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German Pages [472] Year 2018
Sarhan Dhouib (Hg.) Formen des Sprechens Modi des Schweigens
Sarhan Dhouib (Hg.)
Formen des Sprechens Modi des Schweigens
Sprache und Diktatur Unter Mitwirkung von Ina Khiari-Loch und Moez Maataoui
Aus der Reihe: Unrechtserfahrung in transkultureller Perspektive
VELBRÜCK WISSENSCHAFT
Erste Auflage 2018 © Velbrück Wissenschaft, Weilerswist 2018 www.velbrueck-wissenschaft.de Printed in Germany ISBN 978-3-95832-082-6 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
Inhalt
Sarhan Dhouib Transformationen Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9
Teil I Bettina M. Bock, Ina Khiari-Loch und Sarah Schmidt Sprachnormierung, Macht und Kommunikationsstrategien. Zur Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . .
21
1. Bettina M. Bock Kommunikationsräume in der Diktatur – zwischen Öffentlichkeit und Privatheit . . . . . . . .
26
2. Steffen Pappert Sprach- und Informationslenkung in der DDR . . . . . .
49
3. Kristina Stock Wir und die Anderen Machtpolitische Dimensionen von Sprache unter besonderer Berücksichtigung des Aspektes der Gruppenbildung in der arabischen politischen Rhetorik . . . . . . . . . . .
69
4. Ina Khiari-Loch »Kīfāš lbistī?« – Über den sprachlichen Umgang mit Tabuthemen in autoritären Staaten am Beispiel Tunesiens .
99
5. Sarah Schmidt »Die Angst ist der unheimliche Meister der Wahrnehmung« Das System Angst und seine Bedeutung für Wahrnehmung und Sprache bei Herta Müller . . . . . . . . . . . .
124
6. Stephan Milich Das Leben in der Warteschlange Literarische Figurationen realer Enthumanisierung im zeitgenössischen ägyptischen Roman am Beispiel von Basma Abdelaziz‘ Die Warteschlange . . . . . . . . .
148
Teil II Sven Kramer und Abdellatif Aghsain Gegendiskurs und Subversion. Zur Einführung
. . . . . .
177
1. Sven Kramer Diktatur und Sprache Konstellationen in den 1940er Jahren und darüber hinaus . . . . . . . . . . . . . . . . . .
182
2. Kenza Sefrioui Die Zeitschrift Souffles (1966–1972): Die Schrift aus der Entfremdung befreien . . . . . . . .
199
3. Moez Maataoui Der Flüsterwitz im vorrevolutionären Tunesien als widerständiger Diskurs . . . . . . . . . . . . . .
223
4. Abdellatif Aghsain Sprechen im »Reich des Schweigens« Ästhetisch subversive Erzählstrategien syrischer Autoren am Beispiel von Nihād Sīrīs und Zakarīyā Tāmir . . . . .
245
5. Andreas Jürgens »daß ich an all diese Flußgötter denke« Zur politischen Dimension anachronistischen Imaginierens in Durs Grünbeins Grauzone morgens
. . .
266
6. Ibrahim Abdellah und Sarah Schmidt Desinformation, Neokolonialismus- und Autoritarismuskritik in Ṣunʿallāh Ibrāhīm Roman Der Prüfungsausschuss (al-Lağna) . . . . . . . . . .
275
Teil III Sarhan Dhouib, Steffen Pappert und Mongi Serbaji Wendepunkte: Protest und Öffentlichkeit. Zur Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . .
301
1. Ulla Fix Der Sprachgebrauch als Möglichkeit öffentlichen und halböffentlichen Protestes Das Beispiel DDR der 1970/80er Jahre . . . . . . . .
306
2. Sarhan Dhouib Die widerständige Stimme und das Schweigen als Protest Zu Muḥammad aṣ-Ṣāliḥ Flīs’ Zeitzeugenbericht Häftling in meinem Heimatland . . . . . . . . . . .
338
3. Stephan Milich und Leslie Tramontini Schreiben gegen Unrecht Protest und Engagement in der modernen syrischen und irakischen Dichtung . . . . . . . . . . . . . .
361
4. Azelarabe Lahkim Bennani Kultur als Protest Engagierte Literatur, Aufklärung und Ideologiekritik in Marokko in den 1960er und 1970er Jahren . . . . . .
397
5. Bettina Bock und Moez Maataoui Form und Funktionen von Intertextualität in öffentlichen Protestäußerungen während der Umbrüche in Tunesien (2011) und in der DDR (1989) – eine Gegenüberstellung . . . . 415 6. Steffen Pappert und Moez Maataoui Protestlieder in Umbruchzeiten. . . . . . . . . . . .
441
Passage I Rachida Triki Kunst und Widerstand . . . . . . . . . . . . . . . .
463
Die Autorinnen und Autoren
467
. . . . . . . . . . . . .
Sarhan Dhouib
Transformationen Vorwort Die Frage nach den Legitimationsstrukturen eines politischen Systems stellt sich auf eine besondere und dringliche Weise in einer Phase nach einer autoritären Herrschaft. Zur Debatte stehen dabei nicht nur die neu zu etablierenden politischen und gesellschaftlichen Strukturen, sondern auch die Gründungsideologien vergangener Systeme und die verschiedenen Facetten ihrer Legitimationsstrategien bzw. Legitimationsmythen. In diesem Zusammenhang kommt der Untersuchung der Sprache in ihrer Komplexität, ihren legitimatorischen und propagandistischen Funktionsmechanismen im Dienste der Unterdrückung, ihrer Normierung durch und in Ideologien, aber auch ihrem existentiellen, rebellischen und subversiven Charakter eine besondere Relevanz zu. Im Zuge des ›Arabischen Frühlings‹ war und ist diese kritische Auseinandersetzung für die akademische Community vieler arabischer Staaten nicht nur hoch aktuell, sondern sie wurde im Prozess der Öffnung restriktiver wissenschaftlicher Strukturen thematisch überhaupt erst möglich. Deutschland hat diesen Prozess im letzten Jahrhundert auf sehr unterschiedliche Weise zweifach durchlaufen. In der deutschen wie internationalen wissenschaftlichen Aufarbeitung dieser Geschichte von Vernichtung, Verfolgung und Unterdrückung sowie in der Dekonstruktion der bis in die Mikrostrukturen des Alltags hineinwirkenden ideologischen Systeme liegen mittlerweile eine ganze Bandbreite von Studien vor. Sie binden ein Erfahrungspotential und bieten eine Fülle an methodischen und thematischen Ansätzen, an die – Gemeinsamkeiten und Unterschiede auslotend, universale Geltung und kulturelle Differenz im Blick – eine wissenschaftliche Aufarbeitung von Unrechtserfahrungen in arabischen Staaten anknüpfen kann. Das in diesem sowie in zwei folgenden Bänden präsentierte Ergebnis einer arabisch-deutschen Zusammenarbeit wurde von der allgemeinen Überlegung geleitet, dass die kritische Auseinandersetzung mit autoritären Strukturen, ihren Mechanismen und Erscheinungsformen eine erforderliche Bedingung für die Etablierung demokratischer Institutionen und Gesellschaftsordnung ist. Diese Bedingung kann zwar als eine theoretische Voraussetzung verstanden werden, die der demokratischen Ordnung vorangeht, de facto ist sie jedoch eine ständige Aufgabe, die den 9
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demokratischen Prozess kritisch begleiten muss. Denn wir haben es nicht mit Ideen, sondern mit historisch gewachsenen, kulturell bedingten politischen Strukturen zu tun und insofern ist kein als Demokratie titulierter realer Staat (und kein es bestimmendes ökonomisches System) frei von Ideologien. Die Titelreihe Unrechtserfahrung in transkultureller Perspektive macht es sich zur Aufgabe, über verschiedene Erfahrungen von Unrecht in interdisziplinärer Perspektive zu reflektieren. Ihre Beiträge sind im Rahmen des DAAD-Projekts Verantwortung, Gerechtigkeit und Erinnerungskultur (2013–2015) entstanden und widmen sich in drei aufeinander folgenden Bänden den Themenkomplexen (1) Sprache und Diktatur, (2) Unrecht und Erinnerung sowie (3) Philosophieren in der Diktatur. Der letzte und dritte Band beinhaltet neben wissenschaftlichen Beiträgen auch Zeugenberichte von und Interviews mit arabischen Philosophinnen und Philosophen, die über ihre Gefängniserfahrung und Verfolgung berichten; diese schmerzhaften wie luziden Rückblicke sind im Rahmen des Projekts entstanden und werden in dieser Reihe publiziert. Die Titelreihe nimmt Unrechtserfahrung – verstanden im Sinne von Menschenrechtsverletzungen, kollektiven oder individuellen Formen der Ausgrenzung, Missachtung und Diskriminierung – als einen Ausgangspunkt für eine kritische Reflexion, die zwar eine bestimmte soziale oder historische Erfahrung in Betracht zieht, aber durchaus durch eine ständige Suche nach Parallelen, Ähnlichkeiten, Überschneidungen und nicht zuletzt nach universalisierbaren Normen, die vor dem Hintergrund dieser Erfahrung denkbar sind, motiviert ist. In diesem Sinne besteht die hier vorgelegte wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Unrechtserfahrungen notwendigerweise aus einem ständigen Hin und Her zwischen Faktizität und Normativität, zwischen der historischen Erfahrung und dem normativen Anspruch. Transkulturalität als gelungenes Resultat interkultureller Arbeit entsteht nicht aus der Dominanz eines vorherrschenden Diskurses über die Anderen, sondern ist das Ergebnis einer geduldigen und offenen Kommunikation auf mitunter steinigem Wege, die nicht nur zwischen Theorien, sondern auch zwischen akademischen Akteuren stattfindet. Gelingt sie, so ist mit ihr auch die Hoffnung verbunden, das akademische Leben nachhaltig zu transformieren. Die Beiträge in dem vorliegenden Band widmen sich der Funktion und Bedeutung der Sprache im Kontext autoritärer Herrschaftsstrukturen. Die Bezeichnung ›autoritäre Herrschaftsstruktur‹ ist bewusst weit gewählt und umfasst sehr unterschiedliche Formen und Grade autoritär gelenkter Staatsformen (vom Sicherheits- und Polizeistaat über die Militär-Diktatur bis zu autoritär geführten Regimen, die sich selbst als sozialistisch bzw. kommunistisch bezeichneten), wie sie im Laufe des 20. 10
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Jahrhunderts in Europa und in den arabischen Staaten entstanden sind. Obwohl im modernen Arabisch die Termini Diktātūriyya und Diktātūr als Adaptationen von Diktatur und Diktator verwendet werden, herrscht in der wissenschaftlichen Literatur der Sprachgebrauch von Istibdād und Tasalluṭ vor, um eine autoritäre Herrschaft zu charakterisieren. Die Sprache ist Mittel und Ausdruck von Machtlegitimation, sie wirbt, manipuliert, kontrolliert und lenkt, steht zugleich jedoch auch im Dienste der repressive Strukturen herausfordernden Subversion. Sprache umfasst dabei nicht nur alle Formen des stimmhaften und schriftlichen Sich-Äußerns, sondern auch unterschiedliche Modi des Schweigens, die Repression wie Subversion bedienen und alle Räume des Öffentlichen, Semi-Öffentlichen und Privaten einnehmen können. Als Element der Kommunikation kann Schweigen im Kontext eines Gespräches oder aber, abstrakter und weiter gefasst, als Aktion im öffentlichen Raum agieren. Ein ›öffentliches Schweigen‹ im Kontext autoritärer Herrschaftsstrukturen lässt sich in einer doppelten Perspektive deuten. Zum einen kommt es als Gehorsam, Duldung oder sogar Zustimmung im kritiklosen Funktionieren einer schweigenden Masse zum Ausdruck. Zum anderen kann ein öffentlich ausgestelltes kollektives wie individuelles Schweigen auch zu einer deutlichen Form von Protest und Ablehnung werden, wie wir es zum Beispiel seit den 1960er Jahren unter dem Label der Sit-ins als schweigende Demonstrationsform kennen. Auch Schweigeminuten sind ein expressives Zur-Schau-Stellen einer Meinung im öffentlichen Raum, die sowohl einem Kollektivzwang als auch einem Protestanliegen unterliegen können. In den hier vorliegenden Untersuchungen lassen sich drei Aspekte des Schweigens unterscheiden: ein Nicht-Sprechen-Können, Nicht-Sprechen-Dürfen und Nicht-Sprechen-Wollen. Das Nicht-Sprechen-Können bezeichnet die Einschränkung der Fähigkeit zu sprechen, eine Kommunikationsstörung, wie sie auch als Folge einer psychischen oder physischen Misshandlung auftreten kann. Ein Nicht-Sprechen-Können kann jedoch auch auf eine existentielle Art die Grenzen der Sprache markieren, insofern manche Erfahrungen und Erlebnisse zu schmerzhaft oder so grenzüberschreitend sind, dass ihnen kein Wort gereicht. In der christlichen und islamischen Mystik beschreibt die Unmöglichkeit zu sprechen eine Fähigkeit, sogar einen spekulativen Zustand, innerhalb dessen eine Verbindung zum Göttlichen entsteht. Schweigen als Nicht-Sprechen-Dürfen findet in der Angst vor Verfolgung und Repression und in der beständigen Kontrolle durch die Geheimdienste seinen Motor. Es ist ein Nicht-zu-Wort-Kommen der eigenen (politischen, gesellschaftlichen oder privaten) Stimme, es äußert sich im Verbot, bestimmte Themen zur Sprache zu bringen, bestimmte Namen zu nennen bzw. zu tragen oder konkrete Redeweisen zu verwenden. Mit dem Erlernen des Sprechens geht ebenfalls das Erlernen von 11
SARHAN DHOUIB
Schweige-Automatismen einher. Tabuthemen und -worte sind Teil eines ›Gesetzes des Schweigens‹, das mitunter bereits kleinen Kindern geläufig ist und von Generation zu Generation weitergereicht werden kann. Dabei kann ein konsequentes Verschweigen auch gegen jede Absicht ein Thema zur Sprache bringen. Schweigen als Nicht-Sprechen-Wollen drückt eine bewusste Haltung aus, mit der eine Verweigerung oder, in subversiver Wendung, als gezielt platziertes beredtes Schweigen auch eine deutliche Meinung zum Ausdruck kommen kann. Die Entscheidung, auf das Sprechen zu verzichten, kann je nach sozialem und politischem Kontext als taktisches (von kurzer Dauer) oder strategisches (von langer Dauer) Schweigen gedeutet werden. Gezielt eingesetzt kann das Nicht-Reden-Wollen zu einem missachtenden Schweigen werden, in dem zum Beispiel die Option, nicht zu reden, zur letzten Bastion der Selbstachtung des politischen Gefangenen wird, der sich dem System verweigert. Diese kurze Skizze mag ausreichen, um deutlich zu machen, dass Schweigen ein wesentlicher und komplex gestalteter Bestandteil des Kommunikationssystems darstellt, das es in ethischer, sozialer, politischer und ästhetischer Hinsicht zu analysieren gilt. Der Band gestaltet sich in drei Teile. Jeder Teil ist mit einer Einleitung versehen, die einen Überblick über die behandelten Themen im Kapitelschwerpunkt gibt, in die Arbeit der Autorinnen und Autoren einführt und thematische Achsen zwischen den Beiträgen hervorhebt. Die Beiträge im ersten Teil befassen sich mit dem Sprachgebrauch in der Diktatur und untersuchen Diskurse und Sprachpraxen, die im Dienste der Machterhaltung autoritärer Systeme stehen. Obwohl eine autoritäre Macht der Tendenz nach den Sprachgebrauch stark zu vereinheitlichen und zu regeln sucht, gehen die Autorinnen und Autoren im ersten Teil des Bandes davon aus, dass es in der Diktatur unterschiedliche Kommunikationsräume gibt, in denen verschiedene Kommunikationsregeln vorherrschen und in denen die Macht unterschiedlich verteilt ist. Im Mittelpunkt der vorgestellten Untersuchungen stehen Reflexionen über die Mechanismen und Prozesse der Sprachlenkung, über die unterschiedlichen Kommunikationsräume und Akteure innerhalb von diktatorisch regierten Gesellschaften sowie über die Kommunikationsstrategien, die maßgeblich durch den Kontext des Sprechens und die Position der Sprecherinnen und Sprecher mitbestimmt werden. Dabei werden historische Erfahrungen in der DDR, in Ost-Europa und in arabischen Ländern (zum Beispiel Ägypten, Libanon, Irak, Oman, Tunesien) einer kritischen Betrachtung unterzogen. Die Normierung der Sprache in der Diktatur geht – wie im zweiten Teil deutlich wird – mit einem Gegendiskurs einher, der die autoritäre Sprachnormierung beständig in Frage stellt, herausfordert und subversiv 12
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unterwandert. Beide Diskurse – der Diskurs der Herrschenden und der Gegendiskurs der Beherrschten – sind nicht streng voneinander zu trennen. Obwohl sie im ständigen Konflikt miteinander stehen, fließen sie ineinander und konkurrieren miteinander. Die Beiträge des zweiten Teils analysieren aus unterschiedlichen Blickwinkeln, wie Gegendiskurse in einer autoritären Herrschaft entstehen können und welche vielgestaltigen Verwendungsweisen der Sprache genutzt werden, um einem autoritären System auf verschiedene Weise entgegenzutreten. Die Beiträge reflektieren darüber, wie unter den Bedingungen hegemonialer Sprachregelungen und -normierungen Wege zur sprachlichen Artikulation von Opposition, Dissidenz, Kritik und Widerstand entstehen können. Neben den subversiven sprachlichen Verwendungsformen nimmt in diesem Zusammenhang das Schweigen eine wichtige Rolle ein: Besitzt Schweigen in einer Diktatur kritisches, ja revolutionäres Potential? Wenn ja, unter welchen Modi kommt diese nicht-verbale, aber expressive Zurückhaltung zum Ausdruck und ab wann wird sie zu einer Protesthandlung? Proteste nehmen sowohl in der Diktatur als auch in Zeiten ihrer Demontage verschiedene Gestalten an und zielen unter verschiedenen Bedingungen darauf ab, das autoritäre System herauszufordern, um mehr Öffentlichkeitsraum und Sichtbarkeit zu gewinnen. Im dritten und letzten Teil des vorliegenden Bandes werden unterschiedliche künstlerische, literarische, philosophische und aktionistische Protestformen beleuchtet, die dem autoritären System und seinen entwürdigenden Herrschaftspraktiken die Legitimität absprechen. Die Überlegungen der Autorinnen und Autoren entwickeln sich vor dem Hintergrund von Gegensätzen, die die Spannungen zwischen autoritären und befreienden Praktiken prägen. Wie geht man zum Beispiel mit der Spannung zwischen der Ästhetik des künstlerischen Ausdrucks und realer Grausamkeit um? Läuft man nicht Gefahr, die Grausamkeit zu verschönen, wenn man den Protest in eine ästhetische Form bringt? Und was kann ein Gedicht, eine figurative Darstellung, ein Lied oder ein Musikstück eigentlich gegen einen repressiven Staatsapparat ausrichten? Lassen sich Protestformen universalisieren, obwohl sie in ganz unterschiedlichen lokalen Kontexten entstanden sind? Die Beiträge untersuchen Zeiten autoritärer Machtkontrolle und Zeiten des Umbruchs und zeigen Parallelen und intertextuelle Bezüge von verschiedenen Protestformen im arabischen und deutschen Kontext auf; trotz aller geographisch-kulturellen und sozio-historischen Distanz haben sie nur scheinbar nichts miteinander zu tun. Der Band endet mit einem Kommentar zu einem Graffiti, das nach der tunesischen Revolution in einer Straße in Tunis entstanden ist und zeigt, inwiefern Kunst den demokratischen Prozess kritisch begleiten und eine ständige Reflexion über Unrechtserfahrung einfordern kann. Bild und Kommentar bilden als Passage I einen Übergang zum zweiten Band der 13
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Titelreihe Unrechtserfahrung in transkultureller Perspektive. Der zweite Band ist der Problematik der Erinnerungskultur und der Aufarbeitung von Unrechtserfahrung gewidmet. Die Zusammenarbeit der beitragenden Forschergruppe war interkulturell und interdisziplinär angelegt. Sie bestand aus deutschen und nordafrikanischen (ägyptischen, marokkanischen und tunesischen) Kolleginnen und Kollegen, die verschiedenen akademischen Generationen angehörten und unterschiedliche Fachdisziplinen vertraten. Die oben skizzierten Themenkomplexe werden in diesem Band aus philosophischer, ethnologischer, literatur-, sprach- und kulturwissenschaftlicher Perspektive behandelt. Zwar ist die Untersuchung von Sprachgebrauch im diktatorischen Kontext aus sprachwissenschaftlicher Sicht im deutschen akademischen Diskurs etabliert, bildet jedoch bezogen auf den arabischen Kulturraum, aber auch in der Auslandsgermanistik in Nordafrika ein Novum. Nicht erst, aber in großer Anzahl seit der tunesischen Revolution sind Autobiografien, Zeugenschaftsberichte und Memoiren über Gefängniserfahrung und Verfolgung in arabischen Ländern erschienen, die sich einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung darbieten; einige dieser Zeugnisse werden in diesem Band analysiert. Wenngleich die Thematik der Zeugenschaft bekannt war, war sie kaum ein Forschungsgegenstand akademischer Diskurse an nordafrikanischen Universitäten, eine wissenschaftliche Reflexion über Unrecht im postkolonialen Staat wurde vor 2011 ständig erschwert und ist erst nach den sozialen und politischen Umbrüchen im akademischen Diskurs möglich geworden. Dies bedeutet jedoch nicht, dass eine Kritik am Versagen des postkolonialen Staates außerhalb der akademischen Institutionen (Zivilgesellschaft, Salons, philosophische Cafés, Podiumsdiskussionen) nicht verbreitet war. Ein interkultureller wie interdisziplinärer Aspekt des vorliegenden Bandes ist der Vergleich deutsch- und arabischsprachiger Literaturen als Medien einer kritischen Reflexion über Unrechtserfahrung. In der Regel treten die beiden Literaturwissenschaften im akademischen Bereich selten in einen Dialog miteinander. Die kritische Auseinandersetzung mit Sprache und Literatur während und nach einer autoritären Herrschaft ist eine prädestinierte Plattform für diesen Dialog. Innerhalb der vorliegenden Arbeit spielt die Übersetzung von Texten – vor allem aus dem Arabischen und dem Französischen ins Deutsche – eine Vermittlungsrolle. Die sprachliche Übersetzung wird jedoch durch eine kulturelle Übersetzung unterstützt, denn Tabuthemen, die Verwendung von Dialekten, politische Witze oder die Verwendung von Codes oder Geheimsprachen in einer Diktatur erfordern einen Transfer des gesamten kommunikativen Gehalts. Im Laufe der Durchführung des Projektes waren solche Übersetzungsmodi ständig am Werk und spiegeln sich in der gesamten Arbeit wider. Auch in der Zusammenarbeit war eine 14
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Dialektik von Sprechen und Schweigen in all ihren Facetten präsent. Einerseits fungierte das Schweigen als Moment des Zuhörens, der Beobachtung, der Aufnahme bzw. der Wahrnehmung und nicht zuletzt als Moment der Zurückhaltung. Andererseits artikulierte sich das Sprechen in verschiedenen Handlungen wie Vortragen, Nachfragen, laut Mitdenken, Berichten (Zeugenschaftsbericht), Bezeugen und Kritisieren. Beide Momente bildeten zwei Facetten der Reflexion und standen in wechselseitiger Wirkung. Für die lebhaften Diskussionen und den intensiven Austausch möchte ich allen Projektbeteiligten herzlichst danken. Das DAAD-Projekt Verantwortung, Gerechtigkeit und Erinnerungskultur entstand im Rahmen der Deutsch-Arabischen Transformationspartnerschaft (Programmlinie 4 Al-Tawasul) und wurde von 2013 bis 2015 mit Geldern des Auswärtigen Amtes großzügig finanziert. Es handelte sich um ein in Lehre und Forschung angesiedeltes Kooperationsprojekt zwischen dem Institut für Philosophie an der Universität Kassel zum einen und den Abteilungen für Deutsch an der Faculté des Lettres, des Arts et des Humanités de la Manouba (Universität La Manouba) und des Institut Supérieur des Sciences Humaines de Médenine (Universität Gabes) zum anderen. Der UNESCO-Lehrstuhl für Philosophie für die arabische Welt an der Universität Tunis, geleitet von Fathi Triki, fungierte ebenfalls als Kooperationspartner. Die Projektleitung lag bei Sarhan Dhouib (Universität Kassel). Im ersten Jahr der Durchführung des Projektes (2013) übernahm Khaled Chaabane (Universität La Manouba) die Koordination, die ebendort von 2014 bis 2015 von Moez Maataoui fortgesetzt wurde. Ina Khiari-Loch war für die Koordination des Projekts am Institut Supérieur des Sciences Humaines in Médenine zuständig. Für die konstruktive Zusammenarbeit und die Organisation von zahlreichen Workshops, Lehrveranstaltungen, Podiumsdiskussionen und Forschungsaufenthalten in Ägypten, Tunesien und Deutschland sowie für umfangreiche Bücherbeschaffungen für die Universitätsbibliotheken in la Manouba und Médenine möchte ich mich bei der Koordinatorin und den Koordinatoren des Projekts ganz herzlich bedanken. Mein Dank gilt ebenfalls den studentischen Hilfskräften Daniel Emde, Mirjana Fontana und Ali Jridi. Ohne das große Engagement und die ständige Unterstützung durch die Koordinatorin, die Koordinatoren und Hilfskräfte wäre die Durchführung des Projektes undenkbar gewesen. Danken möchte ich auch den vielen Diskussionsteilnehmerinnen und -teilnehmern, Moderatoren und Gästen wie Giesela Baumgratz, Werner Ruf und Mohamed Turki, die nicht mit einem Beitrag in den drei Bänden vertreten sind, deren Engagement, Vermittlungstalent und geistreiche Kritik jedoch wesentlich zum Gelingen der Zusammenarbeit beigetragen haben. Zu den Gästen des Projektes zählten auch Akteure der Zivilgesellschaft in Tunesien, die wie Hamza Chourabi und Ezzedine al-Hazgi 15
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mit vielen Hintergrundinformationen und mit großem persönlichen Engagement einen Blick in die vergangene und aktuelle tunesische Gesellschaft erlaubt haben. Der vorliegende Band und die ihr vorangehende interkulturelle und interdisziplinäre Zusammenarbeit wären ohne die umfangreiche finanzielle, ideelle und administrative Unterstützung des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) nicht zustande gekommen. Mein Dank gilt Renate Dieterich und ihrem Arbeitsteam in Bonn sowie Beate Schindler-Kovats, Leiterin des DAAD-Büros in Tunis. Ich danke ebenfalls der Universität Kassel und dem dortigen Institut für Philosophie für dessen freundliche Unterstützung dieses Projektes. Habib Khazdaghli – Dekan der Faculté des Lettres, des Arts et des Humanités de la Manouba – und Chokri Rhibi – Institutsleiter des ISSH de Médenine – sei für ihren Beistand in schwierigen politischen Zeiten herzlich gedankt. Für die sorgfältige Übersetzung der Beiträge von Kenza Sefrioui und Rachida Triki möchte ich an dieser Stelle Steffi Hobuß (Leuphana Universität Lüneburg) und Hans Jörg Sandkühler (Universität Bremen) danken. Mein Dank gilt ebenfalls Holden Kelm, der die Beiträge dieses Bandes gründlich lektorierte sowie Eva Kimminich, die das Graffiti-Bild zur Verfügung gestellt hat. Für ihre Hilfe bei den letzten Korrekturen und für ihre konstruktiven Kommentare möchte ich hier Andreas Jürgens, Mohamed Lachhab, Patrick Luszeit, Sarah Schmidt, Mongi Serbaji, Dirk Stederoth und Kristina Stock danken. Ein herzlicher Dank gilt schließlich auch Marietta Thien und Thomas Gude vom Verlag Velbrück Wissenschaft für die vertrauensvolle und entgegenkommende Zusammenarbeit. Einen letzten und besonderen Dank möchte ich allen Projektbeteiligten für Ihre Unterstützung und ihr Engagement aussprechen, denn das Projekt wurde in einer schwierigen politischen Transformationsphase in Tunesien durchgeführt, die unter anderem durch die Ermordung von Politikern (Chokri Belaid am 6. Februar 2013 und Mohamed Brahmi am 25. Juli 2013) und die terroristischen Anschläge auf das Bardo-Museum am 18. März 2015 sowie auf das Hotel Imperial Marhaba in Sousse am 26. Juni 2015 erschüttert wurde. Einige Veranstaltungen des Projektes fanden nur ein paar Tage nach diesen erschütternden Ereignissen statt.
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Teil I
Bettina M. Bock, Ina Khiari-Loch und Sarah Schmidt
Sprachnormierung, Macht und Kommunikationsstrategien Zur Einführung Sprachgebrauch ist in der Diktatur – wie auch in demokratischen Systemen – ein Instrument der Ordnung, der Selektion und Organisation von Diskursen und in diesem Sinne ist der Diskurs mit seinen konkreten sprachlichen Realisierungen Ausdruck von bestimmten Machtverhältnissen. Ein Unterschied zu pluralistischen Gesellschaften besteht darin, dass die Macht in Diktaturen1 einseitig und stabil verteilt ist: Es ist vor allem die staatliche Macht, die es vermag, Sprachgebrauch zu regeln und zu normieren. Sie versucht, in alle Kommunikationsräume, auch den privaten Bereich, einzudringen und sie versucht, Sprache und Kommunikation machtvoll zu regulieren und zu normieren. Dennoch ergibt sich daraus – das zeigen die Beiträge dieses ersten Teils deutlich – kein eindimensionales Bild eines Sprachgebrauchs der Herrschenden, der für jeden Einzelnen in jedem Handlungszusammenhang Gültigkeit und Verbindlichkeit hätte und dem man nur entgehen könnte, indem man gegen die eine geltende Norm verstößt. Stattdessen muss man davon ausgehen, dass es unterschiedliche Kommunikationsräume gibt, in denen verschiedene Kommunikationsregeln herrschen und in denen die Macht unterschiedlich verteilt ist. Im Unterschied zum zweiten Teil dieses Bandes, in dem es vor allem um die offenen und/oder subversiven Formen des »Gegendiskurses«2 geht, behandelt der erste Teil vorrangig jene Sprachpraxis, die im Dienste der Machterhaltung diktatorischer Systeme steht oder diese aufgreift. Sprachkonformes Verhalten, Selbst-Aufklärung über die Teilnahme an der verordneten Kommunikationspraxis und ihre subversive 1
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Die Beiträge des ersten Teils behandeln unterschiedliche Diktaturen: Hitlerdeutschland, Rumänien unter Ceauşescu, die DDR, Ägypten, Tunesien und andere Staaten der arabischen Welt. Siehe dazu das Vorwort von S. Dhouib. Achim Geisenhanslüke etwa etabliert diesen Begriff im Anschluss an M. Foucault, vgl. A. Geisenhanslüke, Gegendiskurse. Literatur und Diskursanalyse bei Michel Foucault, Heidelberg: Synchron 2007.
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BETTINA M. BOCK / INA KHIARI-LOCH / SARAH SCHMIDT
Unterwanderung von Seiten der Individuen fließen jedoch ineinander, bedingen sich wechselseitig und lassen sich nicht streng voneinander trennen. Die Beiträge des ersten Teils lassen sich in drei größeren Themenfeldern anordnen: Eines befasst sich mit Mechanismen und Prozessen der Sprachlenkung. Im Fokus stehen dabei die Maßnahmen und Ziele des diktatorischen Systems. Ein zweites Themenfeld umfasst den Aspekt unterschiedlicher Kommunikationsräume und Akteure innerhalb von Diktaturen. Der Fokus bewegt sich hier weg von den Herrschenden hin zu den unterschiedlichen Orten, Akteuren, Bedingungen und Formen von Kommunikation. Das dritte Themenfeld, zu dem sich die Beiträge des folgenden Teils äußern, betrifft die Analyse von Kommunikationsstrategien, die maßgeblich durch den Kontext und die Position des Sprechens (in der Diktatur, nach der Diktatur) mitbestimmt werden. Sprachlenkung tritt in diktatorischen Systemen vor allem als Sprachnormierung zutage und dient meist der Abwehr feindlicher, weder Ideologie- noch Hegemonieansprüchen entsprechender Einflüsse. Die Gemeinschaft soll durch einen bestimmten, festgelegten und oftmals ritualisiert-sinnentleert eingesetzten Sprachgebrauch auf die Ideologie eingeschworen werden. Jedes Regime entwickelt eigene Begriffe und Normen des Sprachgebrauchs, die die Realität in einer ganz bestimmten Weise perspektivieren, eine Sichtweise auf die Welt fixieren und damit zugleich mögliche andere Sichtweisen unterdrücken (wollen). Dass solche Normierungsprozesse nicht nur nachträglich, sondern durchaus auch während der Diktatur theoretisch reflektiert werden, zeigt Steffen Pappert am Beispiel des DDR-Sprachphilosophen Georg Klaus. Seine Position liest sich wie eine philosophisch untermauerte »Gebrauchsanweisung« zur Umsetzung sprachlicher Ideologisierung und Normierung. Kennzeichnend für diktatorische Regime ist der Versuch, ihren Machtund Einflussbereich so weit wie möglich auszudehnen und die Kommunikationsräume einer Gesellschaft größtmöglich zu vereinnahmen, um ihre ideologischen bzw. hegemonialen Ansprüche bestmöglich durchsetzen zu können. Somit droht der Diskursraum des Öffentlichen mit dem des Offiziellen zu verschmelzen. Diktatorische Regime versuchen zudem mittels der Geheimdienste in den privaten Diskursraum einzudringen – dieser droht seine Funktion als Rückzugs- und Schutzraum zu verlieren. Wie diese verschiedenen Räume beschrieben werden können und wie das Normierungs- und Regulierungsbestreben der staatlichen Macht in Diktaturen gerade zur Ausdifferenzierung von Kommunikationsräumen führen kann, untersucht der Beitrag von Bettina M. Bock. Gesellschaftliche und kommunikative Entdifferenzierungsprozesse, wie sie in Diktaturen als Gleichschaltungsintention beobachtet werden können, ziehen, so Bocks These, auch eine funktionale Ausdifferenzierung 22
SPRACHNORMIERUNG, MACHT UND KOMMUNIKATIONSSTRATEGIEN
von Kommunikationsräumen nach sich, in denen sich semi-öffentliche Kommunikationsräume bilden und den schwindenden öffentlichen Raum kompensieren. Auch Pappert stellt heraus, dass sich durch den Versuch einer totalen Informationslenkung des DDR-Regimes der propagandistische Wortschatz vielmehr in politische Leerformeln verwandelte, die ihrerseits wiederum auch anderen, zum Beispiel subversiven Kommunikationsstrategien dienen konnten. Eine wichtige Bedingung für die Konstitution und Funktionsweise von Kommunikationsräumen ist ihre Exklusivität oder Inklusivität, das heißt die Frage danach, wer in welcher Rolle an der Kommunikation teilnimmt bzw. teilnehmen darf. Kristina Stock zeigt in ihrem Beitrag, dass Inklusions- und Exklusionsstrategien ein zentraler Bestandteil in den Reden arabischer Politiker sind. Sie dienen dazu, rhetorisch Gruppen zu bilden und voneinander abzugrenzen. Dass das Regime über die einseitige, stabile Machtkonstellation in einer Diktatur die Normierungshoheit für sich beansprucht, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass je nach Art der Diktatur (autoritär bis totalitär) mehr oder weniger Kommunikationsräume bzw. Sprachformen existieren, die sich dem staatlichen Einflussbereich gewollt oder ungewollt entziehen. Es ist davon auszugehen, dass eine zu starke Vereinheitlichung der Kommunikation, beispielsweise durch Forcierung und Tabuisierung bestimmter Themen, sprachliche Normierung oder starre Rollenverteilung in der Interaktion, zu Auf- und Abspaltungsprozessen, das heißt zur Ausbildung verschiedener Räume der Öffentlichkeit bis hin zu einer Gegenöffentlichkeit, führt. Dabei kann eine unerwünschte Teilnahme oder Exklusion sowohl durch das bewusste oder unbewusste Ausschließen bestimmter Akteure als auch durch ein Sich-Zurückziehen der Akteure initiiert werden, was den grundlegenden Unterschied zwischen Schweigen und Verschweigen, Unsichtbarsein oder Sich-Verbergen kennzeichnet.3 Das Zum-Schweigen-Bringen wird ebenso wie das Schweigen als eine Form der kommunikativen Nicht-Kommunikation in allen Beiträgen thematisiert, sie unterliegen wie das Reden bestimmten Kommunikationsregeln.4 Ausführlich behandelt werden sie in den Beiträgen von Sarah Schmidt, die ein System der Angst in den Romanen von Herta Müller herausarbeitet, bei Stephan Milich, der im Roman der Ägypterin Basma 3
4
Umgekehrt ruft eine Situation von hochgradig divergenten Kommunikationsräumen in einer Gesellschaft nach einer gewissen sprachlichen Normierung, bspw. political correctness oder Legitimierung von Themen durch gesamtgesellschaftliches Interesse, um die Integrität des Systems nicht zu gefährden. Zu den unterschiedlichen Spielarten des Schweigens vgl. das Vorwort von S. Dhouib zu diesem Band.
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BETTINA M. BOCK / INA KHIARI-LOCH / SARAH SCHMIDT
Abdelaziz die dargestellten entmenschlichenden Ausschlussmechanismen des Regimes analysiert, und im Artikel von Ina Khiari-Loch, die sich mit politisch motivierten Tabuthemen im vorrevolutionären Tunesien beschäftigt. Diese Beiträge zeigen jeweils Räume und Formen auf, in denen das Unsagbare sagbar wird, sei es diskursextern in der literarischen Auseinandersetzung während der Diktaturphase über unterschiedliche Kunstformen (bspw. dystopischer Roman), sei es diskursintern durch Umschreibungen und Andeutungen, die den Mitgliedern dieser Gesellschaft zum Verständnis ausreichen. Es existieren jedoch auch innerhalb offizieller Kommunikationsräume Tendenzen der Ausdifferenzierung. So führt Bock anhand der Kommunikation innerhalb des staatlichen Geheimdienstes der DDR aus, dass gerade die Exklusivität dieses Kommunikationsraumes zahlreiche sprachliche Ausdrucksfreiräume bietet, welche scheinbar gegen die Vorgaben staatlicher Sprachnormierung verstoßen. Prozesse der Sprachnormierung und Kommunikationsstrategien werden in diesem Teil aus verschiedenen Blickwinkeln reflektiert, die sowohl zeitlich als auch durch die Position bestimmt werden, die einem Sprecher innerhalb eines Diskursraumes zukommt. So geht es zum einen um das Sprechen in der Diktatur, um Bedingungen, Formen und Funktionen sprachlicher Äußerungen vor dem Hintergrund einer staatlichen Lenkung der Kommunikation in einer Gesellschaft (Bock, Pappert, Stock). Zum anderen thematisieren die Beiträge, wie sich die in der Diktatur praktizierten Regelungen und Normierungen noch auf den Sprachgebrauch nach dem Ende der Diktatur auswirken können (Khiari-Loch, Schmidt). Das Sprechen in der Diktatur ist ferner, wie Schmidt und Milich herausarbeiten, ein Mittel der individuellen, zum Teil spielerisch-subversiven Verarbeitung der staatlich verordneten Sprachnormierung, ein Mittel, das als Gegenwehr gegen das diktatorische System aufgenommen und eingesetzt werden kann. Hinsichtlich der unterschiedlichen Positionen, die einem Sprecher innerhalb eines Diskursraumes zukommen, verfolgen die Beiträge sowohl den Blickwinkel staatlich gelenkter Sprachpraxis, als auch den Blickwinkel des Individuums, das sich der verordneten Sprachregelung anpassen, sie reflektieren oder aber sich gegen sie zur Wehr setzen kann. Mit dem Ziel der Etablierung und Festigung von Macht konzentrieren sich einzelne Kommunikationsstrategien auf die Rechtfertigung der Herrschaft (Pappert) und die Gruppenbildung (Stock). Zudem werden die Ablenkung von gesellschaftlich relevanten bzw. brisanten Themen sowie die Vorgabe eines erwünschten und die Sanktionierung eines unerwünschten Sprachgebrauchs thematisiert, was zum Beispiel mittels Zensur und Vorgabe von politischen Nomenklaturen und Monosemierung geschieht (Pappert, Schmidt). Aber auch die Monopolisierung von Informationsvermittlung (Milich), Angsterzeugung, Verunsicherung, 24
SPRACHNORMIERUNG, MACHT UND KOMMUNIKATIONSSTRATEGIEN
Einschüchterung und Gewaltausübung via Sprache, die eine Atomisierung nicht regimekonform agierender Individuen zur Folge haben (Schmidt, Milich), sind gängige Mittel im Dienste der Diktatur. Die Überlegungen der Beiträge in diesem ersten Teil zeigen, und dies wird sich mit Blick auf die folgenden Teile bestätigen, dass sich ein rhetorisches Mittel allein (Euphemismen, Wiederholungen, Schwarz-Weiß-Darstellungen, bewusste Auslassungen etc.) nicht einer Kommunikationsstrategie zuordnen lässt. Seine Wirkungskraft und Intention kann erst mit Blick auf den spezifischen Diskursraum, die Position und Funktion des Diskursteilnehmers innerhalb dieses Diskursraumes und mit Blick auf den konkreten (situativen, kulturellen oder zeitgeschichtlichen) Kontext hergestellt werden.
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Bettina M. Bock
Kommunikationsräume in der Diktatur – zwischen Öffentlichkeit und Privatheit Kommunikationsräume Sprache in der Diktatur wird in diesem Beitrag unter diskurstheoretischer und insbesondere diskurslinguistischer1 Perspektive betrachtet. Das heißt, ich gehe davon aus, dass sprachliche Äußerungen in Diktaturen durch bestimmte diskursive Regelmäßigkeiten gekennzeichnet sind, die für das jeweilige Regime bzw. Gesellschaftssystem und die dort stattfindende Kommunikation charakteristisch sind und die sich von der Ordnung des Diskurses bzw. der Diskurse in pluralistisch-demokratischen Systemen unterscheiden. Im Folgenden spreche ich von Kommunikationsräumen, in denen das Sich-Äußern und Sich-Nicht-Äußern stattfindet und sich diskursiv formiert. Die Metapher des Kommunikationsraums hat eine epistemische Funktion: Diskurse sollen als Raum bzw. als etwas Räumliches konzeptualisiert werden; diese Räume sind durch bestimmte (diskursive) Regelmäßigkeiten charakterisiert.
Der Diskurs als Raum bei Foucault Das Verständnis von Diskurs als Raum bzw. als etwas Räumlichem ist auch deshalb naheliegend, weil es sich auch bei Foucault an verschiedenen Stellen findet.2 Auch er arbeitet mit einer Raummetaphorik, die eine Konzeptualisierung des Diskurses als (abstrakter) Raum mit sich bringt. Diese Konzeptualisierung setzt sich bis in die neuere, insbesondere linguistische und soziologische Diskursforschung fort, die unter anderem von 1
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Zur Diskurslinguistik nach M. Foucault: D. Busse, »Diskurs – Sprache – Gesellschaftliches Wissen. Perspektiven einer Diskursanalyse nach Foucault im Rahmen einer Linguistischen Epistemologie«, in: D. Busse, W. Teubert (Hg.), Linguistische Diskursanalyse. Neue Perspektiven, Wiesbaden: Springer VS 2013, S. 147–185 sowie J. Spitzmüller, I. Warnke, Diskurslinguistik. Eine Einführung in Theorien und Methoden der transtextuellen Sprachanalyse, Berlin/Boston: de Gryuter 2010. Der folgende Abschnitt bezieht sich auf die ausführlichere Darstellung bei B. Bock, »Blindes« Schreiben im Dienste der DDR-Staatssicherheit. Eine text- und diskurslinguistische Untersuchung von Texten der inoffiziellen Mitarbeiter, Bremen: Hempen 2013, S. 99 ff.
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Sagbarkeitsräumen, Sichtbarkeitsräumen oder Aussagebereichen spricht. Allerdings bietet Foucaults Werk keinen diskurstheoretisch fundierten und differenzierten Raumbegriff.3 Das heißt, es gibt weder für den Raum als etwas Konkretes noch für den Raum als Metapher ein konsequent ausgearbeitetes Programm. Foucault begreift Raum nicht nur als etwas Konkret-Materielles, sondern auch als eine abstrakte Kategorie, die auf den Diskurs bezogen ist. Zum einen thematisiert er Raum unter dem Aspekt »praktischer Ortsgebundenheit zur Sortierung von Gesellschaft«, zum anderen rekurriert er auf einen »relational-abstrakten Raumbegriff, der Raum im Sinne von Räumlichkeit als Strukturdarstellung von Ordnungen der Ein- und Ausschließung«4 erfasst. In der zweiten Perspektive stehen insbesondere die Anordnung und die Beziehungen von Aussagen in einer diskursiven Formation im Fokus. Beide Blickwinkel sind für die Beschreibung von Kommunikationsräumen in Diktaturen von Bedeutung. Nicht immer lässt sich dabei genau trennen, welche Perspektive akzentuiert wird, häufig spielen beide Aspekte für die Bedeutungskonstitution eine Rolle. Am deutlichsten ausgearbeitet ist Foucaults räumliche Auffassung des Diskurses in der Archäologie des Wissens. An einer Stelle gebraucht Foucault selbst den Ausdruck »Kommunikationsraum« und meint damit einen »relativ beschränkte[n] Raum«,5 der definiert wird durch die Form der Positivität der Diskurse, was im Kontext des vorliegenden Beitrags bedeutet: durch die Äußerungen, und die jeweiligen Hervorbringensbedingungen.6 An anderer Stelle geht es Foucault um die Frage, »ob die Einheit des Diskurses nicht eher durch den Raum, in dem verschiedene Objekte sich profilieren und ständig sich transformieren, als durch die Permanenz und Besonderheit eines Objekts gebildet wird«.7 Diese Frage zu bejahen, bedeutet, den Diskurs nicht durch einen gemeinsamen Gegenstand, ein gemeinsames Thema zu definieren – wie es in der Diskurslinguistik mehrheitlich verfolgt wird –, sondern durch einen abstrakten 3
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Vgl. S. Bauriedl, »Impulse der geographischen Raumtheorie für eine raumund maßstabskritische Diskursforschung«, in: G. Glasze, A. Mattissek (Hg.), Handbuch Diskurs und Raum. Theorien und Methoden für die Humangeographie sowie die sozial- und kulturwissenschaftliche Raumforschung, Bielefeld: transcript 2009, S. 220. Vgl. V. Schreiber, »Raumangebote bei Foucault«, in: G. Glasze, A. Mattissek (Hg.), Handbuch Diskurs und Raum. Theorien und Methoden für die Humangeographie sowie die sozial- und kulturwissenschaftliche Raumforschung, Bielefeld: transcript 2009, S. 208. V. Schreiber, ebd., S. 199 f. M. Foucault, Archäologie des Wissens, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2008. [Orig.: L’archéologie du Savoir, Paris: Gallimard 1969], S. 183. Ebd., S. 184. Ebd., S. 50.
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Raum, in dem eine bestimmte »Regel gleichzeitigen oder sukzessiven Auftauchens verschiedener Objekte, die darin benannt, beschrieben, analysiert, geschätzt oder beurteilt werden«,8 gilt. Diese Beschreibung trifft ziemlich genau die Grundzüge der hier verwendeten Metapher von Diskursen als Kommunikationsräumen. Auch die Analyse von Diskursen beschreibt Foucault raummetaphorisch: Sie »durchläuft Zwischenräume und Abstände; sie hat ihren Bereich dort, wo die Einheiten nebeneinanderstehen, sich trennen, ihre Ränder festlegen, sich gegenüberstehen und zwischen sich leere Räume zeichnen«.9 Die Analyse der Aussagen ist immer die Analyse eines »Aussagegebietes«; seine Beschreibung besteht darin herauszufinden, »welchen besonderen Platz sie [die einzelne Aussage] einnimmt, welche Verzweigungen im System der Formationen ihre Lokalisierung gestatten, wie sie sich in der allgemeinen Streuung der Aussagen isoliert«10 usw. Der Diskursanalytiker bewegt sich also auch während seiner Untersuchungen immer in einem abstrakten Raum und arbeitet mit räumlichen Kategorien. Daraus könnte man schlussfolgern, dass er notwendig auch in räumlichen Kategorien über den Diskurs sprechen muss – ebenso, wie es Foucault selbst tut.
Die Metapher des Kommunikationsraums Durch die metaphorische Konzeptualisierung werden bestimmte Eigenschaften des Gegenstands ›Sprache und Sprechen in der Diktatur‹ hervorgehoben bzw. theoretisch vorstrukturiert. Dieser hermeneutische Prozess der Analogiebildung, den die Metapher leistet, strukturiert auch die Theoriebildung und den Forschungsprozess. Es werden Fragen an den Gegenstand aufgeworfen, die es erfordern, bestimmte Zusammenhänge zu differenzieren, zu konkretisieren, genauer einzuordnen. Es kommen also Fragen auf, die Sprachanalysen oder der Diskursbegriff allein nicht initiieren. ›Kommunikationsraum‹ ist eine Gefäß- oder Behälter-Metapher (container metaphor).11 Das heißt, es wird vor allem hervorgehoben, dass es um einen begrenzten Raum mit einem Innen und einem Außen geht, wobei diese Eingrenzung als schützend oder gerade als begrenzend und beengend in Erscheinung treten kann. Dies mag zunächst banal erscheinen. Wie die folgenden Beispiele zeigen werden, ist aber 8 9 10 11
Ebd. Ebd., S. 224. Ebd., S. 174. Vgl. G. Lakoff, M. Johnson, Leben in Metaphern. Konstruktion und Gebrauch von Sprachbildern, Heidelberg: Carl-Euer 1998 [engl.: Metaphors We Live By, Chicago: University of Chicago Press 1980].
