschreibt Materie als »a process of materialization that stabilizes over time to produce the effect of boundary, fixity, and surface we call matter«.33 Ähnlich kann man den CREMASTER-Zyklus als Produktionsprozess von Räumen und Zeiten beschreiben, der die dazu notwendige Grenzziehung und Fixierung bloßlegt, anstatt sie zu verschleiern, und der so alle Stabilität als vorläufig enthüllt und Normativität selbst dort anzeigt, wo Normen verleugnet werden. Dieser Blick der queer theory jenseits von Geschlechtlichkeit führt letztlich zu der Erkenntnis, dass der CREMASTER-Zyklus nicht nur die Formwerdung innerhalb von Raum und Zeit hinterfragt, sondern die Formwerdung von Raum und Zeit selbst darzustellen versucht. Hier lässt sich auch der Bogen zurück zur Unvollständigkeit und Vielfalt des Kunstwerks CREMASTER selbst schlagen. Die fortwährende Vorläufigkeit sowie die Verästelung des Werks von ersten Skizzen bis hin zum Glossar im Katalog erlauben den Schluss, dass sich der CREMASTER-Zyklus in einer queer time und einem queer space positioniert, in dem das Kunstwerk nicht im herkömmlichen Sinne vorhanden ist, es aber dennoch seine Wirkung und seine ganz eigene queer identity entfalten kann. Dies ist vielleicht die größte Leistung eines Kunstwerks, das die Formwerdung von Raum und Zeit betrachtet – es schließt die Form seiner eigenen Zeit und seines eigenen Raums in diese Betrachtung mit ein.

33 | Butler, Judith: Bodies That Matter: On the Discursive Levels of Sex, New York u.a.: 1993, S. 9.

Stoffwechsel. Mimesis als Prinzip der Überschreitung in Matthew Barneys CREMASTER Cycle Julia Stenzel

Is there anything To be serious about beyond this otherness That gets included in the most ordinary Forms of daily activity, changing everything Slightly and profoundly, and tearing the matter Of creation, any creation, not just artistic creation Out of our hands, to install it on some monstrous, near Peak, too close to ignore, too far For one to intervene? J. Ashbery: Self-Portrait in a Convex Mirror, II 467–475

I. CREMASTER V: W ege

der

W ahrnehmung 1

Matthew Barneys CREMASTER Cycle ist ein programmatisch heterogenes Konstrukt aus Filmen, Objekten, Fotos und Zeichnungen, die aus je verschiedener Perspektive in den unterschiedlichsten Konstellationen zueinander zu stehen kommen. Kunst- und filmwissenschaftliche Versuche zum CREMASTER konzentrieren sich zumeist auf die inhaltliche Interpretation des Films oder auch auf die einzelner Objekte, Fotografien und 1 | Vgl. Erika Fischer-Lichte et al. (Hg.), Wege der Wahrnehmung. Authentizität, Reflexivität und Aufmerksamkeit im zeitgenössischen Theater, Berlin: 2006.

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Zeichnungen.2 Für eine analytische Auseinandersetzung mit den Wegen der Wahrnehmung, wie sie der CREMASTER zugleich präsentiert und eröffnet, gibt es bislang nur Ansätze.3 Hier setzt der Beitrag an; er konzentriert sich entsprechend auf Prozesse des Betrachtens und des Betrachtet-Werdens, die in der filmischen Präsentation angeboten und verhandelt werden. Es sei vorausgeschickt, dass die Überlegungen nicht auf einen wirkungsästhetischen Zugang zielen, sondern auf die Frage, wie spezifische Blickverhältnisse und Sehkonventionen durch die Kamera eine Übersetzung ins Filmische erfahren. Dabei konzentriert sich der Beitrag auf CREMASTER 5, den numerisch letzten Teilfilm des Zyklus, der insbesondere theatrale Blick- und Sehordnungen einer medialen Wiederholung unterzieht. Im mal schweifenden, mal fokussierenden Blick der Kamera in CREMASTER 5 kann ein Analogon zur mäandernden Wahrnehmung gesehen werden, wie sie der Zuschauer-Betrachter der in die Ausstellungssituation eingebundenen, zugleich sie strukturierenden Filme erleben kann; zu jener Meta-Narration, die das Wandern des Blicks zwischen der Diachronie der Film-Narration und der – erst vom Betrachter-Besucher in die Diachronie aufzufaltenden – Synchronie der Ausstellungssituation zu initiieren vermag. Der CREMASTER Cycle ist work in progress auch dadurch, dass er in der Betrachtung immer neu, immer anders narrativiert wird; und diese Form der mäandernden Wahrnehmung verhandelt insbesondere CREMASTER 5 auf einer performativitätslogischen Meta-Ebene. Die Mediatisierung durch das Theater kann so zum Modell werden für die Blickregimes und für die Formen von Aufmerksamkeit, wie sie der CREMASTER Cycle ermöglicht.

2 | Einen Zugang, der, über bisherige Ansätze hinausgehend, den Blick auf das Zusammenspiel der verschiedenen Aspekte des CREMASTER im musealen Ausstellungsraum lenkt und sich dem Verhältnis des Skulpturalen und des Narrativen bei Barney widmet, verspricht der parallel zum vorliegenden erscheinende Band von Wruck, Eva: Matthew Barneys CREMASTER Cycle. Narration – Landschaft – Skulptur, Berlin: 2014. 3 | Aus theaterwissenschaftlicher Perspektive nähert sich etwa Jörg von Brincken Barneys Arbeiten in dieser Perspektive; den theoretischen Hintergrund bilden dabei vor allem Ansätze zum Phänomenbereich des Synaisthetischen (in erster Linie zum haptischen Sehen). Vgl. Brincken, Jörg von: »Bilder, die das Auge berührt. Zum Verhältnis von Film und Körperkunst bei Matthew Barney«, in: Henry Schoenmakers et al. (Hg.), Theater und Medien. Theatre and the Media. Grundlagen – Analysen – Perspektiven. Eine Bestandsaufnahme, Bielefeld: 2008, S. 171–178.

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Ich werde mich im Folgenden entsprechend nicht an der schon in Selbstzeugnissen des Künstlers thematisierten, in der Folge vielfach aufgegriffenen und in ihrer Komplexität entfalteten Strukturierung des Cycle durch den Prozess der geschlechtlichen Differenzierung beim Embryo orientieren und auch nicht in erster Linie an den biografischen Deutungsmustern, deren Semantiken dem CREMASTER eingeschrieben scheinen und deren Rekonstruktion den analytischen Blick auf die verschiedenen narrativen Ebenen des Zyklus lenkt. Nichtsdestotrotz soll es die von mir beobachtete Beobachter-Struktur erlauben, auch diese semantischen Orientierungsmuster auf einer strukturellen Meta-Ebene als durch verschiedene semantische Marker ausgelöste Prozesse der Perspektivierung zu beschreiben. Theoretisch-methodische Grundlage meiner Überlegungen ist ein Konzept von Mimesis als Prinzip nicht der Nachahmung, sondern – in einer modifizierten Übersetzung des Aristotelischen Begriffs – der Wiederholung, einer Wiederholung freilich, die sich zunächst als überschreitende Aneignung, dann als aneignende Überschreitung konkretisiert; eine Wiederholung, die dem Betrachter dann als Nachahmung erscheinen kann, wenn er nicht nur bei der Wiederholung, sondern auch beim Wiederholten Intentionalität voraussetzt. Wiederholung wird in der Interpretation zur Nachahmung also genau dort stilisiert, wo eine Intentionalität auf zweiter Stufe präsupponiert wird. Ausgehend von dieser Komplexisierung tradierter Verständnisse von Mimesis als Nachahmung kann nicht nur die Analyse von Theater als paradigmatisch mimetisch neue Impulse gewinnen, sondern auch die Frage nach dem Theater als Medium kann anders gestellt werden, nämlich ohne die Annahme eines Übertragungsprozesses als zwingendes Kriterium für ›Medialität‹, mithin: außerhalb des semiotischen Paradigmas.4 Ein Konzept von Mimesis, und zwar gerade im hier vorgeschlagenen Verständnis, würde auch den Anschluss erlauben an die von Barney selbst initiierte Debatte um den CREMASTER Cycle und seine Position im Kontext der Konzeptualisierung eines künstlerischen Schaffensprozesses, steht doch auch der Cycle im Zeichen jener in Barneys Schaffen zentralen Analogsetzung von artistischer Produktivität und dem sportlichen Trainingsprozess. Kern der Analogie ist das Prinzip des Muskelaufbaus, das formalisiert beschrieben wird als die permanente Ausweitung, mithin: 4 | Vgl. zur Frage, ob und in welchen Sinne Theater ein Medium sei, grundlegend etwa Schoenmakers, Henri et al.: »Einleitung: Theater und (andere) Medien. Themen und Positionen«, in: Henri Schoenmakers et al., Theater und Medien (2008), S. 13–28.

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Überschreitung physischer Grenzen durch Akte der Selbstbeschränkung (restraint).5 Dieses Konzept wird von Barney in einem Akt autobiografischer Inszenierung auf den Körper des Künstlers bezogen, der ein Moment seiner Biografie in der performativen Wiederholung quasi auf Dauer stellt und seine Person damit zum Paradigma von Kunstproduktion überhaupt stilisiert: Barney führt als Akteur in den CREMASTER-Filmen das Prinzip des drawing restraint als acting restraint immer wieder vor.6 Er vollzieht so die Selbststilisierung des Künstlers und des Künstlerleibes zum Werk, das sich im Vollzug von Akten der Überschreitung immer wieder neu konstituiert. Und insofern könnte man Mimesis, wie gesagt im hier vorgeschlagenen Sinne, auch als eine poetologische Kategorie ansetzen, die im CREMASTER Cycle eine formalisierte Beschreibung jener ›Poetik der Überschreitung‹ erlauben könnte. Die von Barney initiierten Diskurse um Künstlerschaft und um künstlerische Produktivität quasi als Sonder- und exemplarische Form von Produktivität überhaupt haben der Forschung nicht allein zum CREMASTER zentrale Impulse gegeben. Doch sollen hier nicht ein weiteres Mal die insgesamt gut aufgearbeiteten biologisch-medizinisch grundierten Metaphernund Motivhintergründe zum Prinzip von Muskelaufbau und Hypertrophie, zu geschlechtlicher Ausdifferenzierung im embryonalen Stadium und zur Physiologie des Kremastermuskels in einer weiteren theoretisch-methodologischen Schattierung ausbuchstabiert werden. Denn so fruchtbar eine Kontextualisierung der hermetischen Bildwelten des CREMASTER in dieser Leitmetaphorik ist (gerade mit Blick auf die Akte der Selbststilisierung und der Inszenierung von Biografie, die Barneys Arbeit kennzeichnen), so haben doch die com Künstler lancierten Metaphoriken dazu geführt, dass die theoretischen Diskurse um Konzepte von Geschlechtlichkeit einerseits, um Hybridität und Hybris andererseits die Forschung zu Matthew Barney beherrschen. Das Ausgehen von einem vom Künstler selbst angeregten theoretischen Meta-Diskurs zu seiner Arbeit kann zudem eine stark deduktive

5 | In extenso erprobt Barney das Konzept in seiner Performance-Reihe Drawing Restraint (vgl. dazu Kunsthalle Wien (Hg.), Matthew Barney. Drawing Restraint 1987–2007, Wien: 2007. 6 | Vgl. zur performativen Engführung von Kunst und Athletik und zu den kulturund kunsthistorischen Hintergründen der Modellierungen von Künstlerschaft bei Matthew Barney den Beitrag von Christiane Hille in diesem Band.

