Übung und Affekt: Formen des Körpergedächtnisses 9783110922714, 9783110193220

This volume is the first to model ‘corporeal memory’ as a concept in cultural studies. The contributors work from differ

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German Pages 306 [308] Year 2007

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Übung und Affekt: Formen des Körpergedächtnisses
 9783110922714, 9783110193220

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Übung und Affekt



Media and Cultural Memory/ Medien und kulturelle Erinnerung Edited by / Herausgegeben von Astrid Erll · Ansgar Nünning

Editorial Board / Wissenschaftlicher Beirat Aleida Assmann · Mieke Bal · Marshall Brown · Vita Fortunati Udo Hebel · Claus Leggewie · Gunilla Lindberg-Wada Jürgen Reulecke · Jean Marie Schaeffer · Jürgen Schlaeger Siegfried J. Schmidt · Werner Sollors · Frederic Tygstrup Harald Welzer

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Walter de Gruyter · Berlin · New York

Übung und Affekt Formen des Körpergedächtnisses Herausgegeben von Bettina Bannasch · Günter Butzer

Walter de Gruyter · Berlin · New York

앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier, 앪 das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

ISBN 978-3-11-019322-0 ISSN 1613-8961 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 Copyright 2007 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Satz: Arnd Beise, Marburg Einbandgestaltung: Christopher Schneider, Berlin

Inhalt Bettina Bannasch / Günter Butzer Einleitung ............................................................................................................... 1 Arnd Beise ‚Körpergedächtnis‘ als kulturwissenschaftliches Konzept ............................. 9

PHYSIOLOGIE Stefanie Arend Das gefräßige Gedächtnis: Genese und Entwicklung eines Bildes in Antike und frühem Christentum...................................................... 29 Günter Butzer Physiologie der Imitation. Zur Vorgeschichte der Genieästhetik ............... 43 Thomas Klinkert Schmerzgedächtnis in Dantes Commedia.......................................................... 71 Manuela Günter Raabes Stopfkuchen: Zum Verhältnis von Körpergedächtnis und Medien in der frühen Moderne................................................................. 99

DISZIPLIN Stephanie Wodianka Körper und Affekt in der ‚anatomischen Meditation‘ ................................123 Christian Wehr Von den Geistlichen Übungen zur barocken Affektrhetorik. Spiritualität und Körpergedächtnis bei Ignatius von Loyola und Francisco de Quevedo..............................................................................141

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Inhalt

Bettina Bannasch Von der gebildeten Selbsterziehung zur pädagogischen Menschenformung. Verschiebung von Körpergedächtniskonzeptionen um 1700.....................................................................................167 Franziska Uhlig Das Gedächtnis der Hand ...............................................................................185

PATHOSFORMELN Christiane Holm Andenken und Fetisch in Goethes Wilhelm Meisters Wanderjahre. Zur erzählerischen Reflexion von affektiven Erinnerungspraktiken .......................................................................................205 Barbara Thums „Die Spuren trüber, leidenschaftlicher Notwendigkeit“. Goethes Wahlverwandtschaften als Gedächtnis des Körpergedächtnisses.........................................................................................227 Steffen Schneider Das unheimliche Kind – Die Subversivität des Körpergedächtnisses in Gottfried Kellers Novelle Das Meretlein ...........................251 Cornelia Zumbusch ‚Gesteigerte Gesten‘. Pathos und Pathologie des Gedächtnisses bei Warburg und Freud .........................................................269 Zu den Autorinnen und Autoren ...................................................................291 Personenregister ................................................................................................297

Bettina Bannasch / Günter Butzer

Einleitung It’s a question of temperature. The Lords of the New Church

Im Laufe der 1970er Jahre entwickelt sich in den Kulturwissenschaften ein neuer Diskurs über den menschlichen Körper, dessen Hauptcharakteristikum eine dezidiert zivilisationskritische Orientierung bildet. Im Anschluss an die Arbeiten von Norbert Elias zum affektreduzierenden und -internalisierenden Prozess der abendländischen Zivilisation, an die Theorie der Unterwerfung subjektiv-leiblicher Natur unter die instrumentelle Vernunft in Horkheimers und Adornos Dialektik der Aufklärung und schließlich an Michel Foucaults Studien zur machtgesteuerten Praxis der Produktion moderner Subjektivität entsteht die ‚Historische Anthropologie‘ als neue interdisziplinäre Forschungsrichtung. 1976 erscheint der Sammelband Zur Geschichte des Körpers, der in Aufsätzen und Rezensionen eine Bestandsaufnahme der Forschung zu geben versucht. In der Einleitung diagnostiziert Dietmar Kamper einen zum Schweigen gebrachten Körper in der Gegenwart und fährt fort: „Die Rekonstruktion der Geschichte des Körpers ist damit notwendig eine Kritik an der Macht, die ihn stumm werden ließ“ (Rittner 1976, S. 7). In dieser Perspektive erscheinen die letzten 500 Jahre, also der gesamte Verlauf der Neuzeit, als ungeheure „Schlacht“ zwischen den Antagonisten Körper und Geist, aus der beide nicht unbeschadet hervorgegangen sind und deren Erforschung als archäologische Spurensuche vorgestellt wird. In Abgrenzung zur Kritik der politischen Ökonomie, die in der Neuen Linken der 1960er Jahre noch die öffentliche Diskussion dominierte, steht nun die systemübergreifende Kritik des modernen Zivilisationsprozesses im Zentrum des Interesses: „Es geht um die Geschichte der Zivilisation, die in der ersten Lesart als planvolle Aneignung der Natur, als (geistige) Verallgemeinerung des (körperlich) Besonderen, in der zweiten Lesart als unaufhaltsame Abstraktion, als Formalisierung jeglichen Inhalts auftaucht. […] Dieser Prozeß hat, da er per se eine Formalisierung bedeutet und gegen alle Inhalte (Gegenstände, Dinge, Körper) gleichgültig bleibt, bisher vor keiner Gesellschaftsformation haltgemacht. Deshalb hat es wenig Sinn, ihn als ‚bürgerlich‘ zu etikettieren“ (ebd., S. 9). Mit der Erforschung des Prozesses, der zum Verschwinden des Körpers geführt hat, ist ein Programm formuliert, das die kulturelle Debatte der 1970er und

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1980er Jahre bestimmen wird. Der historischen Dimension dieses Ansatzes widerstrebt von Anfang an die Vorstellung einer ‚restitutio in integrum‘, die eine Rückkehr zu prämodernen gesellschaftlichen Zuständen implizieren würde. Dennoch geht die geschichtliche Erforschung eines Verlustes schon bald über in die Proklamation einer ‚Wiederkehr des Körpers‘ (so der Titel eines 1982 von Dietmar Kamper und Christoph Wulf herausgegebenen Sammelbandes), deren Bedeutung, wie unterschiedlich auch immer sie im Einzelnen bewertet wird, als das Zeichen einer kulturellen Krise erscheint, als Omen, das entweder auf die Überwindung der zivilisatorischen Spaltung oder auf das endgültige Verschwinden des Körpers hindeutet. Wenn es richtig ist, dass der Körper seit Beginn der Neuzeit Jahrhunderte lang das Objekt sozialer Disziplinierung gewesen ist, so wird die Wiederkehr des Körpers zu einem Prozess kultureller Erinnerung. Die Erforschung der Geschichte des Körpers verspricht dann Aufschlüsse über das ‚Andere der Vernunft‘ (vgl. die gleichnamige Studie von Böhme/Böhme 1983) als der Kehrseite des Zivilisationsprozesses und damit die Offenlegung eines kulturell Unbewussten, das im Medium des Körpers gespeichert und/oder artikuliert wird. Zu Tage tritt demnach nicht die verlorene Ganzheit des Menschen, sondern die Erinnerung seiner Deformation: Wenn der zum Schweigen gebrachte Körper wieder anhebt zu sprechen, so spricht er mit entstellter Stimme. Dieses Forschungsparadigma des Körpergedächtnisses als Medium einer „entstellten Darstellung“ (Weigel 1994, S. 48) des Unbewussten, das noch die einschlägigen kulturwissenschaftlichen Arbeiten der 1990er Jahre dominiert,1 sieht sich seit geraumer Zeit mit dem Vorwurf einer ‚naturalistic fallacy‘ konfrontiert. Mit einigem Recht wird gefragt, inwiefern solche Konstruktionen bei aller Historisierung nicht letztlich von einem essentialistischen Konzept des integralen Körpers ausgehen (müssen), das die Voraussetzung dafür abgibt, dass im Medium des Körpers die Erinnerung an die Verluste des Zivilisationsprozesses zur Sprache zu kommen vermag (vgl. Stiening 2001, S. 194f.). Woher, so kann weiter gefragt werden, weiß man eigentlich von diesem unterschwellig Widerständigen, das grundsätzlich nicht greifbar und gleichwohl in einem eminenten Sinn wirksam sein soll?2 _____________ 1 2

Vgl. neben Weigel 1994 z.B. den Sammelband von Öhlschläger/Wiens 1997 sowie die Monografien von Luserke 1995, Koschorke 1999 und Matala di Mazza 1999. In neueren Arbeiten ist dieses Paradigma weitgehend aufgegeben, wie der von Claudia Benthien und Christoph Wulf herausgegebene Band Körperteile (2001) zeigt, der – bei aller Differenz in Einzelnen – in seiner Konzeption jene Verdinglichung des Körpers zu einem Setzkasten einzelner Bauteile affirmiert, die von den Protagonisten der historischen Anthropologie wie dem Sozialphilosophen Rudolf zur Lippe (1974) so vehement angegriffen wurde.

Einleitung

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Der vorliegende Band geht diesen Fragen nach. Er untersucht Konzeptionen des Körpergedächtnisses von der Antike bis zur Gegenwart. Dabei zeigt sich, dass es eine Einheit von Körper und Seele bzw. von Körper und Geist, zumindest in der abendländischen Kultur, nie als reale, sondern immer nur als imaginäre gegeben hat. Das Besondere der antiken und noch der mittelalterlichen Auffassungen eines Zusammenhangs von Körper und Gedächtnis liegt demnach nicht in der Annahme einer unproblematischen Identifikation von Physiologie und Psychologie, sondern vielmehr in einer engen Wechselwirkung von körperlichen und seelischen Vorgängen, die von Medizin wie Philosophie gleichermaßen unterstellt wird, auch wenn sie sich in der Zuteilung der Priorität der jeweiligen Seite – für die Medizin ist es der Körper, für die Philosophie (und später die christliche Theologie) die Seele – durchaus unterscheiden mögen.3 Die vor allem für das Mittelalter dokumentierte Tradition der Gedächtnismedizin legt davon beredtes Zeugnis ab. Daraus resultiert, für die Thematik des vorliegenden Bandes von zentraler Bedeutung, ein vielfach belegter Prozess disziplinärer Interdiskursivität, d.h. der wechselseitigen Übertragung von Modellen. Das Modell der Vier-Elemente-Lehre stellt hier als Grundlage der Humoralpathologie und der Temperamentenlehre ebenso wie der platonischen oder aristotelischen Ethik das prominenteste Beispiel dar. Dieser Austausch von medizinischen und philosophischen TheorieElementen ermöglicht es, die Korrelation von physiologischen und psychologischen Vorgängen immer wieder neu zu verhandeln und damit das Schisma von Körper und Seele fruchtbar zu machen, anstatt es lediglich zu zementieren. Seit dem 17. Jahrhundert wird die alternative Lokalisierung des Gedächtnisses im Körper oder in der Seele als Problem empfunden. Es zeichnet sich eine Bifurkation ab, die ein körperlich-mechanisches Gedächtnis entstehen lässt, das durch Übung und Dressur eingerichtet und manipuliert werden kann und optimalerweise ‚unbewusst‘, d.h. ohne Dazwischentreten des Bewusstseins, arbeitet. Die Orte, an denen dieses Gedächtnis ausgebildet wird, sind z.B. das Militär, die Schule oder das Ballett – also diejenigen Institutionen, in denen „gelehrige Körper“ (Foucault 1975) hergestellt werden. Demgegenüber steht ein rein mentales Gedächtnis, das sich vollständig vom Körper emanzipiert, nach autonomen Regeln funktioniert und im Verlauf des 18. Jahrhunderts zunehmend mit der (reproduktiven und produktiven) Einbildungskraft verschmilzt. _____________ 3

Für die hippokratische Schule gilt der Grundsatz, dass auch vermeintlich seelische Krankheiten wie etwa die ‚heilige Krankheit‘ der Epilepsie eine physiologische Basis haben und deshalb medikamentös zu therapieren sind (vgl. die Schrift 1ER¹ TW ¼ERW NOÃSOU); für die sokratische Schule gilt umgekehrt, dass eine Heilung des Körpers ohne diejenige der Seele unmöglich ist (vgl. Platon Charmides, 157a).

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Vor diesem Hintergrund erweist sich als typisch neuzeitlich nicht die Trennung von Körper und Seele bzw. Geist, sondern deren Analyse und Manipulation gemäß strikt voneinander geschiedenen wissenschaftlichen Modellen. Um 1900 lässt sich beobachten, wie diese beiden auseinander tretenden Gedächtniskonzeptionen, die im 19. Jahrhundert zunehmend auch disziplinär ausdifferenziert werden, im Rahmen ‚psychosomatischer‘ Gedächtnistheorien wieder zusammengeführt werden. Unternimmt Bergson mit seiner Unterscheidung eines mechanisch-unbewussten ‚Gewohnheitsgedächtnisses‘ und eines spontan-bewussten ‚Bildgedächtnisses‘ noch einmal den Versuch der Rettung eines rein mentalen Gedächtnisses vor dem Zugriff der empirischen Wissenschaften, so erhebt insbesondere die Psychoanalyse den Anspruch, körperliche, vor allem affektive Verhaltensweisen als ein Gedächtnis des Unbewussten zu verstehen, das eine weitgehende Selbständigkeit gegenüber dem willkürlich-vorbewussten Gedächtnis beanspruchen kann. Ins Kulturelle ausgeweitet wird dieser Ansatz in der Körpergedächtnis-Auffassung des Warburg-Kreises, der einen Zusammenhang zwischen der sozialen Energie einer Kultur und deren Ausdruck in einer körperlichen Ikonographie der Affekte unterstellt. Dieses Modell des Körpergedächtnisses wird die Moderne weitgehend bestimmen. Das ins Unbewusste verschobene Gedächtnis des Körpers artikuliert sich nicht mehr unmittelbar, sondern vermittelt über das Pathos der Seele, welches sich wiederum in den ‚Pathosformeln‘ des Körpers sedimentieren kann. In diesem tritt also das Gedächtnis des Körpers niemals direkt, sondern stets vermittelt über die seelische Energie bzw. die rhetorische ‚NjRGEIA in Erscheinung. Das gilt prinzipiell für alle Leidenschaften, im Besonderen aber für die negativen bzw. traumatischen Affekte. Insofern gehören also Übung und Affekt, die beiden Leitbegriffe des vorliegenden Bandes, eng zusammen. Im selben historischen Prozess nämlich, in dem sich die als körperlich-seelische Einheit verstandene Übung zur rein körperlich-mechanischen Disziplinierung verengt, erscheinen die Leidenschaften als Symptom jener verlorenen Einheit, die gleichwohl von Anfang an eine bloß imaginäre war. Damit ist zugleich auch das Feld abgesteckt, in dem sich die Beiträge des vorliegenden Bandes situieren lassen. In seinem einleitenden Aufsatz stellt Arnd Beise die unterschiedlichen Verwendungsweisen des Begriffs ‚Körpergedächtnis‘ in den gegenwärtigen Kulturwissenschaften vor und unterzieht sie einer kritischen Diskussion. Sein Ergebnis lautet, dass man von einem Gedächtnis des Körpers im eigentlichen Sinn nur im Kontext der religiösen wie profanen Exerzitien sprechen kann, während das affektive Gedächtnis, wie es in prononcierter Weise in den modernen Traumakon-

Einleitung

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zeptionen zum Ausdruck gelangt, den Körper als ein Medium des psychisch Unbewussten und damit als Resultat einer „Konversion“ psychischer in körperliche Energie im Sinne Breuers und Freuds versteht. Die vier folgenden, unter der Rubrik ‚Physiologie‘ zusammengefassten Beiträge behandeln den Ursprung und die Geschichte jenes physiologischen Körpergedächtnismodells, das typisch für die Vormoderne geworden ist und in modifizierter Form noch in der Moderne fortlebt. Stefanie Arend zeigt in ihrer Studie über das ‚gefräßige Gedächtnis‘ die Entstehung der Vorstellung vom Gedächtnis als Magen an der diskursiven Schnittstelle von Rhetorik, Philosophie und Medizin auf und arbeitet ihre Differenz und zugleich ihre Affinität zur rhetorischen Mnemotechnik anhand von Texten Quintilians und Augustins heraus. Der Beitrag Günter Butzers verfolgt die Geschichte dieses Modells weiter ins Mittelalter und in die frühe Neuzeit hinein, indem er seine prominente Rolle für die poetologische Imitatio-Doktrin herausstellt und für eine Vorgeschichte der Genielehre fruchtbar macht. Eine andere Linie physiologischer Memoria an der Grenze von Mittelalter und Neuzeit bezeichnet Thomas Klinkert in seinem Aufsatz über Dantes Commedia, wenn er die individualisierenden Effekte einer Verkörperlichung der Erinnerung im Schmerz darlegt. Manuela Günter zeigt in ihrem Beitrag über Raabes Stopfkuchen, welchen Veränderungen dieses Modell physiologischer Memoria unter den Bedingungen der modernen Massenkommunikation unterliegt. Die zweite Rubrik ‚Disziplin‘ präsentiert jenes für die (frühe) Neuzeit charakteristische Modell des Körpergedächtnisses, das auf der Sezierung und Automatisierung der körperlichen Memoria im Zusammenhang mit religiösen und weltlichen Techniken der Selbst- und Fremddisziplinierung beruht. In ihrer Studie zum anatomischen Körper als Gegenstand und strukturierendem Schema der meditativen Erinnerung führt Stephanie Wodianka die zentrale Bedeutung der Anatomie für die religiöse Erinnerungspraxis des 16. und 17. Jahrhunderts vor und macht auf die damit zusammen hängende interdiskursive Verschränkung von Religion und Medizin in diesem Zeitraum aufmerksam. Christian Wehr behandelt mit den ignatianischen Exerzitien den nicht nur für das religiöse Körpergedächtnis der frühen Neuzeit wichtigsten Text und belegt dessen enormes rhetorisches und poetisches Potential am Beispiel des spanischen Barockdichters Góngora. Das Weiterleben des disziplinierten Körpergedächtnisses jenseits der diskursgeschichtlichen Aufmerksamkeiten thematisiert Bettina Bannasch in ihrer Untersuchung über die Transformation der den Körper formenden Kraft emblematischer Bildlichkeit hin zur pädagogischen Formierung im Kinderbilderbuch. Franziska Uhlig analysiert die für die bildende Kunst fundamentale Beziehung von Spontaneität und Übung am Beispiel des Gedächtnisses der Hand.

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Die dritte Rubrik ‚Pathosformeln‘ versammelt Beiträge, die sich mit der Rolle der Affekte für das moderne Körpergedächtnis beschäftigen. Christiane Holm legt in ihrem Aufsatz zum dinglichen Andenken in Goethes Wanderjahren die Bedeutung der affektiven Dingbeziehung für die Gedächtniskonzeption des Romans offen. Anhand eines weiteren Romans Goethes, der Wahlverwandtschaften, zeigt Barbara Thums, wie sich das Leiden an der körperlichen und seelischen Disziplinierung in affektiven körperlichen Gesten Ausdruck verschafft und dadurch die Erinnerung an die Verluste der Zivilisierung bewahrt. Steffen Schneider analysiert für die Meret-Episode in Gottfried Kellers Grünem Heinrich den Körper des Kindes als Medium eines paganen, die christliche Disziplin subvertierenden Gedächtnisses. In ihrer Darstellung des Pathos-Begriffs bei Sigmund Freud und Aby Warburg geht Cornelia Zumbusch den theoretischen Konsequenzen nach, die sich aus der Funktion der Affekte als Repräsentanten des Körpers ergeben und die schließlich in Warburgs Konzept der ‚Pathosformel‘ kulminieren. Die im vorliegenden Band versammelten Beiträge sind zum größeren Teil aus einer Tagung hervorgegangen, die im Oktober 2003 im Rahmen des Gießener Sonderforschungsbereichs 434 Erinnerungskulturen veranstaltet wurde. Alle Texte wurden für die Publikation überarbeitet, einige Beiträge sind neu hinzugekommen. Wir danken dem damaligen Sprecher des SFB Erinnerungskulturen, Günter Oesterle, für die ebenso großzügige wie engagierte Unterstützung des Projekts. Unser Dank gilt auch der Dr. Alfred Vinzl-Stiftung an der Universität Erlangen-Nürnberg für die finanzielle Unterstützung der Drucklegung. Arnd Beise danken wir für die Einrichtung des Satzes, Christina Isensee für die Erstellung des Registers. Schließlich danken wir Astrid Erll und Ansgar Nünning für die Aufnahme des Bandes in die Reihe Media & Cultural Memory.

Einleitung

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Literatur Benthien, Claudia/Wulf, Christoph (Hrsg.): Körperteile: Eine kulturelle Anatomie. Reinbek: Rowohlt 2001. Böhme, Gernot/Böhme, Hartmut: Das Andere der Vernunft. Zur Entwicklung von Rationalitätsstrukturen am Beispiel Kants. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1983. Foucault, Michel: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Übers. v. Seitter, Walter. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1975. Kamper, Dietmar/Wulf, Christoph (Hrsg.): Die Wiederkehr des Körpers. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1982. Koschorke, Albrecht: Körperströme – Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts. München: Wilhelm Fink 1999. Luserke, Matthias: Die Bändigung der wilden Seele. Literatur und Leidenschaft in der Aufklärung. Stuttgart: Metzler 1995. Matala de Mazza, Ethel: Der verfaßte Körper. Zum Projekt einer organischen Gemeinschaft in der Politischen Romantik. Freiburg/Brsg.: Rombach 1999. Öhlschläger, Claudia/Wiens, Birgit (Hrsg.): Körper – Gedächtnis – Schrift. Der Körper als Medium kultureller Erinnerung. Berlin: Erich Schmidt 1997. Rittner, Volker u.a.: Zur Geschichte des Körpers. München/Wien: Hanser 1976. Stiening, Gideon: „Body lotion. Körpergeschichte und Literaturwissenschaft.“ In: Scientia Poetica. Jahrbuch für Geschichte der Literatur und der Wissenschaften 5 (2001), S. 183–215. Weigel, Sigrid: Bilder des kulturellen Gedächtnisses. Beiträge zur Gegenwartsliteratur. Dülmen-Hiddingsel: tende 1994.

Arnd Beise

‚Körpergedächtnis‘ als kulturwissenschaftliche Kategorie This essay discusses different uses of the term ,Körpergedächtnis‘ (body memory) within cultural studies. Usually ,Körpergedächtnis‘ serves as a complementary term to ,mental memory‘ and stands for the ensemble of memories that are not available through an effort of the will or the conscious. In spite of various attempts to provide specific material objects (such as souvenirs) with memory functions, the metaphorical usage of the term predominates. An exception is drill (military or athletic training), in which corporal exercises are meant to produce automatic sequences of movement that can be recalled unconsciously. The most successful concept of ,Körpergedächtnis‘ within cultural studies is the one that incarnates the metaphor to denote the bodily inscription of mental traumas. Since the enlightenment of the soul, it is the body, with its dumb eloquence, that has to authenticate or certify unspeakable memories. Only very seldom, and then not in theory but in belles lettres, is the metaphor of ,Körpergedächtnis‘ used in encoding experiences of happiness.

1. Im Vorwort zu ihren 1994 erschienenen Untersuchungen der Bilder des kulturellen Gedächtnisses in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur sprach Sigrid Weigel davon, dass die Bedeutung des „Körpers als und für das Gedächtnis“ anders als in der schönen Literatur selbst in der Theorie noch vergleichsweise „wenig Beachtung“ gefunden hätte (Weigel 1994, S. 11). Dies hat sich in den letzten zehn Jahren geändert. Zwar ist das ,Körpergedächtnis‘ nicht zu dem zentralen Theorem der Gedächtnistheorie geworden, doch wird der Terminus inzwischen häufig benutzt. In dem 2001 publizierten Lexikon Gedächtnis und Erinnerung gibt es zwar nicht das Lemma ,Körpergedächtnis‘, wohl aber das Lemma ‚Körper‘. Rüdiger Campe (2001, S. 320f.) unterscheidet in dem Artikel den „memorialen Körper, in den sich Markierungen einschreiben“ von dem „monumentalen Körper“, der ein „Schema für die Organisation kultureller Orientierung und Erinnerung“ sei. Wenn von dem Staat als Körper die Rede ist, oder wenn das Staatswesen als (künstlicher) Körper dargestellt wird – siehe zum Beispiel Abraham Bosses berühmtes Frontispiz zu Thomas Hobbes’ Leviathan (vgl. Bredekamp 1999) –, so handelt es sich

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offensichtlich um eine metaphorische Verwendung der Vorstellung vom Körper; das gilt auch für die damit symbolisierten Institutionen einschließlich ihrer (Erinnerungs-) Leistungen. Nicht ganz so offensichtlich, aber auch metaphorisch ist die Rede vom ,Körpergedächtnis‘ im Zusammenhang mit dem „memorialen Körper“, wie Campe in seinem Artikel deutlich macht, wenn er von der „Einschreibungsmetaphorik“ spricht, die in der neueren Kulturtheorie große Bedeutung erlangt hat. Sie erhielt wesentliche Anregungen von Friedrich Nietzsches Idee einer „Einschreibung kultureller Verfahrensweisen in den Körper“, die prägende Bedeutung für menschliche Verhaltensweisen und die Ausbildung von Wertmaßstäben habe. Ergänzt wurde Nietzsches Theorie durch Sigmund Freuds Annahme körperlicher Gedächtnisspuren. Besonders Michel Foucault hat die Einschreibungen kultureller Praktiken und Erfahrungen in Körper untersucht, und zwar als Verinnerlichung einer symbolischen Ordnung. Wie genau aber das ,Körpergedächtnis‘ sich jenseits der Einschreibungsmetaphorik manifestiert, ist durchaus umstritten. Das mag mit dem generellen Problem zusammenhängen, dass wir über das Gedächtnis nicht all zu viel Verlässliches zu sagen wissen. Paul Valéry (1973, S. 1209–1259), der sich Anfang des 20. Jahrhunderts ausführlich mit dem Gedächtnis befasste, kam letztlich zu der resignierten Feststellung: „Nichts wissen wir über das Gedächtnis, nichts, nichts.“ (Valéry 1989, S. 442; ders. 1973, S. 1235: „Nous ne savons rien de la mémoire, rien, rien.“) Ich habe den Eindruck, dass sich daran trotz des Aufschwungs vor allem auch der neurophysiologischen Gedächtnisforschung in den letzten Jahrzehnten noch nichts Grundsätzliches geändert hat. Daher sind wir gezwungen, über die Erinnerung und das Gedächtnis im Wesentlichen metaphorisch zu sprechen, ja vermutlich stimmt Harald Weinrichs (1976, S. 294) Behauptung immer noch, dass wir „einen Gegenstand wie die Memoria“ „ohne Metaphern“ nicht einmal „denken“ können.

2. Der Begriff ,Körpergedächtnis‘ taucht in den unterschiedlichsten Zusammenhängen auf. Neben kulturwissenschaftlichen Verwendungen stehen auch naturwissenschaftliche, entweder empirisch gestützt wie in der biologischen Frage nach den Genen als Speichermedium phylo- oder gar ontogenetischer Informationen (vgl. Bauer 2002/04), oder auch hoch spekulativ wie in der Theorie von sich zuweilen körperlich manifestierenden morphogenetischen Gedächtnisfeldern in der Natur (vgl. Sheldrake 1990). Hier soll es aber ausschließlich um kulturwissenschaftliche Konzepte des „Körpergedächtnisses“ gehen.

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Zum Beispiel kann man in kommunikationstheoretischer bzw. medienwissenschaftlicher Hinsicht Informationen, die schriftlich einem toten Ding (Brief) anvertraut werden, unterscheiden von solchen, die mündlich einem lebendigen Körper (Boten) anvertraut und von diesem nach Ankunft beim Empfänger erinnert und reproduziert werden müssen. Somit lässt sich das „Schriftgedächtnis“ des Briefs unterscheiden vom ,Körpergedächtnis‘ des Boten (vgl. Wenzel 1997). Verwandt mit dieser Begriffsverwendung ist die, die im Zusammenhang mit Botschaften an einen selbst steht. Man kann seine Erinnerung einem materiellen Ding (Körper) anvertrauen, genauer gesagt: die Erinnerung an den Gegenstand binden, der zwar nicht selbst ihr Träger wird, aber zu ihrer Voraussetzung wird, indem der affektive Gehalt des Erinnerten an die körperliche Präsenz des Gegenstands gebunden wird. Dies ist etwa bei dem Souvenir der Fall, dessen Funktion als erinnerndes Andenken ja bereits in der Bezeichnung explizit wird. In diesen beiden Fällen wird ,Körpergedächtnis‘ also verstanden als Bindung der Memoria an die materielle Existenz eines äußeren Körpers, der unterschieden ist von dem Körper des Erinnernden oder der Kommunizierenden. Diese beiden Konzepte sind in der Kulturwissenschaft indes eher Ausnahmen. Vorherrschend ist ein Gebrauch des Terminus, der implizit oder explizit die eigene Erinnerung an konkrete Teile des menschlichen Körpers bindet, im Gegensatz zu einer rein spirituellen, mentalen oder psychischen Verankerung von Gedächtnisinhalten. Hier spielen bestimmte biologische Vorstellungen aus der Antike über die Natur des Gedächtnisses durchaus noch eine Rolle, weil sie die metaphorische Rede über das Gedächtnis Jahrhunderte lang strukturierten (und gelegentlich noch immer strukturieren). Das Gedächtnis wurde damals im Herzen (Aristoteles, Platon), im Magen (Quintilian) oder in bestimmten Gehirnkammern (Galenus) lokalisiert und als Materie, wenn auch in Form eines leichten, flüssigen oder ätherischen Fluidums etwa, gedacht. Die Rede vom körperlichen Gedächtnis war damals unmetaphorisch als physiologische Tatsachenbeschreibung gedacht – man könne gar nicht anders, als auch Geist und Seele körperhaft begreifen, meinte Lukrez (De rerum natura III, 166f.: „nonne fatendumst / corporea natura animum constare animamque“) –, doch wir können sie heute auf Grund unserer gänzlich anderen Vorstellung vom menschlichen Körper gar nicht mehr anders als metaphorisch wahrnehmen (vgl. Berns 2003, S. 565). Als metaphorische Beschreibungsmodelle sind solche Vorstellungen zum Teil immer noch virulent, weil wir es inzwischen gewohnt sind, das Gedächtnis an der Schnittstelle von Körper und Geist bzw. Seele anzusiedeln und im Zeitalter der Psychosomatik auch ihre wechselseitige Beeinflussung als Tatsache anzusehen.

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In aller Regel wird das ,Körpergedächtnis‘ als Teilbereich des psychosomatischen oder leibseelischen Gesamtkomplexes „Gedächtnis“ begriffen. In der kulturwissenschaftlichen Theorie dient das ,Körpergedächtnis‘ als Komplementärbegriff zum „mentalen Gedächtnis“. Das mentale Gedächtnis ist seit jeher an das menschliche Bewusstsein gebunden, wie auch immer dieses konstruiert wird. Ihm gelten Gedächtniskünste und Mnemoniken, es ist Teil des Denkens und daher unserem Willen unterworfen. Demgegenüber ist also zu erwarten, dass – wenn vom Körper als Gedächtnismedium die Rede ist – „damit auf Erinnerungen Bezug genommen wird, die nicht dem freien Willen unterstellt sind und deshalb nicht beliebig manipuliert werden können“, wie es Aleida Assmann (1999, S. 266) ausdrückte. Der Körper (im Gegensatz zur Seele, zum Verstand oder zum leibseelischen Gesamtorganismus) soll in diesen Konzeptionen Gedächtnis haben oder sein, repräsentieren oder generieren.

3. Wie kann so etwas aussehen? Ein Beispiel, das Assmann (1999, S. 245f.) anführt, sind Initiationsriten, bei denen der Körper des oder der Einzuweihenden verletzt wird. Der Ethnologe Pierre Clastres schrieb: „Nach der Initiation, wenn der Schmerz bereits vergessen ist, bleibt etwas zurück, ein unwiderruflicher Rest, die Spuren, die das Messer oder der Stein auf dem Körper hinterlässt, die Narben der empfangenen Wunden. Ein initiierter Mann ist ein gezeichneter Mann […]. Das Zeichen verhindert das Vergessen, der Körper selbst trägt auf sich die Spuren der Erinnerung, der Körper ist Gedächtnis.“ (Clastres 1976, S. 175; ders. 1974, S. 157: „Mais, après l’initiation, et toute souffrance oubliée déjà, subsiste un surplus, un surplus irrévocable, les traces que laisse sur le corps l’opération du couteau ou de la pierre, les cicatrices des blessures reçues. Un homme initié, c’est un homme marqué. […] La marque est un obstacle à oubli, le corps luimême porte imprimées sur soi les traces du souvenir, le corps est une mémoire.“) Dass der Körper selbst Gedächtnis sei, ist die Metapher für einen Vorgang, bei dem die Erinnerung mit Hilfe eines körperlichen Zeichens („marque“), wie Clastres korrekt festhält, generiert wird. Als Zeichen verweist die Narbe zum Beispiel auf eine Erfahrung, die mental erinnert werden soll. Dass das körperliche Zeichen nicht im materiellen Sinn Erinnerung ist, lässt sich leicht begreifen, wenn wir uns vor Augen führen, dass man vergessen kann, wie man zu einer bestimmten Narbe gekommen ist. In diesem Fall ist die Erinnerung an das Ereignis verloren; allenfalls erinnert mich die Narbe daran, dass ich etwas vergessen habe. Der Körper

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also ist bei solchen Vorgängen, wo etwas mittels körperlichem Schmerz oder einem solchen Zeichen im Gedächtnis verankert werden soll, ein Medium der Erinnerungserzeugung; sein Gedächtnis ist prozessual zu verstehen. Als materieller Träger der Erinnerung figuriert der Körper scheinbar in dem häufig angeführten Roman À la recherche du temps perdu (Erster Teil, 1913) von Marcel Proust. Proust denunzierte bekanntlich das normale Gedächtnis, genauer gesagt: das Vernunft- oder Augengedächtnis, als literarisch unfruchtbar. Das intellektuelle Gedächtnis liefere Proust zufolge kein wahres Bild des Vergangenen, weil diese sogenannte Erinnerung „durch bewußtes, durch intellektuelles Erinnern gekommen wäre und […] die auf diese Weise vermittelte Kunde von der Vergangenheit ihr Wesen nicht“ erfasse. „Vergebens“, so heißt es in dem Buch, „versuchen wir sie wieder heraufzubeschwören, unser Geist bemüht sich umsonst. Sie verbirgt sich außerhalb seines Machtbereichs und unerkennbar für ihn in irgendeinem stofflichen Gegenstand (oder der Empfindung, die dieser Gegenstand in uns weckt)“ (Proust 1985, S. 62f.; ders. 1984, S. 44: „Mais comme ce que je m’en serais rappelé m’eût été fourni, seulement par la mémoire volontaire, la mémoire de l’intelligence, et comme les renseignements qu’elle donne sur le passé ne conservent rien de lui […]. C’est peine perdue que nous cherchions à l’évoquer, tous les efforts de notre intelligence sont inutiles. Il est caché hors de son domaine et de sa portée, en quelque objet matériel (en la sensation que nous donnerait cet objet matériel) que nous ne soupçonnons pas“). Wirklich erinnern könne sich nur der Körper. „Sein Gedächtnis, das Gedächtnis seiner Seiten, seiner Knie und Schultern“ sei das wahre Gedächtnis, weil es unwillkürliche Erinnerungen liefere („la mémoire involontaire“). Der „Körper“ sei der „treue Bewahrer einer Vergangenheit“, die nicht willkürlich evoziert werden könne (Proust 1985, S. 12f.; ders. 1984, S. 6: „mon corps […], gardiens fidèles d’un passé que mon esprit n’aurait jamais dû oublier“). Tatsächlich aber ist auch Prousts „mémoire involontaire“ meistens ein angestrengter mentaler Akt, ausgelöst zwar durch einen körperlichen Reiz, aber keineswegs unwillkürlich sich einstellend, wie man an der notorischen „Madeleine“-Episode zeigen kann. Der plötzlich sich einstellenden Erinnerung gehen Exerzitien der Vernunft voraus. Der Ursache des Glücksgefühls, das ihm der „mit dem Kuchengeschmack gemischte Schluck Tee“ verursacht, versucht der Erzähler habhaft zu werden, indem er sich seinem „Geist“ zuwendet: „Er muß die Wahrheit finden“. Freilich fühlt sich der Geist überfordert und lässt kurz ab, doch bleibt es nicht dabei: „Wieder frage ich mich, was das für ein unbekannter“ Glückszustand „sein mag“: „Ich durchlaufe rückwärts im Geiste den Weg bis zu dem Moment, wo ich den ersten Löffel

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voll Tee an den Mund geführt habe. […] Ich verlange von meinem Geist das Bemühen, die fliehende Empfindung noch einmal wieder heraufzubeschwören.“ Nachdem die Konzentrationsübung erfolglos bleibt, versucht er es mit dem Gegenteil: „Dann aber, da ich fühle, wie mein Geist sich erfolglos abmattet, zwinge ich ihn umgekehrt zu jener Zerstreuung, die ich ihm vorenthalten wollte, lasse ihn an anderes denken und sich gleichsam erholen, bevor er noch einmal den Anlauf unternimmt“. Dann wird ein zweiter Versuch der Konzentration unternommen, und tatsächlich spürt der Erzähler dann die Erinnerung langsam in sich emporsteigen. Ungewiss, ob die Erinnerung ihm zu vollem Bewusstsein kommen würde, ermattet der Geist wieder, versucht aber noch „[z]ehnmal“ sich zu der allmählich aufsteigenden Erinnerung „hinunterzubeugen“, bevor sie dann „mit einem Male“ bewusst „wiedererkannt“ wird (Proust 1985, S. 63–67; ders. 1984, S. 45–47: „la gorgée mêlée des miettes du gâteau […]. Je […] tourne vers mon esprit. C’est à lui de trouver la vérité. […] Et je recommence à me demander quel pouvait être cet état inconnu, qui n’apportait aucune preuve logique, mais l’évidence, de sa félicité, de sa réalité devant laquelle les autres s’évanouissaient. […] Je retrograde par la pensée au moment où je pris la première cuillerée de thé. […] Je demande à mon esprit un effort de plus, de ramener encore une fois la sensation qui s’enfuit. […] Mais sentant mon esprit qui se fatigue sans réussir, je le force au contraire à prendre cette distraction que je lui refusais, à penser à autre chose, à se refaire avant une tentative suprême. Puis une deuxième fois, je fais le vide devant lui, je remets en face de lui la saveur encore récente de cette première gorgée et je sens tressaillir en moi quelque chose qui se déplace, voudrait s’élever, quelque chose qu’on aurait désancré, à une grande profondeur […]. Dix fois il me faut recommencer, me pencher vers lui. […] Et tout d’un coup le souvenir m’est apparu. […] Et dés que j’eus reconnu le goût du morceau de madeleine trempé dans le tilleul […]“). Die Erkenntnis der Erinnerung ist eine Folge mentaler Übung, die mit ihrem Wechsel von Konzentration und Zerstreuung eine alte Meditationstechnik wieder belebt. Es ist der Wille, sich zu erinnern, der die Erinnerung mittels gewaltsamer Meditation aus den tiefsten Gedächtnisschichten hervortreibt. Auch hier wird der Vorgang als ,Körpergedächtnis‘ metaphorisiert, weil die Erinnerung durch einen körperlichen Reiz stimuliert wird. Dass die Rede vom Gedächtnis des Körpers bei Proust metaphorisch und nicht tatsächlich zu verstehen sei, hat ein aufmerksamer Leser wie Walter Benjamin bereits subtil angedeutet, wenn er über Prousts Behandlung der im Bewusstsein noch nicht durchgearbeiteten und daher im Unterbewussten abgelegten Erinnerungen mit sanfter Ironie schreibt, dass die „Gliedmaßen“, in denen die „Gedächtnisbilder“ laut Proust „depo-

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niert“ lägen (und wovon zu sprechen „er nicht müde“ würde), die Erinnerungen lediglich repräsentieren, nicht aber tatsächlich enthalten (Benjamin 1974, S. 613; zu Benjamins Proust-Lektüre auf der Grundlage von Freuds Theorie der „Gedächtnisspur“ vgl. Finkelde 2003, S. 39–43).

4. Prousts meditative Technik führt zu einem weiteren Konzept von ,Körpergedächtnis‘, bei dem die Präsenz des Körpers einen Gedächtnisinhalt repräsentiert, der ohne ihn nicht vorhanden oder hervorzurufen wäre. Ich meine die körperliche „Abrichtung“ von Menschen im „Exercitio, oder wie man es nennet/ Trillen“, die besonders beim Militär üblich war und ist, wo die „Abrichtung der Soldaten in ihrer Gewehr“ ein sehr „nöthiges Stück der Kriegs Disciplin ist“, wie Johann Jacob Wallhausen (1615, [X], S. 13f. u. passim) schrieb, der die „grosse Wissenschafft von Abrichtung“ der Menschen auch zur Disziplinierung des „gemeinen Landvolcks und Außschuß“ aus Stadt und Land empfahl. Der Körper wird hier „Gegenstand und Zielscheibe der Macht“, die sich in ihn gleichsam ‚einschreibt‘, so Michel Foucault (1992, S. 174). Man kann dies an Hand von frühneuzeitlichen Drillbüchern gut nachvollziehen (vgl. Berns 2000). Die Drillbücher standen dem Offizier als externes Memorierwerk zur Verfügung. Die darin beschriebenen bzw. gespeicherten Abläufe vermittelte er durch Befehle an die untergebenen Soldaten. Diese lernten die Abläufe durch körperliche Übung zu reproduzieren. Die Soldaten selbst kannten das externe Speichermedium nicht, vermochten aber nach genug Training, die darin beschriebenen Vorgänge unter Ausschaltung des Bewusstseins immer wieder hervorzubringen. Das Bewusstsein im Zuge dieser Automatisierung von Bewegungsabläufen auszuschalten, ist erklärtes Ziel des Drills, denn im Ernstfall – nämlich in der Schlacht – sollen die Soldaten nicht denken, sondern bewusstlos handeln. In dem 1776 erschienenen Drama Die Soldaten von Jakob Michael Reinhold Lenz fragt der Feldprediger Eisenhardt den gerne philosophierenden Hauptmann Pirzel in der vierten Szene des dritten Akts: „Aber hindert Sie das Denken nicht zuweilen im Exerciren?“ Doch der Offizier kann ihn beruhigen: „Ganz und gar nicht, das geht so mechanisch. […] Das geht alles mechanisch.“ (Lenz 1776, S. 68.) So wie die anderen an Mädchen, könne er an philosophische Dinge denken: Das „Exerciren“ muss sogar automatisiert ablaufen, darauf braucht und darf er im Sinne von Hugo Münsterbergs (1928, S. 36) Definition der Routine („Fertigkeit, […] die Gesamtbewegung ohne auf die Tätigkeit selbst gerichtete Auf-

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merksamkeit durchzuführen“) gar keinen Gedanken verschwenden. Dass diese „gelehrigen Körper“ (Foucault 1992, S. 173) auch heute noch zu erreichendes und im folgenden Fall leider erreichtes Ziel der Ausbildung ist, kann man dem Bericht über einen „fatalen“ Unfall im schweizerischen Wallis entnehmen (Neue Zürcher Zeitung. Schweizer Ausgabe, 226. Jg., Nr. 3, Mittwoch 5. Januar 2005, S. 19): „Bei einem Gefechtsschiessen in St-Maurice im Wallis ist am Montagabend ein 24-jähriger Oberleutnant der Schweizer Armee umgekommen. Der Offizier hatte einen Messerangriff auf einen Soldaten simuliert. Dieser entsicherte reflexartig sein Gewehr und schoss. […] Es sei üblich, dass in der Armee Standardverhalten trainiert werde. Ob dieses konkrete Verhalten so geübt worden sei, sei Gegenstand der laufenden Untersuchungen. Der betroffene Soldat sei nicht in Haft. Er werde wie alle Beteiligten psychologisch betreut.“ Ähnliche Prozesse kennt man von sportlichen Übungen; auch hier gilt es oft, den Athleten derart zu konditionieren, dass die eintrainierten körperlichen Aktionen womöglich unbewusst ablaufen. Überlegungen zur „Rationalisierung des Körpers“ im wirtschaftlichen Produktionsprozess, die im Taylorismus oder Fordismus angestellt wurden (vgl. Sarasin 2003, S. 61ff.), gehören wohl ebenfalls in diesen Bereich. Und auch für geistige und geistliche Exerzitien gilt Vergleichbares. Die ignatianischen Übungen zum Beispiel dienten nicht der Schärfung des Verstands, sondern einer Selbstaffektation, in der die Memoria bzw. der erinnerte Gedächtnisinhalt in die Willenlosigkeit einer körperlichen Empfindung transformiert werden sollte. Es ist zu überlegen, ob das ‚Trainingsmodell‘ konstitutiv für das ,Körpergedächtnis‘ überhaupt ist. Dann muss es für alle Inhalte gelten, bei denen bestimmte Phänomene unter Umgehung des Bewusstseins memoriert werden. Das funktioniert vermutlich auch auf individueller Basis, etwa wenn bestimmte Übungen nicht nur den Verstand ausschalten, sondern willentlich nicht zu habende Erlebnisse (zum Beispiel religiöse Visionen) provozieren sollen. Dann ruft nicht die Erinnerung eine habitualisierte Handlung hervor, und auch die körperliche Handlung reproduziert nicht die Erinnerung, sondern die unbewusste Aktion des Körpers ist die Erinnerung des Gedächtnisinhalts. Freilich bedarf es hier vorher mental abgelegter Bilder, die dann unwillentlich hervorgerufen werden. Auch in Prousts Meditation auf vergessene Kindheitserinnerungen verhält es sich ähnlich, nur dass hier der Prozess sich vollständig im Kopf abspielt. Bei diesen Exerzitien ist das ,Körpergedächtnis‘ also der Begriff für das Zusammenspiel körperlicher Übung und mentaler Prozesse, also für einen psychosomatischen Zusammenhang, bei dem der körperlichen Komponente Priorität zukommt.

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5. Die in den jüngeren Kulturtheorien erfolgreichste Konzeption von ,Körpergedächtnis‘ ist von vorn herein psychosomatisch bestimmt. Hier geht es um Traumata, die das ,Körpergedächtnis‘ ausmachen. Aleida Assmann bezeichnete das Trauma als „eine dauerhafte Körperschrift“, die der gewöhnlichen Erinnerung entgegen gesetzt sei. Denn es handle sich dabei um keinen bewussten Vorgang, sondern um die „Selbsteinschreibung einer traumatischen Erfahrung in die Matrix des Unbewußten“ (Assmann 1999, S. 247). In diesem Konzept konvergieren das seelische Unbewusste und die körperliche Manifestation des Traumas. Auch hier handelt es sich natürlich um eine metaphorische Redeweise. Ihren Ursprung hat sie in Nietzsches oft zitierter Inskriptionsmetapher, die er bei der Beschreibung des Gedächtnisses in der Genealogie der Moral (1887) verwendet. „Wie macht man dem Menschen-Thiere ein Gedächtniss?“ fragte Nietzsche bekanntlich und antwortete: „Man brennt Etwas ein, damit es im Gedächtniss bleibt.“ Im Falle der schon angeführten Initiationsriten könnte man dies sogar wörtlich verstehen. Allerdings ging es bei Nietzsche gar nicht um den körperlichen Schmerz, wenn es heißt: „nur was nicht aufhört, weh zu thun, bleibt im Gedächtniss“, sondern es ging ihm um die starke Emotion, Lust und Unlust, die mit dem Gedächtnisinhalt verbunden ist (Nietzsche 1968, S. 311). Nietzsche verwandte körperliche Metaphern für geistig-seelische Vorgänge; er dachte sich das ,Körpergedächtnis‘ als Affektgedächtnis. In dieser Tradition steht auch das genannte Konzept vom ,Körpergedächtnis‘; dabei handle es sich, so Sigrid Weigel (1994, S. 49), „weder darum, daß der Körper ein Gedächtnis hat […] noch darum, daß der Körper das Gedächtnis darstellt, repräsentiert. Vielmehr ist das Gedächtnis in den Leib [= psychosomatischer Gesamtorganismus] in Form von Dauerspuren eingeschrieben, die durch bestimmte Wahrnehmungen die Wiederholung von Affekten und damit verbundenen Vorstellungsbildern auslösen“. In der Belletristik wird häufig so getan, als handle es sich tatsächlich um ein rein körperliches Gedächtnis; in diesem Fall kann man mit Weigel (1994, S. 22) von der „Verleiblichung einer Körpermetapher“ sprechen. Im literarischen Text ist die konkretisierte Metapher seit jeher normal. Bei der Darstellung psychischer Traumata ist es sogar angezeigt, den Körper zum „Symptomkörper“ zu machen, d.h. ihn als „Matrix für die Erinnerungssymbole des Verdrängten“ zu benutzen (vgl. Weigel 1994, S. 16). Bekanntlich stabilisiert das Trauma eine Erfahrung, die dem Bewusstsein nicht zugänglich ist und die daher durch Worte nicht – oder jedenfalls nicht auf Anhieb oder ohne Hilfe – artikulierbar ist. Man könnte sagen,

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dass das Trauma durch die Unmöglichkeit der Narration charakterisiert ist, obwohl es tatsächliche biologische Spuren im Gehirn hinterlassen hat (neuronale Vernetzungen), die aber durch ein posttraumatisches Angstschutzprogramm blockiert sind, das häufig erst Jahre später mental aufgebrochen werden kann. Das Trauma gleichwohl darstellen zu wollen, macht den Einsatz von Bildern notwendig; oder man lässt es sich anders als in Worten artikulieren, nämlich zum Beispiel in Gesten und anderen körperlichen Zeichen. Als literarische Technik ist die Verleiblichung seelischer Vorgänge hilfreich. ,Körpergedächtnis‘ ist hier eine Metaphorisierung für die Sichtbarmachung bzw. -werdung von Inhalten des Unbewussten, nicht Sagbaren, noch nicht Verarbeitbaren bzw. Verarbeiteten. Das ,Körpergedächtnis‘ wird damit zu einer literarischen Metapher für den Bereich des „Übergang[s] zwischen Innen und Außen, zwischen Lautlosigkeit und Artikulation“, einen Bereich, wo sich die fragwürdig gewordene Identität im „Diffusen“ verliert, wie es Anne Duden einmal formulierte (Duden/Weigel 1989, S. 142 u. S. 138). Auch in der kulturwissenschaftlichen Rede ist die Verleiblichung der Körpermetapher virulent. Das seelische Trauma wird zum Beispiel als „körperliche Gedächtnis-Wunde“ oder als „körperliche Einschreibung“ (Assmann 1999, S. 260 u. S. 278) bezeichnet. Sigrid Weigel (1994, S. 10) meinte, dies sei Ausdruck einer „Sehnsucht“ nach der „Entzifferung anderer Sprachen als der etablierter Diskurse und Begriffe, insbesondere aber jener Sprache des Anderen, deren Darstellungen Freud am Beispiel der Traumsprache als Entstellungen, als entstellte Darstellungen beschrieben hat“. Insofern wohnt dieser kulturwissenschaftlichen Konzeption von ,Körpergedächtnis‘ ein Moment des Widerstands inne, der sich gegen bestimmte Herrschaftsdiskurse richtet. Als Medium der Vernunftkritik fungierte der Körper ja bereits im Denken Arthur Schopenhauers, dessen Metaphysik eine Philosophie „am Leitfaden des Leibes“ war, um einmal mit Arnold Gehlen (1983, S. 30; vgl. Niehues-Pröbsting 1997) zu sprechen. Daran knüpft die jüngere Kulturwissenschaft an. Der Körper wird dabei zum geeigneten Medium, weil er anders als die Seele noch immer nicht aufgeklärt, vielleicht auch gar nicht aufklärbar ist, und daher als Träger der ‚wahren‘, sprachlosen Erinnerung taugt. Die Seele, die einmal als Gegenkonzept zur Vernunft diente und ebenfalls durch Sprachlosigkeit charakterisiert war – man erinnere sich an Friedrich Schillers berühmten Vers: „Spricht die Seele, so spricht ach! schon die Seele nicht mehr“ (Schiller 1992, S. 181 u. S. 570) –, hat in der Moderne als Mittel zum Zweck ausgedient, weil die Aufklärer sie „ins Gehirn“ legten, „damit sie denken lerne“, wie es im Marat/Sade von Peter Weiss (2004, S. 82) so schön heißt. Sigmund Freud klärte die Seele auf und brachte die Traumata zur Sprache. Damit verlor die Seele aber ihr metaphorisches

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Potenzial, wenn es um die Benennung verborgener, gleichwohl aber wirksamer Erinnerungen und damit verbundener Affekte geht. An ihre Stelle tritt der Körper, und zwar weil er nun einmal nicht denken kann – Blaise Pascal (1997, S. 189) schrieb vor bald 350 Jahren: „der Geist erkennt dies alles und sich selbst, und die Körper erkennen nichts“; ders. 1835, II, S. 104: „le moindre des esprits […] connait tout cela, et soi-même; et le corps rien“ –, weil er keinen eigenen Willen zu haben scheint und nicht so leicht manipulierbar ist, so dass er sich als Beglaubiger von Wahrheit eignet (zur Fragwürdigkeit einer „Wahrheit des Körpers“ jenseits kulturell codierter Erfahrungs- und Ausdrucksmöglichkeiten vgl. allerdings die verschiedenen „Fragmente einer Körpergeschichte der Moderne“ bei Sarasin 2003, S. 100–149). Dies ist kein absolut neues Phänomen. Wie so oft konvergieren an diesem Punkt Post- und Prämoderne. Den Vernunftkritikern des 17. Jahrhunderts zum Beispiel galt der Körper und sein Ausdruck (Gestik, Mimik, Haltung) ebenfalls als authentischer als die dem (dis)simulierenden Verstand unterstehende Rede. Baltasar Gracián meinte daher im Oráculo manual y arte de prudencia (1647/53): „die Wahrheit wird meistens gesehen, nur ausnahmsweise gehört“ (Gracián 1991, S. 61; ders. 1969, S. 391: „La verda ordinariamente se ve; extravagentemente se oye“; vgl. ebd., S. 405 bzw. S. 106f.: „Das Wahre und Richtige aber lebt tief zurückgezogen und verborgen“/„El Acierto vive retirado a su interior“). Die theoretische Würde, die dem Körper als Heimat des „Anderen“ in der Moderne zuwächst, ist allerdings neuartig. Bedeutsam wird im gegenwärtigen kulturwissenschaftlichen Diskurs die ‚wahrere‘ Sprache des Körpers paradoxerweise nicht, weil man die Einheit von Leib und Seele noch glauben würde, sondern weil sie zerbrochen ist. Daher wird Körpersprache auch nicht mehr physiognomisch, sondern ausschließlich pathognomisch gelesen und vor allem auf (primär psychische) Krankheitssymptome bezogen, d.h. als Ausdruck moderner Zerrissenheit und Qual symptomatisch für den Zerfall der leibseelischen Identität begriffen. Dem ‚unglücklichen (Selbst-) Bewusstsein‘ (Hegel) der Moderne ist Körpersprache gar nicht als Ausdruck des Glücks denkbar. Das ,Körpergedächtnis‘ erinnert in dieser Konzeption ausschließlich Leiderfahrungen, seine Äußerungsformen sind daher im eigentlichen Sinn ‚Pathos-Formeln‘: Möglichkeiten das erlittene Unaussprechliche auszudrücken.

6. Ein brisantes Beispiel mag Chancen und Gefahren dieser ,Körpergedächtnis‘-Konzeption illustrieren. Als das unfassbare Ereignis des 20.

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Jahrhunderts schlechthin gilt der Holocaust. In der Prosa von Anne Duden zum Beispiel dient die Engführung von Körper und Gedächtnis (Duden 1982, S. 141: „Mein Gedächtnis ist mein Körper“) der Möglichkeit, das „Wissen“ um das, „was da vor nicht allzulanger Zeit im eigenen Land gelaufen ist“, aushaltbar zu machen, das Trauma ‚Auschwitz‘ als „Weiterlebende im Post-Faschismus“ literarisch zu bewältigen (Duden/Weigel 1989, S. 130). In der Theorie wird das Konzept ,Körpergedächtnis‘ in diesem Zusammenhang allerdings problematisch, weil das Problem durch die Sakralisierung der Rede über den Holocaust verschärft wird. Jean-François Lyotard etwa erklärte die Traumatisierung zur einzig adäquaten Form des Bezugs auf den Holocaust. Als „Offenbarung, die sich nie offenbart, sondern nur da ist“ („une révélation qui ne se révèle jamais mais reste là“), könne sie verhindern, dass der Holocaust vergessen wird. Das meint den Verzicht auf „Darstellung“ („représentation“), denn „‚Auschwitz‘ in Bildern und Worten wiederzugeben, ist eine Weise, dies zu vergessen.“ („Représenter ‚Auschwitz‘ en images, en mots, c’est une façon de faire oublier cela.“) Jeder Rekurs auf den Holocaust müsse versuchen, „das unvergeßlich Vergessene zu bergen“ („l’oublié inoubliable“), was vorderhand nur als nichtrationale „Affizierung“ („affection“) des Menschen gelingen könne, als „unbewußter Affekt“ („affect inconscient“), der „hinter den Kulissen“ („dans la coulisse affreuse“) verbleibe, könne die wahre Erinnerung „als ein vergessenes Vergessen“ („son oubli oublié“, oder ‚unbefriedetes Vergessen‘, wie Freud sagen würde), virulent bleiben, als „Gefühl, unbestimmt, am Körper“ („sentiment diffus sur tout le corps“) (Lyotard 1988a, S. 47–57; ders. 1988b, S. 35–43; vgl. dazu auch Seidler 1998). In der Psychoanalyse kann das Trauma im Idealfall durchgearbeitet und damit zu einer befriedeten Erinnerung werden, oder es wird dadurch dem befriedeten Vergessen überlassen. Da dies im Fall des Holocausts nicht sein soll, muss dieses Trauma einem nicht aufklärbaren Medium anheim gegeben werden, und das ist nach Lage der Dinge der Körper, in dessen Gedächtnis es ‚eingeschrieben‘ wird. Damit wird – wenigstens metaphorisch – dauerhafte Virulenz gesichert, aber als Begleiterscheinung stellt sich ein Rede- und Erklärungsverbot ein. So einzigartig soll dieser Vorgang gewesen sein und so sehr die Ausgeburt einer instrumentellen Vernunft, dass seine Erinnerung jeder Rationalität entzogen bleiben und der ‚stummen Beredtheit‘ des Körpers überantwortet werden soll. Anders als in der Belletristik birgt dieser Vorgang wissenschaftlich erhebliche Gefahren, weil er gegenaufklärerischen Konzepten gegenüber wehrlos macht. In Bezug auf Traumatisierungen aller Art plädiere ich daher dafür, ,Körpergedächtnis‘ nur als deskriptive, nicht aber als analytische Kategorie zu verwenden. Jedenfalls wirkt die Metapher in der wissen-

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schaftlichen Rede, wenn sie theoriebildende Funktion erhält, mitunter eher verschleiernd, als dass sie präzise bezeichnen würde, worum es geht, nämlich eine seelische Traumatisierung, die über psychosomatische Zusammenhänge den Körper affiziert, ohne dass dieser die zu Grunde liegende psychische Verletzung tatsächlich erinnert. Am unproblematischsten und leistungsfähigsten ist das Konzept ,Körpergedächtnis‘ bei Phänomenen, wo es materialiter um körperliche Erzeugung und Repräsentation von Gedächtnisinhalten geht wie in den Beispielen des militärischen Drills, des sportlichen Trainings oder bestimmter Exerzitien; oder bei Vorgängen, wo die Erinnerung an die Existenz oder Präsenz äußerer Körper (Boten, Souvenirs) geknüpft ist. Die Metaphorisierung des Körpers als Gedächtnisort hat in der Kulturwissenschaft vor allem in Zusammenhang mit psychischen Traumata Furore gemacht. Sigrid Weigel (1994, S. 55) schlug das Konzept ,Körpergedächtnis‘ zur Analyse von Texten von Peter Weiss und Anne Duden, Gert Hofmann und Ginka Steinwachs, Heiner Müller und Birgit Pausch vor. Viel zu selten wird aber gesehen, dass die schöne Literatur noch eine ganz andere Art von ,Körpergedächtnis‘ kennt, nämlich den Körper als Aufbewahrungsort für Glückserfahrungen (s.o. zu Proust). Hier mag übrigens auch die Sakralisierung der Rede einfach stattfinden, denn hier brauchen wir nichts mehr erklären. Der US-amerikanische Schriftsteller Paul Theroux erzählt in dem Roman My Other Life (1996) von seiner Begegnung mit der jungen Queen Elizabeth II. von England. Er sitzt bei einem Dinner am Tisch der Königin und gibt sich seinen Tagträumen hin: „In meinem Traum von der Königin saßen sie und ich allein auf einem Sofa. […] ‚Sie machen einen sehr unglücklichen Eindruck‘, sagte ihre Majestät. Ihr Gesicht war blass, wie auf den Briefmarken. Ich war zu schüchtern, um zuzugeben, daß ich tatsächlich unglücklich war. Sie trug ein tief ausgeschnittenes Kleid aus grünem Brokat. Ihre Ringe blitzten, als sie mit beiden Händen den Ausschnitt aufriß. Ihre Brüste fielen heraus, und ich bettete den Kopf zwischen sie und spürte die kühlen Brustwarzen an meinen Ohren. ‚So ist es viel besser, nicht wahr?‘ sagte die Königin in meinem Traum. Ich konnte nicht antworten, denn ich lag schluchzend an ihrem Busen.“ („In my dream, which I had used in a novel, the Queen and I were alone in a palace room, on a royal sofa. […] ‚You seem dreadfully unhappy,‘ Her Majesty said. Her face was pale, as on the stamp. I was too shy to admit that I was miserable. She was wearing a stiff dress of green brocade, with deep cleavage. Her rings sparkled as, using both her hands, she pulled apart the bodice of her gown, and as her breasts tumbled out I put my head between them, feeling her cool nipples at my ears. ‚Isn’t that better?‘ said the Queen in my dream. I was sobbing between her breasts and could not

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reply.“) Die Wirklichkeit ist natürlich profaner, das Dinner verläuft in Gegenwart der „Gott-Königin“ („God-Queen“) steif und förmlich. „In ihrer Gegenwart geschah nichts Ungehöriges, Dubioses oder Anstößiges. Alles verlief ordentlich und harmonisch. Sie war Gottmutter.“ („Nothing improper, contentious, or untoward occurred in her presence. All was order and harmony. She was God the Mother.“) Später am Abend kommt es noch zu einem kurzen Gespräch zwischen Königin und Schriftsteller, der allerdings nicht sehr aufmerksam ist, weil er der Königin immer auf den Busen starren muss: „‚Sie haben mit Büchern zu tun, nicht wahr?‘ ‚Ja, Mum.‘ ‚Dann nur zu. Beschäftigen Sie sich mit Büchern!‘ Sie hob die Hand und berührte die meine, die wie eine Klaue auf halbem Weg zu ihrem Kleid verharrt hatte. Es fühlte sich an wie ein Bienenstich und ich spreizte unwillkürlich die Finger. ‚Ja, Mum.‘“ („‚You’re in books, aren’t you?‘ ‚Yes, Mum.‘ ‚Go back to the books, then.‘ Moving her hand to where mine trembled clawlike near her dress, she touched me – no more than that – and something like a bee sting made me involuntarily splay my fingers. ‚Yes, Mum.‘“) Als die Königin gegangen ist, bleibt der Eindruck ihrer Berührung: „Dort, wo die Königin die Finger berührt hatte, mit denen ich meinen Füller hielt, spürte ich eine Wärme, ein Brennen wie nach einem Bienenstich. Die Stelle tat nicht weh, sie war nur empfindlich. Und es war auch, als hätte diese Berührung meinen Fingern ein Bewußtsein und ein Gedächtnis gegeben, als könnte mein Fleisch sie nicht vergessen.“ („And there remained a warm spot where the Queen had put her hand on my pen-holding fingers. It was the cauterizing pinch of a recent bee sting. It did not hurt, yet it was tender. It was also as though she had made my fingers sentient, and given them a memory; as though flesh could not forget.“) (Theroux 2000, S. 474–485; ders. 1996, S. 388–397.) Es war, als ob („as though“) – kürzer kann man es nicht auf den Punkt bringen, dass alle Rede vom ,Körpergedächtnis‘ bisher eigentlich stets metaphorische Rede war.

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PHYSIOLOGIE

Stefanie Arend

Das gefräßige Gedächtnis Genese und Entwicklung eines Bildes in Antike und frühem Christentum One of the most powerful metaphors for memory is that of eating and digesting. Introduced already in the Platonic dialogues, this idea becomes established in the metaphorological discourse on remembering and memory particularly with Quintilian’s Institutio oratoria. Here it functions as a rebuttal to concepts of artificial memory, such as those developed in the anonymous Rhetorica ad Herennium. In regard to other discourses on memory as well – Galen’s Opera medica and Augustine’s Confessions and his interpretations of the Psalms – Quintilian’s use of the metaphor is unconventional. It profanes memory, reducing it to its function as a storeroom and its influence on the body to a mere physiological affect, ignoring the powers of imagination. However, since one cannot see into the stomach, the metaphor nonetheless preserves the connotation of memory as something secret and ultimately impenetrable.

Eine der wirkungsmächtigsten Metaphern für das Gedächtnis oder den Vorgang des Merkens und Erinnerns ist diejenige des Essens und Verdauens. Die Metapher wird ein fester Bildbestand im Schrifttum zur memoria mindestens seit Quintilians Institutio oratoria (vgl. Quintilian 2003).1 Die Genese des Bildes liegt jedoch allgemein in einer älteren Vorstellung begründet, die uns Platons Ion überliefert: Die Dichter schweifen als Verkünder der göttlichen Weisheit umher wie die Bienen. Sie schöpfen aus der honigsüßen Quelle göttlicher Inspiration, die nur wenigen Auserwählten beschieden ist. Wie die Bienen den Nektar, göttliche Nahrung, aufnehmen, ihn weitertragen, so dass er sich schließlich in Honig verwandelt, in Nahrung für die Menschen, und wie die Bienen gleichsam Träger der Erinnerung an göttliche Wahrheit sind, so auch die Dichter: Ihre Gesänge sind Anverwandlung der göttlichen Inspiration in Worte, die den Men_____________ 1

Ich zitiere die zentralen Texte zum Gedächtnis nach der Sammlung Documenta mnemonica, Bd. I.1: Gedächtnislehren und Gedächtniskünste in Antike und Frühmittelalter [5. Jahrhundert v. Chr. bis 9. Jahrhundert n. Chr.]. Dokumentsammlung mit Übersetzung, Kommentar und Nachwort. Hrsg. v. Berns, Jörg Jochen. Unter Mitarbeit von Czapla, Ralf Georg und Arend, Stefanie. Tübingen: Niemeyer 2003 (Frühe Neuzeit 70). Neben den Editionen der lateinischen Texte finden sich dort im Falle Quintilians und Augustinus’ jeweils die ersten frühneuzeitlichen Übersetzungen in deutscher Sprache.

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schen dargebracht werden, ihn zu erinnern (Platon 1990, Bd. 1, 534b). Schließlich nimmt Seneca dieses Bild in seinen Überlegungen zum Lesen auf. Das Gelesene muss verdaut werden, sonst ist es nicht in unserem Besitz, sondern nur im Gedächtnis (vgl. Seneca 1991, Ep. 84.7). Dieses Bild des ,Schriftessens‘ findet eine besondere Verwendung in der patristischen Literatur. Die ruminatio, das ,Wiederkäuen‘ des Gelesenen in Form der Meditation, ist Voraussetzung für die richtige Auslegung des Schriftsinnes, aber auch für seine Bewahrung im Gedächtnis (vgl. dazu Butzer 1998, S. 236). Es geht mir darum zu klären, an welcher Stelle in der Entwicklung des Bildfeldes die Magenmetapher in Quintilians Institutio zu positionieren ist, berücksichtigt man den metaphorologischen Diskurs über das Gedächtnis bzw. die Gedächtniskunst und das künstliche Gedächtnis. Dieser Diskurs arbeitet seit jeher mit dem strukturellen Paradigma, dass etwas in etwas hineingenommen wird. In diesem Bildfeld sind unterschiedliche Örter der Aufnahme zu entdecken und auch unterschiedliche Vorstellungen von dem, was dort mit dem Aufgenommen geschieht. Im folgenden möchte ich zeigen, auf welche Weise die Magenmetapher in Quintilians Text teilnimmt an einer Auseinandersetzung über Vorstellungen vom Gedächtnis des Menschen. Diese Auseinandersetzung denkt selbstverständlich nicht nur über das Gedächtnis nach, sondern über den Menschen, seine Seele und seinen Körper im Allgemeinen. Dabei wird sich zeigen, dass Quintilians Text in diesem Diskurs eine für seine Zeit exzeptionelle Position vertritt. Ich konzentriere mich ausschließlich auf die Antike und das Frühmittelalter, wobei der Text Quintilians und Texte von Augustinus, seine Confessiones und die Psalmeninterpretationen, im Zentrum stehen. Dabei werfe ich auch einen Blick auf Galens Opera medica. Zur Kontextualisierung sind die platonisch-aristotelischen Gedächtnislehren flankierend zu berücksichtigen.

1. Das Gedächtnis als Magen Zunächst zu Quintilians Text Institutio oratoria: Dieses Lehrbuch für Redner wurde etwa 95 n. Chr. verfasst. Es steht in der Reihe der bis dahin bekanntesten Redelehren, der anonymen Rhetorica ad Herennium, um 85 v. Chr. entstanden, und Ciceros Schrift De oratore, etwa 55 v. Chr. Die Institutio oratoria avancierte in der Spätantike zum maßgeblichen RhetorikHandbuch. Auf ihrer Grundlage entstanden Kompendien der Redekunst. Zu denken ist an die Ars rhetorica von Chirius Fortunatianus und an die

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gleichnamige Schrift von Iulius Victor, beide aus dem 4. Jahrhundert nach Christus. Im Mittelalter wurde die Institutio oratoria fast völlig vergessen. Eine intensive Rezeption erlebte das Buch im 15. Jahrhundert, nachdem der italienische Humanist Poggio eine vollständige Handschrift wiederaufgefunden hatte. In einer erneuten Blütezeit der Rhetorik vom 16. bis 18. Jahrhundert diente sie als eine der Grundlagen des Rhetorikunterrichts in den Schulen.2 Quintilians Text will das Gedächtnis als etwas göttlich Natürliches ausweisen. Die Redekunst beweist, dass die Natur des Gedächtnisses göttlich sein muss, denn die Fähigkeit des Menschen, eine Rede in einer gewissen Ordnung und Harmonie der Wörter wiederzugeben, ist einzigartig (vgl. Quintilian 2003, S. 161). Diese Fähigkeit ist jedoch nicht bloß genieartiger göttlicher Eingebung zu verdanken, sondern bedarf menschlichen Fleißes und Übung. Eine Gelenkstelle des Textes profaniert nun die göttliche Gabe memoria, indem der Vorgang des Merkens als natürlicher, da rein physiologischer, Vorgang des Essens rubriziert wird. In der Übersetzung von Heinrich Philipp Conrad Henke lautet die entsprechende Quintiliansche (2003, S. 173) Passage folgendermaßen: Fordert jemand von mir die sicherste und wirksamste Gedächtnißkunst, so sage ich, die ist Uebung und Fleiß […]. Nichts kann so sehr durch Bemühung gebessert, nichts so sehr durch Nachlässigkeit verschlimmert werden, als das Gedächtniß. Daher müssen Kinder gleich vieles auswendig lernen, jedes Alter muß sich bestreben, dem Gedächtniß durch Fleiß behülflich zu seyn, anfangs die saure Arbeit, das aufgeschriebene und gelesene immer von neuem vorzunehmen, und gleichsam immer einerley Speise zu wiederkäuen, sich nicht verdriessen zu lassen. Man kann sie sich dadurch leichter machen, wenn man vorerst wenig, und so viel man ohne Eckel kann, überlernet, dann täglich einige Zeilen mehr hinzusetzt, die der Arbeit den Zuwachs nicht merklich machen: so kann man es bis zu einer grossen, ungemeßnen Höhe darinn bringen.

,Wiederkäuen‘ gibt das lateinische ,remandere‘ wieder. Die Frucht dieser Bemühungen erweist sich schließlich am nächsten Tag. In der Nacht erstarkt das Gedächtnis, da es „von der beschwerlichen Arbeit ausruhet“ und weil „das gelernte nun Festigkeit erhält und verdauet wird“ (ebd.). Wie genau Gedächtnis entsteht, wird nicht geklärt. Wichtig erscheint vor allem seine Profilierung als etwas Natürliches. Natürlich ist die mechanische Nahrungsaufnahme bzw. das vorherige Kauen der Nahrung vor dem Hinunterschlucken. Da dies zudem für das Überleben notwendig ist, erscheint dem Schüler sein mühevolles Auswendiglernen wie das Kauen der _____________ 2

Ich zitiere im folgenden aus der Übersetzung von Heinrich Philipp Conrad Henke, aus dem Lehrbuch der schönen Wissenschaften in Prosa, 1775–1777 (vgl. Quintilian 2003, S. 157 bis 176), hier aus Buch 11, Kapitel 2.

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Nahrung als unabdingbar für die eigene Existenz. Identisch jedoch mit der natürlichen Nahrungsaufnahme ist die unbewusste Tätigkeit des Verdauens während der Nacht, auf die die Vernunft keinen Einfluss besitzt und die das Gedächtnis erst entstehen lässt. Das Bild entbehrt jedoch nicht einer gewissen Paradoxie, denn die Natürlichkeit des Vorgangs trägt durch das selbstdisziplinierte Wiederkäuen den Aspekt der Unnatürlichkeit. Um das Aufgenommene behalten zu können, wird etwas empfohlen, was der Natur widerspricht, nämlich das, was auswendig im Gedächtnis haften bleiben soll, solange wiederzukäuen, zu wiederholen, solange man es „ohne Eckel“, ohne „odium“ vermag. Verlangt wird eine Übung, die den Essvorgang überzeichnet. Die Rede ist nicht vom Genuss des Essens, sondern die Gefahr des Überdrusses soll provoziert werden, da der Lernende bis zur Grenze der Widerwärtigkeit auf den Wörtern herumkauen muss. Die Metapher überträgt demnach lediglich strukturelle Ähnlichkeiten aus der realen Nahrungsaufnahme, insofern es sich um die Aufnahme von etwas in etwas handelt. So wie Nahrung in den Mund genommen wird, so werden Worte in den Vorraum der Schatzkammer des Gedächtnisses hineingenommen, aber auf andere und zwar fast unnatürliche Art und Weise zugerichtet, da der Übende bis an die Grenze des Ekels gehen muss.

2. Natürliches versus künstliches Gedächtnis Es ist zu überlegen, welchen Ort die Metapher des Gedächtnisses als Essen und Verdauen im metaphorologischen Diskurs über die memoria einnimmt? Tatsächlich redet sie durch den Rekurs auf den natürlichen, körperlichen, noch dazu digestiven Vorgang der Profanierung eines faszinierenden Phänomens das Wort. Dabei knüpft sie strukturell an die bereits herrschende Vorstellung an, dass etwas in etwas auf irgendeine Art und Weise hineingenommen wird. Ohne diese Vorstellung ist der Diskurs über das Gedächtnis seit seinen Anfängen nicht zu denken. Schon die Metapher der Seele als Wachstafel weist diese Struktur auf. Die Wachstafel ist, wie es im platonischen Theaitetos heißt, Geschenk der Göttin Erinnerung, die durch sinnliche Eindrücke und den von ihnen deduzierten Bildern und Gedanken bedruckt wird (vgl. Platon 2003, 191d). Dieses (sich) Eindrücken entspricht in seinem Prozeß der Nahrungsaufnahme in Quintilians Text, der ebenso davon spricht, dass etwas in der Seele „eingedrückt“ ist (vgl. Quintilian 2003, S. 173). Auch die Metapher der Volière bedient strukturell das Bild der Magazinierung (vgl. Platon 2003, 197c-d). Das Wissen, das wir erlangen, das wir wie Vögel manchmal zufällig und unter großer Anstrengung wie Jäger erhaschen, wird in den Käfig hinein-

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gesperrt, und wir können darauf zugreifen, wenn wir wollen. Abweichend jedoch vom Zugriff auf ein Magazin besteht immer die Möglichkeit, dass wir es haben, aber nicht besitzen, weil wir uns aus irgendeinem Grund nicht erinnern können, es nicht greifen können, da es sich uns entzieht (zur Wachstafel- und Volièrenmetapher vgl. Berns 2003, S. 531). Auch Quintilian räumt die Möglichkeit ein, dass bisweilen beim Auswendiglernen etwas ,entwischt‘ (vgl. Quintilian 2003, S. 173). Nun stellt der platonische Theaitetos den Aspekt des Auswendiglernens – etwa einer Rede – nicht in den Vordergrund. Dies liegt zum einen daran, dass die Rhetorik zu dieser Zeit durch die Sophisten in Verruf stand. Zum anderen aber geht es Platons Lehre nicht primär darum, eine Gedächtniskunst zu entwerfen, die mit der Vorstellung einer Magazinierung arbeitet. In erster Linie soll die These der Erinnerung als Wiedererinnerung, Anamnesis, gestützt werden. Bei diesem Wissen, das wiedererinnert wird, handelt es sich um das Wissen von den guten und schlechten Dingen bzw. um das Wissen von den Ideen. In Bezug auf dieses Wissen müssen wir uns die Wachstafel vor unserer Geburt als beschrieben, die Volière vor unserer Geburt als gefüllt vorstellen. Bei der Geburt wird die Seele als Wachstafel gelöscht, die Volière geleert. Dennoch besitzen wir latent das Wissen um diese Dinge. Wie die Institutio oratoria wählen zu pädagogischen Zwecken auch Platons Texte Metaphern aus, die das Gedächtnis vergegenständlichen und mit der Vorstellung des leeren zu füllenden Raumes arbeiten. Die Institutio profaniert jedoch die platonischen Metaphern im höchsten Grade schon deshalb, da der Gegenstand der Erinnerung ein anderer ist. Nicht soll man sich an die Ideen erinnern, sondern man soll möglichst viel für den Effekt einer Rede behalten. Umgekehrt kennt die Wachstafelmetapher deshalb den Aspekt der Zurichtung von Dingen und Worten durch Memorieren bzw. Wiederkäuen nicht, der für Quintilians „Gedächtnißkunst“ (Quintilian 2003, S. 173) zentral ist. Von dem sinnlich Wahrgenommenen, was sich schließlich in die Wachstafel einprägt, wird ja erst auf verschiedenen Schritten – wie das Liniengleichnis aus Politeia veranschaulicht (vgl. Platon 1990, Bd. 4, 509c–511e) – die Erinnerung an die Ideen durch Denken wieder vergegenwärtigt. Die Metapher des Gedächtnisses als Magen bzw. Essen und Verdauen, wie sie sich in der Institutio findet, entnimmt von diesen früheren platonischen Bildern nur die strukturelle Ähnlichkeit eines zu füllenden Raumes. Dabei stellt sie sich direkt als eine Invektive gegen die Vorstellung des künstlichen Gedächtnisses dar, wie sie durch die anonmye Schrift Rhetorica ad Herennium populär geworden ist, die etwa 85 v. Chr. als das älteste Lehrbuch der Rhetorik in lateinischer Sprache verfasst wurde. Die Entstehung des Gedächtnisses wird hier auf ein Miteinander von sinnli-

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cher Wahrnehmung, Abstraktion, Imagination und Denken zurückgeführt. Quintilians Text zieht mit dem Bild des Gedächtnisses als Magen nicht gegen die Auffassung des Merkens als einer Kunst zu Felde, denn auch er spricht von einer ars memoriae, eben von der „Gedächtnißkunst“ (Quintilian 2003, S. 173) im Sinne einer unnatürlichen Anstrengung beim Memorieren, insofern selbstdiszipliniert bis an die Grenze des Ekels wiedergekäut werden soll, sondern gegen die Auffassung, es gebe ein künstliches Gedächtnis im Unterschied zum natürlichen Gedächtnis, wie wir in Buch drei der Rhetorica ad Herennium (2003, S. 115) lesen können. Es gibt zwei Arten von Gedächtnis, ein natürliches und ein künstliches. Natürlich ist dasjenige, das unseren Seelen eingepflanzt und zugleich mit dem Denkvermögen angeboren ist. Künstlich ist dagegen jenes, welches durch eine gewisse Hinführung und gezielte Unterweisung erstarkt […].

In Quintilians Text entfaltet das natürliche Gedächtnis seine Stärke durch selbstdisziplinierendes Memorieren in Form von ,künstlichem‘, das heißt bewusstem Wiederkäuen. Dieses ist eine der „künstlichen Art[en], dem Gedächtnis zu helfen“ (Quintilian 2003, S. 169). Hingegen konstruiert die Rhetorica ad Herennium ein recht kompliziertes Örter-Bilder-Verhältnis, in dem Vorstellungskraft und/oder Imaginationsvermögen, cogitatio und imaginatio, miteinander arbeiten und das Gedächtnis formen. Die Örter werden in diesem Denkspiel mit der Wachstafel verglichen (vgl. Rhetorica ad Herennium 2003, S. 117). Der zentrale Unterschied zur Institutio besteht nun darin, dass der leere Raum zu erdenkende Örter sind, die nicht mechanisch aufgefüllt, sondern durch Denkbewegungen und Einbildungskraft konstituiert werden. Das Denken erfindet Örter, Häuser, Säulenzwischenräume, Ecken, Gewölbe, also strukturell hohle Räume, wie einen Magen, in die Bilder hineingesetzt werden, die für Sachen oder für Worte stehen. Die eigentliche Kunst besteht darin, klug Örter und ihre Gegebenheiten zu konstruieren und auch die Bilder zuzurichten. Es wird auch dazu geraten, Bilder zu verformen, zu verfremden und zu entstellen, so dass sie auffällig auf eine Sache/auf ein Wort verweisen, wenn man sie irgendwohin gestellt hat (vgl. Rhetorica ad Herennium 2003, S. 117–123; vgl. Yates 2001, S. 15). Etwa 30 Jahre später, 55 v. Chr., hat Ciceros Schrift De oratore diese loci/imagines-Theorie bekräftigt und dabei auf die Geschichte des Simonides von Keos verwiesen, welcher Erfinder dieser Gedächtniskunst gewesen sei. Seither wird die Fabel von Simonides als Gründungsgeschichte der Gedächtniskunst gelesen. Simonides konnte die Gäste, die während eines Gastmahles durch die herabstürzende Decke bis zur Unkenntlichkeit erschlagen worden waren, nur anhand der Ordnung der Örter identifizieren, in der sie bei Tisch gesessen hatten und an die er sich erinnern konnte (vgl. Cicero 2003, S. 107).

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Die Magenmetapher in der Institutio bricht mit dieser Vorstellung einer recht aufwendigen Gedächtniskunst, denn sie gibt sich explizit als eine Invektive gegen die Auffassung, es gebe ein künstliches Gedächtnis, das in dieser Weise aufgebaut werden könnte. An der alten Gedächtniskunst wird kritisiert, dass das Gedächtnis auf diese Weise „doppelte Arbeit“ (Quintilian 2003, S. 167) habe und sich besonders für das Lernen eines Vortrages nicht eignen würde, müsse man sich doch zusätzlich an die Zeichen bzw. Bilder erinnern und dann noch daran, welches Wort und welche Wortverbindung sie bedeutet haben. Die Geschichte über Simonides von Keos sei ein „Mährchen“ (ebd., S. 161) und „fabelhaft“ (ebd., S. 162). Die Institutio bestreitet die Funktionalität dieser Kunst, da sie dem Gedächtnis zuviel abverlangt und es mit überflüssigen zusätzlichen Erinnerungsanforderungen überlädt. Es gebe „einfachere Mittel“ (ebd., 167), eben das zu Lernende wie Nahrung wiederzukäuen. Das Konzept eines künstlichen Gedächtnisses wird so generell bestritten, indem Merken und Erinnern als natürliche körperliche Funktionen angesehen werden. Die Zurichtung der Bilder im Miteinander von sensus, cogitatio und imaginatio enspricht in Quintilians Text dem Widerkäuen desjenigen, was im Gedächtnis gespeichert und später erinnert werden soll. Die Bestellung der Örter entspricht dem Abfüllen des Magens. Die Magenmetapher will die auf der Hand liegende Frage, auf welche Weise man sich überhaupt wiedererinnert an das, was im Magen – im Gedächtnis – verschwunden ist, nicht beantworten.

3. Gedächtnis und Physiologie Das Gedächtnis als etwas Natürliches erscheinen zu lassen, ist nicht nur ein geschickter pädagogischer Kunstgriff, der die bittere Pille des Auswendiglernens als natürliches Vermögen verkauft. Indem die Institutio das Gedächtnis so profaniert und simplifiziert, kappt sie zudem den platonisch-aristotelischen Traditionsstrang, indem sie das Gedächtnis von der Vorstellungs- und Einbildungskraft emanzipiert. Die Imaginationskraft des Menschen, die etwa in Aristoteles’ Schrift De memoria et reminiscentia von zentraler Bedeutung ist (vgl. Aristoteles 2003, S. 85), fällt unter den Tisch. Das Bild des Menschen, der als einziges Lebewesen Gedächtnis besitzt, weil er Einbildungskraft bzw. Phantasie besitzt und sich insofern vom Tier unterscheidet, wird unter dem Deckmantel der Redekunst demontiert. Die Simplifizierung der im philosophisch-anthropologischen Diskurs kompliziert erscheinenden Vorgänge von Imaginieren und Erinnern durch die Metapher des Essens und Verdauens kündigt zudem jenseits der Rhetorik eine Wendung im Diskurs über das Gedächtnis an: Die

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Institutio bereitet mit dieser Simplifizierung eine Aufwertung des leiblichen Körpers vor, der ja in der hellenistischen Philosophie in seinen physiologischen Funktionen nicht interessierte und sogar als Gefängnis, als carcer der Seele, angesehen wurde. Gleichzeitig wird das Gedächtnis im Vergleich mit den bis dahin bekannten Lehren entmystifiziert, da seine Vorgänge mit physiologischen, noch dazu digestiven Abläufen des Körpers verglichen werden. Auch aber unter Berücksichtigung des medizinischen Diskurses, der mit Galens Opera medica einen Höhepunkt fand, gibt sich die Institutio als eigenwillig. Denn die Opera, die etwa 157 n. Chr. verfasst wurden, erzählen kritisch von Versuchen, Gedächtnisqualitäten auf physiologische Füße zu stellen. Keine Anerkennung finden die Behandlungsmethoden des Arztes Archigenes, der Gedächtnisschwäche auf zuviel Feuchtigkeit im Kopf zurückführt und deshalb Aderlass, Schröpfköpfe und Senfpflaster empfiehlt, die dem Körper Feuchtigkeit entziehen und die Hirnhäute austrocknen sollen (vgl. Galen 2003, S. 181–187). Galen steht diesen Methoden skeptisch gegenüber, da er sich auf physiologische Definitionen des Gedächtnisses nicht festlegen will. Er loziert zwar das Gedächtnis mit Sitz in der Seele, die sich im Hirnkörper befindet, im Unterschied noch zu Aristoteles, der es im Herzen verortete, und beruft sich auf Sektionen (vgl. ebd., S. 189). Gleichzeitig will er aber die Gedächtnisfunktionen nicht rein physiologisch erklärt wissen. Er mahnt, dass man noch zuwenig über die Physiologie des Gedächtnisses wisse, als dass man sichere Heilmethoden anwenden könnte, und folgt ansonsten noch ganz der platonisch-aristotelischen Auffassung, dass das Gedächtnis aus sinnlicher Wahrnehmung und Vorstellungskraft in Form von Denken und Imagination entsteht (ebd., S. 191). Im Unterschied zu einigen seiner Standesgenossen, die das Gedächtnis durch physiologischen Zugriff wie Quintilian entmystifizieren und so auch beherrschbar machen wollen, nimmt Galen es aus seinen sonstigen humoralpathologischen Betrachtungen aus. Auch wenn es scheint, dass unbewussten Vorgängen bei der Entstehung von Gedächtnis auch Gewicht beigemessen wird, spricht deswegen aus Galens Text, der die Lehre von den Körpersäften ja ansonsten für alle möglichen auch seelischen Leiden in Anspruch nimmt, im Grunde noch ganz die Ehrfurcht der Alten vor dieser facultas des Menschen.

4. Augustinus’ ,inwendiger Orth, so doch kein Orth ist‘ Wie entwickelt sich diese Metapher in Texten Augustins? Zu berücksichtigen sind, wie schon erwähnt, vor allem die Confessiones und die Enarrationes in psalmos. Augustins Gedächtnislehre steht bezüglich der Seelenlehre in

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platonischer Tradition, insbesondere was das Verhältnis von sinnlicher Wahrnehmung, Einprägung von Bildern, Einbildungskraft und Erinnerung betrifft. Sie bedient sich des Örter/Bilder-Modells und in besonderer Weise der Magenmetapher. Von Interesse ist zunächst das 10. Buch der Confessiones.3 Das 8. Kapitel dieses Buches ist überschrieben mit dem Titel Die Krafft des Gedächtnus. Die Vorstellung des Gedächtnisses als leerer oder gefüllter Raum findet sich in der Metapher vom „Zeughauß der Gedächtnus“ (Augustinus 2003, S. 355) oder von der „grosse[n] unendliche[n] Kammer“ (ebd., S. 357), die in den „verborgenen Winckel[n]“ (ebd., S. 355) Erinnerungsbilder aufbewahrt. Voraussetzung für die Entstehung dieser Bilder ist, dass sie „durch die Pforten der Sinnen“ (ebd.) dort hineingeführt, oder durch reines Denken, durch Phantasie, gebildet werden. In den Briefen an den Freund Nebridius aus Karthago unterstreicht Augustinus die Bedeutung der Phantasie, der es möglich ist, aus dem, was die Sinne der Seele zugeführt habe, sogar etwas zu konstruieren, „was sie [die Seele] in seiner Gesamtheit niemals sinnlich wahrgenommen hat“ (Documenta Mnemonica 2003, S. 349). Im Unterschied zur Magenmetapher bei Quintilian ist es also wieder die Imagination, die für die Bildung des Gedächtnisses und seiner Inhalte eine große Rolle spielt. In den Confessiones wird zu Beginn des 8. Kapitels auch die Magenmetapher benutzt, hier jedoch als Kehrseite der Erinnerung. Die Zuführung des sinnlich Wahrgenommenen in den Magen malt das Bild der Vergessenheit: „In demselben [im Gedächtnus] ist verborgen auch alles was wir dencken / entweder mit vermehren oder vermindern / oder verändern was die Sinn ergriffen haben / oder wan etwas anders anbefohlen / oder auffbehalten ist / welches die Vergessenheit nicht verschluckt oder begraben hat“ (Augustinus 2003, S. 355). Im Unterschied zum ,Verschlucken‘ beinhaltet das ,Begraben‘ immer noch die Möglichkeit, das Vergessene wieder hervorzuholen; manches nämlich, so heißt es kurz darauf, „weicht“ und wird „wider vergraben / damit es wider herfür gehe / wan ichs begehren werde. Welches alles geschicht / wan ich etwas außwendig erzehle“ (ebd.). Das ,Verschlucken‘ übersetzt das lateinische ,absorbere‘. Dies meint nicht ein sorgsames Zurichten der Nahrung, sondern ein Verschlingen, Hinunterschlürfen, Einschlürfen, Aufsaugen. Im Unterschied zum ,remandere‘, dem ‚Wiederkäuen‘ in Quintilians Text, verbildlicht die Metapher des Essens hier zum einen die Kehrseite der Erinnerung, das Vergessen, das gleichsam als ein affektiver Vorgang erscheint. Zum anderen finden wir eine andere Verwendung des ,absorbere‘ ebenfalls im 8. Kapitel _____________ 3

Hier verwendet in der ersten deutschen Übersetzung von Samuel Johann Vältl aus dem Jahre 1673, Dreyzehn Bücher der Bekandtnüssen.

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am Ende. Hier wird ,absorbere‘ nicht mit ,Verschlucken‘, sondern mit ,Einschlucken‘ übersetzt (vgl. ebd., S. 359). Jedoch wird nicht im Sinne der Institutio der rein mechanische Aspekt hervorgehoben, sondern die Absorption wird mit der Imagination untrennbar verbunden. Das reine ,Einschlucken‘ würde Vergessen bedeuten. Die Bilder aber bewahrt die Vorstellungskraft auf. Die sinnliche Wahrnehmung, wenn man etwa eine Landschaft betrachtet, wird in Bilder übersetzt: „Underdessen in dem ich sie [Berge, Wellen, Flüsse etc.] gesehen / hab ich sie nicht gleichsam eingeschluckt / und sie seynd in der That nicht in mir / sondern nur ihre Gestalten und Bildnüsse / und ich weiß / durch welchen meiner Sinnen alle diese / Sachen in mein Gemüth seynd eingetruckt worden“ (ebd., S. 359). Das ,Einschlucken‘ meint hier in der Tat zum einen die Aufnahme von etwas in das Gedächtnis, das hier unausgesprochen mit dem Magen verglichen wird, zum anderen aber wird darauf hingewiesen, dass beim ,Einschlucken‘ nicht etwas Mechanisches geschieht, sondern die Transformation der sinnlichen Wahrnehmung in Bilder, die Voraussetzung für die Wiedererinnerung ist. Insofern erhält die Metapher des Essens hier einen Wert, den sie in Quintilians Text gerade negieren wollte. Sie wird dazu verwendet, das Zusammenspiel von sinnlicher Wahrnehmung, Einbildungskraft und Denken anzudeuten. Sie knüpft weiter an demjenigen Traditionsstrang, den die Institutio durch ihre Simplifizierung zu durchbrechen suchte. Im 9. Kapitel mit dem Titel Die Gedächtnuß der Wissenschaften erhält der Magen ebenfalls eine Funktion in diesem Beschreibungsmodell. Man erinnert sich an Dinge, die man einmal sinnlich wahrgenommen oder die man erlebt hat, wie an eine „Speise / welche / ob sie schon keinen Geschmack mehr hat / wan sie in unserm Magen ist / doch noch einen Geschmack in unserm Gedächtnuß behält“ (vgl. ebd., S. 359). Der Magen ist nicht Ort des ,Einschluckens‘ und Ort des Verschwindens, sondern er nimmt metaphorologisch an dem bereits beschriebenen Prozess der Konstruktion von ,Bildnussen‘ teil. Der in diesem Kapitel erwähnte „inwendige[n] Orth / so doch kein Orth ist“ (ebd.), ist gleichzusetzen mit einem Magen, der durch Qualitäten geadelt ist, die nur der Mensch im Unterschied zum Tier besitzt. Ein besonderes Verdauen findet statt und liefert das Bild für die Wirkungsweise von Einbildungsvermögen und Phantasie. Die Magenmetapher erfährt schließlich in Augustinus’ Enarrationes in psalmos eine besondere Funktion. Hier wird sie verwendet, um das Gedenken an Gott zu beschreiben. Die Lektüre oder das Hören der heiligen Schrift gleicht dem Wiederkäuen von Brot. Das Brot steht für das Wort Gottes. Wenn man Gottes Wort hört oder liest, so kaut man, wenn man

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darüber nachdenkt, so käut man wieder. So erweist man sich als reines, das heißt gläubiges, nicht als unreines, ungläubiges Lebewesen.4 Die Lektüre, die lectio – ob es sich um Schriftzeichen handelt oder um etwas Gehörtes bleibt sich gleich –, führt durch das Wiederkäuen, die ruminatio, zur Erinnerung Gottes, der memoria. Wie in den Confessiones wird das ,Verschlucken‘ – hier lateinisch ,gluttere‘ – zur Metapher der Vergesslichkeit, und zwar der Gottvergessenheit. Wer Gottes Wort ,verschluckt‘ und es vergisst, ist ein Tor. In diesem Sinne schrieb die Benediktus-Regel aus dem 6. Jahrhundert vor, dass während des Essens vorgelesen, Essen und meditatio miteinander verbunden werden sollten. Der überlebensnotwendige körperliche Akt der Nahrungsaufnahme spiegelt sich im gleichzeitigen geistigen Vorgang der meditativen Übung, und beides fließt gleichsam ununterscheidbar ineinander. Erst in dieser lectio divina wird der allegorische bzw. moralische Sinn des Textes aufgefunden. Die Verwendung der Magenmetapher für die Beschreibung der christlichen Glaubensversicherung dient auch pädagogischen und paränetischen Zwecken. Ein sinnfälliger und notwendiger Überlebensakt ist mit einem geistig-spirituellen Vorgang gleichgesetzt. Die Metapher ist dabei nicht mehr nur, wie bei Quintilian, profanes integumentum für den Akt des Auswendiglernens von irgendetwas, sondern der Gegenstand des Aufzunehmenden ist von entscheidender Bedeutung. Das Wiederkäuen bezieht sich immer auf die christliche exercitatio. Außerdem vollzieht sich eine Entmetaphorisierung, da die Sache selbst praktiziert wird. Das Gedenken wird bei der realen Nahrungsaufnahme vorgenommen. Es wird tatsächlich gegessen. Soll in Quintilinas Text das Wiederkäuen bis zur Grenze des ,Eckels‘ getrieben werden und ist vom Genuß nicht die Rede, so führt die ruminatio in echter Digestion zur Erbauung, zur delectatio.