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gerade die Exklusivität, der Grad der Abgeschlossenheit nach außen, ein Merkmal, das für Kommunikation und Sprachgebrauch in Diktaturen von Bedeutung ist. Die Funktion dieser Exklusivität ist verschieden. Kommunikationsräume sind mehr oder weniger einsehbar und zugänglich für unterschiedliche Akteure, Informationen dringen nur eingeschränkt nach außen oder werden gerade offensiv verteilt. Die verschiedenen Kommunikationsräume sind also durch je spezifische Eigenschaften gekennzeichnet, die insbesondere die Regeln des Sprechens und Schweigens bestimmen. Die Begrenztheit der Räume ist also auch so zu verstehen, dass sie sich von anderen dadurch unterscheiden, dass in ihnen spezifische diskursive und kommunikative Regeln gelten, die »außen« bzw. woanders nicht in gleicher Weise gelten. Im Kommunikationsraum herrschen bestimmte Regeln, die das in ihm Gesagte sagbar machen (und anderes nicht). Die diskursive Praxis ist bei Foucault die »Gesamtheit von anonymen, historischen, stets im Raum und in der Zeit determinierten Regeln«,12 die einen Diskurs je spezifisch strukturieren. Der Kommunikationsraum gibt den Diskursteilnehmern gewissermaßen einen Handlungsrahmen vor bzw. er prägt sie (und wird anders herum von ihrem Handeln in kollektiver Weise geprägt). In den Kommunikationsräumen existieren mehr oder weniger große Freiräume für individuelle Sprech- und Denkweisen, sie sind in unterschiedlichem Maße reguliert. Die je spezifischen diskursiven Regeln sind Ausdruck von Machtverhältnissen bzw. von einer bestimmten Verteilung von Macht. Für Foucault ist jeder Diskurs ein »Gut, das [...] mit seiner Existenz (und nicht nur in seinen ›praktischen Anwendungen‹) die Frage nach der Macht stellt. Ein Gut, das von Natur aus der Gegenstand eines Kampfes und eines politischen Kampfes ist.«13 An anderer Stelle heißt es: »in unseren Gesellschaften [...] ist der Besitz des Diskurses – gleichzeitig als Recht zu sprechen, Kompetenz des Verstehens, erlaubter und unmittelbarer Zugang der bereits formulierten Aussagen, schließlich als Fähigkeit, diesen Diskurs in Entscheidungen, Institutionen oder Praktiken einzusetzen, verstanden – in der Tat (manchmal auf reglementierende Weise sogar) für eine bestimmte Gruppe von Individuen reserviert«.14 Nicht jeder Kommunikationsraum ist also für jeden Akteur gleichermaßen zugänglich. Foucaults Machtbegriff entwickelte sich von einer negativen, repressiven Auffassung hin zu einer auch positiven, strategisch-produktiven. In der Archäologie des Wissens ist noch ganz die Repressionshypothese dominant: Es gibt die Mächtigen, die ihre Macht den Nichtmächtigen aufdrängen. Die Macht ist dabei etwas, was außerhalb 12 M. Foucault, Archäologie des Wissens (Fn. 5), S. 171. 13 Ebd., S. 175. 14 Ebd., S. 99 f.
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des Diskurses liegt, ihm vorausgeht.15 In der Ordnung des Diskurses werden Prozeduren der Ausschließung, des Verbots, der Zuteilung, der Verknappung beschrieben: »Ich setze voraus, daß in jeder Gesellschaft die Produktion des Diskurses zugleich kontrolliert, selektiert, organisiert und kanalisiert wird – und zwar durch gewisse Prozeduren, deren Aufgabe es ist, die Kräfte und die Gefahren des Diskurses zu bändigen«.16 In Der Wille zum Wissen definiert Foucault Macht als »die Vielfältigkeit von Kraftverhältnissen, die ein Gebiet bevölkern und organisieren; das Spiel, das in unaufhörlichen Kämpfen und Auseinandersetzungen diese Kräfteverhältnisse verwandelt, verstärkt, verkehrt«17. In diesem Verständnis führt Macht nicht mehr zu einer einfachen Zweiteilung in Herrscher und Beherrschte. Machtverhältnisse sind auch etwas, das immer wieder neu ausgehandelt wird. Machtbeziehungen sind allgegenwärtig und nicht einfach gleichzusetzen mit (starrer) Regierungsmacht oder der Macht von Institutionen. Fix betont nun aus diskurslinguistischer Perspektive ebenfalls, dass jede sprachliche Äußerung als komplexes Geflecht von Machtbeziehungen analysiert werden muss. Sie bezweifelt aber, dass Foucaults später Machtbegriff uneingeschränkt für ein diktatorisches System wie die DDR geltend gemacht werden kann, da hier »die Machtverhältnisse stabil verteilt sind«; es handelt sich um ein System »in dem nichts mehr regulär ausgehandelt werden kann, in dem kaum Prozesse der Machtentwicklung und -verteilung zu erwarten sind«.18 Die relativ stabilen Machtverhältnisse in Diktaturen sind unter anderem eine Ursache für die Ausbildung spezifischer Kommunikationsräume, darunter auch solcher, in denen die Akteure versuchen, sich dem Zugriff der Staatsmacht zu entziehen. Auch wenn es für bestimmte Untersuchungsinteressen durchaus sinnvoll sein kann, die kommunikative Welt in Diktaturen in den herrschenden Diskurs und den oder die 15 Vgl. U. Fix, »Die Ordnung des Diskurses in der DDR – Konzeption einer diskursanalytisch angelegten Monographie zur Analyse und Beschreibung von Sprache und Sprachgebrauch im öffentlichen Diskurs eines totalitären Systems«, in I. Warnke, J. Spitzmüller (Hg.), Methoden der Diskurslinguistik, Berlin/New York: de Gruyter 2008, S. 392 f. 16 M. Foucault, Die Ordnung des Diskurses. Mit einem Essay von Ralf Konersmann, München: Fischer 2003, S. 10 f. [Orig.: L’ordre du discours, Paris: Gallimard 1972]. 17 M. Foucault, Der Wille Zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2006, S. 93 [Orig.: Histoire de la sexualité 1: La volonté de savoir, Paris: Gallimard 1976]. 18 Vgl. U. Fix, »Die Ordnung des Diskurses in der DDR – Konzeption einer diskursanalytisch angelegten Monographie zur Analyse und Beschreibung von Sprache und Sprachgebrauch im öffentlichen Diskurs eines totalitären Systems«, in I. Warnke, J. Spitzmüller (Hg.), Methoden der Diskurslinguistik (Fn. 15), S. 394.
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Gegendiskurs(e) zu unterteilen,19 soll diese dichotome Sicht im vorliegenden Beitrag gerade überwunden und ausdifferenziert werden. Dabei wird sich unter anderem zeigen, dass sich nicht nur die Räume des widerständigen Sprechens in verschiedene Bereiche bzw. Diskurse ausdifferenzieren lassen, sondern dass auch der herrschende Diskurs unterschiedliche Räume mit unterschiedlichen diskursiven Regeln beinhaltet. Gerade das bereits angesprochene Merkmal der Exklusivität, das Geheimhalten und Ausschließen, kann einerseits der Erhaltung repressiver Macht dienen, aber auch der Schaffung von Freiräumen, die sich einer Macht entziehen wollen oder eine Gegenmacht zu etablieren versuchen: »Desgleichen sichern das Schweigen und das Geheimnis die Macht und ihre Untersagungen; aber sie lockern auch ihre Zugriffe und schaffen mehr oder weniger dunkle Spielräume.«20 Widerständiges Sprechen kann aber im Gegenteil auch und gerade in der Öffentlichkeit seine die Machtverhältnisse verändernde Wirkung entfalten oder konformes Sprechen seine konsolidierende Wirkung.
Kommunikation und Sprachgebrauch in der Diktatur Entdifferenzierungsprozesse – Ausdifferenzierungsprozesse In autoritären und insbesondere totalitären Regimen – wenngleich in unterschiedlichem Ausmaß und unterschiedlicher Art und Weise – kommt es zu einer Entdifferenzierung von gesellschaftlichen Teilsystemen, die auch Auswirkungen auf Kommunikation und Sprachgebrauch hat. Die staatliche Autorität bestimmt Rationalität und Struktur von Institutionen und »Regeln« in (nahezu) allen Bereichen. Für die DDR beispielsweise werden funktionale Entdifferenzierungs- und institutionelle Fusionierungsprozesse in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft konstatiert.21 Statt Teilsystemen mit »je spezifischen Rationalitätskriterien« gab es eine »Dominanz der Politik« und »schwach ausgeprägte [...] Begrenzungen staatlich-parteilicher Herrschaftsmacht«.22 Sigrid Meuschel konstatiert 19 Eine Zweiteilung, die Foucault im Übrigen so nie vorgenommen hat. Insbesondere der Begriff des Gegendiskurses existiert bei ihm so nicht. Er unterscheidet lediglich verschiedene Diskurse bzw. diskursive Praktiken und Formationen. 20 M. Foucault, Der Wille Zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1 (Fn. 17), S. 100. 21 Vgl. J. Kocka, »Ein deutscher Sonderweg. Überlegungen zur Sozialgeschichte der DDR«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Bd., 40 (1994), S. 43. 22 J. Kocka, »Eine durchherrschte Gesellschaft«, in: H. Kaelble, J. Kocka, H. Zwahr (Hg.), Sozialgeschichte der DDR, Stuttgart: Klett-Cotta 1994, S. 549 f.
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für die DDR auf gesellschaftlicher Ebene zudem einen »machtpolitisch durchgesetzte[n] soziale[n] Entdifferenzierungsprozeß«.23 Auf die Kommunikation wirken sich Entdifferenzierungsprozesse dieser Art in mehrerer Hinsicht aus: Zum einen folgen aus funktionaler Entdifferenzierung bzw. institutioneller Fusionierung spezifische Kommunikationsbedingungen. Zum anderen wird auf Sprachgebrauch und Kommunikation durch sprachbezogene Verbote und Lenkung auch direkt Einfluss genommen. Für den Bereich der Literatur ergeben sich beispielsweise unmittelbare Auswirkungen auf die Möglichkeiten und Bedingungen der Veröffentlichung.24 Das literarische Schreiben selbst ist – kontextfrei betrachtet – erst einmal weiterhin für jeden Autor möglich, aber es ist unter anderem fraglich, was davon öffentlich wird bzw. veröffentlicht wird. Neben dieser Machtausübung über Institutionen gibt es aber auch einen »inneren Druck«, wie es Fix25 genannt hat, der beispielsweise den Autor zwingt, zu reflektieren, inwiefern er sich Sprachund Ausdrucksverboten anpassen, sich ihnen widersetzen oder sie umgehen möchte – mit allen Folgen, die dies auf sein zukünftiges (theoretisch mögliches) Schreiben haben kann. Die direkten Maßnahmen der Sprachlenkung und des Verbots zielen in der Diktatur auf Vereinheitlichung und damit auf sprachlich-kommunikative Entdifferenzierung. (Nicht in allen Kommunikationsräumen kann diese jedoch gleichermaßen wirksam werden, wie noch genauer zu beschreiben sein wird.) Klemperer hat die LTI (lingua tertii imperii) in diesem Sinne als »bettelarm«, als eintönig und fixiert bezeichnet, denn der Sprachgebrauch der Nationalsozialisten drang in alle Kommunikationsbereiche ein und vereinheitlichte sie: Merkmale der LTI finden sich nicht nur im Bereich der Politik, sondern auch in den Medien, im Recht, in der Verwaltung und sogar in den Fachsprachen, beispielsweise der Medizin und der Pharmazie.26 In jedem Bereich erfülle die LTI nur eine Funktion: »Beschwörung«,27 die Bevölkerung soll auf die Ideologie eingeschworen werden: »[D]er Nazismus glitt in Fleisch und Blut der Menge über durch die Einzelworte, die Redewendungen, die Satzformen, die er ihr in millionenfachen Wiederholungen aufzwang und die mechanisch und unbewußt übernommen wurden.«28 Interessant ist, 23 S. Meuschel, Legitimation und Parteiherrschaft. Zum Paradox von Stabilität und Revolution in der DDR 1945–1989, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1992, S. 10. 24 Vgl. E. Mann, Untergrund, autonome Literatur und das Ende der DDR, Frankfurt/M. [u. a.]: Peter Lang 1996, S. 43 ff. 25 U. Fix, »Was hindert die Bürger am freien Sprechen? Die Ordnung des Diskurses in der DDR«, in: U. Fix: Sprache, Sprachgebrauch und Diskurse in der DDR, Berlin: Frank & Timme 2014, S. 64 f. 26 Vgl. V. Klemperer, LTI, Leipzig: Reclam 1982, S. 25. 27 Ebd., S. 29. 28 Ebd., S. 21.
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dass Klemperer die LTI als den Sprachgebrauch der politischen Klasse mit dem Bereich der Öffentlichkeit assoziiert und anklingen lässt, dass sich dieser öffentlich-politische Bereich ausbreite: »alles ist Rede, alles ist Öffentlichkeit«29 – eine weitere Perspektive auf kommunikative Entdifferenzierung. Victor Klemperers LTI ist sicher eine der berühmtesten und eindrücklichsten Beschreibungen der Sprache einer Diktatur. Was er, teilweise emphatisch-zuspitzend und generalisierend, beschreibt, dürfte in seinen Grundzügen auch für den Sprachgebrauch anderer Diktaturen Gültigkeit haben. Ulla Fix nimmt mit dem Schlagwort »LQI« (lingua quartii imperii) direkt Bezug: Ihre Beschreibung des öffentlichen Sprachgebrauchs in der DDR akzentuiert insbesondere die Normiertheit, Formelhaftigkeit und sinnentleerte Ritualität.30 Diese Normiertheit bzw. das Normierungsbestreben gilt allerdings nicht für allen Sprachgebrauch, sondern insbesondere für den Bereich des Öffentlichen und Offiziellen. Selbstverständlich gibt es in jeder Gesellschaft, jedem politischen System Normen des Sprachgebrauchs und der Kommunikation, die den Diskurs ordnen und regulieren. Sie sind jedem Diskursteilnehmer bekannt, wenngleich nicht immer bewusst. In Diktaturen sind diese Normen zumindest für den Bereich des Öffentlichen und Offiziellen jedoch einseitig und mehr oder weniger einheitlich bestimmt, zudem werden sie in der Regel repressiv durchgesetzt. Mit Entdifferenzierung ist nicht gemeint, dass alle Bürger in jeder Kommunikationssituation gleich gesprochen und geschrieben hätten – im Gegenteil.31 Im Folgenden soll erörtert werden, welche Folgen und »Gegenbewegungen« es gibt: Kommunikative Entdifferenzierungsprozesse scheinen nämlich in einer Art Ausgleichsbewegung eine funktionale Ausdifferenzierung (oder Ausweitung) von Kommunikationsräumen nach sich zu ziehen. Die unterschiedlichen Ausdrucksbedürfnisse und Funktionen, die der öffentliche Raum nicht mehr übernehmen kann, werden verlagert, es werden andere Räume gesucht oder geschaffen um sich auszutauschen, um Themen zu besprechen und ›öffentlich‹ 29 Ebd., S. 29. 30 Vgl. U. Fix, »Die Beherrschung der Kommunikation durch die Formel. Politisch gebrauchte rituelle Formeln im offiziellen Sprachgebrauch der »Vorwende«-Zeit in der DDR. Strukturen und Funktionen«, in: B. Sandig (Hg.), Europhras 92. Tendenzen der Phraseologieforschung, Bochum: Brockmeyer 1994, S. 139–153. U. Fix, »Wortzuteilung, Wortverknappung, Wortverweigerung, Wortverbot. Die Rolle von Benennungen bei der Steuerung des Diskurses«, in: I. Barz, M. Schröder (Hg.), Nominationsforschung im Deutschen, Frankfurt/M. [u.a.]: Peter Lang 1997, S. 345–359. 31 Vgl. auch C. Fraas, K. Steyer, »Sprache der Wende – Wende der Sprache? Beharrungsvermögen und Dynamik von Strukturen im öffentlichen Sprachgebrauch«, in: M. W. Hellmann, M. Schröder (Hg.), Sprache und Kommunikation in Deutschland Ost und West. Ein Reader zu fünfzig Jahren Forschung, Hildesheim: Olms 2008, S. 303.
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zu machen, um sich individuell auszudrücken etc. Manche Kommunikationsräume bekommen somit eine andere Bedeutung als in demokratischen Gesellschaften. Je nach den konkreten gesellschaftlich-politischen Bedingungen, auch denen in unterschiedlichen Diktaturen, kann sich die Funktionalität der Kommunikationsräume verändern. Die im folgenden Abschnitt zitierten Autoren gehen interessanterweise auch darauf ein, dass diese Kommunikationsräume sogar über das Bestehen des autoritären Staates hinaus im kommunikativen Handeln Einzelner präsent sein können und bestimmen, was wie für sagbar gehalten wird.32 Entscheidend für die Beschreibung von Sprachgebrauch und Kommunikation in der Diktatur sind die Möglichkeiten und Bedingungen des Sprechens, das heißt die diskursiven Regeln, auf Basis derer etwas geäußert oder nicht geäußert wird. Der Beitrag zielt aber nicht auf einen Überblick diskurslinguistischer Analysemethoden oder Methoden zur systematischen Erfassung von Äußerungskontexten. Der Fokus liegt vielmehr auf dem Verhältnis von Öffentlichkeit und Nicht-Öffentlichkeit, Offizialität und Inoffizialität sowie Privatheit. Eine einfache Dichotomie, bei der es einen (ideologie-konformen, hegemonialen) Diskurs und einen (nicht-konformen, widerständigen, subversiven) Gegendiskurs gibt, bei der die Öffentlichkeit der Herrschaftsraum ist, während der Widerstand im Verborgenen stattfindet, lässt sich dabei nicht aufrechterhalten. Die Äußerung von Protest benötigt ja gerade Öffentlichkeit und so bilden sich unter anderem neue öffentliche Räume. Entscheidend für die Bestimmung von Kommunikationsräumen in der Diktatur ist aber nicht nur der Grad der Öffentlichkeit, sondern auch die Frage, wer überhaupt an Kommunikation teilnimmt und in welcher Rolle, oder die Frage, wer den Zugang zu einem bestimmten Kommunikationsraum reguliert und mit welchem Zweck dies geschieht. Schweigen bzw. Verbergen und damit das Ausschließen aus einem kommunikativen Vorgang hat aufseiten der autoritären Macht mitunter eine ganz andere Funktion als aufseiten des Individuums (wo es zum Beispiel um Schutz gehen kann, während Verbergen seitens der Autoritäten auf Machterhalt zielen kann), wobei auch hier ein einfaches Verständnis von Exklusion als lediglich repressivem Vorgang unzulänglich ist.
Kurze terminologische Klärung Im vorliegenden Beitrag ist von privaten, öffentlichen und offiziellen Kommunikationsräumen die Rede. Diese Unterscheidung bildet den terminologischen Ausgangspunkt für die weitere Differenzierung und 32 Vgl. V. Voronkov, »Politische Biografien im privaten und öffentlichen Diskurs«, in: I. Miethe, S. Roth (Hg.), Politische Biografien und sozialer Wandel, Gießen: Psychosozial-Verlag 2000, S. 150–162 sowie V. Klemperer, LTI (Fn. 26).
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detaillierte Beschreibung. Kennzeichnend für die Unterscheidung privater und offizieller Kommunikation sind in erster Linie die sozialen Rollen der Teilnehmer, die mit einem Komplex an Verhaltenserwartungen verbunden sind und die Kommunikationssituation vorstrukturieren: Die Kommunizierenden treten sich bei offizieller Kommunikation in einer offiziellen Funktion gegenüber, zum Beispiel als Politiker, als Vertreter einer Behörde, als Geschäftsmann, Schuldirektor usw. – »also im wesentlichen als Amtspersonen und Institutionen«.33 Die Kommunikationsregeln haben eine wesentlich höhere Verbindlichkeit als im privaten Bereich, in dem sich die Kommunikationsteilnehmer ausschließlich in privaten Rollen gegenüber treten, also als Freunde, Verwandte, Nachbarn usw. Der öffentliche Kommunikationsraum definiert sich weniger über soziale Rollen als über die Frage, für wie viele Rezipienten die Kommunikation zugänglich ist bzw. an wie viele (und welche) Rezipienten sie sich richtet. Hierunter zählt alle Kommunikation, die in der Öffentlichkeit stattfindet bzw. allgemein zugänglich ist; prototypisch sind das Formen der Massenkommunikation, wie Presse, Funk und Fernsehen, Internet.34 Brinker et al. bezeichnen die öffentliche Kommunikation als den direkten Gegensatz zur privaten Kommunikation.35 Zwar werden sie nicht nach demselben Merkmal unterschieden, aber der Gegensatz leuchtet insofern ein, als private Kommunikation prototypischerweise in einem kleinen Kreis und damit nicht vor einem größeren Publikum in der Öffentlichkeit stattfindet. Zwischen offizieller und öffentlicher Kommunikation hingegen gibt es Überschneidungsbereiche, auch wenn nicht alle offizielle Kommunikation in der Öffentlichkeit stattfindet.36 Beispiele: Ausdifferenzierung und Ausweitung von Kommunikationsräumen In Untersuchungen, die sich mit Aspekten von Sprache und Kommunikation in Diktaturen beschäftigen, sind es immer wieder die Eigenschaften öffentlichen und privaten Sprechens, die Besonderheiten von Öffentlichkeit und nicht-öffentlichen Räumen, die thematisch werden. Je nach 33 K. Brinker, H. Cölfen, S. Pappert, Linguistische Textanalyse. Eine Einführung in Grundbegriffe und Methoden, Bremen: Erich Schmidt Verlag 2014, S. 143. 34 Vgl., ebd. 35 Vgl., ebd. 36 Die im Folgenden zitierten Autoren verwenden teilweise unterschiedliche Termini oder verstehen gleiche Begriffe im Detail unterschiedlich. Wo es nötig schien, habe ich daher versucht, das jeweils (im Kontext) Gemeinte durch eine Paraphrase zu verdeutlichen bzw. auf die in diesem Abschnitt explizierte Terminologie zu beziehen.
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politisch-gesellschaftlichem System werden verschiedene Konstellationen beschrieben.37 Gemeinsam scheint den Beschreibungen jedoch zu sein, dass sie sich von den Verhältnissen in demokratisch-pluralistischen Systemen unterscheiden und vor diesem Hintergrund thematisierungswürdig werden. Voronkov spricht für die sowjetische Gesellschaft von deutlichen »Besonderheiten des Verhältnisses von Öffentlichkeit und Privatheit«,38 Miethe39 hält gängige Konzeptionen von öffentlich und privat in Bezug auf staatssozialistische Gesellschaften wie die DDR für nicht in gleichem Maße gültig, Khiari-Loch40 beschreibt für das Tunesien unter Bourghiba und Ben Ali eine Aufspaltung der community of practice in (nur bestimmten Akteuren verfügbare) Praktiken des Machtapparates einerseits und kommunikative Praktiken des privaten Bereichs andererseits, was gemeinsame Absichten und Interaktionen der Gemeinschaft letztlich erschwere. Und auch bei Klemperer lässt sich zumindest implizit eine Thematisierung von verschiedenen Orten des Sprechens mitlesen, wenn er zu Beginn seiner Abhandlung hervorhebt, dass es beim Wesen der LTI eben nicht nur um die Reden Hitlers, Goebbels’ und anderer politischer Akteure ginge, sondern auch und gerade um die »normalen Leute«, denen der Nazismus auch über die Sprache aufgezwungen wurde und der von ihnen »unbewußt übernommen« wurde und damit nicht auf den Bereich des Öffentlichen beschränkt ist.41 Im Folgenden sollen einige der Konzeptualisierungen von Öffentlichkeit und Privatheit in Diktaturen genauer charakterisiert werden. Im Hinblick auf die Beschreibungskriterien im Abschnitt unten soll damit beispielhaft illustriert und gleichzeitig herausgearbeitet werden, welche unterschiedlichen Kommunikationsräume sich in den verschiedenen angesprochenen Systemen beschreiben lassen und welche Merkmale von den Autoren zur Unterscheidung verschiedener Räume angewendet werden. Häufig werden für Diktaturen drei Räume bzw. Sphären beschrieben, in denen Kommunikation stattfindet: Es wird eine – unterschiedlich definierte und teilweise auch mit unterschiedlichen Benennungen bzw. Abgrenzungen einhergehende – Unterscheidung zwischen einem ›privaten‹ 37 Als Beispiele hierfür vgl. die Beiträge von I. Khiari-Loch und K. Stock in diesem Band. 38 V. Voronkov, »Politische Biografien im privaten und öffentlichen Diskurs«, in: I. Miethe, S. Roth (Hg.), Politische Biografien und sozialer Wandel (Fn. 32), S. 150. 39 Vgl. I. Miethe, »Biografie als Vermittlungsinstanz zwischen öffentlichen und privaten Handlungsräumen: Das Beispiel von Frauen der DDR-Opposition«, in: I. Miethe, S. Roth (Hg.), Politische Biografien und sozialer Wandel, Gießen: Psychosozial-Verlag 2000, S. 168. 40 Vgl. den Beitrag von I. Khiari-Loch in diesem Teil. 41 Vgl. V. Klemperer, LTI (Fn. 26), S. 17, S. 21.
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oder ›informellen‹ und einem ›öffentlichen‹ Bereich getroffen und ein – sehr unterschiedlich beschriebener – ›Zwischenbereich‹ angenommen. Diese kommunikativen Zwischenbereiche haben ihre eigenen diskursiven Regeln und ihre je spezifische Funktion und resultieren, stark verallgemeinert gesprochen, vor allem aus dem Versuch des Staates auch in die Privatsphäre einzudringen, das heißt aus intendierten Entdifferenzierungsprozessen. Die ›Zwischenbereiche‹ gestalten sich häufig als eine Art Alternative zur Öffentlichkeit oder auch als eine Art Ersatz- oder Parallelöffentlichkeit. Sie übernehmen also Aufgaben, die aus Perspektive des »normalen Bürgers« sonst dem (offiziell-)öffentlichen Bereich zugeordnet wären. Öffentlichkeit und Privatheit sind zunächst einmal soziale Konstruk42 te; in den klassischen politikwissenschaftlichen Konzeptionen ist die öffentliche Sphäre mit dem politischen Handeln und der Privatraum mit dem nicht-politischen Handeln verknüpft.43 In Diktaturen verschieben sich jedoch diese Zuordnungen. Viktor Voronkov unterscheidet eine offiziell-öffentliche, eine privat-öffentliche und eine private Sphäre. Öffentliche und private Sphäre sind bei ihm zunächst einmal nach der faktischen Gültigkeit staatlicher Gesetzgebung unterschieden: Das Handeln (und damit auch das sprachliche Handeln) im öffentlichen Raum sei an die staatliche Gesetzgebung gebunden. Der öffentliche Raum falle zusammen mit dem »Raum der offiziellen Verlautbarungen und des offiziell sanktionierten Bildes von der sowjetischen Gesellschaft«, er nennt dies den »Raum des Gesetzesrechts«.44 Der nicht-offizielle, informelle Bereich sei hingegen durch Gewohnheitsrecht und durch Alltagsnormen und -konventionen reguliert.45 Seine Entgegensetzung von Kommunikationsräumen bezieht sich also hauptsächlich auf die Dimension des Offiziellen, weniger auf die Frage der Öffentlichkeit oder Nicht-Öffentlichkeit. Für die sowjetische Gesellschaft der letzten Jahrzehnte stellt er eine Ausweitung der »durch das informelle Gewohnheitsrecht regulierte[n] Sphäre« fest, die so weit ging, dass diese die Sphäre, in der das gesetzte Recht herrschte, 42 Vgl. I. Miethe, »Biografie als Vermittlungsinstanz zwischen öffentlichen und privaten Handlungsräumen: Das Beispiel von Frauen der DDR-Opposition«, in: I. Miethe, S. Roth (Hg.), Politische Biografien und sozialer Wandel (Fn. 39), S. 163. 43 Vgl., ebd. Zudem ist der Sphäre der Öffentlichkeit eher das Männliche, dem Privatraum hingegen das Weibliche zugeordnet. Auf diesen Aspekt, der bei Miethe wesentlich ausgeführt wird, wird im Folgenden nicht näher eingegangen. 44 V. Voronkov, »Politische Biografien im privaten und öffentlichen Diskurs«, in: I. Miethe, S. Roth (Hg.), Politische Biografien und sozialer Wandel (Fn. 32), S. 152. 45 Ebd.
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dominierte.46 Die Normen beider Rechtssphären seien als legitim anerkannt worden, auch wenn sie sich gegenseitig ausschlossen. Diese »nachhaltige Deformation des Rechtsraumes führte zu einer gewissermaßen ›ausgleichenden‹ Deformation des Kommunikationsraumes«:47 Es gab eine schroffe Abgrenzung zwischen der Sinnsphäre des Alltags und anderen Sinnsphären, was dazu führte, dass eine Kommunikation zwischen Alltagswelt und anderen Erfahrungswelten schwierig war. Was in der Sphäre des Gewohnheitsrechts sag- und erörterbar war, war in der öffentlich-offiziellen Sphäre strikt tabuisiert; der öffentlich-offizielle Raum war repressiv – außerhalb konnte aber praktisch alles diskutiert werden.48 Dieses ›außerhalb‹ ist allerdings nicht gleichbedeutend mit Privatheit. Während der Stalin-Ära war die private Sphäre von sehr geringer Bedeutung, weil sie für den Einzelnen so gut wie gar nicht existierte; Ausdruck davon ist zum Beispiel die »Ideologie des kollektiven Lebens«, die sich unter anderem in der Wohnform der Kommunalkas widerspiegelte. Nach der Stalin-Ära bildete sich dann eine »zweite« öffentliche Sphäre heraus: die öffentliche Sphäre des »realen Lebens«, wie sie Voronkov nennt, die von der offiziell-öffentlichen Sphäre durch eine scharfe Grenze getrennt gewesen sei.49 Dieser Kommunikationsraum entstand überhaupt nur, weil Themen des realen Lebens in der offiziellen Öffentlichkeit nicht diskutiert werden konnten. Sie war keineswegs nur der Kommunikationsraum der »normalen Bürger«, auch Angehörige der Machtebene führten in diesem Kommunikationsraum inoffizielle Gespräche.50 Zentrales Charakteristikum dieser privaten Öffentlichkeit ist ihre Abgeschlossenheit: Sie ist situiert in geschützten Räumen, wie beispielsweise Einzelwohnungen. Als typisches Beispiel nennt Voronkov die »Küche der Intelligenzija«, wobei damit nicht das Kommunikationsfeld eines bestimmten Milieus bezeichnet werden soll: »Jeder Sowjetbürger, selbst die Angehörigen der höchsten Machtebene, handelte vorwiegend in dieser Sphäre. So sind die inoffiziellen Gespräche auch von Politbüromitgliedern in ihrer ›privaten Küche‹ selbstverständlich in diesem privat-öffentlichen Raum zu lokalisieren.«51 In den drei Sphären herrschten verschiedene Kommunikationsregeln, die steuerten, »was und wie gesprochen werden kann bzw. muss«.52 Voronkovs drei Sphären sind also neben dem je spezifischen Grad der Exklusivität/Inklusivität durch charakteristische »diskursive Regeln« 46 47 48 49 50 51 52
Vgl., ebd., S. 152 f. Ebd., S. 153. Vgl., ebd., S. 154. Vgl., ebd. Vgl., ebd., S. 155. Ebd. Ebd., S. 156.
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gekennzeichnet, die auch bestimmen, welche Themen tabuisiert sind.53 Jedem Mitglied der sowjetischen Gesellschaft waren diese Regeln geläufig. Um Protest auszudrücken, verletzten sie die Dissidenten mitunter bewusst, indem sie die Regeln der (exklusiven) privat-öffentlichen Sphäre demonstrativ auf die Sphäre der (nicht exklusiven) offiziellen Öffentlichkeit übertrugen.54 Für die DDR wird die besonders ausgeprägte innere Mehrsprachigkeit als Charakteristikum der Kommunikation genannt.55 Sowohl Miethe als auch Fraas und Steyer unterscheiden einen öffentlichen und einen privaten Kommunikationsraum, sowie einen halböffentlichen Raum.56 Wichtigstes Kriterium zur Unterscheidung ist der Grad der Sichtbarkeit und Exklusivität des Kommunikationsraums bzw. letztlich die Zahl der (aktiven und passiven) Kommunikationsteilnehmer sowie der Grad der »Zugangskontrolle«, das heißt das Maß, in dem der Zugang zum Kommunikationsraum reguliert und kontrolliert wurde. Zudem spielt für die Unterscheidung eine Rolle, inwiefern ein institutioneller Rahmen gegeben ist. Der öffentliche Diskurs realisiert sich bei Fraas und Steyer in politischen Veranstaltungen, beispielsweise im Rahmen von Kundgebungen, Parteitagen und öffentlichen Versammlungen. Er findet zudem in den Medien und anderen Institutionen (zum Beispiel Schule, Ämter, Armee) statt. Auch Fraas und Steyer koppeln diesen Kommunikationsraum also mehr oder weniger direkt an den Bereich des Offiziellen. Sie sehen darin insofern ein Ergebnis kommunikativer Entdifferenzierung, als der öffentliche Diskurs »vor der Wende zum größten Teil mit dem partei- und regierungsoffiziellen Diskurs und seiner Repräsentation in den Medien identisch war«.57 Der Bereich des Öffentlichen war dabei geprägt durch sprachliche Normiertheit, Nähe zur Fachsprache sowie durch die rituelle Handhabung vorgegebener Sprachformeln.58 Ähnlich wie Voronkov betonen sie die schroffe Abgrenzung des öffentlichen Diskurses, indem sie ihn als »autarke Kommunikationswelt« bezeichnen, die »zu keiner Zeit […] repräsentativ für das Deutsche in der DDR« gewesen sei.59 53 Vgl., ebd., S. 162. 54 Vgl., ebd., S. 160. 55 Vgl. C. Fraas, K. Steyer, »Sprache der Wende – Wende der Sprache? Beharrungsvermögen und Dynamik von Strukturen im öffentlichen Sprachgebrauch«, in: M. W. Hellmann, M. Schröder (Hg.), Sprache und Kommunikation in Deutschland Ost und West. Ein Reader zu fünfzig Jahren Forschung (Fn. 31), S. 304. 56 Vgl. auch den Beitrag von U. Fix in diesem Band. 57 Ebd., S. 303. 58 Vgl. auch S. Pappert in diesem Teil. 59 C. Fraas, K. Steyer, »Sprache der Wende – Wende der Sprache? Beharrungsvermögen und Dynamik von Strukturen im öffentlichen Sprachgebrauch«,
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Den sogenannten »halböffentlichen Diskurs« verorten die Autoren in Kirche und Oppositionsgruppen sowie im kulturellen Bereich, also beispielsweise in Theatern, bei Lesungen oder Konzerten, aber durchaus auch in Interessengruppen oder Parteien. Entscheidendes Charakteristikum zur Abgrenzung vom privat-zwischenmenschlichen Kommunikationsraum, der im Familien-, Nachbar-, Freundes- und Bekanntenkreis verortet wird, ist der institutionelle Rahmen.60 Im Sprachgebrauch des halböffentlichen Diskurses finden sich dementsprechend sowohl alltagssprachliche Elemente als auch Merkmale der öffentlichen Rede. Öffentlicher und halböffentlicher Diskurs sind intertextuell einseitig aufeinander bezogen, in dem Sinne, dass beispielsweise Politikeräußerungen im halböffentlichen Kommunikationsraum reformuliert wurden, dass Kritik am Umgang der DDR-Medien mit bestimmten Themen geübt wurde oder dass sprachliche Rituale öffentlicher Rede thematisiert wurden – aber nicht anders herum.61 Fraas und Steyer charakterisieren dies als eine »ausgeprägte Metaebene der Kommunikation«, bei der »keinerlei Rückwirkungen auf den Bereich [des Öffentlichen, B.B.]« möglich sei: Es handle sich um isolierte Kommunikationswelten,62 das heißt, sie heben besonders das Merkmal der Abgeriegeltheit bzw. Isolation des öffentlichen Kommunikationsraums hervor. Der halböffentliche und privat-zwischenmenschliche Bereich sind demgegenüber durchlässig für Themen, Bewertungen, Äußerungen. In einem ähnlichen Sinne charakterisiert auch Miethe den »halböffentlichen« Raum (bzw. »intermediäre« Organisationen63) in der DDR: Sie bezeichnet diesen Raum als »Ersatzöffentlichkeit«64 bzw. »Gegenöffentlichkeit«,65 die mit alternativen kommunikativen Netzwerken einhergehe. Diese »Halböffentlichkeit« entstehe, weil die Öffentlichkeit im Staatssozialismus für die Auseinandersetzung mit bestimmten Themen nicht zur Verfügung stehe. Insbesondere den Samisdat (›Selbstverlag‹), also die Verbreitung nicht-konformer Schriften auf nicht-offiziellem Wege, nennt sie als eine Ausprägung dieser Halböffentlichkeit.66 Den
60 61 62 63
64 65 66
in: M. W. Hellmann, M. Schröder (Hg.), Sprache und Kommunikation in Deutschland Ost und West. Ein Reader zu fünfzig Jahren Forschung (Fn. 31), S. 303. Vgl., ebd. Vgl., ebd. Ebd. I. Miethe, »Biografie als Vermittlungsinstanz zwischen öffentlichen und privaten Handlungsräumen: Das Beispiel von Frauen der DDR-Opposition«, in: I. Miethe, S. Roth (Hg.), Politische Biografien und sozialer Wandel (Fn. 39), S. 173. Ebd., S. 181. Ebd., S. 173. Vgl. auch den Beitrag von U. Fix in diesem Band.
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Privatraum charakterisiert sie deutlicher als Fraas und Steyer in seiner Ambivalenz: Einerseits biete er durch seine Abgeschlossenheit eine (auch kommunikative) Freiheit und sei so ein Schutzraum. Andererseits sei auch dieser Raum niemals sicher vor Übergriffen vonseiten der Staatsmacht (zum Beispiel durch geheimdienstliche Überwachung).67 Für das Tunesien unter Bourghiba und Ben Ali konstatiert Khiari-Loch68 eine der DDR vergleichbare Situation: Sie unterscheidet einen Bereich der öffentlichen Ausdrucksweise und einen Bereich der Alltagssprache, der vor allem als privater Kommunikationsraum zu verstehen ist. Sie betont weniger die Abgegrenztheit des öffentlichen Kommunikationsraums als die Durchlässigkeit, wenn nicht sogar Bedrohung des privat-alltäglichen Kommunikationsraums für bzw. durch die Macht des Staates: Mit Bezug auf Engeroff stellt sie fest, »dass auch in halböffentlichen und privaten Textdokumenten stets eine Art Öffentlichkeit, ein Mitleser oder imaginärer Adressat, angenommen werde, was zu einer konsequenten Selbstreflexion und zum Verbergen von kritischen Inhalten führe und somit selbst den individuellen Sprachgebrauch beeinflusse«.69 Der Staat wirkt also nicht nur direkt, durch repressive Maßnahmen wie Verbote oder autoritäre Sprachlenkung, seine Macht schlägt sich auch indirekt in der Kommunikation des Individuums nieder, beispielsweise bereits in einer bewussteren Reflexion und Entscheidung für oder gegen bestimmte Äußerungen und sprachliche Handlungen, die nicht auf den öffentlichen Kommunikationsraum beschränkt ist.70 In allen Darstellungen der Sphären/Diskurse/(Kommunikations-) Räume wurde die Dominanz des Staates über den Bereich der Öffentlichkeit deutlich. Es war außerdem die Rede von den verschiedenartigen Versuchen der Staatsmacht, in alle Lebensbereiche, auch und gerade in das Private, einzudringen. Letzteres kann als Ausdruck bzw. als Effekt von Entdifferenzierungsintentionen des Staates verstanden werden, die allerdings auf der Ebene der Diskurse vielmehr zu einer Ausdifferenzierung der Kommunikationsräume führen als zu einer geglückten Entdifferenzierung – sei es durch Herausbildung einer neuen, alternativen Halböffentlichkeit, sei es durch die Verankerung von Themen, die klassischerweise im öffentlichen Raum verortet sind (wie politischen 67 I. Miethe, »Biografie als Vermittlungsinstanz zwischen öffentlichen und privaten Handlungsräumen: Das Beispiel von Frauen der DDR-Opposition«, in: I. Miethe, S. Roth (Hg.), Politische Biografien und sozialer Wandel (Fn. 39), S. 181. 68 Vgl. den Beitrag von I. Khiari-Loch in diesem Teil. 69 Ebd., S. 104. 70 Vgl. auch U. Fix »Was hindert die Bürger am freien Sprechen? Die Ordnung des Diskurses in der DDR«, in: U. Fix, Sprache, Sprachgebrauch und Diskurse in der DDR (Fn. 25), S. 63.
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Fragen) im privaten Kommunikationsraum. Insofern ist eine schematische Unterteilung von Kommunikationsräumen notwendig unvollständig: Welche Bedeutung ein und derselbe Raum in verschiedenen gesellschaftlichen Systemen und für verschiedene Typen von Personen haben kann, ist sehr verschieden und ein Gegenstand für empirische Analysen.71 Eine gewisse Leerstelle in den zusammengefassten Darstellungen ist die Ausdifferenzierung staatlicher Sphären und Kommunikationsräume. Lediglich bei Voronkov klingt eine Differenzierung zumindest an. Implizit oder explizit setzen alle zitierten Autoren Öffentliches und Offizielles gleich. Ausdifferenziert wird lediglich der öffentliche Kommunikationsraum. Aber nicht alles Offizielle ist auch öffentlich. Ein Großteil der staatlichen Kommunikation findet gerade nicht-öffentlich, also innerhalb der staatlichen Eliten, teilweise sogar im Verborgenen, unter Beteiligung einer größeren oder kleineren Zahl von Akteuren statt. Ein prototypisches Beispiel für einen hochgradig exklusiven Kommunikationsraum sind die Geheimdienste. Sie sind offizielle Institutionen, ihre Kommunikation findet aber zum allergrößten Teil nicht öffentlich statt. Ihre Kommunikation ist in mehrere Richtungen exklusiv, das heißt, Kommunikationsteilnehmer werden gezielt ausgeschlossen. Das betrifft nicht nur interne Absprachen zwischen Geheimdienst und Machtregime, die natürlich nicht an die Öffentlichkeit dringen. Es betrifft vor allem die Gesamtheit der Kommunikation, die im Kontext von geheimdienstlichen Operationen stattfindet, sei es die schriftliche Dokumentation in Form von Geheimdienstakten, seien es Absprachen zwischen Geheimdienstmitarbeitern und Vorgesetzten (auf den unterschiedlichen Hierarchie-Ebenen72) etc. Auch die überwachten Personen, die unmittelbar von diesen Kommunikationsvorgängen betroffen sind, bleiben ausgeschlossen und wissen in der Regel nicht einmal, dass diese Kommunikation über sie stattfindet. Auch die hauptamtlichen Mitarbeiter von Geheimdiensten haben nicht alle in gleichem Maße Zugang zu aller Kommunikation, sie bleiben mitunter partiell ausgeschlossen, auch wenn sie unmittelbarer Bestandteil des Kommunikationsraums sind. Im Fall der DDR-Staatssicherheit beispielsweise befinden sich die inoffiziellen Mitarbeiter (die Informationszuträger unter den ›normalen Bürgern‹) in einer Art Zwitterstellung zwischen Ausschließen aus dem Diskurs und 71 Vgl. I. Miethe, »Biografie als Vermittlungsinstanz zwischen öffentlichen und privaten Handlungsräumen: Das Beispiel von Frauen der DDR-Opposition«, in: I. Miethe, S. Roth (Hg.), Politische Biografien und sozialer Wandel (Fn. 39), S. 184. 72 Vgl. C. Bergmann, Die Sprache der Stasi. Ein Beitrag zur Sprachkritik, Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht 1999.
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selbst Ausgeschlossen-Sein.73 Einerseits schließen sie durch ihr Schweigen (über die Kooperation mit dem Ministerium für Staatssicherheit) gegenüber der ›Außenwelt‹ die überwachte Person (und die Öffentlichkeit) aktiv aus der Kommunikation aus. Andererseits sind sie aber auch selbst aus der Kommunikation der Staatssicherheit ausgeschlossen. Es findet auch über sie eine exklusive Kommunikation statt, unter anderem in Form von geheimen Beurteilungen. Durch die Exklusivität gelten im Kommunikationsraum des DDR-Geheimdienstes andere diskursive Regeln als in anderen, insbesondere öffentlich-offiziellen, Kommunikationsräumen. Obwohl es sich um institutionelle Kommunikation handelt, nähern sich manche Situationen (wenngleich keineswegs alle) den diskursiven Regeln privater bzw. informeller Kommunikation an. Durch die Geheimhaltung ist ein offeneres, weniger beschönigendes und weniger formelhaftes Sprechen über die »tatsächlichen Verhältnisse in der DDR« möglich und sogar erwünscht. Dennoch darf dies nicht als ein echter kommunikativer Freiraum verstanden werden, denn das »Recht zu sprechen« und die »Fähigkeit, diesen Diskurs in Entscheidungen, Institutionen oder Praktiken einzusetzen« bleibt reglementiert und einer bestimmten Gruppe, dem Machtregime, vorbehalten.74 Die Exklusivität ist in diesem Sinne Ausdruck spezifischer Machtstrukturen und ein (machtvolles) Mittel, den Diskurs zu regulieren. Zu Exklusions- und Inklusionsprozessen durch Sprache und Kommunikation Das Beispiel der Geheimdienstkommunikation einschließlich ihres zweiseitigen Charakters von Exklusivität – einerseits Ausdruck rigider Machstrukturen, andererseits Bedingung eines weniger strikt regulierten Sprachgebrauchs innerhalb des Kommunikationsraums – illustriert bereits das komplexe Verhältnis von (sprachlich-kommunikativen) Exklusions- und Inklusionsprozessen in Diktaturen. Das Thema kann hier nicht ausführlich erörtert werden, soll aber zumindest in einigen Grundzügen umrissen werden, da es mitunter nur stark vereinfacht in den Blick genommen wird. Stellvertretend sei hier auf den Ansatz von Ralph Jessen verwiesen, der sprachliches Handeln, das konform ist mit dem Sprachgebrauch im öffentlich(-offiziell)en Bereich, generell gleichsetzt mit Unterordnung und einem Nachgeben gegenüber dem Inklusions- und Anpassungsdruck, während auf der anderen Seite eine Abweichung von den Regeln des öffentlichen Kommunikationsraums prinzipiell mit einem 73 Vgl. ausführlicher zum Thema: B. Bock, »Blindes« Schreiben im Dienste der DDR-Staatssicherheit, Bremen: Hempen 2013. 74 Vgl. M. Foucault, Archäologie des Wissens (Fn. 5), S. 99 f.
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Exklusions- und Sanktionsrisiko verbunden sei: »Die Verwendung festgefügter Sprachformen und Vokabeln wurde so zum Signal der Anpassungsbereitschaft und der Unterordnung. Unabhängig vom konkreten Inhalt des Textes bewirkte die extrem ritualisierte Sprache Einschluss oder Ausgrenzung.«75 Problematisch an diesem einfachen Inklusions-/Exklusionsschema ist, dass Jessen nicht zwischen verschiedenen Kommunikationsräumen und ihren je spezifischen diskursiven Regeln und den daraus folgenden Prozessen von Inklusion und Exklusion unterscheidet. Für den Bereich der staatlichen Eliten bezieht er sich ausgerechnet auf die Akten des Ministeriums für Staatssicherheit: »Manchmal fühlt sich der Leser der Akten aus der Staats- und Parteibürokratie der DDR an die strenge Formalisierung mittelalterlicher Urkunden erinnert: Nicht der individuelle Stil, die persönliche Handschrift oder die eigenwillige Rhetorik, sondern Anpassung und Unterordnung bis in die Feinheiten der Formulierung wurden prämiert.«76 Gerade die Akten des Ministeriums für Staatssicherheit bestehen aber zu einem großen Teil aus Texten von inoffiziellen Mitarbeitern und diese Texte sind hochgradig heterogen und individuell, nicht nur in den Formulierungen, sondern auch in den Wertungen und Themensetzungen.77 In Einzelfällen konnten inoffizielle Mitarbeiter sogar offen als ›westlich‹ und damit ›feindlich‹ eingestufte Haltungen und persönliche Weltbilder äußern, ohne Sanktionen zu befürchten. Entscheidend war für das Ministerium für Staatssicherheit, dass die Informationszuträger operativ relevante Informationen lieferten.78 Wie bereits erwähnt, ist es gerade die Exklusivität des Kommunikationsraums, die diesen relativen Freiraum ermöglicht. Die diskursiven Regeln, die hier gelten, sind grundverschieden von denen, die Jessen verallgemeinernd für die »Staats- und Parteibürokratie der DDR« beschreibt. Durch die Analyse einzelner Textexemplare lässt sich auch empirisch belegen, dass ideologiekonformer, formelhafter Sprachgebrauch sowohl Ausgrenzung einer geheimdienstlich überwachten Person beabsichtigen konnte als auch die Verteidigung einer Person oder zumindest eine ›Schadloshaltung‹ des Schreibers. Keineswegs schrieben besonders loyale inoffizielle Mitarbeiter immer ideologiekonform – weder auf formaler noch auf inhaltlicher Ebene. Anders 75 R. Jessen, »Inklusion und Exklusion. Zur Bedeutung semantischer Strategien für die symbolische Integration der DDR-Gesellschaft«, in: B. Bock, U. Fix, S. Pappert (Hg.), Politische Wechsel – sprachliche Umbrüche, Berlin: Frank & Timme 2011, S. 146. 76 Ebd., S. 145. 77 Vgl. ausführlicher B. Bock, »Blindes« Schreiben im Dienste der DDR-Staatssicherheit (Fn. 73). 78 Hier gibt es sicherlich Unterschiede zwischen den Jahrzehnten der DDR, vgl. ausführlicher und mit konkreten Beispielen B. Bock, ebd., (Fn. 73).
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als Jessen es offenbar annimmt, zeigt sich in den Texten auch, dass »die Zugehörigkeits- und Abgrenzungsvorstellungen der DDR-Bevölkerung«79 keineswegs linear mit den Vorstellungen von Partei und Regierung zusammenhingen. Unpolitische Wertungsmaßstäbe und eigensinnige Vorstellungen davon, wer weshalb (nicht) »dazugehört« oder (nicht) »dazugehören« sollte, waren durchaus verbreitet.80 Diese Befunde sind möglicherweise spezifisch für die Arbeitsweise des DDR-Geheimdienstes. Es lässt sich aber aus der komplexen Konstellation dieses Fallbeispiels für andere Kommunikationsräume und Systeme zumindest die Einsicht ableiten, dass eine Beschreibung von Inklusions- und Exklusionsverfahren mittels Sprache und Kommunikation weder kontextfrei, also ohne Betrachtung des Kommunikationsraums und seiner spezifischen diskursiven Regeln, noch ohne genaue empirische Analyse von tatsächlichen Kommunikationsereignissen zu leisten ist. Die individuelle Intention hinter ein und derselben Äußerung oder ihre konkrete Wirkung kann je nach Kontext sehr verschieden sein.81 Das Merkmal der Abgeschlossenheit, der Isolation, der Exklusivität wird von den Autoren im Abschnitt mit den Beispielbetrachtungen sowohl in Bezug auf den privaten als auch den öffentlichen Kommunikationsraum genannt. Interessant ist, dass es für unterschiedliche Kommunikationsräume unterschiedliche Funktionen hat. Die Exklusivität des privaten Kommunikationsraums bezieht sich auf den regulierenden Einfluss des Staates: Er fungiert, wenn nicht nur alltägliche, sondern beispielsweise auch politische Themen in ihm verhandelt werden, als Schutzraum mit größeren kommunikativen Freiheiten. Die Abgeriegeltheit des öffentlichen Kommunikationsraums bezieht sich hingegen auf zweierlei: Zum einen darauf, dass der Zugang zu diesem Kommunikationsraum reglementiert wird, zum anderen darauf, wie offen dieser Raum für sprachlich-kommunikative (und thematisch-inhaltliche) Einflüsse aus anderen Kommunikationsräumen ist. In pluralistischen Gesellschaften gibt es prinzipiell die Möglichkeit individuellen Ausdrucks in der Öffentlichkeit (auch wenn im Sinne Foucaults selbstverständlich auch hier Regeln der Ordnung, Selektion und Organisation des Diskurses wirken), unter bestimmten 79 R. Jessen, »Inklusion und Exklusion. Zur Bedeutung semantischer Strategien für die symbolische Integration der DDR-Gesellschaft«, in: B. Bock, U. Fix, S. Pappert (Hg.), Politische Wechsel – sprachliche Umbrüche (Fn. 75), S. 148. 80 Vgl. B. Bock, »Blindes« Schreiben im Dienste der DDR-Staatssicherheit (Fn. 72). 81 Vgl. I. Miethe, »Biografie als Vermittlungsinstanz zwischen öffentlichen und privaten Handlungsräumen: Das Beispiel von Frauen der DDR-Opposition«, in: I. Miethe, S. Roth (Hg.), Politische Biografien und sozialer Wandel (Fn. 39), S. 184.