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Herangehensweise, mithin (gerade in der Detailanalyse) Formen zirkulärer Selbstbestätigung begünstigen.7 Wenn ich mich dem Cycle hier von einer anderen Seite nähere und diese Kontexte heuristisch weitgehend ausblende, dann geschieht dies entsprechend im Sinne der Entwicklung einer Methodologie, die zunächst Wege der Wahrnehmung nachzuvollziehen erlaubt. Entsprechend soll ein Konzept von Mimesis als Überschreitung in der Wiederholung hier auch zunächst als analytische Kategorie angesetzt werden. Das könnte es erlauben, auch sozusagen unterhalb und diesseits poetologischer Selbstpositionierungen durch den Künstler die Faktur des CREMASTER Cycle auf Prinzipien der Überschreitung zu befragen, um dann in einem zweiten analytischen Schritt die von Barney gesetzten Prämissen seiner Arbeit quasi von unten, auf induktivem Wege nachzuvollziehen. Die folgenden Überlegungen dazu können hier nur ganz ausschnittsweise ansetzen. So wird die einleitend erwähnte mediale Heterogenität des Cycle hier nicht in den Blick genommen, sondern ich konzentriere mich weitgehend auf dessen filmischen Aspekt. Und insbesondere im (seinerseits durch den Blick der Kamera gelenkten) Blick des Film-Zuschauers auf innerdiegetische Aufführungen findet, so die These, in diesem Sinne eine Form von Wiederholung statt; spezifischer: eine Form von Überschreitung in der Wiederholung, die das vorgeschlagene Konzept von Mimesis als Prozess der Wiederholung und Wiederholung als Prozess der Mediatisierung besonders sinnfällig werden lässt. Exemplifizierbar ist dies insbesondere an CREMASTER 5, der in Budapest, genauer auf der Kettenbrücke (Széchenyi Lánchíd), in der Ungarischen Staatsoper und in den historischen Gellért-Bädern spielt. Er stellt die theatrale Aufführungssituation explizit als solche aus, weshalb ich in meinen Überlegungen an diesem den Cycle beschließenden (wenngleich an chronologisch dritter Stelle produzierten) Teil ansetzen will.

II. M edium , meta x y, mimeisthai : Z u M ediologie der M imesis

einer

«Ist Theater (k)ein Medium?«, lautete 2006 die Preisfrage der Gesellschaft für Theaterwissenschaft. Mit dieser Frage im Hintergrund beginne ich meine Überlegungen beim Konzept der Mimesis, das ich ausgehend von einer 7 | Exemplarisch etwa Bürgel, Deborah: Typologie des Hybriden. Eine Perspektive auf Matthew Barneys CREMASTER Cycle, Saarbrücken: 2005.

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Formulierung in der Aristotelischen Poetik neu, im Sinne einer Mediologie der Mimesis, perspektivieren möchte. Ich setze an der Beobachtung an, dass die semantischen Felder, die sich von den Begriffen Medium und Mimesis her erschließen, nicht unerheblich von problematischen, zumindest aber diskutablen Wegen in ihrer Übersetzungsgeschichte abhängen. Dabei geht es mir nicht etwa darum, diese selbst schon historischen semantischen Verschiebungen zu korrigieren oder gar die Geschichte der Begriffe neu zu schreiben; vielmehr möchte ich zeigen, wie sich das Spektrum dessen, was Mimesis sei, mit einem Blick auf die Bestimmung bei Aristoteles und indem diese Bestimmung im Sinne eines Prozesses der Mediatisierung perspektiviert wird, erweitern lässt. Um einen heuristischen Ausgangspunkt für meine Überlegungen zu markieren, gehe ich von einem pragmatischen Medienbegriff aus, der vom Medium als Dispositiv her zu denken ist, denn (mit einem Wort Lambert Wiesings zu sprechen): »Schaut man sich die gegenwärtige Medienwissenschaft an, so könnte sich der Eindruck einstellen, dass man sich besser nicht mit der Frage ›Was sind Medien?‹ sondern stattdessen mit der Frage ›Was ist kein Medium‹ befassen sollte.«8 Der historiosemantische Hintergrund von ›Medium‹, auf den ich zu Beginn kurz zu sprechen komme, spielt dabei nur insofern eine Rolle, als er die in letzter Konsequenz substanzialistischen Prämissen zeitgenössischer Medientheorien zu identifizieren und begriffshistorisch wie systematisch zu hinterfragen erlaubt. Der in Wissenschaft und Alltag ebenso gebräuchliche wie schwer zu fassende Begriff ›Medium‹ geht auf einen folgenschweren Übersetzungsfehler Thomas’ von Aquin zurück, der in einer Passage von Aristoteles’ Über 8 | Lambert Wiesing: »Was sind Medien?«, in: Stefan Münkler/Alexander Roesler (Hg.), Was ist ein Medium?, Frankfurt a. M.: 2008, S. 235–248, hier S. 235. In eine ähnliche Richtung weist eine Mahnung des Deutschen Wissenschaftsrats, der die Medienwissenschaft(en) 2007 zur Disziplinierung – das heißt zur wissenschaftlichen Selbstverständigung – aufgerufen hat (Wissenschaftsrat: Empfehlungen zur Weiterentwicklung der Kommunikations- und Medienwissenschaften in Deutschland, Oldenburg: 2007, zuerst S. 5). In seiner Empfehlung unterscheidet der Wissenschaftsrat drei prinzipielle Ausrichtungen, »die sozialwissenschaftliche Kommunikationswissenschaft, die Medientechnologie und die kulturwissenschaftliche Medialitätsforschung«, die sich in der Forschung weitestgehend voneinander abschotteten, während in der Lehre vielerorts – gerade in den neu begründeten modularisierten Studiengängen – eine »sorglose Kombinatorik« zu beobachten und zu monieren sei (ebd., S. 7f.).

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die Seele aus einem Abstand – metaxy – ein dazwischen Seiendes, eine Art ›Trägersubstanz‹ werden ließ – das lateinische ›medium‹.9 Wenngleich die moderne Medientheorie spätestens seit Fritz Heider diesen Status des Mediums hinterfragt und die Bewegung des Verschwindens in der Form als grundlegend für die Bezeichnung von etwas als Medium betont, so bleibt den meisten theoretischen Zugängen zu dem, was Medium sei, doch gemein, dass sie nicht über eine Leere, sondern über ein Etwas sprechen, wenn dieses auch nicht immer substanziellen Charakter haben muss.10 Unter Medium verstehe ich im Folgenden also ein Dispositiv, das eine funktionale Rollenverteilung zwischen verschiedenen Agenten vornimmt, deren Handeln von der Zielvorstellung bestimmt wird, Wahrnehmungen zu ermöglichen und ein trennendes Dazwischen zu überwinden.11 So reguliert das theatrale Dispositiv durch institutionelle, architektonische und pragmatische Vorgaben etwa die Rollenverteilung an Zuschauer und Darsteller und ermöglicht die Wahrnehmung der Aufführung, indem es die Rollenträger »zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort […] eine Spanne Lebenszeit miteinander teilen«12 lässt; und erst die Präsupposition des Dispositivs macht seine Aspekte verhandelbar, wenn etwa die Rollenverteilung zwischen Zuschauer und Akteur oder das Prinzip der Kopräsenz durch ästhetische Mittel – zum Beispiel durch die Arbeit mit Videoprojektionen 9 | Vgl. Hagen, Wolfgang: »Metaxy. Eine historiosemantische Fußnote zum Medienbegriff«, in: Münkler/Roesler, Was ist ein Medium? (2008), S. 13–29. Das diaphane dazwischen Seiende ging späterhin im Konzept des Äthers auf und ist Grundlage für Theorien der Medialität als Vermittlung. 10 | So etwa bei Heider, Fritz: Ding und Medium, mit einem Vorwort von Dirk Baecker, Berlin: 2005 [1923] und in der Folge vor allem bei Niklas Luhmann (vgl. zum Verhältnis von Form und Medium bei Luhmann Baraldi, Claudio/Corsi, Giancarlo/ Esposito, Elena (Hg.), GLU. Glossar zu Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme, Frankfurt a.M.: 1997, S. 58–60; Luhmann, Niklas: Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt a. M.: 1995, S. 165-214).; Luhmann, Niklas: Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt a. M.: 1997, S. 190f.). Fritz Heider hat seinen Medienbegriff und die Unterscheidung von Medium und Form denn auch in Auseinandersetzung mit der Bestimmung bei Aristoteles entworfen. 11 | Formulierung in Anlehnung an Wirth, Uwe: »Die Frage nach dem Medium als Frage nach der Vermittlung«, in: Münkler/Roesler, Was ist ein Medium? (2008), S. 222–234; hier S. 225. 12 | Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen, Frankfurt a. M.: 2004, S. 58.

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– in Frage gestellt wird. Diese knappe Begriffsvereinbarung, wie rudimentär auch immer, sollte es erlauben, den Begriff für eine auflösungsscharfe Analyse nutzbar zu machen. Entlang der Überlegungen des französischen Mediologen Régis Debray lässt sich das hier von Foucault übernommene Konzept des Dispositivs weiter spezifizieren. Debrays beschreibt Medien als (technisch-materiell gefasste) Apparaturen und als soziale Korrelationen, die dadurch gekennzeichnet sind, dass sie räumliche oder zeitliche Abstände (also eines Dazwischen) überbrücken. Als konstitutive Aspekte des Medialen erscheinen in dieser Perspektive (soziale) Organisation einerseits und (technisch-apparative) Materialität, deren komplexes Ineinander Debray auch in ihrer begrifflichen Verschränkung plastisch macht: Mediale Prozesse implizieren einerseits – so Debray – eine »matière organisée« (MO), also etwa Computer, Internet-Server, Zeitschriften und Fernsehgeräte, andererseits aber auch eine »organisation materielle« (OM), das sind ihre infrastrukturellen, sozial-regulativen und pragmatischen Voraussetzungen. Debrays Entwurf war einer der Ausgangspunkte für Konzepte von Neukonzeptionen einer Mediengeschichtsschreibung, die als mediale Historiografie im Umfeld der Universitäten Konstanz und Weimar entwickelt wurde. Ausgangspunkt der Überlegungen ist die Annahme, dass Medien in ihren je historisch spezifischen Konfigurationen zu beschreiben seien. Die historiografische Nachzeichnung von Einzelmedien und ihrer Geschichte sei insofern anachronistisch und unterkomplex, als sie Medien von ihrer je historisch kontingenten Rahmung abstrahiere und so deren Existenz als überhistorische Realie voraussetze.13 Diesen Formen der Ontologisierungen und Naturalisierungen problematisierenden Kontextualisierung von Medien in der synchronen (Dispositiv) und diachronen (mediale Historiografie) Perspektive möchte ich eine dritte Form der Kontextualisierung an die Seite stellen, die mir insbesondere für den theaterwissenschaftlichen Blick auf performative Prozesse als Medienprozesse vielversprechend scheint. Ich möchte den Blick auf die Prämissen lenken, die durch die (oftmals unreflektiert bleibende) Wahl des Paradigmas für das, was ›Medium‹ sei oder auch ›mache‹ (Wirth), gesetzt werden, mediologische Theoriebildung und Methodologie bestimmen und auch den Gegenstandsbereich dessen abstecken, was als Prozess der Mediatisierung zu beschreiben sei – mit Folgen nicht nur für die so definierten Gegenstände 13 | Vgl. Debray, Régis: Einführung in die Mediologie. Aus dem Französischen von Susanne Lötscher, Bern/Stuttgart/Wien 2003; S. 9–18.

