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German Pages [197] Year 2023November 1
Buße in der Alten Kirche
herausgegeben von U. Volp
PEETERS
BUßE IN DER ALTEN KIRCHE
Studien der Patristischen Arbeitsgemeinschaft (SPA) herausgegeben von Johannes van Oort et alii 1. J. van Amersfoort & J. van Oort (Hrsg.), Juden und Christen in der Antike (1990) 2. J. van Oort & U. Wickert (Hrsg.), Christliche Exegese zwischen Nicaea und Chalkedon (1992) 3. E. Mühlenberg & J. van Oort (Hrsg.), Predigt in der Alten Kirche (1994) 4. J. van Oort & J. Roldanus (Hrsg.), Chalkedon: Geschichte und Aktualität (1997) 5. J. van Oort & D. Wyrwa (Hrsg.), Heiden und Christen im 5. Jahrhundert (1998) 6. C. Markschies & J. van Oort (Hrsg.), Zwischen Altertumswissenschaft und Theologie – Zur Relevanz der Patristik in Geschichte und Gegenwart (2002) 7. J. van Oort & D. Wyrwa (Hrsg.), Autobiographie und Hagiographie in der christlichen Antike (2009) 8. O. Hesse & J. van Oort (Hrsg.), Christentum und Politik in der Alten Kirche (2009) 9. H.C. Brennecke & J. van Oort (Hrsg.), Ethik im antiken Christentum (2011) 10. J. van Oort & W. Wischmeyer (Hrsg.), Die spätantike Kirche Nordafrikas im Umbruch (2011) 11. W. Kinzig, U. Volp & J. Schmidt (Hrsg.), Liturgie und Ritual in der Alten Kirche. Patristische Beiträge zum Studium der gottesdienstlichen Quellen der Alten Kirche (2011) 12. C. Markschies & J. van Oort (Hrsg.), Zugänge zur Gnosis (2013) 13. M. Wallraff (Hrsg.), Geschichte als Argument? Historiographie und Apologetik (2015) 14. P. Gemeinhardt (Hrsg.), Was ist Kirche in der Spätantike? (2017) 15. L.H. Westra & L. Zwollo (Hrsg.), Die Sakramentsgemeinschaft in der Alten Kirche (2019) 16. A. Müller (Hrsg.), Wohltätigkeit im antiken und spätantiken Christentum (2021)
Buße in der Alten Kirche
herausgegeben von Ulrich Volp
PEETERS
LEUVEN – PARIS – BRISTOL, CT
2023
A catalogue record for this book is available from the Library of Congress. © 2023. Peeters, Bondgenotenlaan 153, B-3000 Leuven D/2023/0602/50 ISBN 978-90-429-5116-7 eISBN 978-90-429-5117-4 All rights reserved. No part of this publication may be reproduced, stored in a retrieval system, or transmitted, in any form or by any means, electronic, mechanical, photo copying, recording or otherwise, without the prior permission of the publisher.
INHALTSVERZEICHNIS Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .VII Ulrich Volp Buße und Ethik in der Alten Kirche: Alte und neue Frageperspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1 Marco Frenschkowski Homeward Bound: Die Normativität des Ursprungs und die Ethiken der Umkehr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Harald Buchinger Die Buße als Problem der Liturgiewissenschaft . . . . . . . . . 63 Sarah-Magdalena Kingreen Antike Bußvorstellungen im Briefkorpus des Gregor von Nyssa – das gefühlspolitische Agieren Gregors in epistula 1 . . .93 Peter Gemeinhardt Charismatische Bußautorität in spätantiken Mönchs- und Heiligenviten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Julia Winnebeck Menschentötung. Ein Beispiel für Charakter und Praxis der frühmittelalterlichen Buße . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . .175 Verzeichnis der Namen vor 1500 . . . . . . . . . . . . . . . . .177 Verzeichnis der Namen nach 1500 . . . . . . . . . . . . . . . .179
Vorwort Ulrich Volp
Während der weltweiten COVID-19-Pandemie fand vom 2. bis 5. Januar 2022 die Tagung der Patristischen Arbeitsgemeinschaft (PAG) mit dem Titel „Die Buße in der Alten Kirche“ an der Johannes GutenbergUniversität in Mainz statt. Angesichts der Infektionslage und sich kurzfristig und fast unvorhersehbar ändernder Vorschriften zur Durchführung solcher Veranstaltungen war die Organisation dieses Treffens für alle Beteiligten eine Herausforderung. Am Ende ist es jedoch gelungen, diese 65jährige Tradition mit großer Beteiligung der deutschsprachigen Patristik fortzusetzen. Dabei half ein hybrides Format, wobei die – glücklicherweise letztlich erfolgreichen – Schutzmaßnahmen alle vor Ort Teilnehmenden an die Fragilität und an das Gefährdetsein des menschlichen Lebens in dieser Welt erinnerten. Etwa die Hälfte der Mitglieder fand den Weg nach Mainz, die übrigen nahmen digital teil. Von den sechs in diesem Band enthaltenen Tagungsbeiträgen, die Fokus und Inhalte der Veranstaltung dokumentieren, wurden je drei digital und drei vor Ort gehalten. Sie wurden ausnahmslos für den Druck überarbeitet und zum Teil erheblich erweitert. Von den Hauptvorträgen fehlt lediglich der Beitrag von Ludger Körntgen, dessen Hauptthesen aber in seiner Bonner Dissertation nachzulesen sind (Studien zu den Quellen der frühmittelalterlichen Bußbücher, Sigmaringen 1993). Diese Anmerkung signalisiert, dass die Tagung Mediävistinnen und Mediävisten, die seit gut drei Jahrzehnten ein erneuertes Interesse am älteren christlichen Bußwesen zeigen, mit der Welt der theologischen Patristik in ein weiterführendes Gespräch zu bringen vermochte. Für eine tiefergehende inhaltliche Einführung in die einzelnen Aufsätze sei den geneigten Lesern der erste Beitrag zu „alten und neuen Frageperspektiven“ (S. 1–19) ans Herz gelegt, weshalb ich mich an dieser Stelle auf den Dank an alle beschränken kann, die unter widrigen Umständen zum Gelingen dieses Projektes beigetragen haben: An erster Stelle gilt der Dank meiner Sekretärin Frau Rachel Friedrich, ohne deren Durchhaltevermögen und stetige Ermunterung die PAG wohl 2022 nicht stattgefunden hätte. Sie hat auch das Register erstellt und die Endkorrektur übernommen. Zu danken ist außerdem dem Vorbereitungskomitee,
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zu dem noch Prof. Dr. Volker Drecoll (Tübingen), Prof. Dr. Andreas Müller (Kiel) und Dr. Julia Winnebeck (Bonn) gehörten. Des Weiteren geht der Dank an meinen Assistenten, Herrn Dr. Benedict Totsche für vielfältige Unterstützung bei der Tagung und Hilfe bei den Korrekturgängen für das Manuskript, sowie meine damaligen studentischen Hilfskräfte Lara Hauzel und Lisa Sauter. Auch allen PAG-Mitgliedern ist zu danken, die in schwierigen Zeiten diesem Unternehmen die Stange gehalten haben und durch ihre Teilnahme und ihre Beiträge die Tagung und diese Publikation möglich gemacht haben. Schließlich gilt mein Dank auch dem Verlag Peeters und insbesondere Herrn Bert Verrept für die Aufnahme der PAG-Bände in die Reihe Studien der Patristischen Arbeitsgemeinschaft und für die verlegerische Betreuung.
Mainz, im Januar 2023 Ulrich Volp
Buße und Ethik in der Alten Kirche: Alte und neue Frageperspektiven Ulrich Volp (Mainz)
„Bei denjenigen, die durch Begierde und Lust in Sünden geraten, ist die folgende Unterscheidung vorzunehmen: Die eine (Sünde) wird Untreue (μοιχεία) genannt, die andere aber Hurerei (πορνεία).1 Aber für diejenigen, die Gefallen an präziseren Definitionen haben, ist die Verfehlung der Hure rei auch als Untreue zu betrachten, denn es gibt nur eine legitime Verbin dung, nämlich die zwischen einer Frau und einem Mann und einem Mann und einer Frau … Auch Sodomie (ζωοφθορία) und Knabenliebe (παιδεραστία) sind in diese letzte Kategorie einzuordnen, weil auch diese Untreue gegenüber der Natur darstellen. Denn Unrecht (ἀδικία) geschieht im Hinblick auf das Fremde und gegen die Natur … Als allgemeine/katho lische Behandlung ist der Mensch, der von einer leidenschaftlichen Raserei nach solcherlei Lüsten befallen ist, durch Bußen zu reinigen … Deswegen wird die Zeit der Buße/Umwendung als doppelt festgesetzt; … denn die Sünde ist in diesen Fällen eine doppelte, wie ich sagte. Das eine Unrecht bezieht sich auf die unrechte Lust, das andere richtet sich gegen das Fremde.“2
Vgl. Mt 15,19; Mk 7,22; Joh 8,3. Gregor. Nyss., Ep. can. 3: Tῶν δὲ δι’ ἐπιθυμίαν τε καὶ ἡδονὴν γινομένων ἁμαρτημάτων τοιαύτη ἐστὶν ἡ διαίρεσις· τὸ μὲν γὰρ καλεῖται μοιχεία, τὸ δὲ πορνεία. Τισὶ μὲν οὖν τῶν ἀκριβεστέρων ἤρεσε καὶ τὸ κατὰ πορνείαν πλημμέλημα, μοιχείαν εἶναι νομίζειν, διότι μία ἐστὶν ἡ νόμιμος συζυγία, καὶ γυναικὶ πρὸς ἄνδρα, καὶ ἀνδρὶ πρὸς γυναῖκα … Ἐν ταύτῃ δὲ καὶ τὴν ζωοφθορίαν καὶ τὴν παιδεραστίαν εἶναι λογίζονται·διότι καὶ ταῦτα φύσεώς ἐστι μοιχεία. Εἰς γὰρ τὸ ἀλλότριόν τε καὶ παρὰ φύσιν γίνεται ἡ ἀδικία … καθολικὴ μέν ἐστι θεραπεία, τὸ τῆς ἐμπαθοῦς λύσσης, τῆς περὶ τὰς τοιαύτας ἡδονὰς, καθαρὸν ἐκ μεταμελείας γενέσθαι τὸν ἄνθρωπον … διὰ τοῦτο διπλάσιον ὡρίσθη τῆς ἐπιστροφῆς ὁ χρόνος … διπλασιάζεται γὰρ, ὡς εἶπον, ἐπὶ τῶν τοιούτων ἡ ἁμαρτία. Μία μὲν ἡ κατὰ τὴν ἄθεσμον ἡδονὴν, ἑτέρα δὲ ἡ κατὰ τὴν τοῦ ἀλλοτρίου ἀδικίαν συνισταμένη (ed. Mühlenberg 5,10–14 und 6,3–14).
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1. Einleitung: Das Entwicklungsmodell der älteren Forschung Diese Definitionen entstammen einem kanonisch gewordenen Brief des Kirchenvaters Gregor von Nyssa (ca. 335/340–nach 394). Ihr Kon text ist ein kirchliches Bußverfahren, dem der einflussreiche theologische Denker eine definitorische Begründung zur Seite stellt, die weit über liturgische oder disziplinarische Anliegen hinausgeht und so tief in die anthropologische und ethische Reflexion eintaucht, dass ein Zusammen hang mit grundlegenden Weichenstellungen christlicher Ethik unmit telbar plausibel ist. Es geht um ethische Grundentscheidungen des spätantiken Christentums, die bis hinein in heutige ethische und gesell schaftliche Debatten wirksam sind, man denke nur an die Kontroversen um die sogenannte „Ehe für alle“. Wie hat man sich die Entwicklung dieses altkirchlichen Bußwesens und der christlichen Ethik in den ersten Jahrhunderten vorzustellen? Die ältere Forschung besaß in dieser Frage ein Narrativ, oder besser: sie stellte auf der Grundlage detaillierter Quellenstudien eine Entwick lungsgeschichte zur Verfügung, von der sich Grundlinien bis heute in Überblicksdarstellungen3 und kirchengeschichtlichen Vorlesungen fin den. Das Urchristentum habe danach von Johannes dem Täufer sowohl Bußpredigt4 als auch Taufe5 übernommen. Der Mensch lebt, wie es Paulus eindringlich formulierte,6 in einer Existenz der Sünde; diese Existenz musste angesichts der nahen Parusie dringend abgelegt wer den. Durch die einmalige Reinwaschung von den Sünden in der Taufe fühlte man sich bereit für die Wiederkunft Christi zum Gericht. Dies erklärte die starke ethische Ausrichtung der Taufkatechese, denn jedem Täufling mussten schließlich die Konsequenzen der Taufentscheidung für das Leben danach deutlich gemacht werden. Sündigen nach der Taufe war nicht vorgesehen.7 Allerdings ließ auch die Parusie auf sich warten. Im zweiten Jahrhundert habe sich deshalb herausgestellt, dass die nach diesem Modell geforderte Sündlosigkeit nach der Taufe nicht lückenlos und erst recht nicht von allen zu leisten war; deshalb wurde Vgl. exemplarisch Arnold Angenendt, Geschichte der Religiosität im Mittelalter, Darm stadt 42009, 626–643; Wolf-Dieter Hauschild/Volker H. Drecoll, Alte Kirche und Mit telalter. Lehrbuch der Kirchen- und Dogmengeschichte 1, Gütersloh 52016, 186–191. 4 Vgl. Mt 3,7–10; Lk 3,7–9. 5 Vgl. Mk 1,4; Mt 3,11–17 und Lk 3,3.16f. 6 V.a. Röm 5–7. 7 Heb 6,4–6 (vgl. Heb 12,14–17). 3
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Sündern eine abermalige Umkehr (μετάνοια)8 und später sogar die Möglichkeit einer einmaligen postbaptismalen regelrechten Buße einge räumt.9 Dies habe in den Überlegungen des Hirten des Hermas und später in den Bußregelungen für die in den Christenverfolgungen abge fallenen lapsi Niederschlag gefunden, in denen besonders die Bußauto rität des Bischofsamtes gestärkt wurde.10 Das von Tertullian in Kar thago bezeugte Bußstufenwesen sei aber bereits ein Beweis dafür, dass die ursprüngliche rigoristische Haltung nach und nach aufgeweicht wurde. Es wurden Apostasie, sexuelle Verfehlungen sowie Mord und Totschlag aufgeführt sowie zahlreiche weitere Vergehen, für die Bischöfe ein abgestuftes System fanden oder auch je nach Einzelfall entschieden.11 Adolf von Harnack beschreibt den Hirten des Hermas als Beginn der Rechtfertigung des „vorsichtigen Hereinwachsens“, der „Anpassung der weltflüchtigen ursprünglichen Grundsätze der neuen Religion an die Welt“.12 Weniger schmeichelhaft hat man ihn auch an den Beginn einer Verfallsgeschichte der christlichen Ethik gestellt. 13 Spätere „Entwicklungen“ wie die Ausdifferenzierung des Bußwesens in den synodalen Canones, bei Cyprian14 oder auch die intellektuellen Reflexionen über das Wesen der Buße von Clemens von Alexandrien15 über Origenes16 bis hin zu den großen Kappadokiern und Augustinus konnten als Teil dieser Entwicklungsgeschichte der Buße gelesen wer den. Die traditionell den Quellen aus dem Zeitraum 100–400 n. Chr. 1Clem 7–9; Did 14,1; 15,3; 2Clem 8. Μετανοεῖν wird hier zum Teil synonym mit anderen Verben der ethischen Anstrengung und Umkehr wie etwa ἀγωνίζεσθαι (im Sinne des Wettstreitens um das Himmelreich) verwendet. 9 Vgl. v.a. Herm. S. dazu den Beitrag von Marco Frenschkowski in diesem Band. 10 Entscheidende Quellen hierfür sind die Texte von Cyprian, De lapsis und De unitate ecclesiae catholicae. 11 Vgl. die Kritik bei Tert., De pudicitia (insbes. in Kap. 4, 5, 12, 19 und 21). 12 Adolf von Harnack, Die Mission und Ausbreitung des Christentums in den ersten drei Jahrhunderten, Leipzig 41924, 322. 13 Vgl. Gustav A. Benrath, Buße V. Historisch, in: TRE 7 (1981), 452–473, hier 452. Vom „allgemeinem Nachlassen der Disziplin und des Gemeindelebens“ spricht etwa Julius Köstlin, Buße: RE3 3 (1897), 584–591, hier 587. 14 Vgl. o. Anm. 10. 15 Clemens äußert sich wiederholt zu Umkehr (v.a. im Protrepticus und in Quis dives salvetur?) und Buße (im Paedagogus und in den Stromata, z.B. Str. II 13,56–16,71). 16 Origenes nimmt v.a. in seinem exegetischen Werk (z.B. In Lev. 14,2) immer wieder Bezug auf die Buße, aber auch in der vermutlich relativ frühen Schrift De oratio 28,10 und beschreibt ausführlich die Situation in den Gemeinden in der Apologetik Contra Celsum 3,51. Vgl. den Überblick (mit weiterer Lit.) bei Meßner, Sakramentliche Feiern 1/2. Feiern der Umkehr und Versöhnung, GDK 7/2, Regensburg 1992, 92–94. 8
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zugeschriebene geographische Verteilung lässt sich in dieser Karte annä herungsweise nachvollziehen:
Die Karte und die mitzudenkenden Quellendatierungen machen deut lich, wie groß der geographische Raum und die zeitlichen Abstände zwi schen den Nachrichten über das altkirchliche Bußwesen – Grundlage für dieses Entwicklungsmodell – sind. Die ebenfalls einzubeziehenden Buß bücher und Heiligenviten stammen in der Regel aus noch späterer Zeit. Verfallstheorien bedürfen bekanntlich einer gewissen Idealisierung der Urkirche und Abwertung des Späteren. Fortschrittstheorien dagegen beziehen sich oft auf einen ursprünglichen Nucleus – etwa die Idee der „Therapie durch Buße“17 –, der in der Frühzeit unfertig angelegt war, aber erst durch spätere Generationen ausgebildet wurde. Bei Jesuiten18 zum Beispiel fand sich so ein ganz anderes Entwicklungsverständnis als bei Pietisten.19 Die konfessionelle Dimension brachte 1953 der damalige Vgl. dazu den Beitrag von Sarah-Magdalena Kingreen, Antike Bußvorstellungen im Briefkorpus des Gregor von Nyssa – das gefühlspolitische Agieren Gregors in epistula 1, in diesem Band, S. 93–108. 18 Zu denken ist hier etwa an die zahlreichen historischen Studien Karl Rahners SJ zur Buße in der frühkirchlichen Literatur (1936), bei Irenäus (1948), in der Didascalia Apostolorum (1950), bei Origenes (1950), Tertullian (1952), Cyprian (1952) und im Hirten des Hermas (1955). Gesammelt zugänglich sind alle diese Texte, zusammen mit zwei weiteren Aufsätzen zur Sündenvergebung (1958) und zur „Bußgeschichte“ (1973) in Karl Rahner, Sämtliche Werke 11. Mensch und Sünde. Schriften zur Geschichte und Theologie der Buße, bearb. von Dorothea Sattler, Solothurn/Düssel dorf 2005, 3–396. 19 Zu denken ist hier zunächst an die für Teile des Pietismus wegweisende ausdifferen zierte Bußtheologie Johann Arndts (s. dazu etwa Werner Anetsberger, Tröstende Lehre. Die Theologie Johann Arndts in seinen Predigtwerken, München 2001, 109– 120; vgl. auch das Bußverständnis Jakob Böhmes) und dann etwa an die B ußpredigten 17
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Bonner Privatdozent für Kirchengeschichte Heinrich Karpp auf den Punkt: „Da die Erforschung der Bußgeschichte durch die Auseinandersetzungen der Reformationszeit veranlaßt wurde, blieb sie bis in die Gegenwart weithin im Schatten konfessioneller Urteile und Vorurteile. Namentlich über die Vor aussetzungen und die Anfänge der kirchlichen Buße gingen die Meinungen auseinander. Die protestantischen Forscher vertraten überwiegend die Auf fassung, daß die Taufe ursprünglich als Verpflichtung zur unbedingten Rein heit von schweren Sünden, namentlich der drei Kapitalsünden, galt, deren Bruch stets zum unwiderruflichen Ausschluß aus der Kirche führen mußte;20 erst um das Jahr 200 seien Ehebrecher und Unzüchtige, ein halbes Jahrhun dert später auch Verleugner des Glaubens und schließlich nach einem weite ren halben Jahrhundert auch Mörder zur Buße zugelassen worden, und von da an habe das alte Heiligkeitsideal nicht mehr gegolten. Im äußersten Gegensatz zu dieser kritischen Darstellung steht die katholische Lehre, Chris tus selber21 habe das Sakrament der Buße eingesetzt.“22
In der neueren katholischen Bußforschung, die durch Bernd Posch manns Forschungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts völlig neu aufgestellt wurde,23 wurde das Modell einer kontinuierlichen Entwicklung August Hermann Franckes. Vgl. zum Bekehrungs-, Buß- und Wiedergeburtsverständ nis im Pietismus zuletzt den Überblick (mit neuerer Lit.) bei Jonathan Strohm, 5.1.4 Bekehrung, in: Wolfgang Breul/Thomas Hahn-Bruckart (Hgg.), Pietismus Hand buch, Tübingen 2021, 368–378. 20 Vgl. in diesem Sinne etwa die einflussreiche neutestamentliche Habilitationsschrift von Hans Windisch, Taufe und Sünde im ältesten Christentum bis auf Origines. Ein Beitrag zur altchristlichen Dogmengeschichte, Tübingen 1908. 21 Karpp bezieht sich hier auf Johannes P. Junglas, Die Lehre der Kirche. Eine Laien dogmatik, Bonn 41946, 245–264. Ebd., 245, findet sich eine Polemik gegen die Zeichnung der Entwicklungsgeschichte der Buße durch den „Liberalismus“, der mit der „Lehre der Kirche“ kontrastiert wird: „Nach katholischer Lehre hat Christus diese persönliche Buße in ein heiliges Sakrament eingebaut. Er hat den Aposteln und ihren Nachfolgern die Vollmacht erteilt, an Gottes Stelle die Sünden nachzulassen, wenn der Sünder sich von seinen Sünden abkehren will. Nach der liberalen Anschauung aber hat Jesus kein Sakrament der Buße eingesetzt; er fordert weiter nichts als den Glauben an die Liebe des sündenvergebenden Gottes.“ 22 Heinrich Karpp, Buße und Ablaß in Altertum und Mittelalter, in: ThR.NF 21 (1953), 121–136, hier 122. 23 Die wichtigsten Texte in der Reihenfolge ihrer erstmaligen Veröffentlichung: Bern hard Poschmann, Die Sündenvergebung bei Origines, Braunsberg 1912; ders., Hat Augustinus die Privatbuße eingeführt?, Braunsberg 1920; ders., Kirchenbuße und correptio secreta bei Augustinus, Braunsberg 1923; ders., Die abendländische Kirchen buße im Ausgang des christlichen Altertums (MSHTh 7), München 1928; ders., Die abendländische Kirchenbuße im frühen Mittelalter, Breslau 1930; S. Aurelii Agustini Episcopi Hipponensis Textus selecti de paenitentia, Bonn 1934; Bernhard Poschmann,
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vertreten, auch wenn für den Westen eine „kirchlich-sakramentale“, für den Osten eine „moralisch-therapeutische“ Seite betont wurde.24 All diesen Theorien ist also gemein, dass sie im Grunde die genannten Quellen in eine übergreifende „Entwicklungserzählung“ einordnen. Die ses Bild einer einigermaßen organischen Entwicklungsgeschichte, an der bereits Karpp grundlegende Zweifel angemeldet hatte, hat in der diffe renzierenden Quellenforschung des späten 20. und frühen 21. Jahrhun derts Risse bekommen. Es beginnt mit der nicht immer eindeutig inhalt lich zu bestimmenden Begrifflichkeit. Schon die Worte μετάνοια (Buße/ Umkehr) und μετανοεῖν (Buße tun/umkehren) werden nicht einheitlich verwendet, und auch für weitere Begriffe, die für die These einer Ent wicklungsgeschichte grundlegend sind, bestehen Unsicherheiten.25 Sind sich vor diesem Hintergrund die neutestamentlichen Quellen, die Syn optiker, Johannes und Paulus, wirklich einig in ihrer Sicht auf Sünde, Taufe und Buße? Ist der Hirte des Hermas wirklich Wegbereiter einer späteren Lockerung der Bußdisziplin gewesen? Sprechen Justin, Irenäus, Tertullian, Hippolyt, Cyprian, die alexandrinischen und kappadokischen Väter, Hieronymus, Ambrosius und Augustinus, die Kirchenordnungen und canones der Kirche des zweiten bis vierten Jahrhunderts wirklich von demselben Bußinstitut, wenn sie von Buße und Sündenvergebung reden? Ein alternatives Narrativ fehlt freilich bisher. Die Pluralität der Quel len steht dem mehr denn je im Weg, zumal inzwischen immer mehr Texte aus dem nichtchristlichen Umfeld in den Blick kommen, deren Beziehung zu den christlichen Vorstellungen von Buße und Umkehr oft noch zu klären ist. Der folgende Beitrag von Marco Frenschkowski kon zentriert sich vor diesem Hintergrund auf eine Sichtung der Quellen aus dem geographischen und zeitlichen Umfeld der neutestamentlichen Paenitentia secunda. Die kirchliche Buße im ältesten Christentum bis Cyprian und Origenes. Eine dogmengeschichtliche Untersuchung (Theophaneia 1), Bonn 1940; ders., Der Ablaß im Lichte der Bußgeschichte (Theophaneia 4), Bonn 1948; ders., Buße und Letzte Ölung, HDG IV/3, Freiburg 1951 (zur Buße 1–123). 24 Karpp, Buße (s.o. Anm. 22), 127. Vor dem Hintergrund der älteren katholischen Positionen ist die unaufgeregte Darstellung der Quellen- und Forschungslage bei Meßner, Feiern (wie Anm. 16), kaum genug zu loben; vgl. auch den Beitrag von Harald Buchinger in diesem Band, S. 53–76, der sich ausdrücklich und mit Recht an Meßners Darstellung anlehnt. 25 Z.B. ὁμολογεῖν oder imponere manus. Es scheint in manchen Texten nicht einmal sicher, was genau hinter Wörtern steht, die als kirchliche Amtsbezeichnungen inter pretiert werden, wenn z.B. Clemens von Alexandrien in Quis dives salvetur 42 (s.u.) die gleiche Person an einer Stelle als ἐπίσκοπος, an späterer Stelle als πρεσβύτερος bezeichnen kann.
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Schriften und des antiken Judentums und versucht diese unter der Kon zeption einer „mythologischen, protologischen und eschatologisch- utopischen Imagination“ in ein Verhältnis zur jesuanischen Ethik zu setzen.26 Zweifellos war die Forderung nach Umkehr wichtig für die Jesusbewegung, aber sie stand eben in einem ganz besonderen Kontext der Welt- und Zukunftswahrnehmung, der von den späteren Christen nur partiell geteilt wurde. Die Versuche der Apologeten und antignosti schen Väter, biblische und philosophische Gedanken mit der Buße in Verbindung zu bringen sind deutlich von jenen der Denker des dritten und vierten Jahrhunderts zu unterscheiden, die Buße theologisch und intellektuell zu durchdringen anstrebten. Ganz anders ist wiederum die Stoßrichtung der Synoden der Reichskirche, reichsweite oder zumindest regionale Regeln für Gottesdienst und öffentliche Homologien durchzu setzen. Und schließlich gesellt sich dazu ein Bußhabitus von „Heiligen“, die Elemente älteren Bußverständnisses in eine monastische Lebensform überführen,27 die spätestens seit der konstantinischen Wende großen Zulauf erhält. All diese Quellen reden von Buße und Umkehr; sie müs sen aber heute wohl eher als Beleg für Pluralität und zahlreiche Neuan fänge denn als Ausweis einer geradlinigen uniformen „Entwicklung“ gewertet werden. Ganz fundamental kann man heute in Zweifel ziehen, ob die entwicklungsgeschichtlichen Modelle der großen Gesamtdarstel lungen des altkirchlichen Bußwesens noch haltbar sind oder ob nicht die Quellen ein unübersichtliches Bild abgeben, dem man die Übersichtlich keit nicht nachträglich aufstülpen sollte. Mit anderen Worten: Ob es sich bei all dem, was in der älteren Forschung als Belege für die Entwicklung des „Bußwesens“ zusammengesammelt wurde, tatsächlich um Zusam mengehörendes handelt. Gleichwohl hat das eben beschriebene Modell nicht nur den Vorteil der Übersichtlichkeit: Es sind auch eine Reihe von spannenden Fragen daraus erwachsen, die die patristische Forschung erheblich weitergebracht haben. Ich will diese Fragen, die dahinterste hende Logik und die aufgeworfenen Aporien hier zunächst noch einmal zusammenfassen, bevor ich einen neuen Fragenkatalog vorschlagen möchte, der – interessengeleitet von der patristischen Ethik – eine andere Strategie verfolgt als die bisherigen Ansätze. S. 23–62 in diesem Band. Für das spätere westliche Mönchtum kann Adalbert de Voguë sogar konstatieren, es habe sich geradezu als eine „Nachahmung der kirchlichen Buße“ entwickelt: Adalbert de Voguë, Die Regula Benedicti. Theologisch-spiritueller Kommentar, Hildesheim 1983, 23.
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2. Fragen an das Entwicklungsmodell 2.1. Bußautorität „Im Übrigen ist es lächerlich, dass wir sagen, … einer habe allein deswegen, weil er Bischof heißt, eine solche Vollmacht, dass die von ihm Gelösten im Himmel gelöst seien oder dass die auf der Erde Gelösten im Himmel gelöst seien.“28
Die vielleicht berühmteste Frage aus der Zeit des Entwicklungsmodells ist die nach der „Bußgewalt“, wie Karl Holl berühmterweise die Autorität in Bußfragen bezeichnete.29 Die Sündenvergebung durch den Pneumatiker steht im Osten nach diesem Modell gewissermaßen in einem Dauerkonflikt mit dem monarchischen Bischofsamt, das schon zu Origenes Zeiten die Bußautorität für sich beanspruchte, wie dieses wohl auf Origenes zurück gehende Zitat deutlich macht. Ein nicht unerheblicher Teil unserer Quellen beschäftigt sich tatsächlich mit dieser konfliktbehafteten Frage aus der Zeit der Christenverfolgungen, aber auch aus den späteren Epochen des östli chen Kirchenwesens. Dies ist einerseits von Vorteil, denn aus diesen Kon flikten haben sich Quellen bewahrt, ohne die wir heute weniger informiert wären. Andererseits verschwindet hinter der Auseinandersetzung um die Bußautorität zuweilen die tatsächliche Praxis. Quellen, die in einer bestimm ten Konfliktsituation entstehen, haben selten die Intention, die Nachgebo renen über die gemeindliche Situation ihrer Entstehungszeit wahrheitsge mäß aufzuklären. Eine neue Perspektive auf diese alte Frage hat sich durch die kritische Rezeption des in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts von der Religionswissenschaft und Religionssoziologie entwickelten Konzeptes der oder des „Heiligen“ aufgetan: Von Émile Durkheim30 über Rudolf Otto31 bis hin zu Mircea Eliade32 wurden hier Theorien bereitgestellt, die Origenes, Comm. in Mt. XII 14 (zu Mt 16,19 nach der nach Klostermann vermutlich aus dem 6. Jh. stammenden lateinischen Übersetzung des an dieser Stelle verlorenge gangenen griechischen Origenestextes): Alioquin ridiculum est ut dicamus … propter hoc solum, quoniam episcopus dicitur, habere huiusmodi potestatem, ut soluti ab eo sint soluti in caelo, aut ligati in terris sint ligati in caelo. Ed. Klostermann, GCS 40, 99,12–22. 29 Karl Holl, Enthusiasmus und Bußgewalt beim griechischen Mönchtum. Eine Studie zu Symeon dem neuen Theologen, Leipzig 1898/Nachdruck Hildesheim 1969. 30 U.a. in Émile Durkheim, Les formes élémentaires de la vie religieuse. Le système totémique en Australie, Paris 1912 (dt.: Die elementaren Formen des religiösen Lebens, Frankfurt 2007). 31 Rudolf Otto, Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen, Breslau 1917/Nachdruck München 2004. 32 Mircea Eliade, Traité d’histoire des religions, Paris 1949 (dt.: Die Religionen und das Hei lige. Elemente der Religionsgeschichte, Salzburg 1954); ders., Le sacré et le p rofane, Paris 1965 (dt.: Das Heilige und das Profane. Vom Wesen des Religiösen, Frankfurt 31987). 28
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den Blick auf den religionskulturellen Bezugsrahmen dessen lenkten, was auf „Heiligkeit“ beruhende Autorität in der Spätantike und im frühen Mit telalter bedeuteten. Peter Gemeinhardt, der sich seit geraumer Zeit mit dem Leitbild der Märtyrer und der Heiligen der Kirche dieser Zeit beschäftigt,33 hat sich für unseren Band die Aufgabe gestellt, die These Holls vor diesem Hintergrund einer kritischen relecture zu unterziehen.34 2.2. Programmatische Texte und tatsächliche Praxis „Mit keinem, der sich gegen den anderen verfehlt, soll geredet werden, noch soll er von euch gehört werden, bis er Buße getan hat/umgekehrt ist.“35
Die auf Kirchenordnungen und ähnliche Texte des zweiten bis vierten Jahrhunderts zurückgreifende Liturgiegeschichte kämpft stets mit jenem Szenario, das Paul Bradshaw einmal mit dem Begriff des armchair liturgist bezeichnet hat:36 Wir wissen schlicht nicht, inwieweit eine Ordnung, eine Norm oder eine Regel eine tatsächliche Praxis bezeichnet – oder ob sie nicht doch nur das Geistesprodukt einer Einzelperson war, die gewis sermaßen bequem in einem Lehnsessel sitzend einmal aufgeschrieben hat, wie sie sich die ideale Liturgie oder die ideale Bußordnung vorstellen würde. Was die ethischen Normen der Didache, der syrischen Didaska lie, der Traditio Apostolica oder der Apostolischen Konstitutionen angeht, so lässt sich kaum sagen, welche historische Bedeutung die dort formu lierten ethischen Standards tatsächlich hatten. Ähnliche Probleme stellen sich auch bei den Bußcanones der Synodalakten.37 S. v.a. die gesammelten Studien in Peter Gemeinhardt, Die Kirche und ihre Heiligen. Studien zu Ekklesiologie und Hagiographie in der Spätantike (STAC 90), Tübingen 2014. 34 S. 109–149 in diesem Band. 35 Didache 15,3: καὶ παντὶ ἀστοχοῦντι κατὰ τοῦ ἑτέρου μηδεὶς λαλείτω μηδὲ παρ’ ὑμῶν ἀκουέτω, ἕως οὗ μετανοήσῃ. Ed. Rordorf/Tuilier, SC 248, 194,8–10. 36 „At least some … were in part the products of the imagination and aspiration of their compilers – armchair liturgists dreaming up what the perfect liturgy might be like if only they had the freedom to put into practice what their idiosyncratic tastes and personal convictions longed for“. Paul Bradshaw, The Search for the Origins of Chris tian Worship, 72. Vgl. dazu Ulrich Volp, Die Würde des Menschen. Ein Beitrag zur Anthropologie in der Alten Kirche (SVigChr 81), Leiden/Boston 2006, 331. 37 Vgl. nur z.B. die Bußordnung der Synode von Elvira, die vermutlich zwischen 295 und 314 stattfand und damit die ältesten synodalen Bußcanones überhaupt hervorge bracht haben dürfte, aber deren genaue Bedeutung und Anwendung genauso umstrit ten ist wie die Frage, welche der überlieferten Canones später – und damit vielleicht in einer veränderten rituellen Welt – anzusetzen sind (s. dazu Maurice Meigne, Con cile ou collection d’Elvire, in: RHE 70 [1975], 361–387; Texte und Kommentar bei 33
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Die Disziplin der Liturgiegeschichte38 ist sich dieser Probleme heute bewusst. Angesichts der Schwierigkeiten, belastbare historische Aussagen treffen zu können, hat sich hier ein methodisches Problembewusstsein entwickelt, von dem die gesamte Patristik meiner Ansicht nach profitie ren kann. Der Beitrag des Liturgiewissenschaftlers Harald Buchinger versucht, aus dieser disziplinären Perspektive neu auf die Bußpraxis in der Alten Kirche zu blicken.39 2.3. Pluralität der Quellengattungen „Deshalb können alle, die es wollen, wenn sie Βuße tun (μετανοεῖν), an Gottes Barmherzigkeit teilhaben.“40
Zur Pluralität der Quellen gehört auch die Pluralität der Quellengattun gen. Sie ist bereits angeklungen. Die Situation ist Segen und Fluch zugleich: Segen, weil es dadurch eben doch an einigen Stellen möglich zu sein scheint, zu sichereren historischen Urteilen zu kommen. Wenn eine theo logische Abhandlung en passant verschiedene Büßerklassen nennt, die auch in Canones vorkommen, in der Liturgie Niederschlag gefunden haben und schließlich auch briefliche Belege für solche Begrifflichkeiten existieren – dann lässt sich irgendwann kaum wegdiskutieren, dass hier eine tatsäch liche Praxis nachzuweisen sein wird. Ein solcher Befund, das ist der Fluch, muss aber auch immer wieder zu Vorsicht Anlass geben, weil die Versu chung groß ist, eine einmal gefundene Begrifflichkeit in anderen Quellen auf dasselbe zu beziehen, auch wenn es sich lediglich um Äquivokationen handeln sollte. Bei dem in diesem Justinzitat vorkommenden Begriff μετανοεῖν leuchtet das sofort ein: Von den weit über 10.000 Stellen, an denen sich alleine das Substantiv μετάνοια (von Martin Luther in den Samuel Laeuchli, Power and Sexuality. The Emergence of Canon Law at the Synod of Elvira, Philadelphia 1972; Eckhard Reichert, Die Canones der Synode von Elvira. Einleitung und Kommentar, Diss. Hamburg 1990). Weitere Fragen ergeben sich für die westlichen „collections de proto-penitentiels des églises primitives“ bei Cyrille Vogel, Les „Libri Paenitentiales“ (TSMAÔ 27), Turnhout 1978; ders./Allen J. Frant zen, Les „Libri Paenitentiales“ (TSMAÔ Mise à jour du fasc. 27), Turnhout 1985. Vgl. noch zu den Problemen der Überlieferung und Bewertung der Synodalcanones des 4. Jahrhunderts die Überblicke bei Hamilton Hess, The Early Development of Canon Law and the Council of Serdica (OECS), Oxford 2002. 38 Vgl. nur etwa die verdienstvolle Darstellung bei Meßner, Feiern (s.o. Anm. 16). 39 S. 63–91 in diesem Band. 40 Justin, IApol. 141,2: Ὥστε, ἐὰν μετανοήσωσι, πάντες βουλόμενοι τυχεῖν τοῦ παρὰ τοῦ θεοῦ ἐλέους δύνανται. Ed. Marcovich, PTS 47, 312,13–14.
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neutestamentlichen Texten mit „Buße“ übersetzt) in der erhaltenen grie chischen Literatur des Altertums findet, bezieht sich schließlich nur ein Teil auf das Bußwesen. Aber auch weniger prominente Begrifflichkeiten unseres Themas sind davon betroffen.41 2.4. Missing links „Lasst uns so handeln und so vorgehen, nicht nur, wenn gegen uns gesün digt wird, sondern wenn von jemandem so gesündigt wird, dass es vom anderen nicht erkannt wird. Wir sollen heimlich (in secreto) tadeln, heim lich anklagen.“42
Wer hat die Privatbuße erfunden? Wie lässt sich die öffentliche Buße, die noch für Gregor von Nyssa Grundlage seiner hier bereits zitierten Aus führungen war, mit Beichte und Privatbuße zusammenbringen? Die bei den katholischen Theologen Karl Adam und Bernd Poschmann führten vor einem Jahrhundert einen vehementen Schriftenkrieg um die Frage, ob Augustinus als ihr Urheber gelten darf.43 Die zu Beginn des Absatzes zitierte Augustinstelle ist eine von vielen, die die beiden unterschiedlich interpretierten. Die Heftigkeit jener Debatte ist ein Indiz für das grund sätzlichere Problem dahinter. Alle Entwicklungsgeschichten der Buße in der Alten Kirche stolpern über missing links, über fehlende Verbindungen, zumindest über krasse Differenzen zwischen den Bußanschauungen und Bußpraktiken älterer und neuerer, westlicher und östlicher Quellen: Zwi S.o. Anm. 25. Aug., Serm. 82,8,11: Sic agamus et sic agendum est, non solum quando in nos peccatur, sed quando peccatur ab aliquo, ut ab altero nesciatur. In secreto debemus corripere, in secreto arguere (PL 38,506–514). 43 Die maßgeblichen Schriften Poschmanns sind bereits oben (s.o. Anm. 23) erwähnt. Zu ergänzen sind Karl Adam, Die kirchliche Sündenvergebung nach dem hl. Augustin (FChLDG 14/1), Paderborn 1917; Bernhard Poschmann, Die kirchliche Vermittlung der Sündenvergebung nach Augustinus. Die kirchliche Lösetätigkeit, in: ZKTh 45/3 (1921), 405–432; Karl Adam, Die geheime Kirchenbuße nach dem heiligen Augustin. Eine Auseinandersetzung mit B. Poschmann, Kempten 1921. Von dieser Debatte abhängig sind noch Josef A. Jungmann, Die lateinischen Bußriten in ihrer geschichtli chen Entwicklung, Innsbruck 1932 (der das Bild der Entwicklung der älteren Zeit ausdrücklich von Poschmann übernimmt und – nicht ohne mancherlei gelehrter Spe kulation, die eine relativ große rituelle Einheit des Westens zur Voraussetzung hat – Differenzierungen erst ab dem 5. Jahrhundert vornimmt); Angenendt, Geschichte (s.o. Anm. 3), 626–643. Vgl. zum Problem des gegenüber Glauben und Praxis der Alten Kirche ganz „neuen Bußverständnisses“ der frühmittelalterlichen Bußbücher noch Raymund Kottje, Bußpraxis und Bußritus, in: Segni e riti nella chiesa altomedievale occidentale 33 (1987), 369–395; ders., Bußbücher, in: LMA 2 (1983), 1118. 41 42
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schen den loci classici des Neuen Testaments und der paenitentia secunda beim Hirten des Hermas, Tertullian und Origenes; zwischen der in den Quellen der Christenverfolgungen offenbar werdenden Bußpraxis und den Bußregeln von Nizäa und anderen Konzilien konstantinischer Zeit; zwi schen der öffentlichen Kirchenbuße der Reichskirche und der Beicht- und Vergebungspraxis des östlichen Mönchtums; zwischen der paenitentia secunda und der Privatbuße des Abendlandes; zwischen der Heilungsme taphorik der spätantiken Theologie und dem rechtlichen Charakter der Bußtexte des westlichen Frühmittelalters. Das Problem ist mit dem der Pluralität der Quellen verwandt, aber doch von ihm unterschieden. Die letztlich wohl bleibenden missing links stellen vielleicht das nachhaltigste Hindernis dafür dar, eine Entwicklungsgeschichte älteren Typs heute noch schreiben zu können. Sollten wir angesichts all dieser Schwierigkeiten aufhören, das Thema der „Buße in den ersten vier/fünf/sechs Jahrhunderten“ als Ganzes in den Blick zu nehmen? Sieht man sich die Forschung der letzten Jahre, ja Jahrzehnte an, so scheint das eine Folgerung zu sein, die weithin gezogen worden ist. Neuere Stellungnahmen beschränken sich oft auf eine einzelne Quelle, die sich ohne einen Bezug auf die Bußthematik nicht interpretieren lässt. Ich denke hier etwa an die 2008 erschienene Mühlenbergsche Edition der epistula canonica des Gregor von Nyssa, aus der ich anfangs zitierte und auf die der Beitrag von Sarah-Magdalena Kingreen in diesem Band näher eingeht.44 Auch Mühlenberg stützte sich in seiner im Jahre 2011 nachgereichten Aus legung45 auf die klassische Literatur, also auf Karl Holl,46 Hans von Campenhausen,47 Heinrich Karpp,48 Bernhard Poschmann49 und Joseph Grotz50. Allen Studien sind mehr als ein halbes Jahrhundert neuere For schungen gefolgt. Lediglich zum H irten des Hermas kann Mühlenberg auf S.u.S. 93–108. Ekkehard Mühlenberg, Der kanonische Brief Gregors von Nyssa und sein Ort im Bußwesen der Alten Kirche, in: Beate R. Suchla (Hg.), Von Homer bis Landino. Beiträge zur Antike und Spätantike sowie zu deren Rezeptions- und Wirkungsge schichte. Festgabe für Antonie Wlosok zum 80. Geburtstag, Berlin 2011, 207–242. 46 Holl, Enthusiasmus und Bußgewalt (s.o. Anm. 29). 47 Hans von Campenhausen, Kirchliches Amt und geistliche Vollmacht in den ersten drei Jahrhunderten, BHTh 14, Tübingen 1953. 48 Heinrich Karpp (Hg./Übers.), Die Buße. Quellen zur Entstehung des altkirchlichen Bußwesens, Zürich 1969. 49 S.o. Anm. 23. 50 Joseph Grotz, Die Entwicklung des Bußstufenwesens in der vornicänischen Kirche, Freiburg 1955. 44 45
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neuere Kommentierungen zurückgreifen.51 Dieser merkwürdige und in mancherlei Hinsicht singuläre Text hat inzwischen ein eigenes Forschungs gebiet begründet, das mit der älteren Bußforschung kaum noch in Verbin dung zu stehen scheint.52 Gleichzeitig hat sich die Forschung mit großer Energie den frühmittelalterlichen Bußbüchern zugewandt. Insbesondere die Mediävistik und mit ihr auch die Gender- und Frauenforschung hat in den letzten Jahren dieses Genre entdeckt und neue Einsichten gewinnen können. Der abschließende Beitrag von Julia Winnebeck in diesem Band rezipiert diese Studien und führt anhand des Beispiels des Vergehens der „Menschen tötung“ in Charakter und Praxis der frühmittelalterlichen Bußbücher ein.53 Auch diese Forschung hat, denke ich, einen Anspruch darauf, vom Mainstream der Patristik nicht alleine gelassen zu werden, der das Thema im Hinblick auf die ersten vier Jahrhunderte in den letzten 50 Jahren eher hintangestellt hatte, was der Anlass für diesen Band und die ihm vorange gangene Tagung gewesen ist.54 Man kann der Buße in der Alten Kirche nicht ausweichen, zu oft scheinen die entsprechenden Begrifflichkeiten in den Quellen auf. Ich will deshalb im Folgenden in aller Kürze eine Frage perspektive skizzieren, die Einsichten und Modelle aus der patristischen Ethikforschung an unsere Quellen der ersten vier Jahrhunderte herantragen möchte. Dabei sollen unter anderem vier Parameter aufgegriffen werden, die in dem Mainzer Forschungsbereich „Ethik in Antike und Christentum“ ent wickelt und an unterschiedlichen Themen getestet worden sind.55 Sie schei nen mir auch für die Buße einen ertragreichen Zugriff zu versprechen. Z.B. Norbert Brox, Der Hirt des Hermas (KAV 7), Göttingen 1991; Carolyn Osiek, Shepherd of Hermas. A Commentary (Hermeneia 9), Minneapolis 1999. 52 So richtete sich der Fokus etwa auf die Sozialgeschichte (z.B. Harry O. Maier, The Social Setting of the Ministry as Reflected in the Writings of Hermas, Clement and Ignatius, SR.Dissertation Series 1, Waterloo 1991), die Angelogie (Bogdan G. Bucur, Angelomorphic Pneumatology. Clement of Alexandria and Other Early Christian Witnesses [SVigChr 95], Leiden 2009), die literarische Gestalt und Überlieferung (Rob Heaton, From „Most Useful Book“ to Scriptura Non Grata. Canon, Ecclesias tical Constrictiveness, and the Loss of the Shepherd of Hermas in Early Christianity, Diss. Denver 2019) oder formulierte sich als religionsgeschichtliches Interesse (Jörg Rüpke, Der Hirte des Hermas. Plausibilisierungs- und Legitimierungsstrategien im Übergang von Antike und Christentum, in: ZAC 8 [2005], 276–298). 53 S. 151–174 in diesem Band. 54 Auf der Tagung, auf die dieser Band zurückgeht, war u.a. auch ein Vortragsbeitrag von Ludger Körntgen vertreten, der die wesentlichen Schlussfolgerungen seiner Bon ner Dissertation zur Debatte stellte: Ludger Körntgen, Studien zu den Quellen der frühmittelalterlichen Bußbücher (QFRMA 7), Sigmaringen 1993. 55 Vgl. v.a. Ulrich Volp/Friedrich W. Horn/Ruben Zimmermann (Hgg.), Metapher – Narratio – Mimesis – Doxologie. Begründungsformen frühchristlicher und antiker 51
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3. Die Quellen zur Buße in der Alten Kirche in der Perspektive der patristischen Ethik 3.1. Die metaethische Perspektive Es gibt eine Reihe von Texten prominenter Kirchenväter, die beste hende Bußregeln mit überkommenen philosophischen Konzepten in ein Gespräch zu bringen versuchen. Gregor von Nyssa etwa gliedert die viel fältigen Bußfälle entsprechend der platonischen Seelenlehre: Dem ver nünftigen (τὸ λογικόν), dem begehrlichen (τὸ ἐπιθυμητικόν) und dem Zorn erregenden (τὸ θυμοειδές) Teil der Seele wird ein bestimmtes Fehl verhalten zugeordnet; auch die Bußfristen und -formen erhalten ihre Logik aus diesen anthropologischen Bestimmungen. An anderer Stelle verwendet er die aristotelische und für die patristische Ethik grundle gende Terminologie der Prohairesis: „Welche Heilung geschieht nur aus Zeit heraus? Nein, es kommt auf die Prohairesis desjenigen an, der durch Buße/Umwendung geheilt wird.“56
Gab es bisher Interpretationsversuche vonseiten der patristischen Ethik, so ging es oft um solcherlei Fragestellungen: Wieviel Platonismus, wieviel Aristotelismus oder Stoizismus lassen sich in Konzept, Vokabular, Wirklichkeitsverständnis des zu untersuchenden Textes identifizieren? Solches Fragen ist zweifellos berechtigt und bei Autoren wie Gregor von Nyssa, Johannes Chrysostomus oder Augustinus auch Ertrag verspre chend. Das Beispiel der ποραίρεσις, die für die ethischen Reflexionen des Origenes und noch viel mehr für Chrysostomos grundlegend war,57 zeigt das deutlich. Gleichwohl hat dieser Ansatz auch Grenzen: Nicht selten wurden vorfindlichen Normen philosophische Kategorien übergestülpt, ohne dass sich daraus nachhaltige Konsequenzen ergeben. Im Extremfall kokettiert ein Kirchenvater mit seiner philosophischen Bildung und verwendet konstruierte παραδείγματα, die letztlich ohne tatsächlichen
Ethik (Kontexte und Normen neutestamentlicher Ethik 6/WUNT 356), Tübingen 2016. Zum Forschungsbereich s. www.ethikmainz.de. 56 Gregor. Nyss., Ep. can. 3: τίς γὰρ ἂν ἐκ τοῦ χρόνου ἴασις γένοιτο; ἀλλὰ τὴν προαίρεσιν τοῦ ἑαυτὸν δι’ ἐπιστροφῆς ἰατρεύοντος. Ed. Mühlenberg 12,13f. 57 Vgl. Ulrich Volp, „Binde die Gebote auf Deine Seele“. Zum Einfluss anthropologi scher Begrifflichkeiten der Septuaginta auf die patristische Ethik, in: Johann Cook/ Martin Rösel (Hgg.), Toward a Theology of the Septuagint – Stellenbosch Congress on the Septuagint 2018 (SCSt 74), Atlanta 2020, 397–420.
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Einfluss auf die Entwicklung der christlichen Ethik geblieben sind.58 Andererseits bleiben Platonismus, Aristotelismus und Stoa die philoso phischen Bezugssysteme, ohne deren Kenntnis man die Texte der großen Väter jedenfalls oft nur missverstehen kann. 3.2. Die normative Perspektive Jemand wie Gregor von Nyssa, der Bußfälle diskutiert, definiert gele gentlich Normen auf eine Art und Weise, die zweifellos nachhaltige Fol gen zeitigen konnte: „Die eine (Sünde) wird Untreue (μοιχεία) genannt, die andere aber Hure rei (πορνεία)…59 Aber die Verfehlung der Hurerei ist auch als Untreue zu betrachten, denn es gibt nur eine legitime Verbindung, nämlich die zwi schen einer Frau und einem Mann,“60
so lautete die Definition Gregor von Nyssas, die bereits zu Beginn dieses Beitrags zitiert wurde. Anlass für diese Zeilen ist die Anfrage seines gerade zum Bischof ernannten Schülers, der angesichts des bevorstehenden Osterfestes alles richtig machen möchte und Gregor um Rat fragt: Wel che Vergehen sind mit welcher Bußfrist zu belegen usw.? Ergebnis dieser Anfrage ist ein kanonisch gewordener Brief, der ethische Normen und Unternormen definiert, die in vermutlich hunderten von Handschriften im Christentum Verbreitung fanden.61 Ein Beispiel für die große Bandbreite an Interpretationsmöglichkeiten, die sich durch eine unterschiedliche Bewertung tatsächlicher oder nur vermeintlicher Äquivokationen ergeben, bietet die tugendethische Konzeption von Augustinus, De moribus, die in der Forschung als teleologische, rationalistische Konzeption (ganz im Rahmen des von der antiken Philosophie vorgegebenen verharrend) genauso verstanden werden konnte wie als radikal innovatives, schriftbasiertes und anti-rationalistisches, geradezu fideistisches Konzept. Vgl. Christoph Horn, Augustinus über Tugend, Moralität und das höchste Gut, in: Therese Fuhrer/Michael Erler (Hgg.), Zur Rezeption der hellenistischen Phi losophie in der Spätantike, Stuttgart 1999, 173–190, gegen Gösta Hök, Augustin und die antike Tugendlehre, in: KuD 6 (1960), 104–130. 59 Vgl. Mt 15,19; Mk 7,22; Joh 8,3. 60 Gregor. Nyss., Ep. can. 3: τὸ μὲν γὰρ καλεῖται μοιχεία, τὸ δὲ πορνεία. … τὸ κατὰ πορνείαν πλημμέλημα, μοιχείαν εἶναι νομίζειν, διότι μία ἐστὶν ἡ νόμιμος συζυγία, καὶ γυναικὶ πρὸς ἄνδρα, καὶ ἀνδρὶ πρὸς γυναῖκα (ed. Mühlenberg 5,11–14). 61 Über 140 Manuskripte dieses Briefes sind erhalten geblieben, was für einen patristi schen Text eine weit überdurchschnittliche Überlieferungslage darstellt. Dies liegt freilich auch an der Überlieferung des „kanonischen“ Briefs in entsprechenden Rechts sammlungen und belegt zwar die Verbreitung, aber nicht notwendigerweise die Popu larität der darin enthaltenen Ideen. 58
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Auch die Bußbuchforschung hat in den letzten Jahren Bußtexte nicht nur, aber doch auch zur Bewertung gesellschaftlicher und ethischer Nor men des Frühmittelalters herangezogen – Normen, für die wir sonst kaum Quellen besitzen. Nicht selten müssen solche Texte dabei gegen den Strich gelesen werden, denn selten wird es wohl die Intention dieser Bücher gewesen sein, eine regelrechte christliche Ethik zu entwerfen. Mir scheint es dennoch wichtig zu sein, darauf aufmerksam zu machen, dass nicht wenige unserer Quellen implizit, aber oft genug auch explizit eine normative Ethik betreiben. Im Gegensatz zur philosophischen Metaethik formuliert die normative Ethik – der (relativ junge) Begriff62 ist nicht unproblematisch, aber eingeführt und in diesem Fall m.E. hilfreich – einen Maßstab oder Standard des „Sollens“, der es erlaubt, Handlungen oder Charakterzüge moralisch zu bewerten und die moralisch gebotene Handlung in einer konkreten Situation zu bestimmen.63 Das kann sich, wie in diesem Beispiel, auf sehr konkrete Handlungen beziehen; bestimmte Tugenden wie etwa die der „Virginität“ oder der „Demut“ dürfen als normgebend bezeichnet werden.64 Aber auch abstraktere Begriffe können in der patristischen Ethik solche Standards repräsentie ren, etwa bestimmte Konzeptionen von Leben65 oder von Leiblichkeit.66 Eine Quellenanalyse, die sich auf die Suche nach solchen expliziten und impliziten Normkonzepten macht, kann sich von der traditionellen Frage nach der Historizität bestimmter Bußregeln freimachen und theo logische Fragen stellen: Welches Gottesbild, welches Bild von der menschlichen Schöpfung, welche biblischen, welche nicht-biblischen Vgl. zu Begriff und Geschichte den Überblick bei Wolfgang H. Schrader, Norm. II. Ethik, in: HWPh 6 (1984), 910–918. 63 Antike Texte sprechen selten von „Normen“ (vgl. aber etwa Cicero, De leg. II 24,61, der an dieser Stelle die natura als norma legis bezeichnen kann), aber kennen doch eine Reihe von mehr oder weniger abstrakten Konzepten, die ein ethisch relevantes Sollen implizieren. Vgl. dazu Friedrich W. Horn/Ulrich Volp/Ruben Zimmermann (Hgg.), Ethische Normen des frühen Christentums. Gut – Leben – Leib – Tugend (Kontexte und Normen neutestamentlicher Ethik 4/WUNT 313), Tübingen 2013. 64 Das Verhältnis dieser beiden Tugenden zu den Bußtexten ist komplex und spannend. Vgl. Ekkehard Mühlenberg, Altchristliche Lebensführung zwischen Bibel und Tugendlehre. Ethik bei den griechischen Philosophen und den frühen Christen (AAWG.PH 3. Ser. 272), Göttingen 2006, 105–151. 65 S. dazu die Beiträge bei Horn (Hg.), Normen (s.o. Anm. 63), 179–304. 66 S. dazu Ulrich Volp, „Leib“ als ethische Norm in Antike und Christentum. Der Grundbegriff „Leib“/σῶμα und die Begründungszusammenhänge antiker christlicher Ethik: Horn u.a. (Hgg.), Normen (s.o. Anm. 63), 307–311, und die folgenden Bei träge ebd., 313–381. 62
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Normenverständnisse erscheinen hier? Kommt es zu einer Normenum wertung oder zu Normenangleichung?67 Was macht die Formulierung von Maßstäben und Normen mit gesellschaftlichen Dynamiken, etwa den Codes der antiken Honour-Shame-Kultur, mit biologischen und kul turellen Dimensionen von Schande/Scham und Ehre usw.?68 Dies ist ein umso dringenderes Forschungsdesiderat, weil die überkommene Vorstel lung einer relativen Einheit des soziokulturellen Raums, aus dem die antiken christlichen Quellen stammen, inzwischen mit guten Argumen ten in die Kritik geraten ist.69 Weitere differenzierende Forschungen sind deshalb dringend angebracht.
Ein Beispiel dafür liefert die Diskussion über die Normen in Tertullians De paenitentia. Wilhelm-Hooijberg bezeichnete diese als eine „fusion of Old Testament and Roman pagan elements“. Es ist ein Urteil, über das man sicher streiten kann, das aber die Problematik deutlich macht: Anna E. Wilhelm-Hooijberg, Peccatum. Sin and Guilt in Ancient Rome, Groningen-Djakarta 1954, 106. 68 Zu ständigen Referenzbeziehungen, aber auch erheblichen Umdeutungen kommt es im Hinblick auf die Codes der antiken Honor-Shame-Kultur, auf biologische und kulturelle Dimensionen von Schande/Scham und Ehre. Die grundlegenden Begriffe wurden von der Kulturanthropologie seit der Mitte des 20. Jahrhunderts geprägt, vgl. Julian Pitt-Rivers, The people of the Sierra, New York 1954; ders. (Hg.), Mediterra nean countrymen. Essays in the social anthropology of the Mediterranean, Paris 1963; John K. Campbell, Honour, Family and Patronage, London 1964. Das Potenzial zum Verständnis der Ethik der Bußtexte wurde m.E. immer noch längst nicht ausge schöpft. Wegweisend für das neutestamentliche Material (trotz aller vielkritisierter Schwächen, s. die im Folgenden genannte Lit.) war Bruce J. Malina, The New Tes tament World. Insights from Cultural Anthropology, Atlanta 1981/32001. Gleichzei tig sind an den Parametern dieser älteren Forschungen inzwischen Differenzierungen angebracht. Ob der geographische Raum „ancient mediterranean“ tatsächlich über einheitliche Koordinaten verfügte, ist gerade hinsichtlich ethischer Normen zu hin terfragen. Vgl. in diesem Sinne bereits Michael Herzfeld, Honour and Shame. Prob lems in the Comparative Analysis of Moral Systems, in: Man.NS 15 (1980), 339–351, der auf die große Bandbreite an „local, social, sexual, economical and other standards“ und die Uneinheitlichkeit des geographischen Raums hinweist. Vgl. zur antiken Lite ratur und Ethik bis Aristoteles etwa Douglas L. Cairns, Aidos. The Psychology and Ethics of Honour and Shame in Ancient Greek Literature, Oxford 1993 (kritisch dazu Elizabeth Belfiore, Rec. ad op. cit. in: AJP 115/4 [1994], 609–612); Bernard Wil liams, Shame and Necessity, Berkeley 1993 (dt. Scham, Schuld und Notwendigkeit. Eine Wiederbelebung antiker Begriffe der Moral, Berlin 2000); 69 S. dazu nur Sandra Busatta, Honour and Shame in the Mediterranean, in: Antrocom 2 (2006), 75–78. Busatta weist – informiert durch Ergebnisse der neueren Gender forschung – nicht zuletzt auf die großen Unterschiede der Sozialsysteme zwischen Stadt und Land hin, die die ältere Forschung nicht immer ausreichend im Blick hatten. 67
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3.3. Buße und narrative Ethikbegründung Die narratio als Begründungsform der Ethik ist in den letzten Jahren zu einem Schlüsselthema der biblischen Ethik geworden. Die Parabelfor schung hatte schon vor langer Zeit erkannt, welche Bedeutung Geschich ten für die Grundlegung ethischer Reflexion haben.70 Auch die aktuelle philosophische und theologische Ethik hat die narrative Ethik als „lebens nahe“ Kategorie entdeckt oder wiederentdeckt.71 Das hier entwickelte hermeneutische Instrumentarium lässt sich auch für die Quellen zur Buße in den ersten vier Jahrhunderten gewinnbringend einsetzen. Schließlich stammt ein erheblicher Teil der relevanten Textmenge seit Origenes aus der homiletischen und exegetischen Literatur, die zweifellos für die narrative Ethik die wichtigsten patristischen Textgattungen dar stellen. Selbst ein oft so theoretisch argumentierender Geist wie Clemens von Alexandrien greift in Quis dives salvetur auf narrative Begründungs formen zurück, wenn er diese für unsere Kenntnis des frühen Bußwesens nicht unwichtige Schrift nicht nur mit Beispielen aus den neutestament lichen Erzählungen füllt, sondern seine Abhandlung mit der frei nacher zählten Geschichte des Apostels Johannes abschließt: „Zuletzt aber, als er einen Jüngling von stattlichem Körper und hübscher äußeren Erscheinung und feuriger Gemütsart gesehen hatte, richtete er sei nen Blick auf den dort eingesetzten Bischof und sagte zu ihm: ,Diesen Jüng ling vertraue ich mit allem Ernst deiner Fürsorge an…‘ Aber da der Jüngling zu frühe Freiheit erlangt hatte, gesellen sich zu ihm zu seinem Verderben einige müßige und liederliche Altersgenossen, die an schlechte Taten gewohnt waren, und zuerst verlocken sie ihn durch üppige Schmausereien, Vgl. nur etwa Ruben Zimmermann, Narratio als Begründungsform der Ethik. „Nar rative Ethik“ in Philosophie, Literaturwissenschaft und Theologie, in: Volp u.a. (Hgg.), Metapher (s.o. Anm. 55), 91–104. Zum Stand der Parabelforschung vgl. zuletzt ders. (Hg.), Faszination der Wunder Jesu und der Apostel. Die Debatte um die frühchristlichen Wundererzählungen geht weiter (BThS 184), Göttingen 2020. 71 Beispielhaft seien genannt: Michael Roth, Narrative Ethik. Überlegungen zu einer lebensnahen Disziplin, in: Volp u.a. (Hgg.), Metapher (s.o. Anm. 55), 123–139; Elisabeth Gräb-Schmidt, Der Wirklichkeits- und Normativitätsanspruch der Ethik. Überlegungen zu Grundlegungsfragen der Ethik in reformatorischer Sicht, in: Michael Roth/Marcus Held (Hgg.), Was ist eine Theologische Ethik? Grundbestimmungen und Grundvorstellungen, Berlin/New York 2018, 41–63; Ulrich Volp, Patristische Perspektiven. Zu den Ursprüngen christlicher Ethik, in: ebd., 255–268; Karen Joisten (Hg.), Narrative Ethik. Das Gute und das Böse erzählen (DZPh.S 17), Berlin 2007; sowie die Beiträge in dem Band Marco Hofheinz/Frank Mathwig/Matthias Zeindler (Hgg.), Ethik und Erzählung. Theologische und philosophische Beiträge zur narrati ven Ethik, Zürich 2009. 70
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sodann nehmen sie ihn wohl auch mit, wenn sie nachts auf Straßenraub ausziehen; schließlich verlangten sie von ihm, dass er sich auch bei noch schlimmerem Tun beteiligte.“72
Es folgt eine bunte Schilderung der Raubzüge des Jünglings, die durch eine Bekehrungsgeschichte mit anschließender Buße zu einem guten Ende führt. Die Bedeutung solcher narrativer Texte für ein angemessenes Verständnis der Buße in der Alten Kirche wird meiner Ansicht nach immer noch unterschätzt. Nimmt man das große Zutrauen in die argu mentative Kraft von Geschichten zum Maßstab, dass sich in der aktuel len theologischen Ethik vermehrt findet,73 so sollten sich daraus auch Konsequenzen für unsere Lektüre der Kirchenvätertexte ergeben. Viel leicht ist hier auch eine der Antworten auf die Frage zu finden, warum sich überhaupt in den ehr- und schambewussten antiken Gesellschaften das Bußinstitut durchsetzen konnte – eine Frage, die moderne Leserin nen und Leser immer wieder fassungslos zurücklässt: Wie konnten sich die Menschen in Spätantike und frühem Mittelalter freiwillig solch demütigender Bußriten unterziehen, wie sie in den Quellen geschildert werden? 3.4. Die mimetische Perspektive Ganz Ähnliches gilt für die mimetische Ethik. Geschichten mit einer ethischen Intention werden oft mit dem pädagogischen Ziel der Nach ahmung (Mimesis) als Strukturelement konstruiert: Die Heiligenviten, auf die der Beitrag von Peter Gemeinhardt näher eingeht,74 sind nur ein Beispiel dafür. Aber nicht alle Erzählungen halten Vorbilder bereit, denen man nachahmen soll. Vor allem aber ist die Mimesis nicht nur die viel leicht wichtigste Grundlage sozialen Verhaltens überhaupt,75 sie ist Clem. Alex., Quis dives salvetur 42,3–5: ἐπὶ πᾶσι τῷ καθεστῶτι προσβλέψας ἐπισκόπῳ, νεανίσκον ἱκανὸν τῷ σώματι καὶ τὴν ὄψιν ἀστεῖον καὶ θερμὸν τὴν ψυχὴν ἰδών, „τοῦτον“ ἔφη „σοὶ παρακατατίθεμαι μετὰ πάσης σπουδῆς“… τῷ δὲ ἀνέσεως πρὸ ὥρας λαβομένῳ προσφθείρονταί τινες ἥλικες ἀργοὶ καὶ ἀπερρωγότες, ἐθάδες κακῶν· καὶ πρῶτον μὲν δι‘ ἑστιάσεων πολυτελῶν αὐτὸν ὑπάγονται, εἶτά που καὶ νύκτωρ ἐπὶ λωποδυσίαν ἐξιόντες συνεπάγονται, εἶτά τι καὶ μεῖζον συμπράττειν ἠξίουν. Ed. Stählin, GCS 17, 188,9–189,1 (Übers. ders., BKV 2.R.8, 276). 73 Vgl. nur die Lit. in Anm. 71. 74 S. 109–149 in diesem Band. 75 Die Begrifflichkeit, die als μίμησις grundlegend etwa für Platons pädagogische Ansich ten ist (Plat., Resp. 376e u.ö.), ist spätestens seit den Überlegungen Walter Benjamins auch in die moderne Ethik und Philosophie eingeführt und wurde etwa von Paul 72
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bedeutender Antrieb für das, was menschliche Moralität ausmacht. Den Kirchenvätern war oft genug bewusst, dass die Wirkung von in philoso phischen oder theologischen Abhandlungen formulierten ethischen Prin zipien weit hinter dem zurückbleibt, was ethische Vorbilder leisten kön nen (ich denke dabei etwa an die Predigten eines Johannes Chrysostomus). Für die Bußforschung bedeutet das: Eine isolierte Betrachtung von Kir chenordnungen oder Bußcanones trägt zu einem Verständnis der Buße in der Alten Kirche weniger bei als manche zu glauben geneigt sind. Diese Quellen klammern jedenfalls die Subjektperspektive der Büßenden aus, die ganz wesentlich als eine Nachahmende nachzuzeichnen ist. Wer oder was dort nachgeahmt wurde, das können wir aber durchaus durch das Studium anderer Quellen ein Stück weit erfassen – die patristische Literatur bietet hier einen unerhörten Reichtum dar, der nur darauf war tet, unter dieser Perspektive erschlossen zu werden. 3.5. Der gottesdienstliche Kontext: die doxologische Perspektive Im Gegensatz zur mimetischen Ethik, die theoretisch auch Begrün dungszusammenhänge für voneinander isolierte Individuen schaffen kann, basiert die doxologische Perspektive auf der historischen Einsicht, dass die Bekehrung zum Christentum in den ersten Jahrhunderten die bewusste Eingliederung in eine außeralltägliche gottesdienstliche Ver sammlung bedeutete.76 Diese Gemeinschaft konstituierte sich im Gottes dienst; sie teilte aber eben auch einen Kanon an ethischen Normen, der bis zur Spätantike in einem – weithin bewusst wahrgenommenen – Gegensatz zu Normen des überkommenen sozialen Systems des alten Griechen- und Römertums stand. Auch hier reicht es, auf „Virginität“ und „Demut“ zu verweisen.77 Ich habe an anderer Stelle einmal auf die Bedeutung der Anaphorai, der großen Lob- und Dankgebete des vierten Ricœur und Jacques Derrida weitergeführt (bzw. im Hinblick auf Platon dekonstru iert). Vgl. Walter Benjamin (1933), Über das mimetische Vermögen, GS II 1, Frank furt 21989, 204–210; ders., Lehre vom Ähnlichen, ebd., 210–213; Paul Ricœur, Temps et récit, 3 Bde., Montrouge 1983–1985 (dt. Zeit und Erzählung, 3 Bde. München 1988–1991); Jacques Derrida, De la grammatologie, Paris 1967/Nachdruck 2011 (dt. Grammatologie, Frankfurt 1983). Zur Bedeutung für die antike christliche Ethik s. die Beiträge in: Volp u.a. (Hg.), Metapher (s.o. Anm. 55), 191–287. 76 Vgl. in diesem Sinn u.a. Sotiris Despotis, Doxologische Ethik im 2. Timotheusbrief, in: Volp u.a. (Hgg.), Metapher (s.o. Anm. 55), 355–373, sowie die weiteren Beiträge zur doxologischen Ethik in jenem Band: ebd., 291–439. 77 Vgl. S. 16.
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Jahrhunderts, für die patristische Ethik hingewiesen.78 Was hier häufig genug nur mittelbar erkennbar ist – etwa die ethischen Konsequenzen des doxologisch befestigten Schöpferglaubens –, das tritt im gottesdienst lichen Kontext der Bußpraxis ganz offen ans Licht: Gebete, Schriftlesun gen, Psalmen und Hymnen erhalten einen Teil ihrer Sinnbedeutung im jeweiligen gottesdienstlichen Kontext. Wenn dieser durch die Anwesen heit von Büßerinnen und Büßern affiziert wird, so muss diese Perspektive Berücksichtigung finden. Der in manchen Texten peinlich genau beschriebene Abstand einer optisch, akustisch und olfaktorisch spektaku lär präsenten Büßerin oder eines Büßers zum Ort der gottesdienstlichen Doxologie konnte nicht ohne Einfluss auf die Wahrnehmung der darin formulierten theologischen Grundüberzeugungen bleiben.79 4. Schluss Am 11. November 2021 schrieb Ekkehard Mühlenberg einen ausführ lichen Brief. Er erinnerte daran, dass er es war, der vor dem Hintergrund seiner Forschungen zu Gregor von Nyssa und zur altchristlichen Ethik das Thema „Die Buße in der Alten Kirche“ der Patristischen Arbeitsgemein schaft vorgeschlagen hatte. Der vorliegende Band und die ihm vorangegan gene Tagung ist das Ergebnis dieses Vorschlags; an beidem konnte Müh lenberg selbst nicht mitwirken. Der Brief spricht von der „ungeheuren theologischen Umwälzung“, die in den ersten vier Jahrhunderten des Christentums passiert und deren Verlauf und Charakter bis heute noch weitgehend unverstanden sei: „Eine Tiefenbohrung … [muss] unbedingt geleistet werden“.80 Ich bin mir nicht sicher, ob der vorliegende Band die sem doppelten Wunsch gerecht werden kann, denn Mühlenberg verlangt eigentlich zweierlei: Detaillierte Quellenstudien, die aufgrund des inzwischen oft besser verstandenen Charakters der unterschiedlichen Quellenarten ein hochspezialisiertes Vorgehen erfordern. Gleichzeitig ent lässt er uns nicht aus der Verpflichtung, eine Theorie zu den g rundlegenden Ulrich Volp, Ritus und Ethik: Die Konstituierung des Ethos nachkonstantinischer Gemeinden, in: Wolfram Kinzig/Ulrich Volp/Jochen Schmidt (Hgg.), Liturgie und Ritual in der Alten Kirche (Patristic Studies 10), Leuven 2011, 43–68; ders. Der nachkonstantinische Gottesdienst als „Vermahnung zur Tugend“. Überlegungen zur „Ethik“ antiker liturgischer Quellen, in: Volp u.a. (Hg.), Metapher (s.o. Anm. 55), 421–439. 79 Zu denken ist nur exemplarisch an die doxologische Rede vom Christus, der zur Rechten Gottes sitzt und zum Gericht wiederkommen wird. 80 Ekkehard Mühlenberg, Brief an Ulrich Volp, Göttingen 2021. 78
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s ozial- und geistesgeschichtlichen Umwälzungen, die diese Quellen verbin den, zu entwickeln. Das vorliegende Buch präsentiert Forschungsergebnisse aus unterschiedlichen spezialisierten Bereichen, der Religionsgeschichte der neutestamentlichen Zeit, der Liturgiegeschichte, der Patristik, der Kirchen geschichte und der frühmittelalterlichen Bußbuchforschung. Ich hoffe, dass es über mancherlei weiterführende Einzelergebnisse genügend Fragen auf zuwerfen imstande ist und vielleicht auch den einen oder anderen Erkennt nisweg skizziert, der bei den „großen“ Fragen der Buße in der Alten Kirche noch eingeschlagen werden könnte und müsste.