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Bedingungen kann die Sprechergemeinschaft (und möglicherweise sogar individuelle Sprachteilnehmer) die diskursiven Regeln prägen oder verändern, und zwar auch, wenn sie nicht Teil der autoritären Macht sind. Informelle Sprechweisen, die klassischerweise in privaten Kommunikationsräumen verortet sind, können beispielsweise in den massenmedialen Sprachgebrauch übergehen. Journalismus sieht seine Aufgabe gerade darin, Themen »ans Licht der Öffentlichkeit zu bringen«, die offizielle staatliche Institutionen möglicherweise verbergen wollen. In autoritären Staaten gibt es ein solches ›Eigenleben‹ des öffentlichen Kommunikationsraums gerade nicht. Die ›Arena der Öffentlichkeit‹ kann nur von bestimmten, streng selektierten Diskursteilnehmern genutzt werden, auch die Äußerungen, Formulierungsweisen und Themen werden reglementiert und selektiert. Es ist vor allem der Staat, der es vermag, Kommunikationsräume ›abzuriegeln‹, seien es öffentliche oder nicht-öffentliche Kommunikationsräume wie der des Geheimdienstes. Die schützende Exklusivität des privaten Kommunikationsraums ist immer bedroht von einem, auch unbemerkten, Eindringen des Staates. Die autoritär hergestellte Exklusivität des öffentlichen Kommunikationsraums ist hingegen stabil. Eine Änderung dieser Kommunikationsverhältnisse und eine Aufweichung der Exklusivität, wie bei den Massendemonstrationen im Herbst 1989 in der DDR oder während des ›arabischen Frühlings‹ 2011,82 ist bereits ein Anzeichen für eine (beginnende) sich verändernde Machtverteilung bzw. eine Instabilität der Machtverteilung.
Zur Analyse von Kommunikationsräumen in Diktaturen Die Charakterisierungen von Kommunikationsräumen, die oben exemplarisch gegenübergestellt wurden, sind notwendig schematisch. Die Grenzen der einzelnen Räume lassen sich nicht immer klar bestimmen, Kommunikationsräume sind miteinander verwoben. Dennoch ist es ohne Zweifel möglich, prototypische Konstellationen zu beschreiben und darüber Kommunikationsräume herauszuarbeiten. Wie detailliert Kommunikationsräume ausdifferenziert und Exklusionslinien unterschieden werden, hängt vom jeweiligen Untersuchungsinteresse bzw. der Fragestellung ab. Bei einer empirischen Herangehensweise, die zum Ziel hat, durch die Analyse diskursiver Regelmäßigkeiten auf Kommunikationsräume zu schließen, stellt sich die Frage, auf welche sprachlichen Aspekte die Analyse zielen sollte und wie methodisch zu 82 Vgl. die Beiträge von U. Fix und M. Maataoui/ B. Bock im letzten Teil in diesem Band.
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verfahren ist, um von der Analyse einzelner Textexemplare auf einen Diskurs bzw. Kommunikationsraum schließen zu können. Diese Fragen betreffen wesentlich methodische Fragen und werden bereits innerhalb der (Diskurs-)Linguistik unterschiedlich akzentuiert (beispielsweise korpuslinguistische Ansätze vs. Argumentationsanalyse).83 Eine eingehende Betrachtung wäre für den Zusammenhang dieses Beitrags ein »zu weites Feld«. Ausgehend von den oben angeführten Beispielen soll aber eine Reihe von Fragen zusammengestellt werden, die in einem ersten Zugang zur Analyse die Strukturierung des Untersuchungsfelds unterstützen kann. Kommunikationsräume in Diktaturen können aus einem diskurslinguistischen Blickwinkel zunächst einmal nach den folgenden Kontextmerkmalen unterschieden und später auch weiter differenziert werden: • Wie viele und welche Akteure sind am Diskurs beteiligt bzw. haben Zugang zum Kommunikationsraum? • Wer hat die Macht, die Diskursregeln zu bestimmen oder sie zu prägen (als Individuum oder als Teil einer (Kommunikations-)Gemeinschaft)? • In welchem Modus, also aktiv/produktiv oder passiv/rezeptiv, nehmen die Kommunikationsteilnehmer am Diskurs teil? • In welcher sozialen Rolle nehmen sie teil und ist diese relevant für die Kommunikation? • In welchem Maße ist der Kommunikationsraum exklusiv, das heißt, inwiefern werden oder sind Kommunikationsteilnehmer ausgeschlossen? • Welche Funktion hat diese Exklusion und wie stabil ist sie? Wer kann wen aus dem Diskurs ausschließen? • Über welche Gegenstände wird gesprochen und sind diese Themen typischerweise in diesem oder einem anderen Kommunikationsraum verortet? • In welcher Relation zur öffentlichen Kommunikation stehen die zu untersuchenden Kommunikationsereignisse? • Welche ähnlichen Kommunikationsräume (oder Kommunikationsereignisse/-situationen) gibt es, was sind besonders unähnliche Kommunikationsräume? Eine diskurslinguistisch ausgerichtete Analyse sprachlicher Merkmale kann grundsätzlich von zwei Ausgangspunkten aus erfolgen: Entweder es werden top-down Kommunikationsräume vorab theoretisch 83 Für einen Überblick über Analyseaspekte und -methoden vgl. J. Spitzmüller, I. Warnke, Diskurslinguistik. Eine Einführung in Theorien und Methoden der transtextuellen Sprachanalyse (Fn. 1).
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bestimmt und anschließend Sprachgebrauch und Kommunikation untersucht – ausgehend von den Ergebnissen können die vorab gesetzten Kommunikationsräume gegebenenfalls weiter differenziert, modifiziert oder ausgeweitet werden etc. Oder es werden ausgehend von einer Analyse des Sprachgebrauchs bottom-up Diskursregelmäßigkeiten herausgearbeitet, anhand derer sich Kommunikationsräume bestimmen lassen oder zum Beispiel auch Verbindungen zwischen Kommunikationsräumen sichtbar werden. Praktisch werden meist beide Herangehensweisen ineinandergreifend von Bedeutung sein. Die oben gelisteten Fragen zielen wesentlich auf eine kontextuelle sowie auf eine inhaltlich-thematische Näherbestimmung und sind insofern für beide Herangehensweisen relevant, möglicherweise aber an unterschiedlichen Stellen im Forschungsprozess.84
84 Zu Fragen der Korpuserstellung, d. h. die methodische Frage, nach welchen Prinzipien welche Texte als Teil eines bestimmten Diskurses angesehen bzw. ausgewählt werden und andere nicht, und – damit verbunden – die grundsätzliche Frage, welche Möglichkeiten es in methodischer Hinsicht überhaupt gibt, einen Diskurs und seine Grenzen bottom-up zu bestimmen, vgl. B. Bock, »Diskurslinguistik und Grounded-Theory-Methodologie«, in: I. Warnke (Hg.): Diskurs, Handbücher Sprache und Wissen, Bd. 6, Boston/ Berlin: de Gruyter (i.Dr) erscheint 2018.
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Steffen Pappert
Sprach- und Informationslenkung in der DDR 1. Einleitung Diktatorische Systeme wie die DDR müssen sich bei weitgehendem Verzicht auf gewaltsame Repression vorrangig ideologisch legitimieren, um ihren Herrschaftsanspruch zu verteidigen. Aus diesem Grund gehört die politisch-ideologische Sprachlenkung als Form staatlicher Machtausübung zu ihren Wesensmerkmalen. Der folgende Beitrag will – ausgehend von einer Bestimmung dessen, um was für ein politisches System es sich im Fall der DDR handelt – einerseits zeigen, auf welche Weise die Sprachlenkung – vor allem ab den 1970er Jahren – theoretisch begründet wurde. Zu diesem Zweck werden die grundlegenden Arbeiten von Georg Klaus herangezogen. Andererseits werden anhand des Mediensystems die konkreten Umsetzungen der rigiden Sprachlenkung aufgezeigt. Mit dem Beitrag wird vorrangig aus einer Innenperspektive der Versuch unternommen, am Beispiel der DDR Einsichten in die Legitimierung und in die Funktionsweise diktatorischer Sprachnormierung zu liefern.
2. Das politische System Nicht nur in der Politikwissenschaft wurden verschiedene Ansätze diskutiert, wie die DDR als politisches System zu verorten sei. Kleinster gemeinsamer Nenner aller Kategorisierungen – die hier nur durch eine Auswahl angedeutet werden können1 – scheint zu sein, dass es sich bei der DDR um eine – wie auch immer geartete – Diktatur handelte. Das Spektrum reicht dabei von der totalitarismustheoretischen Bestimmung der DDR als autalitäre Diktatur2 bis hin
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Ausführlich dazu: S. Pappert, Politische Sprachspiele in der DDR: Kommunikative Entdifferenzierungsprozesse und ihre Auswirkungen auf den öffentlichen Sprachgebrauch, Frankfurt/M. [u. a.]: Lang 2003. Vgl. E. Jesse, »War die DDR totalitär?«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Bd. 40 (1994), S. 12–23.
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zum Modernisierungsansatz, der den sozialistischen Staat als moderne Diktatur3 beschreibt.4 Sich stützend auf Linz,5 orientiert sich Jesse in seiner totalitarismustheoretischen Sichtweise an einer Typologie, nach der sich totalitäre von autoritären Diktaturen »vor allem in drei Hauptdimensionen unterscheiden […]: dem Grad des politischen Pluralismus, dem Grad der ideologischen Ausrichtung und dem Grad der gelenkten politischen Mobilisation«.6 Die Orientierung an diesen drei Kriterien kann demnach Aufschluss darüber geben, inwieweit die DDR – vor allem in ihrer Endphase – eine autoritäre oder eine totalitäre Diktatur verkörperte. Grundsätzlich ist dabei davon auszugehen, dass die DDR ein zentralistisch verwalteter Staat war, an dessen Spitze das Politbüro des Zentralkomitees der SED in »allen Grundsatzfragen der Politik der Partei, der Staatsführung, der Volkswirtschaft und der Kultur«7 rigoros die Richtlinien fest- und durchsetzte. Das ideologisch durch den Marxismus-Leninismus legitimierte Grundprinzip des demokratischen Zentralismus, welches als zutiefst demokratisch und humanistisch verteidigt sowie als »wissenschaftlicher Ausdruck der Anschauung der Arbeiterklasse über Demokratie und Organisiertheit, über Freiheit und Disziplin«8 proklamiert wurde, war allerdings nicht mehr als eine Immunisierung des SED-Machtmonopols, in dessen Einflussbereich keine Art von politischem Pluralismus zugelassen wurde. Die daraufhin ausgerichteten ideologischen Leitlinien waren trotz eines umfangreichen Agitations- und Propagandaapparates eher theoretischer Natur und »[i]m Laufe der Jahre hatte die Ideologie immer stärker eine manipulativ einsetzbare Rechtfertigungs- als eine Anleitungsfunktion«.9 Vor diesem Hintergrund wurde es auch zunehmend 3 4
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Vgl. J. Kocka, »Ein deutscher Sonderweg. Überlegungen zur Sozialgeschichte der DDR«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Bd. 40 (1994), S. 34–45. Jarausch versucht, das Spannungsverhältnis zwischen moderner Diktatur und autoritärer Herrschaftspraxis mit dem Neologismus Fürsorgediktatur terminologisch zu fassen, womit er sowohl auf das sozialpolitische Engagement der SED der Honecker-Ära als auch die damit verbundene Forderung nach politischer Gefolgschaft verweisen will. K. H. Jarausch »Realer Sozialismus als Fürsorgediktatur. Zur begrifflichen Einordnung der DDR«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Bd. 20 (1998), S. 33–46. Vgl. J. J. Linz, »Totalitarian and Authoritarian Regimes«, in: F. I. Greenstein, N. W. Polsby (eds.), Handbook of Political Science, Bd. 3: Macropolitical Theory, Reading/Mass [u. a.], 1975, S. 175–411. E. Jesse, »War die DDR totalitär?«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (Fn. 2), S. 15. Kleines Politisches Wörterbuch, Berlin: Dietz 1973, S. 653. Kleines Politisches Wörterbuch (Fn.6), S. 149. E. Jesse, »War die DDR totalitär?«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (Fn. 2), S. 17.
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schwierig, das Volk zu mobilisieren, zumal der revolutionäre Gedanke spätestens in den achtziger Jahren verblasste und die Mobilisierungsbemühungen zunehmend auf Konformität ausgerichtet wurden. So konstatiert Jesse für die letzten Jahre der DDR: Der totalitäre Anspruch des Partei- und Staatsapparats blieb bis zum Schluß erhalten; aufgrund einer Reihe von so nicht gewünschten Rahmenbedingungen begann sich die totalitäre Struktur wider den Willen der Machthaber zwar nicht aufzulösen, aber beträchtlich abzuschwächen.10
Einen anderen Zugang zur DDR wählt Kocka mit seinem sozialhistorischen Ansatz. Er fokussiert »auf die politischen Konstitutionsbedingungen der DDR-Gesellschaft, auf die staatlich-staatsparteiliche Lenkung und Kontrolle sozialer Prozesse, auf die Durchherrschung der DDR-Gesellschaft sowie auf die Folgen und Grenzen dieses Prozesses«.11 In seiner vergleichenden Modernisierungsanalyse macht er nicht nur Unterschiede zur Bundesrepublik, sondern auch zu anderen sozialistischen Staaten und zum Nationalsozialismus deutlich. Im Vergleich zur BRD stellt er heraus, dass die DDR aufgrund ihrer zeitgemäßen Herrschafts-, Propaganda- und Kontrollmethoden sicherlich eine ›moderne Diktatur‹ darstellte, wobei modern in Abgrenzung zu Westdeutschland zu relativieren ist. Das betrifft den Tertiärisierungsrückstand, die nur ansatzweise entwickelte Konsumgesellschaft sowie die »funktionale Entdifferenzierung und institutionelle Fusionierung«12 von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, die letztlich zu einer Demodernisierung beitrugen. Besonders »der Mangel an funktionaler Ausdifferenzierung der DDR-Gesellschaft in relativ selbstgesteuerte Teilsysteme mit je spezifischen Rationalitätskriterien und damit die ausgeprägte Tendenz zur institutionellen Fusionierung und zur Multifunktionalität der Institutionen mit der Dominanz der Politik und den schwach ausgeprägten Begrenzungen staatlich-parteilicher Herrschaftsmacht«13 waren kennzeichnend für dieses System. Auf diese Weise fand ein »machtpolitisch durchgesetzter sozialer Entdifferenzierungsprozeß«14 statt, in dessen Zuge sämtliche gesellschaftlich belangreichen Bereiche politisch-ideologisch überformt wurden. Vor allem ab den 1970er Jahren richteten sich die politischen 10 Ebd., S. 20. 11 J. Kocka, »Ein deutscher Sonderweg. Überlegungen zur Sozialgeschichte der DDR«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (Fn. 3), S. 35. 12 Ebd., S. 43. 13 J. Kocka, »Eine durchherrschte Gesellschaft«, in: H. Kaelble, J. Kocka, H. Zwahr (Hg.), Sozialgeschichte der DDR, Stuttgart: Klett-Cotta 1994, S.549 f. 14 S. Meuschel, Legitimation und Parteiherrschaft. Zum Paradox von Stabilität und Revolution in der DDR 1945–1989, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1992, S. 10.
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Strategien der SED »auf subtilere Formen der Machtausübung wie die Etablierung eines eigenen Herrschaftsdiskurses und die Befriedigung materieller Bedürfnisse«.15 Letztere waren in der von der SED ins Leben gerufenen Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik verankert, wobei die durchaus erlebbare Verbesserung der Lebenszustände inklusive steigender Konsummöglichkeiten zwar ein gewisses Maß an Loyalität seitens der Bevölkerung hervorrufen konnte. Allerdings wurde die auf diesen Leistungen basierende Loyalität durch diverse Mangelerscheinungen und steigende Erwartungen brüchig, so dass das politische System zunehmend in Frage gestellt wurde. Zur Kompensation setzte die SED auf verstärkte ideologische Anstrengungen, mit denen sie »Bewußtheit und Legitimitätsglauben«16 zu stabilisieren glaubte. Der Sprache des dadurch in Kraft gesetzten Herrschaftsdiskurses wurde vorrangig eine Funktion zugewiesen: Sie diente den Machthabern als »Sprachrohr der Ideologie, die mit Hilfe eines ausgebauten Netzes der Propaganda verbreitet wurde, dadurch allgegenwärtig war und Tag für Tag breiten Bevölkerungsschichten ins Bewußtsein gedrückt werden konnte«.17 Wie sieht nun ein solcher ideologischer Sprachgebrauch aus? Welche Funktionen werden mit ihm verbunden? Indoktrination des Sprachgebrauchs dient im Allgemeinen hauptsächlich zur Reduzierung von Realitäten respektive zur Abwehr feindlicher ideologischer Einflüsse, die mit der eigenen Ideologie nicht vereinbar sind. Die Ideologie schafft sich so ihre eigene Wirklichkeit und grenzt sie gegen anderslautende Vorstellungen ab. Jede Ideologie enthält eine begriffliche Struktur, die der Realität aufgedrängt werden muss; sie ›verarbeitet‹ die Welt, indem sie alles ›über einen Leisten schlägt‹ und so eine Vereinfachung und Nivellierung erzielt. Ist einmal Komplexes in eine ihr passende Form gebracht worden, so kann die eigentliche ideologische Bewältigung der Realität einsetzen, denn die einzelnen Begriffe sind dem begrifflichen System angeschlossen, in dem sie ihren Stellenwert haben.18
Eine Ideologie, die mit ihrem permanenten Objektivitätsanspruch die Wahrheit einerseits als solche verkündet sowie andererseits dieselbe Wahrheit rechtfertigt, wird immun gegen jedwede Kritik, da letztere 15 K. H. Jarausch, »Realer Sozialismus als Fürsorgediktatur. Zur begrifflichen Einordnung der DDR«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (Fn. 4), S. 44. 16 S. Meuschel, Legitimation und Parteiherrschaft. Zum Paradox von Stabilität und Revolution in der DDR 1945–1989 (Fn. 14), S. 231. 17 C. Bergmann, »Totalitarismus und Sprache«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 38 (1999), S. 18. 18 C. H. Good, Die deutsche Sprache und die kommunistische Ideologie, Frankfurt/M. [u.a.]: Lang 1975, S. 79.
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unter dem postulierten Wahrheitsanspruch jeglicher Grundlage entbehren würde. Ideologie tritt in dem Fall an die Stelle von Religion und bietet theoretische Auswege aus einer kaum mehr überschaubaren Komplexität. Sie dient der Sinnstiftung und dem Zusammenhalt. Besonders in den Voraussagen des im Realsozialismus der DDR propagierten Marxismus-Leninismus treffen wir auf ›Lösungsangebote‹, die i) die Befreiung der Menschheit von Unterdrückung und Armut proklamieren und die ii) als Theorie den Eindruck vermitteln, auf streng wissenschaftlichen Grundlagen zu basieren. Das schafft Zuversicht, Sicherheit und vermittelt aufgrund der – wenn auch utopischen – prophezeiten klassenlosen Gesellschaft ein hohes Maß an Gemeinschaftsgefühl. Im Folgenden soll der Blick auf die Rolle der Wissenschaften, speziell der Sprachphilosophie in der DDR, gerichtet werden. Zum einen, weil sie »die Legitimitätsansprüche formulieren und ihre Realisierung nachweisen sollten«.19 Zum anderen, weil eine angemessene Beschreibung der öffentlichen, und das heißt im Zuge der oben angesprochenen Entdifferenzierung, der politischen Kommunikation, »die immanente Interpretation der politischen Sprache«20 zu berücksichtigen hat. Nur eine solche Herangehensweise liefert eine adäquate Beschreibung dessen, zu welchem Zweck und mit welchen Mitteln die Machthabenden Sprache und Sprachgebrauch beeinflussten.
3. Die Position des Sprachphilosophen Georg Klaus Besonders seit der Machtübernahme durch Honecker auf dem VIII. Parteitag der SED ist festzustellen, dass es seitens der Parteiführung verstärkt Bemühungen gab, die Wissenschaft in ihren Dienst zu stellen, und zwar nicht nur um mittels ihrer Hilfe Legitimationsansprüche zu untermauern, sondern auch, um wissenschaftlich fundierte Informationen über die gesellschaftlichen Zustände zu erhalten.21 Die politische Instrumentalisierung von Sprachphilosophie und Sprachwissenschaft wurde direkt vom ZK der SED organisiert. Dieses traf Entscheidungen über Forschungsschwerpunkte, Publikationen oder sogenannte Kaderentwicklungspläne, die über entsprechende Hierarchien bis in die einzelnen Institute vermittelt 19 S. Meuschel, Legitimation und Parteiherrschaft. Zum Paradox von Stabilität und Revolution in der DDR 1945–1989 (Fn. 14), S. 236. 20 O. Gudorf, Sprache als Politik. Untersuchungen zur öffentlichen Sprache und Kommunikationsstruktur in der DDR, Köln: Wissenschaft und Politik 1981, S. 13. 21 Vgl. zu den folgenden Ausführungen S. Pappert, Politische Sprachspiele in der DDR: Kommunikative Entdifferenzierungsprozesse und ihre Auswirkungen auf den öffentlichen Sprachgebrauch (Fn. 1), S. 73–85.
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und überwacht wurden.22 Im Zuge der verstärkten ideologischen Anstrengungen der SED sollte beispielsweise eine marxistisch-leninistische Sprachtheorie konzipiert werden, die vom Rat für Sprachwissenschaft kontrolliert wurde. Die angestrebte und schließlich auch durchgesetzte Instrumentalisierung der Wissenschaft, in deren Folge die Domänen Ideologie, Politik und Wissenschaft weitgehend gleichgeschaltet wurden, zeigt, dass der Entdifferenzierungsprozess auch in diesem Bereich forciert wurde. So heißt es beispielsweise im Zentralen Forschungsplan der marxistisch-leninistischen Gesellschaftswissenschaften der DDR bis 1975: Als theoretisches und politisch-ideologisches Instrument der Arbeiterklasse und ihrer Partei gewinnen die marxistisch-leninistischen Gesellschaftswissenschaften im Leben der sozialistischen Gesellschaft immer mehr an Bedeutung […] Es sind die charakteristischen Züge der entwickelten sozialistischen Gesellschaft, ihre Gesetzmäßigkeiten, Merkmale und Kriterien, der Prozeß ihrer Herausbildung sowie die Einheit und die Wechselbeziehungen der gesellschaftlichen Bereiche im Zusammenhang mit der planmäßigen und proportionalen Entwicklung des sozialistischen Reproduktionsprozesses zu untersuchen.23
Der wohl bekannteste Sprachphilosoph, der sich dieser Aufgabe verschrieb, war Georg Klaus. Seine Arbeit war darauf ausgerichtet, die theoretischen Voraussetzungen sowie Möglichkeiten der Umsetzung einer im Sinne der Parteibürokratie zu instrumentalisierenden Sprache herauszuarbeiten. Seine kybernetisch fundierten Arbeiten fußten auf der Annahme, »daß nur mittels einer ideologischen Durchdringung aller Sprachräume die politische Herrschaft der SED weltanschaulich auf Dauer abzusichern war«.24 Ausgehend von der Tatsache, dass Sprache »ein gesellschaftliches Phänomen von zentraler Bedeutung«25 sei und Worte ein 22 Vgl. J. Erfurt, »Gesellschaft und Sprachwissenschaft: Das ›Schrittmaß der achtziger Jahre‹ in der DDR. Präliminarien und Thesen zur jüngsten Fachgeschichte«, in: J. Erfurt, J. Gessinger (Hg.), Gesellschaft und Sprachwissenschaft. Das ›Schrittmaß der achtziger Jahre‹ in der DDR und BRD, Osnabrück (OBST 43/1990), S. 45–60. 23 Einheit 1972, 2, S. 170, zit. nach W. Hartung, Sprachliche Kommunikation und Gesellschaft. Von einem Autorenkollektiv unter der Leitung von Wolfdietrich Hartung, Berlin: Akademie-Verlag 1974, S. 16. 24 N. Kapferer, »Von der ›Macht des Wortes‹ zur ›Sprache der Macht‹ zur OhnMacht der Vernunft. Über die Enteignung der Sprache im real existierenden Sozialismus durch die marxistisch-leninistische Philosophie«, in: A. Burkhardt, K.P. Fritzsche (Hg.), Sprache im Umbruch. Politischer Sprachwandel im Zeichen von »Wende« und »Vereinigung«, Berlin [u.a.]: de Gruyter 1992, S. 24. 25 G. Klaus, Die Macht des Wortes. Ein erkenntnistheoretisch-pragmatisches Traktat, 6. Aufl., Berlin: VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften 1972, S. 9.
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beträchtliches Machtpotential besitzen (können), beleuchtet Klaus in seinem Band Die Macht des Wortes vor allem den pragmatischen Aspekt von Sprache sowie die Möglichkeiten ihrer Verwendung als Agitationsund Propagandamittel. Grundlegend für seine Argumentation sind die semantische Kategorie ›Wahrheit‹ und die pragmatische Kategorie ›Parteilichkeit‹, die unter Voraussetzung der objektiven Gesetzmäßigkeiten der gesellschaftlichen Entwicklung sowie der daraus resultierenden historischen Mission der Arbeiterklasse ein dialektisches Ganzes bilden, welches metaphorisch in der Formulierung »Die Wahrheit ist parteilich« seinen Ausdruck findet. Mit dieser Verlagerung der Kategorie Wahrheit in den Bereich der »erkenntnistheoretischen Pragmatik«26 wäre es möglich, diese in Beziehung zu den jeweils herrschenden Klassen zu setzen, was letztlich bedeutet, dass die Arbeiterklasse und ihre führende Partei aufgrund des objektiven Verlaufs der Geschichte das Wahrheitsmonopol für sich beanspruchen kann.27 Erfolgreiche Bewusstseinsbeeinflussung endet aber nicht bei der Vermittlung jener Wahrheiten, sondern muss auch die Emotionen ansprechen. So schlägt Klaus vor, die »gefühlsmäßigen und moralischen Werte«28 vor allem durch »Metaphern und Fiktionen« anzusprechen, um »Brücken zwischen dem Bekannten und dem Unbekannten zu schlagen«.29 Weiterhin seien Aspekte wie Nützlichkeit und Wirksamkeit einzubeziehen, die historisch bereits vorgegeben sowie aus der konkreten gesellschaftlichen Situation herzuleiten sind. Für die Agitation ist die Wahrheit von Aussagen zwar eine notwendige, aber nicht hinreichende Voraussetzung. Für die wahren Aussagen müssen solche sprachlichen Formulierungen gewählt werden, die maximal wirksam sind. Es muß empirisch-soziologisch erforscht werden, mit welchen Empfindungen (und das hängt auch weitgehend von der allgemeinen politisch-ökonomischen Situation ab) die Menschen, denen man auf dem Wege über die Agitation irgendwelche wahren Aussagen nahe bringt, auf bestimmte sprachliche Formulierungen reagieren. So ist Agitation eine schwierige Synthese von pragmatischem und semantischem Aspekt der Widerspiegelung der Wirklichkeit in unserem Bewußtsein.30
Ein Weg zur praktischen Umsetzung der theoretisch gewonnenen Erkenntnisse über wirksame Agitation ist die sprachliche Normierung, der vor dem Hintergrund der Rolle schematischen Denkens große Bedeutung zugemessen wird. 26 27 28 29 30
Ebd., S. 98. Vgl. ebd., S. 103 f. Ebd., S. 165. Ebd., S. 164; Hervorhebung S. P. Ebd., S. 128.
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Das Zusammenleben der Menschen und ihre Zusammenarbeit in der Produktion erfordern gemeinsame Stereotype, und sie entstehen u. a. dadurch, daß bestimmte Tatbestände normiert werden. Den gedanklichen Stereotypen entsprechen normierte sprachliche Ausdrücke. […] Normierte sprachliche Ausdrücke müssen bei allen Formen der Agitation und Propaganda Verwendung finden, und es ist wesentlich, durch sprachsoziologische und sprachpsychologische Untersuchungen festzustellen, welche normierten Ausdrücke die größte Wirksamkeit besitzen.31
Agitation und Propaganda sollten demnach vor allem solche Ausdrücke verwenden, die »wirkungsvoll und gewissermaßen ›schlagend‹ sind und den gegnerischen Argumenten unmittelbar ihre scheinbare Überzeugungskraft nehmen«.32 Der hier nahegelegte »Gebrauch von Schlagwörtern und Schlüsselwörtern«33 und die Forderung nach der Prägung neuer »Agitationslosungen […], die der jeweils fortschrittlichen Klasse, dem Frieden, dem Sozialismus und damit der Gesellschaft nützlich sind«,34 werden von Klaus detailliert ausgearbeitet, begründet und reklamiert. Neben der Ausweitung der Lexik geht es ihm ebenso um semantische Normierungen, denn, wenn »den semantischen Normen bewußt Geltung verschafft [wird], die von der führenden Klasse, der Arbeiterklasse, geprägt werden, dann dient das letztlich der Bewußtseinsentwicklung aller Mitglieder der Gesellschaft, weil sich Bewußtsein in bewußtem Sein, in bewußtem Handeln niederzuschlagen vermag«.35 In der Konsequenz führten solche Bestrebungen dazu, dass mittels einer streng normierten Sprache der Agitation gleichsam eine Art Fachsprache instanziiert wurde, die lediglich einen begrenzten Personenkreis zugänglich war und nur von diesem interpretiert werden konnte. Hier wirkte in besonderem Maße das integrative Moment, denn »[e]rste Voraussetzung für die Teilnahme an der Fachkommunikation ist der Besitz von Fachwissen«,36 das sich sprachlich manifestiert, das heißt, Kommunikationsteilnehmer/innen, die das notwendige Wissen nicht besaßen (beispielsweise Rezipienten in der Bundesrepublik), wurden auf diese Weise systematisch vom Diskurs ausgeschlossen. Eine Funktion so gebrauchter Schlagwörter 31 32 33 34 35
Ebd., S. 155. Ebd., S. 31. Ebd., S. 154. Ebd., S. 157. J. Donath, »Überlegungen zur semantischen Norm zentraler Termini in der materiellen Produktion«, in: Akademie der Wissenschaften der DDR, Zentralinstitut für Sprachwissenschaft (Hg.), Normen in der sprachlichen Kommunikation, Berlin: Akademie-Verlag 1977, S. 257. 36 L. Hoffmann, »Fachwissen und Fachkommunikation. Zur Dialektik von Systematik und Linearität in den Fachsprachen«, in: T. Bungarten (Hg.), Fachsprachentheorie: FST, Bd. 2, Tostedt: Attikon 1993, S. 595.
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bzw. Schlagwortfelder ist die Kennzeichnung von Zugehörigkeit bzw. Nichtzugehörigkeit zu politischen Gruppen, die sich mittels der Verwendung bestimmter Schlüsselwörter entweder unterscheiden oder gleichen. Dies betrifft vorrangig jene zentralen Schlüsselbegriffe, die in der jeweiligen Gruppe – bespielsweise in der Arbeiterklasse – auf eine lange Tradition verweisen. An ihnen solle zur Stabilisierung der Gemeinschaft so lange wie möglich festgehalten werden. Schlagwörter sind in dieser Funktion wesentliche Bestandteile eines integrativen Sprachspiels. Dieser spieltheoretische Aspekt wird durch mancherlei Wortbezeichnungen nahegelegt. Wir sprechen in diesem Sinne etwa von Schlagworten, d. h. Worten, die ihren Gegner treffen sollen. Das Schlagwort richtet sich nicht nur gegen den Gegner, sondern im Sinne des oben Gesagten ist es ein starkes Mittel auch bei der Beeinflussung desjenigen, der objektiv die gleichen Interessen und damit denselben Gegner hat, der getroffen werden soll. Das Schlagwort ist der Ausdruck der eigenen Auffassung.37
Der Gebrauch von Schlagwörtern bzw. der von Klaus eingeführten »hochaggregierten Symbole«, das heißt »Bezeichnungen für sehr allgemeine, auf hoher Abstraktionsstufe bezeichnete ökonomische, politische oder geistige Sachverhalte«38 ist jedoch mit »eine[m] inneren Widerspruch«39 verbunden. Dieser besteht darin, »daß einerseits politische Begriffe und die ihnen entsprechenden Worte sich auf weitere Bereiche, ja manchmal sogar auf einen Gesamtbereich des gesellschaftlichen Lebens beziehen. Dies verlangt die Benutzung hochaggregierter Symbole. Andererseits soll die politische Sprache auch diejenigen Menschen erfassen, die weit davon entfernt sind, die hohe Integrationsstufe der grundlegenden politischen Begriffe und der ihnen entsprechenden Wörter zu erfassen«.40 Auch wenn jene Begriffe in ihrer Entstehung der Allgemeinsprache zuzurechnen seien, muss ein Abstraktionsprozess einsetzen, der die Transformation in den politischen Bereich verständlich macht. Des Weiteren bestand ein Verstehens- und Begründungsproblem, zumal hochaggregierte Symbole in der modernen politischen Ökonomie einer wörtlichen Bedeutung entbehren. Es sei wichtig, diese zu hinterfragen und gegebenenfalls sichtbar zu machen. Wer den Abstraktionsprozeß nicht kennt, der zu verschiedenen hochaggregierten politischen Symbolen führt, ist geneigt, Redewendungen, in denen 37 G. Klaus, Sprache der Politik, 2. Aufl., Berlin: VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften 1972, S. 133. 38 Ebd., S. 169. 39 Ebd., S. 138. 40 Ebd., S. 139.
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derartige Wörter auftreten, als Phrasen, eben als ›Schlagwörter‹ (in einem anderen als in dem oben dargelegten Sinn) zu betrachten.41
Da es aber ohne hochaggregierte Symbole nicht möglich sei, die wissenschaftlichen Zusammenhänge deutlich zu machen, müsse in erster Linie darauf geachtet werden, solche Ausdrücke zu verwenden, die keiner weiteren Erläuterung bedürfen, das heißt diejenigen, die im Bewusstsein der Werktätigen bereits verankert sind. Ihre flächendeckende Verbreitung – die damit verbundene Redundanz »erhöht ihre Überzeugungskraft«42 – erlaubt es dann selbst jenen, die die Bedeutung der Symbole nicht im vollen Umfang verstehen, den Inhalt im Wesentlichen zu erfassen. Laut Klaus ist das bewusste Verinnerlichen hochaggregierter Symbole Voraussetzung für die mit ihnen verfolgten Ziele, die einerseits in der Verstärkung des Legitimitätsglaubens bestanden und andererseits zur Mobilisierung der Leistungsbereitschaft der Werktätigen beitragen sollten. Zusätzlich dienten die hochaggregierten Symbole der Integration, denn sie wirken aufgrund ihrer ideologisch begründeten lexikalischen und semantischen Spezifik gruppenbildend. Ziel einer auf dieser Grundlage basierenden wirtschaftspolitischen Propaganda war es, »den Werktätigen ökonomische Kenntnisse zu vermitteln, die es ihnen zum Beispiel ermöglichen sollen, selbständig und schöpferisch an der Planung, Leitung und Produktion der Betriebe teilzunehmen«.43 Vor diesem Hintergrund »wird von vornherein angestrebt, allen auftretenden ökonomischen Schlüssel- oder Schlagwörtern eine einheitliche Bedeutung zuzusprechen und die Werktätigen durch Schulung, Erziehung [Medien] usw. dahin zu bringen, daß sie diesen Wörtern diese Bedeutung zusprechen«.44 Die mit der Festlegung der Bedeutung verbundene Intention bleibt jedoch – so auch im Fall der DDR – unrealistisch, »[s]olange sprachpolitisch dekretierte Definitionen und Interpretationen am Einspruch konkreter Wirklichkeitserfahrung scheitern und als Lüge enttarnt werden können«.45 Aus diesem Grund scheint es berechtigt, derlei Ausdrücke nicht als besetzte Begriffe zu bezeichnen, sondern vielmehr als gesetzte Begriffe, denn »Begriffe lassen sich nur erfolgreich besetzen, wenn sie mit den konkreten Erfahrungen gesellschaftlich lebender Subjekte so vermittelbar sind, daß sich mit ihnen ›soziale Wirklichkeit 41 42 43 44 45
Ebd., S. 139. Ebd., S. 145. Ebd., S. 188. Ebd., S. 192. J. Kopperschmidt, »Soll man um Worte streiten? Historische und systematische Anmerkungen zur politischen Sprache«, in: F. Liedtke, M. Wengeler, K. Böke (Hg.), Begriffe besetzen. Strategien des Sprachgebrauchs in der Politik, Opladen: Westdeutscher Verlag 1991, S. 77.
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aneignen‹ läßt«.46 Die Konstituierung einer sozialistischen Fachsprache vor allem im wirtschaftlichen Sektor, wobei infolge der Entdifferenzierung von Politik und Ökonomie in der zentralistischen Planwirtschaft die Trennlinien zwischen den beiden Bereichen verschwammen, so dass auf der sprachlichen Ebene partiell nicht mehr zwischen der ideologischen und der ökonomischen Fachsprache differenziert werden kann, diente sowohl zur sprachlichen Distanzierung von marktwirtschaftlichen Einflüssen als auch der damit beabsichtigten Steigerung der Produktion, an der die Wirkung hochaggregierter Symbole ablesbar sein sollte. Die Formel zur Berechnung des Erfolges war simpel und entsprach Klaus’ kybernetischen Vorstellungen einer »doppelten Rückkopplung«:47 »Gegeben sei ein bestimmter Bewußtseinszustand, der mit einer bestimmten Arbeitsproduktivität gekoppelt ist; als Input wird ein Agitationskomplex eingegeben, und als Resultat ergibt sich eine höhere Arbeitsproduktivität«.48 Klaus blieb also nicht bei theoretischen Reflektionen stehen, sondern gab auch praktische Hinweise zur optimalen Gestaltung der Beeinflussung. Herausgestellt werden der Einfluss und die Reichweite der Massenkommunikationsmittel, die vor allem dahingehend genutzt werden sollen, um »Meinungsbildung und Meinungsäußerung als Vorbereitung von zielgerichteten Handlungen«49 zu fördern. Der Gebrauch von hochaggregierten Symbolen ist dabei zwingend, wird durch sie doch Erreichtes sowie Erstrebenswertes sprachlich gebündelt. Neben den denotativen und evaluativen Bedeutungsanteilen, ist es vor allem die deontische Bedeutung, die bei diesen Symbolen hervortritt. Sie sollen nämlich zu neuen Taten anspornen, indem sie die Angesprochenen zu bestimmten Handlungen auffordern. Unter diesen Zielsetzungen sei es dann eben auch legitim, die Nachrichten auszuwählen, die dem politischen System nutzen. Die Presse usw. erfüllt ihre Funktion u. a. dadurch, daß sie ihren Lesern in Form von Worten und Wortkomplexen Begriffe und Begriffskomplexe vermittelt, die allmählich zum gemeinsamen Besitz der Leser dieser Zeitung und ihres weiteren Umkreises werden sollen. Die Presse soll kein wissenschaftliches theoretisches Organ sein. Die Agitation im besonderen und die politische Sprache im allgemeinen, die wir in Presse, Rundfunk und Fernsehen benutzen, soll – und das ist einer ihrer wichtigsten Aspekte – Werte (individuelle und gesellschaftliche) erzeugen, die optimal der Erreichung bestimmter Ziele dienen.50 Es ist deshalb auch kein Zufall, daß ein großer Teil unserer Presse und sonstigen Kommunikationsmittel dazu verwandt werden, Einzel- bzw. 46 47 48 49 50
Ebd., S. 82 f. G. Klaus, Sprache der Politik (Fn. 37), S. 114. Ebd., S. 174. Ebd., S. 204. Ebd., S. 80 f.
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Kollektivleistungen der Werktätigen, der Ingenieure, Techniker, Wissenschaftler, Bauern populär zu machen. Die Rede wirkt durch sich selbst, die Leistung wirkt als Beispiel.51
Die Arbeiten Georg Klaus’ können als theoretische Begründung für die massive Verwendung von Kampfparolen, Siegesformeln und der daraus resultierenden Sprachrituale angesehen werden, die vor allem als Kontrollinstrument in gewissem Maße zur Stabilisierung des politischen Systems beitrugen. Mit ihrem Gebrauch wurde das Bild einer konfliktfreien, harmonischen und erfolgreichen Gesellschaft erzeugt, die aufgrund der objektiven Gesetzmäßigkeiten der historischen Entwicklung der kapitalistischen prinzipiell überlegen war. Andererseits wurde mit der Normierung der Sprache aber eben auch ein politisch effizientes Kontrollmittel etabliert, zumal jede Abweichung von sprachlichen Regelungen im öffentlichen Sektor als oppositionelles Verhalten gedeutet werden konnte. Hier wird der Zusammenhang von Herrschaft und Sprache konkret, denn wirksame Kontrolle, die als der vielleicht wichtigste Stabilitätsfaktor eines ansonsten eher fragilen Systems gelten kann, ist vorrangig an Sprache gekoppelt, und wer die Herrschaft über Sprache besitzt, verfügt über ein wirksames Machtmittel.
4. Die Massenmedien Der von Klaus betonte Stellenwert der Massenmedien war den Machthabenden durchaus bewusst. Pointiert formuliert dies Erich Honecker auf dem X. Parteitag der SED im Jahre 1981: Die Massenmedien spielen in unserer Zeit eine außerordentliche Rolle. Sie sind ideologische Kampfinstrumente in den Händen der Arbeiter-und-Bauern-Macht wie auf der anderen Seite in den Händen der imperialistischen Bourgeoisie. Für Presse, Rundfunk und Fernsehen kommt es vor allem darauf an, die aktive Verbreitung unserer sozialistischen Ideologie, die innenund außenpolitische Information, die geistig-kulturelle Bereicherung und Unterhaltung im weitesten Sinne des Wortes als eine einheitliche Aufgabe zu verstehen und zu verwirklichen.52
In der DDR wurden die Massenmedien zentral gesteuert und kontrolliert, das heißt, Presse, Rundfunk und Fernsehen waren nicht nur in ihren Strukturen, sondern auch inhaltlich der SED unterstellt.53 Es galt, was für alle 51 Ebd., S. 113 f. 52 Zitiert nach: Neues Deutschland vom 12.4.1981, S. 13. 53 Vgl. S. Pappert, Politische Sprachspiele in der DDR: Kommunikative Entdifferenzierungsprozesse und ihre Auswirkungen auf den öffentlichen Sprachgebrauch (Fn. 1), S. 85–92.
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Diktaturen gilt, nämlich, »dass totale politische Herrschaft in der modernen Gesellschaft, die nachrichtentechnisch total integriert ist, das totale Nachrichtenmonopol voraussetzt«.54 Im Fall der DDR erließ das Politbüro der SED die politischen Richtlinien, die auf den jeweiligen Parteitagen als Grundsätze der Medienpolitik beschlossen wurden. Dem zuständigen Sekretär für Agitation und Propaganda waren das Presseamt unter Leitung des Vorsitzenden des Ministerrates, die Staatlichen Komitees für Rundfunk und Fernsehen sowie auf einer weiteren Hierarchieebene die Staatliche Nachrichten- und Fotoagentur Allgemeiner Deutscher Nachrichtendienst (ADN) unterstellt. Den SED-Bezirksleitungen oblag die Lenkung der regionalen Medien, wie beispielsweise der Lokalzeitungen. Das von der SED instituierte und streng überwachte Mediensystem war ein Geflecht aus Anleitung und Kontrolle, mit dessen Hilfe die Anweisungen des Politbüros lückenlos bis zum einzelnen Journalisten durchgesetzt werden konnten. Folgende Übersicht veranschaulicht diese totalitäre Praxis.55
ZK der SED Politbüro SekF. für Agitation und Propaganda
Ministerrat (Regierung) der DDR
ZK- Abteilung Agitation
SED-Bezirks- und Kreisleitungen
Staatliches Presseamt
Staatliches Komitee für Rundfunk
Staatliches Komitee für Fernsehen
ADN
SED-Presse
Sonstige Presse
Hörfunk
Fernsehen
Neues Deutschland 14 Bezirkszeitungen Berliner Zeitung BZ am Abend
Blockparteien Massenorganisationen Zeitschriften Wochenpresse
Radio DDR I & II Berliner Rundfunk Stimme der DDR Radio Berlin Int.
I. Programm II. Pogramm
Weisungen (Anleitungen) Text- und Bildvorgaben
Abb. 1 54 H. Lübbe, »Der Streit um Worte. Sprache in der Politik«, in: H. J. Heringer (Hg.), Holzfeuer im hölzernen Ofen: Aufsätze zur politischen Sprachkritik, 2. Aufl., Tübingen: Narr 1988, S. 51. 55 Abb. nach H. D. Schlosser, Die deutsche Sprache in der DDR zwischen Stalinismus und Demokratie. Historische, politische und kommunikative Bedingungen, 2., mit einem aktualisierenden Nachw. vers. Aufl., Köln: Verlag Wiss. und Politik 1999, S. 106.
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Die auf diese Weise durchgesetzte Medienpolitik diente nicht nur der ideologisch überformten Informationslenkung, sondern sie hatte ebenso beträchtlichen Einfluss auf den öffentlichen Sprachgebrauch, zumal zumindest hinsichtlich der Printmedien den DDR-Bürger/innen keine Alternativen zur Verfügung standen. Die unmittelbare Abhängigkeit der Medien von der Machtzentrale der SED führte zu einer institutionalisierten Verquickung von Politik und Medien, welche letztlich nur einem Zweck diente: Der Sicherung und Bewahrung des uneingeschränkten Führungsanspruches der SED. Dies wird eindrücklich durch entsprechende Passagen im Wörterbuch der sozialistischen Journalistik bestätigt. Einige Auszüge sollen an dieser Stelle belegen, dass die Medien – vor allem deren Wirtschaftsberichterstattung – weniger bzw. nicht der Informationsvermittlung dienen sollten, sondern vielmehr auf die Schaffung eines sozialistischen Bewusstseins sowie auf entsprechende Initiativen zur Umsetzung der Parteitagsbeschlüsse zielten. Fixpunkt waren gleichsam die von Lenin formulierten Grundsätze, wonach die Zeitung »nicht nur ein kollektiver Propagandist und kollektiver Agitator, sondern auch ein kollektiver Organisator«56 sei. Es ging vor allem darum, »die Bewußtheit und Organisiertheit der Arbeiterklasse und der von ihr geführten Werktätigen zu fördern und ihre geistig-kulturellen Bedürfnisse zu befriedigen«.57 Zentrale Bestandteile des so ausgerichteten Journalismus waren also die Agitation und Propaganda sowie seine Rolle als gesellschaftlicher Organisator. Während die »marxistisch-leninistische Propaganda« den Zweck hatte »die theoretische Aneignung der gesellschaftlichen Wirklichkeit durch die Werktätigen zu fördern«,58 war es Aufgabe der Agitation, die Emotionen der Menschen anzusprechen; sie »hat das Wesen gesellschaftlicher Verhältnisse und Prozesse im einzelnen Ereignis, das Große im Alltäglichen aufzudecken; sie hat politische Ideen und Ziele mit den Erfahrungen und Vorstellungen der Massen, die wissenschaftliche Ideologie mit dem Alltagsbewußtsein zu verbinden«.59 Die organisatorische Aufgabe bestand darin, »das praktische Handeln der Werktätigen zu koordinieren, die dafür erforderlichen Beziehungen zwischen ihnen herzustellen sowie die zweckmäßigsten Methoden des Klassenkampfes bzw. des sozialistischen Aufbaus zu ermitteln und zu verbreiten«.60 Alles in allem war es die Aufgabe des Journalismus, herausragende Leistungen sowie die damit 56 Lenin, Werke, Bd. 5, 11; zit. nach Wörterbuch der sozialistischen Journalistik, hg. von der Karl-Marx-Universität Leipzig, Sektion Journalistik, 2. wesentl. veränderte Aufl., Leipzig 1981, S. 70. 57 Wörterbuch der sozialistischen Journalistik, hg. von der Karl-Marx-Universität Leipzig, Sektion Journalistik, 2. wesentl. veränderte Aufl., Leipzig 1981, S. 70. 58 Ebd. 59 Ebd., S. 71. 60 Ebd.
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verbundenen Arbeitsmethoden öffentlich zu proklamieren und somit »den Wettbewerb im gesamtgesellschaftlichen Maßstab zu organisieren«.61 In diese Richtung zielt vor allem der wirtschaftspolitisch ausgerichtete Journalismus, dessen Hauptaufgabe darin besteht, »die Werktätigen mit der Wirtschaftspolitik der Partei der Arbeiterklasse […] vertraut zu machen und sie für ihre Verwirklichung zu aktivieren«,62 was aus Sicht der Parteiund Staatsführung nichts anderes bedeutete, als den gesetzmäßigen Erfolg der sozialistischen Planwirtschaft mit allen Mitteln flächendeckend zu propagieren. Gebetsmühlenartig wiederholend zeichnete sich die ›Erfolgsberichterstattung‹ vor allem dadurch aus, dass die sogenannten Erfahrungen der Besten in verallgemeinernder Weise vermittelt wurden, wodurch vorbildliche Denk- und Verhaltensweisen nicht nur bekannt gemacht, sondern auch zu allgemein gültigen Handlungsnormen erhoben werden sollten. Die dahingehenden Anweisungen für (zukünftige) Journalisten folgten dabei strikt den Beschlüssen der leitenden Staatsorgane, was die Mitteilungen des Ministerrates vom 14.6.72 belegen. In der Vertraulichen Dienstsache 11/72: »Beschluß über die ›Aufgaben und Verantwortung der Leiter der Staatsorgane, der wirtschaftsleitenden Organe und der zentralen staatlichen Einrichtungen und ihrer Presseinstitutionen für die Öffentlichkeitsarbeit im Zusammenwirken mit ADN, Presse, Rundfunk und Fernsehen‹ vom 26. Mai 1972« heißt es unter »I.1. Grundsätze und Ziele der staatlichen Öffentlichkeitsarbeit«, dass die »Leiter der Staatsorgane« verpflichtet seien, »vor Kollektiven der Werktätigen, in Zeitung, Rundfunk und Fernsehen die Politik der Partei der Arbeiterklasse und des Sozialistischen Staates zu erläutern, beispielhafte Initiativen im sozialistischen Wettbewerb zu verallgemeinern und die Fragen der Werktätigen überzeugend zu beantworten«. Ziel einer solchen Informationspolitik war es »die Initiative und Tatkraft der Werktätigen aktiv zu fördern, […] ein tiefes Verständnis für das Wesen der Hauptaufgabe des Fünfjahrplanes zu entwickeln« und »[s]ie soll die Überzeugung festigen, daß die Politik der Partei der Arbeiterklasse und des sozialistischen Staates dem Wohl des Volkes dient, daß [sic!] die DDR unter Führung der Arbeiterklasse und ihrer Partei im festen Bunde mit der Sowjetunion und den anderen sozialistischen Bruderländern kontinuierlich und stabil entwickelt«. Vor dem Hintergrund dieser gezielten Lenkung sowie der oben aufgezeigten Kontrollmechanismen war der Spielraum der DDR-Journalisten aber nicht nur thematisch auf ein Minimum beschränkt. Vielmehr mussten die Meldungen auf allen stilistischen Ebenen vom Wort bis zur Textgestalt an der – jeweils geltenden – offiziellen Sprache der Parteiführung, die über ADN vermittelt wurde, ausgerichtet werden. So wurden in der Abteilung Agitation »nicht nur die propagandistischen Schwerpunkte und inhaltlichen 61 Ebd., S. 72. 62 Ebd., S. 213.