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der Mediologie, sondern auch (und noch mehr) für das je Ausgeschlossene. So kann etwa das Paradigma der Sprache dazu führen, dass die Entkoppelung von Äußerung und Äußerungssubjekt sowie von Ort und Zeit von Äußerung und Per/Rezeption derselben als grundlegend für Mediatisierungsprozesse gesetzt werden; das Medium Theater ist aber nun gerade durch Gleichzeitig- und Gleichräumlichkeit gekennzeichnet. Das macht die Rede vom Theater anfällig für Unmittelbarkeits-/Authentizitätsrhetoriken und die Frage nach dem Theater als ein Medium immer wieder virulent. Ausgehend von Beobachtungen an Matthew Barneys Mediatisierung der Theatererfahrung, wie sie – so die These – den numerisch fünften Teil seines CREMASTER Cycle prägt, schlage ich vor, in der Aristotelischen Poetik als einem der Gründungstexte für die Wissenschaft von Drama und Theater einen anderen Kern für eine Mediologie zu finden – einer Mediologie freilich, deren Paradigma nicht (wie etwa auch bei Luhmann) die Sprache, sondern das theatrale Dispositiv ist: Die Mediatisierung, die Aristoteles als Kern ästhetischer Prozesse (sowohl auf Seiten der Rezeption als auch der Produktion) beschreibt, formuliert die Mediatisierung durch den Körper als Anthropologicum, von dem sich alle anderen Formen der Mediatisierung ableiten lassen.14 Aristoteles definiert ganz zu Beginn seiner Schrift deren Gegenstand als Mimesis von etwas in etwas anderem auf eine je andere, das heißt spezifische Art und Weise.15 Ebenso wie ›Medium‹ sind auch die Konzepte von Mimesis, die seit der Aristotelischen Begriffsfindung geprägt worden sind, auf ein Übersetzungsproblem zurückzuführen.16 14 | Vgl. dazu grundlegend etwa Krämer, Sibylle: »Was haben ›Performativität‹ und ›Medialität‹ miteinander zu tun? Plädoyer für eine in der ›Aisthetisierung‹ gründende Konzeption des Performativen«, in: Sibylle Krämer (Hg.), Performativität und Medialität, Berlin: 2004, S. 13–32. 15 | Vgl. zur Aristotelischen Poetik die kommentierte Übersetzung von Arbogast Schmitt (Aristoteles: Poetik. Übersetzt und erläutert von Arbogast Schmitt, in: Aristoteles. Werke in deutscher Übersetzung. Begründet von Ernst Grumach, herausgegeben von Hellmut Flashar. Band 5, Berlin: 2008) sowie Stenzel, Julia: »Begriffe des Aristoteles«, in: Peter W. Marx (Hg.), Handbuch Drama. Theorie, Analyse, Geschichte, Stuttgart: 2012, S. 12–31. 16 | Meine Relektüre der Poetik versteht sich auch als Weiterführung einer Lektüre von Über die Seele als eine Ästhetik. Vorgeschlagen wurde eine solche Lektüre vor einiger Zeit von Mahr, Peter: »Das Metaxy der Aisthesis: Aristoteles’ ›De anima‹ als eine Ästhetik mit Bezug zu den Medien«, in: Wiener Jahrbuch für Philosophie 35 (2003), S. 25–58.

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Zunächst sei eines vorausgeschickt: In seinem Fragen danach, was Mimesis sei, geht Aristoteles nicht ausschließlich und auch nicht in erster Linie vom Bereich des Ästhetischen aus. Vielmehr ist es eine Art »Anthropologie des mimetischen Handelns«17, die als Ursache für die ästhetische Produktivität des Menschen in Frage komme: Im 4. Kapitel der Poetik schreibt Aristoteles über den dem Menschen angeborenen mimetischen Trieb und die spezifische Lust, die er aus Mimesis beziehe und die schon das Spielen der Kinder präge. Der mimetische Trieb sei nicht nur für die (produktive wie rezeptive) Freude an künstlerischer Mimesis verantwortlich. Er sei vielmehr Ausdruck des menschlichen Impulses, die Wirklichkeit zu verstehen, und insofern stehe Mimesis der Philosophie nahe: Mimesis und ihr (sinnlich-perzeptiver wie reproduktiver) Nachvollzug hätten ihren Ursprung entsprechend ganz grundsätzlich im menschlichen Erkenntnistrieb. Sie umfasse gleichermaßen Vorstellungskraft (Einbildungskraft, phantasía) wie Erfahrung und aktiviere mit Erkenntnis und Verstehen wesentliche Erkenntnisvermögen. Und Mimesis liege jeder darstellenden Produktivität zugrunde.18 Mimesis ahmt immer »etwas in etwas anderem auf eine bestimmte Weise nach«19 und ist entsprechend hinsichtlich ihrer Gegenstände, ih17 | Halliwell, Stephen: »Aristoteles und die Geschichte der Ästhetik«, in: Thomas Buchheim/Hellmut Flashar/Richard A. King (Hg.), Kann man heute noch etwas anfangen mit Aristoteles?, Hamburg: 2003, S. 165–184, S. 172. 18 | Die (früh-)neuzeitliche Interpretation des aristotelischen Mimesis-Begriffs im Sinne einer imitatio naturae geht hingegen nicht auf die Poetik, sondern auf die Physik zurück; dort ist von einer Form von Mimesis die Rede, wie sie in der Herstellung lebensweltlicher Gegenstände, etwa von Werkzeugen, begegnet. Als eine solche Form der ›technischen‹ Mimesis werden Tätigkeiten beschrieben, die analog zu naturgesetzlich ablaufenden Vorgängen und an Naturgesetze gebunden sind. Aus den Formulierungen in der Poetik und in der Politik geht hervor, dass die künstlerische Mimesis funktional und funktionell anders geartet ist: Sie ist mehr als die kenntnisreiche Nutzung von Naturgesetzen, auch »keine Transkription, sondern so etwas wie eine Transmutation des Stoffs der Wirklichkeit in eine verstärkte – d.h. eine intensivere, und damit auch verbindlichere Gestalt« (S. Halliwell: Aristoteles, S. 180). 19 | A. Schmitt: Aristoteles, S. 195f.; vgl. auch Mersch, Dieter: »Meta/Dia. Zwei unterschiedliche Zugänge zum Medialen«, in: Medienphilosophie: Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung, Ausgabe 2-2010 herausgegeben von Lorenz Engell, Bernhard Siegert, S. 185–208.

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rer Medien und ihres Modus zu betrachten.20 Insbesondere Mimesis von (sinnvollen und zielgerichteten) Handlungen (mímêsis praxeôs spoudaías kaí teleías), wie sie im Drama und im Theater begegnet, erfordert ein grundlegendes Verständnis ihres Gegenstandes und beinhaltet somit immer schon einen schöpferischen und einen reflexiven Aspekt. Sie erfordert, aristotelisch gesprochen, einen gelungenen »praktischen Syllogismus«21. Und die mimetische Qualität eines Kunstwerks setzt voraus, dass es das Objekt eines mehr als bloß sinnlichen Erlebnisses sein muss. Außerdem stellt die mimetische Kunst Verbindungen zur weiteren Lebenswirklichkeit her, indem sie die Gelegenheit bietet, kognitive und affektive Urteile zu fällen, deren Ursprung in keiner speziellen Geistestätigkeit oder Geistesverfassung, sondern in einem Zusammenspiel von seelischen Fähigkeiten liegt 22.

Nimmt man eine Rahmung des Begriffsfelds ›Medium‹ als dazwischen Seiendes an, so kann man gerade mimetische Prozesse als Medienprozesse verstehen, mimetische Prozesse freilich im Sinne des Aristoteles. Mimesis ist dann nicht mit Nachahmung zu übersetzen, sondern im Sinne von Medienwechsel zu verstehen, und Theater wird so mit Aristoteles zum Paradigma des Medialen. Die Produktivität der skizzierten theoretischen Überlegungen für das Umgehen mit Aufführungen (sei es semiotisch, phänomenologisch oder in anderen Zugängen) soll nun an CREMASTER 5 erprobt werden. Dabei rückt en passant auch ein theaterwissenschaftliches Kernproblem in den Fokus: Die Videoaufzeichnung, die, obgleich de facto (wenn auch nur neben der eigenen Seherfahrung des Interpretierenden) Grundlage der allermeisten eingehenden Arbeiten zu konkreten Aufführungen, in ihrer Relation zum Erleben einer Aufführung in leiblicher Kopräsenz problematisch bleibt. Die Debatte um das Umgehen mit diesem Kernproblem und seine performative Verhandlung soll anhand von Beispielen aus Barneys Cycle neu entsponnen werden: Hier werden die Möglichkeiten, Theater filmisch zu repräsentieren, selbst zur filmischen Performance; aus Fragen nach der (Un)Möglichkeit der filmischen Wiederholung des Theatralen werden ästhetische Mittel des 20 | Diese Bestimmung übernimmt Aristoteles von Platon. 21 | Zum Begriff etwa A. Schmitt: Aristoteles, S. 210. 22 | S. Halliwell: Aristoteles, S. 175.

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Films. Barney spielt ebenso mit der Perspektive der klassischen Probenaufzeichnung mit statischer Kamera einerseits, die dokumentarisch sein will und an ihrem Anspruch in letzter Konsequenz schon aus diesem Grund scheitern muss, wie andererseits mit der exemplarischen Fernsehaufzeichnung, deren Kameraführung filmische Mittel (etwa: close up) nutzt.23

III. S toffwechsel Eine Präzisierung erlaubt das möglicherweise auch für jenes Schlagwort von der Hybridität, mit dem der CREMASTER gern belegt wird und das zuweilen – in einer etymologisch nicht ganz sauberen Herleitung – auf das für den Zyklus zentrale Konzept der Überschreitung als Hybris bezogen wird (der Begriff Hybris spielt durchaus auch innerdiegetisch eine Rolle; unter anderem führt ihn die Queen of Chain in ihren ungarischen Gesängen im Munde, mit denen sie das Agieren von Her Diva, Her Giant und Her Magician begleitet).24 Hybridität als umbrella term umschreibt nicht nur die mediale Heterogenität des Cycle: Wenn Zwitterwesen aus Mensch und Tier, anthropomorphe Maschinen, bizarre Prothesen und andere Extensionen des Körpers gezeigt werden, wenn die topografische Eigenheit eines Ortes demselben Qualitäten eines Körpers geben, wenn umgekehrt Körper zur Landschaft werden, so scheint der Begriff auch das organisierende Moment der Filme, ja des Gesamtzusammenhangs ›CREMASTER Cycle‹ zu erfassen – sowohl in synchroner als auch in diachroner Perspektive. Wie allerdings diese dispa23 | Die Unterscheidung z wischen ›Fernsehinszenierung‹ und ›Probenaufzeichnung‹ kann freilich nur heuristischen oder idealt ypischen Charak ter beanspruchen; gerade im Probenprozess zeitgenössischer Regiepraxis kommen oftmals ganz unterschiedliche Formen der medialen Reflexion zum Einsatz. Vgl. dazu Matzke, Annemarie: Arbeit am Theater. Eine Diskursgeschichte der Probe, Bielefeld: 2012; zum »mediale[n] Blick von außen« besonders S. 233–235. Zur cinematischen Verhandlung der ›Rückseite‹ theatraler Produktion vgl. Diekmann, Stefanie: Backstage. Konstellationen von Theater und Kino, Berlin: 2013. Zur dokumentarischen Annäherung an Theaterarbeit veranstaltete Diekmann 2011 eine Tagung in München (Die andere Szene – Theaterproben und Theaterarbeit im Dokumentarfilm. Tagung der Theaterwissenschaft LMU München); ein aus der Tagung hervorgehender Sammelband ist im Erscheinen. 24 | Exemplarisch D. Bürgel: Typologie des Hybriden.