5. Fazit Wie wir gesehen haben, nahm Quintilians Institutio mit der Verwendung der Magenmetapher für Merken und Erinnern einen Angriff auf die kurrenten Gedächtniskünste samt ihren menschenbildlichen Implikationen vor. Denn immer auch steht, wenn man über das Gedächtnis spricht, die Seelenlehre auf dem Spiel. Das Gedächtnis wird über die Magenmetapher profaniert, die Aspekte des Denkens und der Imaginationskraft beim Erinnern ausgeblendet bzw. sie verschwinden im Bild des undurchdringli_____________ 4

„Panis est enim verbum Dei […]. Quando enim audis, aut quando legis, manducas; quando inde cogitas, ruminas, ut sis animal mundum, non immundum […]. Qui autem non est oblitus, cogitat, et cogitando ruminat, ruminando delectatur“ (Augustinus, Enarrationes in Psalmos, Sp. 386).

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chen Aktes des Verdauens. Die Metapher beweist in Quintilians Text ihre Besonderheit darin, dass selbst Galens Opera medica, etwa 60 Jahre nach der Institutio verfasst, entgegen dem sich entwickelnden medizinischen Diskurs das Gedächtnis noch nicht aus rein physiologischer Perspektive sehen wollten. Diese erfährt schließlich in den Texten Augustinus’ gegenüber Quintilians Institutio eine Aufwertung, zum einen, da sie in die Phantasietheorie des Gedächtnisses Eingang findet, zum anderen, da sie in den Vorschriften religiöser Exerzitien ihren besonderen Ort erhält, da Gedenken und tatsächliches Verzehren gleichzeitig praktiziert werden. Die Magenmetapher als Bild für das Gedächtnis als bloßes Magazin – wie Quintilian sie verwendet – reduziert das Gedächtnis auf eine reine Funktionseinheit. Allerdings geschieht auch im Magen etwas, das man nicht sehen kann. Insofern eignet er sich, um das Gedächtnis trotz seiner leiblichen Hypostasierung als etwas Geheimnisvolles und Ungreifbares darzustellen, als einen ,inwendigen Orth, so doch kein Orth ist‘.

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Literatur Augustinus: „Confessiones: Dreyzehn Bücher der Bekandtnüssen.“ 1673, übersetzt von Samuel Johann Vältl. In: DocMem, S. 353–388 [Auszüge]. Augustinus: „Enarrationes in Psalmos XXXVI. Sermo III.“ In: Patrologia Latina. Bd. 36. Editio novissima, emendata et auctior. Accurante Migne, Jacques-Paul. Tournout: Brepols o. J. Berns, Jörg Jochen: „Nachwort.“ In: DocMem, S. 523–597. Butzer, Günter: „Pac-man und seine Freunde. Szenen aus der Geschichte der Grammatophagie.“ In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 72 (1998), Sonderheft Medien des Gedächtnisses, S. 228–244. Documenta Mnemonica. Bd. I, 1: Gedächtnislehren und Gedächtniskünste in Antike und Frühmittelalter [5. Jahrhundert v. Chr. bis 9. Jahrhundert n. Chr.]. Dokumentsammlung mit Übersetzung, Kommentar und Nachwort. Hrsg. v. Berns, Jörg Jochen. Unter Mitarbeit von Czapla, Ralf Georg und Arend, Stefanie. Tübingen: Niemeyer 2003 [= DocMem]. Cicero: „De oratore: Drey Gespräche von dem Redner.“ Übersetzt von Johann Michael Heinze (1762). In: DocMem, S. 103–112 [Auszüge]. Galen: „Opera medica.“ In: DocMem, S. 177–192 [Auszüge]. Platon: Werke in acht Bänden. Griech./dt. Hrsg. v. Eigler, Gunther. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1990. Plato Latinus / Marsilio Ficino: „Theaitetos.“ (1491). In: DocMem, S. 57 bis 80 [Auszüge]. Quintilian: „Institutio oratoria: Lehrbuch der schönen Wissenschaften in Prosa.“ Übersetzt von Heinrich Philipp Conrad Henke (1775–1777). In: DocMem, S. 157–176 [Auszüge]. Anonymus: „Rhetorica ad Herennium.“ In: DocMem, S. 113–126. Seneca: L. Annaei Senecae ad Lucilium Epistulae morales. Recognovit et adnotatione critica instruxit Reynolds, L. D. Tomus I: Libri I–XIII. Oxford: Oxford Univ. Press 101991. Yates, Frances A: Gedächtnis und Erinnern. Mnemonik von Aristoteles bis Shakespeare. 6. Aufl. Berlin: Akademie Verlag 2001.

Günter Butzer

Physiologie der Imitation Zur Vorgeschichte der Genieästhetik When you’re young, you find inspiration in anyone who’s ever gone. Pet Shop Boys This essay is about a complex physiological metaphor of memory that is understood as a model for cultural self-description. It serves to represent cultural practices, i.e. certain techniques of the reception and production of texts which are found both in the monastic and the humanistic traditions. On the one hand, it is shown that the physiological model of memory represents a fundamental discourse within the antique (Seneca, Quintilian) and humanistic (Petrarca, Erasmus) theories of imitation. On the other hand, it is shown how this model, in the context of religious/meditative poetry, is linked with the idea of inspiration (Greiffenberg) and thus leads to a conception of ingenious imitation as a precursor of the Genieästhetik (aesthetics of genius) of the eighteenth century. Finally, it is proposed that by including the process of forgetting as excretion and the problem of dyspepsia causing melancholy, the physiological model of memory paves the way for modern aesthetics (Nietzsche, Huysmans).

Je weiter die neuropsychologische und -biologische Forschung die Einsicht in die physiologischen Grundlagen des Gedächtnisses vertieft, desto mehr löst sich die Vorstellung von einem einheitlichen Gedächtnis auf zu Gunsten einer lokalen und funktionalen Differenzierung unterschiedlicher ‚Gedächtnisse‘ im Gehirn (vgl. Roth 2001, Markowitsch 2002).1 ‚Gedächtnis‘ schlechthin, so scheint es, wird dadurch zu einer Metapher, deren Leistung weniger darin besteht, ‚Denkmodelle‘ für die wissenschaftliche Forschung zu liefern,2 als darin, kulturelle Prozesse imaginativ zu model_____________ 1

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Die gegenwärtige Forschung ist weit davon entfernt, physiologische gegen mentale bzw. soziale Faktoren bei der Ausbildung und Regulierung des Gedächtnisses auszuspielen. Neuere Studien von neurobiologischer wie von sozialpsychologischer Seite zeigen die zunehmende Tendenz, das Zusammenspiel beider Faktoren nicht nur zu postulieren, sondern wissenschaftlich zu untersuchen. Vgl. Bauer 2002 und Welzer 2002. So die These der Arbeiten zur Gedächtnismetaphorik von Weinrich 1976 und Assmann 1991.

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lieren.3 Dem gemäß möchte der folgende Beitrag zeigen, dass es sich bei der hier zu untersuchenden physiologischen Gedächtnismetaphorik um ein Modell kultureller Selbstbeschreibung handelt – um einen Modus der Symbolisierung von kulturellen Prozessen also, die ohne diese Symbolisierung nicht sichtbar würden, ja streng genommen überhaupt nicht vorhanden wären. Das metaphorische Modell einer physiologischen Memoria, dessen ‚reale‘ Ursprünge ich zumindest andeuten werde (vgl. Abschn. 5), dient mithin der Konzeptualisierung kultureller Praktiken – in diesem Fall: eines bestimmten Verfahrens der Textrezeption und -produktion –, die nicht verifiziert oder falsifiziert werden kann, weil sie ein Element des sozialen Imaginären bildet, dessen Wesen darin besteht, durch Faktizität zumindest nicht unmittelbar tangiert zu werden; dass es gleichwohl an historisch-diskursive Veränderungen geknüpft bleibt, ist damit keineswegs ausgeschlossen, ja geradezu notwendig (vgl. Butzer 2005).

1. In einer Hieronymus zugeschriebenen hochmittelalterlichen Mönchsregel heißt es: „Wie das Rülpsen, das aus dem Magen hervorbricht, der Beschaffenheit der Speise entspricht und wie die Bedeutung eines Hauchs für die Gesundheit an dessen Süße oder Gestank abzulesen ist, so bringen auch die Gedanken des inneren Menschen Worte hervor, und aus der Fülle des Herzens beginnt der Mund zu sprechen (Lk 6,45). Der gerechte Mensch füllt essend seine Seele. Und wenn er mit heiliger Lehre voll ist, bringt er aus der Schatzkammer seines Gedächtnisses gute Dinge hervor.“4 Das überlieferte, aus der Rhetorik bekannte Bild der memoria als Schatzkammer (thesaurus) wird hier in besonderer Weise verändert, indem es mit der Physiologie der Verdauung in Beziehung gesetzt wird. Das dem Gedächtnis Anvertraute erfährt eine Transformation, so wie die Nahrung während des Verdauungsvorgangs verändert wird, um dadurch erst für den Körper verwertbar zu sein. Bei der heiligen Lehre, die einverleibt wird, handelt es sich vornehmlich um die Texte der heiligen Schrift, und was hervorgebracht wird, die „guten Dinge“, sind, wie das Lukas-Zitat (Luther über_____________ 3 4

Zur Trennung von individuellem, psychologisch und biologisch zu erforschendem Gedächtnis und Gedächtnis als sozio-kulturellem Konstrukt vgl. auch Pethes 2001 und Esposito 2002, S. 12–19 (mit unterschiedlicher Akzentsetzung). „Quomodo ergo juxta qualitatem ciborum de stomacho ructus erumpit, et vel boni, vel mali odoris flatus indicium est, ita interioris hominis cogitationes verba proferunt, et ex abundantia cordis os loquitur (Lk. 6:45). Justus comedens replet animam suam. Cumque sacris doctrinis fuerit satiatus, de boni cordis thesauro profert ea quae bona sunt“ (Migne 1841 bis 1864, Bd. 30, Sp. 365B). Vgl. zu diesem Text Carruthers 1990, S. 166.

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setzt: „Denn wes das Hertz vol ist / des gehet der Mund vber“, vgl. Baeumer 1971) deutlich macht, ebenfalls Worte. Der hier beschriebene Vorgang wäre demnach als Modell der Textproduktion zu verstehen: Der Mönch verleibt sich die heilige Schrift ein, eignet sie sich verdauend an und speit neue Worte aus, die, wie der Kontext deutlich macht, Worte des Gebets sind. Man möchte meinen, dass es sich bei dem zitierten Beispiel um eine Absonderlichkeit der Mönchskultur handele. Dass dem nicht so ist, zeigen etwa zahlreiche Gedichte des französischen Renaissancedichters Pierre de Ronsard, in denen die lyrische Äußerung als Rülpsen (roter), Erbrechen (dégorger) und Ausspeien (vomir) bezeichnet wird (vgl. Jeanneret 1987, S. 107–131). Oftmals verwendet Ronsard solche Formulierungen in Verbindung mit heftigen Affekten, so wenn er davon spricht, die alten Väter erbrächen die Gegenwart der Götter durch den Strom ihrer Predigten („Peres vieus / Dégorgeant le present des Dieus“, Ode xxvii, V. 43f.; Ronsard 1920–1975, Bd. 2, S. 85), oder wenn er schreibt, das Monster des Zorns zwinge ihn, bittere Flammen auszuspeien („Je vomissoi les aigres flambes“, Ode à Melin de Saint Gelais, V. 119; ebd., Bd. 5, S. 171). Bisweilen ist es auch der Fiebertraum, oder gleich der Wahnsinn, der ihn dazu bringt, Worte zu erbrechen, die er nicht sagen würde, wenn er bei Troste wäre.5 Die Vermutung, hier liege eine Metaphorik satirischer Distanzierung vor, relativiert sich jedoch durch die Tatsache, dass Ronsard den poetischen Produktionsprozess mit derselben Bildlichkeit beschreibt: Der Dichter füllt sich den hungrigen Magen mit Nahrung, ja er saugt sich voll wie ein Blutegel, bis sein Hunger gestillt ist, und erbricht dann seine Verse (vgl. ebd., Bd. 10, S. 37).6 Schließlich kann auch, wie die ii. Ode belegt, der furor poeticus auf ähnliche Weise geschildert werden: Aufgewühlt von Raserei, das Fellhaar gesträubt vor Entsetzen, ist die Seele des Dichters angefüllt mit einem Feuer, der Magen zieht sich zusammen, und die Stimme kann sich kaum nach draußen erbrechen; doch wenn es gelingt, so tritt der süße Honig des Gesangs hervor, an dem jene Göttin sich labt, die ihn zuvor befallen hat.7 _____________ 5 6

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„Et recevez ces vers comme venant d’un homme / Qui resve ayant la fiebvre, ou frenetique, ou comme / D’un à qui la douleur fait dégorger en vain / Des mots qu’il ne diroit il seroit bien sain“ (Complainte contre fortune, V. 445–448; Ronsard 1920–1975, Bd. 10, S. 37). So ist es auch möglich zu schreiben, ein erhabener Stil werde „ausgerülpst“ („A roter un stile si haut“; Ode xviii, V. 21; ebd., Bd. 2, S. 49). In der selben Ode ist davon die Rede, dass ein Dichter von zu schwacher Konstitution nicht in der Lage sei „De vomir des livres parfaits“ (V. 9). „Je suis troublé de fureur, / Le poil me dresse d’horreur, / D’une ardeur mon ame est pleine: / Mon estomac est pantois, / Et par son canal ma vois / Peut se degorger à peine, / Une deité m’emmeine: / Fuiez peuple, qu’on me laisse, / Voici venir la déesse / Je la sen entrer en moi: / Heureus celui qu’elle garde, / Et celui qui la regarde / Dans son temple où

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Die folgenden Ausführungen unternehmen den Versuch, die beiden hier beispielhaft angeführten Felder der monastischen Lektüre und der humanistischen Poesie zusammenzuführen. Dabei möchte ich zum einen zeigen, inwiefern das physiologische Gedächtnismodell, das Merken als Einverleibung, Gedächtnis als Verdauung und Erinnerung als Ausspeien konzipiert (vgl. Butzer 1998), einen zentralen Bereich der antik-humanistischen imitatio-Auffassung betrifft – dass es mithin eine Physiologie der Imitation gibt, die an ein solches körperliches Gedächtnismodell gebunden ist. Zum anderen möchte ich darlegen, wie dieses physiologische Modell der Imitation im Kontext religiös-meditativer Poesie mit dem Gedanken der Inspiration in Verbindung gebracht werden kann und so die Vorstellung einer Art genialischer Imitation aufscheinen lässt.

2. Das Verfahren der imitatio ist seit der römischen Antike eines der Textrezeption und Textherstellung gleichermaßen: Ohne die Kenntnis und Verarbeitung vorbildlicher Texte, so ließe sich ihr Grundsatz formulieren, ist keine kreative Textproduktion möglich (vgl. Cizek 1994). Die Doktrin der imitatio verschränkt also die beiden fundamentalen Kulturtechniken des Lesens und Schreibens derart, dass das schreibende Hervorbringen neuer Texte ohne die Lektüre vorhandener Texte als schlechterdings unmöglich postuliert wird. Nicht von ungefähr bildet deshalb die Konzeption des Lesens eine Grundsäule der Imitation, die, so hat es manchmal den Anschein, als wichtiger erachtet wird als der eigentliche Produktionsakt. Betrachtet man diese Konzeption des Lesens, wie sie vor allem in den Rhetoriklehrbüchern behandelt wird, näher, so stößt man auf eine Essensund Verdauungsmetaphorik, die demselben Bildfeld zugehört wie diejenige der eingangs zitierten Mönchsregel. So schreibt Quintilian über die rechte Art des Lesens: „Zurückgreifen aber wollen wir und grundsätzlich es [sc. die Texte] immer wieder neu vornehmen, und wie wir die Speisen zerkaut und fast flüssig hinunterschlucken, damit sie leichter verdaut werden, so soll unsere Lektüre nicht roh, sondern durch vieles Wiederholen mürbe und gleichsam zerkleinert unserem Gedächtnis und Vorrat an Mustern zur Nachahmung einverleibt werden.“8 Die Forderung nach Wieder_____________

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je la voi. // Goutant le miel de mes chants, / Ell’ me guide par les champs“ (Ode ii, V. 1 bis 15; ebd., S. 65f.). Vgl. dazu Horaz, carm. III, 25: „Quo me, Bacche, rapis tui / plenum? quae nemora aut quos agor in specus / velox mente nova?“ „[…] repetamus autem et tractemus et, ut cibos mansos ac prope liquefactos demittimus, quo facilius digerantur, ita lectio non cruda, sed multa iteratione mollita et velut confecta memoriae imitationique tradatur“ (Quintilian 1975, X, 1, 19).

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holung zeigt an, dass diese Art des zerkleinernden, verflüssigenden Lesens – das wird noch von Wichtigkeit sein – als Übung (exercitatio) verstanden wird. Es geht nicht, wie etwa in der mnemotechnischen loci-imagines-Lehre, um das möglichst wortgetreue Aufbewahren der gelesenen Texte, sondern um deren Aneignung und Verarbeitung. Dieses Gedächtnis ist, wie dasjenige der Mönche, keine bloße Schatzkammer, die Wertvolles aufbewahrt, es ist ein Magen, der Aufgenommenes transformiert und verwertet. Doch wie sehen dann die daraus entstehenden „Muster zur Nachahmung“ aus, von denen Quintilian spricht? Verweisen sie nicht letztlich doch auf ein Reservoir an auswendig gelernten Formeln, an Topoi, das dem Textproduzenten (in diesem Fall: dem Redner) als durchaus äußerlicher Vorrat zur Verfügung steht? Zu dieser Frage äußert sich einer der klassischen Texte der imitatioLehre, Senecas 84. Brief an Lucilius. Seneca diskutiert hier, scheinbar jenseits des rhetorischen und poetischen Kontexts, ein Problem, das man am besten mit ‚Die Ethik des Lesens‘ überschreiben könnte. Er fordert, ganz im Sinne des hier explizierten Zusammenhangs: „Wir dürfen weder nur schreiben noch nur lesen: das eine (die Schriftstellerei) wird die Kräfte verzehren und erschöpfen, das andere (die vielfältige Lektüre) sie auflösen und verströmen lassen. Im Wechsel muß man sich hierhin und dorthin begeben und das eine mit dem anderen im rechten Verhältnis mischen, damit die Schriftstellerei, was immer man bei der Lektüre zusammengelesen hat, in ein Ganzes einbringe.“9 Berühmt geworden ist diese Passage, weil hier in paradigmatischer Weise ein Modell der imitatio entwickelt wird, das sich unter dem Namen des Bienengleichnisses als äußerst wirkungsträchtig erweisen sollte. Seneca vergleicht nämlich die Wechselbeziehung von Lesen und Schreiben mit der Tätigkeit der Bienen, die umherfliegen, die Blüten aussaugen und daraus Honig gewinnen.10 Die entscheidende Frage, die sich Seneca stellt, kann jedoch im Rahmen der antiken Naturkunde nicht beantwortet werden: Ist der Saft, den die Bienen aus den Blüten holen, bereits Honig, oder wandeln sie das Gesammelte um „durch eine Art von Mischung und die Eigenart ihres Wesens [mixtura quadam et proprietate spiritus sui]“ (Seneca 1999, ep. 84, 4). _____________ 9

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„Nec scribere tantum nec tantum legere debemus: altera res contristabit uires et exhauriet, de stilo dico, altera soluet ac diluet. Inuicem hoc et illo commeandum est et alterum altero temperandum, ut quicquid lectione collectum est, stilus redigat in corpus“ (Seneca 1999, ep. 84, 2). „Apes, ut aiunt, debemus imitari, quae uagantur et flores ad mel faciendum idoneos carpunt, deinde quicquid attulere, disponunt ac per fauos digerunt et, ut Vergilius noster ait, liquentia mella stipant et dulci distendunt nectare cellas“ (Seneca 1999, ep. 84, 3). Vgl. den locus classicus des Bienengleichnisses bei Horaz, carm. IV, 2, V. 27–32, der wiederum von Ronsard in seinem Gedicht À Monsieur des Caurres, sur son Livre de Miscellanees imitiert wird (vgl. Ronsard 1993–1994, Bd. 2, S. 1137). Vgl. Stackelberg 1956.

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Damit ist die Alternative klar vor Augen gestellt: Das lesende Schreiben der imitatio ist entweder Zusammenlesen selbständiger Teile, die nicht verändert werden, oder deren Mischung, die durch die Besonderheit des Sammelnd-Lesenden transformiert wird. Seneca neigt ganz offensichtlich der zweiten Variante zu, wenn er fordert, wir sollten durch „Sorgfalt sowie Einfallsreichtum unseres Verstandes […] in einen einzigen Geschmack jene verschiedenartigen Lesefrüchte zusammenfließen lassen; dadurch wird es – auch wenn deutlich ist, woher es stammt – dennoch offenkundig etwas anderes sein als das, woher es genommen ist“.11 Um diese verschmelzende, durch das ingenium hindurchgehende Tätigkeit vorzustellen, benutzt Seneca jenes physiologische Modell, das Quintilian für die Lektüre verwendet. Seneca schreibt: „Lebensmittel, die wir zu uns genommen haben, sind, solange sie in ihrer ursprünglichen Beschaffenheit verharren und unverdaut im Magen schwimmen, eine Belastung; hingegen wenn sie sich von dem ursprünglichen Zustand weg verwandelt haben, dann erst gehen sie in Kräfte und Blut über. Dasselbe wollen wir bei dem leisten, womit unser Geist genährt wird – was immer wir aufgenommen haben, nicht unverändert zu lassen, damit es nicht fremd bleibt. Verdauen wir es: sonst geht es nur in unser Gedächtnis über, nicht in unser Wesen.“12 Im Unterschied zu Quintilian stellt Seneca memoria und ingenium als konkurrierend einander gegenüber: Für ihn scheint das Gedächtnis nicht mehr als ein Speicher zu sein, der das Gesammelte aufbewahrt und allenfalls ordnet: ein auf Reproduktion angelegtes Gedächtnis, wie es das Ideal der loci-imagines-Lehre darstellt (vgl. Yates 1990, S. 11–33). Die Aufgabe der verändernden Aneignung wird von Seneca allein dem ingenium zugeschrieben. Die Leistung späterer Autoren wird es sein, diese transformierende Tätigkeit als genuines Verfahren des Gedächtnisses zu fassen. Das zeichnet sich schon bei Quintilian ab und verstärkt sich in jener monastischen Lektüre-Konzeption, die in der eingangs zitierten Mönchsregel bereits angedeutet wurde. Im besonderen handelt es sich hier um das Programm eines wiederkäuenden, ruminierenden Lesens, wie es die lectio divina, die meditative Lektüre der heiligen Schrift, vorschreibt: Der Text wird lesend verzehrt, er wird in einzelne Segmente zerstückelt, die für sich zerkaut und in den Magen des Gedächtnisses aufgenommen werden; von _____________ 11

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„[…] nos quoque has apes debemus imitari et quaecumque ex diuersa lectione congessimus, separare, – melius enim distincta seruantur –, deinde adhibita ingenii nostri cura et facultate in unum saporem uaria illa libamenta confundere, ut etiam si apparuerit, unde sumptum sit, aliud tamen esse quam unde sumptum est, appareat“ (Seneca 1999, ep. 84, 5). „[…] alimenta, quae accepimus, quamdiu in sua qualitate perdurant et solida innatant stomacho, onera sunt; at cum ex eo, quod erant, mutata sunt, tum demum in uires et in sanguinem transeunt. Idem in his, quibus aluntur ingenia, praestemus, ut quaecumque hausimus, non patiamur integra esse, ne aliena sint. Concoquamus illa: alioquin in memoriam ibunt, non in ingenium“ (Seneca 1999, ep. 84, 6–7).

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dort werden sie immer wieder hervorgeholt und wiedergekäut, bis sie allmählich ihren Nährwert freigeben, der dann dem Wesen des Meditanten assimiliert wird (vgl. Leclercq 1963, S. 23–26 und 84–86; Ruppert 1977). Die Aufgabe dieser wiederkäuenden Lektüre bildet die Extraktion des geistlichen, insbesondere moralischen Schriftsinnes, welcher durch den anhaltenden und wiederholten Akt der Verdauung verinnerlicht und eingeübt werden soll. Dieses meditative Lesen stellt eine – und für die Mönchskultur darf man sagen: die vornehmste – geistliche Übung (exercitium spirituale) dar, und so kann man an diesem Punkt verfolgen, wie aus dem rhetorisch-ethischen Exerzitium des Lesens bei Quintilian, das ja ebenfalls als wiederholende Aneignung aufgefasst wird, über verschiedene Stationen – am prominentesten ist hier wohl Cassiodor – das christliche Exerzitium der lectio divina entsteht.13

3. Das Ziel rhetorisch-poetischer imitatio, die Hervorbringung eigener Texte, scheint dabei vollständig aus dem Blickfeld geraten zu sein. In der lectio divina steht der Vorgang der Einverleibung und Verdauung als Inkorporation ins Gedächtnis im Vordergrund; ihre primäre Aufgabe ist nicht die Produktion von Texten, sondern die Ausbildung eines religiösen Habitus – sie ist nicht auf Poiesis, sondern auf Praxis ausgerichtet (plakativ formuliert: nicht imitatio auctorum, sondern imitatio Christi; ich komme darauf zurück). Dass sich dennoch beide Linien zusammenführen lassen und daraus sogar noch ein poetologischer Mehrwert zu schlagen ist, sollen die folgenden Überlegungen zur Physiologie der imitatio im Humanismus zeigen. Als erstes ist hier auf Petrarca einzugehen. Dass dieser das vielleicht originellste humanistische imitatio-Konzept entwickelt hat, ist bekannt (vgl. Gmelin 1932, S. 118–127). Weniger bekannt ist, dass sich dieses Konzept neben antiken Quellen auch aus monastischen Praktiken (im wahrsten Sinne des Wortes) speist. Unter dieser Fragestellung erscheint neben der oft herangezogenen Briefstelle (Familiares, I, 8), die das Bienengleichnis in engem Anschluss an Seneca ausführt, eine andere Passage von Bedeutung, in der Petrarca seine Version einer physiologischen imitatio vorstellt. Über seine Lektüre der lateinischen Klassiker schreibt er: „Am Morgen aß ich, was ich am Abend verdauen wollte; als Knabe verschluckte ich, was ich als _____________ 13

Vgl. Marcus Aurelius Cassiodorus, De artibus ac disciplinis liberalium litterarum. In: Migne 1841–1864, Bd. 70, Sp. 1167. Zum Zusammenhang von Rhetorik und Ethik des Lesens im Übergang von der Antike zum Mittelalter vgl. Butzer 2007, Ms. S. 79–81.

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erwachsener Mann wiederkäuen wollte.“14 Wie die ruminatio-Metapher deutlich macht, entwirft Petrarca hier das Bild einer meditativen Lektüre der kanonischen auctores, in dem antike imitatio und christliche ruminatio eine enge Verknüpfung eingehen. Das wird noch deutlicher in der Fortsetzung, wenn Petrarca die Aneignung der klassischen Texte als Wesensverschmelzung beschreibt. In einer Steigerungsfigur spricht er davon, er habe sich die Texte derart anverwandelt, dass diese nicht nur in sein Gedächtnis eingegangen, sondern in sein innerstes Mark eingedrungen und dadurch mit seinem ingenium verschmolzen seien.15 Die eigentliche Pointe dieser Konzeption besteht nun darin, dass Petrarca erklärt, die Texte seien so tief im Innersten seiner Seele verwurzelt, dass er bisweilen den Autor vergesse und das Fremde für das Eigene halte.16 Die Frage erscheint naheliegend, inwiefern man bei Petrarca überhaupt noch von imitatio sprechen kann, wenn das zu imitierende Werk nicht mehr als solches erkennbar ist? Indessen liegt es in der Logik des physiologischen imitatio-Modells, dass die vollkommene Aneignung und Verarbeitung des aufgenommenen Texts diesen als selbstständige und distinkte Einheit zum Verschwinden bringt – so wie die aufgenommene Nahrung genau dann ihren Zweck erfüllt hat, wenn sie Teil des aufnehmenden Körpers geworden ist. Der Vorteil der physiologischen Gedächtnismetaphorik besteht demnach darin, dass sie es erlaubt, den Merk-, Speicherungs- und Erinnerungsprozess zu dynamisieren. So könnte man sagen, dass die mixtura-Konzeption Senecas quasi beim Magen stehen bleibt (die imitierten Elemente werden gemischt, aber sind noch unterscheidbar), während Petrarcas Gedächtnis, im Anschluss an die monastische ruminatio-Konzeption, die imitierten Elemente vollständig verdaut, in Fleisch und Blut überführt und damit als fremde unkenntlich werden lässt. An diesem Punkt verwischt sich aber auch die Grenze von Gedächtnis und Vergessen. Denn konsequent zu Ende gedacht, impliziert Petrarcas Vorstellung, dass die perfekte Aneignung die fremden Texte derart assimi_____________ 14 15

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„[…] mane comedi quod sero digererem, hausi puer quod senior ruminarem“ (Petrarca 1933–1942, Bd. 4, ep. XXII, 2). Vgl. auch ebd., Bd. 1, ep. I, 8: „Tibi quoque si qua legendi meditandique studio repereris, in favum stilo redigenda suadeo“. „Hec se michi tam familiariter ingessere et non modo memorie sed medullis affixa sunt unumque cum ingenio facta sunt meo, ut etsi per omnem vitam amplius non legantur“ (ebd., Bd. 4, ep. XXII, 2). Der Bezug zu Seneca, ep. 84, 6 (vgl. oben Anm. 12) ist offensichtlich. „[…] ipsa quidem hereant, actis in intima animi parte radicibus, sed interdum obliviscar auctorem, quippe qui longo usu et possessione continua quasi illa prescripserim diuque pro meis habuerim, et turba talium obsessus, nec cuius sint certe nec aliena meminerim“ (Petrarca 1933–1942, Bd. 4, ep. XXII, 2). Bei Seneca hieß es noch: „[…] ut etiam si apparuerit, unde sumptum sit, aliud tamen esse quam unde sumptum est, appareat“ (Anm. 11). An dieser Stelle geht bei Petrarca die imitatio der imitatio-Doktrin Senecas in die eigene Konzeption der imitatio über – womit der Text genau das vollzieht, was er propagiert.

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liert, dass sie dem Vergessen anheimfallen: Der Imitierende weiß nicht mehr, dass er imitiert.

4. Die Gegenüberstellung von memoria als bloß bewahrendem und ingenium als schöpferischem Vermögen begegnet, wie gezeigt, schon bei Seneca.17 Dessen Konzept der verdauenden Aneignung ist indessen ebenso wenig wie das monastische Programm der ruminatio gegen das Gedächtnis gerichtet; vielmehr zielen beide auf die Verbesserung der memoria durch Verinnerlichung: Was das Gedächtnis nur äußerlich und rational verfügbar halte, werde durch die meditativ-verdauende Verarbeitung in Fleisch und Blut überführt und dadurch weit besser ‚gemerkt‘ als das nur Gewusste, weil es nicht nur gewusst, sondern praktiziert wird. Petrarca geht jedoch einen entscheidenden Schritt weiter, wenn er bemerkt, die gelungene Aneignung mache es geradezu unmöglich, noch zwischen der nachgeahmten Autorität und der eigenen Person zu unterscheiden; Fremdes und Eigenes können nicht mehr auseinandergehalten werden – weshalb es nicht verwunderlich erscheint, wenn man gerade diejenigen auctores, denen man am meisten verdanke, am gründlichsten vergesse.18 Hinter dieser Korrelation von ingenium und oblivio wird eine Programmatik genialischer Nachahmung sichtbar, die sich bis zu den Konzeptionen der Genieästhetik des 18. Jahrhunderts verfolgen ließe und die dieser weit näher kommt als die Rede vom ungebildeten Naturgenie:19 Es geht _____________ 17 18

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Vgl. die oben zitierte Stelle aus Seneca, ep. 84, 7: „Concoquamus illa: alioquin in memoriam ibunt, non in ingenium.“ Dem gemäß schreibt Montaigne im Essai De la présomption über seine Lektüre: „[…] ce qui m’en demeure, c’est chose que je ne reconnais plus être d’autrui; c’est cela seulement de quoi mon jugement a fait son profit, les discours et les imaginations de quoi il s’est imbu“ (Montaigne 1965, Bd. 2, S. 411). Unter der Hand vollzieht Montaigne allerdings eine weitreichende Verschiebung gegenüber der Position Petrarcas, indem er das produktive, aus vollkommener Verinnerlichung hervorgehende Vergessen (oubli) mit der schieren Vergesslichkeit (distraction) vermengt (vgl. Butzer 2001, S. 27–30). Beruht der meditative oubli auf der vollständigen Assimilation des Vorbilds und damit auf der gelungenen Überführung von Dogma in Ethos, so scheitert die distraction bereits vor der simplen Aufgabe des Memorierens – und was nicht wenigstens für einige Zeit behalten werden kann, vermag auch nicht verinnerlicht zu werden. An diesem Extrempunkt der Vergesslichkeit wird nicht nur der Bezug zur Tradition, sondern auch der Selbstbezug prekär: Der Autor verliert seinen Halt in der Kohärenz des sprechenden bzw. schreibenden Ich und produziert eine delirierende Rede, die jenseits der Dialektik von mémoire und oubli steht und den Gesetzen eines anderen psychischen Vermögens folgt: der imagination (vgl. Butzer 2007, Ms. S. 420–422). Die natürliche Ungebildetheit gehört zur Ideologie des Genies, wie sie erstmals programmatisch von Joseph Addison in seinem Essay On Genius formuliert wird, wo von den Genies als „the Prodigies of Mankind“ die Rede ist, „who by mere Strength of natural Parts,

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dabei nicht darum, nichts zu wissen, sondern die Tradition so weit zu verinnerlichen, sie sich so weit zu eigen zu machen, dass sie getrost wieder vergessen werden kann. Nicht das völlig ungebildete und insofern ‚natürliche‘ Schreiben wäre also das genialische, sondern dasjenige, das vieles in sich aufgenommen und dann möglichst vollständig – im hier diskutierten Sinn – vergessen hat. Zur Vorgeschichte einer solchen genialischen Imitation gehört die physiologische imitatio-Konzeption, die Erasmus im Ciceronianus darlegt. Dort propagiert er zunächst im Anschluss an Seneca die verdauende Lektüre und macht deutlich, dass es sich hier um einen meditativen Vorgang handelt: Das Gelesene solle durch Meditation – d.h. modern formuliert: durch wiederholte kognitiv-affektive Verarbeitung – in die „Blutbahnen der Seele“ überführt werden, so dass das ingenium „aus sich selbst heraus die Rede gebären“ könne.20 Erasmus gelingt es hier, mit Hilfe des physiologischen Gedächtnismodells zwei sich scheinbar ausschließende Konzeptionen literarischer Produktion zusammenzudenken: die Nachahmung der auctoritates und die autonome Selbstschöpfung, wie sie in der Formulierung des aus sich selbst gebärenden Ingeniums deutlich wird (vgl. die in der Genieästhetik abundierende ‚natürliche‘ Schöpfungsmetaphorik des gebärenden Genies; vgl. Schmidt 1985; Blamberger 1991, S. 59–79; Koschorke 1998). Ingenium und imitatio sind also bei Erasmus weder als sich wechselseitig ausschließend noch als einander ergänzend gedacht, sondern fallen, wie vor ihm allenfalls bei Petrarca, nahezu in eins zusammen – das Konzept einer ingeniösen, ‚genialischen‘ Nachahmung wird denkbar.

5. Das Essen und Verdauen von Texten, wie es die hier vorgestellte Physiologie der Imitation konzipiert, hat seinen Ursprung in magischen Praktiken: Verzehrt werden dort heilige Buchstaben, und das Ziel ist immer dasselbe: die Übertragung göttlicher Energie auf den Menschen (vgl. Bertholet 1949 und den Artikel ‚Essen‘ in Bächtold-Stäubli 1987, Bd. 2, Sp. 1055–1058). Nicht zufällig werden biblische Propheten wie Hesekiel und Johannes durch das Essen einer von Engeln übergebenen Schriftrolle _____________

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and without any Assistance of Art or learning, have produced Works that were the Delight of their own Times and the Wonder of Posterity“ (Addison/Steele 1979, Bd. 1, S. 482; The Spectator No. 160 v. 3.9.1711). „Concoquendum est quod varia diutinaque lectione devoraris, meditatione traiciendum in venas animi potius quam in memoriam aut indicem, ut omni pabulorum genere saginatum ingenium ex sese gignat orationem“ (Erasmus 1972, S. 196). Zu Erasmus’ Imitationskonzept vgl. Gmelin 1932, S. 229–248.

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autorisiert (vgl. Ez. 2,8–3,3; Apoc. 10,9–10). So verwundert es nicht, dass das Moment der Inspiration auch in den Kontext physiologischer imitatio rückt. Hier wie dort – bei den Propheten wie bei den Schriftstellern – ist es dabei entscheidend, wer die vorbildlichen aufzunehmenden Texte autorisiert: Ist es bei jenen Gott selbst, so erscheint im poetologischen Zusammenhang das Göttliche reduziert, wenn auch keineswegs völlig verschwunden. Betrachtet man etwa die entsprechenden Stellen im pseudolonginschen Traktat über das Erhabene (1ER¹ ÉCOUW), zeigt sich eine bemerkenswerte Kontamination der imitatio auctorum mit einer sympathetischen Inspirationsvorstellung, wie sie aus Platons Ion bekannt ist. ‚Longin‘ schreibt dort über Nachahmung und Wetteifer (M¸MHSIW und Z‹LVSIW, lat. imitatio und aemulatio) als Quellen des erhabenen Pathos: „Viele nämlich werden durch fremden Anhauch mit Gott erfüllt [POLLO¹ GkR mLLOTR¸¡ YEOFOROÅNTAI PNEÃMATI], ganz so, wie man von der Pythia berichtet. Nähert sich diese nämlich dem Dreifuß bei einem Erdspalt, hauche dieser, wie man sagt, göttliche Dämpfe aus, und sie empfängt davon göttliche Kraft und weissagt sogleich durch des Gottes Anhauch [XRHSM¡DEºN KAT ‚P¸PNOIAN]“ (Longin 1988, 13, 2). Entgegen dem ersten Anschein will der Autor jedoch nicht auf eine traditionelle Inspirationsvorstellung hinaus, in der der Dichter unmittelbar vom Göttlichen erfüllt wird, sondern er fährt fort: „So strömen vom Genius der Alten wie aus heiligem Quell [wichtig ist der Vergleich! – G.B.] geheimnisvolle Einflüsse in die Seele ihrer Bewunderer; durch sie werden auch nicht gerade enthusiastische Naturen angehaucht und sind begeisterte Genossen fremder Größe.“21 Die Inspiration erfolgt also durch die intensive Beschäftigung mit den zu imitierenden Vorbildern. Wichtig ist hier die Verknüpfung der platonischen Inspirationsvorstellung mit der imitatio-Doktrin: Vollzieht sich bei Platon, wie ironisch gebrochen auch immer, eine Art Kettenreaktion der Inspiration, die wie bei nacheinandergeschalteten Magneten vom Gott auf den Dichter, vom Dichter auf den Rhapsoden und vom Rhapsoden auf das Publikum überspringt,22 so behauptet der Longinsche Text dasselbe sympathetische Ge_____________ 21

22

„OÉTVW mPÏ TW T¤N mRXA¸VN MEGALOFU¸AW E»W TkW T¤N ZHLOÃNTVN ‚KE¸NOUW CUXkW ¦W mPÏ ¼ER¤N STOM¸VN mPÎRROIA¸ TINEW FRONTAI, ÇF ¬N ‚PIPNEÎMENEU KA¹ O¼ MŒ L¸AN FOIBASTIKO¹ T¯ ƒTRVN SUNENYOUSI¤SI MEGYEI“ (Longin 1988, 13, 2). Zentral ist hier der Begriff der ‚gemeinsamen Begeisterung‘, der die sympathetische Übertragung der Inspiration bezeichnet. Diese sekundäre, artifizielle Form des Enthusiasmus wird von Shaftesbury im Letter Concerning Enthusiasm wieder aufgenommen. Vgl. dazu Butzer 2007, Ms. S. 345–360. Vgl. Platon 1988, 533d–e, 535e–536a. „Ò D€ YEÏW DIk PjNTVN TOÃTVN …LKEI TŒN CUXŒN ÔPOI qN BOÃLHTAI T¤N mNYR¢PVN, mNAKREMANNÄW ‚J mLL‹LVN TŒN DÃNAMIN“ (536a). Das von Platon verwendete Bild des Magneten wird bei den Stoikern zum Paradebeispiel der SUMPjYEIA. Vgl. Sambursky 1959, S. 41f.

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setz für die imitatio: Bei der Nachahmung der großen Autoren trete deren Inspiration auf den Nachahmenden über und ermögliche es sogar wenig begabten Naturen, inspirierte Dichtung hervorzubringen. Vom Essen und Verdauen der Texte ist bei Longin freilich nicht die Rede. Das wird anders im christlichen Kontext, dessen Modell prophetischer Inspiration gute Voraussetzungen für die Ausbildung einer Konzeption inspirierter imitatio liefert. Das zeigen bereits frühmittelalterliche Anekdoten wie diejenige vom illiteraten Kuhhirten Caedmon, der nach dem Bericht von Beda Venerabilis im Jahre 568 von einem Engel den Auftrag erhält, eine Schöpfungshymne zu dichten, eine Aufgabe, die er wörtlich im Schlaf erfüllt, indem er die ihm bekannten biblischen Texte wiederkäut und daraus, so Beda, obwohl des Singens unfähig, einen lieblichen Gesang schafft.23 Interessant ist hier die Kombination des Wiederkäuens heiliger Worte mit der Schöpfung spontaner, emotionsreicher Rede. Dass ruminatorisches Lesen auf die Hervorbringung von etwas Neuem gerichtet ist, wurde bereits ausführlich dargelegt. In diesem speziellen Fall ist aber die sachliche und zeitliche Koninzidenz von ruminatio und Gesang so stark, daß man, wie in den biblischen Beispielen der Propheten, von einer durch das Essen heiliger Worte evozierten Inspiration sprechen darf. Aus all dem lässt sich auf eine Nähe von meditativer ruminatio und Inspiration schließen, die unmittelbar aus dem produktiven, schöpferischen Moment des verdauenden Lesens (und Hörens) hervorgeht. Dies wird in der religiösen Literatur der frühen Neuzeit vielfach bestätigt.

6. Die Zusammenführung physiologischer imitatio mit dem Moment der Inspiration liegt besonders nahe für jene Autoren, die die antike Tradition fortsetzen und zugleich christlich aneignen wollen (ein Vorgang der translatio studii, der übrigens selbst wiederum als physiologischer Verarbeitungsprozess gedacht wird; vgl. Gnilka 1984, S. 102–133). Dass die daraus entstehenden synkretistischen Poetiken in mancher Hinsicht interessanter und womöglich ‚moderner‘ anmuten als die herkömmlichen ‚Regelpoetiken‘ der frühen Neuzeit, ist wiederholt konstatiert worden (vgl. Wiedemann 1968). Für die vorliegende Thematik ist bedeutend, dass hier eine wechselseitige Integration von poetischer und religiöser imitatio erfolgt, wie _____________ 23

Vgl. West 1976, S. 217–226. Der Schlaf als wichtiger Faktor der Memoration qua bewusstloser Verdauung begegnet bereits bei Quintilian 1975, XI, 2, 43, wo auch schon eine bemerkenswerte Verknüpfung von Merken und Vergessen hergestellt wird: „[…] confirmatque memoriam idem illud tempus, quod esse in causa solet oblivionis.“

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sie die weltliche Poetik allenfalls in Schwundformen kennt. So versteht etwa die humanistisch gebildete protestantische Dichterin Catharina Regina von Greiffenberg nicht nur den poetischen Produktionsvorgang, sondern auch die Einnahme des Abendmahls als einen Akt der ruminatio. In ihr Gedächtnis eingewickelt, trage sie Jesus vom Abendmahl nach Hause, um ihn „in der glückseligen Einsamkeit aufzuwickeln und recht innig und süßest zu beschauen [meditari] und wiederzukäuen [ruminare]“.24 Die Enthusiasmus-Konzeption wird hier so wörtlich genommen wie in kaum einer der antiken Quellen: Der wiedergekäute Gott des Abendmahls ist wirklich in ihr und begeiste(r)t sie von innen heraus. Möglich wird dies, weil die christlichen Autoren die physiologische imitatio nicht nur gegenüber den antiken auctores, sondern auch gegenüber der heiligen Schrift praktizieren. Durch die auf das Johannes-Evangelium zurückgehende wechselseitige Austauschbarkeit von Gott/Christus auf der einen und LÎGOW/verbum sacrum auf der anderen Seite ist eine Äquivalenz von Theophagie und Bibliophagie gegeben, die die poetische imitatio zugleich als imitatio Christi erscheinen lässt – beide folgen denselben Prinzipien (vgl. Rentiis 1996). Diese wechselseitige Substituierbarkeit von Fleisch bzw. Blut und Wort erlaubt es Autoren wie Greiffenberg, die physiologische Metaphorik der imitatio-Lehre auf die religiöse Poesie zu übertragen und ihr dadurch ein enthusiastisches Element beizugeben. Bei Greiffenberg wird das am Kreuz vergossene und im Abendmahl genossene Blut Christi zum poetischen Inspirationsquell, wie das Eingangssonett ihrer Passionsbetrachtungen mit dem Titel Andacht=Aufmunterung deutlich macht: „Dein Blut/ mein Künste=Brunn/ mich träncke Wollust=voll: / Das auch mein Hertz und Mund von Süßheit übergehen.“25 Das Blut Christi ist süß wie Nektar und macht trunken wie Wein; die Theophagie des Abendmahls gerät zum dionysischen Rausch, zur enthusiastischen Verzückung, die unmittelbar zur poetischen Rede inspirieren. In schier grenzenlosem Synkretismus ist Christus bei Greiffenberg Helikon, Pegasus, Muse und inspirierendes Wort in einem.26 Poetische imitatio und imitatio Christi werden austauschbar, da beide _____________ 24 25

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Catharina Regina von Greiffenberg, „Brief an Sigmund von Birken vom 28. Juli 1671“, in: Black/Daly 1971, S. 69. Vgl. dazu Soboth 2000, S. 282. Greiffenberg, Andacht=Aufmunterung, V. 9–10. In: Greiffenberg 1983, Bd. 9, S. 1. Zur „Süßheit“ vgl. die folgenden Ausführungen zur Bienensymbolik. – Die Äquivalenz von YEÎW und LÎGOW, von Abendmahl und lectio divina führt Greiffenberg zu (an Rabelais gemahnenden) Formulierungen wie derjenigen, dass man auch die heilige Schrift als „Carbunckel=Wein ohne Müh in sich trincken soll“ (Greiffenberg 1983, Bd. 8, S. 514). Vgl. das Gedicht zum Titel-Emblem der elften Passionsbetrachtung, das die traditionelle Figuration der Felsenhöhle im Hohenlied als Seitenwunde Christi anführt, in der der Meditierende seine Zuflucht sucht, um ihr alsdann eine synkretistisch-poetologische Wendung zu geben: „Du Sions/ Burg/ solst mein Parnassus seyn. Hier find’ ich recht den schönen Hipocrene. Hier werdet naß/ ihr Himmel Musen Söhne! Hier man sich trinkt voll Liebe/

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und imitatio Christi werden austauschbar, da beide denselben Prinzipien folgen. Durch die wechselseitige Substituierbarkeit von YEÎW und LÎGOW ist es ihr möglich, die Verdauungsmetaphorik der humanistischen imitatioLehre mit derjenigen religiöser Meditation zu verknüpfen und in Richtung auf eine poetische Inspirationslehre zu radikalisieren, indem sie den produktiven Akt des Wiederhervorbringens mit einbezieht und diesen, über die humanistische Konzeption hinausgehend, als enthusiastischen Akt versteht.27 Vor allem in der metaphorischen Reihung von Blut, Wein und Honig konkretisiert sich Greiffenbergs Auffassung imitativer Inspiration.28 Deutlich wird dies anhand ihrer Verwendung der Bienensymbolik, deren enge Verbindung zur physiologischen imitatio bei Seneca bereits erwähnt wurde. Sie ließe sich in gleicher Weise für Petrarca, Erasmus, Montaigne und andere zeigen (vgl. Butzer/Jacob/Kurz 2005). Bei Greiffenberg erhält diese traditionelle Bildlichkeit eine neue Konturierung. Auf der einen Seite greift die passionierte Botanikerin, wie vor ihr schon Ronsard, die antik-humanistische imitatio-Konzeption der Dichtung als Bienenwerk auf: Die Poetin nährt sich von Büchern wie die Biene aus Blumen und schafft daraus ein Werk, das als „Wachs=Pallast“ bezeichnet wird (dabei weiß Greiffenberg natürlich, anders als Seneca, dass die Bienen den Honig nicht fertig in den Blüten vorfinden, sondern dass dieser erst hergestellt werden muss). So heißt es in dem Sonett GOtt=lobende Frühlings-Lust: Sie [die Biene, G.B.] sauget Safft und Krafft/ aus Bücher=Blumen=Brust; und baut dem Wachs=Pallast/ die Leut=erleuchtend Lehre; erfüllt mit Geistes=Thau/ mit Himmel=Hönig=Must der Seelen Kählen süß’ und fliest zu GOttes Ehre:

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Feur und Geist/ und seeliglich ein Himmels=dichter heist“ (Greiffenberg 1983, Bd. 10, S. 797). Zur poetischen Produktion als Erbrechen bei Greiffenberg vgl. Soboth 2000, S. 282. Zur Metaphorik des Erbrechens für den dichterischen Akt vgl. die Ausführungen zu Ronsard in Abschn. 1. Vgl. Greiffenberg 1983, Bd. 8, S. 898 (aus den Abendmahlsgedichten): „Du durchgöttlichts JEsus=Blut/ Meiner Brunst Karbunckel=Flut/ Engel=Nectar/ Himmel=Wein/ Aller Liebes=Geister Schrein/ Wo der heilig Geist versuncken/ Sich verstrahlt im tausend Funcken.“ Zur umfassenden Bedeutung der Blut-Metaphorik bei Greiffenberg vgl. Kemper 1988, S. 266–268, der folgende Parallelstelle aus den Passionsbetrachtungen anführt: „Der Geist ist im Blut/ und dein Blut ist voll Feuer und Flammen. Ach! entzünde/ und verbrenne mich damit“ (Greiffenberg 1983, Bd. 10, S. 594) und die Verbindung von Blut und Feuer einerseits mit der Galenischen Medizin – Zusammensetzung des Bluts aus einem überproportionalen Anteil an Feuer –, andererseits und darauf aufbauend mit Greiffenbergs alchimistischer Auffassung von Christus als ‚quinta essentia‘ erklärt. Burkhard Dohm erläutert im Anschluss daran, das Blut Christi bestehe „nach theosophisch-hermetischer Lehre aufgrund seiner himmlischen Lichtnatur ganz und gar aus Feuer“ (Dohm 2000, S. 125).

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was jrdisch hier geschicht/ ist Geistlich mir in Sinnen: nur in das Ewig ziehlt/ mein wunder=freud Beginnen. (Greiffenberg 1983, Bd. 1, S. 233)

Verbleiben die ersten eineinhalb Verse noch im Kontext der traditionellen Verwendung des Bienengleichnisses, so geht das Folgende entschieden darüber hinaus: Die Dichterin verleibt sich nicht nur die Bücher ein und baut daraus ihren poetischen Wachspalast, sondern wird auf ihrem Flug zugleich „erfüllt mit Geistes=Thau“ und „Himmel=Hönig=Must“. Damit wird die andere Seite von Greiffenbergs Verwendung des Bienengleichnisses sichtbar, die in der humanistischen imitatio-Doktrin ausgeblendet blieb,29 nichtsdestotrotz aber ebenfalls antiken Ursprungs ist: Denn die Biene steht in der antiken Dichtungsauffassung nicht nur für das sammelnde, verarbeitende und wiederhervorbringende Geschäft der imitatio, sondern auch für die dem Göttlichen zustrebende Seele (vgl. Waszink 1974). Greiffenbergs Identifikation der „Hönig=Macherin“ mit der „Gott=erhebend Seel’“ entstammt dieser enthusiastischen Variante der Bienensymbolik, deren locus classicus wiederum in Platons Ion zu finden ist, wo er die Dichter „leichtbeschwingte und heilige Wesen“ nennt, die „aus den honigströmenden Gärten und Quellen der Musen schöpfen und so ihre Lieder bringen wie die Bienen den Honig“.30 Das Christentum hat diese Metaphorik auf Propheten und Kirchenväter übertragen und sie mit dem Prädikat ‚mellifluus‘ belegt, um dadurch die Inspiration ihrer Rede zu kennzeichnen.31 So vergleicht Origenes die Propheten mit den Bienen, die ihre Werke als Honig absondern.32 Im Bild der Prophetin konzentrieren sich bei Greiffenberg die unterschiedlichen Aspekte inspirierter imitatio: Ihre honigsüße Rede ist Resultat ruminierender Theophagie und damit _____________ 29

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Dies gilt jedoch nicht für die humanistische Poesie, wie sich anhand von Daniel Heinsius’ Gedicht Lusus ad apiculas belegen ließe, wo in offensichtlicher Übernahme des Platonischen Motivs von den Bienen als vom Götter-Tau berauschten Volk („gens divino / ebria rore“, V. 10f.) die Rede ist (vgl. Daniel Heinsius, Lusus ad apiculas, in: Schnur 1978, S. 186–188). „LGOUSI GkR D‹POUYEN PRÏW MlW O¼ POIHTA¹ ÔTI mPÏ KRHN¤N MELIRRÃTVN ‚K .OUS¤N K‹PVN TIN¤N KA¹ NAP¤N DREPÎMENOI Tk MLH MºN FROUSIN ¨SPER A¼ MLITTAI, KA¹ AÆTO¹ OÉTV PETÎMENOI“ (Platon 1988, 534a–b). Auch Ronsard bezeichnet in einem der Eingangsgedichte Au Roy Henry IIe seines ersten Odenbuchs seine Dichtung als „Nectar“ (V. 8) und suggeriert damit, seinen Gesang direkt aus den Gärten der Musen davongetragen zu haben (vgl. Ronsard 1993–1994, Bd. 1, S. 604). Indessen verknüpft er in diesem Gedicht das Inspirationsmotiv mit der durchaus profanen Vorstellung des Werks als Wein und der Lektüre als Gastmahl, das der Autor seinen Lesern bereitet. Berühmt geworden ist diese Vorstellung durch den Prolog zum Tiers Livre von Rabelais’ Gargantua (vgl. Rabelais 1955, S. 327). Vgl. Origenes 1925, S. 251 (In Isaiam homiliae, II, 2, Übers. v. Hieronymus): „Et inveniuntur prophetae ‚apes‘ esse, fingunt siquidem ceras et ‚mella‘ conficiunt et, si audenti mihi expetit dicere, ‚favi‘ eorum scripturae sunt, quas reliquerunt. Et volens veni ad scripturas et invenies ‚mel‘.“ Origenes bezieht sich auf die Bienen- und Honig-Stellen von Prov 6,8 und 25,16 (vgl. Lange 1966, S. 103f.).

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Beleg für die von Sigmund von Birken auf Greiffenberg gemünzte These, dass „der Prophet= und Poetische Geist beysammen zuseyn“ pflegten, „damit man wisse/ daß dieser so wol als jener von GOtt einfliesse“.33

7. Ich will an dieser Stelle noch einmal auf die eingangs gestellte Frage zurückkommen: Was leistet diese Bildlichkeit physiologischer Imitation für die Konzeption eines Körpergedächtnisses? Ich hoffe gezeigt zu haben, dass es sich hier um mehr als eine uneigentliche Rede handelt, die man lediglich rückübertragen müsse, um Klartext zu erhalten. Doch warum ist das so? Ich sehe drei Gründe: Erstens ist dieses metaphorische Modell integrativ und erlaubt es, durchaus komplexe und eigenständige Vorgänge wie Lesen, Merken, Denken, Finden und Erfinden in einen kohärenten Zusammenhang zu stellen. Vor allem der ‚unsichtbare‘ Prozess der Kreativität erhält dadurch Plausibilität und, wie man sagen könnte, Sichtbarkeit. Dass es hier nicht um objektive Richtigkeit gehen kann, dürfte unstrittig sein; vielmehr handelt es sich darum, eine Bestimmung poetischer Produktivität zu geben, die dem kulturellen Selbstbild der Autoren entspricht. Das erscheint um so bedeutsamer, als die Ergebnisse der kognitionswissenschaftlichen Gedächtnisforschung, wie erwähnt, von einem einheitlichen Gedächtnis kaum mehr zu sprechen erlauben. ‚Gedächtnis‘ wäre dann in noch stärkerem und ausschließlicherem Maße als bislang angenommen eine Bezeichnung für kulturelle Prozesse. Dass innerhalb dieses Modells zugleich manches ausgeklammert wird, liegt auf der Hand; so ist es etwa nicht möglich, eine literarische Produktion zu denken, die völlig spontan, ohne vorherige Rezeption, vonstatten ginge. Hier liegt auch die grundlegende Differenz zu allen radikalen Formulierungen der Genieästhetik, die den genialischen Akt als rein natürliche Äußerung auffassen.34 Bekanntlich verstricken sich diese Konzeptio_____________ 33

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Birken, Vor-Ansprache zum edlen Leser, in: Greiffenberg 1983, Bd. 1, Bl. )( jxr. – Vgl. Birkens Vorrede zu seiner Teutschen Rede-bind und Dicht-Kunst, in der er unter Berufung auf Platon „die Feuer-Flut des himlischen Geistes“ zum Ursprung der „Dicht-fähigkeit“ erklärt, den Himmel zum Parnaß und die Engel zu Musen kürt und „Poesy und Andacht/ als die wahre Uranie“ bezeichnet (Birken 1679, § 14, Bl. ):( ):( vr); „Teutsche Uranie“ nennt Birken wiederum Greiffenberg in der Vorrede und in den Abschnitts-Titeln zu deren Gedichten, aber auch in seinen Tagebüchern (vgl. Friedhelm Kemp, „Nachwort“ zu: Greiffenberg 1983, Bd. 1, S. 498f.). Das ist derselbe antik-christliche Synkretismus, der auch bei Greiffenberg zu beobachten ist. Vgl. das obigen Addison-Zitat (Anm. 19) sowie Kant 1974, § 46: „G e n i e ist die angeborene Gemütsanlage (ingenium), d u r c h w e l c h e die Natur der Kunst die Regel gibt.“

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nen in immanente Widersprüche, weil sie, wie etwa bei Kant, von der Einheit von natürlicher Spontaneität und Regelhaftigkeit, mithin von einem individuellen Gesetz ausgehen, das dann durch Nachahmung exemplarisch werden soll (vgl. Kant 1974, § 46). Bei Kant ist zugleich unmittelbar einsichtig, wie die Genielehre aus der (vermeintlichen) Ignoranz des künstlerischen Produktionsvorgangs entspringt und die Originalität der Regel letztlich nur als Paradox zu formulieren ist: „[…] welcherlei Art ist denn diese Regel? Sie kann in keiner Formel abgefaßt zur Vorschrift dienen; […] sondern die Regel muß von der Tat, d.i. vom Produkt abstrahiert werden, an welchem andere ihr eigenes Talent prüfen mögen, um sich jenes zum Muster nicht der N a c h m a c h u n g, sondern der N a c h a h m u n g dienen zu lassen. Wie dieses möglich sei, ist schwer zu erklären“ (Kant 1974, § 47).35 Genau für dieses Problem liefert indessen die Physiologie der imitatio eine Lösung, indem sie Originalität und Nachahmung, ingeniöse Selbstschöpfung und Traditionsbezug, Vergessen und Erinnern in einem einzigen Modell zu denken erlaubt. Zweitens ermöglicht das Modell physiologischer Imitation Anschlüsse für andere Konzeptionen, wie sie etwa die christliche flatus/spiritus-Lehre darstellt. Eine Vorstellung davon vermittelt die eingangs zitierte Mönchsregel, indem sie die Gebetsworte, die der die Bibel verdauende Mönch hervorbringt, mit dem flatus parallelisiert – ein Begriff, der nicht nur den Verdauungsatem bzw. -wind bezeichnet, sondern auch auf das Wehen des heiligen Geistes verweisen kann.36 Die Nähe von flatus (Hauch) und spiritus (Odem) zeigt sich etwa bei Tertullian, dem ‚Erfinder‘ des lateinischen Inspirationsbegriffs, der der menschlichen Seele zwar nicht den Status des _____________ 35

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Die Formel „nicht der N a c h m a c h u n g, sondern der N a c h a h m u n g“ ist nicht von Kant, sondern stellt eine Konjektur Kiesewetters dar, der die erste Auflage korrigierte. Kant schreibt an anderer Stelle: „Auf solche Weise ist das Produkt eines Genies […] ein Beispiel nicht der Nachahmung (denn da würde das, was daran Genie ist und den Geist des Werks ausmacht, verloren gehen), sondern der Nachfolge für ein anderes Genie, welches dadurch zum Gefühl seiner eigenen Originalität aufgeweckt wird, Zwangsfreiheit von Regeln so in der Kunst auszuüben, daß diese dadurch selbst eine neue Regel bekommt, wodurch das Talent sich als musterhaft zeigt“ (Kant 1974, § 49). Man sieht: Das Genie bringt Regeln hervor, die im Grunde nicht nachgeahmt werden können. Dass Kant an die Stelle des ästhetischen Begriffs der Nachahmung (imitatio) den religiösen Begriff der Nachfolge (sequela) setzt, zeigt die Verlegenheit deutlich an – und verweist zugleich auf den in der vorliegenden Untersuchung behaupteten Zusammenhang von poetischer und religiöser Imitation. Zur fundamentalen Bedeutung des Zusammenhangs von Nachahmung und Nachfolge für die imitatio-Doktrin der Renaissance vgl. Rentiis 1996. Vgl. Carruthers 1990, S. 166: „[…] the immediate notion of the Spirit as a breath or wind (‚flatus‘) is Biblical […]. It stems from exactly the psychosomatic assumptions that directed medical writers to prescribe foot-soaking, head-washing, and chewing coriander to improve memory, sweetness of the mouth and stomach being evidently as necessary to the healthy production of memory as a stress-free body (with relaxed feet and a non-itching scalp) is to productive concentration.“

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(ewigen) spiritus, wohl aber denjenigen des flatus zuspricht und damit eine spezielle Übersetzung des biblischen Schöpfungsworts Gen 2,7 gibt.37 Man könnte also sagen: Indem der Imitierende sich die heiligen Texte nachahmend einverleibt und diese verdaut, gewinnt er in (wenn auch abgeschwächter) Form Anteil am göttlichen spiritus. Wenn demnach, nach der zitierten Mönchsregel, die Geräusche einer schlechten Verdauung die Inspiration des Heiligen Geistes vertreiben können,38 so vermag im Umkehrschluss wohl auch die Süße des flatus das Wehen des spiritus anzuzeigen. Es werden also bestimmte Elemente der physiologischen Gedächtnismetaphorik – hier Epiphänomene des Verdauungsvorgangs – aktualisiert und mit anderen Doktrinen – hier der antik-christlichen Pneumatologie – verknüpft. In dieselbe Richtung zielt die beschriebene Amalgamierung von Bibliophagie und Theophagie, die die neutestamentliche Identifikation von Christus und LÎGOW nutzt zur enthusiastischen Erweiterung der imitatio, wie sie für eine spezifische Variante christlich-humanistischer Dichtung charakteristisch ist. Drittens eröffnet das Modell einen Denkhorizont, der historisch unterschiedlich konkretisiert und gewertet werden kann. So kann etwa verändertes naturkundliches oder medizinisches Wissen auch die Vorstellung der Imitation verändern, wie das bei der Differenz zwischen der mixturaAuffassung Senecas und der Wesensverschmelzung Petrarcas zu sehen war (ich erinnere auch an die damit zusammenhängende Frage Senecas, ob die Bienen den Honig lediglich sammeln oder ihn produzieren). Darüber hinaus können latente Möglichkeiten des Modells aktualisiert werden, wie etwa das Moment der Ausscheidung als Vergessen, das sich, neben der hier exponierten Form der leiblichen Assimilation, schon bei Petrarca findet (vgl. Butzer 1998, S. 237). In Nietzsches Gedächtnismodell wird dann das Vergessen zur dominanten Aufgabe: „Zu allem Handeln gehört Vergessen: wie zum Leben alles Organischen nicht nur Licht, sondern auch Dunkel gehört. […] es ist möglich, fast ohne Erinnerung zu leben […]; es ist aber ganz und gar unmöglich, ohne Vergessen überhaupt zu leben“ – die Fähigkeit zu vergessen bildet demnach für Nietzsche „die wichtigere und ursprünglichere“ Kraft gegenüber dem Gedächtnis (Nietzsche 1988, Bd. 1, S. 250/252, vgl. Kittsteiner 1996). Für diese Konzeption _____________ 37

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In der Übersetzung Luthers: „Vnd Gott der HERR machet den Menschen aus dem Erdenklos / vnd er blies jm ein den lebendigen Odem in seine Nasen / Vnd also ward der Mensch eine lebendige Seele.“ Zu Tertullian vgl. Beumer 1968, S. 9f. und 13f. (Anm. 24) sowie Arend 2004, S. 121. „Ad orationem nocte consurgenti non indigestio cibi ructum faciat, sed inanitas. Nam quidam vir inter pastores eximius: sicut fumus, inquit, fugat apes, sic indigesta ructatio avertit Spiritus sancti charismata“ (Migne 1841–1864, Bd. 30, Sp. 365B).

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des Vergessens beruft sich Nietzsche in der Genealogie der Moral auf das physiologische Modell der memoria: „Vergesslichkeit ist keine blosse vis inertiae, wie die Oberflächlichen glauben, sie ist vielmehr ein aktives im strengsten Sinne positives Hemmungsvermögen, dem es zuzuschreiben ist, dass was nur von uns erlebt, erfahren, in uns hineingenommen wird, uns im Zustande der Verdauung […] ebenso wenig in’s Bewusstsein tritt, als der ganze Prozess, mit dem sich unsre leibliche Ernährung, die sogenannte ‚Einverleibung‘ abspielt“ (Nietzsche 1988, Bd. 5, S. 291, vgl. Thüring 2002). Wie man sieht, macht Nietzsche hier keinen prinzipiellen Unterschied zwischen Vergessen im Sinne des unbewussten Speicherns und Verarbeitens und Vergessen im Sinne der Ausscheidung – worauf es ankommt, ist die nicht-bewusste, quasi-körperliche Konzeption des Vorgangs.39 Nietzsche ist es auch, der ein weiteres Moment dieses physiologischen Gedächtnismodells aktualisiert: das der Verdauungsstörung. Der Mensch, fährt er an der zitierten Stelle fort, dessen Fähigkeit zu verdauen und auszuscheiden – also zu vergessen – beschädigt wird und aussetzt, „ist einem Dyspeptiker zu vergleichen (und nicht nur zu vergleichen —) er wird mit Nichts ‚fertig‘…“ (Nietzsche 1987, Bd. 5, S. 292). Die Dyspepsie als eine mit Entzündungen des Darmtrakts und Erbrechen verbundene Verdauungsstörung ist bereits im 17./18. Jahrhundert ein Gegenstand medizinischer Monographien (vgl. Rivinus 1679, Ludolf 1727) und gilt als zentrale Ursache der Melancholie. Bei Burton wird nun die Dyspepsie mit dem Prozess literarischer Produktion gekoppelt und damit in das Modell physiologischer Imitation integriert. In seinem Selbstporträt in der Vorrede zur Anatomy of Melancholy stellt er eine Verbindung zwischen seiner eigenen Melancholie und dem kompilatorischen Charakter seines Werks her.40 Der gestörte Verdauungsvorgang im physischen wie im geistigen Sinn erweist sich dabei als sicheres Merkmal des Melancholikers, der nichts, was er aufnimmt, richtig verarbeitet, sondern es entweder unverdaut wieder von sich gibt oder halbverdaut in sich behält, was unweigerlich zu Dyspepsien führt. Sofern sie den Geist betreffen, nennt man diese Entzündungen Enthusiasmus oder Schwärmerei. Ihre Ursache stellt die starke Erhitzung der Einbildungskraft dar, welche auf einen „concourse of bad humours“ _____________ 39 40

Vgl. zu dieser Differenzierung und der dahinter stehenden medialen Unterscheidung zwischen oralem und skripturalem Gedächtnis Butzer/Günter 2004. „This roving humor (though not with like successe) I have ever had, & like a ranging Spaniell, that barkes at every bird he sees, leaving his game, I have followed all, saving that which I shoud, and may justly complaine, & truly, qui ubique est, nusquam est, which Gesner did in modesty, that I have confusedly tumbled over divers Authors in our Libraries, with small profit, for want of Art, Order, Memory, Judgment“ (Burton 1989–1994, Bd. 1, S. 4).

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zurückzuführen ist und für die Absurditäten und Monstrositäten des Traumes, für alle ekstatischen Zustände wie auch für die Träumereien im Wachzustand verantwortlich zeichnet.41 Die geistige Dyspepsie kann, wie bei Burton, negativ bewertet werden: Der Melancholiker erscheint dann als der Unproduktive oder als Kompilator, der nicht oder unzureichend verdautes Wissen von sich gibt. Daneben gibt es allerdings auch die melancholischen Genies, deren Entzündungen im Verdauungstrakt zu fruchtbaren Entzündungen der Einbildungskraft führen – eine Spielart der melancholia generosa, die in der Tradition der Korrelation von Melancholie und Genialität steht.42 Diese Linie lässt sich bis in die décadence weiterziehen, etwa zu Huysmans’ À rebours, wo die Dyspepsie des Körpers die Voraussetzung für die ästhetische Sensibilität des Helden Des Esseintes darstellt.43 Die Weiterführung der Tradition physiologischer imitatio geht hier gewissermaßen von der Vor- in die Nachgeschichte der Genieästhetik über. Damit sind zugleich die Grenzen des hier vorgestellten physiologischen Gedächtnismodells benannt: Da es sich um eine inter-mediale Metaphorik im Sinne der Verarbeitung von Texten im Modus der Oralität handelt, unterstellt sie ein wie immer flexibles Gleichgewicht der aufzunehmenden Texte und der Verarbeitungskapazität des Gedächtnisses. D.h. zum einen: Wird die Menge der Vorgaben zu groß, also das externe Gedächtnis übermächtig, funktioniert die Transformation nicht mehr; Dyspepsien, Vomieren oder Grammatorrhöe sind die Folgen. Vor allem Nietzsche hat darauf aufmerksam gemacht. Zum anderen führt die diesem Modell eigene Bindung des Gedächtnisses an den Organismus dazu, dass nicht-organische Gedächtnisse dieselben Leistungen nicht erbringen können. Die Amputation und Externalisierung von Gedächtnisfunktionen

_____________ 41 42

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Vgl. Burton 1989–1994, Bd. 1, S. 250–255 („Of the Force of Imagination“). Zum Zusammenhang von Melancholie und Schwärmerei im 17./18. Jahrhundert vgl. Schings 1977, S. 143–225. Der Begriff der melancholia generosa stammt von Marsilio Ficino und geht zurück auf das pseudo-aristotelische Problem XXX,1, das die Verknüpfung von Melancholie und Genialität seit der Renaissance begründet und legitimiert hat. Vgl. dazu die klassische Untersuchung von Klibansky/Panofsky/Saxl 1992. Vgl. Huysmans 1978, S. 224: „D’abord engourdie, la dyspepsie nerveuse se réveilla — puis, cette échauffante essence de nourriture détermina une telle irritation dans ses entrailles que des Esseintes dut, au plus tôt, en cesser l’usage. La maladie reprit sa marche; des phénomènes inconnus l’escortèrent. Après les cauchemars, les hallucinations de l’odorat, les troubles de la vue, la toux rèche, réglée de même qu’une horloge, les bruits des artères et du cœur et les suées froides, surgirent les illusions de l’ouïe, ces altérations qui ne se produisent que dans la dernière période du mal.“

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jenseits der Schrift44 bedeutet deshalb, wenn nicht das Ende, so doch eine durchgreifende Transformation des Modells physiologischer Imitation. Denn in der dissoziierten Körperlichkeit der elektronischen Medien „kann das Alphabet nicht aufgehoben, sondern es muß von ihr ausgelöscht werden“ (Flusser 1992, S. 132). Erinnern und Vergessen bezeichnen hier nicht mehr „die Sedimentierung der Daten“, sondern „die ununterbrochene Zirkulation der Prozesse“ (Esposito 2002, S. 340), die statt des Übergangs zwischen Erinnern und Vergessen nur mehr die binäre Unterscheidung von Anwesenheit und Abwesenheit kennt.

_____________ 44

Zum Konzept der Amputation als Auslagerung von Körperfunktionen durch die Medien vgl. McLuhan 1992, S. 61: „Jede Erfindung oder neue Technik ist eine Ausweitung oder Selbstamputation unseres natürlichen Körpers, und eine solche Ausweitung verlangt auch ein neues Verhältnis oder neues Gleichgewicht der anderen Organe und Ausweitungen der Körper untereinander.“

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Schmerzgedächtnis in Dantes Commedia Assuming the importance of the medieval art of memory in Dante’s Commedia, as already demonstrated by Yates, Weinrich and others, this study seeks to show the role of pain in the context of the memorial architecture of the text. It is painful remembrance which guarantees the continuity between the narrator and the hero. The pain remembered by the narrator is caused by his witnessing the physical sufferings of the damned souls, which consist of both material and immaterial elements, and whose pain can be considered as a memorial sign referring to their sins. By remembering the souls Dante has encountered and their histories, i.e. by remembering pain as a sign of memory, Dante’s text combines several levels of painful memory. As can be shown by a detailed analysis of two cantos (Inf. XIII and XVI), pain is a means of acquiring knowledge. It helps transform the static system of memory present in hell into a dynamic textual system of memory. Thus, the memorial function of Dante’s Commedia is based on the following sequence: collective memory – encounter in hell – remembrance of the encounter by means of the text.

Im Folgenden wird ein Text betrachtet, der gemeinhin als der Höhepunkt der christlich-mittelalterlichen Episteme im Bereich der Dichtung gilt, als poetisches Seitenstück zu den Summae der scholastischen Theologie: Dantes in den ersten Jahrzehnten des 14. Jahrhunderts entstandene Commedia, die seit dem 16. Jahrhundert offiziell als Divina Commedia bezeichnet wird.1 Dieser Text ist somit, wie man getrost unterstellen darf, in vielerlei Hinsicht repräsentativ für seine Epoche.2 Eine nähere Untersuchung der Dan_____________ 1

2

Hinweise zur Entstehung und zur Überlieferungsgeschichte des Textes findet man in bündiger Form etwa bei Buck (1987, S. 29–31) und bei Mercuri (1992, S. 211–215). Vermutlich begann der um 1265 geborene Dante mit der Abfassung der Commedia nach 1304, als er bereits im politischen Exil lebte. Erst nach Dantes Tod, also nach 1321, kursierten erste Abschriften des Paradiso. Die älteste erhaltene Commedia-Handschrift ist aus dem Jahr 1350 (Buck 1987, S. 31). Der Erstdruck erschien im Jahr 1472 in Foligno (Mercuri 1992, S. 322). Zuvor war die Commedia in zahlreichen Handschriften verbreitet (vgl. hierzu Roddewig 1984, S. XXXIX, wo die vollständig erhaltenen Handschriften auf 603 beziffert werden). In den Handschriften heißt der Gesamttext Comedía. Boccaccio war der erste, der in seinem Trattatello in laude di Dante (um 1350) dem Wort Comedía das Epitheton „divina“ hinzufügte. Darauf griff Lodovico Dolce zurück, der Herausgeber einer Druckausgabe aus dem 16. Jahrhundert: La Divina Comedia di Dante. Venezia: Giolito 1555. Erst seit dieser Zeit spricht man offiziell von der Divina Commedia. Natürlich ist hierbei in Rechnung zu stellen, dass ein so komplexer und künstlerisch ambitionierter Text wie die Commedia nicht als bloßes Dokument epochaler Tendenzen gelesen

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tes Werk inhärenten Konzeptionen von memoria mag daher einen nicht unbedeutenden Beitrag zur Beantwortung einer Frage erbringen, die hier gestellt werden soll, nämlich inwiefern man von einer psychophysischen Einheit des Gedächtnisses in älteren, vormodernen Theorien sprechen könne und welche Modelle diesen Theorien zugrunde lägen. Bei Dante lässt sich eine solche psychophysische Einheit anhand des Nexus von Erinnerung/Gedächtnis, Schmerz und Schreiben aufweisen, wie er in den poetologischen Passagen der Commedia, insbesondere im Inferno, des öfteren sichtbar wird. Diesem Nexus korrespondiert auf der Ebene der dargestellten Jenseitswelt die Einheit von Körper und Seele trotz der durch den Tod eigentlich präsupponierten Trennung dieser beiden Dimensionen. Die Seelen leiden in der Hölle und auch im Purgatorium körperlichen Schmerz, obwohl sie gar keinen Körper aus Fleisch und Blut mehr haben, sondern nur noch einen Schattenleib; ihr Schmerz dient ihnen als Zeichen der Erinnerung an ihre zu Lebzeiten begangenen Sünden. Physische und psychische Dimensionen finden im Schmerz der Erinnerung gleichermaßen ihren Niederschlag. Auf der Ebene der Darstellung wie auf der Ebene des Dargestellten spielt in der Commedia somit der Schmerz in Verbindung mit Gedächtnis/Erinnerung eine zentrale, sowohl poetologisch als auch theologisch relevante Rolle. Diese Zusammenhänge sollen im Folgenden näher beleuchtet werden. Der Aufsatz besteht aus vier Teilen: Im ersten Teil wird im Anschluss an Frances A. Yates und an von ihr angeregte Forschungen der Stellenwert der memoria im Mittelalter und bei Dante dargelegt; der zweite Teil widmet sich der Erzählsituation der Commedia im Hinblick auf die Funktion von Gedächtnis und Erinnerung; im dritten Teil wird Dantes Kosmologie im Hinblick auf den Stellenwert von Gedächtnis und Schmerz skizziert, bevor im abschließenden vierten Teil anhand der Lektüre zweier Gesänge des Inferno (XIII und XVI) die Begegnung und Überlagerung zweier Gedächtnissysteme (des Systems der dargestellten Welt und des Systems des darstellenden Textes) im Zeichen des Schmerzes veranschaulicht werden. _____________ werden kann, sondern dass er, gerade indem er die epistemischen Prämissen seiner Zeit expliziert, diese auch schon überschreitet. Vgl. hierzu Küpper (1990, S. 260), dem zufolge das Moment der Überschreitung epochaler Denkmuster (gemeint ist bei Küpper der im Mittelalter dominante analogische Diskurs im Sinne von Foucault) darin liegt, dass Dante sich selbst zum Medium der göttlichen Wahrheit macht und somit etwas wagt, das eigentlich nur Autoritäten wie Vergil oder Aristoteles oder auch den Kirchenvätern zusteht. Auf der Ebene der énonciation unterminiert der Text somit bis zu einem gewissen Grad das Weltmodell, welches auf der Ebene des énoncé dargestellt und expliziert wird. Dieses Vorbehaltes eingedenk ergibt eine Analyse des Dargestellten dann dennoch sehr viele Aufschlüsse über mittelalterliches Denken.

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1. Der Stellenwert der memoria im Mittelalter und bei Dante Frances A. Yates hat in ihrer mittlerweile klassischen Studie zur Geschichte der ars memoriae gezeigt, dass die antike Gedächtniskunst im Mittelalter zwar rezipiert und tradiert wurde, dabei aber einem ganz entscheidenden Funktionswandel unterlag. Dieser erklärt sich zum Teil aus den epistemischen Bedingungen des Mittelalters, zum Teil aber auch aus den Kontingenzen der Textüberlieferung. Von den drei Hauptquellen, aus denen wir Kenntnis von der antiken ars memoriae haben, nämlich Ciceros De oratore, der anonymen Rhetorica ad Herennium und Quintilians Institutio oratoria,3 war im Mittelalter nur die zweite allgemein bekannt. Diese Schrift wurde lange Zeit irrtümlich Cicero zugeschrieben und galt im Mittelalter zusammen mit dem tatsächlich von ihm stammenden Werk De inventione als sein Hauptbeitrag zur Rhetorik. Die beiden Schriften wurden als Diptychon aufgefasst und auch in dieser Gestalt in Manuskripten zusammengefügt, und zwar in der Folge De inventione, welche man als Prima rhetorica oder Rhetorica vetus bezeichnete, und Ad Herennium, welche als Secunda rhetorica bzw. Rhetorica nova galt (Yates 1966, S. 54 f.).4 Wenn man bedenkt, dass Cicero neben Aristoteles eine der wichtigsten antiken Autoritäten für das christliche Mittelalter war, dann ergeben sich aus der genannten engen Verknüpfung dieser beiden Schriften angesichts der Präokkupationen mittelalterlicher Theologie weitreichende Konsequenzen. Diese resultieren vor allem aus der Verbindung von Ethik und Gedächtniskunst: The importance of this association [gemeint ist die Verbindung von De inventione und Ad Herennium] for the understanding of the mediaeval form of the artificial memory is very great. For Tullius in his First Rhetoric gave much attention to ethics and to the virtues as the ‚inventions‘ or ‚things‘ with which the orator should deal in his speech. And Tullius in his Second Rhetoric gave rules as to how the invented ‚things‘ were to be stored in the treasure-house of memory. (Yates 1966, S. 55)

Durch die historisch kontingente Verbindung der beiden Schriften von Cicero und Pseudo-Cicero ergab sich eine Logik, die dem Denken und den spezifischen Wertsetzungen des auf ethische Fragestellungen fixierten Mittelalters entgegenkam und die zu der genannten Funktionsveränderung der ars memoriae führte. In der Antike war der lebenspraktische Ort der Gedächtniskunst bekanntlich die Rhetorik. Der Redner sollte durch sie in _____________ 3 4

Die im vorliegenden Zusammenhang relevanten Auszüge aus diesen Schriften sind – neben zahlreichen anderen Quellen – gesammelt bei Berns (2003). Als einen von zahlreichen Belegen hierfür nennt Yates (1966, S. 55) Dantes Monarchia (II, v, 2), wo ein Zitat aus De inventione (I, 68) wie folgt ausgewiesen wird: „Propter quod bene Tullius in Prima rethorica: semper – inquit – ad utilitatem rei publice leges interpretande sunt.“

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die Lage versetzt werden, sein als natürliche Disposition vorhandenes Gedächtnis (naturalis memoria) mit künstlichen Mitteln zu verbessern (artificiosa memoria). Die memoria hatte also eine durchaus untergeordnete Stellung im Gebäude des Wissens und der Axiologie. Sie fiel in den Bereich einer alltäglich zu Zwecken der Gerichtsrede geübten Praxis. In dem Maße, wie diese Praxis im Übergang von der Spätantike zum Mittelalter aus dem Alltagsleben verschwand, wurde die memoria frei für einen Funktionswandel. Dieser Wandel vollzog sich dergestalt, dass die Gedächtniskunst aus dem Zusammenhang der Rhetorik herausgelöst wurde und schließlich für eine Indienstnahme durch die Ethik zur Verfügung stand. What were the things which the pious Middle Ages wished chiefly to remember? Surely they were the things belonging to salvation or damnation, the articles of the faith, the roads to heaven through virtues and to hell through vices. These were the things which it sculptured in places on its churches and cathedrals, painted in its windows and frescoes. And these were the things which it wished chiefly to remember by the art of memory, which was to be used to fix in memory the complex material of mediaeval didactic thought. (Yates 1966, S. 55)

Die mittelalterliche Verbindung von memoria und Ethik kam nicht von ungefähr, war sie doch gewissermaßen bei Cicero selbst schon angelegt. Dieser unterscheidet in De inventione die vier Tugenden prudentia, iustitia, fortitudo und temperantia. Diese Unterscheidung führt im christlichen Kontext zur Konzeption der vier Kardinaltugenden. Die prudentia zerfällt Cicero zufolge in drei Teile, nämlich memoria, intelligentia und providentia. Wenn nun aber die memoria ein wichtiger Bestandteil der Kardinaltugend prudentia ist, so müssen aus scholastischer Perspektive die in Ad Herennium – der mutmaßlichen ‚Zweiten Rhetorik‘ von Cicero – gegebenen Rezepte zur Stärkung des künstlichen Gedächtnisses den Status bloßer mnemotechnischer Anweisungen gegen denjenigen einer wichtigen Grundlage der Tugend eintauschen. Welche Rezepte aber sieht die antike ars memoriae zur Stärkung des Gedächtnisses vor? Dem Autor von Ad Herennium zufolge besteht das künstliche Gedächtnis aus der Kombination von Gedächtnisbildern (imagines) mit einem imaginären Gedächtnisraum (loci): Constat igitur artificiosa memoria ex locis et imaginibus. Locos appellamus eos qui breviter, perfecte, insignite aut natura aut manu sunt absoluti, ut eos facile naturali memoria conprehendere et amplecti queamus: ut aedes, intercolumnium, angulum, fornicem, et alia quae his similia sunt. Imagines sunt formae quaedam et notae et simulacra eius rei quam meminisse volumus; quod genus equi, leonis, aquilae memoriam si volemus habere, imagines eorum locis certis conlocare oportebit. (Ad Herennium, III, xvi)

Um einen Gegenstand zu memorieren, muss man die imagines mit den loci dergestalt verknüpfen, dass man sie bei Bedarf durch das imaginäre Abschreiten des Gedächtnisraumes in der entsprechenden Ordnung und

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Reihenfolge wiederfindet. Die psychische Dimension des Gedächtnisses wird hier also mit der physischen Dimension des Raumes verbunden. Das Gedächtnis erweist sich als durch die Imagination zusammengehaltene psychophysische Einheit. Zugleich besitzt diese Technik Affinitäten zur Poesie. Besonders geeignet für die sichere Wiederauffindung sind nämlich die sog. imagines agentes, welche durch Ungewöhnlichkeit und Intensität im Gedächtnis haften bleiben (Ad Herennium, III, xxii). Diese imagines agentes zeichnen sich durch große Ähnlichkeit zwischen Zeichen und Objekt aus, sind also in moderner Terminologie ikonische, motivierte Zeichen; sie sind außergewöhnlich schön oder außergewöhnlich hässlich; sie haben besondere Merkmale oder Kennzeichen oder auch charakteristische Deformationen; es handelt sich mit anderen Worten um Bilder, wie sie üblicherweise in poetischen Texten verwendet werden. Yates hat im dritten Kapitel ihres Buches mit großer Sorgfalt die Art und Weise untersucht, in der Albertus Magnus und sein Schüler Thomas von Aquin sich die durch Cicero und Pseudo-Cicero überlieferte antike ars memoriae anverwandeln. Es kommt dabei – erstmals bei Albertus Magnus – zu einer Verbindung von Stellen aus Cicero mit solchen aus Aristoteles. Dies ist im Einzelnen hier nicht nachzuzeichnen. Ich möchte lediglich auf einige für meine eigene Untersuchung wichtige Punkte hinweisen. Der erste Punkt betrifft die Rechtfertigung poetischer Redeweise im Rahmen des scholastischen Diskurses (Yates 1966, S. 66, 71, 78). Eine solche Rechtfertigung der an körperliche Anschauung gebundenen Poesie erscheint angesichts der Prädominanz, die im scholastischen Diskurs dem Rationalen und dem Intellekt zuerkannt wird, nicht als unbedingt erwartbar. Auf der Ebene der mittelalterlichen Wissensordnung nimmt die Poesie eine untergeordnete Stellung ein, gehört sie doch zur Grammatik, der niedrigsten der artes liberales (S. 78). Nun bedient sich aber ausgerechnet die Heilige Schrift poetischer Redeweise, insbesondere in den Gleichnissen, aber auch in Stellen wie dem Hohenlied. Dies gilt es zu begründen. Die Rechtfertigung hierfür sieht Thomas darin, dass es möglich und sinnvoll ist, geistige (intelligibilia) durch körperliche Dinge (sensibilia) auszudrücken.5 Mit einem analogen Argument rechtfertigt Thomas die Verwendung von poetischen Bildern im Zusammenhang mit der memoria, welche ja zur Tugend der prudentia gehört. In seinem Kommentar zu Aristoteles’ De memoria et reminiscentia schreibt er: „Nihil potest homo intellegere sine phantasmate“ (zitiert nach Yates 1966, S. 71). Die memoria befindet sich also aus theologischer Sicht – und dies ist der zweite für das Folgende wichtige Punkt – an der Schnittstelle von Körper und Geist. Insofern die Erinnerung körperlich anschauliche Bilder, also sensibilia, benötigt, gehört sie _____________ 5

Summa theologica, I, I, quaestio I, articulus 9 (nach Yates 1966, S. 78).

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selbst dem Bereich der sensibilia an. Insofern aber der Intellekt die von der memoria bereitgestellten Bilder abstrakt bearbeitet, partizipiert das Gedächtnis auch am Geistigen. Erneut sieht man, wie das Gedächtnis als psychophysische Einheit gedacht wird. Damit ist aber wiederum impliziert, dass die poetische Redeweise auch innerhalb des abstrakten theologischen Diskurses zuzulassen ist, und somit wäre in letzter Konsequenz auch ein poetisch-doktrinäres Mischgebilde wie Dantes Commedia aus scholastischer Sicht legitimierbar. Der dritte Punkt ist die Generalisierung der memoria in moralisierender Funktion. Yates legt im vierten Kapitel ihres Buches dar, dass im Mittelalter die von Albertus und insbesondere von Thomas als Teil der prudentia valorisierte memoria der poetischen imagines agentes in den verschiedensten Zusammenhängen zur Anwendung kam: in der Predigt (Giovanni di San Gimignano, Bartolomeo da San Concordio), in der bildenden Kunst (Lorenzetti, Giotto) – und nicht zuletzt in der Dichtung. Als prominentes Beispiel mittelalterlicher Anwendung der ars memoriae in der Dichtkunst nennt Yates (1966, S. 95) Dantes Commedia, obwohl, wie sie selbst einräumt, diese Sichtweise etwas Schockierendes an sich haben muss: That Dante’s Inferno could be regarded as a kind of memory system for memorising, Hell and its punishments with striking images on orders of places, will come as a great shock, and I must leave it as a shock. It would take a whole book to work out the implications of such an approach to Dante’s poem.6

Damit hat Yates eine völlig neue Lesart der Commedia angedeutet, die in der Forschung bisher erst vereinzelt aufgegriffen wurde. Ich konnte nur wenige Arbeiten finden, die dezidiert an Yates anknüpfen bzw. aus ihrer Perspektive argumentieren. Am prägnantesten und ausführlichsten geschieht dies bei Karl August Ott (1987), Harald Weinrich (1994 und 1997) und Luigi De Poli (1999).7 Die Genannten liefern eine Reihe von über_____________ 6

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Yates deutet die Commedia im weiteren Verlauf ihrer Argumentation als „summa of similitudes and exempla, ranged in order and set out upon the universe“ (1966, S. 95). Den drei cantiche ordnet sie die drei Teile der über dem gesamten Unterfangen waltenden prudentia zu: „its three parts can be seen as memoria, remembering vices and their punishments in Hell, intelligentia, the use of the present for penitence and acquisition of virtue, and providentia, the looking forward to Heaven.“ (ebd.) De Poli, der sich explizit auf die zitierte Stelle aus dem Buch von Yates (1966, S. 95) beruft und das von ihr hypothetisch in Aussicht gestellte Buch gewissermaßen zu schreiben versucht, sagt: „Malgré l’importance des études sur la Divine Comédie, aucune recherche n’a été menée, à ce jour, à ma connaissance, sur l’influence des règles de l’ars memorativa dans la poésie de Dante.“ (1999, S. X) Schon sein Vorläufer Ott, den De Poli (vermutlich mangels Kenntnis der deutschen Sprache) ebenso wenig zu kennen scheint wie die Arbeiten von Weinrich, stellte – ebenfalls im Rekurs auf Yates (1987, S. 168) und mit mehr Berechtigung als De Poli – sein Unterfangen, die Commedia im Zusammenhang mit der ars memoriae zu betrachten, als etwas Neuartiges dar. – Weitere Studien, die partiell an Yates anknüpfen, sind Vallone (1988) und Corti (1993). Vallone fragt nach den im mittelalterlichen Bildungs-

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zeugenden Argumenten, die es als plausibel erscheinen lassen, dass die mittelalterliche Gedächtniskunst einer der für die Werkstruktur bedeutsamsten Hintergründe von Dantes Hauptwerk war. Ott vertritt die These, „daß Dante seinen Text mit Absicht in der Weise gestaltet hat, daß man ihn gern auswendig lernt, und daß der formale Aufbau seines Werks im ganzen so angelegt ist, daß er dem Lernwilligen dabei jede mögliche Hilfe an die Hand gibt.“ (1987, S. 166) Der Schauplatz der Handlung ist nach den Kriterien einer strengen Ordnung solchermaßen gegliedert, „daß von vornherein feststeht, welchen bestimmten Platz jede Figur im Ganzen des geschilderten Kosmos einnimmt, und zwar in der Weise, daß schon der Ort uns darüber informiert, welche Personen hier erscheinen oder nicht erscheinen können, wie uns entsprechend das Auftauchen einer jeden Person darüber informiert, an welchem bestimmten Ort Dante sich im Augenblick befindet.“ (S. 167) Die strenge Gliederung des Ortes aber ist eine der grundlegenden strukturellen Voraussetzungen der ars memoriae, welche ja bei Dantes theologischen Referenzautoren Albertus Magnus und Thomas von Aquin eine wichtige Rolle spielt. Bei der Erinnerung, auf der Dantes Bericht ganz wesentlich beruht, handelt es sich um genau jene Form, die in der Gedächtniskunst trainiert wird, nämlich die künstliche Erinnerung, welche, wie wir wissen, bei den Scholastikern als wichtiger Bestandteil der prudentia gilt. Dante, der seinerseits der prudentia in hohem Maße bedurfte, um in seinem Werk von ewigen Wahrheiten sprechen zu können, war also, so Ott, geradezu gezwungen, mit der ars memoriae zu operieren (S. 183). Die Struktur von Dantes Jenseits, dessen strenge, auch zahlenkompositorisch fundierte Gliederung deutet Ott als Beleg für seine These, dass der Text den Prinzipien der ars memoriae gehorche (S. 184 ff.). Die einzelnen Schauplätze seien die loci, an denen die Verstorbenen als imagines platziert seien, und zwar in der Regel als imagines agentes im Sinne von Ad Herennium (S. 190 f.). Auch Weinrich sieht in der Commedia „ein genaues literarisches Abbild der antiken Gedächtniskunst (ars memoriae)“ (1997, S. 43): „Die Seelen der Verstorbenen, denen [Dante] im Jenseits begegnet, sind für ihn die variablen Gedächtnisbilder, die er sich jeweils an ihren Gedächtnisörtern zusammen mit diesen einprägt, so daß er sie später, wenn er nach der Rückkehr in die ‚heitere Welt‘ der Lebenden seine Dichtung schreibt, in der Ordnung seiner Begegnungen mit ihnen aus dem Gedächtnis abrufen kann. In diesem Sinne kann man Dantes Divina Commedia insgesamt ein _____________ system geübten, vorwiegend oral-auditiven Gedächtnispraktiken, vor deren Hintergrund er Dantes Commedia zu verorten sucht, etwa indem er das in der Hölle herrschende Gesetz der konformen Vergeltung (contrappasso) auf in den Schulen gelehrte mnemotechnische Praktiken bezieht (1988, S. 21). Corti (1993, S. 42 f.) bezeichnet die memoria als ‚Koautorin‘ der Commedia und diese selbst als „epica della memoria“ (S. 43).