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Argumentationslinien, sondern auch die sprachlichen Formulierungsweisen festgelegt, die für die (kommunikativen) ›Organe‹ des ZK (welche eine medienpolitische Leitfunktion erfüllten und auch für andere, nicht parteigebundene journalistische Einrichtungen tonangebend waren) eine strenge Verbindlichkeit besaßen«.63 Die rigiden Regelungen förderten in erster Linie informationelle Einseitigkeit – wenn man überhaupt von Informativität sprechen kann – sowie sprachlich-stilistische Eintönigkeit. Die Idee des so instrumentalisierten Journalismus bestand offenbar darin, dass mit der an der wissenschaftlichen Weltanschauung orientierten Sprache eine effektive ideologische Bewusstseinsbildung erreicht werden konnte, da mit ihr grundsätzlich Soll-Zustände erfasst wurden, die auf objektiven Gesetzmäßigkeiten beruhten und somit prinzipiell die Überlegenheit des Sozialismus – auch und vor allem in Abgrenzung zur Bundesrepublik – unterstrichen. Ein weiteres Merkmal der Mediensprache war ihre Abstraktheit, das heißt, die häufige Verwendung allgemeiner Hochwertbegriffe suggerierte einerseits ein positives Gesamtbild; andererseits waren die auf diesen Oberbegriffen basierenden Nachrichten aufgrund eben dieser Allgemeinheit bezüglich ihres Wahrheitswertes nicht überprüfbar. Außerdem ermöglichte die so indoktrinierte Sprachverwendung in hohem Maße eine Abgrenzung vom Klassenfeind, da sie aufgrund ihrer Ideologiegebundenheit hinreichend Potential aufwies, Freund-Feind-Unterscheidungen gleichsam nebenbei zu thematisieren. Das waren wohl auch die ausschlaggebenden Gründe, die Sprachvorgaben in die massenmediale Kommunikation zu implementieren. Die von einzelnen Wörtern bis zu ganzen Texten reichende Vereinheitlichung zeichnete sich vor allem durch eines aus: Das Definitions- und Interpretationsmonopol lag in den Händen der politisch Herrschenden. Politisch neue Ziele (vor allem nach den Parteitagen) wurden sprachlich fixiert, in den Beschlüssen und Programmen protokolliert und schließlich über die Medien verkündet. Ab diesem Zeitpunkt waren die neuen Formulierungen verbindlich; Abweichungen von ihnen machten die Schreibenden verdächtig bzw. deren Texte wurden nicht veröffentlicht. In diesem Zusammenhang spielte die sogenannte ARGU eine wichtige Rolle. Die Überwachung der Einhaltung der von der SED-Führung gesetzten Normen wurde wie oben dargelegt durch das filigrane Netzwerk aus Anleitungs- und Kontrollmechanismen realisiert. Eine besondere Funktion besaß hierbei die ›Argumentation‹ (kurz: ARGU), denn mit ihr wurden konkret die jeweiligen Richtlinien angewiesen, denen journalistische Beiträge Folge zu leisten hatten. Dass wir das heute wissen, verdanken wir unter anderem dem ehemaligen DDR-Rundfunkmitarbeiter 63 D. Gärtner, »Vom Sekretärsdeutsch zur Kommerzsprache – Sprachmanipulation gestern und heute«, in: G. Lerchner (Hg.), Sprachgebrauch im Wandel. Anmerkungen zur Kommunikationskultur in der DDR vor und nach der Wende, 2., durchges. Aufl., Frankfurt/M., [u. a.]: Lang 1996, S.120 f.
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Harro Hess, der 1993/94 offen über Interna berichtete,64 die im Folgenden hier wiedergegeben werden. Die erste (und wohl wichtigste) Form jener Einrichtung waren die regelmäßigen Sitzungen auf den verschiedenen Redaktionsebenen (vom Staatlichen Komitee für Rundfunk bis zu den jeweiligen Redaktionen), in denen unabhängig von journalistischen Fragestellungen von ›oben‹ nach ›unten‹ die gültigen Sprachnormen für den jeweiligen Tag festgelegt wurden. Auf diesem Weg fand die direkte Einflussnahme der SED-Spitze auf die tägliche Berichterstattung statt. Weiterhin wurde unter der Bezeichnung ARGU »auch eine inhaltliche Kurzfassung eines Sendebeitrages« inklusive der Nennung »beteiligter Autoren und Redakteure«65 verstanden, die den jeweiligen Stellen auf umgekehrtem Weg »von der Redaktionsleitung zum Staatlichen Komitee«66 zur Kontrolle vorgelegt werden mussten. Der Inhalt und vor allem die »richtige Formulierung« der sogenannten ARGU-Zettel waren die entscheidenden Kriterien für die Sendeerlaubnis des entsprechenden Beitrags. Dies bewirkte, dass die Autor/innen genau die »Verbalien sozialistischen Sprachgebrauchs« verwendeten, die als Direktiven zuvor ausgegeben wurden.67 Drittens schließlich stand ARGU für längerfristige Festlegungen bezüglich des politisch korrekten Wortschatzes. Die Einhaltung solcher »Begriffsstandards sowohl aus philosophischen wie auch tagespolitischen ›Werken‹ der marxistisch-leninistischen Literatur«,68 trug einerseits zur Legitimierung der politischen Praxis bei, andererseits signalisierten Autor/innen damit ihre Linientreue. Für den Sprachgebrauch in den Medien bedeutete diese Reglementierung nur eines: inhaltliche und sprachlich-stilistische Einförmigkeit aufgrund permanenter Wiederholung des immer Gleichen. Sprachliche Vielfalt und Verständlichkeit waren hingegen nicht gefragt und auch nicht gefordert. Es war gewollt und gefordert, die Verhältnisse lediglich aus der Perspektive und mit der Sprache der Machthabenden der Bevölkerung zu vermitteln. Ziel dieser Medienpolitik war es, den gesellschaftlichen Diskurs im Sinne der Herrschenden zu kanalisieren und andere Sicht- und Denkweisen von vornherein zu beschränken bzw. auszuschalten. Die Medien waren schlussendlich einzig darauf ausgerichtet, die DDR und vor allem die sozialistische Planwirtschaft positiv darzustellen. Nur kleinste Mangelerscheinungen wurden entweder tabuisiert oder aber durch entsprechende Wortwahl verschleiert. Gedruckt und gesendet 64 H. Hess, »Die ARGU – Sprachregelungen im Rundfunkjournalismus der DDR«, in: H. Riedel (Hg.), Mit uns zieht die neue Zeit ...: 40 Jahre DDR-Medien: eine Ausstellung des Deutschen Rundfunk-Museums, 25. August 1993 bis 31. Januar 1994, Berlin: Vistas 1993, S. 251–254. 65 Ebd., S. 251. 66 Ebd. 67 Vgl. ebd., S. 252 f. 68 Ebd., S. 251.
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wurden ausschließlich Meldungen über »Aufbauerfolge, Wettbewerbserfolge, Versorgungsfortschritte, Produktivitätsgewinne – kurz: Belege für die Selbsteinschätzung: es geht immer und überall stetig und siegreich aufwärts (allenfalls nicht überall gleich zügig)«.69 Die apodiktische Informationspolitik der SED, in der die wirklichen Zustände zugunsten des dogmatischen Wahrheitsanspruchs systematisch verschwiegen wurden, führte aber letztendlich nicht zu den Ergebnissen, die die Partei erzielen wollte. Die zunehmenden Diskrepanzen zwischen den durch die Medien vermittelten Erfolgsbotschaften und den im Alltag erlebten Realzuständen machten nicht erst zum Ende der DDR die Medien in den Augen der meisten Bürger/innen unglaubwürdig. Mehr noch: Die Unzufriedenheit mit den Medien und ihrer verschleiernden und beschönigenden Sprache war einer der Hauptgründe, die tausende Menschen im Herbst 1989 auf die Straße trieb.
5. Zusammenfassung Vor dem Hintergrund der politischen Machtverhältnisse, die die Möglichkeiten kommunikativen Handelns determinieren, wurden Einsichten in die Funktionsweise diktatorischer Sprachreglementierung präsentiert. Die SED-Führung und die ihr nahestehenden Apologeten des Marxismus-Leninismus verfolgten das politisch-ideologische Ziel, eine sozialistische Gruppensprache zu entwickeln und theoretisch zu fundieren, um sie anschließend als verbindliche Norm in der gesellschaftlichen Kommunikation zu implementieren. Dahinter stand die Absicht, mittels einer einheitlichen Lexik mit definierten Wortbedeutungen sowie vorgeprägter Argumentationsstrategien und Kommunikationsmuster die wissenschaftlich begründeten Wahrheitsansprüche, aus denen das System seine Legitimationsgrundlage ableitete, sprachlich-kommunikativ zu manifestieren. Infolge des gesellschaftlichen Entdifferenzierungsprozesses weitete sich diese staatsparteilich angeordnete Monosemierung über den gesellschaftspolitischen Bereich auf nahezu alle Sektoren des öffentlichen Lebens aus. Vor allem in den zentralen Bereichen Ökonomie, Bildung und Medien führte die rigide Sprachlenkung zu einer verbindlichen Normierung des Sprachgebrauchs, der man sich nur unter Inkaufnahme von Sanktionen entziehen konnte. Die Herrschenden erwarteten von der kommunikativen Gleichschaltung eine effektivere Bewusstseinsbeeinflussung, da die Bedeutung der sprachlichen Zeichenkomplexe an eine gemeinsame parteiliche 69 M.W. Hellmann, »Einige Beobachtungen zu Häufigkeit, Stil und journalistischen Einstellungen in west- und ostdeutschen Zeitungstexten«, in: F. Debus, M.W. Hellmann, H.D. Schlosser (Hg.), Sprachliche Normen und Normierungsfolgen in der DDR, Hildesheim [u. a.]: Olms 1986, S. 175 f.
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Überzeugung gekoppelt wurde. Das Ergebnis dieser vor allem über die Medien forcierten Sprachnormierung war, dass das Politische die öffentliche Kommunikationspraxis in hohem Maße bestimmte. Damit einher ging der inflationäre Gebrauch derselben sprachlich-kommunikativen Mittel. Dieser bewirkte jedoch nicht die von den Parteiideologen vorhergesagte Interessenkonvergenz von Herrschenden und Beherrschten, sondern führte einerseits zu einer Entterminologisierung des zugrunde liegenden Fachwortschatzes und andererseits zu einer zunehmenden Applikabilität des ideologischen Wortschatzes auf nahezu alle Themengebiete. Infolgedessen degenerierten die marxistisch-leninistischen Termini zu politischen Leerformeln, deren Gebrauch immer weniger ideologische Überzeugung, als vielmehr opportunistisches Verhalten signalisierte. Im Ergebnis zeichnete sich die öffentliche Kommunikation vor allem durch eines aus – ihre Ritualisierung.70 Diese weit über das Gewohnte hinausgehende rituelle Kommunikation erwies sich in dreierlei Hinsicht – zumindest an der Oberfläche – als systemstabilisierend. Zum einen kanonisierten sie politische Werthaltungen und Weltdeutungen, zum anderen vermittelten rituelle Praktiken Ordnung und Sicherheit: Die feste Form und der immer gleiche oder nur geringfügig variierte Ablauf symbolisierten Kontrolle, Ordnung und erfolgreiche Machtausübung. Und drittens schließlich trug rituelle Sprache zur Integration bei. Sie verpflichtete die Teilnehmer am öffentlichen Diskurs, auf eine bestimmte, festgelegte Art zu sprechen, die sie gegenüber anderen Sprechern abgrenzte.71
Die Befolgung der Rituale war aber in den wenigsten Fällen gleichzusetzen mit dem Ausdruck von Überzeugung. Die meisten DDR-Bürger/innen waren Meister des code switchings, das heißt, im Öffentlichen spielte man im Großen und Ganzen das kommunikative Spiel mit. So konnten in öffentlichen Situationen die bekannten Muster relativ problemlos mit Teilen offizieller Verlautbarungen oder erwarteter Versatzstücke schematisch aufgefüllt werden, was zumindest an der sprachlichen Oberfläche Systemtreue signalisierte. Offene Gespräche hingegen fanden im Privaten statt, wo die großen und kleinen Probleme unverklausuliert thematisiert werden konnten. Der Versuch der flächendeckenden Indoktrination des 70 Vgl. U. Fix, »Rituelle Kommunikation im öffentlichen Sprachgebrauch der DDR und ihre Begleitumstände. Möglichkeiten und Grenzen der selbstbestimmten und mitbestimmenden Kommunikation in der DDR«, in: U. Fix, Sprache, Sprachgebrauch und Diskurse in der DDR. Ausgewählte Aufsätze, Berlin: Frank und Thimme 2014, S. 83–147. 71 R. Jessen, »Einschließen und Ausgrenzen. Propaganda, Sprache und die symbolische Integration der DDR-Gesellschaft«, in: B. Bock, U. Fix, S. Pappert (Hg.), Politische Wechsel – sprachliche Umbrüche, Berlin: Frank und Thimme 2011, S. 146.
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öffentlichen Sprachgebrauchs, »deren herrschaftsstabilisierende Funktion durch den dysfunktionalen Effekt nur sehr unzulänglicher Realitätsbeschreibung mehr als wettgemacht wurde«,72 musste letztendlich scheitern, denn ein Repressionsapparat, der nach unten sprachlich fixierte Muster vorgibt, innerhalb seines Einflussbereiches aber nur diese gelten lässt und nur Erfolgsberichte in eben jenen Schablonen erwartet, gerät zwangsläufig in eine zirkuläre Kommunikations- und Sprachfalle. In politisch ungünstigen Situationen machen die dadurch evozierten Informations- und Innovationsdefizite das System unregierbar. Die von der SED betriebene Herrschaftspraxis der vollständigen Reglementierung der öffentlichen Kommunikation erwies sich zwar über gewisse Zeiträume als durchaus zweckmäßig, führte in ihrer Ausprägung als gesellschaftsdeckende Sprachmanipulation jedoch in der Konsequenz zur Selbstblockade.
72 R. Bessel, R. Jessen, »Einleitung: Die Grenzen der Diktatur«, in: R. Bessel, R. Jessen (Hg.), Die Grenzen der Diktatur. Staat und Gesellschaft in der DDR, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1996, S. 15.
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Wir und die Anderen Machtpolitische Dimensionen von Sprache unter besonderer Berücksichtigung des Aspektes der Gruppenbildung in der arabischen politischen Rhetorik 1. Einleitung In Diktaturen, und nicht nur dort, dient Sprache als ein Instrument der Machtausübung,1 wohlgemerkt als Mittel, das vom Sprecher frei gewählt wird. Sprache ist also lediglich ein Objekt, das vom handelnden Subjekt benutzt wird, um zum Beispiel Macht über andere zu erlangen.2 Max Weber definiert den Machtbegriff als »jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel, worauf diese Chance beruht.«3 Folgt man seiner Definition, dann lässt sich für die rhetorisch betriebene Machtpolitik daraus ableiten, dass der Redner anderen seinen Willen aufzwingen will. Dies geschieht allerdings nicht mit Gewalt, einer ansonsten laut Heinrich Popitz durchaus möglichen Form der Machtausübung.4 Der gewaltfreie Kampf mit Worten wurde gemäß Überlieferung schon vom Propheten Muḥammad empfohlen, der in diesem Sinne mahnte: »Der Gläubige kämpft mit Schwert und Zunge!«5 Historische Beispiele für den erfolgreichen Machtkampf mit der Zunge (und mit dem Schwert) gibt es zahlreiche, nicht nur in der arabischen Geschichte. Häufig sind sie 1
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Ein grundlegendes Werk dazu: J. Schiewe, Die Macht der Sprache. Eine Geschichte der Sprachkritik von der Antike bis zur Gegenwart, München: Beck 1998. Auf dieser Grundlage kritisiert Werner Betz die vielfach benutzte Formulierung ›Macht der Sprache‹ in: W. Betz, Verändert Sprache die Welt? Semantik, Politik und Manipulation, Zürich: EDITION INTERFROM 1977, S. 47–63. M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, 1. Halbband, Tübingen: J. C. B. Mohr 1921/1980, S. 28. »Die Macht zu töten und die Ohnmacht des Opfers sind latent oder manifest Bestimmungsgründe der Struktur sozialen Zusammenlebens.« H. Popitz, Phänomene der Macht, Tübingen: J. C. B. Mohr 1992, 2. Auflage, S. 57. 13 ج/ )إِ ﱠن اﻟْ ُﻤ ْﺆ ِﻣ َﻦ ﻳُ َﺠﺎ ِﻫ ُﺪ ﺑ َِﺴ ْﻴ ِﻔ ِﻪ َوﻟِ َﺴﺎﻧِ ِﻪ( ﺻﺤﻴﺢ اﺑﻦ ﺣﺒﺎن:ﻓَﻘ ََﺎل اﻟ ﱠﻨﺒ ﱡِﻲ ﺻﲆ اﻟﻠﻪ ﻋﻠﻴﻪ وﺳﻠﻢ
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mit den Namen von Führerpersönlichkeiten verbunden, wie dem ersten römischen Kaiser Augustus, dem islamischen Propheten Muḥammad, dem christlichen Reformator Martin Luther, dem französischen Kaiser Napoleon Bonaparte, dem nationalsozialistischen Reichspropagandaleiter Joseph Goebbels, dem panarabischen ägyptischen Präsidenten Ǧamāl ʿAbd an-Nāṣir, dem Führer der Palästinensischen Befreiungsorganisation Yāsir ʿArafāt. Eine wichtige Funktion der beim Kampf mit der Zunge zum Einsatz kommenden politischen Rhetorik ist Persuasion. Der Adressat soll überredet werden, die vom Redner vertretene Politik gutzuheißen. Damit unterstützt die politische Rede die Machtgewinnung, sie trägt zum Machterhalt bei und soll eine eventuelle Machterweiterung rechtfertigen, in manchen Fällen dient sie auch der Mobilisierung zur Auslösung bestimmter Handlungen.6 Um mit politischen Reden Anhänger zu gewinnen oder Gegner abzuwehren, wird gelobt und gedroht, geschmeichelt und beschönigt, verharmlost und polarisiert. Dabei spricht man vordergründig den Verstand der Adressaten an und bringt sachliche oder sachlich wirkende Argumente vor. Gleichzeitig oder auch ersatzweise wird versucht, Gefühle auszulösen, die eine analytische, rationale Überprüfung der Aussagen des Redners blockieren oder zumindest erschweren.7 Eine derartige Emotionalisierung kann durch außersprachliche Phänomene, wie zum Beispiel das Charisma des Redners, hervorgerufen werden. Aber auch der vorgetragene Text selbst enthält gegebenenfalls Botschaften und rhetorische Mittel, die geeignet sind, den Adressaten zu emotionalisieren. Wie nun wird in der arabischen politischen Rhetorik argumentiert und welche konkreten rhetorischen Strategien, Taktiken und Techniken erzeugen Emotionen? In einer qualitativen Inhaltsanalyse verschiedenster Reden8 konnten dieselben Mittel der Propagandasprache und entsprechende Manipulationstechniken nachgewiesen werden, wie sie auch in europäischsprachigen Texten9 zu finden sind, so vor allem: 6 7
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Vgl. J. Klein, »Sprache und Macht«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 8 (2010), S. 5, S. 8. Zur Rolle der Emotionen bei der Agitation und Mobilisierung der Massen vgl. E. Straßner, Ideologie, Sprache, Politik. Grundfragen ihres Zusammenhangs, Tübingen: Niemeyer 1987, S. 42 und H. Grimm und J. Engelkamp, Sprachpsychologie. Handbuch und Lexikon der Psycholinguistik, Berlin: E. Schmidt 1981, S. 28–30. Vgl. K. Stock, Sprache als ein Instrument der Macht. Strategien der arabischen politischen Rhetorik im 20. Jahrhundert, Wiesbaden: Reichert 1999, S. 32–181. Vgl. T. Lewandowski, Linguistisches Wörterbuch, 3 Bde. 5. überarbeitete Auflage, Heidelberg, Wiesbaden: Meyer 1990, S. 790, S. 841–843, S. 1036 f.,
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Aufwertung der eigenen Situation und Abwertung des Gegners Beschwichtigung Bestärkung des Gruppenzugehörigkeitsgefühls Schwächung der Kritikbereitschaft durch Bestätigung von Vorurteilen Schwarz-Weiß-Darstellungen Verbreitung von Halbwahrheiten irreführende Logik Scheinargumentation Trivialisierung Gebrauch von Leerformeln, Schlagwörtern, Fangwörtern und Euphemismen Bezug auf Autoritäten
Das wichtigste Ergebnis dieser Untersuchung war indes die Beobachtung, dass in der arabischen politischen Rhetorik seit ihren dokumentierten Anfängen im 7. Jahrhundert Aussagen und Stilfiguren, die ästhetische, religiöse oder patriotische Assoziationen schüren können, ein besonderes Emotionalisierungspotenzial besitzen. Auf Grund ihrer Häufigkeit müssen diese rhetorischen Strategien als charakteristisch gelten, auch wenn sie in Abhängigkeit von Anlass, Zeitpunkt, Thema, Sender und Adressat unterschiedlich gewichtet sind. Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf die moderne politische arabische Rhetorik und auf nur eine Komponente ihrer machtpolitisch relevanten rhetorischen Strategien. Es geht um Vereinnahmungstaktiken im Sinne von ›Wir und die Anderen‹. Diese Strategie ist vielfach untersucht worden.10 Für die arabische politische Rhetorik fehlt hingegen noch eine umfassende Beschreibung. Die rhetorische Gruppenbildung wird nicht nur zur Persuasion eingesetzt, also nicht nur, um den Zuhörer für die eigenen Interessen zu gewinnen. Sie spielt zugleich eine wichtige Rolle bei der Erzeugung von Feindbildern. Wenn man den gegenwärtigen europäischen politischen Sprachgebrauch beobachtet, kann man feststellen, dass das ›Wir‹ unter anderem immer häufiger zur Abgrenzung von Migranten verwendet wird. J. Klein, Sprache und Macht«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 8 (2010), S. 11. 10 Zum Beispiel: N. Fairclough, »Blair’s contribution to elaborating a new ›doctrine of international community‹«, in: Journal of Language and Politics, 4/1 (2005), S. 41–63, T.A. van Dijk, »Discourse and manipulation«, in: Discourse and Society, 17/3 (2006), S. 373, D. Badran, »Hybrid genres and the cognitive positioning of audiences in the political discourse of Hizbollah«, in: Critical Discourse Studies, 7/3 (2010), S. 191–201.
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Stellt sich die Frage, wie arabische Politiker ›Wir‹ einsetzen. Dabei sind drei Hauptkomplexe zu untersuchen: 1. Wer sind ›Wir‹? (Zusammensetzung der Gruppe) 2. Wozu sind wir ›Wir‹? (Ziel der Gruppenbildung) 3. Wie werden wir zum ›Wir‹? (Sprachliche Mittel zur rhetorischen Gruppenbildung) Um diese Fragen zu beantworten, müssen zunächst die kulturhistorischen und politischen Hintergründe für rhetorische Gruppenbildungen beleuchtet werden. Anschließend kann nach einer umfassenden Textanalyse geklärt werden, welche Gruppen durch arabische Politiker rhetorisch erschaffen werden, welche Ziele damit verbunden sind und mit welchen sprachlichen Mitteln die Redner die Gruppenbildung erreichen. Unter Einbeziehung des bereits analysierten Textkorpus aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, als die arabischsprachige Welt in Form einzelner Nationalstaaten international bekannte Führungspersönlichkeiten hervorbrachte, finden für den vorliegenden Beitrag zusätzlich Politikerreden aus dem 21. Jahrhundert Eingang in die Untersuchung. Die Analyse aktueller Texte ist nötig, weil Nordafrika und der Nahe Osten gerade derzeit große politische und gesellschaftliche Wandlungen durchmachen, die sich möglicherweise auch im Sprachgebrauch niederschlagen. Im Rahmen der vorliegenden rein linguistischen Untersuchung ist es allerdings nicht möglich, Zusammenhänge zwischen neuen gesellschaftlichen Erscheinungen, äußeren Einflüssen sowie politischen, wirtschaftlichen und geostrategischen Zielen auf der einen Seite und dem öffentlichen Diskurs auf der anderen Seite eindeutig und umfassend zu ergründen. Angesichts der Größe der arabischen Welt lassen sich auch nicht alle Regionen erfassen. Bevorzugt werden Reden von Politikern, die • innerhalb ihres Landes eine langjährige Reputation besitzen (beispielsweise Sultan Qābūs von Oman) • Ausstrahlung über die Landesgrenzen hinweg haben (beispielsweise der Ḥizbullāhführer Ḥasan Naṣrallāh) • in Krisenzeiten rhetorisch wirksam werden mussten (zum Beispiel Ḥusnī Mubārak und Baššār al-Asad) • im Zusammenhang mit den aktuellen Umwälzungen als Repräsentanten des Wandels gelten (beispielsweise der ehemalige irakische Ministerpräsident Nūrī al-Mālikī). Ziel ist es, mit linguistischen Methoden zu ermitteln, wie arabische Politiker Sprache strategisch einsetzen, um Macht ausüben zu können, wenn auch die tatsächliche Wirkung nicht messbar ist. 72
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2. Kulturhistorische und politische Hintergründe rhetorischer Gruppenbildung 2.1 Sinn von Gruppenbildungen Gruppenbildungen sind offenbar ein wirksames Mittel der Überlebenssicherung. Die Kultur- und Sozialanthropologie betrachtet den Menschen als soziales Wesen innerhalb einer Gesellschaft oder Gruppe. Die Gemeinschaft wird zum Beispiel von Familienbanden oder gemeinsamen Interessen zusammengehalten. Empathie und Solidarität, Kommunikation und Arbeitsteilung sind gute Voraussetzungen, um Schwache zu stärken und Stärken zu potenzieren. In diesem Sinne argumentieren auch Politiker (»Gemeinsam sind wir stark.«) oder Oppositionelle (»Wir sind das Volk.«). Als der Mensch noch nicht dank technischer Errungenschaften im engeren Lebenskreis relativ gruppenunabhängig existieren konnte, trotzten die Bewohner der Arabischen Halbinsel den Unbilden der Wüste am besten als Gruppe. Auf der Grundlage einer tatsächlichen oder fiktiven gemeinsamen Abstammung etablierten sich Stämme und Stammesverbände, deren Bedeutung noch heute an arabischen Familiennamen ablesbar ist. Der Ausschluss aus der Gemeinschaft war eine schwerwiegende Sanktion. Eine seit dem 7. Jahrhundert fest etablierte Gruppe ist die der Muslime. Die auf Gemeinsinn gestützten Wertvorstellungen haben dazu geführt, dass sich ein Gemeinschaftsgedanke herausbildete, dessen Institutionalisierung mit dem Begriff der ›Umma‹ (umma) bezeichnet wird und der in Form der islamischen Umma eine zumindest theoretisch bestehende Solidargemeinschaft hervorgebracht hat, die heute die verschiedensten islamischen Staaten umfasst. Demgegenüber kleiner, aber im arabischen Selbstverständnis nicht weniger geschätzt ist die Gruppe der Araber. Sie spricht Arabisch als Muttersprache oder ist in einer arabophonen Kultur aufgewachsen (zum Beispiel tunesische Berber, syrische Armenier) oder zumindest dort verwurzelt (in nichtarabischen Ländern lebende Menschen arabischer Herkunft). Dieses ›Arabischsein‹ (ʿurūba) spielte in vorislamischer und frühislamischer Zeit eine große Rolle, wurde aber durch die gewaltige Expansion des arabischen Herrschaftsgebietes seit Mitte des 7. Jahrhunderts und der damit einhergehenden Eingliederung nichtarabischer Bevölkerungen de facto zugunsten des ›Muslimseins‹ weniger gepflegt. Traditionelle arabische Wertvorstellungen lebten allerdings genauso weiter wie die arabische Sprache, die im religiösen, administrativen, wissenschaftlichen und künstlerischen Diskurs dominierte, so dass es zu keiner 73
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Auflösung des ›Arabischseins‹ kam. Im 20. Jahrhundert wurde dieses im Zuge der nationalen Befreiungsbewegungen und säkularen Bestrebungen in einigen Gebieten sogar wichtiger als das ›Muslimsein‹. Auf manchen arabischen Flughäfen wird in diesem Sinne die Einreise geregelt nach Ausländern, Arabern und den Staatsbürgern des jeweiligen Landes (Omaner usw.). Ungeachtet welche Gruppe gerade vom Redner fokussiert wird, der Verrat von Gruppeninteressen ist in jedem Fall ein schwerer Vorwurf. Syriens Präsident Baššār al-Asad legte dies am 10.1.2012 der Arabischen Liga zur Last, nachdem er deren Forderungen nach Rückzug der Armee aus den Städten, Freilassung von Gefangenen, Genehmigung von Demonstrationen und Duldung ausländischer Journalisten nicht nachgekommen war und deshalb Syriens Mitgliedschaft in der Liga am 12.11.2011 suspendiert worden war. Laut al-Asad wäre die Liga schon sechs Jahrzehnte lang nicht in der Lage gewesen, arabische Interessen zu vertreten. Mit der Suspendierung von Syriens Mitgliedschaft würde auch der arabische Charakter bzw. das Arabertum der Liga (ʿurūbat al-ǧāmiʿa) suspendiert, noch dazu, wo es ohnehin Länder gäbe (Beschimpfung der VAE), die »kein Arabertum haben und es nie haben werden«.11 Hier grenzt man Gegner aus, indem man sie aus der Gruppe der Araber ausschließt. Da liegt die Schlussfolgerung nahe: Wer sich dennoch als Araber fühlt, sollte unbedingt Solidarität mit den anderen Arabern, also auch mit dem syrischen Präsidenten und den von ihm vertretenen Syrern, üben. Auch Muʿammar al-Qaḏḏāfī, der dafür bekannt war, eigene Maßstäbe zu setzen und sich weder in seiner Weltanschauung und der von ihm praktizierten Politik noch in seiner äußeren Erscheinung arabischen oder internationalen Gepflogenheiten anzupassen, versuchte zumindest in seiner emotionsgeladenen Fernsehansprache am 22.2.2011 zur Eskalation der Unruhen in Libyen an den arabischen und muslimischen Gruppengedanken zu appellieren. Vorwurfsvoll rief er: »Sind dies das Blut und die Brüderlichkeit, die uns mit euch verbinden?«12 Das Land, das er seit 1969 unter seiner eigenen Ideologie zusammengehalten hatte und das seitdem einen wirtschaftlichen und kulturellen Aufschwung verzeichnen konnte, war nun dabei auseinanderzubrechen und im Chaos zu versinken. Die gegen seine Politik Protestierenden versuchte er als eine nur kleine Gruppe von Außenseitern zu verharmlosen und durch Beschimpfungen auszugrenzen. Gruppenbildungen sind offenbar nicht nur ein menschheitsgeschichtliches Mittel zur Überlebenssicherung, sondern auch eine rhetorisch bedeutsame Strategie politischer Redner.
11 .مل ﺗﺪﺧﻞ اﻟﻌﺮوﺑﺔ وﻟﻦ ﺗﺪﺧﻠﻬﺎ 12 أﻫﺬا اﻟﺪم واﻷﺧﻮة اﻟﺘﻲ ﺑﻴﻨﻨﺎ وﺑﻴﻨﻜﻢ؟
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2.2 Konstruktion rhetorischer Gruppen Politiker benutzen die Wir-Form oder vereinnahmende Anreden, um zumindest verbal eine zahlenmäßig meist nicht definierbare Gruppe zu erschaffen, die aus Menschen besteht, die mit dem Redner eine Gemeinschaft bilden, im Folgenden als ›Insider-Gruppe‹ bezeichnet. Wer nicht zu dieser Gemeinschaft gehört, ist – der rhetorischen Logik folgend – ein Außenseiter, der sich bestenfalls in eine ›Outsider-Gruppe‹ eingliedern kann. Oft werden diese Outsider-Gruppen gar nicht erwähnt. Wenn doch, dann eher in der 3. Person Plural als unter einer direkten Bezeichnung. Noch seltener spricht sie der Redner in der 2. Person Plural direkt an. Muʿammar al-Qaḏḏāfī grenzte in einer Rede, die er im Juni 2006 vor Abgeordneten der Afrikanischen Union hielt, deutlich zwei Lager voneinander ab: Afrika (›wir‹) mit ihm als Führer und die westliche Welt (›sie‹), die mit Skepsis betrachtet werden sollte, weil sie laut al-Qaḏḏāfī versucht, in Afrika neokoloniale Interessen zu verwirklichen. Die verschiedenen Gruppen werden in dieser Untersuchung als ›rhetorische Gruppen‹ bezeichnet, weil sie – genauso wie eine rhetorische Frage – nur konstruiert sind, um durch Worte den Adressaten in eine bestimmte Richtung zu lenken. Die konkrete Bedeutung spielt eine untergeordnete Rolle und ist meist mehrdeutig interpretierbar, wie in al-Qaḏḏāfīs Afrika-Wir-Gruppe, zu der nicht unbedingt immer alle afrikanischen Staaten gleichermaßen gehörten, die sogar gewissermaßen zeitlos zu existieren schien oder zu unterschiedlichen historischen Epochen betrachtet werden konnte, die aber verbal immerhin einen ganzen Kontinent umfasste und ihre Führer (2009/2010 al-Qaḏḏāfī als Präsident der Afrikanischen Union) an die Spitze von einer Milliarde Menschen und damit in eine hohe Machtposition rückte. In der politischen Rhetorik erscheinen Gruppenbildungen oftmals ideologisch motiviert, wie in der kommunistischen Propaganda, bei der die ›Revolutionären‹ die ›Konterrevolutionären‹ und ›Reaktionären‹ bekämpfen sollen. Für diese Gruppen sind in der arabischen kommunistischen Rhetorik äquivalente Neologismen eingeführt worden, wie ṯaurīyūn, aʿdā‘ aṯ-ṯaura und raǧʿīyūn. Ebenfalls mit einer ideologischen Zielstellung, aber ethnisch und sozial definiert, wurde in der nationalsozialistischen Propaganda die rhetorische Gruppe der ›arischen‹, ›germanischen‹ bzw. ›deutschen Rasse‹ erschaffen und den ›Fremdrassigen‹ und ›Asozialen‹ gegenübergestellt. In der gegenwärtigen arabischen politischen Rhetorik kommt der Begriff der ›Rasse‹ höchstens im Zusammenhang mit dem Neologismus ʿunṣurīya (›Rassismus‹) vor. Es gibt nicht einmal einen feststehenden Terminus, sondern man benutzt verschiedene Begriffe, die Ähnliches bezeichnen und keine heikle Konnotation haben, wie ǧins (›Art‹, ›Kategorie‹, 75
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›Geschlecht‹), sulāla (›Abkömmling‹, ›Stamm‹, ›Sorte‹), qabīla (›Stamm‹) oder ʿunṣur (›Element‹, ›Ursprung‹). Genauso wie die ›deutsche Rasse‹ nationale Aspekte der Gruppe betont, kann auch das ›Volk‹ national definiert sein, besonders wenn es durch Staatenbezeichnungen spezifiziert wird. In der deutschen politischen Rhetorik nahm dieses Schlagwort eine Entwicklung von einer nationalen, und während des Dritten Reiches nationalistischen Interpretation (›das deutsche Volk‹) hin zu einem Begriff mit gesellschaftlicher13 und politischer14 Konnotation, bei dem das nationale Attribut entfällt. Das liegt daran, dass man nach dem Zweiten Weltkrieg in der politischen Rhetorik in beiden Teilen Deutschlands Gruppenbildungen vermied, die eine nationalistische Interpretation zugelassen hätten. Die gegenwärtigen deutschen politischen Redner schaffen im Allgemeinen keine eindeutigen Gruppen, benutzen aber gern das nicht weiter definierte ›Wir‹,15 das genauso wie rhetorische Leerformeln keine Verpflichtungen enthält, aber den Adressaten immer anspricht. In der modernen arabischen Rhetorik hingegen hat man weniger Scheu vor ethnisch oder nationalistisch motivierten Gruppenbildungen und benutzt durchaus den unklar definierten Begriff »Araber« (ʿarab) oder seit der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts aus den Ländernamen abgeleitete Volksbezeichnungen wie ›Libanesen‹ (lubnānīyūn) und ›libanesisches Volk‹ (aš-šaʿb al-lubnānī) oder ›Volk von Ägypten‹ (šaʿb miṣr). Der Begriff ›Volk‹ (šaʿb) ist in arabischen politischen Reden ohnehin weitverbreitet. Zuweilen ist mit šaʿb aber auch die breite Masse der Bevölkerung im Gegensatz zur Elite oder Führung gemeint, die dann nicht unbedingt auf ein Land begrenzt ist. In dieser Bedeutung huldigte auf dem 26. Gipfel der Arabischen Liga der damalige jemenitische Präsident ʿAbd Rabbihi Manṣūr Hādī am 28.3.2015 den ägyptischen Gastgebern als »Brüder in der Arabischen Republik Ägypten, sowohl deren Führung als auch deren Volk«.16 In einem gesellschaftspolitischen Sinne erschien der Begriff während der tunesischen Jasmin-Revolution 2010/2011 in deren Slogan »Das Volk will«.17 Von dieser allumfassenden Bedeutung des Volksbegriffes wich der Übergangspräsident al-Munṣif al-Marzūqī (Moncef Marzouki) jedoch ab, als er die Anhänger seiner Partei ›an-Nahḍa‹ als šaʿb an-nahḍa (›Volk der Nahḍa‹) bezeichnete. Nach Ansicht vieler Kritiker schuf er damit eine 13 D. h. die breite Masse (der Bevölkerung) als Gegenpol zur Elite. 14 »Wir sind ein Volk!«, »Wir sind das Volk!« 15 Eine Forschungsgruppe der TU Dresden unter Leitung von Joachim Scharloth hat bei der Untersuchung der Wahlkampfrhetorik von Angela Merkel und Peer Steinbrück 2013 festgestellt, dass A. Merkel auffallend oft die WirForm verwendet (URL: http://www.polittrend.de/politik/blog/?p=210) 16 ً ﻗﻴﺎد ًة وﺷﻌﺒﺎ،ﻣﴫ اﻟﻌﺮﺑﻴﺔ َ اﻷﺷﻘﺎ ِء ﰲ ﺟﻤﻬﻮرﻳ َﺔ 17 ...اﻟﺸﻌﺐ ﻳﺮﻳﺪ
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positiv belegte Wir-Gruppe, die den restlichen Tunesiern die Ehre entzog, zum Volk zu gehören.18 Neben dem im Allgemeinen positiv konnotierten Begriff šaʿb existiert noch ein wertneutralerer Begriff für die Gruppe der breiten Öffentlichkeit. Wenn es darum geht, die Bürger in weniger pathetischen Kontexten zu benennen, bevorzugt man die Formulierung aš-šāriʿ (›die Straße‹), wie in der häufigen Formulierung aš-šāriʿ al-ʿarabī (›die arabische Straße‹). Außer ideologisch und national bzw. ethnisch lassen sich also die in politischen Reden gebildeten rhetorischen Gruppen auch politisch, demografisch und religiös definieren. Politische Gruppen sind oftmals identisch mit Parteien oder staatlichen Gremien (›Abgeordnete‹ usw.). Demografische Aspekte beziehen sich zumeist auf Alter (Jugend, Rentner usw.) und Geschlecht (in zunehmendem Maße durch Genderpolitik bestimmt) und sind je nach Redeanlass allgemein in politischen Reden anzutreffen, ohne irgendwie tabuisiert zu sein. Die rhetorische Erschaffung von religiösen Gruppen ist stark von der jeweiligen politischen und gesellschaftlichen Situation und der Funktion der Rede abhängig. In der aktuellen deutschen politischen Rhetorik spielen religiöse Gruppen (besonders Muslime) zumeist nur in der Flüchtlingsdiskussion eine Rolle. In der arabischen politischen Rhetorik kommen religiöse Gruppen wesentlich öfter vor, weil Religion allgegenwärtiger ist, weil Konflikte oftmals mit religiösen Gruppierungen in Zusammenhang gebracht werden und weil das Gruppengefühl oftmals von gemeinsamen moralischen Werten genährt wird, die oftmals wiederum religiös motiviert sind. 2.3 Kontextualität der Gruppenbildung In der arabischen politischen Rhetorik lässt sich zumindest seit der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts ein starker Gruppenbezug beobachten. Allerdings muss man zwischen einzelnen Rednern und Redeanlässen differenzieren. Auffällig ist, dass ein- und dieselben Politiker vor arabischen Zuhörern gehäuft die Wir-Form und andere Arten der Gruppenbildung benutzen, während dies vor einem internationalen Publikum wesentlich weniger Bedeutung hat. Vor der Arabischen Liga beispielsweise sprechen die Redner von ihrem ›Volk‹ bzw. ›den Söhnen des Volkes‹ (abnā‘ aš-šaʿb). In ihren UN-Ansprachen hingegen bevorzugen sie die eigene Staatsbezeichnung, kombiniert mit der 3. Person Singular. Die Reden an arabische Adressaten zeichnen sich ohnehin durch spezifische rhetorische Strategien aus. Typisch sind ornamentale und rhythmische 18 Vgl. Amāl Qarāmī, šaʿb an-nahḍa (URL: http://www.shorouknews.com/ columns/view.aspx?cdate=09122014&id=0a928cc1-e686-48d4-9802-f4f642febdb6, zuletzt aufgerufen am 16.07.2017).
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Stilfiguren, religiöse Formulierungen, traditionelle Wertbegriffe und Bezüge auf die arabisch-islamische Geschichte.19 Die unterschiedlichen Motive, die der Verwendung rhetorischer Gruppen zugrunde liegen, zeigen sich beispielsweise bei einem Vergleich zweier historischer Reden des Führers der Palästinensischen Befreiungsorganisation, Yāsir ʿArafāt. Die eine Rede wurde am 13.11.1974 vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen gehalten und richtete sich an ein mehrheitlich nichtarabisches Publikum, dem eine sachlich-rationale Haltung angesichts des neuerlich eskalierten Nahostkonfliktes demonstriert werden sollte. Diese Ansprache erhielt große internationale Aufmerksamkeit, weil zum ersten Mal in der Geschichte der UNO der Repräsentant einer Organisation und nicht einer Regierung oder eines Staates auftreten durfte. Die stilistisch ausgefeilte Rede enthält bei einer Länge von rund 5300 Wörtern 44-mal Verben in der Wir-Form und 120 Substantive mit dem Personalpronomen ›unser‹ (-nā) sowie lediglich dreimal den Begriff ›Brüder‹ (iḫwa). In ʿArafāts letzter bedeutsamer Rede, die er vor dem Parlament der Palästinensischen Autonomiebehörde (Legislativrat) am 18.8.2004 hielt, erscheinen bei ähnlicher Länge (rund 4700 Wörter) mehr als doppelt so viele rhetorische Gruppenbildungen: 100-mal Verben in der Wir-Form, 225 Substantive mit dem Personalpronomen ›unser‹ und 27-mal die Begriffe ›Brüder‹ (iḫwa) bzw. ›Schwestern‹ (aḫawāt). Diese Ansprache richtete sich in erster Linie an die Palästinenser, als deren Führer sich ʿArafāt immer verstand. Mit dem Appell an das Wir-Gefühl und der Erinnerung an den opferreichen gemeinsamen Widerstand gegen den israelischen Feind, versuchte ʿArafāt der Kritik an seinem Führungsstil zu begegnen, die in den Vormonaten durch Korruptionsvorwürfe gegen seine Mitarbeiter wieder neue Nahrung bekommen hatte. Arabische Zuhörer werden von arabischen Rednern offenbar wesentlich stärker in die Wir-Gruppe eingebunden und unter dem Aspekt der Brüderlichkeit zu vereinnahmen versucht als ein nichtarabisches Publikum. Der Gruppen- und Solidaritätsgedanke ist, zumindest rhetorisch, vor einem arabischen Publikum stark ausgeprägt. Die Chance, damit Macht über die Zuhörer ausüben zu können, scheint hier höher zu sein. Daraus kann natürlich nicht abgeleitet werden, dass arabische Politiker in ihren Reden im Allgemeinen mehr Gruppenbezüge herstellen als andere Politiker. Ausschlaggebend dafür, ob der Redner eine rhetorische Wir-Gruppe bildet, ist auf jeden Fall der Kontext der Rede, das heißt der Ort, das Publikum, der Anlass und die Zielstellung.
19 K. Stock, Sprache als ein Instrument der Macht. Strategien der arabischen politischen Rhetorik im 20. Jahrhundert (Fn. 8), S. 39, S. 120, S. 163.
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3. Rhetorische Gruppen in arabischen Politikerreden Eine häufig erschaffene rhetorische Gruppe ist die Wir-Gruppe. Oftmals wird nicht explizit darauf hingewiesen, wer mit ›Wir‹ gemeint ist. Die einfachste Erklärung ist, dass der Redner von sich selbst (wenn er den auch im Arabischen üblichen Pluralis Majestatis verwendet) und mehr noch von sich und seiner Insider-Gruppe spricht, zu der sich gegebenenfalls auch der Zuhörer rechnen kann. Ausfüllen kann der Zuhörer das ›Wir‹ mit allen Assoziationen, die durch seine eigenen Erfahrungen, sein Wissen schlechthin bestimmt werden. Aus der kommunikativen Situation, in der die Rede gehalten wird, geht mitunter hervor, wer zu der nicht näher bezeichneten Gruppe gehört. Wenn eine solche Wir-Gruppe gebildet wird, kann sich innerhalb einer Rede die Zusammensetzung ändern. Am 1.12.2013 begann Vera Baboun ihre Weihnachtsansprache als Bürgermeisterin von Bethlehem mit den Worten: »Vor einer kleinen Grotte in Bethlehem auf dem Platz der Geburtskirche stehen wir und verkünden die himmlische Botschaft: Ehre sei Gott in der Höh’ und auf Erden Frieden, den Menschen ein Wohlgefallen.«20 Hier besteht die Wir-Gruppe aus allen Menschen auf dem Platz, also aus der Bürgermeisterin und anderen hochrangigen Ehrengästen, Einwohnern von Bethlehem, Besuchern, ausländischen Touristen, die zunächst willkommen geheißen werden. Am Ende der Rede wird die Gruppe dann tatsächlich konkret benannt: »An unseren Feierlichkeiten nehmen alle teil, Menschen aus ganz Bethlehem, Menschen aus dem ganzen Land, aus der ganzen Region, aus der ganzen Welt.«21 In den dazwischenliegenden Redeteilen kommt die Wir-Form in wechselnden Bedeutungen vor. Die eingangs gemeinte Gruppe kann sich weiter mit der Wir-Gruppe identifizieren, obwohl sich im Verlauf der Rede neue Gruppen formieren. Mit dem folgenden Satz ist die gesamte Christenheit angesprochen: »Jedes Jahr feiern wir aufs Neue Weihnachten und verkünden die Weihnachtsbotschaft.«22 Dann wird die Wir-Gruppe immer weniger eindeutig, wie im folgenden Beispiel: »Wenn man seinen Nächsten liebt, dann gibt es keinen Streit. Dann müssen wir auch nicht jeden Tag die Botschaft von Bethlehem aufsagen. Denn sie ist die Botschaft des Friedens.«23 Mit ›wir‹ könnten die Palästinenser allgemein gemeint sein, denn sie sind in den Augen von Vera Baboun und im Weltbewusstsein diejenigen, die seit 1948 immer wieder Kriegssituationen ausgesetzt sind und deren Politiker 20 21 22 23
ِ ﻧ، وﻣﻦ ﺳﺎﺣ ِﺔ اﳌﻴﻼد،ﺑﻴﺖ ﻟﺤﻢ .ُﺨﺎﻃ ُﺐ ﻣﻌﻨﻰ ورو ِح اﳌﺠﺪﻟﻴ ِﺔ اﻟﺴاموﻳﺔ َ ﻣﻦ أﻣﺎمِ اﳌﻐﺎر ِة اﻟﺼﻐري ِة ﰲ . ﻋﺎﳌﻴﺔ، إﻗﻠﻴﻤﻴﺔ، وﻃﻨﻴﺔ، ﺳﻮاء ﻛﺎﻧﺖ ﻣﺤﻠﻴﺔ،ﻓﻬﻨﺎك اﺣﺘﻔﺎﻻت ﺗﺸﺎرك ﻓﻴﻬﺎ ﺟﻤﻴﻊ اﻟ ِﻔﺮق .ﻛﻞ ﻋﺎم ﻧُﻌﻴﺪ اﺣﺘﻔﺎﻟﻴﺔ اﳌﻴﻼد ّ ﰲ أﻻ وﻫﻲ،رﺳﺎﻟﺔ ﻣﺪﻳﻨﺔ ﺑﻴﺖ ﻟﺤﻢ،ﻛﻞ ﻳﻮم ّ أو،ً وﻟﻦ ﻧﻜﻮن ﺑﺤﺎﺟﺔ ﻷن ﻧﺮدد ﻳﻮﻣﺎ،أﺣﺐ اﻹﻧﺴﺎن أﺧﻴﻪ اﻹﻧﺴﺎن ﻟﻦ ﻳﻜﻮن ﻫﻨﺎك ﻧﺰاع ّ ﻓﺈ ْن .رﺳﺎﻟﺔ اﻟﺴﻼم
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deshalb ›einen gerechten und umfassenden Frieden‹ (salām ʿādil wa-šāmil) fordern. Doch nicht nur die Palästinenser, sondern jeder der vorher Angesprochenen kann sich weiter mit dem Aufruf zu einem friedlichen Miteinander identifizieren. Unmissverständlich ist der Bezug auf die Palästinenser in der Aussage: »Obwohl wir nicht in Frieden leben können, fordern wir dennoch immerfort Frieden, halten das Banner des Friedens hoch.«24 Darum gruppieren sich andere vagere Wir-Formen, wo die Bezüge auf engem Raum ständig wechseln, so dass der Zuhörer alles als ein gemeinsames ›Wir‹ einschließlich seiner eigenen Person wahrnehmen kann: »Wenn wir in unseren Reden jedes Jahr nach Freiheit und Frieden rufen, so lasst uns dieses Jahr in dem Augenblick, in dem wir die Lichter am Baume entzünden, um Hoffnung bitten. Wir beten dafür, dass die Hoffnung auch die Herzen erhellt, die nicht an das hehre Gesetz der Menschlichkeit glauben. Denn: was wir für uns wünschen, sollten wir auch den Anderen wünschen und was wir nicht für uns wünschen, sollten wir auch nicht den Anderen wünschen.«25 Wer ›die Anderen‹ sind, wird nicht erklärt, aber offenbar sind es welche, die in den Augen der Rednerin unmenschlich handeln. Im Kontext des Nahostkonfliktes könnten die israelische Regierung oder radikale Palästinenser gemeint sein. Doch diese werden nicht offen verprellt, sondern lediglich als ›die Anderen‹ in die Friedenshoffnungen miteinbezogen. Die Outsider-Gruppe wird also genauso wenig benannt wie in großen Teilen der Rede die Insider-Gruppe. Das soll eine offene Konfrontation verhindern und eine friedliche Grundstimmung schaffen. Zudem bekommt die Botschaft durch die dynamische und zum Teil verschwommene Zusammensetzung der Wir-Gruppe eine geradezu universelle Dimension, obwohl sich die Person der Rednerin und die von ihr offiziell vertretene Gruppe (Einwohner von Bethlehem) im Grunde lediglich auf den Frieden in der Region beziehen können. Oftmals lassen sich rhetorische Gruppen trotz dynamischer Zusammensetzung oder fehlender Benennung eindeutig bestimmen, und zwar besonders, wenn der Redner dafür bekannt ist, immer wieder dieselben Konfliktparteien gegenüberzustellen. Der Hizbullāh-Führer Ḥasan Naṣrallāh schafft über Jahre hinweg folgende rhetorische Hauptgruppen: Schiiten, Muslime, Araber und Libanesen auf der einen Seite (Insider-Gruppe) sowie Israelis und Amerikaner auf der anderen Seite (Outsider-Gruppe), wobei er für diese Gruppen zusätzlich verschiedene indirekte Bezeichnungen benutzt, die jedoch so konventionalisiert sind, dass erfahrene Zuhörer sie sofort identifizieren können.