Homeward Bound: Die Normativität des Ursprungs und die Ethiken der Umkehr Marco Frenschkowski (Leipzig)
1. „Umkehr“ und „Bußbewegung“: einleitende Unterscheidungen Die Kategorien, in denen wir antike religiöse Systeme wahrnehmen, sind bekanntlich allesamt hinterfragt worden, insbesondere die Kategorie Religion selbst.1 Diese Infragestellung der Kategorien, ein Grundzug neuerer Kulturwissenschaften, betrifft nun auch Begriffe wie apokalyptische Bewegung, messianische Bewegung, Missionsreligion, Heidenchristentum, Judenchristentum, Erlösungsreligion usw. Im Kontext der in diesem Band dokumentierten Tagung wird nach „Buße“ gefragt, nach Umkehr, und es ist der Arbeitsauftrag des folgenden Beitrages, dazu in Hinsicht auf die Jesusbewegung zu reflektieren, ob wir sie erkenntnisfördernd als Bußbewegung verstehen können. Was gewinnen wir mit dieser Charakterisierung: Was erschließt sie, was tritt damit in den Blick? Passt ein solcher Begriff auf die Anhängerschaft Jesu, und wenn ja, in welchem Sinn passt er?2 Als Bewegung bezeichnen wir dabei üblicherweise etwas Unorganisiertes oder erst in den Anfängen einer Institutionsbildung Exemplarisch: Richard Klein, The Copernican Turn in the Study of Religion, in: ders. (Hg.), Religion Theory Critique. Classic and Contemporary Approaches and Methodologies, New York 2017, 1–20. Dieser Band ist eine grundlegende Bestandsaufnahme der neuen Paradigmen und Methodologien in der Religionswissenschaft. 2 Der weitreichendste Angriff auf den Begriff Buße (repentance) stammt von David A. Lambert, How Repentance Became Biblical. Judaism, Christianity, and the Interpretation of Scripture, Oxford 2016. Er hält die christlichen Bußtheologien für ein grundsätzliches Missverständnis der biblischen Traditionen. Ich verzichte auf eine Diskussion dieser m. E. überzogenen Thesen. Übrigens erhebt er den gleichen pauschalen Vorwurf auch gegen die jüdischen Darstellungen der rabbinischen Aussagen zum Thema, wenn sie eine Kontinuität zu Aussagen der hebräischen Bibel herstellen wollen (222, Anm. 100). Auch die Qumran-Passagen seien in der Forschung weitestgehend missverstanden worden. Vgl. speziell dazu die vernichtende Kritik von HeinzJosef Fabry, šûb, in: ThWQumran 3 (2016), 861–878, hier 875–877. 1
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Befindliches, oft als thematisch-inhaltliche Entwicklung in einem begrenzten, definierbaren kulturellen Milieu, aber mit eigener Anhängerschaft, einem Drinnen und Draußen. Das wird man für die Jesusbewegung sagen können. Aber wie zentral ist das Thema Buße für diese? Wolfgang Gantke hat behauptet, Buße besitze in nahezu allen nichtchristlichen Religionen einen geringeren Stellenwert als im Christentum, unterstreicht aber etwas widersprüchlich dazu, dass der Begriff auf außereuropäische religiöse Zusammenhänge kaum anwendbar sei oder zumindest falsche Vorstellungen wecke.3 Buße und auch Sünde seien keine anthropologischen Konstanten, und gerade die sehr divergierenden Konzepte von Verfehlung, Makel, Miasma, Schuld erzeugten sehr unterschiedliche Bußideen. Damit treten einige weitere Aspekte in den Blick, die wir hier nicht vertiefen können. Doch präzisieren wir zuerst unsere Fragestellung. Die Formen einer Beichte bzw. eines Schuldbekenntnisses, die leichter deutlich zu beschreiben sind als das Konzept Buße allein, verteilen sich (darin ist Gantke Recht zu geben) ganz unterschiedlich auf die antiken Religionen: Judentum und Christentum sind sie durchgehend vertraut, überhaupt den Religionen im semitischen Sprachraum (Babylon, auch Syrien), ebenso in sehr hohem Maße den indo-iranischen Religionen und ihren missionierenden Formen (Buddhismus, Jainismus) und vielleicht auch von daher dem Manichäismus. Die Beichte war hier fest ritualisiert und fand an Montagen sowie beim Bema-Fest statt, aber wir würden den Manichäismus keine Bußbewegung nennen. Ähnliches wäre für den Mandäismus zu sagen, dessen Ursprünge vielleicht doch in das zweite oder dritte Jahrhundert führen.4 Kaum oder gar nicht sind Formen der Beichte dagegen den alteuropäischen Religionen vertraut, und eher wenig auch dem griechischen Kulturraum insgesamt (zu Ausnahmen später). Auch dem Islam ist sie fremd (allenfalls an Derwischorden wie die Bektaschi könnte man denken, wo das Ritual christlichen Einfluss darstellen mag). Das ist freilich sehr pauschal gesagt und bedürfte vieler Spezifizierungen und genaueren Differenzierungen. Jedenfalls ist die Etablierung fester Wolfgang Gantke, Buße I. Religionsgeschichtlich, in: RGG4 1 (1998), 1803–1905, hier 1903. 4 Der wichtigste manichäische Text zum Thema ist ediert bei Jes P. Asmussen, Xuāstvānīft: Studies in Manichaeism (ATDan 7), Kopenhagen 1965. Noch nicht vor liegt mir die Neuausgabe der iranischen Textzeugen von Nicholas Sims-Williams, A Manichaean Prayer and Confession Book (CFM: Series Iranica, 1), Turnhout 2021. Über die Beichte bei den Mandäern s. etwa Kurt Rudolph, Die Mandäer 2. Der Kult (FRLANT N.F. 57), Göttingen 1961, 236–254. 3
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Beichtformulare, wie man sie z.B. sehr gut aus dem Zoroastrismus kennt (Buch-Pahlavi pātit, avest. paititi),5 als stabiler Ritualbestandteile noch kein Indiz für eine Bußbewegung; wir werden das noch genauer zu differenzieren haben. Beichtrituale sind Formen stabiler Elimination von Sünde oder Schuld; sie konstituieren aber noch nicht ein religiöses System als Bußbewegung (das gilt auch dann, wenn Reue und Bußakt sehr energisch eingefordert werden, wie etwa im zoroastrischen Šāyest-nē-šāyest 8,7 Tavadia derjenige sicher in die Hölle kommt, der sie versäumt). Die Buße muss vielmehr das religiöse Imaginarium und die religiöse Praxis so bestimmen, dass sie zur Lebensmitte der Bewegung gehört, und zu ihr muss aktiv aufgerufen werden. Erst dann werden wir von einer Bußbewegung sprechen. Dabei ist eine methodische Voreinsicht mit zu bedenken. Wer kulturund religionsgeschichtlich fragt, wendet sich gegen eine Blickweise, die „Kern“ und „Schale“, Überzeitliches und Zeitliches oder sonst „Wichtiges“ und „Marginales“ programmatisch unterscheiden will. Die Unterscheidung „Kern“ vs. „Schale“ hat in unterschiedlichen Gestaltungen beträchtlichen Schaden verursacht, den die kulturwissenschaftliche Rückfrage nur langsam aufarbeiten kann.6 Was „wichtig“ oder „marginal“ ist, hängt in einem kulturwissenschaftlichen Horizont ausschließlich an der jeweiligen konkreten Fragestellung, und variiert daher ständig. Was für frühe Christinnen und Christen selbst in dem einen oder anderen Kontext wichtig oder weniger wichtig gewesen sein mag, kann nur Gegenstand historischer Forschung selbst sein, und kann jedenfalls nicht aus gegenwärtigen gesellschaftlichen oder kirchlichen Bedürfnissen extrapoliert werden. Aber blicken wir nun zuerst auf die μετάνοια in der Jesusbewegung selbst. Wir werden versuchen, das Thema in einer Art Kreisbewegung in Sie kann auch stellvertretend für einen verstorbenen Angehörigen abgelegt werden, wie im frühen Christentum die Vikariatstaufe. Vgl. Geo Widengren, Religionsphänomenologie, Berlin 1969, 273 (der überhaupt nach wie vor lehrreich zum Thema Beichte und Buße ist, ebd. 258–279). Ausführlich zu zoroastrischen Beichtritualen (die zuweilen auch innerhalb der parsischen Community umstritten waren) s. Michael Stausberg, Die Religion Zarathushtras. Gegenwart – Geschichte – Rituale 1, Stuttgart 2002, 307–311 u.ö. 6 Um exemplarisch eine einzige ältere Stimme aus der Geschichte meiner Fakultät zu zitieren: C.F. Georg Heinrici schrieb: „Das ursprüngliche Christentum ist in seiner Entwickelung in die verschiedenartigsten Verbindungen eingegangen und doch schließlich immerdar sich selbst gleich geblieben. Der Kern bleibt keimkräftig; die Schalen werden abgestoßen, wenn die Zeit dazu reif ist“ (Theologie und Religionswissenschaft, Leipzig 1902, 31). Andere unterschieden zwischen „Vergänglichem“ und „Bleibendem“ usw. Solche Unterscheidungen sind in manchen Metamorphosen nach wie vor präsent, aber kulturwissenschaftliche fragwürdig, da sie sehr stark mit unseren modernen Interessen interagieren. 5
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den Blick zu bekommen, die bei Jesus und Johannes dem Täufer anfängt, dann das jüdische und hellenistische Umfeld bedenkt (letzteres vor allem am Beispiel der kleinasiatischen Beichtinschriften), um im letzten Teil die eigentliche These zu entwickeln. Diese wird, um das schon vorweg anzukündigen, Umkehr als nicht nur ethisches Geschehen charakterisieren, sondern als mythologische Neubeheimatung des Menschen in einem nostalgisch-utopischen normativen Ursprung. Das Ganze mündet in den Versuch einer differenzierten Antwort auf die gestellte Ausgangsfrage. Ein Generalnenner jesuanischer Ethik ist die Umkehr (μετάνοια) jedenfalls gewesen.7 Sie tritt im Christentum gerne in den Schatten des Liebesgebotes, ist aber als zentrale Forderung Jesu sehr gut bezeugt, und gehört sicher zum Grundgerüst seiner ethischen Aussagen. Primär tritt sie im Modus des Imperativs auf. Mk 1,15 bringt sie bereits in einem ersten Summarium der Botschaft Jesu: πεπλήρωται ὁ καιρὸς καὶ ἤγγικεν ἡ βασιλεία τοῦ θεοῦ· μετανοεῖτε καὶ πιστεύετε ἐν τῷ εὐαγγελίῳ (vgl. 6,12 als Inhalt der Jüngerpredigt). So wie die ersten beiden Indikative offenbar synonym sind und auf verschiedene Weise sagen, was die Stunde geschlagen hat, wird man auch für die beiden Imperative annehmen dürfen, dass sie für den Evangelisten je Facetten der gleichen Sache zur Sprache bringen. Die Umkehr8 ist also zugleich Glauben an das Allgemeine Literatur (exemplarisch): Hilarius Emonds, Bernhard Poschmann, Buße, in: RAC 2 (1954), 802–814; Jes P. Asmussen/Isnard W. Frank/Ernst Bezzel/Helmut Obst/Manfred Mezger, Beichte, in: TRE 5 (1980), 411–439; Hans Wißmann/Peter Welten/Louis Jacobs/Jürgen Becker/Gustav A. Benrath/Falk Wagner/Inge Lønning/ Ludwig Schmidt, Buße, in: TRE 7 (1981), 430–496. Textsammlung: Heinrich Karpp (Hg./Übers.), Die Buße: Quellen zur Entstehung des altkirchlichen Bußwesens, Zürich 1969 (auch in franz. Fassung 1970; Texte bis Cyprian). Religionsgeschichtlich: Michael Sievernich/Klaus Ph. Seif (Hgg.), Schuld und Umkehr in den Welt religionen, Mainz 1983; Klaus Zinniel, Buße, in: HrwG 2 (1990), 188–190; Jan Assmann/Guy G. Stroumsa (Hgg.), Transformations of the Inner Self in Ancient Religions (SHR 83), Leiden 1999. Der Klassiker (aber eher zur rituellen Beichte als allgemeiner zum Thema Buße) ist natürlich Raffaele Pettazzoni, La confessione dei peccati. 3 Bände, Bologna 1929–1936 (Reprint 1968; Bd. 1 auch zweibändig in revidierter franz. Übersetzung 1931–1932); Widengren, Religionsphänomenologie (s.o. Anm. 5) bietet eine Zusammenfassung seiner wichtigsten Thesen. 8 Zum Begriff vgl. Ernst Würthwein/Johannes Behm, μετανοέω, μετάνοια, in: ThW 4 (1942), 972–1004 (Behms Beiträge sind materialreich, aber mit antisemitischen Klischees versetzt); Helmut Merklein, μετάνοια, μετανοέω, in: EWNT 2 (21992), 1022– 1031; Robert Joly, Note sur metanoia, RHR 160 (1961), 148–156; Lorenzo Alvarez Verdez, Mετάνοια, μετανοεῖν en el griego extrabiblico, in: E. Javier Alonso Hernández/ Lorenzo Alvarez Verdes (Hgg.), Homenaje a Juan Prado: miscelánea de estudios bíblicos y hebraicos, Madrid 1975, 503–525. 7
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Evangelium,9 oder zumindest dessen erster Bestandteil. Die Logienquelle (Q) hat das Substantiv in Q 3,8 „Frucht der Buße“10 im Kontext der Gerichtsankündigung des Johannes (Q 3,7–9), das Verb in einer Potentialis Q 10,13 (Weheruf über Chorazin und Bethsaida); 11,32 in einem Rekurs auf die erfolgreiche Umkehrpredigt des Jona (der in Galiläa eine Art Regionalprophet war); vielleicht Q 15,10 im Wort über die verlorene Drachme, dessen Zugehörigkeit zu Q unklar ist (Freude bei den Engeln über einen Sünder, der umkehrt); schließlich 17,3 im Wort über die siebenmalige Vergebung, in der sich die Umkehr auf das menschliche Miteinander bezieht. In den späteren Evangelien ist es ähnlich, allerdings spielt das Wortfeld bei Johannes wie auch bei Paulus fast gar keine Rolle. Wir werden für diese Beobachtung im Folgenden auch eine Erklärung finden. Jesus hat sie als Thema wohl mit dem Täufer gemeinsam (so sieht es jedenfalls Mt 3,2; 4,17, der die Unterschiede zwischen beiden damit zurückdrängt), und er spricht in jedem Fall einen ethischen Komplex an, der seinem Publikum vertraut ist.11 Dennoch bleibt der Begriff vage programmatisch, und kann sich mit durchaus divergierenden Bildern verbinden, vor allem wenn es darum geht, wohin eigentlich genau umzukehren sei. Das wird im Folgenden eine zentrale Frage sein. Das Gleichnis vom verlorenen Sohn akzentuiert die Rückkehr sehr deutlich als eine zu Gott selbst, nicht einfach zum Thoragehorsam, der hier im Grunde kaum im Blick ist. Er mag mit intendiert sein, aber das wird an keiner Stelle gesagt. Dazu ebenfalls genauer sofort. Inwiefern hat Umkehr bzw. Buße (wenn wir so sagen dürfen) bei Jesus bereits einen rituellen Bezug? Doch hören wir nie von einer Beichte vor einem spezifischen Publikum oder Beichtiger, eher von einem spontanen Die Verwendung des Begriffes ist hier nach der Mehrheitsmeinung schon Missionssprache. 10 Diese Wendung wird von Jesus selbst nicht verwendet, soweit wir sehen können. 11 Das gilt auch für die Reich-Gottes-Terminologie. Hans Weder, Buße IV. Christentum, 1. Neues Testament, in: RGG4 1 (1998), 1908, leugnet, dass die Umkehr beim historischen Jesus eine besondere Rolle gespielt habe. Auch Jürgen Becker, Buße (wie Anm. 7), 446–449, widerspricht einer Überschätzung der Umkehr bei Jesus. Dabei wird aber die Präsenz des Themas ohne den Gebrauch des Stichwortes unterschätzt, z.B. in den Gleichnissen. Wovon spricht Lk 12,16–21, wenn nicht von einer Umkehr, die nicht stattgefunden hat? Die gesamte Gerichtspredigt Jesu zielt auf Umkehr, was Becker in einer mir nicht verständlichen Argumentation bestreitet (die Jesu Umkehrruf offenbar ausschließlich als Heilsbotschaft deuten möchte). Vgl. einleuchtender Marius Reiser, Jesus and Judgement. The Eschatological Proclamation in Its Jewish Context, Minneapolis, Minn. 1997. 9
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Bekenntnis. Im Fall Johannes des Täufers scheint an eine Art öffentliche Beichte vor einer Menschenmenge gedacht zu sein, vielleicht mit etwas tumultuarischen Zügen (so stellen es sich Mk 1,5; Mt 3,6 vor; eher an eine Art Gespräch denkt Lk 3,10–14). Solche öffentlichen Bekenntnisse haben eine eigene Tradition, auch im Judentum.12 Doch kennt dieses primär private und andererseits gottesdienstliche Beichtakte: Sie sind Fokussierungen der Umkehr, freilich ohne das eschatologische Vorzeichen der Johannesbewegung (doch raten die Rabbinen zu einer Beichte vor dem Tod oder in Lebensgefahr, bSchabbat 32a). Bei Jesus hören wir von einem potentiellen rituellen Rahmen in den Logien nur in Hinsicht auf das „Lösen und Binden“, das etwas Ähnliches voraussetzt. Immerhin bekennt der Zöllner Zachäus vor Jesus, wessen er sich anzuklagen hat,13 und im Fall der Ehebrecherin von Joh 7,53–8,11 ist das offensichtlich.14 Die frühen Gemeinden kennen bald eine Praxis der Beichte, wie man sehr wohl wird sagen dürfen, auch wenn ihr erstes wirklich ausführliches und anschauliches Beispiel der Jakobusbrief bietet, der das Sündenbekenntnis in den Kontext der Fürbitte und des Gebetes für Kranke rückt (Jak 5,16).15 Spätestens im zweiten Jahrhundert hat es dann sich stabilisierende Formen des Sündenbekenntnisses gegeben, die man wohl schon Beichte nennen darf.16 Die ersten nachneutestamentlichen Erwähnungen finden sich in der Didache (15,3; 4,14 „ἐν ἐκκλησίᾳ ἐξομολογήσῃ τὰ Die alttestamentliche Tradition kennt öffentliche, sozusagen „nationale“ (sit venia verbo) Bußakte, z.B. in der Wüste (Num 14,40; Lev 26,40; nach der Verehrung des Goldenen Kalbes Ex 32,31), ausgerufen durch Samuel (1Sam 7,6), anlässlich der Königswahl (1Sam 12,10), im Kontext der nachexilischen Neukonstituierung (Esr 9,6f.15; Neh 1,6f.; 9,2–4.33–35), oder neben dem regelmäßigen öffentlichen Bußgebet durch den Hohenpriester an Jom Kippur (Lev 16,21). Das Gebet des Manasse ist ein bekanntes apokryphes Bußgebet (vgl. Bar 1,4). Persönliche und private Bußgebete sind seit den Psalmen fester Teil jüdischer Praxis. Das Neue Testament kennt sie z.B. Mt 5,23f.; Lk 18,13; 1Joh 1,9. 13 Später wurde darüber diskutiert, ob das Nicht-mehr-Tun des Bösen schon als Buße gelten könne: dagegen z. B. Augustinus, serm. 351,5,12. 14 Dazu jetzt: Jennifer Knust, Tommy Wasserman, To Cast the First Stone: The Transmission of a Gospel Story, Oxford 2020. 15 Zu diesem Text s. umfassend Dale S. Allison, James (ICC), London, New York 2013, 741–790 (bes. 770 zu der Frage, ob wirklich an ein gegenseitiges Bekenntnis gedacht ist). 16 Es ist in diesem Kontext nicht ohne Interesse, ihre programmatische Wiederent deckung auch in der evangelischen Kirche zu beobachten. Vgl. Peter Zimmerling, Beichte. Gottes vergessenes Angebot, 2. Aufl. Leipzig 2015/3. Aufl. Gießen 2018 und die Beiträge in ders. (Hg.), Handbuch Evangelische Spiritualität. 3 Bände, Göttingen 2017–2020, bes. 3, 537–560. 12
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παραπτώματά σου“; vgl. 10,6; 14,1), wo zwar eindeutig eine Beichte erwähnt wird, aber der Ritus keine Konturen gewinnt, dessen sie sich vielleicht bediente (ähnlich Barn 4,1f.13; 19,4.10–12; 1Clem 7,5; 8,5; 52,1; 56,1f.; 57,1 u.a.). Auch der Hirt des Hermas kennt die Beichte, geht aber ebenso wenig auf die äußere Form ein.17 Erst Irenäus von Lyon schilderte eine öffentliche Kirchenbuße im Detail (adv. haer. I,6,3; 13,5.7; III,3,4; 4,2 vgl. IV,40,1). Origenes verlangte die öffentliche Beichte im Fall von schwerwiegenden Sünden (in Lev. homil. 2,4 vgl. 5,3), und Tertullian charakterisiert die Lossprechung als richterlichen Akt (Apol. 39) usw. Augustin schildert den Brauch de civ. dei XXII, 8; serm. 320–324 usw. Als Distanzierungsform gegenüber der Sünde ist dies alles aber nicht mit dem identisch, worum es hier geht: Eine eigentliche Bußbewegung, die das religiöse Leben ganz vom Gedanken der Buße her gestaltet. Eine Nebenform der Beichte, woran wir en passant erinnern, sind weiter die Unschuldserklärungen, die nur scheinbar etwas anderes darstellen, und v.a. aus Ägypten bekannt sind.18 Beide verbindet das Pathos eines „damit will ich nichts zu tun haben“. In der lateinischen Elegie eines Lygdamus, Tibull und Properz und auch im antiken Roman (hier oft verfremdet, sogar ins Obszöne, wie bei Petronius) können sie nachgeahmt werden, vielleicht nach ägyptischen Vorbildern.19 Lucius, der Held des Apuleius, klagt im IsisTempel in Korinth der Göttin sein Leid und seine verfehlte Vergangenheit (Asinus aureus XI,18 vgl. XI,2,7), ähnlich Charikleia im letzten Buch der Aithiopika Heliodors, aber das kann man nur begrenzt als Beichte ansprechen. Allerdings kennt die ägyptische Tradition im Neue Reich durchaus Die Texte zum Thema stellt Karpp, Buße (s.o. Anm. 7), 40–95 zusammen. Am bekanntesten ist Thebanisches Totenbuch Spruch 125 (negatives Bekenntnis „Ich habe nicht…“). Vgl. zum ägyptischen Kontext z.B. Klaus Koch, Geschichte der ägyptischen Religion. Von den Pyramiden bis zu den Mysterien der Isis, Stuttgart u.a. 1993, 321–324. Die Form ist global verbreitet, wenn auch nicht häufig. Auf afrikanische Parallelen des negativen Bekenntnisses in Listenform hat z.B. schon J. Rendel Harris aufmerksam gemacht, Way-Marks. Sunset Essays 1, Cambridge 1930, 30f. Man hat sie auch als Vorgang der Ableugnung gedeutet: sie hätte dann einen regressiven, fast kindlichen Zug („Ich bin es nicht gewesen“). Zu babylonischen Beispielen s. Sam Mirelman, Lament and Ritual Weeping in the „Negative Confession“ of the Babylonian Akītu Festival, in: Journal of Ancient Near Eastern Religions 21 (2021), 42–74. 19 So die These von Reinhold Merkelbach, Die Unschuldserklärungen und Beichten im ägyptischen Totenbuch, in der römischen Elegie und im antiken Roman, Gießen 1987, auch in: ders., Philologica. Ausgewählte Kleine Schriften, Stuttgart u. Leipzig 1997, 95–112. Dort Besprechung der Texte. 17
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auf Verfehlungen bezogene Beichtakte (auch in juristischen Orakeln).20 Der demotische Papyrus Dodgson z.B. erzählt im zweiten Jahrhundert v. Chr. von einer öffentlichen Beichte im Osiristempel auf Elephantine.21 Ovid berichtet recht anschaulich über solche öffentlichen Beichtakte vor der Tür eines Isistempels (ep. ex Ponto I,1,51–54), und noch im vierten Jahrhundert kann ein christlicher Dichter einen solchen Aufritt eines vornehmen Römers als etwas „Beschämendes“ heftig angreifen (Ps.-Cyprian carmen 4 contra paganos ed. Hartel 3,303). Selbst astrologische Texte bezeugen diese offenbar halb-rituellen Akte (Catalog. Cod. Astrolog. Graec. VIII/4,148,22 und 166,11) usw. Sind dies aber eher Reinigungs- oder im engeren Sinn Bußakte? Auch Unschuldserklärungen sind kein Gegenmodell gegen die Beichte, sondern eine Variation des gleichen Grundanliegens: sich von Schuld, Verfehlung oder Miasma zu distanzieren. Im Christentum spielen Unschuldserklärungen allerdings keine Rolle, wohl aber eidliche Beteuerungen, bestimmte Dinge nicht zu tun, also eine Distanzierungsrhetorik wiederum anderer Art („sacramentum“, Plin. min. ep. X,96,7; auch die Taufe hat vielfach Züge eines Eides22). Wir kennen die Form der Unschuldsbeteuerung immerhin biblisch aus dem Buch Hiob, das kurioserweise bei frühen Christen nur sehr begrenztes Interesse fand: kein anderes alttestamentliches Buch vergleichbaren Umfangs wird im Neuen Testament so selten zitiert.23 Unser nächstes Anliegen wird es sein, nach der Bedeutung eines weiteren Umkehrdiskurses (wenn ich so sagen darf) im Kontext der spätantiken Religionsgeschichte zu fragen, den wir als Movens einer „Bewegung“ Über Beichtakte in der Isis- und Sarapis-Religion s. Reinhold Merkelbach, Isis regina – Zeus Sarapis, Stuttgart u. Leipzig 1995, 212f.285.341f.348.361f.370.394.423f. Ob man freilich von einer „Lebensbeichte“ des Lucius in Korinth sprechen sollte, wie Merkelbach, ebd. 285, formuliert, ist mir doch fraglich (er vergleicht Origen. c. Cels. III, 51). Er diskutiert später weitere relevante Texte wie den Roman des Achilleus Tatios VIII, 15,2–19,1). Die neuere große Studie von Svenja Nagel, Isis im römischen Reiche. 2 Bände, Wiesbaden 2019, behandelt die Frage leider nicht. 21 Günther Roeder, Die ägyptische Götterwelt, Zürich 1959, 340. 22 Die Belege sammelte schon Franz J. Dölger, Sphragis, eine altchristliche Taufbezeichnung in ihren Beziehungen zur profanen und religiösen Kultur des Altertums, Paderborn 1911, 126–140. 23 Paulus zitiert es nur zweimal ohne Herkunftshinweis, wozu zwei oder drei potentielle Anspielungen treten. Einziges explizites Zitat im Neuen Testament ist Jak 5,11. Das ändert sich erst bei Clemens Alexandrinus und Origenes. Vgl. Ernst Dassmann, Hiob, in: RAC 15 (1991), 366–442; Theresia Hainthaler, „Von der Ausdauer Ijobs habt ihr gehört“ (Jak 5,11). Zur Bedeutung des Buches Ijob im Neuen Testament (EHS, Reihe 23, Band 337), Frankfurt a. M. 1988. 20
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lausibel machen können. Wir beginnen mit einigen jüdischen Aspekten, p um dann einige pagane beizuziehen. Wie refiguriert sich persönliche und soziale Identität in Umkehrakten? Was ist der Unterschied zur Bekehrung (die durch Wortfelder wie ἐπιστρέφειν u.ä. abgedeckt wird)? Überhaupt ist zu fragen, wie sich Buß- und Umkehrakte zu idealtypischen Biographien verhalten, und wie individuelle religiöse Entscheidungen zur Umkehr zu öffentlichen Bußakten oder sogar Festtagen gehören, wie sie vor allem im rabbinischen Festkalender von Bedeutung sind und den rituellen Jahresrhythmus prägen? Von Philon hatte man einst gesagt, bei ihm verwandele sich „die ganze Heilsgeschichte des Alten Testaments […] in eine Darstellung des Verhältnisses der menschlichen Seele zu ihrem Gott“.24 In diese Individualisierung der religiösen Verhältnisse gehört auch die Buße, doch gibt es eben auch Gegenbewegungen, und öffentliche Bußakte verschwinden aus Judentum und Christentum nie völlig. Wie also verhalten sich individuelle und öffentliche Bußakte? Man denke an die Geschichte vom Pharisäer und vom Zöllner, die beides verbindet. Die Aufforderung zur Buße ist nicht zuletzt auch eine Form von Devianzverarbeitung in einer größeren kulturellen Gemeinschaft. Was für eine Art von Ethik ist eine Bußethik im Verhältnis zu prophetischen und weisheitlichen Traditionen, zumal sie sich mit bedrohlichen Narrativen verbinden kann, gerade auch bei Jesus (Lk 13,1–5 usw.)? Das neutestamentliche Spektrum an Aussagen zu einem Bußakt ist durchaus breit aufgestellt (ob man von einem Bußsakrament sprechen darf, ist interkonfessionell kontrovers, aber das braucht uns hier nicht zu irritieren). „Jesus sagte noch einmal zu ihnen: ‚Empfangt den Heiligen Geist! Wem ihr die Sünden vergebt, dem sind sie vergeben; wem ihr die Vergebung verweigert, dem ist sie verweigert.‘“ (Joh 20,21–23; vgl. Mt 16,19; 18,18). Hier kommt jedenfalls ein menschliches Handeln mit der Umkehr bereits in der Jesusüberlieferung in den Blick. Die Entgrenzung des Umkehrrufes über Israel hinaus ist am Horizont bereits sichtbar: etwa wenn Jesus offenbar in verschiedener Form vom Jonazeichen spricht, das natürlich auch auf Umkehr zielt (Q 11,16.29–32). Das alles beantwortet aber unsere Frage nicht. Es ist ein Missverständnis, wenn μετάνοια pauschal als „Umdenken“ übersetzt wird;25 dazu assoziieren wir im Deutschen ein „neues Denken“, Wilhelm Bousset, Die Religion des Judentums im späthellenistischen Zeitalter. Hrsg. von Hugo Gressmann, Tübingen 41966, 300. 25 So z.B. Stefan Alkier, Thomas Paulsen, Das Evangelium nach Markus und Matthäus (Frankfurter Neues Testament 2), Leiden u.a. 2021, 67 u.ö. Überzeugender ist es, wenn sie das βάπτισμα des Täufers nicht mit „Taufe“, sondern mit „Tauchbad“ übersetzen, und auf diese Weise spätere christliche Assoziationen vermeiden. 24
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eine Hinwendung zu zuvor Ungedachtem. Aber μετάνοια ist etwas ganz anderes, die Rückwendung zu einem Anfang, konkret etwa zum ursprünglichen Gottesbund. Μετάνοια stellt etwas schuldhaft Verlorenes wieder her, und produziert nicht etwas Neues. Gerade Mk 1 verdeutlicht das drastisch. Der Bußprediger Johannes ruft das Volk an seine Anfänge zurück, dorthin, wo es einst durch den Jordan zog. Die Wüste ist der Ort des mythischen Anfangs im Exodusgeschehen. Israel soll werden, was es einmal war. Indem es die Thora befolgt, wendet es sich zurück zum heiligen Gottesbund der Anfänge Israels, und nicht etwa zu einem noch nicht dagewesenen „neuen Denken“. Johannes fordert aber nicht allein Thoragehorsam und soziale Sensibilität, das alte Thema der Propheten, sondern einen zeichenhaften Ritus der Rückkehr in die Anfangssituation des Exodus. Genau das ist die Wassertaufe, die zwar an Wasserriten anknüpft, diese aber in einen eschatologischen Bezugsrahmen rückt. Sie stellt auch in ihrem Ablauf etwas Neues dar, obwohl sie etwas Altgeheiligtes wiederherstellen soll. Das ist ja gerade ihr Clou, wenn man so sagen darf. Mit seinem Auftreten in archaischer Wüstenkleidung und mit der Speise der Wüste, am Ort des legendären Jordandurchganges (wie auch der Elia-Entrückung), inszeniert der Täufer diese Symbolik der Rückkehr an die Anfänge in seiner eigenen Person.26 Nach dem Bericht der Evangelien und des Josephus (der ihn für seine Leser als Tugendprediger zeichnet und die Eschatologie unterschlägt, ant. XVIII,116–119) war er Initiator einer wirklich erfolgreichen Bewegung, deren spätere Geschicke freilich von vielen Fragezeichen überschattet sind. Hier kann man sicher von einer Bußbewegung sprechen.27 Ähnlich eindeutig wie auf die Täuferbewegung passt der Begriff der Bußbewegung auf das Ritualsystem Elkasais, in dem ich im Grunde eine Vgl. Michael Tilly, Johannes der Täufer und die Biographie der Propheten. Die synoptische Täuferüberlieferung und das jüdische Prophetenbild zur Zeit des Täufers (BWANT 7, 17), Stuttgart 1994. 27 Vgl. aus der reichen allgemeinen Literatur Otto Böcher, Johannes der Täufer, in: TRE 17 (1988), 172–181. Nicht abschließend geklärt ist das Alter der mandäischen Täuferüberlieferung, die jedenfalls nicht erst in islamischer Zeit entsteht. Siehe Gabriele Mayer, Ein Kind aus Himmelshöhen – Geburt und Gestalt Johannes des Täufers bei den Mandäern, in: Rainer Voigt (Hg.), „Und das Leben ist siegreich!“: mandäische und samaritanische Literatur. Im Gedenken an Rudolf Macuch (1919–1993) = „And life is victorious“: Mandaean and Samaritan Literatures (Mandäische Forschungen 1), Wiesbaden 2008, 145–160, dazu Marco Frenschkowski, Prophetie. Innovation, Tradition und Subversion in spätantiken Religionen (StAC 10), Stuttgart 2018, 238f. Das von Charles G. Häberl und James F. McGrath 2020 kritisch neuedierte Johannesbuch ist erst in islamischer Zeit entstanden und für die Frage unergiebig. 26
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kleine Schwesterreligion des Christentums sehe, und über die wir dank des Kölner Mani-Kodexes doch allmählich etwas mehr wissen. Hier wird ähnlich wie im Fall des Pastor Hermae, nur deutlich früher, im dritten Jahr Trajans,28 also durchaus noch in neutestamentlicher Zeit, eine einmalige Chance zur Umkehr angeboten (Hippol. ref. IX,13,4). Diese findet ihren äußeren Ausdruck in Taufhandlungen, die mit differenzierten Unterlassungseiden in Hinsicht auf künftige Sünden verbunden sind, wie sie auch Plinius freilich ohne Taufbezug kennt. Wie steht es mit den anderen Täufergruppen, deren Blütezeit wohl im zweiten und dritten Jahrhundert und deren Zentrum im Ostjordanland lag (Hemerobaptisten, Masbuthäer, Proto-Mandäer usw.)? Sind sie ebenfalls als Bußbewegungen zu verstehen?29 (Ärgerlich ist, dass die Anspielung auf jüdische Täufer παραβαπτισταί Epiktet diss. II,9,19–21 unklar bleibt30). Buße kann sich zur mythologischen Größe steigern: Hermas kennt einen Engel der Buße (ὁ ἄγγελος τῆς μετανοίας, vis 5,7 u.ö., eine Funktion des Hirtenengels), also eine Personifikation31. Dieser schenkt Einsicht (mand 4,2,2), vollzieht aber auch Strafen (sim 6,3,6; 8,3,5; 9,7,1– 9,4). Im wohl ehemals separaten ersten Teil des Pastor Hermae (dem „Visionenenbuch“) tritt er noch nicht auf. Das ist nicht unerhört: Der hellenistisch-jüdische Roman Joseph und Aseneth 15,7 kennt „Metanoia“ als eine besonders schöne unter den Töchtern Gottes, die im Himmel für die Umkehrenden betet. ÄthHen 40,9 (vgl. 54,6; 71,8.9.13) hat Phanuel, der Engel des göttlichen Angesichts, diese Funktion inne, der hier offenbar für Uriel einspringt (der aus 4. Esra bekannt ist). Auch an Zu den Problemen dieser Datierung (Trajan begann seinen Partherkrieg erst 114 n. Chr.) s. M. David Litwa, Refutation of All Heresies. Translated with an Introduction and Notes, Atlanta, Ga. 2016, 661 Anm. 99. 29 Die Forschungslage ist unbefriedigend. Hervorzuheben bleibt Kurt Rudolph, Antike Baptisten. Zu den Überlieferungen über frühjüdische und -christliche Taufsekten (SSAW.PH, 121.4), Berlin 1981; auch in: ders., Gnosis und spätantike Religionsgeschichte. Gesammelte Aufsätze (NHMS 42), Leiden 1997, 569–606. Einige Beiträge zur Sache s. in: David Hellholm/Tor Vegge/Øyvind Norderval (Hgg.), Ablution, Initiation, and Baptism: Late Antiquity, Early Judaism, and Early Christianity = Waschungen, Initiation und Taufe (BZNW 176). 3 Bände, Berlin/Boston, Mass. 2011. 30 Christen sind nicht gemeint, die Epiktet vielmehr „Galiläer“ nennt (diss. IV,7,6, wo sicher keine Zeloten im Blick sind). Vgl. die Diskussion bei Menahem Stern, Greek and Latin Authors on Jews and Judaism 1, Jerusalem 1976, 541–544, wo aber die potentielle Beziehung zum Täufer nicht hinreichend in den Blick kommt. 31 Vgl. zu ihm nach wie vor Martin Dibelius, Der Hirt des Hermas (HNT), Tübingen 1923, 494–496; dazu Norbert Brox, Der Hirt des Hermas (KAV), Göttingen 1991, 476–485, zum Thema Buße 520–523. 28
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Clem. Alex., quis div. salv. 42,18 wird man denken, wo der Ausdruck „Engel der Buße“ doch wohl aus PastHerm stammt. Nur allegorisch, nicht mythologisch ist die Personifikation der μετάνοια im Pinax des Kebes (10f.)32 gemeint: sie führt den Menschen aus dem Elend, indem sie ihn von falschen Gedanken befreit. 2. Jüdische Bezüge Umkehr ist ein zentraler jüdischer ethischer Begriff, und wird in seinem neutestamentlichen Gebrauch durch diesen tragenden jüdischen Unterund Hintergrund bestimmt.33 Mit den Variationen der Beichte und des öffentlichen Schuldbekenntnisses (im Judentum v.a. in Gebetsformularen) ist sie nicht identisch, sondern vergrundsätzlicht diese sozusagen. Von dem hebräischen verb šûb „umkehren“ (ŠWB34; angrenzend im Gebrauch NḤM niph. „bereuen“) wird zwar ein Substantiv tešûbāh gebildet, das aber im Alten Testament noch sehr selten ist (neben einigen anderen seltenen Ableitungen). Das Verb dagegen gehört zu den allerhäufigsten in der hebräischen Bibel, kann sich aber in den unterschiedlichsten semantischen Bereichen entfalten. Speziell in der prophetischen Diktion ist dann die Rede von einer Umkehr im Kontext Sühne, Vergebung, Schuld, vor allem verbunden mit gewissen rituellen Akten. „Kehre um, Israel (Luther übersetzte: Bekehre dich, Israel) zu dem Herrn, deinem Gott; denn du bist gestrauchelt durch deine Schuld. Nehmt diese Worte mit euch und bekehrt euch zum Herrn und sprecht zu ihm: V ergib uns alle Sünde und tu uns wohl, so wollen wir opfern die Frucht unserer Lippe“ (Hos 14,1–3 nach Luther 2017). Umkehr zu Recht und Gerechtigkeit kann das Leben des Vgl. Rainer Hirsch-Luipold/Reinhard Feldmeier/Barbara Hirsch/Lutz Koch/HeinzGünther Nesselrath (Hgg.), Die Bildtafel des Kebes. Allegorie des Lebens (Sapere 8), Darmstadt 2005. 33 Wieder kann an dieser Stelle nur einige ausgewählte Literatur genannt werden: Axel Graupner, Heinz-Josef Fabry, šûḇ etc., in: ThWAT 7 (1993), 1118–1176; Rodney A. Werline, Penitential Prayer in Second Temple Judaism: The Development of a Religious Institution, Atlanta, Ga. 1998; Mark J. Boda, The Development of Penitential Prayer in Second Temple Judaism, Leiden 2007; Moshe Weinfeld, Prayers for Knowledge, Repentance and Forgiveness in the ‘Eighteen Benedictions’, in: Tarbiz 48 (1979), 186–200; Mark J. Boda/Danile K. Falk/Rodney Alan Werline (Hgg.), Seeking the Favor of God. Volume 3: The Impact of Penitential Prayer beyond Second Temple Judaism, Atlanta, Ga. 2008. Weiteres im Folgenden. 34 Gemeinsemitisch, nur im Akkadischen aus unbekannten Gründen durch târu- verdrängt. 32
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Gottlosen retten (Hes 18,27). In der massiven Kritik der Propheten kann die Möglichkeit des Volkes zur Umkehr zur Frage werden (Jer 13,23), so dass Gott selbst die Umkehr vollziehen muss (Sach 1,3; Mal 3,7; 2Chron 30,6). Nur gelegentlich kann sie über die Grenzen Israels hinaus ausgeweitet werden (Jona 3,1–10; Ps 22,28): im Prinzip bleibt sie noch eine nationale Angelegenheit. Das ändert sich dann in Texten wie der Weisheit Salomos, die die Chance zur Umkehr mit Gottes universalem Erbarmen über seine Schöpfung in Korrelation bringen (11,23–26: παρορᾷς ἁμαρτήματα ἀνθρώπων εἰς μετάνοιαν). In der Septuaginta wird šûb nur selten mit μετανοεῖν übersetzt, etwa im Jonabuch (anders dann Symmachus35), sondern meist mit Derivaten von στρέφειν (Sirach benutzt beides). Schon im alttestamentlichen Judentum sind jedenfalls Bekenntnisakte für Sünden gut bekannt, die sich mit Fasten, Weinen, Klagen und anderen Selbstminderungsriten verbinden. Sie können privater Natur oder öffentlich ritualisiert sein (Lev 16,16.21; Neh 9,6–37; Esr 9,6–15 usw.; wir haben schon darauf hingewiesen), und sie können ins Grundsätzliche vorstoßen, und bilden dann eine Art Matrix, in der die Jesusbewegung das Thema aufnehmen konnte. Auch Qumran kennt ein breites Spektrum an Aussagen zur Umkehr, wie auch šûb sehr häufig begegnet, in einer Fülle semantischer Kontexte.36 In den Jachad der Qumran-Gemeinde kann man nur mit Abkehr vom Bösen und Hinwendung zu der strengen Thora-Observanz der Gemeinschaft hineingelangen (1QS): dazu ist ein förmliches Aufnahmeverfahren erforderlich. Ohne diese Umkehr verbleibt der Mensch (aber nur Juden sind angesprochen) in Irrtum, Finsternis, Unreinheit und Verstocktheit des Herzens. In gewisser Hinsicht ist die Umkehr der Eintritt in die Gemeinschaft selbst; jedenfalls sind beide untrennbar verwoben, und verwirklichen sich darin, nichts aus der Thora auszulassen, sie vollständig zu erfüllen. Das könnte man von der Jesusbewegung so nicht sagen, zumal ihre Anhängerschaft mit den Jüngerinnen und Jüngern nicht einfach identisch ist (z.B. Mk 5,18–20 u.ö.). Diejenigen, die „umkehren“, heißen in 1QS die „Willigen“. Eine solche Ausdrucksweise ist den Evangelien fremd: weder Verben wie προθυμεῖν oder die Terminologie um ἑκών, Diskutiert bei Behm, μετανοέω (s.o. Anm. 8), 986. Auf die potentielle Bedeutung Qumrans für die Hintergründe der Umkehrbotschaft Jesu hatte zuerst v.a. Herbert Braun in seiner 1953 gehaltenen Mainzer Antrittsvorlesung hingewiesen: Herbert Braun, Gesammelte Studien zum Neuen Testament und seiner Umwelt, Tübingen 31971, 70–85. Vgl. über das Wortfeld im einzelnen HeinzJosef Fabry, šûb, in: ThWQumran 3 (2016), 861–878 (der dem Thema bereits 1975 seine Dissertation gewidmet hatte).
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προαίρησις u.ä. spielen in diesen irgendeine Rolle. CD 19,16 spricht gar von einem Bund der Umkehr; auch das in markantem Unterschied zur Bundesterminologie des NT. Wir werden sehen, dass v.a. das Ziel der Umkehr dabei anders akzentuiert wird. Buße ist Selbstminderungsakt, weshalb ihr im Alten Testament oft Wortfelder des sich Demütigens entsprechen (Fasten, Sack- und Asche-Riten usw., z.B. 2Kön 22,11–20). Es besteht ein Unterschied zwischen der Umkehr als einmaligem lebenswendenden Akt und der Buße als begleitendem, rituell inszeniertem Teil der eigenen Frömmigkeit. Wie das eine zum anderen führt, was dabei gewonnen, was dabei verloren wird, wird zu diskutieren sein. Die Buße in Qumran und bei Jesus sind jedenfalls stark divergierende Transformationen der prophetischen Tradition. Für einen philosophisch gebildeten Juden wie Philon ist die μετάνοια eine Tugend neben anderen (de virt. 175–186), im Grunde eine Hinwendung zum philosophischen Studium der Thora: die philosophische Kritik an ihr (s. u.) teilt er im Allgemeinen nicht, obwohl das Wort manchmal nur „Reue“ heißt. Allerdings steht der, der Buße benötigt, unter dem, der gar nicht erst sündigt (de somn. 1,91): sie verhält sich zur Vollkommenheit wie die Genesung zur Gesundheit (de virt. 176). Für Heiden ist sie die Hinwendung von den Götzen zum Monotheismus (de virt. 179f.; de spec. leg. 1,51 vgl. 58), und nur selten hat sie nur einzelne Verfehlungen im Blick (de spec. leg. I,102f.; 238; de Ios. 87; leg. alleg. III,106). Anders gesagt: sie nimmt immer grundsätzlichere Züge an, und hat die religiöse Praxis des einzelnen jüdischen Menschen im Blick, weniger wie bei den Propheten das ganze Volk. Auch andere griechisch-jüdische Texte können die Umkehr enthusiastisch preisen.37 Symbolfigur dafür kann – etwas erstaunlich – Henoch sein, der sich vom oberflächlichen Stadtleben und seinen Verführungen abgewandt habe (Philon, de Abr. 17–26; Sir. 44,23 (16), wo ὑπόδειγμα μετανοίας für אות דעתsteht,38 u.a.). Insofern aktualisieren Bußbewegungen im Judentum einen Komplex, der in der Tradition vielfach präsent ist, aber sehr divergierende Variationen aufweist. Ein Beispiel mag hier genügen: Ἡ γὰρ κατὰ θεὸν ἀληθὴς μετάνοια ἀναιρεῖ τὴν ἀπείθειαν, καὶ φυγαδεύει τὸ σκότος, καὶ φωτίζει τοὺς ὀφθαλμούς, καὶ γνῶσιν παρέχει τῇ ψυχῇ, καὶ ὁδηγεῖ τὸ διαβούλιον πρὸς σωτηρίαν, καὶ ἃ οὐκ ἔμαθεν ἀπὸ ἀνθρώπων, οἶδε διὰ τῆς μετανοίας. (TestGad 5,7f.). Die Funktion der Metanoia verbindet hier intellektuelle und soteriologische Züge. Die Belege listet Behm, μετανοέω (s.o. Anm. 8), 987–991 auf. 38 Erhalten nur in Hs. B: Pancratius C. Beentjes, The Book of Ben Sira in Hebrew. A Text Edition of all Extant Hebrew Manucripts and a Synopsis of all Parallel Hebrew Ben Sira Texts (VT.S 68), Leiden u.a. 1997, 78. 37
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Aus der Täuferbewegung stammt offenbar der freilich auch im weiteren Judentum mögliche Impuls, dass die Umkehr etwas Dramatisches, Ereignishaftes, einmal und autoaggressiv zu Vollziehendes ist, ein Geschehen, dem gleichzeitig Züge einer Befreiung zukommen, und vor allem solche eines Neubeginns.39 Dieser Neubeginn revitalisiert Kräfte des eigenen Ursprungs. Wie wir sehen werden, können diese über Exodussymbolik hinaus bis auf die Paradiestradition zurückbezogen werden, ja vielleicht bis auf die Zeit vor der Schöpfung (wenn die Buße als vor der Schöpfung geschaffen gilt). Was Umkehr bei Jesus zwischen Thoraverschärfung und Thoraerleichterung bedeuten könnte, ist in der Forschung der „Second Quest“ heftig umstritten gewesen: heute stellt sich das Ganze doch so anders dar, dass man in dieser Opposition kaum mehr fragen kann. Die Bedeutung der Umkehr als solcher bleibt natürlich. Ist also auch die Jesusbewegung eine Bußbewegung? Die Begrifflichkeit wirkt auf Paulus und überhaupt das ganze frühe Christentum in sehr unterschiedlichem Maße weiter, nimmt aber neue Bedeutungsnuancen an. Für Heiden ist Metanoia Abkehr von den Götzen (Joseph und Aseneth), für Philon von der weltlichen Oberflächlichkeit und Sinnlichkeit. Bald wird sie zum rituellen Bußakt, und gehört dann in die durchgehende stabile religiöse Praxis des Christentums. Ritualgeschichtlich ist ein Vorgang nicht so selten, in dem aus etwas Einmaligem etwas Wiederholbares wird (wenn ich zynisch gestimmt wäre, würde ich sagen, wie heute bei der Trauung). Luthers erste Ablassthese (dass das ganze Leben Buße sein solle) ist hier nochmals eine Steigerung, die freilich dem Akt-Charakter der Umkehr nicht gerecht wird, und der Texte wie PastHerm (vgl. ähnlich Clem. Alex.) in gewisser Hinsicht widersprechen: hier wird ja vor einer leichtfertigen Wiederholbarkeit der Buße gewarnt. Die Idee, das ganze Leben solle Buße sein, steht aber immerhin schon 2Clem. 8,1. Im rabbinischen Diskurs ist Buße als innerliches Geschehen neben festen Bußritualen ein stabiler Bestandteil der religiösen Praxis. Sie findet höchste Wertschätzung, und ist daher z.B. Gegenstand einer eigenen Benediktion im Schmone-Esre-Gebet. Der Talmud kann sogar sagen, die Buße sei vor der physischen Welt entstanden (bNedarim 39b): sie gehört also sozusagen zu den Voraussetzungen der Welt. Neben Sünd- und Im ungeklärten Zwischen- und Spannungsfeld zwischen dieser „dramatischen“ und eschatologischen Sicht der Buße einerseits und derjenigen der kirchlichen Bußpraxis als Teil des rituellen Lebens andererseits steht das Problem der zweiten Buße (Hebr, PastHerm). Es entsteht, als man versuchte, das erste Konzept in eine Zeit hinüberzuretten, in der im Grunde das zweite notwendig wurde.
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Schuldopfern hat sie eine sühnende Wirkung, sagt mJoma 8,8f. usw. Bekannt ist das Wort des Rabbi Eliezer, man solle einen Tag vor dem Tod Buße tun: aber das könne ja gerade jeder Tag sein. Die Universalität der Buße geht nie ganz verloren: das universalistische Buch Jona etwa wird gerade zum Jom Kippur-Fest gottesdienstlich gelesen. Buße tritt auch an die Stelle von Ritualen, deren Durchführung nicht mehr möglich ist, z.B. auch wieder im Kontext des Jom Kippur bei Juden und auch Samaritanern (vgl. unten zum Sündenbock). Buß- und Sühneriten können sich überschneiden und sind wohl auch nicht immer gut unterscheidbar. Buße kann auf Vergebung zielen, aber auch auf Sühne, und sie kann allgemein ein Selbstminderungsritus sein. Nun könnte man diesem allen gegenüber meinen, dass der Bußkomplex im Kontext der Jesusbewegung einen neuen Klang bekommt. Das ist nicht verkehrt. Aber er verliert an keiner Stelle seinen jüdischen semantischen Hintergrund, und es ist darum auch nie nur einfach die Zuwendung zu Jesus (diese wird mit dem Wortfeld „Nachfolge“ evoziert). Auch als Bußbewegung wäre sie eine jüdische Bewegung. 3. Weiteres Umfeld: kleinasiatische Beichtinschriften Kann man die Jesusbewegung also eine Bußbewegung nennen? Dazu müssen wir festlegen, in welchem Sinn wir einen solchen Begriff verwenden wollen, insbesondere auch über das Judentum hinaus. Als potentielles Beispiel wähle ich die westkleinasiatischen Beichtinschriften, die sich hier sofort nahelegen. Wir betrachten diese als Beispiel sakraler Ethiken mit einem stärker religiösen Charakter im Kontext einer „Bewegung“. Diese Inschriften des ersten bis dritten nachchristlichen Jahrhunderts stammen aus den ländlichen Heiligtümern Kleinasiens, die meisten aus dem nordöstlichen Lydien, aber auch aus Phrygien, Mysien und anderen Teilen Lydiens sind Beispiele bekannt, nicht jedoch aus anderen Regionen des Imperiums.40 Sie stammen aus einer sehr begrenzten Zeit (etwa 40
Georg Petzl, Die Beichtinschriften Westkleinasiens (EpAn 22), Bonn 1994, dazu als Resümee der Ergebnisse ders., Die Beichtinschriften im römischen Kleinasien und der Fromme und Gerechte Gott (Nordrhein-westfälische Akademie der Wissenschaften. Vorträge G 355), Wiesbaden 1998. Weitere Texte werden u.a. in den Epigraphica Anatolica publiziert. Die Bedeutung dieser Texte für das frühe Christentum wurde von Hans-Josef Klauck, Die kleinasiatischen Beichtinschriften und das Neue Testament, in: Hubert Cancik/Peter Schäfer/Hermann Lichtenberger (Hgg.), Geschichte – Tradition – Reflexion. FS Martin Hengel 3, Tübingen 1996, 63–87
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50–250 n. Chr.)41 und Region. Anders gesagt: Man kann sie als Ausdruck einer Bewegung, oder sagen wir etwas despektierlich, einer Mode lesen. Etwa 130 Exemplare waren zur Zeit ihrer Sichtung durch Georg Petzl 1994 beziehungsweise 1998 bekannt; mittlerweile sind es einige mehr. Aus diesen kleinasiatischen Tempelinschriften kennen wir die stabile Reihenfolge Sündenbekenntnis, Hinweis auf ein Strafhandeln der Gottheit, dann aber Flehen und Errettung des Beters, schließlich Dank und Aufstellung der Inschrift. Die Verfehlungen, um die es geht, werden nicht immer explizit genannt, aber doch in den meisten Fällen. Es können kleinere und größere Delikte sein, öfter auch rituelle Versäumnisse oder z.B. Meineid. In einer Beichtinschrift verliert der absichtlich meineidig gewordene Hermogenes durch den Zorn der Götter erst einen Ochsen und einen Esel und dann, als er uneinsichtig bleibt, seine Tochter (Petzl, Die Beichtinschriften Westkleinasiens Nr. 34). Ein anderer schuldig gewordener Mann, Apollonios, verliert zur Strafe einen Sohn Julius und eine Enkelin Marcia, ehe er Buße tut (ebd. Nr. 37). Getroffen wird jeweils der Vater – auch wenn Kind und Enkel sterben. Solches stellvertretendes Sterben ist in vielen spätantiken Kontexten bezeugt.42 Ist auf diesen Inschriften im Sinne der neutestamentlichen Umkehr von einer umfassenden Lebenswende die Rede? Davon kann ganz eindeutig nicht die Rede sein. Es geht um punktuelle, wenn auch öfter sehr schwerwiegende Verfehlungen, deren Ahndung durch die Gottheit um einen Bußakt, der mit Wiedergutmachungsversuchen verbunden sein kann. Die Ambivalenz von Strafe und Vergebung ist ausgeprägt: Ohne Reue und diskutiert. Auch in: ders., Religion und Gesellschaft im frühen Christentum. Neutestamentliche Studien, Tübingen 2003, 60–81 (mit Literaturergänzungen, danach zitiert); Jarkko Vikman, Little Big Gods: Morality of the Supernatural in Lydian and Phrygian Confession Inscriptions, in: Ilkka Lindstedt/Nina Nikki/Riikka Tuori (Hgg.), Religious Identities in Antiquity and the Early Middle Ages. Walking Together & Parting Ways (Studies on the Children of Abraham 9), Leiden 2022, 186–203; Walter Ameling, Paränese und Ethik in den kleinasiatischen Beichtinschriften: Zu den Voraussetzungen christlicher Mission in Kleinasien, in: Roland Deines/ Jens Herzer/Karl-Wilhelm Niebuhr (Hgg.), Neues Testament und hellenistisch- jüdische Alltagskultur. Wechselseitige Wahrnehmungen (WUNT 274), Tübingen 2011, 241–249. 41 Nach Petzl, Die Beichtinschriften (s.o. Anm. 40), 9 stammt die jüngste datierte Inschrift aus dem Jahr 263 n. Chr. 42 Vgl. Marco Frenschkowski, Stellvertretung I (religiös), in: RAC 31/Lief. 242f. (2021), 1–34; ders., Sündenbock, in: RAC 31/Lief. 244 (2021), 332–347. Zur Rezeption des Jom Kippur in der Alten Kirche s. auch Daniel Stökl Ben Ezra, The Impact of Yom Kippur on Early Christianity (WUNT 163), Tübingen 2003.
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Buße gibt es keine Zuwendung der Gottheit. Die Inschriften perpetuieren diese religiöse Erfahrung und dienen damit der Ehre des „frommen“ (ὅσιος) und gerechten Gottes, wie er öfter heißt. Zugleich appellieren sie an diejenigen, welche die Inschriften lesen, diese Buße nachzuahmen, und damit vielleicht schrecklichem Unglück zu entgehen, das die Gottheit über den Unbußfertigen bringen könnte. Wir erinnern an den vereinzelten paulinischen Gebrauch des Wortes ἀμετανόητος für hartherzige Menschen: im Neuen Testament nur Röm. 2,5 (V. 4 ist eine der wenigen Stellen des Paulus zum Stichwort μετάνοια). Das Wortfeld ἐξομολογέω, das die LXX v.a. für das Gotteslob gebraucht, hat hier einen paganen Sitz.43 Interessanterweise ist das Gebiet der Kultinschriften dieser Kultgottheit des „frommen Gottes“ deutlich größer als das der Beichtinschriften und erstreckt sich etwa nach Thrakien und in den Schwarzmeerraum: auch das spricht dafür, dass wir im Falle dieser Inschriften tatsächlich von einer begrenzten Bewegung sprechen können. Es können auch andere regionale Götter angesprochen werden, wie Apollon Lairbenos, Zeus (der lokale Ζεύς ἐκ Διδύμων δρυῶν, Zeus Sabazios oder auch Zeus Ogmenos), die kleinasiatische Göttermutter (Μήτηρ), der lokale Mondgott Μείς (Men), der als Kind der Artemis-Anaitis galt und wohl mit dem „frommen Gott“ identisch ist, oder sehr oft auch allgemein die θεοί. Die Beichtinschriften sind also nicht so sehr Ausdruck eines speziellen Götterkultes, sondern einer religiösen, kultübergreifenden, aber regional begrenzten Dynamik, welche eine Form der schriftlichen Beichte aufwertete. Wenn man will, mag man das eine Bußbewegung nennen, wenn man den Gedanken umfassender biographischer Lebenswende fernhält. Sie wurde mit dieser Form des Schuldbekenntnisses öfter mit dem Montanismus in Zusammenhang gebracht, der als christliche rigoristische Bewegung mit einer rigiden Bußtheologie ja auch ursprünglich eine regional-kleinasiatische, diesmal phrygische Angelegenheit gewesen ist, sich dann aber doch weiter ausbreitete.44
Auf diese Zusammenhänge hat, wenn ich recht sehe, zuerst Karl Buresch, Aus Lydien. Epigraphisch-geographische Reisefrüchte. Hg. von Otto Ribbeck, (Leipzig 1898) Hildesheim 1977, 111f. hingewiesen. Generell zur Forschungsgeschichte s. Klauck (s.o. Anm. 39). 44 Meine Sicht dieser Bewegung s. in Marco Frenschkowski, Prophetie. Innovation, Tradition und Subversion in spätantiken Religionen (Standorte in Antike und Christentum 10), Stuttgart 2018, 181–187 u.o.; ältere Lit. in: ders., Montanus, in: BBKL 6 (1993), 77–81. Eine alle Aspekte zusammenfassende Darstellung ist Christoph Markschies, Montanismus, in: RAC 24 (2012), 1197–1220. 43
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An den westkleinasiatischen Beichtinschriften lässt sich auch zeigen, wie ein kultischer Komplex Ethiken vitalisiert, d.h. wie sich Ethiken in einem durch Priester, Opfer und Tempelwesen geprägten Kontext intensivieren können. Sie liegen in zwei Grundtypen vor. Nach Typ I bezichtigt sich der die Inschrift aufstellende Mann oder die aufstellende Frau selbst (oft schwerwiegender) Sünden; man kann von einem Bußformular sprechen. Ein Schicksalsschlag wie eine Krankheit habe ihm oder ihr deutlich gemacht, dass er oder sie sich den Unwillen der Gottheit zugezogen habe, der gegenüber nun Sühne zu leisten ist. Ein zweiter Typ wird aufgestellt, weil eine Person meint, dass ihr Unrecht zugefügt wurde (wie auf vielen Fluchtafeln45). Der Schuldige wird von der Gottheit zum Bekenntnis und zur Sühne gezwungen; die Inschrift drückt dann den Dank des Beters aus. In jedem Fall kündet die Inschrift einen guten Ausgang durch das Eingreifen des Gottes. Auch von Heilungen ist die Rede, wie überhaupt der Zusammenhang Sündenbekenntnis-Heilung, den auch der Jakobusbrief kennt, Beachtung heischt. Die Sünden (wie im Neuen Testament oft ἁμαρτία), die dabei zur Sprache kommen, sind z.B. kultische Tabuverletzungen (Durchschreiten des Tempelbezirks während der Menstruation, also kultisch unrein, Verspeisen ungeopferten Fleisches, Geschlechtsverkehr trotz Tempeldienstes, auch das sich Entziehen vor der Mitverantwortung bei einer Mysterienfeier u.ä.), überhaupt kultische „Befleckung“, daneben Meineid und gebrochener Eid. Aber auch soziale Vergehen sind häufig: Diebstahl, Nichtrückgabe geliehener Gelder, Einbehalten verlaufener Tiere, Misshandlung der Schwiegermutter oder einmal einer Pflegemutter. Eine gewisse Tatias soll ihren Schwiegersohn durch Vergiftung um den Verstand gebracht haben usw. Viele Sünden wurden unwissentlich begangen, was vor Strafe durch die Gottheit nicht schützt, so das Fällen heiliger Bäume im Hain des Gottes, die versehentliche Zerstörung einer Götterstatue durch ein Kind, oder ein in Unkenntnis des wahren Sachverhaltes begangener falscher Schwur. Klauck weist in diesem Kontext auf eine Men-Inschrift aus dem MenTempel in Sunion (Attika) hin, die von einer Sünde gegen Men Tyrannos spricht, welche nicht gesühnt werden könne: ἁμαρτία ὀφειλέτω Μηνὶ Zu diesen s. Marco Frenschkowski, Fluchkultur. Mündliche Flüche, das Corpus defixionum und spätantike Sichtweisen performativer Sprache, in: Michael Hölscher/ Markus Lau/Susanne Luther (Hgg.), Antike Fluchtafeln und das Neue Testament. Materialität – Ritualpraxis – Texte (WUNT I 474), Tübingen 2021, 47–91. In der Unterscheidung zweier Typen folge ich Klauck, Beichtinschriften (s.o. Anm. 40), 60–62.79f.
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Τυράννωι, ἣν οὐ μὴ δύναται ἐξειλάσασθαι (Text: SIG 3. Aufl. Nr. 1042).46 Man denkt unwillkürlich an Jesu Rede von der unvergebbaren Sünde gegen den Heiligen Geist (Mk 3, 29f.).47 Die Züchtigung durch die Gottheit besteht in den Inschriften meist in Erkrankungen (z.B. Blindheit), seltener in anderen Schicksalsschlägen. Ein Zusammenhang Sünde – Krankheit ist im Neuen Testament ja gut als volkstümliche Überzeugung auch im Judentum bekannt, wird aber problematisiert bzw. geradezu verneint (Mk 2,1–12; Joh 5,14; 9,2f.), obwohl Strafwunder nicht selten sind, v.a. in der Apostelgeschichte (Apg 5,1–11; 9,8; 13,11). Auf die Strafe und Einsicht in das sündige Verhalten folgt auf unseren Inschriften das Bekenntnis der Sünde (ἐξομολογέω). Wie dieses genau abgelegt wurde, ist nicht bekannt, aber offenbar war es öffentlich und wurde durch die Weihinschrift dokumentiert. Öffentliche Sündenbekenntnisse sind griechischer Kultur sonst im Allgemeinen fremd. Plutarch schildert in De superstitione 7,168D einen syrischen Ritus (nach Menander frg. 754 Koerte), bei dem sich Menschen nackt im Schlamm wälzen und dabei bekennen, sie hätten allerlei Speisetabus übertreten oder einen Pfad betreten, den ihnen ihr eigener Genius verboten habe. Vielleicht ist die Sache mit dem Schlamm eine Karikatur, und es geht eigentlich um eine Art ritueller Waschung. Auch in der ägyptischen Religion sind Sündenbekenntnisse vor dem Priester, verbunden mit Opfern für die Gottheit, bekannt, wurden aber von den Römern als befremdlich empfunden (Juvenal, sat. VI,535–541). Beichtähnliche literarische Texte sind gelegentlich bezeugt (freilich nicht auf Inschriften), aber die Beichte war keine reguläre Einrichtung griechischer oder römischer Kulte. Hildebrecht Hommel hat gezeigt, dass in paganen literarischen Sündenbekenntnissen meist eine schmerzhafte oder Straferfahrung vorangeht,48 und das Bekenntnis auf diese reagiert, während das im Christentum nicht so sei. Das ist wohl etwas vereinfacht (wie schon das Gleichnis vom verlorenen Sohn zeigt), beschreibt aber den Typus des Bekenntnisses, dem wir auch im westlichen Kleinasien begegnen. Es folgt offenbar jeweils eine Sühnehandlung (ein Opfer, eine andere rituelle Diskussion bei Klauck, Beichtinschriften (s.o. Anm. 40), 69. Das plausibelste zu ihrer Deutung steht nach wie vor bei Joachim Jeremias, Neutestamentliche Theologie I. Die Verkündigung Jesu, Gütersloh 21973 (div. Nachdrucke), 149. 48 Hildebrecht Hommel, Antike Bußformulare. Eine religionsgeschichtliche Interpretation der ovidischen Midas-Erzählung, in: ders., Sebasmata. Studien zur antiken Religionsgeschichte und zum frühen Christentum 1 (WUNT 31), Tübingen 1983, 351–370 (358f. zu den Beichtinschriften).