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Gedächtniskunstwerk nennen.“ (ebd.) Auch Weinrich interpretiert die im Jenseits dargestellten Figuren als imagines agentes (S. 53). Eine zentrale Aufgabe des Textes sei es – und das gelte insbesondere für die Seelen im Fegefeuer –, die drohende „Vergessensgefahr“ (S. 46) zu bannen, indem durch den „Gedächtnismann“ (S. 47) Dante im Diesseits an sie erinnert werde. Damit situiert Weinrich die Commedia im Kontext der Fürbitte oder, wie Friedrich Ohly es nennt, des „Gebetsgedenkens“ (1992, S. 27; zu Dante ebd. S. 25–28). Außerdem stellt Weinrich (1997, S. 43) einen Bezug zu Augustinus her, der in seiner Schrift De Trinitate „in der psychischen Triade memoria – intellectus – voluntas ein menschliches Abbild der göttlichen Dreifaltigkeit erkennen will, dergestalt daß von den drei göttlichen Personen Gott Vater das Gedächtnis, Gott Sohn die Erkenntnisfähigkeit und der Heilige Geist die Willenskraft (oder die Vorausschau) repräsentiert“. Diese Trinitätsspekulation mache sich Dante zu eigen. Gott sei für ihn nicht nur der Schöpfer, sondern auch das Gedächtnis der Welt. Die Welt habe ihr Sein somit darin, dass sie in Gottes Gedächtnis aufbewahrt sei, sodass Dantes Jenseitswanderung als Durchschreiten eines Gedächtnisraumes die poetische Erkundung der memoria Dei sei (S. 44).8 Genau wie Ott und Weinrich – und, wie gesagt, offenbar ohne Kenntnis von deren Untersuchungen – unternimmt es De Poli zu zeigen, dass in der Struktur der Commedia die Prinzipien der ars memoriae wirksam sind.9 Als Begründung seiner These dient ihm zum Einen die Homologie zwischen der räumlichen Ordnung des Jenseits und den Prinzipien der lociTechnik: die Struktur des Jenseits beschreibt er als „Des images placées dans une série ordonnée de lieux“ (1999, S. 9–75), wobei er wie Ott die Stationen des Jenseits und die an ihnen situierten Figuren als imagines agentes deutet. Sodann untersucht er im zweiten Teil („Ecriture poétique et structure mnémonique“, S. 77–157) die dem Text eingeschriebenen mnemonischen Strukturen, wobei er nach Sender (poète) und Empfänger (lecteur) differenziert, um schließlich den Forschungen zur Zahlensymbolik der Commedia ein weiteres Kapitel hinzuzufügen, indem er die Bedeutung der Zahl 5 untersucht. Diese Wahl ist nicht beliebig, wird doch schon in Ad Herennium empfohlen, die Serie der Gedächtnisörter zu untergliedern, _____________ 8 9

Analog sieht dies schon Corti (1993, S. 43), die ebenfalls den Bezug zu Augustinus herstellt. Im verständlichen Bemühen um Plausibilisierung seiner These unterlaufen De Poli bisweilen Formulierungen, die die Struktur der Commedia vielleicht allzu exklusiv auf die ars memoriae beziehen, etwa wenn er über die Anordnung der Seelen im Jenseits sagt: „Seules les techniques mises en œuvre par les maîtres de mémoire pour retenir une liste de personnages peuvent expliquer cette disposition.“ (1999, S. 39) Ohne Zweifel lässt sich die Anordnung der Seelen im Jenseits in Analogie zur Platzierung von imagines an bestimmten loci setzen. Doch daraus lässt sich noch nicht ohne Weiteres ableiten, dass die Struktur des Jenseits ausschließlich mithilfe der Gedächtniskunst erklärbar sei.

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indem jeder fünfte Ort besonders markiert werde: „Et ne forte in numero locorum falli possimus, quintum quemque placet notari“ (III, xviii). Genau diese Regel erfülle Dante in der Commedia, wenn er etwa, um nur ein Beispiel zu nennen, jeweils im V. Gesang der drei cantiche von einem ausgeführten oder geplanten Mord an einer Frau berichte (Francesca da Rimini, Pia, Iphigenie).10 Im dritten Teil beschäftigt De Poli sich mit „Le Paradis et ses repères“ (S. 159–212).11 Insgesamt kommt der Autor zu folgender Gesamtbewertung: La Divine Comédie s’affirme à la fois comme produit et comme projet de l’ars memorativa dans sa transformation médiévale. Produit, par tout ce qu’elle emprunte aux règles et au lexique de cet art, et projet par le génie poétique de Dante qui a fait évoluer cet art vers la tentation démiurgique d’ordonner toutes les sciences et toutes les notions de son temps dans une structure calquée sur le cosmos. (Ebd., S. 215)

Vor dem skizzierten Hintergrund, der die grundlegenden Filiationen zwischen der ars memoriae und der Commedia deutlich sichtbar werden lässt, möchte ich in den folgenden Teilen meines Aufsatzes die Zusammenhänge zwischen Erinnerung, Schreiben und Schmerz in Dantes Poem untersuchen. Der Fokus wird dabei auf der theologischen und poetologischen Funktion des Schmerzes liegen. Der Zusammenhang von Schmerz, Gedächtnis und Schreiben wurde nämlich bisher in seiner Bedeutung noch nicht hinreichend erkannt.

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Vgl. im Einzelnen das Schaubild bei De Poli (1999, S. 137), weitere Korrespondenzen auf der Basis der Zahl 5 ebd., S. 129–157. Eine zentrale Stellung nimmt hier die im Irdischen Paradies erscheinende Matelda (Purg. XXVIII–XXXIII) als „représentation personnifiée de la mémoire“ ein (De Poli 1999, S. 179–186). – Zur komplexen Funktion von Matelda vgl. im Übrigen auch die entsprechenden Passagen bei Wehle (2003, insbes. S. 25–36). Wehle deutet Matelda als Antitypos von Beatrice (S. 26) und als Venusfigur (S. 27) im Sinne einer Venus pudica. Indem Dante im Irdischen Paradies die biblische Paradieseserzählung mit der heidnischen VenusMythologie überblende, gelange er zu einem „Kopfsturz der geltenden Anthropologie und Epistemologie“ (S. 34). Die letzten Wahrheiten nämlich tun sich für den Jenseitswanderer nicht nach dem Wissens-, sondern nach dem Lustprinzip auf. „[…] nicht das rationale selbst, das animale kennt in letzter Konsequenz den Beweggrund des summum bonum – allerdings nur, wenn es vom Denken der Vernunft dazu angehalten wird. Matelda steht also für die Umstellung des Erkenntnisvorganges auf das Denken des ‚Herzens‘, das in Venus ein eigenes Paradigma hat.“ (S. 34)

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2. Die Erzählsituation der Commedia im Zeichen von Erinnerung und Schmerz Wenn in Dantes opus summum Erinnerung und Gedächtnis eine ganz zentrale Rolle spielen, so erklärt sich dies strukturell als Folge der Erzählsituation, insofern der in der Ich-Form erzählte Text die Distanz zwischen dem erzählenden und dem erlebenden Ich von Anfang an thematisiert und im Folgenden immer wieder aktualisiert. Diese Distanz kann nur mithilfe der Erinnerung überbrückt werden, wie schon am berühmten Beginn des Textes deutlich gemacht wird. Hier beschreibt der IchErzähler eine Situation, in der er – in der Mitte seines Lebens stehend – vom rechten Wege abgekommen ist und sich in einem finsteren Wald verlaufen hat: Nel mezzo del cammin di nostra vita mi ritrovai per una selva oscura che la diritta via era smarrita. Ahi quanto a dir qual era è cosa dura esta selva selvaggia e aspra e forte che nel pensier rinova la paura! (Inf. I, 1–6) Grad in der Mitte unsrer Lebensreise Befand ich mich in einem dunklen Walde, Weil ich den rechten Weg verloren hatte. Wie er gewesen, wäre schwer zu sagen, Der wilde Wald, der harte und gedrängte, Der in Gedanken noch die Angst erneuert. (Übersetzt von Hermann Gmelin)

Zwei distinkte Zeitstufen werden hier einander gegenübergestellt: die durch das Präteritum (passato remoto) markierte Zeit des Erlebens („mi ritrovai per una selva oscura“) und die im Präsens verankerte Zeit des Erzählens („quanto a dir qual era è cosa dura“, „nel pensier rinova la paura“). Es geht also von Beginn an sowohl um eine zu berichtende Erfahrung (histoire) als auch um das Berichten dieser Erfahrung (discours) und mithin natürlich auch um die Differenz und die Beziehung zwischen diesen beiden Ebenen. Als Bindeglied zwischen den beiden Zeitstufen fungiert die Erinnerung („pensier“), die somit, wie hier deutlich wird, essentielle Voraussetzung des Erzählens ist.12 Die Erinnerung garantiert nämlich die _____________ 12

De Poli (1999, S. 86–92) legt dar, dass Dante zur Bezeichnung von Erinnerung/Gedächtnis hauptsächlich die Begriffe mente und memoria verwendet. Mente bedeutet in erster Linie ‚Geist, Seele, Blick‘, wird aber auch in der Bedeutung ‚Gedächtnis‘ verwendet, und zwar deutlich häufiger als memoria: mente kommt im Gesamttext 97-mal vor, memoria dagegen nur 21-mal (ebd., S. 87). De Poli zufolge indiziert diese Begriffsverwendung die

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Kontinuität zwischen dem erlebenden und dem erzählenden Ich, welche sich im obigen Zitat in Form der Reaktualisierung eines negativen Affekts vollzieht: Die vom erlebenden Ich damals im ‚wilden Wald‘ empfundene Angst wird im erzählenden und schreibenden Ich erinnernd vergegenwärtigt und neu erlebt. Diese Vergegenwärtigung manifestiert sich vor allem in der Dominanz der emotiven Sprachfunktion in dem Satz V. 4–6, der von der Interjektion „Ahi“ eingeleitet wird. Auslöser dieser Angst ist eine mit dem Tode verwandte, bittere, schmerzvolle und daher auch im Nachhinein noch furchterregende Erfahrung: „Tant’è amara che poco è piú morte“ (Inf. I, 7: Fast gleichet seine Bitternis dem Tode). Dass der Erzähler hier ins Präsens wechselt, zeigt an, wie sehr er als erinnerndes Ich den Schrecknissen des Waldes noch verhaftet ist, wie sehr also die negative, schmerzvolle Erfahrung noch nachwirkt und somit vom Text präsent gehalten wird. Diese Angst ist somit von der Ebene des Erlebens ebenso wenig abtrennbar wie von der des Schreibens. Allegorisch lässt sich nun bekanntlich das Verlaufen im Walde, das im Text sogar wörtlich zitierte Abweichen vom rechten Wege, als Leben in Sünde interpretieren. Bezieht man diesen Zustand des erlebenden Ichs auf die sich als Buße für die Sünde anschließende Jenseitsreise, die ja mit der Durchquerung der Hölle beginnt, bevor sich Läuterungsberg und Paradies anschließen, so kann man den furchterregenden Wald als Metonymie der Hölle deuten. Diese metonymische Beziehung wird auch durch die räumliche Nähe von Wald und Eingang zur Hölle untermauert. Der Wald gehört schon zur Peripherie der Hölle. Die Hölle wiederum ist jener Ort, über den Vergil, der Dantes erlebendes Ich durch das Jenseits führen wird, die Jenseitsreise ankündigend, sagt: […] e trarrotti di qui per luogo etterno, ove udirai le disperate strida, vedrai li antichi spiriti dolenti, che la seconda morte ciascun grida; (Inf. I, 114–117) [Ich will] Von hier dich zu dem ewigen Ort geleiten. Dort wirst du die Verzweiflungsschreie hören Und sehn die alten schmerzenvollen Geister, Die alle ihren zweiten Tod beklagen.

Der ‚zweite Tod‘ ist, so eine der möglichen Bedeutungen dieses Ausdrucks, der Zustand ewiger Strafe für die im Diesseits begangenen Sünden. Und diese Strafe ist in den meisten Fällen eine körperliche und somit _____________ Verwandtschaft der intellektuellen (mente) und der mnemonischen (memoria) Fähigkeiten in Dantes Auffassung. Diese Verwandtschaft wird auch von der Verwendung von pensier im Sinne von ‚Erinnerung‘ bestätigt.

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schmerzvolle („disperate strida“, „spiriti dolenti“), und das paradoxerweise, obwohl die Seelen durch den Tod von ihren Leibern getrennt wurden und somit eigentlich gar keinen körperlichen Schmerz mehr empfinden können dürften. Doch gerade der ambivalente Schwebezustand zwischen Körper und Seele ist ein charakteristisches Merkmal des Danteschen Jenseits. Die Seelen sind zugleich noch Körper, Schattenleiber, und empfinden körperliche Schmerzen.13 Gleich zu Beginn der Commedia, in dem die Erzählsituation konstituierenden ersten Gesang des Inferno, wird somit deutlich gemacht, dass a) die erzählten Ereignisse durch die Erinnerung gefiltert sind, dass b) ein wichtiger Teil der erzählten Welt mit Leid und Schmerzen zu tun hat und dass c) zwischen Erleben und Erzählen ein insofern enger Zusammenhang besteht, als beide im Zeichen des Schmerzes stehen. In diesem umfassenden, sowohl histoire als auch discours einschließenden Sinne lässt sich der Text als Gedächtnis des Schmerzes auffassen. Schmerzvolles physisches Erleben und semiotische Kodierung begegnen sich hier und stehen in einem bedeutungsvollen Wechselverhältnis zueinander. Es ergibt sich eine Erinnerungskette, die von der Sünde im Diesseits zum Schmerz als Erinnerung an die Sünde im Jenseits über die Beobachtung dieser Situation durch den Jenseitswanderer hin zu seinem Text und von dort zum Leser reicht. Der Schmerz ist dabei sowohl Gegenstand als auch Medium der Erinnerung.

3. Die Schöpfung als Gedächtnisort Die Memorialfunktion der Commedia resultiert indes nicht nur aus der Erzählsituation bzw. aus der Differenz zwischen Erleben und Erzählen, sie ist darüber hinaus ein wesentliches Merkmal der erzählten Welt selbst. Es handelt sich bekanntlich um einen lehrhaft-didaktischen Text, der das von Dante aus verschiedenen (theologischen, geographischen, astronomischen etc.) Quellen bezogene Wissen über Gott und seine Schöpfung poetisch kodiert und dieses zum Teil sehr abstrakte Wissen somit in an_____________ 13

Statius erläutert dies genauer in Purg. XXV, 79–108. Wenn im Moment des Todes die Seele den Körper verlasse, dann nehme sie zugleich die menschlichen (vegetativen und sensitiven) und die göttlichen Anteile des Menschen („memoria, intelligenza e volontade“, 83) mit sich, die Ersteren allerdings nur virtuell („in virtute“, 80). Im Jenseits bilde sich dann durch den Kontakt mit der umgebenden Luft ein Schattenkörper („ombra“, 101), indem dieser Luft von der Seele eine Form eingeprägt werde (94–96). Der Schattenkörper folge nunmehr der Seele, wohin diese sich auch bewege, und habe menschliche Affekte, Empfindungen und Regungen wie ein lebendiger Körper. Vgl. hierzu Güntert (1995, S. 49–52), der die Tradition skizziert, in der Dante steht, und zugleich auf die Originalität dieser seiner Konzeption hinweist.

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schaulicher und konkreter Form rezipierbar macht und dadurch seine Verbreitung und Wirksamkeit fördert.14 Dantes alter ego, der Jenseitswanderer – er sei im Folgenden, um ihn vom realen Autor zu unterscheiden, ‚Dante‘ genannt –, dem in der Nachfolge von Aeneas und Paulus (Inf. II, 13–42) die außergewöhnliche Erfahrung zuteil wird, als noch Lebender die drei Reiche der Toten zu betreten und zu erkunden, fungiert als Stellvertreter des Lesers und somit der ganzen Menschheit – denn das von ihm Mitgeteilte geht nach Dantes Selbstverständnis die gesamte Menschheit an. Die zahlreichen Belehrungen, die ‚Dante‘, dem erlebenden Ich, zuteil werden, sind zugleich auch an den Leser adressiert. ‚Dantes‘ Erfahrung ist daher, so außergewöhnlich sie erscheint, doch letztlich eine exemplarische.15 Diese Exemplarität wird bereits zu Beginn sichtbar, wenn es heißt: „Nel mezzo del cammin di nostra vita“. Diese auf den 90. Psalm („Unser Leben währet siebzig Jahre, und wenn es hoch kommt, sind es achtzig“) rekurrierende Periphrase für das Lebensalter des erlebenden Ichs16 zeigt an, dass der hier Handelnde in überpersönliche Zusammenhänge eingebunden ist, dass mithin das, was er mitzuteilen hat, für andere nützlich und lehrreich ist. Solche Nützlichkeit kann Dantes eigener Auffassung zufolge die eigentlich unschickliche Rede über sich selbst legitimieren.17 Die Welt, von der Dantes Gedicht handelt und über deren verborgene Prinzipien sie den Leser „per via di dottrina“ aufklärt, steht im Zeichen _____________ 14

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Vgl. hierzu Hausmann (1988). Dieser nennt Dante „einen Autor mit umfassendem theologischem, philosophischem, naturwissenschaftlichem, historischem und literarischem Wissen, gepaart mit überdurchschnittlicher Beobachtungsgabe, Phantasie und Unvoreingenommenheit des Urteils, der mit der D[ivina] C[ommedia], einer christlichen Jenseitsreise, maßgeblich an der Herausbildung und Konsolidierung des spätmittelalterlichen Weltbildes vom 14. bis zum 16. Jh. und noch darüber hinaus verantwortlich ist.“ (S. 9) Diese Exemplarität manifestiert sich im Text auch in den einzelnen Stationen des Jenseits, insofern die dargestellten Figuren exempla für die jeweilige Sünde bzw. im Paradiso für die jeweilige Tugend sind. Dies hat Friedrich (1942, S. 22 ff.) ausführlich dargelegt. Über Dantes Geburtsjahr existieren keine externen Quellen; man weiß lediglich, dass er am 26. März 1266 in Florenz getauft wurde. Aus der Entschlüsselung der entsprechenden Stellen der Commedia (Inf. XII, 34–45, XXI, 112–114) lässt sich jedoch Folgendes erschließen: Gegenstand des Textes ist eine Jenseitsreise des erlebenden Ichs, welches mit dem Autor des Textes identisch zu sein beansprucht. Diese Reise beginnt am Karfreitag des Jahres 1300. Wenn man nun den realen Autor mit dem Protagonisten gleichsetzt und mit dem 90. Psalm davon ausgeht, dass ein durchschnittliches Leben 70 Jahre dauert, dann kann man annehmen, Dante sei im Jahr 1265 geboren. Genau dann nämlich hätte er im Jahr 1300 ‚in der Mitte unsres Lebens‘ gestanden. Vgl. Convivio, I, ii, wo zwei Gründe genannt werden, die eine Rede über sich selbst rechtfertigen, nämlich erstens, „quando sanza ragionare di sé grande infamia o pericolo non si può cessare“ (wenn man, ohne über sich selbst zu sprechen, große Schande oder Gefahr nicht abwenden kann), und zweitens, „quando, per ragionare di sé, grandissima utilitade ne segue altrui per via di dottrina“ (wenn aus der Rede über sich selbst anderen großer Nutzen erwächst durch die Vermittlung von Wissen).

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der Ordnung und der Analogie.18 Schmerz entsteht dann, wenn die von Gott vorgesehene Ordnung gestört wird. Solche Störung hinterlässt physische Merkzeichen bzw. Gedächtnisspuren. Dies zeigt sich an Dantes Kosmologie. Dante zufolge liegt die als Kugel gedachte Erde in der Mitte des Weltalls. Um die Erde herum befinden sich neun ineinander geschachtelte, bewegliche Himmelssphären, welche wiederum umfasst werden von einer zehnten, unbeweglichen Sphäre, dem Empyreum als dem Sitz Gottes. Die Erdkugel besteht aus zwei Hemisphären: nur die nördliche ist von Land bedeckt und bewohnt, während die südliche von Wasser bedeckt und somit unbewohnbar ist. Als Begrenzungen der bewohnbaren Welt auf der Nordhalbkugel dienen im Westen die Säulen des Herkules, die sich an der Meerenge von Gibraltar und in der Nähe der Stadt Cádiz befinden, und im Osten die Mündung des Ganges, also Indien. Im Zentrum liegt Jerusalem, der Ort, wo Jesus Christus hingerichtet wurde. Genau auf halber Strecke zwischen Jerusalem und Cádiz befindet sich Rom. Die bewohnbare Welt ist also symmetrisch-symbolisch geordnet, denn dass Jerusalem im Mittelpunkt liegt, ist kein geographischer Zufall, sondern erklärt sich aus der zentralen heilsgeschichtlichen Bedeutung dieses Ortes, ebenso wie die Situierung Roms darauf hinweist, dass es als Sitz des Papstes und des Kaisers das Zentrum der abendländischen Welt sein soll.19 Die symmetrisch-symbolische Ordnung gilt für die Struktur der Welt insgesamt. In unmittelbarer Nähe zu Jerusalem befindet sich der Eingang zur Hölle, die sich als Trichter bis in den Mittelpunkt der Erde erstreckt. Dieser Trichter verdankt seine Entstehung dem Sturz des nach dem Schöpfungsakt gegen Gott rebellierenden Engels Luzifer, der seitdem im Mittelpunkt der Erde, am tiefsten Punkt der Hölle in einem gefrorenen See, dem Kozytus, gefangen liegt. Genau gegenüber Luzifers Aufprallort wurde auf der Südhalbkugel ein gewaltiger Berg aufgeschichtet, der allein aus dem Ozean emporragt; er ist deshalb isoliert, weil die Landmassen sich nach Norden zurückgezogen haben, um möglichst weit entfernt zu sein von den Spuren Luzifers (Inf. XXXIV, 121–126). Es handelt sich um den Läuterungsberg, auf dessen Gipfel sich das Irdische Paradies befindet, der Garten Eden, aus dem die ersten Menschen, Adam und Eva, nach der Übertretung des Verbotes, vom Baum der Erkenntnis zu essen, vertrieben wurden. _____________ 18

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Küpper (1990, S. 230–304) beschreibt in kritischer Anknüpfung an Auerbach (1938) und Foucault (1966) die mittelalterliche Rede als „Ordnungsstufe des analogischen Diskurses“ (S. 231–262), die Diskurse der Renaissance und des Manierismus dagegen als „Manifestationen der Verfallsstufe“ dieses Diskurses (S. 263–304). Dantes Commedia weist er einen Schwellenstatus zu (S. 259 f.). Der Text wurzele im analogischen Denken des Mittelalters, überschreite aber zugleich dessen Prämissen. Vgl. die Skizze bei Hausmann (1988, S. 43).

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Die symbolische Ordnung stellt somit den Ort des Sündenfalls und den Ort der Erlösung durch den Kreuzestod spiegelbildlich einander gegenüber. Die physische Ordnung der Welt verweist zeichenhaft auf den göttlichen Heilsplan. Somit erweist sich die Welt in ihrer physischen Gestalt als Antizipation und als Gedächtnis heilsgeschichtlicher Ereignisse – inklusive jener schmerzhaften Ereignisse, die den göttlichen Heilsplan zu stören scheinen, die dann aber in den Heilsplan integriert werden. Der Höllensturz Luzifers verändert die physische Gestalt der Erdkugel auf radikale Weise, er bewirkt eine zugleich reale und symbolische Einkerbung. Damit trägt die Erde auf ewig die Spur dieses Ereignisses in sich. Doch die durch dieses katastrophale Ereignis gestörte Ordnung wird auf einer höheren Ebene wiederhergestellt, indem der entstandene Trichter zu jenem Ort wird, an dem die Sünder ihre Sünden auf ewig büßen müssen. Ebenso zeigt sich die Dialektik der gestörten und restituierten Ordnung darin, dass sich auf der Südhalbkugel als Folge von Luzifers Höllensturz der Läuterungsberg auftürmt, wo die weniger schuldhaften Sünder ihre Sünden so lange büßen, bis sie davon gereinigt sind. Nichts Böses kann es bei Dante geben, welches nicht auf einer anderen Ebene sein Gutes produzierte. Dass ein metonymischer und zugleich metaphorischer Zusammenhang zwischen Ordnungsstörung und Ordnungsrestitution besteht, ist Ausdruck des Danteschen Analogiedenkens. An dem Ort, welcher durch Luzifers Sünde entstanden ist, muss von allen menschlichen Sündern Buße getan werden (metonymisches Verhältnis). Zwischen der Sünde und ihrer Bestrafung herrscht dabei häufig ein Verhältnis der Analogie (metaphorisches Verhältnis). Dante nennt dies contrappasso, gemeint ist die konforme Vergeltung. Das bedeutet, dass das Verhältnis zwischen Sünde und Strafe kein zufälliges und willkürliches, sondern ein motiviertes ist. Erich Auerbach erläutert dies mit folgenden Worten: […] jede einzelne [der Höllenstrafen] beruht auf strenger und genauer Ueberlegung über den Rang und Grad der jeweiligen Sünde, auf einer genauen Kenntnis rationaler Moralsysteme, und jede, in ihrer bestimmten, konkreten, anschaulichen Realisierung des göttlichen Ordnungsgedankens, soll zu rationaler Rechenschaft zwingen über das Wesen der betreffenden Sünde, das heißt die Art ihrer Abweichung von jener Ordnung. Wenn die Sklaven der Begierden im Sturmwind umhergetrieben werden, die Schwelger im kalten Regen am Boden kauern, die Zornigen im Sumpf sich streiten, die Selbstmörder in Sträucher verwandelt sind, welche eine hindurchjagende Meute zerreißt und bluten macht, wenn die Schmeichler im menschlichen Kot, die Verräter im ewigen Eise stecken – so sind diese mageren Beispiele aus Dantes Reichtum nicht beliebige Produkte einer schweifenden Phantasie, die Grauenvolles zu häufen sucht, sondern das Werk eines ernsten prüfenden Verstandes, der jeder Sünde das ihr Zukommende gewählt hat, und der aus dem Bewußtsein der Gerechtigkeit seiner Wahl, ihrer Konformität mit der göttlichen Ordnung, die Kraft schöpft seinen Worten und Bildern ei-

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ne gewaltige, bewunderungswürdige Anschaulichkeit zu verleihen. (Auerbach 1929, S. 139f.)

Somit ist die Dantesche Hölle ein gigantischer Gedächtnisraum, der alle im Diesseits begangenen Sünden verzeichnet und als Merkzeichen dieser Sünden die diesen konformen, schmerzvollen Strafen an den Seelen der Sünder exekutiert, und zwar in unendlicher Wiederholung bzw. Dauer. Dantes Gedicht ist somit die beste Illustration dessen, was Nietzsche in seiner Genealogie der Moral (2. Abhandlung, 3. Abschnitt) zum Zusammenhang von Schmerz und Mnemotechnik sagt: „Es gieng niemals ohne Blut, Martern, Opfer ab, wenn der Mensch es nöthig hielt, sich ein Gedächtniss zu machen; die schauerlichsten Opfer und Pfänder (wohin die Erstlingsopfer gehören), die widerlichsten Verstümmelungen (zum Beispiel die Castrationen), die grausamsten Ritualformen aller religiösen Culte (und alle Religionen sind auf dem untersten Grunde Systeme von Grausamkeiten) – alles Das hat in jenem Instinkte seinen Ursprung, welcher im Schmerz das mächtigste Hülfsmittel der Mnemonik errieth.“ (Nietzsche 1988, S. 50) Indem nun ‚Dante‘ in die Hölle eindringt und nach und nach über deren Ordnung sowie über die jeweilige Geschichte der verdammten Seelen informiert wird, treffen zwei Gedächtnissysteme aufeinander, ein statisches und ein dynamisches. Das statische System ist die Hölle selbst mit der ihr eigenen Ordnung der Sünden und Strafen. Das dynamische System ist der vom Jenseitswanderer erst noch zu produzierende Gedächtnistext, der horizonthaft schon auf Handlungsebene immer wieder evoziert wird, wenngleich er zu diesem Zeitpunkt ja noch gar nicht existiert.20 Die selbstgestellte Aufgabe des Danteschen Textes ist es, das göttliche Gedächtnissystem zu registrieren und es den Menschen, denen es bisher verborgen geblieben ist, in Form einer Erzählung mitzuteilen. Somit macht sich der Text zum Sprachrohr Gottes und zum modernen Gegenstück zur Heiligen Schrift. Diese Kommunikation ist gebunden an den Schmerz, dessen Zeuge der mitleidende ‚Dante‘ wird, den er zum Teil – in abgeschwächter Form – am eigenen Leibe verspürt und den er schließlich auch manchmal selbst den Sündern zufügen muss. Im Folgenden soll anhand zweier detaillierter Textlektüren das bisher Gesagte vertieft und perspektiviert werden.

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Weinrich (1997, S. 46) verweist in Anlehnung an Le Goff (1981) darauf, dass die menschliche Zeit in die göttliche Jenseitsordnung erst im Purgatorium Einzug hält, da die Verweildauer der Seelen dort nicht von Vornherein feststeht, sondern vom Prozess ihrer Läuterung abhängt. Dem lässt sich hinzufügen, dass auf der Ebene der énonciation die menschliche Zeit von Beginn an im Text präsent ist.

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4. Die Überlagerung zweier Gedächtnissysteme im Zeichen des Schmerzes (Inf. XIII und XVI) Im XIII. Gesang des Inferno treten auf besonders eindringliche Art und Weise die Modalitäten der eben erwähnten Begegnung und Überlagerung zweier Gedächtnissysteme im Zeichen des Schmerzes vor Augen. ‚Dante‘ und Vergil durchwandern hier den zweiten Streifen des siebten Höllenkreises. Dort begegnen sie den „violenti contro se stessi“, d.h. denen, die sich selbst Gewalt angetan haben: den Selbstmördern und Verschwendern. Schauplatz ist ein Wald, der höchst rätselhaft und unheimlich erscheint. Die erste Wahrnehmung des erlebenden Ichs konstatiert nur Negativa: im Wald gibt es keine Wege; es gibt dort keine grünen Blätter, sondern dunkle, keine glatten Zweige, sondern krumme und knorrige, keine Früchte, sondern giftige Dornen. Alles Menschliche ist diesem Walde fremd, er wird verglichen mit der Behausung wilder Tiere, und die Harpyen, unheimliche Zwitterwesen aus Mensch und Vogel, haben hier ihre Nester. Vergil kündigt seinem Schützling an, er werde Dinge sehen, die so unwahrscheinlich seien, dass sie, würde er sie ihm vorab sagen, von ‚Dante‘ nicht geglaubt würden: „sí vederai / cose che torríen fede al mio sermone“ (Inf. XIII, 20f.: und du wirst sehen / Dinge, die meinem Wort mißtrauen ließen). Zu vernehmen sind Klagelaute, deren Urheber aber nicht sichtbar sind. Um des verblüfften ‚Dantes‘ naheliegende, aber falsche Vermutung zu zerstreuen, dass die Urheber des Wehgeschreis sich hinter den Bäumen versteckt hielten, fordert Vergil ihn dazu auf, von einem der Sträucher einen Zweig abzureißen. Nachdem ‚Dante‘ dies getan hat, klagt der von ihm ausgewählte Dornbusch in menschlicher Sprache über die ihm zugefügte Verletzung, und so wird klar, dass die Sünder dieses Bezirks, die Selbstmörder, in Sträucher verwandelt worden sind: „Uomini fummo, e or siam fatti sterpi“ (Inf. XIII, 37: Wir waren Menschen, jetzt sind wir Gestrüppe), so sagt der Dornbusch, in den der Dichter Pier della Vigna verwandelt wurde.21 Die schmerzvolle Klage des verletzten Strauches wird begleitet von aus dem Stamm strömendem Blut: „sí de la scheggia rotta usciva insieme / parole e sangue; ond’io lasciai la cima / cadere, e stetti come l’uom che teme“ (Inf. XIII, 43–45: So kam zu gleicher Zeit aus diesem Splitter / Blut und die Worte; drum ließ ich die Spitze / Zu Boden fallen und blieb starr vor Schrecken). Die Wortkombination „parole e sangue“, die hier syntaktisch dreifach exponiert und markiert ist (durch die Inversion, durch die rejet-Stellung sowie durch das _____________ 21

Pier della Vigna (1190–1249) war Kanzler am Hofe Friedrichs II. und – als Vertreter der sizilianischen Dichterschule, die als Bindeglied zwischen der provenzalischen und der toskanischen Lyriktradition fungierte – ein Vorläufer des Lyrikers Dante.

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syntaktische Zeugma), steht sinnbildlich für die Doppelung von geistigmoralischem (klagende Worte) und physischem Leid (Blut), welche wie schon erwähnt für die in der Hölle büßenden Seelen charakteristisch ist. Vergil rechtfertigt die auf sein Geheiß von ‚Dante‘ verursachte Verletzung des Dornbuschs mit der Unwahrscheinlichkeit und somit Unglaubwürdigkeit der Strafe: „S’elli avesse potuto creder prima“ rispuose ’l savio mio, „anima lesa, ciò c’ha veduto pur con la mia rima, non averebbe in te la man distesa; ma la cosa incredibile mi fece indurlo ad ovra ch’a me stesso pesa. Ma dilli chi tu fosti, sí che ’n vece d’alcun’ammenda tua fama rinfreschi nel mondo sú, dove tornar li lece“. (Inf. XIII, 46–54) „Wenn er schon früher hätte glauben können“, Sprach da mein Weiser, „o verletzte Seele, Das, was er dort in meinem Vers gelesen, Hätt er nicht mit der Hand nach dir gegriffen; Doch das Unglaubliche hat mich bewogen, Ihn tun zu lassen, was ich selbst bedaure. Doch sag ihm, wer du warst, daß er an Stelle Von einer Sühne deinen Ruhm erneure Auf Erden, da die Rückkehr ihm gestattet.“

Der Beobachter ‚Dante‘, auf den hier wie immer alles ankommt, muss dazu gebracht werden, an die Erscheinungen des Jenseits zu glauben, und seien diese noch so unwahrscheinlich. (Und sie sind hier unwahrscheinlich und unglaublich, obwohl sie in der im III. Buch der Aeneis erzählten Polidorus-Episode, die von Dante auch wörtlich zitiert wird, vorgeprägt sind. Das bedeutet, dass selbst die Autorität der Schrift hier nichts mehr verbürgen kann, dass stattdessen der handfeste und schmerzvolle taktile Beweis vonnöten ist.) Diese Notwendigkeit rechtfertigt es nun also, eine schmerzhafte Vergewisserungsprobe vornehmen zu lassen, selbst wenn diese gegen das Gebot des Mitleids mit dem Opfer solcher Probe verstößt. Wodurch aber wird solches Handeln legitimiert? Vergil macht Pier della Vigna ein signifikantes Kompensationsangebot: Anstatt einer von ‚Dante‘ zu leistenden Buße („ammenda“) soll Pier della Vigna die Gelegenheit erhalten, seinen Fall vorzutragen und sich selbst durch Dantes künftiges Werk verewigen zu lassen („tua fama rinfreschi / nel mondo sú, dove tornar li lece“). Das eigentliche Telos der erzählten Handlung ist somit Dantes Commedia. Sie rechtfertigt den leidverstärkenden Eingriff in die Jenseitsordnung. Und sie ist ein Werk der Erinnerung an die Toten,

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das ihren Ruhm im Diesseits sichern soll. Genau dies erbittet denn auch Pier della Vigna am Ende seiner ersten längeren Erläuterung: „E se di voi alcun nel mondo riede, / conforti la memoria mia, che giace / ancor del colpo che ’nvidia le diede.“ (Inf. XIII, 76–78: Wenn einer von euch heimkehrt auf die Erde, / so mög er droben mein Gedächtnis heben, / Das noch darniederliegt vom Schlag des Neides.)22 Die Commedia hat somit nicht nur die Aufgabe, den Leser über die Ordnung der Jenseitsreiche und der gesamten Schöpfung zu belehren, sondern sie setzt es sich auch zum Ziel, die Erinnerung an die Toten aufrechtzuerhalten bzw., sofern erforderlich, solche überhaupt erst herzustellen. In dieser Hinsicht wird sie zum Organ der göttlichen Gerechtigkeit, welche unterscheidet zwischen der objektiven Notwendigkeit, die Sünde, sofern sie eine bestimmte Qualität besitzt, zu bestrafen, und der subjektiven Möglichkeit, Mitleid mit dem büßenden Sünder zu empfinden bzw. dessen positive menschliche Qualitäten nicht zu leugnen – so befinden sich zum Beispiel auch Figuren in der Hölle, zu denen Dante ein positives Verhältnis hat, etwa Brunetto Latini (Inf. XV) oder der genannte Pier della Vigna, die ja zu seinen Vorläufern bzw. Lehrern gehören; auch mit Figuren wie Francesca da Rimini (Inf. V) und Odysseus (Inf. XXVI) empfindet ‚Dante‘ Mitleid bzw. lässt er dem Leser die Möglichkeit, dies zu tun. Im XIII. Gesang des Inferno wird uns eine besonders ungewöhnliche und grausame Strafe vorgeführt, bei der in Analogie zur Selbstentleibung der Selbstmörder deren Seelen in Pflanzen verwandelt werden und es ihnen auf ewig untersagt bleibt, sich wieder mit ihren Körpern zu vereinigen: Come l’altre verrem per nostre spoglie, ma non però ch’alcuna sen rivesta; ché non è giusto aver ciò ch’om si toglie. Qui le trascineremo, e per la mesta selva saranno i nostri corpi appesi, ciascuno al prun de l’ombra sua molesta. (Inf. XIII, 103–108) Wie andre werden wir die Leiber suchen, Doch keiner darf sich wieder in sie kleiden, Denn was man selbst sich nahm, darf man nicht haben. Wir schleppen sie hierher, und in dem Walde Der Trauer werden unsre Leiber hängen, Jeder am Baume seines Schattens lastend.

Gemäß dem Prinzip des contrappasso erinnert die Strafe somit auch hier an die Sünde: Die freiwillig unter Übertretung des göttlichen Gebots vorgenommene Trennung von Körper und Seele wird im Jenseits sichtbar ge_____________ 22

Vgl. hierzu auch Ohly (1992, S. 25–28) und Weinrich (1997, S. 46–49).

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macht, indem die Leiber nach der Auferstehung des Fleisches an den Bäumen der Seelen aufgehängt werden. Trennung wird durch Trennung quittiert. Den physischen Schmerz aber erleiden die in Bäume und Sträucher verwandelten Seelen, indem sie von den Harpyen oder von Hundemeuten verletzt werden. ‚Dante‘ fügt nun seinerseits einem der Sünder pars pro toto einen Schmerz zu, welcher die Voraussetzung für die Erkenntnis des Zusammenhangs von Sünde und Strafe ist und somit in letzter Konsequenz die Voraussetzung für die Niederschrift des Textes.23 Dieser setzt den Schmerz voraus, den sowohl die Sünder als auch ihr Beobachter ‚Dante‘ empfinden. Insofern trägt er die Spuren des Schmerzes in sich und ist somit ein Gedächtnis des Schmerzes. Der in diesen poetologischen Passagen deutlich werdende Mechanismus ist somit die Transformation von statisch-physischem in dynamisch-textuelles Gedächtnis, die Textwerdung der Hölle und ihrer Qualen. Dabei wird der Schmerz als Vermittlungsinstanz einbezogen und erhält eine semiotisch-epistemologische Funktion. Es ist in diesem Zusammenhang übrigens signifikant, wenn das Nomen „selva“ wiederkehrt, welches ja exponiert im I. Canto des Inferno auftaucht. Die „mesta / selva“ (Inf. XIII, 106f.) zitiert die „selva oscura“ bzw. „selvaggia“ des Beginns (Inf. I, 1–12), in welcher ‚Dante‘ einerseits todesähnliche Furcht empfindet, wo ihm aber andererseits auch Gutes widerfährt: „Tant’è amara che poco è piú morte; / ma per trattar del ben ch’i’ vi trovai, / dirò de l’altre cose ch’i’ v’ho scorte.“ (Inf. I, 7–9: Fast gleichet seine Bitternis dem Tode, / Doch um des Guten, das ich dort gefunden, / Sag ich die andern Dinge, die ich schaute.) Hier ist es so, dass die Erfahrung des Guten erkauft werden muss um den Preis der Bitternis und der Todesangst. Im Unterschied zum Beginn, wo ‚Dante‘ selbst den Schmerz erleidet, sind hier indes die in die Hölle verbannten Sünder Opfer des Schmerzes. Eine weitere Korrespondenz zwischen dem I. und dem XIII. Gesang ist die Verzagtheit ‚Dantes‘, der ja im I. Gesang sich im schrecklichen Wald verirrt hat und danach von drei wilden Tieren angegriffen wird und somit Todesangst empfindet. Erst die Begegnung mit Vergil gebietet dem Schrecken Einhalt und gibt dem Verzagten neuen Mut. Im XIII. Gesang nun scheint ‚Dante‘ – ganz im Gegensatz zu seinem sonstigen Verhalten – beinahe verstummt. Er spricht nur ein einziges Mal, und zwar in dem Moment, da Vergil ihn auffordert, Pier della Vigna zu befragen, worauf ‚Dante‘ wissen lässt, dass er vor lauter Mitleid nicht sprechen könne, und daher Vergil bittet, an seiner Statt zu fragen (Inf. XIII, 79–84). Vergil substituiert hier ‚Dante‘ in seiner Rolle des Fragenden, so wie er ihm im I. Gesang zu Hilfe gekommen war. Durch solche intratextuellen _____________ 23

Zum Zusammenhang von Schmerz und Erkenntnis bei Dante vgl. auch Kanduth (1995).

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Korrespondenzen (die noch durch weitere lexikalische Anklänge unterstrichen werden, z.B. „veltri“, Inf. XIII, 126, welches auf Vergils VeltroProphezeiung zurückweist) konstituiert die Commedia gewissermaßen autopoietisch einen textuellen Gedächtnisraum, der sich selbst immer wieder in Erinnerung ruft. Somit sind auch das Lexem „selva“ und sein syntagmatischer Kontext poetologisch kodiert. Ein weiteres signifikantes Beispiel von poetologisch lesbarem Schmerzgedächtnis findet sich im XVI. Gesang des Inferno. Ort der Handlung ist der dritte Streifen des siebten Kreises, wo sich die „violenti contro Dio, natura e arte“ befinden, diejenigen also, die Gott, der Natur oder ihrem Gewerbe Gewalt angetan haben: die Fluchenden, die Sodomiten und die Wucherer. Die Strafe in diesem Bezirk der Hölle besteht aus einem Feuerregen, der auf die Sünder langsam und unerbittlich herniedergeht: „Sovra tutto ’l sabbion, d’un cader lento, / piovean di foco dilatate falde, / come di neve in alpe sanza vento.“ (Inf. XIV, 28–30: Auf jenem ganzen Sande sah man langsam / Von Feuer große Flocken niederregnen / Wie auf den Alpen Schnee bei Windesstille.) Dieser Feuerregen gefährdet auch den Jenseitswanderer ‚Dante‘, sodass er vor ihm Schutz suchen muss. Zu Beginn des XVI. Gesanges wird er von drei Florentinern angesprochen, die ihn an seiner Kleidung als einen der Ihren erkennen und ihn bitten anzuhalten. Darauf heißt es im Text: Ahimè, che piaghe vidi ne’ lor membri ricenti e vecchie, da le fiamme incese! Ancor men duol pur ch’i’ me ne rimembri. A le lor grida il mio dottor s’attese; volse ’l viso ver me, e: „Or aspetta“, disse „a costor si vuole esser cortese. E se non fosse il foco che saetta la natura del loco, i’ dicerei che meglio stesse a te che a lor la fretta“. (Inf. XVI, 10–18) Weh, was für Wunden trugen ihre Glieder, Neue und alte, von dem Feuerbrande! Noch schmerzt es mich, wenn ich mich nur erinnre. Auf ihre Rufe achtete mein Lehrer; Er wandte sich zu mir und sprach: „Nun warte, Vor diesen müssen wir uns höflich zeigen. Und wäre nicht das Feuer, das verschleudert Die Art des Ortes, möcht’ ich beinah sagen, Daß du dich mehr als sie beeilen müßtest.“

Wichtig für unseren Zusammenhang ist an dieser Textstelle, dass ‚Dante‘ an den zunächst als „ombre“ bezeichneten Florentinern körperliche Wunden („piaghe“) bemerkt, welche ihnen von den Flammen des Feuer-

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regens zugefügt worden sind. Körperliches und Immaterielles kommen hier also erneut zur Deckungsgleichheit. Die Strafe wird den Sündern förmlich in den Leib gebrannt. Dass dies selbst im Kontext der Hölle eine besonders eindringliche und schreckliche Qual ist, ergibt sich aus dem expliziten Erzählerkommentar in V. 12: „Ancor men duol pur ch’i’ me ne rimembri.“ (Noch schmerzt es mich, wenn ich mich nur erinnre.) Dieser Kommentar ähnelt jenem bereits zitierten aus dem I. Gesang des Inferno („Ahi quanto a dir qual era è cosa dura / esta selva selvaggia e aspra e forte / che nel pensier rinova la paura!“ (Inf. I, 4–6: Wie er gewesen, wäre schwer zu sagen, / Der wilde Wald, der harte und gedrängte, / Der in Gedanken noch die Angst erneuert.), insofern hier wie dort der Schmerz in der Erinnerung auf- bzw. weiterlebt. Die affektische Ergriffenheit des Sprechers wird zudem hier wie dort durch Interjektionen („Ahi“, „Ahimè“) markiert. Durch die Äußerung von Schmerz bringt sich das schreibende Ich also dem Leser in Erinnerung. Dies hat die Funktion, die Heftigkeit des Schmerzes hervorzuheben und zu beglaubigen. Es bestätigt aber auch, was unsere bisherige Analyse schon ergeben hat, dass nämlich der Text der Commedia als semiotischer Akt auf der Erinnerung an den Schmerz beruht bzw. ohne diese Erinnerung nicht denkbar wäre. Mit anderen Worten, es handelt sich um eine poetologisch lesbare Stelle, in der erneut das Verhältnis des Textes zu Erinnerung und Schmerz von zentraler Bedeutung ist. Der Schmerz bedroht schon das erlebende Ich, welches sich vor dem Feuerregen schützen muss und daher den drei Florentinern nicht entgegenlaufen bzw. sich ihnen zu Füßen werfen kann, wie es die Höflichkeit ihnen gegenüber eigentlich geböte (Inf. XVI, 15–18, 46–51). Neben der akuten physischen Gefahr, schmerzhafte Qualen zu erleiden, steht der moralische Schmerz des Mitleidens („doglia“), welchen ‚Dante‘ in seiner Anrede an die drei Florentiner gleich zu Beginn hervorhebt : Poi cominciai: „Non dispetto, ma doglia la vostra condizion dentro mi fisse, tanta che tardi tutta si dispoglia, tosto che questo mio segnor mi disse parole per le quali i’ mi pensai che qual voi siete, tal gente venisse. […]“(Inf. XVI, 52–56) Dann sprach ich wieder: „Nicht Verachtung, Trauer Erfüllte mich ob Eurem Leid im Innern, So daß ich langsam nur mich davon löse, Sobald mir erst mein Herr die Worte sagte, Nach denen ich vermutete, daß Leute, Wie Ihr es seid, entgegenkommen würden. […]“

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‚Dante‘ bestätigt den Fragenden, dass er wie sie aus Florenz stamme, und er sagt, dass ihrer Taten und Namen von ihm immer mit Bewunderung gedacht worden sei. Dazu muss man wissen, dass die im Text explizit genannten Guido Guerra, Tegghiaio Aldobrandi und Iacopo Rusticucci einer Generation angehörten, die vor Dante gelebt hat. Es handelt sich also um Personen, die Dante selbst nur durch die kollektive Erinnerung gekannt haben kann. Diese ruhmvolle Erinnerung (Inf. XVI, 31: „la fama nostra“) wird nun durch die Begegnung mit dem Jenseitswanderer verstärkt und perpetuiert: „Però, se campi d’esti luoghi bui / e torni a riveder le belle stelle, / quando ti gioverà dicere ‚I’ fui‘ / fa che di noi a la gente favelle.“ (Inf. XVI, 82–85: Drum wenn du diesem dunklen Ort entkommen / Und wiedersehen darfst die schönen Sterne, / Und wenn du gerne sagst: „Ich bin gewesen“, / Dann sieh, daß du den Leuten von uns redest.) Wie bei Pier della Vigna im XIII. Gesang ergeht somit auch hier im XVI. Gesang an den Wanderer und künftigen Schreibenden ‚Dante‘ der Auftrag, von seiner Jenseitsreise Zeugnis abzulegen und dadurch Gedächtnis an die Toten zu stiften. Doch während ‚Dante‘ bei der Begegnung mit Pier della Vigna aus Mitleid und Betroffenheit nichts zu sagen vermochte, wird er nun von den drei Florentinern explizit dazu aufgefordert, ihnen von den Geschicken der gemeinsamen Heimatstadt zu berichten. Diese Aufforderung wird vom Gesprächspartner Iacopo Rusticucci mit dem Wunsch verbunden, ‚Dante‘ möge ein langes Leben beschieden sein und sein Ruhm möge ihn überdauern (Inf. XVI, 64–66). Darauf antwortet ‚Dante‘, indem er sich in einer Apostrophe an die Stadt Florenz selbst wendet: „La gente nuova e i subiti guadagni orgoglio e dismisura han generata, Fiorenza, in te, sí che tu già ten piagni“. Cosí gridai con la faccia levata; e i tre, che ciò inteser per risposta, guardar l’un l’altro com’al ver si guata. (Inf. XVI, 73–78) „Von neuen Leuten und dem Schnellverdienen Ist Hochmut und Vermessenheit gekommen In dich, Florenz, so daß du schon voll Klagen.“ So rief ich mit erhobenem Gesichte, Und jene drei, die diese Antwort hörten, Beschauten sich, wie man die Wahrheit anschaut.

Solche Kritik an den in Florenz und in Italien herrschenden frühkapitalistischen Zuständen ist in der Commedia rekurrent, sie erscheint erstmals im I. Gesang des Inferno im Zusammenhang mit der den Geiz verkörpernden Wölfin und Vergils Veltro-Prophezeiung. Der politische Anspruch des

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Textes besteht darin, den krisenhaften Zustand der Gegenwart durch die Restitution einer älteren, dem mittelalterlichen Feudalstaat nahestehenden Ordnung zu überwinden. Mit dem Pathos der Wahrheit unterstreicht Dante im obigen Zitat die Bedeutsamkeit seiner politischen Aussage. Diese wiederum ist umgeben von all den Elementen, die uns im vorliegenden Zusammenhang besonders interessieren: Ruhm, Gedächtnis und Schmerz, zusammengehalten vom Schreiben des Textes. ‚Dantes‘ künftiger Ruhm soll es ihm ermöglichen, das Andenken an die ruhmreiche Vergangenheit von Florenz zu erhalten – denn obwohl die drei Florentiner als Sodomiten in der Hölle schmoren, werden sie hier ja in politischer Hinsicht eindeutig positiv dargestellt; sie fungieren also auch als politische Exempla, nicht nur als Exempla einer bestimmten Sünde. Dieses Andenken ist ‚Dante‘ schon vor der Jenseitsreise durch das kollektive Gedächtnis vermittelt worden. Die Jenseitsreise fungiert somit als Relaisstation zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Die ruhmreiche Vergangenheit der Stadt Florenz wird in der Gegenwart der Jenseitsreise aktualisiert im Hinblick auf eine Zukunft, die durch den an die Jenseitsreise erinnernden Text dauerhaft gesichert werden soll. Doch die Gegenwart ist eine von unhintergehbarem Schmerz geprägte, wie die Isotopie des Schmerzes deutlich macht (Inf. XVI, 70: „si duole“, 72: „cruccia“, 75: „piagni“). Dieser Schmerz wird somit durch den Text gespeichert und die Erinnerung an ihn weitergegeben. Im Zentrum des Textes steht, so zeigt sich erneut, das Schmerzgedächtnis.

5. Schluss Im Anschluss an Yates wurde in diesem Aufsatz zunächst der Stellenwert, den memoria und Mnemotechnik im Mittelalter hatten, rekonstruiert (1.). Im Unterschied zur Antike, in der die Mnemotechnik ihren Ort in der Rhetorik hatte, rückte die memoria im Mittelalter in den Rang einer wichtigen Voraussetzung der Tugend prudentia auf. Dies erklärt Yates zufolge den zentralen Stellenwert, den mnemotechnische Verfahren in der mittelalterlichen Kunst und Literatur, insbesondere in Dantes Commedia einnehmen. Autoren wie Ott, Weinrich und De Poli haben diese These durch eingehende Textanalysen überzeugend bestätigt. Die Untersuchung der Erzählsituation (2.) hat uns sodann auf die Spur geführt, den Text als Schmerzgedächtnis zu lesen, denn sowohl das Erleben als auch das Schreiben stehen im Zeichen des Schmerzes. Die Kontinuität zwischen erlebendem und erinnernd-schreibendem Ich ist vor allem eine der andauernden Ergriffenheit und Furcht angesichts der erlebten Schrecknisse der Hölle. (Dies gilt natürlich hauptsächlich für das Inferno, von dem hier fast

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ausschließlich die Rede war.) Dass die verdammten Seelen überhaupt Schmerz empfinden können, schuldet sich der Tatsache, dass ihre Seelen die Empfindungsfähigkeit von Körpern besitzen, dass sie sich mithin in einem ambivalenten Schwebezustand zwischen Materiellem und Immateriellem befinden. Dieser Schwebezustand ist insofern für den Status des Danteschen Textes bedeutsam, als Letzterer seinerseits an der Schnittstelle zwischen Körperlichem (Materiellem) und Geistigem (Immateriellem) situiert ist. Der Schmerz nun besitzt sowohl physische als auch geistigmoralische Qualität und bildet somit gewissermaßen das poetologische Emblem dieses Textes. Schmerzgedächtnis zu sein ist indes nicht nur die besondere Qualität des Textes qua semiotisches Gebilde, sondern auch die Eigenschaft der Welt, wie Dante sie sich vorstellt (3.). Der Höllensturz Luzifers hat ebenso wie der Kreuzestod des Erlösers Jesus Christus Gedächtnisspuren in der physischen Gestalt der Erde hinterlassen. Auch die Hölle ist ein gigantischer Gedächtnisraum, der die im diesseitigen Leben begangenen Sünden speichert und explizit an sie erinnert; Medium der Erinnerung ist ein der Sünde angemessener Schmerz (contrappasso). Die Analysen des XIII. und des XVI. Gesanges des Inferno (4.) haben gezeigt, auf welche Weise sich in der Commedia zwei Gedächtnissysteme im Zeichen des Schmerzes begegnen und überlagern bzw. wie das eine in das andere überführt wird. Aus dem in einen Strauch verwandelten Dichter Pier della Vigna treten zugleich Blut und menschliche Rede aus, nachdem der Strauch von ‚Dante‘ verletzt worden ist. Diese Kombination steht für die Doppelung von geistig-moralischem und physischem Leid, welche für die in der Hölle leidenden Seelen charakteristisch ist. Der Schmerz wird für ‚Dante‘ zum Medium der Erkenntnis und zur Voraussetzung für die Transformation des in der Hölle vorhandenen statischen Gedächtnissystems in das dynamische System des Danteschen Erzähltextes. Denn als Kompensation für die Verletzung erhält der Geschädigte das Recht, von Dante verewigt zu werden. Im XVI. Gesang des Inferno konnten wir sehen, wie die Dichotomie von Erzähltext und erzählter Welt ausgeweitet wird durch den Dreischritt kollektives Gedächtnis – Begegnung im Jenseits – Erinnerung an die Begegnung (bzw. darüber hinaus an das dieser vorgängige kollektive Gedächtnis). Die Memorialfunktion wird ebenfalls ausgeweitet, indem eine explizite politische Aussage des erlebenden Ichs getroffen wird (Kritik an dem frühkapitalistischen Gewinnstreben in Florenz). Diese politische Aussage ist umgeben von den Elementen Ruhm, Gedächtnis und Schmerz bzw. dem poetologischen Verweis auf das Schreiben des Textes. Es zeigt sich in alldem, dass die der Commedia inhärenten Modelle von Erinnerung und Gedächtnis (ob individuell oder kollektiv gefasst) sowohl auf der Ebene des Erlebens als auch auf der des Schreibens eng an den

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Schmerz gekoppelt sind, dass also der Schmerz zu einem Garanten der Einheit und Identität des Textes wird. Das Gedächtnis als Schmerzgedächtnis ist Ausdruck einer Konzeption der psychophysischen Einheit des Gedächtnisses. Ebenso wie die Seelen im Jenseits körperliche Empfindsamkeit besitzen und in sich somit Körperliches und Immaterielles vereinigen, ist das Gedächtnis des Textes, also das Gedächtnis, welches der Text an die Nachwelt weitergibt, eines, das neben dem Geistigen auch die körperlichen Qualen mittransportiert, ja auf diesen in vielfacher Art und Weise beruht. Vermittler dieses Gedächtnisses ist das erlebende Ich, das zum erzählenden Ich nur werden kann, indem es sich des von ihm selbst und von den Sündern erlittenen Schmerzes immer wieder erinnert und vergewissert.

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Raabes Stopfkuchen Zum Verhältnis von Körpergedächtnis und Medien in der frühen Moderne Es ist ein langer Weg, den die Beute durch den Körper geht. Auf diesem Weg wird sie langsam ausgesogen; was immer verwendbar an ihr ist, wird ihr entzogen. Was übrigbleibt, ist Abfall und Gestank. (Canetti 1994, S. 245)

In Wilhelm Raabe’s novel Stopfkuchen we find a concept of body memory which obviously refers to the tradition of the grotesquely deformed male body. This body memory is not aligned with the contemporary memory discourse from Nietzsche to Freud but rather with older concepts of rhetoric, wherein script memory takes no precedence over oral memory. In this way Raabe achieves a kind of Schwebezustand, a neither-nor quality somewhere between oral and written forms, an ambiguity which is characteristic for the narrative structure of his novel. On the other hand this ambiguity is then also overlapped by the difference between rumour and newspaper – the medium in which literature in the 19th century exists. Thus the novel shows the work of a medium that mutates ,memories‘ into ,news‘, which needs not be stored because it becomes outdated (and thereby obsolete) instantaneously.

1. Vorbemerkung In seiner bekannten Studie reflektiert Elias Canetti das vermeintlich philosophische Problem von Masse und Macht als Resultat unmittelbar körperlicher Akte des Belauerns, Ergreifens, Einverleibens, Verdauens und Ausscheidens durch Hände, Münder, Mägen und Gedärme. An diese Tradition, die Sinnbildungsprozesse und Körpervorgänge in ein analoges Verhältnis setzt, knüpft auch die neuere kulturwissenschaftliche Forschung zum Körper-Gedächtnis an. Ihr geht es zum einen um das Problem, wie im kulturellen Gedächtnis Körper erinnert werden, zum anderen darum, inwiefern Gedächtnis an Körper gebunden ist. So stellen beispielsweise die Herausgeberinnen des Sammelbandes Körper-GedächtnisSchrift in der Einleitung die Frage, auf welche Weise sich am Körper als

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Ort der Einschreibung kulturellen Wissens „Prozesse der Tradierung, Verwerfung und Um-Schrift erinnerter oder vergessener Geschichte(n) vollziehen“ (Öhlschläger/Wiens 1997, S. 10). Als privilegierter Ort solcher Einschreibungen erweist sich strukturell der weibliche Körper, und dieser Befund findet seine Bestätigung von den Anweisungen in den antiken und mittelalterlichen Poetiken, wonach Frauen nur von außen beschrieben werden sollen, bis hin zu den weiblichen Körperbildern der modernen Werbung – ‚Frau‘ ist Körper, ‚Mann‘ auf jeden Fall mehr und anderes, vor allem Inneres. Doch auch der männliche Körper spielt im kulturellen Gedächtnis eine wichtige Rolle – vorwiegend im Sinne eines Mediums, das nicht nur Träger von Zeichen und Bedeutung (von Gedächtnis) ist, sondern zugleich deren machtvoller Produzent. Am Beispiel von Wilhelm Raabes Roman Stopfkuchen soll im Folgenden das Konzept eines Körper-Gedächtnisses vorgestellt werden, das die Tradition des grotesk deformierten männlichen Körpers aufruft. Auch dessen Entstellungen können als Spuren gelesen werden, die die „Ordnung der Dinge“ hinterlässt und die zugleich – hierin dem anorektischen Körper vergleichbar – einen Widerstand gegen diese Ordnung anzeigen. In dieser Tradition ist der Körper allerdings nicht flüchtig und abwesend, sondern extrem sichtbar und präsent; an ihm lassen sich nicht nur die Demütigungen und Disziplinierungen ablesen, er diktiert selbst, wie die „Narbenschrift“ (Nietzsche) zu lesen ist, und kehrt damit die Problematik der beschriftenden Unterwerfung um in diejenige einer gewaltsamen Exhibition von Erzählung, die selbst Teil hat an der performativen Konstitution von Körpern. An der Figur Stopfkuchen lässt sich exemplarisch die Bedeutung des Körpers im Kontext der Erzeugung von Macht, Wahrheit und Wissen zeigen.

2. Groteske Körper Eine wichtige Linie des kulturellen Körpergedächtnisses ist diejenige der Groteske, die die klassische Kunst als eine Art Dämon von ihren Anfängen bis in die Moderne begleitet. Während in der bekannten Definition Wolfgang Kaysers das Groteske durch den Einbruch des Unheimlichen charakterisiert ist (Kayser 1960, S. 86), betont Michail Bachtin mit dem Moment des Lachens dessen subversives und kreatives Potential (Bachtin 1990, S. 28). Es geht in Bachtins Version des Grotesken nicht mehr um die Erzeugung einer entfremdeten, sondern einer ‚umgestülpten‘ Welt, die vor allem durch Ambivalenz charakterisiert ist: „Der Sinn, der sich nicht auf ein Zentrum zurückführen läßt, der ex-zentrische Sinn, verweist immer auf ein anderes, indem er Identität verweigert, schließt er Alterität

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ein.“ (Lachmann 1987, S. 34) Als Konzept der Überschreitung wird das Groteske bei Bachtin zu einer „Apotheose des Körpers“ (Lachmann 1987, S. 9). Das groteske Körper-Drama steht dabei in starkem Kontrast zum abgeschlossenen und unvermischten, funktionalen Körper, der sich zur Heroisierung eignet: „der groteske Leib als Hyperbolie und Hypertrophie des Leiblichen wird zur Verheißung.“ (Lachmann 1987, S. 16) Eine bedeutungsvolle und sinnhaltige Entzifferung dieser Körper wird deshalb unmöglich, weil die grundlegende Ambivalenz die Versöhnung oder Vermittlung der Gegensätze ausschließt; der Sinn der Zeichen lässt sich von den Körpern, die sie generieren, nicht lösen. Es sind vor allem diese Körper-Zeichen, in denen sich Oben und Unten, Heiliges und Profanes, Innen und Außen exzentrisch mischen. Von größter Bedeutung erscheint das Merkmal der Ambivalenz. So hat Carl Pietzcker das Moment der „Erwartungsenttäuschung“ in den Vordergrund gestellt (Pietzcker 1989, S. 86). Diese Zerstörung der Erwartung darf jedoch nicht vollständig sein, „sie muß, paradox gesprochen, Form im geformten Zustand ihrer Auflösung sein“ (Pietzcker 1989, S. 88). Damit wird der Welt erneuernde Aspekt des Grotesken aber auch als Affirmation eben dieser Welt interpretierbar, denn es befindet sich durch die „Produktion von Unentscheidbarkeit und Unbestimmbarkeit“ „zugleich diesseits und jenseits der Grenzen seiner kulturellen Formation“ (Fuß 2001, S. 12f.). Es ist tatsächlich verblüffend, wie umfassend sich Raabes Roman, den der Autor für seinen besten hielt und der 1890 nach einer Ablehnung der Familienzeitschrift Vom Fels zum Meer zuerst als Vorabdruck in Otto Jankes Deutscher Romanzeitung erschien, in Kategorien des Grotesken beschreiben lässt.1 Das beginnt mit dem Titel, der auf etwas Essbares verweist und zugleich den Helden des Romans bezeichnet, setzt sich im merkwürdig zweigeteilten Untertitel einer See- und Mordgeschichte2 fort und wird in der Figurenkonstellation des gegensätzlichen Doppelgängers, der Profanation in einer parodia sacra und vor allem auch in der hypertrophen Leiblichkeit besonders deutlich. Schließlich lassen sich auch die subversiven Effekte, die Bachtin der Groteske zuschreibt, feststellen: die Umstülpung von Ordnung und die Verkehrung der Machtverhältnisse. Unübersehbar ist vor allem die groteske Leiblichkeit des Protagonisten Heinrich Schaumann, genannt Stopfkuchen, dessen Umfang „von Augenblick zu Augenblick mehr über jeglichen Rahmen hinaus [schwoll]“ _____________ 1 2

Vgl. dazu ausführlich Günter 2004. Überschneidungen mit diesem Aufsatz lassen sich angesichts der großen Bedeutung des Grotesken für Raabes Konzeption des Gedächtnisses nicht vermeiden; zur Bedeutung der Groteske in anderen Werken Raabes vgl. Kwon 1999. Zitate aus Raabes Stopfkuchen werden mit Seitenzahl der Ausgabe Raabe 1969 im laufenden Text nachgewiesen.

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(S. 157) und von dem Eduard sagt, er sei nicht nur der langweiligste und feisteste seiner Freunde gewesen (vgl. S. 73), sondern auch „der Dickste, der Faulste und der Gefräßigste“ (S. 22). Sein Wahlspruch – „Friß es aus und friß dich durch“ (S. 114) – wird im Roman vielfach zitiert, variiert und interpretiert, das Spiel mit dem Namen erweist sich als wichtiger Antrieb der Erzählung.3 Der Magen erscheint hier als zentrales Erkenntnismedium und im „behaglichsten Moment des Verdauungsprozesses“ (S. 79) scheidet der Erzähler Stopfkuchen seine Geschichten aus (vgl. Haslé 1996). Raabes Roman propagiert in dieser Figur entgegen aller realistischen Paradigmen Maßlosigkeit und Muße, sozusagen ein Recht auf Fettheit und Faulheit. Seine literarische Anamorphose produziert ein Monstrum, nicht im Sinne des Deformen, aber im Sinne des Enormen (vgl. Fuß 2001, S. 299). Diese Strukturmanipulation wiederholt sich im Prozess des Erzählens: In der extrem knappen Erzählzeit eines Tages, strukturiert durch die Mahlzeiten, muss nicht weniger als ein ganzes Leben wiedergegeben werden, wobei dieses noch überfüllt wird mit wild wuchernden Ausschweifungen, die die von den Zuhörern Tine und Eduard mit äußerster Spannung erwartete Auflösung der Mordgeschichte – wonach nicht der jahrelang im Dorf verdächtigte Vater Tines, der Bauer Quakatz, sondern der unbescholten gestorbene Briefträger Störzer den Mord an dem Viehhändler Kienbaum begangen habe – immer wieder verzögern. Während der Erinnerungsprozess mit dem der Verdauung kurzgeschlossen wird, erweist sich derjenige des Erzählens als einer der Ausscheidung, als Sekretion.4 Exzessiv spielt der Text mit der grotesken Tradition von „Literaturpersonen und -geschichten“ (S. 139); diese Allusionen ersetzen nicht selten den Fortgang der Erzählung, so wenn in Bezug auf Schaumanns und Tines Hochzeitsfest nur lapidar auf das Fest des Camacho aus Don Quichotte angespielt wird. Darüber hinaus zeigt der Roman sich verankert im Spiel mit volkstümlichen Sprichwörtern und Redewendungen, die sich fast alle um das Thema Essen und Verdauung drehen. Aber auch der Akt des Essens selbst, der im Zentrum der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Groteske steht, bleibt Zitat: als Verweis auf das Kochbuch der Henriette Davidis und natürlich auf Rabelais, dessen Romantitel vom riesigen Mund _____________ 3

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‚Stopfkuchen‘, ursprünglich das Reststück des Teigs, in den übrig gebliebene Rosinen, Butter usw. ‚gestopft‘ wurden, wird im Roman in alle Richtungen strapaziert. Als Schimpfname für eine Person, in die etwas eingefüllt wird und die selbst Essen und Tränen in sich hineinstopft, ebenso wie für eine, die anderen ihre Geschichten aufpfropft. „Doch ich schweife ab – der warme Tag öffnet einem so angenehm alle Poren des Leibes und der Seele.“ (S. 121) Jost Schillemeit hat für Raabes Erzählweise den Begriff der ruminatio fruchtbar gemacht und sie mit einer „eigenartigen Polyphonie von Mediation des Erzählers, Mediation der Figur und fortschreitender Handlung“ in Verbindung gebracht (vgl. Schillemeit 1981, S. 46).

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(Gargantua) und vom grausamen Magen (Pantagruel) als Motto des Stopfkuchen angesehen werden kann. Schließlich erweist sich auch die Verdopplung der Erzählfigur als Zitat: im dicken Stopfkuchen und im dürren Eduard wird die mittelalterliche Opposition von Karneval und Fasten zitiert (vgl. Bachtin 1990, S. 53; Graevenitz 1990). Neben der grotesken Romantradition finden sich vielfältige Anspielungen auf die zeitgenössische Literatur, auf Immermann, Platen, Clauren und Andersen, vor allem aber auch auf Raabes eigenes Werk, schreibt doch Eduard sein ‚Logbuch‘ an Bord der „Leonhard Hagebucher“ und zitiert damit direkt aus dem Afrika-Roman Abu Telfan; schließlich lässt sich sein polyphager Titelheld auch als selbstironische Antwort auf den Hungerpastor lesen (vgl. ausführlich Graf/Kwisinski 1992). Eduards Hauptanliegen ist es, „gleich in den ersten Zeilen dieser Niederschrift zu beweisen oder darzutun, daß ich noch zu den Gebildeten mich zählen darf.“ (S. 196) Durch die Kenntnis von Literatur soll die Erzählerposition legitimiert werden, auch wenn die Orthographie des Heimkehrenden möglicherweise nicht dem neuesten Stand entspricht. Erinnert wird also zum einen die im Vergleich zur klassischen Kunst lange Zeit marginalisierte Tradition des Grotesken, zum anderen die abgewertete Tradition der Unterhaltungsliteratur des 18. und 19. Jahrhunderts, die auf diese Weise in die Moderne gleichsam hineingeschmuggelt wird (vgl. Graf/Kwisinski 1992). Der Roman ist voll mit intertextuellen Verweisen und Anspielungen, die darauf hindeuten, dass auch die Literaturgeschichte hier buchstäblich verdaut wurde. Diese Praxis des Zitats, die von der grotesken Tradition bis zur Literatur des eigenen Jahrhunderts alles erfasst, macht aus dem Roman-Körper gleichfalls einen ‚Stopfkuchen‘, in dem zusammengerührt wurde, was übrig blieb, denn in den Text-Körper wurde alles ‚gestopft‘, was am Ende eines Jahrhunderts massenmedialer Produktion und Verbreitung von Literatur ihre Formen bestimmt – von der Kriminal- zur Kolonialgeschichte, vom historischen zum Familienroman –, bis auch der realistische Roman, wie der Protagonist, „als Form im geformten Zustand [seiner] Auflösung“ erscheint. Wie Schaumann mit Geschichten, so ist der Text mit Zitaten angefüllt, die immer wieder zu Umständlichkeiten und Abschweifungen Anlass geben und sich penetrant einer genussvollen Lektüre widersetzen. Das Groteske wird durch dieses Zitatverfahren gleichsam von der motivischen auf die strukturelle Ebene verschoben, der Roman-Körper gerät zum unförmigen und hybriden Gedächtnisspeicher, dessen Inhalte bereits selbst zu Sprichwörtern und Redensarten geronnen und in dieser Form jederzeit und willkürlich abrufbar sind. „Indem wir einen Ausdruck zitieren, gebrauchen wir ihn nicht, sondern wir erwähnen ihn.“ (Böhn 1999, S. 12) Diese Verweisfunktion impliziert, dass die Zitate keine tiefenstruk-

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turelle Semantik im Sinne eines interpretationsbedürftigen Kontextes entfalten, sondern dass sie vor allem dazu dienen, den Rede- bzw. Gedächtnisstrom in Gang zu halten und immer wieder neu anzuregen. Die so erzeugte Distanz – das Zeichen verweist nicht mehr auf ein Bezeichnetes, sondern auf ein weiteres Zeichen – macht den für den realistischen Roman konstitutiven Bezug zur ‚Realität‘ – in unserem Fall die Erfahrungen Stopfkuchens – selbst zweideutig. Von einem „Gattungszitat“ (vgl. Kuon 1986) lässt sich zwar in Raabes Fall nicht im strengen Sinn sprechen, insofern die Groteske der abgeschlossenen Kontur einer Gattung entbehrt; auf der anderen Seite können die Rabelais-Verweise, dessen opus magnum als prototypische Verwirklichung des grotesken Romans gilt, durchaus als Formzitate gelesen werden, deren kritischen Impuls Peter Kuon festgehalten hat: „Im Zitat werden die gedanklichen Voraussetzungen einer Gattung aufgedeckt, die Schwachstellen des Gattungssystems bloßgelegt, strukturelle und funktionale Veränderungen benannt und mögliche Problemlösungen und Entwicklungstendenzen vorweggenommen.“ (Kuon 1986, S. 321) Das bedeutet, dass der realistische Roman hier die Probe aufs Exempel macht und seine ihn immer schon bedrohenden Außenseiten – die groteske Verkehrung als Außenseite der realistischen Darstellung und die populären Genres als Außenseite der realistischen Formen – in die eigene Konstruktion integriert und den Roman damit im Kontext seiner strukturellen und funktionalen Veränderungen in der Moderne reflektiert.

3. Physiologie des Erzählens Die Verknüpfung von Magen/Verdauung und Gedächtnis bzw. Ausscheidung/Erzählung, die in vielfältigen literarischen „Bildern von Inkorporation und Exkorporation“ (Wenzel 1997, S. 489) die abendländische Kulturgeschichte begleitet,5 findet auch im 19. Jahrhundert ihren Niederschlag. An prominenter Stelle sind hier vor allem zwei Autoren zu nennen: Heine, der im Buch Le Grand aus den Reisebildern Essen/Trinken und Schreiben so verknüpft, dass der Stoff des Autors – die zu beschreibenden Narren – sich unverzüglich und ganz unmittelbar in ‚Wein‘ und ‚Brot‘ verwandelt, um in dieser schmackhaften Gestalt den Gaumen des Autors zu erfreuen (vgl. Heine 1995, S. 294ff.), und dann vor allem Nietzsche, der durch seine ständigen Klagen über einen schwachen Magen und eine träge Verdauung in den Briefen fast ebenso bekannt ist wie durch seine physio_____________ 5

Zu Vorstellungen eines physiologischen Gedächtnisses in der Frühen Neuzeit vgl. den Beitrag von Günter Butzer in diesem Band.

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logische Gedächtnistheorie und seine enge Koppelung von Geist, Moral und Verdauung.6 Während die ältere kulturwissenschaftliche Forschung vor allem den „Zusammenhang von Eßakt und Zeichenbildung“, von „Essen und Erkennen als Doppelformen menschlicher Selbsterarbeitung“ herausgestellt und auf die biblische Erzählung vom Sündenfall bzw. dessen Versöhnung im Abendmahl zurückgeführt hat (vgl. Neumann 1982, S. 174), wurde in jüngster Zeit der Körper in seiner oft auch kruden Materialität entdeckt. So verweist etwa der Eintrag „Magen“ in dem Band Körperteile aus dem Jahr 2001 auf die zentrale Funktion der Verdauungsorgane, den Körper mit der Außenwelt zu verbinden. „Sie machen deren Substanzen zur Innenwelt unseres Körpers. Im Prozeß der Verdauung werden diese in körpereigene Substanzen und in Energie umgewandelt. Der Rest wird ausgeschieden.“ (Wulf 2001, S. 196) Es findet also eine Art Tausch statt, ein Stoffwechsel,7 wobei sich das, was einverleibt wird, fundamental von dem unterscheidet, was entäußert wird. Ausgangspunkt für diesen Austausch mit der Welt ist der Mund, wo sich aber nicht nur Nahrungsbedürfnis und Libido im Oraltrieb treffen, sondern wo eben auch das Erzählen seinen organischen Ursprung hat. Auch im Erzählen werden mittels des Mundes Stoffe gewechselt, die Zusammenführung beider in einem physiologischen Erzählmodell drängt sich also geradezu auf. Die unglaubliche „Kraft und Macht“ der „peristaltischen Bewegungen“ (S. 65), die Stopfkuchen als seine ganz besondere Qualität rühmt, verdaut alles: Mit großem Appetit vertilgt er die ‚historischen Schinken‘ des alten Schwartner [sic!] über den Siebenjährigen Krieg zusammen mit den Lebensgeschichten Tines und Eduards und den kulinarischen Schätzen der Roten Schanze.8 Sein Erzählen wird ganz explizit zur Exkretion – _____________ 6

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Dass dies nicht nur übertragen zu lesen ist, zeigt sich in Ecce homo, wo die Moral ganz unmetaphorisch aus einem starken Magen und einer guten Verdauung heraus begründet wird: „Ein paar Fingerzeige noch aus meiner Moral. Eine starke Mahlzeit ist leichter zu verdauen als eine zu kleine. Daß der Magen als Ganzes in Tätigkeit tritt, erste Voraussetzung einer guten Verdauung. Man muß die Größe seines Magens kennen. Aus gleichem Grunde sind jene langwierigen Mahlzeiten zu widerraten, die ich unterbrochne Opferfeste nenne, die an der table d’hôte.“ (Nietzsche 1988, S. 281) Die physiologische Definition des Stoffwechsels ist durchaus aufschlussreich, umfasst er doch die Gesamtheit der biochemischen Vorgänge, die im Organismus ablaufen und dem Aufbau, Umbau und der Erhaltung der Körpersubstanz sowie der Aufrechterhaltung der Körperfunktionen dienen. Die Stoffwechselprozesse verbrauchen Energie, die durch Abbau zelleigener Substanzen im Vorgang der Dissimilation gewonnen wird. Die durch die Dissimilation verbrauchten Substanzen und die für Aufbau und Wachstum benötigten Zellsubstanzen werden durch Energie verbrauchende Reaktionen im Vorgang der Assimilation ersetzt. Praktisch lassen sich alle Stoffwechselvorgänge nach Funktionskreisen in Assimilation, Ernährung, Atmung, Verdauung, Resorption und Exkretion unterteilen. So der Name der von Tine Quakatz und ihrem Vater bewohnten ehemaligen Festungsanlage, deren ‚Eroberung‘ sich Schaumann schon frühzeitig zum Ziel setzt.

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zum Kophroliten – oder zur Sekretion, die aus allen Poren steigt; es setzt buchstäblich körperliche Energie frei, die Stopfkuchen auch direkt in Bewegung transformiert – am Ende des Tages wandert er mit Eduard ins Dorf. Doch nicht nur Stopfkuchen, auch sein Zuhörer und narrativer Gegenspieler Eduard ist über sein Verhältnis zu Magen, Verdauung und Ausscheidung charakterisiert: Während bei Stopfkuchen Ausscheidung und Erzählung zu einem einzigen Akt verschmelzen, der nur die Autorität von Henriette Davidis’ Kochbuch anerkennt, kann Eduard, der vor Stopfkuchens ‚Wahrheit‘ zurück in die afrikanischen Kolonien flieht, an Bord des Schiffes nur schreiben, sofern er sich der Speise enthält: Sein Zustand auf See ist – entsprechend der äußerst einfachen Oppositionsstruktur des Romans – einer der Indigestion.9 Den Ort dieser merkwürdigen Niederschrift der Erzählung eines anderen, die eigentlich seine eigene Geschichte ist, bildet signifikanterweise das Innere eines Körpers, „der Bauch“ des Schiffes. Der Schreibende erscheint hier selbst als etwas, das gerade verdaut wird, und nicht als einer, der selbst verdaut. Wiederholt wird schließlich das Verhältnis Stopfkuchens zu Eduard als eines der wechselseitigen Inkorporation beschrieben. Auf den ersten Blick ist es Stopfkuchen, der sich der Geschichte Eduards bemächtigt und diese in einer Weise verdaut und wieder ausscheidet, dass sie für Eduard völlig unkenntlich und unheimlich wird. Stopfkuchen erinnert Eduards geliebtes und verklärtes Vorbild aus Kindertagen, den pflichtbewussten Landbriefträger Störzer, als den Mörder Kienbaums, während das kollektive Gedächtnis der philiströsen Gemeinschaft diesen Mord über viele Jahre dem Bauern Quakatz anzuhängen versuchte. Doch gegen diese Interpretation des Protagonisten als moderner Künstler-Detektiv (vgl. Eisele 1979) wurden in jüngster Zeit ernsthafte Bedenken angemeldet und Indizien dafür gesammelt, dass Schaumann seine Geschichte von Störzers Täterschaft schlicht erfindet und dass er mithin nicht als (wenn auch dicklicher) Nachfahre des Sherlock Holmes gelten könne, wohl aber als Nachkomme Baron Münchhausens. Darauf verweist nicht zuletzt die Anrede Tines als Emerentia, diejenige Figur, die in Immermanns Roman mit großer Hingabe Münchhausens fantastische Geschichten anhört (vgl. Graf/ Kwisinski, S. 207). Wie unterschiedlich man solche Indizien auch immer _____________ 9

Wichtige Hinweise finden sich in den wenigen „Seenotizen“: „Heute, unter der Linie, habe ich zwar die Glocke des Schiffskochs nicht überhört, aber ich habe ihr doch auch nicht Folge geleistet. Ich bin von Tische fort – und bei meinem Manuskript geblieben. Mit dem Appetit des Nordländers ist es zwischen den Wendekreisen des Krebses und des Steinbocks leider nur zu häufig soso, und die sind schon gut dran, die in jenen schönen Gegenden sich wenigstens noch mit Behagen oder doch ohne Mißbehagen an frühern Tafelgenuß und bessere Verdauung erinnern dürfen.“ (S. 73)

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bewerten mag, zu konstatieren bleibt, dass das Gedächtnis Stopfkuchens, dessen Qualität und Leistungskraft er selbst immer wieder mit dem großen Leibesumfang in Verbindung bringt, eine Geschichte als körperliche Erinnerung konstruiert, deren ‚Wahrheit‘ im Effekt ihrer machtvollen Inszenierung entsteht, der mit Eduard auch die Leser unterworfen werden. Bei genauerer Prüfung zeigt sich: „Jemand (Eduard) schreibt, daß jemand (Stopfkuchen) erzählt, daß jemand (Störzer) erzählt, er habe Kienbaum ermordet. Und genaugenommen erzählt Störzer das nicht einmal.“ (Liebrand 1999, S. 92) Die Erzählung, wahr oder nicht, setzt hier also körperliche Realitäten in die Welt, die von den Körpern der anderen buchstäblich Besitz ergreifen.10 Doch das ist nur die eine Seite. Schließlich ist es Eduard, der die von Stopfkuchen mündlich erzählte Geschichte noch einmal erinnert und in diesem Erinnerungsakt zugleich aufschreibt. Dieser Prozess kann gleichermaßen als Anverwandlung im Sinn einer Einverleibung und insofern als Resultat einer Digestion gelten: als ein „längst vergessener und verdaueter Schinken, und wenn auch in Burgunder“. (S. 59f.) Diese Übernahme der Verdauungsmetapher für die Erzählung Eduards deutet darauf hin, dass dieser entgegen aller Ausscheidungen Stopfkuchens doch noch seine idyllische Erinnerung an die Heimat in die Fremde hinüberrettet.11 Die Möglichkeit einer Restituierung der eigenen Wahrheit wird vor allem durch den Medienwechsel gestützt: Eduard ist keineswegs Stopfkuchens „Phonograph“, der blind und wie unter Zwang aufschreibt, was ihm erzählt wurde. Wenn er in seiner Niederschrift scheinbar keinen gedanklichen Abstand zu Stopfkuchens Erzählung gewinnt, so kann dies auch als Distanz interpretiert werden (vgl. Struck 1999, S. 61), die sich in der souveränen Übertragung vom Mündlichen ins Schriftliche dokumentiert: „The objectifying, controlling power of the written medium, while taking the life out of spoken language, can freeze oral forms and preserve them in fossilized profiles.“ (Kelber 1983, S. 44) Im Übergang von der „fließenden Rede“ Stopfkuchens zum „gefrorenen Text“ Eduards könnte der Angriff auf die „idyllische Rustizität und kleinbürgerliche Enge“ (S. 207) hervorragend pariert werden, so dass die Idylle am Ende doch nicht als schriftliches Fossil in den Pitaval, sondern als Beute nach Afrika _____________ 10 11

„So wahrscheinlich bald nach Mitternacht hatte ich mich ganz in des Dicken Stelle, das heißt seine Haut versetzt, das heißt war in dieselbe hineinversetzt worden.“ (S. 197) Schon die Vorrede Eduards, die ja bereits um die ganze scheinbare ‚Enthüllung‘ weiß, schert sich darum nicht: „Aber es ist doch hübsch im Vaterlande […].“ (S. 8) und am Ende seiner Niederschrift wird dieser Eindruck eigentlich nur wiederholt: „Es dauerte noch anderthalb Tage, ehe wir landen konnten, und während dieser Zeit wanderte ich noch recht oft auf der Landstraße der Heimat mit dem Landbriefträger Störzer und hörte den mit sonderbaren Seitenblicken auf die Rote Schanze vom Le Vaillant und von dem Inneren Südafrikas erzählen […].“ (S. 207)

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gebracht werden könnte. Schließlich lautet der letzte Satz des Romans: „Vader, wat hebt gij uns mitgebracht uit het Vaderland, aus dem Deutschland?“ (S. 207) Claus-Michael Ort hat die Tatsache der Verschriftung durch Eduard mit Hilfe eines „diätetischen Modells“ erklärt, wobei er Diätetik als „kommunikativen Austauschprozeß zwischen Körper und Umwelt begreift und sich dabei am Nahrungskreislauf orientiert. […] Insofern sich die gastrisch-peristaltische Semantik im Stopfkuchen nun als diätetische erweist und vom Text selbst als Poetologie eines metaphorischen Stoffwechsels von Aufnehmen, Verarbeiten und Ausscheiden eingesetzt wird, verweist der harmonische, ‚gesunde‘ Normalfall einer ‚Diätetik‘ des Erzählens auf ihre pathogenen Abweichungen.“ (Ort 2003, S. 23) Doch wer sollte im Text diesen Normalfall garantieren? Schaumann nicht, der zwar alles ‚gefressen‘, aber kaum je etwas ausgeschieden hat, darüber dick geworden ist und am Ende in einer monströsen ‚Logorrhöe‘ alles auf einmal von sich geben muss; aber auch Eduard nicht, der zwar als Träger der Verschriftung die Macht der gelungenen ‚Verdauung‘ hätte, diese aber gar nicht zu nutzen versteht. Seine Verschriftung erfolgt sekundär, was eine kategoriale Trennung vom in der Mündlichkeit verbleibenden Text verhindert. Für die Untermauerung der These einer diätetischen Verarbeitung durch Eduard bedürfte es – wenn auch noch so spärlicher – textueller Hinweise der Modifizierung, also Indizien, inwiefern Eduard Stopfkuchens Erzählung tatsächlich einverleibt. Die These, dass Eduard „zu Lasten Schaumanns das letzte Wort“ behält (Ort 2003, S. 27), lässt sich am Text nicht belegen. Denn es gibt nicht die geringsten Anzeichen einer Übertragung, etwa durch Überführung der Erzählerrede in die dritte Person. Die spatiale und temporale Distanzierung des Erzählvorgangs, die durch Eduards Flucht und die mehrwöchige Seereise behauptet wird, erscheint im Text nicht umgesetzt. Vielmehr erfüllt die Erzählung fast alle Merkmale des skaz: ein Ich-Erzähler, der die Adressaten seiner Erzählung direkt anspricht, die Verwendung des Präsens als Nulltempus der Erzählerrede, die allokutionalen Merkmale der Vokativ-, Interrogativ- und Imperativkonstruktionen, die Pseudodialoge, die nur die Erzählung in Gang halten, die Expressivität des Sprechakts, der durch Ausrufe, rhetorische Fragen, Unterbrechungen, Kommentare und vor allem durch Digressionen und Wiederholungen charakterisiert ist und nicht zuletzt die semantischen Merkmale eines deutlich subjektiven Urteils des Erzählers über die Welt. (Vinogradov 1969, S. 170ff.) Als „mitteilender Monolog narrativen Typs“ (Vinogradov 1969, S. 185) scheint Stopfkuchens Rede mit dem Begriff des skaz exakt beschrieben zu sein. Denn das Bemerkenswerte besteht nach Vinogradov eben darin, dass er in Intonation, Lexik und

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Syntax oft an der Schriftsprache orientiert ist, dass viele seiner Formen sekundären Ursprungs – etwa aus Büchern – sind. Der Effekt des skaz als perfekte (schriftliche) Simulation mündlicher Rede besteht also darin, die Differenz von mündlicher und schriftlicher Erzählung unkenntlich zu machen. Diese Grenzverwischung lässt sich in Raabes Roman vor allem an den wenigen, sehr deutlich auch typographisch markierten Bruchstellen zeigen, in denen See- und Mordgeschichte kurzfristig getrennt erscheinen, um dann ganz unmerklich in gemeinsamen Bildern des Essens wieder miteinander zu verschmelzen. Der Übergang von der „fließenden Rede“ Stopfkuchens zum „gefrorenen Text“ Eduards hat also merkwürdigerweise keine weiteren Auswirkungen auf das hier Erinnerte. Stopfkuchens Körpergedächtnis kann sich mit seiner gewaltigen Wucht, seiner endlosen Rede zwar der Lebensgeschichte Eduards bemächtigen, doch er vermag diese eben gerade nicht für sich zu behalten; und Eduard bekommt seine eigene Geschichte zwar für eine schriftliche Version zurück, bleibt darin aber voll und ganz den Ausscheidungen Stopfkuchens verpflichtet.

4. Medien des Gedächtnisses Die Ambivalenz bestimmt die Struktur der gesamten Erzählung und setzt sich vom ungelösten Problem mündliche/schriftliche Erzählung bis in die doppelte Genrebezeichnung hinein fort. Letztlich wird weder eine Seenoch eine Mordgeschichte erzählt. Die Erwartung eines Kolonialromans, der sich vor allem auch im Publikationsorgan des Stopfkuchen, in der Deutschen Romanzeitung, großer Beliebtheit erfreute,12 wird hier ebenso desavouiert wie diejenige der Kriminalgeschichte, die in Stopfkuchens Version zum Fake wird.13 Die Mordgeschichte, die Stopfkuchen seinen Zuhörern unter großer Anspannung immer wieder verspricht, entpuppt sich als Gerücht eines Gerüchts, dessen Logik mehr als fragwürdig erscheint. Auch in Bezug auf die traditionelle Erwartung ans Erzählen werden Leser und Leserin enttäuscht: Der aus dem fernen Afrika heimkehrende Eduard erzählt mit keinem einzigen Satz aus der Fremde, der Weitgereiste wird vielmehr vom „Seßhaften, der aus der Vergangenheit zu erzählen weiß“ (Benjamin 1980, S. 440), zum Schweigen gebracht.14 Die Verklammerung _____________ 12 13 14

Hier erschienen u.a. die äußerst populären Kolonial- und Abenteuerromane Frieda von Bülows und Karl Mays. Zur Lektüre des Romans als Travestie auf die populären Kriminal- und Kolonialgeschichten, wie sie gerade in der Deutschen Romanzeitung Konjunktur hatten, vgl. Struck 1999, S. 60 bis 70. „Und nun, wie als ob ich aus meinem Leben und aus Afrika nicht das geringste Neue und für ihn vielleicht auch Merkwürdige zu erzählen gehabt hätte, zog er mich an den Rand

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der beiden populären Genres im symmetrischen Untertitel bewirkt „eine unaufhörliche semantische Kippbewegung oder Semiose: Semantisierung innerhalb der einen Logik bewirkt Desemantisierung in der anderen und umgekehrt“ (Kotzinger 1994, S. 221). In den Zwischenräumen, die durch die Kippbewegung entstehen, entfaltet sich ein Kampf von Erzählweisen, wobei die Frage, wer denn die Geschichte eigentlich erzählt, zum unlösbaren Problem gerät. Mündliche und schriftliche Erzählung sind derart ineinander geblendet, dass sie nur an den Rändern notdürftig unterschieden werden können. Das Erzählen ist dezidiert zweistimmig programmiert (vgl. S. 93, 101, 118, 145, 162), die Dialogizität wird hier durch die Gegenüberstellung bis an die äußerste Grenze getrieben, wo sie gerade noch nicht in zwei Stimmen auseinanderbricht. Unversöhnlich bleiben die beiden Fassungen stehen, aber nicht neben-, sondern ineinander, so dass Stopfkuchen bis zum Ende rücksichtslos weitschweifig auf seiner „Schöne-Geschichten-Erzählungsweise“ (S. 183) beharrt, während Eduard diese aufzeichnet, aber in dem unerschütterlichen Bewusstsein, damit seine eigene Version des Geschehens zu erfinden: „Schön Wetter auf See! Wie hätte ich mein Garn aber auch so fortspinnen dürfen, wie es eben geschehen ist, wenn dem nicht so gewesen wäre?“ (S. 113) Dieser ‚Kampf‘ zwischen Eduard und Stopfkuchen ist auch einer um die ‚wahre‘ Version der Geschichte, wobei Wahrheit gerade durch die subtilen Reflexionen beider Erzähler auf ihre Fiktionalität deutlich als Effekt einer rhetorischen Inszenierung ausgestellt wird. Auch hier gilt: Die Wahrheit bleibt auf der Kippe, sie ist der Erzählung nicht zu entnehmen. Zu dem Urteil, das Heinrich Eduard anheim stellt – „ob du deine, seine oder meine Geschichte für die wichtigere hältst“, ist Eduard nicht fähig, seine Version kann höchstens neben derjenigen Schaumanns bestehen, seinen Kopf vermag er nicht „aus der Geschichte zu ziehen“ (S. 200). Die Konkurrenz der beiden Erzähler und damit auch die Medienkonkurrenz werden nicht entschieden, die Kippbewegung erhält die Ambivalenz aufrecht und setzt eine Entscheidung aus. In der ambivalenten Doppelrede bleiben beide Versionen stehen; zugleich heben sich die beiden Versionen wechselseitig auf. Wenn Eduard von Stopfkuchen inkorporiert wird, dann lässt sich dies auch umgekehrt behaupten: Eduard verleibt sich Stopfkuchen ebenfalls ein. Wer genau die Geschichte erzählt, bleibt so verborgen, wie in jenen endlos sich verflechtenden Bildern M. C. Eschers – von einer diätetischen Verarbeitung kann keine Rede sein. Dagegen geht Ort nicht von einer durchgehaltenen Ambivalenz, sondern von einer Entscheidung aus: „Der Übergang von der exzessiven _____________ seines Burgwalls und deutete mir mit dem Finger dieses so grenzenlos unbedeutende Stück Welthistorie […].“ (S. 72)

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Oralität Heinrichs zur disziplinierten und letztlich selbstadressierten Literalität Eduards wird so als ein potentiell selbsttherapeutischer Medienwechsel lesbar, der die rezeptiven und produktiven Extreme – ‚Freßsucht‘ und ‚Obstination‘ einerseits und ‚Entleerung‘ an der Grenze zur ‚Diarrhöe‘ andererseits – ausbalanciert und auf einen harmonischen (Erzähl-) ‚Stoffwechsel‘ zurückführt, der, bleiben die Fremdleser des unleserlichen ‚Gekritzels‘ aus, schließlich ganz zum Stillstand kommen wird.“ (Ort 2003, S. 31) Diese Interpretation sieht ab vom extremen Selbstbewusstsein des Schöne-Geschichten-Erzählers Stopfkuchen, der an jeder Stelle als Regisseur des Geschehens erscheint und der es gönnerhaft dem Freund überlassen kann, „so viele Begleitstrophen und Begleitgegenstrophen zu der Geschichte [zu singen]“, wie er wolle (S. 167), weil er seine Geschichte längst jeder denkbaren Kontrolle entzogen hat. Denn die Auflösung der Mordgeschichte findet gerade nicht, wie die übrige Erzählung, zwischen Schaumann und Eduard allein statt, vielmehr bezieht Schaumann in Gestalt der Bedienung Meta gezielt ‚Publikum‘ ein und fordert dieses explizit auf, „die Ohren und nachher den Schnabel“ weit aufzusperren (S. 182; vgl. auch S. 167, 168, 171, 181f.). Auffällig häufig und dezidiert versichert sich Schaumann in der Folge der ungeteilten Aufmerksamkeit seiner Zuhörerin, die er auserkoren hat, seine Geschichte zu verbreiten. Diese präzise kalkulierte Erweiterung seiner Zuhörerschaft garantiert ihm, dass die Geschichte mit dem schlechten Geruch in Gestalt des Gerüchts nicht in die schriftliche Kontrolle Eduards übergeht, sondern in Gestalt der „Frau Fama“ nicht nur sein „Tinchen“ auf der Roten Schanze besuchen wird. (S. 182)15 Damit bringt er eine Version in Umlauf, die wiederum den Gesetzen des mündlichen Mediums folgt. „‚O Gott, o Gott, Herr Schaumann, aber ich habe ja alles mit angehört! Ist es denn möglich? Und die Herren da drinnen! Darf es denn jetzt jeder wissen? Darf auch ich jetzt alles den Herren heute abend sagen?‘ ‚Alles mein Kind.‘“ (S. 194) Die Trennungslinie zwischen Information/Nachricht und Gerücht/Erzählung ist im Gerücht verschwunden, es erweist sich gegen die Unterscheidung wahr/falsch prinzipiell indifferent und die Dynamik seiner Verbreitung hängt nicht von seiner Glaubwürdigkeit ab, es handelt sich vielmehr um einen diffusen, kollektiven und improvisierten Prozeß (vgl. Dörrlamm 2003, S. 95). Damit folgt das Gerücht denselben Gesetzen wie die Mas_____________ 15

Ovid beschreibt den Ort, an dem Fama wohnt, folgendermaßen: „tausend Zugänge gab sie dem Haus und unzählige Luken, / keine der Schwellen schloß sie mit Türen; bei Nacht und bei Tag / steht es offen, ist ganz aus klingendem Erz, und das Ganze / tönt, gibt wieder die Stimmen und, was es hört, wiederholt es. […] Scharen erfüllen die Halle; da kommen und gehn, ein leichtes/ Volk, und schwirren und schweifen, mit Wahrem vermengt, des Gerüchtes / tausend Erfindungen und verbreiten ein wirres Gerede.“ (Ovid 1974, S. 39ff.).