24 . ﺳﻨﺒﻘﻰ دوﻣﺎً دﻋﺎة اﻟﺴﻼم،ًﻓﻨﺤﻦ ﺑﺎﻟﺮﻏﻢ ﻣﻦ أﻧﻨﺎ ﻻ ﻧﻌﻴﺶ ﺳﻼﻣﺎ 25 ِ ﻋﲆ أﻣﻞ، دَﻋﻮﻧﺎ ﻫﺬا اﻟﻌﺎم ﻧَﺮﻓَ ُﻊ ِﺧﻄﺎﺑَﻨﺎ ﺻﻼ ًة ﰲ ﻟﺤﻈ ِﺔ إﻧﺎر ِة اﻟﺸﺠﺮ ِة،ﺣﺎﻻ وﻳﴫ ُخ ﻟﻠﺤ ّﺮﻳ ِﺔ واﻟﺴﻼم ً ﻳﺼﻒ وإ ْن ﻛﺎ َن ﺧﻄﺎﺑُﻨﺎ ﰲ ﱢ ُ ٍﻛﻞ ﻋﺎم . وﻣﺎ ﻻ ﻧﺮﺿﺎ ُه ﻟﺬاﺗِﻨﺎ ﻻ ﻧﺮﺿﺎه ﻟﻐريِﻧﺎ، ﻣﺎ ﻧﺮﺿﺎ ُه ﻟﺬاﺗِﻨﺎ ﻧﺮﺿﺎ ُه ﻟﻐريِﻧﺎ: أﻻ وﻫﻮ،ﻗﻠﻮب ﻛ ﱢُﻞ َﻣﻦ ﻻ ﻳُﺆ ِﻣﻦ ﺑﺎﻟﻘﺎﻧﻮن اﻟﺬﻫﺒﻲ ﻟﻺﻧﺴﺎﻧﻴ ِﺔ َ أ ْن ﺗُﻨ َري
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Nach dreieinhalb Jahren Videoauftritten hielt Ḥasan Naṣrallāh am 6.12.2011 anlässlich des Aschura-Tags26 erstmals wieder eine Rede in aller Öffentlichkeit. Er zeigte sich live im Rāya-Stadion im Süden von Beirut vor zehntausenden zumeist libanesischen Zuhörern, die großenteils lauten Beifall spendeten. Die Mehrheit der Anwesenden bestand höchstwahrscheinlich aus seinen schiitischen Anhängern. Gleichzeitig richtete sich Naṣrallāh an ein zahlenmäßig nicht begrenztes, vielfältiges Medienpublikum. Direkt angesprochen waren zunächst die Zuhörer im Stadion, denn Ḥasan Naṣrallāh bedankte sich explizit bei ihnen für ihr Erscheinen: »Zunächst danke ich euch allen, dass ihr so zahlreich erschienen seid. Dass ihr so treu seid, so pflichtbewusst, so beharrlich und bereit zur Huldigung. Ihr seid gestern lange aufgeblieben und heute zeitig aufgestanden, um die ganze Zeit hier in der Sonne zu warten.«27 Nachdem er die Anwesenden an dieser Stelle noch in eine Ihr-Gruppe eingeordnet hat, nimmt er sie im weiteren Verlauf in die Wir-Gruppe auf, die zudem offen ist für die Zuhörer, die nicht im Stadion sind: »Liebe Brüder und Schwestern, wir dürfen die reale Bedrohung nicht vergessen, der unsere Umma, alle unsere Länder und Völker, alle unsere Regierungen ausgesetzt sind.«28 Da er zunächst die ›Brüder und Schwestern‹ anspricht und die Aufzählung der Bedrohten mit ›unserer Umma‹ beginnt, einem oft gebrauchten Begriff für die islamische, seltener für die arabische Völkergemeinschaft,29 umfasst die Wir-Gruppe an dieser Stelle vor allem Muslime, was auch zum islamischen Anlass der Rede passt. An anderen Stellen der Ansprache bezieht er auch die Araber allgemein mit ein, so beispielsweise wenn er vor der Outsider-Gruppe der Amerikaner mit ihren »teuflischen Machenschaften und ihrer Absicht, überall in der Region Unfrieden zu stiften«30 warnt. Außer Araber und Muslime integriert Naṣrallāh gelegentlich auch andere Gemeinschaften in seine Insider-Gruppe. Angesichts der Religionsvielfalt im Libanon und den damit verbundenen Spannungen hatte er in seiner auf den Zweiten Libanonkrieg, den sogenannten Julikrieg, folgenden Rede am 22.9.2006 besonderen Wert darauf gelegt, bei der rhetorischen Schaffung einer libanesischen Gruppe alle Glaubensrichtungen einzubeziehen. Er wollte damit die nationale Idee über die 26 Der Aschura-Tag ( )ﻋﺎﺷﻮراءist ein muslimischer Feiertag, an dem die Sunniten einen freiwilligen Fastentag einlegen und die Schiiten des Märtyrertodes des Prophetenenkels al-Ḥusain gedenken. 27 وأﻧﺘﻢ، ﻋﲆ ﻫﺬا اﻟﺼﱪ، ﻋﲆ ﻫﺬا اﻻﻟﺘﺰام، ﻋﲆ ﻫﺬه اﻟﺒﻴﻌﺔ، ﻋﲆ ﻫﺬا اﻟﻮﻓﺎء،أوﻻ أﺗﻮﺟﻪ إﻟﻴﻜﻢ ﺑﺎﻟﺸﻜﺮ ﺟﻤﻴﻌﺎً ﻋﲆ ﻫﺬا اﻟﺤﻀﻮر اﻟﻜﺒري ً . واﺳﺘﻴﻘﻈﺘﻢ ﺑﺎﻛﺮا ً وأﻣﻀﻴﺘﻢ ﻛﻞ ﻫﺬا اﻟﻮﻗﺖ ﺗﺤﺖ اﻟﺸﻤﺲ،اﻟﺬﻳﻦ ﺳﻬﺮﺗﻢ ﻃﻮﻳﻼً ﺑﺎﻷﻣﺲ 28 . ﻟﻜﻞ ﺣﻜﻮﻣﺎﺗﻬﺎ، ﻟﻜﻞ أوﻃﺎﻧﻬﺎ وﻛﻞ ﺷﻌﻮﺑﻬﺎ، ﻳﺠﺐ أن ﻧﻠﻔﺖ وﻧﻨﺒﻪ وﻧﺬﻛﺮ إﱃ أن اﻟﺘﻬﺪﻳﺪ اﻟﺤﻘﻴﻘﻲ ﻟﻬﺬه اﻷﻣﺔ، أﻳﻬﺎ اﻹﺧﻮة واﻷﺧﻮات 29 Wenn sich umma auf die arabische Völker- bzw. Staatengemeinschaft bezieht, erhält der Begriff fast immer den Zusatz ›arabisch‹ (al-umma al-ʿarabīya). 30 ﺷﻴﻄﻨﺔ أﻣريﻛﺎ وﻣﴩوع اﻟﻔﺘﻨﺔ اﻟﺬي ﺗﻌﻤﻞ ﻋﻠﻴﻪ ﰲ ﻛﻞ اﳌﻨﻄﻘﺔ
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Religionszugehörigkeit stellen, weil es darum ging, einem äußeren Feind – in diesem Falle Israel – die Stirn zu bieten: »Das ist keine schiitische Waffe, es ist eine libanesische Waffe. Diese Waffe gehört dem Muslim und dem Christen, diese Waffe gehört dem Sunniten, dem Drusen, dem Schiiten. Diese Waffe gehört jedem Libanesen, der sich um den Schutz, die Souveränität und die Unabhängigkeit Libanons bemüht.«31 Auch in der ägyptischen politischen Rhetorik werden im nationalen Kontext sowohl Muslime als auch Christen in eine gemeinsame Insider-Gruppe integriert. Um nicht nur Muslime anzusprechen, bevorzugte schon der äußerst populäre Präsident Ǧamāl ʿAbd an-Nāṣir allgemeine religiöse Begriffe und Formeln vor speziellen islamischen und verzichtete weitgehend auf Koranzitate.32 In der Rede des ägyptischen Präsidenten ʿAbd al-Fattāḥ as-Sīsī anlässlich des 33. Jahrestages der Sinai-Befreiung am 24.4.2015 werden der Zusammenhalt und gemeinsame Heldentaten der Ägypter heraufbeschworen und dabei sowohl Muslime als auch Christen gerühmt: »Heute begehen wir einen glorreichen Tag in der Geschichte Ägyptens… den 33. Jahrestag der Befreiung des Sinai… der Erde der segensreichen Propheten. Dieser Jahrestag der Befreiung versinnbildlicht den Kampf des stolzen ägyptischen Volkes und ist Ausdruck seines Glaubens und seiner Entschlossenheit sowie der Einheit des patriotischen Miteinanders von Muslimen und Christen«.33 In einem symbolischen Akt hatte as-Sīsī bereits in der Nacht zum 7. Januar desselben Jahres den Weihnachtsgottesdienst der Kopten in Kairo besucht und demonstrativ kundgegeben, dass niemand fragen solle, was für ein Ägypter man sei, denn: »Wir sind alle Ägypter!«34 Dieser Ausspruch wurde sogar zum geflügelten Wort seiner Politik hochstilisiert und die rhetorische Gruppe der Ägypter über die religionsspezifischen Gruppenbildungen gestellt. Aus der Analyse verschiedenster Reden arabischer Politiker aus dem Zeitraum 1950–2016 geht hervor, dass in der modernen arabischen politischen Rhetorik mehr Insider-Gruppen als Outsider-Gruppen erschaffen werden. Diese umfassen meistens: • Araber (einschließlich Minderheiten, wie Berber oder Kurden) • Muslime (Christen auch in Ägypten, Palästina, Syrien, Jordanien und im Libanon) 31 ﻫﺬا ﺳﻼح. ﻫﺬا ﺳﻼح اﳌﺴﻠﻢ واﳌﺴﻴﺤﻲ. ﻫﺬا ﺳﻼح ﻟﺒﻨﺎين. ﻫﺬا ﻟﻴﺲ ﺳﻼﺣﺎ ﺷﻴﻌﻴﺎ.ﻫﺬا اﻟﺴﻼح ﻟﻴﺲ ﻟﻠﺪاﺧﻞ وﻟﻦ ﻳﺴﺘﺨﺪم ﻟﻠﺪاﺧﻞ . ﻫﺬا ﺳﻼح ﻛﻞ ﻟﺒﻨﺎين ﻳﺘﻄﻠﻊ ﻟﺤامﻳﺔ ﻟﺒﻨﺎن وﻟﺴﻴﺎدة ﻟﺒﻨﺎن واﺳﺘﻘﻼل ﻟﺒﻨﺎن.اﻟﺴﻨﻲ واﻟﺪرزي واﻟﺸﻴﻌﻲ 32 Vgl. K. Stock, Sprache als ein Instrument der Macht. Strategien der arabischen politischen Rhetorik im 20. Jahrhundert (Fn. 8), S. 122. 33 أرض اﻷﻧﺒﻴﺎء اﳌﺒﺎرﻛﺔ اﻟﺘﻲ متﺜﻞ ذﻛﺮى... إﻧﻬﺎ اﻟﺬﻛﺮى اﻟﺜﺎﻟﺜﺔ وﻻﺛﻼﺛني ﻟﺘﺤﺮﻳﺮ ﺳﻴﻨﺎء...ﻧﺤﺘﻔﻞ اﻟﻴﻮم ﻣﻌﺎ ﺑﻴﻮم ﻣﺠﻴﺪ ﻣﻦ أﻳﺎم ﻣﴫ . مبﺴﻠﻤﻴﻪ وﻣﺴﻴﺤﻴﻴﻪ، ووﺣﺪة ﻧﺴﻴﺠﻪ اﻟﻮﻃﻨﻲ، و أﻳﻘﻮﻧﺔ ﻹﻣﻨﺎﻧﻪ وإﴏاره،ﺗﺤﺮﻳﺮﻫﺎ رﻣﺰا ﻟﻨﻀﺎل ﺷﻌﺐ ﻣﴫاﻷيب 34 .ﻛﻠﻨﺎ ﻣﴫﻳني
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• einzelne Nationalitäten (Tunesier, Ägypter, Libanesen, Palästinenser usw.) • einzelne Parteien, Organisationen und ähnliches (PLO, Schura-Rat35 usw.) Die Gruppenbildung erfolgt in der modernen arabischen politischen Rhetorik demnach überwiegend unter ethnischen, religiösen, nationalen oder politischen Aspekten. Soziale und demografische Gruppen werden auch einbezogen, wenn sie für den Redeanlass oder Redeinhalt relevant sind. Politische Redner sprechen in Anreden oftmals Männer wie Frauen gleichermaßen an, in der Regel die Männer zuerst, manchmal aber auch die Frauen an erster Stelle. Eine häufige demografische, aber genauso wie das ›Volk‹ nicht spezifisch arabische Gruppe in den arabischen Politikerreden ist besonders seit 2011 die Jugend (šabāb36) als Mitinitiator der politischen und gesellschaftlichen Umwälzungen. Allerdings erfolgt diese Gruppenbildung nicht in der Wir-Form, sondern durch konkrete Benennung. Die Erwähnung der ›Jugend‹ impliziert noch keine Vereinnahmung, es sei denn der (nicht mehr zur Jugend gehörende) Redner erinnert daran, dass er auch einmal jung war. Das tat der ehemalige ägyptische Präsident Ḥusnī Mubārak angesichts seines bevorstehenden Rücktritts in seiner letzten Rede am 10.2.2011. Darin unternahm er einen zaghaften Versuch, sich mit seinen großenteils jungen Gegnern zu verbünden: »Auch ich war einst ein Jugendlicher wie die heutigen ägyptischen Jugendlichen, als ich die Ehre hatte, dem ägyptischen Militär zu dienen und mich für die Heimat aufzuopfern.«37 Im fünfzehn Monate später begonnenen Wahlkampf zwischen Muḥammad Mursī (Rede vom 20.5.2012, Länge der Rede: 26:33 Minuten) und Aḥmad Šafīq (Rede vom 14.6.2012, 58:41 Minuten) nahm die ›Jugend‹ (šabāb) unter den Schlagwörtern bei beiden Rednern den 5. Platz ein.38 Sie ist also nach wie vor ein ernstzunehmender Ansprechpartner oder Akteur auf der politischen Bühne, übrigens nicht nur in Ägypten, sondern auch in anderen arabischen Ländern. Ihre Bewertung hängt vom Standpunkt des Redners ab. Sie kann beispielsweise eine positive Hoffnung in die Zukunft oder einen innovativen Geist verkörpern, aber auch mit den Irrtümern der Unerfahrenen behaftet sein. 35 Der Schura-Rat entspricht einer beratenden Versammlung (šūrā) und ist ein parlamentarisches Gremium auf islamischer Rechtsgrundlage in Ländern wie beispielsweise Oman und Saudi-Arabien. 36 Zur Jugend gehört man nach arabischem Verständnis bis ins 4. Lebensjahrzehnt. 37 . ﻋﻨﺪﻣﺎ ﺗﻌﻠﻤﺖ ﴍف اﻟﻌﺴﻜﺮﻳﺔ اﳌﴫﻳﺔ واﻟﻮﻻء ﻟﻠﻮﻃﻦ واﻟﺘﻀﺤﻴﺔ ﻣﻦ أﺟﻠﻪ،ﻟﻘﺪ ﻛﻨﺖ ﺷﺎﺑﺎ ﻣﺜﻞ ﺷﺒﺎب ﻣﴫ اﻵن 38 Vgl. V. Köbele, Politische Rhetorik im »Arabischen Frühling«: Emotionalisierende Persuasionsstrategien im ägyptischen Präsidentschaftswahlkampf 2012, Leipzig: Unveröffentlichte Masterarbeit 2013, S. 68–72, S. 95–103.
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Den zumeist ethnisch, national, politisch oder religiös definierten Insider-Gruppen werden auf derselben Ebene definierte Outsider-Gruppen gegenübergestellt. Von ihnen ist jedoch außer in Krisenzeiten weniger die Rede. Über die negativ dargestellten ›Anderen‹ kann sich ihrerseits die Wir-Gruppe positiv manifestieren, manchmal sogar ohne Selbstcharakteristiken. Häufige negativ belegte ›Andere‹ sind in der arabischen politischen Rhetorik Amerikaner, Israelis, Zionisten oder auch Atheisten.
4. Ziele der rhetorischen Gruppenbildung Nöllke sieht in der Gruppenbildung durch Pronomen (›wir‹) eines der wichtigsten rhetorischen Mittel, mit dem der Redner Macht über seine Zuhörer ausüben kann. Es kommt zu einer Verbindung zwischen Sender und Adressat, der bei gelungener Persuasion weder die Vereinnahmungsabsicht registriert noch bemerkt, dass er in Wirklichkeit nicht zu der beschriebenen Gruppe gehört.39 Damit die Gruppe vom Adressaten akzeptiert wird, muss sie positiv charakterisiert sein. So pries der ehemalige irakische Ministerpräsident Nūrī al-Mālikī die von ihm vertretene Gruppe der Iraker als Nachkommen einer Hochkultur.40 Er sagte am 24.3.2013 anlässlich der Ernennung Bagdads zur Kulturhauptstadt der Arabischen Welt: »Die Iraker, die die Schrift entwickelten und den Codex Hammurapi aufstellten, das Rad erfanden und das Licht des Islams in der Welt mit verbreiteten, dürfen nicht akzeptieren, heute als bloße Konsumenten eine Randgestalt in der Welt abzugeben.«41 Derartiges Lob ist geeignet, den Nationalstolz der Iraker zu wecken und damit auch ihre Identität zu stärken. Gleichzeitig kann es Schattenseiten (›Randgestalt in der Welt‹) überstrahlen. Zusätzlich wird mit dieser national ausgerichteten Gruppenidentität in Verbindung mit einer positiven Charakterisierung vor den Anderen Selbstbewusstsein und Entschlossenheit demonstriert. Je nach Anlass wird die eigene Gruppe mit lobenswerten Eigenschaften ausgestattet. Moralbegriffe, wie zum Beispiel Ehrenhaftigkeit, Treue, Tapferkeit und Opferbereitschaft, spielen dabei eine wichtige Rolle. Sie helfen auch, kritische Situationen ehrenhaft zu überstehen, denn manchmal ist die vom 39 Vgl. M. Nöllke, Die Sprache der Macht. Freiburg [u. a.] 2010: Haufe, S. 114, S. 118. 40 Genauso argumentierte schon die irakische Propaganda unter Ṣaddām Ḥusain (vgl. K. Stock, Sprache als ein Instrument der Macht. Strategien der arabischen politischen Rhetorik im 20. Jahrhundert (Fn. 8), S. 37, S. 173. 41 ان اﻟﻌﺮاﻗﻴني اﻟﺬﻳﻦ اﺑﺪﻋﻮا اﻟﺤﺮف ووﺿﻌﻮا ﻣﺴﻠﺔ ﺣﻤﻮرايب ﻟﻠﺘﴩﻳﻊ واﺧﱰﻋﻮا اﻟﻌﺠﻠﺔ واﺳﻬﻤﻮا ﰲ ﻧﴩ ﻧﻮر اﻻﺳﻼم ﻻ ميﻜﻦ ان ﻳﻘﺒﻠﻮا .اﻟﻴﻮم ﺑﺪور ﻫﺎﻣﴚ ﻣﺴﺘﻬﻠﻚ ﻏري ﻣﻨﺘﺞ
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Redner vertretene Gruppe auch Prüfungen ausgesetzt, die rhetorisch in heldenhaftes Märtyrertum verwandelt werden können. Al-Mālikī lobte seine Insider-Gruppe immer unter Verwendung von positiv belegten Schlagwörtern, wie ›Demokratie‹ (dīmūqrāṭīya), ›Freiheit‹ (ḥurrīya), ›Souveränität‹ (sīyada), ›Gleichheit‹ (musāwā) und ›Ehre‹ (šaraf), während in die Charakterisierung des gegnerischen Lagers, vor allem der Terroristen und Baʿṯisten, Schlagwörter einflossen, wie ›Diktatur‹ (diktāṭūrīya), ›Unterdrückung‹ (qamc), ›Tyrannei‹ (istibdād, ẓulm), ›Extremismus‹ (taṭarruf) und ›Marginalisierung‹ (tahmīš).42 Die Schlagwörter, die positive Assoziationen auslösen sollten, entsprachen genau den von ihm postulierten politischen Zielen, die ›moderne‹ Wertvorstellungen43 verkörpern, während die negativen Begriffe an eine schwierige Vergangenheit erinnern beziehungsweise vor gefährlichen Gegenströmungen warnen sollten. Derartige Polarisierungen werden häufig genutzt, um Insider- und Outsider-Gruppen gegenüberzustellen und das Selbstbewusstsein der Mitglieder der eigenen Gruppe zu stärken, was in einem Konfliktfall eine gute moralische Grundlage zur Mobilisierung sein kann. Nach diesem Schema schuf Sultan Qābūs ein einprägsames Schwarz-Weiß-Bild in seiner Rede zum 5. Nationalfeiertag Omans am 18.11.1975. Rhetorisch realisiert durch Antithesen und Halbwahrheiten, leistete demnach die Wir-Gruppe der Omaner ausschließlich Gutes für das Sultanat, während die Sie-Gruppe, die kommunistischen Nachbarn im Südjemen, ihre Bevölkerung nichts als knechtete: »Sie verbreiten Leid unter der Bevölkerung, eröffnen Gefängnisse und Internierungslager. Wir errichten Schulen und bauen Krankenhäuser. Sie bauen Barrieren auf, säen Dornen und gönnen den Menschen nicht die Luft zum Atmen. Wir entfernen Hindernisse, erleichtern die Lasten des Lebens und fördern die öffentlichen Freiheiten.«44 Die Polarisierung hat zur Folge, dass den angesprochenen Omanern gar nichts weiter übrig bleibt, als sich zu der absolut positiv beschriebenen Gruppe zugehörig zu fühlen und damit die Politik ihres Staatsoberhauptes anzuerkennen und zu unterstützen. 42 K. Gatt, A Rhetorical Analysis of Nūrī al-Mālikī’s Political Discourse. A thesis submitted to the Faculty of History, Arts and Oriental Studies in Candidacy for the Degree of Master of Arts in Arabic Studies, Leipzig: Unveröffentlichte Masterarbeit 2015, S. 94. 43 Vgl. K. Stock, »Weisheit, Mitleid, Freigiebigkeit oder Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Ein Wertewandel in der arabischen politischen Rhetorik?«, in: A. Fischer-Tahir, K. Lange (Hg.), Ethnographien des Wandels im Nahen Osten und Nordafrika, Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2016, S. 237– 240. 44 ﻳﻀﻌﻮن اﻟﻌﺮاﻗﻴﻞ.. وﻧﺒﻨﻲ اﳌﺴﺘﺸﻔﻴﺎت.. وﻧﺤﻦ ﻧﺸﻴﺪ اﳌﺪارس.. ﻳﻔﺘﺤﻮن اﻟﺴﺠﻮن واﳌﻌﺘﻘﻼت..إﻧﻬﻢ ﻳﻨﴩون اﻟﺒﺆس ﺑني ﻣﻮاﻃﻨﻴﻬﻢ وﻧﺸﺠﻊ اﻟﺤﺮﻳﺎت اﻟﻌﺎﻣﺔ.. وﻧﺴﻬﻞ ﻣﺼﺎﻋﺐ اﻟﺤﻴﺎة.. وﻧﺤﻦ ﻧﺰﻳﻞ اﻟﻌﻘﺒﺎت.. وﻳﺤﺼﻮن اﻟﻨﺎس أﻧﻔﺎﺳﻬﻢ..وﻳﺰرﻋﻮن اﻟﺸﻮك
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Die Eingebundenheit in eine Gruppe verpflichtet also auch zu Loyalität. An diese appellierte der jordanische König ʿAbdallāh II., als er am 10.12.2012 anlässlich des 50. Gründungstages der Jordanischen Universität in Amman vor den Studierenden eine Rede hielt und neun Punkte aufzählte, die einen Jordanier auszeichnen sollten. Sieben Sätze begannen mit der Anapher: »Jordanier zu sein, heißt«.45 Die jordanischen Zuhörer wurden mit einem Pflichtenkatalog quasi indoktriniert. Dazu gehörte unter anderem, »die Interessen Jordaniens über alle anderen Interessen«46 zu stellen, zumal »der Jordanier seinen wahren Reichtum in seiner Opferbereitschaft und seinen Leistungen findet und nicht in Geld und Ruhm.«47 Am Ende sollten die Angesprochenen einsehen, dass sie sich einen freiwilligen Ausschluss aus der Gemeinschaft nicht erlauben dürfen. Begünstigt würden dadurch nur die Anderen, in dem Fall die ›Extremisten‹, die der König aber nicht weiter charakterisiert oder benennt: »Dass wir Jordanier sind, heißt, dass wir an einem Strang ziehen, um noch Größeres zu erreichen, um unsere Pflichten gegenüber unserem Heimatland zu erfüllen und Extremismus in jeglicher Form zu bekämpfen. Denn staatsbürgerliche, loyale Gefühle geben wir der Heimat und nehmen sie ihr nicht.«48 Offenbar ging es ʿAbdallāh II. im Dezember 2012 nach den vorangegangenen Protesten wegen der Kürzung der Subventionen auf Benzin, Diesel und Gas und angesichts der instabilen Lage in den Ländern des sogenannten Arabischen Frühlings vor allem darum, sein Volk zusammenzuhalten und seine Macht zu konsolidieren, indem er die Angesprochenen an ihre nationalen Pflichten erinnerte und sie zu Patriotismus, Loyalität, gegenseitiger Solidarität und Opferbereitschaft aufrief. Das dazu erforderliche Wir-Bewusstsein versuchte er durch die rhetorische Gruppe der Jordanier zu wecken. In eine Wir-Gruppe ordnete er die Studierenden allerdings nicht kontinuierlich ein. Zumeist beziehen sich die Wir-Formen in der Rede auf ʿAbdallāh II. selbst und auf seine Regierung. Dadurch ließ er seinen Zuhörern das Gefühl, nicht vereinnahmt zu werden. Ṣaddām Ḥusain forderte angesichts der häufigen Kriegszustände ebenfalls Selbstaufopferung (taḍḥiya) und behauptete im Januar 1981 während des Kriegs mit Iran, dass »Millionen von Irakern bereit sind, für ihr Land zu sterben.«49 Die Gruppe der Opferwilligen umfasste nach dieser Angabe Millionen Menschen bei einer Gesamteinwohnerzahl von vierzehn Millionen (1981), so dass man daraus hätte schlussfolgern können, 45 46 47 48
اﻷردين ﻫﻮ اﻟﺬي .واﻷردين ﻫﻮ اﻟﺬي ﻳﻘﺪم ﻣﺼﻠﺤﺔ اﻷردن ﻋﲆ ﻛﻞ اﳌﺼﺎﻟﺢ واﻻﻋﺘﺒﺎرات اﻷردين ﻫﻮ اﻟﺬي ﻳﻘﻴﺲ ﺛﺮوﺗﻪ اﻟﺤﻘﻴﻘﻴﺔ مبﻘﺪار ﻣﺎ ﻳﻘﺪم ﻣﻦ ﻋﻄﺎء وﺗﻀﺤﻴﺔ وإﻧﺠﺎز وﻟﻴﺲ مبﻘﺪار ﻣﺎ ميﻠﻚ ﻣﻦ ﻣﺎل أو ﺟﺎه . وأن ﻧﺤﺎرب اﻟﺘﻄﺮف ﺑﺠﻤﻴﻊ أﺷﻜﺎﻟﻪ، وأن ﻧﺆدي واﺟﺒﺎﺗﻨﺎ ﺗﺠﺎه وﻃﻨﻨﺎ،أن ﻧﻜﻮن أردﻧﻴني ﻣﻌﻨﺎﻫﺎ أن ﻧﻌﻤﻞ ﻣﻌﺎ ﻳﺪا ﺑﻴﺪ ﻟﺘﻌﻈﻴﻢ اﻹﻧﺠﺎزات . وﻟﻴﺲ ﻣﺎ ﻧﺄﺧﺬه ﻣﻨﻪ،ﻓﺎﳌﻮاﻃﻨﺔ واﻻﻧﺘامء ﻫﻲ ﻣﺎ ﻧﻘﺪﻣﻪ ﻟﻬﺬا اﻟﻮﻃﻦ 49 Vgl. K. Stock, Sprache als ein Instrument der Macht. Strategien der arabischen politischen Rhetorik im 20. Jahrhundert (Fn. 8), S. 175.
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die Mehrheit der Männer sei moralisch zum Kampf gerüstet. Wer sich ausschließt, gehört demnach zu einer Minderheit. Sobald sich jemand, der die Worte verinnerlicht hat, nach anfänglichem Zögern der fiktiven Gruppe der Opferbereiten anschließt, hat die Rede gewirkt und Macht ausgeübt. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass Gruppen in der modernen arabischen Rhetorik hauptsächlich gebildet werden, um die Adressaten zu vereinnahmen. Wenn es dem Redner gelingt, möglichst viele Zuhörer seiner eigenen fiktiven Gruppe einzuverleiben, hat er die Möglichkeit, die von ihm vertretene Politik populärer zu machen, sich Wählerstimmen zu sichern oder den Einflussbereich seiner Partei beziehungsweise Gruppierung zu erweitern. Die eigenen Machtpositionen lassen sich dadurch ebenfalls festigen, ja sogar ausbauen. In Krisen- und Kriegssituationen stärkt eine Wir-Gruppe gegebenenfalls die Kampfmoral und hilft Schwächen oder Enttäuschungen zu kaschieren. Je selbstbewusster sich solch eine Gruppe präsentiert, desto schwieriger ist es für die Außenstehenden, Einfluss auf jene Gruppe auszuüben oder zumindest ein akzeptiertes Gegengewicht zu bilden. Gegner lassen sich also gut ausgrenzen, wenn die eigene Gruppe Überlegenheit demonstrieren kann. Auf der Grundlage einer vermeintlichen gemeinsamen Identität kann sie durch Gemeinsinn zusammengehalten werden und sich zu Loyalität und Solidarität, ja sogar zu Opferbereitschaft verpflichtet fühlen. Die Gruppe übt damit also Macht auf ihre Mitglieder aus und kann sogar über andere Gruppen oder Einzelne Macht gewinnen, wenn sie sich entsprechend stark – und sei es nur verbal – präsentiert.
5. Sprachliche Mittel zur rhetorischen Gruppenbildung 5.1 Wir-Form Um Gemeinsinn heraufzubeschwören, kann der Redner einfach nur Verben in der Wir-Form verwenden oder Substantive mit dem Possessivpronomen in der 1. Person Plural versehen (›unser‹). Am 25.4.2013 hielt der damalige irakische Ministerpräsident Nūrī al-Mālikī angesichts der Unruhen nach zehn Jahren US-amerikanischer Besatzung eine Fernsehansprache, in der er besonders oft die 1. Person Plural verwendete: wir (37%), sie (29%), ihr (19%) und ich (15%). Die Wir-Form erzeugte hier eine Insider-Gruppe, zu der auch der Redner gehörte, der sich persönlich allerdings wesentlich weniger präsentierte, weil er sich offenbar 87
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nicht anmaßte, als Einzelperson zu agieren. Vielmehr wollte er als Vertreter einer vermeintlich starken Gruppe Anhänger für das eigene Lager gewinnen. Auch bei al-Mālikīs Eröffnungsrede auf der 23. Gipfelkonferenz der Arabischen Liga in Bagdad am 28.3.2012 dominierten Sätze in der WirForm, denn es ging darum, gemeinsame Belange anzusprechen, wie die Protestwelle in den arabischen Ländern seit 2011, die Angst vor Terrorismus und die Verbesserung der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen. Entsprechend der kommunikativen Situation bezogen sich die Wir-Formen entweder auf al-Mālikī und seine Anhänger, auf seine Regierung, auf die Iraker oder auf alle Gipfelteilnehmer. Diesen Gruppen wies er damit möglicherweise auch Meinungen zu, die nicht von allen geteilt wurden, wie in der Behauptung: »Wir sind von der Hoffnung erfüllt, dass die Präsenz der arabischen Staatschefs in Bagdad der Beginn einer neuen Etappe in den Beziehungen des Iraks zu seinen Brüdern ist, einer neuen Etappe in den arabisch-arabischen Beziehungen.«50 Als er in derselben Ansprache seine Forderungen konkretisierte, wechselte er vom verschwommenen ›Wir‹ zur Bezeichnung ›Irak‹: »Der Irak fordert seine Brüder erneut auf, sich am Aufbau zu beteiligen und diplomatische Vertretungen in Bagdad zu eröffnen.«51 Während hier alMālikīs Gruppe eine Präzisierung erfährt, bleibt eine andere Gruppe offen, nämlich die der ›Brüder‹ (ašiqqā‘). Im Zusammenhang mit der Werbung um Verbündete hält diese Gruppe die Tore geöffnet für neue Mitglieder. Außerdem muss sich der Redner nicht festlegen, wer Freund und wer Feind ist. Um den Zuhörern die eigene Meinung einzureden, suggeriert der Redner, dass die Wir-Gruppe genau das weiß, was er behauptet. Fühlt sich der Adressat zugehörig, ist es auch sein Wissen. Was man dann angeblich weiß, erhebt den Anspruch auf Wahrheit. Denn wer weiß schon gern etwas, was nicht stimmt? Hier wird also die Übermacht der Gruppe genutzt, um bei einem Einzelnen eventuelle Zweifel auszuräumen. Sogar wenn man es selbst nicht genau oder gar anders weiß, dann wissen die Wahrheit doch die vielen anderen, zu denen man gehört und gegenüber denen man deshalb Vertrauen empfindet. Häufig wird in diesem Zusammenhang die Formulierung »Wir wissen, dass…« (naʿrifu anna…) benutzt.
ٍ ٍ ﻳﺸﻜﻞ ﺣﻀﻮ ُر اﻟﻘﺎد ِة اﻟﻌﺮب ﰲ ﺑﻐﺪا َد ﺑﺪاﻳ َﺔ 50 - واﻟﻌﻼﻗﺎت اﻟﻌﺮﺑﻴﺔ، ﺟﺪﻳﺪ ﰲ اﻟﻌﻼﻗﺎت ﺑني اﻟﻌﺮاق وأﺷﻘﺎﺋﻪ ﻋﻬﺪ َ اﻷﻣﻞ ﻳﺤﺪوﻧﺎ ﺑﺄن َ ن اﻟﻌﺮﺑﻴﺔ 51 وﻳﺠﺪ ُد اﻟﻌﺮ ُاق دﻋﻮﺗ َﻪ ﻷﺷﻘﺎﺋﻪ ﻟﻠﻤﺸﺎرﻛ ِﺔ ﰲ ﻋﻤﻠﻴ ِﺔ اﻟﺒﻨﺎء واﻹﻋامر وإﱃ ﺣﻀﻮ ٍر دﺑﻠﻮﻣﺎﳼ
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5.2. Anreden Durch Anreden lassen sich die Zuhörer direkt ansprechen und in eine Gruppe eingliedern, wie in die Gruppe der ›Mitbürger‹ (muwāṭinūn), Kollegen (zumalā‘), Freunde (aṣdiqā‘) oder ›Genossen‹ (rifāq). Auch die Anrede ›unser Volk‹ (šaʿbanā) ist üblich. Oftmals wird den Angesprochenen gleichzeitig geschmeichelt, indem sie mit lobenswerten Attributen ausgestattet werden, wie ›edelmütig‹ (karīm), ›lieb‹ (ʿazīz), ›treu‹ (wafīy), ›stolz‹ (abīy), ›mutig‹ (šuǧāʿ), ›tapfer‹ (bāsil) oder ›für den Islam engagiert‹ (muǧāhid). Besonders häufig findet sich bei den verschiedensten Rednern, gleichgültig welche politische Richtung sie vertreten, die Anrede ›Brüder‹ (iḫwa) und ›Schwestern‹ (aḫawāt), eine Möglichkeit, den Adressaten einzubeziehen und sich mit ihm, zumindest rhetorisch, mit Anspielung auf (fiktive) gemeinsame Wurzeln und Interessen zu verbünden. Bei Rednern, die ihre Rhetorik sakralisieren, wie dem libanesischen Ḥizbullāhführer, Ḥasan Naṣrallāh, oder Sultan Qābūs von Oman, sind ›Brüder‹ (iḫwa) und ›Schwestern‹ (aḫawāt) in der muslimischen Bedeutung zu verstehen. Die ethnische oder nationale Komponente wird hingegen durch den Zusatz ʿarab (›arabisch‹) oder adjektivische (auch nichtarabische) Länderbezeichnungen betont. Ungewöhnlich ist diese Anrede nicht. Sie entspricht in nichtreligiösen Kontexten deutschen Begriffen wie ›Freunde‹, ›Kollegen‹, ›Mitbürger‹, ›Verbündete‹. Auf jeden Fall bezieht sie sich auf eine Gruppe, in die der Adressat rhetorisch eingebunden wird und die er nach eigenen Erfahrungen spezifizieren kann. Der positive Charakter ist durch den Redner vorgegeben, denn es wäre wenig plausibel, wenn er sich selbst und seine Zuhörer in eine negativ zu bewertende Gruppe einordnen würde. So versuchte der syrische Präsident Baššār al-Asad in einem Interview mit Iranian Khabar TV am 4.10.2015, Iran für eine russisch-syrisch-irakisch-iranische Antiterrorkoalition nicht nur dadurch zu gewinnen, dass er daran erinnerte, wie Syrien sich nicht von den USA und Frankreich hatte benutzen lassen, um den Iran zu überreden, sein nukleares Material in westlichen Ländern anreichern zu lassen, sondern auch indem er wiederholt die Bezeichnung ›iranische Brüder‹ (al-iḫwa al-īrānīyūn) verwendete und damit zum Iran eine frei interpretierbare enge Beziehung aufbaute. Nicht alle Redner machen ihre Zuhörer zu ›Brüdern‹ und ›Schwestern‹. Der tunesische Ministerpräsident al-Ḥabīb aṣ-Ṣaid (Habib Essid) bevorzugt die importierte sachliche Anrede ›Meine Damen und Herren‹ (as-sayyidāt wa-s-sāda). Geht es aber darum, Verbündete zu gewinnen oder freundschaftliche Kontakte aufrechtzuerhalten, dann werden rhetorische Gemeinschaften mit anderen Ländern hergestellt, indem man die gängige Formulierung ›Bruderland‹ (balad šaqīq) oder ›brüderlich‹ 89
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(šaqīq) plus Länderbezeichnung verwendet, so wie es der tunesische Ministerpräsident in der an seinen jordanischen Amtskollegen gerichteten Rede am 7.12.2015 in Amman tat, als er während eines Arbeitsbesuches die »Bande der Brüderlichkeit zwischen Tunesien und dem Bruderland Jordanien«52 lobte. Neben der Verbrüderung existiert auch die rhetorische Konstruktion von Vater-Sohn-Beziehungen. Sowohl Ṣaddām Ḥusain als auch Nūrī alMālikī schmeichelten ihren Zuhörern mit Anreden, wie yā abnā’ aš-šaʿb al-ʿirāqī al-ʿazīz (›Ihr Söhne des guten irakischen Volkes‹). Die darin erscheinenden abnā‘ (›Söhne‹) zeigen eine noch stärkere Orientierung auf Familienbande und gleiche Abstammung als die Anrede iḫwa (›Brüder‹) bzw. aḫawāt (›Schwestern‹). Als ›Söhne‹ (abnā‘, banū) eines gemeinsamen Vorfahren verstanden sich die Mitglieder eines Stammes seit altarabischer Zeit und benannten deshalb auch ihren Stamm entsprechend, wie beispielsweise Banū Maḫzūm (›Söhne von Maḫzūm‹). Wenn sich der Redner an seine ›Söhne‹ wendet, kann er dadurch eine Vaterrolle übernehmen und ein sehr persönliches Verhältnis zu den Angesprochenen aufbauen. Dabei soll die traditionelle Autorität des Vaters eine beschwörende Wirkung ausüben, weil damit gleichzeitig an die Pflichten und das Gewissen der ›Söhne‹ appelliert wird. Kurz vor seinem erzwungenen Rücktritt versuchte der ehemalige ägyptische Präsident Ḥusnī Mubārak in seiner letzten Rede am 10.2.2011, die Ägypter als eine Familie mit ihm als Oberhaupt darzustellen: »Ich wende mich an Euch alle mit einer Ansprache, die von Herzen kommt. Einer Ansprache, ähnlich dem Gespräch eines Vaters mit seinen Söhnen und Töchtern.«53 Eine derartige Vaterrolle hatte schon der überaus populäre ägyptische Präsident Ǧamāl ʿAbd an-Nāṣir eingenommen, und zwar nicht nur rhetorisch, sondern im Gegensatz zu Mubārak auch charismatisch.54
5.3 Direkte und indirekte Benennung Soll eine Rede sachlich wirken und stehen konkrete Fakten im Vordergrund, werden die beteiligten Gruppen meist explizit erwähnt. Auch wenn der Redner eine bestimmte Gruppe repräsentiert und sie eindeutig bezeichnen will, nennt er sie beim Namen, wie beispielsweise ›die Muslime‹, ›die Iraker‹, die ›Söhne Omans‹. Deshalb bevorzugt Sultan Qābūs in seinen Ansprachen vor dem omanischen Schura-Rat die Anrede ›Edle Ratsmitglieder!‹ (aʿḍā‘ al-maǧlis al-kirām). 52 رواﺑﻂ اﻷﺧﻮة واﻟﺘﻌﺎون ﺑني ﺗﻮﻧﺲ واﻷردن اﻟﺸﻘﻴﻘﺔ 53 . ﺣﺪﻳﺚ اﻷب ﻷﺑﻨﺎﺋﻪ وﺑﻨﺎﺗﻪ،أﺗﻮﺟﻪ إﻟﻴﻜﻢ ﺟﻤﻴﻌﺎ ﺑﺤﺪﻳﺚ ﻣﻦ اﻟﻘﻠﺐ 54 Vgl. K. Stock, Sprache als ein Instrument der Macht. Strategien der arabischen politischen Rhetorik im 20. Jahrhundert (Fn. 8), S. 106–108.
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Gruppen werden aber auch mit Periphrasen bezeichnet. Das hat den Vorteil, dass man affektive Merkmale assoziieren kann. So umschrieb Yāsir ʿArafāt am 18.8.2004 in seiner letzten pathetischen Rede vor dem Parlament der Palästinensischen Autonomiebehörde (Legislativrat) die von ihm nicht explizit erwähnten politischen Inhaftierten im Irak und in Israel als »Ritter unseres mutigen Volkes, auf die wir stolz sind, auf deren Beharrlichkeit und Standhaftigkeit wir stolz sind, weil sie in diesen deprimierenden, ja deprimierenden Gefängnissen – Abū Ġuraib ist das beste Beispiel – ihren Kampf und ihre Schlacht ausfechten.«55 Neben den ›Rittern‹, also den Inhaftierten, erscheint gleichzeitig noch das ›mutige Volk‹, um das es vordergründig ja gar nicht geht, das aber bei der Gelegenheit als starke Gruppe mit ins Spiel kommt. Außerdem ist auch noch die Wir-Gruppe (möglicherweise ʿArafāt und seine Anhänger oder alle Palästinenser oder alle Zuhörer) einbezogen, wenn ›wir stolz sind‹ auf die Gruppe in den Gefängnissen. Die Periphrase für die Gruppe der Inhaftierten bezieht also gleichzeitig noch zwei weitere Insider-Gruppen ein. Im weiteren Verlauf lobte ʿArafāt die Hauptgruppe wiederum in Form einer Periphrase als »jene geliebten Menschen in ihren Gefangenenlagern und Gefängnissen«.56 Wen er genau meinte, bleibt allerdings offen. Leerformeln eignen sich besonders, um eine unbestimmte Insider-Gruppe zu erschaffen, zu der sich jeder zugehörig fühlen kann, weil ihr positiv bewertete Moralvorstellungen zugeschrieben werden. In ʿArafāts Rede erscheinen beispielsweise »alle freien und edlen Menschen in der Welt«,57 die auf der Seite der Gefangenen sind. Solche indirekt benannten Gruppen sind nicht genau definiert und deshalb offene Gruppen, denen sich die Zuhörer anschließen können. Outsider-Gruppen, die politische Gegner verkörpern, werden nicht selten mit Periphrasen oder Schimpfwörtern belegt. Al-Mālikī warnte am 4.9.2014 die irakischen Streitkräfte vor ›Mördern‹ (qatala), ›Terroristen‹ (irhābīyūn) und ›Verbrechern‹ (muǧrimūn). Wen er damit meinte, ist klar, weil er diese Outsider-Gruppen am Beginn seiner Rede schon einmal direkt benannt hatte: »Die Qaida und ihre Komplizen vom IS und die unselige Baʿṯ haben noch immer nicht genug mit ihren täglichen Verbrechen gegen den Irak und das irakische Volk.«58 Er beschuldigte sie, die Wasserversorgung am Fallūǧa-Staudamm gekappt zu haben, »um jegliches Leben zu zerstören. Das Leben der Menschen, der Tiere, der Pflanzen.«59 55 ﻓﺮﺳﺎن ﺷﻌﺒﻨﺎ اﻟﺸﺠﻌﺎن اﻟﺬﻳﻦ ﻧﻌﺘﺰ ﺑﻬﻢ وﺑﺼﱪﻫﻢ وﺻﻤﻮدﻫﻢ وﻫﻢ ﺣﺎﻟﻴﺎً ﻳﺨﻮﺿﻮن ﻧﻀﺎﻟﻬﻢ وﻣﻌﺮﻛﺘﻬﻢ داﺧﻞ ﻫﺬه اﻟﺴﺠﻮن اﻟﻜﺌﻴﺒﺔ ﻧﻌﻢ اﻟﻜﺌﻴﺒﺔ وأﺑﻮ ﻏﺮﻳﺐ ﺧري ﻣﺜﺎل ﻋﲆ ذﻟﻚ 56 ﻫﺆﻻء اﻷﺣﺒﺔ ﰲ ﻣﻌﺘﻘﻼﺗﻬﻢ وﺳﺠﻮﻧﻬﻢ 57 .ﻛﻞ اﻷﺣﺮار واﻟﴩﻓﺎء ﰲ اﻟﻌﺎمل 58 ﺟﺮميﺔ ﺑﺸﻌﺔ ﺗﺮﺗﻜﺒﻬﺎ اﻟﻘﺎﻋﺪة واﳌﺘﺤﺎﻟﻔﻮن ﻣﻌﻬﺎ ﻣﻦ داﻋﺶ واﻟﺒﻌﺚ اﳌﻘﺒﻮر ﺗﻀﺎف اﱃ ﺟﺮامئﻬﻢ اﻟﻴﻮﻣﻴﺔ اﻟﺘﻲ ﻳﺴﺘﻬﺪﻓﻮن ﺑﻬﺎ اﻟﻌﺮاق واﻟﺸﻌﺐ اﻟﻌﺮاﻗﻲ 59 وﻛﻞ اﻧﻮاع اﻟﺤﻴﺎة؛ اﻻﻧﺴﺎن واﻟﺤﻴﻮان واﻟﺰرع،وﻋﻤﻠﻴﺔ ﻗﻄﻊ اﳌﻴﺎه مبﻌﻨﻰ إﻣﺎﺗﺔ اﻟﺤﻴﺎة
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Indirekte Bezeichnungen der Outsider-Gruppe haben den Vorteil, dass der Adressat selbst die Zuordnung treffen muss. Dadurch wird suggeriert, dass er selbstständig die Welt in Gut und Böse einteilt. Bei al-Mālikīs Rede musste der Zuhörer eigenständig entscheiden, auf welche Stimmen er besser nicht hört, als gewarnt wurde: »Hört nicht auf die Stimmen derer, die nicht über ihren Tellerrand hinausschauen und keine Verantwortung übernehmen wollen.«60 Hier könnte die eingangs verurteilte Gruppe gemeint sein. Außerdem kann der Zuhörer noch eigene Erfahrungen mit Menschen einbeziehen, die – wie beschrieben – engstirnig und rücksichtslos handeln. Umschreibungen und Andeutungen haben oftmals ein größeres Wirkungspotential als direkte Benennungen. Der Zuhörer ist meist von einer Aussage überzeugter, wenn er durch eine selbstständige Analyse oder Interpretation zu ihr gelangt ist. Er kann dann die Aussage als eigene Erkenntnis werten, besonders wenn er nicht bemerkt, dass ihm die Einsicht genauso wie bei rhetorischen Fragen durch den Kontext oder Vorab-Erwähnungen suggeriert worden ist. Überdies kann ein Skeptiker den Redner nicht angreifen, wenn jener sich nicht festgelegt hat. 5.4 Betonung von Gemeinsamkeiten Eine weitere Art der Gruppenbildung ist die Betonung von Gemeinsamkeiten der Insider-Gruppe. Das kann explizit erfolgen, wenn zum Beispiel auf die gemeinsamen Wurzeln hingewiesen wird. Subtiler gehen Redner vor, die • von kollektiven Erlebnissen oder Erfahrungen sprechen • eine gemeinsame Erinnerungskultur pflegen • sich auf kollektive Werte berufen • eine spezifische Gruppenrhetorik verwenden. Zur arabischen Erinnerungskultur gehören die oft von den Rednern wiederbelebte hochgeachtete frühislamische Geschichte, die Zeit der Kreuzzüge und die Vertreibung der Palästinenser, also sowohl Ruhmestaten als auch Traumata, die zur Schaffung einer Gruppenidentität beigetragen haben. In die jüngere Erinnerungskultur lassen sich persönliche Erlebnisse einbringen, die ihrerseits von einer bestimmten Gruppe geteilt werden. Nicht nur arabische oder islamische Erinnerungen bewahren beispielsweise die Bewohner Ägyptens, die von ihren Politikern bisweilen voller Stolz an die Zeit der Pharaonen erinnert werden. Irakische Politiker versuchen ihre Landsleute zu vereinen und ihrem Land eine Sonderrolle innerhalb der arabischen Welt zu verleihen, indem sie große Errungenschaften wie die Erfindung der Schrift oder des Rades aus 60 ﻻﺗﻜﱰﺛﻮا وﻻﺗﻠﺘﻔﺘﻮا ﻟﻬﺬه اﻻﺻﻮات اﻟﺘﻲ ﻻﺗﺮى اﺑﻌﺪ ﻣﻦ أرﻧﺒﺔ اﻻﻧﻒ واﻟﺬﻳﻦ ﻻﻳﺮﻳﺪون ان ﻳﺘﺤﻤﻠﻮا اﳌﺴﺆوﻟﻴﺔ
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der babylonischen Vergangenheit heraufbeschwören. Manchmal wird eine identitätsstiftende Erinnerungskultur allein durch Schlagwörter aktiviert, wie durch das häufig gebrauchte ṣalībīyūn (›Kreuzzügler‹), oder durch Metaphern, die sich auf historische Ereignisse beziehen, wie die von Ṣadām Ḥusain oft als gutes Omen metaphorisch benutzte ruhmreiche Schlacht der Muslime gegen die Perser bei Al-Qādisīya im Jahre 636. Als spezifisch arabisch oder auch muslimisch werden moralische Ideale empfunden, wie Stolz, Ehre, Toleranz, Weisheit oder Güte.61 Sie werden sehr oft vom Redner für sich und die von ihm vertretene Gruppe in Anspruch genommen. Solch positiven Wertvorstellungen sind geeignet, emotionale Bindungen zu schaffen, zumal sie beim Hörer sentimentale Assoziationen zu seiner Erziehung in früher Kindheit erzeugen können. Wenn also der Redner Elemente des kollektiven Gedächtnisses oder gruppenspezifische Werte für sich in Anspruch nimmt, dann möchte er diejenigen vereinnahmen, die solche Erinnerungen und Ideale ebenfalls als die ihren betrachten. Schließlich bietet das Arabische auch die Möglichkeit durch die Verwendung verschiedener Sprachvarietäten eine bestimmte Gruppe anzusprechen. So benutzte der populäre ägyptische Präsident Ǧamāl ʿAbd anNāṣir nie Hocharabisch, sondern Dialekt in Reden, die ausschließlich an ein begrenztes einheimisches Publikum gerichtet waren, wie zum Beispiel vor Arbeitern einer bestimmten Fabrik.62 Eine auf den Islam fokussierte Gruppe lässt sich erschaffen, indem die Rhetorik durch Koranzitate und religiöse Begriffe und Floskeln sakralisiert wird. Wenn diese dem Adressaten geläufig sind, gehört er automatisch zu der Gruppe, welche dieselbe Sprache wie der Redner spricht. Dieses Mittel wird von Ḥasan Naṣrallāh gern genutzt, der seine Reden grundsätzlich mit einer Huldigung des Propheten und seiner Familie beginnt. Eine Variante dieser stereotypen Einleitungen lautet folgendermaßen: »Ich suche Zuflucht bei Gott vor dem Teufel. Gepriesen sei Gott, der Herr der Welten. Frieden sei mit unserem Propheten Muḥammad und mit seiner Familie, seinen Gefährten und allen Gesandten.«63 61 Vgl. K. Stock, »Weisheit, Mitleid, Freigiebigkeit oder Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Ein Wertewandel in der arabischen politischen Rhetorik?«, in: A. Fischer-Tahir, K. Lange (Hg.), Ethnographien des Wandels im Nahen Osten und Nordafrika (Fn. 43), S. 230 f., S. 233–237. 62 Vgl. K. Stock, Sprache als ein Instrument der Macht. Strategien der arabischen politischen Rhetorik im 20. Jahrhundert (Fn. 8), S. 133 f. und N. Mazraani, Aspects of Language Variation in Arabic Political Speech-Making, Richmond: Psychology Press 1997, S. 97, S. 189–191. 63 واﻟﺤﻤﺪ ﻟﻠﻪ رب اﻟﻌﺎﳌني واﻟﺼﻼة واﻟﺴﻼم ﻋﲆ ﺳﻴﺪﻧﺎ وﻧﺒ ّﻴﻨﺎ ﺧﺎﺗﻢ اﻟﻨﺒﻴني، ﺑﺴﻢ اﻟﻠﻪ اﻟﺮﺣﻤﻦ اﻟﺮﺣﻴﻢ،أﻋﻮذ ﺑﺎﻟﻠﻪ ﻣﻦ اﻟﺸﻴﻄﺎن اﻟﺮﺟﻴﻢ أيب اﻟﻘﺎﺳﻢ ﻣﺤﻤﺪ ﺑﻦ ﻋﺒﺪ اﻟﻠﻪ وﻋﲆ آﻟﻪ اﻟﻄﻴﺒني اﻟﻄﺎﻫﺮﻳﻦ وأﺻﺤﺎﺑﻪ اﻷﺧﻴﺎر اﳌﻨﺘﺠﺒني وﻋﲆ ﺟﻤﻴﻊ اﻷﻧﺒﻴﺎء واﳌﺮﺳﻠني
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Durch die gemeinsame Sprache bekommt der Zuhörer einen Insider-Status, selbst wenn er nicht explizit durch verbrüdernde Anreden oder Wir-Formen einbezogen wird. Obwohl sich arabische Politiker auch öfter an die Gruppe der Jugend wenden, benutzen sie jedoch nicht deren Soziolekt. In diesen Ansprachen müssen sie auf die anderen oben bereits genannten sprachlichen Mittel zurückgreifen.