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Handlung, eine Geldgabe, oder ist das Aufstellen der Inschrift selbst Teil der Sühne?),49 die dann jedenfalls in der Beichtinschrift kulminiert, flankiert von Gotteslob und Dank. Auch ein Haaropfer kann sühnenden Charakter haben (man wird die Tonsur der späteren Mönche vergleichen, die seit dem vierten Jahrhundert öfter praktiziert wurde; vgl. aber schon Ez 44,20: Priester müssen die Haare kurz tragen).50 Öfter mündet die Inschrift in eine Mahnung, die Gottheit nicht gering zu achten. Damit ist ein Zusammenhang beschrieben, der an die späteren kirchlichen Buß- und Beichtrituale erinnert, gerade auch in der Formalisierung des Geschehens. Der Kult der kleinasiatischen Götter gewinnt in diesen Inschriften einen sehr stark programmatisch-ethischen Charakter, was in der hellenistisch-römischen Welt nicht selbstverständlich ist. Die zu einer Umkehr jedenfalls auch gehörenden Beichtakte vor anderen, Bekenntnisformen, bei denen Verfehlungen ausgesprochen werden, führen das Thema in den Bereich Ehre und Scham. Öffentliche Beichte ist freiwillige Selbstbeschämung. Scham ist dabei entwicklungspsychologisch älter als Schuld: in der Beichte wird der seelische Schuld-Komplex gewissermaßen auf den älteren der Scham zurückgeführt (an die bekannten Thesen von Eric Robertson Dodds erinnere ich nur).51 4. Umkehr wohin? Wie bereits angesprochen, wird in diesem Beitrag vorgeschlagen, den ethischen Aspekt der Buße im engeren Sinn im größeren Kontext einer Beheimatung des Menschen in einem mythologischen Anfang zu verstehen. Die μετάνοια ist dann die frühchristliche Variante des reditus ad initium oder sogar regressus ad uterum,52 die ein Heilskonzept der meisten antiken Religionen darstellt. Das gilt von der wiederkehrenden Goldenen Zeit (wie sie Augustus, Nero, Hadrian und andere zu inszenieren
Zu den Details und zur Begrifflichkeit vgl. Klauck, Beichtinschriften (s.o. Anm. 40), 74–76. 50 Hubertus Lutterbach, Tonsur, in: LThK 3. Aufl. 10 (2001), 107f. 51 Dazu s. jetzt die umfassende Würdigung: Christopher Stray/Christopher Pelling/Stephen Harrison (Hgg.), Rediscovering E.R. Dodds: Scholarship, Education, Poetry, and the Paranormal, Oxford 2019. 52 Vgl. die Darstellung bei Mircea Eliade, Das Mysterium der Wiedergeburt. Versuch über einige Initiationstypen, Frankfurt a. M. 1997, freilich z. T. unter heute fragwürdigen religionsphänomenologischen Blickweisen. 49
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versuchten)53 bis zu Frašō.kərəti,54 dem zoroastrischen soteriologisch-eschatologischen Leitbegriff, der wesentlich (freilich nicht nur) „Wiederherstellung“ meint (wörtl.: „Wunderbarmachung“). Umkehr ist Rückkehr in einen idealen Ausgangszustand, eine Art „Reset“.55 Interpretamente einer Rückkehr können, wie Vergils Bukolik mit ihren Adynata (ecl. VIII, 53–56), auch Züge einer „verkehrten Welt“ tragen, was sich in etwas kurioser Weise mit Jesu etwas karnevaleskem Bild einer Hierachieumkehr berührt (Mk 10, 31 u.ö.), sonst dem Judentum aber eher fremd ist. Zugleich ist die Umkehr die jüdische Gestalt eines zentralen gemeinantiken Gedankens, nämlich der Normativität des Ursprungs. Diese ist in vielen Variationen ein Potentialis aller antiken Mittelmeerreligionen und hat auch philosophische Gesichter, wie wir sofort sehen werden. Damit hört die Buße natürlich im jüdischen Kontext nicht auf, Abwendung von einzelnen Sünden (so oft in den TestXIIPatr) oder Hinwendung zur Thora zu sein: die ethischen und mythologischen Aspekte gehen gerade zusammen. In der Bewegung Johannes des Täufers verbindet sich der Umkehrruf mit einer Reinszenierung des Exodus: aus der Wüste betritt Israel das gelobte Land, indem es den Jordan d urchschreitet. Solche Reinszenierungen kennen wir auch von den anderen Z eichenpropheten des ersten Zu Augustus ist das Thema sehr oft behandelt worden, z.B. Paul Zanker, Augustus und die Macht der Bilder, München 52008. Zu Nero als Wiederbringer der Goldenen Zeit in imperialer Ideologie und in zeitgenössischer Dichtung s. Marco Frenschkowski, Nero, in: RAC 25 (2013), 839–878 passim. Schon die Tyrannis des Peisistratos konnte als Wiederkehr der Goldenen Zeit des Kronos verklärt werden (Aristot. Athen. polit. 16,7). Reformen wie die augusteische sind meist als Wiederherstellung inszeniert. Kleomenes III. von Sparta z.B. wollte eine Art Ancien Régime wiederherstellen; man mag auch an die Gracchen denken. Hadrian prägte Münzen mit der Aufschrift „saeculum aureum“: Guadalupe López Monteagudo, Saeculum, in: LIMC 8/1 (1997), 1071–1073, hier 1072f. Vgl. auch Bodo Gatz, Weltalter, Goldene Zeit und sinnverwandte Vorstellungen (Spudasmata 16), Hildesheim 1967 und Hans Schwabl, Weltalter, in: RE Supplementband 15 (1978), 783–850 sowie allgemeiner zu zyklischen Zeitaltermythen Marco Frenschkowski, Alles schon dagewesen? Zyklische und lineare Geschichtsbilder seit der Antike: ein geschichtsphilosophischer Spaziergang, in: Elmar Schenkel/Kati Voigt (Hgg.), Verweile doch … Über die Erforschung der Zeit, Leipzig 2015, 37–74. 54 Vgl. Almut Hintze, Frašō.kərəti, in: Encyclopaedia Iranica X, Fasc. 2 (2000), 190– 192 (auch digital in erweiterter Fassung); zum Sprachlichen: Harold W. Bailey, IndoIranian Studies I, in: Transactions of the Philological Society 42 (1953), 21–42. Eine originelle (m.E. freilich fragwürdige) Deutung hat kürzlich Ilaria Ramelli vorgelegt: Christian Apokatastasis and Zoroastrian Frashegird: The Birth of Eschatological Universalism, in: Religion and Theology 24 (2017), 350–406. 55 Allerdings passt diese These nicht zu allen alttestamentlichen oder prophetischen Aussagen zur Sache. Vgl. schon die Diskussion bei Ernst Würthwein, μετανοέω (s.o. Anm. 8), 980. 53
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J ahrhunderts, über die uns v.a. Josephus berichtet, die aber auch in der Apg erwähnt werden, und für die gerade dieser Exodusbezug charakteristisch gewesen ist.56 Sie können sich mit messianischen Zügen noch in die Zeit der Alten Kirche hineinretten, wie der kretische Moses redivivus von 440 n. Chr. auf Zypern, der angeblich die Wasser teilen wollte, damit das Volk aus der Diaspora nach Israel ziehen könne (Socr. Schol., h.e. VII, 38).57 Wie beim Täufer wird der „Anfangszustand“ des Volkes wiederhergestellt (die Sache endet freilich im Desaster). Auch wenn von solchen Zusammenhängen nicht explizit die Rede ist, wird man derartige Bilder mitzudenken haben. Wenn z.B. Jubiläen 23,26 sagt, dass die Heilszeit sich einstelle, wenn „Menschen die Tora studieren, die Gebote Gottes suchen und auf den Weg der Gerechtigkeit umkehren“ (vgl. V. 21), so ist es gerade der erzählerische Rahmen, der das gleiche symbolische Szenarium aufspannt: die Situation ist der Tod Abrahams; Mose selbst soll es am Sinai so niederschreiben, und das Volk damit gewissermaßen in diese Anfangs-Situation zurückrufen (23,32). Von Interesse ist nicht nur ethische Konkretion (was genau sollen die Aufgeforderten anders machen?), sondern auch der aufgespannte mythologische Symbolraum. Wohin sollen jüdische Menschen umkehren (Wir hören bei Jesus nicht, dass Nichtjuden angesprochen wären)? Johannes der Täufer zeigt auch bereits das charismatische Element der Umkehr auf, d.h. den Freispruch von vergangenen Sünden ohne Rekurs auf den Tempelkult, das dann später im Konflikt zwischen Charismatikern und kirchlichem Amt eine Rolle spielt.58 Wie steht es mit den Hasidäern und Pharisäern, die ja doch Reformbewegungen sind? Wie konkret ist das ethische Imaginarium, an dem sich ihre Anhänger orientieren sollen? Wie realistisch, wie nostalgisch ist es gewesen? All das können wir nur sehr partiell beantworten. Ein Prophetentext wie Hos 2,9 konnte bereits die Umkehr Israels im Bild der Rückkehr einer untreuen Frau zu ihrem Mann zeichnen (bei dem es ihr „besser gegangen sei“): auch das ist nicht nur ethische Ermahnung, sondern ein mythisch-symbolisches Leitbild für die Beziehung Gott-Israel. Vgl. mit den Belegen und weiterer Literatur Frenschkowski, Prophetie (s.o. Anm. 26), 103–107. 57 Vgl. etwa Eugene J. Mayhew, Encyclopedia of Messianic Candidates and Movements in Judaism, Samaritanism and Islam, St. Clair Shores, Mich. 2009, 148–151. Sein Auftreten verband sich vielleicht mit endgeschichtlichen Berechnungen (bSanh. 97b). 58 Man wird schon an Karl Holls (ehemals berühmtes Buch) Enthusiasmus und Buß gewalt beim griechischen Mönchtum. Eine Studie zu Symeon dem Neuen Theologen, Leipzig 1898, denken. 56
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Wir müssen uns wieder Jesus zuwenden. Tatsächlich sind die Quellen hier durchaus reichlicher, und wir können eine Antwort versuchen. Exodussymbolik für das Imaginarium der Umkehr ist nicht so deutlich wie beim Täufer, den er natürlich mit seiner Botschaft immer voraussetzt. Ein anderes Imaginarium tritt an ihrer Stelle in die Mitte. Joachim Jeremias hatte vor allem an Jesu paternale Symbolik gedacht, und damit im Prinzip das Gleichnis vom verlorenen Sohn zum Paradigma der Umkehr gemacht. Der Sünder kehrt zum väterlichen Gott zurück, zum Abba des Vaterunsers.59 Dabei ist der Clou der Geschichte natürlich nicht, dass Gott ein Vater ist (das ist im Judentum selbstverständlich, und auch für Heiden problemlos zu verstehen), sondern dass Gott ein solcher, durchaus untypischer Vater ist. (Abba hat allerdings gegen Jeremias keine primär kleinkindlichen Assoziationen, sondern ist auch Anrede in erwachsenen Kontexten).60 Das ist naheliegend, aber doch nicht wirklich beweisbar, weil wir keine direkten Jesuslogien besitzen, welche die Umkehr und das Vaterbild Gottes zusammenbinden (abgesehen von besagtem Gleichnis). Immerhin sprechen Texte wie Mk 10,13–16 für die These von Jeremias. „Wieder wie ein Kind werden“ ist ja ein (paradoxes und provokatives) Synonym der Umkehr, und korreliert deutlich mit der Vaterschaft Gottes. Damit ist sicher etwas Ausschlaggebendes über das Leitimaginarium Jesu in Sachen Buße gesagt. Vielleicht ist aber sozusagen am imaginativen Horizont der Evangelien noch ein anderer Komplex zu bedenken, der die Bildlichkeit ausweitet, wohin die Umkehr geschieht. Wir kennen ihn vor allem aus den ersten Szenen des Markusevangeliums (Mk 1,12f.). Nach der Taufe wird Jesus vom Geist in die Wüste gestoßen. Nach der Versuchung durch den Teufel ist er mit den wilden Tieren, und die Engel dienen ihm („καὶ ἦν μετὰ τῶν θηρίων, καὶ οἱ ἄγγελοι διηκόνουν αὐτῷ“). Der Tierfrieden (Jes 11,6– 9; ApkMos 10–12; 24,4) als messianisches Motiv61 steigert sich hier zu Jeremias, Neutestamentliche Theologie I (s.o. Anm. 47), 150–156. Das ist heute Konsens. Vgl. Georg Schelbert, ABBA Vater. Der literarische Befund vom Altaramäischen bis zu den späten Haggada-Werken (NTOA/StUNT 81), Göttingen 2011; Christiane Zimmermann, Im Namen des Vaters. Studien zu ausgewählten neutestamentlichen Gottesbezeichnungen, Leiden/Boston 2011, 41–166. 61 Dazu s. Jan Dochhorn, Die Apokalypse des Mose (TSAJ 106), Tübingen 2005, 304f. Im Sinne von Paradiesmotiven deuten z.B. auch Martin Hengel/Anna Maria Schwemer, Jesus und das Judentum (Geschichte des frühen Christentums 1), Tübingen 2007, 322f.; zurückhaltend dazu: Gudrun Guttenberger, Das Evangelium nach M arkus (ZB NT 2), Zürich 2017, 43. Eine alternative Deutung (Tiere als dämonische Mächte, die wie der Teufel besiegt werden müssen) bietet die Gnosis (Clem. Alex., exc. ex Theodoto 85, 1–3). Zur altkirchlichen Auslegungsgeschichte s. etwa K laus-Peter Köppen, Die 59 60
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einer Art Wiederkehr des Paradieses (vgl. zum Tischdienst der Engel außer ApkMos etwa bSanh 59b, wo die Engel für Adam im Paradies sogar den Wein seihen und das Fleisch braten). Jesus wird damit auch für Mk (nicht erst für die Typologie des Paulus) ein neuer Adam, der im Gegensatz zum ersten Adam die dämonische Versuchung besteht, und der damit für einen symbolträchtigen begrenzten Zeitraum das Paradies wiederherstellt.62 Das ist Antizipation des eigentlichen Eschatons. Auch nach seinem Tod wird Jesus im Paradies sein, sagt Lk 23,43. Es wird dabei das Paradies als ein protologisches Motiv ins Eschaton bzw. ins Jenseits übertragen (beides ist nicht immer unterscheidbar, und hängt zusammen): ein Übertragungsvorgang, der sich auch im Judentum parallel zum frühen Christentum etwa im zweiten vor- bis ersten nachchristlichen Jahrhundert durchsetzt (TestAbr 11,10; 14,8; äthHen 32,3 „Garten der Gerechtigkeit“ vgl. 20,7; 60,8 (Ort, an den die Auserwählten und Gerechten gebracht werden); OrSib Frg. 3,48 (GCS ed. Geffcken 232); Test Levi 18,10; ApkMos 37,5; 4Esra 7,58; 8,52; slawHen 8,1–8; 42,3; christlich dann 2Kor 12,4; Apk 2,7 und wohl auch 21f.).63 Das vielleicht Interessanteste an der markinischen Szene scheint mir, dass das Paradiesmotiv nur angedeutet und damit in seiner Relevanz vorausgesetzt wird.64
Auslegung der Versuchungsgeschichte unter besonderer Berücksichtigung der Alten Kirche (BGBE 4), Tübingen 1961. Vgl. zum Paradies Guy Stroumsa/Markus Bockmuehl (Hgg.), Paradise in Antiquity. Jewish and Christian Views, Cambridge 2010. 62 Zum neuen Adam s. im Kontext etwa Rudolf Pesch, Das Markusevangelium. 1. Teil (HThK), Freiburg u.a. 4. Aufl. 1984, 95f.; weiter ausholend: Jan Dochhorn, Der Adammythos bei Paulus und im hellenistischen Judentum Jerusalems. Eine theologische und religionsgeschichtliche Studie zu Römer 7,7–25 (WUNT I 469), Tübingen 2021, dazu das reiche Material in Louis Ginzberg, The Legends of the Jews, 7 Bände, Philadelphia 1909–1938 (diverse Reprints), hier Bd. 1 und 5. Tiere und Engel: vgl. TestNapht 4,6. Man wird sich erinnern, dass Adam nach Augustin civ. dei XVIII,38 Empfänger aller Theologie gewesen ist. Zur christlichen Adam-Mythologie der alten Kirche s. Theresia Heither, Christina Reemts, Adam (Biblische Gestalten bei den Kirchenvätern), Münster 2007, die freilich viele Aspekte übergehen und nicht religionsgeschichtlich fragen. 63 Vgl. Walter Bauer, Frederick W. Danker, A Greek-English Lexicon of the New Testament and Other Early Christian Literature, 3rd edition, Chicago/London 2000, 761. In der griechischen Umgangssprache heißt das Wort einfach nur noch Garten (im Sinne des altmodischen „Lustgarten“). 64 Vgl. Jeremias, Theologie (s.o. Anm. 47), 74f. Jeremias vergleicht die Trias bestandene Versuchung – Tierfrieden – Engeldienst mit derjenigen von Lk 10,18–20 (Satanssturz – Unschädlichkeit der giftigen Tiere – Einschreiben der Namen in das Buch des Lebens).
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Das Paradies ist also nicht nur ein locus amoenus,65 sondern der Ort einer ungebrochenen Gottesbeziehung, die „verloren“ ist und wiedergewonnen werden soll. Gerade der nächste Vers redet dann von der Umkehr. Interagiert also die Sehnsucht nach dem Ursprung, den Jesus wieder zugänglich macht, auch mit der Suche nach einem verlorenen Paradies? Anders gesagt, hat Jesu Wirken für Markus einen nostalgischen und sehnsuchtsvollen Aspekt? Will sie etwas Verlorenes wiederfinden? Das Paradies wäre dann eine ursprünglichere Gottesbeziehung. Zielt Umkehr als Bewegung in einem imaginativen und mythologischen Raum auch darauf? Das Gottesreich Jesu ist keine primär ethische Größe: Es ist die Gottesherrschaft als umfassender Heilsraum, der sich im Wirken Jesu zeichenhaft ankündigt. Sie wird einmal die ganze Welt überwinden, wie der Stein des Danielbuches, der die Weltreiche zermalmt (2,34). Sie kann gesucht und betreten werden (Einlasssprüche). Zugleich stellt Gott in ihr einen verlorenen Zustand wieder her: im Sinn des Gotteswortes Barn 6,13: „Ἰδού, ποιῶ τὰ ἔσχατα ὡς τὰ πρῶτα.“ Diese Zusammenhänge werden in den Evangelien aber nur sozusagen von Ferne, am Horizont des religiösen Imaginariums sichtbar. Jesus, der mit Tieren und Engeln zusammenlebt, ist jedenfalls doch wohl ein Paradiesmotiv („Paradise regained“, wie es John Milton in seinem Epos geschrieben hat),66 und dieses Motiv greift weiter zurück als der Exodusbezug des Täufers. Es hat ein reiches Weiterleben in den Vollkommenheitsszenarien der Alten Kirche: Paradies wird zu einem Synonym des alten wie des neuen Heilszustandes. Paradiesbilder sind zugleich solche eines „Zentrums“, das wieder in Kraft gesetzt wird.67 Während für die postlapsarische Welt das Paradies ein ferner, mythischer Ort ist, wird er in Gen 2 prälapsarisch als Ausgangspunkt der Wasser der Erde, also als ein lebensstiftendes Zentrum imaginiert. Jerusalem, das sich als himmlisches Jerusalem in der Apk mit dem Paradies verbindet, ist Ort des Nabels der Welt: ein eindrückliches poetisch-mythisches Bild. In den neutestamentlichen Schriften wird ein Zusammenhang mit dem Ziel der Buße nicht ausgeführt, aber er liegt schon in der Sachlogik einer zyklischen Paradies-Mythologie. In der Alten Kirche kann die Frage nach dem Wohin der Umkehr Vgl. Ernst R. Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern/ München 5. Aufl. 1965, 197.199.202–209. 66 Vgl. Marco Frenschkowski, Milton, John, in: BBKL 5 (1993), 1540–1551. 67 Trotz mancher überholter (phänomenologisch-„essentialistischer“) Fragestellungen scheint mir zur Symbolik des „Zentrums“ nach wie vor grundlegend Mircea Eliade, Die Religionen und das Heilige. Elemente einer Religionsgeschichte, Darmstadt 1976 (zuerst Salzburg 1954), 415–437.577–579. 65
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atürlich noch andere Züge annehmen, die ich hier nicht diskutieren n kann, z.B. als Rückkehr in die Gemeinschaft der Kirche und des Bischofs (IgnPhiladelph 8,1). 5. Umkehr wohin? Noch einmal zum paganen Umfeld Wir blicken dazu noch etwas weiter auf Komplexe einer mythischen Rückkehr im weiteren Umfeld der Jesusbewegung, deren Reinszenierung der Gegenwart kritisch kontrastiert wird, und nun auch in rituellen Kontexten. Wiederkehr der goldenen Zeit ist ein besonders in den imperialen Symbolsystemen aufgenommenes mythologisches Motiv, das sich mit zyklischem Denken berührt. Bestimmte Feste berühren sich mit diesem Imaginarium: die Saturnalien und die griechischen Kronien, beide rituelle Lizenzperioden. Sie sind entschieden eine Erinnerung an eine frühere Kulturepoche, ja an eine der Herrschaft Iuppiters vorangehende archaische Zeit: sie inszenieren sozusagen eine goldene Urzeit, mit der bekannten karnevalesken Inversion gesellschaftlicher Verhältnisse. Autoren wie Iustinus-Pompeius Trogus epit. historiar. XLIII,1, 3f.; Macrobius saturn. I,7,26 unterstreichen diesen Aspekt.68 Bei den griechischen Kronia69 bewirteten reiche Bauern ihre Erntehelfer (in Athen am 13. Hekatombaion; im ionischen Sprachraum existiert sogar ein eigener Monat Kronion). In Alexandrien wurden Kuchen geweiht und jedem serviert, der während des Festes im Tempel des Kronos vorbeischaute (Athen. deipn. III,110B). Diese Feste hatten übrigens, ein wichtiger Punkt, keinerlei Beziehung zum imperialen Kult, und überlebten vielleicht auch deshalb weit in die christliche Zeit. In der Alten Komödie war das leichte Leben unter Kronos eine Art Wunschfantasie, die im Theater leicht eingespielt werden konnte (Athen. deipn. VI,267EF). Gerade die römischen Saturnalien (die am 17. Dezember begann, und mindesten vier Tage bis zur Wintersonnenwende dauerten, Vgl. Arthur O. Lovejoy/George Boas, Primitivism and Related Ideas in Antiquity, Baltimore 1935, 65–70; Siegmar Döpp, Saturnalien und lateinische Literatur, in: ders. (Hgg.), Karnevaleske Phänomene in antiken und nachantiken Kulturen und Literaturen, Trier 1993, 145–177, hier 147. 69 Zu ihnen vgl. besonders Max Pohlenz, Kronos, in: RE 11/2 (1922), 1982–2018; Martin P. Nilsson, Kronien, ebd. 1975f.; Gerhard Baudy, Kronos, in: DNP 6 (1999), 864–870; Walter Burkert, Kronia-Feste und ihr altorientalischer Hintergrund, in: Siegmar Döpp (Hg.), Karnevaleske Phänomene (s.o. Anm. 68), 11–30. 68
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später auch noch etwas länger70) erlebten eine erstaunliche Karriere im Osten des Imperiums, wie gesagt bis weit in die christliche Zeit hinein. Es ist dies kürzlich von Fritz Graf genauer beschrieben worden. Sie kommen auch zum Beispiel in den Vindolanda Tablets vor, die direkt aus der neutestamentlichen Epoche stammen – dem aufregendsten und umfangreichsten lateinischen Brieffund der letzten Jahrzehnte überhaupt.71 Inter essanterweise besitzen wir zu den Saturnalien in den Provinzen gerade vor allem Zeugnisse aus Palästina, auch wenn diese kaum vor das zweite bis vierte Jahrhundert zurückgehen dürften. MAvoda Zarah 1,13 (vgl. Midr. R. Dtn. 7,7 Liebermann 111) stehen die Saturnalien an zweiter Stelle in einer Liste der auch in Palästina begangenen römischen Feste, nach den Kalenden, die hier wohl nicht allgemein den Monatsanfang, sondern die Kalendae Ianuariae, also den Jahresanfang, meinen. Die Namen sind aus dem Lateinischen transkribiert. Man kannte sie also auch hier. Gerade in Soldatenkreisen hören wir oft von dieser Feier. Ein besonderes Zentrum des Kultes war Skythopolis (Beth Shean), aber wir wissen nicht genau, seit wann.72 In Nordafrika waren sie vielleicht sogar für Christen attraktiv (Tertull., de idolol. 14,4–6; Apol. 42,4f.), und noch Macrobius erwähnt sie in Kyrene (sat. I,7,25). Lukians bekannter Dialog zur Sache (Saturnalia) nennt eine Reihe sonst nicht bezeugter exuberanter ritueller Details, wie z.B. nackte Tänze (die freilich eine Strafe für ein verlorenes Würfelspiel sind), und Plutarch entwickelt eigene Narrationen zu Kronos (de fac. in orb. lun. 26; de def. orac. 18), vielleicht in freier Adaption nordeuropäisch-keltischer Mythen. Auch Israels Festkalender holt die Zeit der Anfänge in die Gegenwart, in dem die alten Naturfeste mit historischen Erinnerungen aus dem Zur sukzessive anwachsenden Dauer der Saturnalien s. schon Georg Wissowa, Religion und Kultus der Römer (HAW 5,4), München 21912, 207, Anm. 7. 71 Fritz Graf, Roman Festivals in the Greek East. From the Early Empire to the Middle Byzantine Era, Cambridge 2015, 66–68.76f.87–89.98.209. Auch in Rom selbst haben die Saturnalien ihre Bedeutung lange nicht verloren. Macrobius wählte sie als Setting seiner Saturnalia, die in die 380er Jahre zu datieren sind. Unter Justinian wurden sie im Osten durch eine Variation der Brumalia ersetzt, weil die kirchliche Kritik immer lauter geworden war (bis auch diese durch das Trullanum, can. 62, verboten wurden). Die Kronien konnten schon früher zum reinen Dienstbotenfest herabsinken, so in Theben (Plutarch, non posse suav. 16). An die späteren Metamorphosen dieser Feste kann hier nur erinnert werden. 72 Nicole Belayche, Iudaea – Palaestina: The Pagan Cults in Roman Palestine (Second to Fourth Century), Tübingen 2001, 261. Auch die syrischen Adonia sind in anderer Weise Inszenierungen einer „verkehrten Welt“, doch besitzen sie nicht das nostalgische Element der Kronien. 70
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xodusszenario unterlegt wurden. Das waren freilich Entwicklungen der E vorexilischen oder frühnachexilischen Zeit. Israels Feste wie Pessach, Schawuot und Sukkot sind also Erinnerungsfeste. Das sind sie als Reinszenierungen einer nicht nur normativen, sondern begehrten, ja nostalgisch ersehnten und im Fest „zurückgeholten“ Vergangenheit. In diesen großen imaginativen Raum gehören nun nach der hier vertretenen Auffassung auch Bußbewegungen. Sie geben nicht nur ethische Impulse, sondern spannen ein Imaginarium einer besseren, idealen Vergangenheit auf, in die sie symbolisch zurückführen wollen. Dieser Aspekt kann im Kontext ihrer ethischen Konkretion unsichtbar werden, wirkt aber im Untergrund des Themas mit. Das erinnert in einer anderen Ausdrucksform an Bußbewegungen; auch diese wollen etwas wiederherstellen, sie haben einen nostalgischen Zug. Es geht nicht nur um ein besseres Verhalten des Individuums oder auch des Volkes, sondern um eine Rückkehr in einen Anfangspunkt der Gottesbeziehung. Beide (Fest wie Bußakt) sind auch Zivilisations- und Gesellschaftskritik, weil sie die Gegenwart mit dieser idealisierten Anfangszeit vergleichen. In welchem Sinn trifft das für ausgesprochen archaisierende Reformbewegungen wie die Chasidäer oder die späteren Pharisäer zu, oder auch die QumranBewegung? Wir wissen es nur teilweise. Dies alles berührt sich in mancherlei Weise mit den inszeniert archaisierenden Zügen antiker Religionen, und ihrer Verehrung normativer Anfänge.73 Insbesondere im Bereich der Luxus- und Zivilisationskritik ist der Gedanke der Rückkehr zur Lebensweise der Vorfahren nicht selten. Utopische und restaurative Motive berühren sich dabei leicht und oft. Ich nenne noch einige wenige Beispiele für ein Archaisieren im Ritus, ein nicht identisches, aber angrenzendes Motivfeld einer normativen Vergangenheit mit einem auch nostalgischen Zug. Rituelle Nachahmung der Vergangenheit und Rückkehr zu ihren Gesetzen sind verwandt. Das ist in der Religionsgeschichte, auch der jüdischen, nicht selten. Bekanntlich wird in vielen Handschriften der hellenistisch-römischen Zeit der Gottesname „Jahwe“ in althebräischer Schrift geschrieben, während der Haupttext in Quadratschrift, also eigentlich in aramäischer Schrift niedergelegt ist. Ein ähnlicher Archaismus gilt für die Beschneidung, die Vgl. etwa Hermann Görgemanns, Anfang, in: RAC Suppl. 1 (2001), 401–448; Klaus Thraede, Fortschritt, in: RAC 8 (1972), 141–182; Alois Kehl/Henry-Irénée Marrou, Geschichtsphilosophie, in: RAC 10 (1978), 703–779; Antje Wessels/Jacqueline Klooster, Inventing Origins? Aetiological Thinking in Greek and Roman Antiquity (Euhormos: Greco-Roman Studies in Anchoring Innovation 2), Leiden 2021.
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bekanntlich im Judentum nur mit einem altertümlichen scharfen Stein, nicht aber mit einem „moderneren“ Metallmesser durchgeführt wird. Wir blicken kurz auf diesen Komplex, um das kulturelle Phänomen deutlicher in den Blick zu bekommen. Rituale bewahren nicht selten ältere Kulturzustände, wenn zum Beispiel für israelitische Altäre kein Eisen verwendet werden darf (ehemals Zeichen des technischen Fortschritts: Jos 17,16.18; Ri 1,19; 4,3.13; 2Sam 23,7). Salomos Tempel sei also ganz ohne das „neumodische“ Eisen erbaut worden: ein erstaunlich archaisierender Zug.74 Auch andere Motive mögen mitgewirkt haben. Ähnlich dem Gebrauch eines Steinmessers im Fall der jüdischen Beschneidung wird Ähnliches in anderen Ritualsystemen von der Kastration des Attis mit einem Feuerstein (Catull 63,5 „acuto … silice“) oder von der Körperöffnung bei Einbalsamierungsriten mit einen „scharfen äthiopischen Stein“ erzählt (Hdt. II,86,4; Diodor Sicul. I,91,4 zur Notwendigkeit, dass die Ritualmesser aus Stein sein müssen; vgl. das „sine ferro“ Plin., nat. hist. XXIV,176 oder Horaz, sat. I,8,26).75 Der Parschoistes, der Diener, der dieses archaische Mittel benutzt, ist dann zugleich Sündenbock: Er wird von allen Anwesenden mit Steinen beworfen und muss entfliehen, obwohl seine Arbeit notwendig ist. Die eigentliche Einbalsamierung geschieht durch Priester, denen höchste Ehre zu Teil wird. Es liegt also ein alter Eliminationsritus vor. Solche Züge müssen nicht immer „chronologisch“ alt sein; sie können auch bewusste „Archaismen“ darstellen, zumal die hellenistisch-römische Welt ausgeprägte Theorien der Kultur entstehung und -entwicklung besessen hat, und daher ein Bild „früherer“ Kulturstufen durchaus in hohem Maße präsent gewesen ist. Auch Balsam, einer der wertvollsten Exportartikel Israels, muss rituell mit archaischen Stein- oder Knochenmessern geerntet werden, ohne Frage aus magischen Gründen („ferro laedi vitalia odit“: Plin., nat. hist. XII,115; vgl. Tacitus, hist. V,6; Joseph., ant. XIV,54). Jos 21,42d LXX Das gilt schon an der programmatischen Stelle Ex 20,25; dann Dtn 27,5; 1Kön 6,7; Joseph., bell. 5,225; daran knüpft sich später die jüdische Legende vom Wurm Schamir, der Stein für den Tempelbau aufweichen kann. Das Eisenverbot ist religionsgeschichtlich von höchstem Interesse; es ist die Kehrseite seiner dämonenvertreibenden Wirkung (vgl. schon Plin., nat. hist. XXXIV, 44). Vgl. Ignaz Goldziher, Eisen als Schutz gegen Dämonen, in: AfR 10 (1907), 41–46 (schon die Nennung des Metalls wirkt in diesem Sinn). Zum Schamir, der den Gebrauch des Eisens überflüssig macht, und den Gott nach rabbinischer Legende noch nach dem Menschen vor Anbruch des ersten Sabbats schuf, vgl. Pirqe aboth 5,9 sowie Louis Ginzburg, Legends of the Jews, Philadelphia 1909–1938, hier 1,34; 5,52f.; 6,292.299 u.ö. Er wird auch im Koran erwähnt. 75 Man ist an die steinernen Ritualmesser anderer Kulturen erinnert, etwa an die archaischen Obsidianmesser der Azteken usw. 74
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ergänzt den hebräischen Text um die Aussage, dass Josuas altertümliches Steinmesser nach wie vor als Reliquie in der Stadt Timnath aufbewahrt wurde.76 Das trifft sich mit der Neigung auch der christlichen Riten, „vorzivilisatorische“ Ausdrucksformen zu benutzen (fließendes Wasser, ungesäuertes Brot), wie es Klaus Berger formuliert hat,77 und wie es überhaupt eine allgemein-antike rituelle Tendenz gewesen ist. Der Ritus konserviert also nicht nur faktisch, sondern auch in der Wahrnehmung der Praktizierenden eine ältere Zeit: Er kreiert eine Rückkehr in eine auch rituelle Vergangenheit. Bekanntlich sind Fortschrittsdiskurse in der Antike sehr selten, trotz der tatsächlichen (z.B. technischen) Fortschritte, die es in vielen Bereichen auch im römischen Reich und auch noch im dritten und vierten Jahrhundert gegeben hat. Das „Werthafte“ ist aber fast immer das Uralte, Altgeheiligte. Daher sind auch archaisierende Ritualherstellungen und Kultgründungen nicht selten (man denke an die hellenistischen Anu-Riten in Babylon, die ein über zweitausend Jahre altes Ritualsystem wiederherzustellen versuchen). Ein Mann wie Pausanias reist durch Griechenland, um „alte Riten“ zu sammeln. Aber Archaismus ist noch nicht Umkehr. Es kann auch eine luxuriöse Form des Sammelns, überhaupt der antiquarischen Liebe zum Alten darstellen: Unter Hadrian kippt die imperiale Ideologie in gewisse Sinn in einen solchen Archaismus. Selbst Handschriften werden zu dieser Zeit künstlich chemisch auf „alt“ getrimmt, um besser verkäuflich zu sein (Dio Chrysost., or. 21,12), und schon Horaz hatte satirisch die Sammelwut der Reichen für alles „Alte“ dargestellt (epist. II,1,20–30), wie ja auch in Griechenland die am meisten geachteten Bücher die ältesten seien (ebd.). Diese Motive grenzen aneinander an, sind aber nicht identisch. Eine Sehnsucht nach einem ursprünglicheren, einfacheren Leben beziehungsweise eine Luxuskritik kann sich etwa auch mit ethnographischen Interessen verbinden: Die Germania des Tacitus ist das bekannteste Beispiel („Sittenspiegeltheorie“, doch sind die Interessen hinter dieser einzigen erhaltenen umfassenden kaiserzeitlichen Monographie über eine Ethnie natürlich mehrschichtig). Auch die apokalyptische Zivilisations- und Luxus-Kritik (äthHen 8–10 usw.) kann als eine Sehnsucht nach einem einfacheren Leben interpretiert werden. Wäre Ähnliches in Hinsicht auf die vertrauensvolle Umgekehrt kann das Eisen gerade als zauberbrechend gefordert werden; vgl. die Belege bei Adam Abt, Die Apologie des Apuleius von Madaura und die antike Zauberei (RGVV IV/2), Gießen 1908, 159–161. Beide Motive widersprechen sich nicht unbedingt; zauberbrechend ist das Eisen gerade als „modernes“, zivilisatorisches Metall. 77 Klaus Berger, Theologiegeschichte des Urchristentums, Tübingen/Basel 21995, 95. 76
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Sorglosigkeit zu sagen, für die Jesus plädiert, und die offenbar auch mit seinem Bild der Umkehr zusammenhängt (Q 12,33f. und 12,22b–31; vgl. EvThom 36)? Kann man sie zumindest auch als eine Sehnsucht nach einem einfacheren Leben deuten? Wir stellen das nur als Frage: man darf als Gegenbild jedenfalls nicht an die Kompliziertheiten der Moderne denken, und muss den galiläischen Kontext mit bedenken, der vielleicht eher gegen eine solche Deutung sprechen könnte (Philon kennt die Idee, dass sich der „umkehrende“ Weise vom oberflächlichen Stadtleben auf einen Bauernhof zurückzieht, um sich ganz dem Studium zu widmen: de Abr. 23. Aber natürlich hat er Sklaven, welche die bäuerliche Arbeit für ihn erledigen, und kann seinen Rückzug leicht idealisieren). Eine pagane Rückkehr zum Ursprung mit ethischen Zügen in anderer Hinsicht ist das κατὰ φύσιν ζῆν der Kyniker und Stoiker, das die Sache noch radikaler formuliert als die Jesusbewegung, aber doch einen Vergleich lohnt. Dieses κατὰ φύσιν ζῆν (der Natur entsprechend leben) ist im stoischen System freilich auch ein κατὰ λόγον ζῆν (der Vernunft entsprechend leben) (z.B. Diog. Laert. VII,85f.). Natur ist hier nicht nur die ursprüngliche Anlage des Menschen, sondern auch seine ethische Bestimmung: auch hier treffen also, wenn wir so sagen wollen, Protologisches, Ethisches und eine Bestimmung des Menschen zusammen. Der Mensch ist vernunftbegabt (z.B. Seneca, epist. 41,8), und soll daher „übereinstimmend“, „im Einklang“ mit dieser (also dem Logos) leben (ὁμολογουμένως ζῆν, SVF III,3). Aber das ist gerade identisch mit einer Orientierung an der Natur, wie schon Kleanthes und Chrysipp sagen können und damit gegenüber Zenon vielleicht einen neuen Akzent setzen (ὁμολογουμένως τῆ φύσει ζῆν, SVF III,12). Nach anderen hätte auch Zenon schon so formulieren können (SVF I,179).78 Im philosophischen Literaturgenre des Protreptikos, der Vgl. zur kynischen Variation dieser Ideen Marie-Odile Goulet-Cazé, Kynismus und Christentum in der Antike. Hg. v. Marco Frenschkowski. Übersetzt von Lena Seehausen (Novum Testamentum et Orbis Antiquus / Studien zur Umwelt des Neuen Testaments 113), Göttingen 2016, 52–58 u.ö. Zur Geschichte des Naturbegriffs s. Fritz Peter Hager, Natur I. Antike, in: HWPh 6 (1984), 421–441, v.a. 433–437; Luc Deitz, Physis/Nomos, Physis/Thesis, in: HWPh 7 (1989), 967–971. Übrigens ist auch „Naturgesetz“ an den sehr wenigen antiken philosophischen Stellen, an denen die Wendung begegnet, ein ethisches, kein ontologisches Konzept, wenn ich recht sehe. Vgl. auch weiter ausholend über nicht-ethische kosmologische Referenzgrößen ethischer Systeme den wichtigen Band Robin W. Lovin/Frank E. Reynolds (Hgg.), Cosmogony and Ethical Order: New Studies in Comparative Ethics, Chicago 1985. Vgl. auch einige alttesta mentliche Aspekte der Sache bei Klaus Koch, Qädäm. Heilsgeschichte als mythische Urzeit im Alten (und Neuen) Testament, in: ders., Gesammelte Aufsätze, 1: Spuren des hebräischen Denkens, Neukirchen-Vluyn 1991, 248–280.
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Werbeschrift, können sich solche Ideen mit Narrationen einer idealen Biographie verbinden, also einer Abkehr von einem weltlichen, oberflächlichen Leben hin zur Philosophie. So wird von dem späteren Platoniker Polemon erzählt, er habe sich beim Anhören eines philosophischen Vortrages des Xenokrates von seinem alten leichtfertigen Leben abgewandt (Diogen. Laert. IV, 16). Im stoischen und kynischen Kontext wird hier nun gerade der Gedanke einer Rückkehr zur Natur eingespielt, den auch schon Polemon (obwohl Platoniker) kennt.79 Natur ist dabei ein sowohl philosophischer wie mythologischer wie auch ethischer Wertbegriff für etwas, wohin zurückzukehren ist und was als Orientierung dienen kann. Sie ist Ursprung und Ziel des philosophischen Menschen gleichermaßen. Antike Philosophie würde in diesem Kontext aber nicht μετάνοια sagen.80 Diese gilt eher als Affekt, als Umschwung der Stimmung und Meinung, und wird daher oft skeptisch gesehen. Das Wort heißt meistens neutral Sinnesänderung, Reue (auch in Bezug auf gute Taten), nachträgliche Einsicht, und kann sich insofern auch auf Sünden beziehen (etwa Dittenberger, Syll. 3. Aufl. Nr. 1268, 8; Plut., quomod. adulat. 36,74C). Für Epiktet ist der Weise gerade μὴ μετανοῶν im Sinne von „nicht wankelmütig“ (diss. II,22,35; vgl. Enchir. 34, wo es um eine ethische Unzufriedenheit mit sich selbst geht). Ähnliches konnte schon Chrysipp sagen (SVF III 137,21ff.), und noch Mark Aurel hat dieser kritischen Sicht zugestimmt (VIII,2.10, wo er die μετάνοια gar als Autoaggression diskreditieren kann: Ἡ μετάνοιά ἐστιν ἐπίληψίς τις ἑαυτοῦ ὡς χρήσιμόν τι παρεικότος). Oft geht μετάνοια mit heftigen, schmerzlichen Emotionen einher, andererseits kann sie auch ein intellektuelles Umdenken bezeichnen.81 Rückkehr-Ideen können sich auch mit Phantastischem und Märchenhaftem verbinden. Die antike Fabel, in der Tiere und Pflanzen reden und S. die Quellen (Text und Kommentar) bei Heinrich Dörrie, Der Platonismus in der Antike, Bd. 1: Die geschichtlichen Wurzeln des Platonismus, Stuttgart-Bad Cannstatt 1987, 94–101.319–326. Vgl. auch Marcello Gigante (Hg.), I frammenti di Polemone academico, in: Rendiconti della Accademia di Archeologia, Lettere e Belle Arti (Napoli), N.S. 51 (1976), 91–144. 80 Vielleicht jüdisch oder sogar christlich beeinflusst sein könnte der Gebrauch des Verbes im Poimandres, Corpus Hermeticum I,28: μετανοήσατε͵ οἱ συνοδεύσαντες τῇ πλάνῃ καὶ συγκοινωνήσαντες τῇ ἀγνοίᾳ· ἀπαλλάγητε τοῦ σκοτεινοῦ φωτός͵ μεταλάβετε τῆς ἀθανασίας͵ καταλείψαντες τὴν φθοράν (ed. Nock/Festugière). 81 Aufschlussreich ist Tertullians Formulierung, Tert., adv. Marc. II,24: Nam et in Graeco sono paenitentiae nomen non ex delicti confessione, sed ex animi demutatione compositum est (ed. Braun/Lukas, FC 63/2, 308). Vgl. Lact., inst. VI,24,6. Markion hatte bekanntlich den alttestamentlichen Gott angegriffen, weil dieser Reue, also geistige Instabilität, gezeigt habe. 79
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die damit ein moralisches poetisches Imaginarium aufspannt, erinnert wiederum in anderer Weise an eine phantastische „Vorzeit“, in der Tiere, Pflanzen und Menschen tatsächlich noch miteinander reden konnten: Eine Art goldene Zeit (so explizit Babrios prooem.). Zu denken ist daran, dass homines religiosi gerne als solche geschildert werden, die in diesem Sinn wieder neu wie ehemals ihre Vorfahren die Tiersprachen verstehen, wie Adam im Paradies, wie es von einem wundertätigen Rabbi erzählt werden kann (bGittin 45a), von Apollonius von Tyana (Philostrat, v. Apoll. I,20; III,9), von Teiresias (ps.-Apollod., bibl. I,9,11; III,6,7), von Melampus (Plin., nat .hist. X,70) usw.82 Für die christliche Sibylle (OrSib I) stellt sich die nachahmenswerte goldene Zeit nach der Sintflut ein, hat aber nur kurzen Bestand, und Boethius, de consol. philos. 2 m 5 charakterisiert die philosophische Existenzweise als eine Sehnsucht nach der goldenen Zeit, die sie mit ihrem Lebensstil nachahmt. Laktanz diskutiert das Thema ausführlich (div. instit. V,5–6; VII,15,7).83 Auch Jesus bewegt sich nach der hier vorgeschlagenen Interpretation in einer Vorstellungswelt, in der Buße eben auch eine Rückkehr zu etwas ist, was einmal gewesen ist (wenn auch sicher nicht individualpsychologisch). Das veranschaulicht am deutlichsten das Gleichnis vom verlorenen Sohn. Buße erschöpft sich nicht in einer Erkenntnis von Sünden oder in Bekenntnis- und Beichtakten, sondern sie ist die Wiederherstellung eines gebrochenen Gottesverhältnisses, die in einer räumlichen Rückkehrbewegung beschrieben wird. Das hat als Leitimagination eine ähnliche programmatische Funktion wie Herakles am Scheideweg als zentrale Narration symbolhafter Ethik in einer philosophischen Tradition (Xenophon, memorab. II,1,21–34): Aber ihr Inhalt ist natürlich ein anderer, und bezieht seine Bildlichkeit aus den Traditionen Israels, und aus dessen Gottesverhältnis. Zur Umkehr gehören Emotionen der Reue, Akte der Wiedergutmachung und eventuell Sühne, Willensentscheidungen und äußere Akte der sichtbaren Rückkehr zu einem idealen Anfang, und natürlich ist ihr Ziel das wiederhergestellte Gottesverhältnis; aber das ist nicht nur ein ethisches, sondern auch ein symbolisch-mythologisches Zur Geschichte des Motivs s. Andreas Johns, Tiersprachenkundiger Mensch, EM 13 (2010), 642–649; James G. Frazer, The Language of Animals, in: The Archaeological Review 1 (1888), 81–91.161–181; Heinrich Günter, Psychologie der Legende, Freiburg 1949, 46f. u.o. 83 Vgl. dazu Vinzenz Buchheit, Juppiter als Gewalttäter. Laktanz (inst. 5,6,6) und Cicero, in: Rheinisches Museum für Philologie 125 (1982), 338–342; ders., Goldene Zeit und Paradies auf Erden, in: Würzburger Jahrbücher für die Altertumswissenschaft N.F. 4 (1978), 161–185; 5 (1979), 219–235. 82
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Thema. Paulus und Johannes benutzen andere Bilder der Erneuerung (neue Schöpfung, neue Geburt u.a.), weshalb ihnen die Imaginarien der Umkehr nicht mehr so nahe sind, und das Wortfeld zurücktritt. Ich kann diese Verlagerungen hier nicht mehr ausführlich darstellen. Es gibt indes in der Jesusbewegung als einem messianisch-provokativen Zusammenhang auch Züge, die man nicht als Bußbewegung verstehen kann. Das gilt auch abgesehen von jenen düsteren Worten, die mit einer völligen Vergeblichkeit des Bußrufes rechnen (Mt 23,37; Lk 13,34 vgl. Mt 21,31f.). Die Verweigerung des Fastens (Mk 2,18–22 parr.), die Heilungen, der Grundton der messianischen Freude, des „Jubels“ (der ein Verhalten, nicht primär eine „Haltung“ beschreibt) und andere Aspekte treffen sich auf den ersten Blick nicht gut mit dem Umkehrideal, oder geben ihm gerade seine besondere jesuanische Färbung: eben die einer messianischen Zeit. Man kann das mit Passagen wie PastHerm, sim 7,4f. etc. kontrastieren, die die Mühsal, den Schmerz und die Qual der Buße betonen. Öfter wird die durch Jesus heraufgeführte Heilszeit mit einer Hochzeit verglichen (Mk 2,18f.) oder mit einem Festmahl (Q 14,16– 23): auch das sind keine Bußinterpretamente, obwohl das Thema in das Gleichnis einfließt. Insofern ist Umkehr trotz der großen Bedeutung des Themas kein heuristischer Universalschlüssel zum Verständnis der Jesusbewegung mit ihren zwei Brennpunkt, einem „öffentlichen“ und einem verborgenen (also wie bei einer Ellipse, nicht wie bei einem Kreis), nämlich dem Reich Gottes und Jesus selbst als dem messianischen Erfüller. In Beicht- und Bußriten werden Umkehrszenarios zum rituellen Geschehen, also zu etwas Fixiertem und Ereignishaften, aber vielleicht sind die skizzierten mythologischen Hintergründe auch dabei mit zu bedenken. Die Bewegung der Buße kann eine Rückkehr in den „Hafen des Friedens, in die friedevolle Stadt des großen Königs“ sein (ps.-Clem., Epistola ad Iacobum 13,3 ed. Rehm/Irmscher/Paschke, GCS Die Pseudoklementinen I Homilien [1969], 16), und was ähnlicher Bilder mehr sind. Eigene Aufmerksamkeit wäre auf gnostische Imaginarien einer Umkehr zu richten, wenn etwa Evangelium veritatis (NHC I/3 vgl. XII,2) 35,22 die Buße als ein „Zurückbringen“ und „Zurückkehren“ definiert wird,84 oder im Apokryphon des Johannes die Umkehr der „Mutter“ (also einer Hans-Martin Schenke, „Evangelium Veritatis“ (NHC I,3/XII,2), in: Nag Hammadi Deutsch. 2 Bände. Eingeleitet und übersetzt von Mitgliedern des Berliner A rbeitskreises für Koptisch-Gnostische Schriften, Hg. von Hans-Martin Schenke/Hans-Gebhard Bethge/Ursula U. Kaiser (GCS N.F. 8 u. 12), Berlin/New York 2001–2003, hier 1,41. 3. Aufl. als Studienausgabe in einem Band, Berlin/Boston 2013, 26f.
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kosmogonischen Weisheits-Gestalt) „mit viel Weinen“ zum Thema wird (NHC II,1,13f. parr.).85 Der Kirchengeschichtler Thomas Kaufmann hat kürzlich in einem eher journalistischen Beitrag die Rückbezüglichkeit der Bußtheologien sehr kritisch aus kirchlicher Innovationsscheu erklärt: Etwas Neues sei in der Kirchengeschichte meist nur anzubringen gewesen, wenn es behauptete, alt zu sein; Umkehrszenarios seien oft mit regressiven Phantasien überlagert gewesen.86 Auch darüber wird man diskutieren müssen; mir scheint das zumindest einseitig. Übersehen ist dabei vor allem, dass sich etwas „Neues“ in der Religionsgeschichte fast immer und seit jeher als Wiederherstellung von etwas Ursprünglichem inszeniert, und das keineswegs eine Besonderheit der neuzeitlichen christlichen Kirchen ist. Es wäre z.B. für ausnahmslos alle buddhistischen und hinduistischen Erneuerungsbewegungen auch zu sagen. Sowohl Paulus wie Mohammed waren der Meinung, ihre durchaus neuen Glaubens-Systeme seien Wiederherstellungen der Religion bzw. Glaubensweise Abrahams (arab. millat Ibrāhīm; der Begriff ist hier natürlich – wie derjenige einer „Religion“ – anachronistisch). 6. Die Feindesliebe als Rückkehr „Einheit“?
zu einer prälapsarischen
Wir wollen noch an einem weiteren Beispiel fragen, auch hier etwas experimentell und durchaus hypothetisch, inwiefern eine solche Dimension jesuanischer Ethik auch an anderen Stellen greifbar wird, wir also ethische Forderungen Jesu als Reflexe utopischer Imaginarien deuten können. Unser Beispiel ist die Feindesliebe. Sie wird möglicherweise auch in weniger radikal-paradoxen Formulierungen rezipiert, etwa wenn Paulus dazu auffordert, Böses mit Gutem zu überwinden (Röm 12,21). Es wäre jedenfalls falsch, die Feindesliebe nur als radikale Forderung zu verstehen, die Gewalt durch einen „Sprung aus dem System“, ein ü berraschendes und paradoxes Verhalten überwindet. Das ist sie natürlich auch, und insofern wirbt sie um den Feind. Sie ist aber auch eine Variation dessen, was Die verschiedenen Fassungen sind synoptisch mit Text und Übersetzung aufgeführt bei Michael Waldstein/Frederik Wisse, The Apocryphon of John. Synopsis of Nag Hammadi Codices II,1, III,1 and IV,1 with BG 8502,2 (NHMS 33), Leiden u.a. 1995, 80f. 86 Thomas Kaufmann, Abkehr von der Umkehr, in: Zeitzeichen. Evangelische Kommentare zu Religion und Gesellschaft, 22 (Januar 2022), 27–29. 85
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in einem indischen Kontext Advaita heißt: Die Überwindung von Zweiheit, von Dualität. Mit dieser Destruktion von Gegensätzen wird eine „Einheit“ gewonnen, die als eine Manifestationsform des Gottesreiches interpretiert werden kann, in dem nur noch ein Wille gilt, derjenige Gottes. Es ist interessant, dass in neuzeitlichen magisch-religiösen Systemen dieser sehr hoch besetzte Vorgang als lustvoll, als befreiend beschrieben wird: „Yet know this, that every opposition is in its Nature named Sorrow, and the Joy lieth in the Destruction of the Dyad“.87 Das ist vielleicht gar nicht so weit von dem entfernt, wie es Jesus gemeint haben könnte. Jedenfalls ist die Feindesliebe nicht die Konsequenz einer Selbstinszenierung als Opfer, sondern im Gegenteil eine Konsequenz des nahen Gottesreiches, das nicht nur das Verhalten, sondern auch die Kategorien der Wahrnehmung beeinflusst (obwohl die Formulierung keineswegs bestreitet, dass es „Feinde“ gibt, also Menschen, die den Jesus Zuhörenden Böses wollen). Der Wunsch, „mit sich und der Welt eins zu sein“ ist eine postmoderne Trivialisierungsform dieser Idee einer Überwindung von Gegensätzen. Im indischen Kontext ist Advaita ein Erleuchtungsgeschehen, das in einem langen seelisch-mentalen Prozess errungen werden kann. Die neutestamentliche Feindesliebe ist weniger metaphysisch ausgerichtet, reicht aber in diese Dimension hinein. Sie ist dabei auch eine radikal „andere“ Sicht auf die Welt, die ganz unter dem einen Willen Gottes steht, der als „Reich“ auf sie zukommt. Ausgerechnet Friedrich Nietzsche hat den Verzicht auf die Rache als Erlösungsgeschehen, also als radikale Befreiung begriffen: „Denn daß der Mensch erlöst werde von der Rache: das ist mir die Brücke zur höchsten Hoffnung und ein Regenbogen nach langen Unwettern“.88 Gott ist barmherzig und befreit daher zur Barmherzigkeit (Q 6,36). Diese meint auch den Feind. Heruntergebrochen hat sie natürlich zahlreiche ethische Konsequenzen, die in den Alltag hineinreichen, oder sich mit anderen Lebensweisheiten berühren. „Audiatur et altera pars“ wäre ein (nicht immer harmloseres) Beispiel, das schon Seneca aus seinem Ursprung im Recht vergrundsätzlicht.89 Das „die andere Wange ¨Hinhalten“ ist ein Aleister Crowley, Liber Aleph vel CXI. The Book of Wisdom or Folly, San Francisco 1974, 23 (Kap. “De nuptiis mysticis”, zuerst 1918). 88 Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra. Zweiter Teil. Von den Taranteln, in: ders., Werke in drei Bänden, Hg. Karl Schlechta, Bd. 2, München 8. Aufl. 1977, 357. 89 Seneca, Medea 199f. Vgl. zur Geschichte der Rechtsregel Andreas Wacke, Audiatur et altera pars. Zum rechtlichen Gehör im römischen Zivil- und Strafprozeß, in: Martin J. Schermaier (Hg.), Ars boni et aequi. Festschrift für Wolfgang Waldstein zum 65. Geburtstag, Stuttgart 1993, 369–399. 87
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paradoxes Verhalten: es ist vielleicht sogar konkret auf Konfrontationen mit der militärischen Staatsmacht zu beziehen. Im Kontext des jüdischen Krieges nahm diese eine besondere Dimension an, die der Logienquelle in ihrer Komposition bewusst gewesen zu sein scheint (Mt 5,41, trotz fehlender Lk-Parallele wohl aus Q). Der Feind, der nach Q zu lieben ist, ist nun gerade der Römer, der sich anschickt, Land und Tempel zu zerstören (falls Q nach 66 n. Chr. redigiert wurde). Daher interpretiert Q 7,1–10 (der Hauptmann von Kapernaum) die Regel Q 6,27f.35c–d. Für Aufstandsaktivisten („Zeloten“) wäre das landesverräterisch gewesen: es passt aber sehr gut zu der völlig glaubhaften altkirchlichen Nachricht, die sehr geschrumpfte Jerusalemer Gemeinde sei nach Pella, also militärisch auf strikt romtreues Territorium geflohen. Feindesliebe setzt eine innere aktive Grenzüberschreitung voraus: Die meisten Menschen haben irgendwann die Erfahrung gemacht, dass der irritierend „andere“ oder sogar „abstoßende“ Mensch sympathischer, verständlicher wird, wenn man sich (und sei es spielerisch, oder auch gestalttherapeutisch) in ihn oder sie hineinversetzt. Das sind sozusagen Nebengleise oder Vorstufen der Feindesliebe, welche die christliche Ethik immer beschäftigt hat, aus der sie aber auch immer ein Überlegenheitspathos über andere Ethiken bezogen hat. Dieser letztere Aspekt darf nicht übersehen werden. Er bedürfte eigener Erforschung: was bedeutet es für ein kleine, gefährdete Gruppe, wenn sie sagt: „Wir lieben unsere Feinde“?90 In der Logienquelle folgt auf die Feindesliebe im Kontext der Feldrede (Q 6,27) die Erzählung von Hauptmann von Kapernaum, der hier bereits als Römer imaginiert ist (als Zenturio, was er in der bei Joh noch durchscheinenden älteren Fassung nicht ist)91. Da Q m. E. zwischen 62 und 66 redigiert wurde, wird damit der zu liebende Feind bereits potentiell als Römer gekennzeichnet: eine Auffassung, die im Jüdischen Krieg als verräterisch gelten musste. Hier zeichnet sich ab, warum Christen die Ein modernes Beispiel, das genau diesen Aspekt beleuchtet: Festo Kivengere, I love Idi Amin. The story of triumph under fire in the midst of suffering and persecution in Uganda, London 1977. 91 Im Herrschaftsgebiet des Herodes Antipas sind selbstverständlich keine römischen Zenturionen stationiert: Q verändert die Tradition anachronistisch, um die Feindesliebe auf den Römer auszudehnen. Darum wird ja in Q auch aus dem Joh 4,46 (in älterer Tradition) noch genannten Sohn ein Diener, denn der römische Soldat hat keine legalen Kinder, die er öffentlich nennen könnte. Vgl. zu dieser Perikope Marco Frenschkowski, Linguistic Aspects of the Sayings Source Q: Sociolect and Idiolect, in: Louis C. Jonker/Angelika Berlejung/Izak Cornelius (Hgg.), Multilingualism in Ancient Contexts. Perspectives from Ancient Near Eastern and Early Christian Contexts, Stellenbosch 2021, 224–260 (dort weitere Lit.). 90
NORMATIVITÄT DES URSPRUNGS UND ETHIKEN DER UMKEHR
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ufstandsbewegung als pseudo-messianische Angelegenheit nicht mittraA gen konnten, und auf die römische Seite nach Pella flohen.92 Ethiken einer Umkehr und Rückkehr in eine Antizipation prälapsarisch-paradiesischer Einheit sind dann nicht allein normativ zu hören, sondern als eine provozierende Neuinszenierung des Vorfindlichen unter utopischem Aspekt, eine Beschwörung dessen, was sein könnte, weil es einmal war. 7. Auf dem Weg zu einer zusammenfassenden These Wir wollen versuchen, zu einer abschließenden These zu gelangen. Buße ist ein wichtiges, aber nicht einfach das zentrale Thema der jesuanischen Ethik. Insbesondere ist sie nicht einfach ein ethischer Imperativ, sondern eine mythologische, protologische und eschatologisch-utopische Imagination: eine Vision oder die Suggestion einer Vision dessen, was nach Gottes Plan sein könnte und einmal sein soll, gerade weil es schon einmal gewesen ist. Überhaupt ist es schwierig, in einem Begriff (Bußbewegung, Missionsbewegung, Erlösungsreligion usw.) die Mitte des Christentums zu fassen. Die alte Fremdbezeichnung Christianoi, die wegen ihrer lateinischen Sprachgestalt wohl von römischen Verwaltungsbeamten stammt, jedenfalls sieht im Christuskult, in der Verehrung des Messias Jesus das Charakteristische der neuen religiösen Gruppe. Auch der Begriff Bußbewegung scheint mir insofern nur sehr partiell geeignet, die Mitte der Jesusbewegung zu verstehen, so wichtig die Forderung der Umkehr gewesen ist. Aber diese Umkehr steht ganz im Schatten der anbrechenden messianischen Ära, ihrer Freude und ihrer Krisis des עולם הזה, dieser Weltzeit. Darum ist der Zöllner Zachäus voller Freude, und seine Umkehr ist ein freudiger Akt. Vor allem ist sie eben eine messianische Bewegung: die Antizipationsform einer hereinbrechenden Heilszeit. Das ist auch mit dem Begriff Reformbewegung nicht zu fassen. Es scheint mir daher auch keine glückliche Idee, wenn Gerd Theißen Paulus einen gescheiterten jüdischen Reformator nennt.93 Paulus hat seine Lebensarbeit ja gerade nicht direkt auf Israel bezogen verstanden (Gal 2,2.7),94 obwohl auch die Heidenmission dem Heil Israels dienen soll (Röm 9–11). Zur Geschichte der Feindesliebe in der Alten Kirche s. exemplarisch Walter Bauer, Das Gebot der Feindesliebe und die alten Christen, in: ders., Aufsätze und Kleine Schriften. Hg. Georg Strecker, Tübingen 1967, 235–252 (zuerst 1917). 93 Gerd Theißen, Petra von Gemünden, Der Römerbrief. Rechenschaft eines Reformators, Göttingen 2016, 58 u.ö. 94 Vgl. Martin Meiser, Der Brief an die Galater, Leipzig 2022 (ThHKNT 9), 87–89.97f. 92
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Spätere Bußbewegungen in 2000 Jahren Kirchengeschichte sind sehr oft, vielleicht sogar immer (das wäre zu prüfen), Imaginarien christlicher Ursprünge, Rückrufe in eine ideale und sicher auch idealisierte Anfangszeit, Exodus und Paradies, Urgemeinde und apostolische Epoche. Es ist dies ein anderer Aspekt der Buße, neben der Ethik. Umkehr schafft und lebt aus einem Imaginarium eines normativen und idealen Ursprungs, insofern in gewisser Hinsicht vergleichbar der Natur der Kyniker und Stoiker oder der Idee einer goldenen Zeit. Sie ist auch mit der rabbinischen Teschuwa nicht identisch, denn sie ist eine Funktion der messianischen Zeit, ihr Resultat, nicht ihre Voraussetzung. Ist das früheste Christentum also eine Bußbewegung? Ja und nein. Ja, denn ohne Umkehr gibt es kein Heil, nein, denn nicht die Umkehr schafft das Heil, sondern der Messias und leidende Gottesknecht Jesus.
Die Buße als Problem der Liturgiewissenschaft Harald Buchinger (Regensburg)
Buße ist nicht nur ein liturgisches Phänomen, sondern ein existentieller Prozess der Umkehr;1 sie wird aber liturgisch begleitet. Nicht zuletzt die Versöhnung mit Gott und der Kirche wird gemeinschaftlich oder individuell gefeiert. Die folgende Skizze soll – ohne jeden Anspruch von Originalität – zunächst die Komplexität des historischen Forschungsstandes skizzieren (1) und einerseits die Problematik simplifizierender Wahrnehmung ansprechen (2) und andererseits das spezifische Potential der interdisziplinären Gesprächssituation andeuten (3), bevor der Blick auf die wichtigste frühe Schlüsselquelle römischer Bußliturgie gelenkt (4) und abschließend versucht wird, offene Fragen zu exemplifizieren (5). 1. Vielfalt und Wandelbarkeit der Buße Buße als Bewältigung von Schuld ist so vielfältig wie das menschliche Leben in seiner ganzen Abgründigkeit. Die Geschichte der Buße ist darum nicht nur ein umfassender Spiegel und eine unerschöpfliche Quelle der Sitten-, Sozial- und Kulturgeschichte; sie ist auch so komplex wie die Vielfalt konkreter Anlässe, pastoraler Situationen, gesellschaftlicher Umstände, theologischer Auffassungen und kirchlicher Vorgaben. Darum sollen einleitend einige Entwicklungslinien identifiziert werden, die das unübersichtliche Bild strukturieren und zugleich Leistungsfähigkeit und Grenzen der verschiedenen Grundformen der Buße erkennen
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Das deutsche Wort „Buße“ verdankt seine Denotation eher dem lateinischen Begriff der paenitentia als der ursprünglichen Semantik der griechischen μετάνοια; beide bezeichnen vielfältige Phänomene – nicht nur und zunächst nicht eigentlich primär der Liturgie, sondern eines Lebens aus der Taufe. Die jüngere deutschsprachige Liturgiewissenschaft spricht programmatisch von „Feiern der Umkehr und Versöhnung“.
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lassen.2 Hilfreich ist zunächst die Unterscheidung von paenitentia prima, Die Vielfalt von Feiern und den Reichtum der älteren Forschung erschließt der meisterhaft klare, differenzierte und umfassende Handbuchbeitrag von Reinhard Meßner, Feiern der Umkehr und Versöhnung, in: ders./Reiner Kaczynski, Sakramentliche Feiern I/2 (GDK 7,2), Regensburg 1992, 9–240 (mit einem Kapitel von Robert Oberforcher, Sühneliturgie und Bußfeier im Alten Testament und im Frühjudentum, ebd. 22–48); vgl. auch Frieder Schulz, Ministerium reconciliationis. Evangelische Marginalien zu einer katholischen Darstellung der Feiern der Umkehr und Versöhnung, in: ALW 37 (1995), 68–86. Darum beschränken sich die Literaturhinweise im Folgenden auf spätere Publikationen; dies impliziert allerdings nicht, dass die angeführten Werke in allen Fällen gründlicher oder differenzierter wären als die frühere, trotz mancher auch kontroverstheologisch bestimmten Einseitigkeiten teils außerordentlich reiche, hier aber nicht im Detail referierte, sondern durch die Verweise auf die Bibliographien bei Meßner indirekt erschlossene Forschung. Das gilt insbesondere auch für jüngere Handbuchbeiträge und Gesamtdarstellungen wie z.B. Philippe Rouillard, Histoire de la pénitence des origines à nos jours (Histoire), Paris 1996 (mit Quellenanthologie in französischer Übersetzung); Antonio Santantoni, Reconciliation in the First Four Centuries, in: Anscar J. Chupungco (Hg.), Handbook for Liturgical Studies. IV: Sacraments and Sacramentals (A Pueblo Book), Collegeville, MN 2000, 93–104; Nicola Bux, Reconciliation in the Eastern Churches, in: ebd., 105–120; Antonio Santantoni, Reconciliation in the West, in: ebd., 121–152; Hermann Lins, Buße und Beichte – Sakrament der Versöhnung, in: Hans-Christoph Schmidt- Lauber/Michael Meyer-Blanck/Karl-Heinrich Bieritz (Hgg.), Handbuch der Liturgik. Liturgiewissenschaft in Theologie und Praxis der Kirche, 3., vollst. neu bearb. u. erg. Aufl., Göttingen 2003, 319–334; David M. Coffey, The Sacrament of Reconciliation (Lex Orandi Series), Collegeville, MN 2001; Allan D. Fitzgerald, Penance, in: Susan Ashbrook Harvey/David G. Hunter (Hgg.), The Oxford Handbook of Early Christian Studies, Oxford 2008, 786–808; Enrico Mazza, La liturgia della penitenza nella storia. Le grandi tappe (Studi e ricerche di liturgia), Bologna 2013 (relativ gründlich und differenziert; knapper vgl. auch schon ders., La celebrazione della penitenza nella liturgia bizantina e in occidente: Due concezioni a confronto, in: EL 115 [2001], 385–440), und Rikard Roitto, Rituals of Reintegration, in: Risto Uro/Juliette J. Day/ Richard E. DeMaris/Rikard Roitto (Hgg.), The Oxford Handbook of Early Christian Ritual, Oxford 2019, 426–443, sowie aus dezidiert systematischer Perspektive JeanPhilippe Revel, Traité des sacrements 5: La réconciliation, Paris 2015. Diese Werke illustrieren leider auch allesamt, dass das maßgebliche deutschsprachige Handbuch der Liturgiewissenschaft – international zweifellos das gründlichste Werk seiner Art – in der internationalen Forschung praktisch nicht rezipiert wurde (vgl. auch Anm. 51). Zur Bibliographie vgl. auch Mario Maritano, Bibliografia generale sulla penitenza nella Chiesa antica (Dal I agli inizi del VII secolo), in: RivLi 89 (2002), 669–704, sowie die Forschungsberichte der in Anm. 51f. zitierten Werke, insbesondere in der New History of Penance. Zum Unterschied von manchen Tendenzen älterer, teilweise von kontroverstheologischen Anliegen bestimmten Forschung ist inzwischen unumstritten, dass die verschiedenen Formen von Umkehr und Versöhnung nicht als sukzessive Phasen einer linearen Geschichte zu verstehen sind, sondern voneinander unableitbare Phänomene sui 2
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paenitentia secunda und paenitentia cottidiana schon in der Alten Kirche (auch wenn die Terminologie nicht den Quellen selbst entstammt): Als transformierte Erbin der Johannestaufe ist seit der Pfingstpredigt des Petrus nach Apg 2,38 die Umkehr und Taufe auf den Namen Jesu Christi zur Vergebung der Sünden fundamental für das Leben derer, die wenig später (Apg 11,26) als Christen identifiziert werden; das Nicaeno-Constantinopolitanum bekennt die „eine Taufe zur Vergebung der Sünden“.3 Auch wenn die Gemeinde nach Paulus prinzipiell als sündenfreier Raum konzipiert ist,4 werden eklatante Sünden Getaufter schon in neutestamentlicher Zeit zu einem differenziert diskutierten Problem;5 bekanntlich wird schon vom Hirten des Hermas die Einmaligkeit der Umkehr gegen rigoristische Positionen zugunsten der Möglichkeit einer „zweiten Umkehr“ aufgegeben.6 Unter anderem im Nordafrika des dritten Jahrhunderts entfaltet, wird diese später als kanonisches Bußverfahren formalisiert7 und ab dem vierten Jahrhundert so mit der Osterfeier synchronisiert, dass die Rekonziliation regelmäßig am Donnerstag vor Ostern gefeiert wurde.8 Die vorausgehende Quadragesima wurde somit nicht nur zu einer Intensivzeit der Vorbereitung auf die paenitentia prima
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generis darstellen, die unterschiedlichen Bedürfnissen entsprangen und bis weit ins Mittelalter und teilweise auch in die Neuzeit nebeneinander existierten. Spannungen zwischen der theologia prima der liturgischen Überlieferung und der theologia secunda systematischer Reflexion ergaben und ergeben sich vor allem aus defizienter Wahrnehmung der Geschichtlichkeit und damit auch Kontingenz der vielfältigen Feiern von Umkehr und Versöhnung. Vgl. Meßner, Feiern (s.o. Anm. 2), 49–53. Zuletzt vgl. z.B. Helmut Umbach, In Christus getauft – von der Sünde befreit. Die Gemeinde als sündenfreier Raum bei Paulus (FRLANT 181), Göttingen 1998. Vgl. Meßner, Feiern (s.o. Anm. 2), 54–63. Nach Meßner, Feiern (s.o. Anm. 2), 65f., mit Verweis u.a. auf vis. 2, 2, 4f. und mand. 4, 3 (Die Apostolischen Väter, Tübingen 1992, 340; 384–386 Funk/Bihlmeyer/ Whittaker, 2Lindemann/Paulsen), vgl. z.B. Franz Dünzl, Rigorismus oder pastorales Entgegenkommen? Zur Entstehung des kirchlichen Bußverfahrens im 2. Jahrhundert, in: ZKTh 127 (2005), 77–97. Vgl. Meßner, Feiern (s.o. Anm. 2), 84–134. Zu den frühesten Zeugnissen gehören Ambrosius, ep. 76 (Maur. 20), 26 (CSEL 82/3, 124 Zelzer) und Innozenz I., ep. 21 an Decentius von Gubbio (FC 58/2, 498 Sieben); vgl. Meßner, Feiern (s.o. Anm. 2), 101. Dass in der altspanischen Liturgie die Rekonziliation am Karfreitag gefeiert wurde, mag theologisch motiviert sein, zeigt jedenfalls, dass es beim Termin der Rekonziliation auch andernorts nicht um den Donnerstag als solchen, sondern um eine Versöhnung vor Ostern geht, und hängt wohl auch mit einer späten mimetischen Entfaltung der Hohen Woche in der westgotischen Kirche zusammen; vgl. 4. Konzil von Toledo (633), can. 7 (Vives 193); vgl. auch Meßner, Feiern (s.o. Anm. 2), 133f.