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raten »Typologie(n) des Hybriden«25 zu spezifizieren sind, ist damit noch nicht geklärt; die etymologisch wie gesagt nicht ganz geklärte Erweiterung von ›hybrid‹ zu ›Hybris‹ als Figur der Überschreitung verbleibt auf der semantischen Ebene und kann als Analysemodell nicht genügen. Auch die Verbalform ›hybridisieren‹ verschiebt das Problem lediglich, zielt sie doch auf einen Zustand und macht den Prozess seines Zustandekommens ansprechbar, ohne ihn näher zu charakterisieren. Ich schlage daher vor, die Figurationen des Hybriden im CREMASTER Cycle als Prozesse hybrider Mimesis zu beschreiben. Der Begriff der Mimesis soll jene Prozesse näher zu bestimmen helfen, die in mit ›Hybridität‹ umschriebene Phänomene münden und so das Oszillieren der Wahrnehmung zwischen Grenzziehung und Überschreitung in den Blick bringen. Wie Ernesto Grassi bemerkt hat, bezeichnet schon Aristoteles mit den Begriffen ›Mimesis‹ und ›mimeisthai‹ nicht die Nachahmung oder den Prozess des Nachahmens, sondern das ›Offensichtlichmachen‹, einen Prozess des ›Zeigens‹. Entsprechend folgt mein Beitrag einem zweigliedrigen Konzept von Mimesis als Analogie der Form und Analogie der Funktion. Vorderhand scheint das zweite, weniger ubiquitäre Begriffsverständnis den Prozessen im CREMASTER Cycle adäquat: Der Cycle ließe sich in diesem Sinne beschreiben als Erzeugung einer Welt, die einen spezifischen Funktionszusammenhang fokussiert und performativ nachvollzieht. Er vollzieht, so die These, eine Mimesis, die nicht auf der Analogie der Form gründet, sondern auf der der Funktionen. Bezieht man jedoch den Aspekt der Wahrnehmungssituation ›Ausstellung‹ mit ein, stellt sich die Sache weitaus komplexer dar. Mimesis wäre dann nicht mehr nur auf der Produktions-, sondern auf der Wahrnehmungsebene angesiedelt, oder besser: Ein erweiterter Produktionsbegriff umfasst den Wahrnehmenden als denjenigen, der vor der Aufgabe steht, diesen (vorläufigen, beschränkt gültigen und immer wieder zur Disposition stehenden) Prozess abzuschließen. Dadurch, dass die ausgestellten Gegenstände in einem – je unterschiedlichem – Verhältnis zum Geschehen der Filme stehen, wird dem Betrachter eine Kontextualisierung angeboten, die zunächst von Form-Analogien ausgeht: Die Wahrnehmung vollzieht Mimesis als Analogie der Form, eine Mimesis, die notwendig Lücken und Brüche aufweist, kommen doch Zeichnung und filmisch dargestellte Situation, Objekt und objekthafter Handlungsträger des Films nie völlig zur Deckung. Diese Lücken und Brüche dynamisieren Funktionsanalogien, deren rekonstruktive 25 | Vgl. D. Bürgel: Typologie des Hybriden.

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Wahrnehmung wiederum dem mimetischen Vermögen des Betrachters anheim gestellt sind. Neben die Austauschbewegungen, die das Verhältnis von Ort und Prozess der ästhetischen Produktion bestimmen, treten diejenigen zwischen Ort und Prozess der Aisthesis selbst. Oder, anders gewendet: Der Betrachter als derjenige, der das Objekt Film weiterschreibt, setzt den mimetischen Prozess als Prozess des Verständlichmachens, des Zeigens als wahrnehmende Mimesis fort. Diese Perspektive rückt das Prozessuale des CREMASTER Cycle in den Blick, mithin auch die Rolle des Betrachters als dessen, der den Weg der Wahrnehmung bestimmt, indem er die Skulptur im Raum abschreitet. Die Diachronie des Films wird durch die gliedernde, segmentierende, rhythmisierende Bewegung des Betrachters einer zweiten Diachronie als Auffaltung in den Raum zugänglich. Analogie der Form und Analogie der Funktion verhalten sich zueinander komplementär.

IV. CREMASTER 5 als V erhandlung the atr aler M imesis Unter Einbeziehung der bekannten These Christopher Balmes, dass das Theater, insofern es »alle anderen Medien zur Darstellung bringen kann«, immer schon und zuallererst ein Hypermedium sei,26 will ich im Folgenden untersuchen, wie der Blick der Kamera im fünften CREMASTER-Film den Blick des Theaterzuschauers mimetisch nachvollzieht und, in einem analytisch zweiten Schritt, wie er diesen Nachvollzug selbst zum Gegenstand der Präsentation macht, indem er innerdiegetisch sowohl das Schauen, als auch das Angeschaut-Werden zeigt. So gerät die komplexe Relation je medial spezifischer Wahrnehmungsdispositive in den Blick, wie sie dieser Teil von Barneys Cycle insbesondere in seinem filmischen Aspekt verhan26 | Balme, Christopher: »Theater zwischen den Medien. Aspekte theaterwissenschaftlicher Intermedialitätsforschung«, in: Christopher Balme/Markus Moninger (Hg.): Crossing Media. Theater – Film – Fotografie – Neue Medien, München: 2004, S. 13–31, hier S. 30. In seiner Fähigkeit, alle anderen Medien zur Darstellung bringen zu können, trifft das Theater sich Balme zufolge mit den digitalen Medien, die jedoch Gemeinsamkeiten eher nivellieren, während das Theater sie in den Fokus der Wahrnehmung treten lässt. Zum Begriff der Intermedialität, wie er in der Theaterwissenschaft geprägt wurde, vgl. etwa auch S. Krämer, Performativität und Medialität (2004) und H. Schoenmakers et al., Theater und Medien (2008).

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delt. Im Hintergrund meiner Überlegungen steht dabei ein Kernproblem theaterwissenschaftlich-inszenierungsanalytischer Methodologie: Die Frage nach dem epistemologischen Status und dem analytischen Potenzial der Videoaufzeichnung nämlich, gilt als primärer Gegenstand theaterwissenschaftlicher Auseinandersetzung mit performativen Prozessen typologisch doch das Erleben einer Aufführung in leiblicher Kopräsenz.27 Wie einleitend bereits erwähnt, kennt CREMASTER 5 drei Orte des Geschehens, von denen mich einer – das Gebäude der Ungarischen Staatsoper – hier am meisten interessieren wird. Der Film präsentiert eine hermetische Narration, die ohne Kenntnis der von Barney lancierten und im Internet frei verfügbaren Paratexte28 kaum nachvollziehbar scheint. Narratives wie strukturelles Zentrum des Films ist das Budapester Opernhaus, ein klassisches Theatergebäude des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Hier ereignet sich nicht nur ein Großteil der Handlung; zudem sind die anderen Orte des Films dem Opernhaus entweder funktional (so im Falle der Kettenbrücke, die als Weg zum Theater präsentiert wird) oder räumlich-strukturell zugeordnet. So werden die Gellért-Bäder zunächst als räumlich eigenständig vorgestellt, entpuppen sich jedoch schon in den ersten Minuten der filmischen Oper als Katakomben des Theaters:29 Durch Gucklöcher in der Fußplatte des könig27 | Das gilt in besonderem Maße für jüngere phänomenologische Ansätze, die ja die Perspektive des die Aufführung Beschreibenden in seiner leiblichen Anwesenheit gerade integrativ behandeln, statt sie, wie es etwa ein semiotischer Zugang qua Zuschnitt tun muss, heuristisch auszuklammern. Vgl. dazu Roselt, Jens: Phänomenologie des Theaters, München: 2008. Doch schon in aufführungsanalytischen Ansätzen aus der Frühzeit der regelmäßigen und verfügbaren Videoaufzeichnung wird derselben höchstens der Status einer Gedächtnisstütze zugestanden (vgl. exemplarisch Lazarowicz, Klaus: »Triadische Kollusion. Über die Beziehung zwischen Autor, Schauspieler und Zuschauer im Theater«, in: Das Theater und sein Publikum, Wien: 1977, S. [44]–60. 28 | Die von Barney autorisier te Internet-Seite ww w.cremaster.net bietet nicht nur Zusammenfassungen deutlich interpretativen Zuschnitts für alle fünf CREMASTER-Filme und den offiziellen Trailer, sondern auch Bilder der zugehörigen Skulpturen, Zeichnungen und Fotos sowie Informationen zu den Figuren und zur Konfiguration bis hin zu den Daten und Orten der offiziellen CREMASTER-Screenings und der Ausstellungen des gesamten Cycle. 29 | Selbstverständlich befinden sich die Bäder realiter nicht etwa unter dem Opernhaus oder anderswo im Untergrund von Budapest, sondern in einem historischen Hotelkomplex außerhalb der Stadt.