5.5 ›Die Anderen‹ Diejenigen, die nicht zum ›Wir‹ gehören, werden nicht immer direkt benannt, sondern häufig lediglich in der 3. Person Plural dargestellt oder in Periphrasen negativ charakterisiert beziehungsweise mit Schimpfwörtern belegt. Die häufigsten arabischen Schimpfwörter bei antiwestlicher Propaganda sind religiös und historisch konnotiert. Wenn die Welt in Gut und Böse eingeteilt wird, sind die Frommen mit den ›Ungläubigen‹ (kuffār) und die Araber mit den ›Kreuzfahrern‹ (ṣalībīyūn) konfrontiert. Mittlerweile weniger benutzt wird der Begriff Imperialisten (imbiriyālīyūn), um nach dem Vorbild kommunistischer Propaganda die Hegemonieansprüche des Westens zu betonen. Israel wurde besonders von Palästinensern jahrzehntelang nicht gern direkt benannt, weil es eine Anerkennung des israelischen Staates impliziert hätte. Ebenso wie viele Politiker benutzten auch arabischen Medien dafür die Periphrase ›das zionistische Gebilde‹ (al-kiyān aṣ-ṣahyūnī). In den letzten Jahren wird allerdings häufiger auch von ›Israel‹ gesprochen. Ḥasan Naṣrallāh integriert seine Hauptfeinde, Israel und die USA, immer wieder in die Gruppe der ›heuchlerischen Betrüger‹ (ad-daǧǧālūn al-munāfiqūn), ›Zionisten‹ (ṣahāyina) oder auch der ›Terroristen‹ (irhābīyūn). Er verwendet aber auch gelegentlich andere Periphrasen, wie in seiner Rede am 19.3.2011 auf dem Festival der Solidarität mit den arabischen Völkern in Beirut, wo Ḥasan Naṣrallāh seine Verbundenheit mit den Aufständischen in Tunesien, Ägypten, Bahrein, Libyen und Jemen zum Ausdruck brachte und gleichzeitig an den Zweiten Libanonkrieg 2006 erinnerte und dabei seinen Hauptfeind Israel anklagte. Den Amerikanern warf er vor, auf der Seite der Israelis zu stehen: »Und die Amerikaner verteidigen den Mörder, Verbrecher, Aggressor und Knochenbrecher.«64 Die kriminalisierenden Periphrasen stehen für die Gruppe der israelischen Feinde, die daran schuld sind, dass die Palästinenser, also »ein Volk getötet und bombardiert wird, dass dessen Häuser, Bäume und Felder der Zerstörung anheimfallen, dass es fliehen muss, dass elf
64 .واﻷﻣريﻛﻴﻮن ﻳﺪاﻓﻌﻮن ﻋﻦ اﻟﻘﺎﺗﻞ وﻋﻦ اﳌﺠﺮم وﻋﻦ اﳌﻌﺘﺪي وﻋﻦ ﺳﺎﺣﻖ اﻟﻌﻈﺎم
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Tausend inhaftiert sind und Jerusalem mit seinen islamischen und christlichen Heiligtümern bedroht ist.«65 Seltener, aber umso wirkungsvoller ist es, ›die Anderen‹, die nicht zur eigenen Gruppe gehören, in der Ihr-Form anzusprechen. In vielen arabischen Ländern wurde die Frage »Wer seid ihr?«66 populär, die Muʿammar al-Qaḏḏāfī während der Unruhen in Libyen 2011 in rhetorischer Absicht seinen Gegnern stellte, um zu demonstrieren, dass diese nicht aus seinem Land stammen können, sondern eher aus einer ausländischen Verschwörung hervorgegangen sein müssen. Ḥasan Naṣrallāh gelang in einer Rede während des Zweiten Libanonkrieges 2006 die Erzeugung einer geradezu bedrohlichen Stimmung, indem er seine israelischen Feinde in einer Ihr-Gruppe zusammenfasste und sie der von ihm moralisch gestärkten Wir-Gruppe der Libanesen gegenüberstellte. Meistens ist die Ihr-Gruppe genauso wie die Wir-Gruppe positiv konnotiert, weil der Redner seine Zuhörer nicht verprellen möchte. Im folgenden Beispiel aber ist mit der Ihr-Gruppe eindeutig der Feind gemeint. Er soll nicht gewonnen, sondern eingeschüchtert werden. So sagte Ḥasan Naṣrallāh am 14.7.2006, nachdem sein Haus und sein Beiruter Büro unmittelbar nach Beginn des Krieges von israelischen Kampfjets bombardiert worden waren: »Ihr wolltet einen offenen Krieg. Wir ziehen in den offenen Krieg und sind dafür gewappnet. Einen Krieg auf allen Ebenen. Bis nach Haifa. Glaubt mir, weiter als bis nach Haifa, noch sehr viel weiter als Haifa. Den Preis bezahlen wir nicht allein. Nicht nur unsere Häuser werden zerstört, nicht nur unsere Kinder werden getötet, nicht nur unser Volk wird flüchten. Diese Zeiten sind vorbei. Das war vor 1982, vor dem Jahre 2000. Diese Zeiten sind vorbei. Ich verspreche euch, dass diese Zeiten vorbei sind und ihr in Zukunft zur Verantwortung gezogen werdet für das, was eure Regierung getan hat, ja eure Regierung, für das, was sie sich anmaßt. Ihr wolltet von nun an offenen Krieg, dann soll es offenen Krieg geben. Ihr wolltet, eure Regierung wollte neue Spielregeln. Dann soll es neue Spielregeln geben.«67 Die Ansprache an die israelischen Feinde wird noch fortgesetzt, wobei die beiden Lager immer deutlicher getrennt werden, indem der Ḥizbullāh-Führer die eigenen Kämpfer für ihre Tapferkeit, ihre Frömmigkeit und ihre edle Abstammung lobt und den Anderen damit indirekt derartige Eigenschaften abspricht. Am Ende werde Gott entscheiden, wer siegt, wobei die Gruppe der Frommen sich 65 اﻟﻘﺪس ﺗﺘﻌﺮض ﻓﻴﻬﺎ اﳌﻘﺪﺳﺎت اﻹﺳﻼﻣﻴﺔ واﳌﺴﻴﺤﻴﺔ، أﻟﻒ ﻣﻌﺘﻘﻞ11 ﻳﻬﺠﺮ وﻟﺪﻳﻪ، ﺗﺪﻣﺮ ﻣﻨﺎزﻟﻪ وأﺷﺠﺎره وﺣﻘﻮﻟﻪ، ﻳﻘﺼﻒ،ﺷﻌﺐ ﻳﻘﺘﻞ ﻟﻠﺘﻬﺪﻳﺪ واﻟﺨﻄﺮ 66 ﻣﻦ اﻧﺘﻢ؟ 67 اﱃ ﺣﻴﻔﺎ وﺻﺪﻗﻮين اﱃ ﻣﺎ ﺑﻌﺪ ﺣﻴﻔﺎ، ﺣﺮﺑﺎ ﻋﲆ ﻛﻞ ﺻﻌﻴﺪ، ﻧﺤﻦ ذاﻫﺒﻮن اﱃ اﻟﺤﺮب اﳌﻔﺘﻮﺣﺔ وﻣﺴﺘﻌﺪون ﻟﻬﺎ،أﻧﺘﻢ أردﺗﻢ ﺣﺮﺑﺎ ﻣﻔﺘﻮﺣﺔ ، ﻟﻦ ﻳﴩد ﺷﻌﺒﻨﺎ وﺣﺪه، ﻟﻦ ﺗﺪﻣﺮ ﺑﻴﻮﺗﻨﺎ وﺣﺪﻧﺎ ﻟﻦ ﻳﻘﺘﻞ أﻃﻔﺎﻟﻨﺎ وﺣﺪﻧﺎ، اﻟﺬي ﺳﻴﺪﻓﻊ اﻟﺜﻤﻦ ﻟﺴﻨﺎ وﺣﺪﻧﺎ.واﱃ ﻣﺎ ﺑﻌﺪ ﻣﺎ ﺑﻌﺪ ﺣﻴﻔﺎ أﻧﺎ أﻋﺪﻛﻢ ﺑﺄن ﻫﺬا اﻟﺰﻣﻦ اﻧﺘﻬﻰ وﺑﺎﻟﺘﺎﱄ ﻋﻠﻴﻜﻢ. ﻫﺬا زﻣﻦ اﻧﺘﻬﻰ، ﻟﻠﻤﻴﻼد2000 وﻗﺒﻞ ﺳﻨﺔ1982 ﻫﺬا ﻛﺎن زﻣﻦ ﻗﺒﻞ،ﻫﺬا اﻟﺰﻣﻦ اﻧﺘﻬﻰ ﻣﻦ اﻵن ﻓﺼﺎﻋﺪا أﻧﺘﻢ أردﺗﻢ ﺣﺮﺑﺎ ﻣﻔﺘﻮﺣﺔ ﻓﻠﺘﻜﻦ.اﻳﻀﺎ أن ﺗﺘﺤﻤﻠﻮا ﻣﺴﺆوﻟﻴﺔ ﻣﺎ ﻗﺎﻣﺖ ﺑﻪ ﺣﻜﻮﻣﺘﻜﻢ وﻣﺎ أﻗﺪﻣﺖ ﻋﻠﻴﻪ ﻫﺬه اﻟﺤﻜﻮﻣﺔ . ﺣﻜﻮﻣﺘﻜﻢ أرادت ﺗﻐﻴري ﻗﻮاﻋﺪ اﻟﻠﻌﺒﺔ ﻓﻠﺘﺘﻐري اذا ً ﻗﻮاﻋﺪ اﻟﻠﻌﺒﺔ، أﻧﺘﻢ أردﺗﻢ.ﺣﺮﺑﺎ ﻣﻔﺘﻮﺣﺔ
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hier größere Chancen ausrechnen könne: »Die nächsten Tage werden entscheiden: wir oder ihr, wie Gott es will!«68 Bei der sprachlichen Darstellung der Outsider-Gruppen werden direkte Benennungen, aber auch Periphrasen und Schimpfwörter am meisten eingesetzt. Häufig ist auch die Sie-Form, wirkungsvoller aber die Ihr-Form. 5.6 Zusammenfassung Rhetorische Gruppen werden in der arabischen politischen Rhetorik vor allem mit folgenden sprachlichen Mitteln gebildet: • direkte Benennungen der Gruppen, • indirekte Bezeichnungen, oft in Form lobender oder abwertender Periphrasen • Verben in der 1., 2. oder 3. Person Plural • Personalpronomen ›wir‹ (naḥnu), ›ihr‹ (antum) oder ›sie‹ (hum) • Possessivpronomen ›unser‹ (-nā), ›euer‹ (-kum), ›ihr‹ (-hum) • Anreden ›Brüder‹ (iḫwa, ašiqqā‘), ›Schwestern‹ (aḫawāt), ›Söhne‹ (abnā‘), ›Töchter‹ (banāt), ›Mitbürger‹ (muwāṭinūn), ›unser Volk‹ (šaʿbanā), ›Freunde‹ (aṣdiqā‘), ›Kollegen‹ (zumalā‘), ›Genossen‹ (rifāq), ›Ratsmitglieder‹ (aʿḍā‘ al-maǧlis) und ähnliche Anreden, teilweise verbunden mit positiven Attributen, wie ›edelmütig‹ (karīm), ›lieb‹ (ʿazīz), ›treu‹ (wafīy), ›tapfer‹ (bāsil), ›für den Islam engagiert‹ (muǧāhid) • Betonung von historischen, moralischen, nationalen oder religiösen Gemeinsamkeiten durch explizite Bezüge oder gruppenspezifischen Sprachgebrauch All diese Mittel sind geeignet, um rhetorische Gruppen zu erschaffen. Ob sie absichtlich vom Redner eingesetzt werden und ob sie tatsächlich in jedem Fall wirken, lässt sich in einer linguistischen Analyse nicht nachweisen. Feststellbar ist nur ihre potentielle Wirkung. Immerhin werden viele sprachliche Mittel nicht bewusst angewendet. Die Redner folgen oft nur Gewohnheiten, und auch das Publikum ist viel zu differenziert zusammengesetzt, als dass man Pauschalisierungen treffen könnte. Die Wirkung von Sprache ist zwar bis zu einem gewissen Grad von Konventionen bestimmt, aber dennoch von subjektiven Voraussetzungen abhängig, wie Vorwissen, kulturellen Orientierungen, persönlichen Erfahrungen usw. Zudem bleibt dem Adressaten einer Rede immer die Möglichkeit, sich einer eventuellen Manipulation zu verweigern, wenn er etwa grundsätzlich anderer Meinung ist oder die Strategie der Einflussnahme erkennt. 68 !اﻷﻳﺎم اﳌﻘﺒﻠﺔ ﺑﻴﻨﻨﺎ وﺑﻴﻨﻜﻢ إن ﺷﺎء اﻟﻠﻪ
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6. Fazit Wenn Politiker Macht ausüben wollen, brauchen sie eine große Anzahl Anhänger. Diese müssen beherrscht werden, damit sie den Willen ihrer Führung zumindest passiv akzeptieren und idealerweise auch aktiv durchsetzen. Die Machtbestrebungen verlaufen also gerichtet von unten nach oben und zielen auf das Beherrschen einer Gruppe Anhänger (Wähler, Parteimitglieder oder Ähnliche), mit deren Hilfe man wiederum einen ganzen Staat regieren und von da aus sogar überstaatliche Macht erringen kann. Um mit Worten Anhänger zu gewinnen, Überzeugungsarbeit zu leisten, Überredungskünste einzusetzen, gegebenenfalls auch eigene Sichtweisen zu verbreiten und Ideen durchzusetzen, benutzen die Redner die verschiedensten sprachmanipulativen Mittel. Eines davon ist die Vereinnahmungstaktik, die insbesondere auf der Bildung von Insider-Gruppen basiert. Am wirkungsvollsten wäre es, wenn die auf diese Weise Beherrschten die Vereinnahmung nicht bemerken würden. Auf jeden Fall bleibt dem Publikum eine Entscheidungsfreiheit, die es aber nicht nutzen kann, wenn es erfolgreich manipuliert wurde. Arabische Politiker können bei geglückter Vereinnahmung Loyalität, Solidarität und sogar Opferbereitschaft erwarten, weil derartige Werte eine bis in vorislamische Zeit zurückreichende Tradition haben und als relevant für das Funktionieren einer überlebenswichtigen Gemeinschaft angesehen werden. Als Gegenpol werden Outsider-Gruppen geschaffen, die in der arabischen politischen Rhetorik in Krisensituationen mit ›Feinden‹ gleichgesetzt und auf Parteien und Gruppierungen, auf arabische Staaten und im Kontext des Nahostkonflikts auf die USA und Israel bezogen werden. Bei der Insider-Gruppe kann dadurch die Idee von ›Wir und die Anderen‹ aufkommen, die einerseits die Sicherheit der Herde verspricht, andererseits auch zu Aktivitäten herausfordert, um sich vor eventuellen Feinden zu schützen, zumindest aber um die vermeintliche Überlegenheit der eigenen Gruppe zu bewahren. Die Insider-Gruppen erhalten oftmals Attribute, die hohe moralische Werte verkörpern (›edel‹, ›treu‹, ›tapfer‹ usw.). Die dargestellten Handlungsweisen sind immer als moralisch einwandfrei, konstruktiv und fortschrittlich interpretierbar. Das gegnerische Lager wird durch den Bezug auf verachtenswerte Handlungen und Einstellungen abgewertet oder mit negativen Periphrasen und sogar Schimpfwörtern belegt. Diese Polarisation bringt es mit sich, dass sich der Zuhörer widerstandsloser in die Gruppe des Redners ziehen lässt. Die meisten Gruppen sind ethnisch (›Araber‹), religiös (›Muslime‹, ›Ungläubige‹), national (›Ägypter‹, ›irakisches Volk‹, ›Söhne Omans‹, ›tunesische Brüder‹, ›Israelis‹, ›Amerikaner‹), demografisch (›Jugend‹) oder politisch (›Schura-Rat‹, ›Zionisten‹, ›Extremisten‹) definiert. 97
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Bezeichnet werden die Gruppen häufig nicht direkt, sondern lediglich periphrasiert oder auch gar nicht. Dadurch kann eine Insider-Gruppe offen für alle sein, die in der Gruppe Halt suchen und ihre eigene Identität festigen wollen. Wenn Freund und Feind nicht direkt benannt werden, kann es überdies nicht so leicht zu Konfrontationen kommen. Wird der Zuhörer zudem selbst am Gestaltungsprozess der Gruppen beteiligt, weil sie vom Redner nicht definiert wurden, fühlt er sich nicht vereinnahmt und ist überzeugter von der Richtigkeit der Aussage, zu der er durch eigene Interpretation gelangt ist. Er weiß in dem Fall nicht, dass sie ihm vom Redner durch den Kontext suggeriert worden ist. Der Redner seinerseits braucht wegen der vagen Formulierung keine Verantwortung übernehmen. Sprachlich realisiert sich die emotionalisierende Gruppenbildung hauptsächlich durch die Verwendung der 1. Person Plural contra 3. Person Plural sowie durch verbrüdernde Anreden. Das traditionelle Ideal von familiären Bindungen zeigt sich in Begriffen wie ›Söhne‹, ›Töchter‹, ›Brüder‹ und ›Schwestern‹. Die rhetorische Erzeugung von Gemeinsamkeiten bei den Mitgliedern einer Gruppe, sei es auf sprachlicher oder inhaltlicher Ebene, erleichtert die Integration. Arabische Politiker verweisen gern auf eine gemeinsame Geschichte und Moral. Auch die arabische Hochsprache ist geeignet, Gruppen über Ländergrenzen hinweg zu erschaffen. Die einzelnen Sprachvarietäten wiederum werden benutzt, wenn sich der Redner mit regionalen oder religiösen Gemeinschaften verbünden will. Wenn man abschließend die eingangs gestellten Fragen nach dem Wer, dem Warum und dem Wie beantworten möchte, dann kann man sagen, dass in der arabischen politischen Rhetorik für die Region spezifische Gruppen geschaffen werden, dass die Gruppenbildung allgemeine machtpolitische Ziele verfolgt, die den speziellen Erfordernissen und Möglichkeiten des arabischen Kontextes angepasst sind, und dass die arabischen Politiker kulturell determinierte rhetorische Strategien nutzen, um den Wir-Gedanken zu suggerieren. Signifikante Unterschiede bei rhetorischen Gruppenbildungen in Reden vor und nach den Umwälzungen von 2011 konnten nicht festgestellt werden.
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»Kī�fāš lbistī�?« – Über den sprachlichen Umgang mit Tabuthemen in autoritären Staaten am Beispiel Tunesiens Language is not a neutral medium for communication but rather a set of socially embedded practices. The reverse […] is also true: social interactions live linguistically charges lives. That is, every social interaction is mediated by language – whether spoken or written, verbal or nonverbal.1
Der folgende Artikel befasst sich mit der Frage, wie Sprechen als soziale Praxis die gesellschaftlichen Normen reflektiert bzw. realisiert. Ich beziehe mich dabei auf den Kontext Tunesiens und die sozialen Räume, die durch die Regime Bourguibas und Ben Alis geprägt wurden. Da durch die Machtkonstellationen in autoritären Gesellschaften strenge Normen vorgegeben werden sowie deren Überwachung im Polizeistaat rigide durchgesetzt werden kann, entwickelten sich Tabuthemen, die das Äußern von bzw. Sprechen über Kritik am Regime und dem Machtapparat oder über vom Regime sanktionierte Handlungen betreffen. Ausgangspunkt meiner Analyse ist ein biographisches Interview, in dem eine Tunesierin über ihr Leben spricht und dabei Unrechtserfahrungen in der Regierungszeit von Bourguiba und Ben Ali thematisiert. In der Darstellung dieser Erinnerungen im Interviewkontext zeigt sich, dass bestimmte Themen nicht klar benannt werden, wie beispielsweise die Kopftuchproblematik, die Verfolgung der Islamisten oder die Klientelpolitik des Regimes und seiner Günstlinge. An diese Interviewstellen möchte ich anknüpfen, um sie aus ihrem soziokulturellen Kontext heraus zu erklären. Die Schwierigkeiten einer Interpretation solcher Textausschnitte ergeben sich als Außenstehender dadurch, dass man gerade die Andeutungen und Auslassungen überliest, falsch interpretiert oder nicht versteht, die von Mitgliedern einer Gemeinschaft als gängige Praktiken in bestimmten Kommunikationssituationen eingesetzt werden. Allerdings ergibt sich als Außenstehender auch die Chance, durch Fehlinterpretationen bzw. daraus folgende 1
L. Ahearn, Living language. An introduction to linguistic anthropology, Chichester, West Sussex: Wiley-Blackwell 2012, S. 3.
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Missverständnisse auf eben diese Sprechereignisse aufmerksam zu werden und sie dadurch offenlegen zu können. Nun lassen sich im sprachlichen Umgang mit Tabuthemen verschiedene Strategien unterscheiden: das Schweigen, das Umgehen mit Andeutungen und Verschleierungen aller Art sowie eine Enttabuisierung. Ich konzentriere mich in meinem Artikel auf die Verschleierungen und Andeutungen, die eine Kritik am Regime implizieren und dennoch Teil des Machtdiskurses sind, welcher in diesen Interviewausschnitten sichtbar wird. Über die Analyse der Sprechsituation und Sprechintentionen offenbart sich nicht zuletzt die Politik des autoritären tunesischen Staates seit seiner Unabhängigkeit. Denn dieser bestimmte durch seine jahrzehntelange repressive Innenpolitik den Diskurs und legte fest, was sagbar war und was Außenstehenden verborgen bleiben sollte.
1. Sprechen in autoritären Staaten – ein ethnolinguistischer Zugang Der Ethnolinguist2 Alessandro Duranti plädiert in seinem Lehrwerk Linguistic Anthropology dafür, dass Sprache nicht getrennt vom Sprachgebrauch bestimmter Individuen in einer bestimmten Zeit gesehen werden kann und somit ethnolinguistische Arbeiten immer historisch seien.3 Daher wird Sprache als soziokulturelle Ressource bzw. Sprechen als soziokulturelle Praxis untersucht. Als soziale Praxis lässt das Kommunikationssystem Sprache intersubjektive und intrasubjektive Repräsentationen der Sozialordnung zu und erlaubt es den Menschen, diese Repräsentationen für ihre sozialen Handlungen zu verwenden; Sprechen ist somit niemals neutraler Ausdruck.4 Charakteristisch für die Ethnolinguistik ist laut Duranti: »its interest in speakers as social actors, in language as both a resource for and a product of social interaction, in speech communities as simultaneously real and imaginary entities whose boundaries are constantly being reshaped and negotiated through myriad acts of speaking.«5 Im Forschungsinteresse stehen Sprecher daher als soziale Akteure bestimmter 2
3 4 5
Je nach Forschungstradition und Forschungsperspektive bezeichnen die Wissenschaftler das Fachgebiet, das sich mit der Frage nach dem Zusammenhang von Sprache und Kultur beschäftigt, als anthropologische Linguistik, linguistische Anthropologie, Ethnolinguistik o.ä. Ich verwende im Folgenden für diese Forschungsrichtung die Bezeichnung Ethnolinguistik. Vgl. A. Duranti, Linguistic anthropology, New York: Cambridge University Press 1997, S. 337. Vgl. ebd., S. 3 ff. Ebd., S. 5.
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Gemeinschaften, die über verschiedene soziale Institutionen sowie durch ein Netz von Erwartungen an, Überzeugungen von und moralischen Werten über die Welt organisiert sind.6 Florian Coulmas schreibt 1979, dass die Art eines zu einem bestimmten Anlass und in einer bestimmten Kommunikationssituation gebotenen, erlaubten oder verbotenen Sprachverhaltens von den kulturellen Bedingungen abhängig sei, welche durch die jeweiligen Lebensweisen, Sitten und historischen Kontingenzen bedingt werden.7 Dieser soziokulturelle Kontext sei, so Ahearn, jedoch nicht getrennt von der sprachlichen Praxis zu sehen oder umfasse ihn, wie ein Gefäß seinen Inhalt. Der gesellschaftliche Kontext und die sprachliche Praxis bedingten sich eher gegenseitig, weshalb Sprache nicht als Denkweise, sondern vielmehr als kulturelle Praxis behandelt werden sollte.8 Was das im Detail bedeutet, beschreibt der Linguist Peter von Polenz sehr treffend: »Außer der Wortschatzerkenntnis und der Grammatikbeherrschung braucht man zum VERSTEHEN von Gesagtem eine Kenntnis der Person, ihrer Einstellungen und Gewohnheiten, Kenntnis und Einschätzung der Situation und des Kommunikationsablaufs, Wissen von der Welt, in der man lebt und auf bestimmte Weisen nach Regeln miteinander kommuniziert.«9 Für eine sprachliche Performanz benötigt der Sprecher im Gegenzug selbiges von seinen intendierten Adressaten. Eine Sprache zu beherrschen, heiße somit, laut Duranti, immer Teil einer Gemeinschaft zu sein, an der man sich mittels eines umfangreichen, aber nie vollständigen kollektiven Spielraums von kommunikativen Möglichkeiten am gemeinschaftlichen und gemeinsamen Handeln beteiligt. Daraus folge auch, dass derjenige, der die soziale Praxis der Sprache nicht bzw. nur ein limitiertes Repertoire davon beherrscht, keinen vollständigen Zugang zur Gemeinschaft erlangt.10 Es ist das von Polenz oben beschriebene implizite Wissen, das uns erkennen lässt, ob bestimmte Sprechakte in einer bestimmten Situation und bestimmten Sprechgemeinschaft als angebracht oder kritisch empfunden werden. Deutlich wird das Fehlen dieses Wissens vor allem in der Kommunikation mit Nichtmitgliedern der Sprechgemeinschaft, als einfachste Variante davon bei Muttersprachlern und Nicht-Muttersprachlern. Man kann somit von einer Untrennbarkeit von Sprache, Kultur und sozialen 6 7
Vgl. ebd., S. 2 f. In der Einleitung der deutschen Ausgabe des Werkes von Dell Hymes, Soziolinguistik. Zur Ethnographie der Kommunikation, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1979, S. 20. 8 Vgl. L. Ahearn, Living language. An introduction to linguistic anthropology (Fn. 1), S. 8. 9 P. von Polenz, Deutsche Satzsemantik. Grundbegriffe des Zwischen-den-Zeilen-Lesens, Berlin u. a.: De Gruyter 1985, S. 299 f. 10 Vgl. A. Duranti, Linguistic Anthropology (Fn. 3), S. 334.
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Beziehungen ausgehen und dies umfasst alle Mittel der Kommunikation, sowohl sprachliche, als auch mimische, gestische und proxemische Akte. Das erkläre auch, warum der Spracherwerb einen so starken Einfluss auf den Prozess hat, ein kompetentes Mitglied der Gesellschaft zu werden.11 Zudem beginnt sprachliche Sozialisation bei jedem Eintritt in eine weitere soziale Gruppe von neuem.12 Aus diesem Grund plädiert Ahearn dafür, als alternativen Begriff zur Sprechgemeinschaft (speech community) den der community of practice13 zu verwenden. Diesen definiert sie wie folgt: »A community of practice is an aggregate of people who come together around mutual engagement in an endeavour. Ways of doing things, ways of talking, beliefs, values, power relations – in short, practices – emerge in the course of this mutual endeavour. As a social construct, a community of practice is different from the traditional community, primarily because it is defined simultaneously by its membership and by the practice in which that membership engages.«14 Daher werde ich mich im Folgenden auf diesen Begriff der community of practice beziehen, denn Sprache stellt nur eine der vielen sozialen Praktiken dar, welche die Mitglieder gemeinsam teilen. Dabei erleichtert mir dieser Zugang auch, wie von Coulmas gefordert,15 die ethnologische Perspektive, das heißt das Interesse an der emischen Sicht der untersuchten Gemeinschaft, weiter zu verfolgen. Um das soziale Handeln der community of practice in autoritären Staaten eingehender analysieren zu können, wird meist der Begriff der Öffentlichkeit16 verwendet, der an dieser Stelle erläutert werden soll. Ausgehend davon, dass die Öffentlichkeit den »Selbstverständigungsprozess der Gesellschaft« darstellt, in dem die Normen und Werte 11 Vgl. L. Ahearn, Living language. An introduction to linguistic anthropology (Fn. 1), S. 54. 12 Vgl. ebd. S. 60. 13 Ahearn führt den Begriff in Anlehnung an den Artikel »Think practically and look locally. Language and Gender as community-based practice« von Eckert und McConnell-Ginet ein, der 1992 im Annual Review of Anthropology, Vol. 21, S. 461–490 erschien. Vgl. L. Ahearn, Living language. An introduction to linguistic anthropology (Fn. 1), S. 115. 14 Ebd., S. 464. 15 Vgl. D. Hymes, Soziolinguistik. Zur Ethnographie der Kommunikation (Fn. 7), S. 20. 16 Die Autoren, auf die ich in meinem Beitrag Bezug nehme, gehen von einem empathisch-normativen Modell der Öffentlichkeit aus, das sich auf eine Kommunikationsgemeinschaft bzw. Sphäre kommunikativen Handelns bezieht, die mit bestimmten anspruchsvollen Eigenschaften und Funktionen verbunden sind. Vgl. B. Peters, Der Sinn von Öffentlichkeit, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2007, S. 55 f.
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ausgehandelt werden, unterteilt die Kommunikationswissenschaftlerin Elisabeth Klaus drei verschiedene Ebenen der Öffentlichkeit: die einfache Öffentlichkeit der Alltags- und Face-to-face-Kommunikation, die mittlere Öffentlichkeit, in der eine Rollendifferenzierung zwischen Sprechenden und Zuhörenden zwar vorhanden, jedoch noch austauschbar ist, und die komplexe Öffentlichkeit der professionalisierten Kommunikation, in der die Rollen von Kommunikatoren und Publikum unumkehrbar festgelegt sind.17 Nur wenn ein Austausch zwischen den verschiedenen Ebenen der Öffentlichkeit in einer Gesellschaft möglich ist, könne das demokratische Miteinander in dieser Gesellschaft erhalten bleiben. In Systemen jedoch, die politisch autoritär orientiert sind, finden die in den einfachen und mittleren Öffentlichkeiten relevanten Themen, Probleme und Normen keinen Zugang zur komplexen Öffentlichkeit, so die Kommunikationswissenschaftlerinnen Lünenborg und Meier, was zur Ausbildung subversiver Teilöffentlichkeiten führe, die zwar wesentlich für die gesellschaftliche Selbstverständigung sind, aber in der komplexen Öffentlichkeit nicht mehr widergespiegelt werden.18 Auch der Soziologe Viktor Voronkov betont in seiner Arbeit über Öffentlichkeit und Privatheit in der (post)sowjetischen Gesellschaft den Unterschied zwischen einer »offiziellen Öffentlichkeit« als Raum der offiziellen Verlautbarungen, des offiziell sanktionierten Bildes sowie des Gesetzesrechtes auf der einen Seiten gegenüber dem der »inoffiziellen oder privaten Öffentlichkeit« als nichtoffiziellen und dennoch öffentlichen Kommunikationsraum, der durch das Gewohnheitsrecht sowie durch die Alltagsnormen und -konventionen geregelt war.19 Die Trennung zwischen beiden Sphären bildete sich in der Stalinära aus, da unter den Bedingungen im totalitären Staat das »reale Leben« in der offiziellen Öffentlichkeit der »utopischen Idealisierung« nicht thematisiert werden konnte.20 In Bezug auf Arbeiten zum Dissidententum in Osteuropa stellt Voronkov jedoch deutlich heraus, dass die »privat-offizielle Öffentlichkeit« keine »zweite Gesellschaft« als Art »exklusives Kommunikationsfeld eines bestimmten Milieus« darstelle, vielmehr gehörte jeder Sowjetbürger beiden Kommunikationsräumen an, war sich ihrer 17 Vgl. E. Klaus, R. Drüeke, »Öffentlichkeit und Privatheit«, in: R. Becker, B. Kortendiek, Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung. Theorie, Methoden, Empirie, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2010, S. 248. 18 Vgl. M. Lünenborg, T. Maier, Gender Media Studies. Eine Einführung, Konstanz u. München: UVK 2013, S. 63. 19 Vgl. V. Voronkov, »Politische Biographien im privaten und öffentlichen Diskurs« in: I. Miethe, S. Roth (Hg.), Politische Biografien und sozialer Wandel, Gießen: Psychosozial-Verlag 2000, S. 152. 20 Ebd., S. 154.
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Regeln bewusst.21 Dabei betont er, dass es nicht nur darum gehe, dass gewisse Themen tabuisiert wurden, vielmehr war eben der offiziell-öffentliche Raum »überhaupt kein Ort für die Diskussion der Probleme des realen Lebens«.22 Die Philologin Stefanie Engeroff beschreibt in Bezug auf die sprachliche Situation in der DDR ebenfalls eine Art ›Zweisprachigkeit‹ zwischen öffentlichen Ausdrucksweisen und denen des Alltags.23 Oft werde angenommen, dass der vom autoritären Regime bestimmte Sprachstil in der Alltagssprache der Bevölkerung nur in bestimmten Situationen gegebenenfalls zum Selbstschutz oder zur Ironisierung verwendet wurde.24 Dies sei aber nicht so, Engeroff zeigt anhand einer Studie von Niethammer, dass auch in halböffentlichen und privaten Textdokumenten stets eine Art Öffentlichkeit, ein Mitleser oder imaginärer Adressat, angenommen werde, was zu einer konsequenten Selbstreflexion und zum Verbergen von kritischen Inhalten führe und somit selbst den individuellen Sprachgebrauch beeinflusse.25 Es werden inoffizielle Codes verwendet, die oft auf die offizielle Sprache und deren Codes, wie Schlag- und Fahnenworte oder Stigmaworte verweisen und konkrete Aspekte der öffentlichen politischen Sprache fokussieren.26 Diese inoffiziellen Sprachcodes seien in der DDR nicht nur zum Schutz vor Verfolgung, sondern auch zur systemimmanenten Kritik eingesetzt worden.27 Solche Sprachcodes sollen im Folgenden Thema meiner Untersuchung sein.
21 Vgl. ebd., S. 155. 22 Ebd., S. 156. 23 S. Engeroff, Sprachkulturen der Systemgegnerschaft und der systemimmanenten Kritik in der DDR. Von der marxistischen Dissidenz bis zur Szene vom Prenzlauer Berg, Berlin: Weißensee-Verlag 2013, S. 333. 24 Vgl. Engeroff nimmt hier Bezug auf von Polenz, Deutsche Sprachgeschichte vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart, Bd. III, 19. und 20. Jahrhundert, Berlin u.a.: de Gruyter 1999, S. 427. Vgl. S. Engeroff, Sprachkulturen der Systemgegnerschaft und der systemimmanenten Kritik in der DDR. Von der marxistischen Dissidenz bis zur Szene vom Prenzlauer Berg (Fn. 23), S. 333. 25 Vgl. ebd. S. 334. Engeroff stützt sich hier auf eine Studie von Lutz Niethammer, der 1987 gesprochene Beiträge aus der DDR im Sinne der Oral History sammelte, diese wurde herausgegeben unter L. Niethammer, A. von Plato, D. Wierling (Hg.), Die volkseigene Erfahrung. Eine Archäologie des Lebens in der Industrieprovinz der DDR. 30 biographische Eröffnungen, Berlin: Rowohlt 1991. 26 Vgl. ebd., S. 339. 27 Vgl. ebd., S. 338.
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2. Zum Tabubegriff in der Linguistik Da in der Ethnologie ein anderes Verständnis für den Begriff ›Tabu‹ vorherrscht, ist es nunmehr notwendig, den von mir verwendeten, aus der Linguistik entlehnten Begriff abzugrenzen. Michel Foucault schreibt über das Verbot als Ausschlussprozedur in heutigen Gesellschaften: »Man weiß, daß man nicht das Recht hat, alles zu sagen, daß man nicht bei jeder Gelegenheit von allem sprechen kann, daß schließlich nicht jeder beliebige über alles beliebige reden kann.«28 In Anlehnung daran möchte ich den Tabubegriff meiner Arbeit definieren. Er umfasst, wie die Linguistin Ulla Günther argumentiert: »nicht, wie in der ethnosozialen Forschung, kulturell-religiöse Sanktionen, sondern der Begriff steht einfach für die Dinge, über die ›man‹ an sich in der Öffentlichkeit nicht spricht. In diesem Sinne wird das Wort ›Tabu‹ seit den 60er Jahren auch umgangssprachlich verwendet.«29 Die Sprachwissenschaftlerin Ana Dimova weißt dabei darauf hin, dass in der Sprachpraxis eine Trennung von Tabus und Verboten meist nicht möglich sei. Es gehe vielmehr »um graduelle Unterschiede auf einem Kontinuum sozialer Konventionen« mit fließenden Abstufungen, wobei in totalitären Gesellschaften die Trennung von Verboten und Tabus gänzlich verschwinden kann.30 Auch der Kulturwissenschaftler Hartmut Schröder plädiert in seinen Arbeiten für diese Definition des Begriffs, da sich der in der Ethnologie und der Religionswissenschaft etablierte Terminus kaum auf die Untersuchung heutiger Gesellschaften anwenden lasse.31 In seinen Arbeiten zum Tabu unterscheidet Schröder sogenannte nonverbale Tabus von verbalen.32 Ich konzentriere mich in dieser Arbeit auf die verbalen Tabus, die von ihm definiert werden als »einerseits Themen (Konzeptualisierungen von Sachverhalten), über die entweder gar nicht oder nur in etikettierter Form kommuniziert werden soll, sowie andererseits sprachliche Ausdrücke, die vermieden bzw. durch andere Ausdrücke 28 M. Foucault, Die Ordnung des Diskurses. Aus dem Französischen von Walter Seitter, Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch Verlag 1993, S. 11. 29 U. Günther, »Und aso das isch gar need es Tabu bi üs, nei, überhaupt need« – Sprachliche Strategien bei Phone-in-Sendungen am Radio zu tabuisierten Themen, Frankfurt/M. u. a.: Peter Lang 1992, S. 45. 30 Vgl. A. Diminova, »Tabu ist, wenn man’s trotzdem macht. Der Witz als Tabuverletzung«, in: E. W. B. Hess-Lüttich, Kommunikation und Konflikt. Kulturkonzepte in der interkulturellen Germanistik, Frankfurt/M.: Peter Lang 2009, S. 93. 31 Vgl. H. Schröder, Tabu und Tabuvorwurf in der Politik. Kommunikative Aspekte inszenierter Tabubrüche, 2006, URL: http://semiotik.eu/kongress2005/pdf/schroeder.pdf (abgerufen 20.07.2015), S. 2 f. 32 Vgl. ebd.
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(Euphemismen) ersetzt werden sollen.«33 Dabei behandelt meine Arbeit die Unterart der verbalen Tabus, die Schröder »Sprachtabus« nennt. Ihre Funktion sei, dass sie »tabuisierte Handlungen verschleiern, wobei das Einverständnis der Beteiligten nicht vorausgesetzt wird, sondern durch die Vortäuschung eines Sachverhaltes erst ermöglicht werden soll (»Das macht man eigentlich nicht – aber wenn man es macht, dann spricht man nur in einer versteckten Weise darüber bzw. man gibt es für etwas anderes aus.«); zu diesem Typ gehören Tabus im Bereich Politik und Wirtschaft, zum Beispiel ›Spenden‹ statt ›Schmiergeld‹, ›Operation‹ statt ›Krieg‹.«34 Auch hier wird wieder der Handlungsaspekt von Sprache sichtbar, nicht nur die Kommunikation und der Sprechakt selbst sind hier von Bedeutung, sondern unmittelbare Handlungen in anderen Bereichen der sozialen Praxis. Als Strategien im Umgang mit Tabuthemen benennt Günther zum einen das Entziehen des Gesprächs durch Abbruch oder räumliche Distanz, und zum anderen das Sprechen über Tabuthemen in unterschiedlichen Graden der Explizitheit, vom Hinweis auf das Tabuthema über Verschleierungen bis hin zur offenen Besprechung.35 Die Sprachwissenschaftlerin Christel Balle beschreibt das Verhältnis von Sprachtabus und deren Umschreibungen treffend als die zwei Seiten einer »Tabu-Medaille«, denn erst durch die Abschwächung der Sprachtabus, zum Beispiel in Form von Euphemismen, werde es möglich, ohne Verletzung der sozialen Normen über Tabuthemen zu sprechen.36 Wie eingangs erwähnt, ergeben sich im interkulturellen Kontext Schwierigkeiten mit Sprachtabus, da die Gesprächspartner anfangs nicht einschätzen können, was sagbar und was nicht oder nur auf besondere Weise sagbar ist.37 Als Außenstehender ergibt sich jedoch auch die Chance, diese Sprachtabus leichter zu erkennen, da man durch Brechen der Tabus bzw. durch inadäquate Ausdrücke auf sie aufmerksam wird.38 33 Ebd., S. 4. 34 Ebd. 35 Vgl. U. Günther, »Und aso das isch gar need es Tabu bi üs, nei, überhaupt need« – Sprachliche Strategien bei Phone-in-Sendungen am Radio zu tabuisierten Themen (Fn. 29), S. 48 f. 36 Vgl. C. Balle, Tabus in der Sprache, Frankfurt/M. [u. a.]: Peter Lang 1990, S. 177. 37 Vgl. H. Schröder, »Semiotisch-rhetorische Aspekte von Sprachtabus«, in: Erikoiskielet ja käännösteroia, Nr. 25, VAKKI:njulkaisut: Vaasa 1999, S. 21 (URL: http://www.kuwi.europa-uni.de/de/lehrstuhl/sw/sw2/forschung/ tabu/weterfuehrende_informationen/artikel_zur_tabuforschung/semiot-rheto.pdf (abgerufen 20.07.2015)). 38 Vgl. H. Schröder, »Interkulturelle Tabuforschung und Deutsch als Fremdsprache«, in: Deutsch als Fremdsprache, Heft 4/1998, S. 5 (URL: http://www.kuwi.europa-uni.de/de/lehrstuhl/sw/sw2/forschung/tabu/
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ÜBER DEN SPRACHLICHEN UMGANG MIT TABUTHEMEN
Damit schließt sich der methodische Kreis zum ersten Teil und ich komme im Folgenden zur Analyse der Interviewausschnitte, in denen durch die Verwendung von verschiedenen sprachlichen Codes Sprachtabus kommuniziert werden.39
3. Der sprachliche Umgang mit politisch begründeten Tabuthemen in Tunesien Wie im letzten Abschnitt erläutert, werde ich nun anhand einiger Ausdrücke zu politisch motivierten Tabuthemen aus dem vorrevolutionären Tunesien zeigen, wie auf unterschiedliche Art und Weise Tabuthemen kommunizierbar werden. Diese möchte ich jeweils aus dem Sprechkontext heraus erklären. Zunächst erläutere ich jedoch den Kontext der Gesprächssituation im Interview. Das Interview, das mir für meine Analyse als Textkorpus dient, zeichnete ich im Juni 2011 auf. In diesem mehr als dreistündigen Gespräch bat ich meine Interviewpartnerin, mir ihre Lebensgeschichte zu erzählen. Die hier verwendeten kurzen Ausschnitte wählte ich ursprünglich zur Feinanalyse aus, da sie sich von der gesamten Präsentationsstruktur der erzählten Lebensgeschichte als Erfolgsverlauf mit unzähligen positiv dargestellten Erinnerungen an den Studien- und Arbeitsalltag absetzen, denn in diesen Ausschnitten werden Unrechtserfahrungen mit dem Regime vor allem unter Bourguiba bzw. aus der Zeit des Amtswechsels an Ben Ali thematisiert. Diese Episoden des Scheiterns werden dann durch auffällige Argumentationen wieder in Richtung der Erfolgsgeschichte ausgerichtet, worauf ich hier aber nicht weiter eingehen kann. Passend für diese Arbeit ist vielmehr, dass die Interviewpartnerin in den Ausschnitten zahlreiche Auslassungen, Andeutungen und Umschreibungen formuliert, welche sich auf das politische System beziehen. Die Gesprächspartnerin stammt aus dem Süden Tunesiens, ist mittleren Alters und als Grundschullehrerin angestellt im öffentlichen Dienst. Dass sie in der Hauptstadt Tunis Klassisches Arabisch studierte, einige Zeit auch im Nahen Osten unterrichtete und sich das Thema der Ausschnitte vor allem mit dem öffentlichen Bereich der Arbeits- und Verwaltungswelt beschäftigt, könnte ihre zum Teil nicht südtunesisch-dialektalen weterfuehrende_informationen/artikel_zur_tabuforschung/tabu_artikel_1998.pdf (abgerufen 20.07.2015)). 39 Ich möchte an dieser Stelle allen tunesischen Verwandten, Freunden und Bekannten sowie Studenten und Kollegen danken, die geduldig meine Tabuübertretungen ertragen haben, ohne mir böse zu werden, und die nicht müde wurden, immer wieder mit mir die Besonderheiten des Tunesischen zu klären und zu diskutieren.
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Ausdrücke erklären. Zudem wird der Umstand, dass ich selbst weder Tunesierin noch Muttersprachlerin bin und häufig Ausdrücke aus dem Standardarabischen oder dem nordtunesischen Dialekt verwende, bei ihrer Sprachwahl eine Rolle gespielt haben. Innerhalb der Gesprächssituation eines narrativen Interviews ergeben sich besondere »Zugzwänge des Erzählens«, welche die Sprechenden zu Ausführungen veranlassen, die anfangs nicht beabsichtigt waren, etwa um den Gesamtzusammenhang zu verdeutlichen oder die Hintergründe des erzählten Geschehens für die Zuhörer plausibel zu erklären. 40 Deshalb gehe ich davon aus, dass meine Gesprächspartnerin bestimmte Sprachtabus nur deshalb ausformulierte, damit für mich als Außenstehende der community of practice ihre Erzählung nachvollziehbarer wurde. So wird an einer Interviewstelle (Zeile 16) besonders offensichtlich, dass sie aus meiner Person schließt, dass ich wenig oder gar nicht mit dem Gesamtkontext vertraut bin, was die eingeschobenen Erläuterungen erklärt. Schließlich können auch meine Reaktionen Einfluss genommen haben, denn obwohl ich in diesen Abschnitten kaum Zwischenfragen stellte, mag meine Mimik doch Unverständnis angedeutet haben, einige der offensichtlichen Auslassungen bezüglich der Tabuthemen konnte ich nicht unmittelbar mit Sinn füllen. Erst später bei der Analyse des aufgezeichneten Textes wurde für mich der Sinn klarer. Das Interview fand im Eingangsbereich des Hauses der Gesprächspartnerin in einer Art offenem Esszimmer statt. Meist waren wir ungestört, doch manchmal kamen die Kinder dazu, um ihre Mutter um etwas zu bitten oder um uns mit Süßigkeiten und Tee zu bewirten, dabei nahm meine Gesprächspartnerin die Rolle der Gastgeberin und ich die des Gastes ein. Das Interview erfolgte somit im Raum der Alltagskommunikation, das heißt der einfachen Öffentlichkeit, wir waren uns jedoch bewusst, dass die erzählte Lebensgeschichte – auch wenn sie anonymisiert werden würde – einen Teil meines Dissertationsprojektes darstellen soll. Dadurch erweiterte sich nicht nur der angenommene Zuhörerkreis, auch die Rollen zwischen Interviewerin und Interviewter waren ausdifferenziert und klar verteilt. Allein die Aufzeichnung des Gespräches veränderte den Grad der Öffentlichkeit. So erwartete meine Gesprächspartnerin beispielsweise, dass ich das Aufnahmegerät abschalte, damit sie mit ihrem Sohn sprechen konnte. In Anlehnung an Voronkov würde ich auch im tunesisch-autoritären, durch die Regime Bourguibas und Ben Alis geprägten Kontext davon ausgehen, dass es zwei parallele Kommunikationsräume der community of practice gab: zum einen den Raum, der das Regime und seine Errungenschaften glorifizierenden Öffentlichkeit, das Tunesien, welches 40 Vgl. G. Rosenthal, Interpretative Sozialforschung. Eine Einführung, Weinheim/ München: Juventa Verlag 2008, S. 141 f.