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der Taufe, sondern auch zur bevorzugten Bußzeit der bereits Getauften.9 Für Verständnis und Praxis der kanonischen Buße ist es dabei konstitutiv, dass sie sachlich nicht eine Exkommunikation als Sanktion darstellt, die formell aus der Kirche ausschließen würde,10 sondern einen Weg der Wiedereingliederung von Sünderinnen und Sündern, die sich durch kapitale Sünden – klassisch formuliert schon Tertullian die Trias von Glaubensabfall, Ehebruch und Mord11 – faktisch selbst außerhalb der Gemeinschaft gestellt haben. Insofern ist auch eine kalendarisch fixierte und nicht anlassbezogene Bußeröffnung eine gegenüber der Rekonziliation sekundäre Feier;12 Ritualisierung der Buße steht – wie der entfaltete Vgl. Meßner, Feiern (s.o. Anm. 2), 80f.; zur Frühgeschichte und den Kontroversen älterer Forschung Harald Buchinger, On the Early History of Quadragesima. A new look at an old problem and some proposed solutions, in: Hans-Jürgen Feulner (Hg.), Liturgies in East and West. Ecumenical Relevance of Early Liturgical Development. Acts of the International Symposium Vindobonense I, Vienna, November 17–20, 2007 (Österreichische Studien zur Liturgiewissenschaft und Sakramententheologie 6), Wien 2013, 99–117 [= StLi 43 (2013), 321–341]. 10 Vgl. Meßner, Feiern (s.o. Anm. 2), 356, Index s.v. Exkommunikation. Die Rekonziliation von Exkommunizierten ist darum auch im Mittelalter sowohl inhaltlich als auch buchorganisatorisch ein anderes Ritual als jene von Poenitenten; nach Genevieve Steele Edwards, Ritual excommunication in medieval France and England, 900–1200, PhD diss., Stanford University 1977 (war mir nicht zugänglich) vgl. z.B. Roger E. Reynolds, Rites of Separation and Reconciliation in the Early Middle Ages, in: Segni e riti nella Chiesa altomedioevale occidentale 1 (SSAM 33), Spoleto 1987, 405–433; Christian Jaser, Ecclesia maledicens. Rituelle und zeremonielle Exkommunikationsformen im Mittelalter (SMHR 75), Tübingen 2013; Sarah Hamilton, Interpreting Diversity: Excommunication Rites in the Tenth and Eleventh Centuries, in: Helen Gittos/Sarah Hamilton (Hgg.), Understanding Medieval Liturgy. Essays in Interpretation, Farnham 2016, 125–158. Allerdings ist erstens der Ausschluss von der Eucharistiegemeinschaft ein wesentliches Charakteristikum der Bußzeit; zweitens wurden kirchliche Disziplin, Strafrecht und Buße in Praxis und Theorie nicht immer konsequent unterschieden; vgl. auch Anm. 12, 28, 54 und 68. 11 Vgl. Meßner, Feiern (s.o. Anm. 2), 87f., mit Hinweis u.a. auf Tertullian, pudic. 5, 15; 12, 11 (CChr.SL 2, 1289; 1303 Dekkers). 12 Zwar kennt schon der Liber sacramentorum romanae aeclesiae (sic) ordinis anni circuli (Cod. Vat. Reg. lat. 316/Paris Bibl. Nat. 7193, 41/56) = Sacramentarium Gelasianum vetus I 16, 83 (RED.F 4, 18 Mohlberg; Mitte des 8. Jh.) einen Ordo agentibus publicam paenitentiam am Mittwoch vor Quadragesima (dem späteren Aschermittwoch); dieser stellt aber noch kein entfaltetes Formular dar, sondern besteht in der „Aufnahme“, einer Bedeckung mit dem cilicium, Gebet (für das zuvor ein Formular geboten wird) und eine Einschließung bis zum Hohen Donnerstag. „Die Auffassung des Bußverfahrens als Strafe ist also auch hier durchgedrungen.“ (Meßner, Feiern [s.o. Anm. 2], 123; vgl. ebd. auch Hinweise darauf, „daß der Ordo erst später [wohl im Frankenreich] in das GeV eingefügt worden ist.“) 9
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Katechumenat reichskirchlicher Zeit13 – mitunter auch in Gefahr, ihren existentiellen Ernst zu relativieren.14 In weiterer Folge wird freilich die Quadragesima auch in Abwesenheit von Taufkandidatinnen und Büßern regelmäßig als Bußzeit aller Christinnen und Christen begangen, sodass – viel später, wohl erst im 10. Jahrhundert – auch die Auflegung der für den ersten Tag dann auch namensgebenden Asche zur allgemeinen frommen Übung wird.15 Wegen der prinzipiellen Unwiederholbarkeit teilt die Zweite Buße auch das Schicksal der Ersten: Wie die klinische Taufe wird sie als Buße am Kranken- (oder vielmehr Sterbe-) Bett aufgeschoben und damit zugleich individualisiert; im Laufe der Zeit wird sie so gegen Ende der Spätantike zu einem regelmäßigen Element der Sterbeliturgie auch unabhängig vom Vorliegen kirchentrennender Sünden (eine Junktimierung, die übrigens auch wesentlich zur theologischen Veränderung der Krankensalbung und zu ihrer exklusiven Bindung an das ordinierte Amt beigetragen hat16). Auch das Leben von Christenmenschen, die keine kirchentrennende Schuld auf sich laden, ist von Sünden geprägt; deren Vergebung dient die tägliche Praxis der paenitentia cottidiana. Diese findet nicht nur im Gottesdienst statt; im Gegenteil: Der asketischen und sozialen Praxis von Fasten, Beten, Almosen und anderen Werken wird sündenvergebende Vgl. z.B. Maxwell E. Johnson, The Rites of Christian Initiation. Their Evolution and Interpretation (A Pueblo Book), Collegeville, MN 22007 [vgl. 11999], 119: „the real development of the catechumenate itself within the so-called ‚Golden Age‘ of the fourth century is the result of the church seeking to ensure that its sacramental/baptismal life would have some kind of integrity when authentic conversion and properly motivate desire to enter the Christian community could no longer be assumed on the part of the candidates. […] this organized catechumenate represents both the rise and fall of the catechumenal process itself.“ 14 Vgl. z.B. Meßner, Feiern (s.o. Anm. 2), 124, zum Befund des ältesten greifbaren Ordo römischer Tradition (s.u. 4.1). 15 Vgl. Meßner, Feiern (s.o. Anm. 2), 125; Kenneth W. Stevenson, Origins and Development of Ash Wednesday, in: ders., Worship: Wonderful and Sacred Mystery, Washington, D.C. 1992, 159–187. 16 Nach Meßner, Feiern (s.o. Anm. 2), 117, Reiner Kaczynski, Feier der Krankensalbung, in: Meßner/ders., Feiern (s.o. Anm. 2), 241–343, hier 273–285, sowie Frederick S. Paxton, Christianizing Death. The Creation of a Ritual Process in Early Medieval Europe, Ithaca, NY 1990, vgl. u.a. Éric Rebillard, In hora mortis. Évolution de la pastorale chrétienne de la mort au IVe et Ve siècles dans l’occident latin (BEFAR 283), Rome 1994, 212–224; Cécile Treffort, L’église carolingienne et la mort. Christianisme, rites funéraires et pratiques commémoratives (Collection d’histoire et d’archéologie médiévales 3), Lyon 1996, 43–52. 13
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Wirkung zugeschrieben.17 Nachdem schon seit der Formalisierung der Tagzeitenliturgie in reichskirchlicher Zeit Elemente der Buße und Sündenvergebung in Feier und Verständnis der Tagzeiten zu beobachten sind,18 werden im Frühmittelalter Schuldbekenntnisse und Absolutionen in den täglichen Gottesdienst integriert: Spätestens in karolingischen Kleriker- und Mönchsgemeinschaften als regelmäßiger Brauch formalisiert, gliedern sich allgemeine Schuldbekenntnisse mit anschließender Vergebungsbitte sukzessive an Feiern des Stundengebetes und später auch der Messe an.19 Insbesondere die Ordnung der Messfeier wurde aufgrund gewandelter Vorstellungen nicht zuletzt vom Gottesdienst „mit reinen Händen“ mit zahlreichen, teils umfangreichen und detaillierten Apologien, Schuldbekenntnissen, Vergebungsbitten und Absolutionen überzogen.20 Erst nach Verbreitung der Ohrenbeichte werden diese reduziert Vgl. Meßner, Feiern (s.o. Anm. 2), 82f., mit Hinweis u.a. auf Origenes, hom. 2, 4 in Lev (GCS Origenes 6, 295f. Baehrens; der Text liegt freilich nur in der Übersetzung des Rufinus vor), Johannes Cassian, conl. 20, 8 (CSEL 132, 561–563 Petschenig/2Kreuz), aber auch Caesarius von Arles, serm. 179 (CChr.SL 104, 724– 729 Morin). 18 Nach Meßner, Feiern (s.o. Anm. 2), 78–80, vgl. Paul Bradshaw, The Emergence of Penitential Prayer in Early Christianity, in: Mark J. Boda/Daniel Falk/Rodney A. Werline (Hgg.), Seeking the Favor of God. 3: The Impact of Penitential Prayer beyond Second Temple Judaism (SBLEJL 23), Atlanta, GA 2008, 185–196, hier 187–193, und Harald Buchinger, Psalmodie als Sakrament. Johannes Chrysostomus über den täglichen Abendpsalm 140(141), in: Alexander Zerfaß/Ansgar Franz (Hgg.), Wort des lebendigen Gottes. Liturgie und Bibel (PiLi 16), Tübingen 2016, 221–240. 19 Zum Stundengebet vgl. Meßner, Feiern (s.o. Anm. 2), 79f., mit Verweis u.a. auf die Klosterordnung Memoriale qualiter 2; 6 (CCMon 1, 234; 259 Morgand; weitere Belege im Apparat), und die interpolierte Fassung der Regula canonicorum 18 des Chrodegang von Metz (PL 89, 1067f.); zur Messe ebd. 75 sowie hier Anm. 20. 20 Transformationen frühmittelalterlicher Messpraxis und -theologie erörtert meisterhaft auf Basis zahlreicher Vorstudien Arnold Angenendt, Offertorium. Das mittlalterliche Meßopfer (LQF 101), Münster 32014 [12013], von dem auch die Formulierung über die „reinen Hände“ entlehnt ist (zuletzt ebd. 165–167), sowie zuletzt u.a. Andreas Odenthal, „Ante conspectum diuinae maiestatis tuae reus assisto“. Liturgie- und frömmigkeitsgeschichtliche Untersuchungen zum „Rheinischen Messordo“ und dessen Beziehungen zur Fuldaer Sakramentartradition, in: ALW 49 (2007), 1–35 [Ndr. in: ders., Liturgie vom Frühen Mittelalter zum Zeitalter der Konfessionalisierung (SMHR 61), Tübingen 2011, 16–49]; Alain-Pierre Yao, Les „apologies“ de l’Ordo Missae de la liturgie romaine. Sources – Histoire – Théologie (Ecclesia Orans. Studi e Ricerche 3), Roma 2019; zum Fortleben vgl. auch Sebastian Eck, Die Apologien – Zur Prägekraft einer christlichen Gebetsform für die mittelalterliche Religiosität, in: Das Mittelalter 24 (2019), 319–336, sowie aus evangelischer Perspektive Konrad Müller, Das Confiteor. Studien zu seiner Gestalt und Funktion im Gottesdienst sowie im Leben der Kirche, Leipzig 2021. Dass die Feier der Eucharistie Getauften und Versöhnten 17
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und teilweise auch theologisch abgewertet; insbesondere in der Kommunionvorbereitung leben aber regelmäßige Riten der „Offenen Schuld“ und Generalabsolutionen fort, die schwere Sünden oder Kirchenstrafen teilweise schon früh explizit ausschließen, gelegentlich aber auch lange noch ausdrücklich einschließen.21 Im weiteren Sinn gehört auch die Beichte ursprünglich zur paenitentia cottidiana: In Gestalt der Mönchsbeichte entsteht sie als Instrument der Seelenführung für Menschen auf dem Weg der Vervollkommnung, dessen Wurzeln letztlich in der alexandrinischen Tradition zu identifizieren sind.22 Auch wenn in ihr die Auffassung einer charismatisch, nicht amtlich qualifizierten potestas der Vergebung fortlebt,23 dient sie trotz der vorbehalten ist und nötigenfalls Umkehr (μετάνοια), also Buße, voraussetzt, artikuliert freilich schon Did. 9, 5; 10, 6; 14; vgl. a. 4, 14; 15, 3 (FC 1, 114; 122–126; 132–134 Schöllgen). Ein anderes Thema ist die Vergebung der Sünden durch die Eucharistie im Gefolge von Mt 26,28; vgl. Meßner, Feiern (s.o. Anm. 2), 71–73. Zu systematisch- theologischen und pastoralen Fragen vgl. im Lichte der Tradition zuletzt z.B. Markus Tymister, … ut ad sacramentum reconciliationis admissum una nobiscum sancto nomini tuo gratias agere mereatur (GeV 363). Zur Verhältnisbestimmung von Eucharistie und sakramentaler Buße/Rekonziliation, in: EO 24 (2007), 173–201. 21 Neben den bei Meßner, Feiern (s.o. Anm. 2), 75–77, zitierten Beispielen vgl. z.B. noch im 14. Jahrhundert St. Gallen, Stiftsbibliothek 467, fol. 109 b: Ullrich Bruchhold, Deutschsprachige Beichten im 13. und 14. Jahrhundert. Editionen und Typologien zur Überlieferungs-, Text- und Gebrauchsgeschichte vor dem Hintergrund der älteren Tradition (MTUDL 138), Berlin 2010, 83f.: Misereatur … subiungat: Dominus Iesus Cristus nos absolvat et ego auctoritate, qua fungor, absolvo vos a vinculis excomunicacionis si incidistis et absolvo vos a peccatis vestris in nomine patris …; ebd. 59–106 generell zur „Offenen Schuld“. Diese regelmäßigen Riten im Rahmen der Eucharistiefeier sind vom Fortleben der Öffentlichen Buße zu unterscheiden; s.u. Anm. 64–69. Zur scholastischen Diskussion vgl. die bei Meßner, Feiern, 81f., referierte Literatur. 22 Nach Meßner, Feiern (s.o. Anm. 2), v.a. 136–146, vgl. u.a. Jákó Örs Fehérváry, Multi sunt pœnitentiae fructus. Pénitence monastique aux Ve–VIe siècles dans le paysage de la péntience ecclésiale. Étude historico-théologique sur une interdépendance (StAns 147 = ALit 27), Roma 2009 (mit breitem bußgeschichtlichem Ansatz), und Alexis C. Torrance, Repentance in Late Antiquity. Eastern Asceticism and the Framing of the Christian Life c. 400–650 ce (Oxford Theology and Religion Monographs), Oxford 2013. 23 Vgl. Meßner, Feiern (s.o. Anm. 2), 136f.; zum Fortleben vgl. zuletzt z.B. Dirk Krausmüller, „Monks who are not priests do not have the power to bind and to loose“: The debate about confession in eleventh- and twefth-century Byzantium: ByZ 109 (2016), 739–768. Zur Spätantike vgl. nach Theofried Baumeister, Charisma und Beichte im frühen Ägyptischen Mönchtum, in: Paola Buzi/Alberto Camplani (Hgg.), Christianity in Egypt: Literary Production and Intellectual Trends. Studies in honor of Tito Orlandi (SEAug 125), Roma 2011, 1–17 (mit Betonung der Traditionslinie „von den Märtyrern und Bekennern zu deren Nachfolgern, den Mönchen“ [16]), und
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hohen Bedeutung von Erkenntnis und Bekenntnis nicht der Reintegration schwerer Sünderinnen und Sünder in die Kirche; darum setzt sie auch Geistbegabung, nicht aber Amt voraus.24 Die komplexe Sündenlehre des spätantiken Mönchtums ist freilich eine Wurzel späterer Kasuistik;25 die Kodifikation verschiedener Remedien für unterschiedliche Verfehlungen vermag in weiterer Folge auch die individuelle geistliche Qualifikation des Beichtvaters oder der Beichtmutter zu ersetzen und ist ein Faktor für die Entstehung von Bußbüchern.26 Am Übergang von der Spätantike zum Frühmittelalter entsteht vermutlich im insularen Mönchtum die Tarifbuße als neue Form, die sich nicht zuletzt wegen ihrer Praktikabilität als überaus erfolgreich erweisen sollte.27 Innovativ ist das Grundkonzept der Tathaftung und entsprechender Satisfaktion.28 Dadurch wird die Buße zu einer wiederholbaren Möglichkeit Rosa Maria Parrinello, Dalla confessione carismatica alla confessione istituzionale: Per una storia del rito monastico dell’anadochos, in: Rivista di Storia del Cristianesimo 1 (2004), 333–365, auch den Beitrag von Peter Gemeinhardt, Charismatische Bußautorität in spätantiken Mönchs- und Heiligenviten, in diesem Band. 24 Vgl. Meßner, Feiern (s.o. Anm. 2), 140–145, vom frühen Mönchtum bis zum Fortleben der Beichte vor Äbtissinnen bis ins 13. Jh. 25 Vgl. Meßner, Feiern (s.o. Anm. 2), 142f. Zur Sündenlehre des Evagrius vgl. nach Columba Stewart, Evagrius Ponticus and the „Eight Generic Logismoi“, in: Richard Newhauser (Hg.), In the Garden of Evil. The Vices and Culture in the Middle Ages (Papers in Mediaeval Studies 18), Toronto 2005, 3–34, zuletzt Leszek Misiarczyk, Eight Logismoi in the Writings of Evagrius Ponticus (StTT 44), Turnhout 2021, zur durch Johannes Cassian vermittelten Rezeption im Westen z.B. Raymund Kottje, Die Bußbücher Halitgars von Cambrai und des Hrabanus Maurus. Ihre Überlieferung und ihre Quellen (BGQMA 8), Berlin 1980, 176f. 26 Grundlegend zu den Bußbüchern vgl. nach der bei Meßner, Feiern (s.o. Anm. 2), 159–161, referierten Literatur u.a. Ludger Körntgen, Studien zu den Quellen der frühmittelalterlichen Bußbücher (QFRMA 7), Sigmaringen 1993, sowie zur Spätzeit der Gattung Rob Meens, Penitentials and the practice of penance in the tenth and eleventh centuries, in: EMEu 14 (2006), 7–21. Zum spirituellen und pastoralen Kontext vgl. Michael S. Driscoll, Penance in Transition: Popular Piety and Practice, in: Lizette Larson-Miller (Hg.), Medieval Liturgy. A Book of Essays (Garland Medieval Casebooks), New York 1997, 121–163. Eine Inventarisierung u.a. von Sünden bietet Gianandrea Di Donna, Canones Poenitentiales (Kan. 24), Rom 2017. 27 Vgl. Meßner, Feiern (s.o. Anm. 2), 161–175. Zum Unterschied von manchen Auffassungen der älteren Forschung ist heute unumstritten, dass die verschiedenen Formen der Buße bis weit ins Mittelalter hinein nebeneinander bestanden. 28 Nach Meßner, Feiern (s.o. Anm. 2), 165, vgl. z.B. Hubertus Lutterbach, Intentionsoder Tathaftung? Zum Bußverständnis in den frühmittelalterlichen Bußbüchern, in: FMSt 29 (1995), 120–143, sowie differenzierend dazu Raymund Kottje, Intentionsoder Tathaftung? Zum Verständnis der frühmittelalterlichen Bußbücher, in: ZSRG.K 91 (2005), 738–741. Tathaftung und die Berücksichtigung von Intention und
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individueller Sündentilgung; insofern die Satisfaktion objektiviert wird und zählbare Elemente umfasst (v.a. Fastenperioden, Gebetspensa), wird sie verrechenbar und somit auch umwandelbar und vertretbar, was zu einem komplexen System von Kommutationen und Redemptionen führt, die auch eine Wurzel des Ablasses sind,29 zumal die Solidarität der Büßer post mortem verlängert werden und von Lebenden auf Tote ausgreifen kann.30 Auch wenn liturgische Elemente wie Psalmodie oder Messen Teil der Bußwerke darstellen können, wird die Buße deutlich individualisiert; ihre kirchliche Dimension tritt in den Hintergrund. Die essentielle Bedeutung der Satisfaktion macht die Buße im Prinzip unabhängig nicht nur von der Geistbegabung der Anwenderinnen und Anwender, sondern auch von der amtlichen Wiedereingliederung als solcher. Die Rekonziliation ist nicht notwendig das Ende des Prozesses; gelegentlich findet sie gar nicht statt, manchmal aber auch vor der eigentlichen Bußleistung.31 Die Möglichkeit einer individualisierten und einfach wiederholbaren Buße ist auch auf Widerstand gestoßen; berühmt ist die Kritik der 3. Synode von Toledo (589) an der „verwünschten Anmaßung (execrabilis praesumtio)“ von „Leuten …, die nicht in kanonischer Form für ihre mständen müssen einander freilich nicht ausschließen; das Fortleben der „mediziU nalen Auffassung der Buße“ betont z.B. auch Meßner, Feiern (s.o. Anm. 2), 165f., die Abgrenzung von einer Bestrafung Raymund Kottje, Buße oder Strafe? Zur „iustitia“ in den „libri paenitentiales“, in: La Giustizia nell’alto medioevo (secoli V–VIII). 7–13 aprile 1994 (SSAM 42), Spoleto 1995, 1/1, 443–468. Zur Satisfaktion vgl. umfassend Dorothea Sattler, Gelebte Buße. Das menschliche Bußwerk (satisfactio) im ökumenischen Gespräch, Mainz 1992. 29 Vgl. Meßner, Feiern (s.o. Anm. 2), 165. Zum Ablass vgl. zuletzt u.a. Robert W. Shaffern, The Penitents’ Treasury. Indulgences in Latin Christendom, 1175–1375, Scranton 2007; Christiane Laudage, Das Geschäft mit der Sünde. Ablass und Ablasswesen im Mittelalter, Freiburg 2016 (populär, aber fundiert); Étienne Doublier/Jochen Johrendt (Hgg.), Economia della salvezza e indulgenza nel Medioevo (Ordines 6), Milano 2017, u.a. mit Beiträgen von Étienne Doublier, L’indulgenza tra storia e storiografia (3–29) und Martin Ohst, Le radici dell’indulgenza (31–52), und Der Ablassstreit. Dokumente, Ökumenische Kommentierungen, Beiträge. Abteilung I: Dokumente zum Ablassstreit. 1: Vorgeschichte des Ablassstreites 1095–1517. Kirchliche Verlautbarungen, Recht, Theologie, Liturgie, Predigten, Ablassbriefe (Hg. Theodor Dieter/Wolfgang Thönissen), Leipzig/Freiburg 2021. Jean-Claude Agbeko Komla Mensah, Les indulgences des origines aux réformes doctrinales, institutionnelles et pastorales, Paris 2021, war mir noch nicht zugänglich. 30 Vgl. zuletzt z.B. Peter Brown, The Ransom of the Soul. Afterlife and Wealth in Early Western Christianity, Cambridge, MA 2015 (deutsch: Der Preis des ewigen Lebens. Das Christentum auf dem Weg ins Mittelalter, Mainz 2018), spezifisch liturgisch Angenendt, Offertorium (s.o. Anm. 20), und die dort erschlossene ältere Literatur. 31 Vgl. Meßner, Feiern (s.o. Anm. 2), 164; 169–171.
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Sünden Buße tun, sondern auf die schändlichste Weise, dass sie fordern, vom Presbyter versöhnt zu werden, sooft einer sündigen will (non secundum canones sed foedissime pro suis peccatis homines agere poenitentiam, ut quotiens que peccare voluerit totiens a presbytero se reconciliri expostulent)“;32 der Prozess der zunehmenden Auflockerung der Bußdisziplin war aber letztlich nicht aufzuhalten. Im Laufe des Mittelalters werden die unterschiedlichen Stränge der altkirchlichen Buße zu einer innovativen Synthese verbunden: Zunächst wird – erstmals offenbar bei Halitgar von Cambrai (Bischof 817–831) – die formelle Rekonziliation aus der kanonischen Buße in die Beichte übernommen;33 mit dem frühmittelalterlichen Wandel des Amtsverständnisses wird sie später auch im Indikativ als Absolution formuliert (wobei die indikativische Absolutionsformel zunächst im 10. Jahrhundert als Anhang zu deprekativen Rekonziliationsgebeten zur Entlassung auftaucht, ab dem 12. Jahrhundert dann in den Singular gewendet und ab dem 13. Jahrhundert auch isoliert wird).34 Das therapeutische Anliegen der Mönchsbeichte und die regelmäßige Tilgung nicht kirchentrennender Sünden leben in der je nach Kontext mehr oder weniger häufigen Praxis insbesondere zur Vorbereitung der Kommunion fort.35 Die Beichte ist also eine hybride Mischform;36 sie übernimmt unterschiedliche Funktionen, aus deren mangelnder Differenzierung sich auch ihre Probleme ergeben:37 Als Erbin der kanonischen Buße dient sie der Absolution und Rekonziliation schwerer Sünderinnen und Sünder, die sich durch ihr Verhalten von der Gemeinschaft der Kirche getrennt haben; als Praxis der paenitentia cottidiana frommer Christinnen und Christen würde sie freilich weder der feierlichen Wiedereingliederung in die Kirche bedürfen, noch wäre sie als Instrument der Seelenführung in der Tradition der Mönchs‑ und Nonnenbeichte notwendig an ein Amt gebunden,38 auch Can. 11 (Vives 128); es folgt eine Konkretisierung der Buße secundum formam canonicam antiquorum; vgl. dazu aber Meßner, Feiern (s.o. Anm. 2), 167. 33 S.u. Anm. 85; vgl. Meßner, Feiern (s.o. Anm. 2), 168–172. 34 Vgl. Meßner, Feiern (s.o. Anm. 2), 172, auf Basis u.a. von Josef A. Jungmann, Die lateinischen Bußriten in ihrer geschichtlichen Entwicklung (FGIL 3/4), Innsbruck 1932, 201–237; vgl. a.u. 4.2 mit Anm. 88f. 35 Vgl. Meßner, Feiern (s.o. Anm. 2), 165f.; 174. 36 Nach Meßner, Feiern (s.o. Anm. 2), 158–181, vgl. z.B. Peter Biller/Alastair J. Minnis (Hgg.), Handling Sin: Confession in the Middle Ages (YSMT 2), Woodbridge 1998. 37 Vgl. Meßner, Feiern (s.o. Anm. 2), 229–238, v.a. 233f. 38 Zur Praxis in weiblich-monastischen Kontexten vgl. nach Meßner, Feiern (s.o. Anm. 2), u.a. Katie Ann-Marie Bugyis, The Practice of Penance in Communities of Benedictine Women Religious in Central Medieval England, in: Spec. 92 (2017), 36–84. 32
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wenn sie geistliche Qualifikation voraussetzt. Die Wiederaufnahme von der Kirche getrennter Sünderinnen und Sünder ist dagegen sachlich an das Amt – ursprünglich des Bischofs als Vorstehers der Ortskirche, nicht einfach eines Presbyters – gebunden, nicht aber an Geistbegabung; die für eine derartige Rekonziliation konstitutive Kirchlichkeit ist in der Person des Amtsträgers freilich verdünnt (oder verdichtet) und in einer nichtöffentlichen Feier zudem nur bedingt erfahrbar. Wenn die Satisfaktion auf die Absolution folgt, wird nicht nur die Logik des Ritus konterkariert, sondern auch die Feier vom existentiellen Prozess der Versöhnung entkoppelt. Im Widerspruch zur altkirchlichen Institution der kanonischen Buße steht außerdem auch die Vorschrift regelmäßiger Beichte: Was in der Alten Kirche als ultimativer Rettungsanker zugestanden wurde und keineswegs zu erstreben war, wird als jährliche Beichte am 4. Lateranensischen Konzil 1215 zum kirchlichen Gebot;39 nicht zuletzt der historische Zusammenhang mit der Bekämpfung der subversiven Armutsbewegungen der Katharer und Waldenser macht klar, dass sie dabei zunehmend als Kontrollinstrument gebraucht wurde – ein Aspekt, der für das Sakrament der Versöhnung sachlich zweifellos nicht konstitutiv ist, auch wenn es für dessen weitere Geschichte prägend wurde. 2. Komplexitätsreduktion als pragmatisches Problem Für die Buße ist also eine unhintergehbare Vielfalt charakteristisch, die vermutlich schon von Origenes in zwölf und jedenfalls von Johannes Cassian in sieben Formen systematisiert wurde.40 Die „Wandelbarkeit der Buße“41 eröffnet unterschiedliche Chancen, führt aber auch zu systemischen Problemen, die dann besonders kritisch werden, wenn die Komplexität unsachgemäß und zum Schaden der theologischen und pastoralen Leistungsfähigkeit unterschiedlicher Rituale reduziert wird. In der römisch-katholischen Kirche hat die Kongregation für die Glaubenslehre im Juni 1972 noch vor Erscheinen des Rituale-Faszikels Ordo DH 812; nach Meßner, Feiern (s.o. Anm. 2), 174f., vgl. Martin Ohst, Pflichtbeichte. Untersuchungen zum Bußwesen im Hohen und Späten Mittelalter (BHTh), Tübingen 1995. 40 S.o. Anm. 17. 41 So der programmatische Titel der Dissertation von Robert Lendi, Die Wandelbarkeit der Buße. Hermeneutische Prinzipien und Kriterien für eine heutige Theorie und Praxis der Buße und der Sakramente allgemein erhellt am Beispiel der Bußgeschichte (EHS.T 218), Bern 1983. 39
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Paenitentiae42 nach innervatikanischen Auseinandersetzungen und der Verwerfung eines Entwurfs der zuständigen Arbeitsgruppe Vorgaben für die Erneuerung der Feiern der Buße veröffentlicht;43 obwohl niederschwellig als „Pastorale Richtlinien bezüglich der Erteilung der Generalabsolution“ deklariert, wird mit Rekurs auf die axiomatische Begründungsfigur des „Göttlichen Rechts“ versucht, Elemente der mittelalterlichen Beichte dem Diskurs zu entheben: Im Gefolge der seit dem Konzil von Florenz (1439) wiederholt sanktionierten Auffassung scholastischer Theologie44 werden Reue, Bekenntnis und Genugtuung Rituale Romanum ex decreto sacrosancti oecumenici Concilii Vaticani II instauratum auctoritate Pauli pp. VI promulgatum: Ordo Paenitentiae. Editio typica, Typis polyglottis Vaticanis, 1974 (promulgiert: 2. Dezember 1973); deutsch: Die Feier der Buße nach dem neuen Rituale Romanum. Studienausgabe, hg. von den Liturgischen Instituten Salzburg, Trier, Zürich (Pastoralliturgische Reihe in Verbindung mit der Zeitschrift „Gottesdienst“), Einsiedeln/Freiburg 1974. Fundamentale Anfragen an die Feiergestalt der Beichte können hier nur angedeutet werden: So bleibt etwa der von der erneuerten Ordnung prinzipiell durchaus vorgesehene Zusammenhang von Schriftverkündigung und Sakramentenfeier in der Praxis häufig unterbestimmt; vgl. freilich Marco Felini, La Parola della riconciliazione. L’ascolto della parola di Dio nel rituale della penitenza di Paolo VI (StAns 157 = ALit 31), Roma 2013. Auch ist der zentrale Sprechakt der Versöhnungsfeier, die Absolution, nur in höchst rudimentärer Form mit der für alle anderen Sakramentsfeiern konstitutiven euchologischen Gattung eines anamnetisch-epikletisch strukturierten Hochgebets verbunden. Die in der altkirchlichen und frühmittelalterlichen Tradition wichtige Geste der Handauflegung kann überall dort nicht vollzogen werden, wo ein traditioneller Beichtstuhl mit dem seit der frühen Neuzeit vorgeschriebenen Gitter verwendet wird. 43 Sacra concregatio pro doctrina fidei, Normae pastorales circa absolutionem sacramentalem generali modo impertiendam: Sacramentum paenitentiae, in: AAS 64 (1972), 510–514; deutsch in: Heinrich Rennings (Hg.), Dokumente zur Erneuerung der Liturgie. 1: Dokumente des Apostolischen Stuhls 1963–1973, Kevelaer 1983, 1168– 1173, Nr. 157, 2818–2831; vgl. zuletzt Marco Busca, Verso un nuovo sistema penitenziale? Studio sulla riforma della riconciliazione dei penitenti (BEL.S 118), Roma 2002, und (unabhängig davon) Martin Riß, Feiern der Buße und Versöhnung. Zur Reform des Bußsakraments nach dem II. Vatikanischen Konzil (Theologie der Liturgie 11), Regensburg 2016. Zum Diskussionsstand der Zeit vgl. u.a. die Substanz einer Innsbrucker Dissertation von A. Eppacher, Die Generalabsolution. Ihre Geschichte (9.–14. Jhdt.) und die gegenwärtige Problematik im Zusammenhang mit den gemeinsamen Bußfeiern, in: ZKTh 90 (1968), 296–308; 385–421. 44 DH 1323; vgl. auch die Bekräftigung auf dem Konzil von Trient (DH 1667–1693; 1701–1715). Die Lehre stammt wörtlich von Thomas von Aquin, De articulis fidei et de ecclesiae sacramentis 622 (hg. v. Raymund A. Verardo, Opuscula theologica 1: De re dogmatica et morali, Torino 1954, 150) und geht z.T. sachlich schon auf Petrus Lombardus, sent. IV 16, 1 (PL 192, 877) zurück; vgl. Meßner, Feiern (s.o. Anm. 2), 176–180, auch zur weiteren scholastischen Interpretation. Eklektisch zu Gratian und Petrus Lombardus vgl. auch Joseph Goering, The Scholstic Turn (1100–1500): 42
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(satisfactio) als konstitutive Akte des Bußsakraments festgehalten; die Lossprechung des Priesters wird als richterlicher Akt definiert. „Kraft göttlichen Rechtes“ sei es „notwendig, dem Priester alle und jede einzelne Todsünde zu beichten sowie die Umstände“. „Die persönliche und vollständige Beichte wie auch die Lossprechung bleiben der einzige ordentliche Weg, auf dem sich die Gläubigen mit Gott und der Kirche aussöhnen“; nach einer allfälligen Generalabsolution bestehe die Verpflichtung zur Beichte in Jahresfrist.45 Offen ist, wie eine solche Beichte dann sakramententheologisch zu bewerten ist; auch führt die Beschränkung der Wirkung des Sakraments auf eine – noch dazu späte und hybride – Feierform im Gegenzug zur Desemantisierung anderer Ausdrucksformen von Buße und Vergebung; so hält denn auch etwa die 2002 erschienene dritte Auflage des Missale Romanum ausdrücklich fest, dass die Vergebungsbitte im Bußakt der Messe „nicht die Wirkung des Bußsakramentes besitzt“46 – und widerspricht damit der Aussage und der Intention der Formeln, die aus einer Zeit stammen, in der sich die hochmittelalterliche Synthese der Beichte noch nicht durchgesetzt hatte.47 enitential Theology and Law in the Schools, in: Abigail Firey (Hg.), A New History P of Penance (Brill’s Companions to the Christian Tradition 14), Leiden 2008, 219–237, generell zuletzt z.B. Klaus Unterburger, Selbsterkenntnis und Fremdkontrolle. Ursachen und Folgen des Umbaus der Beichte zum Bußsakrament im 13. Jahrhundert, in: Sabine Demel/Michael Pfleger (Hgg.), Sakrament der Barmherzigkeit. Welche Chance hat die Beichte?, Freiburg 2017, 475–496. 45 Sacramentum paenitentiae (s.o. Anm. 43), Einleitung; 1; 8. 46 Missale Romanum … Editio typica tertia 2002, reimpresssio emendata 2008, 31: Institutio Generalis Missalis Romani Nr. 51; deutsch: Missale Romanum, editio typica tertia 2002 (… sacerdotis absolutione concluditur, quae tamen efficacia sacramenti Paenitentiae caret) / Grundordnung des römischen Messbuchs. Vorabpublikation zum Deutschen Messbuch (3. Auflage) (ADBK 215), Bonn 2007, 40, Nr. 51. Sachlich entwertet schon Thomas von Aquin, Summa theologica 3, q. 84, art. 3, ad 3 (DThA 31, 14f.), die deprekativen Formeln. 47 Während die Editio typica des nachvatikanisch erneuerten Missale Romanum 2002/2008 (s.o. Anm. 46), 505–508, nur die Formel Misereatur nostri omnipotens Deus et, dimissis peccatis nostris, perducat nos ad vitam aeternam rezipiert (obwohl sie diese als absolutio sacerdotis bezeichnet), kennt Die Feier der Heiligen Messe. Meßbuch. Für die Bistümer des deutschen Sprachgebietes. Authentische Ausgabe für den liturgischen Gebrauch. Kleinausgabe […] Einsiedeln/Freiburg/Regensburg/Wien/ Salzburg/Linz 21988 [vgl. 11975], alternativ die zweite aus der mittelalterlichen Tradition in das nachtridentinische Missale Romanum. Editio Princeps (1570) (hg. v. Manlio Sodi/Achille Maria Triacca; MLCT 2), Città del Vaticano 1998, 234 [Facsimile 294, Nr. 1396], übernommene Absolution mit ihrer stärkeren, im Mittelalter gerade zur sakramentalen Lossprechung gehörigen Formulierung Indulgentiam, absolutionem et remissionem omnium peccatorum nostrorum tribuat nobis omnipotens et
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Angesichts der Vielfalt der im Laufe der Geschichte ausgeprägten Feiern von Umkehr und Versöhnung, der Kontingenz der Bußgeschichte mit ihren verschiedenen eklatanten Diskontinuitäten und des hybriden Charakters der hochmittelalterlichen Form der Beichte stellt sich die Frage, ob hier nicht eine signifikante Komplexitätsreduktion versucht wird; ist die vielzitierte Krise des Bußsakraments eine Relevanzkrise der Theologie, des Lehramts oder beider? Ist die Buße im ambivalenten Sinn ein Problem der Liturgiewissenschaft? Jedenfalls ist es nach der letzten magistralen Gesamtdarstellung im Handbuch der Liturgiewissenschaft (1992) im Fach um das Thema still geworden;48 gelegentliche Versuche
misericors dominus in geringfügig abgeschwächter Form: Meßbuch 21988 [vgl. 11975], 327: „Nachlaß, Vergebung und Verzeihung unserer Sünden gewähre uns der allmächtige und barmherzige Herr.“ Zum mittelalterlichen Ordo missae vgl. Anm. 20, zum Charakter der Formel als Absolutionsformel und zu ihrer Herkunft aus der amtlichen Rekonziliation vgl. die durch Jungmann, Bußriten (s.o. Anm. 34), Index 326f., und Meßner, Feiern (s.o. Anm. 2), 360; 365, s.v. Absolutionem und Indulgentiam, erschlossenen Stellen; zum Misereatur vgl. u.a. Jungmann, Bußriten 200: „das Misereatur war die althergebrachte Antwort auf das Bekenntnis in der nichtsakramentalen Laienbeicht. Auf den Inhalt gesehen, war darin die Vergebung ja ebensogut ausgesprochen wie im Indulgentiam.“ Die Sündenkataloge der frühmittelalterlichen Apologien und Schuldbekenntnisse sind entweder detailliert oder pauschal formuliert, jedenfalls aber umfassend konzipiert und gerade nicht auf bestimmte Arten von Sünden beschränkt. 48 Die meisten Beiträge der letzten Jahrzehnte sind eher pastoralliturgischer Natur; nach dem außerordentlich scharfsinnigen Beitrag von Reinhard Meßner, Überlegungen zur Grundlegung einer künftigen Bußpraxis, in: LJ 46 (1996), 207–231, vgl. z.B. das Themenheft HlD 59 (2005) 1 „Kehrt um und glaubt an das Evangelium“ (Mk 1,15). Wege der Umkehr und Versöhnung, Martin Stuflesser, Das vergessene Sakrament. Liturgietheologische Anmerkungen zur Feier von Buße und Versöhnung im Gottesdienst der Kirche nach dem II. Vatikanischen Konzil, in: LJ 57 (2007), 3–38, Klemens Richter, Die Versöhnung mit Gott und untereinander feiern, in: LJ 59 (2009), 96–112, und Jürgen Bärsch, Umkehr und Versöhnung als „Rückkehr zur Taufe“. Theologische und pastorale Herausforderungen für die Feier der Bußliturgie, in: Demel/Pfleger (Hgg.), Sakrament (s.o. Anm. 44), 452–474. Auch in anderen Sprachräumen wird das kritische Potential historischer Forschung nicht wirklich ausgeschöpft, zumal der epochale Handbuchbeitrag von Meßner, Feiern (s.o. Anm. 2), dort praktisch nicht rezipiert wird; vgl. in die Anm. 2 und 51 zitierten Arbeiten sowie die Bibliographie von Maritano, Bibliografia (s.o. Anm. 2). Pietro Sorci (Hg.), Dimensione terapeutica del sacramento della penitenza-riconciliazione (Leitourghia), Trapani 2009, war mir nicht zugänglich. Eine positive Ausnahme bildet Hélène Bricout, La pénitence, une institution au service du salut. Les enseignements de l’histoire, in: dies./Patrick Prétot (Hgg.), Faire pénitence, se laisser réconcilier. Le sacrement comme chemin de prière (Lex orandi 1), Paris 2010, 23–54.
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zu einer Erneuerung gemeinschaftlicher Feiern und einer differenzierten Bußpastoral sind nicht breitenwirksam geworden.49 3. Interdisziplinarität als Lösungsansatz Angesichts dieser Situation verwundert es nicht, dass die substantiell weiterführenden Forschungsbeiträge der letzten Jahrzehnte nicht aus der Liturgiewissenschaft50 und mehrheitlich nicht von katholischen Theologinnen oder Theologen stammen.51 Dadurch wird die Innenperspektive
Umgekehrt ist es wohl leider auch signifikant, dass jüngere, pastoral- oder moraltheologisch motivierte Werke zur Beichte ohne liturgiewissenschaftlichen Beitrag auskommen und auch das Handbuch der Liturgiewissenschaft ignorieren; vgl. z.B. Bernhard Grom/Walter Kirschläger/Kurt Koch, Das ungeliebte Sakrament. Grundriss einer neuen Bußpraxis (hg. v. Joachim Müller), Freiburg/Schweiz 1995 (gleichwohl mit klaren, wenn auch nicht neuen Überlegungen von Kurt Koch, Die eine Botschaft von der Versöhnung im vielfältigen Wandel des Bußsakramentes – Rückblick in die Geschichte und Einblick in die Gegenwart [93–117]; Menschliche Schulderfahrung und Sakrament der Buße – Vielfältige Angebote auf eine differenziert gewordene Nachfrage [118–141]), oder Gunter Prüller-Jagenteufel/Christine Schließer/Ralf K. Wüstenberg (Hgg.), Beichte neu entdecken. Ein ökumenisches Kompendium für die Praxis (Kontexte 45), Göttingen 2016. Beichtzentriert ist auch z.B. Klaus Demmer, Das vergessene Sakrament. Umkehr und Buße in der Kirche, Paderborn 2005, liturgiehistorisch nicht viel weniger unbefriedigend Marek Szymański, Die heilende Dimension des Sakramentes der Versöhnung. Zum Verständnis und zur Pastoral des Bußsakramentes (Pastoralpsychologie und Spiritualität 9), Frankfurt 2005. 49 Nach Das Geschenk der Versöhnung. Leitlinien zur Bußpastoral in der Diözese Innsbruck (hg. v. Bischöflichen Ordinariat der Diözese Innsbruck), Innsbruck 1994, vgl. v.a. zahlreiche Beiträge von Ewald Volgger, zuletzt: ders./Albert Urban (Hgg.), Liturgie und Versöhnung. Wege des Heils, Trier 2011. 50 Eine Ausnahme ist die – freilich auf eine bereits 1986 abgeschlossene Dissertation zurückgehende – Studie von Michael S. Driscoll, Alcuin et la pénitence à l’époque carolingienne (LQF 81), Münster 1999. 51 Wichtige Forschungsbeiträge wurden vor allem zur Buße im Mittelalter vorgelegt; nach Studien von Mayke de Jong, What was Public about Public Penance? Paenitentia publica and justice in the Carolingian world, in: La Giustizia nell’alto medioevo (secoli IX–XI). 11–17 aprile 1996 2/2 (SSAM 44), Spoleto 1997, 863–904; dies., Transformations of penance, in: Frans Teuws/Janet L. Nelson (Hgg.), Rituals of Power. From Late Antiquity to the Early Middle Ages, Leiden 2000, 185–224, zur merowingischen und karolingischen Frühzeit vgl. u.a. die Monographien von Sarah Hamilton, The Practice of Penance, 900–1050 (Studies in History. New Series), Woodbridge 2001, mit einem sachlich und historisch differenzierten, aus Quellen unterschiedlichster Art gespeisten Bild frühmittelalterlicher Bußpraxis, und Rob Meens, Penance in Medieval Europe, 600–1200, Cambridge 2014, mit einem historisch und geographisch breiteren Ansatz,
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der Liturgiegeschichte aufgebrochen; Quellen der Bußgeschichte werden nicht zuletzt als rechtshistorische und kulturgeschichtliche Zeugnisse ausgewertet.52 Zugleich weiß auch die Liturgiewissenschaft einerseits, dass die Geschichte der Buße nicht mit einer Geschichte der Bußfeiern zu verwechseln ist; andererseits bleiben erhebliche Lücken offen, auch wenn die positive Ritualgeschichte der Feiern von Umkehr und Versöhnung inzwischen relativ gut erforscht ist. So kann die Liturgiewissenschaft erstens von der jüngeren Kirchengeschichtsschreibung lernen, den Blick von formalisierten Liturgien auf die zahlreichen Phänomene gelebter Religiosität zu lenken, in denen viele Christinnen und Christen – vielleicht sogar die Mehrheit derer, die bei aller Problematik von Ansatz und Durchführung doch auch mit einem der in Weiterführung auch eigener Vorstudien Perspektiven vom Erbe der Spätantike über die Verbreitung der Bußbücher und die karolingischen Reformen bis zu den Umbrüchen des 12. Jh. eröffnet und geographisch auf den gesamten lateinischen Westen ausgreift; räumlich und zeitlich enger fokussiert vgl. dagegen etwa Sarah Hamilton, Rites for Public Penance in Late Anglo-Saxon England, in: Helen Gittos/M. Bradford Bedingfield (Hgg.), The Liturgy of the Late Anglo-Saxon Church (Henry Bradshaw Society. Subsidia 5), Rochester, NY 2005, 65–103. Ein Panorama samt Forschungsberichten u.a. von Rob Meens, The Historiography of Early Medieval Penance (73–95), bietet auch Firey (Hg.), History (s.o. Anm. 44); zum Hoch- und frühen Spätmittelalter vgl. auch Roberto Rusconi/Alessandro Saraco/Manlio Sodi (Hgg.), La penitenza tra Gregorio VII e Bonifacio VIII. Teologia – Pastorale – Istituzioni (Monumenta studia instrumenta liturgica 72), Città del Vaticano 2013, zum Spätmittelalter und zur Frühen Neuzeit zudem die in Anm. 64 zitierten Dissertationen. Angesichts der teilweise recht vollmundigen Kritik insbesondere in der englisch schreibenden Mediävistik an tatsächlichen oder angeblichen Unzulänglichkeiten älterer Forschung fällt freilich auf, dass kein/e einzige/r (!) dieser Autorinnen und Autoren den epochalen Handbuchband von Meßner, Feiern (s.o. Anm. 2), zur Kenntnis genommen hat – auch das ein Aspekt des in diesem Aufsatz behandelten Problemkreises „Buße als Problem der Liturgiewissenschaft“. 52 Für das Frühmittelalter vgl. z.B. den Forschungsbericht von Meens, Historiography (s.o. Anm. 51), 90–94; gleichermaßen programmatisch wie detailreich vgl. z.B. die exemplarische Studie von Hubertus Lutterbach, Sexualität im Mittelalter. Eine Kulturstudie anhand von Bußbüchern des 6. bis 12. Jahrhunderts (BAKG 43), Köln 1999. Schon der Altmeister der französischen Bußgeschichtsforschung, Cyrille Vogel, war fachlich nicht nur für Liturgiegeschichte und christliche Archäologie, sondern auch für Kirchenrecht zuständig; vgl. den Nachruf von Alexandre Faivre, in: CCMéd 26 (1983), 281–285. In der jüngeren deutschsprachigen Forschung vgl. z.B. die zahlreichen Arbeiten von Raymund Kottje, Ludwig Körntgen und Hubertus Lutterbach. Auch für die Historiographie des Hoch- und Spätmittelalters wie auch der Frühen Neuzeit spricht R. Emmet McLaughlin, Truth, Tradition and History: The Historiography of High/Late Medieval and Early Modern Penance, in: Firey, History (s.o. Anm. 44), 19–71, hier 59–68, vom „Social Turn“.
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berechtigten Anliegen als „Second Church“ angesprochen wurden53 – Umkehr gelebt und Vergebung gefunden haben. Zweitens ist auch die Quellenlage für die eigentliche Liturgiegeschichte der Buße in der Spätantike bekanntlich sehr unausgewogen:54 Während etwa Augustinus55 oder einzelne Kappadokier56 relativ detailliert auf die Bußpraxis ihrer Zeit zu sprechen kommen und die gallischen und teilweise auch spanischen Konzilien zahlreiche Hinweise geben57 (ohne freilich alle liturgiegeschichtlichen Fragen befriedigend zu beantworten), beschränken sich die Informationen aus den Hauptstädten Rom58 und Mailand,59 aber Ramsay MacMullen, The Second Church. Popular Christianity a.d. 200–400 (SBLWGRW. Supplement Series 1), Atlanta, GA 2009. 54 Es ist bemerkenswert, dass die von Georg Schmelz, Kirchliche Amtsträger im spätantiken Ägypten. Nach den Aussagen der griechischen und koptischen Papyri und Ostraka (APF.B 13), München 2002, analysierten Dokumente aus dem spätantiken Ägypten zwar differenzierte Angaben zu Kirchenzucht, Exkommunikation und Strafwesen (126–161) wie auch zum friedensstiftenden und versöhnenden Wirken von Klerikern in weltlichen Streitfällen (272–288) bieten, die Buße aber nicht zu berühren scheinen. 55 Vgl. zuletzt Reinhard Meßner, Paenitentia, in: AugL 4 (2018), 413–446 (mit Bibliographie der älteren Forschung), und François Dolbeau, Une instruction d’Augustin sur la péntience. Édition critique du Sermon 352, in: RBen 129 (2019), 5–70. 56 Vgl. zuletzt z.B. Ekkehard Mühlenberg, Der kanonische Brief Gregors von Nyssa und sein Ort im Bußwesen der Alten Kirche, in: Beate R. Suchla (Hg.), Von Homer bis Landino. Beiträge zur Antike und Spätantike sowie zu deren Rezeptions- und Wirkungsgeschichte. Festgabe für Antonie Wlosok zum 80. Geburtstag, Berlin 2011, 207–242. 57 Ein Panorama aus den Angaben von 77 fast ausschließlich westlichen Quellentexten bietet Patrick Saint-Roch, La pénitence dans les conciles et les lettres des papes, des origines à la mort de Grégoire le Grand (SAC 46), Città del Vaticano 1991. 58 Nach Meßner, Feiern (s.o. Anm. 2), 100–102, vgl. materialreich, aber unübersichtlich und nicht primär liturgiehistorisch interessiert Allan Fitzgerald, Conversion through Penance in the Italian Church of the Fourth and Fifth Centuries: New Approaches ot the Experience of Conversion from Sin (SBEC 15), Lewiston, NY 1988 (zu Rom: v.a. 316–486), und Saint-Roch, La péntience (s.o. Anm. 57). Peter Jeffery, A Lost Roman Chant for the Reconciliation of Penitents?, in: Leandra Scappaticci (Hg.), Quod ore cantas, corde credas. Studi in onore di Giacomo Baroffio Dahnk (Monumenta studia instrumenta liturgica 70), Città del Vaticano 2013, 231–238, sucht den Ursprung des Gradual-Responsoriums Misit Dominus verbum suum (Antiphonale Missarum Sextuplex, hg. v. René-Jean Hesbert, Bruxelles 1935 [= Rome 1985], 26f., Nr. 21; Ps 106 [107],20f.) in der altrömischen Rekonziliationsfeier. 59 Nach Hieronymus Frank, Ambrosius und die Büßeraussöhnung in Mailand. Ein Beitrag zur Geschichte der mailändischen Gründonnerstagsliturgie, in: Odo Casel (Hg.), Heilige Überlieferung. Ausschnitte aus der Geschichte des Mönchtums und des heiligen Kultes … Ildefons Herwegen zum silbernen Abtsjubiläum dargeboten (BGAM.S), Münster 1938, 136–173, vgl. z.B. Fitzgerald, Conversion (s.o. Anm. 58), 207–229 (mit offensichtlichem Textausfall im Haupttext vor 207). 53
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auch Konstantinopel60 zur Bußpraxis der Spätantike weitgehend auf relativ pauschale Angaben und wenige prominente Beispiele, die vielleicht nur bedingt repräsentativ sind (allen voran natürlich Kaiser Theodosius unter Ambrosius,61 aber auch die vornehme Römerin Fabiola62); auch von der Bußliturgie als solcher sind nur wenige relativ abstrakte Elemente dokumentiert.63 Prinzipiell gut bekannt, aber trotz erheblicher Forschungsfortschritte noch lange nicht erschöpfend erschlossen ist drittens das Fortleben anderer Bußformen nach Durchsetzung der Ohrenbeichte und sogar nach der Reformation.64 Kanonische und private Buße bestanden seit dem Vgl. Meßner, Feiern (s.o. Anm. 2), 104f.; die hagiographischen Zeugnisse weit über die Stadt hinaus analysiert Robert Barringer, Ecclesiastical Penance in the Church of Constantinople. A Study of the Hagiographical Evidence to 983 A.D., PhD thesis, Oxford University, 1979. 61 Vgl. v.a. Ambrosius, ep. 11 (Maur. 51) (CSEL 82/3, 212–218 Zelzer); obit. Theod. (CSEL 73, 388f. Faller); vgl. z.B. Hartmut Leppin, Theodosius der Große (Gestalten der Antike), Darmstadt 2003, 153–160. 62 Vgl. Hieronymus, ep. 77, 4f. (CSEL 552, 40–42 Hilberg). 63 Vgl. die in Anm. 58–62, 78 und 98 erschlossenen Quellen: regelmäßige Fürbitte und Segnung während der Bußzeit, besonderer und abgesonderter Platz im Kirchenraum oder außerhalb, Fasten, manchmal Bußgewand, Gebet unter Tränen, Handauflegung, Rekonziliation unter Gebet und Anrufung des Heiligen Geistes. 64 Vgl. Mary C. Mansfield, The Humiliation of Sinners. Public Penance in ThirteenthCentury France, Ithaca, NY 1995; Friederike Neumann, Öffentliche Sünder in der Kirche des späten Mittelalters. Verfahren – Sanktionen – Rituale (Norm und Struktur. Studien zum sozialen Wandel in Mittelalter und Früher Neuzeit 28), Köln 2008; Christine D. Schmidt, Sühne oder Sanktion? Die öffentliche Kirchenbuße in den Fürstbistümern Münster und Osnabrück während des 17. und 18. Jahrhunderts (Westfalen in der Vormoderne 5), Münster 2009 (auch zum Fortleben der öffentlichen Kirchenbuße als Teil protestantischer Kirchenzucht). Neuzeitliche Transformationen, Kontinuitäten und Diskontinuitäten im Zusammenhang der Reformation sind jenseits des Horizonts dieses Beitrags; nach Meßner, Feiern (s.o. Anm. 2), 187–207, und Karl Schlemmer (Hg.), Krise der Beichte – Krise des Menschen? Ökumenische Beiträge zur Feier der Versöhnung (STPS 36), Würzburg 1998, vgl. z.B. Ilse Tobias, Die Beichte in den Flugschriften der frühen Reformationszeit (EHS.T 919), Frankfurt 2002, Thomas Böttrich, Schuld bekennen – Versöhnung feiern. Die Beichte im lutherischen Gottesdienst (APTLH 46), Göttingen 2008, und Peter Zimmerling, Studienbuch Beichte (UTB 3230), Göttingen 2009. Auch auf die orientalischen Kirchen kann hier nicht ausgegriffen werden; nach Meßner, Feiern (s.o. Anm. 2), 103–114; 146–157, vgl. Bux, Reconciliation (s.o. Anm. 2), Heinrich B. Kraienhorst, Buß- und Beichtordnungen des griechischen Euchologions und des slawischen Trebniks in ihrer Entwicklung zwischen Osten und Westen (ÖC.N.F. 51), Würzburg 2003, Parrinello, confessione (s.o. Anm. 23), Basilio Petrà, La penitenza nelle chiese ortodosse. Aspetti storici e sacramentali (CNST 63), Bologna 60
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rühmittelalter nebeneinander;65 Generalabsolutionen wurden auch nach F der scholastischen Konzentration auf die Beichte weiter praktiziert,66 und öffentliche Bußverfahren waren teilweise bis in die Neuzeit hinein Praxis,67 auch wenn ihr Sinn dabei einerseits nicht selten dadurch pervertiert wurde, dass Ausschluss und Beschämung, nicht Heilung und Wiedereingliederung im Zentrum der Aufmerksamkeit standen;68 andererseits ist eine Reduktion und Formalisierung überkommener Riten zu beobachten, die nach der tatsächlichen Relevanz traditionsgemäß vollzogener Feierinhalte fragen lässt.69 Auf interdisziplinäre Zusammenarbeit angewiesen ist darum viertens auch die Erhebung des faktischen Realitätsgehalts der verschiedenen Feierformen: Die Überlieferung von Gottesdienstordnungen in liturgischen Büchern beweist ja noch nicht ihren tatsächlichen Vollzug; und auch wo bestimmte Feiern begangen wurden, stellt sich die Frage nach der Reichweite ihrer Autorität. Schließlich ist die Bedeutung von R itualen für 2005 (mir nicht zugänglich), und zuletzt z.B. unter primär rechtlicher Hinsicht G. Ruyssen (Hg.), La disciplina della penitenza nelle Chiese orientali. Atti del simposio tenuto presso il Pontificio Istituto Orienale, Roma, 3–5 giugno 2011 (Kan. 19), Roma 2013, sowie aus liturgiewissenschaftlicher Perspektive breit Stefano Parenti, Confessione, penitenza e perdono nelle chiese orientali, in: RivLi 104 (2017), 111– 141, weiters Vasyl Popelyastyy, The Earliest Liturgical Witness of the Rite of the Sacrament of Penance in Slavic Christendom, in: QuLi 101 (2021), 246–275. Für eine Sammlung und Erschließung mehrheitlich gleichwohl westlichen Materials vgl. auch Di Donna, Canones Poenitentiales (s.o. Anm. 26). 65 Nach Meßner, Feiern (s.o. Anm. 2), 121f.; 161 u.ö., vgl. die in Anm. 51 zitierten Arbeiten von de Jong, Hamilton und Meens. 66 S.o. Anm. 21. 67 Vgl. Meßner, Feiern (s.o. Anm. 2), 129f., und Neumann, Sünder (s.o. Anm. 64); ein wichtiges Corpus von Primärquellen erschließt neuerdings Annik Aussedat-Minvielle, Ritualia Gallica. Les Rituels des diocèses français de 1480 à 1800. 2: Formulaires et formules 3A–B: Pénitence, Enseignement de la foi, Conseils de vie chrétienne, Turnhout 2019. 68 So der Tenor der in Anm. 64 zitierten Arbeiten. Die Ansätze „in Richtung einer Sicht der öffentlichen Buße als Zwangs- und Strafmaßnahme“ liegen nach Meßner, Feiern (s.o. Anm. 2), 121, schon in der frühmittelalterlichen „Unterscheidung zwischen öffentlichen und geheimen Sünden“. 69 Als ein Beispiel für viele sei der Ordo explusionis poenitentium genannt, der im Regensburger Obsequiale Ratisponense vom Erstdruck Nürnberg 1491, fol. lxviii v–lxviiii r, bis zur letzten Auflage Ingolstadt 1629, 145, die Rubrik trägt, dass der Ritus eigentlich am Aschermittwoch zu vollziehen sei, aber propter humanae naturae infirmitatem am Dienstag nach Palmsonntag vollzogen werde, wonach die Poenitenten am Hohen Donnerstag wieder einzuführen seien, wofür dann aber bezeichnenderweise keine Ordnung geboten wird.
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die tatsächlichen Feiersubjekte nicht notwendig mit der von den Ordnungen intendierten Erfahrung identisch; während die intendierte Feiererfahrung kompetenter Feiersubjekte aus dem Inhalt der liturgischen Formeln, Texte und Symbolhandlungen erhoben werden kann,70 ist die faktische Erfahrung der tatsächlichen Feiersubjekte methodisch überall dort schwer einzuholen, wo keine historischen Ego-Dokumente zur Verfügung stehen.71 Das fundamentalste Problem der Liturgiegeschichtsschreibung ist freilich fünftens das Fehlen von direkten Quellen für konkrete Rituale und Texte in der liturgieformativen Phase der Spätantike, zumal aus den stilbildenden liturgischen Zentren wie Rom,72 Konstantinopel,73 Antiochien oder Alexandrien; liturgische Bücher sind ja überhaupt erst aus dem Frühmittelalter erhalten und stammen dann nicht aus diesen Zentren selbst.
Weniger nach der Theologie der Texte als nach der Erfahrung der Laien in den rituellen Symbolhandlungen der verschiedenen Formen (früh-) mittelalterlicher Buße fragt z.B. Karen Wagner, Cum aliquis venerit ad sacerdotem: Penitential Experience in the Central Middle Ages, in: Firey (Hg.), History (s.o. Anm. 44), 201–218. 71 Vgl. z.B. Friedrich Lurz, Liturgie verstehen – Liturgie leben. Hinweise aufgrund historischer Autobiographieforschung, in: Martin Klöckener/Benedikt Kranemann/ Angelus A. Häußling (Hgg.), Liturgie verstehen. Ansatz, Ziele und Aufgaben der Liturgiewisssenschaft (ALW. Jubiläumsband 50), Fribourg 2008, 231–250. Einen wichtigen Spiegel der Praxis jenseits liturgischer Ordnungen stellt auch die Hagiographie dar, wie sie exemplarisch von Barringer, Penance (s.o. Anm. 60), oder Cyrille Vogel, La discipline pénitentielle en Gaule des origines au IXe siècle: le dossier hagiographique, in: RevSR 30 (1956), 1–26, untersucht wurde. 72 Die wenigen verfügbaren Angaben sammelt nach Meßner, Feiern (s.o. Anm. 2), 100–102, u.a. Joseph Dyer, Reconciliation, Blessing, and Commemoration in the Holy Thursday Liturgy of Medieval Rome, in: ALW 56 (2014), 16–48, der auch die drei pseudo-augustinischen Predigten De reconciliandis paenitentibus (CChr.SL 9, 355–363 Heyden) berücksichtigt, die vermutlich einem römischen Erzdiakon zuzuschreiben sind (worauf sich die Datierung ins 5. Jh. durch den Herausgeber stützt, ist unklar) und sich als Postulatio in eine Rekonziliationsfeier fügen würden, wie sie in Rom prinzipiell seit Innozenz I. bezeugt (vgl. Anm. 8) und im sogenannten Altgelasianischen Sakramentar detailliert kodifiziert ist, wobei offenbleiben muss, wie weit dessen konkrete Texte aus Rom stammen (s.u. 4.1). Zum Mittelalter vgl. auch John F. Romano, The Rite of the Reconciliation of Penitents at the Lateran Basilica, in: Lex Bosman/Ian Haynes/Paolo Liverani (Hgg.), The Basilica of Saint John Lateran to 1600 (British School at Rome Studies), Cambridge 2020, 400–427. 73 Vgl. Meßner, Feiern (s.o. Anm. 2), 104f. 70
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4. Eine liturgische Schlüsselquelle 4.1. Die älteste greifbare Bußordnung mutmaßlich römischer Tradition Die älteste erhaltene „Ordnung für jene, die öffentliche Buße tun (Ordo agentibus publicam paenitenciam)“ ist in jenem Liber sacramentorum Romane aeclesiae (sic) greifbar, der als Altgelasianisches Sakramentar bekannt ist.74 Das Buch stellt freilich bereits ein Dokument des Kulturund Liturgietransfers dar: Mitte des 8. Jahrhunderts vermutlich im Kloster Chelles geschrieben, ist die Handschrift selbst fränkisch; ihr Inhalt ist zwar im Kern wohl weitgehend römisch, repräsentiert aber jedenfalls weder die aus dem Gregorianischen Sakramentar bekannte römische Papstliturgie, noch handelt es sich um ein rein presbyterales Liturgiebuch,75 wie die bischöflichen Funktionen von den Ordinationen bis eben zur Bußliturgie zeigen. Darum ist besonders kritisch zu fragen, wie sich die tatsächliche Überlieferung römischer Liturgie zu ihrer fränkischen Konstruktion verhält.76 Der Gottesdienst am Hohen Donnerstag ist nicht isoliert zu betrachten; er stellt nur das Ende eines ganzheitlichen Prozesses der Umkehr dar, der vom Gebet der ganzen Gemeinde begleitet war; am Mittwoch vor Quadragesima findet sich außerdem unter demselben Titel (Ordo agentibus publicam paenitentiam) Material für eine schlichte Bußeröffnung nebst Gebeten für die Büßer, wie sie in der Spätantike allgemein bezeugt sind.77 Sacramentarium Gelasianum vetus I 38, 352–359 (RED.F 4, 56f. Mohlberg); nach Meßner, Feiern (s.o. Anm. 2), 122–131, mit Verarbeitung der älteren Literatur, vgl. auch Dyer, Reconciliation (s.o. Anm. 72), 25–30, der von einem „originally independent libellus for the reconciliation of various classes of penitents“ ausgeht (25). Für eine theologisch motivierte Auslegung vgl. Mariosvaldo Florentino, La penitenza pubblica nel gelasiano antico. Uno studio a partire dai suoi segni visibili (BEL.S 154 = Liturgia opera prima 3), Roma 2010. 75 Gegen Antoine Chavasse, Le sacramentaire Gélasien (Vaticanus Reginensis 316). Sacramentaire presbytéral en usage dans les titres romains au VIIe siècle (BT 1), Tournai 1958 (zur Buße: 141–155), vgl. z.B. Charles Coebergh, Le sacramentaire gélasien ancien: une compilation des clercs romanisants du VIIe siècle, in: ALW 7/1 (1961), 45–88; Alfio M. Martelli, Il Sacramentario Gelasiano. Cod. Vat. Reginense (sic) 316. Primo testimone completo dell’esperimento della Liturgia Romana nella Gallia Precarolingia, Trento 2003. 76 Zur Unterscheidung unterschiedlicher Straten vgl. Meßner, Feiern (s.o. Anm. 2), 123– 125; 169f.; kritisch vgl. auch z.B. de Jong, Transformations (s.o. Anm. 51), 194f. 77 Sacramentarium Gelasianum vetus I 16, 83 (RED.F 4, 18 Mohlberg ; vgl. auch Anm. 12); voraus gehen Orationes et praeces super paenitentes. 74
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Non-verbal wird in dieser Feier physisch vollzogen, was theologisch geschieht: Der Poenitent wird in den Schoß der Kirche zurückgeführt (in gremio praesentatur aeclesiae prostrato omni corpore in terra). Außer seiner Prostration werden keine Gesten oder Symbolhandlungen erwähnt; bemerkenswert ist, dass nicht einmal von der in diesem Zusammenhang sonst breit und in der Spätantike auch für Rom bezeugten Handauflegung die Rede ist.78 Auch die Wortelemente sind denkbar schlicht: Auf eine ausführliche diakonale Postulatio folgen drei Gebete des Vorstehers. Die Postulatio ordnet den Anlass mit 2 Kor 6,2 in der Quadragesima ein,79 stellt aber zugleich fest, dass „keine Zeit von den Reichtümern der Güte und Liebe Gottes frei ist“; die spezielle Situation der „Sündenvergebung durch Nachlass“ im Zusammenhang der jährlichen Osterfeier steht aber in Parallele zur Taufe: Die Gemeinschaft der Kirche „wird durch die Neuzuschaffenden vermehrt und wächst durch die, die zurückkehren“. In sachlichem Rückgriff auf die Parallelisierung des Wassers der Taufe mit den Tränen der Buße durch Ambrosius von Mailand80 heißt es: „Die Wasser waschen, (und) die Tränen waschen (Lavant aquae, lavant lacrimae)“; der „Annahme der Berufenen“ entspricht die „Absolution der Büßer“. Sodann werden Elemente der eigentlichen Buße angesprochen: Fasten, Tränen, Fürbitte, bevor als Bekenntnis im Angesicht der seufzenden Kirche Ps 50(51) zitiert wird; abschließend wird der Bischof gebeten, den Büßer „durch die Gnade der Versöhnung zu einem Gott nahen Menschen“ zu machen.81 Nach einer mahnenden Ansprache, für die kein Modell geboten wird, folgen drei Gebete, die über das karolingische Supplement auch den Weg
Vgl. Meßner, Feiern (s.o. Anm. 2), 359, Index s.v. Handlauflegung, sowie Cyrille Vogel, Handauflegung I (liturgisch), in: RAC 13 (1986), 482–493, hier 487f. Für Rom bezeugt die Handauflegung Hieronymus, c. Lucif. 5 (CChr.SL 79 B, 13 Canellis/SC 473, 96 Canellis). 79 2 Kor 6 ist seit den ältesten Zeugnissen die Epistel des Sonntags Quadragesima (Antoine Chavasse, Les lectionnaires romains de la messe au VIIe et au VIIIe siècle. Sources et dérivés [SFS 22], 2 Bde., Fribourg 1993, 2, 13), die auch programmatisch als Magnificat-Antiphon des Tages und erstes Responsorium der Vigil aufgegriffen wird: Renatus-Joannes Hesbert (Hg.), Corpus Antiphonalium Officii (RED.F 7–12), 6 Bde., Roma 1963–1979, hier 3, 188, Nr. 2532; 4, 154, Nr. 6600. 80 Zu ep. extra collectionem 1 (= Maur. 41), 12 (CSEL 82/3 152 Zelzer: Ecclesia autem et aquam habet et lacrimas habet, aquam baptismatis, lacrimas poenitentiae) vgl. zuletzt z.B. Clara Bozzini, La penitenza e il pianto nell’opera di Ambrogio di Milano, in: AScR 11 (2006), 153–168. 81 Sacramentarium Gelasianum vetus I 38, 353f. (RED.F 4, 56f. Mohlberg). 78
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in die Gregorianische Sakramentartradition fanden.82 Die ersten beiden artikulieren die Rolle des Bischofs: Er tritt zunächst weder als Richter noch als Lossprecher auf, sondern als Fürbitter in der Solidarität der Sünder, „der auch als erster deiner (sc. Gottes) Barmherzigkeit bedarf“ und „den nicht die Erwählung aufgrund von Verdienst, sondern du durch das Geschenk deiner Gnade zum Diener dieses Werkes eingesetzt hast“, weshalb auch „Vertrauen in die Erlangung deiner Gabe“ Gegenstand der Bitte bleibt; Gott „selbst wirke in unserem Dienst das Werk seiner Liebe“. Sodann kommt der Gegenstand der Feier in den Blick: Dem Poenitenten soll Gott „die würdige Frucht der Buße“ geben, „damit er deiner heiligen Kirche, von deren Unversehrtheit er durch Sünde abgewichen ist, durch Erlangung der Gnade der Zugelassenen als Unschuldiger zurückgegeben werde“. Das eigentliche Hauptgebet stellt eine klassische Oration dar, die nach einer Anamnese von Schöpfung und Erlösung um Heilung und Verschonung vor dem kommenden Gericht bittet, wobei neben den Tränen des Büßers und dessen Daliegen, das sowohl physisch als auch metaphorisch verstanden werden kann, noch einmal auf die Wiedergeburt durch das Wasser der Taufe und auf die Bitte der Kirche bezuggenommen wird. Es folgt Item ad reconciliandum paenitentem ein weiterer, alternativer Satz von vier Gebeten, deren letztes neben der Vergebungsbitte auch die Wiederherstellung der Kommuniongemeinschaft anspricht (… tuo altario repraesenta).83 Dass die Feier am Morgen des Hohen Donnerstags nicht die einzige Situation der Rekonziliation darstellt, illustriert schließlich die anschließende Einfügung einer Reconciliatio paenitentis ad mortem,84 bevor das Material für die Eucharistiefeier am Hohen Donnerstag fortsetzt. Sacramentarium Gelasianum vetus I 38, 356–358 (RED.F 4, 57 Mohlberg); vgl. Sacramentarium Gregorianum. Supplement 98, 1383–1385 (SpicFri 16, 452f. Deshusses). 83 Sacramentarium Gelasianum vetus I 38, 360–363 (RED.F 4, 57f. Mohlberg). 84 Sacramentarium Gelasianum vetus I 39, 364–367 (RED.F 4, 58f. Mohlberg); ebd. III 98, 1657 (ebd. 242) trifft außerdem Vorkehrungen für den Fall, dass ein Sterbender nicht mehr sprechen kann. Am Ende von III 107, 1701–1704 (ebd. 248) und redaktionsgeschichtlich wohl sekundär, aber von erster Hand und vor dem Kolophon der erhaltenen Handschrift aufgezeichnet findet sich außerdem eine Ordnung mit drei euchologischen Stücken für die individuelle Beichte (ad paenitenciam dandam), die freilich auch Reminiszenzen der kanonischen Buße enthält: Korrelation mit der sacri lauacri unda, Rede von einer publica confessio, Gebetsaufforderung an fratres karissimi; zur liturgiegeschichtlichen Einordnung vgl. Meßner, Feiern (s.o. Anm. 2), 169f. 82
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4.2. Knappe Bemerkungen zur Rezeption Von der weiteren Rezeption können im gegebenen Rahmen nur drei Aspekte kurz angedeutet werden: Die ursprünglich zur jährlichen öffentlichen Feier der Hohen Woche gehörige Rekonziliation wird erstmals im 6. Buch des Paenitentiale des Halitgar von Cambrai auch in die individuelle Beichte übernommen, wobei die Rubrik die Herkunft vom Hohen Donnerstag deutlich macht; zwei der drei kurzen Gebete entstammen der zweiten Serie des Altgelasianischen Sakramentars.85 Die Grundstruktur des feierlichen Rekonziliationsritus bleibt auch in späteren Pontifikalien als Rückgrat der Feier erhalten, auch wenn sie durch weitere verbale und non-verbale Elemente angereichert wird.86 Das einflussreiche „Pontificale Romano-Germanicum“ des 10. Jahrhunderts87 Herm. Jos. Schmitz, Die Bußbücher und die Bußdisciplin der Kirche. 2: Die Bußbücher und das kanonische Bußverfahren, Düsseldorf 1898 [Ndr. Graz 1958], 292– 294; die reconciliatio Penitentem V feria Pasche folgt auf eine oratio manus impositionis. Halitgar selbst weist auf die disparate Herkunft des von ihm tradierten Materials hin, wenn er für das 6. Buch Herkunft „aus dem Archiv der römischen Kirche (de scrinio romane ecclesiae)“ beansprucht, was freilich insgesamt eher Reform-Rhetorik als eine historisch zuverlässige Aussage darstellen mag; zum Beicht-Ordo vgl. Kottje, Bußbücher (s.o. Anm. 25), 188–190, in Weiterführung von Jungmann, Bußriten (s.o. Anm. 34), 152–155, sowie Hubertus Lutterbach, Die Bußordines in den iro-fränkischen Paenitentialien. Schlüssel zur Theologie und Verwendung der mittelalterlichen Bußbücher, in: FMSt 30 (1996), 150–172, hier 152–162. 86 Vgl. Meßner, Feiern (s.o. Anm. 2), 126–129, auch mit instruktiven Struktursynopsen. 87 Hamilton, Practice (s.o. Anm. 51), 104–172, erörtert differenziert sowohl Inhalt und Reichweite verschiedener Handschriften des von der modernen Forschung so genannten Pontificale Romano-Germanicums als auch die zeitgenössischen Alternativ-Ordnungen. Neben den eigentlich pontifikalen Feiern der kanonischen Buße im Rhythmus des Jahres kennt das Pontificale Romano-Germanicum 136 (StT 227, 234–245 Vogel) auch einen Ritus der individuellen Buße (Qualiter sacerdotes suscipere debeant poenitentes more solito), der signifikanterweise im Kontext der Krankenliturgie kodifiziert ist; nach Hamilton, Practice (s.o. Anm. 51), 107–128, vgl. zuletzt Kęstutis Palikša, La penitenza privata nel Pontificale romano-germanico. Origini e diffusione (BEL.S 172 = Liturgica opera prima 9), Roma 2015. In jüngerer Zeit hat Henry Parkes, The Making of Liturgy in the Ottonian Church. Books, Music and Ritual, 950–1050 (CSMLT 4/100), Cambridge 2015; ders., Questioning the Authority of Vogel and Elze’s Pontifical romano-germanique, in: Gittos/ Hamilton (Hgg.), Understanding Medieval Liturgy (s.o. Anm. 10), 75–101, die traditionelle Schlüsselstellung des sogenannten Pontificale Romano-Germanicums und seine Redaktion im Mainz des 10. Jh. in Frage gestellt und alternativ – u.a. im Gefolge von Hamilton, Practice (s.o. Anm. 51), 131–135 – seinen Ursprung im bayerisch-süddeutschen Raum gesucht; vgl. Henry Parkes, Henry II, liturgical patronage, and the birth of the „Romano-German Pontifical“, in: EMEu 28 (2020), 104–141. 85
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hängt an die deprekativen Vergebungsbitten indikativische Absolutionen an; aber obwohl deren erste ausdrücklich auf die Zusage der Bindegewalt von Mt 18,18 rekurriert, hält sie fest, dass „er in seiner Gnade wollte, dass ich zu deren Zahl (sc. der Jünger, zu denen das gesagt ist) gehöre, obwohl ich unwürdig und durch die Bande von Sünden gefesselt bin“;88 erst die zweite stellt abschließend fest, dass „wir gemäß der Autorität, die uns Unwürdigen von Gott übertragen ist, euch loslösen von jeder Fessel eurer Vergehen (Nos etiam secundum auctoritatem nobis indignis a Deo commissam, absolvimus vos ab omni vinculo delictorum vestrorum), damit ihr verdient, das ewige Leben zu haben.“89 Die hohe Relevanz der Bußrituale auch jenseits der Eliten zeigt sich im übrigen schon darin, dass diese neben der paenitentia prima der Taufe schon ab dem Frühmittelalter sowohl in eher individuellen als auch in gemeindlichen Kontexten ein bevorzugtes Einfallstor für die Volkssprache in die prinzipiell lateinische Liturgie sind.90 5. Fragen Abschließend seien noch einmal einige wichtige Fragen der Forschung gebündelt: Zunächst ist immer das Verhältnis der literarischen Überlieferung liturgischer (wie auch juridischer) Ordnungen zur tatsächlichen Feier und zur weiteren Lebensrealität kritisch zu überprüfen. Pontificale Romano-Germanicum 99, 246 (StT 227, 65 Vogel) = Ordo Romanus 50, 25, 52 (SSL 29, 204 Andrieu). Die Solidarität der Sünder kommt besonders deutlich auch in der Exhoratio sacerdotis des als Anhang 1, 4, 22 zu Ordo Romanus 50 (SSL 29, 373 Andrieu) edierten ordo qualiter sacerdotes plebem sibi commissam tempore penitudinis suscipere debeant et reconciliari zum Ausdruck: Frater, noli erubsecere peccata tua confiteri, nam et ego peccator sum et fortassis peiora quam tu feceris habeo factum; anschließend ebd. 34 (ebd. 376) wirft sich der Priester oder Bischof (sacerdos) gemeinsam mit dem Poenitenten auf die Erde. 89 Pontificale Romano-Germanicum 99, 247 (StT 227, 65f. Vogel) = Ordo Romanus 50, 25, 54 (SSL 29, 205 Andrieu). 90 Deutsche Zeugnisse umfassen sowohl die feierliche kanonische Buße am Hohen Donnerstag als auch die individuelle Beichte genauso wie die Generalabsolution im Zusammenhang der Kommunionvorbereitung und in anderen Kontexten; vgl. die Übersicht und Analyse bei Bruchhold, Beichten (s.o. Anm. 21), 1–7; 444–505. In Italien vgl. etwa die Formula di confessione umbra des 11. Jh.; vgl. u.a. Ricarda Liver, La formula di confessione umbra nell’ambito delle formule di confessione latine, in: Vox Romanica 23 (1964), 22–34. 88
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Besondere Relevanz kommt darüber hinaus der Frage nach der „Second Church“ und nach dem Verhältnis zwischen dem offiziellen Gottesdienst der amtlich verfassten Kirche zur gelebten Religiosität zu, die auch nichtliturgische Formen von Umkehr und Vergebung einschließt.91 Auch innerhalb der „First Church“ ist die Tradition fossilierter Rituale zu erörtern: Einerseits können liturgische Bücher obsolet gewordene Ordnungen überliefern, die nicht mehr vollzogen werden; andererseits können aber auch umgekehrt überkommene Elemente, die von der liturgischen Entwicklung oder der Lebensrealität überholt sind, als mehr oder minder leere Hülsen weiter begangen werden. So bleiben Büßersegnungen und -entlassungen mitunter Bestandteil eucharistischer Liturgien, auch wo keine Büßer vorhanden sind;92 auch „die öffentliche Buße mit ihren eindrucksvollen dramatischen Zeremonien“ konnte faktisch zu einer „Umrahmung der Beichte“ werden und so ihre Bedeutung verlieren.93 Gelegentlich ist auch eine explizite Desemantisierung zu beobachten: So wird schon im Mittelalter die Generalabsolution teilweise theologisch entwertet, später auch die von der Bußgeschichte überholten Vergebungsbitten und Absolutionen im Bußritus der Messe. Hier wird die Grundfrage der Liturgie- und Sakramententheologie akut: Gesteht man Symbolhandlungen zu, zu bewirken, was sie bezeichnen? Manchmal ist auch schon im Mittelalter eine regelrechte Umkehr der ursprünglichen Intention zu beobachten: Insbesondere die öffentliche Buße wird im Spätmittelalter und in der Neuzeit regelmäßig zur „Demütigung von Sündern“ (und besonders häufig: angeblichen Sünderinnen insbesondere infolge von mutmaßlichen Sexualvergehen) pervertiert;94 aus einem Mittel der Heilung und Versöhnung wird ein Instrument der Repression und Bestrafung – eine historisch und theologisch bemerkenswerte Entwicklung. Bezeichnend ist, dass der Öffentlichkeit einer solchen Buße häufig nicht eine Öffentlichkeit der Rekonziliation entspricht, die privat in der Beichte vollzogen wird.95 Nicht die Rückführung, sondern nur der Ausschluss werden öffentlich zelebriert. Dass sich Buße, Umkehr und Versöhnung prinzipiell auch außerhalb der Liturgie vollziehen, zeigt schon das innovative Bußsystem der Tarifbuße, „das von seiner monastischen Wurzel her aliturgisch ist“ (Meßner, Feiern [s.o. Anm. 2], 164); die Frage nach nicht-liturgischen Formen im Leben von in der Welt lebenden Laien ist vermutlich völlig neu zu stellen. 92 Vgl. Meßner, Feiern (s.o. Anm. 2), 95–97. 93 So Meßner, Feiern (s.o. Anm. 2), 129. 94 Vgl. Anm. 64. 95 S.o. 3. 91
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Allerdings zeigt sich schon in der Spätantike eine paradoxe Ambivalenz der Beschämung: Während etwa nach dem Zeugnis Leos I. die Beschämung eines detaillierten öffentlichen Bekenntnisses ausdrücklich vermieden werden sollte,96 gibt es Anzeichen dafür, dass der Büßerstand mitunter auch mit Stolz vor sich hergetragen wurde.97 Besonders ergiebig und kritisch ist zweifellos die Frage nach Rolle und Funktion, Bedeutung und Verständnis der beteiligten Amtsträger. Was qualifiziert den Vorsteher von Bußfeiern oder Beichtiger für welchen Aspekt der Buße: therapeutische und pastorale Qualifikation für die Begleitung der Auseinandersetzung Frommer mit ihren Sünden oder das formale Amt als Vorsteher und Repräsentant der Kirche für die Rekonziliation derer, die ihrer bedürfen? Wie beeinflusst die liturgiefremde mittelalterliche Auffassung des Beichtvaters als „Richter“ Verständnis und Praxis der Buße? Theoretische und praktische Fragen von Autorität und Macht sind wohl nicht erst seit der jüngsten Missbrauchskrise besonders sensibel;98 dabei geht es nicht nur um die liturgische und juridische Absolutionsvollmacht, sondern auch um die theologische Deutungsmacht: Eine kritische Bußgeschichtsschreibung wird die Monopolisierung der Vergebung gegenüber alternativen Autoritäten etwa von Asketen, Heiligen und Wundertätern, darunter auch Laien einschließlich Frauen, beleuchten,99 Ep. 168, 2 (PL 54, 1211 A–B). Vgl. z.B. Meens, Penance (s.o. Anm. 51), 20f., mit Verweis u.a. auf das Beispiel der Fabiola (vgl. Anm. 62) sowie auf Augustinus, serm. 232 (SC 116, 274–278 Poque); Ansätze einer sozialwissenschaftlich innovativen Diskussion des Aspekts der Beschämung bietet auch z.B. Roitto, Rituals (s.o. Anm. 2), 433–437, eine Fallstudie Katharina Behrens, Scham – zur sozialen Bedeutung eines Gefühls im spätmittelalterlichen England (Historische Semantik 20), Göttingen 2014, 271–311. 98 Vgl. z.B. Klaus Mertes, Macht- und Ohnmachtsstrukturen im Bußsakrament, in: Demel/Pfleger (Hgg.), Sakrament (s.o. Anm. 44), 497–507; Katharina Karl/Harald Weber (Hgg.), Missbrauch und Beichte, Würzburg 2021. Neben allen anderen Problemen manifestiert sich in der Missbrauchskrise die Frage, welchen Umgang die Kirche mit schwerer Schuld in den eigenen Reihen jenseits Leugnung und Vertuschung auf der einen und Auslieferung zur (zivil-) rechtlichen Ahndung auf der anderen Seite kennt. Wie die von Sokrates, h. e. V 19 (GCS N.F. 1, 293f. Hansen), Sozomenus, h. e. VII 16 (GCS N.F. 4, 322–324 Bidez/Hansen) und Cassiodor, hist. IX 35 (CSEL 71, 553f. Jacob/Hanslik) geschilderte Episode unter Nektarius (381–397) illustriert, sind sexuelle Skandale zwischen Klerikern und Poenitentinnen schon früh ein bestimmender Faktor der Bußgeschichte. 99 Gut erforscht ist die Sündenvergebung durch Fürbitte der Bekenner in der Frühzeit, der breite Strom der Mönchs- und Nonnenbeichte wie auch die Sonderform der Laienbeichte im westlichen Mittelalter; vgl. Meßner, Feiern (s.o. Anm. 2), 67f.; 96 97
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aber auch fragen, welche sozialen Implikationen etwa die konkrete Rolle von Bischöfen in der vom Patronatssystem geprägten Kirche des spätantik-römischen Nordafrika eines Tertullian und Cyprian – bekanntlich ein für die Entwicklung der paenitentia secunda wichtiger Ort – für die Klienten hatte.100 Weit über die Liturgie hinaus zeigt sich in der Spätantike genauso wie im Mittelalter nicht nur in den Bußverfahren besonders prominenter Personen des öffentlichen Lebens die politische Macht der Bischöfe;101 auch in der alltäglichen Praxis realisiert sich die eminente gesellschaftliche Bedeutung begabter Bischöfe in der Vermittlung von Versöhnung.102 Bußgeschichte ist freilich immer auch eine Geschichte der sozialen Kontrolle; damit steht sie in der Gefahr der Perversion, in der die Sanktion die Therapie überlagert und die Repression gegenüber der Rekonziliation in den Vordergrund tritt.