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lichen Throns, dem Ort der Queen of Chain, fällt der Blick der Kamera auf die Wasserfläche der Bäder. Hauptfiguren sind neben der Queen of Chain (Ursula Andress) Her Giant, Her Magician, Her Diva, und, im Hintergrund des Geschehens, mit im Vagen gelassener raum-zeitlicher Zuordnung und auch innerdiegetisch eher ein Aspekt von Her Magician denn eine eigene Figur, Harry Houdini. Diese drei (oder vier) funktional der Queen of Chain zugeordneten Figuren werden sämtlich verkörpert von Barney selbst. CREMASTER 5 setzt mit einer Art Ouvertüre 30 ein, in der die drei Orte des Geschehens vorgestellt werden: The Magician crosses the Lánchíd Bridge on horseback. The Queen ascends the staircase of the Hungarian State Opera House with her two ushers. She settles onto her throne in the royal booth, and the ushers arrange a fleet of Jacobin pigeons around her. Pearls float on the surface of the pools in the Gellért Thermal Baths, partially concealing the Füdór sprites, who inhabit their underwater realms. The curtain rises to an empty theater, the conductor readies his orchestra, and the opera begins. 31

30 | Im bereits genannten, online verfügbaren Paratext zum CREMASTER fällt dieser Begriff zur näheren Charakterisierung und funktionalen Einordnung des Geschehens der ersten Minuten; überhaupt ist bezeichnend, in welchem Maße der musikalisch-musiktheatralische Diskurs des 19. Jahrhunderts hier als hintergrundmetaphorisches Substrat aufscheint: So ist im Weiteren etwa die Rede von musikalischer Leitmotivtechnik (www.cremaster.net/crem5.htm, 11.05.2014). Auch Nancy Spector spricht in ihrer Exegese von CREMASTER 5 von Leitmotivik; jedoch appliziert sie den Begriff durchwegs vorwissenschaftlich, im ungefähren Sinne von ›(emotional aufgeladenes) semantisches Feld‹, auf Gefühlszustände wie »Einsamkeit, Sehnsucht, Schadenfreude oder Verzweiflung« (vgl. Spector, Nancy: »Nur die perverse Phantasie kann uns noch retten«, in: Nancy Spector (Hg.), Matthew Barney: The CREMASTER Cycle, Ausst.-Kat., Ostfildern-Riut: 2002, S. 2–91, hier S. 65). 31 | http://www.cremaster.net/crem5.htm (10.5.2014). Die Seite bietet auch eine Zusammenfassung der gesamten Handlung in aller Kürze; ausführlicher (und unter Wiedergabe der ungarischen Texte in Übersetzung) ist N. Spector: Nur die perverse Phantasie kann uns noch retten, S. 65–73. Allerdings liefert der essayistische Text auch eine zuweilen unangemessen deutlich psychologisierende Deutung des Filmgeschehens und der Figurenhandlung, etwa, wenn Her Diva ein »bewusst(es)« Handeln unterstellt wird (S. 67).

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Auf den ersten Blick wird hier also eine klassische Theater-, genauer Opernsituation vorgestellt (»The film is cast in the shape of a lyric opera«32) – wenngleich eine, die eine einzige Zuschauerin in ein komplexes Netzwerk von Akteuren verwebt, welche selbst zueinander in unterschiedlichen Beziehungen stehen.33 Zunächst ist zu differenzieren zwischen der zentralen, den innerfilmischen Diskurs bestimmenden Theatersituation, dem Geschehen im Opernhaus nämlich, und dem Geschehen an anderen Orten, die entweder durch den mittels Kamera bruchlos nachvollziehbaren Blick aus dem Opernhaus mit dem zentralen Theater-Geschehen in ein Verhältnis der Kontiguität gesetzt werden (so die Gellért-Bäder) oder aber durch visuell oder akustisch markierte Zäsuren als Sphäre der Imagination oder des Traums gekennzeichnet sind (so das Geschehen auf der Kettenbrücke). Das heterogene Raum-Zeit-Gefüge von CREMASTER 5 und die zentrale Position des Opernhauses als Ort, der die übrigen Orte des Films in sich aufnimmt und sie als imaginierte Räume dem Geschehen dort beiordnet, wird sinnfällig auch angesichts eines auf den ersten Blick plausiblen Schemas auf der oben zitierten offiziellen Website zum CREMASTER Cycle: Das Schema stellt die Relationen zwischen den Akteuren dar, wobei nicht nur die menschlichen – oder anthropomorphen – Rollen aufgenommen werden, sondern auch ein Schwarm Jakobinertauben, »The Tears of Ehrich Weiss«34 , das »Feldzeichen« des CREMASTER Cycle35 und, 32 | http://cremaster.net/crem5.htm (10.5.2014). 33 | Nancy Spector vertritt die vielfach kolportierte These, CREMASTER 5 sei »in Anlehnung an die fünf Konflikte der griechischen Tragödie in fünf Akte gegliedert« (N. Spector: Nur die perverse Phantasie kann uns noch retten, S. 66). Die ihren Überlegungen zugrundeliegenden Zuschreibungen an das Attische Drama entsprechen dem historischen Befund jedoch nicht; die angeführten Belege stammen aus einem populären Werk zur Geschichte der Oper und sind im wissenschaftlichen Kontext nur bedingt zitierfähig. Auch vor dem Hintergrund von Spectors Synopse wird die Annahme der Fünfaktigkeit nicht hinreichend plausibel. 34 | Ehrich Weiss ist der bürgerliche Name des Entfesselungskünstlers Harry Houdini, den Barney in einer virtuosen genealogischen Rekonstruktion zu seinen Vorfahren zählt und dessen Performance als Metapher für den künstlerischen Schaffensprozess im Hintergrund des gesamten Cycle präsent ist; vgl. N. Spector: Nur die perverse Phantasie kann uns noch retten, S. 66. 35 | Zum Feldzeichen als Akteur im Sinne der Actor Network Theory (ANT) vgl. den Aufsatz von Joseph Bairlein in diesem Band. Bairleins Überlegungen wären ausgehend von der Internet-Präsenz des Cycle weiter produktiv zu machen. Es

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das ist hier von besonderem Interesse, die Spielorte – bezeichnenderweise mit Ausnahme des Opernhauses, das so zu einer Art Wirtskörper wird, der die übrigen Orte in sich zur Darstellung bringt. Das Gebäude wird, so könnte man weiter sagen, zu einer konkretisierten Metapher für das Verständnis von Theater als einem Hypermedium, wie ich es oben als leitend für meine Überlegungen vorgestellt habe. Wie im Vorigen angekündigt, interessiert im Zusammenhang mit dem hier nur knapp skizzierten und an anderer Stelle gründlich zu entwickelnden Konzept von Mimesis (als Figur der Überschreitung in der Wiederholung oder vice versa) in erster Linie die filmische Präsentation von Blickverhältnissen, die den Theaterraum durchkreuzen und ihn dadurch immer wieder neu gliedern. Sie wiederholt damit, so die These, den schweifenden Blick des Theaterzuschauers als einen gelenkten für den Filmzuschauer, dessen Wahrnehmung sich – selbst mimetisch – der des Theaterzuschauers annähert.36 Neben der Queen of Chain, Her Diva und den Pagen der Königin37 befinden sich mit den Orchestermusikern und ihrem Dirigenten sowie den weißen Jakobinertauben weitere Akteure im Theaterraum. Allen Akteuren kommt, nimmt man das theatrale Dispositiv als rahmengebend an, eine je spezifische Rolle zu. Die vorderhand eindeutig scheinenden Rollenzuweisungen werden jedoch im Fortgang des Films zusehends performativ zur Disposition gestellt, ja aufgelöst: Die Queen etwa, präsentiert zunächst als einzige Zuschauerin einer königlichen Separatvorstellung, beginnt nach der Ouvertüre selbst (in ungarischer Sprache) zu singen und erhält so den wäre darüber hinaus zu untersuchen, ob die Beschreibung der zentralen, im New Yorker Guggenheim Museum angesiedelten Passage von CREMASTER 3 als pars pro toto für den gesamten Zyklus nicht auch für das Geschehen im Opernhaus eine Berechtigung hätte: Auch das Guggenheim-Museum taucht in der entsprechenden schematischen Darstellung als Akteur nicht auf (anders als das Chrysler Building, der Giants Causeway und der Cloud Club); vgl. http://www.cremaster. net/crem3.htm (11.05.2014). 36 | Vgl. zur Verhandlung theatraler Blick- und Raumverhältnisse im Film die grundlegende Studie von S. Diekmann: Backstage; im Zentrum steht dort jedoch gerade nicht die »Schauseite« des Theaters. 37 | Die Pagen sind durch Kostüm und Funktion in ihrer Geschlechtlichkeit relativiert – der besseren Lesbarkeit halber werde ich sie im Folgenden mit der maskulinen Form ›Pagen‹ bezeichnen. Sie werden tatsächlich von einem (weiblichen) eineiigen Zwillingspaar dargestellt.

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Status der Hauptfigur in einer Oper. Ihre Königsloge wird lesbar als zweite Bühne gegenüber der ersten, die selbst unbespielt bleibt, während Her Diva die durch die Architektur des Theaterinneren definierte Grenzregion zwischen Schau- und Spielraum dadurch für sich markiert, dass er ein Satinband längs der Vorhangslinie auslegt und den Proszeniumsbogen umklettert.38 Die Pagen, die die Queen über eine Freitreppe in die Königsloge geleiten, fungieren als Mittler zwischen den Spielorten, zugleich aber auch als Saaldiener, die die Ordnung des Raums performativ bestätigen, indem sie die Zuordnung der Figuren zu ihren Orten und die Grenzziehungen zwischen den Räumen wiederholen: Sie führen die Queen in ihre Loge und platzieren die Jakobinertauben so, dass diese den Weg in die ›Katakomben‹ des Theaters, die Gellért-Bäder finden, in der Königsloge nämlich; mittels angeknöpften Satinbändern werden die Tiere zudem am Thron der Königin, nahe den Gucklöchern befestigt. Die Pagen beschreiten die Vorderbühne, um dort das von Her Diva ausgelegte Satinband zu richten. Und sie deuten auf die Gucklöcher im Thron der Queen. Die ihrem Zeigen folgende Kamera lenkt den Blick der innerfilmischen Betrachterin – der Queen – wie den eines außerfilmischen Betrachters in die (topologisch unter dem Opernhaus lokalisierten) Gellért-Bäder. Während die Pagen lediglich in der Horizontalen nicht ortsgebunden sind, zu den Katakomben des Opernhauses jedoch keinen Zugang haben und auch das topologisch unterbestimmte Außen des Gebäudes, die Stadt Budapest, nicht betreten, sind die Jakobinertauben wie erwähnt in der Lage, durch die Gucklöcher im Thron in die unter dem Opernhaus lokalisierte Anderwelt zu gelangen. Sie üben ihre Vermittlerfunktion jedoch ohne Gesten des Zeigens, sondern allein durch Anwesenheiten aus; und impulsgebend für ihren Wechsel in die Anderwelt ist das Handeln der Pagen. Eine auf gänzlich andere Art und Weise herausgehobene Position nehmen die Orchestermusiker und ihr Dirigent ein. Sie finden in dem im Internet lancierten Schema, wie das Opernhaus selbst, keine Erwähnung und werden so ex negativo als ein Organ des Wirtskörpers ›Opernhaus‹ 38 | Vgl. dazu auch den Aufsatz von Sascha Pöhlmann in diesem Band, der im Ausgang von Maria Gadegaard (»Gender Displacement: A Queer-Theoretical Reading of Matthew Barney’s CREMASTER 4«, SMK Art Journal 6 (2002), S. 138–155.) das Konzept der queerness jenseits des Gender-Diskurses für die Analyse von Raum und Zeitstrukturen des CREMASTER fruchtbar macht, sowie N. Spector: Nur die perverse Phantasie kann uns noch retten, S. 67.