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ÜBER DEN SPRACHLICHEN UMGANG MIT TABUTHEMEN
als einziges muslimisches Land, die Gleichstellung der Frau gewährleistet, das sich allen Menschenrechtskonventionen verpflichtete, das moderne Tunesien, und zum anderen den Raum einer zweiten Öffentlichkeit. Hiermit meine ich weniger die subversive Öffentlichkeit der Regimegegner unterschiedlicher politischer Ausrichtungen, sondern eher die, in der zum Beispiel über die Existenz von Regimegegnern gesprochen werden durfte. In dieser Sphäre konnten die Probleme des realen Lebens in Tunesien, wie etwa Arbeitslosigkeit, Kriminalität, Unterdrückung von Frauen, Regionalismus, nationale Minoritäten oder Korruption, Vettern- und Günstlingswirtschaft, um nur einige Probleme zu nennen, thematisiert werden. Als Ausländer erhielt man in Tunesien nur selten oder bruchstückhaft Einblick in diese ›andere Öffentlichkeit‹. Internationale politische und touristische Räume bildeten quasi ›Pufferzonen‹ für Ausländer. Lebte man jedoch in Tunesien unter Tunesiern und sprach das dialektale Tunesisch wurde man schnell mit der Sphäre der inoffiziellen Öffentlichkeit dieser community of practice konfrontiert. Ein Schlüsselerlebnis zwischen mir und meiner Interviewpartnerin war diesbezüglich, dass ich sie im Vorab – noch 2010 vor dem Volksaufstand – bat, so wenig wie möglich Personen von unseren geplanten Interviews zu erzählen, damit ich in meiner Forschungsarbeit von der Einflussnahme des Regimes verschont bleibe, worauf sie dankend einging. Zudem fanden die Interviews wie oben beschrieben tatsächlich erst nach dem Volksaufstand in Tunesien statt und man kann somit davon ausgehen, dass die Gesprächspartnerin frei von Existenzängsten sprechen konnte. Man darf jedoch nicht außer Acht lassen, dass das Regime Ben Alis noch nicht lange des Amtes enthoben war und Tunesien sich in einer äußerst unsicheren Zeit befand, sodass sich trotz aller Freiheit noch keine Gewöhnung an die neuen Umstände eingestellt hatte oder gar eine Gewissheit bestand, dass die neuen freiheitlichen Bedingungen Bestand haben würden. Hinzu kam die hohe Brisanz der angesprochenen Themen in den hier vorgestellten Ausschnitten, welche in der ehemals offiziellen Öffentlichkeit, über die die Interviewpartnerin spricht, teils mittels von ihr erinnerter direkter Rede der Beteiligten, tabu waren. Aus diesem Kontext ergibt sich der spezifische Erzählstil meiner Gesprächspartnerin mit seiner Mischung aus offiziellem Hocharabisch, offiziellerem Hauptstadtdialekt und familiärem südtunesischem Dialekt sowie seinem charakteristischen Umgang mit den Tabuthemen. Ich werde im Folgenden zunächst die Teile der Interviewausschnitte in ihrem engeren Erzählkontext vorstellen, da ich mich in der Analyse nur noch auf einzelne Worte oder Sequenzen beziehe. Ebenfalls aus Gründen der besseren Lesbarkeit nummeriere ich die Zeilen der beiden Ausschnitte fortlaufend, auch wenn sie aus unterschiedlichen Teilen des Interviews stammen. 109
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Im ersten kurzen Ausschnitt stellt die Gesprächspartnerin ihre Erinnerungen an ihre Studienzeit und die nicht erfolgreiche Teilnahme an einem staatlichen Auswahlverfahren für Grundschullehrer dar. Sie thematisiert dabei die Manipulation der Vergabelisten sowie die Vetternwirtschaft im Tunesien unter Bourguiba: […]
[…]
5.50 min:
5.50 min:
1
früher war das so dass,
huwa qabl haḏāka mā,
2
gleichzeitig, als ich mich immatrikulieren gegangen bin,
fī nafs al-waqt, waqtilī mšīt nitrassim
3
gab es ein Auswahlverfahren für Grundschullehrer,
famma mnāẓra mtāʿ l-mʿallmīn,
4
und das gab es schon damals
ū huwa min qabl mawǧūd
5
diese Geschichten
hakka l-ḥakāyāt
6
diese Beziehungen
hakka l-aktāf
7
und das alles,
ū l-kull,
8
diese Leute,
fulān ū fultān,
9
und ich habe daran teilgenommen und,
ū tʿaddīt fīhā ū,
10
aber bin nicht genommen worden,
ammā mā nǧaḥtiš,
11
die Liste war schon von vorn herein fertig,
l-qāyma mḥaḍḍrīnhā ḥāḍra qbal,
12
das heißt darauf waren die Lehrer die sie brauchten,
maʿnāhā ʿalāhā l-mʿallmīn illī ḥāǧthum bīhum,
13
ich habe dabei nicht bestanden […]
mā nǧaḥtiš fīhā […]
Der zweite kurze Abschnitt ist Teil einer sehr ausführlichen und emotionalen Erzählung, in der sehr oft ein direkter Gegenwartsbezug geäußert wird. Die Erzählung behandelt die Zeit ihrer Referendariatsjahre an einem Gymnasium in der Umbruchszeit zwischen der Regierungszeit Bourguibas und der Ben Alis. Unstimmigkeiten mit den Verantwortlichen über ihren Entschluss, ein Kopftuch zu tragen, so scheint es, führen letztendlich zum Verlust ihrer Arbeitsstelle. […]
[…]
9.39 min:
9.39 min:
14
in der Sekundarstufe diese,
fī t-taʿlīm aṯ-ṯanawī l-hāka,
15
da geschahen diese Ereignisse, von Bourguiba,
ṣārat l-hāka l-aḥdāṯ, mtāʿ l-būrgība,
16
du warst ja damals noch, zu klein
inti waqthā ʿād mā ziltī, ṣġīra,
9.44 min: (Interviewerin: in welchem Jahr)
9.44 min: (fī āna ʿām)
9.47 min:
9.39 min:
die letzten Jahre der Herrschaft Bourguibas, 87,
awāḫir l-ḥukm būrgība, 87,
18
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ÜBER DEN SPRACHLICHEN UMGANG MIT TABUTHEMEN
19
als bei uns der Eine weggenommen wurde,
illī tnaḥḥīt ʿandnā l-wāḥid,
20
da wurde mir auch die Arbeit weggenommen,
tnaḥḥīt ʿalayya l-ḫidma,
21
87 oder 86, Ende 86 vielleicht (…)
87 willa 86, āḫir 86 yumkin (…)
22
nein, nein, sie wurde mir 87 weggenommen
lā lā, tnaḥḥīt 87,
23
ich habe Ahmed und Ali,
ʿandī aḥmad ū ʿalī,
24
damals wegen dieses (…!)
waqthā ʿalā l-haḏī (…!)
25
wegen des Schleiers
ʿalā l-ḥiǧāb
10.15 min:
10.15 min:
26
das erste Jahr unterrichtete ich
l-ʿām l-awwal qarrīt
27
und ich habe – nicht getragen in der Sekundarstufe,
miš lābsa fī ṯ-ṯanawī,
28
das zweite Jahr habe ich – getragen,
l-ʿām aṯ-ṯānī lbist,
29
das zweite Jahr habe ich – getragen und das war’s
l-ʿām aṯ-ṯānī lbist ū hakka haw (…)
(…) 30
sie riefen mich sogar zum Regionaldirektor und
nādūnī ḥattā l-mudīr l-ǧahawī ū l-kull,
das alles, 31
und, er sagte, warum hast du - nicht getragen
ū, qālī kīfāš inti kuntī miš lābsa
32
und wie trägst du - und wie (…)
ū kīfāš lbistī ū kīfaš (…)
33
in dieser Zeit dieser Druck von Bourguiba,
mʿā l-waqt l-hāka l-ḍaġuṭāt mtāʿ l-būrgība,
34
das heißt denjenigen den sie beim - Tragen erwischen
maʿnāhā illī yilqūh lābis ṭūl lī (…)
35
den werden sie sofort - (…)
36
Bourguiba, und nach einer Weile naja da,
būrgība, ū baʿd mudda ʿād,
37
hat der da übernommen, Ezzin (…)
šād haḏāka, Ezzīn (…)
38
ja also, das war’s,
mahu, hakka haw,
39
ich habe - nicht abgenommen
mā naḥḥītiš
40
und danach habe ich – ein bisschen geändert […]
ū baʿd tālī baddilt šwayya […]
und etwas später […]
[…]
12.56 min:
12.56 min:
41
das heißt das Spiel haben mit mir der
maʿnāhā l-laʿba laʿbūhā lī
42
Direktor und der Inspektor gespielt,
l-mudīr ū l- mutfaqqad,
43
untereinander,
min fam l-fam,
44
weiß Gott was sie erzählt haben,
yaʿlamu llah šnuwwa qālū,
45
vielleicht dass sie Aktivitäten hat,
rubbamā ʿandhā našāṭ hādī,
46
– Trägerin und so was und sie hat so was gemacht (…)
lābsa ū kadā ū ʿamlat hakka (…)
47
und sie haben ein schlechtes Bild von mir gezeich-
ū ʿamlū lī maʿnāhā ṣūra ḫāyba mumkin […]
net vielleicht […]
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INA KHIARI-LOCH
Schon beim ersten Durchlesen der Ausschnitte fallen spezielle Codes und Auslassungen auf. Im nächsten Schritt, möchte ich die, die politisch motivierte Sprachtabus implizieren, einzeln herausfiltern und untersuchen. Dabei gehe ich zuerst auf die sprachlichen Ersatzmittel und danach auf die Auslassungen oder Null-Euphemismen ein.
3.1 Sprachliche Ersatzmittel In Anlehnung an verschiedene linguistische Arbeiten41 konnte ich in den oben vorgestellten Interviewausschnitten eine Reihe von unterschiedlichen sprachlichen Ersatzmitteln identifizieren, wie a) stellvertretende Pronomina, b) andere Proformen, c) Metaphern und spezielle Code-Wörter, d) satzhafte Umschreibungen sowie e) ein Hypokoristikum. a) Stellvertretende Pronomina Stellvertretende Pronomina, wie hier Personal-, Demonstrativ- und Indefinitpronomen, gelten als geeignete Ersatzformen, mit denen die Verwendung bestimmter Wörter vermieden und in der Vagheit gelassen werden kann. Dadurch wird ein breites Wirkungsspektrum eröffnet und der Sprecher kann sich notfalls auf für ihn günstige Interpretationen berufen. Trotzdem wird die intendierte Sprechabsicht in der betreffenden community of practice über das geteilte Repertoire und Wissen ihre Wirkung erzielen. In den Interviewausschnitten fallen diesbezüglich ›l-wāḥid‹ (›der Eine‹, Zeile 19), ›fulān ū fultān‹ (›diese Leute‹, Zeile 8) und ›ū l-kull‹ (›und das alles‹, Zeilen 7 und 30) auf. Über diese Ersatzformen wurden die Tabuthemen des Machtanspruchs der Präsidenten, der Machtübernahme Ben Alis, der Klientelpolitik und Ämterpatronage sowie der erniedrigenden Sanktionierungsmaßnahmen von offizieller Seite kommuniziert. ›l-wāḥid‹ (Zeile 19) als ›der Eine‹ nimmt im Text ausdrücklich Bezug auf den Präsidenten Bourguiba, impliziert aber zugleich, dass es noch 41 Ich beziehe mich hier auf den Artikel von H. Schröder, »Semiotisch-rhetorische Aspekte von Sprachtabus«, in: Erikoiskielet ja käännösteroia (Fn. 37), S. 13–14 und das Buch von C. Balle, Tabus in der Sprache (Fn. 36), S. 171–181. Schröder verweist dort auf die Arbeiten vom S. Luchtenberg (Euphemismen im heutigen Deutsch. Mit einem Beitrag zu Deutsch als Fremdsprache, Frankfurt/M.: Peter Lang 1985), W. Havers, (Neuere Literatur zum Sprachtabu, Wien: Rudolf M. Rohrer 1946) und U. Günther (»Und aso das isch gar need es Tabu bi üs, nei, überhaupt need« – Sprachliche Strategien bei Phone-in-Sendungen am Radio zu tabuisierten Themen (Fn. 29)). Balle verwendet die Arbeiten von H. Havers (s.o.), H. Werner (Die Ursprünge der Metapher, Leipzig: Engelmann 1919) und M. Adler (Naming and meaning, Hamburg: Buske 1978).
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ÜBER DEN SPRACHLICHEN UMGANG MIT TABUTHEMEN
einen Zweiten, einen Anderen, geben muss, denn der Eine war weg und nun muss ein Nächster folgen. Das heißt, dass auch der zweite tunesische Präsident Ben Ali implizit erwähnt wird. Dass hier auch Kritik am zweiten Präsidenten und dessen Machtübernahme geübt wird, wird auch durch die Passivkonstruktion deutlich. In ›illī tnaḥḥīt ʿandnā l-wāḥid‹ (›als bei uns der Eine weggenommen wurde‹) wird der Agens nicht genannt. Das Thema Machtwechsel zu Ben Ali wird in Tunesien bis auf eine offizielle Kurzversion von Bourguibas Rücktritt aus Altersgründen nicht besprochen und ist ein klassisches Tabuthema. Ich gehe ausführlicher noch im folgenden Abschnitt darauf ein. Klar wird hier auch, dass dieses ›Wegnehmen oder Entfernen des Einen‹ ohne eine von der Gesprächspartnerin empfundene Teilnahme des Volkes stattfand, denn ›der Eine wurde bei uns weggenommen‹, schließt eine Beteiligung des ›wir‹ aus. Die Bevölkerung war hier nur Zuschauer. ›fulān ū fultān‹ (Zeile 8), im Interview übersetzt mit ›diese Leute‹, bezieht sich auf die vorhergehende Textstelle, ›diese Beziehungen und das alles‹, welche selbst ebenfalls nur eine Andeutung darstellt. Wortwörtlich übersetzt als ›Herr soundso und Herr sowieso‹ wird hier auf solche Personen angespielt, die Beziehungen haben. ›Herr soundso‹ wurde von ›Herrn sowieso‹ auf die Grundschullehrervergabelisten des Ministeriums gesetzt. Hier wird auf die Klientelpolitik und die Ämterpatronage angespielt, die negativ beurteilt werden. Zugleich kommt hier ein Ohnmachtsgefühl der Gesprächspartnerin zum Ausdruck, da sie eben nicht zum erlauchten Kreis ›dieser Leute‹ gehört und somit gesellschaftlich ausgeschlossen wird. Als letztes Beispiel möchte ich auf den Ausdruck ›ū l-kull‹ (›und das alles‹), der in diesen kurzen Ausschnitten gleich zweimal in Zeile 7 und Zeile 30 Verwendung findet, eingehen. In Zeile 7 ist ›und das alles‹ Nachtrag für die Proformen ›diese Geschichten, diese Beziehungen‹ und verweist auf das gemeinschaftsinterne Wissen über die Situation und den Kontext ›dieser Geschichten, dieser Beziehungen‹, der wie oben schon angedeutet ein gesellschaftliches Ausschlussverwahren beinhaltet. Es gibt diejenigen, die Beziehungen haben, und diejenigen, die außen vor bleiben; das bedeutet eine Aufspaltung der Gesellschaft in Regimeanhänger und andere, mit allen Konsequenzen, wie Ausschluss und Verfolgung, sprich das Sanktionierungsprogramm des autoritären Regimes. In Zeile 30 bezieht sich ›und das alles‹ auf ›sie riefen mich sogar zum Regionaldirektor‹. Es verweist also auf das Wissen darüber, was es heißt, in der Situation des unerwünschten Tragens eines Kopftuchs zum Regionaldirektor gerufen zu werden. Angedeutet wird hier eine Art Weg zum Schafott, durch unangenehme Fragen, Verdächtigungen und Anfeindungen, Beschimpfungen und Demütigungen durch die Blicke der Kollegen sowie die Angst um die Konsequenzen, wie den Verlust der Arbeitsstelle, den 113
INA KHIARI-LOCH
Ruf, der einen sein Leben lang anheften wird, oder die Erniedrigung, die man empfindet, wenn man aus Angst nachgibt. b) Andere Proformen Proformen ähneln den Pronomen, da sie andere Ausdrücke ersetzen. Sie können jedoch in Form von Wörtern und Wortverbindungen auftreten. Auch sie verweisen auf Überthemen und gemeinschaftsinternes Repertoire. Im Interviewauszug treten wegen ihrer politischen Brisanz die Proformen ›hakka l-ḥakāyāt‹ (›diese Geschichten‹, Zeile 5), ›hakka l-aktāf‹ (›diese Beziehungen‹, Zeile 6), diese möchte ich aber als Metapher im Kapitel c) untersuchen, ›l-hāka l-aḥdāṯ, mtāʿ l-būrgība‹ (›diese Ereignisse, von Bourguiba‹, Zeile 15), und ›l-hāka l-ḍaġuṭāt mtāʿ l-būrgība‹ (›dieser Druck von Bourguiba‹, Zeile 33) hervor. Diese spielen auf die Tabuthemen der rigiden Verfolgung von Islamisten und des Sympathisierens mit der islamistischen Oppositionsbewegung am Ende der Amtszeit Bourguibas an, über die man selbst in der ›inoffiziellen, anderen Öffentlichkeit‹ und hinter vorgehaltener Hand nur wenig hörte. Der Ausdruck ›hakka l-ḥakāyāt‹ (Zeile 5), auf Deutsch ›diese Geschichten‹, bezieht sich im Interview auf die nachfolgenden Sequenzen, das heißt auf die Geschehnisse am Ende der Amtszeit Bourguibas. Man könnte auch schon hier argumentieren, dass auf mehrere Versionen der Geschichte angespielt wird, da das Wort Geschichte im Plural gebraucht wird. Was die Interviewpartnerin andeutet, wird in der nächsten Proform ›l-hāka l-aḥdāṯ, mtāʿ l-būrg�ba‹ (Zeile 15), zu übersetzen als ›diese Ereignisse, von Bourguiba‹ deutlicher. Dieser Ausdruck verweist im Text auf das Thema des Kopftuchtragens und den damit verbundenen Verlust ihrer Arbeitsstelle. Es geht also um die rigorose Verfolgung der islamistischen Bewegung in Tunesien zum Ende der Amtszeit Bourguibas. Die letzte Proform ›l-hāka l-ḍaġuṭāt mtāʿ l-būrgība‹ (Zeile 33), das heißt ›dieser Druck von Bourguiba‹, beschreibt die Geschehnisse nun expliziter als Druck, dem die Bevölkerung damals ausgesetzt war. Seitens des Regimes herrschte keinerlei Toleranz gegenüber Islamisten und gegenüber der einfachen Bevölkerung wurden Exempel statuiert, durch die diese Einstellung des Regimes der Bevölkerung mehr als deutlich gemacht werden sollte. Es herrschte eine Atmosphäre der Abschreckung, in der jeder verdächtig war, der nicht allen vom Regime vertretenen Werten und Zielen bedingungslos folgte. Somit beziehen sich diese drei Proformen auf den gleichen Kontext, ob als ›Geschichten‹, ›Ereignisse‹ oder ›Druck‹. Zudem zeigen sie deutlich, dass die Gesprächspartnerin hier das Terrain eines Tabuthemas betritt. Wie oben schon erwähnt, wundert mich, wie wenig man von offizieller Seite in Tunesien über den Regierungswechsel zwischen Bourguiba und 114
ÜBER DEN SPRACHLICHEN UMGANG MIT TABUTHEMEN
Ben Ali erfährt, auch noch heute nach dem Volksaufstand. Verlautbar wird seit nunmehr fast 30 Jahren nur, dass Bourguiba aus Altersgründen vom Präsidentenamt zurücktreten musste und Ben Ali übernahm. Das ist auch die offizielle Version, welche den Kindern in der Schule vermittelt wird. Je nach sozialem Umfeld gelangen die Jugendlichen oder Erwachsenen dann an inoffizielle Versionen von der Amtsübergabe. Natürlich eröffnen sich somit Möglichkeiten für zahlreiche Spekulationen je nach politischer Ausrichtung und politischen Zielen. Eine offizielle Aufarbeitung der Ereignisse fand meines Erachtens bis heute nicht statt oder wird nicht verlautbart. c) Metaphern und spezielle Code-Wörter In diesem Abschnitt möchte ich auf zwei Metaphern und zwei weitere spezielle Ausdrücke eingehen. ›hakka l-aktāf‹ (›diese Beziehungen‹, Zeile 6) und ›l-laʿba‹ (›das Spiel‹, Zeile 41) stellen typische Metaphern dar, welche ein Bild verwenden, um in diesem Fall bestimmte Sprachtabus aus einem anderen Bedeutungszusammenhang heraus zu umschreiben. Der Ausdruck ›našāṭ‹ (›Aktivitäten‹, Zeile 45) ist hingegen weniger eine Metapher, sondern eher eine Verbindung von Auslassung und Proform, trotzdem möchte ich ihn an dieser Stelle als spezielles Code-Wort untersuchen. Ähnlich verhält es sich mit ›ṣūra ḫāyba‹ (›ein schlechtes Bild‹, Zeile 47), das ich als eine Metapher und Proform zugleich beschreiben würde. Alle hier untersuchten Ausdrücke kommunizieren wie schon in den letzten Abschnitten die Tabuthemen: Klientelpolitik, Ämterpatronage und Nepotismus, die Willkür der Offiziellen im Umgang mit der Bevölkerung sowie ein Sympathisieren mit der islamistischen Bewegung. ›hakka l-aktāf‹ (Zeile 6) wurde im Interviewtext als ›diese Beziehungen‹ übersetzt, wortwörtlich bedeutet es aber ›diese Schultern‹. Als Bild verbindet man mit dem Ausdruck ›er hat Schultern‹ einen Menschen mit breiten Schultern, der als stark oder mächtig empfunden wird. Die Bedeutung der Metapher ist jedoch anders als im Deutschen. Jemand ›mit Schultern‹ bedeutet auf Tunesisch, dass derjenige erfolgreich ist, da er Beziehungen hat bzw. sich auf jemanden stützen kann. Vielleicht kommt der Ausdruck auch aus dem modernen Hocharabischen, wo ›katf‹ nicht nur ›Schulter‹, sondern auch ›Stütze‹ bedeuten kann.42 Dabei hat der Ausdruck auf der tunesischen Bedeutungsebene sowohl einen positiven als auch einen negativen Anklang. Wenn jemand ›yūṣal kān bi-l-aktāf‹, das 42 Vgl. Langenscheidt Taschenwörterbuch Arabisch, Berlin: Langenscheidt 1998, S. 362: »Schulter […]; Stützpfeiler« oder H. Wehr, Arabisches Wörterbuch für die Schriftsprache der Gegenwart, Lizenzausgabe, Beirut: Librairie du Liban 1976, S. 725: »Schulter […] Auflager e-r Brücke« bzw. ebd. zum 6. Verbalstamm: »Schulter an Schulter stehen; einander stützen; solidarisch zusammenhalten, zusammenstehen«.
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heißt, ›etwas nur mit Schultern erreicht‹, dann konnte er es nicht durch eigene Fähigkeiten erlangen, sondern nur durch die Unterstützung anderer. In einem durch Klientelpolitik, Ämterpatronage und Nepotismus geprägten Staat schließt das auch die Unterstützung von Regimegünstlingen, Verwandten und Bekannten ein, die sich Eigentum, beliebte Posten und anderes erschlichen und im Gegenzug diejenigen, die keine ›Beziehungen‹ hatten, ausschlossen und blockierten. So sind zum Beispiel die Unzufriedenheit und Hoffnungslosigkeit der Tunesier, die letztendlich einer der Gründe waren, die zum Volksaufstand von 2010/2011 führten, dieser Situation geschuldet. Die zweite Metapher ›l-laʿba‹ in Zeile 41, auf Deutsch ›das Spiel‹, ist eine in vielen Sprachen gern verwendete Metapher, deren Übersetzung keine Schwierigkeiten bereitet. Sie verkehrt mittels Ironie eine ernste Situation ins Gegenteil, um etwa die Unerträglichkeit der Geschehnisse abzumildern bzw. zu vermitteln, dass es für die Verantwortlichen nicht wichtig gewesen sei, dass sie das Leben anderer zerstörten. Im Interviewausschnitt bezieht sich ›das Spiel‹ auf die vermuteten Verdächtigungen und Anschuldigungen, welche die Gesprächspartnerin den Verantwortlichen zuschreibt. Diese führten unmittelbar zum Verlust ihrer Arbeitsstelle. Auf welche Verdächtigungen hier genau angespielt wird, kommt im dritten Code-Wort ›našāṭ‹ in Zeile 45, übersetzt als ›Aktivitäten‹, zum Ausdruck. Diese ›Aktivitäten‹ werden im folgenden Interviewtext näher als das Tragen eines Kopftuches (›-Trägerin‹) und sehr vage als bestimmte Handlungen (›sie hat so was gemacht‹) beschrieben. Es handelt sich hier um den Verweis auf bestimmte, verbotene bzw. tabuisierte politische Aktivitäten, genauer bestimmt als vermeintlich islamistische Handlungen. Diese wurden, wie schon oben näher ausgeführt, von der damaligen Staatsmacht als oppositionelle Angriffe gegen das Regime gewertet und daher strikt verboten und verfolgt. All diese Verdächtigungen führten dazu, dass ›ein schlechtes Bild‹ von der Gesprächspartnerin gezeichnet worden sein soll, worauf der Ausdruck ›ṣūra ḫāyba‹ in Zeile 47 anspielt. Dieser Ausdruck beweist noch einmal, dass alles, was die Gesprächspartnerin tat und die Verantwortlichen über sie weitergaben, schlechte, das heißt negative Zuschreibungen beinhaltet, was zudem von der Interviewpartnerin als ungerecht empfunden wurde und wird. Letztere wirft den damaligen Verantwortlichen vor, nicht nur leichtfertig (›das Spiel‹) gehandelt zu haben, sondern auch ungerechtfertigt, ungerecht oder mit unlauteren Mitteln, denn es wird nur als ›ein Bild‹ und nicht als die Wahrheit dargestellt. Somit rechtfertigt sie auch ihr eigenes Verhalten.
116
ÜBER DEN SPRACHLICHEN UMGANG MIT TABUTHEMEN
d) Satzhafte Umschreibungen Umschreibende Relativsätze oder Wunschformeln, die oft aus dem religiösen Bereich stammen, werden satzhafte Umschreibungen genannt. Auch sie können dazu dienen, Sprachtabus zu umgehen. Im Interviewausschnitt fand ich drei solcher Formen: ›yaʿlamu llah‹ (›weiß Gott‹, Zeile 44), ›illī ḥāǧthum bīhum‹ (›die sie brauchten‹, Zeile 12) und ›illī yilqūh lābis ṭūl lī‹ (›denjenigen den sie beim – Tragen erwischen, den werden sie sofort – ‹, Zeile 34). Letztere Umschreibung ist jedoch von zwei Null-Euphemismen durchsetzt, sodass ich sie in Kapitel 3.2 untersuchen werde. Die ersten beiden Umschreibungen deuten wie schon oben die Tabuthemen der Willkür von offizieller Seite, der Klientelpolitik und Ämterpatronage sowie in gewissem Maß auch der Korruption im Land an, die man lediglich hinter vorgehaltener Hand in der inoffiziellen Öffentlichkeit ansprechen durfte. In Zeile 44 findet sich die religiöse Formel ›yaʿlamu llah‹, übersetzt als ›weiß Gott‹ oder ›Gott weiß‹. Sie drückt aus, dass die Gesprächspartnerin nicht weiß, wie die Verantwortlichen hinter ihrem Rücken agierten, als sie ›ihr Spiel spielten‹. Wie der weitere Verlauf des Interviews, der hier nicht mehr dargestellt werden konnte, zeigt, hat die Interviewpartnerin alles versucht, um Einsicht in die Protokolle des Ministeriums zu erlangen und an eine offizielle Begründung für ihr Scheitern bei der Übernahme in den Staatsdienst zu kommen, vergebens. Bis heute konnte sie nichts in Erfahrung bringen, da keine Beweise existieren und die Akten im Bildungsministerium nicht herausgegeben werden bzw. nicht mehr auffindbar sind. Somit spielt sie auch auf die ihr unbekannten, nicht nachvollziehbaren sowie als willkürlich empfundenen Entscheidungen des Regimes an und auf die Tatsache, dass der Normalbürger keinen Einfluss auf die Machenschaften des Regimes und seiner Günstlinge hatte. Vielmehr entscheiden ›diese Leute‹ ›untereinander‹, wer in den Genuss ihrer Unterstützung kommt und wer nicht. Ein Normalbürger kann sich zudem nicht wehren, da sich ›diese Leute‹ gegenseitig helfen, indem Beweise verschwinden oder unter Verschluss gehalten werden. Eine moralische Genugtuung bleibt ihr jedoch: Da Gott weiß, kann sie weiterhin auf eine Vergeltung durch eine himmlische Instanz hoffen. Der Relativsatz ›illī ḥāǧthum bīhum‹ in Zeile 12, übersetzt als ›die sie brauchten‹, verweist ebenfalls auf die Machenschaften des Regimes. ›sie‹ steht stellvertretend eindeutig für das Regime. Diejenigen, ›die sie brauchen‹, kann man jedoch auf zweierlei Weise lesen: zum einen als diejenigen, die den Zielen des Regimes dienen, weil sie zum Beispiel die Grundschüler in ihrem Sinne erziehen, und zum anderen als diejenigen, die Beziehungen haben oder eventuell Schmiergelder gezahlt haben. Sie sind dem Regime in beiden Fällen von Nutzen und es zudem wert, gefördert und unterstützt zu werden. Somit findet sich hier sowohl eine 117
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Anspielung auf die Ämterpatronage und die Korruption im Land, als auch auf den Einfluss des Regimes auf alle Bereiche der Gesellschaft. Nur derjenige kann etwas erreichen, der im Sinne des Regimes und seiner Günstlinge handelt. e) Hypokoristikum Die linguistische Bezeichnung für Kurz- oder Kosenamen ist Hypokoristika. Als solche haben sie einen inoffiziellen, familiären, verniedlichenden, positiven Charakter. Das in Zeile 37 gebrauchte Hypokoristikum ›Ezzīn‹ bezieht sich auf den zweiten tunesischen Präsidenten Zine al-Abidine Ben Ali, dessen Vorname auf ›Ezzīn‹ abgekürzt wurde. Dieser Spitzname wurde in der tunesischen Gesellschaft gern verwendet und entwickelte sich so selbst zum Tabuwort, es wurde nur noch gebraucht, wenn man hinter vorgehaltener Hand über das Staatsoberhaupt sprach. Egal ob Kritik oder Witze über den Präsidenten, niemand sprach von Ben Ali, er wurde ›Ezzīn‹ genannt. Mit der Verwendung dieses Namens werden vor allem die Tabuthemen des Machtanspruchs vom zweiten tunesischen Präsidenten und die einer persönlichen Kritik an selbigem kommuniziert. Es ist jedoch ein solch umfassender Ausdruck, der hier Verwendung findet, dass über den Kosenamen auch viele andere Themen involviert werden. Der von der Gesprächspartnerin gewählte Ausdruck ›haḏāka, Ezzīn‹, übersetzt als ›der da, Ezzin‹, ist zudem eine Kombination aus Demonstrativpronomen und nachgesetztem Spitznamen. Das Pronomen deutet auf das Sprachtabu hin, den Präsidenten mit negativer Assoziation zu erwähnen. Zudem ist es sehr abwertend, wenn Personen, insbesondere bekannte Persönlichkeiten, in der Erstnennung als Pronomen erwähnt werden. Der Nachsatz ›Ezzīn‹ betont dies noch. Der Kosename drückt eine Art Antiphasis aus, denn es ist in einem autoritären Staat kaum angebracht, das Staatsoberhaupt mit einem familiären und verniedlichenden Namen zu benennen. Mit einer Antiphasis drückt man vielmehr aus, das man genau das Gegenteil vom Gesagten meint, die Volksferne, das Autoritäre, die Verachtung, die Abschreckung, das heißt all das Negative, was mit dem Präsidenten und seinem Regime impliziert wird. So weit verbreitet ist der Spitzname ›Ezzīn‹ für den Präsidenten Ben Ali aber nicht nur wegen seiner formalen Anspielungen. Auch auf der Bedeutungsebene bietet diese Kurzform über Sinnstreckungen in verschiedene Richtungen einen großen Interpretationsspielraum bezüglich mehrerer negativ eingeschätzter Charakteristika des Präsidenten und seines Amtes. Hierzu muss auf die Bedeutung der Kurzform des Namens hingewiesen werden, denn ›Ezzīn‹ kann auf Deutsch als ›Schönheit‹ oder ›das Schöne, das Gute‹ übersetzt werden. Diese verstärkt zum einen die Verwendung des Spitznamen als Antiphasis, denn der Präsident wurde 118
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eben nicht als ›das schöne, das gute‹ Aushängeschild des Landes gesehen, er stand vielmehr für einen autoritären, korrupten und nepotistischen Staat. Auch dass Ben Ali, der für sein geringes Bildungsniveau bekannt war, das Land präsentierte, konnten viele Tunesier, die das frühere Tunesien für seine bildungspolitischen Werte schätzten, nicht akzeptieren. Die ›Schönheit‹ des Landes deutet zum anderen auf gesellschaftspolitischer Ebene den wenig geschätzten Personenkult um den Präsidenten an, so musste sein Porträt in jedem Büro hängen und zu staatlichen sowie religiösen Festen schmückten Fähnchen und Plakate mit seinem Porträt die Straßen und öffentlichen Einrichtungen. Geht man noch weiter, lässt sich der Sinn von ›Schönheit‹ auch auf die persönlichen Charaktereigenschaften des Präsidenten in Richtung seiner in der Bevölkerung unbeliebten Eitelkeit strecken. Weithin war bekannt und wurde belächelt, dass sich Ben Ali, ›das Oberhaupt‹ Tunesiens, die Haare färbte, um jünger zu wirken. Zudem schließt sich an dieses Bild direkt der Spitzname seiner Frau an, die im Volk als ›ḥaǧǧāma‹,43 auf Deutsch ›Friseuse‹, bekannt war, was sowohl auf ihren vermeintlichen Beruf anspielt, als auch auf ihren Ruf, da das Wort zugleich als Schimpfwort so viel wie ›Hure‹ bedeutet. Das Wortspiel lässt sich beliebig weiter strecken, es führt jedoch immer zum gleichen Ergebnis: eine extrem negative Bewertung des Präsidenten Ben Ali in allen Bereichen sowie eine gänzlich fehlende Achtung gegenüber seiner Person. Allein die Furcht vor den Konsequenzen einer Verfolgung im Polizeistaat hielt die Bevölkerung davon ab, die Kritik offener kundzutun.44 Zu ergänzen sei hier auch, dass dem Präsidenten Bourguiba keine derartigen Kosenamen gegeben wurden.
3.2 Auslassungen und Null-Euphemismen Die einfachste Form, ein Sprachtabu zu vermeiden, ist das Schweigen. Zu unterscheiden sind vom Verschweigen oder Abbruch des Gesprächs die Auslassungen innerhalb eines Textes, die Balle Null-Euphemismus nennt.45 Null-Euphemismen, bekannt als zwischen den Zeilen – oder 43 Dieser Spitzname der Präsidentengattin war im offiziell-öffentlichen Tunesien unter Ben Ali selbst ein Tabuwort und wurde nur hinter vorgehaltener Hand gebraucht. 44 Diese Furcht war keineswegs unbegründet, wie zum Beispiel die aus dem Fernsehprogramm gestrichene Sendung des beliebten Kindermoderators Radhouane Hedhli (Ammi Radhouane) zeigte, der im Gespräch mit einem kleinen Mädchen, das auf die Frage nach ihrem Berufswunsch mit Friseuse antwortete, unvorsichtigerweise nachsetzte, dass sie dann wohl beabsichtige, den Präsidenten zu heiraten. Zum Thema Flüsterwitze siehe den Beitrag von M. Maataoui im zweiten Teil dieses Bandes. 45 Vgl. C. Balle, Tabus in der Sprache (Fn. 36), S. 178.
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besser zwischen den Worten lesen – werden dann verwendet, wenn das Sprachtabu einen großen Grad an Allgemeinheit besitzt, so Balle.46 Das Tabuthema ist so präsent, das es keinerlei Andeutung in Form von Ersatzmitteln braucht. Im Interviewausschnitt zeigen sich zwei Tabuthemen, auf die solche Null-Euphemismen Bezug nehmen. Zum einen die Thematik des Tragens eines Kopftuches, das vom Regime als Sympathiebekundung mit der islamistischen Bewegung interpretiert werden konnte, und zum anderen die Thematik der Sanktionierung des Regimes, das heißt Verfolgung, Verhöre, Gefängnis und Folter. Das erste Tabuthema findet man im Interviewtext schon ab Zeile 24 ›waqthā ʿalā l-haḏī (…!) ʿalā l-ḥiǧāb‹, auf Deutsch ›damals wegen dieses (…!) wegen des Schleiers‹. Um den Verlust ihrer Arbeitsstelle zu begründen, muss die Gesprächspartnerin das Tabuthema und den von ihr damals begangenen Tabubruch anführen, die sie eingangs nur als ›diese Ereignisse von Bourguiba‹ angedeutet hatte. Sie schätzte die Situation so ein, dass ich als Interviewerin noch ›zu klein‹ war, um das gesellschaftsinterne Repertoire teilen zu können, deshalb musste sie das Sprachtabu schweren Herzens benennen, wenn auch nach anfänglichem Zögern und Umschreibung mittels Demonstrativpronomen. Im folgenden Text wird das Sprachtabu dafür gänzlich ausgelassen, keinerlei Pronomen deuten mehr auf das tabuisierte Kleidungsstück hin. Es heißt ›miš lābsa‹ in Zeile 27, übersetzt als ›ich habe – nicht getragen‹, wortwörtlich außerhalb dieses Kontextes würde es allerdings als ›ich bin nicht angezogen, ich bin nackt‹ übersetzt werden müssen. In Zeile 28 steht ›lbist‹ (›habe ich – getragen‹) ergänzt von Zeile 29 ›lbist ū hakka haw‹ (›habe ich – getragen und das war’s‹), auch hier gibt es keine sprachliche Andeutung, wie zum Beispiel ein Pronomen, und es würde wortwörtlich als ›ich zog mich an‹ gelesen werden. Auch dem Regionaldirektor wird das Sprachtabu in den Mund gelegt, es heißt in den Zeilen 31 und 32 ›kīfāš inti kuntī miš lābsa ū kīfāš lbistī ū kīfaš‹ (›warum hast du – nicht getragen und wie trägst du – und wie‹), wortwörtlich soll der Regionaldirektor gesagt haben ›wie hast du dich nicht angezogen/ warst du nackt und wie hast du dich angezogen und wie‹. Später im Interview findet man noch einmal diese Thematik. In Zeile 39 steht ›mā naḥḥītiš‹ (›ich habe – nicht abgenommen‹), wortwörtlich ›ich nahm nicht weg‹, ergänzt von Zeile 40 ›baddilt šwayya‹ (›habe ich – ein bisschen geändert‹). Auch in Zeile 46 findet man noch einmal die positive Entsprechung von Zeile 27 ›lābsa‹, übersetzt als ›-Trägerin‹, wortwörtlich so viel wie ›angezogen‹. Ich möchte noch einmal betonen, dass auch im Tunesischen dort eigentlich ein Objekt ergänzt werden müsste, zumindest als suffigiertes Personalpronomen. Jeder, der das Tunesische beherrscht, merkt, dass an 46 Vgl. ebd.
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dieser Stelle etwas fehlt, es ist so offensichtlich, dass es etwas sehr Bedeutendes sein muss, was so deutlich fehlen darf, da es jeder in diesem Kontext ergänzen könnte, bzw. dass es fehlen muss, da dieses Etwas so deutlich dem üblichen Sprachgebrauch entgegensteht. Es stellt sich also die Frage, warum das Tragen eines Kopftuchs im Tunesien unter Bourguiba ein solches Tabu war. Die Gründe dafür sehe ich im Plan Bourguibas, seinen großen Traum vom modernen Tunesien umzusetzen, indem er einen säkularistischen Staat aufbaute, der durch Staatsfeminismus, das heißt die staatlich durchgesetzte Gleichstellung der Frau, sowie durch eine damit verknüpfte Bildungs- und Sozialpolitik geprägt war. Dem Kopftuch kam dabei eine besondere symbolische Bedeutung zu. Bourguiba verbannte es als »cet épouvable chiffon«47 und obsolet aus allen öffentlichen Einrichtungen, wodurch dem Kopftuch die Bedeutung eines Tabus zukam. Diejenigen, die es dennoch trugen wurden fortan als unmoderne, rückständige und in traditionellen Rollen gefangene Frauen gesehen, mit Erstarken der islamistischen Bewegung jedoch auch selbigen Spektrum zugeordnet, was bedeutet, dass man sie als oppositionelle Staatsfeinde und Terroristen betrachtete, die es auszumerzen galt.48 Die letzte von mir behandelte Tabuthematik betrifft Zeile 34 ›illī yilqūh lābis ṭūl lī‹ (›denjenigen den sie beim – Tragen erwischen, den werden sie sofort – ‹). Diese satzhafte Umschreibung enthält gleich zwei Null-Euphemismen. Ersterer bezieht sich auf die oben erläuterte Thematik des Tragens eines Kopftuches. Letzterer weist auf die rigiden Sanktionierungsmaßnahmen des Regimes hin, über die ebenfalls öffentlich geschwiegen wurde. Es zeigt das Tabu, darüber zu sprechen, was den Regimegegnern, hier insbesondere den dem islamistischen Spektrum zugeordneten Oppositionellen, am Ende der Amtszeit Bourguibas geschah. In dieser Zeit wurden im ganzen Land zur islamistischen Bewegung gezählte Personen verfolgt, was sich der damalige Innenminister Ben Ali zu seiner persönlichen Aufgabe gemacht hatte. Diejenigen, die nicht ins Ausland flohen, erwarteten brutale Verhöre, Untersuchungshaft mit Folter, Inhaftierung und Zwangsarbeit. Grund für die Verfolgung war das Erstarken der islamistischen Bewegung in den 1980er Jahren, vor allem nach den sogenannten ›Brotunruhen‹ 1983/84 sowie den Anschlägen auf touristische Hotels in Monastir und Sousse im Jahr 1986. Um seine absolute Intoleranz gegenüber dieser Bewegung zu demonstrieren, 47 Zitiert nach A. F. Weber, Staatsfeminismus und autonome Frauenbewegung in Tunesien, Hamburg: Deutsches Orient-Institut 2001, S. 29. 48 Detaillierte Ausführungen zur Kopftuchproblematik in Tunesien finden sich in meinem Aufsatz »Frauen in Tunesien zwischen Staatsfeminismus und neuem islamischem Bewusstsein – Das Kopftuch als Symbol des Islamismus oder der Freiheit?«, in: Human Law. Actes du colloque sur la pédagogie et la culture des droits de l’homme. Cottbus – Médenine 2013, Médenine: ISSHM 2013, S. 104–121.
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statuierte die Regierung auch unter der einfachen Bevölkerung Exempel. Allein die Tatsache, dass man ein Kopftuch trug, reichte aus, unter Verdacht und somit in die Vergeltungsmaschinerie des Regimes zu geraten.49
Fazit: Das Verbergen des Offensichtlichen – Sprachliche Praxis in autoritären Staaten Linguistic anthropologists start from the assumption that there are dimensions of speaking that can only be captured by studying what people actually do with language, by matching words, silences, and gestures with the context in which those signs are produced. A consequence of this programmatic position has been the discovery of many ways in which speaking is a social act and as such is subject to the constraints of social action. It has also allowed us to see how speaking produces social action, has consequences for our ways of being in the world, and ultimately for humanity.50
Meine Darstellung versuchte über die Analyse der Sprechsituation und Sprechintentionen der Interviewausschnitte zu zeigen, wie das Sprechen als soziale Praxis die Tabuthemen aufgreift und kommuniziert, die sich im Kontext des autoritären Tunesiens unter Bourguiba und Ben Ali entwickelten und unmittelbar mit den politischen Zielen (säkularer Staat und Staatsfeminismus) sowie mit von offizieller Seite verübtem Unrecht (Korruption und Nepotismus, Willkür, Verfolgung von politischen Oppositionellen und Regimekritikern) verbunden sind. Über die verschiedenen Ersatzmittel und Null-Euphemismen im Interview offenbarte sich die repressive Innenpolitik des autoritären tunesischen Staates, der seine Bevölkerung dazu zwang, über Themen wie die Kritik am Präsidenten, das Kopftuchverbot im Zuge der Modernisierungspolitik und des Staatsfeminismus, die Ämterpatronage, Klientelpolitik und den Nepotismus, die Willkür von offizieller Seite, die rigide Verfolgung der islamistischen Bewegung am Ende der Ära Bourguiba, das heißt in der Zeit der Amtsübernahme Ben Alis, sowie die aus diesen Punkten folgenden Ausgrenzungs- und Sanktionierungsmaßnahmen des Regimes Stillschweigen zu wahren und sie somit hinzunehmen. Es zeigte sich auch, dass diese Sprachtabus Teil des jeweiligen Machtdiskurses (Modernität, Säkularismus, Machtanspruch des Präsidenten im demokratischen Staat) sind, in dem sich die community of practice 49 Bzgl. der Verfolgung und den Haftbedingungen politischer Gefangener vgl. die Beiträge im zweiten und dritten Band. 50 A. Duranti, Linguistic anthropology (Fn. 3), S. 9.
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ÜBER DEN SPRACHLICHEN UMGANG MIT TABUTHEMEN
über eine andere, inoffiziell-öffentliche Sphäre von den Machthabern und deren Präsentation der Wirklichkeit in einer offiziellen Öffentlichkeit distanzieren, um ihren Alltag, der durch Widersprüche zu offiziellen Verlautbarungen geprägt war, thematisieren zu können. Dabei ermöglichte die Kommunikation von Sprachtabus über inoffizielle Codes auf der einen Seite der Bevölkerung vor allem im Bereich der einfachen aber auch im Bereich der mittleren Öffentlichkeit, eine systemimmanente Kritik auszuüben, durch die Verschleierung wird auf der anderen Seite jedoch auch eine stillschweigende Akzeptanz der kritisierten Sachverhalte ausgedrückt. Dies zeigt die Bedeutung sprachlichen Handelns als soziale Praxis. So war zu erwarten, dass in Interviewausschnitten, welche Unrechts- und Ohnmachtserfahrungen mit dem autoritären Tunesien thematisieren, damalige gesellschaftliche Tabuthemen zur Sprache kommen, verwundert hat mich jedoch, dass diese Themen auch nach dem Volksaufstand 2010/2011 nicht offen, sondern mittels sprachlicher Ersatzmittel und sogar Auslassungen kommuniziert wurden. Es mag an der noch unsicheren Situation gelegen haben, aber auch am geteilten Repertoire der community of practice, das mit den rasanten gesellschaftlichen und politischen Veränderungen nicht Schritt halten konnte. Den Gründen dafür kann ich in diesem Aufsatz jedoch nicht nachgehen.