140–149; 180f.; alternative Praktiken waren aber zweifellos noch breiter. Aus kirchenrechtlicher und pastoraler Perspektive vgl. z.B. auch Egidio Miragoli (Hg.), Il sacramento della penitenza. Il ministro del confessore: indicazioni canoniche e pastorali, Milano 1999. 100 Vgl. Angelika Ganter, Was die römische Welt zusammenhält. Patron-Klient-Verhältnisse zwischen Cicero und Cyprian (Klio Beihefte N.F. 26), Berlin 2015, 305–337. 101 Nach der bleibend grundlegenden Erörterung von Rudolf Schieffer, Von Mailand nach Canossa. Ein Beitrag zur Geschichte der christlichen Herrscherbuße von Theodosius d. Gr. bis zu Heinrich IV., in: DA 28 (1972), 333–370, hebt für die Spätantike z.B. Meens, Penance (s.o. Anm. 51), 21–24, die positiv-diplomatische Funktion der öffentlichen Buße u.a. mit Verweis auf Theodosius (vgl. Anm. 61) hervor. Zu prominenten Beispielen des Mittelalters vgl. z.B. Hamilton, Practice (s.o. Anm. 51), 174– 182; zum berühmtesten Fall, Ludwig dem Frommen, vgl. zuletzt u.a. Steffen Patzold, Epicscopus. Wissen über Bischöfe im Frankenreich des späten 8. bis frühen 10. Jahrhunderts (Mittelalter-Forschungen 25), Ostfildern 2008, 185–199, Courtney M. Booker, Past Convictions. The Penance of Louis the Pious and the Decline of the Carolingians, Philadelphia, PA 2009, und Mayke de Jong, The Penitential State. Authority and Atonement in the Age of Louis the Pious, 814–840, Cambridge 2009. Nach Geoffrey Koziol, Begging Pardon and Favor. Ritual and Political Order in Early Medieval France, Ithaca, NY 1992 (Index 455 s.v. penance), erörtert Hamilton, Practice (s.o. Anm. 51), 184–206, systematisch auch politische und soziale Aspekte frühmittelalterlicher Buße jenseits von Liturgie und Askese. Ambivalente Machtverhältnisse sind auch nach Mansfield, Humiliation (s.o. Anm. 64) ein Schlüssel zur offenkundigen sozialen Differenzierung der Bußpraxis auch nach Etablierung der hochmittelalterlichen Ohrenbeichte. 102 Für die Spätantike vgl. z.B. Claudia Rapp, Holy Bishops in Late Antiquity. The Nature of Christian Leadership in an Age of Transition (The Transformation of the Classical Heritage 37), Berkeley 2005, Index 345 s.v. penance.
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Bußdiskurse sind schließlich nicht nur ein Problem der Liturgie, ihrer Praxis und ihrer Gestaltungsmacht, sondern auch der Theorie, der Theologie und der Deutungshoheit; die Komplexitätsreduktion in der autoritativen Deutung der Vielfalt historischer und gegenwärtiger Feiern von Umkehr und Versöhnung im Zuge ihrer jüngsten Erneuerung in der römisch-katholischen Kirche kann genauso als Phänomen der Sorge um Macht- und Kontrollverlust verstanden werden wie Anliegen von Macht und Kontrolle schon die Einführung der Beichtpflicht am 4. Laterankonzil im Kontext der Bekämpfung mittelalterlicher Armutsbewegungen mitbestimmt haben103 und seither zum Erbgut katholischer Bußpraxis gehören.104 Gerade weil es auf die komplexen und abgründigen Fragen menschlichen Lebens keine einfachen Antworten gibt, eröffnet freilich der Blick in die Bußgeschichte nicht nur eine Vielfalt von Problemen, sondern auch von Ansätzen zu ihrer Bewältigung.
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S.o. Anm. 39. Die Erforschung historischer Beichterfahrungen ist vermutlich weitgehend terra incognita; vgl. Lurz, Liturgie (s.o. Anm. 71), sowie exemplarische Fallstudien bei Behrens, Scham (s.o. Anm. 97). Zur Zeitgeschichte vgl. nach Konrad Baumgartner, Erfahrungen mit dem Bußsakrament. 1: Berichte, Analysen, Probleme; 2: Theologische Beiträge zu Einzelfragen, München 1978–1979, z.B. Rupert M. Scheule (Hg.), Beichten. Autobiographische Zeugnisse zur katholischen Bußpraxis im 20. Jahrhundert (Damit es nicht verlorengeht … 48), Wien 2001; ders., Beichte und Selbstreflexion. Eine Sozialgeschichte katholischer Bußpraxis im 20. Jahrhundert, Frankfurt 2002; Juliane Reus, Kinderbeichte im 20. Jahrhundert. Pastoralgeschichtliche Untersuchung zum Wandel der Erstbeichtvorbereitung in Deutschland (STPS 78), Würzburg 2009, sowie etliche Beiträge zu Demel/Pfleger (Hgg.), Sakrament (s.o. Anm. 44).
Antike Bußvorstellungen im Briefkorpus des Gregor von Nyssa – das gefühlspolitische Agieren Gregors in epistula 1 Sarah-Magdalena Kingreen (Berlin)
Vorstellungen zur Buße wurden im Christentum der Spätantike in Normen und canones festgeschrieben;1 doch auch jenseits davon wurde die Buße thematisiert und beispielsweise als Korrektiv für das bischöfliche Verhalten herangezogen. Eine solche Perspektive bezeugen Gregor von Nyssas Schilderungen und sein Agieren in seinem als Brief 1 gezählten Schreiben an Bischof Flavian von Antiochia. Um über Gregor von Nyssas Bußvorstellungen in seinem Briefkorpus sprechen zu können, ist zunächst zu klären, wie der Kappadokier in seinen Briefen Sünde definiert. Sie ist für ihn „jede seelische Krankheit“ (πᾶν ἀρρώστημα ψυχικόν).2 Mit diesem medizinalen Verständnis, das in der Analogie zu einer körperlichen Krankheit gründet, steht Gregor ganz in der Tradition von Tertullian, Origenes, Basilius oder Gregor von Nazianz.3 Entsprechend der Möglichkeit zur Heilung einer körperlichen Krankheit charakterisiert auch die seelische Krankheit, dass sie geheilt werden kann (θεραπευείη).4 Es bedarf lediglich die Auswahl und Wirkung der richtigen Medizin. Um diese soll es im Folgenden gehen.
Zu nennen ist hier bereits der Hirt des Hermas, den Ekkehard Mühlenberg auch als „eine Art Musterbuch“ (Ekkehard Mühlenberg, Der kanonische Brief Gregors von Nyssa und sein Ort im Bußwesen der Alten Kirche, in: Beate R. Suchla [Hg.], Von Homer bis Landino. Beiträge zur Antike und Spätantike sowie zu deren Rezeptionsund Wirkungsgeschichte. Festgabe für Antonie Wlosok zum 80. Geburtstag, Berlin 2011, 207–242) klassifiziert, aber auch die später kanonisch gewordenen Briefe des Basilius (epistulae canonicae) sowie der hier zu besprechende Brief Gregor von Nyssas. 2 Greg. Nys., ep. can. (GNO III/5, 1,6 Mühlenberg). 3 Vgl. dazu Michael Dörnemann, Krankheit und Heilung in der Theologie der frühen Kirchenväter (STAC 20), Tübingen 2003, bes. 161–273. 4 Greg. Nys., ep. can. (GNO III/5, 1,6 Mühlenberg). 1
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An mehreren Stellen legt Gregor sein Verständnis zur Sünde und der darauffolgenden Bußmöglichkeit dar. Eindrücklich skizziert er seine medizinale Auffassung in der sog. epistula canonica, dem A ntwortschreiben an Bischof Letoius von Melitene, dem Metropoliten von Armenia minor und Nachfolger von Bischof Otreius, mit dem Gregor in sehr freundschaftlichem Austausch stand.5 Ich werde im Folgenden kurz Gregors Verständnis von Sünde und Buße anhand der epistula canonica nachzeichnen, um dann auf einen Vorfall zu sprechen zu kommen, den Gregor als Bischof erlebt und in einem Brief eindrücklich schildert. Hier erfährt er eine Behandlung seiner Person, auf die er emotional reagiert beziehungsweise auf die er retrospektiv seinem Adressaten in seinem Brief Gefühlsreaktionen öffentlich zugänglich macht und auch diesen affizieren will. Gregor sieht sich fälschlicherweise als Büßer wahrgenommen und ist irritiert. Auch nach kritischer Selbstreflexion, so wie er sie im Brief schildert, kann er bei sich selbst kein sündhaftes Vergehen feststellen, wie es ihm durch sein Gegenüber suggeriert wird. Vielmehr führt ihn diese Selbstwahrnehmung zur Diagnose, dass es sein Gegenüber ist, der infiziert ist, aber keinen Anlass zur Buße sieht. Dieses politisch heikle Thema – schließlich ist sein Gegenüber niemand anderes als sein eigener Metropolit Helladius von Caesarea –, das sich ihm gefühlsevident erschlossen hat, führt er nun selbst in einer öffentlichen Auseinandersetzung, in der er Gefühle zur Argumentation einsetzt. Mit „Gefühlspolitik“6 will er seinen Adressaten, Bischof Flavian von Antiochia, zum Handeln bewegen.
An Otreius verfasste Gregor die beiden Briefe 10 und 18, die er vermutlich in umgekehrter Reihenfolge Ende der 370er Jahre an jenen Bischof schrieb, um diesen darum zu bitten, (brieflichen) Kontakt zu ihm in seiner Situation zu halten, bei der er sich wie „im Krieg“ (ἐν πολέμοις, 18,5 [SC 363, 236,36 Maraval]) fühlt. 6 Zum Terminus vgl. unten Anm. 79. 5
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1. Buße als therapeutisches Moment Zunächst zur medizinalen Auffassung von Sünde und Buße in der epistula canonica:7 Anlässlich eines Osterfestes8 – auf jeden Fall nach 381 n. Chr.9 – reagiert Gregor auf eine Frage des Bischofskollegen von Melitene zu kirchlichen Regelungen zur Buße. Er bietet ihm in acht canones Anwendungsbeispiele für einzelne Sünden. Doch zuerst – und das scheint mir für vorliegende Fragestellung sehr interessant – legt er sein eigenes Verständnis der kirchlichen Bußpraxis dar. Dies ist in seinen Augen nämlich nicht nur ein Abfertigen vorgegebener gesetzlicher Entscheidungen. Vielmehr betont Gregor die seelsorgerliche, die person-zugewandte Dimension. Ganz im Sinne des Hippokrates10 hebt Gregor hervor, wie wichtig es ist, die Krankheit der Seele genau zu diagnostizieren und die für diese Krankheit angemessene Behandlung zu identifizieren. So wie es für die „körperliche Therapie“ (ἐπὶ τῆς σωματικῆς θεραπεὶας)11 verschiedene Heilungsmethoden gibt, muss der Arzt auch „für die Vielfalt der Leiden in der Erkrankung der Seele“ (ἐν τῇ ψυχικῇ νόσῳ τῆς τῶν παθῶν Dieser Brief Gregors ist aufgrund seiner Überlieferungssituation nicht in der Briefsammlung Gregors ediert (vgl. Grégoire de Nysse, Lettres. Introduction, Texte critique, Traduction, Notes et Index, par Pierre Maraval [SC 363], Paris 1990, 77). Anna Silvas bietet den Brief als Supplement in ihrer Übersetzungsausgabe (Anna Silvas, Gregory of Nyssa: The Letters. Introduction, Translation and Commentary [VigChr. Supl. 83], Leiden/Boston 2007, 211–225). Vorliegendes Schreiben Gregors an Bischof Letoius ist in über 150 Handschriften lediglich im Korpus des griechischen kanonischen Gesetzes überliefert (vgl. dazu Gregorii Nysseni Epistula Canonica. Opera Dogmatica Minora, Pars V, ed. Ekkehardus Mühlenberg [GNO III/5], Leiden/ Boston 2008, IX–CLIII; ders., Kirchenväter und kaiserliches Recht. Das Beispiel der Epistula canonica Gregors von Nyssa, in: Uta Heil/Jörg Ulrich [Hgg.], Kirche und Kaiser in Antike und Spätantike, Festschrift für Hanns Christof Brennecke zum 70. Geburtstag [AKG 136], Berlin 2017, 190–201). Die Einleitung muss als verloren angesehen werden (vgl. auch Silvas, Gregory of Nyssa, 213); Mühlenberg ordnet die ep. can. als „Traktat“ ein, den Gregor „als Ostergabe“ an Bischof Letoius sandte (ders., Kirchenväter und kaiserliches Recht, 180). 8 Im erhaltenen Eingang des Briefes charakterisiert Gregor das Osterfest als „Fest der Schöpfung“ (αὔτη τῆς κτίσεως ἑορτή; ep. can. [GNO III/5, 1,7f. Mühlenberg]) und als ein Fest, die „Auferstehung des Gefallenen“ (ἐπὶ τῇ ἀναστάσει τοῦ πεπτωκότος; [1,9]), also des Sünders (πτῶσις δὲ ἐστιν ἡ ἁμαρτία, ἀνάστασις δὲ ἡ ἐκ τοῦ πτώματος τῆς ἁμαρτίας ἀνόρθωσις; [1,10f.]) zu feiern. 9 Zur Datierung vgl. Anm. 31. 10 Vgl. dazu Dörnemann, Krankheit und Heilung (s.o. Anm. 2), 265, Anm. 480 mit Verweis auf Hipp., Nat. Hom. 9. 11 Greg. Nys., ep. can. (GNO III/5, 1,20 Mühlenberg). 7
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ποικιλίας)12 die wirkungsvolle Heilungsmethode (τεχνικὴ μέθοδος)13 herausfinden. Diese bemisst sich am Leiden der Person, das behandelt werden muss (πρὸς λόγον τοῦ πάθους ἐνεργοῦσα τὴν ἴασιν).14 Gregor betont, dass eine reine Symptom-Behandlung keinen langfristigen Effekt erzielen wird und die Heilungsmethode den wirklichen Grund der Krankheit und damit die Person selbst treffen muss.15 Die Behandlung hat daher die Entwicklung der Person, die gesündigt hat und geheilt werden muss, in den Blick zu nehmen. Der Arzt beziehungsweise hier der Bischof – Gregor schreibt: derjenige, der „die kirchliche Ordnung verwaltet“ (παρὰ τοῦ οἰκονομοῦντος τὴν ἐκκλεσίαν)16 –, muss den Heilungsfortschritt und -zustand prüfen und beurteilen. Diese innere Haltung des Büßenden kann nach Gregor zweifach sichtbar werden: Einerseits leite das freiwillige, aus intrinsischer Motivation formulierte Eingeständnis des Büßenden den Heilungsprozess ein.17 Andererseits würde an der Lebensführung selbst erkennbar, wieweit die Umkehr fortgeschritten sei.18 Die Bußzeit allein sei keine Garantie für einen Greg. Nys., ep. can. (GNO III/5, 1,24 Mühlenberg). Greg. Nys., ep. can. (GNO III/5, 2,2 Mühlenberg). Sandra Leuenberger-Wenger betont, dass Gregor von Nyssa in seinen ethischen Ausführungen neben die Heilung das Moment der Erziehung stellt (vgl. Sandra Leuenberger-Wenger, Ethik und christliche Identität bei Gregor von Nyssa [STAC 49], Tübingen 2008, 285–315). 14 Greg. Nys., ep. can. (GNO III/5, 2,1f. Mühlenberg). 15 Vgl. auch Greg. Nys., ep. can. (GNO III/5, 2,9–13 Mühlenberg). 16 Greg. Nys., ep. can. 4 (GNO III/5, 8,20 Mühlenberg), vgl. auch GNO III/5, 7,3; 12,1. Friedhelm Mann übersetzt im Lexicon Gregorianum (Bd. VI, Leiden/Boston 2007) οἰκονόμος in ep. can. unbestimmter als „Verwalter der göttlichen Geheimnisse, der Entscheidungsbevollmächtigte im Zusammenhang mit der Bußdisziplin“. Allerdings wird damit vermutlich konkret der Bischof gemeint sein (so auch Mühlenberg, Der kanonische Brief [s.o., Anm. 1], 241). 17 Vgl. z.B. Gregors Aussagen zur Genusssucht in ep. can. 3 (GNO III/5, 6,15–19 Mühlenberg): ὁ μὲν γὰρ ἀφ᾽ ἑαυτοῦ πρὸς τὴν ἐξαγόρευσιν τῆς ἁμαρτίας ὁρμήσας αὐτῷ τῷ καταδέξασθαι δι᾽ οἰκείας ὁρμῆς γενέσθαι τῶν κρυφίων κατήγορος, ὡς ἤδη τῆς θεραπείας τοῦ πάθους ἀρξάμενος καὶ σημεῖον τῆς πρὸς τὸ κρεῖττον μεταβολῆς ἐπιδειξάμενος, …. Gregor rekurriert auch im Kontext des Diebstahls auf das freiwillige Bekenntnis vor einem Geistlichen (ὁ ἱερεύς), sodass der Heilungsprozess eingeleitet wird (vgl. Greg. Nys., ep. can. 6 [GNO III/5, 11,6–8 Mühlenberg]). Inwiefern das öffentliche Bekenntnis der Sünde ein Schamgefühl in der Seele hervorruft, diskutiert Gregor in seiner Predigt eccl. or. 3: ἣ τὸ τῆς αἰσχύνης ἐμποιεῖ τῇ ψυχῇ πάθος διὰ τῆς τῶν ἀτόπων ἐξαγορεύσεως (GNO V, 315,11f. Alexander; vgl. auch die Funktionszuschreibung: ὡς ἐπὶ φυλακῇ τῶν πλημμελημάτων τῆς τοιαύτης διαθέσεως ἐγγινομένης τῇ φύσει [316,15–317,1]). 18 Greg. Nys, ep. can. 3 (GNO III/5, 7,1–3 Mühlenberg): ἐπὶ δὲ τῶν σπουδαιότερον κεχρημένων τῇ ἐπιστροφῇ καὶ τῷ βίῳ δεικνύντων τὴν πρὸς τὸ ἀγαθὸν ἐπάνοδον … 12 13
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eilungsfortschritt, es müsse die Sinnesänderung beachtet werden.19 H Zugleich sind es die Bußfristen und -disziplin, die dabei als Mittel zum Zweck – als Heilmittel – herangezogen werden müssen, um Sünden, die „Krankheiten der Seele“, zu heilen. Gregor klassifiziert verschiedene solche Krankheiten der Seele und folgt dabei der platonischen Differenzierung der Seele in einen „vernunfthaften“ (τὸ λογικόν), einen „begehrenden“ (τὸ ἐπιθυμητικόν) und einen „leidenschaftlichen“ Teil (τὸ θυμοειδές).20 Für alle Teile der Seele bestimmt er „die rechtschaffene Leistung“ (τὸ κατόρθωμα) sowie „das Fehlverhalten“ (τὸ πτῶμα).21 Beispielsweise gilt es als trefflich, mit einer frommen Haltung im Leben zu stehen, sich dem wahrhaft Begehrenswerten zuzuwenden, ethisch ‚richtig‘ zwischen dem Schönen und Schlechten zu unterscheiden und sich von der Sünde und damit auch von Gefühlen wie z.B. Hass, Wut, Eifersucht abzuwenden.22 Vgl. z.B. Greg. Nys., ep. can. 8 (GNO III/5, 12,11–14 Mühlenberg): … οἵα ἐστὶν ἡ τοῦ θεραπευομένου διάθεσις, μὴ τὸν χρόνον οἴεσθαι πρὸς θεραπείαν ἀρκεῖν (τίς γὰρ ἂν ἐκ τοῦ χρόνου ἴασις γένοιτο;) ἀλλὰ τὴν προαίρεσιν τοῦ ἑαυτὸν δι᾽ ἐπιστροφῆς ἰατρεύοντος. In seiner Homilie zu Ps 6 beschreibt Gregor zudem das Moment der Reue eindrücklich, vgl. dazu Mühlenberg, Kirchenväter und kaiserliches Recht (s.o. Anm. 6), 183–186. Darin ist durchaus ein Moment der Erkennbarkeit für andere gegeben. Allerdings nimmt auch Gregor die Realität wahr und klagt beispielsweise in seiner Predigt Adversus eos qui castigationes aegre ferunt über die fehlende Reue bei vielen, die gesündigt haben (vgl. GNO X/2 Teske). 20 Greg. Nys., ep. can. (GNO III/5, 2,5 Mühlenberg). 21 Greg. Nys., ep. can. (GNO III/5, 2,6 Mühlenberg). 22 So besteht die rechtschaffene Leistung des vernunfthaften Seelenteils „in einer frommen Vorstellung über das Göttliche und das Wissen, über das Schöne und über das Schlechte zu unterscheiden“ (Κατόρθωμα μὲν τοῦ λογιστικοῦ τῆς ψυχῆς μέρους ἐστὶν ἡ εὐσεβὴς περὶ τὸ θεῖον ὑπόληψις καὶ ἡ τοῦ καλοῦ τε καὶ κακοῦ διακριτικὴ ἐπιστήμη καὶ ἡ τρανήν τε καὶ ἀσύγχυτον ἒχουσα περὶ τῆς φύσεως τῶν ὑποκειμένων τὴν δόξαν, τί μέν ἐστιν αἱρετὸν ἐν τοῖς οὖσιν, τι δὲ βδελυκτὸν καὶ ἀπόβλητον. Greg. Nys., ep. can. [GNO III/5, 2,25–3,2 Mühlenberg]). Dahingegen zeige sich das Fehlverhalten des λογικόν in „Gottlosigkeit“ (ἀσέβεια [3,4]), einem „Fehlurteil über das wahrhaft Schöne“ (ἀκρισία δὲ περὶ τὸ ὂντως καλόν [3,4]) und überhaupt in einer „verworrenen und irrenden Konzeption von der Natur der Dinge“ (ἐνηλλαγμένη δὲ καὶ ἐσφαλμένη ἡ περὶ τὴν τῶν πραγμάτων φύσιν ὑπόληψις [3,5f.]). Das ἐπιθυμητικόν sei „die Bewegung zum wirklich Begehrenswerten und zum wahrhaft Schönen“ (Τοῦ δὲ ἐπιθυμητικοῦ μέρους ἡ μὲν ἐνάρετός ἐστι κίνησις τὸ πρὸς τὸ ὄντως ἐπιθυμητὸν καὶ ἀληθῶς καλὸν ἀνάγεσθαι τὸν πόθον [3,7f.]), sodass die „Abkehr und Sünde“ in der fehlgeleiteten Adressierung des Verlangens bestehe; Gregor führt hier an: „substanzlose Eitelkeit“ (ἀνυπόστατον κενοδοξίαν [3,13]), eine rein „äußerliche Blüte in Körpern“ (ἐπικεχρωσμένον τοῖς σώμασιν ἂνθος [3,13]) wie z.B. „Geldgier“ (ἡ φιλοχρηματία [3,14]), „Ehrsucht“ (ἡ φιλοδοξία [3,14]) oder „Vergnügungssucht“ (ἡ φιληδονία [3,14]). Der leidenschaftliche Teil wiederum zeichnet sich aus durch 19
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In can. 6 kommt Gregor auf die Krankheit der „Habgier“ (ἡ πλεονεξία)23 als „Wurzel allen Übels“ (1Tim 6,10)24 zu sprechen, die – so seine Einschätzung – „von den Vätern übersehen wurde“ (ὅπως ἀθεράπευτον ὑπὸ τῶν πατέρων ἡμῶν περιώφθη)25 und die besonders schlimm sei, weil bei ihr alle drei Seelenteile beteiligt seien.26 Denn der vernunfthafte Teil würde das Schöne in irdisch-materiellen Dingen suchen, der begehrende würde sich hinunter neigen, weg von dem, was es wert ist, zu ersehnen, und auch der „kampfeslustige und leidenschaftliche Teil“ finde viele Möglichkeiten zum Sündigen.27 Gregor diagnostiziert nun, dass diese „Krankheit“ (ἀρρώστημα)28 gegenwärtig in der Kirche „großen Erfolg habe“ (πλεονάζει)29 und zwar gerade auch im Klerus. Die Therapieform dieses Leidens sieht er „in öffentlicher Lehre“ (τῷ δημοσίῳ τῆς διδασκαλίας λόγῳ),30 „wenn es irgend möglich ist“ sollten „die habgierigen Krankheiten durch das reinigende Wort“ geheilt werden.31
„Hass auf das Böse“ (ἡ πρὸς τὸ κακὸν ἀπέχθεια [3,16]) und „Kampf gegen die Affekte“ (ὁ πρὸς τὰ πάθη πόλεμος [3,17]) und der Abfall dieses Teils wird in „Eifersucht, Hass, Wut, Beleidigungen, Zänkereien“ (ὁ φθόνος, τὸ μῖσος, ἡ μῆνις, αἱ λοιδορίαι, αἱ συμπλοκαί [3,23f.]), sowie insgesamt „konflikthaften und abwehrenden Einstellungen gegenüber anderen Personen“ (αἱ ἐμφιλόνεικοί τε καὶ ἀμυντικαὶ διαθέσεις [3,24f.]) sichtbar. 23 Greg. Nys., ep. can. 6 (GNO III/5, 9,18f.; 10,3 Mühlenberg). 24 Vgl. Greg. Nys., ep. can. 6 (GNO III/5, 10,4f.): Ῥίζαν πάντων τῶν κακῶν. 25 Greg. Nys., ep. can. (GNO III/5, 9,19f. Mühlenberg). Mühlenberg belegt, dass Gregors Einschätzung über die fehlende Behandlung der Habgier stimmt (vgl. ders., Kirchenväter und kaiserliches Recht [s.o. Anm. 6], 188). 26 Greg. Nys., ep. can. (GNO III/5, 9,20f. Mühlenberg): καίτοι γε δοκεῖ τὸ τοιοῦτον κακὸν τῆς τριττῆς ἐν τῇ ψυχῇ καταστάσεως πάθος εἶναι. 27 Vgl. Greg. Nys., ep. can. (GNO, III/5 9,21–10,2 Mühlenberg): καὶ γὰρ ὁ λογισμὸς τῆς τοῦ καλοῦ κρίσεως ἁμαρτάνων ἐν τῇ ὕλῃ τὸ καλὸν εἶναι φαντάζεται, οὐ πρὸς τὸ ἄϋλον ἀναβλέπων κάλλος, καὶ ἡ ἐπιθυμία πρὸς τὰ κάτω ῥεῖ τοῦ ἀληθῶς ὀρεκτοῦ ἀπορρέουσα καὶ ἡ φιλόνεικός τε καὶ θυμώδης διάθεσις πολλὰς ἐκ τῆς τοιαύτης ἁμαρτίας τὰς ἀφορμὰς λαμβάνει. 28 Greg. Nys., ep. can. (GNO III/5, 10,7 Mühlenberg). 29 Greg. Nys., ep. can. (GNO III/5, 10,6 Mühlenberg). 30 Greg. Nys., ep. can. (GNO III/5, 10,10 Mühlenberg). 31 Greg. Nys., ep. can. (GNO III/5, 10,10–12 Mühlenberg): ὅπως ἂν οἷόν τε ᾖ, θεραπεύειν ὥσπερ τινὰ πάθη πληθωρικὰ τὰς πλεονεκτικὰς ἀρρωστίας διά τοῦ λόγου καθαίροντος.
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2. Die Episode „Gregor und Helladius“ – Zuschreibung, Büßer zu sein
eine gegenseitige
Gregors Anspielung auf den erkrankten Klerus hat Anhalt in seiner erlebten Realität. Vor allem in zwei Briefen taktiert Gregor gefühlspolitisch, um das Handeln seines Bischofskollegen und – als Metropolit von Caesarea in Kappadokien – seines vorgesetzten Bischofs zu unterminieren. Beide sind im ähnlichen Zeitraum wie die epistula canonica anzusetzen, auf jeden Fall nach 381 n. Chr.32 Eine eindeutige Datierung der Briefe ist nicht möglich. Das Konzil von 381 n. Chr. ist allerdings als terminus post quem anzunehmen: Gregor, Helladius und Otreius wurden dort gemeinsam beauftragt, die Einhaltung des rechten Glaubens zu kontrollieren (vgl. Cod. Theod. 16,1,13 sowie Gregors Rekurs in ep. 1,31). Einerseits ist Otreius also erst nach diesem Ereignis verstorben und Letoius als sein Nachfolger initiiert worden, andererseits war auf jenem Konzil Nikomedien vermutlich noch durch den Vorgänger des in ep. 17,2 als jüngst verstorben beklagten Bischofs Patrikius, mit Namen Euphrasius, vertreten. Offen bleibt, wann genau und in welcher Reihenfolge vorliegende Briefe in den späteren 380er Jahren verfasst wurden: Für die ep. can. votiert Mühlenberg für die späteren 380er Jahre (vgl. ders., Kirchenväter und kaiserliches Recht [s.o. Anm. 6], 180) bzw. „in die Jahre um 390 n. Chr.“ (ders., Der Kanonische Brief Gregors [s.o. Anm. 1], 207) und auch Silvas argumentiert mit dem Verweis auf eine gewisse „Reife“ in Sprache und theologischen Gedanken Gregors sowie seinem eigenen Rekurs auf sein hohes Alter für eine Abfassung um 390 n. Chr. herum (vgl. Silvas, Gregory of Nyssa [s.o. Anm. 6], 213). Wann Letoius ins Bischofs amt gekommen ist, ist nicht eindeutig zu bestimmen; allerdings lässt sich Gregors Brief, mit dem er den jungen Kollegen inhaltlich unterstützt, zeitnah an dieses Ereignis datieren. Ein weiterer Hinweis für eine zeitliche Nähe der Personen bietet Theodoret (h. e. 4,10), der davon zu berichten weiß, dass Letoius gemeinsam mit Flavian von Antiochien, dem Adressaten von Gregors ep. 1, gegen Messalianische Gedanken kämpfte. In die gleiche Spanne der früheren bis späteren 380er Jahre lässt sich die Abfassung von Brief 1 einordnen; für vorliegende These wird eine zeitliche Nähe zueinander vorausgesetzt. Ep. 1,31 bietet mit einem Bezug auf das Konzil 381 n. Chr. einen terminus post quem; Reinhart Staats plädiert für eine spätere Abfassung um 390 n. Chr. Hierzu verweist er auf fehlende Hinweise für eine frühere Datierung, auf das Alter Gregors und auf das Totengedenken für einen Peter von Sebaste (ep. 1,5). Staats identifiziert diesen als Gregor Bruder, dessen Tod er auf nach 390 datiert (zur Diskussion in der Forschung vgl. auch Gregor von Nyssa, Briefe. Eingeleitet, übersetzt und erläutert von Dörte Teske [BGL 43], Stuttgart 1997, 94, Anm. 4). Vgl. Reinhart Staats, Gregor von Nyssa und das Bischofsamt, in: ZKG 84 (1973), 149–173, hier 152f., Anm. 8. Silvas argumentiert hingegen für eine Abfassung um 383 mit einem Hinweis auf eine zeitliche Nähe zur Ersten Homilie für die 40 Märtyrer (vgl. Silvas, Gregory of Nyssa, 106). Als terminus ante quem gilt das angenommene Todesdatum von Helladius und Gregor 394 n. Chr. Ähnlich unsicher verhält sich die Datierung von ep. 17: Wenn der genannte jüngst verstorbene Vorgänger (ep. 17,2) einige Zeit
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So versucht Gregor in seinem Brief an die Presbyter in Nikomedien (gezählt als Brief 17) gegen das Handeln von Helladius von Caesarea zu agieren und – erfolglos – dessen Protegé Gerontius zu verhindern.33 In dem Schreiben legt er die (Charakter-)Eigenschaften, die ein guter Bischof aus seiner Sicht mitbringen müsse, dar. Das wichtigste Charakteristikum sei die Konzentriertheit auf Gott,34 dazu kommen fachliche Kompetenz und Führungsstärke; denn so wie derjenige als Kapitän das Schiff steuert, der sich darauf versteht, soll auch die Kirche keinen Schiffbruch aufgrund der Unerfahrenheit des Lenkers erleiden.35 Als persönliche Charaktereigenschaften führt Gregor an: Bescheidenheit, „sanft im Charakter, maßvoll, die Gewinnsucht beherrschend, weise in göttlichen Dingen und im Verhalten tüchtig und menschlich“.36 Diese Charakterisierung wird interessant, wenn man sie neben diejenige legt, die Gregor in dem als ep. 1 gezählten Brief über sein Gegenüber Helladius trifft. Brief 1 wurde aufgrund seiner Überlieferungssituation lange Gregor von Nazianz zugeschrieben, mittlerweile ist die Autorschaft von Gregor von Nyssa aber unstrittig.37 Gregor adressiert Brief 1 an den qua Amt machtvolleren Bischof Flavian von Antiochia, um diesen vor Helladius’ Agieren zu warnen; er bittet ihn eindringlich – und nicht ohne Vorwurf – nun endlich selbst bei dem „um sich greifenden Feuer“ (νεμομένην ἐν τῇ γειτονίᾳ τὴν φλόγα)38 in seiner Nachbarschaft aktiv zu werden. Dabei unterstreicht Gregor in der Ansprache seines Adressaten dessen Frömmigkeit und Nähe zu Gott, wenn er ihn im Amt gewesen sein soll, ist dieser Brief ebenfalls später in die 380er Jahre zu datieren (z.B. 385 n. Chr., so Maraval oder 390, so Staats). 33 Den Namen Gerontius erwähnt Sozomenos, h. e. VIII 6,2. 34 Vgl. Greg. Nys., ep. 17,6 (SC 363, 220,55–57 Maraval): … ὃς ὅλῳ τῷ ὀφθαλμῷ τὰ τοῦ θεοῦ ὄψεται μόνα, πρὸς οὐδὲν τῶν ἐν τῇ ζωῇ σπουδαζομένων μετεωρίζων τὸ ὄμμα. 35 Vgl. Greg. Nys., ep. 17,19f. (SC 363, 226,126–227,134 Maraval): Αἰσχρὸν γάρ, ἀδελφοί, καὶ παντάπασιν ἄτοπον νεὼς μὲν κυβερνήτην μὴ γίνεσθαι εἰ μὴ τῆς κυβερνητικῆς ἐπιστήμων εἴη, τὸν δὲ ἐπὶ τῶν οἰάκων τῆς ἐκκλησίας καθήμενον ἀγνοεῖν ὅπως ἂν τὰς τῶν συμπλεόντων ψυχὰς εἰς τὸν λιμένα τοῦ θεοῦ καθορμίσειε. Πόσα γέγονε δι’ ἀπειρίαν τῶν καθηγουμένων αὔτανδρα τῶν ἐκκλησιῶν ἤδη ναυάγια; τίς ἂν ἐξαριθμήσαιτο τὰ ἐν ὀφθαλμοῖς κακὰ μὴ ἂν συμβάντα εἴ τις ἦν που ἐν τοῖς καθηγουμένοις. κυβερνητικὴ ἐμπειρία; 36 Greg. Nys., ep. 17,25 (SC 363, 228,155–158 Maraval): ἆρα δυνατὸν ταπεινόφρονα γενέσθαι καὶ κατεσταλμένον τῷ ἤθει καὶ μέτριον καὶ φιλοκερδείας κρείττονα καὶ τὰ θεῖα σοφὸν καὶ πεπαιδευμένον τὴν ἐν τοῖς τρόποις ἀρετήν τε καὶ ἐπιείκειαν, ταῦτα ἐν τῷ διδασκάλῳ μὴ βλέποντα; 37 Vgl. dazu Grégoire de Nysse, Lettres (s.o. Anm. 6), 53–55. 38 Greg. Nys., ep. 1,2 (SC 363, 82,6f. Maraval).
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als „Mann Gottes“ (ὦ ἄνθρωπε τοῦ θεοῦ)39 anspricht oder „Deine Frömmigkeit“ (τὴν σὴν θεοσέβειαν)40 hervorhebt. Die in ep. 17 von ihm als wichtigste Eigenschaft eines Bischofs herausgestellte Nähe zu Gott und Frömmigkeit funktionalisiert Gregor hier in der Ansprache seines Adressaten, um auch darin die Differenz zwischen den drei bischöflichen Personen zu markieren. Gregor nimmt Flavian in seinem Brief rhetorisch äußerst geschickt mit auf eine Bühne, auf der zwei Bischöfe, Helladius und Gregor, miteinander agieren. Er kündigt Flavian an, eine „Tragödie“ (τραγῳδία)41 zu sehen, die sich in den einzelnen Szenen schnell zu einem „peinlichen Schauspiel“ (ἄκαιρον θέαμα)42 entpuppen wird. Eindrücklich schildert Gregor, wie er die Begegnung mit Helladius am Tag des Festes der Märtyrer (1,24) erlebt hat und welch hochmütige Haltung ihm als Person gegenüber er bei Helladius wahrnimmt. 2.1. Gregor, der Büßende und seine emotionalen Reaktionen Mehr noch, Gregor skizziert seine Erfahrungen so, als wenn Helladius ihn wie jemanden behandelt, der Buße tun muss; jemanden, dem aufgrund seiner Verfehlungen keine anständige, keine höfliche und keine bischöfliche Behandlung zukommen würde. Während Gregor „ohne Aufschub“ (μηδεμιᾶς δὲ γενομένης ἀναβολῆς)43 und „schnell“ (τάχυς)44 zu Helladius eilt, lässt dieser ihn warten: eine lange Zeit, in der Mittagshitze, draußen, der Öffentlichkeit zur Lächerlichkeit ausgesetzt,45 ohne Anstalten zur geringsten Gastfreundschaft. Und als es endlich zur Begegnung der beiden Männer kommt – Gregor lässt die Spannungskurve in seinem Brief ganz allmählich steigen – verwehrt Helladius Gregor erneut sämtliche angemessenen und höflichen Begegnungsformen. Gregor fühlt sich wie ein am Boden Liegender und fragt rhetorisch: „Von woher ist er herabgestiegen und wo liege ich?“ (τῷ πόθεν καταβεβηκότι ὁ ποῦ κείμενος).46 Und er glaubt, dass Helladius ihn „noch nicht einmal wie einen Leprakranken 41 42 43 44 45 46 39 40
Greg. Nys., ep. 1,1 (SC 363, 82,1 Maraval). Greg. Nys., ep. 1,5 (SC 363, 84,26 Maraval). Greg. Nys., ep. 1,3 (SC 363, 84,17 Maraval). Greg. Nys., ep. 1,10 (SC 363, 90,61 Maraval). Greg. Nys., ep. 1,9 (SC 363, 88,54 Maraval). Greg. Nys., ep. 1,9 (SC 363, 90,57 Maraval). Vgl. die Schilderungen in Greg. Nys., ep. 1,10. Greg. Nys., ep. 1,17 (SC 363, 94,120 Maraval).
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einschätzt“ (ἐγὼ δὲ οὐδὲ ἀντὶ λεπροῦ ἐλογίσθην).47 Flavian gegenüber macht Gregor deutlich, wie es ihm selbst mit dieser persönlichen Begegnung – oder vielleicht eher: verweigerten Begegnung – geht. Da sind zum einen seine emotionalen Reaktionen, die Gregor in der retrospektiven Sicht seinem Adressaten gegenüber sichtbar macht (unabhängig von der Frage, ob dies seine realen Gefühle waren): Angesichts der Erniedrigung auf verschiedenen Ebenen (körperlich: in der Mittagshitze, durch den Regenerguss auf dem Rückweg, ausbleibende Angebote zur Stärkung und Erholung; aber auch persönlich: keine Anerkennung als Bischofskollegen durch Begegnung auf Augenhöhe oder auch Einladung zum Mitfeiern des Gedenkfestes) zeigt sich Gregor als jemand, der sich ärgert – über seine Offenheit für dieses Treffen, seine Mühen und Strapazen, die er dafür auf sich genommen hat, aber auch für seine Hoffnung, die er in die persönliche Begegnung mit Helladius gelegt hat; er ist enttäuscht und „bereut“ seinen Schritt (πολλὰ μεταμεληθείς).48 Retrospektiv verankert er die Reue bereits vor der eigentlichen physischen Begegnung mit Helladius (1,11), also im Reflexionsmoment zwischen dem Warten in der Mittagshitze und dem Eingelassenwerden ins Allerheiligste. Gregor weist sich selbst „die Schuld an jener ehrlosen Behandlung“ (τῆς ἀτιμίας ἐκείνης παρασχὼν τὴν αἰτίαν)49 zu und wird „von seinen Gedanken“ regelrecht „gequält“ (ὁ ἐμός με λογισμὸς ἠνία).50 Sein Ärger über das Agieren von Helladius steigert sich dahingehend, dass Gregor zunächst seine Handlungsunfähigkeit herausstellt: Rückblickend deutet er seine Reaktion so, dass er sogar „im Denken erstarrt ist“ (ἐναποπαγεὶς τὴν διάνοιαν).51 Er fühlt sich „gefangen“ und von Helladius grundlos „bestraft“,52 der Situation ausgeliefert und verachtet.53 Hier markiert Gregor zum anderen das Moment, das ihn angesichts der Behandlung seiner Person irritiert und zum Schreiben an Flavian veranlasst: Gregor schreibt, dass er während der Begegnung mit Helladius „verwirrt“ Greg. Nys., ep. 1,16 (SC 363, 94,118f. Maraval). Greg. Nys., ep. 1,11 (SC 363, 90,69f. Maraval). 49 Greg. Nys., ep. 1,11 (SC 363, 90,70f. Maraval). 50 Greg. Nys., ep. 1,11 (SC 363, 90,72 Maraval). 51 Greg. Nys., ep. 1,13 (SC 363, 92,88 Maraval). 52 Greg. Nys., ep. 1,15 (SC 363, 92,101–94,103 Maraval): ἐμοὶ ᾄδης ἢ δεσμωτήριον ἀφεγγὲς ἢ ἄλλο τι σκυθρωπὸν κολαστήριον ἐδόκει. 53 Vgl. z.B. Gregors Gegenüberstellung des „guten Erbes der Väter“ und dagegen die „Geschichten“, die Gregor seinen Nachfahren zurücklässt (Greg. Nys., ep. 1,15 [SC 363, 94,103–105 Maraval]: λογιζομένῳ ὅσων ἀγαθῶν ἐγενόμεθα παρὰ τῶν πατέρων ἡμῶν διάδοχοι καὶ οἷα διηγήματα τοῖς μεθ᾽ ἡμᾶς καταλείψομεν.). 47 48
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(διατραπείς)54 Platz nimmt. Bei ihm stellen sich da keine Gefühle der Scham ob einer Handlung ein, die er benennen könnte beziehungsweise benennt. Das freiwillige, intrinsische Bekenntnis, das Gregor in der epistula canonica so stark macht, kann er nicht für sich in Anspruch nehmen. Er ist sich keiner Schuld bewusst, die die erfahrene Behandlung erklären könnte. Vielmehr stellt Gregor sein reines „Gewissen“ heraus (ἡ συνείδησις)55 und weiß sich in der Wahrheit stehend (τὴν ἐν τοῖς πράγμασιν ἀλήθειαν).56 Hypothetisch bedenkt er seine eigene Schuldhaftigkeit und nimmt das Moment der Selbstverfluchung für sich in Anspruch. Sollte er sich etwas (gegen Helladius) zuschulden haben kommen lassen, solle dies für immer unverziehen bleiben.57 Er würde also für immer Sünder ohne Möglichkeit auf Heilung und Buße bleiben, ein Ausgestoßener, ein Abgefallener. Aber – und das ruft er auch seinem Adressaten gegenüber noch einmal in Erinnerung – es gab keinen Prozess gegen Gregor, keine Beweisführung, es wurden keine canones gegen ihn verlesen, kein Urteil eines Bischofs gesprochen.58 Das macht Gregor so sicher, dass die Situation anders zu verstehen ist. Was in der Welt verbreitet wird, seien nicht mehr als Gerüchte.59 2.2. „Krankheit der Überheblichkeit“ – die Leiden des Helladius So kommt Gregor zum Schluss, dass nicht er es ist, der Buße tun muss, sondern dass vielmehr sein Gegenüber, noch unwissentlich, an der „Krankheit der Überheblichkeit“ leide. Hier fällt nun ins Auge, wie Gregor die Handlungen seines Gegenspielers im Schreiben an Flavian beschreibt und bewertet: Helladius Handeln sei angetrieben von „Hochmut“ (ὕβρις)60 – allein das Wort ὕβρις fällt sieben Mal. Er lege eine „Arroganz“ (ὑπερφανία)61 Greg. Nys., ep. 1,12 (SC 363, 92,81 Maraval). Greg. Nys., ep. 1,22 (SC 363, 98,160 Maraval). 56 Greg. Nys., ep. 1,4 (SC 363, 84,21f. Maraval). 57 Vgl. Greg. Nys., ep. 1,22 (SC 363 98,161f. Maraval): εἰ δέ τι κατά σου πέπρακταί μοι, τοῦτο μεῖναι εἰς τὸ διηνεκὲς ἀσυγχώρητον. 58 Vgl. Greg. Nys., ep. 1,28 (SC 363 102,197–203 Maraval): Ἰδοὺ γὰρ ἀληθὲς εἶναι δεδόσθω (λέγω δὲ καθ᾽ ὑπόθεσιν) γεγενῆσθαι παρ᾽ ἐμοῦ τι λυπηρὸν κατ᾽ ἐκείνου. ποῖον συνέστη καθ᾽ ἡμῶν ἐπί τοῖς γενομένοις ἢ ὑπονοουμένοις κριτήριον; τίς ἀπόδειξις τὴν ἀδικίαν ἀπήλεγξεν; τίνες κανόνες καθ᾽ ἡμῶν ἀνεγνώσθησαν ποία ἔννομος ἐπισκόπου ἀπόφασις τὴν καθ᾽ ἡμῶν κρίσιν ἐκύρωσεν; 59 Vgl. z.B. Greg. Nys., ep. 1,2f. 60 Greg. Nys., ep. 1,11.14.26.27.29.34.35 (SC 363, 90,72; 92,99; 100,189; 102,197.205; 104,223.227 Maraval). 61 Greg. Nys., ep. 1,14.19 (SC 363, 92,99; 96,132 Maraval). 54 55
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und „Stolz“ (τῦφος)62 an den Tag, ja, er sei voller „Hass“ (μῖσος),63 sodass er in „feindlicher Gesinnung“ (δυσμενῶς)64 agiere. Zudem sei er „eitel“ (τυφόω),65 „maßlos“ (ἀμέτριος)66 und es fehle ihm an Demut (ταπεινοφροσύνη)67. So konkludiert Gregor, dass Helladius krank sei; er leide an der „Krankheit der Überheblichkeit“ (τύφου νόσον).68 Könnte der Adressat zu Beginn des Briefes noch denken, dass es sich bei der Malaise des Helladius um eine körperliche Krankheit handele, aufgrund derer sich Gregor mitleidig zeigt und daraufhin das von ihm in der nächsten größeren Stadt favorisierte Treffen zu Helladius gegenwärtigen Aufenthaltsort hin verlegt, zu dem sich Gregor unter Strapazen auf den Weg macht, so wird doch im Laufe des Briefes immer deutlicher, dass die „Krankheit“ (ἀρρώστημα in 1,6.18; νόσος in 1,19.35) von Helladius, seelisch zu deuten ist, dass er in Gregors Augen sündigt. Dies markiert Gregor auch terminologisch: Er nutzt in diesem Brief, wie auch in der epistula canonica, die beiden griechischen Termini ἀρρώστημα und νόσος. ἀρρώστημα bezeichnet eher allgemein eine Krankheit oder (moralische) Schwäche,69 während νόσος eine Krankheit, ein Leiden meint, das auch aufgrund der Seele ausgelöst sein kann.70 Im vorliegenden Brief differenziert Gregor ganz in diesem Sinne, wenn er zu Beginn Helladius’ Krankheit als ἀρρώστημα bezeichnet, also allgemein Helladius’ Zustand als schwach markiert, um im Anschluss daran diesen Zustand näherhin als νόσος zu charakterisieren: eine seelische Krankheit, die durch Affekte (πάθος) ausgelöst ist. Ähnlich zeigt sich der Befund in 64 65 66 67 68 69
Greg. Nys., ep. 1,14.19 (SC 363, 92,99; 96,132 Maraval). Greg. Nys., ep. 1,1 (SC 363, 82,3 Maraval). Greg. Nys., ep. 1,4 (SC 363, 84,18 Maraval). Greg. Nys., ep. 1,27 (SC 363, 100,193 Maraval). Greg. Nys., ep. 1,27 (SC 363, 100,193 Maraval). Greg. Nys., ep. 1,16 (SC 363, 94,108 Maraval). Greg. Nys., ep. 1,35 (SC 363, 104,229 Maraval). LSJ, s.v. 247: „illness, sickness, moral infirmity“. Die Einträge im Lexicon Gregorianum (hg. von Friedhelm Mann, Bd. I, Leiden/Boston/Köln 1999, s.v. ἀρρώστημα, 546, sowie s.v. ἀρρωστία, 546f.) zeigen, dass Gregor diesen Terminus verstärkt im allgemeinen Sinn nutzt (21 Verwendungen von ἀρρώστημα bzw. 31 von ἀρρωστία im allgemeinen Sinn stehen 4 bzw. 3 Verwendungen als „psychische Krankheit/ Krankheit der Seele“ sowie 11 bzw. 4 Nennungen in Verbindung mit einzelnen Krankheiten im ethischen Sinn gegenüber). 70 LSJ, s.v. 1181: „sickness, disease, plague, distress, anguish, disease of mind“. Vgl. dazu auch die Einträge von Friedhelm Mann im Lexicon Gregorianum, Bd. VI, Leiden/ Boston 2007, s.v. 605–607: νόσος findet sich vermehrt im ethischen Kontext, insb. im Zusammenhang mit den Krankheiten der πλεονεξία, ἡδονή, ὑπερφανία, τῦφος, θυμός, ὀργή und φθόνος. 62 63
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der terminologischen Wahl in der epistula canonica: Die Klassifikation der folgenden Sünden als πᾶν ἀρρώστημα ψυχικόν zu Beginn des Briefes nennt die thematische Zuordnung des Komplexes – es geht im Folgenden um ein medizinisches Thema. Dementsprechend nutzt Gregor diesen Terminus ἀρρώστημα im weiteren Verlauf eher im allgemeineren Sinn von „Schwäche“,71 während νόσος ausschließlich zur Bezeichnung einer spezifischen seelischen Erkrankung verwendet wird.72 Im Brief an Flavian ist Gregor konsterniert darüber, dass sich das „Motiv“ für die Krankheit nicht erkennen lässt; solche „Affekte“ (πάθος),73 wie er sie bei Helladius wahrnimmt, seien nicht zu rechtfertigen, sondern müssen therapiert werden.74 Gregors Grundlage für die Diagnose von Helladius’ Krankheit – oder eben Sünde – besteht in der Beurteilung von dessen Lebensführung. Stolz, Überheblichkeit, Hochmut. In Verbindung mit dem Wissen um die Umstände, aufgrund derer Gregor Brief 17 an die Presbyter in Nikomedien verfasst, muss noch ergänzt werden: Habgier, aber auch Hass. All diese Eigenschaften, die Gregor bei Helladius wahrnimmt, thematisiert er in der epistula canonica und sieht sie daher auch als heilbar an, wenn denn der Prozess der Buße eingeleitet wird. 3. Die Funktion der Buße und ihr Potential für eine bischöfliche (Selbst-)Korrektur Um dies zu erreichen, schreibt er diesen Brief an Flavian. Gregor sieht sich in seiner bischöflichen Verantwortung gefordert zu handeln, damit sich Helladius „bessert“ (κρείττων), damit dieser „lernt, dass er ein Mensch ist“ (ὡς ἂν μάθοι ἄνθρωπος ὤν) und wie er sich „Gleichgesinnten und Gleichrangigen“ (κατὰ τῶν ὁμοφρόνων τε καὶ ὁμοτίμων) gegen eindschaft“ über zu verhalten habe.75 Er kann die „wurzel- und grundlose F Vgl. z.B. Greg. Nys., ep. can. (GNO III/5, 1,6.22; 2,13f.; 10,7.11; 11,8 Mühlenberg). 72 Vgl. Greg. Nys., ep. can. (GNO III/5, 1,22; 2,8.13; 10,3.5; 11,10; 12,8). Dass er einzig die Krankheit der Habgier mit beiden Begrifflichkeiten bezeichnet, ließe sich auch als Varianz werten (vgl. ἀρρώστημα in GNO III/5, 10,11; νόσος in 10,3.5; 11,10). 73 Greg. Nys., ep. 1,19 (SC 363, 96,135 Maraval). 74 Motive wären für ihn Herkunft, Erziehung oder eine überragende Stellung, vgl. Greg. Nys., ep. 1,19. 75 Greg. Nys., ep. 1,27 (SC 363, 100,195–102,197 Maraval). 71
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(τὴν ἄρριζόν τε καὶ ἀφύτευτον ταύτην δυσμένειαν) nicht weiter „ohne Behandlung übersehen“ (μὴ περιιδεῖν ἀθεράπευτον).76 Gregor markiert das hierarchiekritische Potential der Buße. Zu Beginn des Briefes bezeichnet Gregor Helladius als „ehrwürdig“ (αἰδεσιμώτατος).77 Gregors Kritik und eigenes Agieren zielt also auf die Handlungsebene, nicht auf die Person. Es sind die Handlungen der Person, für die sie prinzipiell zur Buße herangezogen werden soll, das gilt auch für die Leitungsperson. Im Sinne der Anweisungen in der epistula canonica besteht sein Agieren darin, die Krankheit beim Gegenüber anzuerkennen – besser noch wäre eine Selbsterkenntnis78 – und die richtige Behandlung zu identifizieren. Die Bußverweigerung bei Helladius bildet für Gregor letztlich den Indikator, um diesen öffentlich – im Schreiben an Flavian – als nicht tragfähig darzustellen. Wer nicht zur Buße fähig ist, ist nicht zum Leitungsamt geeignet. Gregor weitet also die Perspektive: Buße ist hier nicht nur auf das Individuum und seine Lebensführung bezogen; hier geht es um mehr: Es geht auch um die Reinigung des öffentlichen Leitungsamtes. Seine Reaktion ist ein gefühlspolitisches79 Agieren aufgrund der fehlenden (Selbst-)Reflexion seines Gegners, um seinen Adressaten – in der bischöflichen Hierarchie machtvoller – zum Handeln zu bewegen: Dazu bringt Gregor Gefühle in der Darstellung des Sachverhalts selbst an; die Charakterisierung der Erfahrung als Tragödie impliziert dies bereits. Es geht gar nicht darum, ob Gregor (oder Helladius) diese Gefühle, wie er sie zeichnet, so real empfunden haben; diese Diskussion ist müßig Greg. Nys., ep. 1,4 (SC 363, 84,24f. Maraval). Greg. Nys., ep. 1,4 (SC 363, 84,18 Maraval). 78 Ein ähnlicher Gedanke findet sich mit Blick auf die Habsucht bei Gregor von Nazianz (Carm. I 2,28): Diese „Krankheit“ sei schwierig zu behandeln, da diejenigen, die infiziert sind, sich selbst für gesund halten. Heilung würde eintreten durch die Lenkung der Seele durch das Wort, persönliche Ratgeber und die Erinnerung an Gott. Vgl. hierzu Dörnemann, Krankheit und Heilung (s.o. Anm. 2), 235–237. 79 Unter „Gefühlspolitik“ verstehe ich in Anlehnung an Ute Frevert eine „Politik mit Gefühlen“ (Ute Frevert, Gefühlspolitik. Friedrich II. als Herr über die Herzen?, Göttingen 2012, 16). Der Autor selbst stellt auch Gefühle und deren Wirkung dar, um mit diesen seinen Adressaten zu affizieren und auch mit Hilfe der Gefühle (neben der Argumentation) eine bestimmte Handlung zu erreichen. Es ist mit dem Begriff Gefühlspolitik also keine vom Gefühl geleitete Politik gemeint, vielmehr wird davon ausgegangen, dass affektive Empfindungen und Einstellungen Ressourcen bilden, die für ein bestimmtes (politisches) Ziel eingesetzt werden; Gefühle werden funktionalisiert, sie werden dazu „inszeniert[…], adressiert[…], erzeugt[…] und in Dienst“ genommen (ebd., 17). Dieses Konzept lege ich an anderer Stelle ausführlicher dar und wende es auf die christliche Spätantike an. 76 77
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und nicht weiterführend, weil wir es schlicht nicht wissen können. Aber auf der literarischen Ebene lässt sich beobachten, dass Gregor diese Gefühle in seinem Schreiben aus der Retrospektive nutzt, um nicht nur sein Selbstbild zu stilisieren, sondern auch seinen Gegner mit einer klaren Pointierung zu zeichnen – als Bischof mit mangelnder Bußfähigkeit, mithin mangelnder Selbsterkenntnis – und zugleich seinen Adressaten zu affizieren und zum Handeln in der causa Helladius zu bewegen. Gregor operationalisiert also eine Thematik, um zu zeigen, dass Helladius kein guter Bischof ist. Grundlage zur Beschreibung von Bischofsqualitäten wird auch die Frage der Buße: Sünde und Buße bilden ein hierarchieübergreifendes Phänomen. Und nicht nur die Buße wird messbar oder sichtbar und verlässt den rein juristischen Boden, indem sie zu einem individuellen Merkmal wird – schließlich beschreibt Gregor diese als „Krankheit“ –, sondern genauso wird auch die Bußverweigerung messbar, nämlich an dem, was andere durch andere erleiden müssen. Diese individuelle Erfahrung nutzt Gregor im vorliegenden Brief, wenn er Flavian zu einem „gerechten Urteil“ (κρίμα δίκαιον κρίνατε)80 auffordert. Gregor geht es längst nicht mehr um Helladius’ Verhalten ihm gegenüber; an Flavian adressiert rekurriert er am Ende des Briefes auf Gott als richtende Letztinstanz81 – für ihn geht es um die Reinheit des Bischofsamts. Dabei sind es zwei Momente im Bußverständnis, die miteinander in einer Wechselbeziehung stehen: Das individualisierte Bußverständnis, das Gregor hier in der emotionalen Kraft darlegt, gerät an seine Grenze, wenn sich keine Besserung einstellt, wenn die Bußpraxis nicht funktioniert. Helladius scheint therapieresistent. Die gefühlspolitische Offenlegung Gregors bildet daher eine konsequente Eskalationsstufe, wenn er dieses Ergehen in den öffentlichen Raum zieht und einen hierarchisch höher gestellten Bischof zu affizieren und zum Handeln zu bewegen versucht. Gefühlspolitik wird das Mittel zum Zweck, um im öffentlichen Raum die Welt wieder zurecht zu rücken, damit nicht der Falsche büßt. So wie die Gefühle, so wie Gregor diese retrospektiv darstellt, ihn erreichen, ihn irritieren und aufhorchen lassen, so sollen nun die nach außen gerichteten, öffentlich gemachten Gefühle die anderen, allen voran seinen Adressaten, erreichen. In seinem Brief eskaliert Gregor und tritt so aber auch aus der Verspottungsdynamik aus. Sein an Flavian gerichtetes gefühlspolitisches Agieren bildet auch eine Alternative zum öffentlichen Greg. Nys., ep. 1,30 (SC 363, 102,207 Maraval). Vgl. Greg. Nys., ep. 1,30.39.
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Lächerlichmachen, wie er es in seiner Darstellung erlebt hat. Gregor reagiert auf die Verspottung nicht selbst mit Spott, sondern versucht, die Wurzel des Problems zu finden. Seine Antwort liegt im θεραπεύειν: Indem er Helladius’ Agieren als Symptome einer Krankheit deutet, sucht er nun die richtige Form zur Genesung. Weil dieses Agieren aber in Helladius’ Funktion fremdschädigend ist und unweigerlich eine öffentliche Dimension hat, sieht sich Gregor genötigt, selbst in seinem Schreiben an Flavian in die Öffentlichkeit zu treten. Mit Hilfe der Darstellung von Gefühlen und der Affizierung von Gefühlen macht er das Schädigende dieser Krankheit sichtbar.