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lesbar. Ihr Ort ist, wie es der tradierten Topologie eines Opernhauses seit dem ausgehenden 19. Jahrhunderts entspricht, der Orchestergraben. Der Dirigent markiert – wie der sich öffnende Vorhang das bezüglich der Raumordnung tut und ebenfalls gemäß allgemeiner Konvention – den Beginn der Oper, indem er zum Dirigat ansetzt. Die Figur, die der Film außerhalb des Theaters und auch außerhalb seiner Katakomben lokalisiert – das ist Her Magician, ein Double oder Wiedergänger von Harry Houdini, dem »Hausgeist des CREMASTER-Zyklus«39 –, scheint in den verschiedenen Sequenzen, in denen er auftritt, auf je spezifische Art und Weise weniger real, weniger greifbar und in anderem Maße narrativ eingebunden als die dem Theater-Innenraum zugeordneten Akteure. Damit greift der Film den klassischen Topos des Theaters im Theater auf, indem es ihn, wenngleich in Umkehrung der Markierung, wiederholt: Das Geschehen im Theater selbst wird hier zur primären Fiktion, der die Bilder und Szenen, die außerhalb des Theaters in der Stadt Budapest spielen, funktional und strukturell beigeordnet sind. Man könnte auch sagen: Das Außerhalb des Theaters wird zur Heterotopie (Foucault) des damit heterogenisierten Raums des Theaters. Die Geschehnisse in diesem Außerhalb hingegen werden lesbar als Imaginationen, Erinnerungen oder außersinnliche Wahrnehmungen der Queen of Chain (nicht zuletzt auch durch ihren Gesang, der sich freilich nur demjenigen unmittelbar erschließen kann, der des Ungarischen mächtig ist). So gewinnt die leere Bühne des Opernhauses die strukturelle Qualität eines Projektionsfeldes, auf dem die außerhalb stehenden Figuren durch die Imagination der Queen – quasi in leibhafter Abwesenheit (Bernhard Waldenfels) – erscheinen. In dieser Perspektive wird auch Her Diva zu einer Figur mit vermittelnder Funktion, ja man könnte mit einigem Recht sagen: zum Trickster. Das im primären Setting verkehrte Verhältnis der Fiktionsordnungen (das Außerhalb des Theaters als durch Akte des Fingierens und der Imagination weiter entfernt vom außerfiktionalen Referenz(wert)en als der Innenraum) wird durch diese Markierung des leer bleibenden Bühnenraums wieder dem Regime traditioneller – das heißt in diesem Fall: im späten 19. Jahrhundert geprägter – theatraler Blickordnungen untergeordnet. Im Folgenden will ich nun an einigen exemplarischen Sequenzen von CREMASTER 5 im Detail zeigen, wie die Blickverhältnisse, die der Blick der Kamera aufspannt, theatrale Blickverhältnisse wiederholen und in der Wiederholung deren Überschreitung vollziehen oder doch als möglich prä39 | N. Spector: Nur die perverse Phantasie kann uns noch retten, S. 66.

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sentieren. Diese spezifische Form von Medienwechsel, die in CREMASTER 5 durchgeführt und verhandelt wird, ist, so die These, lesbar im oben skizzierten Sinne von Mimesis und macht insbesondere das Konzept einer Mediologie der Mimesis plausibel. Meine exemplarischen Analysen sollen sich an den verschieden gearteten Gesten des Zeigens orientieren, die der Film präsentiert und selbst vollzieht. Ich setze zunächst an jenen Zeigegesten an, die der Architektur des Theaterraums eingeschrieben sind und denen der Blick der Kamera folgt, die entsprechend als materiale und pragmatische Bedingungen eines (historisch spezifischen) theatralen Dispositivs zu beschreiben wären. Darunter fallen zunächst architektonische Strukturen wie die Ausrichtung von Bühne und königlicher Loge aufeinander, in einem zweiten Schritt dann aber auch anthropomorphe Skulpturen, denen der Vollzug körperlicher Deiktika eingeschrieben ist. Im Anschluss frage ich nach Zeigegesten, die die im Vorigen bereits vorgestellten Akteure vollziehen (etwa die Pagen, die auf die Gucklöcher im Thron der Königin weisen), und schließlich danach, wie die Kamera die Deixis der Figuren verfolgt, auch deren Blicke nachzeichnet und zur Wiederholung bringt. Diese Formen des Zeigens und die Blickordnungen, die sie wiederholen, sind zwar typologisch verschieden und systematisch trennbar, nicht jedoch im Verlauf der Analyse, da sie einander zumeist überlagern, ja in einem Verhältnis des wechselseitigen Auslösens und der Korrespondenz zu stehen scheinen. Die dem Blick des Rezipienten durch die Perspektivierung qua Kamerafahrt suggerierten Verhältnisse von Ursächlichkeit und Folge treten in Konkurrenz zu den Blickregimes, die der Theaterraum, beziehungsweise das Dispositiv, für das er zu stehen kommt, vorgibt; und diese Konkurrenz- und Wechselverhältnisse zu untersuchen, setzen sich die folgenden Analysen zur Aufgabe. Im Hintergrund meiner Überlegungen steht dabei die These, dass das Wiederholte, also hier die Theatersituation, nicht nur selbst im Film in anderer Gestalt erscheint, sondern dass das Wiederholte ebenso die Wiederholung prägt und sie in ihrer medialen Verfasstheit modifiziert, ja das mediale Dispositiv verändert, in dem es selbst – seinerseits modifiziert oder transformiert – zur Darstellung kommt. Wiederholung ist also nicht reproduktiv zu verstehen, sondern operativ, denn »[w]iederholbar ist nicht etwa der Gegenstand, der die Wiederholbarkeit gleichsam erklärt. Wiederholbar ist nur die Operation selbst […]«40. 40 | Luhmann, Niklas: Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt a. M.: 1990, S. 107. Berührungspunkte hat mein Konzept auch mit Gilles Deleuzes poststruk-

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Wenngleich die Trennung verschiedener Formen des Zeigens und Blickens in actu analysandi wenig zielführend scheint, setze ich hier doch bei einer typologisch primären Form des Zeigens an, nämlich bei den Zeigegesten, die der Architektur eingeschrieben sind. Wie in der vorstehenden kurzen Einführung bereits angesprochen, kann das Gebäude der Ungarischen Staatsoper, der zentrale Spielort von CREMASTER 5, als Wirtskörper verstanden werden, der weitere Körper, insbesondere hier die der Akteure, integrieren kann (und zwar der menschlichen wie der nicht-menschlichen: Akteure im Sinne des bereits genannten Figurenschemas sind ja auch die Spielorte außerhalb des Opernhauses).41 In dieser Perspektive erscheint das Eintreten der Figuren ins Theater als Invasion im Wortsinne: als eine Invasion, die einer Besiedelung durch Fremdorganismen entspricht – schon die organologische Ikonografie der dem Theaterraum applizierten Gegenstände, etwa des fleischfarbenen, aus organisch anmutendem Kunststoff geformten Throns der Queen of Chain, macht diese Erkenntnismetapher plausibel. Doch indem die Fremdorganismen den Wirtsorganismus befallen, durchlaufen sie auch selbst einen Prozess der Modifikation und Transformation, turalistischem Konzept von Differenz und Wiederholung; ich gehe jedoch, wie deutlich geworden sein sollte, von anderen epistemischen Prämissen aus als das psychoanalytisch-semiotisch grundierte Modell von Deleuze und ziele auch auf einen anderen systematischen Kontext, nämlich auf das Verhältnis von Mediologie und Mimesis. Deleuze stellt der Vorstellung einer nackten Wiederholung, die statisch, symmetrisch und unidirektional an diachroner Entwicklung orientiert sei, die einer bekleideten, das heißt dynamischen und asymmetrischen, immer potentiell bi- oder polydirektionalen Wiederholung gegenüber. Diese letztere wirke im Untergrund auch der nackten Wiederholung: »Es gibt keinen ersten Term, der wiederholt würde; und noch die Kinderliebe zur Mutter wiederholt andere Lieben, die wir als Erwachsene für andere Frauen empfinden« (Deleuze, Gilles: Differenz und Wiederholung, München: 1992, S. 34). Auch Ideen von Ursprünglichkeit und von Urbild-Abbild-Relationen sind damit unmöglich: »Dasselbe Ding verkleidet und ist verkleidet« (ebd.). 41 | Diese Lektüre trifft sich mit einer Bemerkung Matthew Barneys, der die ›Anatomie‹ des Opernhauses mit der Anatomie des menschlichen Brustkorbs analog setzt (vgl. N. Spector: Nur die perverse Phantasie kann uns noch retten, S. 65); insbesondere meine Interpretation des Orchesters als ›Organ‹ des Wirtskörpers ›Opernhaus‹ gewinnt vor diesem Hintergrund an Plausibilität.

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der in der wechselseitigen Manipulation der Figuren (etwa wenn die die Gellért-Bäder bewohnenden Wassergeister die von oben eindringenden Jakobinertauben der Queen mit den Satinbändern am Skrotum von Her Giant befestigen), aber schon in der hybriden, Menschliches, Tierisches und Pflanzliches kompilierenden Gestalt der Figuren angelegt ist. Und die Bewegung der Invasion vollziehen die agierenden Figuren ebenso wie die Orte, an denen sich die als Imaginationen der Queen lesbaren Geschehnisse um Her Magician alias Harry Houdini ereignen. So wiederholt sich der Sprung von Her Magician in die Donau, der selbst gerade durch diesen Sprung in besonderer Weise als Wiedergänger von Harry Houdini präsentiert wird, gehörte doch die Entfesselung beim Sprung in den Fluss zeitgenössischen Berichten zufolge zu einer der Hauptattraktionen in Houdinis Auftritten.42 Und dieser Wiederholung liegt eine komplexe Struktur von Aneignung und Distanz, von Überschreitung und Rückkopplung zugrunde: Die Queen missversteht den Sprung als suizidalen Akt; und er wiederholt sich am Proszenium, vor dem Hintergrund der leeren Bühne, als Sturz von Her Diva. Erneut erscheint die leere, durch die grau-blaue, diffuse Beleuchtung flächig wirkende Bühne als screen für die (dem Filmzuschauer immer wieder in kurzen Sequenzen präsentierten) – hellsichtigen oder sich in Erinnerungen verlierenden? – Imaginationen der Queen of Chain;43 und die Bedeutung, die die Queen qua Gesang dem außerhalb des Opernhauses lokalisierten, als traumähnlich präsentierten Geschehen zuschreibt, prägt dessen Wiederholung durch Her Diva, dessen Kopf nach dem tödlichen Sturz in eine pinke, viskose Masse zerfällt, die sich in der Form stilisierter Hoden auf der Vorhangslinie ausbreitet. Der (als suizidal gedeutete) Sprung wird in einem (als Unfall lesbaren) Sturz und schließlich in einer Ohnmacht der Queen wiederholt, die sich am Rande der die ersten spiegelnden zweiten Bühne, an der Brüstung der Königsloge vollzieht. Die Queen kommt auf 42 | Vgl. etwa N. Spector: Nur die perverse Phantasie kann uns noch retten, S. 68, Anm. 114. 43 | Das Geschehen scheint schon durch seine Auslagerung ins winterliche Budapest, vor allem aber durch die wenig intensive, kontrastarme Farbigkeit und insbesondere durch das Verhältnis von Bild und Gesang auf einer anderen Fiktionsebene angesiedelt als die Handlung im Opernhaus. In der Begegnung von Her Magician und der Queen wird die Interpretation als Traumbild oder Imagination der Kettenkönigin besonders sinnfällig: Das Geschehen ist durchwegs mit dem Gesang der Queen unterlegt; die Kamera gibt noch während der Arie den Blick auf das Profil der Queen mit geschlossenem Mund und geschlossenen Augen frei.