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senmedien, auf die im Roman mehrmals angespielt wird; so fehlt nicht der Hinweis auf „die auswärtigen Zeitungen vom gestrigen Tage nebst dem heutigen ‚Abendblatt‘ der städtischen Presse“ (S. 165), aus denen Schaumann schon am Anfang von der Ankunft Eduards erfährt und die beim zweiten Ortswechsel des Romans, der Ankunft Eduards und Schaumanns im Gasthaus Brummersumm [sic!], ebenfalls bereitliegen. Auch wird mehrfach betont, dass der Briefträger Störzer nicht nur Gerichtspost, sondern stets auch Zeitungen auf der Roten Schanze ablieferte, zu Lebzeiten also zur Distribution massenmedialer Wirklichkeitskonstruktionen beitrug, die selbstverständlich auch seine Afrika-Begeisterung, die er an Eduard weitergibt, modellierten. Diese wiederholten Hinweise können als Spuren gelesen werden, dass schließlich das mündliche Gerücht massenmedial verschriftlicht und dann auf jeden Fall ein unkontrollierbares Publikum erreichen wird, denn unentbehrlich ist „die Mitwirkung der Massenmedien, wenn es um die weite Verbreitung, um die Möglichkeit anonymer und damit unvorhersehbarer Kenntnisnahme geht“ (Luhmann 1996, S. 183). Dagegen lässt der schriftliche Text Eduards keine große Wirkung erwarten, diese wird vielmehr unter mehrfachen Vorbehalt gestellt: „Wie aber würden sich meine Nachbarn […] wundern, wenn sie das Kajüten-Gekritzel lesen könnten, so sie es in die Hände kriegten.“ (S. 8; vgl. auch S. 200) Es geht hier also offenbar nicht bloß um die Medienkonkurrenz von Mündlichkeit und Schriftlichkeit, sondern diese wird modifiziert: Die Literalisierung im privaten Tagebuch Eduards, das bestenfalls als Buch veröffentlicht werden könnte, dessen Verbreitung in den Kolonien keinerlei Wirkung hätte, steht derjenigen der Verbreitung von Gerüchten mittels periodischer Printmedien weit nach. Diese machen ihre Wahrheit – wie Stopfkuchen – selber und bringen sie mit derselben Zielsicherheit und Wirksamkeit wie jener unter die Leute. Interessant ist nicht unbedingt, was wahr ist, sondern was neu ist: „Auf paradoxe Weise richtet sich das Gedächtnis in seiner modernen Version auf die Erzeugung von Neuheit.“ (Esposito 2002, S. 228) Nicht zuletzt die Rezeptionsgeschichte des Romans, auch und vor allem die literaturwissenschaftliche, bestätigt Stopfkuchens Kalkül von der Wirksamkeit des (auch massenmedial) verbreiteten Gerüchts für das kollektive Gedächtnis, folgte sie doch bis vor kurzem ausschließlich den von Heinrich Schaumann gelegten Spuren.

5. Körper-Gedächtnis in der Moderne Am Ende des 19. Jahrhunderts stehen sich zwei Konzepte von Körpergedächtnis gegenüber, deren Profile bis heute den Rahmen für die Diskussion um Gedächtnis und Erinnerung mitbestimmen. Auf der einen Seite

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befindet sich Nietzsches Kritik an der gewaltsamen Produktion von Gedächtnis – „vielleicht ist sogar nichts furchtbarer und unheimlicher an der ganzen Vorgeschichte des Menschen, als seine Mnemotechnik“ (Nietzsche KSA 5, 1988, S. 295). Dieser stellt er ein aktives Vergessen als „im strengsten Sinne positives Hemmungsvermögen“ gegenüber, das allein die „seelische Ordnung“ aufrechterhalte (Nietzsche KSA 5, 1988, S. 291f.) und den Menschen handlungs- und damit lebensfähig mache (vgl. Nietzsche KSA 1, 1988, S. 250), während die Narbenschrift des Körpers16 die Erinnerung an die heillose Vergangenheit fessele, die ihn immer nur daran erinnert, „was sein Dasein im Grunde ist – ein nie zu vollendendes Imperfectum“ (Nietzsche KSA 1, 1988, S. 249). Auf der anderen Seite steht die Psychoanalyse, die im Vergessen einen Akt der Verdrängung sieht, die paradoxerweise gerade in einem NichtVergessen-Können besteht und die Lücken in der Erinnerung hinterlässt, die dazu führen, dass Konflikte wiederholt werden. Die psychoanalytische Kur zielt darauf, diese Lücken auszufüllen und die Verdrängungswiderstände zu überwinden (vgl. Freud SA Ergb., 1975, S. 207). Der psychische Apparat gleicht nach Freud einem Wunderblock, wo die Schrift jedes Mal verschwindet, wenn man das Deckblatt abnimmt, und auf dem dennoch dauerhafte Spuren erhalten bleiben (vgl. Freud SA 3, 1975, S. 368f.). Die Erinnerungsarbeit gilt diesen nicht willkürlich abrufbaren Spuren, die irgendwo verwahrt sind, aber unverfügbar. Diese werden nachträglich mit Sinn belegt – die prinzipiell unlesbare Geschichte wird durch die psychoanalytische Umschrift zum lesbaren Lebenstext. Zu beiden Konzepten zeigt Raabes Roman Affinitäten, aber vor allem auch deutliche Differenzen. Während Nietzsches Theorem des von Unterwerfung gezeichneten Körpers in der Figur Stopfkuchen geradezu inkarniert erscheint, insofern seine Dickleibigkeit als Hort seines immensen Gedächtnisses ausdrücklich mit dem Zwang erklärt wird, „sein Brot mit Schmerzen zu essen“, kehrt dieser doch das Verhältnis um, macht aus seiner Fresssucht eine Kunst und unterwirft mit Eduard stellvertretend diejenigen, die ihn seiner Schwerfälligkeit wegen unter der Hecke liegen ließen, seiner Version der Geschichte. Er diktiert im Roman, wie diese Schrift von den anderen zu lesen ist. Nicht fröhliches Vergessen bildet den Antrieb seiner Eroberung der Roten Schanze und des damit verbundenen Glücks, sondern sein stets mit dem Essen genährtes Ressentiment. Es ist erst diese nachtragende Erinnerung, die ihn zum Handeln befähigt und die seine überaus erfolgreiche Rache gegen die philiströse Gesellschaft leitet. _____________ 16

„Es gieng niemals ohne Blut, Martern, Opfer ab, wenn der Mensch es nöthig hielt, sich ein Gedächtniss zu machen […].“ (Nietzsche KSA 5, 1988, S. 295)

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Auch die Differenz zu Freud ist erheblich, denn Stopfkuchens Lebensgeschichte lässt sich kaum als verdrängte beschreiben, die Figur zeigt keine Hinweise auf ein Unbewusstes – die eigene Lebensgeschichte scheint vielmehr im zuverlässigen und umfangreichen Körpergedächtnisspeicher jederzeit zugänglich und darstellbar. Man kann von einer vollständigen Einheit von Erfahrung und dem sie repräsentierenden Bild sprechen. Das Motto „Friß es aus und friß dich durch“ strukturiert den Text, der (unförmige) Körper des Protagonisten garantiert seine (wenn auch unförmige) Einheit. Diese Verfügbarkeit lässt keinen Raum für Lücken; Stopfkuchen bemächtigt sich vielmehr noch der Geschichten der anderen, vor allem Eduards und Tines, und füllt deren Lücken selbstherrlich mit eigenem Wissen auf. Auch ereignet sich kein plötzlicher, unwillkürlicher Einbruch sinnlicher Fülle in die Gegenwart, wie es das Denken der französischen Moderne von Baudelaire bis Proust bestimmt, diese Fülle wird vielmehr mit sehr viel Raffinesse und Kalkulation systematisch vor den Zuhörenden inszeniert. Die Bilder von Stopfkuchens Vergangenheit sind von hoher Intensität und dennoch zugänglich, sie werden mit großer Souveränität und viel Sinn für Theatralität erzählt. Die Lücke, die sich innerhalb dieser Erzählung zeigt – die Auflösung des vermeintlichen Mordes –, erscheint denn auch nicht als Resultat einer Verdrängung, sondern als dasjenige einer novellistischen Erzählökonomie. Sie bleibt nur deshalb bis zum Ende offen, damit die Spannung der Rezipienten (Tine und Eduard, stellvertretend für die Leser/innen) aufrechterhalten wird. Hier nun trifft sich Raabe wiederum mit Freud, der die Arbeit der Erinnerung gleichfalls nicht als (ohnehin unmögliche) Aufdeckung eines bereits Vorhandenen betrachtete, sondern als Produktion eines Neuen verstand und die Tätigkeit des Analytikers nicht zufällig mit der Arbeit des Dichters verglich. Auch Stopfkuchen produziert mit seiner Version von Kienbaums Mörder Neues – im Sinne der Novelle, die seine Leser/innen erwarten. Letztlich ist Raabes Konzept von Körper-Gedächtnis vormodernen Positionen der Rhetorik verpflichtet, die das künstliche Gedächtnis stets mit der Einbildungskraft korrelierte. Von dieser Verpflichtung zeugt nicht nur die deutlich mnemotopische Strukturierung des Romans, in dem der Erzähler Stopfkuchen während seiner Erzählung gemächlich die Orte (Rote Schanze, Hecke, Dorf) abschreitet und diesen die historischen Bilder, Sprichwörter und Redensarten entnimmt, entlang derer er seine Rede aufbaut. Auch die beiden zentralen Gedächtnismetaphern der Rhetorik lassen sich finden: Auf den ersten Blick scheint es so, dass der Körper Stopfkuchens als stabiler Speicher funktioniert und die Wachstafel, die beschriftet wird, mit der merkwürdigen Rolle Eduards in Zusammenhang steht. In der Tat stellt sich die massige Körperlichkeit als perfekter Aufbewahrungsort von Eindrücken und Erfahrungen dar, die sich nach des-

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sen Entleerung wiederum unverändert dem Gedächtnis Eduards einprägen.17 Und wie in der Rhetorik der Schriftlichkeit kein Vorrang vor der Mündlichkeit und der Wachstafel kein Vorrang vor dem Modell des Speichers zukommt, erhält die schriftliche Form der Erzählung kein Übergewicht über die orale. Nicht nur für das Verhältnis von Schriftlichkeit und Mündlichkeit sind die verschiedenen Funktionen von Essens-, Verdauungs- und Ausscheidungsmetaphern im Kontext von Medienübergängen von Interesse. Horst Wenzel fügt den drei wesentlichen Bestimmungen – dass sie durch ihre bildliche Dimension etwas vor Augen führen (Aristoteles), dass sie der wissenschaftlichen Erkenntnis antizipierend vorausgehen (Blumenberg) und dass sie zugleich der Formalisierung der Sprache entgegenlaufen und insofern ‚mehr‘ sagen können als die Wissenschaft – eine vierte hinzu: „die Metaphern überbrücken die kategorialen Gegensätze medialer Systeme.“ (Wenzel 1997, S. 502) Sie koppeln also die abstrakten technischen Verhältnisse mit konkreten (hier leiblichen) Erfahrungen. Exakt diese Funktion muss für Raabes Roman in Anschlag gebracht werden. Über das „Friß es aus und friß dich durch“ werden sowohl der Stoffwechsel Stopfkuchens als auch der wiederum einen Stoffwechsel mit sich bringende Medienwechsel von Mündlichkeit in Schriftlichkeit durch Eduard vermittelt, wobei dieser nicht endgültig ist – beide Formen der Erzählung bleiben in Kraft, auch wenn man konstatieren muss, dass in diesem Roman „die Tatsache des Erzählens selbst den einzigen gesicherten ‚Inhalt‘ bildet“ (Ort 2003, S. 26; vgl. Schrader 1989). Es geht um das Erzählen selbst – und um die Art seiner Verbreitung. Dabei treten konkurrierende Verbreitungsmedien in Aktion: Zum einen das private „Logbuch“ Eduards, das auf subjektiver Wahrhaftigkeit gründet, Distanz zu jedermann wahrt und selbst die mit ihm reisende Schiffsgesellschaft von seiner Geschichte ausschließt; zum anderen das von Stopfkuchen gestreute Gerücht, das keinen Abstand kennt.18 Während das eine (möglicherweise) eine Veröffentlichung als Buch erwarten lässt, werden sich des anderen voraussichtlich die Zeitschriften annehmen, deren Bedarf an Neuigkeiten/Novellen, gleichgültig ob wahr oder falsch, erheblich ist. Stopfku_____________ 17 18

Erzähltheoretisch kann man bei Stopfkuchen wie bei Eduard im Sinne Stanzels von einem perfekten Gedächtnis ausgehen, vermittels dessen „die wörtliche Wiedergabe von langen Dialogen aus längst vergangenen Tagen möglich wird.“ (Stanzel 1995, S. 275) Brigitte Dörlamm verbindet mit dem Gerücht als leitendem Erzählmodell bei Raabe eine Theorie des polyphonen Erzählens: „In der komplexen Erzählform ‚Gerücht‘ (lateinisch ‚fama‘) ist es jedem Kommunikationsteilnehmer überlassen und aufgegeben, die situative Ebene mit der Botschaft zu koordinieren, das heißt als ein Kommunikant unter vielen aus seiner Perspektive auf den Inhalt und die rekurrenten Zeichen des Gerüchts zuzugreifen und je und je für sich herauszufinden und zu unterscheiden, welche Version einer möglichen Wahrheit am nächsten kommt.“ (Dörrlamm 2003, S. 93)

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chens ‚Mordgeschichte‘ erfüllt diese Matrix ausgezeichnet, die Neuheit wird zum Kriterium der Produktion von Nachricht. Aus Vermutung, vagem Verdacht und purem Mutwillen wird eine Enthüllungsgeschichte fabuliert, deren Überraschungswert der heutigen Sensationspresse würdig wäre. Die Spannung, die der Erzähler durch den permanenten Aufschub seiner Enthüllung bewirkt, gleicht sehr präzise derjenigen, die die Erscheinungsweise der Romane in Fortsetzungen beim Publikum erregt hat. Massenmedien erzeugen Spannung/Aufmerksamkeit über die permanente Produktion von Neuigkeit/Information, die über das Moment der Überraschung funktioniert. Dabei geht es bekanntermaßen nicht darum, zu überzeugen, sondern darum, überhaupt „gesehen, gelesen oder gehört zu werden“ (Esposito 2002, S. 271). Wie das Publikum diese Art von Fortsetzungsromanen, zu denen natürlich auch Stopfkuchen gehört, oftmals geradezu verschlungen hat, so ‚schluckten‘ umgekehrt die Familienblätter eine Unmenge von Novellen. Bereits die Zeitgenossen entdeckten die Eignung von Speisemetaphern für das Verhältnis der Literatur zu den neuen Massenmedien. So schreibt Ottilie Wildermuth 1857 an Justinus Kerner: „Ich weiß noch nicht, wie ich’s anfange, all die Journale zu füttern, die mit offenen Mäulern um mich herumstehen und Nahrung begehren […] ich werde ausgemostet vor der Zeit.“ (Zitiert nach Becker 1994, S. 94) Wie Gerhart von Graevenitz ausgeführt hat, haben sich die Familienzeitschriften als „,Gedächtnisbücher für Kultur und Bildung‘ verstanden und präsentiert“ (Graevenitz 1993, S. 283), insofern sie überlieferte Strukturen der Memoria modernisierten und für die industrialisierte Produktion und Distribution von Texten aufbereiteten. Träger des kulturellen Gedächtnisses zu sein wird mithin ausgerechnet von den äußerst vergesslichen Massenmedien beansprucht, die doch ihrer Struktur nach nichts anderes tun, als beständig Information in Nichtinformation zu verwandeln. Denn: „Zwischen Neuheit und Vergessen herrscht eine starke Korrelation: Neuheit ist das Werkzeug des Vergessens und setzt das Vergessen gleichzeitig voraus.“ (Esposito 2002, S. 30) Was dabei am Ende vor allem ,vergessen‘ wird, ist der Körper – indem sich die Massenmedien nunmehr das Erinnerte einverleiben, ‚mosten‘ sie die Körper aus, generieren aber selbst keine neuen Körper, die als Gedächtnisspeicher fungieren könnten. Aus Erinnerung wird Neuigkeit, die in keinem Körper mehr gespeichert werden muss, weil sie im nächsten Augenblick bereits veraltet ist.

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DISZIPLIN

Stephanie Wodianka

Körper und Affekt in der ‚anatomischen Meditation‘ This essay will show the interaction between anatomy and meditation (understood as a method that brings an awareness of oneself and of God). By taking recourse to the history of medicine this article will explore the importance of anatomical descriptions of the body for the evocation, awareness and control of affects in early modern meditation. The ‘anatomical meditation’ realizes a model of memory that recurs to the body and the imagination and at the same time implicitly problematises this relation: On the one hand, the body as an imagined body is a stimulus for the evocation of affects; but on the other hand it serves as a reference point in order to bring under control the independent and potentially uncontrollable imagination thus evoked.

1. Die Anatomie gilt in der Frühen Neuzeit als „der rechte Schlüssel“ der Erkenntnis. Ein rechter Schlüssel, der – wie Realdus Columbus im Jahr 1609 formuliert – die körperlichen „Heimlichkeiten / so eusserlich / so innerlich / durch jede Glieder unnd Gliedtmassen eröffnet unnd ergründet: […] Also dass der Menschliche Leib Cörper und Gebäw / vermittelst solches künstlichen Auffschnitts / gäntzlichen erforschet und erkennet wirdt“ (Columbus 1609, Widmung). Ich möchte im Folgenden zeigen, inwiefern von einer Beeinflussung zwischen der Anatomie einerseits und der Meditation als Methode der Selbst- und Gotteserkenntnis andererseits zu sprechen ist. Vor dem Hintergrund der Medizingeschichte wird dabei insbesondere die Bedeutung des anatomisch beschriebenen Körpers für Affektevozierung, Affekterkenntnis und Affektkontrolle in der frühneuzeitlichen Meditation untersucht. In der ‚anatomischen Meditation‘ – so meine These – verwirklicht sich ein Gedächtnismodell, das auf Körper und Einbildungskraft rekurriert und dieses Verhältnis zugleich implizit problematisiert. Der Körper als eingebildeter Körper ist einerseits Impuls für die Affektevokation, wirkt andererseits aber auch als Referenzpunkt, um die durch ihn evozierte, potentiell ungebändigte und von ihm unabhängige Einbildungskraft wieder zu bändigen. Die anatomische Wissenschaft bot Chirurgen und Ärzten, aber auch Philosophen, Theologen, Malern und Bildhauern in privaten und öffentli-

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chen Sektionen die Möglichkeit, anhand der Öffnung und Zergliederung von Leichnamen Kenntnisse über die sichtbaren und verborgenen Teile des menschlichen Körpers zu gewinnen. Die Sektionssäle in Padua und Leiden waren Schauplatz öffentlicher anatomischer Sitzungen, die – einem Spektakel gleich – Hunderte von Zuschauern anlockten.1 Das Interesse an anatomischer Literatur war so groß, dass der Augsburger Wundarzt und Barbier Joseph Schmidt im Jahr 1646 ein Anatomietraktat in ‚Taschenbuchformat‘ auf den Markt brachte, das auch dem „gemeinen Mann“ die neue Sicht auf den (eigenen) Körper erlauben sollte. Schmidt gibt an, er sei dazu gedrängt worden, sein kleines Compendium“, […] diß mein Anatomisch Tractätlein nit länger bey mir zubehalten / sondern dem gemeinen Mann zum besten / auch der lieben Jugend / so zu dergleichen Kunst lust haben / zur underrichtung in offentlichen Truck zu geben; Sonderlich aber / weil in dergleichen bequemen Form / deren die Figuren aller orten beygefügt / keins / meines wissens bißher publicirt worden / auch nicht ein jeder die grosse und kostbare Anatomische Bücher einkauffen / oder bey sich tragen kan […]. (Schmidt 1646, Widmung)

Wie einschlägige Forschungen gezeigt haben, erfuhr auch die Verbreitung meditativer Literatur im späten 16. Jahrhundert bis zum Ende des 17. Jahrhunderts einen Höhepunkt,. Sie wurde im Zeitraum zwischen dem letzten Drittel des 16. bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts in England, Frankreich und Deutschland in unterschiedlichen Ausprägungen und Akzentuierungen, aus unterschiedlichen Motivationen und Traditionen hervorgehend, fester Bestandteil der Frömmigkeitspraxis. Die Rezeption meditativer Literatur und die Hinwendung zu deren Wurzeln in den vorreformatorischen Traditionen verband die katholischen, lutherischen, calvinistischen, anglikanischen und puritanischen Gläubigen über Konfessionsund Sprachgrenzen hinaus als Meditierende (vgl. Erdei 1990, Sträter 1996, Kurz 2000, Wodianka 2004). Das meditative Verfahren verfolgt das Ziel einer über Affektevozierung verlaufenden Affektkontrolle, in deren Dienst Gedächtnis, Verstand und Wille sowie die Einbildungskraft gestellt werden. Die Meditation ist einerseits subjektive Konfession, die persönliche Empfindungen und Bekenntnisse ausdrückt, andererseits aber auch überindividuelles Glaubensbekenntnis, das theologischen Dogmen Rechnung trägt: Das überindividuell Gültige soll dem Individuell-Subjektiven ruminierend ‚einverleibt‘ werden. Die Meditation ist ein individueller, verinnerlichender und alle Seelenkräfte einbeziehender Weg, der über die Selbsterkenntnis zur Gotteserkenntnis führt. Dieser ist zwar überindividuell nachvollziehbar, wird aber vom meditierenden Ich jeweils individuell beschritten. Das meditative Verfahren bedient sich bei seinem über _____________ 1

“Eigens dafür entworfen werden sogenannte Anatomietheater, welche die Zerlegung des Leichnams öffentlich als theatralen Akt inszenieren.“ (Benthien 1999, S. 59).

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Selbsterkenntnis verlaufenden Weg hin zur Gotteserkenntnis in verschiedener Weise der Affekte. Sie werden methodisch geregelt evoziert, bewusst gemacht und gegebenenfalls kontrolliert, um mit Hilfe von Gedächtnis, Verstand und Willen sowie der Einbildungskraft zur Verinnerlichung von Glaubensinhalten zu führen. Affekte wie Mitleid oder Trauer werden hervorgerufen, um das Betrachtete zu vergegenwärtigen und anzueignen. Sie werden bewusst gemacht, um z.B. die Bedeutung der Liebe Gottes tiefer erfassen zu können. Sie werden in der Meditation aber auch kontrolliert, um die verstandesmäßige und willentliche Erfassung des Betrachtungsgegenstandes nicht zu verhindern – z.B. steht die Furcht niemals ‚offen‘ und ungebändigt am Ende der Meditation.2

2. Die Popularisierung anatomischen Wissens schuf die Voraussetzungen für neue Beschreibungsmöglichkeiten und Sichtweisen in Bezug auf den menschlichen Körper, ein detailreiches Gedächtnisinventar an Bildern, auf das der Meditierende in der Betrachtung zurückgreifen konnte – vieles, was sich früher der Beobachtung entzog, wurde nun bei öffentlichen Sektionen ans Tageslicht gebracht. Die ‚Bühne der Anatomie‘ lieferte neue Bühnenausstattung und neue Requisiten für die ‚innere Bühne der Meditation‘. Mit wissenschaftlicher Genauigkeit und Fachkenntnis gehen Todessymptome, Verfall und Verwesung in die Meditationsliteratur ein. Wie auf dem Seziertisch wird der (eigene) menschliche Körper zergliedert, seine Verfallserscheinungen werden in ihrer ganzen Sinnlichkeit für Auge, Nase und Tastsinn auf die innere Bühne der Meditation gebracht. Gryphius bezeichnet in seinen Dissertationes funebres den Anatomiesaal in Leiden sogar als „Anatomischen Schau=Platz“ (Gryphius 1667, S. 407) und unterstreicht damit das Potential der Anatomie als Requisite und Bühnenausstatter der inneren Bühne der Meditation. Wie nahe sich Anatomie und Todesmeditation standen, zeigt sich auch in den Illustrationen anatomischer und meditativer Literatur – die Abbildungen des Todes, von Skeletten und Toten in der meditativen Literatur ähneln anatomischen Darstellungen oder sind sogar mit ihnen identisch. Einige tabulae in anatomischen Abhandlungen zeigen zudem mit Schaufel oder Sense ausgestattete Skelette oder menschliche Anatomien, die andächtig meditierend mit in die _____________ 2

So schon in den Exercitia spiritualia (1521–1541) des Ignatius von Loyola, dessen Betrachtungen stets mit dem meditativen Kolloquium enden, das vom Gedanken an die Sündenvergebung und Barmherzigkeit geprägt ist (vgl. Ignatius von Loyola 1967, S. 37).

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Abb. 3: Columbus, Realdus: Anatomia, Das ist: Sinnreiche / Künstliche / Begründete Auffschneidung / Theilung / unnd Zerlegung eines vollkommenen Menschlichen Leibs und Cörpers / durch alle desselbigen innerliche und eusserliche Gliedtmassen und Gefäß […]. Frankfurt a.M.: Bry 1609 [Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel: A: 38.9 Phy. 2°].

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Hand gestütztem Kopf über einem Lesepult stehen (z.B. Schmidt 1646, tabulae 3–5, 214, 215; dazu auch Ariès 1980, S. 467). Eine weitere Ursache für die Nähe zwischen Anatomie und Meditation ist darin zu sehen, dass beide gleichermaßen nach (Selbst-) Erkenntnis streben. Wie das Erkenntnisinteresse der Anatomie darin liegt, durch Zergliedern den Menschen in seiner physischen Beschaffenheit zu erkennen und wissenschaftlich beobachtend zu durchdringen, so verfolgt auch die Meditation ein Erkenntnisinteresse: Sie strebt nach Selbst- und Gotteserkenntnis. In unserem Untersuchungszeitraum ist die Vorstellung von Erkenntnis mit dem Begriff der Anatomie eng verbunden. Wenn es um das vollständige, systematische Erfassen eines nicht durch oberflächliche Betrachtung zu erschließenden Sachverhaltes geht, wird – so zeigen viele Titelgebungen – auf das Vokabular und die zergliedernde Methode der Anatomie zurückgegriffen. Titel wie Burtons Anatomy of Melancholy (1621/1651), die in Leiden (!) erschienene Anatomie de la Messe von Pierre Du Moulin (1638) und die anonym verfasste Jungfer-Anatomie (ca. 1680) verweisen auf die Zuversicht, sich durch anatomisches Vorgehen alle Wissensbereiche erschließen zu können.3 Anatomisches Vokabular wird im 17. Jahrhundert dann benutzt, wenn es um seelische bzw. affektive Zustände geht, die es betrachtend zu erkennen gilt. So etwa in Otho Casmannus’ Homo Novus: Das ist / Geistliche Anatomey oder Betrachtung deß newen Menschen / in welcher / allein auß Gottes Wort / die schöne und lehrreiche Vergleichung deß natürlichen Leibs unnd seiner Gliedern / mit dem innerlichen geistlichen Leib / das ist / mit der Seel und ihren Krafften / angezeigt / und außführlich erklärt wird (1606).4 Die Nähe zur anatomischen Erkenntnismethode spiegelt den Versuch des meditierenden Ich, sich selbst durch anatomische Zergliederung zu erkennen (vgl. dazu Bergamo 1994). Die Dekomposition zeigt das wahre Ich, sie entdeckt, wie bei einer anatomischen Untersuchung oder Sezierung, das Wahre, unter der Oberfläche Verborgene.

_____________ 3 4

In gewisser Weise wird die Anatomie sogar zur Gattungsbezeichnung für Texte, die im Zeichen des ebenso umfassenden wie detaillierten Aufdeckens von Erkenntnis stehen. Angekündigt werden im Inhaltsverzeichnis Kapitel wie „Von dem gantzen Leib deß Newen Menschen“, aber auch eine „Abtheilung deß menschlichen Leibs / inn gleichförmige und ungleiche Theyl“, Abhandlungen „Von der Conscientz oder Gewissen“, bis hin zu „Von deß Menschen Beständigkeit / unnd Wanderschafft mit GOTT; Vom Hertzen; Von der Gallen deß Newen Menschen / sampt Erinnerung wider den bösen Zorn / unnd vermahnung zum loblichen Zorn; Von der Miltze / unnd der geistlichen Melancholey oder Trawrigkeit“.

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3. Der Anatomie kommt auch in Passionsbetrachtungen eine wichtige Bedeutung bei der meditativen Affektevozierung zu: Anatomische Beschreibungen dienen als Gedächtnisinventar, um mit Hilfe der Einbildungskraft die Schmerzen des Erlösers am Kreuz auszumalen. Dabei wird kein Detail ausgelassen, um die Grausamkeit des Kreuzestodes zu beschreiben – Hirnflüssigkeit, Hirnhaut, Augenlider und Augapfel, Innenohr und Zungenbändchen, Herz, Leber, Milz und Nieren spiegeln in pathologischen Reaktionen den „unleidlichen“ Schmerz des Erlösers. Besonders ausgeprägt ist die Nähe der Passionsbetrachtungen Catharina Regina von Greiffenbergs zur anatomisch-wissenschaftlichen Lexik: Es arbeiteten alle Glieder / es krachte das herze / in daransteckung aller kräften. Es rungen alle adern und kräfte alles eingeweides / und trieben ihr vermögen heraus. Das hirn vertruknete seine feuchtigkeit / das hirn=häutlein zersprange fast darob / die augen=häutlein u. gläßlein verschmelzten ihre säfte / die ohren verrukten ihre gehör=werkzeuge / der nase luft=röhrlein schossen mit blut an / die gurgel ward von heraufsteigenden dämpfen erstöcket / das äderlein der zunge wolte vor anziehung abreissen / die zäne vor schmerzen knirschen und ausfallen. Was thäte erst das herze? ach! das wolte vor tausend qualen brechen / zerspringen und vergehen / vor starker bewegung / zwang / und drang / den es leiden muste. Der magen verschrumpfte / die leber zergienge / das milz ward versteinert / die nieren zerschmolzen / das mark in beinen schwunde und versotte sich / vor lauter ringen und bewegen / durch unleidliche schmerzen. (Greiffenberg 1672, Bd. 9, S. 107f.)

Offensichtlich rekurriert Greiffenberg zur affektiven Vergegenwärtigung und Aneignung in der Passionsbetrachtung auf anatomische Literatur, wie ein Vergleich mit der Anatomia des Columbus zeigt (Columbus 1609, S. 52ff. und 162ff.). Auffallend ist in beiden Texten die häufige Verwendung von Komposita und Verniedlichungsformen. So ist in der Passionsbetrachtung Greiffenbergs wie in der anatomischen Abhandlung Columbus’ vom „Hirnschalen=Häutlein“ die Rede, auch werden bei Columbus „Etliche ästlein / welche durch die Löchlein der Hirnschalen schliessendt / sich in das Häutlein / so ob der Hirnschalen gelegen / und in die mäußlechte Haut außtheilen“ beschrieben. Weitere Parallelen bzw. wörtliche Entsprechungen zu den Passionsbetrachtungen Greiffenbergs finden sich in der Beschreibung des „Pergamentshäutlein“ und der „drey Feuchtigkeiten“, dem „Regenbogen Häutlein“, der „Glassförmigne Feuchtigkeit“ sowie im Kapitel „Von dem Zäpfflein / Mandeln oder HalsEycheln / auch von demjenigen Häutlein / so die Nasen / den Gaumen / den Mundt / den Magenmundt / den Magen / die Gedärm und das Lufftrohr bekleydet“. Auch Kapitel über „Miltz“, Nieren und „Von den Gebeinen des Menschlichen Leibs“ bzw. über das „Marck“ lassen verblüffende Ent-

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sprechungen zwischen anatomischer Literatur und Greiffenbergs Passionsmeditationen erkennen: Die anatomisch genaue Beschreibung des Betrachteten unterstützt hier die affektive Vergegenwärtigung der Passion.

4. Die Anatomie ist aber nicht nur als lexikalisches und bildliches Gedächtnisinventar für die meditative Affektevozierung, sondern auch als strukturell-methodisches Gedächtnismodell für die durch die Meditation angestrebte Affekterkenntnis und eventuelle Affektkontrolle von Bedeutung. Das Titelkupfer der anonym verfassten Geistlichen Anatomia (1662) zeigt den „Zergliederten Christenmenschen“ und versinnbildlicht die meditative Selbstbetrachtungsstruktur als anatomische Körperdarstellung. Die anatomische Erkenntnismethode basiert nicht nur auf Dekomposition, sondern fragt letztlich nach dem Funktionieren des Ganzen, nach Zusammenspiel und Komposition (Sonntag 1989, S. 87). Ebenso werden die Affekte in der meditativen Selbstbetrachtung durch detaillierte Innensichten des sich zergliedernden Christenmenschen nicht nur evoziert: Der in der Meditation ebenso zu bewahrende einordnende Gesamtüberblick soll dazu führen, die eigene Affekthaftigkeit verortend zu erkennen und u.U. die meditativ evozierten Affekte zu kontrollieren. Die einzelnen, mit Buchstaben markierten Körper-Orte werden durch anatomische Zerlegung einsehbar gemacht und aus der Innensicht erläutert, bedürfen aber auch des einordnenden Überblicks über den Körper aus der Gesamtansicht, um sie ebenso ruminiert wie geordnet im Gedächtnis zu verinnerlichen. Eine lyrische Todesbetrachtung des Benediktiners Dom Simplicien Gody (1600–1660) mit dem Titel „Stances“ illustriert diese Verschränkung von Ein- und Überblick in der von mir so genannten ‚anatomischen Meditation‘, wenn es um die Evokation, Bewusstmachung und Kontrolle der Affekte im Dienste meditativer Erinnerung geht. Das Beispiel soll auch zeigen, dass der Bezug zur Anatomie sich auch auf deutlich abstraktere Weise als bei Greiffenberg zeigen kann, nämlich in der Betrachtungsperspektive. Die ersten neun Strophen des Gedichtes erscheinen noch recht konventionell. So formulieren die Strophen 1 und 2 die Rahmensituation des Gedichtes und charakterisieren es als intimes Bekenntnis an ein angesprochenes, dem lyrischen Ich nahe stehendes Du. In der Vereinigung der Tränen des lyrischen meditierenden Ich mit den Tränen des angesprochenen Du deutet sich das meditative Mitleiden mit dem Gekreuzigten an, dessen Spur sich durch das Gedicht zieht. Das lyrische Ich beklagt sein

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Abb. 2: Anonymus: Geistliche Anatomia, Das ist: Beschreibung eines wahren Christen in seinem gantzen Wandel / nach allen seines Leibes Gliedmassen. Voll Geistlicher Unterweisung / zu Erlangung des Ewigen Lebens. Budissin: Baumann 21662, Titelkupfer [Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel: M: Tg 3].

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„martyre“, das durch Leben und Tod gleichermaßen genährt wird. Neben der ‚mitsterbenden‘ Identifikation mit dem Gekreuzigten in den ersten Gedichtversen vollzieht das lyrische Ich hier auch ein ‚mitsprechendes‘ Identifizieren mit den Worten der Bußpsalmen, dem „Buch des Affekts“, wie es im 17. Jahrhundert häufig heißt (s. z.B. die tägliche Klage, Seufzer und Tränen in der Nacht, Missgunst und Komplizenschaft der Feinde). Die Stumpfheit des Gesichts- und Gehörsinnes (Strophe 9, ebenfalls in Anlehnung an den dritten Bußpsalm) markiert die Selbstreflexivität des meditierenden Ich, das sich in seiner Affekthaftigkeit auf sich selbst beschränkt, sich vom Außen abgrenzt und über den isolierenden Einblick in sich selbst den meditativen Weitblick verliert. Mit Strophe 10 vollzieht sich dann aber in doppelter Hinsicht eine bemerkenswerte Wendung: Zum einen spricht das lyrische Ich seine „Lust“ an Klage und Todesvorstellung offen aus, das betrachtende Kreisen um die Bilder des Todes durch Anspielung und Assoziation wandelt sich nun in ein offenes Auskosten der Bilder von Verwesung und Verfall in einer meditativen Todesvision: Il me plaist de gemir, me plaindre & lamenter, Et m’ennuyer de vivre, Desseigner un tombeau, & tout seul feuilleter Les plaintifs de ce Livre. Il me plaist de réver, songer, imaginer Les ans que je regrette; Et sur tout la saison, qui viendra me tourner En un hydeux squelette. (Gody 1632, Str. 1–2)

Es „gefällt“ dem lyrischen Ich zu klagen und zu stöhnen, sich dem Lebensüberdruss hinzugeben und sich ein Bild vom Grab zu malen, „ganz alleine“ die Kümmernisse „dieses Buches“ zu durchblättern. Der Hinweis auf das Malen, die Einsamkeit und „dieses Buch“ legt die Meditation als Rahmen fest, und die ganz selbstverständliche Nennung „dieses“ Buches rekurriert auf die oben beschriebenen Anspielungen auf den Psalter bzw. die Passionsgeschichte. Ein Wendepunkt ist Strophe 10 auch deshalb, weil sich nun die Perspektive des betrachtenden Ich hebt: An die Stelle des isolierend in sich selbst gewendeten Blickes tritt nun der ‚äußerliche‘ Überblick aus der Distanz der Vogelperspektive. Es gefällt dem Ich des Gedichts, De me fantaisier en ce temps définy Quel sera mon visage, Tenant en main la Croix, ou un cierge bény Au poinct de ce passage.

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Quels seront mes soupirs, mon sens, mon jugement, Ma parole derniere, Et la nuict qui fera par ce délogement Ecclipser ma paupière. Comme l’on s’en viendra tout autour de mon lict Voir esteindre ma vie, Ces Anges là sur tout, le Bon, & le maudit, Qui l’ont tousjours suivie. Comme i’expireray, mon Ame s’envolant De sa faible geole: Comme elle tombera dans un feu violant, Ou ira sur le Pole. Ie voy mon corps glacé, have, plombé, défaict, Et tout méconnaissable: I’oy comme on va disant, le pauvre homme! c’est faict, Il a ioué sa fable. Comme on m’ensevelit, comme on m’asperge d’eau, Comme on me porte en terre, Comme on ne me voit plus, logé dans un caveau, Où la tombe m’enserre. Ie me figure ainsi l’heure de cét abord, Qui galoppe sans cesse. Helas! comment vivrois-ie en ces ombres de mort, Sans deuil & sans tristesse? (Gody 1632, Str. 12–18)

Das meditierende lyrische Ich versetzt sich mit Hilfe der Einbildungskraft („fantaisier“) in die für es bestimmte Zeit hinein („temps définy“) und stellt sich den eigenen „Anblick“(„Quel sera mon visage“) in diesem Moment des Übergangs („Au poinct de ce passage“) vor. Nicht zu verleugnen ist die genussvolle Selbstinszenierung im meditativ eingebildeten Tod, die es selbst quasi über allem schwebend betrachtet. Die letzten Worte, die um das Sterbebett versammelten Freunde als Zuschauende und Kommentierende („c’est faict, / Il a ioué sa fable“) und die beiden Engel unterstreichen den Spektakelcharakter des Todes, als dessen Hauptdarsteller sich das lyrische Ich selbstbetrachtend gefällt, um zugleich als Zuschauer den eigenen Tod zu betrachten („Voir esteindre ma vie“). Wiederholt betont das meditierende Ich die perspektivische Distanz zu sich selbst, die seinen in das eigene Innere gerichteten Blick hebt: Das lyrische Ich sieht sich selbst aus der übergeordneten Distanz des Betrachtenden („Ie voy mon corps“), als Objekt eines heimlich beobachteten Vorgehens („I’oy comme on va disant“; „Comme on m’ensevelit, comme on m’asperge d’eau, / Comme on me porte en terre“). Deutlich wird die gleichsam vom Ich

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getrennte Beobachterposition bei der Vorstellung, begraben und deshalb nicht mehr sichtbar zu sein („Comme on ne me voit plus“). Der eigene Tod wird in Bildern der Perspektive von außen imaginiert, als beobachte das meditierende Ich den Tod eines anderen – das „Gefallen“ liegt in der Vorstellung, dieser Andere sei das Ich. Dennoch wird diese Außenperspektive auch immer wieder mit der Innensicht verschränkt: Nachdem bereits in den ersten Strophen der „Stances“ die isolierende Wendung in sich selbst dominiert hatte, um im Mittelteil von der einordnenden Gesamtsicht auf sich selbst abgelöst zu werden, taucht das Ich des Gedichtes in den Strophen 19 und 20 noch einmal kurz lustvoll in die eigene Innensicht ein, die auch sprachlich durch die (Selbst-) Ansprache der eigenen Augen und des Herzens markiert wird. Das lyrische Ich beendet die Meditation bzw. tritt über sie hinaus, indem es die Betrachtung metasprachlich aufgreift (drittletzte Strophe: „Voilà mes entretiens que ie fais voir à tous / Dans ces plates peintures“) und den Rezipienten mit einer Aufforderung zum meditativen Nachvollzug entlässt.

5. Ein besonders bemerkenswertes Beispiel dafür, wie anatomisch-meditative Körperperspektiven im Sinne des „sich selbst zergliedernden Christenmenschen“ die literarische Passionsbetrachtung im 17. Jahrhundert beeinflusst haben und im Rahmen der Affektevozierung, -erkenntnis und -kontrolle eine wichtige Rolle spielen, ist das meditative Gedicht „Hymn to God my God, in my Sicknesse“ von John Donne (1572–1631; zitiert nach Martz 1963, S. 136). Das lyrische Ich betrachtet sich hier in einer meditatio mortis, die man als ‚anatomische Passions-Geographie‘ bezeichnen könnte, als mit dem Gekreuzigten einsgeworden. Since I am coming to that holy room, Where, with thy choir of saints for evermore, I shall be made thy music; as I come I tune the instrument here at the door, And what I must do then, think here before. Whilst my physicians by their love are grown Cosmographers, an I their map, who lie Flat on this bed, that by them may be shown that this is my south-west discovery Per fretrum febris, by these straits to die.

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I joy, that in these straits, I see my west; For, though their currents yield return to none, What shall my west hurt me? As west and east In all flat maps (and I am one) are one, So death doth touch the resurrection. Is the Pacific Sea my home? Or are The eastern riches? Is Jerusalem? Anyan, and Magellan, and Gibraltar, All straits, and none but straits, are ways to them, Whether where Japhet dwelt, or Cham, or Shem. We think that Paradise and Calvary, Christ’s Cross, and Adam’s tree, stood in one place; Look Lord, and find both Adams met in me; As the first adam’s sweat surrounds my face, May the last Adam’s blood my soul embrace. So in this purple wrapped receive me Lord, By these his thorns give me his other crown; And as to others’ souls I preached thy word, Be this my text, my sermon to mine own, Therefore that he may raise the Lord throws down.

Die beiden ersten Strophen stellen das Gedicht unter das Vorzeichen der Todesbetrachtung – das lyrische Ich betrachtet zu Lebzeiten sich selbst als auf dem Sterbebett liegenden Körper. Die um das Bett versammelten Ärzte können als „grown Cosmographers“, als Geographen5 diesen Körper des lyrischen Ich lesen, der wie eine Landkarte ‚flach‘ ausgebreitet ist (Strophe 2).6 Schon hier erinnert die distanzierte Vogelperspektive auf sich selbst als zweidimensionalen, von Ärzten begutachteten Körper an Abbildungen anatomischer Sektionen: Das lyrische Ich erscheint in diesem Sinne als distanzierter Zuschauer der eigenen Zergliederung, die Schaubühne der Anatomie ist der Schauplatz auf der inneren Bühne der Meditation, der die Affektevozierung leistet. Die Körper-Karte zeigt die „southwest-discovery“ des meditierenden Subjekts, den Tod im ‚Westen des Lebens‘ (Strophe 2). Dennoch bleibt das lyrische Ich zuversichtlich – weil auf allen Landkarten Ost und West zusammenfallen, berührt auch auf dem eigenen, zur zweidimensionalen Fläche ausgebreiteten Körper der _____________ 5 6

‚Cosmographers‘ ist im 17. Jahrhundert die gängige Bezeichnung für ‚Geographen‘. Interessanterweise gibt auch John Moore seiner im Jahr 1617 erscheinenden Todesmeditation den Titel A Mappe of Mans Mortalitie. Clearly manifesting the oreiginall of Death, with the Nature, Fruits, and Effects thereof. Während die Metapher der ‚Anatomie des Todes‘ die vorbehaltlose, systematische Ent-Deckung der Todes- und Selbsterkenntnis unterstreicht (s. z.B. George Strode in The Anatomie of Mortalitie [1618] und John Moore in A Lively Anatomie of Death: Wherein you may see from whence it came, what it is by name, and what by Christ [1596]), scheint die Metapher der „Karte des Todes“ Anschaulichkeit, Erkenntniswert, souveräne Übersicht und Vollständigkeit der Todesbetrachtung zu betonen.

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Abb. 3: Columbus, Realdus: Anatomia, Das ist: Sinnreiche / Künstliche / Begründete Auffschneidung / Theilung / unnd Zerlegung eines vollkommenen Menschlichen Leibs und Cörpers / durch alle desselbigen innerliche und eusserliche Gliedtmassen und Gefäß […]. Frankfurt a.M.: Bry 1609 [Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, A: 38.9 Phy. 2°].

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Tod die Auferstehung: „As west and east / In all flat maps (and I am one) are one, / So death doth touch the resurrection.“ (Strophe 3). Die Betrachtung der eigenen Agonie ist zugleich Betrachtung der Passion und Auferstehung Jesu Christi. Das aus der Vogelperspektive auf sich herabblickende lyrische Ich sieht seinen gesamten Karten-Körper von „straits“ (Strophe 3) überzogen, d.h. von ‚Wegen‘ und ‚Nöten‘, wie das englische Homonym straits übersetzt werden kann.7 Die distanzierte Selbstbetrachtung zeigt ein zweidimensionales Wegenetz, das durchlebte und noch zu durchlebende Nöte verbindet, die zu Tod und Auferstehung führen. Diese Selbstbeschreibung als ‚Wegekarte‘ verweist auf anatomische Darstellungen der menschlichen Blutbahnen – die Adern sind als Einheit miteinander verbunden, alle WegAdern führen an alle Körper-Orte. Die „grown cosmographers“ sind insofern als das lyrische Ich sezierende Anatome zu verstehen, das lyrische Ich ist betrachtender Zuschauer der eigenen Sektion. Die „Schaubühne“ der Anatomie – als solche werden Sektionen auch bei Bartholinus ausdrücklich bezeichnet (Bartholinus 1677, Vorrede) – ist der Schauplatz auf der inneren Bühne der Meditation. Die vogelperspektivische Gesamtsicht auf dieses anatomische Wegenetz versinnbildlicht auch die letztlich in der Meditation angestrebte ordnende Bewusstmachung, Einordnung und Kontrolle der Affekte im Dienste des Passions-Gedächtnisses. Die letzte Strophe beinhaltet die Pointe dieser Selbstbetrachtung angesichts des meditativ vergegenwärtigten Todes: „So in this purple wrapped receive me Lord, / By these his thorns give me his other crown; / And as to others’ souls I preached thy word, / Be this my text, my sermon to mine own, / Therefore that he may raise the Lord throws down.“ (Strophe 6) Umhüllt mit dem ‚Purpur‘ des Blutes Christi vertraut das lyrische Ich auf seine Erlösung. Das lyrische Ich zeigt durch die wiederholte Verwendung der Demonstrativpronomina ‚these‘ / ‚this‘ auf sich selbst, auf den eigenen, zweidimensional ausgebreiteten Körper auf dem meditativ eingebildeten Sterbebett. Dadurch sind „these his thornes“ als die Körper-Karte punktierende Dornen zu verstehen, und „this my text“ erklärt den Körper zum Text, zur ‚eigenen Predigt‘! Sieht das lyrische Ich den eigenen Körper als ‚Text‘, so erscheint das Purpur, in welches sich das lyrische Ich eingeschlagen sieht („wrapped“), als roter Bucheinband (engl. ‚wrapper‘) des Buch-Körpers. Die Dornen Christi, die den Körper des lyrischen Ich als Text und Landkarte im Sinne mittelalterlicher compunctio _____________ 7

Die vogelperspektivische Gesamtsicht auf dieses anatomische Wegenetz versinnbildlicht auch die letztlich in der Meditation angestrebte ordnende Kontrolle der Affekte.

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punktieren,8 markieren Erinnerungsorte des meditativen Schauplatzes (Jerusalem, Calvary, Christ’s Cross; Strophe 5) und teilen damit den Körper- und Passionstext als ‚eigene Predigt‘ in memorierbare Abschnitte, die ruminierend verinnerlicht werden können. Die den Körper-Text durchbohrenden Dornen verweisen zudem auf punctuatio im Sinne mnemotechnischer Selbstaffektion, auf das verinnerlichende Aneignen der Wunden Christi. Diese affektiven, durch Dornen punktierten Körper-Orte sind durch die Weges-Adern verbunden und werden vom meditierenden, sich selbst zergliedernden Christenmenschen aus der Vogelperspektive einordnend betrachtet.

6. Die ‚anatomische Meditation‘ ist – so lässt sich nun zusammenfassen – in dreifacher Hinsicht als Gedächtnismodell zu verstehen. Erstens liefert sie als mentale Übung der Einbildungskraft ein Gedächtnisinventar an Körper-Bildern zur affektevozierenden Erstellung des meditativen Schauplatzes. Zweitens erweitert sie das lexikalische Repertoire zur Evozierung und Verbalisierung der Affekte. Drittens schließlich wird sie auch strukturell und methodisch für das Verhältnis von Körper und Einbildungskraft zum Gedächtnis wirksam: Sie verschränkt Detail-Innensicht und kontextualisierende Gesamtansicht und lässt auf diese Weise mit der Affektevozierung und -bewusstmachung auch stets deren Einordnung und mögliche Kontrolle einhergehen: Der Blick des meditierenden Ich bleibt nicht bei der isolierenden Affektpräparation haften, sondern wird stets wieder ausgerichtet auf die Einordnung und die kontextualisierende Erkenntnis der Funktion der Affekte, die für die letztlich anvisierte betrachtende Selbstverortung und Gotteserkenntnis notwendig sind. Körper und Einbildungskraft werden aneinander gebunden: Die Einbildungskraft bedient sich körperlicher Vorstellungen und Bilder zur Affektevozierung, der anatomisch zergliederte und wieder kontextualisierte Körper dient der Einbildungskraft als methodische Richtschnur, um sich auf den Gedächtnis-Wegen der Selbst-, Passions- und Todesbetrachtung nicht zu verlieren. _____________ 8

Mary Carruthers hat in ihrer Untersuchung den Zusammenhang von compunctio als affektive Selbstzerknirschung und compunctio als mittelalterliche Lektüre- und Mnemotechnik aufgezeigt. Das lateinische ‚pungo‘, ‚punctus‘ bedeutet ‚durchbohren‘, ‚durchstechen‘, somit das ‚Verwunden‘ einer Oberfläche. Das Wort habe, so Carruthers, auch bald eine emotionale Bedeutung im Sinne von ‚seelischer Verwundung‘ erlangt. Im Mittelalter wurde die ‚compunctio‘ auch im Rahmen der meditativen Lektüre von Bedeutung: man teilte den Bibeltext in kleinere, leichter zu memorierende Abschnitte ein, und zwar mit Hilfe eines kleinen Punktes, den man in den Text setzte, um den Textabschnitt zu markieren (Carruthers 1998, S. 100f.).

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Die vogelperspektivische, einordnende Gesamtsicht wird immer wieder als ordnende, die Einbildungskraft bändigende Metareflexion der Betrachtung eingeschaltet. Ebenso wirkt der durch die anatomische Körper-Sicht methodisch geregelte Wechsel von Dekomposition und Komposition der Dominanz eines auf autonomer Einbildungskraft basierenden Gedächtnisses entgegen. Die geforderte und methodisch geübte Verschränkung von Ein- und Überblick ist Dichotomie-Prophylaxe für ein meditatives Gedächtnis, das weder in den Weiten der ungebändigten Einbildungskraft noch in körperlicher Enge und Beschränktheit aufgehen soll.

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Christian Wehr

Von den Geistlichen Übungen zur barocken Affektrhetorik. Spiritualität und Körpergedächtnis bei Ignatius von Loyola und Francisco de Quevedo In his Spiritual Exercises (1542), Ignacio de Loyola renews the medieval patterns of meditation and contemplation. He merges the monastic traditions with techniques of self-affection which derive from classical rhetoric, a discipline which the founder of the Jesuit order studied during his years in Paris. Using the hyperbolic power of the evidentia or enargeia, Ignatius turns the inner perception of biblical scenes and episodes into an efficacious instrument of affective stimulation: The Spiritual Exercises transform the visual quality of memoria into physical states of fear and hope, desperation and humbleness. Thus, the body replaces visual perception as a medium of memory. Ignatius’s reform of monastic meditation led to manifold consequences. Among other things, it anticipates a baroque aesthetics of hyperbolic expression. Powerful demonstrations of this new poetics can be found in the lyrical creations of Francisco de Quevedo, one of the most enigmatic poets of Spanish Golden Age literature.

1. Wandel des Speichermediums: Von den Sinnen zu den Affekten Versteht man unter dem Begriff des Körpergedächtnisses die somatische Speicherung von Erinnerungsinhalten, dann kommt Ignacio de Loyolas Ejercicios espirituales aus dem Jahre 1548 ein besonderer, vielleicht sogar einzigartiger historischer Rang zu. Der Gründer des Jesuitenordens schuf eine neuartige Form der geistlichen Meditation, deren spezifischer Verlauf die sinnliche Prägnanz der Merkbilder in affektische und körperliche Regungen verwandelt. Die autosuggestiven Techniken, welche Ignatius zu diesem Zweck entwickelt, erscheinen archaisch und innovativ zugleich. Einerseits sind sie noch deutlich den mittelalterlichen Modellen der monastischen Meditation verpflichtet. Auch dort sollte die innere Vergegenwärtigung biblischer und hagiographischer Stoffe eine imaginäre Nähe zur Welt der christlichen Überlieferungen stiften.1 _____________ 1

Die Geistlichen Übungen bilden das Zentrum der jesuitischen Spiritualität, die sich schon bald nach der Ordensgründung zur dominierenden Kraft der gegenreformatorischen Glaubensund Kulturpolitik entwickelte. Für das gesamte tridentinische Europa, insbesondere aber

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Eine pragmatische Neuerung hebt die Geistlichen Übungen von dieser Tradition jedoch entscheidend ab. Ignatius befreit die Meditation von der räumlichen Enklave des Klosters. Er überlässt sie der eigenverantwortlichen Ausübung durch den Einzelnen. Dadurch wird die spirituelle Praxis der Imaginations- und Affektlenkung weitgehend unabhängig vom institutionellen Kontext, und damit auch von personeller Autorität und Unterweisung.2 Ein solcher Verzicht auf den disziplinierenden Rahmen des Klosters eröffnet den Jesuiten vielfältige Entfaltungsmöglichkeiten ihrer weltlichen Aktivitäten. Er fordert aber auch kompensierende Maßnahmen. Ignatius schafft einen solchen Ausgleich durch die hochdramatische Steigerung und körperliche Intensivierung der Vorstellungstätigkeit. Hier kommen Techniken der Selbstaffektion zum Einsatz, die aus der klassischen Rhetorik, insbesondere aus der memoria-Lehre stammen.3 Auf welche Weise Ignatius jene althergebrachten Praktiken aktualisiert, soll im folgenden nach einer einleitenden Form- und Funktionsbeschreibung der Übungen deutlich werden.4 Dabei wird sich gerade vor dem Hintergrund der klassischen ars oratoria zeigen, auf welch innovative Weise in den Exerzitien die Perzeptionsmodi und Speicher der Erinnerung transformiert werden. Die klassische memoria basiert ausschließlich auf der sinnlichen, insbesondere visuellen Wahrnehmung. Sie lehrt die Betrachtung der Merkgegenstände an imaginären Orten. Dagegen gehen die ignatianischen Übungen einen entscheidenden Schritt weiter. Für sie ist die flüchtige Evokation der Erinnerungsbilder nur ein kontemplatives Anfangsstadium, das in die Konstanz und Evidenz (psycho-) somatischer Empfindungen überführt wird.5 _____________

2 3 4 5

für das spanische siglo de oro kann die historische Bedeutung der Übungen kaum überschätzt werden. Sie vollenden eine Popularisierung mönchischer Ideale der Lebensführung, die auf der iberischen Halbinsel schon im 15. Jahrhundert mit den guías esprituales begann. Bei diesen Seelenführern handelt es sich um überwiegend präskriptive Texte, die in jeweils unterschiedlicher Form und Gewichtung Anleitungen zu einer christengerechten Lebensgestaltung geben (einen guten Überblick gibt hierzu die materialreiche Studie von Andrés Martín 1975). Das Körpergedächntis ignatianischer Prägung markiert also nicht zuletzt einen entscheidenden Schritt in der Geschichte frühneuzeitlicher Individualisierung und Disziplinierung. Ich werde auf diesen Aspekt noch näher eingehen. Siehe zu diesem Aspekt etwa Eickhoff 1991, S. 69–77. Von einer „Rhetorisierung der Meditation“ bei Ignatius spricht ausdrücklich Eicheldinger 1991, S. 55–61. Ich beziehe mich im folgenden auf meine Habilitationsschrift Geistliche Meditation und poetische Imagination (Wehr 2008). Notwendige Voraussetzung eines solchen Schrittes war die besondere Form der mündlichen Überlieferung. Die Übungen kursierten nicht in Buchform, sondern wurden von geistlichen Lehrern in individueller Unterweisung weitergegeben. Dabei war die Dauer der Klausur so bemessen, dass die einzelnen Exerzitien in Form und Inhalt fest im Gedächtnis des Novizen verankert wurden. Auf diese Weise konnten sie jederzeit aus der Erinnerung abgerufen werden, während der eigentliche Text über Jahrhunderte hinweg dem internen

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Der hier stattfindende Paradigmenwechsel lässt sich beschreiben als Wandel einer raumzeitlich fundierten Mnemotechnik zum frühneuzeitlichen Körpergedächtnis. In ästhetischer und literarhistorischer Perspektive legt dieser Befund eine ganze Reihe grundsätzlicher Thesen nahe. Die weitreichendste lautet, dass die autosuggestiven Techniken der Exerzitien auf eine barocke Poetik der Belebung, der körperbetonten Darstellung, der affektischen Stimulation und der ornamentalen Abundanz verweisen, sie vielleicht sogar entscheidend präfigurieren. Wie radikal und kompromisslos diese Wirkungsästhetik von den großen Autoren des frühen 17. Jahrhunderts in Szene gesetzt wurde, soll schließlich der Blick auf das lyrische Werk Francisco de Quevedos zeigen, dem vielleicht bedeutendsten Vertreter des spanischen Literatur-Barock.

2. Form und Funktion der Exerzitien Ignatius’ Text scheint auf den ersten Blick wenig aufschlussreich. Er ist rein präskriptiver Natur und besteht aus einer Summe detaillierter Anweisungen zur Ausführung mentaler Übungen, die sich insgesamt über vier Wochen erstrecken. Dabei handelt es sich vor allem um Techniken, die der Lenkung des Vorstellungsvermögens dienen. Die exakte Stimulierung der inneren Sinne ermöglicht die Vergegenwärtigung eines bestimmten Kanons narrativer Stoffe. Dabei handelt es sich in der Regel um sujets, die den biblischen Überlieferungen entstammen. Ihre chronologische Abfolge leistet zugleich eine übersichtliche Gliederung der Übungen in vier mal sieben Tage. Den thematischen Schwerpunkt der ersten Woche bildet die Sündenmeditation, die mit der Betrachtung des Sündenfalls und der Vertreibung aus dem Paradies beginnt. Die verbleibenden drei Wochen sind dann dem Leben Jesu gewidmet und reichen von der Menschwerdung über die Passionsgeschichte bis hin zur Auferstehung. Auf dieses sehr begrenzte inhaltliche Repertoire richtet sich nun eine Vorstellungstätigkeit, die das Stadium äußerster, nahezu ekstatischer Anschaulichkeit und Ausdrucksstärke anstrebt. So spricht Roland Barthes in seiner Studie über die Exerzitien von einem reduzierten Imaginären, dem jedoch eine umso stärkere Imaginationstätigkeit entgegensteht (vgl. Barthes 1971, S. 56). Erreicht wird diese Intensität durch einen einfachen, aber hoch effizienten und stets identisch bleibenden Verlauf jeder einzelnen Übung. Dem einleitenden Gebet folgt die berühmte composición viendo el lugar: das _____________ Gebrauch vorbehalten blieb. Er diente allein als Merkhilfe für den director espiritual. Das nahezu völlige Fehlen zeitgenössischer Rezeptionsdokumente hängt vor allem mit dieser besonderen Form der mündlichen Tradierung über ein kollektives Gedächtnis zusammen.

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ist die Vergegenwärtigung des Ortes, an dem sich das vorzustellende Geschehen abspielt. Anschließend setzt die von Ignatius so genannte vista de la imaginación ein, also die eigentliche Schau der Einbildungskraft. Sie soll das statische Anfangsbild zu einer dramatischen Szenenfolge dynamisieren: El primer préambulo es composición viendo el lugar. Aquí es de notar que en la contemplación o meditación visible, la composición será ver con la vista de la imaginación el lugar corpóreo donde se halla la cosa que quiero contemplar. (San Ignacio de Loyola 1963, S. 161–273, hier S. 209) [Die erste Vorübung besteht in der Vorstellung des Ortes. Hierzu muss bemerkt werden, dass bei der Beschauung oder Betrachtung eines sichtbaren Gegenstandes die Vorstellung darin besteht, mit dem Auge der Einbildungskraft den konkreten Ort zu sehen, wo jener Gegenstand, den ich betrachten will, sich befindet]

Durch Dialoge in wörtlicher Rede und andere dramaturgische Mittel erhält die innere Schau den Charakter einer regelrechten Theaterhandlung, also einer illusionsstiftenden Aufführung. Hier tritt eine wesentliche Technik der Animation hinzu, die Ignatius aplicación de los sentidos nennt.6 Er meint damit die sukzessive Anwendung der inneren Sinne auf das Geschaute. Nach und nach sollen nicht nur Gesichts- und Gehörsinn aktiviert werden, sondern auch Gerüche und taktile Empfindungen hinzutreten. Diese synästhetische Repräsentation wird beispielhaft in den Anweisungen zum fünften Exerzitium der ersten Woche, der berühmten Höllenmeditation vorgeführt: Quinto exercicio es meditación del infierno; contiene en sí, después de la oración preparatoria y dos preámbulos, cinco puntos y un coloquio. Oración: La oración preparatoria sea la sólita. 1.o preámbulo. El primer preámbulo composicíon, que es aquí ver con la vista de la imaginación la longura, anchura y profundidad del infierno. 2.o preámbulo. El segundo, demandar lo que quiero: será aqui pedir interno sentimiento de la pena que padescen los dañados para que si del amor del Señor eterno me olvidaret por mis faltas, a lo menos el temor de las penas me ayude para no venir en pecado. 1o puncto. El primer puncto será ver con la vista de la imaginación los grandes fuegos, y las ánimas como en cuerpos ígneos. 2. o El 2.o: oír con las orejas llantos, alaridos, voces, blasfemias contra Christo nuestro Señor y contra todos sus santos. 3. o El 3.o: oler con el olfato humo, piedra azufre, sentina y cosas pútridas. 4. o El 4.o: gustar con el gusto cosas amargas, así como lágrimas, tristeza y el verme de la consciencia. 5. o El 5.o: tocar con el tacto, es a saber, cómo los fuegos tocan y abrasan las ánimas. (San Ignacio de Loyola 1963, S. 214f.)

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Vgl. hierzu Josef Sudbrack S.J. 1990, S. 96–119, zur „Praxis der geistlichen Sinne“ v.a. 115 ff.

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[Die fünfte Übung besteht in der Betrachtung der Hölle. Sie umfasst nach dem Vorbereitungsgebet und zwei Vorübungen fünf Punkte und ein Gespräch. Das Vorbereitungsgebet sei das gewöhnliche. Die erste Vorübung ist eine Vorstellung. Sie besteht hier darin, dass ich mit dem Blicke der Einbildungskraft Länge, Breite und Tiefe der Hölle sehe. Die zweite Vorübung besteht in der Bitte um das, was ich erlangen möchte. Hier erbitte ich ein inneres Gefühl der Strafe, unter der die Verdammten leiden. Dadurch hilft mir wenigstens die Furcht vor der Strafe, nicht in Sünde zu geraten, wenn ich wegen meiner Mängel und Fehler die Liebe des ewigen Herrn vergesse. Der erste Punkt besteht darin, dass ich mit den Augen der Einbildungskraft die unermesslichen Feuergluten und die Seelen wie in feurigen Körpern sehe. Der zweite: ich höre mit den Ohren das Klagen, das Geheul, die Schreie und Lästerungen gegen Christus unseren Herrn und gegen alle seine Heiligen. Der dritte: Ich rieche mit dem Geruchsinn den Dunst, den Schwefel, den Pfuhl und die Fäulnis in der Hölle. Der vierte: Ich koste mit dem Geschmackssinn die bitteren Dinge ebenso wie die Tränen, die Traurigkeit und den Wurm des Gewissens. Der fünfte: Ich fühle mit dem Tastsinn, um zu erfahren, wie die Feuer die Seelen erfassen und verbrennen.]

Hier soll sich kein Wechsel der Empfindungen konstituieren, sondern ein sukzessiver Zuwachs. Das Wirkziel der sinnlichen Unmittelbarkeit des Vergegenwärtigten macht deutlich, worin das paradoxe Telos der Vorstellungstätigkeit besteht: Sie soll den virtuellen Status ihrer Objekte transzendieren und auf diese Weise die Fiktion eines tatsächlichen, real ablaufenden Geschehens vermitteln. Dadurch wird die Grenze zwischen dem Subjekt und Objekt der Imagination scheinbar aufgehoben; ein autosuggestiver Effekt, den der Philosoph Gilles Deleuze in das Zentrum seiner paradoxen Logik des Phantasmas stellte.7 In diesem distanzvergessenen Stadium der Meditation findet auch die entscheidende Projektion statt: Der Exerzitand versetzt sich in die imaginäre Welt der christlichen Überlieferungen. Hier wird das eigentliche Ziel der Übung vorbereitet: die affektische Stimulation. Sie entsteht dadurch, dass die Objekte der inneren Wahrnehmung auf den Betrachter zurückwirken. So wird in der oben zitierten Höllenmeditation explizit gefordert, dass sie die Furcht vor der göttlichen Strafe hervorrufen soll; ein Affekt, der dogmatisch begründet ist, da er gemäß der jesuitisch-attritionistischen Sündenlehre eine hinreichende Bedingung für die Absolution ist. In den ignatianischen Anweisungen wird damit immer wieder deutlich, dass die gegenstandsbezogene Schau zwar eine notwendige, letztlich aber transitorische Phase ist, die es wieder zu überwinden gilt. Sie soll in ein rein affektisches und identifikatorisches Erleben münden, das den Gipfel_____________ 7

Vgl. hierzu die psychoanalytisch fundierte Analyse des Phantasmas bei Deleuze 1969, S. 245–252.

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punkt und auch das Ende der Meditation bildet. Dabei sind psychosomatische Reaktionen nicht nur erwünscht, sondern werden auch ausdrücklich angestrebt: Erröten, Erblassen, Tränenfluss, laute Rufe bezeugen unmittelbare Betroffenheit und damit den erfolgreichen Verlauf einer Übung. Innerhalb dieser teleologischen Verlaufsform ist die sinnliche Schau also letztlich das ephemere Medium ihrer eigenen Überschreitung. Die raumund objektverhaftete Memoria wird zugunsten der Bewahrung somatischer Empfindungen getilgt. Das Körpergedächtnis konstituiert sich somit als Steigerung und Absorption des gegenständlichen Erinnerns. Dass die Selbstaffektion durch die Gegenstände der vista imaginativa solchermaßen in zwingender, sogar unvermeidlicher Weise über jeder sinnlichen Perzeption oder intellektuellen Durchdringung steht, ist in der Grundstruktur der meditación con las tres potencias sichergestellt. Damit sind die drei Vermögen gemeint, aus denen gemäß der augustinischen Lehre die menschliche Seele besteht: memoria, intellectus und voluntas. Ignatius schreibt nun eine stufenweise aufsteigende Technik der Kontemplation vor, die aufeinanderfolgend die drei Potenzen der unsterblichen Seele durchläuft. Er illustriert dies auf exemplarische Weise an der Geschichte des Sündenfalls: 1.o puncto. El primer puncto será traer la memoria sobre el primer pecado, que fue de los ángeles, y luego sobre el mismo entendimiento discurriendo, luego la voluntad, queriendo todo esto memorar y entender por más me envergonzar y confundir, trayendo en comparación de un pecado de los ángeles tantos pecados míos; […] y así consequenter discurrir más en particular con el entendimiento, y consequenter moviendo más los afectos con la voluntad. (San Ignacio de Loloya 1963, S. 210) [Der erste Punkt besteht darin, die Erinnerung auf die erste Sünde zu lenken, welche von den Engeln begangen wurde; dann beziehe ich darauf den Verstand, indem ich darüber nachdenke, und schließlich den Willen, indem ich mich an alles erinnere, besser verstehe, damit ich umso mehr beschämt und gedemütigt werde, da ich mit der einzigen Sünde der Engel meine vielen vergleiche. […] So soll man, ins Einzelne gehend, mit dem Verstand erwägen und schließlich die Affekte mit dem Willen wecken.]

Dem niedrigsten Vermögen der memoria ist die sinnliche Wahrnehmung zugeordnet. Hier findet die objektbezogene Schau statt. Die Topoi der Meditation werden in den Orten der Erinnerung abgeschritten und aufgerufen. Auf dem zweiten Niveau, die der Potenz des intellectus zugeordnet ist, findet dann die Hinterfragung und Durchdringung des Geschauten mit den Mitteln des Verstandes statt. Sie versucht eine rationale Bedeutung der biblischen Stoffe zu erschließen. Das höchste der drei Seelenvermögen ist gemäß der augustinischen Lehre der Wille, dem die Affekte zugeordnet sind. Hier werden sinnliche Wahrnehmung und intellektuelles Urteilen transzendiert und in einen rein affektischen Bezug zum Objekt der

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Kontemplation verwandelt, der idealerweise in ein distanzvergessenes Mitempfinden kippt.8 So verwandelt der absorbierende Sog dieser Verlaufsform das anfängliche Erinnerungsmedium des Bildes sukzessive und systematisch in somatische Regungen. An diesem Punkt wird deutlich, dass Ignatius auf rhetorische Verfahren der Imaginations- und Affektlenkung zurückgreift, um ein spirituelles Körpergedächtnisses zu konstituieren.

3. Imagination und Affektion: Ignatius’ Rhetorisierung der Meditation Schon auf makrostruktureller Ebene lässt sich nachweisen, dass die vierwöchige Verlaufsform der Übungen genau dem Ordnungsprinzip der ciceronianischen partes artis folgt. Aus diesem Grund wurden die Exerzitien auch als „retórica divina“, als göttliche Rhetorik bezeichnet (vgl. Eickhoff 1991). Weitaus wichtiger und folgenreicher, von kaum absehbarem Einfluss auf gegenreformatorische Konzeptionen von Bildlichkeit9 und eine barocke „folie du voir“,10 sind jedoch jene Verfahren der Visualisierung, die Ignatius „composición viendo el lugar“ und „vista de la imaginación“ nennt. Beide gründen in antiken Mnemotechniken und werden zu Verfahren eines somatischen Gedächtnisses transformiert. Erstere geht auf das räumlich disponierende Hilfsmittel der loci zurück, zweitere auf das visuell intensivierende der imagines.11 Letztere sollen, als „Phantasiebilder der Merkgegenstände“, um der Einprägsamkeit willen „in besonderem Maße affektisch sein“ und „ungewöhnliche Dinge enthalten.“ Diese „intensiv-pathoshaltigen […] Einzelbilder“ (Lausberg 1960, § 1089) erzeugen den Zustand größtmöglicher Erregung. Sie sind damit dem höchsten der genera dicendi, dem movere und seinem Wirkziel des pathos (vgl. Quintilianus 1995, III, 5, 2) zuzuordnen. Ignatius nutzt also die ureigenste Bestimmung der Redekunst: die affektische Manipulation der Zuhörer, die schon Aristoteles in das Zentrum seine Rhetorik stellt. In den Persuasionsstrategien der Gerichtsrede findet hierfür vor allem die affektische Figur der evidentia _____________ 8

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Ignatius setzt Meditation und Kontemplation gleich. Er nivelliert damit (terminologisch nicht ganz konsequent), was im abstrahierenden Verlauf der meditación con las tres potencias gleichwohl getrennt bleibt: Die objektbezogene Betrachtung erfolgt aus der Erinnerung, die gegenstandslose, rein affektische Schau entspricht dem höheren Niveau des Willens. Vgl. zu dieser Unterscheidung San Juan de la Cruz 1948, S. 33–40 (Kap. XIII–XVI). Vgl. Mâle 1984, zum Einfluss ignatianischer Visualisierungstechniken v.a. S. 33ff. So der Titel von Buci-Glucksmann 1986 (ohne Verweise auf die Exerzitien). Vgl. Lausberg 1960, § 1086–1088; in Bezug auf die Exerzitien vor allem Rodríguez de la Flor 1978, S. 62–72, bzw. 1983, S. 62–71, sowie Eickhoff 1991, S. 75.

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Verwendung, die nicht sagt, sondern zeigt. Vor allem in der Wiedergabe blutiger Verbrechen wird durch szenische Vergegenwärtigung, lebhafte Schilderung drastischer Details sowie die Verwendung wörtlicher Rede die llusion der Gleichzeitigkeit erzeugt. Redner, Richter und Publikum sollen innerlich in die Situation unmittelbarer Augenzeugen versetzt werden, mit der Absicht einer Provokation physischer Reaktionen des Schmerzes und der Betroffenheit. Dabei gilt, wie vor allem Quintilian in seinem umfassenden Kompendium zur Ausbildung des Redners hervorhebt, eine wichtige Bedingung: Wer nicht selber betroffen ist, kann auch nicht andere betroffen machen. Die Selbstaffektion des Redners ist unabdingbare Voraussetzung erfolgreicher Fremdaffektion (ebd., VI, 2, 32–36).12 Die Analogien zum Wirkziel der Meditationspraxis sind offensichtlich. Auch composición del lugar und vista imaginativa kompensieren reale Distanz durch phantasmatische Nähe. Auch sie dienen einer Evokation überlieferter sujets – etwa der Passionsgeschichte î in der die verschiedenen Sinne sukzessive aktiviert werden, bis das synästhetische Gesamterlebnis der inneren Vorstellungswelt die Meditationssituation transzendiert und den Status eines äußerlich-realistischen Vorganges gewinnt.13 Auf diese Weise entsteht im Exerzitanden die Illusion, unmittelbarer Beobachter oder sogar Betroffener der vorgestellten Ereignisse zu sein, und damit ein Martyrium im ursprünglichen Wortsinn zu erleiden.14 Damit stellt die ignatianische Übung, nach einer Formel von Roland Barthes, einen christomorphen Körper her (vgl. Barthes 1971, S. 67f.), der sich als Folge eines körperbezogenen Gedächtnisses konstituiert. Er resultiert zugleich aus einem besonderen Selbstverhältnis, dessen eigentliche Innovationskraft und tiefere subjektgeschichtliche Bedeutung erst aus institutionsgeschichtlicher Perspektive deutlich wird. _____________ 12 13 14

Vgl. zur evidentia auch die Rhetorica ad Herennium 1954, 4, 55, 68, bzw. Cicero 1997, III, 202. Siehe zu ihrer Bedeutung für die Exerzitien Dubost 1988, v.a. S. 209ff., bzw. Siegert 1990, S. 90. Vgl. zur „aplicación de los sentidos“ Sudbrack S.J 1990. Hier kommt eine zweite Bedeutung der compositio zum Tragen, wobei nicht zweifelsfrei nachgewiesen werden kann, inwieweit sie von Ignatius tatsächlich intendiert war. Als Verfahren der dispositio verweist der Begriff auf die vier grundlegenden Kategorien der Veränderung eines Beschreibungsobjektes (adiectio, detractio, transmutatio, immutatio; vgl. Quintilianus 1995, I,5,38–41). Er bezeichnet damit genau die vorgeschriebene Dynamisierung eines imaginierten tableaus: Ziel der Meditation ist ja nicht die serielle Aneinanderreihung einzelner Bilder, sondern eine bruchlose, dramatisch fließende und szenische Vergegenwärtigung. Die Mnemotechnik der handelnden Bilder (imagenes agentes) geht gleichfalls auf antike Traditionen zurück (vgl. Yates 1966, v.a. S. 9–26.) Es entspricht dem theatralischen Charakter der Meditation, dass sich der Exerzitand, gleich dem identifikatorischen Bezug des Schauspielers zu seiner Rolle, in eine Person der inneren Welt versetzt. Explizit von „Meditation als Theater“ spricht darum auch Föcking 1994, S. 161ff.

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4. Meditativer Selbstbezug: Interiorisierung und Disziplinierung Zugunsten seiner vielfältigen weltlichen Aktivitäten, zu denen vor allem die Hofseelsorge, die Mission und die pädagogische Arbeit gehören, verzichtet der Jesuitenorden auf den geschlossenen Raum des Klosters. Zwar geht der disziplinierende Rahmen der Klausur dadurch verloren. Allerdings genügt schon ein flüchtiger Blick auf den buchstäblichen Text der Exerzitien, um zu erkennen, wodurch dieser Mangel ausgeglichen wird. Es ist der äußerst rigide, minutiös ausgefeilte Zeit- und Übungsplan selbst, der an die Stelle der monastischen Regel tritt. Was institutionelle Vorschrift war, was einstmals aus Stundengebet, Klausur und Kontemplation bestand, wird von Ignatius der Selbstdisziplin überantwortet (vgl. Eickhoff 1994). Denkt man in diesem Zusammenhang zurück an die besonderen Formen der Imaginationslenkung, so zeigt sich eines: Über das Medium der Übungen wird das Kloster als regio similitudinis verinnerlicht.15 Die räumliche Enklave der Gottähnlichkeit besteht somit in abstrahierter Gestalt fort. Sie hat die Form einer phantasmatischen imitatio Christi, eines affektischen Nachvollzuges des Lebens und Sterbens Jesu angenommen. Mit einem Begriff Michel Foucaults lässt sich sagen, dass Ignatius die äußere Vorschrift in eine technique de soi, eine Selbsttechnik verwandelt.16 Soweit ich dies überblicke, wird damit historisch erstmals der überindividuelle Rahmen einer Institution psychologisiert, und über das Medium des Körpergedächtnisses in ein Selbstverhältnis transformiert. Das subjektgeschichtliche Innovationspotential dieses Schrittes kann kaum überschätzt werden. Der Soziologe Norbert Elias hat in ihm eine Umwandlung von Fremd- in Selbstzwänge erkannt, der die Auflösung feudaler Gesellschaftsordnungen maßgeblich begünstigte; Michel Foucault hat über die Verinnerlichung einstmals äußerer Vorschriften und Autoritäten das frühbürgerliche Disziplinarsubjekt definiert.17 Im Hinblick auf meine weiteren Ausführungen ist dabei vor allem wichtig, dass die überlieferten Verfahren der Redekunst im Dienste einer spezifischen Formung und Disziplinierung des Selbst stehen. Letztlich geht es Ignatius stets um die Nichtung des eigenen sündhaften Wollens, an dessen Stelle der identifikatorische Bezug zum Leitbild tritt. Durch diese neue Funktionalisierung ihrer Mittel erhält die Rhetorik eine bis dahin ungeahnte subjektgeschichtliche Relevanz. Darüber hinaus zeichnen sich hier unübersehbare Bezüge zu zentralen Kategorien des barocken Stils ab. Es scheint in dieser Hin_____________ 15 16 17

Vgl. zum Begriff Eickhoff 1994, S. 155 bzw. S. 162 Anm. 12. Im Sinne von Michel Foucault 1994, S. 783–813. Vgl. Elias 1976, Bd.2, S. 369–397 bzw. Foucault 1975, S. 220ff.

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sicht kaum übertrieben, in den Exerzitien eine spirituelle Präfiguration barocker Affektrhetorik und –poetik zu erkennen.

5. Ignatianische Meditation und barocke Affektsprache In den traditionellen literarhistorischen Bestimmungen des barocken Stils dominierten von Beginn an fachfremde, also nichtphilologische Kriterien der Epochenbildung. Hier haben sich vor allem jene kunstgeschichtlichen Kategorien etabliert, die Heinrich Wölfflin schon in den letzten Dekaden des 19. Jahrhunderts für seine bahnbrechende Untersuchung über Wesen und Entstehung des Barockstils entwickelte (vgl. Wölfflin 1965). Sie sorgen auch noch in der aktuellen Forschung für rege und kontroverse Auseinandersetzungen.18 Wölfflin unterscheidet den Renaissance- vom Barockstil in den bildenden Künsten über eine Reihe oppositiver Attribute: dem Linearen steht das Massige gegenüber, dem Flächenhaften das Räumlich-dreidimensionale, dem Regelmäßigen das Unregelmäßige, dem Statischen das Bewegte und schließlich dem Gegliederten das Ungegliederte. Es fällt nicht schwer, in den jeweils letztgenannten, barocken Merkmalen zugleich elementare Wesens- und Wirkungszüge von Ignatius’ spiritueller Rhetorik zu erkennen: Auch dort wird die sinnliche Präsenz des Geschauten über die Darstellungsqualitäten des Dynamischen und DramatischBewegten hergestellt. Weiter noch: Auch die geistlichen Vorstellungstechniken evozieren eine mehrdimensionale Tiefe des imaginierten Raumes, wobei sich die Wirkung des plastischen Hervortretens einem bruchlosen, kontinuierlichen Fluss der Vorstellungstätigkeit verdankt, der die Statik der einzelnen Bilder überwindet. Die Analogien zum Wirkziel der Meditation verdichten sich, wenn man Wölfflins kapitale These in Anschlag bringt, dass architektonische Proportionen stets in einer vorausliegenden Vorstellung von Körperlichkeit gründen (vgl. Wölfflin 1964, S. 64ff. und passim). Dabei sei gerade der barocken Kunst eine historisch neue, „psychologische […] Betrachtungsweise“ (ebd., S. 60) inhärent, die den „unmittelbaren Ausdruck eines Seelischen“ (ebd., S. 64) anstrebt. Sie kann reichen „bis zum Aeussersten, zu Ekstase und wilder Entzückung gesteigerten Affect“ (ebd., S. 65). Diese Expressivität, die der Architektur und Skulptur anthropomorphe Züge verleiht, stellt sich Wölfflin zufolge her als Effekt einer Stilistik des Be_____________ 18

Die Relevanz der Wölfflinschen Kategorien für die spanische Barockliteratur hebt nachdrücklich Teuber 2000 hervor.

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wegten, des Körperbetonten und der sinnlichen Evidenz, und sie charakterisiert, wie zu sehen war, ebenso die ignatianische vista de la imaginación. Nun stellt sich in den Exerzitien eine derartige Stimulation als Überwindung der objektbezogenen Schau durch die Affekte ein. Die bewegten Bilder î die Rhetorik nennt sie imagenes agentes (vgl. Yates 1966, v.a. S. 9 bis 26) î gehen schließlich in einem affektischen Sog auf, den sie allererst produzierten. An diesem Punkt zeichnet sich die vielleicht tiefreichendste Analogie der geistlichen Imaginationstechniken zum barocken Stil ab. Die ternäre Verlaufsform der jesuitischen Meditation bewirkt, dass die Distinktion des Einzelnen vom überwältigenden Gesamteindruck absorbiert wird. Die barocken Verfahren, die im Dienste der Erzeugung dieses Effektes stehen, sind bekannt. Zu ihnen zählen vor allem das Prinzip der kumulativen Häufung, sodann die Techniken einer ornamentalen Anordnung, welche die einzelnen Bausteine mosaikartig in übergreifende Gesamtbewegungen integriert, schließlich eine räumliche Enge, die dichtgedrängte, überbordende Konstellationen erzwingt. Wölfflin spricht in diesem Sinne î und mit Bezug auf die zeitgenössischen Darstellungen des menschlichen Körpers î vom Gestaltungsideal der „undurchdrungenen Masse“ (Wölfflin 1965, S. 64). In ihr „agiren die einzelnen Glieder nicht selbstständig und frei, sondern ziehen den übrigen Körper teilweise mit in die Bewegung ein“ (ebd., S. 65). Gilles Deleuze greift in seiner psychologischen Studie über den Barock diese Kriterien auf und sieht im Repräsentationsideal des Ganzheitlichen und Ungegliederten ein dynamisches Prinzip wechselseitiger Einfaltungen am Wirken. Es integriert die einzelnen Elemente architektonischer, malerischer oder literarischer Darstellungen in ein übergreifendes, potentiell unendliches Spiel fraktaler Entsprechungen (vgl. Deleuze 1988, passim). Dabei gilt es stets zu beachten, dass diese Wirkungsabsicht bei Ignatius immer schon im Zeichen einer spirituellen Selbstformung steht. Sie soll in die aniquilación münden, in die Nichtung des eigenen, sündhaften Wollens. An dessen Stelle tritt der identifikatorische Bezug zu den biblischen Leitbildern, der sich im imaginären Erleben ihrer Schicksale konstituiert. Auch für dieses paradoxe Telos der Meditation, das die Selbsterhöhung in der Selbstnichtung anstrebt, finden sich mannigfache Parallelen in den Analysen der barocken, insbesondere der tridentinischen Baukunst. Dort suggeriert vor allem die besondere Gestaltung der Innenräume dem Betrachter die Bedeutungslosigkeit des einzelnen Willens, überhaupt die Absorption alles Individuellen durch ein numinoses Zentrum. Schon Jacob Burkhardt und Heinrich Wölfflin, aber auch Gilles Deleuze gestanden der gegenreformatorischen Architektur in psychologischer Hinsicht eine nahezu narkotische Wirkung zu. Sie ist der spirituellen Abtötung des eigenen Wollens in den Geistlichen Übungen eng verwandt: ob als „Willenlosig-

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keit“ einer rein körperlichen Empfindung, oder als „Auseinandertreten“ von „Körper und Wille“.19 Ein berühmtes Beispiel, das in dieser Hinsicht „ungeheuren Einfluß auf den Innenbau der ganzen katholischen Welt ausgeübt hat und in tausend Variationen nachgeahmt wurde“ (Burckhardt 1968, S. 317), ist Michelangelos architektonisches Haupt- und Alterswerk: die Gestaltung des Innenraumes im römischen Petersdom. Heinrich Wölfflin hat, indem er die barocken Änderungen gegenüber den ursprünglichen Bauplänen des Renaissancearchitekten Donato Bramante herausstellte, die entscheidenden Punkte hervorgehoben: Der Barock verlangt möglichst weite und hohe Räume. Aber nicht die gleichmässige Steigerung der Grössenverhältnisse bedingt den Eindruck. Baramante’s S. Peter ist nicht barock. Man findet hier wohl einen Kuppelraum von den bedeutendsten Dimensionen, aber um ihn herum ordnete Bramante vier Nebenkuppelräume an, die ihn nicht beengen, ihm aber doch ein Gegengewicht bieten. Michelangelo rechnete gerade im Gegenteil auf diesen Eindruck; er drückte die Nebenräume so weit herab in ihrer Grösse, dass sie neben dem Hauptraume nicht mehr aufkommen können, und gewann so ein unbedingt dominierendes Centrum, dem gegenüber alles Andere unfrei und ohne eigenen Willen erscheinen muß. […] Michelangelo will nur das Kolossale. Das Kleinere kann nicht mehr selbständig daneben bestehen. Der Mensch muß sich beugen vor dem Übergewaltigen. (Wöfflin 1965, S. 91f.)

Vor diesem Hintergrund ergeben sich weitere strukturelle Bezüge zu den philologischen Bestimmungen der barocken Poetik. So prägte Hugo Friedrich die apodiktische Formel einer „pathologischen“ Dominanz des Stils. In diesem Sinn wird der barocken Dichtung jeglicher „ontologische Rang“ abgesprochen, dagegen eine „Hypertrophie der Form und […] Atrophie der Inhalte“ attestiert (Friedrich 1964, S. 545ff.). Friedrich zielt auf ein Missverhältnis von res und verba, das insbesondere in der Lyrik des 17. Jahrhunderts die alte Forderung des rhetorischen aptum aushebelt. Dieses pejorative Epochenbild versperrt eine wichtige Einsicht: Gerade in der offenen Diskrepanz von rhetorischem Exzess und inhaltlicher Reduktion zeigt sich das spirituelle Substrat barocker Ästhetik. Vor allem die geistliche Dichtung der Zeit inszeniert immer wieder den dramatischen Selbstverlust als Folge affektischer und physischer Überwältigung,20 die nun als Effekt eines Körpergedächtnisses ignatianischer Provenienz erkennbar wird. Auf besonders eindrucksvolle Weise wird diese hochpathe_____________ 19 20

Vgl. Wölfflin 1965, 65ff. und 91f. bzw. Burckhardt 1986, S. 317f. Vgl. hierzu Maravall 1990, S. 426–436 oder, in bezug auf Góngora, Sarduy 1975. Da es sich in den Exerzitien um eine rhetorisch gelenkte Vorstellungstätigkeit handelt, erscheint es nur konsequent, wenn Roland Barthes das Produkt dieser regelgeleiteten Imagination als „texte“ bezeichnet (vgl. Barthes 1971, S. 49ff.). Eine prägnante Präsentation wichtiger Positionen der Barockforschung unter den hier zentralen Aspekten der Affektion und des Selbstverlustes findet sich bei Nitsch 2000, S. 219–244 (mit vielen weiterführenden Literaturangaben).

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tische Wirkungsästhetik im Werk des spanischen Barockdichters Francisco de Quevedo erkennbar. Ich möchte dies am fünften Psalm jener bedeutenden Sammlung geistlicher Gedichte aufzeigen, die 1613 unter dem Titel Un Heráclito cristiano erschien.

6. Lautmalerische Klage, barocke Natursprache und mystischer Selbstverlust: Francisco de Quevedos Salmo V Quevedos Zyklus umfasst insgesamt 28 Texte,21 was genau mit dem zeitlichen Rahmen der ignatianischen Exerzitien korrespondiert, die sich insgesamt über vier Wochen erstrecken: Ein Text entspricht einem Tag. Näherhin präsentiert sich der makrostrukturelle Verlauf hier wie dort in vier kompakten, in sich geschlossenen, aber thematisch eng aufeinander bezogenen Blöcken. Sie umfassen im Heráclito jeweils sieben Texte und sind als unmittelbare poetische Gestaltungen der entsprechenden Woche in den Geistlichen Übungen lesbar. So reflektiert der fünfte Psalm die thematischen Schwerpunkte der Primera Semana. Er steht im Zeichen einer Gewissenserforschung und Selbstanklage, die über eine drastische Vergegenwärtigung der begangenen Sünden stimuliert wird und sich immer wieder im Wunsch nach der Gabe der Tränen Bahn bricht. Vor allem aber bemisst der Text die Geringfügigkeit des eigenen Leidens an der unfassbaren Passion des Erlösers: Salmo V

5

10

Como sé cuán distante de Tí, Señor, me tienen mis delitos, porque puedan llegar al claro techo donde estás radïante, esfuerzo los sollozos y los gritos, y en lágrimas deshecho, suspiro de lo hondo de mi pecho. Mas, ¡ ay !, que si he dejado de ofenderte, Señor, temo que ha sido más de puro cansado que no de arrepentido. ¡ Terrible confusión, confuso espanto del que a tu sufrimiento debe tanto !

_____________ 21

Ich folge der Anordnung in Ausgabe von Blecua 1996. S. 17–36. Vgl. allgemein zu Problemen der Textüberlieferung und zyklischen Ordnung Olivares 1992, S. 251–267 bzw. Gareth Walters 1985, S. 134, der gleichfalls Blecuas Version favorisiert. Die folgende Interpretation findet sich auch in Wehr 2008.

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[Psalm V

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10

Da ich weiß, Herr, wie weit meine Fehler mich von Dir entfernen, und damit sie das helle Dach auf dem Du strahlst, erreichen, verstärke ich mein Schluchzen und mein Schreien, in Tränen aufgelöst seufze ich aus der Tiefe meiner Brust. Aber wenn ich dich, ach ! beleidigt habe, so fürchte ich, dass es mehr aus Trägheit denn aus Reue geschah. Schreckliche Verwirrung, verworrener Schrecken dessen, der deinem Leiden so viel verdankt !]

Schon eine flüchtige Lektüre führt vor Augen, dass hier die expressiven Stilmittel über eine stark reduzierte inhaltliche Botschaft nahezu vollständig dominieren.22 Im Sinne des von Ignatius geforderten coloquio, der am Ende jeder einzelnen Betrachtung steht, wird die pragmatische Ebene des Textes von direkten Ansprachen der Gottheit beherrscht. Beides zeigt, dass der fiktive Zeitpunkt des lyrischen Sprechens am Ende der Übung zu situieren ist. Der Prozess der Selbstaffektion ist also bereits vollzogen. Dieser Befund ist symptomatisch für die meisten Texte des Heráclito cristiano. In den lyrischen Inszenierungen der Exerzitien finden sich nur selten Spuren jener Repräsentationstechniken, die Ignatius composición viendo el lugar, vista de la imaginación und aplicación de los sentidos nennt. Quevedo zielt vielmehr direkt auf die Ebenen der Reflexion und Affektion, denn der Heráclito cristiano gestaltet den dreistufigen Meditationsverlauf meist schon auf der Ebene der höheren Seelenvermögen des Verstandes und des Willens. So dominiert insgesamt die Innenperspektive eines meditierenden Subjektes, das von seiner Imaginationstätigkeit bereits affiziert ist. Dennoch müssen die Verfahren der objektbezogenen Schau elliptisch auch dort vorausgesetzt werden, wo sie sich nicht explizit manifestieren. Im Sinne der meditación con las tres potencias begreift Quevedo die bildhafte, objektbezogene Vorstellung als zu übersteigende Anfangsphase der Meditation. Sie bildet lediglich das initiale Stadium eines Verlaufes, der zur Konstitution der affektischen Identität im Zeichen der inneren imitatio Christi erst hinführt. Darum ist das gegenstandsverhaftete Sehen oft nur noch fragmentarisch erkennbar oder rein implizit, als bedingende Tiefenstruktur der formulierten Affekte vorauszusetzen. _____________ 22

In der Begrifflichkeit Roman Jakobsons wird diese Sprachfunktion als „emotive“ bezeichnet. Vgl. Jakobson 1989, S. 89.