Charismatische Bußautorität in spätantiken Mönchs- und Heiligenviten Peter Gemeinhardt (Göttingen)1
1. Einleitung 1.1. „Enthusiasmus und Bußgewalt“ – Karl Holl revisited Wenn es um Mönche und Heilige im Blick auf Charisma und Bußautorität gehen soll, führt kein Weg an Karl Holl vorbei. Auch nach 125 Jahren darf seine Monographie „Enthusiasmus und Bußgewalt beim griechischen Mönchtum“ als Klassiker zum Thema gelten. Dabei legte Holl, anders als der Untertitel suggeriert, nicht nur „Eine Studie zu Symeon dem Neuen Theologen“ vor, einer in der byzantinisch-orthodoxen Tradition wichtigen, aber seinerzeit noch kaum – und heute nur partiell – durch Editionen und Untersuchungen erschlossenen Gestalt.2 Wie Ekkehard Mühlenberg in einer werkbiographischen Analyse betont hat,3 schrieb Holl vielmehr auf 331 Seiten gleich drei Monographien in einer: Er edierte 1) Symeons (949–1022) Traktat „Ob man seine Sünden gegenüber Mönchen bekennen darf, die nicht die Priesterwürde haben“, fügte 2) eine kompakte Geschichte des griechischen Mönchtums bis zum Ende des byzantinischen Reiches an und endete 3) mit einer Untersuchung über die „Binde- und Lösegewalt des Mönchtums“, Für Unterstützung bei der Suche nach büßenden und bußvermittelnden Märtyrern und Heiligen danke ich sehr herzlich meiner Mitarbeiterin Dr. Dorothee Schenk sowie für kritische Lektüre Frau Catharine Rettberg. 2 Zum Editions- und Forschungsstand vgl. Wassilios Klein, Symeon der neue Theologe, in: TRE 32 (2001), 496–499; zu seiner monastischen Spiritualität Johannes Koder, Symeon Neos Theologos (949–1022). Mönch, Mystiker und Dichter, in: OS 59 (2010), 239–268; zu den Grundzügen seiner Erfahrungstheologie Andrew Louth, Greek East and Latin West. The Church ad 681–1071 (The Church in History 3), Crestwood NY 2007, 322–333. 3 Vgl. Ekkehard Mühlenberg, Karl Holl, Enthusiasmus und Bußgewalt (1898), in: Heinrich Assel (Hg.), Karl Holl. Leben – Werk – Briefe, Tübingen 2021, 175–189, hier 176. 1
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konkret zur Frage, „wie das Mönchtum in den Besitz des Privilegs, das es in Symeon’s Zeit hatte, gelangen“ konnte.4 Symeon behauptete unmissverständlich: „Dass wir gegenüber einem Mönch, der die Priesterwürde nicht besitzt, unsere Sünden bekennen dürfen, ist daraus entstanden, dass das Gewand und die Zierde der Buße von Gott seinen Erben gegeben wurde und [unter diesen] an vielen Stellen die Mönche genannt werden, wie auch in den von Gott eingegebenen Schriften der Väter geschrieben steht.“5
Das Mönchtum sei generell – so Holl – der „Stand der μετάνοια“; schon seit patristischer Zeit hätten sich Mönche als Mittler der göttlichen Vergebung an bußfertige Menschen profiliert. Auf diese Tradition gestützt, habe Symeon mit allem Nachdruck postuliert, „dass es apostolische Würde ist, die der als Mittler Auftretende beansprucht“6 – wobei sich diese Würde aber nicht von einer Weihe, sondern vom Geistbesitz ableite. Mit diesem Anspruch habe das Mönchtum „nicht nur das sittliche Ideal auf eine höhere Stufe“ gehoben, sondern „auch den Enthusiasmus in der Kirche wieder geweckt“.7 Die in byzantinischer Zeit praktizierte Beichte bei „Pneumatikern“8 gehe, so bekräftigte Holl, bereits auf das frühe griechische Mönchtum zurück: Dieses habe im Menschen die Leidenschaften (πάθη) als eigentliche Gefahr erkannt und die Bußgewalt denen zuerkannt, die diese Kämpfe bereits bestanden hatten und nun anderen dank ihrer geistlichen Vollmacht helfen konnten.9
Karl Holl, Enthusiasmus und Bußgewalt beim griechischen Mönchtum. Eine Studie zu Symeon dem neuen Theologen, Leipzig 1898 (ND Hildesheim 1969), 137. – Symeons Lebensdaten hatte Holl, Enthusiasmus (s.o. Anm. 4), 26 noch als 963/69 bis 1041/42 bestimmt; die oben genannten Daten sind heute Konsens der Forschung. 5 Symeon, De confessione 11 (Holl, Enthusiasmus [s.o. Anm. 4], 119,24–120,1): Ὅτι γὰρ ἐνδέχεται εἰς μοναχὸν ἱερωσύνην μὴ ἔχοντα ἐξαγγέλλειν ἡμᾶς, τοῦτο, ἀφ’ οὗ τὸ τῆς μετανοίας ἔνδυμά τε καὶ πρόσχημα ἐκ Θεοῦ ἐδωρήθη τῇ κληρονομίᾳ αὐτοῦ καὶ μοναχοὶ ὠνομάσθησαν, ἐπὶ πάντας εὑρήσεις γενόμενον, καθὼς ἐν ταῖς θεοπνεύστοις τῶν πατέρων γραφαῖς ἐγγράφεται. 6 Holl, Enthusiasmus (s.o. Anm. 4), 130.133. 7 Holl, Enthusiasmus (s.o. Anm. 4), 153. 8 Holl, Enthusiasmus (s.o. Anm. 4), 304f. u.ö. 9 Holl, Enthusiasmus (s.o. Anm. 4), 259. Mühlenberg (s.o. Anm. 3), 185 würdigt, dass Holl mit seiner Rekonstruktion bei Clemens von Alexandrien ansetzt, geht aber auf die weitere Darstellung der geschichtlichen Entwicklung nicht ein. Nur sehr knapp äußert sich Herbert Vorgrimler, Buße und Krankensalbung (HDG IV/3), Freiburg u.a. 1978, 87f. zur byzantinischen „Laienmönchsbeichte“ und deren spätantiker Vorgeschichte. 4
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1.2. Enthusiasten und Charismatiker Holls Buch kann und soll hier nicht als solches kritisch gewürdigt werden.10 Lediglich die Bedeutung des „Enthusiasmus“ für die spätantike monastische Bußpraxis gilt es im Folgenden zu rekonstruieren. Holl setzte beim Auftreten erster Formen monastischer Hagiographie an, weil er meinte, dass erst Athanasius es erfolgreich unternommen habe, „das Ideal ins Leben überzuführen“11 und damit den „alten Enthusiasmus“12 nicht nur wiederzubeleben, sondern ihn auch dauerhaft zum Bestandteil monastischer Existenz und zum Kriterium einer besonderen geistlichen Autorisierung zu machen. Was Holl mit „Enthusiasmus“ meinte, erläuterte er eher narrativ durch die in der Vita Antonii zu erkennende „Erwartung, dass der Reingewordene Gott schauen, überhaupt Dinge wahrnehmen wird, die dem gewöhnlichen Auge verborgen sind“.13 Er sah darin eine signifikante Neukonfiguration des urchristlichen Verständnisses der Charismen: „Der altchristliche Gedanke, dass ein Charisma die Fähigkeit zur Askese verleiht, hatte auf heidenchristlichem Boden die Umdrehung erfahren, dass eine asketische Leistung ein Charisma oder wenigstens Offenbarungen zur Folge hat.“14 Die Askese führte demnach zu erkennbaren geistlichen Begabungen und damit zu einer Autorität, die den Asketen als Mittler göttlicher Vergebung auswies – was Symeon im 11. Jahrhundert zum Prinzip erhoben habe. Allerdings kann der titelgebende Begriff „Enthusiasmus“ quellensprachlich keineswegs die Prominenz beanspruchen, die Holl ihm verlieh. Das gilt auch forschungsgeschichtlich: Holl konnte zwar bei Harnack vielfach den urchristlichen Enthusiasmus beschrieben finden; letzterer meinte, Holl habe diesen Begriff von ihm übernommen.15 Die zeitgenössischen religionsgeschichtlichen Lexika verzichteten aber überwiegend auf ein solches Lemma oder beschränkten sich auf das Phänomen des Vgl. hierzu neben Mühlenberg (s.o. Anm. 3) Bernd Jaspert, Mönchtum und Protestantismus. Probleme und Wege der Forschung seit 1877, Bd. I: Von Hermann Weingarten bis Heinrich Boehmer (RBS 11), St. Ottilien 2005, 289–301. 11 Holl, Enthusiasmus (s.o. Anm. 4), 139. 12 Holl, Enthusiasmus (s.o. Anm. 4), 153. 13 Holl, Enthusiasmus (s.o. Anm. 4), 149. 14 Holl, Enthusiasmus (s.o. Anm. 4), 148. 15 Adolf von Harnack, Rede bei der Gedächtnisfeier der Universität Berlin am 12. Juni 1926, in: Karl Holl †, Zwei Gedächtnisreden von Adolf von Harnack und Hans Lietzmann (AKG 7), Bonn 1926, 6–20, 14f. Vgl. hierzu und zu Harnacks (wenig konsistenter) Rede vom „Enthusiasmus“ Mühlenberg (s.o. Anm. 3), 183f. Anm. 41. 10
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urchristlichen Charismatikertums.16 Eine Ausnahme machte der Artikel von Karl Thieme in der „Realencyclopädie für protestantische Theologie und Kirche“, der den „Enthusiasmus“ vor allem mit dem Mönchtum verbunden sah und ihn als kirchengeschichtliche Grundkonstellation beurteilte: „Der Gegensatz zwischen Geist und Amt kehrt in der Kirchengeschichte immer wieder in der Reibung zwischen dem selbständigen Geist der Virtuosen ekstatischer Extrafrömmigkeit und -sittlichkeit und der Ordnung der verweltlichenden Priesterkirche.“17
Allerdings wurde hierfür im spätantiken Christentum nur selten das Begriffsfeld ἐνθουσιασμός / ἐνθουσιασταί verwendet, das in der klassischen und zeitgenössischen paganen Gräzität noch erheblich häufiger auftrat: An einigen Stellen bezeichnet man damit „Verzückung“ als ein ekstatisches Phänomen unter anderen.18 Origenes verstand unter Enthusiasmus das Gefühl göttlicher Eingebung, das einen beim Lesen der biblischen Propheten überkomme und zum rechten Verständnis der Schrift führe, also deren Inspiration.19 Da Erkenntnis Gottes nur durch den Sohn zu erlangen sei (Mt 11,27), sei eine in die Tiefe gehende Bibellektüre nur – und gerade – unter der Einwirkung des Geistes Ein entsprechender Verweis auf den „urchristliche[n] E[nthusiasmus]“ ohne Begriffsdefinition findet sich in RGG1 2 (1910), 367. In der übernächsten Auflage springt Wolfgang Trillhaas (RGG3 2 [1958], 495f.) gleich vom Montanismus zu Joachim von Fiore und erklärt zum Phänomen: „Die Abgrenzung des E. ist nicht mit letzter Sicherheit vorzunehmen. Doch wird das Merkmal unmittelbarer Geistwirkung immer festzuhalten sein, zuzüglich einer betonten Abwendung von aller Vermittlung des Hl. Geistes wie des Heiles, so durch Schrift, geschichtliche Offenbarung oder kirchliches Amt. Daher bedeuteten Erscheinungen des E. in der Kirchengeschichte immer Krisen kirchlicher Ordnung und schriftgebundener Lehre“. 17 Karl Thieme, Verzückung, Enthusiasmus, Schwärmerei, in: RE3 20 (1908), 586–593, hier 589. 18 So zum Beispiel Ps.-Clemens Romanus, hom. XI 14,2; 15,5 (GCS 423, 161,3–7.19– 21 Rehm/Paschke/Strecker). In Bezug auf das christliche Schrifttum ordnet Friedrich Pfister, Enthusiasmos, in: RAC 5 (1962), 455–457 den Enthusiasmus als Teilphänomen der Ekstase ein, in Korrespondenz mit Friedrich Pfister, Ekstase, in: RAC 4 (1959) 944–987, hier 955–957. Als Paradigma für den damit benannten Zustand dient dabei Apg 10,10, wo Petrus „eine Ekstase zuteil wird“ (ἐγένετο ἐπ᾿ αὐτὸν ἔκστασις). Als Beispiel der patristischen Rezeption dient Johannes Chrysostomus, hom. Act. 22,1 (PG 60, 172): Petrus erfahre eine „geistliche Schau“ (πνευματικὴ θεωρία), bei der „die Seele, wie man sagen könnte, den Körper verlässt“ (τοῦ σώματος, ὡς ἂν εἶποι τις, ἐξέστη ἡ ψυχή). 19 Origenes, princ. IV 1,6 (GCS Orig. V, 302,3–6 Koetschau). 16
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möglich.20 Im spätantiken Mönchtum wurde diese Vorstellung der Inspiration im Blick auf die asketische Existenz im Schülerkreis des Evagrius Ponticus fortgeschrieben: „Für die Seele ist der Anfang wahrer Erkenntnis der Enthusiasmus des heiligen Geistes!“21 Weitere Verwendungen des fraglichen Wortfeldes im monastischen Binnenbereich sind nicht belegt22 – wohl aber in polemischer Außensicht, wie in Theodorets Kirchengeschichte: „In derselben Zeit entstand auch die Irrlehre der Messalianer. Diejenigen, welche den Namen in die griechische Sprache übertragen, nennen sie Euchiten. Sie haben aber auch noch eine andere, aus der Sache selbst geschöpfte Bezeichnung; sie werden nämlich Enthusiasten genannt, weil sie unter der Einwirkung eines bösen Geistes stehen, die sie für die Gegenwart des Heiligen Geistes halten.“23
Theodoret griff damit die Verurteilung der sogenannten Messalianer durch mehrere Synoden, insbesondere das Ökumenische Konzil von Ephesus (431), auf.24 Seine Beschreibung der Häresie der „Beter“ (syr. msallyānē, griech. εὐχῖται) und ihre Klassifizierung als „Enthusiasten“ (ἐνθουσιασταί) wurde in De haeresibus des Johannes von Damaskus wörtlich zitiert25 und wirkte dadurch auf die gesamte folgende byzantinische Häresiographie. Nach Reinhart Staats wurde damit „der Begriff des ‚Enthusiasmus‘, den eine abendländische Erklärung des orientalischen Mönchtums positiv aufnehmen wollte (Karl Holl), in der Ostkirche zum Inbegriff des Häretischen“.26 Holl selbst hatte das offenbar nicht angefochten – angesichts des skizzierten Befundes scheint es jedoch angebracht, eher von Origenes, Cels. VII 44 (FC 50/5, 1270,11–13 Barthold/Fiedrowicz). Capita discipulorum Evagrii 191 (SC 514, 252 Géhin): Ἀρχὴ γνώσεως ἀληθοῦς ψυχῇ ἐνθουσιασμὸς πνεύματος ἁγίου. 22 Laut Datenbankrecherche im Thesaurus linguae graecae (Zugriff am 11.02.2022). 23 Theodoret von Cyrus, h. e. IV 11,1 (GCS N.F. 5, 229,5–9 Parmentier/Hansen): Κατὰ τοῦτον τὸν χρόνον καὶ ἡ τῶν Μεσσαλιανῶν ἐβλάστησεν αἵρεσις· Εὐχίτας δὲ τούτους προσαγορεύουσιν οἱ εἰς τὴν Ἑλλάδα φωνὴν τοὔνομα μεταβάλλοντες. ἔχουσι δὲ καὶ ἑτέραν προσηγορίαν ἐκ τοῦ πράγματος γενομένην· Ἐνθουσιασταὶ γὰρ καλοῦνται, δαίμονός τινος ἐνέργειαν εἰσδεχόμενοι καὶ πνεύματος ἁγίου παρουσίαν ταύτην ὑπολαμβάνοντες. Übers. Andreas Seider, Des Bischofs Theodoret von Cyrus Kirchengeschichte (BKV 51), München 1926, 218. 24 Concilium Ephesenum a. 431 (ACO I 1,7, 117,5–7 Schwartz). Vgl. dazu Reinhart Staats, Messalianer, in: TRE 22 (1992), 607–613, hier 609f.; Klaus Fitschen, Messalianismus und Antimessalianismus. Ein Beispiel ostkirchlicher Ketzergeschichte (FKDG 71), Göttingen 1998, 45–50. 25 Johannes von Damaskus, haer. 80 (PTS 22, 46,105–107 Kotter). 26 Staats (s.o. Anm. 24), 607. 20 21
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„charismatischer Bußautorität“ zu sprechen. Gemeint ist damit eine Autorität, die weder durch die Verfügung über institutionalisierte Traditionsgüter noch durch Ausbildung und formale Anerkennung von Kompetenzen erworben wird, sondern die von anderen Menschen dem Träger oder der Trägerin des Charismas zugeschrieben wird.27 Damit ist das Moment der Fluidität und Instabilität impliziert, das nach Max Weber aus dem „außeralltäglichen“ Charakter solcher Autorität resultiert.28 1.3. Narrative Diskurse über Buße Die Geschichte der Inanspruchnahme einer geistlich, das heißt nicht durch formelle Beauftragung, sondern vermittels individueller Bewährung begründeten Bußautorität geht allerdings weiter zurück als die Anfänge des eremitischen Mönchtums. Davon berichtet schon der Brief der Gemeinden von Lyon und Vienne über die 177 wütenden Verfolgungen, auf den unten ausführlicher einzugehen sein wird; in diese Geschichte gehören die viel behandelten Probleme Cyprians von Karthago († 258) mit eigenständig agierenden „Konfessoren“.29 Auch im Osten des Imperium Romanum stellte sich eine analoge Herausforde Diese Definition und die folgende Fußnote lehnen sich an Peter Gemeinhardt, Tradition, Kompetenz und Charisma: Streiflichter auf das Spannungsfeld von Autorität und Bildung in spätantiken Religionskulturen, in: ders./Tanja S. Scheer (Hgg.), Autorität im Spannungsfeld von Bildung und Religion (SERAPHIM 9), Tübingen 2021, 161–201, hier 184f. an. 28 Vgl. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, hg. von Johannes Winckelmann, Tübingen5 1976, 140: „‚Charisma‘ soll eine als außeralltäglich (ursprünglich, sowohl bei Propheten wie bei therapeutischen wie bei Rechts-Weisen wie bei Jagdführern wie bei Kriegshelden: als magisch bedingt) geltende Qualität einer Persönlichkeit heißen, um derentwillen sie als mit übernatürlichen oder übermenschlichen oder mindestens spezifisch außeralltäglichen, nicht jedem anderen zugänglichen Kräften oder Eigenschaften [begabt] oder als gottgesandt oder als vorbildlich und deshalb als ‚Führer‘ gewertet wird.“ Vgl. auch Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hg. von Johannes Winckelmann, Tübingen7 1988, 481–488. Weber selbst griff bei der Ausarbeitung des Charisma-Konzepts auf Holls Forschungen zum griechischen Mönchtum zurück – so sprach Holl, Enthusiasmus (s.o. Anm. 4), 153 z.B. für die Vita Antonii vom „Charisma des Mönchs“. Damit schließt sich hier der Kreis. 29 Die Quellen dazu sind gesammelt bei Heinrich Karpp (Hg., Übers.), Die Buße. Quellen zur Entstehung des altkirchlichen Bußwesens (TC 1), Zürich 1969, 282–331 = Nr. 180–198; vgl. Ernst Dassmann, Sündenvergebung durch Taufe, Buße und Martyrerfürbitte in den Zeugnissen frühchristlicher Frömmigkeit und Kunst (MBTh 36), Münster 1973, 173f. 27
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rung, wie ein Brief des Dionysius von Alexandrien († 264/65) aus der Zeit der Verfolgung unter Kaiser Decius (249–251) zeigt: „Diese gotterfüllten Märtyrer (θεῖοι μάρτυρες) jedoch, die jetzt neben Christus thronen, an seiner Herrschaft teilhaben, bei seinem Gericht mitwirken und mit ihm zusammen das Urteil sprechen, haben, als sie noch unter uns (weilten), einige der gestrauchelten Brüder angenommen, die sich der Opferung schuldig gemacht hatten. Als sie ihre Umkehr und Sinnesänderung (τὴν ἐπιστροφὴν καὶ μετάνοιαν) sahen und sie als ausreichend anerkannten, um von dem akzeptiert zu werden, der keineswegs den Tod des Sünders will, sondern seine Sinnesänderung (μετάνοιαν), nahmen sie sie bei sich auf, versammelten sich mit ihnen, standen ihnen bei und hielten Gebets- und Mahlgemeinschaft mit ihnen. Was ratet ihr uns nun in dieser Angelegenheit, Brüder? Was sollen wir tun? Sollen wir ihnen zustimmen und uns ihrer Meinung anschließen, ihr Urteil und ihre Milde unterstützen und denen freundlich begegnen, über die sie sich erbarmt haben? Oder sollen wir ihr Urteil für ungerecht erklären, uns zu Kritikern ihrer Meinung aufschwingen, ihre Freundlichkeit beleidigen und ihre gute Ordnung beseitigen?“30
Dionysius arrangierte sich mit diesem fait accompli: Er konnte der Bußautorität der Märtyrer nicht gut widersprechen, ohne als hartherzig zu gelten, und akzeptierte sie im konkreten Fall.31 Grundsätzlich hielt er es aber für die Angelegenheit des Bischofs, die μετάνοια von Gefallenen festzustellen und über deren Rekonziliation zu entscheiden. Dabei war nicht das Agieren beim Jüngsten Gericht32 das Problem – da würde ein Bischof ohnehin nichts mehr zu sagen haben –, sondern die Konkurrenz Dionysius von Alexandrien bei Euseb von Caesarea, h. e. VI 42,5 (GCS Eus. II/2, 610,26–612,11 Schwartz): αὐτοὶ τοίνυν οἱ θεῖοι μάρτυρες παρ‘ ἡμῖν, οἱ νῦν τοῦ Χριστοῦ πάρεδροι καὶ τῆς βασιλείας αὐτοῦ κοινωνοὶ καὶ μέτοχοι τῆς κρίσεως αὐτοῦ καὶ συνδικάζοντες αὐτῶι, τῶν παραπεπτωκότων ἀδελφῶν τινας ὑπευθύνους τοῖς τῶν θυσιῶν ἐγκλήμασιν γενομένους προσελάβοντο, καὶ τὴν ἐπιστροφὴν καὶ μετάνοιαν αὐτῶν ἰδόντες δεκτήν τε γενέσθαι δυναμένην τῶι μὴ βουλομένωι καθόλου τὸν θάνατον τοῦ ἁμαρτωλοῦ ὡς τὴν μετάνοιαν δοκιμάσαντες, εἰσεδέξαντο καὶ συνήγαγον καὶ συνέστησαν καὶ προσευχῶν αὐτοῖς καὶ ἑστιάσεων ἐκοινώνησαν. τί οὖν ἡμῖν, ἀδελφοί, περὶ τούτων συμβουλεύετε; τί ἡμῖν πρακτέον; σύμψηφοι καὶ ὁμογνώμονες αὐτοῖς καταστῶμεν καὶ τὴν κρίσιν αὐτῶν καὶ τὴν χάριν φυλάξωμεν καὶ τοῖς ἐλεηθεῖσιν ὑπ’ αὐτῶν χρηστευσώμεθα, ἢ τὴν κρίσιν αὐτῶν ἄδικον ποιησώμεθα καὶ δοκιμαστὰς αὑτοὺς τῆς ἐκείνων γνώμης ἐπιστήσωμεν καὶ τὴν χρηστότητα λυπήσωμεν καὶ τὴν τάξιν ἀνασκευάσωμεν; Übers. Wolfgang A. Bienert, Dionysius von Alexandrien. Das erhaltene Werk (BGrL 2), Stuttgart 1972, 31. 31 Zu Dionysius’ pragmatischem Bußverständnis vgl. Wolfgang A. Bienert, Dionysius von Alexandrien. Zur Frage des Origenismus im 3. Jahrhundert (PTS 21), Berlin/ New York 1978, 181–183. 32 Ähnlich z.B. auch in M. Mar. Jac. 6,6–15 (202 Musurillo). 30
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im Hier und Jetzt.33 Und diese Herausforderung blieb erhalten, als die lebenden Konfessoren weniger und die Mönche und Heiligen mehr wurden. Holls Frage nach „Enthusiasmus und Bußgewalt“ konzentrierte sich vorrangig auf normative Texte aus byzantinischer Zeit, wobei das spätantike Mönchtum im Grunde nur als Vorgeschichte in den Blick kam.34 Hier soll ein anderer Zugang zu charismatischer Bußautorität gewählt werden, nämlich über erzählende Texte aus patristischer Zeit: Viten von Mönchen, die Bußautorität ausübten, und von solchen, die selbst Buße taten. Berücksichtigung finden auch kleinere szenische Formate wie die Apophthegmata Patrum, ebenso literarische Darstellungen von Martyrien. Die hagiographischen Zeugnisse zu konfessorisch oder asketisch begründeter Bußautorität ordne ich in drei Abschnitten an: Zuerst gebe ich einige Einblicke in Literatur über Märtyrer aus vorkonstantinischer Zeit (2.), wende mich dann büßenden Mönchen (3.) sowie Heiligen mit Bußautorität (4.) zu und schließe mit weiterführenden Reflexionen (5.). Dabei werden viele Texte und Situationen berührt, zu denen es jeweils natürlich noch vieles zu sagen gäbe. Es geht mir allerdings primär um das Phänomen, nicht um einzelne Viten oder Heilige. Das Thema der charismatischen Bußautorität ist im Blick auf narrative Texte bisher nicht eigens untersucht worden; erste Explorationen in diesem Feld sollen hier unternommen werden.35 Dassmann (s.o. Anm. 29), 173 betont, dass die Bischöfe den Märtyrern niemals grundsätzlich „das Recht, wirksame Fürsprache für die Gefallenen einlegen zu können“ bestritten hätten. Doch legt Dionysius’ Begründung nahe, dass er dieses Vorgehen zwar gewissermaßen pro loco et tempore akzeptierte, es aber grundsätzlich kritisch sah, worin er sich mit dem Adressaten, Fabius von Antiochien, einig gewusst haben dürfte. 34 Ebenso geht Holl in seinem Abriss der Geschichte der östlichen monastischen Tradition zwar kursorisch auf die Begründung der Beichtautorität bei Origenes und Basilius von Caesarea ein, leitet dann aber sein Gesamturteil von der kritischen Haltung zur amtlich-priesterlichen Beichte in byzantinischer Zeit her (Karl Holl, Ueber das griechische Mönchtum, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte, Bd. II: Der Osten, Tübingen 1928 [ND Darmstadt 1964], 270–282, hier 280): „Soweit überhaupt das Christentum in der griechischen Kirche Herzenssache ist, trägt das sittliche Handeln den Charakter der μετάνοια, d.h. sein Motiv ist das des Mönchtums. Aber das Mönchtum hat auch dafür gesorgt, daß das Wort den rechten Sinn behielt, den des ernsthaften Willens der Sinnesänderung“. 35 Erstaunlicherweise fehlt jeder Hinweis auf diesen Aspekt des Bußthemas (und jeder Bezug auf Holl) bei Allan D. Fitzgerald, Penance, in: Susan Ashbrook Harvey/David G. Hunter (Hgg.), The Oxford Handbook of Early Christian Studies, Oxford 2008, 786–807, obwohl dieses Handbuch die Zeit bis 600 n. Chr. zu behandeln beansprucht. 33
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2. Buße und Bußautorität in der Märtyrerliteratur36 2.1. Richtige und falsche Umkehr Martyrium und Buße scheinen auf den ersten Blick zwei Paar Schuhe zu sein. Denn eine Märtyrerin oder ein Märtyrer leistet ja gerade Nachfolge Christi in höchstmöglicher Form, bedarf also keiner μετάνοια. Mehr noch: Wer um seines Blutzeugnisses willen Verehrung genießt, hat womöglich sogar der Versuchung einer Umkehr in falscher Richtung widerstanden. Im Dialog des Bischofs Polykarp, der um 156 hingerichtet wurde, mit dem Prokonsul L. Statius Quadratus wird dies als literarisches Gefecht mit todernstem Hintergrund inszeniert: „Der Prokonsul sagte: ,Ich habe wilde Tiere, denen werde ich dich zum Fraß vorwerfen, wenn du nicht deine Gesinnung änderst (μετανοήσῃς).‘ (Polykarp) antwortete: ,Laß sie nur kommen, denn unmöglich (ἀμετάθετος) ist für uns die Umkehr (μετάνοια) vom Besseren zum Schlechteren; gut hingegen ist es, sich vom Schlimmen weg dem Gerechten zuzuwenden (μετατίθεσθαι).‘“37
Μετάνοια ist hiernach eine Einbahnstraße – das im Blick auf den neutestamentlichen Sprachgebrauch fast schon ironisch zu nennende Angebot des Prokonsuls, für die Hinwendung zum Christentum „Buße zu tun“, lehnt Polykarp umgehend ab. Der Ernst der Lage wird mit Variationen zweier Verben eingeschärft: Neben „umkehren, umdenken“ (μετανοέω) tritt „(sich) ändern“ (μετατίθημι) im Sinne von „einen neuen Weg einschlagen“ oder auch „abfallen“. Im Hintergrund steht Gal 1,6: „Ich staune, dass ihr so schnell zu einem anderen Evangelium abfallt (μετατίθεσθε … εἰς ἕτερον εὐαγγέλιον)“, woran deutlich wird, dass Apostasie „eine Doppelbewegung aus Ab- und Zuwendung“ ist.38 Das dürfte Die im folgenden Abschnitt behandelten martyrologischen Quellen werden (soweit darin enthalten) zitiert nach Hans R. Seeliger/Wolfgang Wischmeyer (Hgg., Übers.), Märtyrerliteratur (TU 172), Berlin/Boston 2015 bzw. Peter Guyot/Richard Klein (Hgg., Übers.), Das frühe Christentum bis zum Ende der Verfolgungen. Eine Dokumentation, 2 Bde., Darmstadt 1993/94, ansonsten nach Herbert Musurillo (ed.), The Acts of the Christian Martyrs. Texts and Translations, Oxford 1972. 37 M. Polyc. 11,1 (10,10–13 Musurillo): Ὁ δὲ ἀνθύπατος εἶπεν· Θηρία ἔχω· τούτοις σε παραβαλῶ ἐὰν μὴ μετανοήσῃς. ὁ δὲ εἶπεν· Κάλει. ἀμετάθετος γὰρ ἡμῖν ἡ ἀπὸ τῶν κρειττόνων ἐπὶ τὰ χείρω μετάνοια, καλὸν δὲ μετατίθεσθαι ἀπὸ τῶν χαλεπῶν ἐπὶ τὰ δίκαια. Übers. Guyot/Klein (s.o. Anm. 36), I,57. 38 Christian Hornung, Apostasie im antiken Christentum: Studien zu Glaubensabfall in altkirchlicher Theologie, Disziplin und Pastoral (4.–7. Jahrhundert n. Chr.) (SVigChr 138), Leiden/Boston 2016, 87. 36
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nicht als bloßes Wortspiel aufzufassen sein: Es war eben keineswegs selbstverständlich, dass man angesichts wilder Tiere am einmal eingeschlagenen Kurs des individuellen Christusbekenntnisses festhielt und nicht zum „Schlechteren“, zum Erhalt des (irdischen) Lebens, umkehrte und damit tatsächlich für die Konversion zum Christentum Buße tat. Auch der um 185 angeklagte Apollonius sah sich mit der Bitte seines Richters konfrontiert: „Ändere deine Sinneshaltung“ (μετανόησον), was er durch ein Opfer für die Schutzgottheit (τύχη) des Kaisers beweisen sollte.39 Apollonius hielt dem entgegen: „Wer sich von den gerechten, guten und bewundernswerten Geboten Gottes abwendet (μετανοῶν), handelt frevlerisch, unheilig und wahrhaft nicht Gott angemessen (ἀθέμιτος καὶ ἀνόσιος καὶ ἀληθῶς ἄθεος). Wer sich aber von jeder Ungerechtigkeit und Gesetzlosigkeit, vom Götzendienst und von bösen Gedanken bekehrt (μετανοῶν) und die Ursachen der Sünden flieht und sich ihnen konsequent nicht hingibt, der ist wirklich ein Gerechter.“40
Das Vorkommen solcher Weg-Wendungen vom Christentum angesichts drohender Sanktionen dokumentiert der Brief von Plinius an Trajan aus dem frühen zweiten Jahrhundert.41 Von solchen „Retrokonversionen“ berichtet auch das in der Zeit der diokletianischen Verfolgung situierte, aber wohl aus dem späteren vierten Jahrhundert stammende Martyrium Dasii: Hier nehmen getaufte Christen in der üblichen Kostümierung am „heidnischen“ Saturnalienfest teil, wodurch sie, wie der Autor beklagt, „das Gute wegwerfen, in dem sie wiedergeboren wurden, und sich an das Schlechte halten, in dem sie geboren wurden.“42 Die mit dem Taufbekenntnis verbundene Absage an den Teufel43 wurde dadurch zunichte gemacht. M. Apollon. 3 (90,13–15 Musurillo). M. Apollon. 4 (90,18–22 Musurillo): ὁ μετανοῶν ἀπὸ δικαίων καὶ ἀγαθῶν καὶ θαυμασίων ἐντολῶν τοῦ θεοῦ ἀθέμιτος καὶ ἀνόσιος καὶ ἀληθῶς ἄθεός ἐστιν· ὁ δὲ μετανοῶν ἀπὸ πάσης ἀδικίας καὶ ἀνομίας καὶ εἰδωλολατρείας καὶ διαλογισμῶν πονηρῶν καὶ φεύγων τὰς ἀρχὰς τῶν ἁμαρτημάτων καὶ ὅλως μὴ ἐπιστρέφων ἐπ’ αὐτά, ὁ τοιοῦτος δίκαιός ἐστιν. 41 Vgl. Plinius minor, ep. X 96,6 (Guyot/Klein [s.o. Anm. 36], I,40f.). 42 M. Dasii 4,2 (274,7f. Musurillo): ἀποβάλλουσιν ἐν ᾧ ἐγεννήθησαν ἀγαθῷ καὶ διακατέχουσιν ἐν ᾧ ἐγεννήθησαν κακῷ. Die Teilnahme von Christen an paganen Kultfesten bezeugt noch Gelasius I., c. Luperc. 3 (SC 65, 164,1–9 Pomarès) = Collectio Avellana 100,3 (CSEL 35/1, 454,9–18 Günther). 43 M. Dasii 4,3 (274,8–10 Musurillo): ἀποτάξασθαι ὁμολογήσαντες ἐν τῷ βαπτίσματι τῷ διαβόλῳ καὶ ταῖς πομπαῖς αὐτοῦ πάλιν στρατεύονται αὐτῷ ἐν τοῖς ἔργοις τοῖς πονηροῖς καὶ αἰσχροῖς. 39 40
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2.2. Märtyrer als Bußprediger Das Problem einer zweiten (oder weiteren) Buße für diejenigen, die hinter den Erwartungen an die Getauften zurückblieben – eines der kontrovers diskutierten theologischen Themen des zweiten Jahrhunderts44 –, stellte sich im Kontext des Martyriums also in besonderer Zuspitzung. Wer als Märtyrerin oder als Märtyrer hingerichtet wurde, hatte es erfolgreich vermieden, erneut Buße tun zu müssen – was allen anderen zu denken geben sollte. Mit seinem entschiedenen Festhalten am Christusbekenntnis hatte sich Polykarp für die eschatologische Gemeinschaft mit Gott qualifiziert, damit aber auch als Leitbild der evangeliumsgemäßen Zeugenschaft in künftigen Verfolgungen.45 Buße spielt in Märtyrertexten daher aus deren innerer Logik heraus nur eine nachrangige Rolle: Dass auch Polykarp sich einmal zum Christentum hingewendet und im Sinne der Botschaft Johannes des Täufers Buße getan haben musste, war insofern uninteressant, als im Martyrium nur das Hier und Jetzt und allenfalls dessen unmittelbare Vorgeschichte zählte – entscheidend war das Christus-, nicht das Sündenbekenntnis. So erklärte auch der oben erwähnte Apollonius seinem Richter, Christus habe gelehrt, „die rechtmäßig verhängte Todesstrafe zu verachten, weil wir nicht für unrechtes Tun (ἀδικεῖν), sondern für dessen Unterlassen ungerecht bestraft werden (ἀδικουμένους)“.46Alles richtig gemacht: Wer mit diesem Selbstbewusstsein auftreten kann, ist der Buße gewiss nicht mehr bedürftig! Doch bietet sich gerade dann, wenn man die jenseitige Gemeinschaft mit Christus vor Augen hat, die Chance, den Lebenden Buße zu predigen. Ein Beispiel hierfür ist das „Testament der 40 Märtyrer von Sebaste“, dessen erzählte Zeit die Spätphase der Herrschaft des Licinius († 324) ist, das aber einige Jahrzehnte später entstanden sein dürfte:47 Hier schärfen Vgl. dazu jetzt knapp Peter Gemeinhardt, Geschichte des Christentums in der Spät antike (Neue theologische Grundrisse), Tübingen 2022, 94–98. 45 M. Polyc. 19,1 (16,19–21 Musurillo); zu Polykarp als Vorbild im Leben und Sterben vgl. M. Polyc. 12,2; 18,3 (aaO. 10,26–28; 16,13–15); zur eschatologischen Perspektive der Märtyrerliteratur und deren Rückwirkung auf innerweltliche Paränese und Seelsorge vgl. Peter Gemeinhardt, Eschatological Motifs and Patterns of Thought in Christian Hagiography, in: Hilary Marlow/Karla Pollmann/Helen Van Noorden (Hgg.), Eschatology in Antiquity. Forms and Function (Rewriting Antiquity), London/New York 2021, 485–498, hier 487–491. 46 M. Apollon. 37 (100,8–10 Musurillo): διὰ τὸν τῆς δίκης θεσμὸν θανάτου καταφρονεῖν, οὐ διὰ τὸ ἀδικεῖν ἀλλὰ διὰ τὸ ἀνέχεσθαι ἀδικουμένους. 47 Vgl. Seeliger/Wischmeyer (s.o. Anm. 36), 303f.; ausführlich Marcel G. Gherga, „A Church of Martyrs, An Army of Trophy-Bearers“: A Historical and Literary 44
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die todgeweihten Konfessoren den (bisher noch) Überlebenden ein, „dass diese Zeit günstig ist für die, die gerettet werden wollen, weil sie eine großzügige Frist der Buße (τῆς μετανοίας τὴν προθεσμίαν) bietet.“48 Die Angeredeten sollen sich bemühen, „dass man euch gemäß den Geboten Christi untadelig findet, damit ihr dem endlosen und ewigen Feuer (Mt 25,41) entflieht.“49 Die baldigen Märtyrer sind also Mahner zur Buße in einer endzeitlichen Situation. Im Martyrium Pionii, das sich auf die unter Kaiser Decius (249–251) ausgebrochene Christenverfolgung bezieht, veranlasst der apokalyptische Impetus den schon verurteilten Protagonisten zu einer flammenden Predigt an die „unter Zwang zu Boden geworfenen christlichen Brüder“, d.h. an die lapsi der laufenden Verfolgung: „Es soll aber niemand meinen, Kinder, dass der Herr kraftlos geworden ist, sondern wir (sind es geworden) … Wir haben nämlich Unrecht getan, einige haben sogar (andere) verachtet; wir haben gegeneinander gefrevelt, einander gebissen und beschuldigt (vgl. Gal 5,15); gegenseitig haben wir uns vernichtet. Und dabei sollte doch unsere Gerechtigkeit die der Schriftgelehrten und Pharisäer weit übertreffen … Brüder, seid nicht derselben Ansicht wie die in Verzweiflung Verfallenen, sondern harrt aus in der Umkehr zu Christus (τῇ μετανοίᾳ προσμείνατε τῷ Χριστῷ). Denn er ist barmherzig, euch wieder aufzunehmen wie Kinder.“50
Das „wir“ schließt allerdings Pionius selbst kaum ein, denn er vollendet durch die Hinrichtung auf dem Scheiterhaufen ja „sein makelloses, untadeliges und unvergängliches Leben“.51 Dass das Feuer seinem Körper nalysis of Greek Late Antique Biographical Literature on the Forty Martyrs of A Sebaste, Diss. Leuven 2021, 236–249, zur Authentizität bes. 238–240. 48 M. Seb. test. 2,2 (TU 172, 296,25–298,1 Seeliger/Wischmeyer): καιρὸς οὗτος ἐπιτήδειος τοῖς σώζεσθαι θέλουσι, ἄφθονον μὲν παρέχων τῆς μετανοίας τὴν προθεσμίαν, ἀπροσδόκητον δὲ τῆς πολιτείας τὴν πρᾶξιν, μηδὲν ἀναβαλλομένοις πρὸς τὸ μέλλον. Übers. aaO. 297–299. 49 M. Seb. test. 2,3 (TU 172, 298,5f. Seeliger/Wischmeyer): σπουδάσατε οὖν ἐν ταῖς ἐντολαῖς τοῦ Χριστοῦ εὑρεθῆναι ἄμεμπτοι, ὅπως φύγητε τὸ ἀκοίμητον καὶ αἰώνιον πῦρ. Übers. aaO. 299. 50 M. Pion. 12,13.15f.; 14,16 (TU 172, 154,3f.6–8; 158,12f. Seeliger/Wischmeyer): ἀλλὰ μή τις ὑπολάβῃ, τεκνία, ὅτι ἠδυνάτησεν ὁ κύριος ἀλλ’ ἡμεῖς … ἠδικήσαμεν γάρ, ἔνιοι δὲ καὶ καταφρονήσαντες· ἠνομήσαμεν ἀλλήλους δάκνοντες καὶ ἀλλήλους καταιτιώμενοι· ὑπὸ ἀλλήλων ἀνηλώθημεν. ἔδει δὲ ἡμῶν τὴν δικαιοσύνην περισσεύειν μᾶλλον πλέον τῶν γραμματέων καὶ Φαρισαίων … καὶ μὴ συγκατάθεσθε αὐτοῖς ἐν ἀπογνώσει γενόμενοι, ἀδελφοί, ἀλλὰ τῇ μετανοίᾳ προσμείνατε τῷ Χριστῷ· ἐλεήμων γάρ ἐστι δέξασθαι πάλιν ὑμᾶς ὡς τέκνα. Übers. aaO. 155.159. 51 M. Pion. 22,1 (TU 172, 168,8 Seeliger/Wischmeyer): βίον … ἀμώνητον, ἀνέγκλητον, ἀδιάφθορον.
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nichts anhaben kann, zeigt den Umstehenden (oder jedenfalls den Martyrologen) den glücklichen Ausgang der Ereignisse an: „Nachdem er im großen Kampf gesiegt hatte, durchschritt er die enge Tür in das weit reichende und große Licht.“52 Diese Erfolgsaussicht winkt auch den anderen ehrlichen Büßern. 2.3. Hatten Konfessoren eine Binde- und Lösegewalt? Im Blick auf die Leitfrage nach charismatischer Bußautorität ist allerdings zu konstatieren, dass in der Märtyrerliteratur nur selten explizit von der Inanspruchnahme der Binde- und Lösegewalt die Rede ist, mit der Cyprian von Karthago und Dionysius von Alexandrien konfrontiert waren. Die Ausnahme ist der oben erwähnte Brief der Gemeinden von Lyon und Vienne über die dortigen Martyrien im Jahr 177 n. Chr.: „Durch die noch Lebenden wurden die schon Toten auferweckt, und die Märtyrer erwiesen denen, die noch keine Märtyrer waren, eine Gunst. Und große Freude widerfuhr der jungfräulichen Mutter (sc. der Kirche), denn ihre Fehlgeburten erhielt sie lebendig zurück.“53
Der Text arbeitet mit der Idee einer endzeitlichen Scheidung (vgl. Mt 25,31–46; Lk 17,34f.) von „Protomärtyrern“ und „Fehlgeburten“,54 wobei den Gefallenen noch eine Bußmöglichkeit offensteht. Das geschieht ausdrücklich zum Wohlgefallen Gottes, „der nicht den Tod des Sünders will, sondern der sich aufgrund der Buße gnädig erweist.“55 Damit ist nicht nur ein seelsorgerlicher, sondern auch ein sakramentaler Vollzug gemeint: „Sie demütigten sich selbst unter die starke Hand, von der sie jetzt vollständig erhöht sind. Damals entschuldigten (ἀπελογοῦντο) sie alle, niemanden klagten sie an (κατηγόρουν). Sie lösten (ἔλυον) alle, banden (ἐδέσμευον) aber niemanden. Und sie beteten für diejenigen, die ihnen Schrecken M. Pion. 22,1 (TU 172, 168,11 Seeliger/Wischmeyer): καὶ τὸν μέγαν ἀγῶνα νικήσας διῆλθε διὰ τῆς στενῆς θύρας εἰς τὸ πλατὺ καὶ μέγα φῶς. Übers. aaO. 169. 53 M. Lugd. 1,45 (TU 172, 66,16–18 Seeliger/Wischmeyer): διὰ γὰρ τῶν ζώντων ἐζωοποιοῦντο τὰ νεκρά, καὶ μάρτυρες τοῖς μὴ μάρτυσιν ἐχαρίζοντο καὶ ἐνεγίνετο πολλὴ χαρὰ τῇ παρθένῳ μητρί, οὓς ὡς νεκροὺς ἐξέτρωσε τούτους ζῶντας ἀναλαμβανούσῃ. Übers. aaO. 67. 54 Zuerst in M. Lugd. 1,11 (TU 172, 54,3–9 Seeliger/Wischmeyer). Anders als in 1 Kor 15,8 wird die Rede von einer „Fehlgeburt“ (bei Paulus: ἔκτρωμα) nicht ironisch, sondern dramatisierend verwendet. 55 M. Lugd. 1,46 (TU 172, 66,21f. Seeliger/Wischmeyer): ἐγγλυκαίνοντος τοῦ τὸν μὲν θάνατον τοῦ ἁμαρτωλοῦ μὴ βουλομένου, ἐπὶ δὲ τὴν μετάνοιαν χρηστευομένου θεοῦ. Übers. aaO. 67. 52
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antaten, wie der vollkommene Märtyrer (ὁ τέλειος μάρτυς) Stephanus: „Herr, rechne ihnen diese Sünde nicht an“ (Apg 7,60). Wenn er für die, die ihn steinigten, gebetet hatte, um wie viel mehr erst für seine Brüder?“56
Der Ortsbischof Pothinus als formeller Repräsentant der „jungfräulichen“ Kirche spielt nur insoweit eine Rolle, als auch er selbst trotz seines Alters zum Märtyrer wird.57 Die Leitbilder sind aber andere Männer ohne kirchliches Amt, nicht zu vergessen die Sklavin und „edle Athletin“ (γενναῖος ἀθλητής) Blandina.58 Die Konfessoren bieten Trost und wirksame Vergebung – aber nur in positiver Hinsicht, indem sie die Buße anderer Christen in Gottes Namen akzeptieren und sogar ihren Verfolgern, die von ihrem Glück nichts ahnen, vergeben. Über weniger standhafte Christen irdisches Gericht zu halten, ist hingegen nicht Sache der lebenden Konfessoren, allenfalls, wie bei Dionysius von Alexandrien gesehen, der verewigten Märtyrer, die Christus im Jüngsten Gericht assistieren. Wo man den (noch) lebenden Konfessoren solche Kompetenz zuschrieb, fühlten diese sich nicht notwendigerweise zur Milde verpflichtet. Der seinem Tod ins Auge sehende Montanus, dessen Martyrium in der Zeit der valerianischen Verfolgung spielt, verweigerte den lapsi die Rekonziliation, solange sie keine Buße taten: „Er wies die plötzliche Eilfertigkeit der Gefallenen (sc. zur Rückkehr zur Kirche) zurück und schob die Wiederherstellung des Friedens (mit ihnen) bis zur vollen Buße und zur Entscheidung Christi auf und ermahnte auch die rein Gebliebenen zur Bewahrung ihrer Integrität.“59
Bußautorität konnte also in der Märtyrerliteratur sehr unterschiedliche Wertschätzung erfahren – wie in der zeitgenössischen ethischen R eflexion. M. Lugd. 2,5 (TU 172, 74,22–76,2 Seeliger/Wischmeyer): ἐταπείνουν ἑαυτοὺς ὑπὸ τὴν κραταιὰν χεῖρα, ὑφ’ ἧς ἱκανῶς νῦν εἰσιν ὑψωμένοι. τότε δὲ πᾶσι μὲν ἀπελογοῦντο, κατηγόρουν δὲ οὐδενός· ἔλυον ἅπαντας, ἐδέσμευον δὲ οὐδένα· καὶ ὑπὲρ τῶν τὰ δεινὰ διατιθέντων ηὔχοντο, καθάπερ Στέφανος ὁ τέλειος μάρτυς· κύριε, μὴ στήσῃς αὐτοῖς τὴν ἁμαρτίαν ταύτην. εἰ δ’ ὑπὲρ τῶν λιθαζόντων ἐδέετο, πόσῳ μᾶλλον ὑπὲρ τῶν ἀδελφῶν; Übers. aaO. 75–77. 57 M. Lugd. 1,29–31 (TU 172, 60,15–62,6 Seeliger/Wischmeyer). Gregor von Tours, Franc. I 29 (AQDGMA 2, 32,28–30 Buchner) erwähnt ihn als ersten Bischof von Lyon und als einen der ersten Märtyrer Galliens. 58 M. Lugd. 1,19 (TU 172, 56,18 Seeliger/Wischmeyer); zu ihrem Tod durch Kreuzigung, wodurch sie als Christustypos erscheint, vgl. M. Lugd. 1,41 (aaO. 64,21): σταυροῦ σχήματι κρεμαμένη. 59 M. Mont. Luc. 14,4 (226,28–31 Musurillo): deinde lapsorum abruptam festinantiam; negationem pacis ad plenam paenitentiam et Christi sententiam differebat, nec non integros quoque ad tutelam integritatis exhortans. 56
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Es sei nur daran erinnert, dass Tertullian bekanntlich signifikant anders optierte: Das Martyrium löst zwar, wie er betont, von allen individuellen Sünden, und im rechten Märtyrer oder Bekenner ist der Geist bzw. Christus anwesend – aber nur zum eigenen Nutzen der Betreffenden, die darum nicht sogleich auch selbst die Lösegewalt für (Tod-)Sünden anderer Menschen besitzen (wie auch die Bischöfe nicht).60 Der Märtyrer möge sich damit bescheiden, Reinheit von seinen eigenen Verfehlungen erlangen zu dürfen, ohne zu beanspruchen, dass der eigene Tod in irgendeiner Weise auch für andere von heilvoller Bedeutung sein könne, was letztlich zur Konkurrenz mit Christus führen würde.61 Das steht in reizvollem Kontrast zu der ein gutes halbes Jahrhundert später in Pontius’ Vita et Passio Cyp riani geäußerten Ansicht, das Martyrium eines (dieses!) Bischofs habe auch eine sakramentale Dimension: Indem das Kirchenvolk „das Leiden seines Bischofs teilte (compassus)“, wurde es „von Gott dem Richter gleichfalls gekrönt (coronatus)“.62 Obwohl es dem Volk verwehrt war, selbst den Märtyrertod zu erleiden, bekam es durch Cyprians „Erstlingsopfer des Martyriums (martyrii primitiae)“63 Anteil an dem von ihm erworbenen Heil. Hier verspürte der Hagiograph also überhaupt keine Rivalität des bischöflichen Märtyrers mit Christus! Es war aber auch kein Zufall, dass Pontius über das Leiden eines Bischofs schrieb und diesem eine von Christus abgeleitete Mittlerrolle zuwies, die er auch schon im Leben innegehabt hatte, nämlich (wie Polykarp) als Lehrer.64 Das Charisma des Lehrers und des Märtyrers vereinigten sich hier im Bischof, womit gegenüber den anderen hier behandelten Märtyrertexten das Leben vor dem Tod in den Fokus rückte. Als Zwischenfazit sei festgehalten: Martyrium und Buße müssen durchaus nicht zwei Paar Schuhe sein – aber charismatische Bußautorität gehörte anscheinend nicht zum Standardinventar der frühchristlichen Märtyrerliteratur. Spannungen zwischen Charisma und Amt sind nur selten zu finden, Konflikte praktisch gar nicht. Das ist besonders bei der
Vgl. Tertullian, pudic. 22,1–4 (Karpp [s.o. Anm. 29], 220f.). Tertullian, pudic. 22,9–12 (Karpp [s.o. Anm. 29], 222f.). Zur Debatte über die Bußkompetenz der Konfessoren in nichtnarrativen Texten vgl. Dassmann 1973, 172–178. 62 Pontius, vit. Cypr. 18,5 (CSEL 3/3, CIX,10–13 Hartel): O beatum ecclesiae populum, qui episcopo suo tali et oculis pariter et sensibus, et quod est amplius, publica voce compassus est, et, sicut ipso tractante semper audierat, Deo iudice coronatus est. 63 Pontius, vit. Cypr. 17,3 (CSEL 3/3, CVIII,23 Hartel). 64 Pontius, vit. Cypr. 1,2 (CSEL 3/3, XCI,1f. Hartel): qui et sine martyrio habuit, quae doceret. Vgl. M. Polyc. 19,1 (16,19f. Musurillo): οὐ μόνον διδάσκαλος γενόμενος ἐπίσημος ἀλλὰ καὶ μάρτυς ἔξοχος. 60 61
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zuletzt behandelten Vita et Passio Cypriani erstaunlich, denn Cyprians Wirken als Bischof war kontinuierlich von solchen Auseinandersetzungen geprägt, wie seine Briefe dokumentieren. Die Erklärung dürfte darin liegen, dass ein Eingehen auf die Diskussionen mit den Konfessoren das eigene Verhalten Cyprians, zumal seine wenig heroische Flucht während der Verfolgung unter Kaiser Decius, in ein ungünstiges Licht gerückt hatte. Pontius wollte dies vermeiden: Da er eine Gedenkrede (laudatio funebris), keine Lebensbeschreibung (βίος), intendierte, fühlte er sich berechtigt, zu übergehen, was dem Lob abträglich war.65 3. Büßende Mönche 3.1. Können Heilige bußbedürftig sein? Vor der Behandlung der Frage, ob in Asketenviten mehr oder anders von Bußautorität gesprochen wurde, sei ein Zwischenschritt eingeschoben: Müssen auch Heilige Buße tun, und wenn ja, wie passt das in den hagiographischen Diskurs? Während von Märtyrerinnen und Märtyrer nur selten berichtet wird, dass sie der Buße bedürfen, und das Martyrium als Bluttaufe als hinreichend zur Reinigung von Sünden aller Art gilt, sieht dies bei Asketen anders aus. Zwar haben Wüstenväter und Klostermönche grundsätzlich eine Abwendung von der Welt vollzogen und sind zu Gott in ein dauerhaftes Verhältnis getreten; sie sind also, wie es auf den ersten Blick scheinen mag, der Sorge ledig, die Taufgnade durch sündhaftes Verhalten zu verspielen und ein weiteres Mal der Buße bedürftig zu werden. Umso größer ist auf den zweiten Blick aber die Gefahr, dass man auf dem erreichten geistlichen Niveau nicht zu verharren vermag, zumal es sich hier nicht, wie bei den Märtyrern, um eine kurze Zeit bis zur Hinrichtung handelt, sondern um ein möglicherweise sehr langes und von zahlreichen Anfechtungen geprägtes Leben. So erklärt sich das in monastischen Texten zu findende Drängen auf konsequente Buße gerade für die auf dem Weg zur Perfektion Befindlichen. Schon Basilius 65
Zur Gattung der Vita et Passio Cypriani vgl. Peter Lebrecht Schmidt, Die CyprianVita des Presbyters Paulinus – Biographie oder laudatio funebris?, in: Lore Benz (Hg.), ScriptOralia Romana. Die römische Literatur zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit (ScriptOralia 118), Tübingen 2001, 305–318; weiterführende Überlegungen zur Sonderstellung dieser Vita in der lateinischen Hagiographie bietet Mario Ziegler, Die Vita et Passio Cypriani. Aussageabsicht und historischer Hintergrund, in: Klio 91 (2009), 458–471.
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von Caesarea mahnte eine Jungfrau, die „abgefallen“ war, d.h. ihr Gelübde nicht länger halten wollte, zur Buße – Jesus habe ja die Sünder zu sich rufen wollen (Mk 2,17) und werde sie empfangen wie der Vater den verlorenen Sohn (Lk 15,20), wenn sie durch Buße gereinigt würde.66 Ein drastisches Sündenbewusstsein, das eine Heilige unmittelbar vor ihrem Tod zu einem flehentlichen Gebet veranlasst, bezeugt auch Gregor von Nyssa für seine Schwester Macrina.67 Zu einer allgemein gehaltenen Mahnung wurde dies z.B. bei Evagrius Ponticus: „Wahrhaft einsichtig ist der Mann, der sich nicht gegen die vollkommene Buße sträubt, gegen die bedrückende Erinnerung an die eigenen Sünden und an die Strafe im ewigen Feuer, die dafür eingefordert werden wird!“68 Darüber hinausgehend erklärt Johannes Cassian, worin das Ziel der Buße besteht: zunächst die Sünden zu unterlassen und dann die Erinnerung an sie aus dem Herzen zu verbannen – und woran man erkennen kann, dass man diesem Ziel nahe gekommen ist.69 Aber nicht alle Asketen hielten sich für derart gefährdet. In zeitlicher Nähe zu den beiden Genannten setzte sich Marcus Eremita mit Pneumatikern auseinander, die meinten, als „Vollkommene“ (τέλειοι) der Buße nicht mehr zu bedürfen.70 Den Messalianern, die oft als Marcus’ Gegner betrachtet wurden, warf man zwar keine Ablehnung der Buße vor, doch Basilius von Caesarea, ep. 46,6 (I,124,22–26 Courtonne): Ἕστηκεν ὁ Πατὴρ καὶ ἀναμένει τὴν σὴν ἀπὸ τῆς πλάνης ἐπάνοδον. Μόνον ἀνάλυσον, καί, ἔτι σου μακρὰν οὔσης, προσδραμὼν ἐπιπεσεῖται ἐπὶ τὸν τράχηλόν σου, καὶ φιλικοῖς ἀσπασμοῖς περιπτύξεται τὴν ὑπὸ τῆς μετανοίας ἤδη κεκαθαρμένην. 67 Gregor von Nyssa, vit. Macr. 24 (SC 178, 222,35–224,46 Maraval): Μὴ διαχωρισάτω με τὸ χάσμα τὸ φοβερὸν ἀπὸ τῶν ἐκλεκτῶν σου, μηδὲ ἀντιστήτω ὁ βάσκανος τῇ ὁδῷ μου μηδὲ εὑρεθείη κατενώπιον τῶν ὀφθαλμῶν σου ἡ ἁμαρτία μου, εἴ τι σφαλεῖσα διὰ τὴν ἀσθένειαν τῆς φύσεως ἡμῶν ἐν λόγῳ ἢ ἐν ἔργῳ ἢ κατὰ διάνοιαν ἥμαρτον. Ὁ ἔχων ἐπὶ γῆς ἐξουσίαν ἀφιέναι ἁμαρτίας, „ἄνες μοι, ἵνα ἀναψύξω“ (Ps 38,14 LXX) καὶ εὑρεθῶ ἐνώπιόν σου „ἐν τῇ ἀπεκδύσει τοῦ σώματός“ (Kol 2,11) μου „μὴ ἔχουσα σπίλον ἢ ῥυτίδα“ (Eph 5,27) ἐν τῇ μορφῇ τῆς ψυχῆς μου, ἀλλ’ ἄμωμος καὶ ἀκηλίδωτος προσδεχθείη ἡ ψυχή μου ἐν ταῖς χερσί σου „ὡς θυμίαμα ἐνώπιόν σου“ (Ps 140,2 LXX). 68 Evagrius Ponticus, or. 144 (PG 79, 1197B): Ἐπιγνώμων ἀνὴρ, ὁ μὴ πρὸ τῆς τελείας μετανοίας ἀνασχόμενος τῆς ἐλλύπου μνείας τῶν οἰκείων ἁμαρτημάτων, καὶ τῆς ἐν πυρὶ αἰωνίῳ δίκης, τῆς τούτων εἰσπράξεως. 69 Cassian, coll. 20,5 (CSEL 13, 558,10–14 Petschenig/Kreuz): paenitentiae plena et perfecta definitio est, ut peccata, pro quibus paenitudinem gerimus uel quibus nostra conscientia remordetur, nequaquam ulterius admittamus. indicium uero satisfactionis et indulgentiae est affectus eorum quoque de nostris cordibus expulisse. Vgl. dazu jetzt ausführlich Dorothee Schenk, Monastische Bildung. Johannes Cassians Collationes Patrum (SERAPHIM 16), Tübingen 2022, 113. 70 Marcus Eremita, Opusculum III 11 (PG 65, 981B). 66
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bestritten einige von ihnen die Wirksamkeit der Taufe, des fundamentalen Bußsakraments: „Die Taufe nützt denen nichts, die zu ihr kommen!“71 Hingegen stellte Marcus Eremita grundsätzlich fest, dass „allezeit alle, Sünder und Gerechte, die das Heil erlangen wollen, zur Buße verpflichtet sind“72 – und das gilt diesem monastischen Autor zufolge auch und gerade für die Mönche. Denn „wer die Buße verschmäht, kann nicht demütig sein.“73 Je tiefer die geistliche Einsicht in die Schuld des Menschen vor Gott, desto dramatischer die Erkenntnis der individuellen Vergebungsbedürftigkeit und der daraus resultierenden Notwendigkeit der Buße!74 Blickt man auf narrative Quellen, so findet man das Thema Buße – wie oben angekündigt – im literarischen Kleinformat in den Apophthegmata Patrum, den knapp ausgestalteten, aber prägnant inszenierten Dialogen zwischen Wüstenvätern und ihren Besuchern. Im Alphabetikon (Gerontikon), das im fünften Jahrhundert literarische Gestalt zu gewinnen begann,75 bringt Abbas Moses die Notwendigkeit der Buße wie folgt auf den Punkt: „Er sagte: ,Wenn ein Mensch es nicht in seinem Herzen hat, dass er ein Sünder ist, wird Gott ihn nicht erhören.ʻ Und es sagte der Bruder: ,Was Theodoret, haer. IV 9,1 (GCS N.F. 26, 137,13f. Gleede): Μεσσαλιανοὶ δὲ… τὸ μὲν βάπτισμά φασι μηδὲν ὀνίναναι τοὺς προσιόντας. Dies wird wenig später bekräftigt (aaO. 137,19f.): τοῦτον δὲ οὔτε τὸ βάπτισμα οὔτε ἄλλο τι δύναται τῆς ψυχῆς ἐξελάσαι, ἀλλὰ μόνη τῆς προσευχῆς ἡ ἐνέργεια. Vgl. Hermann Dörries, Die Messalianer im Zeugnis ihrer Bestreiter. Zum Problem des Enthusiasmus in der spätantiken Reichskirche, in: Saeculum 21 (1970) 213–227, 219. 72 Vgl. Marcus Eremita, Opusculum III 7 (PG 65, 976CD): πᾶσι πάντοτε προσήκειν οἶμαι τὴν μετάνοιαν ἁμαρτωλοῖς τε καὶ δικαίοις, τοῖς βουλομένοις σωτηρίας τυχεῖν. Übers. Otmar Hesse, Markus Eremita. Asketische und dogmatische Schriften (BGrL 19), Stuttgart 1985, 206; zu Marcus’ Bußtheologie vgl. Otmar Hesse, Markos Eremites und Symeon von Mesopotamien. Untersuchung und Vergleich ihrer Lehren zur Taufe und zur Askese, Diss. theol. Göttingen 1973, 164–166. 73 Marcus Eremita, Opusculum III 12 (PG 65, 984B): ὁ δὲ μετανοίας κεκορεσμένος, ταπεινοφρονεῖν οὐ δύναται. 74 Es wäre reizvoll, dieses Grundprinzip in Auseinandersetzung mit der Lektüre monastischer Texte durch Michel Foucault weiter zu profilieren; einschlägig wären insbesondere die Interpretation der Schriften Johannes Cassians in Michel Foucault, Die Regierung der Lebenden. Vorlesung am Collège de France 1979–1980, übers. von Andrea Hemminger, Berlin 2014, 336–412 und Michel Foucault, Sexualität und Wahrheit, Bd. IV: Die Geständnisse des Fleisches, hg. von Frédéric Gros, übers. von Andrea Hemminger, Berlin 2019, 161–201. Da die hier behandelten martyrologischen und hagiographischen Texte bei Foucault aber nur eine marginale Rolle spielen, muss eine eingehendere Diskussion einer anderen Gelegenheit vorbehalten bleiben. 75 Zur verwickelten Entstehungsgeschichte der verschiedenen Sammlungen von Apophthegmen vgl. Barbara Müller, Der Weg des Weinens. Die Tradition des „Penthos“ in den Apophthegmata Patrum (FKDG 77), Göttingen 2000, 16–38. 71
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ist das: Er hat es im Herzen, dass er Sünder ist?ʻ Und es sagte der Alte: ,Wenn jemand seine (eigenen) Sünden trägt und nicht auf die seines Nächsten blickt.ʻ“76
Moses, ein Äthiopier, ehemaliger Sklave und Straßenräuber, weiß, wovon er spricht – und weigert sich deshalb, über andere Brüder, die „gefallen“, d.h. hinter den Ansprüchen des eremitischen Lebens zurückgeblieben sind, zu richten.77 Den Hagiographen und Historiographen bot diese Umwegbiographie eine Gelegenheit zur pädagogischen Ausdeutung: Palladius entschuldigt sich in der Historia Lausiaca, er sei gezwungen, „über seine (sc. Moses’) Schlechtigkeit zu sprechen, damit ich die Großartigkeit seiner Sinneswandlung aufzeigen kann.“78 Der Kirchenhistoriker Sozomenus sekundiert, niemand habe wie Moses „vom Übeltäter zum Tugendhelden einen so gewaltigen Wandel vollzogen, so daß er den Gipfel der Mönchsphilosophie erreichte.“79 Dabei kam Moses, wie Palladius weiß, erst spät zum Bereuen (κατανυγείς), machte dann aber in der „tätigen Buße“ (πρᾶγμα τῆς μετανοίας) so rapide Fortschritte, dass er „den Genossen seiner üblen Handlungen von Jugend auf, den Dämon, geradewegs zur Erkenntnis Christi brachte“ – die eigene Buße strahlt sogar auf widergöttliche, eigentlich bußunfähige Wesen aus.80 Der vormalige Sünder Moses wird zum Exempel extrem erfolgreichen Büßens. In einer der erstaunlich wenigen einschlägigen Untersuchungen zur Buße im frühen Mönchtum ließ Hermann Dörries zahlreiche weitere AP/G 510 Moses 16 (PG 65, 288BC): Εἶπε πάλιν· Ἐὰν μὴ ἄνθρωπος ἔχῃ ἐν τῇ καρδίᾳ αὐτοῦ ὅτι ἁμαρτωλός ἐστιν, ὁ Θεὸς οὐκ εἰσακούει αὐτοῦ. Καὶ εἶπεν ὁ ἀδελφός· Τί ἐστιν, ἔχει ἐν τῇ καρδίᾳ ὅτι ἁμαρτωλός ἐστιν; Καὶ εἶπεν ὁ γέρων ὅτι, Εἴ τις βαστάζει τὰς ἁμαρτίας αὐτοῦ, οὐ βλέπει τὰς τοῦ πλησίον αὐτοῦ. Übers. Erich Schweitzer, Apophthegmata Patrum, Bd. I: Das Alphabetikon – Die alphabetischanonyme Reihe (Weisungen der Väter 14), Beuron 2012, 195. 77 AP/G 496 Moses 2 (PG 65, 281D–284A). Zu Moses vgl. ausführlich Peter Gemeinhardt, „Wie der Fisch ins Meer, so muss der Mönch ins Kellion eilen“. Die Anfänge der Wüstenaskese im spätantiken Ägypten, in: BThZ 32 (2015), 60–83, hier 66–71. 78 Palladius, h. Laus. 19,1 (FC 67, 164,5f. Hübner): ἀναγκάζομαι γὰρ λέγειν αὐτοῦ τὰ τῆς πονηρίας, ἵνα δείξω αὐτοῦ τὴν ἀρετὴν τῆς μετανοίας. Übers. aaO. 165. 79 Sozomenus, h. e. VI 29,19 (FC 73/3, 784,18–20 Hansen): φασὶ γὰρ ἀπὸ κακίας εἰς ἀρετὴν μηδενὶ τοσαύτην ὑπάρξαι μεταβολήν, ὥστε ἄκρου μὲν ἐπιψαῦσαι μοναχικῆς φιλοσοφίας. Übers. aaO. 785. 80 Palladius, h. Laus. 19,3 (FC 67, 164,22–26 Hübner): Οὗτος ὁ τοσοῦτος ὀψέ ποτε κατανυγεὶς ἐκ περιστάσεώς τινος, ἐπέδωκεν ἑαυτὸν μοναστηρίῳ καὶ οὕτως προσῆλθε τῷ πράγματι τῆς μετανοίας ὡς καὶ αὐτὸν τὸν συμπράκτην αὐτοῦ τῶν κακῶν ἐκ νεότητος δαίμονα τὸν αὐτῷ συναμαρτόντα ἄντικρυς εἰς ἐπίγνωσιν ἀγαγεῖν τοῦ Χριστοῦ. Übers. aaO. 165. 76
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bußfertige Wüstenväter aus den Apophthegmata Patrum aufmarschieren.81 Was bei Abbas Moses zu beobachten war, lässt sich Dörries’ Darlegungen zufolge prinzipialisieren: Nicht einmal der erfahrenste Abbas ist gegen die Versuchungen gefeit; die Gefahr, den Dämonen zu erliegen und der Buße zu bedürfen, besteht lebenslang. Bezeichnenderweise will einer der unbestritten Großen unter den Vätern, Sisoes, noch unmittelbar vor seinem Tod, als schon Engel kommen, um ihn abzuholen, Buße tun.82 In einer parallelen Überlieferung dieser Szene wurde der folgende Dialog hinzugefügt: „Da sagten die Alten zu ihm: ,Du hast es nicht nötig, Buße zu tun, Vater.ʻ Es sagte ihnen aber der Alte: ,Wahrlich, ich weiß selbst nicht, ob ich einen Anfang gemacht habe.ʻ Da erkannten alle, dass er vollkommen war.“83
Erneut ist es die Erkenntnis der eigenen Bußbedürftigkeit, die zur Vollkommenheit führt. Dieser Ton wird im Alphabetikon gleich zu Beginn angeschlagen: Die Aufgabe des Menschen im Allgemeinen und des Mönches im Besonderen ist es, so Antonius, „dass er vor Gott seine Schuld auf sich nimmt und Versuchung erwartet bis zum letzten Atemzug“.84 3.2. Die Mütter der Wüste als Beispiele extremer Buße Das gilt nicht nur für die Väter, sondern auch für die Mütter der Wüste, um die sich seit dem sechsten Jahrhundert sowohl hagiographische Erzähltraditionen als auch kultische Gedenkpraktiken entspannen: Pelagia und Maria Aegyptiaca wurden zu Paradigmen büßender Asketinnen und gewannen durch die Aufnahme ihrer Viten in die Tradition der Vitae Patrum auch im Abendland Prominenz.85 Pelagia, eine für ihre Hermann Dörries, Die Beichte im alten Mönchtum (1960), in: ders., Wort und Stunde, Bd. I: Gesammelte Studien zur Kirchengeschichte des vierten Jahrhunderts, Göttingen 1966, 225–250. 82 AP/G 852 Sisoes 49 (PG 65, 408A); vgl. Hermann Dörries, Die Theologie des Makarios/Symeon (AAWG.PH III,103), Göttingen 1978, 448. 83 AP/G 817 Sisoes 14 (PG 65, 396C): Καὶ λέγουσιν αὐτῷ οἱ γέροντες· Οὐ χρείαν ἔχεισ μετανοῆσαι, Πάτερ. Εἶπε δὲ αὐτοῖς ὁ γέρων· Φύσει οὐκ οἶδα ἐμαυτὸν ὅτι ἔβαλον ἀρχήν. Καὶ ἔμαθον πάντες ὅτι τέλειός ἐστι. Übers. Schweitzer (s.o. Anm. 76), 288. 84 AP/G Antonius 4 (PG 65, 77A): Αὕτη ἐστὶν ἡ μεγάλη ἐργασία τοῦ ἀνθρώπου, ἵνα τὸ σφάλμα ἑαυτοῦ ἐπάνω ἑαυτοῦ βάλῃ ἐνώπιον τοῦ Θεοῦ, καὶ προσδοκήσῃ πειρασμὸν ἕως ἐσχάτης ἀναπνοῆς. Vgl. hierzu und zum Folgenden Dörries, Beichte (s.o. Anm. 81), 226f. 85 Zu Maria Aegyptiaca vgl. Efthalia Makris Walsh, The Ascetic Mother Mary of Egypt, in: GOTR 24 (1989) 59–70; zu Pelagia vgl. Pierre Petitmengin et al. (Hgg.), Pélagie 81
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Schönheit berühmte, aber auch als meretrix („Dirne“) berüchtigte Schauspielerin in Antiochien, erbittet von Bischof Nonnus die Taufe, um sich von ihrem schlechten Lebenswandel zu reinigen, und zieht sich als Mönch „Pelagius“ in ein Kloster zurück, wo man erst nach ihrem Tod an ihrem immer noch perfekten weiblichen Körper ihr Geschlecht erkennt.86 Maria von Ägypten führte einstmals ein wildes Leben voller Promiskuität in Alexandrien, um ihr „unstillbares Verlangen“ zu befriedigen,87 bekehrt sich aber bei einem Aufenthalt in Jerusalem zum Christentum und siedelt sich daraufhin in der judäischen Wüste an. Dort lebt sie 47 Jahre lang unentdeckt, bis ihr der Mönch Zosimas begegnet, der ihr zunächst einmal seinen Mantel leiht, um sich der splitternackten, nur von ihrem Haar bedeckten Frau nähern zu können,88 sodann ihre Geschichte erfährt und sie nach ihrem Tod mit Unterstützung eines Löwen begräbt.89 Beide Viten wurden in verschiedene orientalische Sprachen sowie ins Lateinische übersetzt, sodass sich ihr Ruf auch im Abendland verbreitete. Bei Maria trug auch die Verehrung ihrer Reliquien dazu la Pénitente. Metamorphoses d’une légende, vol. 1: Les textes et leur histoire. Grec, Latin, Syriaque, Arabe, Arménien, Géorgien, Slavon, Paris 1981; zu beiden Frauengestalten Lynda L. Coon, God’s Holy Harlots: The Redemptive Lives of Pelagia of Antioch and Mary of Egypt, in: dies., Sacred Fictions. Holy Women and Hagiography in Late Antiquity (The Middle Ages Series), Philadelphia PA 1997, 71–94 und bereits Benedicta Ward, Harlots of the Desert: A Study of Repentance in Early Monastic Sources (CistSS 106), London 1987, 26–35.57–66 (mit englischen Übersetzungen der lateinischen Fassungen); zu heiligen Büßerinnen in den Vitas Patrum vgl. Jan Reitzner, Die Verba Seniorum in der monastischen Welt Frankreiches im 12. Jahrhundert. Reformare oder meliorare? (Archa Verbi. Subsidia 21), Münster 2022, 124–128. 86 Die Vita Pelagiae meretricis (PL 73, 663–672) verrät die Pointe der heiligen Sünderin schon im Titel, der allerdings in dieser Form erst in einem Manuskript aus dem 12. Jh. belegt ist und von hier aus in die Edition durch Rosweyde gelangte (Petitmengin [s.o. Anm. 85], 198f.). Ein etwa zeitgleiches Manuskript liest peccatricis, verbreiteter ist der Titel Convers(at)io vel paenitentia (aaO. 166.199.231) Die griechischen Textzeugen sprechen uneinheitlich von βίος καὶ πολιτεία der heiligen Pelagia – mit der verbreiteten Gattungsbezeichnung von Heiligenviten – oder von deren (βίος καὶ) μετάνοια (aaO. 77.94f.). 87 Ps.-Sophronius, Vita Mariae Aegyptiacae 18 (PG 87/3, 3709D): καὶ ὅπως μὲν τὴν ἀρχήν, τὴν ἐμαυτῆς παρθενίαν διέφθορα, καὶ πῶς ἀκρατῶς καὶ ἀκορέστως εἶχον περὶ τὸ πάθος τῆς μίξεως, αἰσχύνομαι ἐννοεῖν. 88 Ps.-Sophronius, Vita Mariae Aegyptiacae 13 (PG 87/3, 3707A). 89 Das Motiv der unerkannt in der Einsamkeit Lebenden und erst kurz vor ihrem Tod Entdeckten, das für die Viten der genannten Heiligen strukturbildend ist, nimmt auf Hieronymus’ Darstellung Pauls von Theben in der Vita Pauli Bezug, für dessen Rückzug Buße allerdings keine Rolle spielt.
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bei, dass sie zum Inbegriff einer asketischen Büßerin avancierte. Gerade die überdurchschnittliche Art und Zahl der Verfehlungen, die durch ebenso außergewöhnliche asketische Praktiken gebüßt werden, machen diese Frauen zu Vorbildern der Buße – ja mehr noch, sie kompensieren sogar das verhängnisvolle Geschick, das mit Evas Initiative zum Sündenfall das weibliche Geschlecht (vor allem für männliche Augen) ins Zwielicht gerückt hat.90 Der im siebten Jahrhundert abgefassten Vita liegt bereits eine ältere Überlieferung zugrunde, die in der Vita Cyriaci des Kyrill von Skythopolis († 558) erstmals greifbar wird: Hier sind es zwei durch die Wüste wandernde Mönche, die einen ihnen unbekannten Anachoreten treffen und von diesem seinen Segen erbitten, allerdings zu ihrem Erstaunen feststellen, dass der vermeintliche Einsiedler sich als Frau entpuppt. Diese hatte, die spätere Legende der ägyptischen Maria vorwegnehmend, ihren Weg in die Wüste von Jerusalem aus angetreten: Sie sei Kantorin an der Grabeskirche gewesen, berichtet die Eremitin, habe aber „auf Betreiben des Teufels“91 Anstoß erregt und habe sich, „von tiefer Reumut und Gottesfurcht ergriffen“,92 alleine in die Wüste zurückgezogen. Kurz nach dem Zusammentreffen mit den beiden monastischen Wanderern stirbt sie; ihr Grab wird zum Gedenkort der Büßerin.
Vgl. Coon (s.o. Anm. 85), 72: „Such females serve as mediators of human salvation; they atone for the sorrowful life of the postlapsarian Eve. The lives of desert men therefore reflect the supernatural spirituality of Christ and the prophets, while women’s vitae humanize the militancy of desert asceticism and preach the necessity for universal repentance.“ – Patricia Cox Miller, Is There a Harlot in This Text? Hagiography and the Grotesque, in: Journal of Medieval and Early Modern Studies 33 (2003), 419–435 analysiert die Viten der Pelagia und Maria Aegyptiaca unter dem Gesichtspunkt der Etablierung tatsächlicher „holy women“ (anstatt „weiblicher heiliger Männer“ wie in anderen hagiographischen Texten). Ihrer Lesart nach artikulieren diese Texte die traditionell antike und christliche Skepsis gegenüber weiblicher Sexualität – die spezifisch weibliche Heiligkeit eigentlich ausschließt –, benennen aber zugleich die femininen Attribute, und dies ausdrücklich wertschätzend (aaO. 429). Dabei werden beide Frauen sowohl mit weiblichen und männlichen biblischen Typen interpretiert: In zweifelhaften Verhältnissen lebenden Frauen (Lk 7,37f.; Joh 4,15– 18) stehen Christusverkörperungen gegenüber (aaO. 426f.). Miller folgend würde also Buße für konkrete Sünden (Promiskuität, Gefallsucht etc.) geleistet, nicht aber für das „Frau-Sein“ als solches. 91 Kyrill von Skythopolis, vit. Cyriac. 11 (TU 49/2, 233,29 Schwartz): πολλοὺς ὁ διάβολος ἐσκανδάλισεν εἰς ἐμέ. 92 Kyrill von Skythopolis, vit. Cyriac. 11 (TU 49/2, 234,1f. Schwartz): ἐν μιᾶι οὖν κατανυγεῖσα τὴν καρδίαν εἰς τὸν φόβον τοῦ θεοῦ. 90
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Die Apophthegmata Patrum kennen ebenfalls Geschichten von büßenden Prostituierten. Eine junge Frau namens Paesia führt eine Herberge für Wüstenbesucher und -bewohner, wird aber aus ökonomischer Not zur Prostituierten. Offenbar traut sie sogar Abbas Johannes Kolobos, der sie auf Bitten anderer Väter aufsucht, zu, ihr Kunde werden zu wollen, und erwartet ihn im Bett – umso erstaunter ist sie, wie er ihr tatsächlich begegnet: „Er sah ihr ins Gesicht und sprach zu ihr: ,Warum verachtest du Jesus, weil du dahin gekommen bist?ʻ Als sie das gehört hatte, erstarrte sie gänzlich. Und Abbas Johannes beugte seinen Kopf hinunter und begann heftig zu weinen. Da sagte sie zu ihm: ,Abbas, was weinst du?ʻ Der blickte auf, beugte sich wieder, weinte und sagte zu ihr: ,Ich sehe, dass Satan dich ins Gesicht verspottet, und ich soll nicht weinen?ʻ Als sie das gehört hatte, sagte sie zu ihm: ,Gibt es eine Buße, Abbas?ʻ Er sagte ihr: ,Ja.ʻ“93
Johannes und Paesia gehen gemeinsam in die Wüste und legen sich zum Schlaf nieder, und nur wenig später wird der jungen Frau die ersehnte Buße gewährt, wie der Abbas bezeugen kann: „Um Mitternacht erwachte er und sah einen erhellten Weg, der sich vom Himmel bis zu ihr erstreckte. Und er sah, wie Engel ihre Seele hinauftrugen. Er stand nun auf, ging hin und stieß sie am Fuß. Als er sah, dass sie gestorben war, warf er sich mit dem Gesicht zu Boden und betete zu Gott. Und er hörte, dass die eine Stunde ihrer Buße hingenommen wurde für eine Buße, die sich viele Stunden hinzieht, aber nicht die Glut einer solchen Buße aufweist.“94
Diese anrührende Geschichte, die weit über den üblichen knappen Wortwechsel zwischen dem Abbas und den ihn Befragenden hinausgeht, AP/G 355 Johannes Kolobos 40 (PG 65, 217D): Τί κατέγνως τοῦ Ἰησοῦ, ὅτι εἰς τοῦτο ἦλθες; Ἀκούσασα δὲ, ἀπεπάγη ὅλη. Καὶ κλίνας κάτω τὴν κεφαλὴν αὐτοῦ ὁ ἀββᾶς Ἰωάννης, ἤρξατο κλαίειν σφοδρῶς. Λέγει αὐτῷ αὐτή· Ἀββᾶ, τί κλαίεις; Ὡς δὲ ἀνένευσε, πάλιν ἔκλινεν ἑαυτὸν κλαίων, καὶ λέγει αὐτῇ· Βλέπω ὅτι ὁ Σατανᾶς παίζει εἰς τὴν ὄψιν σου, καὶ οὐ μὴ κλαύσω; Ἀκούσασα δὲ λέγει αὐτῷ· Ἔνι μετάνοια, ἀββᾶ; λέγει αὐτῇ· Ναί. Übers. Schweitzer (s.o. Anm. 76), 140. 94 AP/G 355 Johannes Kolobos 40 (PG 65, 220A): Περὶ δὲ τὸ μεσονύκτιον διϋπνισθεὶς, βλέπει ὁδόν τινα φωτεινὴν ἀπὸ τοῦ οὐρανοῦ ἕως αὐτῆς ἐστηριγμένην· καὶ εἶδε τοὺς ἀγγέλους τοῦ Θεοῦ ἀναφέροντας τὴν ψυχὴν αὐτῆς. Ἀναστὰς οὖν καὶ ἀπελθὼν, ἔνυξεν αὐτὴν τῷ ποδί. Ὡς δὲ εἶδεν ὅτι ἀπέθανεν, ἔῤῥιψεν ἑαυτὸν ἐπὶ πρόσωπον δεόμενος τοῦ Θεοῦ. Καὶ ἤκουσεν, ὅτι ἡ μία ὥρα τῆς μετανοίας αὐτῆς, προσεδέχθη ὑπὲρ μετάνοιαν πολλῶν χρονιζόντων, καὶ μὴ ἐνδεικνυμένων τὸ θερμὸν τῆς τοιαύτης μετανοίας. Übers. Schweitzer (s.o. Anm. 76), 140. – Eine sehr ähnliche Episode ist in den in Ms. Paris, B.N. Coislin 126 überlieferten Anonyma enthalten; vgl. François Nau, Histoires des solitaires égyptiens (pt. 2), in: ROC 12 (1907), 171–189, hier 174. 93
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behandelt einen entscheidenden theologischen Aspekt: Es ist nicht die Dauer, sondern die Intensität, die wahre Buße ausmacht; und es ist das Mitgefühl, ja das Weinen des Abbas, das in diesem Fall der Sünderin vor Augen führt, in welcher Gefahr für ihr Seelenheil sie sich befindet. Allerdings sind spontane Buße und sofortige Vergebung nicht die Regel, vielmehr kennen auch die Apophthegmata Patrum lange Bußzeiten: Eine namenlose Prostituierte empfängt Gäste in ihrem „Kellion“ (!), gerät allerdings an Abbas Serapion, der – statt mit ihr ins Bett zu steigen – einen Gottesdienst mit Psalmen- und Brieflesungen durchführt, bis sie merkt, dass er „nicht um der Sünde willen“ (οὐ δι᾿ ἁμαρτίαν) gekommen ist, sondern „um ihre Seele zu retten“ (ἵνα σώσῃ αὐτῆς τὴν ψυχήν). Sie bittet ihn, sie in ein Frauenkloster zu bringen. Dort beginnt sie zu fasten, steigert dies alle paar Tage und lässt sich schließlich in ein Kellion (diesmal im monastischen Sinne) einschließen, wo sie bei kargem Brot und Handarbeit den Rest ihres Lebens verbringt.95 3.3. Buße als Bestandteil asketischer Praxis Auch bei männlichen Asketen kann das Einsiedlerdasein zum lebenslangen Bußakt werden. Hilarion von Gaza, der von Hieronymus hagiographisch verewigte Antonius-Schüler, trägt einen saccus, den zu waschen er für unnötig erklärt, denn bei einem solchen „härenen Bußgewand“ (cilicium) brauche man nicht auf Reinlichkeit zu achten.96 Damit wird die auch aus anderen Viten bekannte Indifferenz gegenüber der äußeren Erscheinung97 ausdrücklich als Bußpraxis ausgewiesen. Theodoret berichtet von dem Asketen Thalelaeus, der sich einen Käfig aus zwei großen, miteinander verbundenen Rädern zimmert, in dem er freischwebend und überaus eingeengt lebt; als der Hagiograph ihn nach dem Grund für diese „neuartige Lebensweise“ fragt, erklärt Thalelaeus, er sei „mit vielen Sünden beschwert“ und habe deshalb für seinen Körper „mäßige Züchtigungen ersonnen, um dem Übermaß der künftigen Schrecken zu entgehen“.98 AP/G 875 Serapion 1 (PG 65, 413D–416C, Zitat 416B). Hieronymus, vit. Hilar. 4,2 (SC 508, 266,10–12 Leclercq/Morales). 97 Bereits Antonius hatte ein solches Gewand („innen behaart, außen ledern“) getragen: Athanasius, vit. Ant. 47,2 (FC 69, 218,6–220,1 Gemeinhardt). Von Körperpflege nahm auch er Abstand (vit. Ant. 93,1; aaO. 308,6–8). 98 Theodoret, h. rel. 28,4 (SC 257, 228,3–9 Canivet/Leroy-Molinghen): Ἠρόμην δὲ μαθεῖν τῆς καινῆς ἐκείνης πολιτείας τὴν αἰτίαν ποθῶν. Ὁ δὲ τῇ ἑλλάδι χρησάμενος φωνῇ—Κίλιξ γὰρ τὸ γένος ἐτύγχανεν ὤν· «Ἐγώ, ἔφη, πολλαῖς ὑποκείμενος ἁμαρτίαις 95 96
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Sehr nachdrücklich stellt der bereits erwähnte Kyrill von Skythopolis die Bußbereitschaft der Väter der judäischen Wüste heraus. Der Begründer des dortigen Laurenmönchtums, Euthymius († 473), wird während einer dramatischen Dürre von Hunger leidenden Menschen um Hilfe gebeten, verweigert diese aber zunächst mit dem Hinweis auf die von ihm selbst empfundene geistliche Unzulänglichkeit: „Was wollt ihr von einem sündigen Menschen?“99 Der Wassermangel sei Gottes Erziehungsmittel angesichts des sündhaften Verhaltens der Menschen, das alle – und eben auch die vermeintlich heiligmäßigen Mönche – zur Buße motivieren möge: „Ergrimmt darüber hat Gott diese Züchtigung über uns gebracht, damit wir, durch sie zur Besinnung gekommen und durch Buße gebessert (διὰ μετανοίας βελτιωθέντες), in heiliger Furcht hintreten möchten vor ihn. Dann wird er uns erhören.“100
Das Volk vertraut freilich lieber dem stellvertretenden Gebet des „geisttragenden Vaters“,101 auf dessen Flehen hin Gott tatsächlich gewaltige Regenfluten sendet, die die Ernte retten – Euthymius wird durch die anhaltenden Regenfälle allerdings für Monate daran gehindert, selbst die Wüste zu betreten. Es wird deutlich, dass zwischen der Sünde der Menschen, die Gott für ihre ausbleibende Umkehr bestraft, und der Sündeneinsicht der Asketen, die den Weg zur Besserung schon längst beschritten haben, unterschieden werden muss: Euthymius wirkt interzessorisch und tut stellvertretend für das Volk Buße, deren er selbst, aber auf einem anderen geistlichen Niveau, bedarf.102 Die Einsicht, dass man sich gerade als καὶ ταῖς ἠπειλημέναις τιμωρίαις πιστεύων τόδε τοῦ βίου τὸ εἶδος ἐπινενόηκα, κολάσεις μετρίας τῷ σώματι μηχανώμενος, ἵν’ ἐκείνων τῶν προσδοκωμένων ὑποσυλήσω τὸν ὄγκον. Übers. Konstantin Gutberlet, Theodoret von Cyrus. Mönchsgeschichte (BKV 50), München 1926, 173. Ein ähnliches Sündenbewusstsein wird in h. rel. 21,33 (aaO. 120,8–11) dem „großen Jacobus“ zugeschrieben. 99 Kyrill von Skythopolis, vit. Euthym. 25 (TU 49/2, 38,15 Schwartz): τί ζητεῖτε παρ’ ἀνθρώπου ἁμαρτωλοῦ; 100 Kyrill von Skythopolis, vit. Euthym. 25 (TU 49/2, 38,22–25 Schwartz): καὶ διὰ τοῦτο ὀργισθεὶς ἐπεισήγαγεν ἡμῖν τὴν παιδείαν ταύτην, ἵνα δι’ αὐτῆς σωφρονισθέντες καὶ διὰ μετανοίας βελτιωθέντες προσέλθωμεν τῶι φόβωι αὐτοῦ καὶ οὕτως ἀκούηι ἡμῶν. Übers. Kloster des hl. Johannes des Vorläufers, Kyrillos von Skythopolis, Die heiligen Mönchsväter von Palästina (Chania, Kreta), Nauen 2009, 45 (verändert). 101 Kyrill von Skythopolis, vit. Euthym. 25 (TU 49/2, 39,16f. Schwartz): πνευματοφόρος πατήρ. 102 Auch in vit. Sab. 44 (TU 49/2, 134,9–135,28 Schwartz) weiß Kyrill von einem lebenslang Buße tuenden Mönch namens Aphrodisius zu berichten. Dieser hatte im Zorn ein Maultier erschlagen und damit vor aller Augen gesündigt. Ebd. 49 (aaO.