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dem Fußteil ihres Throns zu liegen, und der aus ihrem Mundwinkel rinnende Speichelfaden stellt, indem er durch die Löcher des Throns fällt, eine Verbindung zu den Katakomben des Theaters her. Der Speichelfaden teilt sich im Fall und hinterlässt im Auftreffen auf der Wasseroberfläche zwei konzentrische Kreismuster, die konnotativ mit dem zerfallenen Kopf von Her Diva verbunden sind. In der Benennung des Speichelfadens, der im bereits zitierten Schema als »The Tears of Ehrich Weiss« alias Harry Houdini, als Akteur also aufgeführt wird, schließt sich der Kreis zum scheinbaren Suizid von dessen Wiedergänger, Her Magician. Solcherart vom theatralen Rahmen einerseits, von den Suggestionen der Kamera andererseits auf Dauer gestellte architektonische Deiktika wie die aufeinander verweisenden Räume von Bühne und Königsloge (oder auch von Theaterraum und seinem Untergrund) erfahren eine Verstärkung, beziehungsweise »eine Transmutation des Stoffs« nicht (wie es Stephen Halliwell in seiner überzeugenden Relektüre von Aristoteles beschreibt) der Wirklichkeit, sondern des Geschehens außerhalb des Opernhauses »in eine verstärkte – d.h. eine intensivere, und damit auch verbindlichere Gestalt«44 . Mimesis, wie ich das Konzept im Anschluss an Aristoteles entwickelt habe, erscheint so als ein Konzept, das analytisch an CREMASTER 5 das nachzuzeichnen erlaubt, was mit dem asymmetrischen Begriffspaar von Hybridität und Hybris noch unzureichend beschrieben scheint. In der figuralen Konkretisation solcher architektonischer Gesten liegt ein weiterer Aspekt der den schweifenden Blick des Theaterzuschauers für den Filmzuschauer wiederholenden Kamera, also der strukturalen Mimesis im vorgeschlagenen Sinne. So wird die Struktur des Opernhauses, das zunächst als auf die Bühne ausgerichteter Raum eingeführt wird, nicht nur durch die Herstellung semantischer Bezüge zwischen dem Geschehen im Proszeniumsraum und dem Geschehen in der Königsloge topologisch umgedeutet. Der Blick der Kamera verweilt zudem in der Loge der Queen und richtet den Betrachter so auf die Gegenbühne aus. Die Pagen der Queen of Chain werden, wie oben bereits angedeutet, als die zentralen Deixis-Figuren eingeführt: Sie weisen die Königin und damit auch den Zuschauer des Films bereits in der Ouvertüre auf die Gucklöcher im Thron hin, die den Blick auf die Wasserfläche der Gellért-Bäder freigeben; und sie bestimmen den Fokus des königlichen Zuschauens, das die Kamera für den Betrachter wiederholt. Durch Kleidung und Gestik zunächst als Diener eingeführt, übernehmen die Pagen zusehends die Funktion von 44 | S. Halliwell: Aristoteles, S. 180.

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Trickster-Figuren, die zwischen den verschiedenen Fiktionsebenen des Films vermitteln und dem Betrachter die Topologie des Opernhauses und seiner Katakomben erschließen: Während die Queen of Chain ihre königliche Loge (in die sie die Pagen geleitet haben!) und Her Diva den Bereich des Proszeniumsbogens nicht verlässt, treten die Pagen an beiden Orten auf und vermitteln zwischen ihnen. Die grundlegende Geste der mimetischen Wiederholung, die CREMASTER 5 im theatralen Paradigma verhandelt, vollzieht sich nicht allein strukturell, als filmische Wiederholung theatraler Blickverhältnisse und auf den Theaterraum und seine Topologie bezogener Deixis. Auch die Figurenkonstellation und die Gestalt der topologisch aufeinander verweisenden Spielorte Opernhaus, Kettenbrücke und Gellért-Bäder lassen sich im oben entwickelten Sinne von Mimesis als ›Wiederholung von etwas in etwas anderem auf eine spezifische (andere) Art und Weise‹ lesen. Die Darsteller der Pagen stellen als eineiige Zwillinge in identischer Kostümierung vorderhand eine statische, ›nackte‹ (Deleuze) Form der Wiederholung vor, die jedoch durch Verschiebungen und Unterschiede im konkreten Agieren – also in der Dynamisierung – ad absurdum geführt und als unmöglich entlarvt wird. So stehen die Pagen mit leicht verschiedener Stellung von Armen und Beinen rechts und links neben der Queen, ihr Nicken ist nicht völlig synchron; und auch die für sie charakteristischen Zeigegesten führen sie auf je unterschiedliche Art und Weise aus (diese Unterschiede sind aber zu deutlich, als dass sie als Ungenauigkeit in der darstellerischen Umsetzung zu werten sein könnten). Einen besonderen Fall der von der Kamera ausgeführten Zeigegeste stellt das Einander-Anblicken als Ausschließen der Kamera dar, das als solches durch den Blick von außen beobachtet wird: Als die Queen of Chain an die Brüstung ihrer Loge tritt, um das Umklettern des Proszeniumsbogens und den im Sturz von Her Diva wiederholten Sprung Her Magicians mit ihrem Gesang zu begleiten, fassen die Pagen sich hinter ihrem Rücken bei den Händen und blicken einander unisono singend an, dabei nicken sie nahezu synchron. Die Figur der mimetischen Wiederholung von Blicken und Gesten durch die Kamera läuft hier ins Leere; sie wird ersetzt durch eine Art der Feedback-Schleife45 in einem ad hoc von den Zwillings-Pagen generierten, eigentlich müsste man sagen aktualisierten, autopoietischen System. 45 | Zum (ursprünglich aus der Kognitionswissenschaft stammenden, späterhin auch soziologisch fruchtbar gemachten) Begriff der (autopoietischen) Feedback-Schleife und seiner Konkretisierung im Kontext theaterwissenschaftlicher

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Die drei von Barney verkörperten, der Queen zugeordneten Figuren Her Diva, Her Giant und Her Magician finden ihre Entsprechung in eben dieser Zuordnung wie auch in der Identität des sie zur Darstellung bringenden Körpers und in Details von Kostüm und Maske: So wiederholen sich die Lilienkelchen nachgebildeten Beine von Her Giant in angedeuteter Form bei Her Magician und symbolisch auch in Her Divas barock anmutenden rosa Pumphosen. Doch auch die Topologie der Orte, denen sie zugewiesen sind, lässt strukturelle Entsprechungen erkennen. Alle drei Figuren beschreiten bei ihrem ersten Auftreten Grenzregionen, die durch die Zentralsetzung des Opernhauses als Wirtskörper ausgehend vom (von Her Diva umkletterten) Proszeniumsbogen und seiner Bedeutung für das theatrale Dispositiv des ausgehenden 19. Jahrhunderts in ihrer historischen Kontingenz lesbar sind. Wie der Proszeniumsbogen Schau- und Spielraum im Theater sowohl trennt als auch verbindet, so trennt und verbindet das zwischen den beiden Becken der Gellért-Bäder aufgestellte Bassin dieselben; und ebenso markiert die Lánchíd-Brücke die Grenzregion zwischen den – zuvor durch die Donau getrennten – historischen Kernen der ungarischen Hauptstadt, Buda und Pest. Als der Blick nach dem – tödlichen? – Absturz von Her Diva und dem – suizidalen? – Sprung von Her Magician in die Donau erneut durch die Gucklöcher im Thron auf die Wasserfläche der Bäder fällt, wird er gelenkt nicht nur durch das Zeigen der Pagen. Vielmehr bündeln diese die verstreuten Zeigegesten der Architektur: Die Blickachse zwischen Bühne und königlicher Loge stellt ja zunächst eine Gleichwertigkeit beider als foci des Zuschauerblicks her; die Kamera vollzieht das Schweifen des Blicks zwischen Proszeniumsbühne und Loge nach. Die Kamera lenkt den Blick des außerfilmischen Zuschauers auf eine figural konkretisierte Zeigegeste der Architektur: Die architektonisch (sowohl durch die Positionierung gegenüber der Bühne als auch durch Größe und dekorative Ausgestaltung) herausgehobene Stellung der Königsloge wiederholt sich in rechts und links über der Loge befindlichen Skulpturen, die wohl die Musen der Tragödie und der Komödie, Melpomene und Thalia darstellen. Melpomene weist auf die in der Königsloge befindliche Person und verkehrt somit die dem Theaterraum eingeschriebene Ausrichtung des Blicks auf die Bühne, weist sie doch dem König – hier der Königin – selbst eine Rolle in der Inszenierung zu. Die Kamera wiederum lenkt den der Deixis der Musen folgenden Begriffsbildung vgl. E. Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, hier besonders S. 58–62.

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Blick auf den Thron der Königin, folgt dann jedoch mit dieser dem Blick der Pagen, die durch die Gucklöcher in die Gellért-Bäder hinabschauen. Die Pagen weisen sich gegenseitig auf die Komik des beobachteten Geschehens hin: das Tummeln der Nymphen unter Wasser, ihre – spielerische? – Flucht vor Her Giant, der die Trennungslinie zwischen den Bädern abschreitet, sein Spiel mit den Jakobinertauben, die die Wassergeister schließlich mit pastellfarbenen Satinbändern an seinem Skrotum befestigen, das mit dem Auffliegen der Tiere nach oben gezogen wird. Der Blick in die Gellért-Bäder erscheint so als eine Art Peep-Show; und die Kamera vollzieht diesen Blick für den Zuschauer nach, so dass dieser sich gleich zweifach in der Rolle des Voyeurs wiederfindet, beobachtet er doch nicht nur das Geschehen ›im Bauch des Opernhauses‹, sondern auch die innerfilmischen Voyeure bei ihrem obszönen Tun. CREMASTER 5, so könnte man sagen, wird beherrscht vom Regime dreier Blicke, die einander je nach situativem Kontext wiederholen, überbieten und widersprechen können: Der vom theatralen Dispositiv regulierte und im kameratischen Nachvollzug architektonischer Deixis wiederholte Blick auf die Bühne und seine Verkehrung als Blick in die Fürstenloge, sodann der imaginative Blick in ein Innen, das als Außen des Opernhauses konkret wird und über die Codierung der Bühne nicht als »leerer Raum« (Peter Brook), sondern als Projektionsfläche in die theatrale Präsentationssituation re-integriert wird; und schließlich der Blick in die Gellért-Bäder, der als eine Art mise en abyme jenen voyeuristischen Blick wiederholt, der dem Theaterzuschauer historisch zukommt, seitdem dem abgedunkelten Zuschauerraum die Bühne als erleuchteter Guckkasten gegenübertreten kann – eine Position, die erst das Theater der jüngeren Vergangenheit programmatisch relativiert hat. Dass die Arbeit Matthew Barneys sowohl auf einer konzeptuellen Meta-Ebene als auch auf der Ebene der Darstellung als Modell und Metapher den (menschlichen) Körper und seine physiologischen Gesetzmäßigkeiten zugrunde legt und hier ein Konzept von Produktivität sinnfällig werden lässt, das über ein Verständnis von Künstlerschaft einerseits hinausweist, es andererseits zum Paradigma werden lässt für Prozesse von Produktion generell – dies ist in der Forschung vielfach herausgearbeitet worden. Dabei stand bislang der Körper als Objekt gleichsam anatomischer Studien Pate, wie er auch im CREMASTER begegnet: Der Körper als Ort und Medium (auch künstlerischer) Selbstbefragung und Selbstvergewisserung. In der Auseinandersetzung mit CREMASTER 5 habe ich, ausgehend von den Blickregimes, die die Theatersituation vorgibt sowie ihrer Wiederholung