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Dies trifft in ganz besonderem Maße auf die barocke Affektsprache des fünften Psalmes zu. Gleichwohl findet man eine Reihe von Merkmalen, in denen noch verschiedene inhaltliche Anweisungen aus der ersten Woche der Exerzitien erkennbar bleiben. Sie betreffen vor allem eine Profilierung und Verschärfung des Rollenverhältnisses zwischen göttlichem Schöpfer und sündhaftem Geschöpf, die sich durch die gesamte Primera Semana zieht und auch den fünften Salmo in programmatischer Weise eröffnet. In den verschiedenen Anweisungen zur vertiefenden Vergegenwärtigung dieser Kluft, die im Dienste der Mortifikation des Exerzitanden steht, setzt Ignatius immer wieder hyperbolische Mittel der Affektsteigerung ein. Dazu zählen etwa die Bewusstmachung der eigenen Unvollständigkeit gegenüber dem göttlichen Urheber (vgl. San Ignacio de Loyola 1963, S. 207) oder die Fixierung des scharfen Kontrastes von menschlicher Schwäche und schöpferischer Allmacht (vgl. ebd., S. 212). Dass die Unwürdigkeit des Sünders als Beleidigung Gottes gilt (vgl. ebd., 215), findet sich ebenso bei Quevedo (V. 9) wie die insistierende Bitte um die Gaben des Schmerzes und der Tränen (vgl. San Ignacio de Loyola 1963, S. 216 bzw. S. 217). Schließlich lassen die einleitende Selbstanzeige der „delitos“ (V. 2), aber auch der abschließende Verweis auf die individuelle Schuld ein imaginäres Rollenspiel erkennen, das den Exerzitanden am Ende der ersten Woche in Gestalt eines Verbrechers vor seinen Richter treten lässt (vgl. San Ignacio de Loyola 1963, S. 215). Die mehrfach variierte Vorstellung einer unüberbrückbar scheinenden Entfernung bildet jedoch nur eine Seite dieses Verhältnisses, denn die „criatura“ bleibt an ihren „Criator“ (ebd., S. 207) durch ein Ähnlichkeitsverhältnis gebunden, das in der Ebenbildlichkeit des Menschen gründet. In diesem schwierigen, weil zwischen Distanz und Nähe grundlegend ambivalenten Verhältnis ist, wie sich schon im Eröffnungstext des Zyklus zeigt, die dogmatische Möglichkeitsbedingung der imitatio Christi überhaupt zu sehen. Nimmt man den Heráclito cristiano nun als poetische Inszenierung einer inneren Nachfolge in den Blick, dann wird ein spezifisch spirituelles Paradox erkennbar. Einerseits wird in den ersten Texten die Kluft zum Leitbild systematisch vertieft. Diese Beobachtung gilt jedoch nur für die gegenstandsbezogenen Ebenen der Meditation, also für memoria und intellectus. Auf dem Niveau des Willens konstituieren sich aus der Sündenmeditation der Primera semana hingegen die dominanten Affekte von Furcht, Leid, Verzweiflung und Ohnmacht. Unter diesem Blickwinkel ist das Wirkziel der meditación con las tres potencias vom inneren Nacherleben der Passionsgeschichte in der dritten Woche, also dem affektischen und dogmatischen Höhepunkt der Exerzitien, nur schwer zu unterscheiden. Wenngleich die basalen Gegenstände einer Anschauung, die zuerst auf die eigene Nichtigkeit und später auf die Identifikation mit dem Erlöser ge-

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lenkt wird, nicht gegensätzlicher sein könnten, ergibt sich die imaginäre Nachfolge in affektischer Hinsicht also bereits unmittelbar aus der einleitenden Mortifikation. In dieser Homologie wird somit bereits der spätere Vorgang der inneren Verwandlung präfiguriert: Sie bezieht die Nichtung des eigenen, fehlbaren Wollens bereits unvermeidlich auf die spätere Besitzergreifung der Seele durch den göttlichen Willen. So schafft gerade die Forcierung der Distanz zu Gott zugleich eine immer größere identifikatorische Nähe zu ihm. Aus diesem Grund kann Ignatius schon in der ersten Woche den Vergleich des bußfertigen Sünders mit dem leidenden Erlöser vorschreiben (vgl. ebd., S. 217). Im sechsten Psalm des Zyklus findet ähnliches statt: Auch dort ist die hyperbolische Steigerung des Sündenbewusstseins vom späteren Nacherleben der Passion auf affektischer Ebene kaum unterscheidbar. Für beides trifft die Formel des „ejercicio del sufrimiento“ (Quevedo 1969, S. 90) aus Quevedos asketischem Traktat La cuna y la sepultura zu. Darum können die letzten Verse des Textes die individuelle Schuld auch schon explizit auf das Kreuzesopfer perspektivieren. Die konstatierten christologischen Untertöne verleihen der Klage über die eigene Verwerflichkeit eine besondere Nobilität und Eindringlichkeit. Sie wird hier durch suggestive Klangeffekte gesteigert, die am exponiertesten in den Versen 5–7 und 12–13 zum Ausdruck kommen.23 Auffallend ist vorderhand die Proliferation von Verben, Nomen und Interjektionen des Klagens („sollozos“ und „gritos“ in V. 5; „suspiro“ in V. 7; „¡ ay !“ in V. 8), aber auch von drastischen physischen Symptomen des inneren Schmerzes („en lágrimas deshecho“ V. 6).24 Die inhaltliche Aussage des Textes reduziert sich infolge dieser Häufung synonymer Variationen des llanto auf ein Minimum. In der daraus resultierenden Maximierung der affektischen Wirkung findet der Verlust an propositionalem Gehalt jedoch ein starkes Gegengewicht. Dieser Effekt bezieht seine Wirkung aus einer Wiederholungsstruktur, die î um Jurij Lotman zu folgen î grundsätzlich mit einem „Erlöschen der semantischen Funktionsfähigkeit“ (Lotman 1989, S. 132) verbunden ist. Freilich handelt es sich hier um eine besondere Form der inhaltlichen Reduktion durch Repetition. Sie strebt keine absolute Sinnverweigerung an und ist insofern mit der radikalen Hermetik moderner Lyrik nicht vergleichbar. Hier erscheint die ‚Nachricht‘ referentiell lediglich stark eingeschränkt, indem sie auf die Verfasstheit des Textes _____________ 23

24

Quevedos Klangkunst wurde bislang kaum gewürdigt. Einer der wenigen Beiträge zu diesem Thema stammt von Alarcos Llorach, 1980. Aufgrund ihrer allgemeinen Repräsentativität für das lyrische Werk Quevedos (sie werden im Heráclito cristiano lediglich auf die ignatianische Meditation spezifiziert) stelle ich die Verfahren dieser poetischen Affektsprache im folgenden ausführlicher vor. Der häufige Einsatz von Interjektionen ist Roman Jakobson zufolge charakerististisch für die „emotive“ oder „expressive“ Sprachfunktion. Vgl. Jakobson 1989, S. 89.

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selber gerichtet wird. In den betreffenden Versen des fünften Salmo zielt diese Selbstreferenz konsequent auf die illokutionäre Ebene des Sprechaktes.25 Sie hebt dadurch einen emphatischen Handlungscharakter der poetischen Äußerung ins Relief, der die psychische Situation des Sprechers mit größter Unmittelbarkeit zum Ausdruck bringt: In der dominanten Isotopie des Klagens, Seufzens und Schreiens fallen kommunikative Intention und emotiver Ausdruck, propositionale und illokutionäre Ebene des Sprechaktes zusammen. Dadurch wird hier das rhetorische Wirkziel der evidentia unmittelbar auf das Ziel des Meditationsverlaufes, die Affektion bezogen. Vorrangig gilt das Ideal der sinnlichen Präsenz ja für die composición viendo el lugar, also die Ebene der memoria. Im fünften Psalm wendet Quevedo sie hingegen auf die lyrische Formulierung eines gegenstandslosen, reinen Pathos an. Dass hier keinen spontan empfundenen (oder gar einer transzendentalen Innerlichkeit entstammenden) Emotionen Ausdruck verliehen ist, sondern die Affekte vielmehr nach rhetorischen Prinzipien produziert und stimuliert werden, findet sich im einleitend-performativen „esfuerzo“ (V. 5), welches die Klage als intentionalen Sprechakt ausweist, nochmals explizit bekräftigt. Damit sind die spirituellen und poetologischen Implikationen der Affektsprache jedoch nur einseitig erfasst. Dass die beschriebene Wiederholungsstruktur für eine Paradigmatisierung steht, die der strukturellen Bestimmung poetischer Sprachlichkeit durch Roman Jakobson in idealtypischer Weise entspricht, ist fraglos. Hierzu passt auch, dass Quevedo die affektische Wirkung hier vor allem durch suggestive Klangeffekte erzielt (vgl. Jakobson 1989, S. 112–115). Auffällig ist in dieser Hinsicht etwa die exuberante Häufung des dunklen, halboffenen Klagevokals „o“, deren extremste Ausprägung in den Versen 5 und 7 zu finden ist, die aber auch in weiteren Passagen immer wieder erscheint. Sie steht dafür ein, dass die kommunikative Intention des Sprechers, dessen Leid den Erlöser erreichen soll, nicht nur semantisch, sondern auch lautlich vollzogen wird. Dadurch wird greifbar, was Jakobson mit einer unmittelbaren materialen „Spürbarkeit der Zeichen“ (ebd., S. 93) meint. Sie bringt in der poetischen Sprache deren ureigenste Voraussetzung zum Ausdruck: Die basale „Verschaltung von Stimme und Schrift“ im Alphabet.26 Der Hiat „Lo hondo de mi pecho“ bildet die abverbiale Bestimmung (und klangliche Amplifikation) zu „suspiro“ (V. 5). Er evoziert gar einen Resonanzkörper, dessen Tiefe mit den Vokalfarben korrespondiert und die lautliche Dimension _____________ 25 26

Vgl. zum Begriff der Illokution Searle 1992, S. 84–113, zum Ausdruck eines psychischen Zustandes als Konstituens der illokutionären Rolle ebenda, S. 107 (spezifisch zur Klage S. 117). So Friedrich A. Kittler in Weiterführung von Jakobsons Bestimmung poetischer Sprache. Vgl. Kittler 1988, S. 348.

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des Textes zusätzlich in den Vordergrund der Aufmerksamkeit rückt. So ergänzt und intensiviert die phonetische Struktur, was bereits die pragmatische Analyse zeigte: Mit der onomatopoetischen Überformung der Klage wird die Reduktion der Aussage auf die Illokution auch auf klanglicher Ebene in Szene gesetzt. Bei näherer Betrachtung erweist sich die lautliche gegenüber der inhaltlichen Seite sogar als deutlich dominierende. Abstrahierte man von der graphematischen Textgestalt und nähme eine andere Segmentierung vor, wie sie aufgrund der starken semantischen und phonetischen Paradigmatisierung unschwer zu realisieren wäre, so ließen sich ganze Passagen des Textes als rein klangliche Sequenzen um die dunklen Vokale „o“, „u“ und „a“ lesen; mithin als repetitive Folge von Interjektionen des Schmerzes und Leidens. Dieser Effekt wird vor allem durch auffällige Verkettungen gleichartiger phonematischer Elemente î in der Regel handelt es sich um Alliterationen und Assonanzen î hervorgerufen. Derartige Vokalrepetitionen treten auch in rekurrenten Kombinationen mit identischen Konsonanten auf (besonders auffällig: l-o-s in V. 5). Sie bilden im Text immer wieder echoartige, hypnotisch wirkende Klangflächen aus. Dadurch wird im bruchlosen Fluss der Klangrede eine distinkte Trennung der einzelnen Signifikanten – und damit das diskursgliedernde, sinnstiftende Element der Lücke27 î tendenziell aufgehoben. Dies geschieht zum einen über mikrostrukturelle Zergliederungen und die besagten Wiederholungen, vor allem aber, da sich die Wortübergänge durch gleichartige An- und Ablaute immer wieder fließend gestalten (vor allem in den Versen 5, 7, 10 und 12). Für diese suggestive Lösung affektisch hochgradig besetzter Naturlaute28 aus einer basalen Signifikantenfolge findet man im ersten Subzyklus des Heráclito cristiano eine unmittelbare Motivierung. Im vorhergehenden Salmo IV konstatiert der Sprecher den einsetzenden Verlust seiner Artikulationsfähigkeit. Er begründet ihn mit der körperlichen Auszehrung infolge der andauernden, lauten Klage: 5

La lengua se me pega a la garganta;

agua a mis ojos falta, a mi voz bríos.

_____________ 27

28

Damit ist jene differentielle Struktur getilgt, die nach Ferdinand de Saussures epochemachender Erkenntnis das sinnkonstitutive Element der Sprache ausmacht, da sie den Diskurs in seine bedeutungstragenden Einheiten gliedert: „[…] dans la langue il n’y a que des différences“ (de Saussure 1968, S. 166). Das Theorem, welches zum linguistischen Credo des Neostrukturalismus avancierte, findet seinen Grund in der Einsicht, dass die Sprache keine Substanz, sondern eine Form ist (vgl. ebd., S. 157). Vgl. zum Begriff des „Naturlautes“ im spezifisch barocken Sinn Benjamin 1983, S. 179 (der sich dort auf Jakob Böhme bezieht).

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So findet die klangliche Ornamentalisierung innerhalb des Zyklus eine plausible Begründung:29 Sie präsentiert sich als lautmalerisches Symptom nachlassender physischer Kräfte, als Indiz eines bereits mangelnden Vermögens zur klaren, distinkten Formulierung. Trotz ihrer Auffälligkeit gilt es festzuhalten, dass die beschriebenen Klangeffekte sich nur in formaler, nicht aber in inhaltlicher Hinsicht von der bedeutungstragenden morphematischen Grundordnung emanzipieren. Im Sinne eines „referentiellen Symbolismus“, der im Gegensatz zu seiner rein expressiven Variante noch auf einer distinkten semantischen Basis operiert,30 dient die tendenzielle Naturalisierung der Signifikanten hier der expressiven Steigerung eines stets noch erkennbaren propositionalen Gehalts. Sie bezieht dabei zusätzliche Wirkung aus einer besonderen Struktur, die Juri Lotman zufolge ganz allgemein für das sprachliche Ornament gilt: Es hat weder einen markierten Anfang noch ein distinktes Ende, und könnte so zu jedem beliebigen Zeitpunkt abbrechen oder neu beginnen (vgl. Lotman 1989, v.a. S. 133). Dies gilt für lautliche Isomorphien noch mehr als für semantische, und bildet in Quevedos Text die strukturelle Voraussetzung für die Evokation einer endlosen, niemals innehaltenden Klage (die sich ja tatsächlich nicht auf einen Text beschränkt, sondern nahezu über den gesamten Zyklus erstreckt). Derartige Emanzipationen des Sprachklanges sind insgesamt charakteristisch für stark affektisch besetzte Kontexte der Kommunikation. Ludwig Wittgenstein hat anhand der Dichotomie von Schrei und Beschreibung über sie nachgedacht: Das Problem ist doch dies: Der Schrei, den man keine Beschreibung nennen kann, der primitiver ist als jede Beschreibung, tut gleichwohl den Dienst einer Beschreibung des Seelenlebens. Ein Schrei ist keine Beschreibung. Aber es gibt Übergänge. Und die Worte ‚ich fürchte mich‘ können näher und entfernter von einem Schrei sein. Sie können ihm ganz nahe liegen und ganz weit von ihm entfernt sein. (Wittgenstein 1982, S. 300)

Das nur scheinbar schlichte Beispiel ist sicher auch aufgrund der paronomastischen Verschränkung von „Schrei“ und „Beschreibung“ gewählt: Es spielt implizit mit einer „kratylistischen“ Sprachkonzeption, also einem motivierten Verhältnis der lautlich-materialen Gestalt des Wortkörpers zur Bedeutung. Gerade darum lässt es erkennen, dass zwischen Naturlaut und diskursiver Sprache mitunter jene versteckten „Übergänge“ existieren, aus deren poetischer Fixierung und Ausgestaltung Quevedos barocke Affekt_____________ 29

30

Der Begriff des Ornaments wird hier im formalistischen Sinne einer Paradigmatisierung auf der syntagmatischen Achse des Textes verstanden. Vgl. hierzu Šklovskij 1987, S. 88 bis 111. Den Hinweis auf diesen Beitrag verdanke ich Lasinger 200, S. 160f. Siehe zur Ornamentalisierung auch Lotman 1989, S. 132f. Sapir 1929, S. 225–239. Einen Forschungsüberblick zur Lautmalerei bietet Groß 1988.

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sprache einen Großteil ihrer Wirkung bezieht: Suggeriert Wittgensteins Wortspiel, dass der reine Naturlaut des Schreis in seiner diskursiven Beschreibung klanglich immer noch enthalten ist, so entfaltet der fünfte Salmo des Heráclito cristiano in umgekehrter Weise das phonetische Material einer lexikalischen Isotopie der Klage zu ihrer eigenen lautmalerischen Entsprechung. Dadurch wird ein paradoxer Punkt erreicht, an dem höchste Artifizialität und strengster Formwille in die größte Natürlichkeit und Direktheit der Wirkung umschlagen. Innerhalb des gesamten Zyklus stellt der fünfte Psalm sicher eine der eindrucksvollsten Einlösungen der programmatischen Konnotationen des übergreifenden Titels dar: Die dominante Tonlage der Klage verweist auf den antiken Heraklit als „filósofo que lloraba“31 zurück, die poetische Musikalisierung der Sprache auf den Untertitel „segunda harpa a imitación de la de David“. Das generische Vorbild des alttestamentlichen Bußpsalmes, dem die Titulierung der 28 Salmos des Heráclito cristiano Tribut zollt, vereint diese semantischen und klanglichen Aspekte. Der Zusammenhang lässt schließlich auch eine doppelte Besetzung des Imitationsbegriffes erkennen: Einerseits ist die Sprache der Klage poetische Nachahmung des biblischen Dichterkönigs, zum anderen verleiht sie aber auch einer affektischen Nachfolge Christi Ausdruck. Über die typologische Relation von Patriarch und Erlöser werden literarische und spirituelle Imitatio schließlich in ein enges genealogisches Verhältnis gesetzt: Sie bedingen sich, wie im fünften Psalm, gegenseitig. Dort wird eine sprachliche Ohnmacht inszeniert, die sich bereits im vorhergehenden Gedicht vorbereitete. Dabei verweist sie auf einen tiefer reichenden Selbstverlust, dessen physisches Symptom man in der zuvor beklagten Sprachohnmacht sehen kann. Der Bezug dieser spirituellen annihilatio zur lautmalerischen Klage des fünften Psalmes erscheint umso naheliegender, als die Klage im vorletzten Vers des Gedichtes in eine „terrible confusión“32 mündet, die mit „confuso espanto“ in mehrfacher Weise auffällig verschränkt wird: sowohl in der Klammerfigur der redditio als auch über eine figura etymologica. Die emphatische Hervorhebung legt den Bezug zu jener „confusión“ (San Ignacio de Loyola 1963, S. 210) nahe, wie sie der Exerzitand in der ersten Woche der ignatianischen Übungen erbitten soll. Dort erscheint der Begriff als Synonym der aniquilación, also _____________ 31 32

Vgl. hierzu den Kommentar in Quevedo 1998, S.85. Blecua liest hier eine paronomastische „confesión“. Er nimmt damit einen fragwürdigen, da offensichtlich eigenmächtigen Eingriff vor: Im Manuskript zu Las tres musas steht eindeutig „confusión“ (vgl. Quevedo 1996, S. 20, Anm.1). Lía Schwartz und Ignacio Arellano bevorzugen in ihrer Edition letztere Lesart. Sie begründen dies neben der Manuskriptlage auch mit der schärferen rhetorischen Profilierung des Verses. Ich schließe mich ihrer Variante an: Nicht zuletzt akzentuiert die Wiederholung auch die beschriebenen spirituellen Konnotationen in ungleich stärkerem Maße (vgl. Quevedo 1998, S.20).

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der spirituellen Selbstnichtung; eine Verwendung, die auch über den jesuitischen Kontext hinaus in der religiösen Literatur des siglo de oro geläufig ist (vgl. Andrés Martín 1975, S. 94). Dass die confusión in Quevedos Text vordergründig auch die semantische und affektische Verwirrung meint, wurde immer wieder deutlich. Darüber hinaus, so zeigt sich nun, verleiht sie jedoch auch einer Selbstauslöschung Ausdruck, deren höchste Erfüllung die Spiritualität in der paronomastisch und etymologisch enthaltenen „fusión“ kennt: also in der Vereinigung mit dem göttlichen Willen, der die vorbereitende Abtötung des eigenen erfordert. Dass sich dieser Selbstverlust bei Quevedo als Sprachverlust ereignet, lässt sich anhand der lautmalerischen Ausprägung der Klage noch vertiefen. Deren onomatopoetische Struktur zeichnet sich ja durch ein klangliches Kontinuum aus, das die sinnstiftenden Lücken zwischen den einzelnen Signifikanten tendenziell tilgt. In Jacques Lacans linguistischer Wendung der Psychoanalyse bildet Saussures Theorem der bedeutungstragenden Lücke einen festen Bezugspunkt: Wenn in der reinen Differenz, also in der Leere zwischen den Signifikanten das bedeutungsstiftende Merkmal symbolischer Ordnungen zu sehen ist, so lautet Lacans Schlussfolgerung,33 dann hat dort auch das sprachmächtige Subjekt seinen strukturellen Ort.34 Vor diesem Hintergrund wird Quevedos lautmalerische Klage als semiotische Entsprechung einer mystischen Selbstnichtung lesbar, die lexikalisch bereits im Begriff der „confusión“ anklang: Die lautliche Einebnung signifikativer Lücken suggeriert nämlich nicht zuletzt den Abschied des sinnstiftenden Subjekts aus dem differentiellen System der Sprache schlechthin. Kaum jemand hat die sich hier offenbarende, zutiefst spirituelle Dimension barocker Lautmalerei hellsichtiger erkannt als Walter Benjamin, der im deutschen Trauerspiel sowie beim Mystiker Jakob Böhme die „Entbindung im beseelten Laut“ und einen „materialischen Aufwand“ der Sprache diagnostiziert. Wie in den lautlichen Emanzipationstendenzen des fünften Psalmes wird dort die „Kluft zwischen bedeutendem Schriftbild und berauschendem Sprachklang […], das gefestigte Massiv der Wortbedeutungen aufgerissen, […] der Blick in die Sprachtiefe“ (Benjamin 1983, S. 178) gelenkt. Von dort ist es nur noch ein Schritt zur mystischen Sprachtheorie, die statuiert, dass eine indikatorische Rede in der Begegnung mit dem Absoluten abdanken muss. An ihre Stelle tritt die spirituelle Tiefe einer Klangsprache, in der die Selbstnichtung sinnlich erfahrbar _____________ 33 34

Lacan geht immer wieder von Saussures grundlegender Erkenntnis der bedeutungskonstitutiven Differenz aus (vgl. etwa Lacan 1966a, S. 392). Vgl. Lacan 1966b, S. 807. Vgl. zur psychogenetischen Gleichursprünglichkeit von Ichverlust und Sprachverlust auch Safouan 1968, S. 47.

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wird. Wenngleich Benjamin sich unmittelbar auf Böhme bezieht, so bringen seine Beobachtungen doch allgemeine Merkmale der Sprache des spirituellen Selbstverlustes zum Ausdruck. Auch bei Quevedo geht die extatische „Natursprache“ über den Schriftsinn hinaus, indem sie der „Ohnmacht vor Gott“ Ausdruck verleiht: Jakob Böhme […] hat, wo er auf Sprache zu reden kommt, den Wert des Lautes dem stummen Tiefsinn gegenüber hochgehalten. Er hat die Lehre von der ‚sensualistischen‘ oder Natur-Sprache entwickelt. Und zwar ist diese nicht – das ist entscheidend – das Lautwerden der allegorischen Welt, als welche vielmehr in Schweigen gebannt bleibt. ‚Wortbarock‘ und ‚Bildbarock‘ […] sind polar ineinander fundiert. Unermeßlich ist im Barock die Spannung zwischen Wort und Schrift. Das Wort, so darf man sagen, ist die Ekstase der Kreatur, ist Bloßstellung, Vermessenheit, Ohnmacht vor Gott […]. (ebd., S. 179)

Der Befund, dass hier gerade die areferentielle Sprache eine fundamentale Absenzerfahrung zum Ausdruck bringt, bestätigt Jacques Derridas These zur „auto-affection phonique“ (Derrida 1998, S. 96), die er im Rahmen seiner Husserl-Lektüre entwickelt. Behauptet die phänomenologische Psychologie eine Erfahrung unmittelbarer Selbstpräsenz über die stimmlich-lautliche Affektion, so entlarvt Derrida dieses Postulat als logozentristische Fiktion. Selbst über die innere Wahrnehmung sei eine substantialistische „subjectivité absolue“ (ebd., S. 96) nicht zu haben: Die Stimme hat, so Derrida, ihren Ursprung immer schon im Außen. Sie ist grundsätzlich der Verzeitlichung unterworfen und steht insofern unwiderruflich im Zeichen des Aufschubes und der Absenz. Bei Quevedo trägt die „autoaffection phonique“, die den Selbstverlust anzeigt, dieser dekonstruktiven Dynamik Rechnung. Trotz der dominant sprachlichen Natur dieses Prozesses wäre es einseitig, seine leiblichen Aspekte völlig auszuklammern. Betrachtet man den Körper als komposite Ganzheit, deren einzelne Elemente bereits der sprachlichen Ordnung unterworfen sind î Serge Leclaire spricht in diesem Zusammenhang von einem „ensemble de lettres“ (Leclaire 1968, S. 88) î, dann mündet die Auflösung der symbolischen Intervallstruktur zwangsläufig in die physische Dekomposition. In dieser Hinsicht stellt die Sprache also kein Ausdrucksmedium der körperlichen Befindlichkeit dar, sondern liegt dem somatischen Erleben als determinierende und stimulierende Größe immer schon voraus. Wenn sich der Sprecher im fünften Psalm des Heráclito cristiano „en lágrimas deshecho“ (V.6) wähnt, also ein drastisch-eindeutiges Verb der körperlichen Dekonturierung und Auflösung wählt, vollzieht er auch diese Konsequenz. Die barocke Laut- und Affektsprache löst also nicht nur die differentielle Struktur der Signifikantenkette zugunsten eines klanglichen Kontinuums auf. Symptom und Stimulans einer spirituellen Selbstnichtung, suggeriert sie letztlich auch die Überwindung einer distinkten Körperlichkeit.

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Bettina Bannasch

Von der gebildeten Selbsterziehung zur pädagogischen Menschenformung. Verschiebung von Körpergedächtniskonzeptionen um 1700 The invention of childhood as well as of an infantile memory is related to the concept of a body memory which is subject to different rules than the adult memory. Around 1700, concepts of imagination, education and memory are based less and less on the idea of an educated adult taking part in a ,refreshening‘ interplay between inner and outer images. The main focus shifts instead to the formation of infantile memory. According to the concept of education which is being established during the 18th century, only a memory that is pre-formed has the ability to be educated. This shift has a crucial impact on the way images are used to form the soul and the memory. It will be retraced in this article using the prefaces of emblem books, mnemonic treatises and early picture books for children.

Mit dem Ausgang des 17. Jahrhunderts wird die Vorstellung einer Zusammengehörigkeit von physiologischem und psychologischem Gedächtnis endgültig verabschiedet. Die Zweiteilung der memoria in ein der Einübung und dem Drill unterzogenes Körpergedächtnis einerseits und in ein souverän operierendes und spontan assoziierendes Gedächtnis andererseits bestimmt die Gedächtnisauffassungen der folgenden beiden Jahrhunderte. Erst die Psychoanalyse führt zu Beginn des 20. Jahrhunderts beide Gedächtnisvorstellungen wieder zusammen. Sie geht davon aus, dass sich das Gedächtnis in einer körperlichen Symptomatik artikuliert, deren Lektüre die psychoanalytische Kur ermöglicht. Gleichwohl unterscheidet sich diese Vorstellung von einem Gedächtnis, das mentale und körperliche Gedächtnisauffassungen wieder unmittelbar aufeinander bezieht, grundlegend von den Konzeptionen eines Körpergedächtnisses, wie sie bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts Gültigkeit beanspruchen. Schreibt doch die psychoanalytische Theorie die moderne Zweiteilung des Gedächtnisses fort: Ihr gilt das sich symptomatisch artikulierende Körpergedächtnis als das ‚eigentliche‘, das mentale Gedächtnis hingegen als das sekundäre Gedächtnis, das sich, wenn auch zunächst nicht ‚Herr im eigenen Haus‘, so doch erforschend, deutend und insofern (wieder) herrschaftsfähig gemacht, als eine dem Körpergedächtnis überlegene Instanz diesem zuwendet.

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Die Zusammenführung der beiden Gedächtnisauffassungen von mentalem Gedächtnis und Körpergedächtnis in der psychoanalytischen Theorie konstituiert sich wesentlich, so die hier verfolgte These, im Anschluss an eine Konzeption des Körpergedächtnisses, die im 18. Jahrhundert zwar nicht entsteht, doch als eine eigenständige Form des Gedächtnisses isoliert und gewissermaßen entdeckt wird: die Konzeption des kindlichen Gedächtnisses. Mit der Erfindung der Kindheit – und mit dieser: mit der Erfindung des kindlichen Gedächtnisses – geht die Vorstellung von einem Körpergedächtnis einher, das anderen Regeln unterworfen ist als das Gedächtnis des Erwachsenen, dessen Vorform es darstellt. Der Beitrag fragt nach den Umständen, unter denen sich diese Akzentverschiebung in den Bereich des Kindlichen vollzieht. Er verfolgt diese Überlegungen anhand der Entwicklung von (Ein)Bildungsauffassungen, die im ausgehenden 17. Jahrhundert im Zusammenhang mit der bildenden Funktion von Bildern in den Vorreden von Emblembüchern diskutiert werden. Dort lässt sich beobachten, dass zunehmend aufwändige Rechtfertigungsstrategien nötig werden, um die gebildete, erwachsene Leserschaft mit ‚bildenden‘ Bildern zu konfrontieren, mehr und mehr geraten kindliche Adressaten in den Blick. Es ist, so die hier verfolgte Vermutung, kaum als ein Zufall anzusehen, dass sich parallel zum Niedergang der Emblematik in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Gattung des Kinderbilderbuchs etabliert. Der solcherart vorgenommenen Verknüpfung von der Entstehung der neuen Gattung Kinderbilderbuch mit dem Verschwinden der Emblematik liegt die These zugrunde, dass mit ihr eine Verschiebung von (Ein)Bildungsund Gedächtnismodellen1 einhergeht: von einem emblematischen Modell, das sich an gebildete Erwachsene richtet und auf das auffrischende Wechselspiel von äußerem und innerem Bild angewiesen ist, zu einem pädagogischen Modell, das von frühen kindlichen Prägungen zu späteren Bildungserlebnissen verläuft.

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Eine Veränderung der Auffassung der Memoria beobachtet bereits Dieter Sulzer im Zusammenhang mit seinen Untersuchungen zu den Anfängen des emblemtheoretischen Diskurses in den frühen italienischen Impresentraktaten. Die Geschichte der Emblematik, so fordert er daher, müsse eingebettet werden in eine Auseinandersetzung mit der „Geschichte der unterschiedlichen Dominanz der einzelnen Bestandteile der Rhetorik, wobei die mnemonische Funktion der Bilder, wie die inzwischen durch die Forschung sichtbar gemachte Pictura-Poesis-Tradition beweist, auf eine Wandlung der Bedeutung der Memoria schließen läßt“ (Sulzer 1992, S. 74). Ähnlich auch die Kritik, die Francis Yates an der Emblemforschung übt (Yates 1990, S. 116 u. 156).

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1. Die Strategien der antiken Rhetorik zielen darauf ab, nicht auf das unzuverlässige Wortgedächtnis des Redners zurückgreifen zu müssen, sondern auf das zuverlässigere und fassungskräftigere Bildgedächtnis. Sowohl beim Redner wie bei seinen Zuhörern führt der Weg in das bessere – im Sinne von leistungsfähigere – Gedächtnis über die unmittelbare Zugänglichkeit und Wirksamkeit der Bilder. Bei diesen Bildern handelt es sich um übersetzten und wieder zu übersetzenden Text; nur vor dem inneren Auge des Hörers nehmen sie Gestalt an. Die Überführung der sprachlichen Bilder in die konkreten Illustrationen der mnemonischen Bildwerke des 14. Jahrhunderts beschreibt, so scheint es zumindest zunächst, keinen entscheidenden Einschnitt im Hinblick auf die Erfordernisse der Bildproduktion. Entsprechend der Maßgabe der antiken Rhetoriklehren, dass das Besondere und Monströse nachhaltiger im Gedächtnis haftet als das Alltägliche und Wohlproportionierte, präsentieren die mnemonischen Bildwerke des Mittelalters und der Frühen Neuzeit zumeist außergewöhnliche oder überraschend zusammengesetzte Gegenstände. Ihr Verfahren ist das als körperlich wirksam vorgestellte des Schocks, der Überraschung und der Verwunderung. Die Emblematik, die mit der bildlichen Mnemonik zahlreiche Gemeinsamkeiten aufweist – bis hin zu denselben Traditionslinien, aus denen sich beide Gattungen speisen2 –, unterscheidet sich ausgerechnet in diesem, für die rhetorisch geschulte bildliche Mnemonik so wesentlichen Punkt von den mnemonischen Bildwerken. Die Abbildungen der Emblembücher, die Picturae, bieten in den seltensten Fällen Spektakuläres. Sie zeigen Gegenstände, deren Bedeutung entweder Allgemeingut ist – zumindest für das gelehrte Publikum, an das sie sich richten –, oder die durch den der Pictura beigefügten Textteil von Inscriptio und Subscriptio umstandslos in Sprache übersetzt werden können. Wie wenig Wert die Autoren der Emblembücher dabei auf eine qualitative Unterscheidung zwischen Bild und Text legen wird darin deutlich, dass sie oftmals die eigene Bildproduktion mit dem Verweis auf sprachlich erzeugte Bilder rechtfertigen; insbesondere mit dem Verweis auf die anschauliche und gleichnishafte Sprache der Bibel. Ein dem Widerspiel von Bild- und Textteil geschuldetes Überraschungsmoment, so wie es einige Impresen- und Emblemtheorien verlangen – und dem die Emblematik als ein Phänomen des 17. Jahrhunderts gerade in jüngster Zeit ein durchaus lebhaftes, wenn _____________ 2

Dem von Yates und Sulzer formulierten Vorwurf, die Emblemforschung berücksichtige nicht in angemessener Weise den Zusammenhang von Rhetorik, ars memorativa und Emblematik begegnen in der neueren Forschung eine Reihe von Arbeiten, vgl. bes. Warncke 1987, Berns 1993, Neuber 1993, Knape 1988 u. 1994, Scholz 2002.

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auch nicht unbedingt zutreffendes Interesse verdankt3 – ein solches geradezu ideales intermediales Widerspiel von Bild und Text unter dem Dach der kleinen Einheit des emblematischen Gesamtkunstwerks findet sich in der ‚real existierenden‘ Emblematik selten. Bei den wenigen Werken, in denen dem Aufeinandertreffen von Bild- und Textteil ein eigener Reiz des Ungewöhnlichen eignet, handelt es sich zumeist um esoterische Emblembücher, die das Überraschungsmoment nicht zur Optimierung der Merkfähigkeit nutzen, sondern zur Beförderung gelehrten Vergnügens. Die Rezeptionsauffassung, die sich von wenigen Ausnahmen abgesehen mit der emblematischen Pictura verbindet, ist, so lässt sich aus diesem Vergleich schliessen, also nicht die des menmotechnisch verwertbaren Schocks. Vielmehr soll die emblematische Pictura in einem Verfahren der Einübung und Bahnung wieder und wieder betrachtet und eingeprägt werden. Diese Auffassung formuliert Johann Fischart in der Vorrede zum ersten deutschsprachigen Emblembuch, dem Emblematum Tyrocina von Matthias Holtzwart, das 1581 erscheint. Darin wird die unmittelbare Eindrücklichkeit der Bilder, die auf das Körpergedächtnis wirkt, gegen die Mittelbarkeit der Sprache ausgespielt. Im Leben unserer Vorfahren, so behauptet Holtzwart, habe die Sprache noch keine entscheidende Rolle gespielt. Mit umso größerem Nachdruck hätten dafür die Picturae der Impresen und Embleme, wie sie damals allenthalben auf öffentlichen Gebäuden angebracht gewesen seien, ihre Wirkung entfaltet. Dann nieman unsere liebe Redliche Vorfaren/ die der Reden und Worten gewarsam und sparsam waren/ fur so unachtsam und liederlich verdencken soll/ als die ihnen und iren Nachkommen solche täglich vor augen schwebende Ehr und Wehrgemerck vergeblich und ungefähr solten angemaßt und zugeeynet haben: sondern vil mehr zur auffmannung und anreytzung/ irer ererbter und vorgebaneter Tugend nachzubanen. (Fischart 1581, S. 8f.)

Die Funktion, die nach Fischart der Pictura zukommt, ist die der Erinnerung an die „ererbte[.] und vorgebanete[.] Tugend“, diese gilt es mit dem Bildeindruck „nachzubanen“. Fischart stellt sich den über das Bild verlaufenden Selbstbildungsprozeß damit nicht nur als einen optischen Angriff _____________ 3

Rüdiger Zymner vermeidet deshalb den Begriff des Intermedialen im Zusammenhang mit der Emblematik und verwendet unter Bezugnahme auf Scholz’ (vgl. Anm. 2) Ausführungen zur Emblematik den Begriff des „symmedialen“, sowie unter Verwendung der von Umberto Eco eingeführten Begrifflichkeit den Begriff des „offenen Kunstwerks“. Das Emblem, so spezifiziert Zymner seine Formulierung, lässt sich genauer fassen als eine „(1) synmediale Gattung, die ihren spezifischen Charakter durch (2) die gestaltete synthetisierende Dreiteiligkeit von inscriptio, pictura und subscriptio erhalte; so nämlich, daß diese drei Teile strukturell in einem Verhältnis der (3) variablen semantischen Bezugnahme aufeinander stehen und daß das Emblem (4) eben dadurch als ein besonderer Fall von Text-BildText-Bezugnahme, als ein ästhetisches Ganzes die reflektierende Urteilskraft auf verallgemeinernde Deutungen hin lenkt – oder knapp zusammengefaßt könnte man auch sagen, daß das Emblem in diesem Sinne ein offenes Kunstwerk ist“ (Zymner 2002, S. 24).

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auf das – mitunter recht gewaltsam zu formende4 – Herzensmaterial vor. Vielmehr reicht der Prozess der Selbstbildung über den individuellen Akt hinaus auf die Vorstellung von der friedlichen Vererbung eines kulturellen Gedächtnisses. Dabei ist die Vorstellung von der Aufnahme des Bildes ins Körpergedächtnis gänzlich unmetaphorisch zu verstehen: Das Bild wird solchermaßen aufgenommen, dass die Arbeit am Gedächtnis zugleich immer auch eine Arbeit am Erbmaterial bedeutet. Arbeitet die mnemonische Gedächtnisschulung, so lässt sich verallgemeinernd zusammenfassen, überwiegend mit den Mitteln des unwillkürlichen Schocks und zielt auf eine Formung des mentalen Gedächtnisses5, so arbeitet die emblematische Gedächtnisschulung mit dem Verfahren der Bahnung und Einübung und zielt auf die Formung des ‚ganzen Menschen‘, insbesondere auf seine moralische Verfasstheit. In der Unterschiedlichkeit dieser beiden Rezeptionsvorstellungen, die sich mit der Betrachtung mnemonischer und emblematischer Abbildungen verbinden – einmaliger Schock auf der einen und mehrmalige Bahnung auf der anderen Seite –, ist jene Differenz bereits angelegt, die sich in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts in der Konzeptionen zweier unterschiedlicher Gedächtnistypen ausformen wird. Am Beispiel der beiden Gattungen von mnemonischem und emblematischem Bildbuch selbst kann jedoch, wie im Folgenden noch zu zeigen sein wird, der Prozess dieser Ausdifferenzierung nicht nachgezeichnet werden. Vielmehr lässt sich beobachten, dass sich beide Gattungen zunehmend einander annähern; und kaum zufällig vollzieht sich auch das Aussterben von mnemonischem und emblematischem Bildbuch im selben Zeitraum, in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts.

2. Der persönlichkeitsbildende Anspruch der Emblematik, der sich über den einzelnen Selbsterziehungsfall hinaus auf die soziale Gemeinschaft erstreckt, unterscheidet sie – so zumindest formulieren es gelegentlich die _____________ 4

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Die häufigsten Vergleiche, die in den Emblembüchern im Zusammenhang mit dieser Frage herangezogen werden, sind die des Schmieds, des Steinmetzes oder den Münzprägers, die das Herzensmaterial formen. So zeigt etwa eine Pictura in Daniel Cramers Embemata moralia nova von 1630 eine Frau, deren Lippen mit einem Schloss versehen sind. Auf einem Amboss vor ihr liegt ein Herz, das sie mit einem schweren Hammer bearbeitet (Cramer 1630, No. 45, S. 176f.). Zum Verfahren der Herzensformung in der Emblematik vgl. auch Bannasch/Butzer 2002. Zur Differenzierung und Relativierung dieser verallgemeinernden Bestimmung der Mnemonik vgl. die folgenden Ausführungen unter Punkt 2 sowie den Beitrag von Stefanie Arend im vorliegenden Band.

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Autoren von Emblembüchern in ihren Vorreden – von der zwar geordneten, doch keiner höheren Ordnung verpflichteten Wissensanhäufung der Mnemonik. Diese Distanzierungsversuche von Seiten der Autoren emblematischer Bildbände erscheinen auf den ersten Blick erstaunlich. Denn der Ordnung der mnemonischen Werke setzen die Emblembücher keine eigene sinnvolle Ordnung entgegen. Vielmehr präsentieren sie sich als Sammlungen von Einzelemblemen ohne ersichtlichen Zusammenhang. Der Verzicht auf die Etablierung einer eigenen Ordnung erweist sich jedoch als ein programmatischer. Angesichts des Verdachts, der weltlichen Augenlust Vorschub zu leisten, müssen die Autoren der Emblembücher ihre eigene Bildproduktion rechtfertigen. Dies gelingt ihnen, indem sie ihre Picturae in die höhere Ordnung der göttlichen Natur einreihen. Anspruch auf eine eigene Ordnung erheben zu wollen würde bedeuten, der Ordnung des göttlichen Bilderbuchs ein konkurrentes Modell entgegenhalten zu wollen. Entsprechend formuliert die 1664 ins Deutsche übertragene Hertzen Schuel des Benedict van Haeften die Sorge, die Kunst der Malerei – und mit ihr die der Emblematik – reiche inzwischen schon so weit, daß es sich ansehen läßt,/ als habe sie solches nicht von den Persohnen/ oder der Natur erlernet/ sonder geben vielmehr derselben Ordnung/ und schreiben ihnen Gesatz für. (Van Haeften 1664, Zweite Lektion, S. 10)

Dem Verdacht eines ketzerischen Anspruchs auf die Neuordnung des göttlichen Bilderbuchs versucht die Mehrzahl der Autoren von Emblembüchern in ihren Vorreden zu begegnen. Wie Benedict van Haeften, der in seiner Vorrede schließlich aber doch noch die Chance erwägt, die in der richtigen Verwendung der Bilder liegt – die nämlich, den Betrachtern wieder die göttliche Heilsordnung in Erinnerung zu rufen –, so behaupten die Autoren fast aller Emblembücher, ihre Picturae reihten sich nicht nur in die göttliche Ordnung ein, sondern dienten zu ihrer Wiedererinnerung. Die Kluft zwischen mnemonischen und emblematischen Ordnungsverfahren wäre so in der Differenz zwischen ketzerischem Neuentwurf und gläubiger Wiedererinnerung kenntlich zu machen. Doch die säkularisierenden Implikationen der Emblematik lassen diese Differenzierung als zu wenig komplex erscheinen. Insbesondere deutlich wird die Problematik einer so vorgenommenen Unterscheidung am Beispiel jener Emblembücher, die – im Anschluß an die Tradition der Bestiarien und Herbarien – naturwissenschaftliches Wissen vermitteln und die in diesem Zusammenhang durchaus auch eigene, gattungsspezifische Ordnungen erstellen, allen voran der Mundus symbolicus des Joachim Camerarius. 6 _____________ 6

Mit der Signaturenlehre, so argumentiert Friedrich Ohly, ist ein neues Verweissystem an die Stelle des allegorischen getreten – eine Entwicklung, von der auch die Emblematik be-

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Umgekehrt lassen sich die mnemonischen Bildbücher des ausgehenden 17. Jahrhunderts nicht mehr die Zuweisung sinnloser, amoralischer Wissensanhäufung gefallen bzw. sie versuchen ihrerseits, sich von den in die Kritik geratenen mnemonischen Bildwerken7 zu distanzieren. Auch sie erheben Anspruch auf die Vermittlung ‚bildenden‘ Wissens. In der Vorrede zu einem historischen Lehrbuch von 1697 etwa, in dem eine Fülle von Faktenwissen vermittelt werden soll, betont Gregor Andreas Schmidt mit Nachdruck, in seinem durch Christoph Weigel illustrierten Lehrbuch Sculptura historiarum et temporum memoratrix8 komme es nicht allein auf eine möglichst umfangreiche Wissensanhäufung an. Vielmehr sei die sinnvolle Wiedererinnerung das Ziel seiner Unterweisung. Um deutlich zu machen, in welchem Kontext die in seinem Werk vorgenommene Wissensübermittlung zu verstehen ist, trifft Schmidt eine Unterscheidung in zwei verschiedene Gedächtnistypen, in memoria und in reminiscentia. Gleichwie aber alles dieses nicht sowol ein Werck stricte sic dictae Memoriae, sondern der so genannten Reminiscentiae ist/ und diese insgemein bei ingeniosis und iudicio

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troffen ist. „Der entscheidende Unterschied zwischen der auf das Schrifttum gerichteten Allegorie des Mittelalters und der auf das Verstehen der Natur als Text gerichteten Magia naturalis der Frühen Neuzeit besteht darin, daß wo dort ein jedes Ding unmittelbar auf Gott wies, hier ein jedes Ding in einem innerweltlichen Verweissystem steht, dessen eher horizontalen Sinn es zu durchschauen gilt wie dort den eher vertikalen Sinn aus der Beziehbarkeit auf Gott hin. Das Buch der Natur wird nach der Lehre von den Signaturen oder Bezeichnungen (die Proprietäten oder Qualitäten sind) gelesen auf seinen intramundanen Sinn, nicht auf eine die Natur übersteigende Spiritualität hin. Auch die von der Magie erkannten Zusammenhänge zwischen Irdischem und Himmlischem, Gestirn und Mensch, ja Mensch und Engel überschreiten nicht die Immanenz der Welt. [..] Ohne Polemik gegen die Allegorese alter Art in der Frühen Neuzeit fast unheimlich still gekommen und so von der Forschung weithin unbemerkt geblieben, hätte die Signaturenlehre die Naturallegorese wirksamer aushebeln können als ihre mit Maßen wirksame Ablehnung im Protestantismus, wenn sie aus dem Bannkreis der Magia naturalis entschiedener herausgefunden hätte“ (Ohly 1995, S. 723 und S. 725). In der Forschung ist diese Entwicklung kaum strukturell begründet, sondern zumeist als Zeichen des Niedergangs der Gattung des mnemonischen Bildbuchs verstanden worden; insbesondere das Werk Johannes Bunos wird hier immer wieder als der Inbegriff einer gegen Ende des 17. Jahrhunderts zur „Charlatanerie“ heruntergekommenen mnemonischen Bildlichkeit angeführt. Vorgegeben wird diese Deutung durch die Arbeit Volkmanns, der gegen den „pseudo-gelehrten Wust“ der Werke Johannes Bunos und Johann Justus Winckelmanns die „Wiedererweckung der Anschauung“ in Comenius’ Orbis pictus ausspielt (Volkmann 1929, S. 179f., zu Buno S. 180ff., zu Winckelmann S. 184ff.). Neuere Studien, zuletzt mit besonderem Nachdruck die Untersuchung Strassers (2000), schließen sich dieser Auffassung zumeist an. Der Untertitel beschreibt in groben Zügen die Programmatik dieses Geschichtswerks: „Das ist / Gedächtnuß-hülfliche Bilder-Lust / Der merckwürdigsten Welt-Geschichten aller Zeiten / Von Erschaffung der Welt Bis Auf das gegenwärtige 1697 Jahr / zu sonderen Behuf und Belustigung So wol der studirenden Jugend / als auch anderer Liebhaber der Geschichten / solche desto leichter zu begreiffen / Mit nutzlich-richtig-und wahrhafften Erzehlungen / in einer sehr angenehmen Erfindung/ und neu-eingerichteten bequemen Ordnung in Kupfer gebracht“ (Schmidt 1697).

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valentibus sich findet/ anbey je mehr und mehr gestärcket und befördert wird/ je mehrfältiger die Dinge seynd/ die eine Reminiscenz erwecken können/ im übrigen aber das Haupt-Absehn nicht auf das blosse memoriren der Chronologie ohne Verstand/ sondern dorthin gehet/ damit junge Leute den Kern der Historie, als einen Grund wahrer GOttesfurcht/ und weltlicher Klugheit/ in seiner Ordnung/ und mit solchem Liecht fassen/ damit sie in Lesung heiliger Schrifft und guter Authorum nicht im Dunckeln/ so zu sagen/ dappen/ und sich confundieren mögen.“ (Schmidt 1697, o. S.: Vorrede)

Höchstes Ziel der Unterweisung ist also nicht die Anhäufung von tabellarischem und kompendienhaftem Wissen, sondern von ‚Wissenskernen‘, nicht das Erschließen von Zusammenhängen, sondern das Sehen des Zusammenhangs. Die religiöse Dimension, die sich hinter dieser Auffassung von Geschichtsaneignung verbirgt, ist mit dem mnemotechnisch gestützten Verfahren einer möglichst umfassenden und lückenlosen Anhäufung von Wissen eng verbunden, geht aber nicht in ihr auf.9

3. Die Ordnungen des naturwissenschaftlichen Wissens und der göttlichen Ordnung werden weder in den mnemonischen noch in den emblematischen Bildwerken mit naturwissenschaftlichem Anspruch in Widerspruch zueinander gestellt, sondern aufeinander zu beziehen gesucht; Wissensaneignung und Persönlichkeitsbildung fallen in diesen Konzeptionen zusammen. In den Emblembüchern beginnt dieser Zusammenhang jedoch brüchig zu werden, insbesondere in jenen mit naturwissenschaftlichem Anspruch. So stellt Johann Michael Dilherr in einer Vorrede von 1657 beide, naturwissenschaftliche und göttliche Ordnung nebeneinander – ohne dabei die naturwissenschaftliche Sichtweise zu diskreditieren. Seine Entscheidung für die Herausgabe eines Emblembuchs ist daher eine bewusst _____________ 9

Die Zersplitterung der Geschichte in disparate Geschichten, deren ethische Qualität sich über die Erschließung ihres ‚Kerns‘ eröffnen, kann als ein Grund dafür betrachtet werden, warum so viele Embleme in Geschichtslehrbücher Eingang finden. Dieses Verfahren, das erst im Buch die disparaten Geschichten zu der Geschichte vereint, wird dabei zumeist mnemotechnisch begründet: Um das Gedächtnis nicht mit zu viel Material zu belasten und zugleich die rhetorisch erprobte Qualität der merk-würdigen Besonderheit zu nutzen, beschränken sich die Geschichtslehrbücher auf die Darstellung herausragender Ereignisse und Persönlichkeiten. Umgekehrt gibt es eine Reihe von Emblembüchern, die die Portraits historisch bedeutsamer Männer zeigen; sie machen den ‚Persönlichkeitskern‘ dieser Männer in einem dem Portrait beizugefügten Emblem sichtbar, das die eigentlichen inneren Werte der Abgebildeten illustriert. Die bildliche Gestaltung dieser Portraits knüpft an die angewandte Emblematik in der Architektur an, die – wie bei Fischart zu sehen ist – für die Entstehungsgeschichte der Emblematik in Anspruch genommen wird: Die Emblembücher zeigen die Portraitierten zumeist als Halbbüsten in den ausgeschmückten Nischen einer repräsentativen Architektur.

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getroffene. Sie geht mit dem Verzicht auf die Erstellung eines naturwissenschaftlichen Kompendiums einher. In den 1657 erschienenen Christliche[n] Betrachtungen des Gläntzenden Himmels flüchtigen Zeit= und nichtigen Weltlauffs weist Dilherr seine Leser daher schon gleich in der Vorrede darauf hin, dass er ausschließlich geistliche Betrachtungen vorzulegen gedenke. Es sei ihm, so schreibt Dilherr, nicht darum gegangen, eine naturwissenschaftliche Abhandlung zu bieten, […]: denn solcher Gestalt hette ich anders verfahren müssen: Sondern nur Anleitung zu geben; wie wir an denen Sachen/ die wir täglich über uns/ neben uns/ und unter uns sehen/ Ursach nehmen sollen/ unser träges Gemüth/ und unsern zerstreuten Sinn/ empor zu schwingen/ den Allmächtigen Schöpffer/ aus seinen wunderbaren Geschöpffen/ zu loben/ zu rühmen/ und zu preisen/ und also zu leben/ wie einer vernünfftigen/ danckbaren/ und zum ewigen Leben erschaffenen Creatur/ gebühret und obliget. (Dilherr 1657, aus d. Vorrede o.S.)

Dilherr markiert damit die Notwendigkeit – aber eben auch die Möglichkeit –, sich zwischen einem der beiden Diskurse, zwischen naturwissenschaftlichem und religiösem Diskurs, zu entscheiden. Neben dem Archiv der Geschichte halten Reiseberichte einen lehrreichen Wissensspeicher bereit. Die umfassende Erschließung der Geographie, und mit ihr der Sitten und Gebräuche anderer Völker dient der Persönlichkeitsbildung, übersteigt jedoch die Kapazität individueller Lebenszeit. Im Rahmen einer Bildungsauffassung, die Quantitätssteigerung zugleich als Qualitätssteigerung fasst, sind diese durch fremde Erfahrungen gewonnenen Wissensgebiete in den persönlichen Erfahrungsschatz zu überführen. Ausdrücklich verweisen die Vorreden von Emblemsammlungen darauf, dass Reiseberichte das eigene Reisen ersetzen.10 Daniel Meisners 1700 unter dem Titel Politica-Politica wieder aufgelegtes Werk Thesaurus philo-politicus11, das in den außerordentlich kunstvollen und detailreichen Kupferstichen eine Fülle von Stadtansichten enthält, nennt in der Vorrede zwei Wege, auf denen Klugheit erlangt werden kann. Zum einen ist dies „Städte gesehen/ und die Sitten der Leute erkennet haben“, also das Reisen in ferne Länder. Setze der Sitten und unterschiedlicher Völker Erkänntnus die Verbesserung deiner eigenen Sitten/ deines eigenen Gemüts bey/ so wird es erst recht der Mühe wert seyn/ daß du den offenen Wechsel/ in der Fremde/ tief und tapfer in die Seele gegriffen. (Meisner 1700, aus d. Vorrede, o.S.)

Weniger gefährlich und leidvoll ist es jedoch, so heißt es in der Vorrede, das vorliegende Buch zu lesen. _____________ 10 11

Vgl. auch Der geöffnete Ritter-Platz (1700) und Gesenius’ Biblische Historien (1684), die in ihren Vorreden Lesen als Reise- und Erfahrungsersatz anpreisen. Frankfurt a.M 1624. Zitiert wird im Folgenden aus der Nürnberger Ausgabe von 1700.

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Es wird dir in Durchreisung dieser hier nachgezeichneten Städte kein Regen die Kleider/ kein Wind das Gesicht verderben. Deinen Beutel soll kein heimlicher Spitzbub/ noch öffentlicher Strassen-Rauber/ und deinen Sitten keine falsche Sirene nachstellen.12

Nicht der Erlebniswert der Erfahrung, sondern ihre moralische Nutzanwendung ist entscheidend. In dem auf handfeste, erzieherisch wirksame Erfahrungen angewiesenenen Prozess der (Selbst)Erziehung des Körpergedächtnisses ist die Bildbetrachtung der authentischen Erfahrung gleichgestellt. Allerdings ist sie insofern der authentischen Erfahrung vorzuziehen, als sie im Unterschied zu dieser nicht den Unwägbarkeiten und Anfechtungen des wirklichen Lebens ausgesetzt ist. Die Nähe von Emblembuch und mnemonischem Bildbuch erschließt sich damit nicht nur über dieselbe Bildtradition und sie beschränkt sich nicht auf die moraldidaktische Ausrichtung beider Gattungen, die das Projekt einer kollektiven Erziehung verfolgt. Beide Gattungen teilen auch im Blick auf die individuelle Persönlichkeitsbildung dieselbe Bildungsauffassung. Diese verlangt eine möglichst vollständige Anhäufung von ‚Wissenskernen‘. Zwischen der didaktisch aufbereiteten Wissensaneignung der mnemonischen Lehrbücher des 17. Jahrhunderts und der moraldidaktischen Emblematik grundsätzliche Unterscheidungen treffen zu wollen würde bedeuten, diese gemeinsame Bildungsauffassung zu verkennen. Die solchermaßen nachvollzogene Geschichte der Emblematik und der Endphase der bildlichen Mnemonik geht davon aus, dass die beiden zunächst so unterschiedlich angelegten Verfahren der Arbeit am Körpergedächtnis so verschieden nicht sind, beziehungsweise dass sie sich im Laufe des 17. Jahrhunderts in jenen Punkten einander annähern, in denen die Emblematik zunächst als unterschiedliche konzipiert gewesen sein mag. Insbesondere gilt dies für die Rücknahme des spezifisch mnemotechnischen Moments einer merk-würdigen Bildlichkeit in der Mnemonik. In einer Reihe von mnemonischen Bildwerken, insbesondere in den Wer_____________ 12

Meisner 1700, aus der Vorrede, o. S. – Die Anpreisung des Emblembuchs als Erfahrungsersatz beschränkt sich in der Vorrede auf die Frage des Reisens. Die Embleme selbst jedoch nehmen sich in diesem auch der moralischen Lehren an, die aus den ‚authentischen‘ Ereignissen gezogen werden können. Die Stadtansichten bilden in Politica Politica die Kulisse für das emblematische Motiv, das im Vordergrund der Pictura gezeigt wird und auf das sich Inscriptio und Subscripto beziehen. Anders als in anderen Emblemen, in denen Vordergund- und Hintergrundbildlichkeit aufeinander bezogen sind und sich wechselseitig kommentieren und ausführen, ist hier kein erkennbarer Zusammenhang mehr zwischen moralischer Botschaft und geographischer Wissensübermittlung zu sehen. Allein über das Vorwort wird der Zusammenhang zwischen moralischer Lehre und Erfahrungswissen hergestellt, die Embleme selbst spiegeln nur noch das Konzept eines Verhältnisses von Wissen und Wissenskern wider, ohne dieses Verhältnis bildlich oder in einem beigefügten Textteil – über Inscriptio, Subscriptio oder einen beigefügten Kommentarteil – einsichtig zu machen.

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ken Johannes Bunos, erlebt sie in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts eine eigene und außerordentlich eigentümliche Blüte.13 Doch wird gerade diese Form einer spezifisch mnemonischen Bildlichkeit von der ganz überwiegenden Anzahl der Autoren anderer mnemonischer Bildwerke abgelehnt; die oben zitierte Stimme Gregor Andreas Schmidts ist nur eine unter vielen. Die merk-würdigen Zusammenhänge und Querverbindungen, die diese Werke herstellen, werden nicht als die konkrete bildliche Entsprechung zu den sprachlich erzeugten ideosynkratischen Bildern der rhetorischen Mnemotechnik verstanden. Vielmehr gelten sie als eine in ihrer Maßlosigkeit kontraproduktive Ausformung der Mnemonik. Dabei können die Befürworter der maßvoll-produktiven mnemonischen Bildlichkeit auf die vorbildlichen Picturae der Emblematik zurückgreifen. Deren progammatische Schlichtheit, die einer Rezeptionsvorstellung von Siegeldruck und Bahnung Rechnung trägt, hält den Gegenentwurf bereit, mit dessen Hilfe dem Dilemma der kollabierenden Körpergedächtniskonzepte mnemonischer Bildbände zu entkommen ist. Der Rückgriff auf die Emblematik schließt die Verknüpfung von Faktenwissen und Moraldidaxe ein. Diese Entwicklung der einst ganz auf das Individuum abgestellten Mnemotechnik zu einer kollektiven Erziehungsprojekten nutzbar gemachten Moraldidaxe sieht Jörg Jochen Berns (1993) bereits in jenem Moment angelegt, in dem die sprachlich erzeugte Bildlichkeit der antiken Mnemotechnik in die konkrete Bildlichkeit der mittelalterlichen Mnemonik überführt wird. Entscheidend für die Entwicklung – und das heißt in diesem Falle: für das Ende der Gattung – wird diese Anlage jedoch erst, als ihre Arbeit am Körpergedächntis als nicht mehr funktional angesehen und in der Annäherung an die Emblematik ein Ausweg aus der Fehlentwicklung gesucht wird. Die Bindung der ‚Wissenskerne‘ an die Anforderungen einer höheren, göttlichen Ordnung erfordert jedoch eine Kontrolle der anzueignenden Wissensbestände. Durch diese Beschränkung verliert das Körpergedächtis, auf das sich die Bilder der emblematischen und mnemonischen Bildwerke richten, seine bisher gegenüber dem Durchschnittsgedächtnis behauptete Position als die des besseren, weil leistungsfähigeren Gedächtnisses. Emblembuch und mne_____________ 13

Im Kontext der Deutungsmuster, die die Entwicklung des mnemonischen Bildbuchs – und mit ihm der Emblematik – in Anknüpfung an Volkmann als den Ausdruck des Niedergangs einer einst blühenden Gattung verstehen (vgl. Anm. 7), stellen die Überlegungen Stefan Riegers insofern eine dankenswerte Ausnahme dar, als sie die Überfülle der Bilder den strukturellen Vorgaben der Gattung selbst zuschreiben. „Um den Menschen in seiner konkreten Merkfähigkeit zu erreichen,“ schreibt Rieger, „ist die Gedächtniskunst gezwungen, Strategien einzusetzen, die einer Ökonomie des Wissens nach den Effizienzkriterien einer allgemeinen Datenverarbeitung diametral entgegenstehen. Ihr strategisches wie funktionales Paradox verpflichtet sie stattdessen zu einem Konzept des Umwegs und der Verschwendung“ (Rieger 2000, S. 380).

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monisches Bildbuch geraten in der gelehrten Welt zunehmend ins Abseits. Bald schon – kaum hundert Jahre nach dem Entstehen der Gattung Emblematik – werden sie zu einer Lektüre, die sich nur mehr für die Gedächtnis- und Persönlichkeitsschulung einfacher Leute und Kinder eignet.

4. Während emblematisches und mnemonisches Bildbuch in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts so weit an Bedeutung verlieren, daß man von ihrem Untergang sprechen kann, begründet der Orbis pictus des Johann Amos Comenius, der 1658 erscheint, die neue und außerordentlich zukunftsträchtige Gattung des Kinderbilderbuchs. Er knüpft an die mnemonische und emblematische Bildtradition an und erlebt bis ins 19. Jahrhundert hinein zahlreiche Neuauflagen und Bearbeitungen. Seine ‚Anschlußfähigkeit‘ an das neue Zeitalter ist nicht in einer Modernisierung der Bildauffassung zu suchen. Diese ist, der mnemonischen und emblematischen Bildauffassung vergleichbar, zwischen dem Versuch der Wiedererinnerung an die göttliche Ordnung14 und einer Neuordnung der Welt eingespannt.15 _____________ 14

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Im Orbis pictus erweist das zur Unterweisung herangezogene Bild seine Brauchbarkeit nicht an den Erfordernissen des Unterrichts und des menschlichen Gedächtnisses, sondern an seiner Verweisfunktion auf die göttliche Ordnung. Durch das Ding, das vom Bild repräsentiert wird, verweist das Bild auf die göttliche Ordnung. Im Zusammenhang mit der ‚emblematischen‘ Bildauffassung im Orbis pictus hebt Wolfgang Harms hervor: „Wenn Comenius den verba seines lateinischen Textes die mit den Augen wahrnehmbaren Abbilder der entsprechenden res gegenüberstellt, so handelt es sich dabei um einen Akt der Wirklichkeitserfassung, der weder mit den Methoden eines induktiven Empirismus, noch mit den pädagogischen Zielen eines modernen naturkundlichen Realienbuches oder Bilderlexikons gemeinsame Voraussetzungen hat“ (Harms 1970, S. 533). Die erziehungswissenschaftliche Forschung ist Harms in dieser Einschätzung weitgehend gefolgt. Sie übersieht dabei allerdings die Bedeutsamkeit des Ordnungsgedankens für die comenianische Bildauffassung. Zum Ordnungsgedanken vgl. bes. Ohly 1995, S. 831. Comenius bekennt sich in seinen philosophischen Schriften zwar mit Nachdruck zu einer Bildauffassung, in der das Bild auf die göttliche Ordnung verweist. Doch unterläuft das Bildprogramm des Orbis pictus diese philosophische Grundlegung. Die Präsentationsform des Wissens im Orbis Pictus, so urteilt auch Nezel, löst sich mit ihrem Bildprogramm vom biblischen Ordnungsprinzip und folgt auch ontologischen und anthropologischen Ordnungsprinzipien. Comenius bereitet damit den Weg für eine naturwissenschaftliche Welterschließung (vgl. Nezel 1996, S. 58). Die Abbildungen des Orbis pictus repräsentieren nicht nur einzelne Dinge, sondern Gattungen. Das Bild erhält damit einen symbolischen Charakter (vgl. Leis-Schindler 1991, S. 225), der über eine reine Verweisfunktion hinausgeht. Die in Reaktion auf die handschriftliche Fassung der Didactica magna (1637) formulierte Befürchtung Hübners, die aus der Naturbetrachtung gewonnenen Lehren könnten sich zu einer ketzerischen Lehre vom Menschen verselbständigen (vgl. Schaller 1992), setzt also nicht erst mit den Nachfolgewerken des Orbis pictus ein. Im symbolischen Bildgebrauch des

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Neu hingegen ist die Bildungsauffassung, die Comenius vertritt und als deren Ausdruck der Orbis pictus verstanden werden kann. Sie wendet sich von der Auffassung einer immer wieder neu zu leistenden Persönlichkeitsbildung ab, die über die ‚bahnende‘ Bildbetrachtung verläuft. Zwar propagiert sie ebenfalls ein lebenslanges – im Sinne von: den göttlichen Vollkommenheitsansprüchen nie genügendes – Lernen. Sie geht jedoch von einem sich stufenförmig höher entwickelnden Bildungsgang aus. In diesem Modell des stufenförmigen Lernens bedarf nur das kleine Kind der Bilder; sie lenken es auf den Spracherwerb hin. Bereits die Alphabetisierung des Kindes lässt seine Unterweisung mit Hilfe von Bildern überflüssig werden. Im Blick auf die Bedeutung der bildenden Bilder bedeutet dies, dass sie an die einmalige, relativ kurze Lebensphase der frühen Kindheit gebunden ist. Damit wird das Körpergedächtnis zu einer Angelegenheit für kleine Kinder. Gleichwohl wird es als moralische und intellektuelle Sicherungsinstanz für neu hinzuzugewinnendes Wissen unverzichtbar. Ein entwicklungspsychologisches Modell trägt dieser neuen Auffassung Rechnung: auf die Ausbildung des Körpergedächtnisses in der Kindheit folgt die des mentalen Gedächtnisses im Jugendlichen- und Erwachsenenalter. Es operiert unabhängig von den Bildern – zumindest unabhängig von den behelfsmäßig eingesetzten, einfachen Bildern mnemonischer und emblematischer Provenienz, die für die Aus-Bildung des Körpergedächtnisses zuständig sind. Die Konstruktion des kindlichen Körpergedächtnisses als einer Phase der Aus-Bildung im comenianischen Sinne des Abschieds von den Bildern, der mit dem Spracherwerb einhergeht, kann mit dem neuen Verständnis von Ausbildung, im Sinne einer allmählichen Entwicklung keimhaft angelegter Eigenschaften und Fähigkeiten verknüpft werden. Der Orbis pictus wird so im 18. Jahrhundert zum Zeugen einer Bildungsauffassung, die er selbst zwar befördert, doch nicht vertritt. Entsprechend hält Goethe dem Elementarwerk Johann Bernhard Basedows, das 1774 erscheint, das Vorbild des Orbis pictus entgegen: Allein mir mißfiel, daß die Zeichnungen seines „Elementarwerks“ noch mehr als die Gegenstände selbst zerstreuten, da in der wirklichen Welt doch immer nur

_____________ Orbis pictus findet sie sich bereits angelegt. Im Unterschied zu der von Hübner 1638 formulierten ersten und grundsätzlichen Kritik an der comenianischen Pädagogik der Didactica magna richtet sich die Kritik, die gegen Ende des 17. Jahrhunderts gegen den Orbis pictus formuliert wird, nicht gegen die – nun sichtbar gewordene – subversive Auflösung des Verweisungszusamenhangs von Bild und göttlicher Ordnung. Vielmehr wird gerade gegen die Einbindung der Dinge in eine göttliche Ordnung Einspruch erhoben. Diese Auffassung, der der Orbis pictus nicht erklärtermaßen, doch mit seinem Bildprogramm Vorschub leistet, macht das Werk im 18. Jahrhundert ‚anschlussfähig‘. Die seit der Mitte des 18. Jahrhunderts sich etablierende Gattung des Kinderbilderbuchs zeichnet sich durch die Präsentation eines Wissens aus, das aus der göttlichen Ordnung entbunden ist.

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das Mögliche beisammensteht und sie deshalb, ungeachtet aller Mannigfaltigkeit und scheinbarer Verwirrung, immer noch in allen ihren Teilen etwas Geregeltes hat. Jenes „Elementarwerk“ hingegen zersplittert sie ganz und gar, indem das, was in der Weltanschauung keineswegs zusammentrifft, um der Verwandtschaft der Begriffe willen neben einander steht; weswegen es auch jener sinnlichmethodischen Vorzüge ermangelt, die wir ähnlichen Arbeiten des Amos Comenius zuerkennen müssen.16

Das Elementarwerk Basedows gerät deshalb in die Kritik, weil es nur eine scheinbare Ordnung – nämlich die der Begriffe – suggeriert, nicht aber der natürlichen Ordnung gerecht wird. Der Vorwurf der Zersplitterung lässt das ganzheitliche Konzept erkennen, das sich hinter diesem Vorwurf verbirgt und das sich auch auf die Bildungsauffassung erstreckt. Es ist eine Bildungsauffassung, die nicht auf die bloße Anhäufung und Auffrischung von Wissen, sondern auf die stufenweise Aneignung eines sinnvoll geordneten Wissens im Rahmen einer organischen Entfaltung des Individuums setzt.17 Die Ausbildung des kindlichen Körpergedächtnisses wird somit eng mit einem modernen Verständnis von Individualität verknüpft. Als eigenster Ausdruck des Ich bleibt es im Modell eines einheitlichen Körper_____________ 16

17

Goethe 1981, S. 25. Vermittelt über Bollnows (1950) vergleichende Überlegungen zu Comenius und Basedow, findet das Urteil Goethes Eingang in die wissenschaftliche Sekundärliteratur und bestimmt den Tenor der meisten erziehungswissenschaftlichen Beiträge zu Basedows Elementarwerk auch in der neueren Forschung bis heute. Goethe – und jene, die an ihn anschließen – verkennt mit seiner Kritik jedoch die spezifische Modernität des Basedowschen Elementarwerks. Ausdrücklich verweist Basedow darauf, dass seine Unterrichtsmethode – darin ganz dem Emile Rousseaus verpflichtet – eine Pädagogik vom Kinde aus verfolgt. In der Anordnung der Lehrgegenstände lässt Basedow sich leiten von der zunehmenden Erweiterung der kindlichen Erfahrungswelt. Die Präsentation der Gegenstände auf den dem Elementarwerk beigegebenen, von Basedow konzipierten und auskommentierten und unter der Leitung Chodwieckis gestochenen hundert Kupfertafeln folgt daher keiner übergeordneten Systematik sondern dem Entwicklungsgang des Kindes, so dass „die Kinder bald eine Mannigfaltigkeit von nützlichen Sacherkenntnissen und Wortverständnissen erlangen, damit ihnen desto eher so wohl die Natur in den Erfahrungen als die zufälligen Gespräche der Erwachsnen lehrreich werden. Daher ist es eine Regel des Elementarwerks, daß von tausend Dingen bald Etwas, und doch von keinem anfangs Alles vorkomme; […]. Denn der menschliche Verstand, wenn er von allen Etwas weiß, wächst sehr durch die Mannigfaltigkeit der Erkenntniß, wenn sie nur wahr und nützlich ist. Daher ist die Mannigfaltigkeit der Natur und der Erfahrung, welche wir im Unterrichte nachahmen müssen, so lehrreich. Der Verfasser des Elementarwerks muß also in den ersten Theilen bey jeder Gelegenheit von der gewählten Heerstrasse seitwärts abweichen, und alsdann wieder zurückkehren. Eine tabellenmäßige Einrichtung ist in den ersten Theilen eines solchen Buches sehr schädlich. In den mittlern und letzten Theilen aber muß alles weit kürzer wiederhohlt, nach Regeln geordnet, und wo etwas fehlt, ergänzt werden“ (Basedow 1774, S. 26f.). Basedow geht also von der Annahme aus, dass das frühkindliche Lernen zwar durch Lektüre und Lehrgespräche angeleitet werden solle, dass es sich jedoch überwiegend jenseits dieser pädagogischen und kontrollierten Szenarien als zufälliges und assoziatives Lernen ‚ereignet‘. Nach Basedows Auffassung ist es Aufgabe der späteren Jahre, das solchermaßen mit Hilfe von Lektüre eigenständig in der Lebenswirklichkeit angesammelte Wissen zu systematisieren.

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gedächtnisses präsent – unberührt von der Bifurkation des Gedächtnisses in ein mentales Gedächtnis und ein gänzlich neu konzipiertes Körpergedächtnis. In den programmatisch sprachlosen Bildungserlebnissen des Erwachsenen angesichts der ‚großen Kunstwerke‘ bleibt es in der Bildungsauffassung der Moderne aufgehoben. Mit der Erfindung der Psychoanalyse kommt es als in seiner Einheitlichkeit bewahrtes, eigentliches Gedächtnis wieder zum Vorschein.

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Franziska Uhlig

Das Gedächtnis der Hand The following essay focuses on the artist’s hand as medium. Starting from the unconscious resp. involuntary act of artistic creation, it moves on to the tools and techniques which introduce collective conceptions of the capabilities of the artist’s hand into artistic production. The essay shows how manners of speech, tools and museum programs work as archives of a collective knowledge of the artist’s hand and how this knowledge is linked with a concept of artistic training. Further, the essay explores what it might mean when artists such as Willi Baumeister, Paul Klee or Francis Bacon aim for the ,creative angle‘ in painting and drawing by consciously abandoning control over the working hand during creative production. Who or what directs the hand while it acts beyond the conscious control of its owner?

Als Francis Bacon 1946 mit Pinsel und Ölfarbe vor einer Leinwand hantierte, in der Absicht, einen Vogel beim Niedergehen auf ein Feld zu malen, mündete dieses Vorhaben nach und nach in die Darstellung eines Mannes mit Regenschirm. Bacon akzeptierte das Resultat, signierte das Bild und gab ihm einen Titel – allerdings nicht „Mann mit Regenschirm“, sondern „Gemälde“ (vgl. Sylvester 1982). Wie der Titel besagt, wollte Bacon den Prozess der Bildentstehung stärker gewichten als das Dargestellte. Da Bacon überdies freimütig über diesen unbeabsichtigten Wandel in der Darstellung sprach, impliziert der Titel zudem, dass eine sich unter der Hand wandelnde Darstellungsabsicht für die Tätigkeit des Malens signifikant sei. Diese Behauptung Bacons gewinnt an Plausibilität, zieht man die Reflexionen anderer Künstler über ungewolltes Handeln während des künstlerischen Produzierens heran. So schreibt Paul Klee an seine Frau Lily, dass er die folgenden Zeilen „ohne Kontrolle, rein mit der Hand, als ob es Zeichnung wäre“ (zitiert nach Glaesemer 2005, S. 75), niedergeschrieben habe, womit Klee ein Gleichheitszeichen zwischen das Zeichnen und seine unkontrolliert tätige Hand setzt. Und bei Willi Baumeister lesen wir, dass man sich das künstlerische Agieren generell als ein bewusst zugelassenes Auseinanderdriften von Hand und Vision vorzustellen habe. Es heißt: Während der Künstler glaubt, sich seiner Vision als endgültigem Zielpunkt ständig zu nähern, führen ihn die aus seiner „Mitte“ ausstoßenden Formkräfte un-

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merklich […] zum unbekannten Ort, zu dem bisher Unbekannten. Diese neue Richtung ist abgewichen von der Richtung auf die Vision (oder auf ein sonstiges Vorbild), sie ist die Linie und Richtung der Unfehlbarkeit und des Findens […] im Sinne des schöpferischen Winkels […]. (Baumeister 1947, S. 160)

Wie Bacon beobachteten also auch Klee und Baumeister das Phänomen einer von ihrem Willen losgelöst malenden, respektive zeichnenden und damit gleichsam selbstständig handelnden Hand. Nun führen Anatomie und Neurophysiologie scheinbar untrügliche Beweise dafür ins Feld, dass die Sensomotorik der Hand wie auch die der sie bewegenden Glieder ohne die Steuerung durch das Gehirn nicht möglich ist (vgl. Wilson 2002). Damit stellt sich die Frage, wer Bacons, Baumeisters oder Klees Hand denn tatsächlich gesteuert hat? Auch, wieso Hände sich mit Arealen im Gehirn verbünden können, deren Lösungspotentiale im toten Winkel ihres Eigentümers liegen und überdies nur durch das Ignorieren des sie beherrschenden Willens realisiert werden können? Wer oder was sind die von Baumeister in die Körpermitte lokalisierten Formkräfte? Arbeitsszenarien dieser Art stehen in der kunstwissenschaftlichen Forschung selten zur Debatte. Widersprechen sie doch der von der medizinischen Wissenschaft entlehnten Annahme, dass die Hand als ein dem Gehirn vollständig subordiniertes und deshalb verlustfrei transkribierendes Instrument zu beschreiben ist. Diese Annahme ist derart verbreitet, dass sogar Medien spiritistischer Seancen (vgl. Strätling 2006) oder Initiatoren von autopoetischen Verfahren bei ihren Schilderungen auf die Vorstellung einer hierarchischen Interaktion von Gehirn und Hand zurückgreifen. Selbst hier gleichen die Beschreibungen der sich wie auch immer betätigenden Hände durchoptimierten Produktionsprozessen der industriellen Arbeitswelt. Selbst hier beherrschen die Eigentümer der Hände das künstlerische Produzieren wie von der Spieltheorie konstruierte Akteure, welche ihre Präferenzen perfekt geordnet und hierarchisiert haben, weil sie über die Alternativen der Nutzenmaximierung vollständig informiert sind. So kann es kaum verwundern, dass auch in der kunstwissenschaftlichen Literatur der Eigensinn der Hand gegenüber dem absichtlichen Handeln und der Intention gegen Null tendiert. Wie aber lässt sich das Phänomen der selbstständig tätigen Hand bei Bacon, Baumeister und Klee mit diesem zweifellos begründeten Modell eines alle Handlungen dominierenden Gehirns vereinbaren? Der folgende Beitrag möchte zeigen, dass dieses Phänomen vor dem Hintergrund handlungstheoretischer Überlegungen der praktischen Philosophie, der Wissenschaftstheorie wie auch vor der Folie der Forschungen zu Erinnerungsprozessen und zum Körpergedächtnis eine systematische Rahmung gewinnt, die es erlaubt, die Vielgestaltigkeit der sich in der Hand überschneidenden Wissensbereiche und der hieran geknüpften Gedächtnisare-

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ale in den Blick zu nehmen. Geht man davon aus, dass es nicht mehr die Hand und das Gehirn gibt, sondern – je nach Projektion durch die „soziale Formation“ (vgl. Bryson 2001, S. 149) und deren individueller Adaption – geniale, weibliche, männliche, digitale, taktile und manuell operierende Hände (vgl. Deleuze 1995) und, dass diese fleißig, sicher, wie auch unbeholfen sein können, wird eine Komplexität der künstlerisch tätigen Hand sichtbar, die deren langwierige Ausbildung und deren permanentes Training verständlich machen. Ebenso lassen sich die Gedächtnisareale des Gehirns differenzieren. Anstatt von dem Gehirn auszugehen, gibt es Gedächtnisareale, die ein kollektives Wissen speichern (vgl. Halbwachs 1985), die gewohnheitsmäßige Fertigkeiten aufbewahren (vgl. Düker 1982), die das implizit erworbene Wissen verwalten (vgl. Polanyi 1987), welche die planbaren Handlungen steuern und nicht zuletzt solche, die den Zufall beheimaten (vgl. Schulze 2000). Und es gibt das Unbewusste als die große Unbekannte. Jede Bezeichnung impliziert einen anderen Modus operandi; jede tätige Hand erfordert andere Weisen der Einübung und des Zugriffs. Die Analyse von Modalitäten des Handelns ist indes nicht so einfach. Denn in der Regel sind dem Handelnden die impliziten Annahmen und Modelle seines Handelns nicht zugänglich. Beschreibungen der Art Bacons, Baumeisters oder Klees wird man daher selten finden. Die Vielgestaltigkeit der Beziehung zwischen Hand und Gehirn, die beim künstlerischen Produzieren vermutet werden darf, kann deshalb nur dort erforschen werden, wo die Künstler entweder ihre Arbeitsweise reflektieren, oder eine spezifische Handlungsweise einüben, respektive mit ihr brechen. Nur in den Zonen des Umbruchs und der Distanzierung wird veräußert und expliziert, was zuvor selbstverständlich erschien. Solche Zonen sind beispielsweise die Lehrprogramme an künstlerischen Lehranstalten und deren für die Hand bereitgestelltes Setting; oder es sind Umwälzungen in der künstlerischen Produktionsweise wie beispielsweise die ikonoklastische Wende der 1960er Jahre, während der die Künstler der Arte Povera, von Fluxus und Anti-Form den Ausstieg aus dem Bild (vgl. Glozer 1981, S. 234f.) propagierten. Dabei stellte die Abkehr vom Bild nichts Geringeres als die Zurückweisung von einem Jahrtausende alten Hand-WerkzeugVerbund dar. So verkündet Jannis Kounellis, einer der Protagonisten, im Jahr 1965 mit einigem Stolz, man habe das Handwerk des Künstlers abgeschafft (vgl. Ausst.-Kat. Bielefeld 1990, S. 16). Besagt diese Konstellation nicht aber, dass die Hand eben nicht jenem frei verfügbaren Werkzeug gleicht, als dass wir sie gemeinhin beschreiben? Wie ließe sich sonst verstehen, dass Künstler den Werkzeugen und Techniken der künstlerischen Bildproduktion ein Wissen zuschreiben können, das über sie Macht ausübt. Und zwar eine Macht, deren Folgen sie nur durch eine Vermeidungsstrategie von sich abwenden können; nur, indem

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sie verhindern, dass sie von den Werkzeugen und Techniken mehr diszipliniert, denn befreit werden (vgl. Menke 2003)? Was also haftet an Werkzeugen und Techniken, dass sie Kounellis zu einer solchen Aussage verleiten? Wie wirken Werkzeug und Techniken auf die sich in der Hand überschneidenden Wissens- und Gedächtnisareale? Eine Analyse des Werkzeuges und seines systematischen Ortes im künstlerischen Schaffensprozess ist für das Verständnis der Beziehung zwischen Hand und Gedächtnis von höchster Bedeutung. Daher wird dem Werkzeug der erste Abschnitt des folgenden Beitrages gewidmet sein. An die Überlegungen zum Werkzeug schließt ein Abschnitt an, der das Zeichnen zum Gegenstand hat. Lässt sich doch am Zeichnen die Problematik der individuellen Aneignung des in Werkzeug und Technik aufbewahrten Wissens am besten vertiefen. An ihm wird seit je die Hand und ihr Zugriff auf eine wie auch immer geartete Invention seitens des Gedächtnisses verhandelt. Sie galt in der Antike und seit der Renaissance als ein Medium, anhand dessen man meinte, dem „in das Bild-Kommen“ der Idee (Bryson 2003, S. 150) gleichsam über die Schulter schauen zu können. In einem dritten Abschnitt wird die Beziehung zwischen Hand und Werkzeug in den Kontext von kollektiven Prozessen der Archivierung und der Reanimierung eines verlustig gegangenen Wissens der Hand gestellt. Der Abschnitt führt in das Hamburg der 1870er Jahre vor die Vitrinen und Schränke des gerade gegründeten Museums für Kunst und Gewerbe. Museen dieser Art entstanden als Reaktion auf den durch die industrielle Revolution rasant voranschreitenden Verlust des „kunsttechnischen Erbes der Menschheit“ (Brinckmann 1894, S. IV). Am Hamburgischen Museum für Kunst und Gewerbe wird uns v.a. die Ordnung der kunstgewerblichen Erzeugnisse interessieren. Überwog dort zunächst die Aufstellung nach Materialien und deren Bearbeitungstechniken, so fand ab den 1880er Jahren ein Umdenken in Richtung auf eine kulturgeschichtliche Raumordnung (vgl. Klemm 2004, S. 108ff.) statt. Nun beinhaltete Kulturgeschichte nicht mehr das in der Bearbeitungstechnik eingeschlossene Hand-Wissen, sondern es standen Stile, Regionen und Epochen im Vordergrund des zu reanimierenden „kunsttechnischen Erbes“ an Hand-Wissen. Wieso hatte Justus Brinckmann, der Gründungsdirektor des Museums, plötzlich von einer stilistisch ordnenden Raumfolge zu träumen begonnen? Die Erörterung dieses Wechsels von Ordnungskriterien hat die Verflechtungen des kollektiven Gedächtnisses mit dem Körpergedächtnis zum Thema.

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1. Werkzeuge: Bloß Feder und Pinsel? Die Konstruktion eines (guten) Werkzeugs beruht auf dem Wissen um die Bedürfnisse und Anforderungen seines künftigen Nutzers: Je spezialisierter die Anforderungen an seinen Gebrauch sind, desto stärker wurde die Konstruktion auf jene künftig mit dem Werkzeug auszuführenden Handlungen hin konzipiert. Da sich die Künstlerinnen und Künstler ihre Werkzeuge bis in die 1950er Jahre hinein kaum mit anderen Nutzern in der Gesellschaft teilen mussten, kann man davon ausgehen, dass die Werkzeuge des künstlerischen Schaffensprozesses bis zu diesem Zeitpunkt ihre Konstruktion allein dem Wissen und der Erfahrung der Künstler verdankten. Allerdings muss man seit der industriellen Verfertigung der künstlerischen Werkzeuge einschränkend in Betracht ziehen, dass nur diejenigen Werkzeuge zirkulierten, die dem Produzenten genügend Abnehmer in Aussicht stellten. Mit anderen Worten: die Künstlerbedarfshandlungen, die sich seit dem 18. Jahrhundert herausbildeten, waren nur mit solchen Werkzeugen gefüllt, die sich gut verkaufen ließen; die also einerseits in sich genügend Wissen um die Bedürfnisse der Nutzer speicherten und die andererseits über genügend Anschlussfähigkeit zu den in der Gesellschaft existierenden Vorstellungen von der Funktion von Kunst verfügten. Würden die Pinsel, Farbe und Leinwand verbrauchenden Künstler für ihre Malereien zu wenig Liebhaber finden, würde dies sehr bald Spuren in der Angebotspalette von Künstlerbedarfshandlungen hinterlassen. Weil seit dem 18. Jahrhundert der Produzent statt der Künstler zu entscheiden beginnen, welche Werkzeuge gebaut werden und welche nicht, kann das Werkzeug nicht mehr als alleiniger Speicher eines HandWissens seitens der Künstler angesehen werden, sondern es ist zugleich auch Teil der sozialen Formation und damit auf das engste mit den gesellschaftlichen Vorstellungen über die künstlerische Tätigkeit verflochten (vgl. Bryson 2001). War der Künstler bis anhin Träger von Wissensbereichen, die heute zu den verschiedensten wissenschaftlichen Disziplinen gehörten, so begannen sich im ausgehenden 17. Jahrhundert insbesondere in England Künstlerbedarfsmanufakturen zu gründen, die nicht nur Malmaterialien sortimentgerecht zusammenstellten und als Set verkauften, sondern auch Instruktionen zur Anfertigung einer Grundierung der Leinwand, ja sogar solche zum Malen drucken ließen (vgl. Müller 1987, S. 231). Damit scheint sich nicht nur die Herstellung der künstlerischen Arbeitsgeräte, der Farben und Werkzeuge sukzessive aus den Künstlerateliers in die Manufakturen und in die Industrie verlagert zu haben. Auch das Wissen zur Fertigung der Farben, Pinsel, Federn und anderen Werkzeuge, das bis anhin mündlich innerhalb der Atelierbetriebe weitergegeben wurde, scheint in die Industrie mit gewandert zu sein. Die kunstwissenschaftliche

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Forschung hat solche Verlagerungsprozesse bislang nur anhand der Farbherstellung untersucht (vgl. Callen 2000). Für die übrigen Werkzeuge des künstlerischen Schaffensprozesses steht eine solche Unersuchung noch aus. Aber schon anhand der Veränderungen bei der Farbherstellung zeichnet sich eine zweite Tendenz ab, nämlich die, dass die kommerziellen Interessen der Hersteller nicht selten mit den Bedürfnissen der Benutzer auseinander liefen (weshalb angenommen werden darf, dass die Interessen beim Werkzeugbau ähnlich gelagert waren). Wie die Forschung zur Farbchemie des 19. Jahrhunderts ergab, hatten sich viele Unternehmen der chemischen Industrie darauf kapriziert, an der Qualität der Pigmente zu sparen, anstatt brauchbare Alternativen für die seit Jahrhunderten erprobten aber teuren Mineralpigmente zu entwickeln (vgl. Burmester/Heine/ Zimmermann 1999). Deshalb wurde es im 19. Jahrhundert für die Künstler und Restauratoren unausweichlich, eine Instanz zu etablieren, welche die industriell gefertigte Palette an Künstlermalfarben prüft und die Interessen der Nutzer vor der Industrie vertritt. In Deutschland war dies das 1887 gegründete Doerner-Institut. Solchen Institutionen verdanken wir heute neben den wissenschaftlich fundierten Prinzipien der Restaurierung ein unschätzbares Archiv über die materielle Kultur des künstlerischen Schaffensprozesses. Für den hier diskutierten Zusammenhang sind es diese Archive, die sich am meisten zur Beobachtung des Transfers eines Hand-Wissens eignen. Denn in diesen Archivalien werden die Konstituenten der materiellen Kultur des künstlerischen Produzierens von einer dritten, dem unmittelbaren Schaffen vorgelagerten Instanz in ihren Auswirkungen auf Material, Werkzeug und Hand reflektiert. Ein frühes Beispiel für solch eine prüfende Besprechung der Werkzeuge und Materialien stellt Alois Senefelders Handbuch zu seiner in den 1790er Jahren entwickelten Reproduktionstechnik namens Lithographie dar (vgl. Senefelder 1821). Ursprünglich war die Lithographie von ihm zur Verbilligung des Notendrucks erfunden worden. Bald aber wurde ihre hervorragende Eignung für die Vervielfältigung des künstlerischen Zeichnens entdeckt. Der Künstler konnte nämlich auf dem Lithostein beinahe genauso zeichnen wie auf einem Blatt Papier. Pinsel, Feder und Kreide blieben ihrer Konstruktion nach gleich. Lediglich ihre chemische Beschaffenheit wurde verändert. Kreide wie Tusche erhielten Beimengungen, die den Stein an den bezeichneten Stellen fettempfindlich machten. Das bewirkte, dass die Druckfarbe beim Aufwalzen auf den Stein nur an den bezeichneten Stellen eine chemische Verbindung einging. Auf den unbezeichneten Partien des Steins blieb sie nicht haften und konnte nach dem Aufwalzen einfach abgewischt werden. Da die Lithographie durch die gleichbleibende Konstruktion der Werkzeuge einerseits nahe am Zeichnen liegt, und Senefelder andererseits

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in seinem Handbuch das gesamte, für den Steindruck relevante Wissen bündig und mit einem Griff bereitstellte, sich in ihm also unzählige Eventualitäten des Werkzeuggebrauchs finden, die ein breites Spektrum an Möglichkeiten der Realisation bestimmter Materialeffekte und künstlerischer Absichten abdeckten, soll am Handbuch der Lithographie skizziert werden, wie ein in den Werkzeugen aufbewahrtes kollektives Wissen durch den Gebrauch sukzessive in die Hand und damit in den individuellen Körper gelangt. Nun heißt es schon gleich in Senefelders Einleitung zum Kapitel über den Werkzeuggebrauch: Der geübteste Künstler kann mit der besten chemischen Tinte auf einer gehörig zugerichteten Steinplatte nichts Vollkommenes hervorbringen, wenn seine Feder nicht gut und nach seiner Hand geschnitten ist. Es ist daher […] notwendig, die Verfertigungs-Art […] dieser Federn selbst zu lernen, weil man […] selten eine für seine Hand ganz taugliche erhalten würde, wenn man sich dieselben bei einem Stahlarbeiter verfertigen lassen würde.(Ebd., S. 202ff.)

Wie die Passage besagt, besteht zwischen dem Wissen, dass in der Konstruktion jeder Stahlfeder steckt, und dem individuellen Hand-Wissen eine Differenz. Gemäß Senefelder ist sie weder durch das Meiden bestimmter Hersteller von Federn, noch durch mehr Üben zu überbrücken. Die Differenz scheint also genereller Natur zu sein, denn selbst der „geübteste Künstler“, so Senefelder, würde hier unweigerlich scheitern. Das Ungenügen, das im Bau der Stahlfeder beherbergt ist, kann laut Senefelder nur dann zu Gunsten des Künstlers gewendet werden, wenn er die Nachbearbeitung des Werkzeugs selbst in die Hand nimmt. Dann erst sei er in der Lage, die Feder ganz auf die individuellen Bedürfnisse seiner Hand einzustellen. Wenden wir uns zunächst der Frage zu, wie diese Differenz beschaffen ist. Sie scheint groß, denn es folgen seitenlang minutiöse Beschreibungen, wie die im Künstlerbedarfshandel erworbenen Federn oder Pinsel umzubauen, abzuschneiden, zu glätten und zu feilen sind, damit sie sich der Hand des Künstlers besser fügen: Will man, dass der Pinsel bei etwas stärkerem Aufdrücken dickere Striche mache, so ist die gewöhnliche Zurichtung […] schon hinlänglich. Gleich dick bleibende Striche sind aber mit solchen Pinselns sehr schwer zu machen. Man nimmt […] den Pinsel, hält ihn auf den Tisch, und streicht die Haare mit einem Messer ins Breite auseinander. Dann wird von jeder Seite […] ohngefähr eine halbe Linie tief hinweg geschnitten. Nun dreht man den Pinsel auf eine andere Seite […] und schneidet […] wieder […] solange, bis nur in der Mitte zehn oder zwölf Haare in der ganzen Länge übrig sind. Dann werden auch diese an der äußersten Spitze ganz gleich geschnitten. Die übrig bleibenden Haare sollen aber nicht ganz die Mittelsten seyn, wenn der Pinsel vorzüglich gut geraten soll; aber auch nicht sehr entfernt voneinander seyn, damit sie […] nicht gar zu fest aneinander kleben […]

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Mit einem nach dieser Art verfertigten […] Pinsel lassen sich mit Leichtigkeit die schönsten Kupferstichen ähnlichen Zeichnungen verfertigen. (Ebd., S. 206ff.)