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Asket Gott nur mit Furcht und Zittern nähern kann, führt nicht zur Untätigkeit, sondern zum Auftreten als Mittler, der aber als Sünder nicht zu Gott in Konkurrenz geraten kann. Von hier aus eröffnet sich die Möglichkeit der charismatischen Bußautorität, von der unten noch zu sprechen sein wird. Die bei Euthymius beobachtete Unterscheidung ist bereits in Athanasius’ Vita Antonii angelegt, auch wenn davon nicht sehr deutlich die Rede ist. Antonius’ Bußfertigkeit wird in der Forschung daher uneinheitlich beurteilt. Dörries sah im Wissen um die individuelle Sündhaftigkeit und Bußbedürftigkeit, das er in den Apophthegmata Patrum fand, einen gravierenden Unterschied zwischen den von ihm für lebensecht gehaltenen Wüstenvätersprüchen und der Vita Antonii als konkurrierender Hagiographie; Athanasius habe geglaubt, ein Asket könne sündlos bleiben, und habe Antonius in der Vita „nirgends als Büßer“ auftreten lassen.103 Die Stelle, auf die er sich bezieht, macht aber gerade den entscheidenden Punkt des monastischen Aufstiegs zur Gottesnähe deutlich: In einer Vision wird Antonius von luftigen Wesen gen Himmel geführt, woran ihn andere Wesen hindern wollen, da er ihnen gegenüber doch schuldig sei. Seine Begleiter erwidern: „Das (was) seit der Geburt (angefallen war,) hat der Herr getilgt. Von da ab, als er Mönch wurde und dies Gott verkündete, sei es euch erlaubt, eine Rechnung aufzumachen!“104 Es ist bezeichnenderweise nicht von der Taufe – die in der Vita Antonii nicht erwähnt wird –, sondern vom Aufbruch zum monastischen Leben die Rede: Den Anstoß hierfür empfängt Antonius in der Kirche, indem er Jesu Wort an den reichen Jüngling (Mt 19,21), eine der meistzitierten Aufforderungen zur Nachfolge, hört.105 Eine Kehrtwende von eklatanter Sündhaftigkeit hin zu lebenslanger Buße wird dadurch nicht initiiert, doch wird die Gefahr, hinter der jeweils erreichten Stufe der Gottesnähe zurückzubleiben, in der Vita vielfach greifbar. Entsprechend schärft der Mönchsvater seinen Schülern ein, der Asket müsse wie jeder Mensch streng auf seinen Lebenswandel achten, er solle zur Selbstbeobachtung 138,19–139,19) erzählt Kyrill von dem reumütigen Syrer Fláis, der – nachdem sein Hochmut zum Tod eines Esels geführt hatte – von Sabas wieder auf den rechten Weg gebracht wird. 103 Hermann Dörries, Die Vita Antonii als Geschichtsquelle (1949), in: ders., Wort und Stunde, Bd. I: Gesammelte Studien zur Kirchengeschichte des 4. Jahrhunderts, Göttingen 1966, 145–224, hier 181. 104 Athanasius, vit. Ant. 65,4 (FC 69, 250,15–17 Gemeinhardt). 105 Athanasius, vit. Ant. 2,3 (FC 69, 112,1–4 Gemeinhardt).
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ein „journal intime“ führen106 – er internalisiert und individualisiert damit die Pflicht zur Buße. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Buße bei Asketinnen und Asketen vielfach zum Thema wird. Einerseits wird die besondere Vorbildlichkeit in manchen Fällen – etwa bei Abbas Moses, aber auch bei büßenden Wüstenmüttern wie Pelagia und Maria Aegyptiaca – durch eine ebenso außergewöhnliche Lebenswende begründet, die andauernde Bußleistungen nach sich zieht. Andererseits ist niemand vor den Attacken der Dämonen gefeit, es gibt also keinen geistlichen Zustand im irdischen Leben, der den Menschen prinzipiell der Bußbedürftigkeit enthöbe – auch wenn manche Eremiten faktisch als Sieger über die Dämonen erscheinen. Das gelingt vor allem durch konsequente Selbstbeobachtung, und wo diese erfolgreich praktiziert wird, ist der Ansatz zur Ausübung von Bußautorität über andere Christinnen und Christen gegeben. 4. Charismatische Bußautorität von Mönchen und Heiligen 4.1. Individuelles Charisma und kirchliche Bußgewalt „Auf sich selbst zu achten“ (προσέχειν ἑαυτοῦ) ist eine entscheidende asketische Kompetenz. Es wäre aber von Durchschnittschristinnen und -christen zu viel verlangt, diese Selbstkontrolle und nötigenfalls sogar Selbstkorrektur mit der nötigen Konsequenz zu praktizieren. Dafür bedarf es priesterlicher und bischöflicher Aufsicht, und in dem Maße, in dem neben Mönchen und anderen Asketen auch Bischöfe zu Protagonisten hagiographischer Texte werden, spielt Bußautorität dabei eine Rolle. So liest man in der Vita des Hilarius von Arles († 449): „Wen hätte er nicht zurechtgewiesen, so dass der Zurechtgewiesene es mit Freude aufnahm?“107 Die rhetorische Frage legt die Auffassung offen, dass die bischöfliche Paränese immer auch einen Bildungsaspekt beinhaltet: Zur Korrektur des So Holl, Enthusiasmus (s.o. Anm. 4), 261 zu Athanasius, vit. Ant. 55,9–12 (FC 69, 236,2–14 Gemeinhardt). Zu Holls Interpretation der Vita Antonii vgl. Mühlenberg (s.o. Anm. 3), 182. 107 Hilarius von Arles, vit. Honorat. 26,3 (SC 235, 144,17f. Valentin): Quem non cum ipsius, qui corrigebatur, voluptate [v.l. gaudio] correxit? Übers. Franz Jung, Hilarius von Arles: Leben des hl. Honoratus. Eine Textstudie zu Mönchtum und Bischofswesen im spätantiken Gallien mit lateinisch-deutschem Text des Sermo sowie zweier Predigten über den hl. Honoratus von Faustus von Riez und Caesarius von Arles, FohrenLinden 2013, 197. 106
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erhaltens tritt die Einsicht in den Sinn und die Notwendigkeit, zwecks V Erlangung des Heils zur Buße ermahnt zu werden. Ebenso bemühte sich Caesarius von Arles († 542) darum, die Gemeinde in Arles zur Selbst-Sorge zu motivieren, damit „keiner ohne das Heilmittel der Buße aus dieser Welt scheiden sollte“108 und dadurch Gefahr liefe, dem Teufel zu verfallen: „Durch seine Fürsprache (supplicatione) verfolgte er die Absicht, ihn der Buße vorzubehalten (paenitentiae reservari), auf dass der Herr durch Buße seine Seele heile, welcher der Feind durch die Verleumdung habhaft geworden war. Indem er so dem Feind im eigenen Hause milde verzieh, besiegte er den alten Widersacher durch ein reines Gewissen in derselben Angelegenheit gleich zweimal.“109
Caesarius’ Tun weist über das pastoral Gebotene hinaus und wird, genau wie bei Hilarius, zum Kennzeichen seiner besonderen Vorbildlichkeit. Geht es hier um die Lebenden, so erreicht die von einem heiligmäßigen Presbyter administrierte Buße unter Umständen sogar Verstorbene, wie Gregor der Große zu berichten weiß: Ein Priester namens Severus wird zu einem Sterbenden gerufen, um ihm die Beichte abzunehmen, will aber zuvor noch seinen Weinberg beschneiden, offenbar in Verkennung der Lage: Denn bis er sich zu dem Kranken aufmacht, ist dieser bereits dahingeschieden. Severus betet voller Selbstvorwürfe zu Gott und holt allein durch seine Gebete den Toten wieder ins Leben zurück, sodass dieser noch sieben Tage lang Buße tun und dann in Frieden sterben kann.110 Hier verbindet sich priesterliche Bußautorität mit Wunderwirken, das über die Durchführung des Bußritus hinausgeht. Allerdings ermöglicht erst Severus’ tugendhafter Lebenswandel das Wunder der Totenauferweckung. Auch die genannten Arleser Bischöfe sind aufgrund ihrer monastischen Ausbildung in Lérins mehr als „nur“ Bischöfe: Ihre asketische Vorbildung unterstützt und beglaubigt die episkopale Amtsführung, ohne dass man schon von „charismatischer Bußautorität“ sprechen sollte: Sie machen ja nur ihren Job, diesen allerdings ausgesprochen gut. Vit. Caes. Arelat. II 11 (SC 536, 258,11f. Delage/Heijmans): cum nullum sine medicamento paenitentiae de hoc mundo vir Dei voluisset recedere. Übers. Franz Jung, Cyprian von Toulon, Firminus von Uzès und Viventius, Messianus und Stephanus, Das Leben des Heiligen Caesarius von Arles, Fohren-Linden 2018, 203. 109 Vit. Caes. Arelat. I 24 (SC 536, 180,8–13 Delage/Heijmans): quam supplicatione propria maluit paenitentiae reservari, ut animam eius per paenitentiam curaret Dominus, quam per falsam proditionem capticam fecerit inimicus, et domestico hosti clementer indulgens, antiquum adversarium in una causa conscientia pura bis vinceret. Übers. Jung, Cyprian (s.o. Anm. 108), 167. 110 Gregor I., dial. I 12,3 (SC 260, 114,34–38 de Vogüé/Antin). 108
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Es passt ins Bild, dass Martin von Tours († 397) als wundertätiger Mönchsbischof das Bußverfahren nicht etwa vernachlässigt oder geringschätzt, sondern verteidigt. Kein Geringerer als der Teufel habe Martin – so berichtet sein Hagiograph – kritisiert, weil er Brüder, die durch ihre Sünden die Taufgnade verloren hätten, nach einer Bußphase wieder ins Kloster aufgenommen habe. Die Sünder hätten sich – genau genommen ein zweites Mal – „bekehrt“ (conversos). Martin besteht darauf, dass der „bessere Lebenswandel“ (melioris vitae conversatio) die Sünden tilge und man „um der Barmherzigkeit willen“ denen die Sünden zu vergeben habe, „die zu sündigen aufgehört hätten“. Der Teufel entgegnet, den Gefallenen (lapsis) schenke Gott nicht noch einmal seine Güte, doch Martin erwidert: „Wenn du, Elender, aufhörtest, die Menschen zu verfolgen und über dein Treiben Reue empfändest, jetzt, da der Tag des Gerichts nahe ist, dann würde ich sogar dir in festem Vertrauen auf Jesus Christus Barmherzigkeit versprechen.“111 Buße wird hier tatsächlich dem Teufel offeriert – durch einen besonderen Heiligen und Bischof! Ansonsten reicht bei gegebener menschlicher Reue das kirchlich sanktionierte Bußverfahren aus, um auch die „zweite Sünde“ zu tilgen. Der Einsatz von Martins Wunderkraft (virtus) bleibt den wirklich schweren Fällen vorbehalten. Das Beibehalten der kirchlichen Buße gilt sogar für die iroschottische Tradition: Columban der Jüngere († 615), mit dem die Mission des insularen Mönchtums im Frankenreich beginnt, wird in Besançon ins Gefängnis geworfen und erfährt, dass dort mit ihm zahlreiche zum Tode Verurteilte festgehalten werden. Sofort schreitet er zur Tat: „Er verkündete den Verurteilten das Wort Gottes. Sie versprachen, sich zu bessern und Buße für ihre Verbrechen zu tun (penitentiam acturos), wenn sie frei würden … [Nach dem Entfernen ihrer Fesseln] vollzog er den 111
Sulpicius Severus, vit. Mart. 22,3–5 (SC 133, 300–302 Fontaine): Testabantur etiam aliqui ex fratribus audisse se daemonem protervis Martinum vocibus increpantem cur intra monasterium aliquos ex fratribus qui olim baptismum diversis erroribus perdidissent conversos postea recepisset exponentem crimina singulorum Martinum diabolo repugnantem respondisse constanter antiqua delicta melioris vitae conversatione purgari et per misericordiam domini absolvendos esse peccatis qui peccare desierint. Contra dicente diabolo non pertinere ad veniam criminosos et semel lapsis nullam a domino praestari posse clementiam tunc in hanc vocem fertur exclamasse Martinus si tu ipse miserabilis ab hominum insectatione desisteres et te factorum tuorum vel hoc tempore cum dies iudicii in proximo est paeniteret ego tibi vere confisus in domino Iesu Christo misericordiam pollicerer. O quam sancta de domini pietate praesumptio in qua etsi auctoritatem praestare non potuit ostendit affectum. Übers Karl Suso Frank, Frühes Mönchtum im Abendland, Bd. II: Lebensgeschichten, hg. von Carl Andresen, Zürich/München 1975, II,45f.
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Dienst des Evangeliums (Joh 13,4f.) an ihnen, indem er ihnen die Füße wusch und sie mit dem Linnentuch abtrocknete, und hieß sie dann, den Kerker zu verlassen. Danach befahl er ihnen, zur Kirche zu eilen und Buße für ihre vergangenen Sünden zu tun und mit ihren Tränen ihre Schuld abzuwaschen.“112
Einerseits erweist sich Columban durch sein Handeln als Nachfolger der Apostel, andererseits wirkt die Anweisung, man möge beim Ortsbischof in Sachen Buße vorsprechen, ganz „uncharismatisch“.113 Allerdings sei, so Jonas von Bobbio, in Gallien vor Ankunft der Missionare „wegen der Nachlässigkeit der Bischöfe die Lebenskraft der Religion fast ganz geschwunden“ gewesen; die „Heilmittel der Buße“ (penitentiae medicamenta) und die „Liebe zur Abtötung“ (mortificationis amor), also sowohl der sakramentale als auch der asketische Weg zur Gottgefälligkeit, seien weitgehend verschwunden gewesen.114 Die von Columban begründete Mönchsgemeinschaft habe sich hingegen durch ihre Gütergemeinschaft, aber auch durch die bei Zuwiderhandeln greifenden strengen Bußstrafen als „engelsgleich“ ausgezeichnet115 – auch hier finden sich also Abstufungen zwischen kirchlicher und monastischer Bußpraxis. 4.2. Charismatische Interzessoren Bis hierher wurden Texte aus der lateinischen Hagiographie der Spätantike betrachtet, mit dem Ergebnis, dass „amtliche“ und „charismatische“ Bußautorität durchaus zusammenwirken können. Was ist aber zu den griechischen Mönchen zu sagen, auf die sich Holl konzentrierte? Ein Beispiel für charismatische Bußautorität fand bereits Holl in der Vita Jonas von Bobbio, vit. Columb. 19 (MGH.SRM 4, 89,15f.20–22 Krusch): … verbum Dei damnatis depromit, spondentque illi, si liberentur, emendaturos et de commissa noxa penitentiam acturos … peractoque euangelici cultus officio, pedes lavit linteoque abstersit. Imperatque deinde, ut ecclesiam petant et commissi sceleris penitendo ac fletibus abluendo culpas luant. Übers. Frank (s.o. Anm. 111), II,207. 113 Die Angelegenheit gewinnt allerdings noch im selben Kapitel an Dramatik, als die Büßer vor der fest verschlossenen Kirchentür stehen und die Gefängniswärter, die ihre Flucht bemerkt haben, nahen – hier hilft nur das Gebet des Heiligen, auf das hin Gott ihnen die Kirchentüren öffnet und sie vor den Verfolgern wieder verschließt! 114 Jonas von Bobbio, vit. Columb. 5 (MGH.SRM 4, 71,9–12 Krusch): … ubi tunc vel ab frequentia hostium externorum vel neglegentia praesulum religionis virtus pene abolita habebatur. Fides tantum manebat christiana, nam penitentiae medicamenta vel mortificationis amor vix vel paucis in ea repperiebatur locis. Übers. Frank (s.o. Anm. 111), II, 185. 115 Vgl. Jonas von Bobbio, vit. Columb. 5 (MGH.SRM 4, 72,1–4 Krusch). 112
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Antonii: Das χάρισμα des Mönches zeige sich in seiner geistlichen Leitung anderer, auch von Nichtmönchen („Weltleuten“). Diese heilt, rät, belehrt und exorziert Antonius – das ist zweifellos das dominierende Thema des zweiten Teils der Vita nach Antonius’ endgültigem Rückzug auf den „inneren Berg“, von dem aus er den „äußeren Berg“ besucht, um mit der Welt hilfreich in Kontakt zu treten. Wenn Binden und Lösen bedeute, so Holl, „das richtige Heilmittel für die Sünde angeben und durch die Fürbitte bei Gott bewirken, dass die Schuld verziehen wird“, dann übe der Mönch „etwas der Binde- und Lösegewalt Analoges“ aus, wenn er etwas „zum Nutzen der Seele“ (πρὸς ὠφέλειαν τῆς ψυχῆς) sage.116 Doch ist nicht überall, wo die Welt durch den Eremiten „Nutzen“ empfängt, auf eine Vermittlung von Buße zu schließen, wenn man nicht jeden seelsorgerlichen Rat hierunter verbuchen möchte. Eine Konkurrenz zur bischöflichen Bußgewalt ist schon gar nicht zu erkennen – was bei Athanasius, dem episkopalen Hagiographen, auch nicht erstaunt. Das ist allerdings nicht zwingend, sondern hängt offensichtlich vom Charakter und von der Aussageintention hagiographischer (Sammel-) Werke ab. So ist das Ausüben charismatischer Bußautorität prononciert in Theodorets Historia religiosa zu beobachten. Hier wollen in einer ziemlich skurrilen Szene einige durchtriebene Bettler den Asketen Jacobus betrügen, indem sie ihn um Begräbniskosten für einen Verstorbenen bitten. Dieser täuscht seinen Tod allerdings nur vor; doch als Jacobus für sein ewiges Heil betet, entflieht seine Seele tatsächlich. Als die Gauner merken, dass „die Verstellung Wahrheit und die Maske zum wahren Gesicht“ geworden ist,117 sind sie geschockt und bitten den Asketen, er möge ihnen die Sünde vergeben und sich auch des Toten annehmen. Jacobus ist ihnen auch diesmal zu Willen: „Er ahmte die Menschenfreundlichkeit des Herrn nach, erhörte ihre Bitte, wirkte das Wunder und gab das Leben, das ihm durch das Gebet genommen worden, durch Gebet wieder zurück.“118 Buße ist also bei ehrlicher Reue möglich, indem man dem Heiligen beichtet, woraufhin er an Stelle Christi – ohne Amt – Vergebung gewährt. Holl, Enthusiasmus (s.o. Anm. 4), 314. Theodoret, h. rel. 1,8 (SC 234, 174,14f, Canivet/Leroy-Molinghen): ἀλήθειαν τὸ σχῆμα γεγενημένον καὶ εἰς πρόσωπον τὸ προσωπεῖον μεταβληθέν. Übers. Gutberlet (s.o. Anm. 98), 32. 118 Theodoret, h. rel. 1,8 (SC 234, 174,20–176,23 Canivet/Leroy-Molinghen): Τὴν δεσποτικὴν τοίνυν φιλανθρωπίαν μιμούμενος, καὶ τὴν ἱκετείαν ἐδέξατο, καὶ τὴν θαυματουργίαν ἐπεδείξατο, τὴν ὑπὸ τῆς εὐχῆς ἀφαιρεθεῖσαν ζωὴν διὰ τῆς εὐχῆς ἀποδοὺς τῷ κειμένῳ. Übers. Gutberlet (s.o. Anm. 98), 32. 116 117
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Anders liegt der Fall, wenn der Einsiedler erst dazu bewegt werden muss, hilfreich einzugreifen. Der Asket Petrus zögert lange, bevor er eine Frau von ihrem Augenleiden heilt, da er selbst eine schwere Sündenlast zu tragen habe und deshalb keine Hilfe von Gott erwirken könne – doch die kranke Frau lässt nicht locker. Schließlich gibt Petrus nach und vollzieht – unter explizitem Hinweis auf Gott als den alleinigen „Arzt solcher Übel“ – mit Kreuzeszeichen und Handauflegung sogar eine Art Absolutionsritus.119 Hier verbindet sich also das Motiv der gerade für einen Asketen notwendigen Buße mit der faktischen Aneignung priesterlicher Vollmacht. Der Erfolg zeigt sich sofort: Die Frau, bei der es sich übrigens um die Mutter des Hagiographen handelt, erntet die „Frucht der Lehre des großen Petrus“ in Form einer „doppelten Heilung: Indem sie für den Körper Gesundheit suchte, erlangte sie dazu die rechte Verfassung der Seele.“120 Auch die wohl spektakulärste Figur in Theodorets Sammlung monastischer Miniaturen ist Träger von Bußautorität: Symeon Stylites der Ältere († 459) fungiert als Zeuge für das Gelübde eines „Mannes nicht ohne Ansehen“ (οὐκ ἄσημος), der für den Rest seines Lebens auf Fleischgenuss verzichten will. Das gelingt ihm aber nur zeitweise; alsbald schlachtet und verspeist er ein Huhn. Um seine Gier zu bestrafen, lässt Gott das Fleisch des Huhnes zu Stein werden, an dem der wortbrüchige Mann sich wortwörtlich die Zähne ausbeißt. Ihm bleibt nur ein Ausweg: „Entsetzt über diesen ungewöhnlichen Anblick, eilte der Barbar so schnell er konnte zu dem Heiligen, eröffnete ihm die geheime Sünde und bekannte sein Vergehen vor aller Welt, von Gott Verzeihung erflehend für den Fehltritt. Und den Heiligen rief er um Fürsprache (εἰς ἐπικουρίαν) an, dass er Theodoret, h. rel. 9,7 (SC 234, 420,5–17 Canivet/Leroy-Molinghen): Ὁ δὲ ἄνθρωπος μὲν ἔλεγεν εἶναι καὶ τὴν αὐτὴν ἔχειν φύσιν αὐτῇ, πολὺν δὲ ἁμαρτημάτων φορυτὸν ἐπιφέρεσθαι καὶ τούτου γε εἵνεκα τῆς πρὸς τὸν θεὸν παρρησίας ἀπεστερῆσθαι. Ὡς δὲ ἔκλαιεν ἡ μήτηρ καὶ ἠντιβόλει καὶ ἔφασκε μὴ καταλείψειν εἰ μὴ τύχοι τῆς ἰατρείας, τὸν θεὸν ἔφη τούτων εἶναι θεραπευτήν, χορηγεῖν δὲ ἀεὶ τοῖς πιστεύουσι τὰς αἰτήσεις· „Δώσει τοίνυν, εἶπε, καὶ νῦν, οὐκ ἐμοὶ τὴν χάριν δωρούμενος, ἀλλὰ τὴν σὴν πίστιν θεώμενος. Εἰ τοίνυν ταύτην ἔχεις ἀκραιφνῆ καὶ εἰλικρινῆ καὶ πάσης ἀμφιβολίας ἀπηλλαγμένην, ἐρρῶσθαι καὶ ἰατροῖς φράσασα καὶ φαρμάκοις, τοῦτο δέξαι τὸ θεόσδοτον φάρμακον“. Ταῦτα εἰπὼν ἐπέθηκε τὴν χεῖρα τῷ ὀφθαλμῷ καὶ τοῦ σωτηρίου σταυροῦ τὸ σημεῖον τυπώσας τὴν νόσον ἀπήλασεν. 120 Theodoret, h. rel. 9,8 (SC 234, 422,9–11 Canivet/Leroy-Molinghen): Τοσοῦτον τῆς τοῦ μεγάλου Πέτρου διδασκαλίας ἀπώνατο καὶ διπλῆν ἐδέξατο θεραπείαν καὶ τῷ σώματι τὴν ἰατρείαν μαστεύουσα καὶ τὴν τῆς ψυχῆς προσεκτήσατο εὐεξίαν. Übers. Gutberlet (s.o. Anm. 98), 94. 119
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ihn durch seine allvermögenden Gebete (παντοδυνάμοις αὐτοῦ εὐχαῖς) von den Fesseln der Sünde befreie.“121
Erneut haben wir einen heiligen Interzessor vor uns, allerdings anders als Euthymius keinen, der sich selbst als bußbedürftig darstellt. Vielmehr wird Symeon, der immerhin als Bürge für das so schnell gebrochene Versprechen aufgetreten war, von Gott ausdrücklich von jeglicher Schuld freigesprochen. Es entsteht das Bild eines Heiligen, der aufgrund seiner Extremaskese als Fürsprecher und Bußmittler wirkt und zu dem man seine Zuflucht in ausweglosen Situationen nehmen darf, wenn man bereit ist, seine Sünde vor aller Welt offenzulegen (ἀνακηρύττων). Symeons Säule substituiert damit die Kirche als Ort öffentlicher Gemeinde buße, die sich im fünften Jahrhundert de facto schon im Übergang zur individualisierten Beichte befand.122 4.3. Binde- und Lösegewalt in asketischer Hand War es hier ein Laie, dem ein Asket als Bußmittler zur Seite stand, so berichtet Kyrill von Skythopolis von der Notwendigkeit einer Rekonziliation in monastischem Kontext und von deren Anbahnung durch seinen Hegumenen. Der Vita Sabae zufolge baut sich ein gewisser Jacobus eigenmächtig eine Laura. Sabas († 532) zieht ihn dafür zur Rechenschaft: „Wie willst du andere erziehen, wo du doch selbst noch beherrscht bist von Genußsucht und Geltungsdrang?“123 Jacobus bleibt uneinsichtig und wird daraufhin schwer krank; schließlich bittet er in seiner Not, man möge ihn dem Heiligen zu Füßen legen, damit dieser ihm vergebe, bevor er sterbe. Sabas redet ihn streng an: „,Hast du erkannt, welches der Lohn der Vermessenheit und der Widerrede ist? Bist du gezüchtigt worden von deiner eigenen Anmaßung?ʻ Jener ver Theodoret, h. rel. 26,18 (SC 257, 198,12–17 Canivet/Leroy-Molinghen): Ταύτῃ καταπλαγεὶς ὁ βάρβαρος τῇ παραδόξῳ θέᾳ σὺν πολλῷ τάχει τὸν ὅσιον κατελάμβανε, τὸ κεκρυμμένον εἰς φῶς προφέρων ἁμάρτημα καὶ τὴν παράβασιν ἀνακηρύττων πᾶσι καὶ τοῦ πταίσματος ἐκ θεοῦ συγγνώμην αἰτούμενος καὶ τὸν ἅγιον εἰς ἐπικουρίαν καλῶν, ὡς ἂν ταῖς παντοδυνάμοις αὐτοῦ εὐχαῖς τῶν δεσμῶν αὐτὸν τῆς ἁμαρτίας ἐκλύσειε. Übers. Gutberlet (s.o. Anm. 98), 166. – Diese Perikope ist in den Handschriften schlecht bezeugt, sodass die Hgg. in SC 234, 74 erwägen, ob sie erst in einem fortgeschrittenen Stadium der Textüberlieferung aufgenommen wurde. 122 Vgl. Gemeinhardt, Geschichte (s.o. Anm. 44), 231. 123 Kyrill von Skythopolis, vit. Sab. 39 (TU 49/2, 129,22f. Schwartz): πῶς ἑτέρους παιδεύσεις ἔτι ὑπὸ ἡδονῆς καὶ κενῆς δόξης κρατούμενος. Übers. Kloster des hl. Vorläufers (s.o. Anm. 100), 136. 121
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mochte kaum den Mund aufzutun und sagte nur: ,Vergib mir, Vater.ʻ Der Heilige antwortete: ,Gott vergebe dir.ʻ Dann reichte er ihm die Hand, richtete ihn auf und erlaubte ihm, die unbefleckten Mysterien zu empfangen. Kaum hatte er sie empfangen, konnte er Nahrung zu sich nehmen und erstarkte, so daß alle sich über die plötzliche Änderung seines Zustandes wunderten. Von da an wandte er sich ab von jenem Bauwerk.“124
Allerdings gerät Jacobus bald in neue Schwierigkeiten: Während der Hesychia in seiner Zelle wird er vom Dämon der Unzucht angefallen und weiß sich nicht anders zu helfen, als sich selbst zu kastrieren. Sabas schließt ihn dafür aus der Laura aus, doch sein Kollege, der Archimandrit Theodosius, bringt den Hegumenen dazu, Jacobus wieder aufzunehmen. Dieser „unterwarf sich dem Gebot des Altvaters und betete unter Tränen lange Zeit zu Gott. Danach wurde dem Altvater offenbart, dass Gott Jakobus’ Buße (μετάνοια) angenommen hatte“, woraufhin der Büßer wieder in die Kirche kommen darf und bald darauf stirbt.125 Wie bei dem Priester Severus aus Gregors des Großen Dialogi (s.o.) steht am Ende ein von Buße vorbereitetes und von Sünden befreites Sterben. Jedoch legt Kyrill den Akzent darauf, dass der eigentliche Akteur im Bußverfahren Gott selbst ist. Zur irdischen Vermittlung bedarf es des Hegumenen, doch ist dieser darauf angewiesen, dass Gott ihm seine Entscheidung offenlegt – indem er dies tut, zeichnet er wiederum den Asketen als seinen innerweltlichen agens in rebus aus. Das wohl schlagendste patristische Beispiel für charismatische Bußautorität, ja für eine sakramentale Vermittlung von Vergebung auf Buße hin ist – wie Palladius in der Historia Lausiaca berichtet – der Wüstenvater Macarius („der Alexandriner“). Zu seinen unvergleichlichen asketischen Leistungen gehört auch eine besonders harte, selbst verordnete Buße: Eines Morgens erschlägt Macarius eine Mücke, die ihn stört, und Kyrill von Skythopolis, vit. Sab. 39 (TU 49/2, 130,8–15 Schwartz): ἔγνως τίς ὁ μισθὸς τῆς αὐθαδείας καὶ ἀντιλογίας; ἐπαιδεύθης ὑπὸ τῆς ἀλαζονείας σου; τοῦ δὲ μόλις δυνηθέντος ἀνοῖξαι τὸ στόμα καὶ εἰπεῖν συγχώρησόν μοι, πάτερ, λέγει ὁ ἅγιος· ὁ θεὸς συγχωρήσει σοι, καὶ δοὺς αὐτῶι χεῖρα ἀνέστησεν αὐτὸν ἐπιτρέψας αὐτῶι τῶν ἀχράντων μεταλαβεῖν μυστηρίων. ὃ δὲ τούτων μεταλαβὼν παραυτίκα καὶ τροφῆς μετέλαβεν καὶ ἐνισχύθη, ὥστε θαυμάζειν ἅπαντας τὴν ἀθρόαν Ἰακώβου μεταβολήν. ἀπὸ τότε οὖν οὐκέτι εἰς τὴν οἰκοδομὴν ἐκείνην ὑπέστρεψεν. Übers. Kloster des hl. Vorläufers (s.o. Anm. 100), 136f. 125 Kyrill von Skythopolis, vit. Sab. 41 (TU 49/2, 132,6–9 Schwartz): ὁ δὲ Ἰάκωβος τὴν τοῦ γέροντος δεξάμενος ἐντολὴν ἐδέετο τοῦ θεοῦ μετὰ δακρύων ἐπὶ συχνὸν χρόνον. καὶ ἀποκαλύφθη τῶι γέροντι ὅτι ὁ θεὸς τὴν μετάνοιαν Ἰακώβου ἐδέξατο. Übers. Kloster des hl. Vorläufers (s.o. Anm. 100), 138f.
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„hält sich daraufhin einer Strafe für schuldig“126 – er verurteilt sich selbst dazu, sechs Monate lang nackt in den Sümpfen der Sketis zu sitzen und sich von den Heerscharen von Mücken halbtot stechen zu lassen. Aus dieser konsequenten Haltung seinen eigenen Taten gegenüber resultiert Macarius’ Glaubwürdigkeit, wenn er anderen Menschen Buße auferlegt – oder eine Versöhnung (zunächst) verweigert. Das zeigt sich am Fall eines Presbyters, der schwer an Krebs erkrankt, der seinen Schädel zerfrisst, den Knochen offenlegt und ihm die Haare raubt. Seine letzte Hoffnung ist, von Macarius geheilt zu werden, doch dieser weist das brüsk zurück, wie der Altvater seinem Hagiographen erklärt: „[Der Presbyter] ist es nicht wert, geheilt zu werden, denn das sollte eine Lektion für ihn sein. Wenn du willst, dass er geheilt wird, dann bringe ihn dazu, mit der Liturgie aufzuhören; er hat nämlich Liturgie gefeiert, obwohl er Hurerei getrieben hat (πορνεύων), deshalb hat er eine Lektion erhalten (παιδεύεται); und es ist Gott, der ihn heilt.“127
Palladius teilt dies dem Elenden mit, der zustimmt, sein Priesteramt niederzulegen. „Da empfing Macarius ihn und sagte: ,Glaubst du, dass Gott existiert?ʻ Er erwiderte: ,Ja.ʻ ,Ist es dir gelungen, mit Gott Spott zu treiben?ʻ Er antwortete: ,Nein.ʻ Er sagte: ,Wenn du deine Verfehlung erkennst und Gottes Lektion (παιδεία), durch die du das hier erlitten hast, dann bessere dich (διορθώθητι) in Zukunft.ʻ Er bekannte (ἐξωμολογήσατο) die Schuld und versprach, nicht mehr zu sündigen und nicht mehr die Liturgie zu feiern (μηκέτι ἁμαρτῆσαι μήτε λειτουργῆσαι), sondern den Laienstatus anzunehmen. Da legte er ihm die Hand auf, und in wenigen Tagen war er geheilt, die Haare wuchsen wieder, und er ging gesund fort.128
Palladius, h. Laus. 18,4 (FC 67, 150,3f. Hübner): καταγνοὺς οὖν ἑαυτοῦ ὡς ἐκδικήσαντος ἑαυτόν. Übers. aaO. 151. 127 Palladius, h. Laus. 18,20 (FC 67, 158,9–12 Hübner): Καὶ λέγει μοι· „Ἀνάξιός ἐστι τοῦ ἰαθῆναι· παιδεία γὰρ αὐτῷ ἀπεστάλη. Εἰ δὲ θέλεις αὐτὸν ἰαθῆναι, πεῖσον αὐτὸν ἀποστῆναι τῆς λειτουργίας· πορνεύων γὰρ ἐλειτούργει, καὶ διὰ τοῦτο παιδεύεται· καὶ ὁ θεὸς αὐτὸν ἰᾶται“. Übers. aaO. 159. 128 Palladius, h. Laus. 18,20f. (FC 67, 158,14–21 Hübner): Τότε ἐδέξατο αὐτὸν καὶ λέγει αὐτῷ· „Πιστεύεις ὅτι ἔστι θεός;“ Λέγει αὐτῷ· „Ναί“. „Μὴ ἠδυνήθης διαπαῖξαι τὸν θεόν;“ Ἀπεκρίνατο ὅτι „Οὔ“. Λέγει αὐτῷ· „Εἰ γνωρίζεις σου τὴν ἁμαρτίαν καὶ τὴν τοῦ θεοῦ παιδείαν δι’ ἣν τοῦτο ὑπέστης, διορθώθητι εἰς τὸ ἑξῆς“. Ἐξωμολογήσατο οὖν τὴν αἰτίαν, καὶ ἔδωκε λόγον μηκέτι ἁμαρτῆσαι μήτε οὖν τὴν αἰτίαν, καὶ ἔδωκε λόγον μηκέτι ἁμαρτῆσαι μήτε λειτουργῆσαι, ἀλλὰ τὸν λαικὸν ἀσπάσασθαι κλῆρον. Καὶ οὕτως ἐπέθηκεν αὐτῷ χεῖρα, καὶ ἐν ὀλίγαις ἡμέραις ἰάθη καὶ ἐτρίχωσε καὶ ἀπῆλθεν ὑγιής. Übers. aaO. 159. 126
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Hier resultiert die kritische Gewissenserforschung, angeleitet durch einen Altvater, im Bekenntnis (ἐξομολόγησις) samt dem Versprechen tätiger Reue sowie in dem von Handauflegung begleiteten Vergebungszuspruch, was auch Erfolg hat. Voraus geht die diagnostische Klarsicht des Macarius, der die physische Krankheit, die drastisch vor Augen steht, auf ihre verborgene sündhafte Ursache zurückzuführen vermag. Das „Charismatische“ in dieser Geschichte ist also einerseits Macarius’ Wissen über Gottes erziehendes Handeln und andererseits die Inanspruchnahme priesterlicher Bußgewalt. Der Befund zu charismatischer Bußautorität in Heiligenviten ist erstaunlich limitiert: Zwar finden sich unterschiedliche Darstellungen, wie Heilige als Beichtväter und Bußmittler für andere Christen diesseits und jenseits der monastischen Welt wirkten. Das ist aber kein Aspekt, der eine oder einen Heiligen überhaupt erst zu einer oder einem solchen machen würde, der also in keiner Vita fehlen dürfte. Selbst zugestanden, dass hier keine vollständige Sichtung des gesamten Materials geleistet werden konnte, ist festzuhalten, dass eine Inanspruchnahme der priesterlichen Bußkompetenz nur in einigen Fällen erfolgt. Wo dies berichtet wird, ist es bisweilen ganz selbstverständlich (weil die Heiligen Bischöfe oder Kleriker sind). Im Kloster geschieht es ebenfalls durch eine herausgehobene Figur, den geistlichen Vater, Abt oder Hegumenen; in asketischen Narrativen jenseits des Klosters wird es nicht problematisiert, wie zuletzt bei Macarius gesehen. Ein Regelfall wird daraus in keiner Weise. 5. Fazit: Charismatische Bußautorität – ein altkirchliches Erfolgsmodell? Kann man angesichts des skizzierten Befundes in narrativen Texten über Märtyrer und Mönche von der charismatischen Ausübung von Bußautorität als altkirchlicher Praxis sprechen? Ja – aber nicht in dem Sinne, dass man ihr an jeder Ecke begegnete. Die Feststellung Holls, der Mönch sei „auf dem Gebiet der Seelenleitung der Rivale des Priesters geworden“, lässt sich eher für die byzantinische als für die spätantike Zeit rechtfertigen. Die Konstellation von priesterlichem und monastischem Agieren, wie sie in der im sechsten und siebten Jahrhundert anhebenden byzantinischen Rechtstradition verhandelt wurde, ist in früheren monastischen Texten nur sporadisch zu finden. Die Mahnung des Anastasius Sinaites († 701), man möge einem „geistlichen und erfahrenen Mann“ gegenüber beichten, und zwar „nicht wie einem Menschen, sondern wie dem
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Herrn“,129 entstammt nicht der Welt, die die spätantiken griechischen Heiligenviten beschreiben, und sie hat auch in der lateinischen Hagiographie kein unmittelbares Gegenstück. Das Phänomen charismatischer Bußautorität gab es, aber es war weder häufig, noch wurde es problematisiert. Das gilt auch für den von Holl zitierten Pseudo-Dionysius Areopagita, der die Mönchsweihe eingeführt, zugleich aber den Vorrang des Priesters hervorgehoben habe: „Daß er (sc. der zu weihende Mönch) die Knie nicht beugt und nicht auf dem Kopf die von Gott überlieferten Worte hat, sondern bei dem Priester steht, der die Gebetsanrufung in geheiligten Worten spricht, zeigt, daß der Mönchsstand nicht zu den Sakramenten heranführt, sondern bei sich selbst verharrend im geheiligten Stand der Einzigkeit (ἐν μοναδικῇ καὶ ἱερᾷ στάσει) hinter den Priesterständen folgt und von ihnen als Begleiter in die göttliche Erkenntnis des Wesens der in seinem Bereich vollzogenen Riten gehorsam eingeführt wird.“130
Gewiss wird hier die hierarchische Differenz zwischen Priestern und Mönchen eingeschärft – einen Grundkonflikt aufgrund der Usurpation priesterlicher Kompetenzen durch Mönche kann man daraus aber nicht entnehmen, ebenso wenig wie man hinter dem in einem Brief des Dionysius behandelten Vorfall, dass ein Mönch einen Priester kritisiert hatte – was der Autor scharf zurückweist –, den monastischen Enthusiasmus als Quelle der (Selbst-)Überhebung von Mönchen gegenüber Priestern am Werke sehen sollte.131 Charismatische Bußautorität als etablierte Gewohnheit, die im Namen der gottgegebenen kirchlichen Ordnung hätte eingehegt werden müssen, belegt die spätantike Hagiographie nicht. Auch in der Märtyrerliteratur bleibt der Befund auf bestimmte Texte beschränkt, in denen Märtyrern Bußkompetenz zugebilligt wird. Dabei geht es ausnahmslos um Ausnahmesituationen, was mutatis mutandis für Wüste und Kloster Anastasius Sinaites, quaest. resp. 52 (CChr.SG 59, 106,5–7 Richard/Munitiz): Ἐὰν οὖν εὕρῃς ἄνδρα πνευματικὸν δυνάμενόν σε ἰατρεῦσαι καὶ εὔξασθαι ὑπὲρ σοῦ, ἐκείνῳ καὶ μόνῳ ἐξομολόγησαι. Vgl. Holl, Enthusiasmus (s.o. Anm. 4), 309–311. 130 Ps.-Dionysius Areopagita, e. h. VI 3,1 (PTS 36, 117,17–22 Heil): Τὸ μηδένα τοῖν ποδοῖν κλίνειν μηδ’ ἐπὶ κεφαλῆς ἔχειν τὰ θεοπαράδοτα λόγια, παρεστάναι δὲ τῷ ἱερεῖ τὴν ἐπίκλησιν ἱερολογοῦντι δηλοῖ τὴν μοναχικὴν τάξιν οὐκ εἶναι προσαγωγικὴν ἑτέρων, ἀλλ’ ἐφ’ ἑαυτῆς ἑστῶσαν ἐν μοναδικῇ καὶ ἱερᾷ στάσει ταῖς ἱερατικαῖς ἑπομένην τάξεσι καὶ πρὸς αὐτῶν ὡς ὀπαδὸν ἐπὶ τὴν θείαν τῶν κατ’ αὐτὴν ἱερῶν ἐπιστήμην εὐπειθῶς ἀναγομένην. Übers. Günter Heil, Pseudo-Dionysius Areopagita, Über die himmlische Hierarchie. Über die kirchliche Hierarchie (BGrL Studium 3), Stuttgart 2019, 143. 131 So aber Holl, Enthusiasmus (s.o. Anm. 4), 209f. zu Ps.-Dionysius Areopagita, ep. 8 ad Demophilum. 129
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gilt. Die „von Gott eingegebenen Schriften der Väter“, auf die sich Symeon im 11. Jahrhundert beruft, sind bezüglich charismatischer Bußautorität im Großen und Ganzen eher zurückhaltend. Dessen ungeachtet spielen Buße und Sündenvergebung in der martyrologischen und hagiographischen Literatur eine Rolle, die nicht unterschätzt werden darf, aber präzise bestimmt werden muss. Festhalten möchte ich dazu drei Aspekte: a) Märtyrer und Mönche wirken vor allem durch ihr Vorbild, nur selten durch sakramentale Handlungen. Man könnte sagen: Sie administrieren nicht Buße, sondern motivieren andere Menschen durch ihr Beispiel, Christus nachzufolgen, wie es in Bekenntnissen vor römischen Richtern und in Situationen der Anfechtung deutlich wird. Die Vorstellung eines endzeitlichen Richtens der Märtyrer mit Christus (Offb 20,4) führt nicht dazu, dass in der Märtyrer- und Heiligenliteratur den Protagonisten bereits vor ihrem Tod eine richtende Funktion zugewiesen wird. Und wo sie Bußautorität ausüben, sind sie – ihren Martyrologen und Hagiographen zufolge – in aller Regel für das Lösen, nicht aber für das Binden zuständig. Verwerfung wird angedroht, de facto aber, wie es scheint, den Bischöfen überlassen. Märtyrer und Heilige können das göttliche Gericht abwenden, aber nicht selbst antizipatorisch vollziehen. b) Ein wichtiger Unterschied zwischen Märtyrern und Mönchen ist durch das Genre bedingt: Die Märtyrerliteratur handelt von Menschen, die unmittelbar vor ihrem Tod stehen, sie hat naturgemäß kein Interesse an ihrem Vorleben.132 Von Bedeutung ist das Verhalten in der extremen Situation der Todesgefahr – nicht das Alltagsleben mit seinen Herausforderungen zur Bewährung des Christseins. Dieses Leben lassen künftige Mönche hinter sich, handeln sich damit aber umso gravierendere Anfechtungen ein. Die conversio von der Welt zum Leben im Kellion, in der Laura oder im Kloster hebt das Büßen auf ein anderes Niveau. Hinter die schon weitgehend erreichte Vollkommenheit wieder zurückzufallen ist dann allerdings dramatischer, als ihr gar nicht erst nahegekommen zu sein. Während daher nur selten von bußbedürftigen Märtyrern die Rede ist, treten viele bußfertige Mönche auf – oft in den Apophthegmata Patrum, aber
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Biographisch relativ ergiebige Texte wie die Passio Perpetuae et Felicitatis oder die oben behandelte Vita et Passio Cypriani sind die Ausnahmen, die die Regel bestätigen.
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auch in Viten.133 Wenn auch Heiligenviten per definitionem von Menschen handeln, denen ihre Zeitgenossen oder die Nachwelt eine in vorbildlicher Weise gelungene Gottesbeziehung zuschrieben, darf nicht übersehen werden, dass solche Vollkommenheit errungen, ja erkämpft werden musste und, solange die Asketin oder der Asket lebte, prekär blieb. Insofern kann man christliche Heiligenviten nicht dadurch von traditionellen römischen Biographien unterscheiden, dass es in jenen keine Brüche, kein Scheitern und damit auch keine Entwicklung der Protagonisten gebe.134 Die Pointe einer Heiligenvita liegt zweifellos darin, die Heiligkeit der im Zentrum stehenden Person zu etablieren, man sollte dabei aber nicht das Phänomen von „Umweg-Hagiographien“ und die damit bisweilen einhergehende Bußbedürftigkeit von Heiligen geringschätzen. Buße ist ein Element der monastischen Erfahrungswelt, die für Leserinnen und Leser abseits der Wüste offenbar höchst attraktiv war. c) Erst dieser Erfahrungsbezug begründet wiederum Bußautorität: Diese Heiligen wissen, wovon sie reden und wozu sie mahnen. Dabei führt der – ohnehin polyvalente – Begriff „Enthusiasmus“ in die Irre, da geistliche Autorität nicht daraus resultierte, dass plötzlich der (oder ein) Geist über einen Asketen kam. Nicht umsonst war in den Heiligenviten unter den alttestamentlichen Gestalten der in der Wüste ausharrende Elia, nicht einer der vom Geist beseelten Richter und frühen Propheten des Alten Testaments das Leitbild!135 Vielmehr hatten sich die Väter und Mütter der Wüste durch langes und hartes „Training“ (ἄσκησις) geistlich qualifiziert. Wahres Pneumatikertum war und blieb als Wirkung des unverfügbaren Geistes zwar kontingent, aber aufgrund der notwendigen monastischen Erziehung und Zu (Un-)Vollkommenheit als Thema von Märtyrer- und Heiligentexten vgl. Peter Gemeinhardt, Perfect Imitators of Christ? Saints and Martyrs as Models of (Im-) Perfection, in: Johan Leemans/Geert Roskam/Peter Van Deun/Joseph Verheyden (Hgg.), Longing for Perfection in Late Antiquity. Studies on Journeys between Ideal and Reality in Pagan and Christian Literature (Ancient Philosophy and Religion 11) Leiden/Boston 2023 [im Druck]. 134 So argumentiert Therese Fuhrer, Bio-Historiographie. Zur Funktion biographischer Modellierungen in römischer Geschichtsschreibung und Hagiographie, in: Christoph Brunhorn/Peter Gemeinhardt/Maria Munkholt Christensen (Hgg.), Narratologie und Intertextualität: Zugänge zu spätantiken Text-Welten (SERAPHIM 7), Tübingen 2020, 23–41. 135 Vgl. Athanasius, vit. Ant. 7,12f. (FC 69, 132,17–134,8 Gemeinhardt) sowie die aaO. 133 Anm. 84 gebotenen Belege für die Bedeutung Elias in anderen hagiographischen und monastischen Texten. 133
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(Selbst-)Bildung nicht beliebig. „Charismatische“ Autorität wurde durch die Einübung von Tugenden erworben, war also in nachvollziehbarer Weise in einer lebenslangen Praxis verankert. Dies machte den Anspruch auf geistliche Befähigung erst „glaub-würdig“. Zudem war der Geist nicht die einzige Instanz der Autorisierung: Das Selbstbewusstsein der Mönche war sicher „pneumatisch“, aber ebenso christozentrisch und darum nicht ausschließlich „enthusiastisch“, geistbeschwingt. Die Vita Antonii und die ihr folgende griechische und lateinische Hagiographie ist durchweg vom Verweis auf Christus als den Hauptakteur durchzogen, was ein reines Pneumatikertum von vorneherein einhegen musste. Nur in solch vermittelter Form war Bußautorität denkbar. Damit zeigt sich zuletzt eine spezifische Begrenztheit der hier verfolgten Themenstellung, die bereits an der Vita et Passio Cypriani schlaglichtartig deutlich wurde: Texte über Märtyrer und Heilige sind von dem Anliegen motiviert, deren vorbildliche Christusnachfolge, ja sogar ihre Christusförmigkeit zu beschreiben und gegen mögliche Kritik zu verteidigen. Sie blicken auf das Phänomen der Buße aus der Perspektive derer, von denen man sicher glaubte, dass sie sündenfrei aus dem Leben geschieden waren und deshalb eschatologisch nichts zu befürchten hatten, sondern sogar mit Christus am Ende der Welt richten konnten. Erkämpft hatten sie diese Aussichten gegen Verfolger und Kritiker, gegen äußere Attacken von Dämonen und innere Anfechtungen. Genau das wurde narrativ inszeniert, in großen und kleinen Formen, in Viten und Apophthegmata. Hierzu konnte charismatische Bußautorität gehören, aber – wie alles in solchen Texten – als Ausnahmetatbestand. Die Übernahme priesterlicher Funktionen gehörte – wo es sich nicht ohnehin um heilige Bischöfe und Kleriker handelte – nicht zum Portfolio der spätantiken Hagiographie, und wenn auch bisweilen Bischöfe Kritik erfuhren, weil sie unwürdige Vertreter ihrer Zunft waren (wie in der Vita Martini), waren Märtyrer- und Heiligentexte doch alles andere als subversive Literatur, erst recht, wenn sie selbst von Bischöfen verfasst, in Auftrag gegeben oder liturgisch rezipiert wurden. Die rechtlichen Regelungen, an denen sich Holls Interesse an Symeon dem Neuen Theologen und der Vorgeschichte der Mönchsbeichte im ersten Jahrtausend entzündete, lassen sich in dieser Zuspitzung nicht den spätantiken martyrologischen und hagiographischen Texten entnehmen. Die Gewährung von Buße gehört hier vielmehr zu einer Form von Autorität, zu der auch andere – die des Lehrers, des Seelenführers, des Heilers, des Beraters etc. – gehören.
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Sie gehört im Übrigen zu einem Bereich monastischen Agierens, von dem Frauen ausgeschlossen waren, so eindrucksvolle Bußleistungen sie auch selbst erbringen konnten. Bußautorität war Männersache – und eine Sache der Erfahrung. Das in den hier behandelten Texten beschriebene Handeln und Leiden der Protagonisten autorisierte sie (auch) in Sachen Buße, indem davon erzählt wurde. An ihnen wurde Nachfolge Christi und damit erfolgreiche Umkehr (μετάνοια) narrativ plausibilisiert. Nicht nur die Heiligen wussten, wovon sie sprachen: Die Büßenden (und zuvor Lesenden und Hörenden) wussten es auch. Dieses Wissen begründete die je und je erfolgende Zuschreibung asketischer Bußautorität.
Menschentötung. Ein Beispiel für Charakter und Praxis der frühmittelalterlichen Buße Julia Winnebeck (Bonn)
1. Einleitung Die Forderung, dass Christen nicht töten sollen, gehört zum Grundbestand der biblischen Ethik.1 Entsprechend bildete der Tatbestand der Menschentötung neben dem des Ehebruchs und der Apostasie zu Beginn der Christentumsgeschichte theoretisch sogar ein Ausschlusskriterium für die Zugehörigkeit zur christlichen Gemeinschaft bzw. die Zulassung zur Taufe.2 Im dritten Jahrhundert wurde diese häufig auf Tertullian zurückgeführte Trias der sogenannten Tod- oder Hauptsünden zum Gegenstand der Diskussionen um die Buße.3 Während eine einmalige oder auch mehrfache Buße für kleinere Sünden zulässig erschien, gab es Stimmen in der Kirche, welche wenigstens Todsünder bis zum Lebensende aus der Gemeinschaft ausgeschlossen sehen wollten. Letztlich setzte sich Zum biblischen Tötungsverbot (Gen 9,6; Ex 20,13; 21,12; Dtn 5,17; Mt 5,21–22) und seiner (schmalen) Rezeption bei den Kirchenvätern vgl. insbesondere AndersChristian Jacobsen, The Prohibition of Killing in the Ethics of the Church Fathers, in: J. Cornelis de Vos/Hermut Löhr (Hgg.), You Shall Not Kill. The Prohibition of Killing in Ancient Religions and Cultures (JAJ.S 27), Göttingen 2018, 257–269. 2 Vgl. z.B. die frühen Kirchenordnungen. Zum Ausschluss von Prostituierten, Henkern etc. von der Taufe, vor dem Hintergrund, dass ihre Berufe sie zu Todsündern gemacht hatten, vgl. z.B. Canones Hippolyti 10–15. 3 Bei den Kirchenvätern und spätantiken Theologen (z.B. bei Tertullian, De pudicitia 5) erscheint Menschentötung (bzw. Mord) häufig innerhalb der Trias aus homicidium, fornicatio bzw. adulterium und apostasia oder in einer längeren Reihung von schweren Sünden (z.B. bei Johannes Cassianus, De institutis coenobiorum V,1) und gilt innerhalb dieser Reihungen offenbar als am wenigsten oder gar nicht erklärungsbedürftig. Zu den altkirchlichen Diskussionen um die Buße vgl. Gustav A. Benrath, Buße V. Historisch, in: TRE 7 (1981), 452–473, hier 453–455; Peter Gemeinhardt, Geschichte des Christentums in der Spätantike, Tübingen 2022, 94–99.229–231; Peter Ley, Kirche im Konflikt: der Bußstreit. Konstellationen – Lösungswege – Folgen eines sozialen Konflikts in der Alten Kirche, Berlin 2016. 1
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die moderatere Auffassung durch, dass Buße für alle Sünden und zur Not auch mehrfach möglich sein sollte. Die frühesten Konzilien und Kirchenväterschriften beschreiben die Buße als öffentlichen Demütigungsprozess, zu dem eine bestimmte Kleidung und Haltung gehörten und der eine Stufung der Strafe bis zur Rekonziliation durch Handauflegung und Wiederzulassung zum Abendmahl vorsah.4 Seit dem sechsten Jahrhundert verbreitete sich unter dem Einfluss des iro-schottischen Mönchtums eine weitere Form, die häufig als „Privat-“ oder „Tarifbuße” bezeichnet wird. Die Hauptzeugen für diese Form der Buße sind die sogenannten Bußbücher, die übersichtliche Sammlungen von Sündenbeschreibungen und ihnen zugedachten Bußstrafen bieten. Die in ihnen beschriebenen Sünden reichen von kleineren Vergehen, wie dem Verlust der Hostie, über Aberglauben bis hin zu Verbrechen wie Entführung, Körperverletzung oder Menschentötung. Diese Verstöße werden in der Regel mit unterschiedlich langen Bußbeziehungsweise Fastenstrafen von wenigen Tagen bis hin zu mehreren Jahren geahndet. Gerade für schwerere Vergehen finden sich jedoch auch Sanktionen weltlichen oder rechtlichen Charakters, wie beispielsweise Geldstrafen, Zwangsarbeit oder Klosterhaft. Bis in die 1990er Jahre ging man insbesondere aufgrund der Forschungsarbeiten von Josef Jungmann, Bernhard Poschmann und Cyrille Vogel davon aus, dass die in den Bußbüchern beschriebene Form der Buße für kleinere oder geheime Sünden angewendet wurde, während öffentliche oder schwere Sünden weiterhin nach den Regeln der traditionellen Buße gesühnt werden mussten.5 Die neuere Bußbuchforschung um Ludger Körntgen, Rob Meens, Mayke de Jong, Sarah Hamilton u.a. tendiert inzwischen aber dazu, diese sogenannte „Karolingische Dichotomie“ wenigstens für die Merowingerzeit aufzugeben.6 Stattdessen wird die Z.B. bei Tertullian, De paenitentia 7–12, Cyprian von Karthago, ep. 15,1; 16,2; 17,1 und Basilius von Caesarea, ep. 217, 56; vgl. Benrath (s.o. Anm. 3), 453; Gemeinhardt (s.o. Anm. 3), 229–231. 5 Die Hauptvertreter für die traditionelle Perspektive auf die Buße sind Bernhard Poschmann, Die abendländische Kirchenbuße im frühen Mittelalter, Breslau 1930; Josef A. Jungmann, Die lateinischen Bußriten in ihrer geschichtlichen Entwicklung, Innsbruck 1932; Cyrille Vogel, Les ,Libri Paenitentiales‘ (TSMAÔ 27), Turnhout 1978. Zum Nebeneinander von „privater“ und „öffentlicher“ Buße vgl. außerdem Raymund Kottje, Bußpraxis und Bußritus, in: Segni e riti nella chiesa altomedievale occidentale 33 (1987), 369–395. Bei Arnold Angenendt, Geschichte der Religiosität im Mittelalter, Darmstadt 42009, 626–643, findet sich noch das Bußverständnis der älteren Forschung. 6 Vgl. Ludger Körntgen, Studien zu den Quellen der frühmittelalterlichen Bußbücher (QFRMA 7), Sigmaringen 1993; Rob Meens, Penance in Medieval Europe 600–1200, 4
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frühmittelalterliche Buße als ein komplexes Gebilde aus verschiedenen Normen und Praktiken verstanden, die eine Anpassung der Bußpraxis an den jeweiligen Anwendungskontext erlaubten.7 Obwohl heute nur noch etwa 300-400 Manuskripte erhalten sind, die Bußbücher oder Fragmente von Bußbüchern enthalten,8 ist davon auszugehen, dass diese Texte zwischen dem späten sechsten und neunten beziehungsweise zwölften Jahrhundert weit verbreitet waren und möglicherweise sogar zur Grundausstattung der Kleriker im fränkischen Reich gehörten. Der konkrete „Sitz im Leben“ der Bußbücher und ihre Funktion im Rahmen der Bußpraxis ist jedoch nicht ohne weiteres zu bestimmen. Die Forschungsdebatte konzentriert sich insbesondere auf die Frage, ob die Bußbücher in erster Linie als Zeugen für eine bestimmte Frömmigkeitspraxis zu verstehen sind, die neben oder zusätzlich zu anderen Bestrafungsmechanismen zum Einsatz kam.9 Alternativ können die Bußbücher aber auch als Zeugen für die weitreichende Zuständigkeit von Klerikern in Konflikten strafrechtlicher Natur gelesen werden. Die zweite Lesart schließt die erste natürlich nicht unbedingt aus. Vor diesem Hintergrund widmet sich dieser Aufsatz exemplarisch dem Umgang der frühmittelalterlichen Westkirche mit der Menschentötung in den ältesten erhaltenen Bußbüchern. Dies sind insgesamt fünf
Cambridge 2014; ders., The Historiography of Early Medieval Penance, in: Abigail Firey (Hg.), A New History of Penance, Leiden/Boston 2008, 73–95, hier 89; Sarah Hamilton, The Practice of Penance 900–1050, London 2001; Mayke de Jong, The Penitential State. Authority and Atonement in the Age of Louis the Pious 814–840, Cambridge 2009; dies., What was public about public penance? Paenitentia Publica and Justice in the Carolingian World, in: La giustizia nell’alto medioevo II, SSAM 44 (1997), 863–904; dies., Transformations of Penance, in: Frans Theuws/Janet L. Nelson (Hgg.), Rituals of Power from Late Antiquity to the Early Middle Ages, Leiden 2000, 185–224. 7 Vgl. Sarah Hamilton, Bishops, Education, and Discipline, in: John H. Arnold (Hg.), The Oxford Handbook of Medieval Christianity, Oxford 2014, 531–549, hier 533: „[...] it is important to recognize that at any given time throughout the middle ages churchmen had access to a wide assortment of different disciplinary measures.“ 8 Vgl. Rob Meens, The Frequency and Nature of Early Medieval Penance, in: Peter Biller (Hg.), Handling Sin. Confession in the Middle Ages (YSMT 2), Woodbridge 1998, 35–61, hier 39. 9 Ein gutes Beispiel für diese Debatte bieten Alexander Murray, Confession before 1215, in: Transactions of the Royal Historical Society 3 (1993), 51–81; Franz Kerff, Libri paenitentiales und kirchliche Strafgerichtsbarkeit bis zum Decretum Gratiani. Ein Diskussionsvorschlag, in: ZSRG.K 75 (1989), 23–57, und Meens, Frequency (s.o. Anm. 9).
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ußbücher der irischen Tradition,10 das angelsächsische Paenitentiale B Theodori11 und die acht kleinen oder „einfachen“ Bußbücher der fränkischen Tradition.12 Die insgesamt 14 untersuchten Bußbücher, die zwischen der zweiten Hälfte des sechsten und dem frühen neunten Jahrhundert kompiliert wurden, enthalten zusammen rund 100 Bestimmungen zur Menschentötung. Dazu wurden alle Kanones gezählt, die den Tatbestand einer Menschentötung beschreiben – unabhängig davon, welche lateinischen Begriffe dafür im Einzelnen verwendet werden (zum Beispiel occidere, perdere, percutere, caedere etc.) oder, ob die Tat ausdrücklich als homicidium qualifiziert wird. Zusätzlich wurden alle Bestimmungen berücksichtigt, die eine Tat ausdrücklich als homicidium qualifizieren (zum Beispiel durch die Verwendung dieses Begriffs oder die Zuordnung in eine Rubrik mit dieser Überschrift), unabhängig davon, ob sie eine Menschentötung beschreiben oder nicht. Der erste Teil des Aufsatzes bietet zunächst einen Überblick über diese Bußbuchbestimmungen und zwar mit einem Fokus auf der Frage, welche spezifischen Fälle von Menschentötung den Bußbüchern gemäß den Sündenbeschreibungen überhaupt vor Augen standen. Der zweite Teil widmet sich dann der Frage, wie sich die Bußbücher den Umgang mit Menschentötern in der Praxis vorstellten. Hierfür bieten die vorgesehenen Bußstrafen für diese spezielle Sünde zahlreiche Hinweise. Paenitentiale Vinniani (Mitte des 6. Jh.), Paenitentiale Columbani (spätes 6. Jh.); Paenitentiale Cummeani (1. Hälfte 7. Jh.), Paenitentiale Bigotianum (spätes 7.–spätes 8. Jh.), alle ed. Ludwig Bieler, The Irish Penitentials. With an Appendix by Daniel A. Binchy (SLH 5), Dublin 1975, und Paenitentiale Ambrosianum (1. Hälfte 7. Jh.) ed. Körntgen (s.o. Anm. 6), 258–270. 11 Das Paenitentiale Theodori (ca. 700), auch bekannt als Iudicia Theodori oder Canones Theodori, ist in mehreren Versionen überliefert. Die einflussreichste war die sog. Discipulus Umbrense Version, die um 700 von einem von Theodors Anhängern zusammengestellt wurde. Die lange maßgebliche Edition stammt von Paul W. Finsterwalder, Die Canones Theodori Cantuariensis und ihre Überlieferungsformen, Weimar 1929, 285–334. Eine neuere kritische Edition ist online einsehbar: Paenitentiale Umbrense, ed. Michael D. Elliot: http://individual.utoronto.ca/michaelelliot/ manuscripts/texts/transcriptions/pthu.pdf, 16; zuletzt abgerufen am 13.05.2022. 12 Dies sind die auch als paenitentialia minora oder simplices bekannten Paenitentiale Burgundense, Paenitentiale Bobbiense, Paenitentiale Floriacense, Paenitentiale Parisiense simplex, Paenitentiale Sangallense simplex, Paenitentiale Hubertense, Paenitentiale Oxoniense I und Paenitentiale Sletstatense, alle ed. Raymund Kottje, Paenitentialia Minora Franciae et Italiae Saecvli VIII–IX (CChr.SL 156), Turnhout, 1994. Die meisten dieser acht Bußbücher sind in nur einem Manuskript erhalten und wurden vermutlich jeweils zwischen dem frühen 8. und dem frühen 9. Jahrhundert kompiliert. 10
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2. Menschentötung im Spiegel der Sündenbeschreibungen 2.1. Menschentötung als Haupt- oder Todsünde Eine Reihe von Kanones listet die Menschentötung neben anderen Vergehen, die als peccata oder crimina capitalia zusammengefasst werden.13 Das Paenitentiale Theodori deklariert die Menschentötung beispielsweise neben Unzucht und Raub als eines von mehreren multa mala, welche die gleiche harte Bußstrafe erforderten beziehungsweise gleichermaßen einen Grund für die Deposition von Klerikern konstituierten.14 In ähnlicher Weise wird die Menschentötung im irischen Paenitentiale Ambrosianum und im Sondergut des fränkischen Paenitentiale Parisiense simplex gemeinsam mit Unzucht und Betrug (fornicatio und dolus) beziehungsweise Unzucht, Meineid und Unreinheit (adulterium fornicatio, periurium, inmunditia) sanktioniert.15 Das Paenitentiale Columbani führt die Menschentötung unter den für Klerikern offenbar besonders gravierenden Sünden (peccata praevalentia),16 zu denen der Autor des Bußbuchs neben homicidium noch Sodomie und Klosterflucht rechnet. Der zweite Teil desselben Bußbuchs, der sich den Sünden von Laien widmet, rechnet die Menschentötung dagegen unter diejenigen crimina capitalia, die auch nach dem (weltlichen) Gesetz unter Strafe stünden.17 2.2. Formen von Menschentötung Die Mehrzahl der einschlägigen Bußbuchkanones beschreibt jedoch verschiedene Fälle oder Formen von Menschentötung. Innerhalb dieser Bestimmungen wird in mehrfacher Hinsicht und aus unterschiedlichen Vgl. Paenitentiale Parisiense simplex 61 (peccata capitalia); Paenitentiale Hubertense 62 (capitalia crimina). 14 Vgl. Paenitentiale Theodori VII 1: Qui multa mala fecerit – id est homicidium, adulterium cum muliere et cum pecode, et furtum – eat in monasterium et peniteat usque ad mortem. ed. Elliot (s.o. Anm. 11), 11; sowie Paenitentiale Theodori VIIII 8, ebd., 13: Similiter autem qui occiderit hominem seu fornicationem fecit deponatur. 15 Vgl. Paenitentiale Ambrosianum II 6 (homicidium – fornicatio – dolus), und den möglicherweise von diesem abhängigen Kanon im „Sondergut“ des Paenitentiale Parisiense simplex 61 (adulterium, periurium, furnicacionem, inmundiciam). 16 Paenitentiale Columbani A 3. 17 Vgl. Paenitentiale Columbani B (Einleitung): De capitalibus primum criminibus, quae etiam legis animaduersione plectantur, sanciendum est. Ed. Bieler (s.o. Anm. 10), 98; englische Übersetzung ebd., 99: „First we must enact concerning capital sins, which are punished even by the sanction of the law“. 13
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Gründen zwischen Täterinnen, Tätern und Opfern, Tatmotiven und -umständen sowie der Tötungsmethode unterschieden. 2.2.1. Täterinnen und Täter Erstens differenzieren die Bußvorschriften hinsichtlich des Status und Geschlechts der Täterinnen und Täter. Innerhalb der ausgewählten Bestimmungen begegnen uns Kleriker verschiedenen Standes, d.h. Bischöfe (episcopi), Priester (presbyteri/sacerdotes), Diakone (diaconi), Mönche (monachi) und Nonnen (puellae Dei), sowie männliche und weibliche Laien als Täterinnen und Täter. Die Unterscheidung zwischen Laien- und Klerikerstand hatte einerseits Konsequenzen für die Jurisdiktion, weil die Kirche natürlich insbesondere für ihre eigenen Leute Zuständigkeit in Verfahren strafrechtlicher Art beanspruchte.18 Andererseits hatte die Differenzierung zwischen Laien und Klerikern sowie zwischen den unterschiedlichen Weihegraden innerhalb des Klerikerstandes offenbar Auswirkungen auf das Strafmaß: Während an Kleriker im Vergleich mit Laien insgesamt strengere Maßstäbe angelegt wurden, weil sie ein Gelübde abgelegt hatten und eine Vorbildfunktion erfüllten, wurden Geistliche niederer Weihestufen in der Regel mit größerer Nachsicht behandelt als beispielsweise ein Priester oder Bischof. Innerhalb des Laienstandes können nicht ganz so präzise Differenzierungen ausgemacht werden. Die überwiegende Zahl der Bestimmungen zur Menschentötung hatte vermutlich freie männliche Sünder vor Augen. Dennoch finden sich unter den Bußbuchbestimmungen zur Menschentötung vergleichsweise viele Vorschriften, die sich implizit oder explizit an Frauen richten, weil diese als „Täterinnen“ bei Infantizid und Schwangerschaftsabbruch in den Fokus rückten. Möglicherweise kann dies als Hinweis auf die besondere kirchliche Jurisdiktion in diesen Spezialfällen verstanden werden: Während die frühesten Bußbücher Frauen kaum als Adressatinnen der Buße im Blick hatten – weil diese in ethisch-rechtlichen Belangen in der Regel unmittelbar von ihren männlichen Vormündern 18
Zum Anspruch der Kirche auf Jurisdiktion über ihre Geistlichen und bei bestimmten Verbrechen vgl. z.B. Susanne Baumgart, Die Bischofsherrschaft in Gallien, München 1995; Lotte Kéry, Gottesfurcht und irdische Strafe. Der Beitrag des mittelalterlichen Kirchenrechts zur Entstehung des öffentlichen Strafrechts (Konflikt, Verbrechen und Sanktion in der Gesellschaft Alteuropas. Symposien und Synthesen 10), Köln/Weimar/Wien 2006; Claudia Rapp, Holy Bishops in Late Antiquity. The Nature of Christian Leadership in an Age of Transition (The Transformation of the Classical Heritage 37), Berkeley 2005, 235–273.