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und transformativen Aneignung durch den Blick der Kamera, den Körper nun als perspektivierende Instanz in den Fokus gerückt: Indem die Kamera sich dem mal schweifenden, mal fokussierenden Blick des Theaterzuschauers anverwandelt, setzt sie den Körper eines Betrachters voraus, und zwar gerade aufgrund der Rahmung durch die Theatersituation, die selbst eine des Betrachtens und Betrachtet-Werdens ist. Mimesis im oben vorgeschlagenen Sinne von Überschreitung in der Wiederholung okkupiert den Körper als Medium der Perspektivierung, indem sie sich seinen Beschränkungen scheinbar unterwirft. In Bewegungen der Grenzüberschreitung (etwa der Loslösung des kameratischen Blicks vom raumzeitlichen Kontinuum, als das Opernhaus und Gellért-Bäder präsentiert werden) werden Räume außerhalb des Theaterraums in selbigem präsent – Räume, die in ihrer leibhaften Abwesenheit als solche an den Wahrnehmungsrahmen des Theaterraums zurückgebunden sind, indem sie auf die leere Bühne als blank slate, als open screen bezogen werden. Der verkörperte Blick des Theaterzuschauers wird also zugleich in seiner Begrenztheit ausgestellt und als raumkonstituierende Perspektivierungsinstanz in sein Recht gesetzt. So fällt eine Mediologie der Mimesis gerade nicht mit der Frage danach zusammen, ob das Theater, ob der Körper im Theater, ja ob der Körper ›an und für sich‹ ein Medium sei; vielmehr wird Medium selbst zu einem Perspektivbegriff insofern, als die Beschreibung im skizzierten Sinne mimetischer Prozesse die Frage nach den Prozessen der Mediatisierung (als aneignende Wiederholung oder wiederholende Aneignung) in immer neuer, immer anderer Perspektive aufwerfen kann.46

46 | Und hier wäre mein analytisches Modell im Grundsatz anschließbar an einen systemtheoretischen Medienbegriff, wie ihn Niklas Luhmann vorgeschlagen hat; auch Luhmann setzt ja ›Medium‹ (ebenso wie ›Form‹) als Perspektivbegriff an (vgl. etwa N. Luhmann: Kunst; S. 165–214).

Autorinnen und Autoren Josef Bairlein studierte Theaterwissenschaft, Philosophie und Neuere deutsche Literatur an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Von 2007 bis 2009 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter im LMUexcellent-Projekt Networking. Zur Performanz distribuierter Ästhetik. Er ist Lehrbeauftragter an der Theaterwissenschaft München und als Dozent an der Bayerischen Theaterakademie tätig. Dr. Miriam Drewes ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Theaterwissenschaft der Ludwig-Maximilians-Universität München. Lehrtätigkeiten an der Universität Bayreuth sowie der Hochschule für Film und Fernsehen München. Darüber hinaus als Filmdramaturgin tätig. Publikationen: Die Bühne als Ort der Utopie. Zur Ästhetik von Ereignis und Präsenz, Bielefeld: transcript 2010; Die Passion des Künstlers. Kreativität und Krise im Film. Hg. zus. m. Christopher Balme/Fabienne Liptay, München: edition text+kritik 2011. Dr. phil. Kristiane Hasselmann ist Wissenschaftliche Koordinatorin und Geschäftsführerin des an der Freien Universität Berlin angesiedelten Sonderforschungsbereichs 980 »Episteme in Bewegung. Wissenstransfer von der Alten Welt bis in die Frühe Neuzeit«. Promoviert mit einer historiographischen Arbeit, die den freimaurerischen Selbstformungsanspruch als Modellfall einer in aristotelischer Tradition verankerten, im 18. Jahrhundert erneuerten Habitusethik analysiert (Die Rituale der Freimaurer. Zur Konstitution eines bürgerlichen Habitus im England des 18. Jahrhunderts, Bielefeld 2009). Dr. Christiane Hille ist wissenschaftliche Assistentin am Institut für Kunstgeschichte der Ludwig-Maximilians-Universität München, und gegenwärtig Post Doc Fellow am Institut für Kunstgeschichte Florenz. Birgit Kulmer studierte Kunstgeschichte und Neuere/Neueste Geschichte in Berlin und Venedig. Zurzeit promoviert sie über Moving Subjects - Prozes-

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A utorenverzeichnis

sionen und Paraden in der zeitgenössischen Kunst bei Prof. Susanne von Falkenhausen an der Humboldt-Universität zu Berlin. Dr. habil. Sascha Pöhlmann ist Dozent für amerikanische Literaturgeschichte an der Ludwig-Maximilians-Universtität München. Nach seiner Promotion zu Pynchon’s Postnational Imagination (Heidelberg: Winter, 2010) hat er sich dort 2014 mit der Arbeit Future-Founding Poetry: Topographies of Beginnings from Whitman to the Twenty-First Century habilitiert. Dr. Julia Stenzel ist Juniorprofessorin für Theaterwissenschaft an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz. Promotion (München) 2007, 2009 bis 2012 Bayern excellent-Projekt zur Reformulierung der Antike. Seit 2011 Mitglied im Jungen Kolleg der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Forschungsschwerpunkte: Antike-Rezeption im Vormärz, Theater- und Medientheorie, Kulturwissenschaft und Cognitive Science, Theorien und Praxen der Historiografie, mittelalterliche Theatralität. Stephanie Syring ist als Autorin und Lektorin für diverse Verlage in München tätig. Davor war sie von 2012 bis 2014 wissenschaftliche Volontärin am Zentrum für Kunst und Medientechnologie in Karlsruhe. 2011 beendete sie ihr Studium der Kunstgeschichte, Theaterwissenschaft und Kunstpädagogik an der Ludwig-Maximilians-Universität München mit einer Arbeit über den paradoxen Moment des zeitgleichen Auftretens von Bewegung und Stillstand in den Videoarbeiten Erwin Wurms. Dr. Eva Wruck studierte Kunstgeschichte und Germanistik an der Ruhr-Universität Bochum, 2009 bis 2012 Promotionsstipendiatin des Cusanuswerks, 2012 Promotion mit einer Arbeit zu Matthew Barneys CREMASTER Cycle, 2012 bis 2013 Vertretung der Akademischen Ratsstelle am Kunstgeschichtlichen Institut der Ruhr-Universität, Veröffentlichungen unter anderem zu moderner Fotografie, zeitgenössischer Kreuzwegdarstellung, Richard Wagner und Matthew Barney. Dr. Giovanna Zapperi lebt in Paris und ist Professorin an der Ecole Nationale Supérieure d‘Art in Bourges. Sie war Fellow des Institut d‘Etudes Avancées in Nantes, »Rudolf-Arnheim«-Professorin an der Humboldt-Universität zu Berlin, und Fellow der Académie de France in Rom – Villa Medici. Zahreiche Publikationen, unter anderem: L‘artiste est une femme. La modernité de Marcel Duchamp (Paris: PUF 2012) und Lo schermo del potere. Femminismo e regime della visibilità (mit Alessandra Gribaldo, Verona: Ombre Corte 2012). 

Bildnachweis Christiane Hille: (Abb. 1) Ellyn Childs Allison (Hg.), Barnett Newman. A Catalogue Raisonné, Yale University Press, New Haven & London 2004, S. 85; (Abb. 2) Ellen G. Landau, Jackson Pollock, Thames & Hudson, London 1989 (Nachdruck 2010), S. 187; (Abb. 3) Barnett Newman, Robert Motherwell, Alex Katz et al., Jackson Pollock – Freund, Kollege, Vorbild, aus dem Amerikanischen von Kurt Rehkopf, Piet Meyer Verlag, Bern 2012, S. 102; (Abb. 4) Namuth, Hans: L’atelier de Jackson Pollock, Paris 1978, unpaginiert; (Abb. 5) Kraynak, Janet (Hg.): Please Pay Attention Please: Bruce Nauman‘s Words. Writings and Interviews, The MIT Press, Cambridge & London 2003, S. 15; (Abb. 6) Robert Morris 1961–1994, Ausst.-Kat., Centre Georges Pompidou, Paris, Paris 1995, S. 115; (Abb. 7) Copyright Matthias Stenzel; (Abb. 8) Ellyn Childs Allison (Hg.), Barnett Newman, A Catalogue Raisonné, Yale University Press, New Haven & London 2004, S. 85; (Abb. 9) Courtesy Gladstone Gallery, New York and Brussels; (Abb. 10) Courtesy Gladstone Gallery, New York and Brussels; (Abb. 11) Courtesy Gladstone Gallery, New York und Brussels. Birigit Kulmer: (Abb. 1) Courtesy Gladstone Gallery, New York and Brussels; (Abb. 2) Courtesy Gladstone Gallery, New York and Brussels; (Abb. 3) Courtesy Gladstone Gallery, New York and Brussels; (Abb. 4) Courtesy Gladstone Gallery, New York and Brussels. Eva Wruck: (Abb. 1) Courtesy Gladstone Gallery, New York and Brussels; (Abb. 2) Courtesy Gladstone Gallery, New York and Brussels; (Abb. 3) Courtesy Gladstone Gallery, New York and Brussels. Kristiane Hasselmann: (Fig. 1): Courtesy Gladstone Gallery, New York and Brussels; (Fig. 2) Courtesy Gladstone Gallery, New York and Brussels; (Fig. 3) Courtesy Gladstone Gallery, New York and Brussels; (Fig. 4) Courtesy Gladstone Gallery, New York and Brussels. Giovanna Zapperi: (Fig. 1) Courtesy Gladstone Gallery, New York and Brussels; (Fig. 2) Courtesy Gladstone Gallery, New York and Brussels.

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Peter Scheinpflug Formelkino Medienwissenschaftliche Perspektiven auf die Genre-Theorie und den Giallo Februar 2014, 308 Seiten, kart., 35,99 €, ISBN 978-3-8376-2674-2

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Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Gudrun Rath(Hg.)

Zombies Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 1/2014

Mai 2014, 120 Seiten, kart., 14,99 €, ISBN 978-3-8376-2689-6 Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften bietet eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über »Kultur« und die Kulturwissenschaften ­– die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur sowie historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus wird mit interdisziplinären Forschungsansätzen diskutiert. Insbesondere jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen kommen dabei zu Wort. Wenn die Toten zum Leben erwachen: Die Figur des Zombie ist nach wie vor populär. Aber was genau ist ein Zombie und woher rührt seine Faszinationskraft? Das aktuelle Heft der ZfK geht dem auf den Grund. Lust auf mehr? Die ZfK erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen 15 Ausgaben vor. Die ZfK kann auch im Jahresabonnement für den Preis von 25,00 € (international 30,00 €) bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]

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