Wie die Passage zeigt, floss in Senefelders Ratschläge all das Wissen um die möglichen Strichformen, d.h., die Spielarten des Drucks der Hand auf den Pinsel ein, wodurch der Leser eine Vorstellung von der Komplexität der Steuerung der Hand beim Führen eines Pinsels gewinnt. Diesen Ausführungen folgen Abschnitte, in denen Senefelder sodann schildert, wie die chemischen Eigenheiten der Tusche und die Qualität der Pinselhaare das Verhältnis des Werkzeugs zur Hand mit konstituieren. Hinsichtlich des Transfers von Hand-Wissen handelt es sich also um eine doppelte Bewegung: Das Werkzeug wurde für den Willen der Hand so gefügig wie möglich gemacht und dennoch bleibt ein Rest, der die Hand den Bedingungen des Werkzeugs ausliefert. Die rationale Durchdringung des Zeichenvorgangs, welche die Grundlage für Senefelders Ratschläge bildet, kann eine Vielzahl von Eventualitäten des Geschehens beim Zeichnen benennen. Man kann den Pinsel oder die Feder wie angegeben bauen. Trotz alle dem ist ein weiterer Schritt zur Erlangung der Fähigkeiten des Werkzeuggebrauchs nötig. Er wird offensichtlich, wenn man sich die Frage stellt, warum Senefelder meint, dass prinzipiell jede industriell gefertigte Feder vom Künstler selbst an die Hand angepasst werden muss. Warum kann dies nicht von einem Dritten geleistet werden? Wieso soll es so schwierig sein, sich über die individuellen Bedürfnisse des Künstlers zu informieren, um die Feder an seine Hand anzupassen? Eine Antwort hierauf findet man in Michael Polanyis Forschung zum impliziten Wissen (vgl. Polanyi 1987). Polanyi zufolge beruht der Erwerb von Fertigkeiten der Hand nicht allein auf rational kontrollierbaren Prozessen. Vielmehr erwirbt die Hand beim Umgang mit den materiellen Konstituenten des Werkzeugs und der durch sie berührten Welt ein komplexes, jedoch nicht vollständig zugängliches Wissen, dass er implizites Wissen nennt. Dabei handelt es sich um ein Wissen, dass der Betreffende unbewusst erwirbt, von dem er lediglich weiß, dass er es besitzt, jedoch nicht anzugeben weiß, wie er es nutzt. Mit Polanyis These lässt sich erklären, dass ein Werkzeugbauer vom künftigen Nutzer des Werkzeuges nicht in vollem Maße über die Bedürfnisse seiner Hand informiert werden kann. Der Werkzeugnutzer kennt bestenfalls einen großen Teil der Bedingungen, unter denen er handelt. Alles wird ihm nicht zugänglich sein. Folglich kann er das nur implizit gewusste Wissen an Dritte nicht weitergeben. Wie dieses implizite Wissen in den Körper gelangt, beschreibt Polanyi mittels folgender Metapher: Jeder, der das erste Mal eine Sonde in der Hand hält, wird ihren Druck gegen Finger und Handfläche spüren. In dem Maße aber, wie wir eine Sonde […] zu handhaben lernen, verwandelt sich unser Gewahrwerden des Widerstandes gegen

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die Hand in ein Gefühl ‚an der Spitze selbst‘ für die Gegenstände, die wir erforschen. (Ebd., S. 21)

Wie das Bild der Sonde offenbart, wird die vollumfängliche Handhabung eines Werkzeuges erst erreicht, wenn die Hand gelernt hat, alle möglichen Reize, die ihr beispielsweise beim Zeichnen widerfahren, umzukodieren, so dass sie den Steuerungsprozess der sie bewegenden Glieder nicht mehr stören. Dieser Prozess ereignet sich jenseits der rationalen Kontrolle. Ließ sich mit Senefelder zeigen, dass mit dem Gebrauch des Werkzeugs der Transfer eines kollektiven Wissens von der Hand einhergeht, welcher durchaus rationaler Natur ist, weil er reflektiert, beobachtet und durch häufiges Üben auch automatisiert werden kann, so verweist Polanyis Bild der Sonde auf ein jenseits des Bewusstseins stattfindendes sukzessives Sich-Zurüsten der Hand mit einem Wissen um den Werkzeuggebrauch.

2. Zeichnen und Übung Am Ende seiner Kapitel zum Werkzeugumbau kommt Alois Senefelder darauf zu sprechen, wie man den Pinsel so herrichtet, dass man mit ihm eine hauchdünne, gerade Linie zu ziehen vermag. Diese Linie, besser, dieses Ideal von Linie, von dem Senefelder hier spricht, hat eine bis in die Antike zurückreichende Geschichte (vgl. Bonnefoit 1998). Die hauchdünn gezogene Linie repräsentiert nicht nur für Senefelder das höchste Maß an Kunstfertigkeit. In Gaius Plinius Secundus’ Naturalis Historia findet sich das Linienideal in Form eines Wettstreites zwischen Apelles und Protogenes beschrieben. Im Hinblick auf den soeben veranschaulichten Prozess des Wissenstransfers zwischen Hand und Werkzeug heißt das, dass mit diesem Transfer auch Vorstellungen über die Erscheinungsweise des mit dem Werkzeug fabrizierten Produktes verknüpft sind. Neben dem Aneignen von Fertigkeiten zum Werkzeuggebrauch hatte sich der Künstler auch durch die Erscheinungsweise des Resultats mit den Normen und gesellschaftlichen Erwartungen an die künstlerische Tätigkeit in ein Verhältnis zu setzen. Er konnte ihnen folgen und seinen Pinsel so umarbeiten, dass er im Stande war, eine ebenso feine Linie zu ziehen respektive, sie zu übertreffen. Er konnte dieses höchste Maß an Kunstfertigkeit aber auch zurückweisen und es durch andere Wertvorstellungen ersetzen, beispielsweise, indem er wie bei den Künstlern des Expressionismus oder des Informell die emotionale Ausdrucksstärke einer Linie favorisierte. Eine solche Verschiebung der Wertmaßstäbe ist mit einer weiteren Bedingung gekoppelt: Ganz gleich, ob ein Zeichner tradierte Wertvorstellung übernimmt oder neue Wertmaßstäbe etablieren möchte, immer muss

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er zunächst einmal seine Hand in die Lage versetzen, solche Wertvorstellung auf dem Papier zu realisieren; und zwar in Wiederholungen. Während ein Maler die Spuren ungewollter Bewegungen der Hand durch ein Übermalen mit deckenden Pigmenten tilgen kann, kann der Zeichner diese nur verbergen, indem er das Blatt vernichtet und neu ansetzt. Aber auch das neuerliche Ansetzen würde ihm nicht wirklich weiterhelfen, wäre seine Hand nicht so trainiert, dass sie jene von Senefelder und Polanyi beschriebenen Wissens-Bereiche jedesmal reproduzieren kann. Dieses Vermögen erwirbt die zeichnende Hand nur durch Übung. Nur die Übung garantiert, dass das Zeichnen beim neuerlichen Ansetzen tatsächlich besser wird. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum sich in der Rede über das Zeichnen seit der Antike der Ausspruch „Nulla dies sine linea“ findet. Apelles habe sich die tägliche Übung nach Beendigung des Wettstreits mit Protogenes zur beständigen Aufgabe gemacht, so Plinius Secundus. Der disziplinierende Charakter der Übung wird gerade dort am anschaulichsten, wenn Künstler, die introspektiv zeichnen und also der Linie gänzlich andere Qualitäten als das von Plinius überlieferte Ideal abverlangten, ihren Schülern ebenfalls den Satz vom täglichen Zeichnen als Rat weiterreichten (vgl. Osterworld 2005, S. 24, 42f., 75f.). Der Sprung von der geläufigen Handhabung der Feder als Schreibinstrument hin zum Zeichnen ist mit einem immensen Mehraufwand verbunden. Beim Zeichnen hatte die Hand die Linie, die das Darzustellende bildnerisch ausdrücken sollte, aller erst zu erfinden. Sie konnte nicht wie beim Schreiben auf ein bereits definiertes Formenrepertoire, die Buchstaben, zurückgreifen. Mit dem Übungskonzept von „nulla dies sine linea“ stand also der Erwerb und der Ausbau einer disziplinierten Hand zur Disposition. In Johann Daniel Preißlers 1721 in Nürnberg herausgegebenem Zeichenlehrbuch mit dem Titel Die durch Theorie erfundene Pracis heißt es diesbezüglich: „Durch öfters wiederholte Übung spürt er [der Schüler] endlich eine solche Fertigkeit im Nachzeichnen, dass er die zum Grund gelegten Regeln ferners nicht mehr eigens zu bedenken braucht.“ (Zitiert nach Dickel 1987, S. 202) Wie die Passage besagt, verschmelzt das Üben „die zum Grund gelegten Regeln“ mit der Hand. Nun kann der Zeichner seine Aufmerksamkeit auf andere Dinge lenken. Die Inkorporierung der Regeln verschafft ihm Erleichterung. Verschaffte sie ihm aber auch Freiheit? Diese Frage soll anhand eines Zeichenlehrbuchs des Jahres 1901 untersucht werden (vgl. Crane 1901). Walter Crane, einer der bekanntesten Zeichner seiner Zeit, beschreibt in seinem Lehrbuch verschiedene Methoden, die ein angehender Künstler anwenden soll, wenn er erstmals damit konfrontiert ist, ein Beobachtetes zu zeichnen. Anhand dieser Methoden lässt sich genauer bestimmen, was bei der Inkorporierung der „zum Grund gelegten Regeln“ geschieht. Crane stellt dem Studierenden drei

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verschiedene Methoden des Erwerbs von Zeichenkompetenzen zur Auswahl: die „versuchende Methode“, die „ovale oder rechteckige Methode“ und die „Japanische unmittelbare Pinselmethode“. Der Studierende solle sich eine Methode zu eigen machen und nach dieser so lange arbeiten, bis er sie vollkommen beherrsche. Ein Wechsel zwischen den Methoden sei nicht ratsam. Der angehende Künstler muss sich entscheiden: Entweder erlernt er die zeichnende Umsetzung der Beobachtung durch ein tastendes Umkreisen der Konturen des Darzustellenden (versuchende Methode). Oder er behilft sich, indem er das Darzustellende zunächst auf dem Papier mittels Hilfslinien in ovale oder rechteckige Formen zerlegt, sich darüber die „Massen genau in ihren Abmessungen“ vergegenwärtigt und dann in die Hilfslinien hineinarbeitet. Verfügt er über eine starke Empfindungskraft, empfiehlt Crane dem Studierenden die japanische unmittelbare Pinselmethode. Hier wird der angehende Künstler darauf trainiert, das Gesehene ohne Vorzeichnen direkt und unter Einbezug seiner Empfindung gegenüber dem Beobachteten niederzuschreiben. Dies führe zu einer „pikanten Frische des Strichs“, sei aber nur durch eine „vollkommen innige Beziehung zwischen Auge und Hand“ zu erreichen, so Crane. Der Zeichenschüler erwirbt also die Fähigkeit, seine Hand am Erkennen seines Auges teilhaben zu lassen, indem er sich entweder darauf konzentriert, sein Auge vermehrt auf den Kontur zu lenken, oder, indem er den darzustellenden Gegenstand durch ein Zerlegen in Ovale und Rechtecke zu entdecken sucht, oder, indem er sich auf seine Empfindungen gegenüber dem Gesehenen konzentriert und diese wie ein japanischer Kalligraph unmittelbar nieder zeichnet. Die Inkorporierung dieser Regeln gemahnen an den Effekt einer ‚Brille‘, die den Werkzeugen der Hand vorgeschaltet werden. An den Methoden der Inkorporierung eines Regelwerkes, „dass man nicht mehr eigens zu bedenken braucht“, setzte die Kritik der Avantgarde an. So hilfreich solche Methoden am Beginn einer Künstlerlaufbahn sein mögen, beim Verlassen der Akademien und Lehranstalten stellten die angehenden Künstler bald fest, dass ein Abstreifen dieser ‚Brille‘ wegen ihrer unsichtbaren Teilhabe am Körper schwer möglich ist. Darauf verweist die Rede vom Verdorbenwerden durch das Studium bei diesem oder jenem Lehrer, dieser oder jener Kunstakademie etc. Die Regeln und Methoden hatten sich derart fest mit Auge, Hand und Gedächtnis verbunden, dass Künstler wie Wassily Kandinsky und Gabriele Münter Kinderzeichnungen durchgepaust und Künstler wie die Brücke-Künstler Südseekunst nachgeahmt haben, um sie wieder loszuwerden. Andere mieden die Akademien gänzlich, um diese Methoden gar nicht erst erwerben zu müssen. Das Bemühen der Künstler, den akademischen Überformungen während des Studiums entgegen zu wirken, lässt sich nicht zuletzt an der

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Künstlergeneration studieren, deren Ziel Glozer mit dem „Ausstieg aus dem Bild“ überschrieben hat (Glozer 1981, S. 234). Erinnert sei an das 1967 von Jan Dibbets mit gegründete Institut zur Reeducation of Artists. Die Überlegungen zur Reform der künstlerischen Ausbildung zielten darauf, Regeln des künstlerischen Handelns, der Wirklichkeitsaneignung sowie die Methoden des Werkzeuggebrauchs kollektiv zu tilgen respektive zu transformieren. Die Mühen der Künstler, Erscheinungen des Werkzeuggebrauchs vergessen zu machen, lassen sich nicht anders verstehen, als dass der Werkzeuggebrauch stets in Werte eingebettet ist, die den Künstlern unbewusst übertragen werden. Sie sind in den Werkzeugen und Techniken versteckt und werden im Konzept der Übung zu einem Teil ihres Körpers gemacht (vgl. Menke 2003). Dieser Effekt der ‚Brille‘ als eine Art unsichtbare Teilhabe am Körper lässt sich noch aus einer zweiten Perspektive betrachten. In den 1880er Jahren konzipierte der Kunsttheoretiker Konrad Fiedler den künstlerischen Akt der Niederschrift als eine Ausdrucksbewegung (vgl. Fiedler 1991, bes. S. 117ff.). Mit diesem Begriff versucht Fiedler, den Vorgang des Bildens durch die Hand aus einer simplen Nachordnung – hier Inventio, da Realisation – umzugießen in einen Akt des Ausformulierens, an welchem Gehirn und Hand nahezu gleichwertig beteiligt sind. Er zieht die Sprache zum Vergleich heran und stellt die These auf, dass sich die visuell gedachten Ideen wie beim Sprechen aller erst beim zeichnenden respektive malenden Niederschreiben verfestigen. Ein Jahrzehnt bevor Henri Bergson das Gedächtnis als eine „Schnittstelle zwischen Geist und Materie“ (Bergson 1908, S. V) beschreiben wird, steht für Konrad Fiedler bereits fest, dass es „ein verhängnisvolles Missverständnis [ist], ein geistiges Geschehen von einem körperlichen Geschehen getrennt zu denken, und das Verhältnis zwischen diesen beiden so aufzufassen, als ob es in der Macht jenes stände, dieses in seinen Dienst zu nehmen.“ (Fiedler 1991, S. 167) Für den hier diskutierten Zusammenhang ist v.a. interessant, dass Konrad Fiedler der manuellen Ausformulierung von etwas Gesehenem den eigentlichen Erkenntniswert beimisst: Wer aber meint, daß die Photographie dieses Gesichtsbild in der untrüglichsten Weise liefere, weil wohl das Auge, nicht aber eine Maschine irren könne, der muss von der Voraussetzung ausgehen, daß der Vorgang, durch den im menschlichen Auge und Gehirn das Gesichtsbild entsteht, ganz dem gleiche, durch den im photographischen Apparat das photographische Produkt zustande kommt […] Im Grunde kann auf photographischem Wege nur etwas hergestellt werden, was eben keine Gesichtsvorstellung ist, sondern wovon wir uns erst eine Gesichtsvorstellung bilden müssen […] dass der Mensch eine Entwicklung seiner Gesichtsbilder zu höheren Graden des Vorhandenseins nur einer Tätigkeit verdanken könne, durch welche sichtbar nachweisbare Gebilde hervorgebracht werden, und daß diese Tätigkeit keine andere als die künstlerische sei. (Ebd., S. 149f.)

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In der Manualität des Aneignungsprozesses, dem Zeichnen oder Malen, sieht Fiedler die Bedingung der Möglichkeit, sich einen Begriff von der Welt zu machen. Auge und Wahrnehmung allein reichen nicht hin. Vielmehr wird hier der Körper als ein Organismus gedacht, welcher erst durch das zeichnende und malende Beteiligen der Hand zum Erkennen der Welt taugt.

3. Das Hand-Werks-Zeug als Gedächtnis der Nation Die folgende Bruchstelle möchte das Eingebettet-Sein des Werkzeuggebrauchs in die Vorstellungen der sozialen Formation aus der Perspektive des Vergessens veranschaulichen. Als Justus Brinckmann 1894 seinen Führer durch das Hamburgische Museum für Kunst und Gewerbe veröffentlichte, hielt er es für angemessen, seine Leser einleitend über den Anlass der Museumsgründung aufzuklären. Es heißt: Als bald nach der Jahrhundertmitte die ersten Anregungen zur Begründung öffentlicher Sammlungen [des Kunstgewerbes] ergingen, standen vornehmlich zwei Aufgaben im Vordergrund: Man hatte einsehen gelernt, dass nur ein kleiner Bruchteil des kunsttechnischen Erbes der Menschheit noch in den Werkstätten gehütet werde, dass es daher höchste Zeit sei, was sich von den halb oder ganz vergessenen Verfahren alter Zeiten an ihren Erzeugnissen lernen lasse, zu neuem Leben zu erwecken. Man war sich durch die vergleichende Betrachtung der in grossen Industrieausstellungen vereinigten Gewerbserzeugnissen zugleich bewusst geworden, dass der Volksgeschmack wenigstens im Abendlande in erschreckendem Niedergang begriffen war […] und hoffte, diesen Geschmack auf bessere Wege zu leiten, indem man ihm mustergültige Werke kunstbegabterer Jahrhunderte als Vorbilder vor Augen führte. (Brinckmann 1894, S. IV)

Noch ein halbes Jahrhundert nach den ersten, bewusst wahrgenommenen Anzeichen für den Niedergang des Kunsthandwerks spiegelt der Text etwas vom Erschrecken über den gravierenden gesellschaftlichen Wandel infolge der industriellen Revolution (vgl. Breuer 1995). Seit Mitte des 19. Jahrhunderts hatten Staaten wie auch Bürgergesellschaften zahlreiche Initiativen zur Bewahrung oder Wiederbelebung des Handwerks lanciert. Frankreich galt hierin als besonders vorbildlich. Aber auch das Engagement der englischen Krone für das South Kensington Museum mit täglichen Öffnungszeiten bis 22 Uhr, einer aufwendigen Ausleihpraxis selbst an kleinere Industriestandorte und dem unerhört hohen Ankaufsetat erregte weltweit Bewunderung. Die Wiederbelebung kunstgewerblicher Praktiken war zugleich auch Betätigungsfeld engagierter Kunsthistoriker. So wirkte Friedrich Deneken, Assistent am Museum für Kunst und Gewerbe beispielsweise beim Wiederaufbau des Weberhandwerks in dem einst blühenden, grenznahen Ort Namens Scherrebek mit. Mit Hilfe des Wissens und

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Könnens weniger hochbetagter Weberinnen, die sich zu Schulungen bereit fanden, gelang es ihm, diesen volkstümlichen Handwerkszweig wieder zu beleben und dem Ort ein Auskommen zu sichern (vgl. Klemm 2004, S. 58 und S. 184f.) In Brinckmanns Text findet man aber auch noch eine zweite Strategie beschrieben, mit der man den Verlust eines Wissens der Hand im Bereich des handwerklichen Produzierens wett zu machen gedachte. Sie ist für das Verhältnis von Hand und Gedächtnis besonders aufschlussreich, weil es hierbei, so meine These, um ausgelagerte Bereiche des Körpergedächtnisses geht. Erstes Indiz hierfür ist der Umstand, dass man statt der noch lebenden Handwerker auch die kunsttechnischen Erzeugnisse alter Zeiten sammelte und dies damit begründete, die zeitgenössischen Kunstgewerbetreibenden an diesen lernen zu lassen (vgl. Brinckmann 1894, S. IVf.). Demzufolge betrachtete man nicht nur hochbetagte Handwerkerinnen oder noch existierende Werkstätten als Instanzen, an denen das verloren geglaubte Hand-Werks-Wissen in die Gesellschaft zurückzuführen sei. Nein, die Handwerkserzeugnisse alter Zeiten und Kulturen selbst galten Brinckmann und einem Großteil seiner Kollegen als Archivalien, mit deren Hilfe die Wiederbelebung des kunsttechnischen Erbes bewerkstelligt werden könne. Das wird nicht nur an der engen Zusammenarbeit des Museums für Kunst und Gewerbe mit der im selben Haus untergebrachten kunstgewerblichen Lehranstalt deutlich. Es zeigt sich auch anhand interner Debatten über die Ordnungskriterien für die Sammlungsgegenstände. Als das Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg 1874 nach langen Verhandlungen mit der Stadtverwaltung in einer kleinen Lokalität bei St. Annen seine Pforten öffnete, fand der Besucher die kunstgewerblichen Produkte in folgender Systematik vor: Im ersten Raum konnten zeitgenössische Kunstgewerbetreibende für sich werben. Im anschließenden Zimmer hatte Brinckmann einen Schrank mit Silber-, Bronze- und tauschierten Eisenarbeiten eingerichtet. Darunter befanden sich mit goldenen Arabesken verzierte indische Waffen wie auch europäische Objekte aus der Zeit der Renaissance, zum Teil nur in galvanoplastischer Nachbildung. Ferner wurden zahlreiche Bestecke, japanische Rauchgeräte, türkische Scheren und Messer, schließlich eine interessante Sammlung gefärbter Metallproben japanischer Herkunft gezeigt. Entlang der Wände waren auf einer Estrade geschnitzte Truhenbretter, eingelegte Holplatten, Rahmen und dergleichen mehr aufgestellt […] Im dritten Zimmer wurden hauptsächlich keramische Arbeiten […] aus Ostindien, Ägypten, den unteren Donauländern, alte deutsche Steingut- und Keramik […] gezeigt […] An den Wänden waren schmiedeeiserne Gitter, eine Reihe altpersischer Stickereien sowie moderne russische, japanische und italienische Korbflechtarbeiten angebracht. (Klemm 2004, S. 36)

Die Gegenstände waren also weder nach stilistischen, noch nach topographischen oder chronologischen Kriterien geordnet, sondern einzig nach

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den Gemeinsamkeiten im Material sowie des damit vorgegebenen Arsenals an technischen Bearbeitungen. Brinckmanns Präsentation zielte mithin auf das in diesen Produkten anwesende und also archivierte „kulturtechnische Erbe der Menschheit“ (Brinckmann 1894, S. IV). Was sollte der Betrachter angesichts dieser Präsentation anderes vergleichen können als die hohen Ansprüche der Handwerker an ihr Tun, die Qualität der Materialien und Werkzeuge, die innige Verwobenheit mit diesen. An den Rückwänden der Schränke hinter den Exponaten konnte er Zeichnungen und Bilder betrachten, welche beispielsweise den Umgang der Griechen mit ihrer Keramik darstellten (Brief Brinckmanns vom 18. August 1882, Ordner Ausl.Mus.17 im Archiv des Museums für Kunst und Gewerbe Hamburg). Der Besucher des Museums hatte gar keine andere Wahl, als beim Betrachten der Vitrinen und Schränke das Niveau einer Bearbeitungstechnik zwischen Indien, China, Persien und Europa zu vergleichen. In Anlehnung an das South Kensington Museum hatte Brinckmann erwogen, die zur Bearbeitung erforderlichen Werkzeuge mit zu sammeln: „Anfänglich lag es im Plan der Anstalt, mit der Sammlung kunstgewerblicher Erzeugnisse auch eine solche von Rohstoffen, Halbfabrikaten, Modellen und Werkzeugen zu verbinden. Diese technische Sammlung sollte zur Erläuterung der Hauptsammlung dienen.“ (Brinckmann 1894, S. IV) Dieses Anliegen kam zunächst wohl aus finanziellen Gründen nicht zur Ausführung. Später wurde es obsolet, weil Brinckmann seine Ordnungspraxis neu überdacht hat. Im Rahmen des Umzugs des Museums in das Gebäude am Steintorplatz scheint die Präsentation der Museumsbestände erneut verhandelt worden zu sein. Brinckmanns Assistent Martin Gensler schlägt Brinckmann in einem Brief vom 11. Dezember 1874 eine Ordnung der Exponate nach stilistischen Kriterien vor: Um derartige Arbeiten [Bronzen, die Brinckmann erworben hatte, Anm. Klemm] als mustergültige Vorbilder aufstellen zu können genügt, meiner Ansicht nach, nicht allein die technische Behandlung, sei dieselbe auch noch so vorzüglich (wovon wir ohnehin schon Proben haben), sondern die Arbeiten sollen in der plastischen Formgebung wenigstens so beschaffen sein, dass sie nicht irre führen und die ohnehin in der Stilfrage herrschende Verwirrung noch vermehren und derselben Vorschub leisten. (Klemm 2004, S. 36)

Genslers Vorstoß blieb zunächst erfolglos. Schon allein aus Raumnot heraus ordneten Brinckmann und seine Kollegen die kunstgewerblichen Gegenstände im neu bezogenen Gebäude „in noch stärkerem Maße als in St. Annen nach technologischen Gesichtspunkten“ (ebd. S. 36). Dennoch begann Brinckmann selbst, eine kulturgeschichtliche Raumordnung für die Präsentation der kunstgewerblichen Gegenstände zu entwickeln, wie aus einer Festschrift aus dem Jahr 1877 hervorgeht. Ziel sei es, „mit der Zeit eine ganze Reihe derartiger Wohnräume, jeden vom größten bis zum

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kleinsten Gerät im Stile einer bestimmten Epoche einzurichten und auszustatten“ (ebd. S. 41). Durch Genslers Brief an Brinckmann wie auch durch Brinckmanns Darlegungen aus den Festreden wissen wir, dass die Gründe für die Umstellung in einer Stärkung der stilistischen Bildung des Betrachters zu suchen sind. Zieht man in Betracht, dass ein kollektives Gedächtnis wesentlich das „gesellschaftliche Denken“ ist, „dessen ganzer Inhalt nur aus kollektiven Erinnerungen besteht, dass aber nur diejenigen von ihnen und nur das an ihnen bleibt, was die Gesellschaft in jeder Epoche mit ihrem gegenwärtigen Bezugsrahmen rekonstruieren kann“ (Halbwachs 1985, S. 369), müsste man von einer Archivierung kunsttechnischen Wissens sprechen, auch wenn Brinckmann dies anders gesehen hat. Nicht ohne Stolz teilt er dem Leser seines Museumsführers mit: Wenige Jahrzehnte haben genügt, um die Behauptung, alles was unsere Zeit von kunsttechnischen Dingen verstehe, wiege nicht auf, was wir vergessen haben, zu erschüttern. Dem Wirken der Kunstgewerbe-Museen […] ist es gelungen, eine Fülle technischer Verfahren, die fast oder ganz verloren gewesen waren, wieder dem Kunstgewerbe und Jedem zugänglich zu machen, der nur den ernsten Willen, sich ihrer zu bedienen, mitbringt. (Brinckmann 1894, S. V)

Brinckmann scheint also mit dem Resultat der Bemühungen um die Wiederbelebung des kunsttechnischen Wissens zufrieden gewesen sein. Seiner Ansicht nach war das technologisch geordnete Sammlungsgut nicht nur akkumuliert worden, es hatte über die Vitrinen hinaus und in die Werkstätten hinein zu wirken begonnen. Und dies, obgleich Brinckmann seine Absicht, die kunstgewerblichen Produkte um die Werkzeuge und damit um den Aspekt ihres physisch handwerklichen Hergestelltseins zu erweitern, nicht mehr realisieren konnte. Die Präsentation des Sammlungsgutes nach technologischen Gesichtspunkten hatte also den Rahmen eines leblosen und damit archivierten Wissens verlassen. Die Zirkulation, mittels der das vergessene Hand-Werks-Wissen in den Körper der Nation zurückgelangte, band die an Senefelders Handbuch wie auch an der Zeichnung und ihrem Übungskonzept erörterten Aspekte eines Gedächtnisses der Hand zusammen: Das Werkzeug, dass die kollektiven Vorstellungen eines Hand-Wissens speichert; sodann Material und Werkzeug, welche die Hand beim Gebrauch sukzessive mit Wissen zurüsten und also informieren; und endlich das kunstgewerbliche Produkt, welches seine Qualität sowohl dem Können als auch dem fortwährenden Überbieten der selbst gesetzten Ziele verdankt. Ins Museum gestellt, fungiert es als ein Speicher, der gegenwärtig halten soll, was der Hand selbst nicht bzw. nicht mehr eigen ist.

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PATHOSFORMELN

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Andenken und Fetisch in Goethes Wilhelm Meisters Wanderjahre. Zur erzählerischen Reflexion von affektiven Erinnerungspraktiken Focussing the concrete forms of their affective practise, fetish and souvenir are based on the same concept of memory: Both derive their specific status as objects of remembrance by preserving a relationship with the bodies of those who remember. But the widespread presence of souvenirs in everyday culture – especially the reproach of banality on the one hand and the enormous popularity of the fetish-concept in the human sciences on the other hand – has led to a forgetting of this conceptual relation. This article suggests a reading of Goethe’s Wilhelm Meisters Wanderjahre as a key narration, one which experiments with different forms of material remembrance as a way to transfer the fetish from a collective religious phenomenon to one of personal practise. From this point of view literature not only recognises a thing-based remembrance as a modern cultural practise, but distinguishes between its different forms and profiles therein the fetish as an extreme position.

Das 19. Jahrhundert ist nicht nur die Epoche der Institutionalisierung von Erinnerungskultur, sondern es ist zudem das „Säculum der Dinge“ (Böhme 2000, S. 445). Einerseits werden unzählige Museen errichtet, andererseits füllen sich die Wohnräume innerhalb von etwa drei Generationen mit einer geradezu überbordenden Dinglichkeit (vgl. Simmel 1989, S. 637ff.; Asendorf 1984). Innerhalb dieser wachsenden Dingkultur bildet sich ein Segment mit Erinnerungsfunktion heraus: die Dinge des Andenkens. Die Genese des Andenkens ist seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert auszumachen, die neuartige Erinnerungsform erfährt im 19. Jahrhundert eine ungeheure Breitenwirkung und Ausdifferenzierung und wird zu Beginn des 20. Jahrhunderts zwar kritisiert, ohne jedoch – und das gilt bis heute – ihren festen Sitz im Leben einzubüßen. Die spezifische Medialität des Dinges eröffnet andere Formen der Erinnerung als etwa Schrift- und Bildmedien. Aus dieser Beobachtung heraus wurde das „Souvenir“ als eine Form des „Körpergedächtnis[ses]“ beschrieben, weil „der affektive Gehalt des Erinnerten an die körperliche Präsenz des Gegenstands gebunden wird.“1 Genau diese Ent-äußerung _____________ 1

So entwickelt es Arnd Beise in seinem Beitrag zu diesem Band (siehe oben S. 10).

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von Er-innerung jedoch ist eines der Hauptargumente, mit denen das Andenken vorschnell als überkommenes Relikt des 19. Jahrhunderts verabschiedet wurde. Ausgerechnet Walter Benjamin, einer der wirkungsmächtigsten Theoretiker der Formen affektiver Erinnerung, hat das Andenken als hilflosen Behelf der Moderne diskreditiert: Das Andenken ist das Komplement des ‚Erlebnisses‘. In ihm hat die zunehmende Selbstentfaltung des Menschen, der seine Vergangenheit als tote Habe inventarisiert, sich niedergeschlagen. […] Die Reliquie kommt von der Leiche, das Andenken von der abgestorbenen Erfahrung her, welche sich, euphemistisch, Erlebnis nennt. (Benjamin 1991b, S. 681)

Demnach ist das Andenken der törichte Versuch, etwas zu verdinglichen, was sich schlichtweg nicht verdinglichen lässt. Benjamins Kritik des Andenkens lässt sich nur im Zusammenhang mit seiner Denkfigur des Eingedenkens verstehen, da beide in binärer Opposition aufeinander bezogen und scharf voneinander abgegrenzt werden. Das „unwillkürliche Eingedenken“ ist, so hat er es in Auseinandersetzung mit Bergson und Proust skizziert, zufällig und spontan, weil es an Sinneseindrücke gebunden bleibt, an die sich gerade das nicht intentional Memorierbare anlagert (Benjamin 1991a, S. 612ff.; vgl. Koch 1988). Das moderne Eingedenken bezeichnet eine intensive Erfahrung, ein epiphanisches Aufleuchten auf einen meist dinglich vermittelten Sinnesreiz hin, während das dem 19. Jahrhundert verhaftete intentionalen Andenken nur „im erborgten Kleide der Erfahrung einherstolziert“ (Benjamin 1991a, S. 643). Das Eingedenken wird über sein Erinnerungsgeschehen definiert, das Andenken über seinen Dingcharakter. Im Folgenden soll der Akzent jedoch nicht auf den Dingcharakter und die Körperlichkeit des Andenkens selbst, sondern auf die aus dieser medialen Voraussetzung resultierende leibliche Andenkenpraxis gesetzt werden. Allein die begriffsgeschichtliche Genese des Andenkens zeigt, dass seine Dinglichkeit immer an einen Erinnerungsakt gebunden bleibt und es weniger als Ding sondern als Tun diskursfähig wurde. Andenken kommt von Andacht, wie noch die Lexika des 19. Jahrhunderts hervorheben und wurde erst 1774 als „Mittel der Erinnerung“ (Adelung 1774, Sp. 234) definiert und auf ein Ding bezogen.2 Bis heute bleibt diese Doppeldeutigkeit von Erinnerungsakt und Erinnerungsmedium erhalten. Und genau dieses ist die Qualität, die eine vermeintlich banal-biedermeierliche Erinnerungspraxis für die Erzählliteratur des ausgehenden 18. und 19. Jahrhunderts so ergiebig macht. Die Literatur beobachtet nicht nur das sich ständig erweiternde Andenkenspektrum von maschinell gefertigten Massenprodukten über kunsthandwerkliche Einzelstücke bis hin zu _____________ 2

Zur Begriffsgeschichte des Andenkens sowie zu seiner Genese aus der Kulturpraxis der Andacht vgl. Holm/Oesterle 2005.

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Fundstücken und Abfall, sondern vor allem die damit verbundenen Handhabungen, und aus dieser Konstellation heraus widmet sie sich schließlich seiner ding-ästhetischen, narrativen und mnemotechnischen Reflexion. Aus erinnerungskultureller Perspektive stellt sich die AndenkenKonjunktur als Innenseite der institutionell und wissenschaftlich, also öffentlich verhandelten Musealisierung dar: Das Andenken ist eine Intimisierung und Miniaturisierung, eine Interieurisierung und Inkorporierung von Erinnerung. Andenken werden in der unmittelbaren Reichweite des Wohnraums oder am Körper angebracht, bzw. – daraus speist sich ihre besondere Poetizität – dort versteckt oder gar getarnt. An seinen Extremformen, etwa wenn Abfall zum Andenken wird, lässt sich studieren, dass das Andenken über seinen Erinnerungswert nicht nur der ästhetischen Norm, sondern auch dem Tausch- sowie dem Gebrauchswert enthoben ist. Es gründet allein auf der sinnlichen Affiziertheit der Beteiligten und der Affekt muss, soll es seinen Status als Erinnerungsobjekt beibehalten, immer wieder erneuert werden. Das geschieht anders als im Museum zumeist nicht über Sicherung und Magazinierung, sondern über eine Erinnerungspraxis, die den sinnlichen Umgang mit dem Objekt habitualisiert. Die Andenkenpraxis ist demnach weniger planvolle Einübung in ein festes Erinnerungsritual, sondern sie wird vielmehr aus der konkreten Handhabung des Erinnerungsstückes entwickelt und in den Alltag eingebunden. Es handelt sich also um einen kreativen Prozess, der ein Andenken zum Andenken macht. Das Andenken lässt sich über eine Konzeption von Körpergedächtnis beschreiben, die neben seiner Medialität ebenso seiner Performativität Rechnung trägt (vgl. Pfister 2006), wobei seine besondere Qualität darin besteht, dass es beide unauflöslich ineinander verschränkt. Geht man dieser Verschränkung von Medialität und Performativität innerhalb der literarischen Andenken-Konjunktur nach, fällt auf, dass das Andenken einige Analogien zum zeitgleich entdeckten Fetisch aufweist. Auch der Fetisch wird nicht über seinen Kunst-, Tausch- oder Gebrauchswert definiert, über Kriterien also, die unmittelbar mit seinem Dingcharakter verbunden sind, sondern über den Fetischismus, die Umgangsweise mit diesem Ding. Anders jedoch als das Andenken handelt es sich beim Fetisch bis heute um ein überaus theoriefreudiges Phänomen, woran die Literatur ebenfalls nicht wenig Anteil hatte. So ist es kein Zufall, dass der Fetischbegriff erstmals in Goethes Wanderjahren aus dem ethnographisch- religionswissenschaftlichen auf einen alltagsästhetischbiographischen Zusammenhang, konkret: auf ein persönliches Erinnerungsstück, übertragen wird (vgl. Böhme 1998). Denn mit guten Gründen lassen sich die Lehr- und Wanderjahre unter diskursanalytischer Perspektive gerade in ihrer Zusammenschau als ‚Kulturgeschichte der Moderne‘ be-

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schreiben (Schößler 2002).3 Schon in den Lehrjahren wird die unter den Vorzeichen der Empfindsamkeit entwickelte Andenkenmode präzise notiert: Medaillons, vertrocknete Blumengaben, Memorialschmuck aus Haaren, ein Pudermesser mit eingraviertem ‚Gedenke mein‘ und dergleichen mehr.4 In den Wanderjahren hingegen ist eine Verschiebung von der intimen Erinnerungspraxis hin zu ihrer Reflexion auf der Folie anderer Kulturpraktiken zu beobachten, und hier findet sich neben dem Fetisch auch die Revision kulturell tradierter Erinnerungsobjekte wie der Reliquie, des Denkmals, des genealogischen Erbstücks, der galanten Trophäe oder des Grand Tour Souvenirs.5 Im Folgenden werden die Wanderjahre als erzählerische Versuchsanordnung zu dingvermittelten affektiven Erinnerungspraktiken gelesen, die sich am Umschlagpunkt von der empfindsamen Inszenierung zu ihrer theoretischen Diskursivierung befinden. Die folgende Untersuchung konzentriert sich dabei auf das Verhältnis von dem bereits gut erforschten Fetisch zum bislang weitgehend übersehenen Andenken. Dazu wird zunächst die Theoriebildung zum Fetisch im 19. Jahrhundert skizziert, um hier die Anschlüsse zur Erinnerungsfigur des Andenkens aufzuzeigen. In einem zweiten Schritt werden zunächst die Andenken, die größtenteils bereits alle in der ersten Fassung der Wanderjahre von 1821 ausgearbeitet sind, und dann in einem dritten Schritt die Fetisch-Szenen, die erst in der zweiten Fassung von 1829 hinzugefügt werden, einer exemplarischen Analyse unterzogen.6 Die Ergebnisse werden viertens in einer allgemeinen Bestimmung des Verhältnisses von Andenken und Fetisch zusammengeführt.

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Obwohl Franziska Schößler programmatisch textexterne Diskurse einbindet, verbleiben die Kulturpraktiken des Alltags im blinden Fleck ihrer „Kulturgeschichte der Moderne“. Im Rahmen des Forschungsprojektes „Andenken und Eingedenken“ legte Sandra Bauer gerade ihre Magisterarbeit „Die Poetik der dinglichen Andenken in Johann Wolfgang Goethes ‚Wilhelm Meisters Lehrjahre‘“ vor, in der sie systematisch die komplexe literarische Inszenierung dingbezogener Erinnerungspraktiken erschließt. Im Anschluß an die Arbeiten von Jan Assmann wurde die auffällige Dichte der Zitationen und Reinszenierungen von Traditionsbeständen in den „Wanderjahren“ nicht als „rückwärtsgewandte Utopie“ sondern vielmehr als Teil der Konstituierung der Moderne gesehen, weil es auf diese Weise erst ein „Archiv von Traditionsbeständen“ hervorgebracht wird, das dann beliebig „auf institutioneller Ebene wie für private Lebensentwürfe“ einsetzbar ist (Schößler 2002, S. 21, S. 201–217, S. 325–340). In der ersten Fassung der Wanderjahre finden sich bereits die zentralen Andenken des Sammlers und des Reisenden im Bezug aufeinander narrativ entfaltet und mnemotechnisch reflektiert. Das Arztbesteck und mit ihm die Bezeichnung des „Fetischs“ werden erst in der zweiten Fassung eingeführt, in der dann auch das Kästchen seine obsessiven Züge erhält.

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1. Zur Theoriebildung des Fetischs im 19. Jahrhundert Die wissenschaftsgeschichtliche Forschung, namentlich Hartmut Böhme, hat den Fetisch als zentrales Paradigma des 19. Jahrhunderts entdeckt.7 Sie hat gezeigt, wie der Fetisch von der frühneuzeitlichen kolonialistischen Ethnographie zu Beginn des 19. Jahrhunderts über die Religionsphilosophie, von dort Mitte des Jahrhunderts in die Ökonomie und schließlich gegen Ende des Jahrhunderts in die Psychologie wandert. Sie erklärt die ungeheure Attraktivität und semantische Leistungsfähigkeit des Phänomens damit, dass der Fetischismus als „befremdliche Alterität primitiver Kulturen“ ein Modell für „das beängstigende Andere des Eigenen“ im Zentrum der europäischen Kultur bereitzustellen vermochte, um den Fetischismus „im Inneren der Ware und im Inneren des Subjektes“ beschreibbar zu machen (Böhme 2000, S. 447 u. 464). Der Fetisch ist eine Wortschöpfung der portugiesischen Kolonialpolitik und changiert zwischen feitiço (künstlich gemacht, falsch) und fetisso („verzaubertes, göttliches Ding“; Brosses 1785, S. 11). Charles de Brosses erschließt das Thema 1760 in seiner einflußreichen Fetisch-Monographie unter einem religionsgeschichtsphilosophischen Interesse verbunden mit der aufklärerischen Absicht, den katholischen Reliquienkult seiner Landsleute zu geißeln.8 Der _____________ 7

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In seiner kürzlich erschienenen Monographie „Fetischismus und Kultur“ überführt Böhme diese wissenschaftsgeschichtliche Linie konsequent in – so der programmatische Untertitel – „Eine andere Theorie der Moderne“, die den Fetischismus weniger als Umbruchsfigur, denn als „ziemlich unabhängige[n] ‚Langläufer‘“ beschreibt (Böhme 2006, S. 32). Anders als Kohl in seiner ethnologischen Studie zur „Macht der Dinge“ geht es ihm weniger um die zeichentheoretische Brisanz des Fetisch-Dings als um den Fetischismus als „‚Klebstoff‘ des sozialen Lebens“ (ebd., S. 30). Der vorliegende Beitrag stellt die kulturtheoretische Dimension des Fetischismus zurück zugunsten der literarischen Konturierung einer alltäglichen Kulturpraxis, bevor diese als übergreifende Analysekategorie gedacht wurde. Diese implizite Kritik am katholischen Reliquienglauben wird 1785 in den Anmerkungen des deutschen Übersetzers, einem protestantischen Theologen, expliziert: „Es kann in der That nichts ähnlicher seyn, als eine heilige Reliquie und ein Fetisch. Beides sind Gegenstände, die an sich die geringfügigsten unbedeutensten Ding von der Welt seyn können, ein Fetzen von einem abgeschabten Tuche, ein Holzsplittergen, ein Dorn, ein Stückgen vom Nagel u. s. w. oder ein runder Stein, ein Pferdehuf, ein Chartenblatt u. s. w. und doch wohnet beiden nach dem Wahn ihrer Verehrer eine Heiligkeit und eine unbegreifliche Kraft bey. […] Das von dem Verfasser angeführte Beyspiel einer Negersclavinn, die sich ein Chartenblatt zum Fetisch gewählt, zeigt an, daß auch blos die Meinung, daß es einem Europäer (einem Wundermann und Zauberer in den Augen eines Negers) zugehört oder von ihm gemacht oder gebrauchet worden, schon hinreichend sey, demselben geheime Kräfte zu geben, ohne daß es einer weiteren Weihung bedurft habe. […] Wenn also die Reliquien=Verehrung in einem großen Theil des aufgeklärten Europa so ausgebreitet ist, […] dann, denken ich, dürfen wir uns wol nicht verwundern, wenn die schwarzen Bewohner der Africanischen Küste noch immer heilige Thiere und ihre Fetischen verehren, und müssen es dem armen Negerweibe verzeihen, wenn es vor einem schönen bunten Herzenkönig seine Andachten verrichtet.“ (Brosses 1785, S. 230f.)

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„Irrsinn“ und die „unsinnige Lehre“ vom Fetischismus stellen sich ihm als ein derartig hartnäckiger „Aberglauben“ (ebd., S. 136f.) dar, dass ihm argumentativ nicht beizukommen ist. Sie erhält ihren systematischen Ort als Gegenpol der Vernunftreligion und wird historisch als tiefste Verfallsstufe der vorangegangenen Uroffenbarung konturiert. Andere Wissenschaftler hingegen, so auch der vielgelesene Anthropologe Christoph Meiners – die wichtigste und vermutlich einzige Bezugsquelle nicht nur für Goethe, sondern auch für Marx – sehen umgekehrt im afrikanischen Fetischismus die Urform, den „älteste[n]“ und „allgemeinsten Götterdienst“ (Meiners 1806, S. 143). Das gilt jedoch, und diese Differenzierung ist folgenreich, nur für Natur-Objekte, deren Fetischismus als „edlere Art“ ausgewiesen ist, da er anthropomorphistisch und pantheistisch kontextualisierbar ist. Die „gemeine Art“ hingegen fetischisiert solche Dinge, die „von Menschenhand verfertigt“ (ebd., S. 142ff.) sind. Goethes Wanderjahre liefern wie gesagt den ersten Beleg, dass der Fetischbegriff aus dem ethnographisch-religionswissenschaftlichen auf einen alltagsästhetisch-biographischen Zusammenhang übertragen wird. Diese Transformation öffnet zugleich den Blick dafür, dass die beiden späteren Neuformulierungen des Fetischismus, die ökonomische9 und die psychologische10, schon in den frühen chauvinistischen Berichten der handels_____________ 9

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Karl Marx bezieht sich explizit auf den von Meiners diffamierten Typus des künstlich gefertigten Fetischs und überträgt ihn in einer raffinierten polemischen Wendung auf die kapitalistische Warenwelt, um so die roheste Form des Aberglaubens inmitten der vermeintlich höchsten Rationalität dingfest zu machen. Da die „Warenform“ – in der Umstellung vom handhabbaren Arbeits- und Gebrauchswert auf den Tauschwert – ihre Herkunft als „Arbeitsprodukt“ vergessen macht, erscheinen Waren als „gesellschaftliche Natureigenschaften“ (Marx 1982, S. 86), die Entfremdung und Ausbeutung im arbeitenden und kaufenden Subjekt begründen. Diese Marxsche Übertragung vom Ethnographischen auf das Ökonomische ist bereits in den ersten Fetischquellen angelegt, da es beim Kontakt der Fetischisten und der Kolonialherrren ja in erster Linie um Tauschgeschäfte geht. Das ist dann besonders offenkundig, wenn umgekehrt der Blick der ‚Wilden‘ auf die Kulturpraktiken der Kolonialherren beschrieben wird, der nicht nur in deren ‚Kinderspielen‘ (siehe „Chartenblatt“-Episode in der vorigen Anmerkung), sondern auch in deren professionellen Umgang mit Gold den eigenen Fetischismus wieder erkennt: „Keine Gottheit dieser Art hat den Wilden aber mehr Unglück gebracht, als das Gold. Sie hielten es ganz gewiß für den Fetisch der Spanier. Wie die Wilden auf Cuba wussten, daß eine Spanische Flotte auf ihrer Insel landen würde, meinten sie, man müsse sich dadurch zu helfen suchen, daß man den Gott der Spanier ernstlich sich geneigt machte und nachher ihn von sich entfernte. Sie rafften also alles ihr Gold in einen Korb zusammen. Seht da, sagten sie, den Gott jener Fremden; lasst uns ihm zu Ehren ein Fest feiern, um seinen Schutz zu erhalten; und ihn dann von unserer Insel entfernen. Sie tanzeten und sangen ihrem Religionsgebrauche nach um das Gold und warfen es dann ins Meer.“ (Brosses, 1785, S. 37f.) Ende des 19. Jahrhunderts lesen Psychologen, zunächst Alfred Binet und in seinem Gefolge Sigmund Freud, die inzwischen durch die empirische Ethnologie erweiterte Fetischforschung neu und übertragen das religiöse Phänomen auf eine sexualpathologische Neuentdeckung: die obsessive Fixierung auf dingliche Sexualobjekte. Das Eigenartige dieser Objektbeziehung besteht darin, dass das Ding weniger einen Ersatz für ein lebendiges Se-

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treibenden Kolonialherren angelegt sind: Erstens wird der Fetischismus überhaupt erst durch den irritierenden Befund aufgedeckt, dass er außerhalb von jeglicher ökonomischer Logik dem „geringfügigsten unbedeutensten Ding von der Welt“ (Brosses 1785, S. 230) den höchsten kultischen Wert beimisst. Zweitens sind diese Dinge nicht aus sich heraus Fetische, sondern müssen erst als solche begründet werden, sie werden „willkürlich aus[ge]wählt“ (ebd., S. 11) oder durch „Zufall“ (Meiners 1806, S. 174) gefunden. Drittens, so fasst Auguste Comte die ethnographischen Berichte unter soziologischer Perspektive zusammen, „sind doch die meisten [Fetische] im Wesentlichen häusliche oder gar persönliche, was der spontanen Entwicklung hinreichend gemeinsamer Gedanken sehr wenig Unterstützung leiht“, so dass sie „den Priesterstand im eigentlichen Sinne fast überflüssig machen“ (Comte 1923, S. 40f.). Viertens wird der ‚Wilde‘ durch sein kindliches, unmittelbares und gerade die niederen Sinne einbeziehendes Verhältnis zur gegenständlichen Welt beschrieben, sei es als triebhaft-verderbt oder als archaisch-naiv. Und schließlich wird fünftens das Verhältnis des ‚Wilden‘ zum Fetisch mit dem Puppenspiel verglichen, da der Fetisch nicht als zeichenhafter Ersatz für etwas sondern als unmittelbares Gegenüber behandelt wird (vgl. Brosses 1785, S. 139). Diese fünf Kriterien des frühen religiösen und bereits ökonomisch, soziologisch sowie psychologisch angelegten Fetischismusbegriffs, nämlich die willkürliche oder zufällige Einsetzung des Fetischs unabhängig von seinem Tauschwert, seine Bindung an kleine und kleinste soziale Einheiten, die seine kollektive Lesbarkeit verunmöglichen und die Affektdisposition des ‚Wilden‘, die dem Fetisch-Ding als sinnlichem Gegenüber begegnet, gehören zu den Charakteristika des Andenkens. Wie die Erzählliteratur seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert vorführt, handelt es sich bei dem Andenken um ein Intimität generierendes Phänomen, das sich in Einsamkeit, Zweisamkeit oder kleinsten sozialen Gruppen und den mit diesen Sozialformen verbundenen Innenräumen realisiert (vgl. Oesterle 2003). Dabei erhalten nicht allein neumodische Artefakte wie Memorialschmuck aus Haaren, sondern ebenso unansehnlicher Abfall wie verdorrte Pflanzenteile oder ausgespuckte Kirschkerne den Status von Andenken.11 Darüber hinaus wurde das Andenken als „schändliches Missverständnis“ kritisiert, weil es die Gefahr von infantiler „Tändeley“ oder von obsessiver „Schwärme_____________

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xualobjekt darstellt, sondern es selbst höchste sinnliche Erfüllung gewährt. Freud schließlich erklärt den Fetisch als Deckerinnerung, der eine Verschiebung vorausgeht, in der sich das eigentlich Vergessene dinglich verdichtet hat. Hier ist auf einen weiteren Schlüsseltext der literarischen Reflexion der Andenken-Mode, nämlich auf Achim von Arnims „Gräfin Dolores“ (1810) zu verweisen, in dem vorgeführt wird, wie Dinge, die ausdrücklich als Abfall ausgewiesen werden, als Kostbarkeiten der Erinnerung archiviert werden.

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rei“ berge, da das „Band wodurch dieser Gegenstand mit einem höheren Objekt zusammenhängt […] immer nur zufällig“ (Schleiermacher 1984, S. 8) sei. Die wissenschaftliche Karriere des Fetischs kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch um einen semantisch elastischen Begriff handelt. In der folgenden Untersuchung von Wilhelm Meisters Wanderjahren wird der Stand des Fetischdiskurses zu Beginn des 19. Jahrhunderts als Bezugsfeld verwendet, um eine ganz bestimmte Konstellation in den Blick zu bekommen, die sich weniger begriffsgeschichtlich als über die Analogie der Kulturpraktiken herstellt. Goethes literarische Entdeckung des Fetischs vermag zu zeigen, dies sei hier vorweggenommen, dass sich die derzeit anhebende Konjunktur des Fetischismus im 19. Jahrhundert nicht nur aus wissenschaftsgeschichtlichen Neuformationen (Böhme 2000) oder, wie noch zu diskutieren sein wird, aus einer kunsttheoretisch-semiologischen Krise (vgl. Hörisch 1998; Neumann 1989, S. 955ff.)12 speist, sondern zugleich aus der Dynamik einer sich ausdifferenzierenden und literarisierten Alltagspraxis: dem Andenken.

2. Die Handhabung des Andenkens in den Wanderjahren Während Wilhelm Meisters Lehrjahre von der Bildung des Jünglings durch die Liebe erzählen, behandeln die Wanderjahre13 die berufliche Orientierung und die Einübung in die Vater- und Erzieherrolle. Das vielverwendete Wort der ‚Tätigkeit‘ wird in programmatischer Weise immer wieder an die ‚Handarbeit‘ als unmittelbar-leibliches Tun rückgebunden und steht im Zentrum nicht nur des elaborierten Erziehungsprogramms der pädagogischen Provinz, sondern auch der Reflexion der Veränderung der Arbeitswelt der Weber durch das Maschinenwesen und ihrer technikfreien Gegenwelt, den handarbeitenden Frauen in Wohnräumen. Neben den Fragen von Handarbeit und Professionalisierung unter den Bedingungen der bürgerlichen Gesellschaft werden die beiden Lebensformen des Wanderns und des häuslichen Lebens miteinander kontrastiert. Während der Wanderer seinen aufs Äußerste komprimierten Hausstand mit sich trägt, kann der Behauste mit seiner Dingwelt nahezu unbeschränkt in seine räumliche Umgebung expandieren. In diesem sozialen Rahmen werden die Bedin_____________ 12 13

Dieser Ansatz wird nachträglich seitens der neueren semiotischen Dingkulturforschung bestärkt, die das Ding als „Semiophore“ definiert oder die mit einem zeichentheoretisch gefassten Begriff vom „sakralen Objekt“ arbeitet (vgl. Pomian 2001, S. 73–90; Kohl 2003). Die in Klammern stehenden Seitenzahlen im Text beziehen sich im Folgenden auf Goethe 1989.

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gungen des Andenkens reflektiert, wobei eine Durchsicht des gesamten Traditionsbestandes an dinglichen Erinnerungsformen erfolgt, was hier nur exemplarisch skizziert werden kann. Der Wanderer Wilhelm findet im Landsitz eines aufklärerischen Hofmanns eine intimisierte Mischform aus Denkmal und Archiv vor.14 In einer Galerie sind Porträts bedeutender Persönlichkeiten ausgestellt, die durch einen umfänglichen biographischen Katalog ergänzt sind. Der Sammler selbst geleitet den Interessierten „in die innern Zimmer“, um ihn dort in „[s]eine Art von Poesie“ (340f.) einzuführen. Hier läßt er „ihn Handschriften sehen von manchen Personen, über die sie zuvor in der Galerie gesprochen hatten; sogar zuletzt Reliquien, von denen man gewiß war, daß der frühere Besitzer sich ihrer bedient, sie berührt hatte“ (341). Die Sammlung der bildlichen und textlichen Gedächtnisspeicher wird im intimen Innenraum durch solche Objekte ergänzt, die ihre unsichtbare und unlesbare Legitimation durch die Hände der erinnerten Persönlichkeiten erhalten. Das wird noch expliziert, wenn der Kunstkenner den großen Recherche-Aufwand zur Autorisierung dieser Erinnerungsstücke erläutert. „Am schärfsten werden schriftliche Überlieferungen geprüft; denn ich glaube wohl, daß der Mönch die Chronik geschrieben hat, wovon er aber zeugt, daran glaube ich selten“ (341). Das sich hier artikulierende Misstrauen in die Mitteilungsfunktion der Schrift macht es doppelt schwer, über vermeintliche Echtheitszertifikate Daten über die Authentizität einer Handschrift einzuholen. Denn für die Sammlung gilt selbst, dass der Inhalt der Schrift irrelevant ist gegenüber ihrer bloßen Materialität als Spur des leiblichen Schreibaktes. Ein anderes Sammelkonzept findet Wilhelm bei einem bürgerlichen Privatmann, der neben kostbaren kunsthandwerklichen Einzelstücken einen „Schatz der Erinnerung an gleichgültigen Dingen […] an[ge]häuft“ (410) hat. Er erklärt dem Besucher die in den Wohnbereich integrierten abgegriffenen Erbstücke: „Dieser Teekessel diente schon meinen Eltern und war Zeuge unserer abendlichen Familienversammlungen; dieser kupferne Kaminschirm schützt mich noch immer vor dem Feuer, das diese alte, mächtige Zange anschürt; und so geht es durch alles durch.“ (410) Auf diese Weise soll vorgeführt werden, „daß Vergangenheit auch in die Gegenwart übergehen könne.“ (409) Die taktile Vergegenwärtigung der Familienandenken bewahrt sie vor einer Musealisierung im Sinne von Benjamins pejorativem Andenkenbegiff. Und gerade durch diese fortwährende Aktualisierung wird das genealogische Andenken temporalisiert, denn es wird ja im Akt des Andenkens zugleich mit neuen Lebensmomen_____________ 14

Schon die zeitgenössischen Leser erkannten, dass hier eine konkrete empfindsame Sammlung von großer öffentlicher Resonanz zitiert wird: das Andenkenarchiv des ‚Dichtervaters‘ Gleim. Dazu: Der Freundschaftstempel im Gleimhaus zu Halberstadt 2000.

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ten des Andenkenden aufgeladen, die fortan mit erinnert werden. Anders als die gesondert verwahrten exklusiven kulturhistorischen ‚Berührungsreliquien‘ des Hofmanns wird der Status dieser bürgerlichen Andenken nur durch ihre ständige Handhabung aufrechterhalten. Ist in beiden Fällen der materielle und ästhetische Wert völlig unerheblich, so wird der Erinnerungswert der bürgerlichen Erbstücke in ihren Gebrauchswert implementiert. Der Sammler reflektiert seinen alltagspraktischen Ahnenkult im Exemplum eines Reisenden, der wie Wilhelm seinen Hausstand bei sich tragen muss und sein Andenken in der äußersten Miniaturisierung wählt: Ich habe einen jungen Mann gekannt, der eine Stecknadel dem geliebten Mädchen, Abschied nehmend, entwendete, den Busenstreif täglich damit zusteckte und diesen gehegten und gepflegten Schatz von einer großen, mehrjährigen Fahrt wieder zurückbrachte. (410)

Als Liebespfand wird ein Gebrauchgegenstand, und zwar ein billiges protoindustrielles Massenprodukt, erwählt, das seine Funktion beibehält und am Körper des Reisenden getragen wird. Für den nicht Eingeweihten ist das unscheinbare Objekt nicht als Andenken erkennbar. Das allmorgendliche Nesteln am Busenstreif ist ein taktiler Erinnerungsakt, der die Spannung von Zeigen und Verbergen des Andenkens durchspielt, die zugleich auch die Erotik von Enthüllen und Verhüllen, von Liebeserfüllung und Keuschheitsgelübde der Gründungsszene des Andenkens aufnimmt. Dieses literarische Fallbeispiel illustriert eindrücklich, wie sich ein dingliches Erinnerungsmedium als solches erst über die vergegenwärtigende Handhabung konstituiert, kurz: dass das Körpergedächtnis des Andenkens den Körper des Andenkenden mit einschließt. Daneben werden auch die spezifischen Erinnerungsformen des Reisens in den traditionellen Souvenirs reflektiert. Der Weltreisende Lenardo, wie Wilhelm ein Entsagender, schickt seinen weiblichen Anverwandten regionale Souvenirs als ‚Lebenszeichen‘ ohne sie weiter zu kommentieren. Rückblickend erläutert er, wie diese ‚überschickten Waren‘ in der Sphäre der Frauenzimmer zu intimen Andenken transformiert werden sollten: […] die Spitzen, die Quodlibets, die Stahlwaren haben meinen Weg, durch Brabant über Paris und London, für die Frauenzimmer bezeichnet; und so werde ich auf ihren Schreib-, Näh- und Teetischen, an ihren Negligés und Festkleidern gar manches Merkzeichen finden, woran ich meine Reiseerzählung knüpfen kann. (333)

Diese beiläufig eingestreuten Überlegungen zeigen, wie präzise die intime Andenkenkultur mnemotechnisch reflektiert wird. Hier wird die Erinnerungsübung der antiken Rhetorik aufgerufen, nach welcher der Redner seine Gegenstände in Bildzeichen übersetzen und in einem imaginären Raum anordnen soll, um den Fluß der Rede zu gewährleisten. Die Souvenirs fungieren als „Merkzeichen“, um die „Reiseerzählung“ zu sichern.

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Bezeichnenderweise sollen sie nicht gemäß dem antiken Gedächtnismodell vom räumlichen Speicher, etwa im Zimmer des Reisenden, angeordnet werden. Vielmehr sollen sie in den engen weiblichen Tätigkeitsradius der Daheimgebliebenen, in ihr Mobiliar und in ihre Kleidung, integriert werden, wo der taktile Kontakt garantiert ist. Der Reisende betreibt eine planvolle Andenkenpraxis, die permanent sein Nachhausekommen antizipiert, auf dass sich dort das Erlebte im Kreise seiner Zuhörerinnen zu einer kohärenten Erzählung fügen lässt und dabei zugleich die wandernde mit der heimischen Identität vermittelt werden kann, so wie es die vorausgeschickten Dinge schon einlösen sollen. Dabei wird vorgeführt, dass der Reisende seine Reise bereits als „Reiseerzählung“ überformt, seine erlebte Gegenwart bereits als zukünftige Erinnerung vorwegnimmt. Diese Andenkenphantasie wird in Differenz zum statisch-räumlichen BehaltGedächtnis entworfen, denn die „Merkzeichen“ sind selbst Reisende und bewegen sich durch Raum und Zeit. Die Frauen hingegen reagieren verärgert auf die zugrunde liegende Arbeitsteilung der Geschlechter in Wandernde und Wartende. Ihnen scheinen die übersendeten Dinge bloße „Waren und Zeichen“ (334) bar jeglicher Anschlussstellen – „ein einziges gutes Wort“ (335) würde genügen, um sie in ihre Andenkenpraxis einspeisen zu können. Die in den Wanderjahren entfaltete umfangreiche Auseinandersetzung mit den kulturell vertrauten Erinnerungsformen wie Denkmal, Sammlungsobjekt, Reliquie, Erbstück, Liebespfand oder Souvenir führt keinesfalls dazu, dass die Hinwendung zu intimen Andenken einen Bruch markiert. Vielmehr werden traditionelle Erinnerungsstücke in intimen Kontexten neu erkundet. Dabei wird deutlich, dass eine neue Erinnerungspraxis greift, die das Erinnerungsmedium nicht museal verwahrt oder präsentiert, sondern den affektiven Zugriff zu erhalten versucht. Dieser Zugriff wird wie beim Fetisch leiblich, meist taktil eingelöst und innerhalb der Alltagstätigkeiten habitualisiert, wodurch sich das Spektrum der potentiellen Andenken ins Unermessliche öffnet. Dieses sinnliche Erinnerungskonzept wird auch produktionsästhetisch reflektiert, nicht zufällig in der weiblichen Sphäre der „daheim Gebliebenen“ (336). Zwei Frauen diskutieren die affektive Aufladung der Andenken durch ihrer Hände Arbeit. Die „Ältere“ behauptet, „man fängt eine solche weitschichtige Arbeit nicht an, ohne einer Person zu gedenken, der man sie bestimmt hat, man vollendet sie nicht ohne einen solchen Gedanken.“ (456) Diese Auffassung zeugt noch von den mädchenpädagogischen Disziplinierungsmechanismen, die mit der feinmotorischen Übung durch die kleinteilige Handarbeit auch die Gedanken und Phantasien zu binden

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und zu kontrollieren versuchen.15 Die „Jüngere“ hält diesem im 18. Jahrhundert verwurzelten Konzept ein „liebenswürdiges Bekenntnis“ entgegen: Als junge Mädchen werden wir gewöhnt, mit den Fingern zu tifteln und mit den Gedanken herumzuschweifen; beides bleibt uns, indem wir nach und nach die schwersten und zierlichsten Arbeiten verfertigen lernen, und ich leugne nicht, daß ich an jede Arbeit dieser Art immer Gedanken angeknüpft habe, an Personen, an Zustände, an Freud’ und Leid. Und so ward mir das Angefangene wert und das Vollendete, ich darf wohl sagen, kostbar. Als ein solches nun durft’ ich das Geringste für etwas halten, die leichteste Arbeit gewann einen Wert und die schwierigste doch auch nur dadurch, daß die Erinnerung dabei reicher und vollständiger war. Freunden und Liebenden, ehrwürdigen und hohen Personen glaubt’ ich daher dergleichen immer anbieten zu können; sie erkannten es auch und wußten, daß ich ihnen etwas von meinem Eigensten überreichte, das, vielfach und unaussprechlich, doch zuletzt zu einer angenehmen Gabe vereinigt, immer wie ein freundlicher Gruß wohlgefällig aufgenommen ward. (456f.)

Hier werden die Disziplinierungsmaßnahmen zusammen mit dem Nützlichkeitspostulat ausgehebelt,16 denn es ist explizit völlig gleichgültig, welche handwerkliche Präzision und welchen objektivierbaren Wert das Produkt erreicht. Entscheidend ist der konsequente Selbstbezug der im habitualisierten „Tifteln“ allein über das Innenleben der Handarbeiterin eingelöst wird. Dieses ist „vielfach und unaussprechlich“ und „vereinigt“ sich im Ding, das Unsagbare wird einem Greifbaren übereignet. Folgerichtig werden solche verschwiegenen Handschmeichler nicht für Schubladen und auch nicht für Wände gefertigt, sondern als Gebrauchsobjekte der täglichen Handhabung. Das Ergebnis der jüngeren Handarbeiterin ist eine männliche Brieftasche für Manuskripte. Dieser Gebrauchswert stellt eine Analogie her von weiblichem Handarbeiten mit der Nadel und von männlichem Handarbeiten mit dem Stift. Bleibt die Ordnung der Geschlechter auch gewahrt, so ist doch bemerkenswert, dass die weibliche Arbeit an den textilen Texturen in den Kategorien der Poetik des Goetheschen Spätwerks beschrieben wird.17 Auf dieser Ebene erscheint sie zu_____________ 15

16

17

Diese Disziplinierungsmaßnahmen der historischen Mädchenpädagogik finden sich in pointierter und quellengesättigter Zusammenfassung in: Als die Frauen noch sanft und engelsgleich waren 1995, S. 141–143, S. 151–157 u. S. 165–173. Dabei wird deutlich, dass solche mädchenpädagogischen Übungen bereits das Andenken im Blick haben, wenn mit einer Fleißarbeit ein Gefühl verschenkt werden soll, genauer: eine textil vermessbare Zeit von gedanklicher Zuwendung (ebd., S. 172). Dieser mentale Effekt des Tiftelns wurde sowohl warnpädagogisch als auch von den Kritikern der Nadelarbeit immer schon mitreflektiert. Exemplarisch sei hier Jean Paul zitiert: „Die meisten Fingerarbeiten, womit man das weibische Quecksilber fixiert“ laufen darauf hinaus, „daß der müßig-gelassene Geist entweder dumpf verrostet oder den Wogen der Phantasie übergeben ist.“ (Zitiert ebd., S. 143) In den „Wanderjahren“ besteht ein hochkomplexes Verhältnis von Textilien und Textualität, von Handarbeiten und Poetologie. Dazu zuletzt: Janssen 2000, S. 87ff.

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dem als ein Meta-Andenken, das die Poetizität des Andenkens ausstellt, seine merkwürdige Ambivalenz von Verhüllen und Enthüllen. Denn das Unsagbare wird nicht in eine encodierbare, sondern in eine haptische Textur übersetzt.

3. Die Handhabung des Fetischs in den Wanderjahren Der einzige Gegenstand, der mit einigen Romanfiguren aus den Lehr- in die Wanderjahre übersetzt, ist ein in einem Etui mit schmuckvollem Band befindliches Arztbesteck. Als der von einer Schussverletzung niedergestreckte Wilhelm seine spätere Braut Natalie zum ersten Mal erblickte, während ein alter Wundarzt ihm die Kugel operativ entfernte, „leuchtete“ das Besteck, wie Wilhelm rückblickend schreibt, mir damals dergestalt in die Augen und machte einen so tiefen Eindruck, daß ich ganz entzückt war, als ich es nach Jahren in den Händen eines Jüngeren wiederfand. Dieser legte keinen besondern Wert darauf; die Instrumente sämtlich hatten sich in neuerer Zeit verbessert und waren zweckmäßiger eingerichtet, und ich erlangte jenes um desto eher, als ihm die Anschaffung eines neuen dadurch erleichtert wurde. (553f.)

Leibliche Wiederherstellung und Liebesblick verdichten sich in diesem Ding, dessen affektiver Erinnerungswert seine Zweckmäßigkeit und seinen Geldwert maßlos übersteigt. Als Wilhelm zu Beginn seiner Wanderschaft auf den ersten Entsagenden, den Geologen Montan, trifft, wird diese Objektbeziehung zum Gegenstand eines Gesprächs, aus dem Erinnerungen programmatisch ausgegrenzt sind: Nun aber gehörte es zu den sonderbaren Verpflichtungen der Entsagenden auch die, daß sie, wenn sie zusammentreffend, weder vom Vergangenen noch Künftigen sprechen durften, nur das Gegenwärtige sollte sie beschäftigen. […] Unter solchem Gespräch nun zog Wilhelm, ich weiß nicht zu welchem Gebrauch, etwas aus dem Busen, das halb wie eine Brieftasche, halb wie ein Besteck aussah und von Montan als etwas Altbekanntes angesprochen wurde. Unser Freund leugnete nicht, daß er es als eine Art von Fetisch bei sich trage, in dem Aberglauben, sein Schicksal hange gewissermaßen von dessen Besitz ab. (296ff.)

Gewagt bei der derzeitig pejorativen Konnotation des Fetischismus als rohester „Aberglaube“, als Spieltrieb von Menschen, „deren Verstand nie über vier Jahre alt wird“ (Brosses 1785, S. 139), ist, dass der Begriff explizit in diese Semantik eingebettet bleibt und zugleich ins Zentrum der gelingenden Bildungsgeschichte versetzt wird. Der Fetisch erhält zudem innerhalb der Habe des Wanderers einen privilegierten Ort unter der Kleidung. Doppelt interessant ist, dass hier nicht ein Fetisch der „edlere[n] Art“, ein naturphilosophisch rückkoppelbares Naturobjekt, sondern einer der „gemeine[n] Art“ (Meiners 1806, 142ff.), ein Artefakt, diese Schlüssel-

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funktion erhält. Dem Arztbesteck wird zudem jegliches Urwüchsiges abgesprochen, da es den Gesetzen der technisierten und temporalisierten Welt unterliegt, denn es ist von der ersten Begegnung an bis zum Wiedererwerb bereits veraltet. Diesem Wertverlust durch Zeit wird auf der biographischen Ebene eine Wertsteigerung entgegengesetzt. Das ehemals technisch moderne Arztbesteck hatte nicht nur materiell Anteil an der geglückten Operation des Protagonisten, sondern sich zudem bereits als Talisman in Liebesdingen bewährt, da er Natalie nach dem Erwerb des Bestecks wiedergefunden hatte und für sich gewinnen konnte. Diese zukunftsgestaltende Kraft wird ihm weiterhin zugesprochen, da das gesamte weitere ‚Schicksal‘ und damit der Verlauf der Bildungsgeschichte in Abhängigkeit davon gesehen wird. Montans Antwort, die der Erzähler an der zitierten Stelle „dem Leser noch nicht vertrauen“ (299) durfte, wird von dem selbsternannten Fetischisten, inzwischen auf dem Weg, ein „nützliches“ und „nötiges Glied der Gesellschaft“ (556) zu werden, rückblickend in einem Brief an die Geliebte berichtet: „Ich habe nichts dagegen, daß man sich einen solchen Fetisch aufstellt, zur Erinnerung an manches unerwartete Gute, an bedeutende Folgen eines gleichgültigen Umstandes; es hebt uns empor als etwas, das auf ein Unbegreifliches deutet, erquickt uns in Verlegenheiten und ermutigt unsere Hoffnungen, aber schöner wäre es, wenn du dich durch jene Werkzeuge hättest anreizen lassen, auch ihren Gebrauch zu verstehen, und dasjenige zu leisten, was sie stumm von dir fordern.“ (554)

Montan erkennt sehr genau, dass dieser „Fetisch“ etwas „Unbegreifliches“ begreiflich macht, jedoch rät er, eben diesen haptischen Appell des Bestecks auch in Hinblick auf seinen Gebrauchswert zu verstehen. Der rein affektive Umgang mit dem Arztbesteck darf bestenfalls eine Vorstufe zu einer funktionellen Inbesitznahme sein, das Kind muss zum Erwachsenen, der Wilde muss zum Bürger werden, kurz: das ‚Memento‘ soll zum ‚Instrument‘ werden, das ‚Gedächtnis‘ der ‚Tätigkeit‘ weichen.18 Wilhelm hat bereits verstanden und wird Arzt. Hartmut Böhme hat diesen Wendepunkt im Bildungsroman narratologisch mit Blick auf die besondere Zeitstruktur des Fetischs analysiert. Als „ins Dingliche versenkte Erinnerung“ fungiert der Fetisch im Erzähl_____________ 18

In dieser Umwidmung des Arztbestecks manifestiert sich, so Schößler, der in den Lehrjahren aufgebaute „Transfer von einem Liebes- in einen Nützlichkeitsdiskurs“ (Schößler 2002, S. 310ff.). Aus der Sicht der im Roman zuvor inszenierten Andenkenpraxis ist jedoch einzuwenden, dass Liebe und Nützlichkeit, affektive und zweckorientierte Handhabung sich keinesfalls ausschließen müssen, vielmehr ein Spiel von Verhüllen und Enthüllen eröffnen. Deshalb gibt es keinen Grund, den durch Montan vorgebrachten Ratschlag erstens als notwendige Tilgung der Erinnerung zu verstehen und diesen zweitens als vollzogen anzusehen.

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prozess als „temporale[s] Relais“ (Böhme 1998, S. 183). Durch die Umstellung vom Erinnerungs- auf den Gebrauchswert hat Goethe, so resümiert Böhme, „den Fetisch temporalisiert, nämlich die in ihn verkapselte Zeit geöffnet und dem Faden des Erzählens eingesponnen. Er hat damit ‚Fortschritt‘ erzeugt und Aufklärung – und läßt deren Preis erkennen.“ (Ebd.) Auf dem Hintergrund der mitlaufenden Andenkenreflexion ist diese Deutung jedoch zu differenzieren. Genaugenommen handelt es sich bei dem Arztbesteck gar nicht um einen Fetisch, was schon anzeigt, dass der Fetischist sehr genau die Einsetzung des Objektes erinnert. Wie Montan formuliert, „deutet“ das Ding „auf ein Unbegreifliches“, das heißt die Verweisstruktur bleibt völlig präsent. Das Arztbesteck ist ein durch und durch temporales Andenken, bei dem sich sinnliche Vergegenwärtigung des ‚Ungreifbaren‘ und das zweckmäßige Hantieren mit dem Gegenstand keinesfalls ausschließen müssen. Ungeklärt bleibt allerdings, ob Wilhelm dieses ja bereits als technisch veraltet ausgewiesene Objekt tatsächlich in seinem Beruf gebraucht, oder ob er es nicht vielmehr weiter unbenutzt bei sich trägt, als Andenken für Liebesblick und glückliche Berufswahl zugleich. Unmittelbar nach der gesprächlichen Einführung dieses falschen Fetischs taucht ein Objekt auf, das tatsächlich ein Fetisch im ethnographisch-religionswissenschaftlichen Sinne der Zeit ist und vielleicht deshalb nicht als solcher benannt wird: ein verschlossenes Kästchen, „nicht größer als ein kleiner Oktavband, von prächtigem altem Ansehn, es schien aus Gold zu sein, mit Schmelz geziert.“ (302) Meisters Sohn Felix hatte das Kleinod „aus innerem geheimem Antrieb“ (ebd.) im „Riesenschloß“ (301), einer eigenartigen Felsruine mit mehrfach geschachtelten unterirdischen Raumeinheiten, gefunden und es vom Vater unter dessen Kleidung verstecken lassen. Direkt im Anschluss lernt er Hersilie kennen und lieben, die als Eingeweihte durch weitere Zufälle Gelegenheit erhält, zuerst den in einem Kriminalprozess aufgetauchten Schlüssel und dann das Kästchen selbst an sich zu bringen, um es für Vater und Sohn zu verwahren. Dennoch erhält keiner der drei Eingeweihten Einblick in das verschlossene Kleinod. Das seinem „Ansehn“ nach „alte“, aber historisch völlig unbestimmte Kästchen wurde in der Forschung nicht nur als Minnekästchen sondern auch als Reliquiar interpretiert. Das lässt sich mit der historischen FetischDebatte kontextualisieren, da die frühen ethnographischen Bestimmungsversuche den Fetisch wie gesagt polemisch in Analogie zum katholischen Reliquienkult definiert haben, der den cultus relativus zugunsten des cultus absolutus unterläuft, das Reliquienobjekt also nicht als pars pro toto mit Verweischarakter sondern als magisches Gegenüber versteht. Der Ver-

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gleich des Kästchens mit einem Reliquiar ist aber dennoch nicht passend, weil das Reliquiar der Autorisierung und Identifizierung der zumeist unansehnlich verschrumpelten Überreste dient und deshalb fast immer entsprechend beschriftet oder bebildert ist. Das Kästchen hingegen bildet ausdrücklich keinerlei Deutungsrahmen, wie der Kunstkenner feststellt: Es zeigt „weder Buchstaben noch Ziffer, weder Jahrzahl noch sonst eine Andeutung, woraus man den früheren Besitzer oder Künstler erraten“ (657) kann. Umso deutlicher ist es konstitutiver Bestandteil seines inwendigen Geheimnisses, indem es jegliche Deutungsarbeit abprallen läßt, den Augensinn zurückdrängt und allein die taktile Kontaktaufnahme provoziert, die das Verschlossene erschließen, das Unbegreifliche begreifen will. Ein Sprichwort sagt: „Ein Kästchen macht flinke Finger“, und in der romantischen Erzählliteratur werden solche handgreiflichen Öffnungsszenen als Sündenfälle inszeniert.19 In den Wanderjahren geht es nicht um die Aufdeckung seiner Vergangenheit oder um seine Sicherung für die Zukunft, sondern um die schlichte haptische Inbesitznahme des Kästchens. Wie kein anderer Gegenstand weckt das handschmeichlerische Kästchen zunächst ungerichtete Leidenschaften und verbindet Vater, Sohn und Hersilie in einer eigenartigen Dreiecksbeziehung (Herwig 2002, S. 350ff.). Aus dem Spektrum der in den Wanderjahren inszenierten Andenken fällt es durch seinen hohen materiellen Wert heraus.20 Die geheimnisvolle Fundgeschichte ist gerahmt durch Begegnungen mit Schatzräubern, die dem heimlichen Treiben des sonst so rechtschaffenen Meisters und seines glücklichen Sohnes ein verbrecherisches Ansehen geben. Auch die eingeweihte Hersilie muss befürchten „in einen Kriminalprozeß verwickelt“ zu werden und ertappt sich selbst als Kleptomanin, die „die Hand“ um das „winzig kleine, stachlichte Etwas“ (598) von Schlüsselchen geschlossen hat und deren selbe ‚Hand‘ später „[w]ünschelrutenartig“ nach dem Kästchen „zog“ (658). Als sich später beides in Hersiliens Obhut befindet, wird die ohnehin überdeterminierte Sexualsymbolik von weiblichem verschlossenem Kästchen und männlichem Schlüsselchen auf die Spitze getrieben, als der hereinstürmende Felix es gegen ihren Willen zu öffnen versucht und dabei den Schlüssel zerbricht. Seinen letzten Auftritt hat das Kästchen nach diesem Überfall in der Untersuchung durch einen Experten, der es vor Hersiliens Augen öffnet, ohne ihr Einblick zu gewähren _____________ 19 20

Eine kleine Kollage solcher Schlüsselszenen findet sich in den Kleinodien für Günter Oesterle 2001. Als Wilhelm das Kästchen zwischenzeitlich bei dem Sammler abgibt, erhält er eine papierne Bescheinigung, die auf die Veränderung der Zahlungsmittel, nämlich auf die Ablösung der materiell wertvollen Goldes durch das materiell wertlose Papiergeld anspielt (Hörisch 1998, S. 160).

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und es wieder schließt mit den Worten: „an solche Geheimnisse sei nicht gut rühren“ (743). Die leidenschaftsbindende Potenz des Kästchens reißt nicht ab, seine Vergangenheit bleibt im Dunkeln und Maximen für die Zukunft, geschweige denn für einen gesellschaftlichen Nutzen, setzt es nicht frei. Es ist also kein ‚Zeit-Relais‘, sondern es zielt auf den Ausstieg aus der Zeit, auf reine Gegenwart. Als Modell des eingeschlossenen Geheimnisses ist es nicht nur als „Symbol des Symbolischen selbst“ (Emrich 1968, S. 64) oder dem entgegen als ‚Allegory of Reading‘ (Baldwin 1990) lesbar, sondern, mit Blick auf die an es geknüpften Handhabungen, ebenso als MetaFetisch. Auf der Ebene des Plots erscheint das Kästchen auf den ersten Blick als Gegenpol zum Entsagungskonzept, weil es verborgene Obsessionen freisetzt, bevor die soziale Ordnung in klaren Ehe- und Familienverhältnissen hergestellt wird. Bei genauerem Hinsehen lässt es sich als ein „Übergangsobjekt“ (Neumann 1989, S. 977) sehr wohl in ein Konzept von Affektkontrolle integrieren, denn es macht die diffusen Leidenschaften hand-habbar.

4. Resümee Zusammenfassend lassen sich vier Aspekte unterscheiden, die, wie Goethes literarische Gründungsurkunde des psychologisierten Fetischs vorführt, den Fetischismus mit der bereits ausdifferenzierten und zunehmend reflektierten Andenkenpraxis korrelieren. 1. Dinglichkeit: Die Reflexion von Andenken und Fetisch erfolgt im Wechselspiel mit einer umfänglichen Revision kollektiver dinglicher Erinnerungsformen, wobei die Reliquie eine Leitfunktion übernimmt. Sind die tradierten Formen als solche lesbar, fast immer sogar entsprechend beschriftet, so gibt es keinerlei visuelle oder textuelle Anhaltspunkte für ein Andenken oder einen Fetisch. Vielmehr kann jedes beliebige Ding völlig unabhängig von seinem Kunst-, Tausch- oder Gebrauchswert ein Andenken oder ein Fetisch sein. Beide erhalten allein durch ihre intime Gründungsszene und nur für die dabei Beteiligten ihre spezifische Erinnerungsfunktion. 2. Performativität: Sind Andenken und Fetisch einmal als solche eingesetzt, bleibt dieser Status nicht zwangsläufig erhalten. Vielmehr müssen beide ihren intimen Erinnerungswert im unmittelbaren Umgang einlösen. Deshalb sind sie an die Reichweite des Interieurs gebunden oder werden am Körper getragen. Aus diesem unmittelbar-leiblichen Umgang heraus erklärt sich, warum vermehrt die taktilen Qualitäten solcher Erinnerungsobjekte in den Vordergrund treten.

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3. Zeitlichkeit: Nach Benjamins Kritik handelt es ich beim Andenken um eine rückwärtsgewandte Strategie, der Beschleunigungserfahrung der Moderne mit der Beharrlichkeit der Erinnerungsstücke zu trotzen. Dafür spricht zunächst, dass das Andenken am Körper oder in überschaubaren Räumen dem Zugriff der Erinnernden anheim steht und damit das statische Speichermodell einzulösen scheint. Bezieht man jedoch den Akt des Andenkens, also seine Gründungsszene sowie die fortwährende affektive Rückerstattung seines Erinnerungswertes mit ein, wie es die Erzähltexte vorführen, so zeigt sich im Gegenteil, dass sich das Andenken der Beschleunigung aussetzt. Da sich das Andenken nur durch den unmittelbaren Kontakt mit dem Ding einlöst, ist es immer schon der Spannung von sinnlicher Gegenwart und entfernteren Zeithorizonten ausgesetzt. Und bereits in dem Moment, in dem das Andenken begründet wird, macht es das Gegenwärtige erinnerungswürdig und nimmt es somit als etwas bereits Vergangenes vorweg. Die postmoderne Musealisierungsdebatte hat diese Dynamik als Schwund der Gegenwart im Zeichen des Futur II problematisiert, als eine Verschiebung vom „Es ist“ zum „Es wird gewesen sein“ (vgl. Jeudy 1989). Das Andenken kann aber ebenso auf die Zukunft perspektiviert sein, wenn seinem Erinnerungswert zukunftsgestaltende Kraft zugesprochen wird. Durch die affektive Erinnerungspraxis des dinglichen Andenkens werden folglich alle Zeithorizonte ineinander verwoben. Dabei lassen sich unterschiedliche Akzentuierungen differenzieren: der Orientierung auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft korrelieren die Aneignungsformen von Gedächtnis (musealisiertes Ding), Erlebnis21 (Fetisch) und Hoffnung (Talisman). Der Fetisch hingegen schert aus dem Temporalisierungs-Dilemma aus, indem er seine Geschichte wie seine Zukunft ausblendet und der komplizierten Zeitstruktur der Andenkenpraxis den obsessiven Gegenwartsbezug zum dinglichen Hier und Jetzt entgegensetzt. 4. Zeichenhaftigkeit: Während Benjamin das Andenken mit der Allegorie vergleicht (Benjamin 1991b), hat die zeichentheoretisch orientierte Fetischforschung die Nähe ihres Gegenstandes zu der parallel geführten Theoriebildung des Symbols herausgearbeitet (vgl. Hörisch 1998; Neumann 1989, S. 955ff): Symbol und Fetisch sind ähnlich durch einen epiphanischen Momentanismus strukturiert. Zu erweitern sind diese Überlegungen auch in Richtung auf die dingliche Medialität des Fetischs, seine haptische Qualität also, die nicht nur den auf körperlicher Distanz verbleibenden Gesichtssinn, sondern die taktile Aneignung herausfordert. Denn gerade der Tastsinn hat bekanntlich entscheidenden Anteil bei der _____________ 21

Hier wird der Erlebnis-Begriff nicht im oben zitierten Sinne Benjamins, sondern nach Bergson verwendet.

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Entwicklung des goethezeitlichen Symbolbegriffs aus der Beschäftigung mit der antiken Skulptur heraus (vgl. Rupprecht 1963, Schneider 2005, Körner 2003). Das Andenken hingegen changiert bei genauem Hinsehen zwischen Allegorie und Symbol. Während es auf ein räumlich oder zeitlich Abwesendes verweist, so wird doch genau diese Differenz von Hier und Dort, von Jetzt und Einst mitunter vom sinnlich-taktilen Da-sein des Dings verwischt.22 Deshalb bleibt nur ein gradueller Unterschied zum Fetischisten, der das Erinnerungsstück selbst als sinnliches Gegenüber erfährt und seine vorausgegangene Einsetzung vergessen macht. Analog zu Thomas Bönings griffiger Formel vom Symbol der Goethezeit als einer Allegorie, von der man vergessen hat, dass sie eine ist (vgl. Böning 1999, S. 170), ließe sich der Fetisch als selbstvergessenes Andenken begreifen. Die andauernde Alltäglichkeit des Andenkens einerseits und die enorme wissenschaftsgeschichtliche Karriere des Fetischs andererseits haben den Blick darauf versperrt, in welchem engen Wechselverhältnis sie sich um 1800 formierten. Beide stehen für ein performatives Konzept von Körpergedächtnis ein, weil sich der affektive Erinnerungswert eines Dings nur in der konkreten Handhabung konstituiert und konsolidiert. Die Literatur, die beide Formen dieser affektiven Erinnerungspraxis nicht nur beobachtet, sondern auch diskursfähig gemacht hat, reflektiert den Fetisch als Extremform des experimentierfreudigen Andenkens.

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Vgl. dazu Albrecht Koschorkes Analysen zu „Mortifikation und Fetischisierung“ in der Kommunikationspraxis der Darmstädter Empfindsamen um Johann Heinrich Merck, Johann Gottfried Herder und Caroline Flachsland (Koschorke 1999, S. 140ff.).

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„Die Spuren trüber, leidenschaftlicher Notwendigkeit“. Goethes Wahlverwandtschaften als Gedächtnis des Körpergedächtnisses Goethe’s novel Die Wahlverwandtschaften mirrors central restructurings of the order of knowledge around 1800. Common to all of them is a splitting of discourse into a primary and a secondary nature, passion and reason or, more generally, body and soul. Of special importance here is the impact of the restructuring of the body’s affects and passions upon: 1. the order of signs and their medial conditions, 2. the conception of memory, for which the divide between body and soul had previously been considered unproblematic, and 3. the system of dietetics based on the dualism of body and soul. In order to clarify the connections among these issues the essay begins with the economy of signs and the theoretical dimension of framing effects and remembrance of the dead, analyzes the tableaux vivants staged in the novel, and, finally, discusses the psychosomatics of mourning and the psychosomatic symptoms of failed illusions. By generating the connections between destruction, forgetting and sacrifice that the restructuring of knowledge in the period had rendered unavoidable, Die Wahlverwandtschaften creates a memory of the memory of the body.

In seiner Vorankündigung der Wahlverwandtschaften im Morgenblatt für gebildete Stände (4.9.1809) schreibt Johann Wolfgang von Goethe, dass „auch durch das Reich der heitern Vernunft-Freiheit die Spuren trüber leidenschaftlicher Notwendigkeit sich unaufhaltsam hindurchziehen, die nur durch eine höhere Hand, und vielleicht auch nicht in diesem Leben, völlig auszulöschen sind“ (Goethe 1994, S. 974). Diese kurze Notiz lässt sich metaphorisch als Beschreibung eines Transformationsprozesses lesen, den die Wahlverwandtschaften problematisieren. Das Reich der heiteren Vernunftfreiheit entsteht auf Kosten dessen, was dem Reich der Notwendigkeit zuzuordnen ist: das Begehren des Körpers, die Affekte und Leidenschaften, deren trübe Spuren sich nun als melancholische Signatur durch die neue Ordnung hindurch ziehen. Dieser Transformationsprozess ist durch drei einander wechselseitig bedingende Umstrukturierungen gekennzeichnet: erstens die der Zeichenordnung, zweitens die jener Gedächtniskonzeption, die den körperlichpsychischen Doppelcharakter der Memoria als unproblematisch gedacht hatte, und schließlich drittens die Umstrukturierung des Systems der Diä-

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tetik, das auf dem Körper-Seele-Dualismus aufbaut. Es sind diese drei Ordnungen der Semiotik, der Wahrnehmung und Speicherung von Wissen sowie der Selbstbegründung, die an der Schnittstelle von Körper und Geist/Seele angesiedelt sind und über deren Zusammenspiel sich die kulturelle Modellierung von Affekten sowie deren jeweilige Zuschreibung zum ‚Eigenen‘ oder ‚Anderen‘ der Kultur reguliert. Gemeinsames Kennzeichen der genannten Umstrukturierungen ist eine dichotome Aufspaltung des Diskurses – etwa in erste und zweite Natur, Leidenschaft und Vernunft oder allgemeiner in Körper und Seele.1 Wird so im Zuge der Umstrukturierung der Zeichenordnung das selbstreferentielle Zeichen auf Kosten des materialen Zeichenkörpers konstituiert, so wird im System der Diätetik von einer Diätetik des Körpers auf eine der Seele umgestellt und dem mentalen Gedächtnis eine Vorrangstellung gegenüber dem Körpergedächtnis erteilt. Unter diesen Voraussetzungen führen die Wahlverwandtschaften vor, wie die Romanfiguren versuchen, ihre Lebenswelt als heiteres und vernünftiges Reich der Freiheit zu gestalten. Und sie reflektieren die hierfür unumgänglichen Tilgungs-, Vergessens- und Opferungszusammenhänge, indem sie diese Versuche mit den trüben, melancholischen Spuren der leidenschaftlichen Notwendigkeit konfrontieren. Somit erstellen sie dem Gedächtnis des Körpers selbst ein Gedächtnis, das nicht zuletzt als Schmerzgedächtnis konfiguriert wird und als dessen Medium in erster Linie Ottilie fungiert, die als Figuration der Melancholie die entscheidende Frage stellt: „Und ohne irgendein Zeichen des Andenkens, ohne irgend etwas, das der Erinnerung entgegenkäme, sollte das alles so vorübergehen?“ (HA 6, 363)2 Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen, die das von den Wahlverwandtschaften konstituierte Gedächtnis des Körpergedächtnisses als Reflexion auf das sich um 1800 abzeichnende Auseinandertreten von körperlichem und mentalem Gedächtnis verstanden wissen wollen, ist der Nachweis zweier grundsätzlich verschiedener Wahrnehmungsmodi: Sie lassen sich ablesen aus der narrativen Gestaltung von Eduards Gang hinauf zu Charlottes Mooshütte und dem, was als Charlottes Wahrnehmungstraining für Eduard bezeichnet werden kann. Charlottes Versuch der Einübung Eduards in den domestizierten Blick hängt unmittelbar mit der eingangs genannten Umstrukturierung der Zeichenordnung zusam_____________ 1

2

Die Umstrukturierungen lassen sich mithin nach dem spezifisch modernen „DichotomienAlphabet“ buchstabieren. Der von Hans-Ulrich Wehlers Modernisierungstheorie und Geschichte (Göttingen 1975) stammende Begriff wurde zur Beschreibung der durch Doppelfiguren strukturierten „Diskursgrammatik der Moderne“ verwendet. Vgl. dazu: Graevenitz 1999, S. 9f. Zitate aus dem Text werden im Folgenden mit der Sigle HA 6 und Seitenangaben in Klammern nach der Hamburger Ausgabe von Erich Trunz zitiert (Goethe 1981).

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men. Dies wird aus der Diskussion um Charlottes Friedhofsumgestaltung hervorgehen, welche die Grundproblematik der umstrukturierten Zeichenordnung erkennen lässt. Vor dem Hintergrund der Problemstellungen, die sich mit den im Roman aufgeführten Tableaux vivants ergeben, soll in einem weiteren Schritt Ottilies Funktion als Erinnerungsmedium des Körpergedächtnisses herausgestellt werden: Ottilies psychosomatische Leiden rücken dabei ebenso ins Zentrum wie ihre letztlich tödliche Bildwerdung durch die Zuschreibungen ihrer Umwelt. Mit Aby Warburgs Begriff der Pathosformel lässt sich sodann beschreiben, wie der Roman einerseits Ottilies Körpergesten als Erinnerungszeichen einsetzt – und damit dem geopferten Körperlichen ein Gedächtnis erstellt –, sowie andererseits der Roman selbst, indem er die Figur Ottilie am Ende sterben lässt, sie also selbst opfert, eine Aufhebung des im Medium Ottilie konfigurierten Körpergedächtnisses vollzieht. Zu diskutieren bleibt schließlich, wie diese Aufhebung hinsichtlich der dargelegten Transformationsprozesse und im Blick auf die These vom Gedächtnis des Körpergedächtnisses zu bewerten ist.

1. Zeichenökonomie und Rahmenschau Die Wahlverwandtschaften geben sich von Beginn an als Experimentalanordnung zu erkennen. Der erste Satz des Romans signalisiert den Fiktionscharakter, die Willkürlichkeit der erzählerischen Inszenierung sowie den Bezug solcher Experimente auf Naturgesetzlichkeiten und deren kulturelle Überformung: „Eduard – so nennen wir einen reichen Baron im besten Mannesalter – Eduard hatte in seiner Baumschule die schönste Stunde eines Aprilnachmittags zugebracht, um frisch erhaltene Pfropfreiser auf junge Stämme zu bringen.“ (HA 6, 242)3 Ebenso macht die erzählerische Anordnung der ersten Szene die Medialität ihrer szenischen Gestaltung deutlich. Nicht nur gibt der Erzähler den „genauesten Standpunkt“ (HA 6, 404) vor und rahmt damit das Bild von Eduard, das er dem Leser zur Anschauung gibt. Er lässt dieses die eminente Bedeutung von Bildern und Bildlichkeit (Buschendorf 1986; Breithaupt 2000; Jooss 2003; Lennartz 2001; Neumann 2003; Reschke 2001; Reschke 2003) betonende Verfahren der Rahmenschau auch als solches erkennen, indem er die Beobachterpositionen multipliziert: In der „Rolle eines Zuschauers“ (Öhlschläger 2003, S. 188) beobachtet der Leser, wie Eduard das Produkt seiner nachmittägli_____________ 3

Unter dem Aspekt der „Problematik einer widersprüchlichen Konstellation von Providenz und Kontingenz“ untersucht Gabriele Brandstetter die Aufspaltung der Erzählinstanz in „den Erzähler als Regisseur, den Erzähler als wissenschaftlichen Experimentator und schließlich den Erzähler als Mythologen“. Vgl. dazu: Brandstetter 1995, S. 132; S. 136.