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abhängig waren,19 propagierte die Kirche die strenge Ahndung von Vergehen, die in christlich-theologischer Perspektive als besonders problematisch galten, nach geltender Rechts- und Sozialpraxis aber nicht unbedingt verfolgt wurden. 2.2.2. Opfer Neben der Differenzierung nach Status und Geschlecht der Täterinnen und Täter bieten die Bußbuchbestimmungen zur Menschentötung häufig auch eine Unterscheidung hinsichtlich der Opfer. So finden sich unter den in den Bußbüchern ausdrücklich erwähnten Opfern der Menschentötung neben Geistlichen auch Laien und unter diesen zum Beispiel Eltern (parentes), Kinder (filii) und (schwangere) Frauen (mulieres/feminae). Auch die Differenzierung im Hinblick auf Status, Geschlecht und Alter der Opfer hatte in der Regel Konsequenzen sowohl für das Strafmaß als auch für die Jurisdiktion. Beispielsweise wird die Sühnung der Tötung eines Bischofs der Aufsicht des kirchlichen Bußwesens im Paenitentiale Theodori und in einem von diesem Bußbuch übernommenen Kanon im Paenitentiale Bigotianum ausdrücklich entzogen. In allen anderen Fällen von Klerikertötungen wird sie dem Bischof aber ausdrücklich zugesprochen: Wenn jemand einen Mönch oder Kleriker getötet hat, soll er die Waffen ablegen und Gott dienen oder sieben Jahre büßen – er unterliegt dem Urteil des Bischofs. Wer aber einen Bischof oder Presbyter getötet hat, über den ist das Urteil (das) des Königs.20
Das Geschlecht der Getöteten spielte offenbar keine übergeordnete Rolle für die Bemessung der Bußstrafe. Oder anders ausgedrückt: Es ist unklar, ob die Bußbuchbestimmungen, die gewöhnlich im männlichen Genus formuliert sind, inklusiv zu verstehen sind. Frauen kommen nämlich nur in den Bestimmungen zum Schwangerschaftsabbruch ausdrücklich als mögliche Opfer in den Blick – was sicher nicht als repräsentativ für die frühmittelalterlichen Statistiken von Tötungsdelikten gelten kann. Vgl. das laufende Dissertationsprojekt von Henriette von Harnier zum Thema „The Role of Women in the Penitential System of the Late Antique and Early Medieval Church“ am Bonn Center for Dependency and Slavery Studies (BCDSS). 20 Paenitentiale Theodori IV 5: a. Si quis occiderit monachum uel clericum: arma relinquat et deo seruiat, uel VII annos peniteat – in iudicio episcopi est. b. Qui autem episcopum uel praesbiterum occiderit, regis iudicium est de eo. Ed. Elliot (s.o. Anm. 11), 8. Vgl. Paenitentiale Bigotianum IV 1 2. 19
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Anders sieht es dagegen beim Alter der Opfer aus: Es sind zwar keine Bußvorschriften überliefert, die die Tötung von älteren Menschen sanktionieren, aber verhältnismäßig viele, die die Tötung von Kindern regulieren. Diese Form der Menschentötung wurde innerhalb der Bußbücher nicht immer, aber zunehmend ähnlich scharf sanktioniert wie die Tötung eines erwachsenen Mannes. Allerdings war für die Beurteilung des Infantizids als homicidium oftmals das Motiv beziehungsweise der Vorsatz entscheidend. 2.2.3. Motiv und der Tatumstände Die Berücksichtigung des Tatmotivs und der Tatumstände bildet das dritte und wichtigste Differenzierungsmerkmal innerhalb der Bußbuchbestimmungen zur Menschentötung. Die frühesten Bußbücher unterscheiden bei Fällen von Menschentötung nämlich in ganz ähnlicher Weise hinsichtlich des Motivs, wie wir es aus dem modernen Strafrecht gewohnt sind: Neben gewollten oder vorsätzlichen (voluntarie/ex meditatione) Tötungen aus Hass oder mit Heimtücke (odii meditatione/per insidia), die innerhalb der Bußbücher in der Regel am schärfsten sanktioniert werden, finden sich Rache (pro ultione/pro vindicta), (plötzliche) Wut oder Wahnsinn (ira/furore/insania), Affekt und Versehen (affectus/casus) als mehr oder minder mildernde Tatumstände. Auch soziale Strukturen kommen als Tatumstände zur Sprache. So fällt beispielsweise die Sanktion für eine im Auftrag des eigenen Herren ausgeführte Tötung im Paenitentiale Theodori mit 40 Tagen vergleichsweise mild aus.21 Dasselbe Bußbuch kennt darüber hinaus auch die Milderung der Bußstrafe für Infantizid von 15 auf sieben Jahre für den Fall, dass die Tat aus sozialer Not heraus erfolgt ist.22 2.2.4. Tötungsmethode Schließlich geben die Bestimmungen zum Thema Menschentötung in zwei speziellen Fällen noch Aufschluss über die Methode der Tötung: Erstens wird die Tötung von Kindern in der Regel mit dem Verb opprimere beschrieben, was vermutlich am ehesten mit „ersticken“ oder Paenitentiale Theodori IV 6: „Wer auf Befehl seines Herrn einen Menschen getötet hat, soll 40 Tage fasten.“ Qui per iussionem domini sui occiderit hominem, XL diebus ieiunet. Ed. Elliot (s.o. Anm. 11), 8. 22 Paenitentiale Theodori XIV 26: „Wenn eine arme Frau ihr Kind getötet hat, soll sie sieben Jahre büßen…“ Mulier paupercula si occidit filium suum, VII annos peniteat… Ed. Elliot (s.o. Anm. 11), 17f. 21
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„erdrücken“ zu übersetzen ist.23 Die entsprechenden Kanones unterscheiden hier, wie oben bereits erwähnt, zusätzlich häufig zwischen beabsichtigter und unbeabsichtigter Kindstötung und qualifizieren die Tat je nach dem als homicidium oder eben nicht. Die zweite in den Bußbuchkanones zuverlässig bezeugte Tötungsmethode ist die durch Gift. Die entsprechenden Kanones behandeln die beabsichtigte Tötung durch maleficium beziehungsweise veneficium überwiegend in einer Reihe mit maleficium pro amore (Liebeszauber) und dem damit offenbar gelegentlich (beabsichtigt oder unbeabsichtigt) einhergehenden Abortus von Embryos oder Föten.24 Das angelsächsische Paenitentiale Theodori kennt außerdem noch die Tötung durch poculum uel per artem, womit ebenfalls die Tötung durch Vergiften gemeint sein dürfte.25 2.3. Ethische Grauzonen: Schwangerschaftsabbruch und Suizid Die Bestimmungen zu maleficium und veneficium überschneiden sich zum Teil mit den Bußbuchverordnungen zu Schwangerschaftsabbruch und Suizid. Auf die insgesamt 15 Kanones zu diesen beiden Themen kann hier zwar nicht im Einzelnen eingegangen werden.26 Sie sollen aber Vgl. Paenitentiale Burgundense 19 et par: infantem oppresserit. Vgl. erläuternd im „Sondergut“ des Paenitentiale Floriacense 45: suffocare. In der Forschung wird gelegentlich erörtert, ob mit diesem Verb auch der sexuelle Missbrauch an Kindern bezeichnet sein könnte, vgl. Peter Dinzelbacher, Pädophilie im Mittelalter, in: Beiträge zur Rechtsgeschichte Österreichs 8/1 (2018), 5–38. Während dies für den vorliegenden Kontext unwahrscheinlich ist, könnte opprimere in anderen Kontexten durchaus so verstanden werden, vgl. z.B. Paenitentiale Cummeani X 9 und Paenitentiale Parisiense simplex 56. 24 Vgl. Paenitentiale Vinniani 18–20; Paenitentiale Columbani B 6; Paenitentiale Burgundense 9–10 et par. 25 Vgl. Paenitentiale Theodori IV 7. 26 Die grundlegenden Studien zum Schwangerschaftsabbruch stammen von Zubin Mistry, Abortion in the Early Middle Ages c. 500–900 (Social History of Medicine 29), Woodbridge 2015, und Marianne Elsakkers, Reading Between the Lines. Old Germanic and Early Christian Views on Abortion, PhD Dissertation, University of Amsterdam 2010, Kap. 3: „Abortion in the early medieval Latin penitentials“, 393– 459, https://dare.uva.nl/search?identifier=a91baf95-c442–4d06-9483-421cc305a168, zuletzt abgerufen am 17.05.2022. Vgl. außerdem Julia Winnebeck, Handling Abortion. An exemplary study of the (in)dependence of late antique and early medieval penance, in: ZKG 132 (2021), 1–15. Die Suizid Kanones der Bußbücher werden behandelt bei Alexander Murray, Suicide in the Middle Ages II. The Curse on SelfMurder, Oxford 2011, 249–267. Zum Suizid in der Spätantike vgl. außerdem Dagmar Hofmann, Suizid in der Spätantike. Seine Bewertung in der lateinischen Literatur, Stuttgart 2007. 23
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im Hinblick auf die Frage zur Sprache kommen, ob Schwangerschaftsabbruch und Suizid im Rahmen der frühmittelalterlichen Buße als Menschentötung verstanden wurden oder nicht. 2.3.1. Schwangerschaftsabbruch Der grundlegenden Studie von Zubin Mistry zufolge lassen sich die Canones zum Schwangerschaftsabbruch in drei Gruppen unterteilen, die den einzelnen Bußbuchtraditionen entsprechen.27 Dies ist erstens die oben bereits angesprochene irische maleficium(oder decipere partum) Tradition, in der der Schwangerschaftsabbruch im Kontext der allgemeinen Bekämpfung von Giftmischerei gewissermaßen als Nebeneffekt von Liebeszauber, d.h. vielleicht als Nebenwirkung von date rape Drogen oder Verhütungsmitteln, behandelt wird: Wenn eine Frau durch ihr maleficium das Gezeugte irgendeiner ums Leben gebracht hat (partum … deciperit), soll sie für ein halbes Jahr bei Brot und Wasser nach Maß büßen und sich zwei Jahre lang von Wein und Fleisch fernhalten und sechs 40-tägige Fastenzeiten bei Brot und Wasser. 28
Die fränkische Tradition der Bestimmungen zum Schwangerschaftsabbruch ist durch die Qualifikation der Tat als voluntarie charakterisiert Vgl. Mistry (s.o. Anm. 26), 156: „Roughly by the turn of the eighth century three penitential rulings on abortion had emerged independently: – Decipere partum [...], from the Columbanian tradition; included in the simplices; – Voluntarie [...], from the simplices tradition; – XL dies [...], from the Theodorean tradition.“ 28 Paenitentiale Vinniani 20: Si mulier maleficio suo partum alicuius deciperit, demedium annum cum pane et aqua peniteat per mensura et duobus annis abstineat a uino et a carnibus et sex quadrigissimas cum pane et aqua. Ed. Bieler (s.o. Anm. 11), 78–80. Mit Rob Meens, The Penitential of Finnian and the Textual Witness of the Paenitentiale Vindobonense “B”, in: MS 55 (1993), 243–255, wird der Text der Handschrift Mss St Gall, Stiftsbibliothek, Cod. 150 (S) dem der Wiener Handschrift in der Österreichischen Nationalbibliothek, lat. 2233 (V) vorgezogen. Das schwierige decipere partum wurde hier i.S. von „ums Leben bringen“ verstanden und übersetzt, vgl. Otto Prinz, Mittellateinisches Wörterbuch bis zum ausgehenden 13. Jahrhundert, Bd. 3: D–E, München 2007, 95–96, hier 96,10; Karl Simbeck, dēcipio, -cēpī , -ptum, -ere, in: Thesaurus Linguae Latinae Online, vol. 5, 1, Berlin/New York 1910, 174–178, hier 178,76, https://tll.degruyter.com/article/ 5_1_01_decipio_v2007; zuletzt abgerufen am 19.05.2022. Alternativ kann decipere partum auch i.S. von decipiendo efficere (täuschend bewirken) übersetzt werden: „20. If woman through her maleficum has cheatingly induced any labour [i.e. produced an abortion], […]“. Vgl. Winnebeck (s.o. Anm. 27), 6; Simbeck, ebd., 178,40. 27
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und im Kontext von Bestimmungen zu Häresie beziehungsweise Apostasie überliefert:29 Wenn irgendeine Frau willentlich (voluntarie) einen Abortus herbeigeführt hat, soll sie drei Jahre bei Brot und Wasser büßen.30
Die angelsächsische Tradition der Bußbuchkanones zeichnet sich durch die Unterscheidung zwischen dem Abbruch der Schwangerschaft in einem frühen oder späten Stadium aus. Diese Tradition findet sich bei Theodor im Kontext von Vorschriften zur Sexualethik beziehungsweise in einem Abschnitt mit speziellen Ehevorschriften (De penitentia nubentium specialiter) und im Paenitentiale Bigotianum im Kontext von Bestimmungen zum Suizid:31 Eine Frau, welche empfangen und ihr Kind im Uterus vor (dem Ablauf von) 40 Tagen getötet hat, soll ein Jahr büßen, wenn aber nach 40 Tagen, soll sie wie eine homicida büßen.32
Die Besonderheit aller drei Traditionen besteht darin, dass ein Schwangerschaftsabbruch in den frühesten Bußbüchern primär als Folge einer verfehlten Sexualethik, d.h. entweder als Unzucht oder als Ausdruck mangelnder Enthaltsamkeit in der Ehe, unter zu Hilfenahme von Giftmischerei bzw. magischer Praktiken abgelehnt wurde. Damit übernahmen die Bußbücher eine Argumentationslinie, die sich, wie Ulrich Volp gezeigt hat, bereits in der alten Kirche findet.33 Gleichzei Tötungsdelikte werden in denselben Bußbüchern dagegen ganz am Anfang in einer Reihe von drei Kanones verhandelt (homicidium – homicidium casu – ad homicidium faciendum consenserit et factum fuerit). Da die fränkischen Bußbücher insgesamt aber keine nachvollziehbare Gliederung bieten ist fraglich, wieviel Gewicht dieser Beobachtung tatsächlich zukommen sollte. 30 Paenitentiale Burgundense 35 et par: Si quis mulier auorsum fecerit uoluntarie, III annus peneteat cum pane et aqua. Ed. Kottje, Paenitentialia Minora (s.o. Anm. 13), 65. 31 Vgl. Paenitentiale Bigotianum IV 2 1. Der Kanon steht unter der Hauptüberschrift De Ira im Unterabschnitt de occidentibus semet ipsis (Über diejenigen, die sich selbst töten) und folgt hier auf die vom Paenitentiale Theodori übernommenen Kanones zum Suizid, vgl. Mistry (s.o. Anm. 27), 151. Zum Verständnis des Schwangerschaftsabbruchs als Suizid bzw. Selbsttötungsversuch vgl. schon Hieronymus, aber auch Tertullian, der alle Todsünden aus der Fornicatio entwickelt. 32 Paenitentiale Theodori XIV 27: a. Mulier quae concepit et occidit infantem suum in utero ante XL dies I annum peniteat; b. si uero post XL dies, ut homicida peniteat. Ed. Elliot (s.o. Anm. 12), 18. 33 Vgl. Ulrich Volp, Die Würde des Menschen. Ein Beitrag zur Anthropologie in der Alten Kirche (SVigChr 81), Leiden/Boston 2006, 295f: „Ein Teil der christlichen Autoren (Justin, Tertullian, Minucius Felix, Hippolyt, Clemens Alexandrinus, 29
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tig finden sich in den Bußbüchern jedoch zunehmend auch Spuren der zweiten altkirchlichen Argumentationslinie in Form der theologischen Qualifizierung der Tat als homicidium beziehungsweise der Täterinnen als homicida.34 Eine gewisse Konfusion über die Frage, ob der Schwangerschaftsabbruch in erster Linie als Anschlag auf das ungeborene Leben oder das der Mutter verstanden und sanktioniert werden sollte blieb jedoch auch dann bestehen. Aufgrund des vorliegenden Befundes kann somit nicht behauptet werden, dass ein Schwangerschaftsabbruch eindeutig als Menschentötung (zumal des ungeborenen Lebens) verstanden und im Bußverfahren auch entsprechend bestraft wurde. Viel eher dokumentieren die Bußbücher einen differenzierten Umgang mit einem komplexen (und in der Praxis vermutlich kaum zu unterdrückendem) Problem. Die Bestimmungen mussten die Verantwortung der verschiedenen Beteiligten, ihren Stand und ihre sozialen Umstände gegenüber dem Schutz des Lebens von Frauen und ungeborenem Leben abwägen und verfahren dabei im Grunde pragmatisch: Der Schwangerschaftsabbruch wird eindeutig als Sünde abgelehnt und in der theologischen Beurteilung allmählich von der Unzucht stärker hrysostomos) verurteilte Schwangerschaftsabbruch und Kindesaussetzung, weil sie C als Folge einer verfehlten Sexualethik galten. [...] eine zweite Art der Argumentation [verfährt] noch dezidierter ‚anthropologisch‘: Der Embryo wird bei Athenagoras, Tertullian und Augustinus (Embryo als forma completa), Minucius Felix, Clemens Alexandrinus, Laktanz, Cyprian, Ambrosius und Johannes Chrysostomos als Mensch aufgefaßt (auch wenn ihm die ‚Seele‘ gegebenenfalls noch fehlt), und deshalb wird der Schwangerschaftsabbruch als Mord verurteilt.“ Die frühesten Konzilskanones behandeln Schwangerschaftsabbruch als eine Folgesünde von Unzucht und belegen sie mit harten Bußzeiten, ohne sie direkt als homicidium zu qualifizieren, vgl. Synode von Elvira (ca. 300) cn. 63, ed. Gonzalo Martínez Díez, CCaHi 4: Concilios galos, concilios hispanos, primera parte, Madrid 1984, 233–268, und Konzil von Ankyra (314) cn. 20, ed. Cuthbert Hamilton Turner, EOMJA II, 1, Oxford 1907, 3–115. 34 Diese Entwicklungen sind im Paenitentiale Columbani und in vier fränkischen Bußbüchern angezeigt durch den Zusatz ne homicidium reus sit und im Paenitentiale Theodori bzw. Paenitentiale Bigotianum durch die Anordnung, dass ut homicida gebüßt werden müsse. Vgl. Paenitentiale Columbani B 6, s. auch Columbanus, Regula Monachorum 6, ed. George S.M. Walker, Columbani Opera (SLH II), Dublin 1956, 124–142; Paenitentiale Burgundense 10; Paenitentiale Sletstatense 10; Paenitentiale Floriacense 10; Paenitentiale Hubertense 11; Paenitentiale Theodori XIV 24 und 27; Paenitentiale Bigotianum IV 2 2–4; Paenitentiale Floriacense 64 und 65. Das Paenitentiale Floriacense 10 enthält die Variante reus sit homicidii und repräsentiert damit wahrscheinlich bereits ein späteres Stadium der Bußbuchtradition, nämlich die Aufnahme von und Angleichung an die Konziliargesetzgebung, hier konkret von cn. 20 des Konzils von Ankyra, welcher Aufnahme in das „Sondergut“ dieses Bußbuchs fand, vgl. Paenitentiale Floriacense 64 und 65.
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in Richtung homicidium verschoben, aber überwiegend mit Strafen deutlich unterhalb derer für vorsätzliche Tötung belegt.35 2.3.2. Suizid Die andere Gruppe von Kanones, deren Zuordnung zu den Bußvorschriften zur Menschentötung nicht ganz unproblematisch ist, sind die Bestimmungen zur Selbsttötung.36 Diese Vorschriften beschreiben zwar ohne Zweifel einen Vorgang, bei dem ein Mensch zu Tode kommt. Sie nehmen aber schon allein deshalb eine Sonderstellung unter den Bußbuchbestimmungen ein, weil die Sünder jedenfalls dem irdischen Bußverfahren durch ihren Tod entzogen waren.37 Bußbuchkanones zur Selbsttötung finden sich in der ersten Generation der Bußbücher ausschließlich im zweiten Teil des Paenitentiale Theodori38 und in dem von Eine Ausnahme bildet Paenitentiale Hubertense 56, wo verschiedene Arten der Verhütung und der Schwangerschaftsabbruch im Frühstadium als Formen von Giftmischerei mit einer Bußstrafe von 10 Jahren belegt werden, vgl. Elsakkers (s.o. Anm. 26), 399. Der Kontext dieser Bestimmung ist allerdings wiederum der der verfehlten Sexualethik und nicht der Tötung: Der Kanon selbst trägt zwar die Einzelüberschrift De Potionibus Mulierum, aber folgt auf eine Bestimmung zur Wiederheirat und steht vor einer Bestimmung, die es Neuverheirateten verbietet, die Messe zu besuchen. 36 So stellt auch Hofmann (s.o. Anm. 26), 10, in der Einleitung zu ihrer Studie zum Suizid die entscheidende Frage, ob „[…] Selbstmörder in der Spätantike wirklich als Mörder, als homicidae angesehen“ wurden. 37 Vgl. Murray, Suicide (s.o. Anm. 26), 251: „Now penance cannot, in the nature of things, be performed for suicide, or not this kind of penance. The guilty party is not there to perform it. That fact, not the usual reticence, can be advanced as the main reason for the rarity of suicide in the penitential books.“ 38 Paenitentiale Theodori XXV 1–5, ed. Elliot (s.o. Anm. 11), 26. Das Paenitentiale Theodori bietet eine Reihe von fünf Bestimmungen unter der Überschrift De vexatis a diabolo, die vermutlich aus zwei vormals selbständigen Traditionen zusammengewachsen sind. Nach Murray, Suicide (s.o. Anm. 27), 253–257, gehören die Überschrift und die Kanones 1 und 5, die den Umgang mit Menschen, die von Dämonen besessen sind, regeln, zum ursprünglichen Bestand des Bußbuchs. Die Kanones 2–4 seien dann später vor dem Hintergrund der Erfahrungen in der Bußpraxis hinzugewachsen, um ein Bußbuch, das keine Bestimmungen zum Suizid enthielt durch diese zu bereichern, vgl. ebd., 254: „For if my construction is correct it would imply that, at first, suicide not only lacked a name but was not even a distinct concept. The very idea of suicide, that is to say, could only lodge in priests’ minds as a compilation in the burial of demoniacs. Once lodged, the idea remained, and established itself.“ Die Einfügung der Suizid-Bestimmungen in das Paenitentiale Theodori erfolgte vermutlich aus praktischen Gründen: „At a period when divines in general were silent on suicide, the penitential books, emanating as they did from priests with pastoral duties, had no choice but to take notice of it“ (ebd., 266). 35
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diesem Text abhängigen Paenitentiale Bigotianum.39 Im Paenitentiale Theodori stehen die Bestimmungen zur Sebsttötung unter der Überschrift De vexatis a diabolo („Über die vom Teufel Gequälten“): 1. Wenn ein Mann vom Teufel gequält worden ist und nichts tun kann, außer überall umherzulaufen und sich selbst tötet aus irgendeinem Grund, ist es möglich, dass für ihn gebetet wird, wenn er zuvor religiös war. 2. Wenn (er dies) aus Verzweiflung oder aus irgendeiner Angst oder aus unbekannten Gründen (tut), überlassen wir Gott dieses Urteil und wagen nicht für ihn zu beten. 3. Für einen, der sich aus eigenem Willen selbst getötet hat, ist es nicht gestattet, Messen zu halten, sondern nur zu beten und Almosen zu spenden. 4. Wenn irgendein Christ durch eine plötzliche Versuchung aus seinem Geist gewichen ist (sc. den Verstand verloren hat) oder sich durch Wahnsinn selbst getötet hat, halten einige für ihn (sc. so jemanden) Messen. 5. Es ist erlaubt, für jemanden, der einen Dämon erträgt, Steine oder Kräuter zu haben ohne Anrufung (von Geistern).40 Paenitentiale Bigotianum IV 2 1, ed. Bieler (s.o. Anm. 11), 228. Das Bigotianum übernimmt nur die ersten drei Kanones aus der Theodor-Reihe und verschmilzt diese zu einem einzigen. Murray hat insgesamt etwa zwölf Hinweise auf Selbsttötung in den Bußbüchern gefunden, die wahrscheinlich alle auf die gleiche Tradition zurückgehen, vgl. Murray, Suicide (s.o. Anm. 27), 251.259–263. Diese finden sich außer im Paenitentiale Theodori und dem Paenitentiale Bigotianum im Altirischen Bußbuch, in den Pseudo-Isidorischen Dekretalen (ca. 850); im Paenitentiale Martenianum (ca. 800), im Bußbuch des Halitgar von Cambrai, im Paenitentiale Merseburgense (spätes 8. Jh.), in den Iudicia Clementis (ca. 800), im Paenitentiale Vallicellanum I und im Paenitentiale Vindobondense A (spätes 9. Jh). 40 Paenitentiale Theodori XXV 1–5: DE VEXATIS A DIABVLO. 1. Si homo uexatus est a diabulo et nescit aliquid nisi ubique discurrere et occidit semetipsum quacumque causa, potest ut oretur pro eo si ante relegiosus erat. 2. Si pro disperatione aut pro timore aliquo aut pro causis incognitis, deo relinqu‹i›mus hoc iudicium et non ausi sumus orare pro eo. 3. Qui seipsum occiderit propria uoluntate missas pro eo facere non licet, sed tantum orare et elemosinas largire. 4. Si quis christianus subita temptatione mente sua exciderit uel per insaniam seipsum occiderit, quidam pro eo missas faciunt. 5. Demonium sustinenti licet petras uel holera habere sine incantatione. Ed. Elliot (s.o. Anm. 11), 26. Englische Übersetzung bei John T. McNeill/Helena Gamer (Hgg.), Medieval Handbooks of Penance. A Translation of the Principal Libri Poenitentiales, New York 1938, 207: „Of Those Who Are Vexed by the Devil. 1. If a man is vexed by the devil and can do nothing but run bout everywhere, and [if he] slays himself, there may be some reason to pray for him if he was formerly religious. 2. If it was on account of despair, 39
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Die Gemeinsamkeit der Vorschriften in beiden Überlieferungskontexten, d.h. im Paenitentiale Theodori und im Paenitentiale Bigotianum besteht darin, dass für Selbsttötungen infolge der Besessenheit vom Teufel oder infolge von (möglicherweise ebenfalls von Dämonen hervorgerufenem) Wahnsinn Erinnerungsrituale wie das fürbittende Gebet und Opferspenden zugelassen wurden. Dagegen war für Menschen, die sich aus Traurigkeit oder Angst (pro disperatione uel pro timore) das Leben genommen hatten, keine Erinnerung in Form von Messen und Gebeten vorgesehen. Die Selbsttötung aus eigenem Willen (voluntarie) nimmt mit dem Verbot von Messen aber der Erlaubnis von Gebeten und Almosen zugunsten des Seelenheils des Verstorbenen eine seltsame Zwischenstellung ein, die vielleicht als Überbleibsel des römisch-hellenistischen Zugeständnisses eines selbstbestimmten Todes unter bestimmten Umständen zu erklären ist.41 Interessanterweise wurde die Selbsttötung damit ebenso wie andere Menschentötungen dann als besonders problematisch angesehen, wenn sie aus einer bestimmten sündhaften und möglicherweise über einen längeren Zeitraum genährten Emotion heraus erfolgte, wie zum Beispiel ira oder timore. Umgekehrt galten Selbsttötungen offenbar als weniger verwerflich, wenn sie von einer höheren Macht, wie dem Teufel (vexatus a diabolo)42 oder einem Dämon, veranlasst und somit gleichermaßen in Abhängigkeit vollzogen wurden. Mit ihrer differenzierten Beurteilung gemäß dem Motiv beziehungsweise der Veranlassung des Suizids und or of some fear, or for unknown reasons, we ought to leave to God the decision of this matter, and we dare not pray for him. 3. In the case of one who of his own will slays himself, masses may not be said for him; but we may only pray and dispense alms. 4. If any Christian goes insane through a sudden seizure, or as a result of insanity slays himself – there are some who celebrate masses for such an one. 5. One who is possessed of a demon may have stones and herbs, without [the use of] incantation.“ 41 Sowohl die platonische als auch die stoische Philosophie gestanden den selbstbestimmten Tod unter bestimmten Umständen zu. Das Gleiche galt für das Römische Recht, vgl. Murray, Suicide (s.o. Anm. 26), 172: „Both [philosophy and law] made motive the distinguishing factor between innocent and guilty suicide.“ Den Hintergrund für die Bestimmungen zum Suizid im Codex Iustinianus und den Digesten bietet daher nicht die Ablehnung von Suizid per se, sondern die Ablehnung von Selbsttötungen mit dem Ziel, der Strafe für ein Verbrechen (oder eine Sünde) zu entgehen. 42 Murray, Suicide (s.o. Anm. 26), 191, zufolge wird der Akt der Selbsttötung oft mit dem Teufel in Verbindung gebracht und zwar mit dem Ziel „to acknowledge that it was the Devil who made people kill themselves, and the Devil, equally who took their soul when they died. […] For several texts imply that, while the Devil and his demons may provoke a range of sins, it is suicide alone which always, unmistakably bears his mark.“
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damit verbunden nach der Verantwortung der Sünder für ihre Tat fügen sich die Vorschriften zum Suizid gut in die Reihe der übrigen Bestimmungen zur Menschentötung ein.43 Demgegenüber wird das Verständnis der Selbsttötung als Menschentötung beziehungsweise homicidium im Rahmen der Buße durch die Tatsache erschwert, dass ein Mensch, der sich selbst getötet hat keiner herkömmlichen Bußstrafe mehr unterworfen werden konnte.44 Stattdessen erfolgte die Sanktion bei den SuizidKanones in Form der Beschränkung des Totengedenkens und traf damit im Diesseits zunächst die Angehörigen der Verstorbenen in Form des sozialen (und emotionalen) Stigmas.45 Allerdings hatte das Totengedenken ebenso wie die Buße in der spätantiken beziehungsweise frühmittelalterlichen Vorstellung direkten Einfluss auf das Schicksal der Seele der Verstorbenen im Jenseits. Aus diesem Grund kann die Untersagung der Memoria vielleicht sogar als eine besonders scharfe Strafe verstanden werden: Die erforderliche Buße für die Selbsttötung konnte von den Sündern nicht mehr vollzogen werden und die im Diesseits verfügbaren Ersatzleistungen zugunsten der Seele der Verstorbenen durften von den Angehörigen und zuständigen Geistlichen nicht oder nur zum Teil ausgeführt werden.
Zu einem ähnlichen Urteil kommt auch Hofmann (s.o. Anm. 27), 210.212, in Bezug auf die von ihr untersuchten Quellen, wenn sie als Ergebnis ihrer Fallstudien festhält, „daß sich die Bewertung eines Suizids nicht nach der Tat an sich richtet, sondern vordergründig nach den Motiven, nach den Todesarten und nicht zuletzt nach der betreffenden Person und ihrem Charakter. […] Ob der Selbstmörder in der Spätantike tatsächlich als homicida sui betrachtet wird, hängt also von vielen Faktoren ab – der Suizid allein weist ihn jedoch niemals als homicida aus.“ 44 Bestimmungen über fehlgeschlagene Selbsttötungsversuche konnten bisher nicht gefunden werden. Möglicherweise sind bestimmte Kanones zu Melancholie oder Traurigkeit bzw. Depression in diese Richtung zu deuten, z.B. Paenitentiale Ambrosianum V; Paenitentiale Bigotianum V 1. Vgl. Rob Meens, Exil, Buße und sozialer Tod. Ausschließungsmechanismen in den frühmittelalterlichen Bußbüchern, in: Claudia Garnier/Johannes Schnocks (Hgg.), Sterben über den Tod hinaus. Politische, soziale und religiöse Ausgrenzung in vormodernen Gesellschaften, Würzburg 2012, 117–131, hier 120f. 45 Vgl. Paenitentiale Theodori XX (De Missa Defunctorum) für Hinweise zum zeitgenössischen Totengedenken und zum Verständnis der Bußstrafe für Suizid. Zum Totengedenken in Form des Gebets für die Verstorbenen usw. vgl. z.B. Éric Rebillard, The Care of the Dead (CSCP 59), Ithaca/NY u.a. 2009, 153–175; Irene Barbiera, Buried together, buried alone. Christian commemoration and kinship in the early Middle Ages, in: EMEu 23 (2015), 385–409. 43
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2.4. Menschentötungen ohne Tote Die mehrfach angesprochene Besonderheit des kirchlichen Umgangs mit der Menschentötung im Rahmen der Bußbücher, nämlich, dass nicht allein die Tötung eines Menschen, sondern die konkreten Umstände der Tat von entscheidender Bedeutung für die Beurteilung der Sünde waren, finden einen besonders pointierten Ausdruck in einer Reihe von Bestimmungen, in denen Taten als homicidium oder Täterinnen und Täter als homicida qualifiziert werden, ohne dass tatsächlich jemand getötet worden wäre. In diese in sich sehr heterogene Gruppe fallen zunächst Vorschriften, die den Wunsch, jemanden zu töten, beziehungsweise Hass (odium) oder Zorn (ira) gegen einen anderen Menschen als homicidium qualifizieren.46 Die Vorstellung, dass Zorn und Hass gegenüber dem Nächsten als Vorstufe oder Einfallstor zum homicidium bereits im höchsten Maße verwerflich und deshalb im Keime zu ersticken seien findet sich außerdem in einer Reihe von Bestimmungen, die tätliche Übergriffe oder Verschwörungen zum Mord sanktionieren.47 Schließlich fallen in die Kategorie „Menschentötung ohne Tote“ noch Bestimmungen, die Taten als homicidium qualifizieren, die auf den ersten Blick rein gar nichts mit Menschentötung zu tun haben. Das irische Paenitentiale Ambrosianum enthält beispielsweise einen Kanon, in dem (offenbar im Anschluss an die Regula Basili)48 derjenige als homicida verstanden wird, der einen anderen betrunken gemacht hat: 6. Wer aus einem Gefühl des Hasses oder des Überflusses heraus andere in die Trunkenheit zwingt, so dass er (sie) schändlich beschämt oder verlacht, wird er, wenn er keine würdige Buße gemäß dem Urteil des Priesters vollzogen und jene (sc. die, die er betrunken gemacht hat) durch demütige Genugtuung nicht beschwichtigt hat, wie ein Mörder von Seelen beurteilt werden…49 Vgl. Paenitentiale Columbani A 2; Paenitentiale Vinniani 3. Auch Hass oder Zorn werden schon als homicidium betrachtet, z.B. Paenitentiale Cummeani IV 4 (odium); Paenitentiale Ambrosianum IV (ira) 2; Paenitentiale Parisiense simplex 60 (ira). 47 Das irische Paenitentiale Vinniani bestraft beispielsweise die Planung eines tätlichen Übergriffs oder einer Tötung mit Bußstrafen von eineinhalb Jahren für Kleriker und sieben Tagen für Laien. Die deutlich mildere Bestrafung der Laien wird damit begründet, dass ebenso wie ihre Schuld auf Erden leichter, auch ihre Belohnung im Himmel geringer sei. Der folgende Kanon 8 widmet sich dann dem Fall, dass der Plan tatsächlich in die Tat umgesetzt wurde, das Opfer dabei aber nicht zu Tode gekommen war: Unter Berufung auf 1. Joh 3,15 wird der Täter als homicida betrachtet, aber – wenigstens im Diesseits – nicht so bestraft. Vgl. Paenitentiale Vinniani 6–8, ed. Bieler (s.o. Anm. 10), 76f. 48 Regula Basili 119,5, ed. Klaus Zelzer, CSEL 86, Wien 1986, 146. 49 Paenitentiale Ambrosianum I 6: Qui uero affectu odii seu luxuriae, ut turpiter confundat uel irrideat, ad ebrietatem alios cogit, si digna poenitentia ad iudicium sacerdotis non affuerit et illos humili satisfactione non placauerit, homicida iudicabitur animarum… Ed. 46
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Wie bei zahlreichen anderen Bestimmungen scheint auch hier das Motiv, beziehungsweise die motivierende Emotion – hier also odium beziehungsweise luxuria – das entscheidende Kriterium für die scharfe Verurteilung der Tat als homicidium zu sein. Hinzu kommt bei diesem Kanon der interessante Aspekt, dass die Beurteilung des Sünders als „Mörder von Seelen“ durch dessen zuvorkommende Buße und satisfactio wohl noch hätte abgewendet werden können. In diesem Sinne kann auch die Bußstrafe für Schwangerschaftsabbruch im Paenitentiale Columbani und den fränkischen Bußbüchern verstanden werden.50 3. Die Bußpraxis für Menschentötung im Spiegel der Bußstrafen Entsprechend der differenzierten Betrachtung der Fälle von Menschentötung in den Bußbüchern, je nach dem wer die Täterinnen, Täter und Opfer waren und welche Motive der Tat zugrunde lagen, variieren auch die angeordneten (Buß-)Strafen. Letztere bieten in doppelter Hinsicht Aufschluss über den kirchlichen Umgang mit der Menschentötung. Einerseits enthalten sie wertvolle Hinweise zur Bußpraxis beziehungsweise zum Charakter der Bußbücher. Andererseits können sie im Vergleich miteinander sowie mit der Sanktionierung anderer Sünden Aufschluss über die theologische Beurteilung der Menschentötung geben. 3.1. Bußstrafen 3.1.1. Fasten, Almosen, Beten und Weinen Die überwiegende Zahl der Bestimmungen zur Menschentötung verhängt als Strafe eine mehrjährige Buße in Form von Fasten. Wenn die Körntgen (s.o. Anm. 6), 259. Vgl. unbekanntes Bußbuch in der Düsseldorfer Handschrift Ms B 113, fol. 81r, und Paenitentiale Cummeani I 3. Eine ähnliche Bestimmung findet sich auch in den Excerpta Quedam De Libro Dauidis 4: Qui uero effectu hodii seu luxuriae ut turpiter confundat uel irrideat ad ebrietatem alios cogit, si non satis penituerit, sic peniteat ut homicida animarum. Ed. Bieler (s.o. Anm. 11), 70; englische Übersetzung ebd., 71: „But one who under the influence of hatred or of wantonness constrains others to drunkenness that he may basely put them to confusion or ridicule, if he has not done adequate penance, shall do penance as a slayer of souls.“ Im Paenitentiale Cummeani X 19–20 werden außerdem Priester, die einen später verstorbenen Säugling nur gesegnet anstatt getauft hatten, als homicida bezeichnet. 50 Vgl. Winnebeck (s.o. Anm. 26), und die Diskussion zum Zusatz ne homicidium reus sit in Anm. 34 dieses Aufsatzes.
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Kanones über die Wendung peniteat (er/sie soll büßen) hinaus überhaupt noch Informationen bieten, wird die Buße häufig so vorgestellt, dass die Sünder im ersten Jahr der Bußstrafe durchgehend (annus integer) auf alle Nahrungsmittel außer auf Brot und Wasser (panis et aqua) verzichten. Für die Zeit nach dem ersten Jahr wird das strenge Fasten manchmal auf die drei Fastenzeiten (quadragesima) vor den großen christlichen Festtagen und/oder auf zwei Tage in der Woche reduziert.51 Gelegentlich wird auch der Sonntag als Fastentag ausgespart, vor allem bei langjährigen Bußstrafen.52 Für die restliche Zeit des Jahres ist jedoch meist weiterhin der Verzicht auf Wein und Fleisch vorgesehen.53 Außer Anordnungen zum Fasten enthalten insbesondere die irischen und einige der fränkischen Bußbuchbestimmungen gelegentlich die Aufforderung, zusätzlich Almosen zu geben sowie den Bußprozess mit Weinen und Beten zu begleiten.54 Für Kleriker geht die Strafe für Menschentötung manchmal auch ausdrücklich mit der Suspendierung vom oder der Entlassung aus dem Amt einher.55 Laien waren für die Dauer ihrer Buße von der Teilnahme am Abendmahl ausgeschlossen und durften sich darüber hinaus vielleicht nicht einmal im Umfeld der Kirche aufhalten. So ordnete wenigstens das Paenitentiale Theodori an, dass sich Laien, die eine Tötung im Auftrag vollzogen hatten, der Kirche für 40 Tage nicht nähern durften – vermutlich, weil sie im Sinne alttestamentlicher Reinheitsvorstel lungen als unrein galten.56
Das Paenitentiale Burgundense enthält häufig die Wendung „x davon bei Brot und Wasser“. Wenn das Paenitentiale Theodori ein Jahr Buße verhängt, bezieht sich die Fastenaufforderung möglicherweise immer nur auf die Fastenzeiten, vgl. Paenitentiale Theodori XIV 24. Im „Sondergut“ des Paenitentiale Floriacense 64 wird das Fasten wie in Didache 8,3 auf mittwochs und freitags beschränkt. 52 Vgl. Paenitentiale Theodori XIV 25. 53 Die zusätzliche Aufforderung, auf Wein und Fleisch zu verzichten ist typisch für das Paenitentiale Vinniani, findet sich aber auch im Paenitentiale Theodori. 54 Die Aufforderung, Almosen zu geben findet sich z.B. in Paenitentiale Cummeani IV 7; Paenitentiale Ambrosianum IV 4; Paenitentiale Hubertense 10. Die Aufforderung, die Buße mit Weinen und Beten zu begleiten findet sich z.B. in Paenitentiale Vinniani 8 und 12; Paenitentiale Ambrosianum IV 4; Paenitentiale Floriacense 45. 55 Vgl. Paenitentiale Vinniani 8 und 12; Paenitentiale Theodori IX 8; Paenitentiale Hubertense 62 (hier Ordinationshindernis). 56 Vgl. Paenitentiale Theodori IV 6. 51
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3.1.2. Satisfactio Ein besonderes Merkmal der Bußbuchbestimmungen zur Menschentötung ist die Tatsache, dass diese in den frühesten Bußbüchern auch mit Strafen belegt wird, die – wenigstens auf den ersten Blick – keinen spirituellen Charakter haben, sondern als weltliche Strafen gelten können. Dazu gehört einerseits die satisfactio in Form von Kompensationszahlungen oder Kompensationsleistungen.57 Andererseits verhängen die Bußbücher für Fälle von Menschentötung auch die Strafe des Exils oder der Zwangseinweisung in ein Kloster. Eine mehrjährige Buße in Verbindung mit einer satisfactio, die vermutlich als Kompensationszahlung an die Verwandten des Getöteten zu verstehen ist, verhängte beispielsweise das fränkische Paenitentiale Bobbiense für eine Tötung durch einen Kleriker: Wenn irgendein Kleriker eine Menschentötung begangen und seinen Nächsten getötet hat, …, soll er den Eltern (Verwandten) desjenigen, den er getötet hat, Genugtuung leisten.58
Das Paenitentiale Theodori erlaubte die Reduktion der Bußzeit um die Hälfte für eine Tötung aus Rache, sofern den Angehörigen des Getöteten eine Kompensation gezahlt wurde.59 Und das irische Paenitentiale Bigotianum forderte eine Kompensationszahlung im Gegenwert von 14 weiblichen Sklaven für den Tod einer Schwangeren infolge eines Schwangerschaftsabbruchs, die möglicherweise an den Ehemann oder männlichen Vormund der Verstorbenen zu entrichten war.60 Zwei irische und zwei Vgl. Rob Meens, Penance and Satisfaction: Conflict Settlement and Penitential Practices in the Frankish World in the Early Middle Ages, in: Lukas Bothe/Stefan Esders/Han Nijdam (Hgg.), Wergild Compensation, and Penance. The Monetary Logic of Early Medieval Conflict Resolution (Medieval Law and its Practice 31), Leiden u.a. 2021, 212–239. 58 Paenitentiale Bobbiense 1: Si quis clericos humicidium fecerit et proximum suum occiderit, … satisfaciat parentibus eius, quem occidit. Ed. Kottje (s.o. Anm. 12), 69. 59 Paenitentiale Theodori IV 1: „a. Wenn irgendjemand aus Rache für einen Verwandten einen Menschen getötet hat, soll er wie ein homicida sieben oder zehn Jahre büßen. b. Wenn er jedoch den Verwandten Geld der Genugtuung zurückgeben will, soll die Buße leichter sein, d.h. um die Hälfte der Zeit.“ a. Si quis pro ultione propinqui homin‹e›m occiderit, penite‹a›t s‹icut› homicida VII uel X annos. b. Si tamen reddere uult propinquis pecuniam aestimationis, leuior erit penite‹ntia›, id est demedio spatio. Ed. Elliot (s.o. Anm. 11), 8. 60 Paenitentiale Bigotianum IV 2 4: „Der Preis für das Leben einer Frau, welche durch die Vernichtung von Fleisch mit Seele gestorben ist: 14 Sklavinnen“. Praetium animae mulieris morientis de perditione carnis cum anima: xiiii ancelle. Ed. Bieler (s.o. Anm. 10), 228. Die Berechnung von Kompensationszahlungen in Sklaven findet sich 57
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fränkische Bußbücher kennen für homicidium61 schließlich auch noch die satisfactio in Form anhaltender Verpflichtungen gegenüber den Geschädigten.62 In der Version im Paenitentiale Columbani lautet diese Bestimmung wie folgt: „Wer auch immer eine Menschentötung begangen hat, d.h. seinen Nächsten getötet hat, soll drei Jahre als unbewaffneter Verbannter bei Brot und Wasser büßen, und nach drei Jahren in seine Heimat zurückkehren und den Eltern/Angehörigen des Getöteten die Gegenleistung der Pflichterfüllung und des Dienstes zurückgeben und soll so nach der Genugtuung gemäß dem Urteil des Priesters dem Altar (wieder) verbunden werden.“63
3.1.3. Exil, Klosterhaft und erzwungener „Dienst für Gott“ Wie an dem letzten Beispiel zu erkennen ist, verhängten die Bußbücher für Menschentötung gelegentlich auch die temporäre oder dauerhafte Verbannung aus der Heimat zur Ableistung der Buße.64 Dieses Exil stellten sich die Bußbücher manchmal offenbar tatsächlich als eine rastlose Wanderschaft (peregrinatio) vor, während derer die Büßer vielleicht ihren Unterhalt erbetteln mussten.65 Ein Beispiel für diese Art von Exil bietet das fränkische Paenitale Sangallense simplex: „Wenn ein Bischof oder Presbyter homicidium begangen hat, soll er, nachdem sein Stand aufgehoben worden ist, 12 Jahre in peregrinatione (in der Fremde/auf Wanderschaft) büßen.“66
außerhalb des Paenitentiale Bigotianum beispielsweise auch noch in den sog. Canones Wallici und einigen poströmischen Gesetzessammlungen. 61 Alle Zeugen für diese Form der satisfactio bezeichnen die Tat ausdrücklich als homicidium und haben deshalb vermutlich eine vorsätzliche Tötung durch Laien oder Kleriker im Blick. 62 Vgl. Paenitentiale Vinniani 23; Paenitentiale Columbani B 1 und B 13; Paenitentiale Burgundense 1; Paenitentiale Parisiense simplex 3. 63 Paenitentiale Columbani B 13: Quicunque fecerit homicidium, id est, proximum suum occiderit, iii annis inermis exsul in pane et aqua paeniteat, et post iii annos reuertatur in sua reddens uicem parentibus occisi pietatis et officii et sic post satisfactionem iudicio sacerdotis iungatur altario. Ed. Bieler (s.o. Anm. 11), 102. 64 Vgl. Paenitentiale Vinniani 12, 23 und 24. 65 Vgl. Paenitentiale Bigotianum IV 3 4 und Paenitentiale Cummeani IV 6: „[Wer einen Mord aus Erwägungen des Hasses begeht] … nach dem Gelübde zur Vollkommenheit soll unter immerwährender Wanderschaft der Welt sterben.“ [Qui homicidium odii mediatione facit,] … post uota perfectionis, cum peregrinatione perenni mundo moriatur. Ed. Bieler (s.o. Anm. 10), 118.120. 66 Paenitentiale Sangallense simplex 1: Si episcopus aut presbyter homicidium fecerit, XII annos relicto gradu suo in peregrinatione peniteat. Ed. Kottje (s.o. Anm. 13), 120.
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Andere Bußvorschriften verordneten dagegen die Zwangseinweisung des Sünders in ein Kloster. So bestimmte das Paenitentiale Theodori, dass „… wer viele Übeltaten verübt hat – d.h. homicidium, Ehebruch mit einer Frau und mit Vieh, und Raub – in ein Kloster gehen und bis zum Tod büßen soll.“67
Manche Bußbestimmungen sahen aber auch einen nicht näher spezifizierten Dienst für Gott beziehungsweise die Kirche als Strafe für Menschentötung und einige andere schwere Sünden vor. Im Paenitentiale Columbani findet sich diese Sanktion für die vorsätzliche Tötung aus Hass: „Wer aus der Überlegung des Hasses ein homicidium begeht, soll, nachdem die Waffen aufgegeben wurden, tot für die Welt für Gott leben bis zum (eigenen) Tod.“68
3.2. Charakter und Praxis der Buße für Menschentötung Bereits die knappe Präsentation der verschiedenen Sanktionen für die Menschentötung mag als Hinweis dafür dienen, dass das in den Bußbüchern vorgestellte Bußverfahren neben einer spirituellen auch eine dezidiert soziale oder rechtliche Dimension hatte. Wenigstens für Sünden, die wie die Menschentötung eine massive Störung nicht nur des Gottesverhältnisses, sondern auch des gesellschaftlichen Zusammenlebens bedeuteten, konnte die Buße offenbar die Funktion eines Mediations- oder Rechtsverfahrens unter Aufsicht des lokalen Priesters oder Abtes erfüllen. Die Anwendung des Bußverfahrens anstelle eines anderen (Straf-) Verfahrens und die Durchsetzung der öffentlichen Strafen war natürlich abhängig von den lokalen Umständen, d.h. beispielsweise dem Einfluss der kirchlichen Institution in der Region und dem Zustand anderer Rechtssysteme. In kleineren Gemeinden und im direkten Einflussgebiet von Klöstern besaßen die örtlichen Priester und Äbte jedoch vermutlich nicht nur die notwendige Autorität, sondern auch die Ressourcen, um Einigungen zu erzielen, zu dokumentieren und auch zu verbürgen.69 Während die Bußstrafen für Paenitentiale Theodori VII 1: Qui multa mala fecerit – id est homicidium, adulterium cum muliere et cum pecode, et furtum – eat in monasterium et peniteat usque ad mortem. Ed. Elliot (s.o. Anm. 11), 11. 68 Paenitentiale Cummeani IV 5: Qui homicidium odii meditatione facit, relictis armis usque ad mortem mortuus mundo uiuat Deo. Ed. Bieler (s.o. Anm. 11), 118. Vgl. Paenitentiale Theodori IV 5 = Paenitentiale Bigotianum IV 1 2. 69 Vgl. z.B. Steffen Patzold/Carine van Rhijn (Hgg.), Men in the Middle: Local Priests in Early Medieval Europe (Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen 67
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die Menschentötung gute Indikatoren für die rechtliche Dimension der Buße bieten, ist die theologische Bewertung der unterschiedlichen Formen von Menschentötung nicht ohne Weiteres an der Länge der Bußzeit oder der Art der Bußstrafe abzulesen. Vielmehr ist die Strafe für die Menschentötung jeweils zunächst im Kontext des Bußbuchs zu sehen, in dem der Kanon überliefert ist. Hinzu kommt, dass die Bußbücher selbst wiederholt auf die Diskrepanz zwischen dem Urteil des Priesters innerhalb des Bußverfahrens in dieser Welt und dem Urteil Gottes im zukünftigen Gericht verweisen. Unter Berücksichtigung der starken Variationen von Länge und Art der Bußstrafen für die verschiedenen Formen von Menschentötung können dennoch einige wichtige Beobachtungen gemacht werden: In der Regel entsprechen die Bußstrafen den in den Sündenbeschreibungen vollzogenen Differenzierungen im Hinblick auf den Status von Täterinnen, Tätern und Opfern sowie den Motiven und Umständen der Tat. Folglich wird überwiegend der vorsätzliche Mord aus Hass durch und an Klerikern oder freien Männern am schärfsten sanktioniert. Am anderen Ende des Spektrums finden sich Tötungsdelikte, die aus Versehen oder im Auftrag beziehungsweise in Abhängigkeit vollzogen wurden. Dazwischen sind – je nach Bußbuch – Tötungen im Affekt oder aus Rache, unbeabsichtigte Tötungen und Infantizid anzusiedeln. Anders sieht es bei Sünden beziehungsweise Taten aus, die innerhalb der Bußbücher durch die Assoziation mit dem Terminus homicidium beziehungsweise homicida zwar eine besondere Verurteilung erfuhren, faktisch aber nicht so bestraft wurden. Dazu gehört neben der durch Hass motivierten Verführung zur Trunkenheit natürlich auch der Schwangerschaftsabbruch. 4. Zusammenfassung Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die frühmittelalterliche Buße (ebensowenig wie das moderne Strafrecht) ein einheitliches Phänomen der Menschentötung kannte. Vielmehr war die Beurteilung einer Tat als homicidium, beziehungsweise als nur schwer zu tilgende Sünde, abhängig von den konkreten Umständen der Tat. Diese zu bestimmen und zu interpretieren oblag vermutlich den Priestern, die für das Bußverfahren zuständig waren. Zur Unterstützung ihrer Entscheidungsfindung bieten Altertumskunde 93), Berlin/Boston 2016; Wilfried Hartmann, Recht und Gericht in Kirche und Welt um 900 (Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien 69), Oldenbourg/München 2007.
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die Sündenbeschreibungen der Bußbücher zahlreiche „Szenarien“, aus denen sie verschiedene Parameter zur Differenzierung ablesen konnten (s.o. 1.2). Umgekehrt konnten bestimmte Sünden durch die Bezeichnung als homicidium in christlich-theologischer Perspektive als besonders schwerwiegend gekennzeichnet werden, ohne dabei notwendigerweise mit ähnlich gravierenden Sanktionen belegt zu werden.70 Diese Diastase zwischen der theologischen Beurteilung einer Sünde und dem Umgang mit derselben in der Praxis ist gerade in Bezug auf Vergehen, die erst allmählich auch in sozialer und rechtlicher Perspektive eine Umwertung erfuhren, charakteristisch für die frühesten Bußbücher.71 Sünden wie Schwangerschaftsabbruch und Suizid sind ebenso wie zahlreiche sexuelle Vergehen ausgezeichnete Beispiele dafür. Während die Bußbücher somit durchaus Ansätze einer eigenen Bußtheologie bieten, verfuhren sie in der Praxis zugunsten ihres Hauptanliegens überwiegend pragmatisch.72 Die frühmittelalterliche Buße diente nämlich, wie man am Beispiel der Menschentötung gut sehen kann, in erster Linie der Konfliktbewältigung: Das Bußverfahren musste die Sünder im Hier und Jetzt mit der christlichen Gemeinde versöhnen und sie – sofern möglich – in diese reintegrieren. Gleichzeitig diente das Bußverfahren der Versöhnung der Sünder mit Gott, die durch die Reinigung ihrer Seelen für das kommende Gericht vorbereitet wurde. Der Ausgang dieses Konflikts blieb dem irdischen Bußverfahren aber entzogen. Die Taktik, Sünden durch ihre Parallelisierung mit oder durch die Verbindung zum homicidium als besonders verwerflich zu kennzeichnen, findet sich auch schon bei Tertullian, De pudicitia 2,12 und 5, und bei Hieronymus, ep. 22 (ad Eustochium) 13. Bei Hieronymus wird der Schwangerschaftsabbruch mit Todesfolge als Ehebruch, Verwandtenmord (parricidium) und Suizid charakterisiert. 71 Während das Motiv aus theologischer Perspektive von Anfang an wichtig war, fand die Berücksichtigung der treibenden Motivation offenbar auch mehr und mehr Ausdruck in der Bußstrafe. Die Diastase zwischen theologischer Beurteilung und (Buß-) Strafe ist in gewisser Weise auch charakteristisch für das Urchristentum und die Kirchenväter: Die scharfe theologische Verurteilung bestimmter Sünden fand zunächst noch keinen entsprechenden Widerhall in der Gesellschaft, sondern ließ sich nur im Kleinen realisieren und für die Zukunft bzw. das Jenseits erhoffen. 72 Dies gilt natürlich auch für andere Sünden. So argumentiert bspw. Christian Hornung in Bezug auf den kirchlichen Umgang mit der Apostasie, dass in der Praxis durchaus pragmatische Zugeständnisse an die gesellschaftlichen Realitäten erfolgten. Vgl. Christian Hornung, Apostasie im antiken Christentum. Studien zum Glaubensabfall in altkirchlicher Theologie, Disziplin und Pastoral 4.–7. Jahrhundert n. Chr. (SVigChr 138), Leiden u.a. 2016. 70
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren Dr. Harald Buchinger ist Professor für Liturgiewissenschaft an der Fakultät für Katholische Theologie der Universität Regensburg. Dr. Marco Frenschkowski ist Professor für Neues Testament an der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig. Dr. Peter Gemeinhardt ist Professor für Kirchengeschichte an der Theologischen Fakultät der Georg-August-Universität Göttingen. Dr. Sarah-Magdalena Kingreen ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Antikes Christentum der Humboldt-Universität zu Berlin sowie am Sonderforschungsbereich 980 „Episteme in Bewegung“. Dr. Ulrich Volp ist Professor für Kirchen- und Dogmengeschichte an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Dr. Julia Winnebeck ist Forschungsgruppenleiterin am Center for Dependency and Slavery Studies der Universität Bonn.
VERZEICHNIS DER NAMEN VOR 1500 Achilleus Tatios 30 Adam 47, 56 Ambrosius 6, 65, 79, 80, 162 Anastasius Sinaites 144, 145 Antonius 128, 132, 134, 139 Aphrodisius 133 Apollon Lairbenos 40 Apollonius 56, 118, 119 Apuleius 29, 53 Athanasius 111, 132, 134, 135, 139, 147 Athenagoras 162 Augustinus 3, 5, 6, 11, 14, 15, 28, 29, 47, 79, 89, 162 Augustus 43, 44 Basilius 93, 116, 124, 125, 152 Blandina 122 Boethius 56 Caesarius von Arles 68, 135, 136 Catull 52 Charikleia 29 Chrysipp 54, 55 Cicero 16, 56, 90 Clemens von Alexandrien 3, 6, 18, 30, 110, 161, 162 Columban der Jüngere 137, 138 Cyprian 3, 4, 5, 6, 26, 90, 114, 121, 123, 124, 136, 152, 162 Decentius von Gubbio 65 Decius 115, 120, 124 Dion Chrysostomos 53 Dionysius von Alexandrien 115, 121, 122 Eliezer, Rabbi 38 Epiktet 33, 55 Euphrasius 99 Euseb von Caesarea 115 Euthymius 133, 134, 141 Evagrius Ponticus 70, 113, 125
Fabiola 80, 89 Flavian 93, 94, 99, 100, 101, 102, 103, 105, 106, 107 Gerontius 100 Gratian 74 Gregor der Große 142 Gregor von Nazianz 93, 100, 106 Gregor von Nyssa 1, 2, 4, 11, 12, 14, 15, 21, 79, 93, 95, 96, 99, 100, 125 Hadrian 43, 44, 53 Halitgar von Cambrai 70, 72, 86, 164 Heliodor 29 Helladius 94, 99, 100, 102, 103, 104, 105, 106, 107, 108 Henoch 36 Herakles 56 Hermas 3, 4, 6, 12, 13, 29, 33, 65, 93 Hieronymus 6, 80, 84, 129, 132, 161, 174 Hilarion von Gaza 132 Hilarius von Arles 135 Hippokrates 95 Hippolyt 6, 161 Horaz 52, 53 Innozenz I 65, 82 Irenäus 4, 6, 29 Jacobus 133, 139, 141, 142 Joachim von Fiore 112 Johannes Cassian 68, 70, 73, 125, 126, 151 Johannes Chrysostomus 14, 20, 68, 112, 162 Johannes der Täufer 2, 26, 27, 28, 31, 32, 44, 45, 48, 119 Johannes Kolobos 131 Johannes von Damaskus 113 Johannes, Apostel 18
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Verzeichnis der Namen vor 1500
Jona 27 Jonas von Bobbio 138 Josephus 32, 45 Juppiter 49, 56 Justin 6, 10, 161 Justinian 50 Kleanthes 54 Kleomenes III 44 Kyrill von Skythopolis 130, 133, 141, 142 Laktanz 56, 162 Leo I. 89 Letoius 94, 95, 99 Licinius 119 Lucius 29, 30 Lygdamus 29 Macrina 125 Macrobius 49, 50 Makarios 128, 142, 143, 144 Marcus Eremita 125, 126 Maria Aegyptiaca 128, 129, 130, 135 Mark Aurel 55 Martin von Tours 137 Melampus 56 Men 40, 41 Minucius Felix 161, 162 Mohammed 58 Montanus 122 Moses 45, 127 Nero 43, 44 Nonnus 129 Origenes 3, 4, 5, 8, 12, 14, 18, 29, 30, 68, 73, 93, 112, 113, 116 Otreius 94, 99 Ovid 30 Paesia 131 Palladius 127, 142, 143 Paulus 2, 6, 27, 30, 37, 40, 47, 57, 58, 61, 65, 121 Pausanias 53 Pelagia 128, 129, 130, 135
Petronius 29 Petrus von Antiochien 140 Petrus 65, 112 Petrus Lombardus 74 Philon 31, 36, 37, 54 Pionius 120 Plinius 30, 33, 118 Plutarch 42, 50 Polemon 55 Polykarp 117, 119, 123 Pothinus 122 Properz 29 Sabas 134, 141, 142 Samuel 28 Sarapis 30 Seneca 54, 59 Serapion 132 Severus 136, 142 Sisoes 128 Sozomenos 89, 100, 127 Sulpicius Severus 137 Symeon, der neue Theologe 8, 45, 109, 110, 111, 141, 146, 148 Symeon Stylites der Ältere 140 Tacitus 52, 53 Teiresias 56 Tertullian 3, 4, 6, 12, 29, 55, 66, 90, 93, 123, 151, 152, 161, 174 Thalelaeus 132 Theodoret 99, 113, 126, 132, 139, 140, 141 Theodosius 80, 90 Thomas von Aquin 74, 75 Tibull 29 Trajan 33, 118 Vergil 44 Xenokrates 55 Xenophon 56 Zachäus 28, 61 Zenon 54 Zeus 40 Zosimas 129
VERZEICHNIS DER NAMEN NACH 1500 Abt 53 Adam, K. 11 Alkier 31 Allison 28 Alvarez Verdez 26 Ameling 39 Andresen 137 Anetsberger 4 Angenendt 2, 11, 68, 71, 152 Arndt 4 Arnold 153 Ashbrook Harvey 64, 116 Asmussen 24, 26 Assel 109 Assmann 26 Aussedat-Minvielle 81 Bailey 44 Barbiera 166 Barringer 80, 82 Bärsch 76 Baudy 49 Bauer 47, 61 Baumeister 69 Baumgart 156 Baumgartner 91 Becker 26, 27 Beentjes 36 Behm 26, 35, 36 Behrens 89, 91 Belayche 50 Belfiore 17 Benjamin 19, 20 Benrath 3, 26, 151, 152 Berger 53 Berlejung 60 Bethge 57 Bezzel 26 Bieler 154, 155, 160, 164, 167, 168, 170, 171, 172 Bienert 115
Bieritz 64 Biller 72, 153 Binchy 154 Boas 49 Böcher 32 Bockmuehl 47 Boda 34, 68 Boehmer 111 Böhme 4 Booker 90 Bosman 82 Bothe 170 Böttrich 80 Bousset 31 Bozzini 84 Bradford Bedingfield 78 Bradshaw 9, 68, 78 Braun 35, 55 Brennecke 95 Breul 4 Bricout 76 Brown 71 Brox 13, 33 Bruchhold 69, 87 Brunhorn 147 Buchheit 56 Buchinger 6, 10, 63, 66, 68 Bucur 13 Bugyis 72 Buresch 40 Burkert 49 Busatta 17 Busca 74 Bux 64, 80 Buzi 69 Cairns 17 Campbell 17 von Campenhausen 12 Camplani 69 Cancik 38
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Verzeichnis der Namen nach 1500
Casel 79 Chavasse 83, 84 Chupungco 64 Coebergh 83 Coffey 64 Cook 14 Coon 129, 130 Cornelius 60 Crowley 59 Curtius 48 Danker 47 Dassmann 30, 114, 116, 123 Day 64 de Jong 77, 81, 83, 90, 152, 153 de Voguë 7 de Vos 151 Deines 39 Deitz 54 DeMaris 64 Demel 75, 76, 89, 91 Demmer 77 Derrida 20 Deshusses 85 Despotis 20 Di Donna 70, 81 Dibelius 33 Dieter 2, 71 Dinzelbacher 159 Dochhorn 46, 47 Dodds 43 Dolbeau 79 Dölger 30 Döpp 49 Dörnemann 93, 95, 106 Dörrie 55 Dörries 126, 127, 128, 134 Doublier 71 Drecoll 2 Driscoll 70, 77 Dünzl 65 Durkheim 8 Dyer 82, 83 Eck 68 Eliade 8, 43, 48
Elliot 154, 155, 157, 158, 161, 163, 164, 170, 172 Elsakkers 159, 163 Emonds 26 Eppacher 74 Erler 15 Esders 170 Fabry 23, 34, 35 Faivre 78 Falk 34, 68 Fehérváry 69 Feldmeier 34 Felini 74 Feulner 66 Finsterwalder 154 Firey 75, 78, 82, 153 Fitschen 113 Fitzgerald 64, 79, 116 Florentino 83 Foucault 126 Francke 4 Frank, Hieroniymus 79 Frank, Ismael W. 26 Frank, Karl Suso 137, 138 Frantzen 10 Franz 68 Frazer 56 Frenschkowski 3, 6, 23, 32, 39, 40, 41, 44, 45, 48, 54, 60 Frevert 106 Fuhrer 15, 147 Gamer 164 Ganter 90 Gantke 24 Garnier 166 Gatz 44 Geffcken 47 Gemeinhardt 9, 19, 70, 109, 114, 119, 127, 132, 134, 135, 141, 147, 151, 152 von Gemünden 61 Gherga 119 Gigante 55 Ginzberg 47
Verzeichnis der Namen nach 1500
181
Ginzburg 52 Gittos 66, 78, 86 Goering 74 Goldziher 52 Görgemanns 51 Goulet-Cazé 54 Gräb-Schmidt 18 Graf 50 Graupner 34 Gressmann 31 Grom 77 Gros 126 Grotz 12 Gutberlet 133, 139, 140, 141 Guttenberger 46 Guyot 117, 118
Hesse 126 Hintze 44 Hirsch 34 Hirsch-Luipold 34 Hofheinz 18 Hofmann 159, 163, 166 Hök 15 Holl 8, 9, 12, 45, 109, 110, 111, 113, 114, 116, 135, 138, 139, 144, 145, 148 Hölscher 41 Hommel 42 Horn, Friedrich W. 13, 16 Horn, Chr. 15 Hornung 117, 174 Hunter 64, 116
Häberl 32 Hager 54 Hahn-Bruckart 4 Hainthaler 30 Hamilton 9, 66, 77, 78, 81, 86, 90, 152, 153 Hamilton Turner 162 von Harnack 3, 111 von Harnier 157 Harris 29 Harrison 43 Hartel 30, 123 Hartmann 172 Hauschild 2 Häußling 82 Haynes 82 Heaton 13 Heil, G. 145 Heil, U. 95 Heither 47 Held 18 Hellholm 33 Hemminger 126 Hengel 38, 46 Hernández 26 Herzer 39 Herzfeld 17 Hesbert 79, 84 Hess 10
Jacobs 26 Jacobsen 151 Jaser 66 Jaspert 111 Jeffery 79 Jeremias 42, 46, 47 Johns 56 Johnson 67 Johrendt 71 Joisten 18 Joly 26 Jonker 60 Jung 135, 136 Junglas 5 Jungmann 11, 72, 76, 86, 152 Kaczynski 64, 67 Kaiser 57 Karl, K. 89 Karpp 5, 6, 12, 26, 29, 114, 123 Kaufmann 58 Kehl 51 Kerff 153 Kéry 156 Kingreen 4, 12, 93 Kinzig 21 Kirschläger 77 Kivengere 60 Klauck 38, 40, 41, 42, 43
182
Verzeichnis der Namen nach 1500
Klein, R. 23, 117, 118 Klein, W. 109 Klöckener 82 Klooster 51 Klostermann 8 Knust 28 Koch 29, 34, 54, 77 Koder 109 Köppen 46 Körntgen 13, 70, 78, 152, 154, 168 Köstlin 3 Kottje 11, 70, 71, 78, 86, 152, 154, 161, 170, 171 Koziol 90 Kraienhorst 80 Kranemann 82 Krausmüller 69 Laeuchli 9 Lambert 23 Larson-Miller 70 Lau 41 Laudage 71 Leemans 147 Lendi 73 Leppin, H. 80 Leuenberger-Wenger 96 Ley 151 Lichtenberger 38 Lietzmann 111 Lindstedt 39 Lins 64 Litwa 33 Liver 87 Liverani 82 Löhr 151 Lønning 26 López Monteagudo 44 Louth 109 Lovejoy 49 Lovin 54 Lurz 82, 91 Luther, M. 10, 34 Luther, S. 41 Lutterbach 43, 70, 78, 86 MacMullen 79 Maier 13
Malina 17 Mann, F. 96, 104 Mansfield 80, 90 Maraval 94, 95, 99, 100, 101, 102, 103, 104, 105, 106, 107, 125 Maritano 64, 76 Markschies 40 Marlow 119 Marrou 51 Martelli 83 Martínez Díez 162 Mathwig 18 Mayer 32 Mayhew 45 Mazza 64 McGrath 32 McLaughlin 78 McNeill 164 Meens 70, 77, 78, 81, 89, 90, 152, 153, 160, 166, 170 Meigne 9 Meiser 61 Mensah 71 Merkelbach 29, 30 Merklein 26 Mertes 89 Meßner 3, 6, 10, 64, 65, 66, 67, 68, 69, 70, 71, 72, 73, 74, 76, 78, 79, 80, 81, 82, 83, 84, 85, 86, 88, 89 Meyer-Blanck 64 Mezger 26 Miller 130 Milton 48 Minnis 72 Miragoli 90 Mirelman 29 Misiarczyk 70 Mistry 159, 160, 161 Mohlberg 66, 83, 84, 85 Mühlenberg 1, 12, 14, 15, 16, 21, 79, 93, 95, 96, 97, 98, 99, 105, 109, 110, 111, 135 Müller, B. 126 Müller, J. 77 Müller, K. 68 Munkholt Christensen 147 Murray 153, 159, 163, 164, 165
Verzeichnis der Namen nach 1500
Musurillo 115, 117, 118, 119, 122, 123 Nagel 30 Nau 131 Nelson 77, 153 Nesselrath 34 Neumann 80, 81 Newhauser 70 Niebuhr 39 Nietzsche 59 Nijdam 170 Nikki 39 Nilsson 49 Norderval 33 Oberforcher 64 Obst 26 Odenthal 68 Ohst 71, 73 Osiek 13 Otto 8 Palikša 86 Parkes 86 Parrinello 70, 80 Patzold 90, 172 Paxton 67 Pelling 43 Pesch 47 Petitmengin 128, 129 Pettazzoni 26 Petzl 38, 39 Pfister 112 Pfleger 75, 76, 89, 91 Pitt-Rivers 17 Pohlenz 49 Pollmann 119 Popelyastyy 81 Poschmann 5, 11, 12, 26, 152 Prétot 76 Prinz 160 Prüller-Jagenteufel 77 Rahner 4 Ramelli 44 Rapp 90, 156 Rebillard 67, 166
Reemts 47 Reichert 9 Reiser 27 Reitzner 129 Rennings 74 Rettberg 109 Reus 91 Reynolds 54, 66 Ribbeck 40 Richter 76 Ricœur 20 Riß 74 Roeder 30 Roitto 64, 89 Romano 82 Rordorf 9 Rösel 14 Roskam 147 Roth 18 Rouillard 64 Rudolph 24, 33 Rüpke 13 Rusconi 78 Ruyssen 81 Saint-Roch 79 Santantoni 64 Saraco 78 Sattler 4, 71 Scappaticci 79 Schäfer 38 Scheer 114 Schelbert 46 Schenk 109, 125 Schenke 57 Schenkel 44 Schermaier 59 Scheule 91 Schieffer 90 Schlechta 59 Schlemmer 80 Schließer 77 Schmelz 79 Schmidt, Chr. D. 80 Schmidt, J. 21 Schmidt, L. 26 Schmidt, P. L. 124 Schmidt-Lauber 64
183
184
Verzeichnis der Namen nach 1500
Schmitz 86 Schnocks 166 Schrader 16 Schulz 64 Schwabl 44 Schweitzer 127, 128, 131 Schwemer 46 Seeliger 117, 119, 120, 121, 122 Seider 113 Seif 26 Shaffern 71 Sievernich 26 Silvas 95, 99 Simbeck 160 Sims-Williams 24 Sodi 75, 78 Sorci 76 Staats 99, 113 Stählin 19 Stausberg 25 Steele Edwards 66 Stern 33 Stevenson 67 Stewart 70 Stökl 39 Stray 43 Strecker 61, 112 Strohm 4 Stroumsa 26, 47 Stuflesser 76 Suchla 12, 79, 93 Szymański 77 Teske 99 Teuws 77 Theißen 61 Theuws 153 Thieme 112 Thönissen 71 Thraede 51 Tilly 32 Tobias 80 Torrance 69 Treffort 67 Triacca 75 Trillhaas 112 Tuilier 9
Tuori 38 Tymister 69 Ulrich 95 Umbach 65 Unterburger 75 Urban 77 Uro 64 Van Deun 147 Van Noorden 119 van Rhijn 172 Vegge 33 Verheyden 147 Vikman 39 Vogel 10, 78, 82, 84, 86, 87, 152 Voigt, K. 44 Voigt, R. 32 Volgger 77 Volp 9, 13, 14, 16, 18, 19, 20, 21, 161 Vorgrimler 110 Wacke 59 Wagner 26, 82 Waldstein 58, 59 Walker 162 Walsh 128 Ward 129 Wasserman 28 Weber, H. 89 Weber, M. 114 Weder 27 Weinfeld 34 Weingarten 111 Welten 26, 147 Werline 34, 68 Wessels 51 Widengren 25, 26 Wilhelm-Hooijberg 17 Williams 17 Winckelmann 114 Windisch 5 Winnebeck 13, 151, 159, 160, 168 Wischmeyer 117, 119, 120, 121, 122 Wisse 58
Wißmann 26 Wissowa 50 Würthwein 26, 44 Wüstenberg 77 Yao 68 Zanker 44
Verzeichnis der Namen nach 1500
Zeindler 18 Zelzer 65, 80, 84, 167 Zerfaß 68 Ziegler 124 Zimmerling 28, 80 Zimmermann, Chr. 46 Zimmermann, R. 13, 16, 18 Zinniel 26
185
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