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chen Arbeit beobachtet und dabei wiederum vom Gärtner beobachtet wird, der zuvor die neu gebaute Mooshütte betrachtet hatte und nun auch Eduard empfiehlt, sich diesen „vortrefflichen Anblick“ (HA 6, 242) nicht entgehen zu lassen.4 Die Aufmerksamkeit richtet sich also nicht nur auf die Erscheinungen der Natur, sondern auch auf die die Natur zurichtenden Subjekte. Ihr Umgang mit der Natur und mit sich selbst, insbesondere auch mit ihrer inneren Natur, ist es, worauf im Fortgang des Romans die Aufmerksamkeit zunächst gelenkt und dann durch die sich nach dem Paradigma der Ähnlichkeit wiederholenden Ins-Bild-Setzungen und Versuchsanordnungen intensiviert wird. Wiederholte Spiegelungen und variierende Reihenbildungen problematisieren derart die Bedingungen und Möglichkeiten der Aufmerksamkeit auf sich selbst und auf die Dinge. Außerdem lässt die Beschreibung der Eingangsszene keinen Zweifel daran, dass diese unter dem Motto ‚Das Subjekt in der Landschaft‘ stehenden Bildausschnitte einen ästhetisierten Blick auf die Natur zu lesen geben. Wenn Eduard, nachdem er „seine Arbeit mit Vergnügen“ betrachtet hat, schließlich „durch anmutiges Gebüsch“ (HA 6, 242) den Pfad zur Mooshütte hinaufsteigt, ist dieser Aufstieg überdies eine Einübung in richtiges Sehen: zumal dann, wenn darunter – nach den Richtlinien des für Charlottes Parkanlage vorbildhaften englischen Landschaftsgartens – eine ästhetische Wahrnehmung verstanden werden soll. Die an die Hogarth’sche geschlängelte Schönheitslinie, die so genannte figura serpentinata (Oesterle 1984), erinnernde „sachte“ Windung des Weges nach oben „geleitet“ zum erhabenen Aussichtspunkt, von dem aus sich die panoramatische Landschaft in die „heitere Ferne“ der Unendlichkeit „öffnet“ (HA 6, 243). Doch nicht der entgrenzte Blick einer frei im Raum umherschweifenden Aufmerksamkeit ist es, mit dem Eduards Aufstieg belohnt wird, sondern der von Charlotte kontrollierte und gerahmte Blick durch das Fenster, der die Zerstreuung der Aufmerksamkeit durch die „verschiedenen Bilder, welche die Landschaft gleichsam im Rahmen zeigten“, versammelt und konzentriert zu dem „einen Blick“ der ganzheitlichen Überschau (HA 6, 242f.). Dieser domestizierte Blick wird eingeführt als Therapie, mit der Charlotte gegen Eduards pathologische Sehnsucht nach dem Unendlichen vorgehen will, noch bevor der Leser diese in der grenzenlosunmäßigen Leidenschaft für Ottilie erkennen kann. Charlottes Wahrnehmungsschulung ist dem pädagogischen Impetus der philosophischen Ärzte sowie deren rationalistischer Erkenntnistheorie vergleichbar: Auch sie setzt auf die Vermittlungsfunktion eines verstandesbegabten Augensinns, dem sich die Dinge bereits in einem „begrenzten Umfang“, in „kla_____________ 4

Allgemein zu Goethe als „Augenmensch“ im Hinblick auf seinen Bild-Begriff bzw. auf das Verhältnis von Schreiben und Sehen vgl.: Keller 1972, S. 21. Sowie kritisch zum Klischee vom ‚Augenmenschen‘ Goethe: Utz 1990.

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re[r] Übersichtlichkeit“ und in „geschlossene[r] Form“ (Langen 1965, S. 7) präsentieren müssen. Eduard soll im Modus der Übersicht vom Einzelnen aufs Ganze abstrahieren. Hierfür gilt es, an die Stelle der „sukzessiven Aufnahme“ des im Gehen bewegten Blicks das „gleichzeitige Übersehen des an sich Verstreuten im Rahmen eines Bildes“ (Langen 1965, S. 8) mittels der fixierten und die konzentrierte Aufmerksamkeit befördernden Blickachse zu setzen. Nicht sinnliche Anteilnahme also wird verlangt, wie sie der vergnügte Blick des Barons zeigt, der in seiner Baumschule mit „teilnehmenden Fleiße“ (HA 6, 242) selbst Hand anlegt, sondern eine sinnenfreie, verstandesgeleitete Anschauung, die zugleich Ausweis eines erfolgreich regulierten Affekthaushaltes ist. In Charlottes rationalistischer Wahrnehmungsschulung erweisen sich Einübung in richtiges Sehen und ästhetische Erziehung einmal mehr als ein und dasselbe aufklärerische Projekt.5 In dieses Projekt jedoch fügt sich Eduard so einfach nicht. Das Gespräch der beiden Eheleute in der Mooshütte über das Für und Wider einer Einladung des Hauptmanns expliziert ihre unterschiedliche Wirklichkeitskonstruktion: Eduard ist offen für Neues, freut sich auf die Belebung der Dinge im Frühling und hat „[n]ur eines […] zu erinnern“, dass ihm nämlich die Hütte und im übertragenen Sinne der rationalistischdisziplinierende Fensterblick „etwas zu eng“ scheint; Charlotte dagegen will die Beschränkung in der Mooshütte, für sie sind die Anfänge einer gemeinsamen Erinnerung nicht der Vorschein auf einen lebendigen Frühling, sondern repräsentieren bereits die ganze Abgelebtheit eines Sommers, auf den nur noch der Herbst folgen kann: „Ich wenigstens habe mir aus allem diesem den ersten wahrhaft fröhlichen Sommer zusammengebaut, den ich in meinem Leben zu genießen dachte.“ (HA 6, 247) Während mithin Eduards sinnliches Sehen mit Bewegung und Entwicklung konnotiert ist, ist die Sinnlichkeit von Charlottes imaginärem Sehen ohne Sinne auf den Genuss der erinnernden Rückschau reduziert, in der die Überschau zwar Ganzheit verspricht, Leben aber nur als Wiederbeleben toter Erinnerungen aufscheint. Dies hat unmittelbare Auswirkungen auf das Leben und Erleben in der Gegenwart. Für Charlottes in sich abgeschlossene Welt im Kopf, die es nur mehr mit objektivierender Distanz „zu betrachten“ gilt, ist der Gedanke einer konkreten Erweiterung des gewohnten, eng umzirkelten Bereichs eine Störung der vorgefassten Ordnung, in die sie „nichts hinderndes, fremdes herein bringen“ (HA 6, 247) _____________ 5

Die Betonung des gemeinschaftlichen Erziehungsprojekts des Erzählers und seiner Figur Charlotte relativiert die These, dass Eduard die Bilder braucht, um die Dinge beherrschen zu können, indem sie auf den Entstehungsprozess von Wahrnehmungshaltungen und damit auch darauf hinweist, dass Wahrnehmung nicht a priori gegeben ist. Vgl. dagegen Breithaupt 2000, der diesen Entstehungsprozess nicht berücksichtigt.

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will und deshalb vor übereilten Entscheidungen warnt. Für Eduards subjektive „Ansicht“ der Dinge hingegen ist jede Erweiterung eine Bereicherung, die er im Vorschein bereits fühlend erleben kann: „Jemehr ich das alles betrachte, jemehr ich es fühle, desto lebhafter wird der Wunsch ihn bei uns zu sehen.“ (HA 6, 244) Die Entscheidung wird zunächst aufgeschoben, tags darauf jedoch wird das Gespräch „auf einem Spaziergang nach derselben Stelle“ wieder aufgenommen; in der „Wiederholung“ verschieben sich nun auch die Standpunkte, Charlotte zeigt sich affiziert von Eduards „Lebhaftigkeit“, kommt „ganz aus der Fassung“ und lässt sich schließlich umstimmen: Nicht nur der Hauptmann, um den sich Eduard sorgt und mit dem er fühlt, auch Ottilie, das Sorgenkind Charlottes soll nun den häuslichen Zirkel erweitern. Charlottes Entgrenzung verknüpft sich zum einen sogleich mit einem neuen, begrenzenden Erziehungsprojekt, sie will nun als „Erzieherin oder Aufseherin“ Ottilie „zu einem herrlichen Geschöpf heraufbilden“ (HA 6, 251), zum anderen wird sie in den Kontext einer Rede über die Notwendigkeit von Opfern sowie über „Gewalt“ (HA 6, 250) und „Gefahr“ (HA 6, 252) gestellt. Als disziplinierende Einübung in ein neues Sehen erscheint dies erst recht, wenn man mit einbezieht, was in den Blickführungen des Erzählers und Eduards ausgeblendet und damit unsichtbar ist. Während der Erzähler die panoramatische Aussicht, die sich Eduards Blick von der „wohlangebrachten Bank“ (HA 6, 243) aus eröffnen müsste, zu einer narrativen Leerstelle macht,6 lässt Eduard die alternative Wegführung nach oben „liegen“ – den Weg, „der über den Kirchhof ziemlich gerade nach der Felswand hinging“ (HA 6, 243). Warum Eduard den Weg über den Friedhof nicht zufällig als einen für ihn in Betracht kommenden Weg ausschlägt, inwiefern der Aufstieg nach oben und der domestizierte Blick von oben im Zeichen des Todes stehen und weswegen die zwei Wege – der Umweg des Schönen und der Weg des Todes – den zwei Seiten einer Medaille entsprechen, erhellt nicht das erste Kapitel des ersten, sondern das erste Kapitel des zweiten Teils der Wahlverwandtschaften mit seiner ausführlichen Schilderung der Konsequenzen von Charlottes Friedhofsumgestaltung. Diese macht deutlich, dass es künftig um eine Schulung des Blicks geht, der sich nach oben zu orientieren hat und dabei vergisst, was der Blick nach unten zu sehen gäbe: das hierfür notwendige Opfer, das „Opfer eines ahnungsvollen Verhängnisses“ (HA 6, 464), den (Zeichen)Körper. Dies betrifft zeichentheoretisch die Materialität des Zei_____________ 6

Zum erzählerischen Verschweigen des panoramatischen Blicks vgl. auch Lehmann 2003, S. 142, dessen Inbezugsetzung des panoramatischen Blicks mit der Übersicht gewährenden Aussicht von Charlottes Blick durch das Fenster der Mooshütte die fundamentalen Gegensätze von rationalistischer Rahmenschau und panoramatischer Allsicht verwischt.

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chenkörpers sowie die Abschattung des Referenten zugunsten des selbstreferentiellen Zeichens. Für das System der Diätetik im Sinne einer Aufmerksamkeit auf sich selbst heißt dies, die Aufmerksamkeit nicht mehr nach unten, auf den Körper, sondern nach oben, auf die Seele zu richten. Und für die gedächtnistheoretische Aufmerksamkeitsschulung der künftigen Erinnerungskultur gilt es, den Körper so zu programmieren, dass er dem mentalen Gedächtnis zuarbeitet.

2. Die Friedhofsumgestaltung Paradigmatisch für den an den Wahlverwandtschaften ablesbaren kulturgeschichtlichen Wandel im Übergang zur Moderne ist die Auflösung einer Erinnerungskultur, die Familie, Religion und Totengedenken am Einheit stiftenden Ort des Grabes symbolisch zusammengeschlossen hatte.7 Dieser Wandel geht mit einer Ästhetisierung des Todes einher (Schlaffer 1981, S. 225), die zugleich ein Symptom der Verdrängung des Todes ist. Ausführlich entfaltet wird dies in der Darstellung von Charlottes Friedhofsumgestaltung, die bei einigen Gemeindemitgliedern auf Missbilligung stößt. Charlotte hatte die Grabsteine von den Gräbern entfernen und sie am Sockel der Kirche nebeneinander gereiht aufstellen lassen. Die Grabhügel wurden eingeebnet, mit Klee besät und dem Pfarrer zur Nutzung überlassen. Ökonomie und Ästhetisierung der Landschaft verbinden sich seither so angenehm miteinander, dass der Betrachter nun „statt der holprigen Grabstätten einen schönen, bunten Teppich vor sich sah“ (HA 6, 361). Doch nicht alle Betroffenen sind damit einverstanden. Der Einspruch einer Nachbarsfamilie, vertreten durch einen Rechtsgelehrten, löst eine breite Diskussion um die Bedingungen und Möglichkeiten des Andenkens an die Toten aus. Dabei zeichnen sich mit der Haltung des Rechtsgelehrten, Charlottes und des Architekten drei unterschiedliche Positionen ab, die von einer jeweils anderen Zeichenordnung ausgehen. Erstens die Position des Rechtsgelehrten: In Vertretung der benachbarten Familie tritt der Rechtsgelehrte für ein Andenken ein, in dem das Totengedächtnis vom Gedächtnis des Begräbnisortes nicht zu trennen ist. _____________ 7

Kulturgeschichtlich zeigt sich hier die Abwehr der Aufklärung gegen den Totenkult, die mit einer Auflösung einer Erinnerungskultur in der Moderne einhergeht, die den Zusammenhang von Familie, Religion und Totenkult unter der Bedingung der Einheit des Ortes gestiftet hatte. Wellbery weist bzgl. der kulturgeschichtlichen Verortung der Wahlverwandtschaften überdies auf die hier nicht mehr „nach den Symboliken der Religion und der Aristokratie organisierten Erfahrungswelt“ hin, was nach soziologischer Terminologie den „Übergang von einem stratifizierten zu einem funktional differenzierten Gesellschaftssystem“ anzeigt. Wellbery 1985, S. 306.

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Es reicht nicht aus, zu wissen, „wer begraben sei, aber nicht wo er begraben sei“, denn „auf das Wo komme es eigentlich an“ (HA 6, 361). Das ‚Wo‘ schützt vor einem zweiten Verlust der Toten, wie er mit der Transformation von Abwesenheit in Repräsentation vollzogen würde: „Aber dieser Stein ist es nicht, der uns anzieht, sondern das darunter Enthaltene, das daneben der Erde Vertraute. Es ist nicht sowohl vom Andenken die Rede, als von der Person selbst, nicht von der Erinnerung, sondern von der Gegenwart.“ (HA 6, 362) Weil die Grabsteine „endlich sinken und unscheinbar werden“ und auch die Trauer allmählich „durch die Zeit aufgehoben wird“, gewährt „ein solches Merkzeichen“ zwar keine Dauer: Dennoch wird es als Trostversprechen aufgefasst, „um wenigstens das Andenken so lange zu erhalten als der Schmerz währt“ (HA 6, 362). Das Band zwischen den Lebenden und den Toten wird in dieser Vorstellung über das psychisch verfasste Schmerzgedächtnis geknüpft und als solches unter die Bedingung der materialen Präsenz des Referenten als Bezugspunkt der Trauer gestellt. Während der psychische Schmerz den Körper der Lebenden markiert, bezeichnet der Grabstein auf dem Grabhügel den Ort des toten Körpers. Innerhalb dieser Zeichenordnung sind also Körpergedächtnis und Gedächtnis des Ortes unaufhebbar aneinander gebunden. Die Materialität des Zeichenkörpers als Index einer abwesenden Anwesenheit wird als unersetzbar gedacht und verschließt sich jener Logik der Substitution und Repräsentation, die Charlottes Friedhofsumbau beherrscht.8 Zweitens die Position des Architekten: Aus der Sicht des Architekten ist die Einebnung von Friedhöfen eine zeitgeschichtliche Notwendigkeit, weswegen man die Umgestaltung „zu billigen“ habe, sogar „nichts natürlicher und reinlicher ist“ (HA 6, 363) als eine solche säkularisierende Ästhetisierung. Für diese steht er selbst, der seine Sammlung von Grabbeilagen in einem Kästchen aufbewahrt, das an die „Kästchen eines Modehändlers“ (HA 6, 367) erinnert, und der bei der Restauration der Kapelle den ursprünglich sakralen Ort zum Andenken an sich und seine dilettantischen Malkünste umgestaltet. Im Unterschied zu Charlotte allerdings verbindet sich bei ihm die Ästhetisierung des Todes mit einem Andenken, das durch „gut gedachte, gut ausgeführte Monumente […] Dauer versprechen“ soll: „nicht vom Andenken, nur vom Platze soll man sich lossagen“ (HA 6, 364), ist seine Devise. War aus Sicht des Rechtsgelehrten mit dem Merkzeichen ein auf das Schmerzgedächtnis der Trauernden bezogenes Trostversprechen von gewisser Dauer verbunden, so verspricht das monumentale Merkzeichen des Architekten nur mehr dauerhaften Kunstgenuss. _____________ 8

Außerdem ist dieses Gedächtnis zugleich soziales Gedächtnis, wenn sich um das Grab als „Markstein“ herum „Gatten, Verwandte, Freunde“ (HA 6, 362) versammeln.

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Von Trauer und Schmerz ist keine Rede mehr, vielmehr soll man dem Vermögen der Kunst vertrauen, „einen ernsten Gegenstand zu erheitern“, im repräsentativen Bild „lebende Formen zu erhalten“ und so die Toten im Substitut des Bildes „wiederzubeleben“ (HA 6, 364). Nicht die markierte Referenz am Gedächtnisort, die auf das ‚Wo‘ des Toten insistiert, sondern die Vorstellung „von dem, was er war“ (HA 6, 364), mithin die Idee ist für den Architekten entscheidend. So betrachtet bleibt doch „immer das schönste Denkmal des Menschen eigenes Bildnis“ (HA 6, 364), und zwar deshalb, weil es in einer paradoxen „Dialektik von Leben und Tod“ (Horn 1998, S. 147) gerade durch die mortifizierende Stillstellung der lebendigen Formen im Bild den Tod vergessen macht und den Toten als Lebendigen anwesend hält. Drittens die Position Charlottes: Verweist der Grabstein auf den darunter liegenden Toten, so wird dieses Gedächtnis des Ortes durch Charlottes Entfernung der Grabsteine aufgelöst. Charlotte plädiert für die Durchtrennung des Bandes zwischen den Lebenden und den Toten. Sie setzt den Tod als Grenze absolut und affirmiert so den Verlust. Indem sie noch das Andenken an die Abwesenheit der Toten verweigert, verdrängt sie nicht nur den Tod, sondern vollzieht mit dem Vergessen der Abwesenheit gleichsam einen zweiten Tötungsakt. Aufgelöst wird dabei zugleich eine Zeichenordnung, die den Referenten einschließt, die über die Materialität des Zeichenkörpers eine direkte Verbindung zwischen Zeichen und Bezeichnetem herstellt. Die an die Kirchenmauer versetzten Grabsteine verweisen als Zeichen nur noch auf sich selbst, gleichzeitig werden sie dadurch für neue Bedeutungsbesetzungen verfügbar.9 Der Erzähler wählt seine Worte sehr genau, wenn er die Missbilligung der Gemeindemitglieder wiedergibt, die meinen, „dass man die Bezeichnung der Stelle, wo ihre Vorfahren ruhten, aufgehoben und das Andenken dadurch gleichsam ausgelöscht“ (HA 6, 361) hat. Aufgehoben und ausgelöscht wird das sinnlich-materiale Substrat innerhalb des Verweisungsverhältnisses von Zeichen und Bezeichnetem. Eine solche Aufhebung ist auch zentral für die Gedächtnistheorie Georg Friedrich Wilhelm Hegels aus dem dritten Band seiner Enzyklopädie der Wissenschaften. Und Hegels dort ausgeführte Zeichentheorie erhellt in ihrer triadischen Struktur nicht nur die verschiedenen im Roman dargelegten Positionen zum Totengedächtnis, sondern führt zudem exemplarisch die moderne, das 19. Jahrhundert dominierende Umstrukturierung der Zeichen vor, deren Opfer die materiale Präsenz des Körperlichen ist. Hegels Gedächtnistheorie beschreibt einen Auslöschungs- und Vergessenszu_____________ 9

Eva Horn spricht in diesem Zusammenhang von einer „Fetischisierung der Zeichen“. Horn 1998, S. 144.

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sammenhang im Übergang von der Erinnerung zum Gedächtnis, der als dreistufiges Modell von der Anschauung über die Vorstellung zum Denken dargelegt wird. Dabei soll die Vorstellung mittels der Einbildungskraft zwischen Erinnerung und Gedächtnis vermitteln: Zunächst erinnert die Einbildungskraft die unmittelbare Anschauung. Sie verinnerlicht dieses Äußere, setzt sich an dessen Stelle und transformiert so die sinnliche Anschauung zur bildhaften Vorstellung. Auf der zweiten Stufe wird das einzelne, erinnerte Bild unter das allgemeine der Anschauung subsumiert. Das Bild wird Zeichen eines Abstraktionsprozesses, oder wie Hegel formuliert, einer „den Inhalt betreffenden, ihn verallgemeinernden, somit allgemeine Vorstellungen schaffenden Erinnerung“. Dies entspricht insofern einem Unterwerfungsakt, als das Besondere „zu einem Zeichen des letzteren [d.h. des Allgemeinen] herabgesetzt“ wird (Hegel 1970, S. 258). Auf der dritten Stufe der Vorstellung – dem Gedächtnis – wird dann dieser zeichenhafte, bildlose Bezug von erinnernder Vorstellung und Inhalt nochmals transformiert. Dabei wird die Zeichenhaftigkeit selbst erinnert und „in die Intelligenz aufgenommen“, so dass diesem Bezug „die Form eines Äußerlichen, Mechanischen“ (ebd.) gegeben wird. Man könnte auch sagen, dass ihm durch die Auslöschung von Anschauung und Bild im reinen Zeichen die Form absoluter Inhaltsvergessenheit gegeben wird. Gleichzeitig verbindet Hegel diesen Prozess mit der Vorstellung von der Freiheit des Subjekts, dessen eigentliche Gedächtnisleistung darin besteht, sich die angeschaute Welt mittels des zeichenhaften, bildlosen Materials des Namensgedächtnisses (im Sinne einer vom sinnlichen Substrat befreiten Reinheit der Begriffe) machtvoll den eigenen Zwecken zu unterwerfen. Damit ist genau die Konstellation beschrieben, die im Roman das Verhältnis der Figuren zu ihrer gegenwärtigen Erfahrungswirklichkeit und zur Vergangenheit bestimmt. Auch hier lässt sich von einem Vergessensund Unterwerfungszusammenhang im Dienste der Subjekte sprechen, die versuchen, Freiheit gegenüber der Welt der Erscheinungen und gegenüber der Macht der Vergangenheit zu erlangen. Sie nehmen als lebendige Wirklichkeit wahr, was sie im Prozess ihrer Wahrnehmung bereits zum Bild verkürzt und den Tableaux vivants vergleichbar als bloßen Wahrnehmungsausschnitt stillgestellt haben. Eduards eingerahmter Blick auf die Landschaft durch das Fenster der Mooshütte oder die Bildwerdung der Landschaft durch die Kartographierung des Hauptmanns, Lucianes Aufführung der Tableaux vivants und nicht zuletzt die mortifizierende Bildwerdung Ottilies sind hierfür beispielhaft. Auch Charlottes Abneigung gegen Bilder und Abbilder lässt sich mit Hegels Gedächtnismodell erklären, nimmt dieses doch Abschied von der Vorstellung, dass die einzelnen erinnerten Inhalte als Bilder in der Einbildungskraft aufbewahrt werden.

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Mit dieser Substitutionslogik des Bildes in unmittelbarem Zusammenhang stehen die Gedächtniskonzepte des Romans, in denen die Materialität der Zeichenkörper und die Sinnlichkeit der Anschauung negiert werden. Wenn Hegels Gedächtnistheorie den Abstraktionsprozess vom Besonderen zum Allgemeinen voraussetzt, so vollzieht auch Charlottes Friedhofsumgestaltung eine solche Umgestaltung der Zeichenordnung, wenn sie für das „reine Gefühl einer endlichen allgemeinen Gleichheit, wenigstens nach dem Tode“ eintritt und das „eigensinnige starre Fortsetzen unserer Persönlichkeiten, Anhänglichkeiten und Lebensverhältnisse“ (HA 6, 363) nach dem Tode für beunruhigend hält. Dass dieser Aufhebungsprozess nicht vollständig gelingt, sondern vielmehr als „Symptom-Arbeit“ (Didi-Huberman 1999, S. 16) bezeichnet werden kann,10 verdeutlichen die Wahlverwandtschaften in zweifacher Hinsicht: Charlotte wird immer wieder von den Spuren des Verdrängten heimgesucht, die als Unheimliches psychosomatische Angstgefühle erzeugen. Außerdem sind diese Spuren des Verlusts im Diskurs der Melancholie lesbar, der bei Eduard und Ottilie als Körperdiskurs inszeniert wird.

3. Psychosomatische Symptomarbeit einer gescheiterten Illusionsbildung Die Friedhofsumgestaltung hat Charlotte als Vertreterin der auch in Hegels Gedächtnismodell wirksamen Substitutionslogik gezeigt, nach der die materiale Präsenz der Körper bzw. der Zeichenkörper unerheblich und für die Illusionsbildung einer Subjektivität, die frei über die Welt der Erscheinungen verfügen will, sogar störend ist. Charlotte ist im Roman auch diejenige, deren Selbstmodellierung am Dezidiertesten dem Rationalitätsparadigma folgt. Sie unterzieht sich einer Seelendiätetik, die nach dem Muster des aufklärerischen Mäßigkeitsdiskurses auf Selbstreflexion und Selbstbeherrschung basiert. Als Figur der Begrenzung tut sie sich „Gewalt“ (HA 6, 250) an, entsagt ihren Leidenschaften und übt eine völlige Affektbeherrschung ein. Sie handelt besonnen, vermeidet rasche Entscheidungen und hat sich angewöhnt, ihre Sorgen, Ängste und Nöte in _____________ 10

Didi-Huberman weist darauf hin, dass die „Modalität des Sichtbaren“ eine „SymptomArbeit“ ist, „bei der das, was wir sehen, von einem Werk des Verlusts getragen (und auf es verwiesen) ist. Eine Symptomarbeit, die das Sichtbare im Allgemeinen, und unseren sehenden Körper im Besonderen, gleichsam befällt. Unausweichlich wie eine Krankheit. […] Doch die Modalität des Sichtbaren wird unausweichlich – und das heißt mit einer Frage des Seins verbunden sein –, wenn Sehen heißt, dass man spürt, dass sich uns etwas unausweichlich entzieht, mit anderen Worten: wenn Sehen Verlieren heißt.“ Didi-Huberman 1999, S. 16f.

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einsamer Stille „nochmals für sich durchzuarbeiten“ (HA 6, 371). Ungewissheiten und Überraschungen (HA 6, 373) verursachen ihr körperliches Unbehagen. Auffallend ist, dass solche psychosomatischen Reaktionen immer im Zusammenhang mit Bildern zur Sprache kommen. So missfallen ihr etwa die vom Architekten als Mittel zur Wiederbelebung der Toten gepriesenen Portraitbilder: „Selbst gegen die Bildnisse habe ich eine Art von Abneigung; denn sie scheinen mir immer einen stillen Vorwurf zu machen; sie deuten auf etwas Entferntes, Abgeschiedenes und erinnern mich, wie schwer es sei, die Gegenwart recht zu ehren.“ (HA 6, 365) Auch die Bilder des Architekten in der Grabkapelle will Charlotte nicht sehen. Ottilie soll ihr die Bilder beschreiben, so dass – um mit Hegels Gedächtnistheorie zu sprechen – auch noch die Erinnerungsbilder einer vorgängigen sinnlichen Anschauung von der Präsenz des Stofflichen gereinigt werden. Warum Bilder eine solche Symptomatik auslösen können, zeigt die Aufführung von Lucianes Tableaux vivants, mit denen zugleich auf eine zeitgenössische Modeerscheinung angespielt wird (Langen 1978; von Hoff 1989; Ittershagen 1999; Jooss 1999). Lucianes Bilder lösen psychosomatische Reaktionen aus, weil sie die Anschauung gerade nicht von ihren sinnlichen Anteilen reinigen, weil sie auf die Präsenz des Körperlichen insistieren und derart jene imaginäre Illusionsbildung verunmöglichen, die ein Vergessenmachen des (Zeichen)Körpers zur Voraussetzung haben. Sie ersetzen das Darzustellende nämlich so, „dass man fürwahr in einer anderen Welt zu sein glaubte, nur dass die Gegenwart des Wirklichen statt des Scheins eine Art ängstlicher Empfindung hervorbrachte“ (HA 6, 393). Da die Grenze zwischen „Vorführungskunst“ und „Verführungskunst“ in der Kunstform der Tableaux vivants per se nicht trennscharf gezogen werden kann (Diers 1998, S. 191), wird auch die Einhaltung einer die Herrschaft des Verstandes gegen die Sinnesempfindungen garantierenden Distanz zum Problem. Obwohl Lucianes Bilder als perfekte Kopien einer Repräsentationslogik folgen, die Sinnliches substituiert, stellt Luciane in ihrer Eitelkeit letztlich doch nur ihren schönen Körper aus: Wenn sie mithin ihre sinnliche Anziehungskraft ausstellt, stellt sie gerade nicht die Idee nach, die ihr von den zu inszenierenden Kupferstichen vorgegeben wird. Zwar wird hier die Materialität des Körpers nicht getilgt, aber die ‚Gegenwart des Wirklichen‘ von Lucianes Wiederverkörperung macht das Darzustellende über der sinnlich-körperlichen Anwesenheit der Schauspielerin vergessen. Deutlich wird hier eine Vermischung von Sinnlichem und Geistigem, die es dem Betrachter nicht ermöglicht, von der Präsenz des (Zeichen)Körpers zu abstrahieren und derart eine (sinnen)freie Anschauung einer Idee zu haben, die – unabhängig von Ort und Zeit – wiederholend-erinnernd aktualisiert werden kann. Vor dem Hintergrund zeitgenössischer Ästhetikdebat-

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ten betrachtet, entspricht dies nicht einer Belebung, sondern vielmehr einer Tötung des Bildes und weist auf den dilettantischen Charakter von Lucianes Schauspielkunst hin: Schließlich negiert Luciane die Medialität ihrer körperlichen Präsenz und damit zugleich jene Scheinhaftigkeit des Vorgestellten, die das Körperzeichen für eine Pluralität der Sinngebung freigibt und dadurch einen lebendigen semiotischen Raum eröffnet.11 Aus gedächtnistheoretischer Perspektive jedoch ist diese Einschränkung als widererstreitende Störung in jenem Auslöschungs- und Vergessenszusammenhang zu verstehen, in dem das Bestreben der Figuren einzuordnen ist, Freiheit gegenüber der Welt der Erscheinungen und gegenüber der Macht der Vergangenheit zu erlangen. Die ängstliche Empfindung lässt sich also verstehen als affektiver Reflex auf die unvollkommene Illusionsbildung. Darauf, dass es nicht vollständig gelungen ist, ‚die Gegenwart des Wirklichen‘ – die sinnliche Anschauung der Körperlichkeit – im Bild aufzuheben. Die unvollständige Auslöschung der Materialität des Zeichenkörpers im Transformationsprozess zum reinen, selbstbezüglichen Zeichen stört nicht nur die imaginäre Welt des ‚Scheins‘, sondern wird als diese Störung, als psychosomatischer Affekt an den Körpern der Zuschauer ablesbar. Dass Unsichtbarkeit der Preis für eine ungestörte Ordnung des Imaginären ist, darauf hatte Ottilie schon viel früher hingewiesen. Angesichts der Überlegungen, wo das geplante Lustgebäude errichtet werden soll, schlägt Ottilie „die höchste Fläche der Anhöhe“ mit dem Argument vor, dass man „zwar das Schloß nicht“ mehr sähe, weil es „von dem Wäldchen bedeckt“ wäre, dass man sich aber „auch dafür wie in einer andern und neuen Welt“ befände, „indem zugleich das Dorf und alle Wohnungen verborgen wären“ (HA 6, 295). Ohne die vollständige Auslöschung der illusionsstörenden ‚Gegenwart des Wirklichen‘ ist die imaginäre ‚neue und andere Welt‘ nicht zu haben, eine Konsequenz, die bereits Charlottes Friedhofsumgestaltung impliziert hatte.

4. Ottilies Pathosformeln und die Psychosomatik melancholischer Trauerarbeit Gegenüber Charlottes rational-mäßiger Seelendiätetik erscheint Ottilies körperbezogene „große Mäßigkeit im Essen und Trinken“ (HA 6, 263) schon von Beginn an als Unmäßigkeit, als diätetisches Missverständnis und Symptom unzulänglich regulierter Affekte. Diese im Schrift-Bild der _____________ 11

Und sie konfrontiert den Betrachter mit seinem eigenen Begehren, was durch den Ausruf des „tournez s’il vous plait“ zum Ausdruck kommt.

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Pensionsvorsteherin fixierte Anschauung von Ottilie12 wird von ihr selbst in einer Schlüsselszene des Romans eingelöst: in der Szene, in der Ottilie Eduard die Abschrift des Kaufvertrags überreicht und in der sich die unmäßige Leidenschaft zwischen den beiden offenbart. Ottilie gibt Eduard das Dokument mit den Worten: „Wollen wir kollationieren?“ (HA 6, 323) Kollationieren bedeutet nicht nur, eine Abschrift mit dem Original vergleichen, sondern auch einen kleinen Imbiss einnehmen (Goethe 1994, S. 1041). Dies ist neben der Verknüpfung von Leidenschaft und Essen zur Figur der Inkorporation insofern von Interesse, als Reden und Essen innerhalb der rhetorischen Tradition so zusammengeführt werden, dass Bedeutungsproduktion als Speiseaufnahme- und Verdauungsvorgang gedacht und derart in ein körperdiätetisch organisiertes Gedächtnissystem integriert wird (Butzer 1998). Dieser Aspekt und seine Funktion innerhalb des Romans wird dadurch unterstützt, dass der Begriff Kollation ein zweites Mal auftaucht im Umfeld der Szene, als Lucianes Darbietung der trauernden Witwe Artemisia ins Komische umschlägt und nun vielmehr der „einer Witwe von Ephesus“ (HA 6, 381) gleicht. Diese hatte – so will es die Novellentradition – ihr Trauervorhaben, dem Gatten durch Nahrungsverweigerung nachzusterben, allzu bereitwillig aufgegeben.13 Es zeigt sich hier nicht nur die Vernetzung von maßloser Leidenschaft, Diätetik des Körpers und Trauer, sondern auch, dass hier ein konkreter Körperbezug vorausgesetzt wird, der in seinem Betonen von Körperlichkeit als Einspruch gegen die rational-seelendiätetische Modellierung des Selbst zu verstehen ist. Aus dieser Perspektive stellen – bei allen Unterschieden im Einzelnen – Eduard und Ottilie einen Gegenpol zum übrigen Personal dar. Als Figuren der Melancholie,14 die das betrauern, was in Charlottes Zeichenordnung verdrängt wird, kommt ihnen im Roman eine ausgezeichnete Erinnerungsfunktion zu. Die Signatur der Melancholie wird ihnen vor allem über Körperzeichen verliehen, die aus einer langen Bildtradition bekannt sind. Mit der Ausdrucksgeste der Melancholie, dem auf die Hand aufgestützten Kopf (HA 6, 470), werden Eduards rechtsseitige und Ottilies _____________ 12

13 14

Ottilie wird noch vor ihrem persönlichen Auftreten durch einen Brief der Pensionsvorsteherin in die Romanwelt eingeführt. Vgl. dazu Brandstetter 2002, S. 201: Für die narrativen Strategien des Textes und für seine „Selbstreflexivität im Medium des Briefes“ ist es zentral, „dass Ottilie als einzige Figur zuerst und immer schon geschrieben und gelesen ist – als Brief-Figur an die Lese-Runde adressiert, bevor sie körperlich in Szene tritt“. Natürlich wird damit nochmals auf Lucianes Trauer verweigernde und mortifizierende lebende Bilder angespielt, sowie auf Eduards Vorhaben vorverwiesen, Ottilie durch Nahrungsverweigerung nachzusterben. Vgl. dazu zuletzt Valk 2002, eine motivgeschichtliche Studie, die – wenig aufschlussreich für die hier im Zentrum stehende Fragestellung – die „subtile Symbolsprache des Romans“ und die „Hinweise zur Psychologie der Figuren“ (S. 5) untersucht.

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linksseitige Kopfschmerzen ins Bild gesetzt. Zudem besteht eine Verbindung zwischen dem melancholischen Körperzeichen und dem körperdiätetischen Wissen. Die Medizin der Goethezeit erklärt das halbseitige Kopfweh und die bei Ottilie hinzukommende ungleiche Farbe des Gesichts als Zeichen der Migräne humoralpathologisch, indem sie eine Verbindung zwischen Blutandrang und Rötung bzw. Blutmangel und Blässe herstellt: Insbesondere „Mädchen von blutreichen und hitzigen Temperamenten, die zugleich einen schwachen und empfindlichen Magen haben“,15 werden davon betroffen. Auch unmäßiger Weingenuss, durch den sich Eduard auszeichnet, wird für den Schmerz verantwortlich gemacht. Für die narrative Inszenierung Ottilies als Erinnerungsmedium entscheidend ist ihre Präfiguration über das kunsthistorische Bildgedächtnis. Als lesend mit dem Buch wandelnde „gar anmutige Penserosa“ (HA 6, 446) stellt sie eine Wiederholung der trauernden Jungfrau Maria dar – die Geste der Melancholie ist damit zugleich Trauergeste.16 Als Trostspendende wiederum erscheint sie durch den Bildbezug zur heiligen Ottilie, der Patronin der Augenkranken, zur an den Sündenfall erinnernden Unglücksbringerin schließlich wird sie durch die Ins-Bild-Setzung als mythische Pandora, der paganen Eva. Die bis zur Gegensätzlichkeit reichende Polysemantik dieses Bildgedächtnisses widerruft den rationalistisch-repräsentationslogischen Bildbegriff, der den Roman dominiert. Diese andere Bildlogik basiert auf dem Pathos von Ottilies Ausdrucksgebärden und auf deren Gedächtnisfunktion. Als stumme Körpergesten konterkarieren sie die in Charlottes Friedhofsumgestaltung aufgewiesene Zeichenordnung, indem sie auf der Präsenz des Körpers, auf die Sinnlichkeit und emotive Bewegtheit von Erfahrung insistieren. Die semiotische Ambivalenz dieser stummen Körper-Rhetorik verschließt sich einer einsinnigen Übersetzbarkeit in die repräsentationslogische Begriffssprache. Vielmehr müssen der pathetische Ausdruckswert dieser Gesten und die Art und Weise seines zitierenden Rückgriffs auf das ästhetische Bildgedächtnis kontextbedingt immer wieder neu hermeneutisch erschlossen werden. Die Ausdrucksgebärden konfigurieren also mittels dieser intertextuellen Verflechtung von Erinnerungsspuren ein Gedächtnis, das Affekte speichert und in seiner körperbezogenen Semiotik als Körpergedächtnis bezeichnet werden kann. Dieses Körpergedächtnis übernimmt in zweifacher Hinsicht eine kulturelle Speicherfunktion: Es fungiert zum einen als Speicher für das kulturell Verdrängte, zum anderen speichert es jenes subversiv-energetische Poten_____________ 15 16

Medizinisches Handlexikon. 2 Bde. Augsburg, Joseph Wolffische Buchhandlung 1782, zitiert nach Nemec 1973, S. 134f. In mittelalterlichen Darstellungen der nicht selten ein Buch in der Hand haltenden Maria unter dem Kreuz wird die Melancholiegeste zugleich als Trauergeste inszeniert.

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tial an Erinnerungsspuren, das im Falle einer Freisetzung eine psychokulturelle Entgrenzung des rational strukturierten Sinnstiftungszusammenhangs bewirkt. Ihrer Erinnerungsfunktion für die Romanwelt nach lassen sich Ottilies pathetische Ausdrucksgebärden mithin durchaus der Wirkungsweise von Aby Warburgs Pathosformeln für das kulturelle Gedächtnis vergleichen. Auch sie erinnern gesteigerte Gemütsbewegungen und speichern als kulturelle „Dynamogramme“ (Warburg 1927, S. 20, zitiert nach Gombrich 1970, S. 338) ohne festen semantischen Gehalt mnemische Energie. Wie Warburgs Pathosformeln durch ihre Herkunft aus dem kultischen Ritus an triebhaft-ekstatische Ich-Zustände jenseits der Schranken zivilisierter Selbstbeherrschung erinnern,17 so erinnern Ottilies Pathosformeln an die schmerzhaften Wunden eines seelendiätetisch-durchrationalisierten Subjektentwurfs unter den Bedingungen einer kulturellen Ordnung der Zeichen, in der die Unberechenbarkeit affektbesetzter Körperlichkeit zum bedrohlichen Störfaktor wird.18 Und wie es für die kulturelle Gedächtnisarbeit im Sinne Warburgs zentral ist, dass das in den Pathosformeln gespeicherte Körperwissen einer fixierbaren Sinngebung widersteht und es diese ambivalente Unauflösbarkeit ist, auf der ihre energetische Sprengkraft beruht, so erstellt auch das über Ottilies Ausdrucksgebärden inszenierte Körperwissen einen für künftige Aneignungen prinzipiell offenen semiotischen Raum des Möglichen.

5. Die tödliche Aufhebung des Körpers Ottilies Erinnerungsfunktion wird nachgerade buchstäblich im Brief des Gehülfen eingeführt. Er beschreibt nicht nur eine Ottilie charakterisierende Körpergeste, sondern überdeterminiert diese Beschreibung regelrecht mit gedächtnistheoretischem Vokabular: Noch eins, das ich vielleicht in der Folge vergessen könnte: ich habe nie gesehen, daß Ottilie etwas verlangt oder gar um etwas dringend gebeten hätte. Dagegen kommen Fälle, wiewohl selten, daß sie etwas abzulehnen sucht, was man von ihr

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Diese kulturell überformten „Urworte der Gebärdensprache“ sind anschließbar an Nietzsches Auffassung des Dionysischen und eröffnen durch ihre Herkunft aus dem kultischen Ritus und ihre Erinnerung an triebhaft-ekstatische Ich-Zustände jenseits der Schranken zivilisierter Selbstbeherrschung einen Raum zwischen Magie und Logik. Warburg 1998, S. 461. Ihre mnemische Energie enthält also für jede kulturelle Ordnung ein Bedrohungspotential, das die Kunst mittels der platonischen Kardinaltugend der „Sophrosyne“ (Mäßigung) in einen „Denkraum der Besonnenheit“ überführen muss. Zum Begriff der Sophrosyne in diesem Kontext vgl. Warburg 1992, S. 172. Zum „Denkraum der Besonnenheit“ vgl. Warburg 1992, S. 202f.

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fordert. Sie tut das mit einer Gebärde, die für den, der den Sinn davon gefaßt hat, unwiderstehlich ist. Sie drückt die flachen Hände, die sie in die Höhe hebt, zusammen und führt sie gegen die Brust, indem sie sich nur wenig vorwärts neigt und den dringend Fordernden mit einem solchen Blick ansieht, daß er gern von allem absteht, was er verlangen oder wünschen möchte. Sehen Sie jemals diese Gebärde, gnädige Frau, wie es bei Ihrer Behandlung nicht wahrscheinlich ist, so gedenken Sie meiner und schonen Ottilien. (HA 6, 280)

Ottilies Schweigen gebietende Verweigerungsgeste ist eine stumme Bitte, die – wie das Gebet – Abwendung und Zuwendung gleichermaßen ins Bild setzt (Nemec 1973, S. 134). Dieser doppelt codierte, affektgeladene Körperausdruck gleicht der polaren Strukturierung semantischer Ambivalenz, wie sie Warburg für die Pathosformel als Ausdruck einer gesteigerten Erregung kenntlich gemacht hat. Erinnerungszeichen ist es zudem durch das wiederholte Auftreten: Einzelne Begebenheiten werden miteinander verknüpft und geben als Geflecht stummer Körperzeichen eine Geschichte des Verdrängten zu erzählen. Diese stumme Verweigerungsgeste – die Erinnerungsspur des Körpergedächtnisses ist und als solche an das Vergessen des Körpergedächtnisses erinnert – ist nach der Beschreibung des Gehülfen vom Vergessen ebenso bedroht wie ‚in der Folge‘ davon die notwendige Schonung Ottilies. Und tatsächlich wird Ottilie im Verlauf des Romans keineswegs geschont, sondern immer gewaltsamer zum Bild gemacht. Ihre reale, körperliche Präsenz wird dabei aufgehoben in der Idee, die sie repräsentieren soll: sei es die Idee der idealen Geliebten, der idealen Mutter oder der Heiligen. Sichtbar als Bild wird dieser Vorgang in Ottilies Tableaux, genauer den Präsepes mit Ottilie als Verkörperung der Mutter Gottes. Diese sollen nicht wie Lucianes Tableaux der Geselligkeit, sondern einem Zwecke „höherer Art“ dienen – so die Idee des Architekten: Ottilie „zur Ehre“ und Charlotte „zur Unterhaltung“ soll nun die „weit schönere Darstellung“ (HA 6, 402) gereichen – womit der Architekt seine Position aus der Andenken-Diskussion buchstäblich ins Bild setzt. Auch hier kommt es auf das Referentialität indizierende ‚Wo‘ nicht an, die Präsepe gehen nicht wie Lucianes Tableaux auf historische Kupferstiche zurück, vielmehr sollen sie in Ottilie die Idee der ‚Mutter Gottes‘ an sich darstellen. Die Verwirklichung dieser Idee geht – analog zu Hegels Transformation der sinnlichen Anschauung zum reinen Zeichen – auf Kosten des Körpers, leibhaftig auch beim Architekten selbst: „indem er um ihretwillen arbeitete, war es, als wenn er keines Schlafs, indem er sich um sie beschäftigte, keiner Speise bedürfte“ (HA 6, 403). Die „Wirklichkeit als Bild“ (HA 6, 403), und damit ist eine durch „Ottilies Gestalt, Gebärde, Miene, Blick“ konfigurierte Pathosformel gemeint, übertrifft schließlich „alles, was je ein Maler dargestellt hat“ (HA 6, 404). Ottilies Körper repräsentiert nicht die Mutter Gottes, auch wird die Illusion nicht durch den Rückverweis des Körper-

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zeichens auf die Präsenz des realen, lebendigen Körpers irritiert. Die Kunst ist hier derart zur Perfektion gesteigert, dass Ottilie vielmehr die Mutter Gottes zu sein scheint und „nichts die Betrachtung störte“ (HA 6, 404). Ottilies Präsepe ist sinn- und ordnungsstiftend, weil es, Roland Barthes’ Definition des Tableau entsprechend, wie „ein unumkehrbarer, unzersetzbarer, reiner Ausschnitt mit sauberen Rändern“ konfiguriert ist, „der seine ganze unbenannte Umgebung ins Nichts verweist und all das ins Wesen, ins Licht, ins Blickfeld rückt, was er in sein Feld aufnimmt“ (Barthes 1990, S. 94ff.). Zur höchsten Darstellungskunst gelangt das Präsepe überdies, weil es einlöst, was Goethe in Über Laokoon (1798) vom vollendeten Kunstwerk fordert: Darzustellen ist der „höchste pathetische Ausdruck“, der „auf dem Übergange eines Zustandes in den andern [schwebt]“ (Goethe 1998, S. 237); mithin der dialektische Augenblick des Zugleich von Stillstand und Bewegung, jener einem elektrischen Schlag vergleichbare energetische „Übersprung“ einer „Empfindung“ auf den ganzen Körper, der noch „die deutliche Spur vom vorhergehenden Zustande“ in sich trägt und derart ein Zusammenwirken von „Streben und Leiden“ (Goethe 1998, S. 495) ins Bild setzt. Dieser Definition des Pathos folgt das erste Präsepe Ottilies: In diesem Augenblick schien das Bild festgehalten und erstarrt zu sein. Physisch geblendet, geistig überrascht, schien das umgebende Volk sich eben bewegt zu haben, um die getroffnen Augen wegzuwenden, neugierig erfreut wieder hinzublinzen und mehr Verwunderung und Lust als Bewunderung und Verehrung anzuzeigen (HA 6, 404).

In der Objektivität des vollendeten Kunstwerks ist Ottilie außer sich ganz Bild, und das heißt in letzter Konsequenz: Körperlos ist Ottilie ganz Idee. Wieder bei sich ist Ottilie am Ende des zweiten Präsepes, nachdem sie den Gehülfen im Zuschauerraum bemerkt, der sich wie ein „Fremder“ zwischen Körper und Idee schiebt; sie bemüht sich zwar noch, „immerfort als ein starres Bild zu erscheinen“ (HA 6, 405), oder wie es in Über Laokoon heißt, wie „ein fixierter Blitz, eine Welle, versteinert im Augenblicke“ dem „ganzen Marmor in Bewegung“ (Goethe 1998, S. 493) zu gleichen, doch plötzlich lassen sich „Streben und Leiden“ (Goethe 1998, S. 495) nicht mehr vereinen: „Wie im zackigen Blitz fuhr die Reihe ihrer Freuden und Leiden schnell vor ihrer Seele vorbei, […] ihre Augen füllten sich mit Tränen“ (HA 6, 405). Sie gleicht nun eher einer anderen Figur aus dem „Standardrepertoire“ (von Hoff/Meise 1987, S. 69) der zeitgenössischen Tableaux vivants, und zwar der mythischen Niobe, die ob ihrer Hybris gegenüber den Göttern und ihrer Erstarrung zum toten Marmorstein weint. Erst „im gewohnten Kleide“, im eigenen, lebendigen Körper, gelingt es Ottilie, „wieder mit sich selbst in Einstimmung“ (HA 6, 405) zu sein. Mittels der aktualisierten Erinnerungsspur der lakoontischen Pathos-

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Darstellung der Niobe aus: Attitüden der Lady Hamilton. Umrisszeichnungen von F. Rehberg 1794, in: Schlaffer 1986, S. 53.

formel in einem neuen raum-zeitlichen Kontext also wird an die Schmerzen erinnert, mit der die Transformation des Körpers zur Idee notwendig verbunden ist. Versteht man Ottilie als Erinnerungsmedium des Körpergedächtnisses, so sind ihre Tränen zugleich die in eine Pathosformel ge-

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gossenen Tränen der Trauer um die Aufopferung des Körpergedächtnisses. Lassen sich die Präsepe noch als doppelte Ins-Bild-Setzung zum einen der Aufhebung des Körpers zur Idee und zum anderen der Klage um den Verlust des Körpers verstehen, so wird Ottilies Ende durch die Ausmalung der mit „Astern“ ausgeschmückten und, wenn überhaupt, dann zur „Grabstätte“ (HA 6, 374) geeigneten Kapelle schon lange zuvor vorweggenommen: Dort schauen die vom Architekten gemalten Engelsbilder – und diese „fingen sämtlich an, Ottilien zu gleichen […], so daß es schien, als wenn Ottilie selbst aus den himmlischen Räumen heruntersähe“ (HA 6, 372) – bereits zu Lebzeiten auf Ottilie als Tote herab. Dort wird Ottilie dann auch im „offnen Sarge“ (HA 6, 485) begraben werden, und ihr toter Körper wird nicht an ihre irdische Person, sondern an ihr Bild, an die Reinheit der Idee der „in einer höhern Region lebend[en] und wirkend[en]“ (HA 6, 488) „Heilige[n]“ (HA 6, 490) erinnern. Zwei Aspekte treffen hierbei zusammen. Die Stilisierung Ottilies zur Heiligen, die mit ihrer Aufopferung als Figur im Roman einhergeht, wird unterstützt durch Ottilies Entscheidung, das Bewusstsein ihrer Schuld an den tragischen Verstrickungen konsequent am eigenen Körper auszuagieren. Gewaltsamer hatte sie kein dumpfer Schmerz ergriffen als diese Klarheit, die sie sich noch klarer zu machen strebte, wie man es zu tun pflegt, daß man sich selbst peinigt, wenn man einmal auf dem Wege ist, gepeinigt zu werden. Der Zustand […] kam ihr so kümmerlich, so jämmerlich vor, daß sie sich entschloß, es koste, was es wolle, […] ihren Schmerz und ihre Liebe an irgendeinem stillen Orte zu verbergen und durch irgendeine Art von Tätigkeit zu betriegen. (HA 6, 433)

Sie zieht sich in die Einsamkeit ihres Zimmers zurück und verweigert dem Körper die zum Leben notwendige Nahrung. Derart nimmt sie die Idee der Aufhebung des Körpers nicht nur „vielleicht“, wie sie bezüglich ihres Schweigegebots gegenüber Eduard selbst vermutet hatte, sondern tatsächlich „zu buchstäblich“ (HA 6, 477). Gerade darin liegt aber die Radikalität ihrer Verweigerung begründet. Denn nicht nur ihre Schuld versucht Ottilie damit zu tilgen, vielmehr zeigt sie am eigenen Körper ganz konkret die Konsequenzen der genannten Umstrukturierungen – der Zeichenordnung, der Gedächtniskonzeption und des Systems der Diätetik. Durch die Nahrungsverweigerung, lesbar als Performanz sowohl der Opferung des Körpers als auch des vergessenen Opfers, macht sie ihren Körper zum materialen Zeichen für die Idee, auf die ihr Körper verweisen soll. Zu fragen bleibt letztlich, wie diese performative Radikalität zu bewerten ist. Welche Stellung bezieht der Roman in seiner Gesamtheit, wenn er einerseits die Notwendigkeit des Opfers zu postulieren, dies andererseits jedoch nicht nur zu betrauern scheint, sondern vielmehr massiven Einspruch gegen diese Tilgungszusammenhänge erhebt? Mit dem Konzept

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einer melancholischen Trauer um das Verlorene im Sinne einer resignativen Entsagung ist dieser aporetische Gestus nicht hinreichend erklärt. Die mnemische Energie, die im Pathos der als Gegengedächtnis konfigurierten anderen Bildlogik von Ottilies Ausdrucksgesten gespeichert ist, scheint vielmehr auf ihre künftige Entladung hin konzipiert zu sein. Das Schlussbild der sterbenden Ottilie – Ottilie stößt die ihr zur Stärkung gedachte „Kraftbrühe […] mit Abscheu weg, ja sie fällt fast in Zuckungen, als man die Tasse dem Munde nähert“ (HA 6, 483) – antizipiert gleichsam die Bild gewordenen Zuckungen, wie sie die zur Schau gestellte Hysterika um 1900 kennzeichnet. Oder umgekehrt: In der Hysterika ist dann die psychokulturelle Entgrenzung vollzogen, die als mnemische Energie bereits in Ottilies Pathosformeln gespeichert war.

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Das unheimliche Kind Die Subversivität des Körpergedächtnisses in Gottfried Kellers Novelle Das Meretlein The tale Das Meretlein from Gottfried Keller’s novel Der grüne Heinrich provides a remarkable account of how the protagonist’s body serves as a deeply ambivalent memory: Firstly, in the adults’ attempts to discipline the resisting body of the child in order to inscribe the social norms; secondly, in Meret’s resistance to this subjugation, which leads to a resurfacing of the repressed within the world of the adults and results in the child becoming uncanny. The first-person narrator of the novel’s first version uses this tension-loaded dynamic of the body memory to reflect his own problematic relationship to his body. In addition, the novel uses the tale of the uncanny child Meret to insert early modern cultural traditions that had been repressed into the cultural memory of the nineteenth century.

1. In Gottfried Kellers Novelle Das Meretlein aus Der grüne Heinrich fungiert der Körper des Meretlein in einem doppelten Sinn als eminent bedeutsames Gedächtnismedium: Die rigide Disziplinierung des widerspenstigen Kindes, die mit Hilfe von Prügeln, Hungerkuren und Kleidervorschriften am Körper vollzogen wird, soll den Widerstand gegen die Sozialisierung brechen, und die erzwungene Akzeptanz der gesellschaftlichen Ordnung soll einen angemessenen physischen Ausdruck erhalten. Das Ziel der Disziplinierung ist die Regulierung der kindlichen Triebe und Affekte im Sinne der Religion und damit die Ausbildung eines Körpergedächtnisses, das, als Ritualisierung verstanden, auch die somatischen Seiten des Lebens der symbolischen Ordnung unterwerfen und sie zum Träger kulturell anerkannter Bedeutsamkeit machen soll. Doch durch die konsequente Rebellion Merets gegen diese Disziplinierung und Gedächtnisbildung wird ihr Körper zunehmend zum Ort eines unheimlichen Anderen der Ordnung, was zur Ängstigung der Erwachsenenwelt führt. Das Misslingen der Disziplinierung hält nämlich das zu Verdrängende dauerhaft präsent und konstituiert ein Gegengedächtnis. So stellt der kindliche Körper den Schauplatz des Kampfes dieser widerstreitenden Gedächtnisse dar und die

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von ihm ausgehende Bedrohung soll schließlich durch die Opferung des Kindes aufgehoben werden. Die beabsichtigte Heilung der Ordnung durch das Opfer gelingt allerdings nicht: denn die Überlieferung der Geschichte im Medium des Kinderporträts, des pastoralen Tagebuchs und der Volkssage führt das Gedächtnis dieser Rebellion mit sich und verleiht dem Gedenken an das Meretlein eine mnemonische Energie, die den Romanhelden Heinrich noch nach mehr als einem Jahrhundert, als er der Geschichte nachgeht, affiziert. Der Begriff des Körpergedächtnisses bezieht sich in den folgenden Ausführungen zunächst auf den Körper als Medium der sozialen Kontrolle und des Widerstandes dagegen, dann aber auch auf die Überlieferung der Sage, auf den medial vermittelten Körper, den der Erzähler Heinrich deuten und entziffern muss, um das subversive Potential der Geschichte zu bergen und es in einen sinnhaften Bezug zur eigenen Jugendgeschichte zu setzen. Da sich die „reflexive Potenz der Novelle“ (Menninghaus 1982, S. 64) erst in dieser Beziehung zum Romanganzen enthüllt, möchte ich im ersten Abschnitt zunächst die unmittelbar vorausgehende Episode, in der Heinrich von seiner Verweigerung des Tischgebets erzählt, etwas genauer in den Blick nehmen.

2. Der Icherzähler Heinrich Lee rechtfertigt die Wiedergabe der Meretnovelle, die den Romanverlauf unterbricht, durch sein Erlebnis bei einem Besuch im Heimatdorf. Dort stößt er auf den Grabstein des Mädchens Meret und beginnt, sich für dessen Geschichte zu interessieren, in der er Parallelen zu seiner eigenen Kindheit erkennt. Vergleichbar erscheint ihm vor allem die Tatsache, dass beide Kinder das Gebet verweigern. Die Entdeckung des Grabsteins wird zum Auslöser der Erinnerung an die eigene Gebetsverweigerung, ist also mit dieser assoziativ verknüpft, und die Abfolge der beiden Geschichten dient der Potenzierung ihres Sinns. In der Jugendgeschichte erzählt Heinrich, wie seine Mutter eines Tages das Tischgebet einführen will. Diese Maßnahme ist Bestandteil der religiösen Erziehung, mit der sie ihren Sohn zur Dankbarkeit gegenüber Gott verpflichten möchte, zugleich markiert sie den Übergang vom kindlichen Gottesbild Heinrichs zum strengeren Gottesbild der Mutter und der calvinistischen Gemeinde. Der Gott des Kindes war ein Gott der Wünscherfüllung, mit dem es rechten und an den es unbekümmerte Forderungen stellen konnte. Über diesen Umgang mit Gott gibt folgende längere Passage Rechenschaft ab: In jeder übeln Lage aber rief ich Gott an und betete in meinem Innern in wenigen wohlgesetzten Worten, wenn die Krise zu reifen begann, um eine günstige

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Entscheidung und um Rettung aus der Gefahr, und ich muß zu meiner Schande gestehen, daß ich immer entweder das Unmögliche oder das Ungerechte verlangte. Oft war es der Fall, daß meine Sünden übersehen wurden; und alsdann ließ ich es nicht an herzlichen Dankgebeten aus dem Stegreife fehlen, welche umso vergnüglicher waren als mir der Sinn für die Verdientheit der Strafe so lange verschlossen blieb, bis ich bewußte Fehler beging. So bestand der Stoff meiner Anrufungen aus der wunderlichsten Mischung; das eine Mal bat ich um die gelungene Probe eines schwierigen Rechnenexempels oder daß der Vorgesetzte für einen Tintenklecks in meinem Hefte mit Blindheit geschlagen werde, das andere Mal, ein zweiter Josua, um Stillstand der Sonne, wenn ich mich zu verspäten drohte, oder auch um Erlangung eines fremden reizenden Backwerks. (Keller 1991, S. 60f.)1

Keller hat diese kindliche Vorstellung gemäß der Religionsphilosophie Ludwig Feuerbachs interpretiert (zu Kellers Feuerbachrezeption vgl. Otto 1960): Heinrichs Gott lässt sich demzufolge als eine Projektion des unerfüllten kindlichen Begehrens deuten.2 Demgegenüber stellt der Gott der Mutter eine strenge Vaterinstanz dar (die sich natürlich gleichfalls als eine Feuerbachsche ‚Projektion‘ verstehen lässt, vgl. Sautermeister 1991, S. 900). So heißt es: „Ihr Gott war darzumal schon nicht der Befriediger und Erfüller einer Menge dunkler und drangvoller Herzensbedürfnisse, sondern klar und einfach der versorgende und erhaltende Vater“ (S. 62). Angesichts dieses Gottes empfindet Heinrich religiöse Scheu, deren Ursache in dessen unerklärlicher Allmacht besteht, die an die kindliche Vorstellungswelt nicht mehr assimilierbar ist. Als Heinrich etwa die Gerichte seiner Mutter einer scharfen Kritik aussetzt, weil diese ihm zu nichts sagend schmecken,3 weist ihn die Mutter darauf hin, dass es sich bei einer derartigen Kritik um ein Aufbegehren gegen die göttliche Autorität handele: „Machte sie [die Mutter] alsdann auch noch auf die Undankbarkeit aufmerksam, welche ich gegen Gott beging, indem ich seine guten Gaben tadelte, so hütete ich mich mit einer heiligen Scheu, den allmächtigen Geber ferner zu beleidigen, und versank in Nachdenken über seine treffli_____________ 1 2

3

Im Folgenden erscheinen alle Zitate aus dem Roman nur unter Angabe der Seitenzahlen im Text. Dies tut z.B. Gert Sautermeister: „Gott ist eine Projektion der unverwirklichten menschlichen Bedürfnisse, nicht ein unabhängig davon existierendes Wesen. Der kleine Heinrich projiziert in seine Vorstellung des Paradieses und eines göttlichen Wesens ein Bedürfnis nach Lust, das seine Mutter offenkundig nicht zur Genüge stillt – vielmehr nicht zur Genüge stillen kann. Denn als Mutter muß sie gegenüber ihrem Sohn die Stelle des Vaters vertreten.“ (Sautermeister 1991, S. 900f.) Vgl. S. 61: „Die Speisen meiner Mutter ermangelten, sozusagen, aller und jeder Individualität. Ihre Suppe war nicht fett und nicht mager, der Kaffee nicht stark und nicht schwach, sie verwendete kein Salzkorn zu viel und keines hat je gefehlt, sie kochte schlecht und recht, ohne Manieriertheit, wie die Künstler sagen, in den reinsten Verhältnissen; man konnte von ihren Speisen eine große Menge genießen, ohne sich den Magen zu verderben.“

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chen und wunderbaren Eigenschaften.“ (S. 62) Konnte Heinrich mit seinem alten Gott streiten und rechten, so empfindet er gegenüber dem neuen Gott eine tiefe „Scham vor mir selber“ (S. 63), die ihren Grund im Gefühl der Unangemessenheit seines früheren Verhaltens gegenüber Gott besitzt. Als nun die Mutter vom Sohn verlangt, er möge das Tischgebet sprechen, hindert ihn dieses Gefühl daran, ihrem Wunsch nachzukommen. Diese Reaktion des Sohns wird von der Mutter zu Unrecht als Scham vor ihr selbst ausgelegt und damit völlig missverstanden: „denn“, fragt der Erzähler, „wie sollte ich mich vor der einzigen Mutter schämen, vor welcher ich bei ihrer Milde nichts zu verbergen gewohnt war?“ (S. 63) Hier klingt also bereits ein Thema an, das in der Novelle weitergesponnen, perspektiviert und gespiegelt wird: Der Eigensinn des Kindes produziert erwachsene Fehldeutungen, aber das Kind selbst kann sich über die eigenen Beweggründe noch nicht selbst Rechenschaft geben; es verfällt in eine Sprachlosigkeit, weil es die emotionale Zwickmühle, in der es sich befindet – hier die Scham vor sich selbst angesichts des übermächtigen Gottes, dort die Liebe zur Mutter, die es nicht verletzen will – noch nicht wirklich versteht und noch nicht äußern kann. Die Mutter reagiert auf Heinrichs Eigensinn hilflos: Sie verbietet ihm zu essen, bis er das Gebet gesprochen hat, aber als Heinrich sein Schweigen nicht bricht, scheitern schließlich ihre pädagogischen Bemühungen. Als sie nachgibt und das Kind essen darf, entlädt sich die Spannung in heftigen Emotionen: [A]ls jedoch die Stunde nahte, wo ich wieder zur Schule gehen sollte, brachte sie mein Essen, indem sie sich die Augen wischte, als ob ein Stäubchen darin wäre, wieder herein und sagte: „Da kannst du essen, du eigensinniges Kind!“ worauf ich meinerseits unter einem Ausbruche von Schluchzen und Tränen mich hinsetzte und es mir tapfer schmecken ließ, sobald die heftige Bewegung nachließ. Auf dem Weg zur Schule ließ ich es nicht an einem vergnügten Dankseufzer fehlen für die glückliche Befreiung und Versöhnung. (S. 63)

Das Scheitern des mütterlichen Versuchs, den Sohn in die Rituale der religiösen Gemeinschaft einzuführen – deren fester Bestandteil das Tischgebet ist –, mündet in eine Versöhnungsszene, in der die affektiven und somatischen Anteile der Kommunikation sich gegenüber der zuvor geforderten strengen Unterwerfung unter das Gebet und das Wort durchsetzen: Der Austausch von Tränen und Nahrung besiegelt den Pakt zwischen Mutter und Sohn, der durch das Auftauchen eines strengen Gottvaters bedroht war. Bei der Einführung des Tischgebets geht es also um mehr und um anderes als nur um die Ersetzung der kindlichen durch eine mütterliche Gottesprojektion. Einschneidender noch markiert das Gebet den Versuch der Mutter, die innige Beziehung zu ihrem Sohn in eine höhere Ordnung der Sprache und der offiziellen Symbolik zu überführen. Am deutlichsten wird dieser Vorgang an der Rolle der Nahrung: Diese verkör-

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perte zuvor metaphorisch das Wesen der Mutter, sodass die Nahrungsaufnahme eine unvermittelte Form der Kommunikation als Einverleibung des geliebten Menschen darstellte. Der Körper und die Physiologie stellten daher die wesentlichen Medien des Austauschs zwischen beiden dar. Durch das Tischgebet und die Etablierung einer neuen Gottesinstanz dagegen sollte diese exklusive Beziehung in einem größeren kulturellen und symbolischen Rahmen aufgehoben, ‚ent-somatisiert‘ und in eine Ordnung der Zeichen überführt werden, weil der neue Gott, zu dem Heinrich beten soll, den christlichen Gott der orthodoxen calvinistischen Gemeinde darstellt. Heinrich spürt diese Absicht der Mutter mit einer kindlichen Intuition, indem er für diesen Tauschprozess den Begriff des Opfers gebraucht: „Der gedeckte Tisch kam mir vor wie ein Opfermahl, obgleich ich von einem solchen noch nichts wußte, und das Händefalten nebst dem feierlichen Beten vor den duftenden Schüsseln wurde zu einer Zeremonie, welche mir alsbald unbesieglich widerstand.“ (S. 63) Heinrich erkennt, dass die Zustimmung zum Gebet an den Gott der Mutter hieße, seinen eigenen Kindergott opfern zu müssen und damit den Eintritt in die offizielle Religion zu besiegeln.4 Allerdings wird hier von Heinrich nicht nur der Verzicht auf sein Gottesbild verlangt, vielmehr spürt er auch, dass er selbst als Sohn von der Mutter preisgegeben wird. Denn durch das Gebet an den neuen Gott tritt ein Drittes in die symbiotische Beziehung der beiden, ein „nom du père“ im Sinne Lacans, durch das der Sohn der symbolischen Ordnung der Kultur überliefert wird.5 Die Assoziation des Opfermahls erinnert an die beiden Kindesopfer, die der biblische Gott seinen Gläubigen zumutete: das in letzter Minute widerrufene Opfer Isaaks und das Opfer Jesu. Der Kinder tötende Gott verlangt von seinen Anhängern, dass sie durch das rituelle Mahl seines Sohnes gedenken mögen. Das Opfer stellt einen Tausch dar, in dem der Körper ausgelöscht und in einen Signifikanten verwandelt wird, jedoch so, dass das Zeichen (Brot und Wein) nicht einfach ein Zeichen darstellt: Die Präsenz des Getöteten verbürgt den transzendenten Sinn des Opfers, verleiht dem Zeichen eine auratische, gewissermaßen

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5

Diese Deutung schlägt Ursula Mahlendorf vor: „The example of the Lord’s Prayer above shows that he has to give up the god of private pleasures, the god of his infancy, and exchange him for the public, utilitarian, provident, plain god of both his mother and the punitive Calvinist society he enters when he enters school.“ (Mahlendorf 1997, S. 250) Vgl. Lacan 1966, S. 157f.: „C’est dans le nom du père qu’il nous faut reconnaître le support de la fonction symbolique qui, depuis l’orée des temps historiques, identifie sa personne à la figure de la loi.“

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magische Kraft. Das Opfer konstituiert gleichermaßen die Tötung wie die Auferstehung des Leibes im transzendenten Zeichen.6 Ein analoges Opfer – Akzeptanz der sozialen Ordnung und Preisgabe der exklusiven Mutterbindung – ist Heinrich nicht zu bringen bereit. Statt dem von der Mutter intendierten Ergebnis der Gebetseinführung, durch welche die Nahrungsaufnahme und die Mutterkindbeziehung aus ihrer naturhaften Unvermitteltheit in sozial akzeptierte Kultur überführt werden sollten, mündet die Szene in die Konstitution eines Körpergedächtnisses, in dem der Körper zu dem Ort wird, an dem sich die alten Bindungen und Affekte ablagern. Heinrichs Abneigung gegen das Gebet äußert sich nämlich spontan im Protest des Körpers: Im Verstummen und im Affekt der Scham bleibt ein Einspruch bestehen, der das ganze Leben Heinrichs prägen wird. Aus diesem Einspruch gewinnt Kellers Roman sein enormes religions- und zeichenkritisches Potential, andererseits hat Heinrichs spätere Unfähigkeit, Liebesbindungen einzugehen, sein melancholischer Lustverzicht seinen Ursprung in der misslungenen Symbolisierungsleistung, die in dieser Szene so eindringlich dargestellt wird. Das Körpergedächtnis kann also zunächst verstanden werden als der verdrängte Anteil unmittelbarer Bedürfnisse, die sich in körperlichen bzw. physiologischen Symptomen äußern. Diese bilden einen Widerstand gegen die Ansprüche des Sozialen und der reinen Sprachlichkeit aus. Doch das ist nur die eine Hälfte der Wahrheit, denn das Körpergedächtnis kann nicht einfach mit dem Verdrängten gleichgesetzt werden: Auch für die gelingende Sozialisierung ist eine Disziplinierung des Körpers unerlässlich. Das Falten der Hände zum Gebet, das Einnehmen einer aufrechten Haltung sind ihrerseits Maßnahmen, um dem Körper bestimmte Muster und somit ein Gedächtnis einzuprägen, durch das er die symbolische Ordnung verkörpern soll. Insofern kann der Körper als ein dynamisches und widerspruchsvolles Gedächtnismedium verstanden werden: Verdrängte Regungen und symbolisches Verhalten befinden sich im Widerstreit und müssen immer wieder neu ausbalanciert werden. Der Fall der kleinen Meret zeigt allerdings, wie diese Balance durch einen Gewaltakt zerstört werden kann und wie der Versuch, ein Körpergedächtnis gegen den Willen des Kindes zu bilden, zur Zerstörung des Willens und des Lebens führen muss.

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Vgl. zu dieser Deutung des Abendmahls Hörisch 1992.

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3. Die beschriebene Struktur des Körpergedächtnisses findet ihre klarste Ausprägung in der Meretnovelle. Das pädagogische Bemühen des Pfarrers zielt auf die Disziplinierung des Kindes und dabei wesentlich auch auf die Zurichtung des Körpers, während sich umgekehrt der Widerstand Merets im Protest ihres Körpers äußert. Das Eigentümliche an Kellers Erzählverfahren besteht darin, dass diese berührende Geschichte in vielfacher perspektivischer Brechung erzählt wird: In der hier benutzten Erstfassung des Romans besitzt die Novelle zunächst den äußeren Rahmen des vom auktorialen Erzähler verfassten Romans, in den die autobiographische Jugendgeschichte Heinrich Lees eingelassen ist. Innerhalb dieses zweiten Rahmens schreibt Lee die Novelle, die ihrerseits den Rahmen für die Wiedergabe des Diariums des Pfarrers bildet. Neben dem Diarium finden sich noch weitere ‚historische‘ Dokumente, auf die Lee seine Erzählung stützen kann: das vom Maler verfertigte Kinderporträt und der Hexenmythos, den das Volk erzählt. Es existiert also eine ganze Anzahl unterschiedlicher Erzähler bzw. Vermittler: der Pfarrer, die Sage, das Porträt, der Erzähler der Novelle, der Autor und Ich-Erzähler Heinrich Lee, schließlich der Erzähler des Romans, die das in der Novelle berichtete Geschehen in je unterschiedlicher Weise deuten. Diese Deutungsvielfalt des Geschehens verbietet es, sich im Falle der Meretnovelle auf den Körper bzw. das Körpergedächtnis als auf etwas Unmittelbares oder Ursprüngliches zu beziehen, sind sie uns doch nur in den Medien der Darstellung und in den verschiedenen Erzählerstimmen zugänglich. Kellers Darbietungstechnik hat also nicht nur eine „historisierende Wirkung“ (Jeziorkowski 1979) in dem Sinne, dass ein den Erzähler aktuell interessierender Zusammenhang – Heinrichs eigene Sozialisierung – durch die Historisierung perspektiviert wird, sondern sie liefert im Falle der Meret einen Ausschnitt aus dem frühneuzeitlichen Diskursarchiv, das zunächst für sich ernst genommen werden sollte. Die Novelle verlangt also vom Leser weder eine betroffene Stellungnahme zu den Strafmaßnahmen des Pfarrers (vgl. Mahlendorf 1997) noch eine Solidarität mit Kellers Kritik an der religiösen Orthodoxie des Calvinismus (wie bei Dürr 1996). Ihr „kritische[s] Potential“ (Jeziorkowski 1979, S. 129) entfaltet sich weder als platte „Entlarvung“ des Aberglaubens7 noch einfach als Abrechnung mit schwarzer Pädagogik, son_____________ 7

So behauptet etwa Meurer 1994 über die angeblichen Hexereien der Meretleins: „Der Erzähler entlarvt sie, gerade indem er sie als Gerücht der abergläubigen Umgebung des Kindes tradiert, als – was sie in Wahrheit sind – alltägliche und keineswegs von Meret verschuldete Begebenheiten.“ (S. 43) Aber handelt es sich um eine alltägliche Begebenheit, wenn z.B. ein für tot gehaltenes Mädchen aus dem Grab aufersteht und in deutlicher Parodie der Auferstehung Jesu seine kindlichen Jünger wieder um sich schart?

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dern indem sie eindringlich vor Augen führt, dass – und wie – die soziale Ordnung auf einem Akt des Ausschlusses und der Disziplinierung dessen beruht, was diese Ordnung gefährden könnte. Zugleich demonstriert Keller eindrucksvoll, wie der Körper seine Bedeutung erst im Wechselspiel aus spontaner Regung und diskursiver Deutung erhält. Innerhalb der dargestellten Welt der Novelle wird die Geschichte des kleinen Mädchens auf drei Arten gedeutet: Der Pfarrer versteht Merets Benehmen als das einer Besessenen, die einfachen Leute im Dorf halten sie für eine Hexe und der am Ende zu Hilfe gerufene Arzt hat eine medizinische Erklärung parat. Keller historisiert seine Geschichte also nicht nur durch die altertümliche Sprache und die Rahmentechnik, sondern auch, indem er die Vorstellungswelt der beschriebenen Epoche bzw. des beschriebenen Milieus recht genau rekonstruiert. Da er als realer Autor die verschiedenen Dokumente erfunden und im Sinne der frühneuzeitlichen Vorstellungswelt imitiert hat, muss bei ihm eine kulturhistorische Kompetenz vorausgesetzt werden, über die Heinrich nicht unbedingt zu verfügen braucht, da dieser die Dokumente als reale vorfindet und deutet, wobei er durchaus eigene Wertungen einfließen lässt. Heinrich gibt zunächst die Sage so wieder, wie sie ihm von den Dorfbewohnern erzählt wird. In dieser Version erscheint Meret als ein mit einer gewissen Sympathie betrachtetes Hexenkind. Darauf folgt ein Eingriff des Erzählers, der dem Leser zunächst eine kurze Information über den zu beschreibenden Fall gibt: Die eigentliche Geschichte war nun die, daß das kleine Mädchen, einer adeligen, stolzen und höchst orthodoxen Familie angehörig, eine hartnäckige Abneigung gegen Gebet und Gottesdienst jeder Art zeigte, die Gebetbücher zerriß, welche man ihm gab, im Bette den Kopf in die Decke hüllte, wenn man ihm vorbetete, und kläglich zu schreien anfing, wenn man es in die düstere, kalte Kirche brachte, wo es sich vor dem schwarzen Manne auf der Kanzel zu fürchten vorgab. (S. 64f.)

Deutlich zeigt sich hier Heinrichs Bemühen um die Entmythologisierung der ihn berührenden und doch ganz fremdartigen Erzählung von der Meret. Er versucht, die Volkssage auf ihren historisch „eigentlichen“ Gehalt zu reduzieren, indem er sie als Geschichte eines ungeliebten Kindes interpretiert, das von einem sadistischen Pfarrer, einem „dumpfe[n], harte[n] Mann“ (S. 65) zu Tode gequält wird.8 Dem entspricht seine Annahme, das Kind habe nur ‚vorgegeben‘ sich vor dem „schwarzen Manne auf der Kanzel zu fürchten“, womit der panische Schrecken vor der Kirche und _____________ 8

Die zitierten Autoren und Autorinnen solidarisieren sich also mit Heinrichs Sicht der Dinge, wenn sie die pädagogische Fehlleistung des Pfarrers kritisieren. Diese an sich verständliche und sympathische Position lässt allerdings außer Acht, dass Heinrichs Sicht ihrerseits relativiert werden muss.

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der religiösen Orthodoxie zu einem kindlichen Versteckspiel depotenziert wird. In dieser Annahme greift Heinrich allerdings aus zwei Gründen zu kurz: Zum einen ist der Pfarrer nicht (nur) ein schierer Sadist, sondern er handelt aus einer Überzeugung, die für seine Zeit nicht ungewöhnlich war, nämlich der Überzeugung, er müsse das Kind exorzieren. Und zum anderen darf Meret nicht als ein passives Opfer angesehen werden, sondern sie ist eine agierende und reagierende Person mit einer gewissen Autonomie, die sich allerdings gegen die Übermacht der Erwachsenen nicht zu behaupten vermag. Der panische Schrecken des Kindes vor dem Pfarrer, der Kirche, dem Gottesdienst gehört zu den deutlichsten und bekanntesten Anzeichen der Besessenheit. (Vgl. Weber 1999) Während für die Eltern die „Unart“ des Kindes „unerklärlich“ bleibt (S. 65), ist sich der Pfarrer, dem das Kind „wegen seiner Frömmigkeit und Strenggläubigkeit […] versuchsweise in Pflege“ gegeben wurde (S. 65), seiner Sache bald sicher. Er hält Merets blasphemisches Handeln für „Schalkheit und Mißbrauch des Teufels“ (S. 65), was hier nicht nur metaphorisch verstanden werden darf, sondern im theologischen Sinn als Besessenheit durch den Teufel. Zwar wird der Begriff der Besessenheit vom Pfarrer an keiner Stelle ausdrücklich gebraucht, allerdings lässt der Text kaum einen Zweifel an dieser Auffassung, da die Beschreibung des Handelns des Pfarrers und des kindlichen Verhaltens ganz deutlich an historischen Fällen geschult ist.9 Zu jedem Exorzismus gehört einerseits der Versuch, dem Kind durch religiöse und sonstige Unterweisung Zugang zu den Glaubenslehren zu verschaffen, andererseits aber auch die äußerst harte und grausame Prozedur des Strafens.10 So wird das Kind wöchentlich geprügelt, wobei der Pfarrer zu Beginn des abgedruckten Auszugs aus dem diarium gerade zu einer Verschärfung der Strafe übergegangen ist: „Ferner der kleinen Meret (Emerentia) ihre wöchentlich zukommende Correction ertheilt und verscherpft, indeme sie nackent auf die Bank legte und mit einer neuen Ruthe züchtigte, nicht ohne lautes Rufen zum Herren, daß Er das traurige Werk zu einem guten Ende führen möge.“ (S. 65) Beide Formen der ‚Therapie‘ – das _____________ 9

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Vgl. z.B. die in Weber 1999 beschriebenen Fälle, etwa den der Margaretha Schirn aus Betzingen, der sich im Jahr 1657 zutrug. Das Mädchen lehnt sich gegen sämtliche religiösen Rituale auf: „Wenn man das Kind in die Kirch führt, kann es der Predigt nicht folgen; kein Wort bleibt ihm im Gedächtnis haften. Den Männern, die mit ihm beten, singen, die Bibel lesen und starke Worte äußern, will es die Haare ausraufen. ‚Sein Geist‘ verbietet ihm weiterzubeten.“ (Ebd., S. 313) Auch zu Rutenstreichen greifen die Geistlichen schließlich, um den Dämon zu vertreiben. (Ebd., S. 312) Es handelt sich also keineswegs, wie Mahlendorf 1997, S. 249 unterstellt, um eine aus der Art geschlagene Form der Pädagogik. Der Pfarrer ist kein Pädagoge, sondern ein Exorzist, auch wenn er sich möglicherweise dazu selbst ernannt hat.

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Schlagen mit Ruten und die religiöse Unterweisung – sind Bestandteile des Exorzismus.11 Was die religiöse Schulung des Mädchens betrifft, so besteht sie u.a. im Auswendiglernen von Psalmen. Doch auch hier ist der Teufel stärker als der Pfarrer. Denn zunächst verweigert Meret das Lernen, beginnt dann aber, vom Pfarrer in die „dunkle Speckkammer“ eingesperrt, „urplötzlich zu singen und jubiliren […] nicht anders wie die drey seligen Männer im Feuerofen.“ (S. 65) Dabei stellt sich heraus, dass sie „nämliche versificierte Psalmen gesungen, so sie sonst zu lernen refusirete, aber in so unnützlicher und weltlicher Weise, wie die thörichten und einfältigen Ammenund Kindslieder haben.“ (S. 65) Es ist daher ganz in der Tradition des Besessenheitsglaubens, dass der Pfarrer diese unglaubliche Gedächtnisleistung des Kindes ebenso wie die Travestie frommer Texte in weltliche Ammenlieder für „Schalkheit und Mißbrauch des Teufels“ (ebd.) hält. In der religiösen Vorstellungswelt wird Besessenheit erklärt durch die Annahme, ein Dämon oder der Teufel habe sich des Körpers des Opfers bemächtigt und rufe die blasphemischen Äußerungen und Handlungen, die oft obszönen und ungehörigen Gesten sowie die sonstigen Symptome der possessio hervor. Es handelt sich also nicht um eine mit natürlichen Mitteln erklärbare Krankheit, sondern um eine metaphysische Erscheinung, in der sich ein dämonisches Wesen des Körpers bemächtigt und diesen bewohnt. So wird der Leib zum Ort des Widerstandes gegen die religiöse und soziale Unterwerfung der Person. Darum sind aber Besessene nicht nur Opfer strenggläubiger Erzieher und Geistlicher, vielmehr erscheint die Besessenheit als eine in bestimmten historischen Phasen äußerst attraktive Form der Aneignung von Verhaltensweisen, die durch die soziale Ordnung ausgeschlossen und verdrängt werden sollen. Hierin ist die Besessenheit durchaus mit der Hysterie vergleichbar. Wie der Körper der Hysterikerin die sozialen Restriktionen und gesellschaftlichen Tabus aufgreift, um das Verbotene in pathologischer Form auszudrücken, so verfährt auch das besessene Kind. Hysterie und Besessenheit sind ‚dialogische‘ Phänomene, die auf den medizinischen bzw. religiösen Willen zum Wissen antworten und darin die gesellschaftlichen Erwartungen verhöhnen, dies allerdings in einer Form, die stets auf die Blicke der Beobachter bezogen bleibt. So sind etwa Merets blasphemische Handlungen immer als Antworten auf Aktionen des Pfarrers lesbar. Soll das Kind die Psalmen lernen, so verweigert es dies zunächst, singt sie dann aber doch in _____________ 11

Vgl. Weber 1999, S. 137f.: „Mit Ruten auf einen verhexten oder von Dämonen in Besitz genommenen Menschen einzuschlagen, um auf diese Weise die Geister abzuwehren oder auszutreiben, war eine verbreitete magische Praxis. Die bösen Mächte, die von einem Lebewesen Besitz ergriffen und es krank machten, sollten so hinausgejagt werden. Manche Pfarrer liebten es, ihren Exorzismen mit Rutenstreichen Nachdruck zu verleihen.“

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obszöner und unheimlicher Form; soll es sein Bußkleid anziehen, entkleidet es sich und verspottet dieses Bußhemd, indem es nackt um es herumtanzt. Diese Form der Erwiderung verschafft den Affekten, Gefühlen und Bedürfnissen, die der Pfarrer im Sinne einer religiösen Erziehung im Kind unterdrücken möchte, ihren Ausdruck. Die intendierte Gedächtnisbildung am unterworfenen Körper misslingt und so kommt es zur Konstitution eines Körpergedächtnisses, das als Gedächtnis des Fremden und Ausgeschlossenen gespenstische Doppelgänger der offiziellen Religion produziert und auf diese Weise zum Ort des Unheimlichen wird. Eine andere Erklärungsmöglichkeit für das abnorme Verhalten findet sich im Hexenglauben. Die Leute im Dorf halten das Kind für ein „Hexenkind“. Im Mittelpunkt dieser Volkssage steht die Vorstellung, es handele sich bei der Meret um eine Kinderhexe. Das Mädchen sei „ein außerordentlich feines und kluges Mädchen in dem Alter von sieben Jahren und dessen ungeachtet die allerärgste Hexe gewesen.“ (S. 64) Die Zaubereien dieser Kinderhexe bestehen v.a. in der Erweckung von Affekten und Trieben bei den Erwachsenen und Tieren. Besonders auf „erwachsene Mannspersonen“ habe sie es abgesehen und sie in sich verliebt gemacht. Doch ihre Verführungskraft erstreckt sich auch auf den geistlichen Bereich: Sie lockt Geflügel auf den Pfarrhof und verhext den Pfarrer, so dass er seine geistliche Zurückhaltung verliert und die Tiere fängt, brät und verspeist. Die Tauben als Symbole der Liebe und mythologische Venusattribute legen es nahe, in dieser Verhexung des Pfarrers eine verschlüsselte erotische Verführungskraft zu erkennen, die von dem Mädchen ausgeht; jedenfalls aber verleitet es ihn dazu, Gefallen am Genuss von Weltlichem zu finden und sich dadurch zu versündigen. Schließlich weitet sich die Macht der Meret sogar bis auf die Tierwelt aus: Selbst die „alten klugen Forellen“ verblendet sie, „daß sie bei ihm verweilten und in großer Eitelkeit vor ihm herumschwänzelten, sich in der Sonne spiegelnd“ (S. 64). Die hexenmythologische Erklärung spaltet Meret in einen Teil, der als fein, klug und außergewöhnlich schön beschrieben wird, und in einen Hexenanteil, der als böse und abnorm empfunden wird. Aus heutiger Sicht kann man die angeblich magischen Wirkungen der Kinderhexe deuten, indem man annimmt, es handele sich eigentlich um Triebregungen der Erwachsenenwelt, die diese abspaltet, als böse Regungen verdrängt und im Mädchen personifiziert. Der angebliche Hexenzauber wäre dann als der erotische Wunsch zu entschlüsseln, das Mädchen zu besitzen. Dies aber würde die soziale Ordnung gefährden. Der Tod des Mädchens könnte insofern als ein Opfer für die Gemeinschaft, als eine Bereinigung der Gefährdung verstanden werden, und das verbleibende ambivalente Bild, das neben dem Hexenhaften auch die Anmut und Liebenswürdigkeit des Kindes erinnert, stellte zu einem Teil eine späte Wiedergutmachung an

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dem Kind dar. Auch hier steht der Zusammenhang von Disziplin und Körpergedächtnis zur Diskussion, allerdings handelt es sich um eine gegenüber der Besessenheit verschobene Konfiguration. Der Körper der Besessenen widersetzt sich der Disziplinierung und Sozialisierung, indem er die Symbolwelt des Pfarrers auf unheimliche Weise nachäfft. Die Hexe dagegen ist das Objekt verbotener Wünsche und wird dadurch der Dorfgemeinschaft unheimlich. Die beiden bisher genannten Interpretationen des Geschehens werden schließlich noch durch eine dritte, nach heutigen Vorstellungen am ehesten rational erscheinende, ergänzt. Sie wird vom Arzt gegeben: „Die Consultation des herbeygeruffenen Medicus verlautet dahin, daß sie irr- oder blödsinnig werde und nunmehr der medicinischen Behandlung anheim zu stellen sey; er offerirte sich auch zu derselbigen und hat verheißen, das Kind wieder auf die Beine zu bringen, wenn es in seinem Hause placiret würde.“ (S. 68) Der Arzt erscheint als Vertreter einer anderen, bereits aufgeklärten Welt, auch wenn der Pfarrer ihm durchaus nicht nur redliche Motive unterstellt. So vermutet er, der Arzt habe es lediglich auf die gute Bezahlung durch die Eltern abgesehen (S. 68). In der Rivalität zwischen Arzt und Pfarrer spiegelt sich eine historische Entwicklung, in der zunehmend die Medizinisierung und die naturalistische Erklärungsart von abweichenden körperlich-geistigen Verhaltensweisen an die Stelle des theologischen übernatürlichen Denkens tritt. Am Ende, nach dem vermeintlichen Tod des Kindes, übernimmt der Pfarrer sogar vorübergehend die medizinische Erklärung, nimmt er doch nun von der „unglücklichen Krankhaftigkeit des verstorbenen Mägdleins“ an, „daß selbe in einer fatalen Disposition des Bluts und Gehirns ihren Ursprung haben.“ (S. 69) Die medizinische Erklärung steht in einem deutlichen Widerspruch zur Besessenheitstheorie, und man kann darüber spekulieren, ob der Pfarrer sich damit endgültig der Erklärung des Arztes anschließt oder nicht. Hexen- bzw. Besessenheitsglaube und medizinische Deutung sind nicht nur Ausdruck eines frühneuzeitlichen Willens zum Wissen, der das kranke Kind beobachtet und in der einen oder anderen Weise therapieren möchte, sondern es sind zuallererst Konstruktionen des abweichenden Körpers, die seiner Disziplinierung dienen. Das Kind entzieht sich diesen Versuchen aber bis zuletzt. Seine Leidenschaften, Gefühle, Affekte lassen sich nicht regulieren, sie äußern sich aber in physischen Reaktionen bzw. in Gesten und sprachlosen Akten, die es rechtfertigen, von einem Körpergedächtnis zu sprechen. Dieser Körper bleibt ein Rätsel, wozu auch das Verfahren des Erzählers beiträgt: Die Deutungen bleiben nebeneinander bestehen als ein historisches Archiv von Erklärungsmöglichkeiten, die miteinander um die Entzifferung und Beherrschung des Körpers konkurrieren.

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4. Wir haben gelernt, das Andere als einen Effekt zu lesen, der sich wie das Eigene erst durch einen Prozess der Differenzierung einstellt. Eigenes und Anderes erscheinen also als ‚gleichursprünglich‘. Die Grenze zwischen den opponierenden Termen ist nicht einfach gegeben, sondern muss immer neu gezogen werden, weil sie nur als imaginäre Grenze existiert. Der Umgang des Pfarrers und der Dorfbewohner mit dem Meretlein und die Ansichten des Arztes bringen ans Licht, was sich im Alltag auf unspektakuläre Weise ohnehin vollzieht: die Sicherung symbolischer Werte der Religion, der Sexualität, der Gemeinschaft, die nur durch den partiellen Ausschluss wie auch den partiellen Einschluss des Anderen, das die Stabilität der symbolischen Ordnung bedroht, gewährleistet wird. Wo diese Grenzbildung wie im Fall des Meretlein misslingt, entsteht eine Bedrohung dieser Ordnung, und zwar, weil hier ihr konstruktiver Charakter sichtbar wird. Ihre Selbstinterpretation als gottgegebene Norm erscheint plötzlich als kontingent. Meret jedoch eignet sich das spontane Leben, das aus ihr geprügelt werden soll, in der Natur wieder an. So flüchtet sie auf den „Buchberg“, wo sie gefunden wird, wie sie „entkleidet auf ihrem Bußhabit an der Sonne saß und sich baß wärmete.“ (S. 67) Die Natur erscheint als der lichte und friedliche Ort unvermittelter Triebbefriedigung, die sich keineswegs in hexenhaft-orgiastischer Weise vollzieht, sondern einen nahezu idyllischen Charakter besitzt: „Sie hatt’ ihr Haar ganz aufgeflochten und ein Kränzlein von Buchenlaub darauff gesetzet, so wie ein dito Scherpen um den Leib gehenkt, auch ein Quantum schöner Erdbeeren vor sich liegen gehabt, von denen sie ganz voll und rundlich gegessen war.“ (S. 67) Der Pfarrer, dem durchaus Sympathie und Mitleid mit dem Kind anzumerken sind, entwirft ein Bild der erotischen Unschuld, das zugleich Assoziationen an die heidnische Mythologie enthält (vgl. hierzu Berndt 1996). Das Bild des nackten, bekränzten Kindes auf dem Buchberg, besonders das Essen der Erdbeeren weist deutlich chthonische Züge auf, bringt die mythische Vorstellung der mütterlichen, nährenden Erde mit sich, zu der das Meretlein gehören möchte. Noch deutlicher wird dieser Bezug zur Erde bei der Flucht in die Bohnen. Hier empfängt das Kind die „Baurenkinder[], welche ihm Obst und andere Victualia zugeschleppet, so sie gar zierlich vergraben und in Vorrath gehalten hat.“ (S. 68) Deutlich erinnert dieses Bild an die antike Göttin Demeter und an kultische Handlungen, die in den Gaben der Kinder an die Meret weiterleben. Meret erscheint als Stifterin einer kindlichen Religion, die sich durch die Abwesenheit des väterlichen Verbots auszeichnet und darin mit der Gebetsverweigerung des kleinen Heinrich in Verbindung steht, die gleichfalls auf der

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Weigerung beruhte, den unmittelbaren Bezug zur Mutter und zur Nahrung dem symbolischen Gesetz zu opfern. Merets intensive Beziehung zur Erde wird schließlich auch bei ihrem Tod deutlich. Man findet sie in den Bohnen „für todt […] in einem Grüblein, so sie in den Erdboden hinein gewühlet, als ob sie hineinschlüpfen wollte.“ (S. 68) Meret sucht Zuflucht vor den Schrecken der Erwachsenenwelt, indem sie dieser einen Naturkult gegenüberstellt, in dem Nacktheit, Nahrungsaufnahme, Kontakt mit den Elementen als Utopien eines zwanglosen Umgangs mit den eigenen und fremden Wünschen und Bedürfnissen erscheinen. Anders als bei den Wasserfrauen romantischer Dichter ist die Fremdheit der Meret aber nicht das Produkt der Phantasie des männlichen Dichters, die sich von der als naturhaft konstruierten Weiblichkeit faszinieren lässt. Meret ist kein reines, unschuldiges Naturwesen, sondern ein Menschenkind, dessen Trieben und Affekten der Ausdruck in radikalster Weise verweigert wird, so dass ihr nur die Flucht in die Natur bleibt. Natur erhält also bei Keller eine kritische Funktion als Korrektiv der verfehlten Erziehung. Zugleich erscheint sie als ein ikonographischer Raum, in dem ein paganes Gedächtnis fortlebt. So sind die Schilderungen des Pfarrers von Erinnerungen an Vorstellungen durchdrungen, die von den Kirchen beseitigt oder vergessen wurden. Die vom Pfarrer erzählte Leidensgeschichte wird ihm so unter der Hand und gegen seine Intention zu einer häretischen Heiligenlegende, insofern das Meretlein die pagane Naturgottheit der Demeter imitiert, deren Märtyrerin sie wird. Allerdings aktualisiert das Kind nicht nur die heidnische Religion, sondern es steht auch in einem Bezug zur Bibel: Wenn sein Gesang in der Speckkammer den Pfarrer an den Gesang der „drey seligen Männer im Feuerofen“ (S. 65) (vgl. AT Daniel 3, 1–30) erinnert, dann handelt es sich zwar einerseits, wie bereits gezeigt, um die Blasphemie einer Besessenen, andererseits wird aber auch hier ein ursprünglich religiöser Sinn in einer Weise aktualisiert, die von der Orthodoxie vergessene religiöse Schichten wieder ins Gedächtnis ruft. Das Meretlein erscheint als Märtyrerin, die das Leiden der Männer im Feuerofen imitiert, und der Pfarrer rückt sich selbst durch seine Assoziation an diese Geschichte unbewusst in die Rolle des Verfolgers Nebukadnezar. Auf subtile Weise werden so die Positionen vertauscht, wird der Vertreter der offiziellen Religion als ihr größter Feind gekennzeichnet und die Verfolgte zu einer synkretistischen Heiligen. Während der Pfarrer sich vergeblich um die Heilung des Mädchens bemüht, geben die Eltern das Kind auf. Das Porträt, das sie von der Meret anfertigen lassen wollen, hat seinen Anlass im Entschluss der Mutter und des Stiefvaters, „das Geschöpf nicht mehr zu sich nemen“ zu wollen (S. 66). Damit wird sie aus der Familie verstoßen, und das Bild soll eine doppelte Funktion übernehmen: Einerseits bewahrt es durch seine Ähn-

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lichkeit die Erinnerung an das ausgestoßene Kind, andererseits wird das Porträt pragmatisiert zum Andachtsbild, durch dessen Kontemplation die Familie Buße tun und über die eigenen Sünden meditieren kann: „Was das Kind leidet, das leiden auch wir, und ist uns in seinem Leiden selbst Gelegenheit zur Buße gegeben, so wir für ihn’s tun können.“ (S. 67) Dieses Porträt lässt sich als eine Opferhandlung verstehen: Die Verstoßung des Kindes aus der Familie und seine Wiedereinführung als Bild hat die Funktion einer stellvertretenden Buße, eines Sündenbocks also, durch dessen Ausschluss aus der Gemeinschaft diese sich von ihren eigenen Sünden reinigt. Weil der Versuch scheitert, den Körper des Kindes in die symbolische Ordnung einzuführen, muss er mortifiziert werden, um die Ordnung zu retten. So vollzieht das Porträt einen Tausch, in dessen Verlauf das Kind symbolisch getötet und zugleich allegorisch zum Zeichen gemacht wird. Es ist die Intention des Porträts, das Körpergedächtnis durch das allegorische Bildgedächtnis auszulöschen. Die Attribute des Totenschädels und der weißen Rose, die das Mädchen als Requisiten in die Hand gedrückt bekommt, versinnbildlichen den Zusammenhang von Tod und Sünde (der Schädel verweist auf Adam, die Ursünde) und Erlösung (die weiße Rose als Symbol der Maria), der der Meret auf den Leib gezeichnet werden soll. Die Rose und der Schädel symbolisieren aber zugleich den Übergang des Körpers und der Natur in die Abstraktion der Zeichen. Als das Kind den Schädel halten soll, reagiert es deshalb mit panischer Ablehnung: Es will ihn „partout nicht nehmen“ und hat ihn „hernachmalen weinend und zitternd in der Hand gehalten, wie wenn es ein feurig Eisen wär.“ (S. 67) Das fertige Porträt lässt von diesem Widerstand nichts mehr spüren, der Körper des Kindes erscheint allegorisch restlos mortifiziert. Der Maler hüllt es in „blaßgrünen Damast“, der einerseits eine Beziehung zum grünen Heinrich herstellt, andererseits aber auch auf die Bohnen verweist, in denen sich das Kind gerne aufhält. Die Pflanzen sind ersetzt durch den kostbaren Stoff, der das Natürliche durchstreicht. Ihre „Füßchen“ sind verborgen unter dem Saum des Kleides, der „in einem weiten Kreise starrte“ und damit die Bewegung des Tanzes, die Lieblingsbewegung des Kindes, widerruft; die „goldene Kette“, die „[u]m den schlanken feinen Leib […] geschlungen“ war und vorne „bis auf den Boden herabhing“ bringt den Leib ebenso zum Verschwinden wie der „kronenartige[] Kopfputz aus flimmernden Gold- und Silberblättchen, von seidenen Schnüren und Perlen durchflochten.“ Stoffe, Metalle, Perlen und Schnüre drücken den Reichtum und die gesellschaftliche Stellung der Familie aus, zugleich ergeben sie eine christliche Allegorie über Sünde und Erlösung. Damit konstituiert die Bildsprache ein Gegengedächtnis gegen das Körpergedächtnis.

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Wird das Mädchen hier nur in effigie geopfert, so scheint ihr tatsächlicher Tod das Gelingen des Opfers zunächst zu bestätigen. Ihre plötzliche Wiederauferstehung allerdings verkehrt den Sinn des Opfers ins Gegenteil. Denn als man das für tot gehaltene Mädchen in die Grube senken will, erwacht es zum Leben und springt aus dem geöffneten Sarg hinaus. Sein unheimlicher Anblick – „in seinem gelblichen Brokat mit dem glitzrigen Krönlein“ sieht es aus „wie ein Feyen- oder Koboltskind“ (70) – jagt den Erwachsenen einen furchtbaren Schrecken ein. Die Leute laufen vor Entsetzen heim und verriegeln ihre Türen, aber die Kinder schließen sich dem Mädchen an: „Zu selbiger Zeit ist just die Schul aus gewesen und ist der Kinderhaufen auf die Gasse gekommen, und als das kleine Zeugs die Sache gesehen, hat man die Kinder nicht halten können, sondern ist eine große Schaar dem Leichlein nachgelaufen und hat es verfolget und hinterdrein ist noch der Schulmeister mit dem Bakel gesprungen.“ (70) Anlässlich der Auferstehung formiert sich also erneut jene merkwürdig heidnische Kultgemeinschaft der Kinder, die sich der Erwachsenenwelt widersetzt – der „Bakel“ des Schulmeisters bringt metonymisch den Zusammenhang der Disziplinierung noch einmal ins Spiel – und eine Gegenordnung etabliert. Nachdem das Kind auf dem Buchberg endgültig verstorben ist, lässt es sich daher in keiner Weise mehr den religiösen Sinnvorstellungen unterwerfen. Abergläubische Furcht hält die Eltern und den Pfarrer von ihrem Totenbett fern, schließlich wird es in aller Stille und ohne weitere Umstände beigesetzt. Das stärkste Symbol des Körpergedächtnisses in der Novelle ist die Wiederkehr des Leibes aus dem Grab, der sich durch seine letzte Flucht zum Buchberg sein Recht zurückholt: Noch im Sarg brennen die empfangenen sinnlichen Eindrücke – die Sonne auf dem nackten Bauch und die verzehrten Erdbeeren – so stark, dass der Körper das Grab verlässt und dort sterben möchte, wo er diese Eindrücke genossen hat. Dieses Gedächtnis ist mit den Methoden des Pfarrers und der Familie nicht auszulöschen – es bleibt auch über diesen letzten Tod hinaus wirksam und affiziert diejenigen, die die Erinnerung an das Kind bewahren und in Kontakt mit dieser Erinnerung kommen, mit einem eigentümlichen Zauber. Hier gewinnt der Begriff des Körpergedächtnisses noch eine zweite, für das Verständnis dieser Novelle wesentliche Bedeutung: Es ist der überlieferte Körper, der Körper/das Corpus der Dokumente, in denen das Mädchen weiterlebt und in die die mnemonische Energie des lebenden Kindes wie durch magische Berührung übergegangen ist. So benutzen die Dorfbewohner, die der Meret nachsagen, sie sei eine Hexe gewesen, sie zwar als „Schreckmännchen“ für die Kinder, „wenn sie nicht fromm waren“, aber unterhalb der postmortalen Pragmatisierung zu moralischem Nutzen schlummert noch jene Kraft, die zu Lebzeiten von dem Kind ausging: „Es

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war auch der Erinnerung des alten Dorfes unbewußt lieb und wert, und in den Erzählungen und Sagen von ihm war ebenso viel unwillkürliche Teilnahme als Abscheu zu bemerken.“ (S. 64) Dieses „Unbewusste“ und diese „unwillkürliche Teilnahme“ gelten dem, was sich der symbolischen Bedeutung entzieht und subsemantisch auf die Nachwelt wirkt. Auch Heinrich Lee empfindet eine vom Kinderporträt ausgehende Wirkung, die der allegorischen Aussageabsicht entgegengesetzt ist: „Ein schweres Leiden schien dem ganzen Gesichte etwas Frühreifes und Frauenhaftes zu verleihen und erregte in dem Beschauenden eine unwillkürliche Sehnsucht, das lebendige Kind zu sehen, ihm schmeicheln, und es küssen zu dürfen.“ (S. 64) In seinen Bedeutungen transportiert das Kinderporträt psychische Energie, Affekte und Emotionen durch die Zeit12 und löst beim Autor Heinrich Lee den Wunsch aus, „die Erinnerung an jenes Kind in meinen eigenen Erinnerungen auf[zu]bewahren, da sie sonst verloren gehen würde.“ (S. 65) Heinrichs Vorhaben, die stumme Energie der Überlieferung durch die Erinnerung an das Mädchen zu retten, steht dabei aber vor der Aufgabe, die Geschichte der Meret in den Zusammenhang der eigenen Jugend einzuordnen, ohne sie zugleich ihrer merkwürdigen Fremdheit zu berauben und den Einspruch des Kindes gegen die Ordnung der Zeichen nachträglich zu verraten. Mit anderen Worten, dem Anspruch der Meret, bleibenden Widerstand gegen die Aufhebung der Körper in Zeichen zu stiften, kann nur eine Dichtung gerecht werden, die die subsemantische Energie des Gedächtnisses nicht restlos in Bedeutungen auflöst. Andererseits soll die Novelle aber durchaus Erklärungskraft für Heinrichs Jugendgeschichte besitzen, sie soll sich keinesfalls im Evozieren irrationaler Vorstellungen erschöpfen. Es handelt sich also um eine doppelte Schwierigkeit, die Keller meisterhaft löst, indem er durch die beschriebene Perspektivierungstechnik der Novelle einerseits das Rätsel des Kindes potenziert, weil das Nebeneinander unterschiedlicher Deutungen eine eindeutige Erklärung außer Kraft setzt, andererseits aber der Anspruch auf Erklärbarkeit durchaus bestehen bleibt. Daher legt Keller zwar die sozialen und psychischen Mechanismen der Geschichte schonungslos offen, um jeder Mystifizierung des Körpergedächtnisses zu entgehen, bewahrt aber durch seinen suggestiven Stil und die subtilen Korrespondenzen, mit denen die Novelle durchzogen und durch die sie auch mit dem Romanganzen verbunden ist, die magische Kraft des Kindes, ohne es zu verraten. _____________ 12

Das Porträt stellt eine Pathosformel im Sinne Aby Warburgs dar: Der leidende und zugleich wilde Ausdruck des Kindes wird von den christlichen Bildformeln negiert, bleibt aber für den Betrachter spürbar und ist für die starke Wirkung des Bildes verantwortlich. Zum Begriff der ‚Pathosformel‘ vgl. Warburg 1992, S. 125–135.

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Literatur Berndt, Frauke: „‚Das Meretlein‘. Zur Ikonographie der Novelle in Gottfried Kellers ‚Der grüne Heinrich‘.“ In: Tausch, Harald (Hrsg.): Historismus und Moderne. Würzburg: Königshausen & Neumann 1996, S. 161–180. Dürr, Volker: „‚Nun sag, wie hast du’s mit der Religion?‘ Gottfried Keller’s Critique of Reformed Protestantism in Meretlein and Later Narratives.“ In: Colloquia Germanica 29 (1996), S. 115–140. Hörisch, Jochen: Brot und Wein. Die Poesie des Abendmahls. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1992. Jeziorkowski, Klaus: Literarität und Historismus. Beobachtungen zu ihrer Erscheinungsform im 19. Jahrhundert am Beispiel Gottfried Kellers. Heidelberg: Winter 1979. Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Erste Fassung. Hrsg. v. Sautermeister, Gert. München: Goldmann 1991. Lacan, Jacques: Écrits. Bd. 1. Paris: Éditions du Seuil 1966. Mahlendorf, Ursula: „The Crime of Punishment: The Psychology of Child Abuse and the Meretlein Incident in Gottfried Keller’s ,Der grüne Heinrich‘.“ In: The German Quarterly 70 (1997), S. 247–260. Menninghaus, Winfried: „Das Meretlein. Eine Novelle im Roman. Strukturen poetischer Reflexion.“ In: Ders.: Artistische Schrift. Studien zur Kompositionskunst Gottfried Kellers. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1982, S. 61–90. Meurer, Thomas: „‚Das Meretlein‘ – Anmerkungen zu einem vernachlässigten Problem in Gottfried Kellers ‚Grünem Heinrich‘.“ In: Wirkendes Wort 44 (1994), S. 40–46. Otto, Ernst: „Die Philosophie Ludwig Feuerbachs in Gottfried Kellers Roman ‚Der grüne Heinrich‘.“ In: Weimarer Beiträge 6 (1960), S. 76 bis 111. Sautermeister, Gert: „Nachwort.“ In: Keller 1991, S. 896–926. Warburg, Aby: „Dürer und die italienische Antike.“ In: Ders.: Ausgewählte Schriften und Würdigungen. Hrsg. v. Wuttke, Dieter. Baden-Baden: Koerner 1992, S. 125–135. Weber, Hartwig: Die besessenen Kinder. Teufelsglaube und Exorzismus in der Geschichte der Kindheit. Stuttgart: Thorbecke 1999.

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‚Gesteigerte Gesten‘ Pathos und Pathologie des Gedächtnisses bei Warburg und Freud Sigmund Freud’s explanation of the hysterical Erinnerungssymptom as well as Aby Warburg’s study of the Pathosformel in the history of art link the enigmatic workings of memory with the phenomenon of extreme bodily expression. A similar concept of memory reveals itself in their shifting metaphors: ranging from archaeology (and the surprising survival of highly affecting gestures), theatre (the rhetorical technique of activating memories with the help of imagines agentes and the performance of the hysterical body), symptomatology (vivid gestures as the metonymical or metaphorical substitution for an omitted or failed physical action or reaction) and mediality (the circulation of these images and emotions across biographical or historical periods). Freud and Warburg conceptualize memory as the effect of a physical activity, which relies not on the inscription of events on the passive material of the body, but points out the vivid somatic re-enactment of past experience.

Metaphern vom Körpergedächtnis fassen den Körper meist als Einschreibefläche. Zu dieser Vorstellung gehört das lang tradierte Bild von den Tafeln des Herzens ebenso wie Nietzsches Auffassung vom Körper als Ort des Schmerzes, durch den der Mensch, das vergessliche Tier, einzig lern- und erinnerungsfähig zu sein scheint: „Man brennt etwas ein, damit es im Gedächtnis bleibt: nur was nicht aufhört, weh zu tun, bleibt im Gedächtnis“ (Nietzsche 1993, S. 295). Sei es die internalisierte Schrift im Herzen, sei es eine nach Außen gekehrte Oberfläche, die von Wunden und Narben gezeichnet ist – immer bildet der Körper das Bild einer passiven Matrix, in die etwas geritzt, geprägt oder geschrieben wurde. Die sensible Materie der Physis scheint sich besonders als Metapher für die Materialqualität des Gedächtnisses zu eignen: weich oder hart, gemeißelt oder geritzt, verwischt oder brüchig. Ein solches Körpergedächtnis steht eher für die Kontinuität des Eingeprägten als für den diskontinuierlichen Erinnerungsakt, es setzt auf Speicherung und Latenz statt auf Aktivierung und Manifestation.1 Neben dieser gängigen Metaphorik wäre aber auch ein _____________ 1

Vgl. dazu ausführlich Assmann 1999, bes. S. 241–297. Assmann zeichnet „Körperschriften“ von der körperlichen Einprägung bis hin zur traumatischen Spur nach.

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Gedächtnis des Körpers denkbar, das sich aktualisiert, indem der Körper vergangene Erfahrungen ausagiert. Ein solches Körpergedächtnis hat Freud in seinen Studien über Hysterie skizziert. Die hysterischen Symptome bestimmt er als „Erinnerungssymbole“ (Freud 1999a, S. 146), da sich in ihnen dasjenige äußert, was nicht bewusst erinnert, aber auch nicht vergessen werden kann. Das Ziel der Hysterieanalyse besteht deshalb darin, den verborgenen „Zusammenhang zwischen der Leidensgeschichte und dem Leiden“ (ebd., S. 201), also zwischen zurückliegenden biographischen Erfahrungen und den aktuellen Symptomen zu finden. Weil die Hysterikerin aber stumm an der Vergangenheit leidet und nur ihren Körper in „gesteigerten Gesten“ (ebd., S. 152), sprechen lässt, sieht sich Freud in den Studien über Hysterie gezwungen, Ansätze zu einer Theorie des Körpergedächtnisses zu erarbeiten. Vergangenes, dies baut er zur Kernthese der Studien aus, artikuliert und aktualisiert sich im körperlichen Symptom. Auf der Kopplung von Gedächtnisfunktion und gesteigerter Ausdruckskraft des Körpers – diese Beobachtung bildet den Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen – beruht auch Warburgs Konzept der Pathosformel. Mit dem Begriff Pathosformel bezeichnet er stereotyp wiederholte Körperumrisszeichnungen in der bildenden Kunst, die sich von der Antike bis in die Moderne hinein verfolgen lassen. In Warburgs Worten zählen zu den Pathosformeln die „echt antiken Formen gesteigerten körperlichen oder seelischen Ausdrucks“ (Warburg 1998, S. 447). Die Übernahme und Weitergabe dieser antiken Bildformeln in der Neuzeit deutet Warburg als Akt der Mnemosyne, der Erinnerung. Im Folgenden soll Freuds und Warburgs Interesse an ‚gesteigerten Gesten‘ genauer untersucht werden. Dabei wird zu klären sein, auf welche Weise Freud wie Warburg Gestik und Gedächtnis, Ausdrucks- und Erinnerungstheorie verknüpfen und in welchem Verhältnis die an der ‚gesteigerten Geste‘ orientierten Gedächtnismodelle zu den Metaphern der Einprägung und Einschreibung stehen.

1. Pathosformel, Engramm und rhetorisches Gedächtnistheater Mit der Rede von der „archäologisch getreuen Pathosformel“ (Warburg 1998, S. 446), die sich zuerst in dem 1905 publizierten Aufsatz Dürer und die italienische Antike findet, begründet Warburg eine ikonologische Forschung, die dem ‚Nachleben‘ der Antike in der Neuzeit am Leitfaden der Körperdarstellung nachgeht. Die Synthese dieses Forschungsinteresses sollte der Bilderatlas Mnemosyne leisten, für den Warburg Fotographien von

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Bildern und Bildausschnitten sammelte und auf Tafeln zusammenstellte.2 Die Notizen und Vorarbeiten zum Mnemosyne-Atlas legen es nahe, die Tradierung der gesteigerten Ausdrucksformen als Mechanismus eines kollektiven oder sozialen Bildgedächtnisses zu deuten. Zwar stützt sich Warburgs früher Text zu Dürers antikisierenden Graphiken vom Tod des Orpheus keineswegs auf eine ausformulierte Gedächtnistheorie, der Text partizipiert aber an der Vorstellung von einem gleichsam im Unbewussten vergrabenen Bilderschatz, den die Renaissance wieder zu Tage fördert. So ist es sicher nicht ohne Bedeutung, daß Warburg in diesem Aufsatz eine Anekdote von der Ausgrabung der Laokoonplastik erzählt: […] und als 1488 eine kleine Nachbildung der Laokoongruppe bei nächtlichen Ausgrabungen in Rom gefunden wurde, da bewunderten die Entdecker, ohne vom mythologischen Inhalt Notiz zu nehmen, in heller künstlerischer Begeisterung den packenden Ausdruck der leidenden Gestalten und ‚gewisse wunderbare Gesten‘ (certi gesti mirabili); es war das Volkslatein der pathetischen Gebärdensprache, das man international und überall da mit dem Herzen verstand, wo es galt, mittelalterliche Ausdrucksfesseln zu sprengen. (Ebd., S. 449).

Die nächtliche Szenerie mit dem überraschenden Fund des Laokoon lässt die Ausgrabungsarbeit als Erinnerungsvorgang figurieren.3 Die Künstler der Renaissance erinnern sich an die Antike, indem sie die in der Antike geprägten Formen ans „Tageslicht“ (Warburg 2000, S. 3) bringen. Warburgs archäologische Anekdote beschränkt sich dabei nicht auf die archäologische Treue der Antikenrezeption, also auf die künstlerische Erinnerung an die Antike in der Renaissance. Die Archäologiemetapher erstreckt sich ebenso auf die kunst- und kulturwissenschaftliche Forschung. Mit den „‚Bildern zum Tode des Orpheus‘“ meint Warburg einen vorläufigen „Fundbericht über die ersten ausgegrabenen Stationen jener Etappenstraße“ geliefert zu haben, „auf der die wandernden antiken Superlative der Gebärdensprache von Athen über Rom, Mantua und Florenz nach Nürnberg kamen.“ (Ebd.) Er begreift die kulturhistorische Erfassung der Pathosformeln als das topographische Verzeichnen von Tradierungswegen. Vor diesem Hintergrund erweisen sich die Tafeln des MnemosyneAtlas’ als groß angelegte Ergänzung und Erweiterung dieses ersten Fundberichts im Dürer-Aufsatz. Den metaphorischen Kurzschluss zwischen Archäologie und Gedächtnisarbeit vollzieht auch Sigmund Freud. Die Psychoanalyse, so _____________ 2 3

Warburg 2000. Den Bilderatlas, an dem er von 1924 bis zu seinem Tod 1929 arbeitete, hat Warburg nicht abgeschlossen. Zum Verhältnis von, mit Walter Benjamin gesprochen, ‚Ausgraben und Erinnern‘ vgl. auch den Band zur Archäologie als Paradigma der Kulturwissenschaften. Ebeling/Altekamp 2004, darin Stellensammlungen zur Archäologiemetapher bei Freud (S. 36–43) sowie der Beitrag „Zur Archäologie von Aby Warburgs Bilderatlas Mnemosyne“ von Sigrid Weigel, S. 185–210.

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schreibt er in den Studien über Hysterie, sei ein „Verfahren der schichtweisen Ausräumung“, „welches wir gerne mit der Technik der Ausgrabung einer verschütteten Stadt zu vergleichen pflegen“ (Freud 1999a, S. 201). Bereits hier misst Freud seiner Archäologiemetapher den Status des Beliebten und eigentlich schon Altbekannten zu. Beliebt ist sie zu Recht, denn sie trifft auf das wesentliche Merkmal des Erinnerns in der psychoanalytischen Kur zu. Erinnern in der Psychoanalyse zielt nicht auf das momentan Vergessene, sondern auf das dauerhaft Verdrängte und dadurch mehrfach Überlagerte. Derart verschüttet sind jene unakzeptablen Triebregungen, die nicht befriedigt werden konnten, sondern abgewiesen werden mussten. Während das einfach Vergessene jederzeit willkürlich erinnerbar ist, lässt sich das Verdrängte und in der Verdrängung Entstellte erst mit Hilfe von behutsamen Grabungsarbeiten wieder zugänglich machen. Im Fall einer gleichsam archäologisch verfahrenden Analyse tritt bei Freud also das Problematische am Erinnerungsvorgang in den Blick. Ähnlich wie Freud die Psychoanalyse als archäologisches „Verfahren der schichtweisen Ausräumung“ zu bezeichnen pflegt, hält auch der Kunsthistoriker Warburg seine ikonologische Methode für ein Verfahren des Abtragens von Schichten: „wie denn überhaupt die Entschälung des griechischen Urbildes bei dieser kritischen Ikonologie ein fortwährendes Wegräumen unberechenbarer Schichten nicht verständlicher Zutaten verlangt“ (Warburg 1998, S. 467). Auch die Ikonologie hat ein mehrfach Umhülltes oder Verschüttetes, das unter Schichten und Überlagerungen unverständlich geworden ist, vorsichtig freizulegen. Warburgs Anekdote von der Ausgrabung der Antike in der Renaissance enthält aber mehr als nur den allgemeinen Verweis auf die Analogie von Gedächtniskunst, kunsthistorischer Gedächtnisarbeit und Archäologie. Die Künstler der Renaissance erinnern sich gerade an die ausdrucksstarke Körpersprache der antiken Plastik, die im Mittelalter verschüttet war. Die seit der Antike unverminderte Ausdruckskraft der ‚wunderbaren Gesten‘ treibt den Erinnerungsvorgang an. Warburg stellt in dem nacherzählten Bericht zwei Formen der Diskursivität gegeneinander. Die Entdecker, so Warburg, lassen den „mythologischen Inhalt“, also die dem Tod des Laokoon zugrunde liegende Erzählung, ganz außer Acht und interessieren sich nur für das „Volkslatein der pathetischen Gebärdensprache“ (ebd., S. 449). Hier wird eine über mythologisches Wissen zu erschließende Bilderzählung gegen eine allgemeinverständliche, am gelehrten Bildprogramm vorbeischießende Körpersprache ausgespielt. Anders als die mythologische Erzählung ist die gleichsam vulgärsprachliche Geste der unmittelbaren Anschauung zugänglich. Die ‚certi gesti mirabili‘ scheinen dabei so energiegeladen zu sein, dass sie der Renaissance auch helfen können, die „mittelalterlichen Ausdruckfesseln zu sprengen“ (ebd., S. 449).

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Diese Energie beziehen sie aus der affektiven Kraft des leidenden und den Betrachter durch dieses Leiden affizierenden Körpers. Die Pointe des Grabungsberichts besteht für Warburg also nicht darin, den umwegigen Grabungsprozess herauszustellen, sondern zielt darauf, ein Argument für die Faszination durch die unveränderte Ausdrucksstärke und Vitalität der körperlichen Leidensgeste zu liefern. Mag auch für den ikonologischen Forscher die Entschälung aus vielfacher Umhüllung ein komplizierter Vorgang bleiben – die ‚helle künstlerische Begeisterung‘ überspringt mühelos die Zeiten. Die Pathosformel ist, so formuliert Warburg, eigenartig „lebenskräftig“ (ebd., S. 446). Auf die seltsame Unversehrtheit der körperlichen Geste wird auch Freud in seinen Studien über Hysterie aufmerksam. Die Erinnerungen, die zum Auslöser hysterischer Phänomene taugen, sind solche, die sich „in wunderbarer Frische und mit voller Affektbetonung durch lange Zeit erhalten haben“ (Freud 1999a, S. 88). Sie sind „von erstaunlicher Intaktheit und sinnlicher Stärke“ (ebd., S. 89). Auch hier ist die affektive Energie unvermindert. Anders als Freud, der sich in seinen Überlegungen auf die individuelle Erinnerungstätigkeit konzentriert, fügt Warburg das beobachtete Nachleben, Überleben und die Lebenskräftigkeit der antiken Plastik in die Vorstellung von einem kollektiven Gedächtnis ein. Vor allem in den späten, noch unpublizierten Notizen zum Mnemosyne-Atlas ist viel von „mnemischem Material“, „kollektiver Mneme“ und „mnemischer Funktion“, am häufigsten aber lediglich von der „Mneme“ oder eben der „Mnemosyne“ die Rede. Angesichts der publizierten wie auch der unpublizierten Texte Warburgs lässt sich allerdings kaum von einer ausgearbeiteten Theorie des sozialen oder kollektiven Gedächtnisses sprechen. Vielmehr bedient sich Warburg des Begriffs im Sinne eines Vergleichs: Die suggestive Vorstellung von einer gleichsam kollektiven Erinnerungstätigkeit soll Merkmale der Antikenrezeption in der Neuzeit erklären, ohne selbst expliziert zu werden. Für diese Analogiebildung zieht Warburg Gedächtnistheorien des ausgehenden 19. Jahrhunderts heran. Der schon zu seiner Zeit höchst umstrittenen Theorie Richard Semons entnimmt Warburg den Begriff des ‚Engramms‘, der Einschreibung oder Einprägung in ein ‚mnemisches Material‘.4 So sei die „Region der orgiastischen Massenergriffenheit“ das „Prägewerk“, „das dem Gedächtnis die Ausdrucksformen des maximalen inneren Ergriffenseins soweit es sich gebärdensprachlich ausdrücken lässt, in solcher Intensität einhämmert, dass diese Engramme leidenschaftlicher _____________ 4

Richard Semon, ein Schüler Ernst Haeckels, wollte auf der Basis seiner Mnemetheorie das gesamte Evolutionsgeschehen erklären. Wenn der Vorgang der Evolution als Gedächtnisfunktion gedacht wird, so lässt sich die Frage nach der Vererbung erworbener Eigenschaften im Rahmen eines Gattungsgedächtnisses lösen. Zu Warburgs Übernahme des Terminus von Richard Semon vgl. Rieger 1998.

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Erfahrung als gedächtnisbewahrtes Erbgut überleben“ (Warburg 2000, S. 39). Warburg greift hier die antike Kultpraxis auf, um die rauschhafte Erfahrung als kollektive Reizsituation auszuweisen, die sich in fixierten Körperbildern niederschlägt. Für Warburgs Übernahme der MnemeTheorie scheint das bei Semon angelegte Modell einer Energieerhaltung besonders gut integrierbar gewesen zu sein. Der Reiz, so Semon, führt dem Organismus eine Energie zu, die in Form des Engramms gespeichert bleibt und unter erneuter Reizeinwirkung wieder freigesetzt wird. Diese Vorstellung von einer sich erhaltenden und reaktivierbaren Gedächtnisenergie möchte Warburg mit dem Konzept der Pathosformel verbinden. Bei dem Transfer des biologischen in ein kulturhistorisches Modell stellen sich jedoch Übertragungsprobleme. Wie lässt sich das gedächtnispsychologische Schema von Reizeinwirkung und Energiespeicherung mit der Produktion, Rezeption und Reproduktion von Bildformen zur Deckung bringen? Und wie lässt sich Semons Vererbungslehre in ein kunsthistorisches Modell integrieren? Denn wo genau soll sich die engrammatische Pathosformel eigentlich eingeschrieben haben? Semon definiert das „Engramm“ oder die „engraphische Spur“ als eine „beantwortete Reizerscheinung“, die „die Substanz des Organismus bleibend verändert und daher vererbt werden kann.5 In der Rede von der Pathosformel als einem Engramm fasst auch Warburg die in der Antike geprägte Bildform als Erinnerungsspur, die sich nicht auf ein Individuum beschränkt, sondern die über Generationen hinweg weitergegeben wird. Die Rede vom „Erbgut“ gehört dabei durchaus zu dem von Warburg in die Ästhetik importierten Vokabular. Auf den ersten Blick bleibt unklar, wie buchstäblich biologistisch Warburg seine Übertragung angelegt hat. Sind die antiken Bildprägungen wie archetypische Bilder tatsächlich im „Erbgut“ des ‚abendländischen Menschen‘ gespeichert? Gegen die Annahme eines derartigen „Rassengedächtnisses“6 finden sich in Warburgs Arbeiten klare Hinweise darauf, dass er die Wiederaufnahme von Bildformen als historisches und nicht als biologisches Phänomen auffasst; die biologischen Erklärungsmuster also für seine Zwecke umarbeitet, indem er sie lediglich als metaphorisches Modell nutzt. _____________ 5

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„In sehr vielen Fällen läßt sich nachweisen, daß die reizbare Substanz des Organismus […] nach Einwirkung und Wiederaufhören eines Reizes […] dauerhaft verändert ist. Ich bezeichne diese Wirkung der Reize als engraphische Wirkung, weil sie sich in die organische Substanz sozusagen eingräbt oder einschreibt. Die so bewirkte Veränderung der organischen Substanz bezeichne ich als das Engramm des betreffenden Reizes, und die Summe der Engramme, die ein Organismus besitzt, als seinen Engrammschatz.“ „Den Inbegriff der mnemischen Fähigkeiten eines Organismus bezeichne ich als seine Mneme.“ Semon 1911, S. 15. So Gombrichs These zu Warburgs Gedächtnismetaphorik, die er viel eher als Gedächtnistheorie auffasst. Gombrich 1981, S. 323.

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Zunächst rücken an die Stelle der Substanz der „lebendigen Materie“, in die der Reiz sich Semons Modell zufolge einschreibt, die bearbeiteten Materialien der bildenden Kunst. Die engrammatischen Pathosformeln sind nicht in einem ungreifbaren kollektiven Unbewussten, sondern in den realen Überresten der Antike aufzufinden. Die „gedächtnismässige Funktion“ übernehmen nämlich Bildprägungen im „starren Steinwerk der antiken Vorzeit“, die in Spätantike und früher Neuzeit „auf Architekturwerken (z.B. Triumphbogen, Theater) und Plastik (vom Sarkophag bis zur Münze)“ weitergegeben werden (Warburg 2000, S. 5). Dazu kommt, dass Warburg in seinen Deutungen auf der genauen Rekonstruktion von Einfluss- und Vermittlungswegen besteht. Die Gedächtnisfunktion kann und soll auf sichtbare, materielle Vermittlungsformen zurückgeführt werden. Bei seiner Übertragung der naturwissenschaftlichen Theorie auf die Kunst verlegt Warburg das Kollektivgedächtnis also in die Medien, mit deren Hilfe Bildformeln schließlich auch zirkulieren können. Die Münze, der flandrische Bildteppich, das zusammenrollbare Leinwandbild und die Druckgraphik sichern nicht nur die „Beweglichkeit“ sondern auch die „Reproduktion“ (ebd.) von Bildern. Die Bilder sind also nicht in das genetische Material, das ‚Erbgut‘, graviert, sondern stehen den nachfolgenden Generationen ganz konkret vor Augen. Indem Warburg Semons Rede vom Engrammschatz auf den überlieferten Bildbestand überträgt, verschiebt er den verborgenen, inneren Ort der Erinnerung hin zu den äußeren Medien des Gedächtnisses. Das Bildgedächtnis nach Warburg ist ein exteriorisiertes Gedächtnis. Dennoch fällt auf, dass es nicht irgendwelche Bilder sind, die sich in Stein geprägt erhalten haben, sondern dass vor allem die „Bildersprache der Gebärde“ zum „Nacherleben menschlicher Ergriffenheiten“ (ebd.) zwingt. Woher also rührt die Affinität der Gebärdensprache zum Gedächtnis, warum sind es ausgerechnet Darstellungen gestikulierender Körper, die unbeschadet die Zeiten überdauern? Und was leistet die Rede von der Erinnerung an die Antike für Warburgs Bilddeutungen? Ein exemplarischer Fall einer Bildlektüre sei kurz vorgestellt. Warburg hält 1912 einen Vortrag, in dem er sich der „Analyse des Erinnerungsvermögens an die heidnische Antike im Palazzo Schifanoja“ (Warburg 1998, S. 464) widmet. In diesem Vortrag dechiffriert Warburg das Bildprogramm eines Deckenfreskos, das bis dahin allen Interpretationsversuchen widerstanden hatte. Es gelingt ihm, die „komplizierte und phantastische Symbolik“ der Figuren „als Bestandteile nachlebende[r] astraler Vorstellungen der griechischen Götterwelt“ (ebd.) aufzuweisen. Seiner Hypothese zufolge laufen hier mit der ‚olympischen Götterlehre‘ und der ‚astralen Götterlehre‘ (ebd., S. 463) zwei gegenläufige Überlieferungsstränge zusammen. Darin zeigt sich das Nachleben der Antike in seiner inneren Ambivalenz von

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heller olympischer Götterwelt einerseits und dunklen „Schicksalshieroglyphen eines Orakelbuchs“ (ebd., S. 463) andererseits. Es ist Teil von Warburgs Strategie, Bild und Text zusammenzusehen. Die spektakuläre Lösung des Bilderrätsels leistet nun Warburgs eigenes Erinnerungsvermögen, mit dessen Hilfe er zur Lektüre eines arabischen astrologischen Manuals, des Abu Ma’schar, die richtigen Bilder assoziiert: Als ich vor vier Jahren den arabischen Text des Abu Ma’schar in der deutschen Übersetzung las […], fielen mir plötzlich die so oft und seit vielen Jahren vergeblich befragten Rätselfiguren von Ferrara ein, und siehe da: eine nach der anderen enthüllte sich als indischer Dekan des Abu Ma’schar. (Ebd., S. 468)

Das Erinnerungsvermögen des Forschers beruht hier auf der Möglichkeit, Text und Bild zu verbinden. Wie ihm plötzlich auffällt, steht der bislang rätselhafte „schwarze zornige beobachtende aufrechte Mann“ (ebd.) im Deckenfresko zu Schifanoia an der Stelle des Dekans des Widders. Mit dieser Assoziation hat Warburg eine mnemotechnische Korrelation von imago und locus geleistet. Wie Francis Yates in ihrem Buch zum Gedächtnistheater der Renaissance zeigt, sind gemäß des rhetorischen Traktates Ad Herennium für diese Zuordnung von Bildern zu Orten die wilden und bewegten Bilder, die imagines agentes, gut geeignet. Nur herausragende, auffällige Bilder, die besonders abstoßend, großartig, lächerlich oder furchterregend sind, bleiben im Gedächtnis.7 Das singuläre Bildelement, das Warburg den Schlüssel liefert, lässt sich durchaus zu den imagines agentes der rhetorischen Mnemotechnik zählen. Der Dekan des Widders wird laut Abu Ma’schar als „schwarzer Mann mit roten Augen“ dargestellt, und es ist ein „furchtbarer rotäugiger Mann“, an den sich Warburg plötzlich erinnert. Mit seiner korrekten Zuordnung eines Bildes zu einem Ort enthüllt sich Warburg die gesamte Anlage des Deckenfreskos. Die Figur des Dekans bildet den Schlüssel zum Bildprogramm, das Warburg nun Schicht für Schicht freilegen kann: „Über die unterste Schicht des griechischen Fixsternhimmels“ legt sich ein ägyptisches Schema, darauf „setzte sich die Schicht indischer mythologischer Umformung ab“, auf der „eine abermalige trübende Ablagerung stattgefunden hatte“ (Warburg 1998, S. 469). Warburgs Lektüre der Rätselfiguren bietet also den besten Beleg für die antike Einsicht, dass das wilde, bewegte und eindrückliche Bild im Ge_____________ 7

Yates 1966, S. 9ff. Ihr Buch The Art of Memory hat Francis Yates nicht nur am Warburg Institute in London geschrieben, sie hat es auch mit der Erinnerung an Gertrud Bing, der engen Mitarbeiterin Aby Warburgs, versehen: „Now that the book is at last ended, the memory of the late Gertrud Bing seems more poignantly present than ever. […] She felt that the problems of the mental images, of the grasp of reality through images […] were close to those which preoccupied Aby Warburg, whom I only knew through her.“ Yates 1966, S. xiv.

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dächtnis haften bleibt und als Anker für angehängte Erinnerungen dienen kann. Warum sich gerade in den extrem bewegten, ‚wilden‘ Elementen der Körpersprache Vergangenes erhält und immer wieder neu artikuliert – für diesen Umstand sucht auch Freud eine Erklärung. Und wie Warburg sieht sich Freud mit einer Rhetorik der Körpersprache konfrontiert, die zwischen Bild und Schrift schwankt: „Wir hatten oft die hysterische Symptomatologie mit einer Bilderschrift verglichen, die wir nach Entdeckung einiger bilingualer Fälle zu lesen verstünden. In diesem Alphabet bedeutet Erbrechen Ekel“ (Freud 1999a, S. 189).Wo also findet Freud den Schlüssel für das Alphabet der Hysterie?

2. Freuds attitudes passionnelles: Kränkung und hysterische Konversion Das jüngere Interesse an der Hysterie hat sich zumeist an der Künstlichkeit des Symptoms entzündet. Das Krankheitsbild der Hysterie, so hat Georges Didi-Hubermann an der Klinik des Jean-Martin Charcot gezeigt, wird erst durch einen an der bildenden Kunst geschulten Blick hervorgebracht und fixiert (vgl. Didi-Hubermann 1997 und Charcot/Richer 1987). Indem Charcot kranke Körper abbilden lässt, systematisiert er die verschiedenartigen Symptombildungen und formiert ein einheitliches Krankheitsbild. Dieses Krankheitsbild zehrt aber nicht allein von der klinischen Beobachtung, sondern speist sich aus Vorbildern, die von Darstellungen religiöser Ekstase und Bildern von Besessenen bis hin zu Folterszenen reichen. Diesen Bildern eifert die willige Patientin in ihren hysterischen Aufführungen nach. Im Kern – oder mit Elisabeth Bronfen gesprochen: im Nabel – der Hysterie scheint nichts als ihr proteisches, also ihr formenwandlerisches, mimisches und mimetisches Potential zu stehen (Bronfen 1998). Die Hysterie ist diejenige Krankheit, die alle anderen Krankheiten nachahmen kann.8 Auch wenn Charcots Ikonographie der Hysterie und Warburgs Synopse der abendländischen antikisierenden Körperdarstellung einem ähnlichen Prinzip der Sammlung und Systematisierung entspringen mögen9 – und auch wenn eine der attitudes passionnelles, der _____________ 8 9

Die Mimesis als produktives Gesetz der theatralischen Inszenierung gilt, so zeigt Renate Schlesier, auch noch für die Konzeption der analytischen Redekur bei Freud. Schlesier 1990, bes.S. 41ff. Sigrid Schade hat in der ins Auge fallenden Parallele zwischen Charcots Ikonologie der Hysterie und Warburgs Bilderatlas den „blinden Fleck“ der Warburgschen Arbeit an der Pathosformel gesehen. Die kunsthistorisch informierte Diagnostik der Psychiatrie Charcots interessiert sich schließlich, ähnlich wie Warburgs Ikonologie, für wiederkehrende Typenbildungen. Schade 1993.

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grand arc, der wahrscheinlich bekanntesten Warburgschen Pathosformel, der laufenden Frau oder rasenden Mänade, sehr ähnlich sieht – die Zielrichtung der Warburgschen Ikonologie scheint mir der Psychoanalyse Freuds dennoch weit enger verwandt zu sein als dem Projekt Charcots.10 Warburg formuliert in der Mnemosyne-Einleitung ein Ziel, das über die bloße Dokumentation von Bildmotiven hinausgeht. So will er „versuchen, durch eine tiefer eindringende Untersuchung den Sinn dieser gedächtnismässig aufbewahrten Ausdruckswerte als sinnvolle geistestechnische Funktion zu begreifen“ (Warburg 2000, S. 3). Auch Freud geht es in der Analyse um den ‚Sinn‘ der Symptome, wobei sich die Rede vom ‚Sinn‘ auf die Frage bezieht, welche Funktion die rätselhaften Symptome erfüllen (Freud 1999b, S. 408). Anders als Freud bleibt Charcot eine solche Erklärung für den psychophysischen Mechanismus des Anfalls schuldig: die hysterischen Erscheinungen sind für ihn sinnlos. Der Punkt, an dem sich die Studien über Hysterie von Charcots Praxis abwenden, markiert deshalb zugleich den theoretischen Einsatz der Psychoanalyse. Bei den Studien über Hysterie handelt es sich nicht um eine Bildersammlung, sondern um einen Novellenzyklus. Der stumme Anfall der Hysterikerin, der vor Charcots Augen immer wieder gleich ablief, wird für Freud zur individuellen Fallgeschichte, die er nacherzählt. Trotz der Vielfalt der Geschichten und der Eigenart der individuellen Symptombildungen sollen die von Breuer/Freud publizierten Berichte aber auf den allen gemeinsamen Ursprung der hysterischen Störung verweisen. Mit den Krankengeschichten tritt Freud den Beweis für die These an, dass die Sexualität als Gegenstand der Verdrängung die Hauptquelle in der Pathogenese der Hysterie darstellt. Dieses Leiden an der unbefriedigten Sexualität unterliegt einem Sprechverbot, so dass es sich nicht anders als im körperlichen Symptom äußern kann. Zur Analyse dieser körperlichen Symptome knüpft Freud zunächst noch an Charcots Systematisierung des hysterischen Anfalls an. Nach Charcot lassen sich vier Phasen des hysterischen Anfalls unterscheiden: die epileptoide Phase, die Phase der großen Bewegungen, die der attitudes passionnelles sowie das abschließende Delirium. Freud greift nun die dritte Phase, die attitudes passionnelles, heraus und deutet sie als lesbare ‚Ausdrucksbewegungen‘: „Die motorischen Phänomene des hysterischen Anfalls lassen sich zum Teil als allgemeine Reaktionsformen des die Erinnerung begleitenden Affektes“, und, noch interessanter, „als direkte Ausdrucksbewegungen dieser Erinnerung deuten“ (Freud 1999a, S. 95). Wenn sich Vergangenes in motorischen Bewegungen ‚ausdrückt‘, so sind _____________ 10

Eine Annäherung Warburgs an Freud macht Georges Didi-Hubermann plausibel, indem er Warburgs Interesse am bewegten Beiwerk als déplacement, also Verschiebung im Freudschen Sinne deutet. Zu seiner Kritik an Schade vgl. Didi-Hubermann 2002, S. 292f.

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die attitudes passionnelles keine arbiträren Zeichen, sondern als Reaktionsformen kausal mit den zurückliegenden Erfahrungen verbunden. Die körperlichen Gesten verknüpfen die Gegenwart mit der Vergangenheit. In ihnen machen sich tatsächlich überlebende Reste von affektiver Energie Luft. Statt das mimetische, pantomimische Potential der Hysterie hervorzuheben, durch das sich Charcots Theater der Hysterie auszeichnet, formuliert Freud die Vorstellung von der Geste als einem Affektventil. Durch sie wird der Körper auf unkontrollierbare Weise zum Austragungsort von Vergangenem. Im hysterischen Anfall erinnert sich der Körper nämlich unwillkürlich: „Der Anfall kommt dann spontan, wie […] die Erinnerungen zu kommen pflegen“ (ebd., S. 96). Der hysterische Anfall ist also ein Einfall, bei dem Verdrängtes auf dem Umweg über den Körper in das Alltagsbewusstsein einbricht. Erinnert – oder besser: entäußert – werden Reste und Bruchstücke vergangener Erlebnisse, die so genannten Reminiszenzen. Sie stammen aus Situationen, in denen etwas unbeantwortet blieb: „Wenn eine solche Reaktion durch Tat, Worte, in leichtesten Fällen durch Weinen nicht erfolgt, so behält die Erinnerung an den Vorfall zunächst die affektive Betonung“ (ebd., S. 87). Bei den Reminiszenzen handelt es sich um Eindrücke, die auch in der Folge unbearbeitet und unerledigt blieben und sich dadurch erstaunlich frisch und gut erhalten könnten. Das hysterische Symptom gehorcht dem Gesetz der psychischen Energieerhaltung, demzufolge seelische Energien nicht verloren gehen, sondern ins Register des Somatischen übersetzt werden. Für den Vorgang einer solchen Umwandlung von Psychischem in Physisches prägt Freud den Begriff des „Konversionssymptoms“, der „die Umsetzung psychischer Erregung in körperliche Dauersymptome“ (ebd., 142) bezeichnet. Freuds Semiotik des Konversionssymptoms folgt dabei der Logik rhetorischer Tropen. Zunächst beobachtet er, dass das körperliche Symptom eine verbale Aussage substituiert. Nur diejenigen Vorfälle, auf die diskursiv nicht reagiert wurde, können nicht vergessen werden: gerade das „schweigend erduldete Leiden“ erzeugt eine „Kränkung“ (ebd., S. 87.). In seinen Symptomen spricht der Körper an der Stelle des Subjekts. Die hysterischen Symptome setzen eine Körperrhetorik in Szene, deren Deutung auf einen Übersetzungsschlüssel angewiesen ist. Dazu unterteilt Freud die Konversionssymptome in drei große Gruppen. Zu unterscheiden sind erstens scheinbar sinnlose motorische Symptome wie unkontrolliertes Zucken, Schnalzen oder andere Tics, zweitens phantomartig auftretender Schmerz, Überempfindlichkeiten oder Anästhesien, und drittens Bewegungserscheinungen, in denen Freud den gesteigerten „Ausdruck von Gemütsbewegungen“ (ebd., S. 146.) erkennt.

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Die Symptome der ersten Gruppe ließen sich als Phänomene der Verschiebung beschreiben. Bei „Frau Emmy von N.s“ Tic des Zungenschnalzens etwa handelt es sich um kleines Detail, in dem sich die Erinnerung an eine ganze Szene verbirgt. Es ist auf die Pflege ihres kranken Kindes zurückzuführen, bei der die Mutter jedes störende Geräusch unterdrücken will. Als es ihr doch unterläuft, ist das Entsetzen über ein Geräusch, das man eigentlich nicht hätte produzieren dürfen, so groß, dass es „dies Geräusch selbst als leibliches Erinnerungssymptom der ganzen Szene fixiert“ (ebd., S. 148). Das seither abgelöst davon auftretende Zungenschnalzen funktioniert nach dem Gesetz des pars pro toto, in dem das Ganze der Szene auf eins ihrer Teile verschoben wurde. Der Körper reproduziert zufällige Regungen, die mit einer für die Patientin sehr erschütternden Szene parallel liefen. Derartige motorische Elemente, die durch bloße Kontiguität mit einer belastenden biographischen Situation assoziiert sind, verselbständigen sich in der Folge und äußern sich spontan. Ist dies als metonymischer Mechanismus zu beschreiben, in dem ein Ganzes auf ein Anhängsel oder einen zufälligen Begleitumstand verschoben wird, so kennt Freud auch ein Verfahren der Symbolisierung. „Fräulein Elisabeth v. R.“ liefert die besten Belege für die zweite Gruppe der Schmerzsymptome. Fräulein Elisabeth verfügt über einen sprechenden Körper, denn, so erinnert sich Freud, es „fingen die schmerzhaften Beine an bei unseren Analysen immer ‚mitzusprechen‘.“ Wenn bestimmte, mit schmerzhaften Erinnerungen verbundene Themen angesprochen werden, tritt ein physischer Schmerz auf, wird aber „die Beichte“ fortgesetzt, so wird „der Schmerz weggesprochen“ (ebd., S. 212). Die besondere Art des körperlichen Schmerzes deutet Freud nun symbolisch. Die schmerzenden Beine stehen für das ‚Alleinstehen‘ und das ‚nicht von der Stelle kommen‘, das die Patientin als schmerzhaft empfunden habe. So habe sie „einen symbolischen Ausdruck für ihre schmerzlich betonten Gedanken gesucht“. Diese „Symbolisierung somatischer Symptome“ (ebd., S. 217) produziert körperliche Erscheinungen, die an keine einzelne kränkende Episode erinnern, sondern das Wesen der Kränkung zusammenfassen und metaphorisch verdichten. Das Beispiel vom schmerzhaften ‚Alleinstehen‘ zeigt darüber hinaus, dass sich die hysterische Konversion auf verblasste Metaphern in der Sprache beziehen kann. Der Körper hat hier eine bekannte Redensart wörtlich genommen und die bildliche Übertragung wieder buchstäblich gemacht. Die von Freud in der dritten Gruppe abgelegten ‚gesteigerten Gesten‘ beerben die attitudes passionnelles im engen Sinne, in denen Charcot das Zentrum des hysterischen Anfalls sah. Für sie findet Freud allerdings keine rhetorische Erzeugungsregel. Auf der Suche nach einer Erklärung für die auffälligen „Bewegungsstörungen“ wird er schließlich bei Charles

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Darwin fündig. Mit ausdrücklichem Verweis auf Darwin bezeichnet er sie als „Ausdruck von Gemütsbewegungen“ (ebd., S. 146). Damit bezieht er sich auf Darwins 1872 auf Deutsch erschienenes Buch Der Ausdruck der Gemüthsbewegungen beim Menschen und den Thieren. Darwin konstruiert hier eine Geschichte des Gemütsausdrucks, die vom Tier zum Menschen verläuft. Sein Unternehmen zielt nicht auf die „Classifikation“, sondern auf die „Genealogie“ des menschlichen Körperausdrucks, also nicht auf bloße Typenbildung, sondern auf die Herleitung von Ursprüngen und Ursachen (Darwin 1874, S. 359). Auf der Basis einer detaillierten und umfangreichen Beschreibung des Verhaltensrepertoires von Tieren, vorzugsweise seiner Hauskatze, sucht er Ähnlichkeiten zur menschlichen Gebärdensprache. Diese Analogien sollen die These belegen, dass stereotype Formen von Mimik und Gestik innerhalb zweckgerichteter Handlungen entstanden seien, die sich im Verlauf der Entwicklung vom Tier zum Menschen vom direkten Handlungsbezug abgelöst hätten. Jede Geste ist laut Darwin also die schwache Kopie einer Handlung, die in der jeweiligen Lage ausgeführt werden würde. Im begleitenden Bildmaterial stützt Darwin seine These vor allem mit Abbildungen von Kindern und Geisteskranken. Die von diesen produzierte hemmungslose Mimik dürfte für Freud besonders interessant gewesen sein, da auch der Hysterikerin „ein lebhafterer und ungehemmterer Ausdruck der Gemütsbewegung“ zu eigen ist, als es, ihre „Erziehung“ und „Rasse“ in Rechnung gestellt, sonst ihre Art wäre (Freud 1999a, S. 148). Mit Darwin im Rücken ist es für Freud in den Studien über Hysterie denn auch möglich zu behaupten, es sei allgemeiner Charakter der Symptome, dass sie in Situationen entstanden waren, welche einen Impuls zu einer Handlung enthielten, der aber dann nicht ausgeführt, sondern infolge anderer Motive unterdrückt worden waren. An Stelle dieser unterbliebenen Aktionen waren eben die Symptome aufgetreten […]. (Freud 1999b, S. 408)

Das Symptom, so resümiert Freud, ersetzt eine Handlung. Als eine solche Ersatzbildung repräsentiert es diese Handlung. Die Stellvertretung des Konversionssymptoms erinnert aber streng genommen keine einmal vollzogene Handlung, sondern markiert gerade ihren Ausfall. Die Ausdrucksbewegungen der attitudes passionnelles versuchen, diese nicht stattgefundenen Ereignisse immer wieder auszuagieren; sie bleiben dabei aber im Ansatz, in der bloßen Geste, stecken. Hier kommt wiederum die Vorstellung von einer Energieerhaltung im psychophysischen System zum Tragen. Freud betrachtet die Natur von krankmachenden Erfahrungen so, als ob eine gewisse Summe von Erregungen nicht nach Außen in Handlung umgesetzt werden konnte und deshalb in körperliche Symptome umgewandelt werden musste.

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Darwins Theorie vom Ausdruck der Gemütsbewegungen informiert Freuds psychoanalytische Überlegungen zum Konversionssymptom in entscheidender Weise. Mit Darwin kann Freud die Transformation von einer Handlung in eine Geste denken, da Darwins Theorie von der evolutionsbedingten Depotenzierung der Gebärdensprache unterstellt, dass jede Geste eine potentielle Handlung, man könnte sagen, ein potentielles Narrativ enthält. Für Freud erzählt der Körper die Geschichten, die er (nicht) erlebt hat. Diese Geschichten erzählt Freud als Analytiker nach, und es ist diese „innige Beziehung zwischen Leidensgeschichte und Krankheitssymptomen“ dafür verantwortlich zu machen, dass Freuds Krankengeschichten, wie er zuletzt selbst feststellen muss, „wie Novellen zu lesen sind“ (Freud 1999a, S. 227). Die „Konversion der psychischen Erregung ins Motorische“ (ebd., S. 151) produziert also nicht nur Metaphern und Metonymien, indem sie vom Seelischen ins Somatische springt, sondern verkürzt auch Handlungen zu ausdrucksstarken, bedeutungsvollen Gesten. Der Körper der Hysterikerin äußert sich in Leidenskürzeln – das Konversionssymptom komprimiert unterdrücktes Handeln zur gestischen Andeutung einer Handlung. An Darwins These von der Geste als Andeutung, die einen ursprünglichen Handlungsimpuls unterdrückt und ersetzt, knüpft auch Warburg mit seiner Vorstellung von der Pathosformel an.

3. Warburgs Pathosformel: Affektökonomie und ‚energetische Inversion‘ Wie Freud in der Analyse der Hysterie, so ist Warburg in seinen Analysen der bildenden Kunst der Frührenaissance mit einer zwar nur sporadisch auftretenden, dabei aber extrem affektgeladenen und pathetischen Gebärdensprache konfrontiert, die im geordneten Interieur einen eigenartigen Fremdkörper bildet.11 So bricht in Ghirlandaios Fresko von der Geburt des Johannes am rechten Bildrand eine fruchtkorbtragende Dienerin in den gepflegten Innenraum ein, deren Schrittmotiv antiken Darstellungen dionysischer Mänaden nachgebildet ist.12 Die aus der Antike übernommene formelhafte Bewegungsdarstellung setzt sich bis in den Faltenwurf des wehenden Gewandes und des Schleiers fort; in Details am Detail also, auf die Warburg schon in seiner Dissertation zum ‚bewegten Beiwerk‘ in Bot_____________ 11 12

Nach Freud sind die hysterischen Symptome insofern „Fremdkörper“, als sie „in ein scheinbar völlig normales Bewußtsein hereinragen“. Freud 1999a, S. 142. Zum Motiv der laufenden Frau bei Freud und Warburg vgl. Huber 1993 und noch einmal kürzer Weigel 2003, bes. S. 101.

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ticellis Geburt der Venus aufmerksam geworden war. Das Interesse der Renaissance an diesen ‚gesteigerten Gesten‘ deutet Warburg im Aufsatz zu Dürers Tod des Orpheus als „Symptom eines innerlich bedingten stilgeschichtlichen Prozesses“.13 In einem Arbeitsjournal notiert er schon 1889 die an Freud erinnernde Arbeitshypothese, das Aufgreifen antiker Vorbilder verweise auf die „unbefriedigten Wünsche der Zeit“ (zitiert nach Gombrich 1981, S. 68). Allerdings bezieht Warburg diese Wünsche auf den kulturellen Horizont der Zeit. Die Renaissance vollzieht mit ihrem Rückgriff auf die antike Bewegungsdarstellung eine energische Wendung gegen die Kunst des Mittelalters, in der Pathos, Affekt und körperliche Kinetik unterdrückt worden waren. Warburg denkt die Dynamik von Unterdrückung und Befriedigung also kollektiv, statt sie auf die psychische Ökonomie einer einzelnen Künstlerpersönlichkeit zu beschränken. So ist die Pathosformel von kulturdiagnostischem Interesse: Im „packenden Ausdruck der leidenden Gestalten“, von dem sich die Renaissance so begeistert zeigt, deutet sich eine versteckte Pathologie der gesamten Neuzeit an, der Warburg durch das Aufdecken einer „pathetischen Strömung“ in der Antikerezeption auf die Spur zu kommen versucht (Warburg 1998, S. 445). Diese pathetische Strömung paraphrasiert Warburg auch als die dionysische, die dunkle und verdeckte Seite der Antikenüberlieferung. Die Antike verfügt laut Warburg, ganz im Sinne Nietzsches, über ein doppeltes Antlitz. Zum Dionysischen zählt er, dies resümiert die Einleitung zum Mnemosyne-Atlas, die „ungehemmte Entfesslung körperlicher Ausdrucksbewegung, wie sie besonders in Klein-Asien im Gefolge der Rauschgötter sich vollzog“. Diese hemmungslose, rauschhafte Bewegungsdynamik „umfängt die ganze Skala kinetischer Lebensäußerung“ „von hilfloser Versunkenheit bis zum mörderischen Taumel und alle mimischen Aktionen dazwischen“ (Warburg 2000, S. 3). Die Varianz der Pathosformeln richtet sich also nach der Bandbreite körperlicher ‚Aktionen‘. Für Warburg entsteht die Gebärdensprache zudem auf der Basis konkreter Verhaltensformen. Die Pathosformeln umfassen, so formuliert er in der Mnemosyne-Einleitung, „die verschiedensten Formen menschlicher Bewegungsdynamik“, also das „Kämpfen, Gehen, Laufen, Tanzen, Greifen“ (ebd., S. 4). Die Rede von einer Bewegungsdynamik ist hier noch vor jeder seelischen Bewegung lediglich auf den Bewegungsbestand des Körpers bezogen. Hier deutet sich die These von der Geburt der Gebärde aus der Kinesis an, die der vertrauten Vorstellung von einer Geste als übersetztem Affekt zuwiderläuft. _____________ 13

Warburg 1998, S. 449. Zum Symptombegriff der Psychoanalyse und Warburgs Symbolbegriff vgl. auch Zumbusch 2004, S. 71–88.

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Wenn Warburg die Gesten in der bildenden Kunst als verkürzte, stillgestellte Bewegungen und nicht als chiffrenhafte Kürzel für Emotionen denkt, so tut er dies im expliziten Rekurs auf Charles Darwin. Bereits in den 1890er Jahren, etwa zeitgleich also mit Freuds Publikation der Studien über Hysterie, rezipiert Warburg Charles Darwins evolutionsbiologische Herleitung des physiognomischen Ausdrucks.14 Allerdings folgt Warburgs Interesse an Darwins Theorie des Gemütsausdrucks anderen Fragen als dasjenige Freuds. Darwins These von der Geste als rudimentärer Handlung enthält nämlich ein Moment der Affektmodulierung, die auf die Abschwächung der ursprünglichen Reaktionsbildungen setzt. Dies bezieht Warburg auf die Geschichte der Gebärden in der bildenden Kunst der Antike, die in der Neuzeit nicht nur reaktiviert, sondern vor allem abgearbeitet werden. Warburg erzählt die Geschichte des pathetischen Ausdrucks als Geschichte einer Depotenzierung des Pathos. Warburgs „illustrierte psychologische Geschichte“ richtet sich auf den „Entdämonisierungsprozeß“ (ebd., S. 3) der dionysischen Antike in der Neuzeit. Nach Warburg sind nämlich Form und Bedeutung in der vermeintlich so direkten und unmittelbaren ‚Ausdrucksgebärde‘ problemlos voneinander abzulösen. Für diesen Vorgang der Bedeutungsveränderung prägt er den Begriff der ‚energetischen Inversion‘ und bezeichnet damit eine Bewegung, die der Freudschen ‚Konversion‘ geradezu entgegengesetzt ist. Unter ‚energetischer Inversion‘ versteht Warburg nämlich eine in der Kunst betriebene Bedeutungsumwandlung, die zwar den antiken Formumriss übernimmt, den Inhalt jedoch kontextgebunden umdreht. Auch die florentinische Ninfa, die laufende Frau mit dem ‚hysterisch‘ zurückgeworfenen Kopf, unterliegt einer solchen inhaltlichen Umkehrung. Wenn nämlich „die tanzende Salome der Bibel wie eine griechische Mänade auftritt, oder wenn eine fruchtkorbtragende Dienerin Ghirlandajos im Stil einer ganz bewusst nachgeahmten Victorie eines römischen Triumphbogens herbeieilt“ (ebd.), dann erhält das antike Vorbild durch die veränderte Funktion auch eine neue Bedeutung. Die produktive Anverwandlung verkehrt die ursprünglich mit diesem verbundene Bedeutung sogar bis in ihr Gegenteil, wenn „zum Beispiel der Tod des Pentheus bei Donatello das Gegenteil die Heilung des Knaben formiert“ (Warburg 2001, S. 159). Durch eine Rekontextualisierung antiker Bildformen in der christlichen Historienmalerei wird das „heillose pagane“ (Warburg 2000, S. 4). Bildmaterial einer heilsgeschichtlichen Neudeutung unterzogen und so Schmerz _____________ 14

Welche Bedeutung Darwins Schrift Über den Ausdruck der Gemütsbewegungen bei dem Menschen und den Tieren für die Entwicklung seiner Gedanken hatte, zeigt die emphatische Tagebuchnotiz Warburgs anlässlich seiner ersten Lektüre: „Endlich ein Buch, das mir hilft.“ Zitiert nach Gombrich 1981, S. 99.

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in Erlösung, Mord in Caritas umgedeutet. Während die hysterische Konversion Symptome und Pathologien erzeugt, ist Warburgs energetische Inversion ein Phänomen des Abarbeitens durch Umdeutung, einer Austreibung des Pathos durch Bedeutungsveränderung bis hin zur Bedeutungsumkehrung. Die Kunst der Neuzeit erscheint als therapeutische Intervention in den pathologischen Bildbestand der Pathosgesten. Warburg betont also, ganz anders als Freud, weniger die Hemmungslosigkeit der Mimik als vielmehr die Hemmung der Handlung in der Gebärde. Interessant für den Vergleich mit Freuds Konzept der Konversion ist es dabei, dass auch für Warburg die inhaltliche Umdeutung die Intensität des Ausdrucks keineswegs mindert. Die energetische Inversion kappt nämlich nicht den Energiebetrag, sondern lenkt ihn lediglich in eine andere Richtung. Damit enthält die Theorie der Pathosformel einen Energieerhaltungssatz, der auch in Freuds Fassung der Konversion zum Tragen kommt. Je nachdem, wie der historische Ausschnitt gewählt wird, lässt sich Warburgs Geschichte der abendländischen Affektmodulierung dabei auch als Geschichte der punktuellen Affektsteigerung lesen. Im Blick auf den Übergang zwischen Spätmittelalter und Frührenaissance fällt Warburg gerade nicht das Phänomen einer Abschwächung, sondern das einer Steigerung ins Auge. Über das Mittelalter hinwegspringend greifen die Künstler der Renaissance auf antike Bewegungsformen zurück, um sich aus den statischen Darstellungskonventionen des Mittelalters zu lösen. Die Renaissance wechselt den Formtypus, um die Ausdrucksstärke ihrer Bildsprache zu steigern. Die Rede von der Gebärdensprache nimmt Warburg dabei ernst genug, um eine linguistische Theorie der Steigerung als Modell für die ‚gesteigerten Gesten‘ heranzuziehen. In der Mnemosyne-Einleitung zitiert Warburg den Linguisten Osthoff, dessen Schrift zum Phänomen des Wortstammwechsels beim Komparativ er schon 1905 rezipiert hatte. Der Wortstammwechsel bei der Steigerung bestimmter Adjektive bewirke nun keineswegs eine semantische Veränderung, sondern eine „Intensifikation“ (ebd., S. 3) des Ausdrucks. In diesem Sinne sucht auch die Renaissance mit ihrem an die Antike anknüpfenden Formenwechsel die Bildaussage zu intensivieren. Die an Darwin geschulte Rede von den ‚gesteigerten Gesten‘ ist hier also „mutatis mutandis“ (ebd.) grammatisch gefasst. Die schon im Dürer-Aufsatz von 1905 gebrauchte Metapher der ‚Superlative der Gebärdensprache‘ erhält hier eine gleichsam wissenschaftliche Fassung. Freuds Konversionssymptome, die attitudes passionnelles, und Warburgs der energetischen Inversion unterliegende Pathosformel weisen also wichtige Parallelen auf. Zunächst sind beide Begriffe um die Vorstellung vom gesteigerten Ausdruck zentriert. Der leidenschaftliche Ausdruck reizt dabei den Doppelsinn von Leidenschaft und Erleiden aus, denn die patho-

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logischen Gesten brechen sich dort Bahn, wo sich verdrängte ‚unbefriedigte Wünsche‘ und Leidenschaften nicht anders artikulieren konnten. Die gesteigerten Gesten sind insofern symptomatisch, als sie einzelne, aus dem normalen Verhalten herausfallende Bewegungen bezeichnen und damit als Indizien – sei es für individualpathologische, sei es für kollektive, stilgeschichtliche Prozesse – gelesen werden können. Den Charakter der Abweichung kann die im statischen Interieur befremdlich anmutende laufende Dienerin ebenso annehmen wie die Hysterikerin, die im Salon ein ihrer Erziehung und Rasse nach zu urteilen befremdliches Verhalten zeigt. Befremdlich ist das Maximum an Ausdruck und Affekt, durch das sich Pathosformel und attitudes passionnelles auszeichnen. Zur Betonung der Intensität und der extremitas der Bewegungen kommt das Motiv der Lebhaftigkeit und des Lebendigen, das sich mit dem Gedächtnismotiv verbindet. Die kränkenden Erfahrungen der Hysterikerin haben sich in voller Intaktheit erhalten, und nur aufgrund der erstaunlichen Vitalität der ‚lebenskräftigen‘ Gesten kann es zu dem Nachleben der Antike in der Neuzeit kommen, dem Warburg seinen Mnemosyne-Atlas gewidmet hat. In den attitudes passionnelles wie auch in den Pathosformeln materialisiert sich demnach die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Antike bricht in die Neuzeit ein, längst Vergangenes reicht ins Alltagsleben der Patientin, Pathologisches ragt in Normales. Dieses Ineinander, Durcheinander und Nebeneinander von Vergangenheit, die sich überraschend im Gegenwärtigen aktualisiert, ist ein wichtiges Kennzeichen des Körpergedächtnisses bei Warburg und bei Freud. Der Sprunghaftigkeit des Körpergedächtnisses begegnen beide mit integrativen Formen der linearen Anordnung. Freud erzählt novellistische Krankengeschichten, die individuelle Varianten der immer gleichen Erzählung vom verdrängten und entstellt wiederkehrenden Begehren liefern. Warburg montiert Bilderfolgen, mit denen er die Geschichte von der im Mittelalter verlorenen und in der Renaissance wiederhergestellten antiken Bewegungsfreiheit des Körpers erzählt. Auch das Verhältnis eines solchen auf den Körper bezogenen Gedächtnisses zu den traditionellen Metaphern der Einschreibung ist bei Freud und Warburg ein Ähnliches. Zwar partizipiert Warburgs Metapher vom Engramm und der engraphischen Spur an einem Modell der Einschreibung. Dieses Schriftmodell setzt den Körper aber nicht an die Stelle einer Matrix, sondern fasst ihn in seiner komprimierenden Verkürzung als superlativisches Wortbild. Die pathetischen Bildformeln sind in ihrer energetischen Gespanntheit einerseits allgemein verständlich und unmittelbar ergreifend, dem kritischen Ikonologen erscheinen sie andererseits als Hieroglyphen, die aus den jeweiligen Kontexten vorsichtig zu erschließen sind. Auch für Freud ist der gestisch bewegte Körper keine Fläche, auf der sich Spuren abzeichnen, sondern

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eine rhetorische Figur, durch die sich etwas Erlebtes oder Vergangenes äußert. In seiner Rekonstruktion der individuellen Krankengeschichten liefert Freud den rhetorischen Schlüssel der pathologischen Körpersprache: seine Studien buchstabieren das ‚Alphabet‘ der Hysterie. Damit lassen sich in Freuds frühen Studien über Hysterie und in Warburgs Arbeit an der engrammatischen Pathosformel verwandte Fassungen des Körpergedächtnisses freilegen – verwandt darin, dass die den Körper nicht als Blatt, sondern als Buchstaben auf diesem Blatt lesbar machen möchten.

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Zu den Autorinnen und Autoren STEFANIE AREND, Dr. phil., Wissenschaftliche Assistentin am Lehrstuhl für Neuere deutsche Literaturwissenschaft der Universität ErlangenNürnberg. Arbeitsschwerpunkte: Literatur und Kultur der Frühen Neuzeit und der Klassischen Moderne. Veröffentlichungen u.a.: Rastlose Weltgestaltung. Senecaische Kulturkritik in den Tragödien Gryphius’ und Lohensteins (Tübingen 2003); (Mitarb.) Gedächtnislehren und Gedächtniskünste in Antike und Frühmittelalter (Tübingen 2003); „Vor allem werde ich nicht zugeben, daß die Seele imstande sei zu vergessen...“ Tertullians Kritik an Platon in ‚De anima‘. In: Günter Butzer/Manuela Günter (Hg.): Kulturelles Vergessen (Göttingen 2004); (Mithg.) Irmgard Keun 1905–2005. Deutungen und Dokumente (Bielefeld 2005); (Mithg.) lustige Texte – witzige Körper: Zur Anthropologie und des Medialität des Komischen im 17. Jahrhundert (Amsterdam 2007 [im Druck]). BETTINA BANNASCH, Dr. phil. habil., Wissenschaftliche Oberassistentin an der Universität Erlangen-Nürnberg. Arbeitsschwerpunkte: Text-BildBeziehungen in der Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts; Literatur des 20. Jahrhunderts und der Gegenwart; deutsch-jüdische Literatur; Kinderund Jugendliteratur; Gender-Theorie; Narratologie. Veröffentlichungen u.a.: (Mithg.) Erinnern und Erzählen. Der Spanische Bürgerkrieg in der deutschen und spanischen Erzählliteratur und in den Bildmedien (Tübingen 2005); Gemüthsbeäugung hertzlicher Verstopffungen. Emblematik im Kontext pietistischer Einbildungskonzeptionen. In: Udo Sträter (Hg.): Interdisziplinäre Pietismusforschungen (Tübingen 2005); 1774. ‚Das Elementarwerk‘ Johann Bernhard Basedows. Der ‚Orbis Pictus‘ der Moderne. In: Roland Borgards/Almuth Hammer/ Christiane Holm (Hg.): Kalender kleiner Innovationen (Würzburg 2006); Zwischen Jakobsleiter und Eselsbrücke. Das ‚bildende Bild‘ im Emblem- und Kinderbilderbuch des 17. und 18. Jahrhunderts (Göttingen 2007 [im Druck]). ARND BEISE, Dr. phil. habil., Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Marburg und Lehrbeauftragter an der Universität Karlsruhe (TH); Erster Vorsitzender der Internationalen Peter-Weiss-Gesellschaft. Arbeitsschwerpunkte: Politische Dramatik von der frühen Neuzeit bis zur Gegenwart; Text-Bild-Beziehungen; Geschichte und Literatur; Georg Büchner; Peter Weiss; Heiner Müller. Veröffentlichungen u.a.: Marats Tod 1793–1993 (St. Ingbert 2000); Peter Weiss (Stuttgart 2002); (Mithg.) LachArten (Bielefeld 2003); (Mitverf.) Georg Büchner, Leonce und Lena (Stuttgart 2005); Geschichte, Politik und das Volk im Drama der Frühen Neuzeit (Habilitationsschrift, Marburg 2007); Editionen, Aufsätze und Rezensionen zur Literatur- und Kulturgeschichte vom 16. bis 21. Jahrhundert.

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Autorinnen und Autoren

GÜNTER BUTZER, Dr. phil. habil., Professor für Vergleichende Literaturwissenschaft/Europäische Literaturen an der Universität Augsburg. Arbeitsschwerpunkte: Kulturelles Erinnern und Vergessen; Kanonisierung und Massenkommunikation; literarische Selbstgespräche; literaturwissenschaftliche Symbolforschung. Veröffentlichungen u.a.: Das Gedächtnis des epischen Textes. In: Euphorion 89 (1995); Fehlende Trauer. Verfahren epischen Erinnerns in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur (München 1998); (Mithg.) Kulturelles Vergessen: Medien – Rituale – Orte (Göttingen 2004); Gedächtnismetaphorik. In: Astrid Erll/Ansgar Nünning (Hg.): Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft (Berlin/New York 2005); Soliloquium. Theorie und Geschichte des Selbstgesprächs in der europäischen Literatur (München 2007 [im Druck]). MANUELA GÜNTER, Dr. phil. habil., Akademische Rätin am Institut für Deutsche Sprache und Literatur der Universität zu Köln. Arbeitsschwerpunkte: Gender/Cultural Studies; Autobiographieforschung; HolocaustLiteratur; Literaturzeitschriften des 19. und frühen 20. Jahrhunderts; Realismus; Literatur von Frauen des 18. bis 20. Jahrhunderts. Veröffentlichungen u.a.: Anatomie des Anti-Subjekts. Zur Subversion autobiographischen Schreibens bei Siegfried Kracauer, Walter Benjamin und Carl Einstein (Würzburg 1996); (Hg.) Überleben Schreiben. Zur Autobiographik der Shoah (Würzburg 2002); (Mithg.) Kulturelles Vergessen: Medien – Rituale – Orte (Göttingen 2004); Im Vorhof der Kunst. Mediengeschichten der Literatur im 19. Jahrhundert (Habilitationsschrift, Köln 2006); Aufsätze zu Kafka, zur deutsch-türkischen Gegenwartsliteratur u.a. CHRISTIANE HOLM, Dr. phil., Wissenschaftliche Mitarbeiterin am SFB ‚Erinnerungskulturen‘ der Universität Gießen. Arbeitsschwerpunkte: Literatur, bildende Kunst und Alltagskultur des 18. bis 20. Jahrhunderts; Intermedialität; Erinnerungskonzeptionen; Geschlechtertheorien. Veröffentlichungen u.a.: Sentimental Cuts. Eighteenth-Century Mourning Jewelry with Hair. In: Eighteenth Century Studies 2 (2004); (Mithg.) Erinnern und Erzählen. Der Spanische Bürgerkrieg in der deutschen und spanischen Literatur und in den Bildmedien (Tübingen 2005); Andenken, Überbleibsel und Souvenir. Zur Genese einer modernen Erinnerungsfigur und ihrer Transformation im Holocaust-Gedenken. In: Ulrike Dittrich/Sigrid Jacobeit (Hg.): KZ-Souvenirs (Potsdam 2005); (Mitverf.) Phänomenologie des Intimen. Die Neuformulierung des Andenkens seit der Empfindsamkeit. In: Der Souvenir (Köln 2006); Amor und Psyche. Die Erfindung eines Mythos in Kunst, Wissenschaft und Alltagskultur (1765-1840) (München/Berlin 2006).

Autorinnen und Autoren

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THOMAS KLINKERT, Dr. phil. habil., Professor für Romanistische Literaturwissenschaft an der Universität Mannheim. Arbeitsschwerpunkte: Marcel Proust und seine Nachwirkung; französische und italienische Erzählliteratur des 20. Jh.; Schreiben und Tod / Bewahren und Löschen; Literatur – Intertextualität – Gedächtnis; Schreiben nach Auschwitz; Europäische Romantik; Moderne Lyrik (Baudelaire, Rimbaud, Celan); Literaturtheorie und Methodik der Textanalyse; Literatur und Wissenschaft (18.-20. Jh.); Dante Alighieri; Liebessemantik des 16. Jh. Veröffentlichungen u.a.: Bewahren und Löschen. Zur Proust-Rezeption bei Samuel Beckett, Claude Simon und Thomas Bernhard (Tübingen 1996); Einführung in die französische Literaturwissenschaft (Berlin 2000); Literarische Selbstreflexion im Medium der Liebe. Studien zur Liebessemantik bei Rousseau und in der europäischen Romantik (Hölderlin, Foscolo, Madame de Staël und Leopardi) (Freiburg 2002); (Mithg.) Zentrum und Peripherie. Pirandello zwischen Sizilien, Italien und Europa (Berlin 2006). STEFFEN SCHNEIDER, Dr. phil., Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Romanischen Seminar der Universität Tübingen. Arbeitsschwerpunkte: Rezeption antiker Mythen in der Frühen Neuzeit und Moderne; Wissenschaftsgeschichte und Literatur. Veröffentlichungen u.a.: Schillers poetologische Reflexion der Natur im Horizont der Renaissancebukolik. In: Georg Braungart/Bernhard Greiner (Hg.): Schillers Natur. Leben, Denken und literarisches Schaffen (Hamburg 2005); Archivpoetik. Die Funktion des Wissens in Goethes ‚Faust II‘ (Tübingen 2005); (Mitverf.) Zerstörung des Selbst, Erwartung des Anderen. Opferfiguren in den imaginären Orientreisen ‚Der Sandmann‘ von Bodo Kirchhoff und ‚1979‘ von Christian Kracht. In: Rüdiger Görner/Nima Mina (Hg.): Wenn die Rosenhimmel tanzen. Orientalische Motivik in der deutschsprachigen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts (München 2006); Das Populäre ist nirgendwo. Massenkultur, Wunscherfüllung und ästhetische Reflexion in Michel Houellebecqs ‚Plateforme‘. In: Christian Huck/ Carsten Zorn (Hg.): Das Populäre der Gesellschaft. Systemtheorie und Populärkultur (Wiesbaden 2007 [im Druck]); Eros und Imagination in Ariostos ‚Orlando furioso‘. In: Maria Moog-Grünewald (Hg.): Eros. Zur Immanentisierung eines neuplatonischen Philosophems (Heidelberg 2007 [im Druck]). BARBARA THUMS, Dr. phil. habil., Akademische Rätin an der Universität Tübingen. Arbeitsschwerpunkte: Literaturgeschichte und Ästhetik vom 18. bis 20. Jahrhundert; Literaturtheorie; Ethik und Ästhetik; Anthropologie und Literatur; Klassizismus und Romantik; Kultur- und Wissensgeschichte der Literatur; Mythos- und Gedächtnistheorien; Literarische Mystik der Moderne. Veröffentlichungen: „Den Ankünften nicht glauben wahr sind die Abschiede“. Mythos, Gedächtnis und Mystik in der Prosa Ilse Aichingers (Frei-

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Autorinnen und Autoren

burg i.Br. 2000); Zur Topographie der memoria in frühneuzeitlicher Mystik: Catharina Regina von Greiffenbergs ,Geistliche Gedächtnisorte‘. In: Gerhard Kurz (Hg.): Meditation und Erinnerung in der Frühen Neuzeit (Göttingen 2000); (Mithg.) Ästhetische Erfindung der Moderne? Perspektiven und Modelle 1750-1850 (Würzburg 2003); Auf der Suche nach einem neuen asketischen Ideal: Nietzsches existentielle Experimente am Leitfaden des Leibes. In: Cornelia Blasberg/FranzJosef Deiters (Hg.): Denken/Schreiben (in) der Krise – Existentialismus und Literatur (St. Ingbert 2004); Aufmerksamkeit und Diätetik. Ästhetisierungen von Wahrnehmung und Selbstbegründung im 18. und 19. Jahrhundert (München 2007 [im Druck]). FRANZISKA UHLIG, Dr. phil., Kunstwissenschaftlerin und Mitglied der Künstlergruppe Adapter; Mitarbeiterin von „Ausgebürgert. Künstler aus der DDR. 1949-1989“ und „Theatrum naturae et artis. Die wissenschaftlichen Sammlungen der Humboldt-Universität“; derzeit Gastprofessorin an der Hochschule für Kunst und Design in Halle. Arbeitsschwerpunkte: Produktionsästhetische Fragestellungen (Farbe, Linie); Kulturgeschichte der Hand des Künstlers; Bildende Kunst des 19. bis 21. Jh. Veröffentlichungen u.a.: Hand, die zeichnet. In: Friedrich Weltzien/Amrei Volkmann (Hg.): Modelle künstlerischer Produktion (Berlin 2003); Konditioniertes Sehen. Über Farbpaletten, Fischskelette und falsches Fälschen (München 2006); Ready made Farbe. Vom Mond aus betrachtet. In: Bildwelten des Wissens. Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik, Band 4,1; Techniken des Überzeichnens. Kandinskys Punkt, Linie und Fisch in der Landkarte der Abstraktion. In: Claudia Blümle/Armin Schäfer (Hg): Struktur, Figur, Kontur. Abstraktion in Kunst und Lebenswissenschaften (Zürich/Berlin 2007). CHRISTIAN WEHR, Dr. phil. habil., Professor für Romanische Philologie an der Universität Eichstätt-Ingolstadt. Arbeitsschwerpunkte: Literatur und Kultur des spanischen Barock; Geschichte des lateinamerikanischen Romans; Literatur und Psychoanalyse. Veröffentlichungen u.a.: Imaginierte Wirklichkeiten. Untersuchungen zum ‚récit fantastique‘ von Nodier bis Maupassant (Tübingen 1996); Originalität und Reproduktion. Zur Paradoxierung hermeneutischer und ästhetizistischer Textmodelle in Jorge Luis Borges’ ‚Pierre Menard, Autor del Quijote‘. In: Romanistisches Jahrbuch 51 (2000); Mythisches Erzählen und historische Erfahrung. Strategien der Geschichtsbewältigung in Gabriel García Márquez’ ‚Cien años de soledad‘. In: Romanistisches Jahrbuch 54 (2003); Allegorie – Groteske – Legende. Stationen des Diktatorenromans. In: Romanische Forschungen 117 (2005); Geistliche Meditation und poetische Imagination. Studien zu Ignacio de Loyola und Francisco de Quevedo (München 2007).

Autorinnen und Autoren

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STEPHANIE WODIANKA, Dr. phil., Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Romanistik der Universität Gießen (SFB ‚Erinnerungskulturen‘). Arbeitsschwerpunkte: Meditative Literatur der Frühen Neuzeit (Frankreich, Deutschland, England); Mythostheorie und Gedächtnisforschung; derzeit Arbeit am Habilitationsprojekt „Wem gehört das Mittelalter? Binnenstrukturen einer Erinnerungskonjunktur zwischen Mythos und Geschichte (Matière de Bretagne/Jeanne d’Arc von 1945 bis zur Gegenwart)“. Veröffentlichungen u.a.: Betrachtungen des Todes. Formen und Funktionen der meditatio mortis in der europäischen Literatur des 17. Jahrhunderts (Tübingen 2004); (Mithg.) Nationale Mythen und kollektive Symbole. Funktionen, Konstruktionen und Medien der Erinnerung (Göttingen 2005); Mythos und Erinnerung. Mythentheoretische Modelle und ihre gedächtnistheoretischen Implikationen. In: Günter Oesterle (Hg.): Erinnerung, Gedächtnis, Wissen (Göttingen 2005); (Mithg.) Mythosaktualisierungen. Tradierungs- und Generierungspotentiale einer alten Erinnerungsform (Berlin/New York 2006). CORNELIA ZUMBUSCH, Dr. phil., Wissenschaftliche Assistentin am Institut für deutsche Philologie der Universität München. Arbeitsschwerpunkte: Kulturtheorie des frühen 20. Jahrhunderts; Literatur und Ästhetik um 1800. Veröffentlichungen u.a.: Das Unbewußte des Kollektivs und seine Physis. Zum Bild des kulturellen Körpers in Walter Benjamins Passagen-Werk. In: Sylvia Sasse/Stefanie Wenner (Hg.): Kollektivkörper (Bielefeld 2002); Wissenschaft in Bildern. Symbol und dialektisches Bild in Aby Warburgs Mnemosyne-Atlas und Walter Benjamins Passagen-Werk (Berlin 2004). (Mithg.) Utopische Körper. Visionen künftiger Körper in Geschichte, Kunst und Gesellschaft (München 2004); Der Mnemosyne-Atlas: Warburgs symbolische Wissenschaft. In: Frauke Berndt/Christoph Brecht (Hg.): Aktualität des Symbols (Freiburg i.Brsg. 2005); Der Raum der Seele. Topographien des Unbewußten in Joseph von Eichendorffs ‚Eine Meerfahrt‘. In: Inka Mülder-Bach/Gerhard Neumann (Hg.): Räume der Romantik (Freiburg i.Brsg. 2007 [im Druck]).

Personenregister Addison, Joseph 51, 58 Adelung, Johann Christoph 206 Adorno, Theodor W. 1 Albertus Magnus 75ff. Aldobrandi, Tegghiaio 93 Altekamp, Stefan 271 Andersen, Hans Christian 103 Arellano, Ignacio 160 Aristoteles 11, 35, 36, 72, 73, 75, 115,147 Arnim, Achim von 211 Assmann, Aleida 12, 17f., 43, 269 Assmann, Jan 208 Auerbach, Erich 84ff. Augustinus, Aurelius 5, 20, 29f., 36ff., 40, 78, 146 Bachtin, Michail 100ff. Bacon, Francis 185ff. Baldwin, Birgit 221 Barthes, Roland 143, 148, 152, 244 Bartholinus, Thomas 136 Bartolomeo da San Concordio 76 Basedow, Johann Bernhard 179f. Baudelaire, Charles 114 Bauer, Sandra 208 Baumeister, Willi 185ff. Beda Venerabilis 54 Benjamin, Walter 14, 109, 158, 161f., 206, 213, 222, 271 Benthien, Claudia 2, 124 Bergson, Henri 4, 196, 206, 222 Berns, Jörg Jochen 33, 73, 177 Binet, Alfred 210 Birken, Sigmund von 58 Blecua, José Manuel 160 Blumenberg, Hans 115 Boccaccio, Giovanni 71 Böhme, Gernot 2 Böhme, Hartmut 2, 205, 209, 218f.

Böhme, Jakob 161f. Böhn, Andreas 103 Bollnow, Otto Friedrich 180 Böning, Thomas 223 Bosse, Abraham 9 Botticelli, Sandro 282 Bramante, Donato 152 Brandstetter, Gabriele 229, 240 Breithaupt, Fritz 231 Breuer, Josef 5, 278 Brinckmann, Justus 188, 197ff. Bronfen, Elisabeth 277 Brosses, Charles de 209ff., 217 Bryson, Norman 187f. Buck, August 71 Bülow, Frieda von 109 Bunos, Johannes 173, 177 Burkhardt, Jacob 151 Burton, Robert 61f., 127 Camerarius, Joachim 172 Campe, Rüdiger 9f. Canetti, Elias 99 Carruthers, Mary 59, 137 Casmannus, Otho 127f. Cassiodor 49f. Charcot, Jean-Martin 277ff. Chodowiecki, Daniel Nicolaus 180 Cicero, Marcus Tullius 30, 34, 73ff., 148 Clastres, Pierre 12 Clauren, Heinrich 103 Columbus, Realdus 123, 126, 135 Comenius (Komenský), Johann Amos 173, 178ff. Comte, Isidore Marie Auguste François Xavier 211 Corti, Maria 76ff. Cramer, Daniel 171 Crane, Walter 194f.

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Personenregister

Dante Alighieri 5, 71ff. Darwin, Charles 280ff. Davidis, Henriette 102, 106 De Poli, Luigi 76, 78ff., 94 Deleuze, Gilles 145, 151 Della Vigna, Pier 87 Deneken, Friedrich 197 Derrida, Jacques 162 Dibbets, Jan 196 Didi-Huberman, Georges 237, 277f. Diers, Michael 238 Dilherr, Johann Michael 174f. Donatello (Donato di Niccolò di Betto Bardi) 284 Donne, John 133 Dörrlamm, Brigitte 115 Du Moulin, Pierre 127 Duden, Anne 18, 20f. Dürer, Albrecht 271, 283

Gesenius, Justus 175 Ghirlandaio, Domenico 282, 284 Giotto di Bondone 76 Giovanni di San Gimignano 76 Gleim, Johann Wilhelm Ludwig 213 Glozer, Lazlo 196 Gmelin, Hermann 80 Gody, Dom Simplicien 129, 131f. Goethe, Johann Wolfgang von 6, 179f., 205ff., 227ff. Gombrich, Ernst 274 Gòngora, Luis de 5 Gracián, Baltasar 19 Graevenitz, Gerhart von 116 Greiffenberg, Catharina Regina von 43, 55ff., 128f. Gryphius, Andreas 125 Guerra, Guido 93 Güntert, Georges 82

Ebeling, Knut 271 Eco, Umberto 170 Elias, Norbert 1, 99, 149 Emrich, Wilhelm 221 Erasmus von Rotterdam 43, 52, 56 Escher, Maurits Cornelis 110 Esposito, Elena 63, 112, 116

Haeckel, Ernst 273 Haeften, Benedict van 172 Halbwachs, Maurice 200 Harms, Wolfgang 178 Hausmann, Frank-Rutger 83 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 19, 235ff., 243 Heine, Heinrich 104 Heinsius, Daniel 57 Henke, Heinrich Philipp Conrad 31 Heraklit von Ephesos 160 Herder, Johann Gottfried 223 Hippokrates 3 Hobbes, Thomas 9 Hofmann, Gert 21 Holtzwart, Matthias 170 Horatius Flaccus, Quintus 46f. Horkheimer, Max 1 Horn, Eva 235 Hübner, Joachim 178f. Huysmans, Joris-Karl 43, 62

Feuerbach, Ludwig 253 Ficino, Marsilio 62 Fiedler, Konrad 196f. Fischart, Johann 170, 174 Flachsland, Caroline 223 Flusser, Vilém 63 Föcking, Marc 148 Ford, Henry 16 Fortunatianus, Chirius 30 Foucault, Michel 1, 3, 10, 15f., 72, 84, 149 Freud, Sigmund 5f., 10,15, 18, 20, 99, 113f., 210f., 269ff. Friedrich, Hugo 83, 152 Fuß, Peter 101 Galenus, Claudius 11, 29f., 36, 40 Gehlen, Arnold 18 Gensler, Martin 199f.

Ignatius von Loyola 16, 125, 141ff. Immermann, Karl Leberecht 103, 106 Jakobson, Roman 154, 156f. Jankes, Otto 101

Personenregister

Jean Paul (Johann Paul Friedrich Richter) 216 Jeziorkowski, Klaus 257 Kamper, Dietmar 1f. Kandinsky, Wassily 195 Kant, Immanuel 58f. Kayser, Wolfgang 100 Kelber, Werner 107 Keller, Gottfried 6, 251ff. Kerner, Justinus 116 Kiesewetter, Johann Gottfried Carl Christian 59 Kittler, Friedrich A. 157 Klee, Paul 185ff. Klemm, David 198f. Kohl, Karl-Heinz 209, 212 Koschorke, Albrecht 223 Kotzinger, Susi 110 Kounellis, Jannis 187f. Kuon, Peter 104 Küpper, Joachim 72, 84 Lacan, Jacques 161, 255 Lachmann, Renate 101 Langen, August 231 Lausberg, Heinrich 147 Leclaire, Serge 162 Lehmann, Thomas 232 Lenz, Jakob Michael Reinhold 15 Liebrand, Claudia 107 Lippe, Rudolf zur 2 Llorach, Alarcos 156 Lorenzetti, Ambrogio 76 Lotman, Jurij 156, 159 Lucretius Carus, Titus 11 Ludolf, Hieronymus 44, 57 Luhmann, Niklas 112 Luther, Martin 44, 60 Lyotard, Jean-François 20 Ma’schar, Abu 276 Mahlendorf, Ursula 255, 259 Marx, Karl 210 May, Karl 109 McLuhan, Marshall 62 Meiners, Christoph 210f., 217

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Meisner, Daniel 175f. Menninghaus, Winfried 252 Merck, Johann Heinrich 223 Mercuri, Roberto 71 Meurer, Thomas 257 Michelangelo Buonarrotti 152 Montaigne, Michel de 51, 56 Moore, John 134 Müller, Heiner 21 Münsterberg, Hugo 15 Münter, Gabriele 195 Nebridius 37 Neumann, Gerhard 105, 221, 222 Nezel, Ivo 178 Nietzsche, Friedrich 10, 17, 43, 60ff., 86, 99f., 104f., 113, 242, 269, 283 Nitsch Wolfram 152 Öhlschläger, Claudia 100, 229 Ohly, Friedrich 78, 172f., 178 Origenes 57 Ort, Claus-Michael 108, 110f., 115 Ott, Karl August 76ff., 94 Ovidius Naso, Publius 111 Pascal, Blaise 19 Pausch, Birgit 21 Petrarca, Francesco 43, 49ff., 56, 60 Pietzcker, Carl 101 Platen, August von 103 Platon 3, 11, 29f., 32f., 53, 57f. Plinius Secundus d.Ä., Gaius 193f. Poggio Bracciolini, Gianfrancesco 31 Polanyi, Michael 192ff. Pomian Krzysztof 212 Preißler, Johann Daniel 194 Proust, Marcel 13ff., 16, 21, 114, 206 Pseudo-Cicero 73, 75 Pseudo-Longin 53f. Quevedo, Francisco de 141, 143, 153ff. Quintilianus, Marcus Fabius 5, 11, 29f., 31ff., 43, 46ff., 54, 73, 147f. Raabe, Wilhelm 5, 99ff. Rabelais, François 57, 102, 104

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Personenregister

Rehberg, Frederick 245 Rieger, Stefan 177 Rittner, Volker 1 Ronsard, Pierre de 45, 47, 56f. Rousseau, Jean-Jacques 180 Rusticucci, Iacopo 93 Sarasin, Philipp 16, 19 Saussure, Ferdinand de 158, 161 Sautermeister, Gert 253 Schade, Sigrid 277f. Schillemeit, Jost 102 Schiller, Friedrich 18 Schleiermacher, Friedrich 212 Schlesier, Renate 277 Schmidt, Gregor Andreas 173f., 177 Schmidt, Joseph 124 Schopenhauer, Arthur 18 Schößler, Franziska 208, 218 Schwartz, Lía 160 Semon, Richard 273ff. Seneca, Lucius Annaeus d. J. 30, 43, 47ff., 56, 60 Senefelder, Alois 190ff., 200 Simonides von Keos 34f. Stanzel, Franz K. 115 Steinwachs, Ginka 21 Sudbrack, Josef 144, 148 Sulzer, Dieter 168f.

Theroux, Paul 21f. Thomas von Aquin 75, 77 Trunz, Erich 228 Valéry, Paul 10 Valk, Thorsten 240 Vallone, Aldo 76f. Vergil Maro, Publius 72 Victor, Iulius 31 Vinogradov, Viktor 108 Volkmann, Ludwig 173, 177 Wallhausen, Johann Jacob 15 Warburg, Aby 6, 229, 242f., 267, 269ff. Weber, Hartwig 259f. Wehler, Hans-Ulrich 228 Weigel, Christoph 173 Weigel, Sigrid 2, 9, 17f., 21, 271 Weinrich, Harald 10, 43, 71, 76ff., 86, 94 Weiss, Peter 18, 21 Wellbery, David 233 Wenzel, Horst 11, 104, 115 Wiens, Birgit 100 Wildermuth, Ottilie 116 Winckelmann, Johann Justus 173 Wittgenstein, Ludwig 159f. Wölfflin, Heinrich 150ff. Wulf, Christoph 2, 105 Yates, Frances A. 71ff., 94, 168f., 276

Taylor, Frederick Winslow 16 Tertullianus, Quintus Septimius 59f.

Zymner, Rüdiger 170