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Sarah Schmidt
»Die Angst ist der unheimliche Meister
der Wahrnehmung«
Das System Angst und seine Bedeutung für Wahrnehmung und Sprache bei Herta Müller Die Angst der unter Beobachtung stehenden Personen beschreibt Herta Müller als eine der wichtigsten Waffen des rumänischen Geheimdienstes. Diese Waffe greift umso wirkungsvoller, wenn sie in einem ›System Angst‹ agiert, also innerhalb einer systematisch angelegten und ausgefeilten Methode zur Angsterzeugung und -lenkung, in der die destruktiven Effekte auf Wahrnehmung, Widerstandskraft und Identitätsstrukturen der verfolgten Person nüchtern kalkuliert sind. »Die Securitate war eine riesige Angstzentrale«, reflektiert Müller retrospektiv in dem 2014 in Buchform erschienenen Gespräch mit Angelika Klammer Mein Vaterland war ein Apfelkern, »mit psychologisch geschulten Angstspezialisten und ihren Angstmethoden. Mit Kurz- und Langzeitplänen wie in der Wirtschaft. Aber im Unterschied zur Wirtschaft wurden ihre Pläne erfüllt. Der einzige produktive Wirtschaftszweig im Sozialismus war die Produktion von Angst.«1 Diesem ›System Angst‹ widmet Herta Müller in ihrer Prosa, ihren Essays und Collagen eine große Aufmerksamkeit und reflektiert insbesondre seine Auswirkungen auf Wahrnehmung, Sprache und Sprechen. Den gesellschaftlichen Hintergrund ihrer Prosa, ihrer Essays und Collagen bildet der Alltag der rumäniendeutschen Bevölkerung unter den wechselnden Diktaturen, die aus ›Tätern‹ der Deutschland-Sympathisanten im 3. Reich die ›Opfer‹ unter der Ceausescus-Diktatur werden lassen. Ein stetiges Beobachter-Sein und Beobachtet-Werden prägt dabei ebenso die konservative dörfliche Gemeinschaft wie die unter dem Terror des Sicherheitsdienstes stehende Bevölkerung. Herta Müller, geb. 1953, verbrachte ihre Kindheit in dem rumäniendeutschen Dorf Nițchidorf, dessen Alltag sie zum ersten Mal in ihrem literarischen Debüt, der Erzählsammlung Niederungen (1982/84), thematisiert.2 Die banatschwäbische Gemeinschaft ist eine Kulisse, die 1 2
H. Müller, Mein Vaterland war ein Apfelkern, München: Carl Hanser Verlag 2014, S. 123 (im Folgenden AK). Die Erzählungen erschienen 1982 in gekürzter Fassung in Rumänien und vollständig 1984 in der Bundesrepublik Deutschland. In der banatschwäbischen
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»DIE ANGST IST DER UNHEIMLICHE MEISTER DER WAHRNEHMUNG«
literarische Versuchsanordnung einer Miniaturgesellschaft aus Schweigen, Gewalt und den festen Ritualen des Alltags, zu der sie schreibend auch in anderen Veröffentlichungen immer wieder zurückkehrt. Unmittelbar nach dem Studium der Germanistik und Rumänistik findet sie eine erste Anstellung als Übersetzerin in einer Maschinenfabrik, in der die Securitate zunächst versucht, sie als Mitarbeiterin anzuwerben. Dem abgewiesenen Anwerbungsversuch folgen jahrelang Überwachung, Verhöre und Schikanen aller Art durch den Sicherheitsdienst, dem sie nicht zuletzt als Mitglied deutschschreibender Schriftstellergruppen (unter anderem die Aktionsgruppe Banat, die sich Juli 1972 gründete), ins Visier geraten war.3 »Das Werkzeug des Stadtkönigs ist die Angst. Nicht im Kopf gebaute Dorfangst, sondern geplante, kalt verabreichte Angst, die die Nerven durchbeißt. Nach meiner Ankunft von den Fransen des Dorfes in die Stadt wurde der Asphalt ein Teppich, auf dem statt des Panoptikums der Sterbetage der staatlich geplante Tod um die Knöchel schlich: die Repression.«4 Als ihr 1987 die Ausreise in die Bundesrepublik Deutschland gelang – zusammen mit ihrem damaligen Mann, dem Schriftsteller Richard Wagner –, muss sie erfahren, dass die Securitate auch noch im Westen über Spitzel und Handlanger verfügt.5 Eine Chance, sich diesem ›System Angst‹, wenn nicht vollständig, so doch streckenweise zu entziehen, besteht darin, diese Methodik zu durchschauen, ihr Prozedere zu analysieren und, wo möglich, zu dekonstruieren und zu sabotieren, aber auch und nicht zuletzt mit ihr zu leben und für dieses Leben eine Sprache zu finden. In Herta Müllers literarischen Analysen dieses Systems erweist sich Angst dabei nicht als ein einfaches Phänomen; vielmehr geht es darum, die unterschiedlichsten Spielarten aufzuspüren und seine Komplexität in einer Art ›Phänomenologie der Angst‹ zu erfassen: »Es gibt vielerlei Angst, kurze, die immer gleich weggeht, und chronisch lange, die immer bleibt. Glatte Angst gibt es, aufgewühlte, rabiate und besonnene, verharmlosende und übertreibende, überreizte und abgestumpfte. All die Adjektive beschreiben sie natürlich nicht, man kann aber nur Wörter aufzählen, wie soll man sonst
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4 5
Gemeinschaft wurde Niederungen von vielen als ›Nestbeschmutzung‹ empfunden, so z. B. in den Leserbriefen der Neue Banater Zeitung, die 1981 einen Vorabdruck einer Erzählung anbot. Herta Müllers Arbeit in der Fabrik findet ein literarisches Echo in dem Roman Der Fuchs war damals schon der Jäger (1992), in dem wie in Heute wär ich mir lieber nicht begegnet (1997) das städtische Leben unter den Bedingungen permanenter Überwachung und Verhören im Mittelpunkt steht. H. Müller, »Der König verneigt sich und tötet«, in: dies., Der König verneigt sich und tötet, Frankfurt/M.: Fischer 2009, S. 51 (im Folgenden K). Herta Müller thematisiert das u. a. in dem Roman Reisende auf einem Bein (1989).
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über Gefühle sprechen. Die Ängste wechseln sich ab wie Farben und sie färben auch alles, sie dringen in alle anderen Gefühle ein.«6 Im Folgenden werde ich Methoden der systematischen Angsterzeugung und -lenkung, ihre sprachliche Umsetzung sowie ihre Auswirkungen auf Sprache und Wahrnehmungen – nicht zuletzt das für Herta Müllers Prosa zentrale Thema des Schweigens –, aber auch mögliche Reaktionen und Auswege aus diesem ›System Angst‹ in den Blick nehmen. Neben ausgewählten Szenen aus der Prosa, insbesondere den Romanen Niederungen (1982/84), Der Fuchs war damals schon der Jäger (1992) und Heute wär ich mir lieber nicht begegnet (1997), bilden das lange mit Angelika Klammer geführte Gespräch Mein Vaterland war ein Apfelkern (2014) sowie die autobiographischen Essaybände Der König verneigt sich und tötet (2003) und Immer derselbe Schnee und immer derselbe Onkel (2011) die Textgrundlage meiner Untersuchung. Letztere enthalten wichtige Aussagen zu Müllers Sprach- und Wahrnehmungstheorie, die den Anfang meiner Darstellung bilden.
1. Die fragile Allianz zwischen den Worten und den Dingen in »Vergangenwart« und »Gegenheit« Die Verbindung zwischen Sprache und Dingen (Welt) – so reflektiert Herta Müller in ihrem 2001 im Rahmen der Tübinger Poetikdozentur entstandenem Essay »In jeder Sprache sitzen andere Augen« – erscheint zumindest retrospektiv als eine im Dorfalltag der Kindheit gelebte Selbstverständlichkeit: »In der Dorfsprache – so schien es mir als Kind – lagen bei allen Leuten um mich herum die Worte direkt auf den Dingen, die sie bezeichneten. Die Dinge hießen genauso, wie sie waren, und sie waren genauso, wie sie hießen. Ein für immer geschlossenes Einverständnis.«7 Diese gelebte Einheit zwischen lebenspragmatischem Zusammenhang und Sprache erfährt jedoch bereits im Kinderleben eine Irritation. Denn es gibt Erlebnisse, so alltäglich wie der Tod, für die keine angemessene Sprache zur Verfügung zu stehen scheint8 und es gibt ein Eigenleben der Sprache als inneres Sprechen, für das der kollektiv gelebte Dorfalltag 6 7 8
AK, S. 114. H. Müller: »In jeder Sprache sitzen andere Augen«, in: K, S. 7. »Nachts sagten sie [die Toten, S. Sch.] den Lebenden etwas Durchsichtiges, das den Kopf verwirren soll. Ich hielt den Atem an, so lange ich konnte, um zu verstehen, was sie sagten. Dann aber schnappte ich panisch nach Luft. Verstehen wollte ich, aber nicht den Kopf verlieren ohne Rückkehr. Wer das Durchsichtige ein Mal versteht, wird an den Füßen gepackt, ist weg von der Erde, dachte ich.« H. Müller, »In jeder Sprache sitzen andere Augen«, in: K, S. 10.
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»DIE ANGST IST DER UNHEIMLICHE MEISTER DER WAHRNEHMUNG«
keinen Raum bietet.9 Insofern der lebenspragmatische Zusammenhang ebenso wie Sprache als Kommunikationsmittel auch eine kollektive Angelegenheit ist, erlebt das Kind die Brüche und Risse dieser Einheit von Ding und Wort als Diskrepanz zwischen dem Ich und der familiären und dörflichen Gemeinschaft: »Es gab für die meisten Leute keine Lücken, durch die man zwischen Wort und Gegenstand hindurch schauen und ins Nichts starren musste, als rutsche man aus seiner Haut ins Leere.«10 Zugleich markiert diese Leere auch eine Diskrepanz zwischen Ich und den anderen und wird als Scham und Bloßstellung empfunden.11 Mit dem Erwachsenwerden, dem Sprechen in mehreren Sprachen, dem Weggang vom Dorf in die Stadt und dem beginnenden Leben im ›System Angst‹ wird diese Erfahrung der aufbrechenden Einheit, mithin der Sprachlosigkeit zur einer alltäglichen Übung, deren Ursachen Herta Müller in ihren Essays analysiert. Dieser Bruch ist dabei, je nach Kontext, als gewaltvoller Einbruch und Ohnmacht oder als Befreiung zu deuten, das heißt als Möglichkeitsraum, den es sprechend und schreibend zu erkunden gilt. Zugleich geht es darum, eine als stimmig erlebte Allianz zwischen Leben und Sprache immer wieder herzustellen, wohlwissend, dass es eine fragile, eine dynamische Allianz ist, die nur im Moment eine Art Authentizität beanspruchen kann. Auf der Suche nach dieser fragilen Allianz und einer momentanen Authentizität muss auch ein interaktives Verhältnis von Vergangenheit und Gegenwart bedacht werden, das bereits in der Wahrnehmung ansetzt. Denn nicht nur die uns zur Verfügung stehende Sprache, ihre Begrifflichkeit und Syntax, auch das gelebte, im Gedächtnis verwahrte Leben generiert einen je eigenen Zugang zum Wahrgenommenen, indem sich Vergangenes in der Gegenwart aktualisiert. Die wahrgenommenen Gegenstände rufen eine Erinnerung wach, die sich in die Gegenwart hineinschiebt, sie ›überfällt‹,12 überlagert: »Mir kommt es vor, als bestimmten die Gegenstände, wann, wie und wo einem vergangene Situationen 9
»Aber die Nichtübereinstimmung zwischen draußen bei den Händen und drinnen im Kopf, das Wissen: jetzt denkst du etwas, was dir nicht zusteht und dir niemand zutraut, das war etwas anderes.« (H. Müller, »In jeder Sprache sitzen andere Augen«, in: K, S. 8) »Es ist nicht wahr, dass es für alles Worte gibt. [...] die inneren Bereiche decken sich nicht mit der Sprache, sie zerren einen dorthin, wo sich Wörter nicht aufhalten können.« Ebd., S. 14. 10 Ebd., S. 7. 11 »Es ist eine Bloßstellung, wenn man sich aus der Haut ins Leere rutscht.« Ebd., S. 14. 12 »Frappierend wie Überfälle schleppen die Gegenstände von jetzt meine Geschichten von damals herbei. In ihnen sitzt latent das Zeitübergreifende, funkelt mit seinen grellen Einzelheiten, bevor es sie wieder in die Gegenstände zurückzieht.« H. Müller, »Einmal anfassen – zweimal loslassen«, in: K, S. 122.
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und Menschen einfallen. Sie, die aus unverletzbarem leblos dauerhaftem also ganz anderem Stoff als wir selbst bestehen, bestimmen ihre Wiederkehr im Schädel. Die Gegenstände holen zum Rundumschlag aus, blinzeln mit ihrem zufälligen Auftauchen ins Gewesene hinein. Sie treiben die Vergangenheit durch die Gegenwart auf die Spitze.«13 In ihrer gesteigerten Form führt dies zu einer Amalgamierung von Gegenwart und Vergangenem, von »Gegenheit« und »Vergangenwart«,14 die Herta Müller mit dem Terminus der »erfundenen Wahrnehmung« belegt.15 So wird auf einem Spaziergang an der Lahn nach der Ausreise in den Westen, den Müller in dem Essay »Einmal anfassen – zweimal loslassen« beschreibt, die Wahrnehmung dreier Enten mit gelben Schnäbeln von dem erinnerten Gerücht überlagert, der Diktator habe goldene Wasserhähne in seinem Badezimmer gehabt. Diese »Komplizenschaft der Dinge«, 16 hier zwischen den Schnäbeln und den goldenen Wasserhähnen, unterlegt den Spaziergang mit einem Ressentimentgeschmack der Vergangenheit. Eine traumatische Dimension dieser »erfundenen Wahrnehmung«, die »einen Tiefenraum unter der lebensweltlichen Wahrnehmung [...] bilden, [...] der jederzeit oberflächenwirksam werden kann«, wie Anja Johannsen formuliert17, schildert Müller im Roman Atemschaukel. Der aus dem Lager heimgekehrte Leopold Auberg wird von den Gegenständen des Lagers nicht nur in seinen Träumen »heimgesucht«, auch im wachen Zustand ist die Wahrnehmung in Friedenszeiten ›befallen‹ von der Erinnerung: Der Satz »Pappeln schießen in die Höhe« führt unweigerlich zurück auf den Appellplatz, das Zugspielen des in seiner Abwesenheit als ›Ersatz‹ gezeugten kleinen Bruders bleibt ein Geräusch der Deportation. 13 Ebd., S. 121 f. 14 »So verbinden sich Details von jetzt und damals. Unversehens, grundlos, unerlaubt entsteht die Vergangenwart in der Gegenheit.« (Ebd., S. 108). Eine ganz ähnliche Verquickung von Vergangenheit und Gegenwart – »Gegenkunft« – findet sich bei Zakaria Tamer, vgl. den Beitrag von A. Aghsain in diesem Band. 15 Mit Köhnen bin ich der Meinung, dass mit dem Terminus der »erfundene[n] Wahrnehmung« bei Herta Müller keine exklusive Form der Wahrnehmung bezeichnet ist, sondern vielmehr eine grundlegende Funktionsweise von Wahrnehmung schlechthin beschrieben wird, vgl. R. Köhnen, »Terror und Spiel«, in: Text & Kritik 155. Herta Müller (2002), S. 18–29, hier, S. 19. 16 »Es sind immer wieder die Gegenstände, die untereinander ihre eigene Komplizenschaft aufbauen, die Personen und Vorgänge um sich herum fügen sich ihnen.« H. Müller, »Einmal anfassen – zweimal loslassen«, in: K, S. 122. 17 Vgl. A. J. Johannsen, Kisten, Krypten, Labyrinthe: Raumfigurationen in der Gegenwartsliteratur: W. G. Sebald, Anne Duden, Herta Müller, Bielefeld: Transcript 2008, darin: »Herta Müller. Figuren des Einschlusses und der Stillstellung«, S. 165–215, hier S. 186.
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Aufgeschrieben erfüllt die erfundene Wahrnehmung als die von der Vergangenheit besetzte Gegenwart ebenso wie die von der Gegenwart infiltrierte Erinnerung nicht die Anforderungen eines ›objektiven‹ Tatsachenberichtes. Sie trägt in sich eine Ver-rücktheit, die für Herta Müller jedoch durchaus wahrheitsfähig ist und deren genuine Genauigkeit es zu finden, ja zu erfinden gilt. »Es ist seltsam mit der Erinnerung. Am seltsamsten mit der eigenen. Sie versucht, was gewesen ist, so genau wie nur möglich zu rekonstruieren, aber mit der Genauigkeit der Tatsachen hat dies nichts zu tun. Die Wahrheit der geschriebenen Erinnerung muß gefunden werden, schreibt Jorge Semprun. Und George-Arthur Goldschmidt nennt seine Bücher ›autofiktional‹.«18
2. Schweigen hörbar machen Das Auftreten von ›Rissen‹ in der zunächst als selbstverständlich erlebten Allianz zwischen den Worten und den Dingen, zwischen Sprache und einem handlungspragmatischen Zusammenhang, beschreibt Herta Müller immer wieder als unmittelbare Folge einer existentiellen Situation – glücklicher wie unglücklicher Natur –, als Situationen, die an den Rand des Sagbaren führen oder wie im Falle der existentiellen Angst zunächst gar keine sprachliche Seite haben.19 In diesen Rissen nistet sich ein Schweigen ein. Diesem Schweigen als eine ungehörte den Dorfalltag begleitende ›Stimme‹ Gehör zu verschaffen, ist ein zentrales Anliegen in Herta Müllers Prosa, insbesondere in dem Debüt Niederungen (1982/84), dem Roman Der Mensch ist ein großer Fasan auf der Welt (1986) und den Rückblenden in die Kindheit im Roman Herztier (1993). Für die Geschichte der banatdeutschen Dorfgemeinschaft verdeckt dieses Schweigen die nationalsozialistische Orientierung ebenso wie die nach dem Krieg erlittene Verschleppung einzelner Dorfbewohner in sowjetische Arbeitslager. Innerhalb der Familie verdeckt das Schweigen die hinter den eingeübten Gesten und Worten des Alltags allpräsente Gewalt und zum Teil 18 H. Müller, »In der Falle«, in: dies., In der Falle. Drei Essays, Bonn: Wallstein Verlag 1996, S. 21. 19 »Ich weiß nicht, wie es anderen Leuten geht, aber ich habe im Erleben, in schlimmen, in Angst machenden Situationen überhaupt nicht in Wörtern reagiert oder gedacht. Es gab nur instinktives Verhalten, und alles andere war abgeschaltet, weil die Angst so groß war. Da hat man keine Zeit für Wörter, und die die man gebrauchen muß, kommen von selbst und sind nicht Schreibsprache, sondern Mitteilung. Beim Verhör im Schlagabtausch. Sprache außerhalb der Mitteilung ist ein ganz anderes Metier, ein von der Lebensnot weit entferntes Gelände.« H. Müller, Lebensangst und Worthunger. Im Gespräch mit Michael Lentz Leipziger Poetikvorlesung 2009, Berlin: Suhrkamp 2010, S. 37 f.
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inzestuöse Sexualität. Zu den aus sowjetrussischen Arbeitslagern heimgekehrten Rumäniendeutschen gehörte auch Herta Müllers Mutter: »Meine Mutter ließ mich im Schatten ihrer Handgriffe nur rätseln über das Lager. Die verkniffene Normalität und das verstörte Schweigen waren immer da und wurden mit der Zeit monströs, wühlten mich auf, gaben keine Ruhe. Ich glaubte immer, Beschädigung ist stumm: sie begleitete alles und verbietet jedem den Mund.«20 Ein solches Schweigen jenseits der im Alltag gelebten und von der Gemeinschaft geteilten und sanktionierten Erlebniswelt kann jedoch schwer wiegen, und eine Sprengkraft entwickeln. In Müllers im Wintersemester 1989/1990 in Paderborn gehaltenen Vorlesung »Wie erfundenes sich im Rückblick wahrnimmt« unterstreicht sie die Notwendigkeit, diese Art des Schweigens als den Raum zwischen den Sätzen hörbar zu machen: »Der geschriebene Satz ist ein nachweisbarer Satz zwischen vielen verschwiegenen Sätzen. Nur seine Nachweisbarkeit unterscheidet ihn von den verschwiegenen Sätzen. Weil er nachweisbar ist, könnte man meinen, daß er wichtiger ist als die verschwiegenen Sätze. Er ist nicht wichtiger. Und er ist auch nur nachweisbar, weil er die verschwiegenen Sätze in sich enthält, indem er sie vorwegnimmt und hinterherträgt. Der geschriebene Satz muß behutsam mit dem verschwiegenen Satz umgehen. Der verschwiegene (ausgelassene) Satz muß mit der gleichen Lautstärke sprechen, wie der geschriebene Satz.«21 Anders als Herta Müllers Mutter hat der ebenfalls im jugendlichen Alter deportierte Freund und Dichter Oskar Pastior eine Sprache gesucht und eine Sprache gefunden, die über die abgründigen und extremen Erfahrungen von Gewalt, Hunger, Kälte, Todespräsenz und Angst in seinem in jungen Jahren erlittenen Lagerleben berichten kann. Während der Arbeit an dem gemeinsam geplanten Roman über jenes Lagerleben des jungen Pastior, deren Realisierung Müller nach dem plötzlichen Tod Pastiors mit Atemschaukel (2009) alleine vornahm, erkennt Müller mehr und mehr, wie die Lagerzeit sich in Pastiors Sprache eingeschrieben hatte: als eine gebrochene, poetische Sprache in den Gedichten, als klare detailreiche Schilderung in den gemeinsamen Gesprächen: »Von Oskar Pastior kenne ich jedoch das Reden über die Beschädigung in verblüffenden Details. Diese gibt es wahrscheinlich in allen seinen Texten, poetisch gebrochen in seiner Sprache, zur Unkenntlichkeit verdeutlicht – aber jetzt in Lana [dem gemeinsam mit Pastior besuchten Lagerort, S. Sch.] sprach er täglich eins zu eins übers Lager.«22 20 H. Müller, »Gelber Mais und keine Zeit«, in: dies., Immer derselbe Schnee und immer derselbe Onkel, Frankfurt a. M.: Fischer 2013, S. 129 (im Folgenden SO). 21 H. Müller, »Wie Erfundenes sich im Rückblick wahrnimmt«, in: dies., Der Teufel sitzt im Spiegel. Wie Wahrnehmung sich erfindet, Berlin: Rotbuch 1991, S. 36. 22 H. Müller, »Gelber Mais und keine Zeit«, in: SO, S. 129.
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Das Schweigen über die Erfahrung der Lagerzeit, die viele der Bewohner in Herta Müllers Heimatdorf Nițchidorf teilten,23 ist natürlich nicht nur die Sprachlosigkeit des Nicht-Sprechen-Könnens, sondern auch ein repressives Nicht-Sprechen-Dürfen, denn die Deportation der Rumäniendeutschen galt in der offiziellen Sprachregelung als ›Wiedergutmachung‹ einer kollektiv zugeschriebenen Kollaboration mit Nazideutschland, für die kein Leiden zu deklarieren war. Ein solches Schweigen als ein eingeübtes Stillhalten konstatiert Herta Müller in einem Interview mit Eddy auch in Bezug auf die täglich erlebte ›Schule der Angst‹ unter dem Ceausescu-Regime: »Vielleicht kommen diese Paradigmen aus der Schule der Angst. Wenn man so lange Lebensangst hatte, oder Todesangst – es ist ja dasselbe, seltsamerweise – die Angst ist der unheimliche Meister der Wahrnehmung. Wenn man Ängste eingeübt hat, weil einem nichts anderes übrigblieb, weil man damit leben mußte, gehen sie nicht mehr weg. Dann muß Angst nicht ständig neu entstehen, um eine Art von Umgang, von Schlüssel zu sein, mit dem man die Dinge erreicht. Ich weiß nicht ob ich recht habe – aber an mir erkläre ich mir das so. Ich glaube, die Angst, die still hält, ist am gefährlichsten. Sie schadet einem am meisten. Sie richtet Schlimmeres an, als wenn sie sich bewegt. Selbst wenn sie sich in der Wahrnehmung in eine extremere Richtung bewegt, als nötig wäre, ist das immer noch schonender für einen selbst, als wenn sie stillsteht, lahm ist und nichts tut. Ich habe mich immer darum bemüht, daß die Angst sich bewegt. Auch wenn ich mir dadurch vielleicht noch mehr Angst machen mußte, hat mich das, wenn schon nicht geschont, dann wenigstens beschäftigt. [...] Die Leute, die sich geweigert haben, so lange es nicht unbedingt nötig war, sich mit Bedrohungen auseinanderzusetzen, diese, so weit es ging, weggeschoben haben, waren in sehr kurzer Zeit fix und fertig, zerbrochen, kaputt, wenn dann der Moment kam, wo sie drangsaliert wurden.«24 Ein solches Stillhalten unter Angst und der Versuch sie zu verstecken bzw. (körperlich) zu beherrschen, gelingt nie vollständig und führt, wie Müller in ihrem Essay »Der König verneigt sich und tötet« reflektiert, zu einer Dekorporalisierung der Angst, die den Körper zwar nicht mehr unmittelbar regiert, dafür jedoch in einer als permanent bedrohlich wahrgenommenen Umwelt zu einem zurückkehrt: »Weil wir Angst hatten, waren Edgar, Kurt, Georg und ich täglich zusammen. Wir saßen zusammen am Tisch, aber die Angst blieb so einzeln in jedem Kopf, wie wir sie mitbrachten, wenn wir uns trafen. Wir lachten viel, um sie voreinander zu verstecken. Doch Angst schert aus. Wenn man sein 23 Vgl. H. Müller, »Ich glaube an die Sprache«. Herta Müller im Gespräch mit Renata Schmidtkunz, Klagenfurt/Celovec: Wieser Verlag 2009, S. 15 f. 24 H. Müller, »Die Schule der Angst«, Gespräch von B. D. Eddy mit Herta Müller den 14. April 1998, in: The German Quarterly 72 / 4 (1999), S. 329–339, hier, S. 332.
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Gesicht beherrscht, dann schlüpft sie in die Stimme. Wenn es gelingt, Gesicht und Stimme wie ein abgestorbenes Stück im Griff zu halten, verläßt sie sogar die Finger. Sie legt sich außerhalb der Haut hin. Sie liegt frei herum, man sieht sie auf den Gegenständen, die in der Nähe sind.«25 Diesen Schweigeraum als Konglomerat aus Still-Halten und Sprachlosigkeit sprachlich zurückzuerobern – in direktem oder indirektem Sprechen – kann somit auch als ein Akt der Selbstermächtigung (und als eine Form des Widerstandes) verstanden werden,26 der das Verschwiegene kommunizierbar macht und somit die geteilte Vereinzelung auch wieder in eine Gemeinschaftlichkeit überführt (freilich ohne dass sich damit die realen Lebensumstände verändern würden): »Darum nimmt einem das Schreiben ja auch die Angst, darum gibt es Halt – einen imaginären Halt, keinen wirklichen Halt. Halt nach innen, nicht nach außen. Aber der Halt nach innen behütet nach innen. Und das ist sehr viel. Nach außen hin bleibt man so ausgeliefert, wie man ist – das weiß man, weil es sich immer wieder zeigt.«27 Eine andere Störung der Selbstverständlichkeit des Sprachgebrauchs entsteht nach Herta Müller auch in der Überlagerung und der Konkurrenz unterschiedlicher Sprachen, die nie vollkommen deckungsgleich ineinander übersetzt werden können. Jede Sprache entwirft und verteidigt so ein Stück Realität, das anderweitig nicht erfasst werden kann. Mit dem Umzug vom rumäniendeutschen Dorf in die rumänische Kleinstadt sind es das Dialektdeutsch und das Rumänische, deren Bezugssystem miteinander konkurrieren und den sicheren Boden zum »[S]chaukeln«28 bringen: »Das Rumänische sah die Welt so anders, wie seine Worte anders waren. Auch anders eingefädelt ins Netz der Grammatik. [...] Die Muttersprache ist fortan nicht mehr die einzige Station der Gegenstände, die Muttersprache ist nicht mehr das einzige Maß der Dinge«.29 Eine Form dieses Schweigen als Schweigen zu inszenieren und in dieser Inszenierung zum Sprechen zu bringen, besteht in der unvermittelten Gegenüberstellung zweier Parallelwelten. Gerade in der Gegenüberstellung und der zwischen ihnen sich auftuenden Diskrepanz, liegt ein Gestaltungsspielraum, in dem zu Wort kommen kann, was direkt nicht gesagt werden darf. 25 H. Müller, »Der König verneigt sich und tötet«, in: K, S. 53. 26 Zur Selbstermächtigung, die im Akt der eigenen Stimme liegt vgl. den Beitrag von S. Dhouib in diesem Band. 27 H. Müller, Lebensangst und Worthunger (Fn. 19), S. 15. 28 »Die feminine und maskuline Sicht sind aufgehoben, es schaukelt sich in der Lilie eine Frau und ein Mann zusammen. Der Gegenstand vollführt in sich selbst ein kleines Spektakel, weil er sich nicht mehr genau kennt.« H. Müller, »In jeder Sprache sitzen andere Augen«, in: K, S. 25. 29 Ebd., S. 25 f.
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Ein besonders eindringliches Beispiel dieses Sprechens im Zwischenraum ist eine Art Wörterbuch, das Herta Müller in der Erzählung »Dorfchronik« in ihrem ersten Erzählband Niederungen entwirft. In einer Art Kameraschwenk, der in der Mitte des Dorfes, der Kirche, ansetzt und wieder endet, werden alle Dorfinstitutionen in ihrer Funktion für das Dorf der Reihe nach vorgestellt. Der Icherzähler, der sich als solcher erst im letzten Absatz als Icherzähler zu erkennen gibt, scheint diese ›Chronik‹ einem Fremden zu erzählen, der nicht in alle pragmatischen Praktiken des Dorfes – seinen Schulalltag, die Markt- und Verwaltungsgeschäfte – eingeweiht ist und an den entscheidenden Stellen von jemandem, der offenbar zugleich Drinnen und Draußen steht, eine Übersetzungshilfe braucht: »In den Elternsitzungen gibt die Kindergärtnerin den Eltern Anleitungen, die im Dorf Ratschläge genannt werden, wie sie die Kinder bestrafen sollen.«30 »Die Ferkel werden nur paarweise verkauft und gekauft. Die Preise hängen weniger vom Gewicht und mehr von der Rasse, die im Dorf Art heißt, ab.«31 »Der Bürgermeister, der im Dorf Richter genannt wird, hält im Gemeindehaus seine Sitzungen.«32 In der formelhaft immer wiederkehrenden Wendung »das im Dorf so und so genannt wird«, entsteht im Verlaufe des Textes eine Art Wörterbuch des Dorf- und Hochdeutschen, dessen Funktion jedoch weniger in der Übersetzung liegt, als darin, das Verschwiegene zum Vorschein zu bringen. Wie viel Welt ein einzelnes Wort bereits enthält, wird in der folgenden Auswahl des Wörterbuches deutlich: Hochdeutsch Bürgermeister Rasse Anleitungen Schwarzgefleckte Ferkel Eulen und Fledermäuse Frisör Nach Parfüm riechen Konsumgenossenschaft frisch gehackt und gejätet Körperbau Ausland zu Tode getrunken
Dorfsprache Richter Art Ratschläge Unglücksferkel Ungeziefer Rasierer nach Parfüm stinken Geschäft gepflegt Statur Westen zu Tode gearbeitet
30 H. Müller, Niederungen, München: Hanser 2010, S. 126 f. [Hervorhebung im Zitat S. Sch.]. 31 Ebd., S. 127 [Hervorhebung im Zitat S. Sch.]. 32 Ebd., S. 129 [Hervorhebung im Zitat S. Sch.].
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Mit dieser Technik der unkommentierten Konfrontation arbeitet Herta Müller als Sprach-Bildhauerin an den Formen der Auslassungen. Die kommentarlose Gegenüberstellung erzählt, während wir dem Erzähler über das Dorf folgen, etwas über die Abgeschlossenheit des Dorfsystems, das offenbar über eine eigene Dorfjustiz verfügt, über das Vokabular arischer Rassengesetze, das auf dem Tiermarkt verhandelt wird, sie erzählt etwas über autoritäre Verhältnisse in der Schule, über militärische Haarschnitte, über Alkoholismus und Aberglauben aber auch über eine politische Positionierung innerhalb Rumäniens, denn das Ausland ist der Westen und was in der Nomenklatur des Sozialismus Konsumgenossenschaft heißt, wird im Dorfalltag schlicht zum Geschäft. Beschreibt Herta Müller in dem Essay In jeder Sprache sitzen andere Augen wie die Dinge zwischen zwei nie deckungsgleichen Sprachen anfangen zu »schaukeln« mit dem harmlosen Beispiel der zwischen männlicher und weiblicher Zuschreibung schwankenden Lilie,33 wird die Diskrepanz zwischen den Sprachen hier zu einem versteckten Spektakel, in dem sich die verschwiegene Geschichte des Dorfes abspielt.34 Um ein Schweigen derart zum Sprechen zu bringen, bedarf es eines freien, unbesetzten Raumes, in den hinein sich wie auf einem Spielfeld, sukzessive Assoziationen, Andeutungen, Vermutungen einfinden können. Ein solcher semantisch unterbestimmter Raum entsteht im ›Wörterbuch‹ der ›Dorfchronik‹, in dem durch Gegenüberstellung visualisierten ›Spalt‹ zwischen den beiden Sprachen. Der von Müller in ihrer Prosa wie in ihren Collagen entwickelte, ihr eigene parataktische Sprachstil ebenso wie die unterschiedlichen Techniken der Fragmentierung generieren Spalten, Risse und Zwischenräume, in denen sich kunstvoll – das heißt alles andere als beliebig – ein ebensolches Zwischen-den-Zeilen-Sprechen vollziehen kann.35
33 H. Müller, »In jeder Sprache sitzen andere Augen«, in: K, S. 25. 34 Das Verschweigen der Geschichte wird auch dadurch unterstrichen, dass in der Erzählung »Dorfchronik« jede chronologische Entwicklung, dem Titel zum Trotz, ausgeblendet wird, als erübrige sich jede Frage nach der Geschichte in einer quasi prästabilierten Harmonie der Dorfinstitutionen. Zu Raumfiguren der Stilllegung und Arretierung bei Herta Müller, wie sie besonders in Niederungen auftreten vgl. A. K. Johannsen, »Herta Müller, Figuren des Einschlusses und der Stillstellung« (Fn. 17), S. 165– 215. 35 Zur Technik des Zwischen-den-Zeilen-Sprechens in Herta Müllers Collagen vgl. S. Schmidt »Fremdeigene Wortreste – Sprache als Sammlung in Herta Müllers Collagen«, in: dies. (Hg.), Sprachen des Sammelns, Paderborn: Fink 2016, S. 593–620, hier S. 601–607.
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3. Sprachnormierung, Verhörmethoden und der Versuch einer Gegenstimme Eine Sprachdiskrepanz, der ein Machtgefälle innewohnte und in der die in einer Sprache eingeschriebenen Weltdeutungen gegen einander antraten, existiert auch zwischen der offiziellen Sprachpraxis des Regimes und der Sprache der Dissidenten und Opponenten. Denn Weltbild und Machtausübung des Regimes manifestierte sich auch in einer verordneten normierten Sprachpraxis, die nicht nur die Verwendung einzelner Wörter und Begriffe vorschrieb bzw. sanktionierte, sondern die bis in die filigranen Adern einer Sprache, bis in den Sprachstil, den Sprachduktus, die Musikalität der Sprache hineinreichte. Herta Müller erinnert sich in diesem Zusammenhang zum Beispiel an die in der Schule auswendig gelernten hölzernen Reime, mit denen Ideologie ›kindgerecht‹ vermittelt und eintrainiert wurde.36 In dem Versuch, eine Gegenstimme zu dieser eintrainierten normierten Regimesprache zu entwickeln, kommt dem Lesen und stillem Rezitieren von Literatur eine große Rolle zu: »Man hat aufgepaßt, daß die Gewalt und Lächerlichkeit dieser [regimetreuen, S. Sch.] Sprache einen nicht auch noch in den eigenen Mund hineinrutscht. Daß sie einem nicht in den eigenen Kopf wächst. […] Ich kann also schwer beurteilen, wie das Gezerre der Tage in die Sätze gesickert ist. Welchen Weg die Imagination im Satz genommen hat und wie sie ohne Drangsalieren gewesen wäre. Aber die lange, immer in einem sitzende Angst verändert alles, wahrscheinlich auch die Dringlichkeit der Sprache, den Schnitt im Satz, also das, was man ›Stil‹ nennen könnte.«37 Im Verhör wurde die in Reim und Takt verpackte und eintrainierte Ideologie zur offenen Lüge. Die Anklage griff absichtlich immer vollkommen an der Realität vorbei, denn eine Diskussion über politische Inhalte, Anklage und Gegenrede durfte gar nicht erst aufkommen.38 Stattdessen wiederholte sich der Vorwurf der Prostitution oder der des Schwarzhandels und die Verhöre richteten sich darauf, diese »erfundene Person«39 mehr und mehr zu untermauern. »Stundenlang musste ich die Erfindungen abstreiten und es hat nie was genützt. Es blieb alles, wie es war, dazu mit diesem rassistischen Beigeschmack – Prostitution 36 Vgl. H. Müller, »Der König verneigt sich und tötet«, in: K, S. 55. 37 H. Müller, Lebensangst und Worthunger (Fn. 19), S. 14. 38 Anders als in der von Sarhan Dhouib untersuchten Zeugenschaft, in der die Gefangenen im Gefängnis die eigene Verteidigung erproben, kommt es nie zu realen Vorwürfen. Vgl. den Beitrag von S. Dhouib in diesem Band. 39 »Man wurde von sich selbst weggenommen und in eine erfundene Person hineingezwungen. Man wurde vor diese riesige randlose Impertinenz der Lüge gestellt, man saß da, abgeschnitten von seinem eigenen Verstand.« (AK, S. 130).
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mit rumänischen Männern reichte der Securitate nicht, es mussten Araber sein.«40 Um dem Verhör und seinen erfundenen Szenarien möglichst schnell wieder zu entkommen, kann man Taktiken entwickeln, die Gesprächschoreographie zu beeinflussen: »Man sollte nicht zu knapp antworten, das führte beim Vernehmer zu Wutausbrüchen.«41 oder: »Man sollte nicht störrisch, aber auch nicht unterwürfig sein.«42 Eine solche Taktik ist jedoch eine Gratwanderung, die sich immer auch ein Stück weit auf die Realität der Lüge einlassen muss und Gefahr läuft, sich im Netz der Anschuldigungen zu verstricken. Den Verhörtechniken, ihren Auswirkungen auf Wahrnehmung und Sprache sowie den Versuchen, sich ihnen zu widersetzen, widmet sich Herta Müller besonders detailliert in ihrem Roman Heute wär ich mir lieber nicht begegnet (1997). »Ich bin bestellt« – mit diesem Satz beginnt der Roman, in dem eine Ich-Erzählerin in kurzen aber unregelmäßigen Abständen zum Verhör einbestellt wird. Das Verhör und der sadistische, professionell geschulte Verhörer Major Albu sind eine allpräsente Referenz im Alltag der Protagonistin und bestimmen eine Reflexion darüber, wie das eigene Leben im Hindernislauf des Verhörs zu erzählen und zugleich zu schützen sei.43 Zu den grundsätzlichen Rahmenbedingungen des Verhörs gehört, dass der nächste Termin immer nur am Ende des letzten bekannt gegeben wird, sodass eine Planung des Alltags nur sehr bedingt möglich ist und Schlafstörungen und durchwachte Nächte vor den Verhören die Widerstandskraft mürbe machen.44 Regelmäßig, den Charakter einer Konditionierung annehmend, ist ein erniedrigendes Eingangsritual, indem die schmerzhafte Fingerquetschung im inszenierten Handkuss, die die Möglichkeit einer jederzeit fortsetzbaren körperlichen Gewalt auf den Plan ruft und mit einem während des Verhörs in ihre Tasche geschmuggelten abgeschnittenen fremden Fingers auf grausame 40 41 42 43
Ebd., S. 133. Ebd., S. 134. Ebd., S. 135. Zur Macht, Ohnmacht und zum widerständigen Charakter des autofiktionalen Schreibens im Roman Heute wär ich mir lieber nicht begegnet vgl. Ph. Müller, »Fluchtlinien der erfundenen Wahrnehmung. Strategien der Überwachung und minoritären Schreibformen in Herta Müllers Roman, ›Heut wär ich mir lieber nicht begegnet‹«, in: Text & Kritik (Fn. 15), S. 49–58. 44 In Ihrem Gespräch mit Angelika Klammer erzählt Herta Müller, dass ihre Einbestellungen immer nur mündlich stattfanden: »Wir wurden mündlich zum Verhör bestellt, nie schriftlich, damit wir keinen Beweis haben. Wir wohnten im Wohnblock, fünfter Stock. Es klopfte an der Tür, ein Mann im schmierigen Anzug stand da – ein Bote – Er sagte, morgen oder in drei Tagen oder nächste Woche um soundso viel Uhr beim Geheimdienst.« (AK, S. 126).
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Weise unterstrichen wird.45 Der schmerzhafte und zugleich ekelerregende feuchte Handkuss, deren Reste die Dissidentin am Hosenbein abwischt, wird von verbalen Erniedrigungen flankiert,46 in deren »Gift« sich die Verhörte entblößt, »am ganzen Körper barfuß fühlt«.47 Um dem Quetschen beim Handkuss soweit es geht zu entkommen, übt sie den Handkuss zu Hause mit ihrem Partner; der suggerierten Allwissenheit (»Man sieht, was du denkst, es hat keinen Sinn, zu leugnen, wir verlieren nur Zeit«48) versucht sie sich in stillen Selbstgesprächen zu erwehren: »Wenn Paul nicht sieht, was ich denke, sieht er es schon lange nicht.«49 Eine der ausgeklügelten Befragungstechniken setzt dabei unmittelbar an der Sprache an und wird nicht nur von der Romanfigur Major Albu vorgenommen, sondern auch in Herta Müllers autobiographischen Essays Wenn wir schweigen werden wir unangenehm, wenn wir reden, werden wir lächerlich und Wie Wahrnehmung sich erfindet reflektiert. In den ausgedehnten, die Konzentration strapazierenden Verhören werden bestimmte Fragen immer wiederholt, jedoch mit minimalen Änderungen und Umstellungen, bis in der stundenlangen Permutation von Frage und Antwort die Grenze zwischen Berichtetem, Gelebtem, Verschwiegenem und Erlogenem sich im Kopf des Befragten langsam aufzulösen beginnen. Diese Methode treibt ihre Blüten über das Verhör hinaus, denn das Spiel aus Frage und Antwort setzt sich in der Hoffnung, diese Grenzen neu zu setzen, im Selbstgespräch fort: »Vor Gesprächen mit Vorgesetzten, mit Behörden, von Verhören beim Geheimdienst habe ich mir oft mit halblauter Stimme helfen wollen. Etwas einüben, um etwas anderes zu verhindern. Wie oft habe ich halblaut allein meine Sätze verdreht und verwandelt. Bis der Weg schaukelte im Park, oder der ganze Park, oder das Zimmer.«50 Ein Heilmittel gegen diese Orientierungslosigkeit in der 45 H. Müller, Heute wär ich mir lieber nicht begegnet, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch 2006, S. 159–161. Herta Müller berichtet in dem Gespräch mit Angelika Klammer über einen ganz ähnlichen Fingerfund in ihrer Handtasche, vgl. AK, S. 118. 46 »Na na, deine Augen sind heute entzündet. Mir scheint, dir wächst ein Schnurrbart, in deinem Alter ein bisschen früh. Ach, das Händchen ist heute eiskalt, hoffentlich nicht vom Kreislauf. Oje, dein Zahnfleisch schrumpft, als wärst du deine Oma.« H. Müller, Heute wär ich mir lieber nicht begegnet (Fn. 45), S. 9. 47 Ebd., S. 10. 48 Ebd., S. 18. 49 Ebd. 50 H. Müller, »Der Teufel sitzt im Spiegel«, in: dies., Der Teufel sitzt im Spiegel (Fn. 21), S. 19. Vgl. auch H. Müller, Heute wär ich mir lieber nicht begegnet (Fn. 45), S. 35: »In kurz oder lang gestreuten Abständen, damit es mich verwirrt, fragt er mindestens dreimal dasselbe, bevor er mit der Antwort zufrieden ist. Erst dann sagt er: Siehst du, jetzt verbinden die Dinge sich.«
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Permutation des Selbstgespräches vor und nach dem Verhör bietet die Natur, die jenseits der vom Regime verordneten erlogenen Realität steht. In ihrer eigenen ›Naturhaftigkeit‹ hilft sie auch die ›Naturhaftigkeit‹ des Verhörs als eine allgemeine und nicht auf sich persönlich zu beziehende Aggression zu verstehen.51 Das Naturding wird zu einer »Orientierungsnadel«,52 die jedoch im stummen Zeigen besteht und auch anderen Menschen nicht (gut) kommuniziert werden kann.53 Aber auch die poetische Sprache kann zu einer solchen »Orientierungsnadel« werden, in der sich das in Lüge, beständiger Sinnpermutation und Angst gestörte Verhältnis von Ding und Sprache wieder einfinden kann. Der Rhythmus und eine in Sprache bewahrte andere Weltsicht wirkt insbesondere in den existentiellen Momenten vor und nach den Verhören wie ein sinnlich und zugleich geistiger Schutzmantel: »Auf dem Hin- und auf dem Rückweg sagte ich mir die Gedichte und Liedtexte im Schritttempo: ›Welt, Welt, Schwester Welt, wann hab’ ich dich satt...‹ Ich war sowieso die wacklige Nachahmung von mir selbst, das Surreale tat mir gut. Ich ging wie zweimal ferngesteuert, einmal von der Normalität der Straße in den Irrsinn des Verhörs hinein. Und abends dann aus dem Irrsinn auf die Straße hinaus.«54 Neben den Liedern der rumänischen Sängerin Maria Tanase, die im vorangehenden Zitat mit ihren Versen das Schritttempo bestimmte, 51 »Wenn ich nach den quälenden Verhören wieder auf der Straße ging, der Kopf zerwühlt, die Augen starr wie eine Gipsfüllung, die Beine fremd wie von jemand anderem geliehen, wenn ich in diesem Zustand auf dem Heimweg war, zeigten mir diese Pflanzen, was mit mir los – und mit Worten nicht zu sagen war. […] Mir zeigte die Dahlie, daß ich das Verhör als Dienstpflicht des Vernehmers zu begreifen habe, daß die Kerben auf dem kleinen Verhörtisch von all den anderen sind, die vor und nach mir verhört werden, daß ich also ein Fall von vielen, aber dennoch ein Einzelfall bin. Was mich verstört, ist normaler Alltag des Vernehmers, nichts als Routine in seinem grässlichen Beruf, das zeigte mir die Dahlie.« H. Müller, »Wenn wir schweigen werden wir unangenehm, wenn wir reden, werden wir lächerlich«, in: K, S. 77. 52 Ebd., S. 78. 53 Diese positive Besetzung der Natur und vor allem der Rückgriff auf Natur als einem politisch und kulturell unbesetzten Raum ist relativ selten, das unterstreicht A. K. Johannsen, »Herta Müller, Figuren des Einschlusses und der Stillstellung«, in: dies., Kisten, Krypten, Labyrinthe (Fn. 17), S. 165–215, S. 179. 54 AK, S. 135 f., vgl. auch das Essay »In der Falle«: »Doch auf dem Weg zum Versteck [der eigenen Gedichte, S. Sch.] sagte ich im Takt der Schritte Gedichte, die andere geschrieben hatten, vor mich hin. Ich nahm mir diese Gedichte für jeden Weg. Sie begleiteten mich. Ich schnitt sie beim Aufsagen so nahtlos auf mich selber zu, daß ich ihnen was schuldete.« (»In der Falle« (Fn. 18), S. 19). In diesem Essay erinnert Herta Müller auch an Ruth Klüger,
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waren es vor allem die Gedichte von Inge Müller und Theodor Kramer, die für Herta Müller eine solche Orientierungsfunktion übernahmen: »[...] ich fand in ihren Texten ein Menschenbild, nach dem ich mich sehnte, wenn ich nicht wußte, wie es in der Spanne zwischen Stirn und Füßen mit meinem und dem Leben einer handvoll naher Freunde weitergehen soll.«55 Das mit dem ganzen Körper im Schritt vollzogene stumme Rezitieren überwindet dabei sowohl das Nicht-sprechen-Dürfen wie das Nicht-sprechen-Können, indem sich die eigene Angst und Verletzlichkeit in dem »aus der Todesangst hinausgesetzte(n) Wort«56 eines anderen einfinden kann.57 In der Gemeinschaft mit den Wörtern eines anderen, dem Stellvertreter-Sprechen oder sogar Stellvertreter-Leben58 wird die Einsamkeit jedoch nicht wirklich kommunikativ. Kann man Angst (mit)teilen? »Man kann sie höchstens verteilen« antwortet Herta Müller auf diese Frage, »aber das tut sie ja von selbst, wenn man befreundet ist. Man weiß übereinander Bescheid, ist ständig zusammen. Und das schützt, allein kann man die Angst nicht mehr durchbrechen, sie lässt keine Lücke mehr zu, sie kann einen verschlingen.«59 Eine gemeinsame Sprachpraxis, die half, Angst zu durchbrechen, waren Witze60 und Persiflagen. In
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die sich mit dem Aufsagen von Gedichten in stundenlangen Appellen aufrecht hielt (ebd., S. 18). Ebd., S. 6. Ebd., S. 9. Anders als bei Pastior oder Inge Müller stehen Theodor Kramers Gedichte für die Diktatur des Nationalsozialismus, in die – wie viele Rumäniendeutsche – Herta Müllers Vater als Mitglied der SS verstrickt war: »Ich konnte sie [die Gedichte Kramers, S. Sch.] nie lesen, ohne dass mir mein Vater einfiel. Und noch etwas: Ich habe meine Angst, mit der ich in den Mühlen des Geheimdienstes während der Ceausescu-Zeit zu leben hatte, nie mit dem Nationalsozialismus verwechselt. Und doch war ich sehr oft auf die Gedichte Kramers angewiesen, sie machten und nahmen mir Angst. Sie gaben mir Halt, ohne zu täuschen.« H. Müller: »Die Angst kann nicht schlafen«, in: SO, S. 230. »Angstmenschen sind lebenshungrig. Da ihr Leben rundherum eingeschränkt ist, leben stellvertretend für sie und uneingeschränkt die Worte der Gedichte. Und sei es uneingeschränkt in der Angst. Weil die Worte Angst enthalten, stillen sie auch Angst. Sie können die Angst nicht nehmen. Doch sie beruhigen, ohne zu täuschen, indem sie diese Angst noch einmal bestätigen.« H. Müller: »In der Falle« (Fn. 18), S. 19. AK, S. 113. »Über die Geheimdienstfiguren hat man Witze gerissen, über die Schikanen, drastische, vulgäre Witze. Es war ein Lachen um jeden Preis, angewachsen an die Angst. Eine Art eingeübte Pantomime, die man so bitter nötig hatte, um die Tatsachen auszuhalten. Relativiert so ein Glück die tägliche Menschenverachtung jener Zeit?« (H. Müller, »Cristina und ihre Attrappe oder
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ihrem Essay »Der König verneigt sich und tötet« beschreibt Herta Müller zum Beispiel wie sie mit ihren Freunden die Verhörtaktik der Securitate nachstellten, Wortverdrehung und die endlose Variation vermeintlich einfacher Tatsachen imitierten und zwischen den Zeilen das System demaskiert haben. So erfanden die Freunde anlässlich des vermeintlichen Selbstmordes eines Parteimitgliedes während einer Jagd unter Funktionären, der offiziell als Jagdunfall deklariert wurde, ein politisches ›Märchen‹, indem sie den Märchenanfang immer wieder neu gestalteten: »›Es war einmal, wie es niemals war.‹ So beginnen alle Märchen im Rumänischen. Und schon dieser klassisch rumänische Märchenanfang, der auf armselig gestrickte Lügen des Regimes verwies, war Grund genug, um genüßlich zu lachen. Dann ging es schubweise weiter: ›Es war einmal, wie es war. Und das war damals, als es war, wie es niemals war. Es war einmal, da war es egal, wie es war. Und es war ein Mal, von dem man nicht weiß, zum wievielten Mal es war, wie es niemals war. Aber es war einmal auf der Jagd, als es zum letzten Mal war, ein Jäger mit anderen Jägern, von denen man nicht weiß, zu wievielt sie waren. Als weit und breit, obwohl man nicht weiß wie weit und wie breit, kein anderer Jäger war, außer dem einen, von dem man nicht weiß, der wievielte von wie vielen Jägern er war ...‹«.61
4. Hausbesuche oder der Angriff auf die Selbstverständlichkeit der Wahrnehmung Ist die Angst vor dem Verhör groß, so schwebt über allem die Angst, plötzlich von der Straße zu verschwinden: »Das Abfischen von der Straße weg machte mehr Angst als eine Vorladung. Niemand wusste, wo man ist. Man hätte verschwinden, nie wieder auftauchen oder, wie damals angedroht, als Wasserleiche aus dem Fluss gezogen werden können. Es hätte geheißen: Suizid.«62 Keiner dieser versteckten Morde und Entführungen ließ sich jedoch beweisen, was die Ohnmacht potenzierte: »Man weiß es, kann aber, was täglich geschieht, nie beweisen. Wo ein Mensch was (nicht) in den Akten der Securitate steht«, in: SO, S. 46) »Drastische Witze als imaginäre Demontage des Regimes. Selbstermutigung, weil jene, über die wir lachten, unser Leben jeden Tag beenden konnten. Die kollektiv gebauten Lachgeschichten waren eine vergnügt gewonnene, aber noch mehr eine gestohlene Heiterkeit.« H. Müller, »Der König verneigt sich und tötet«, in: K, S. 66). Mit Flüsterwitzen während der Diktatur beschäftigt sich auch der Beitrag von M. Maataoui in diesem Band. 61 H. Müller, »Der König verneigt sich und tötet«, in: K, S. 65. 62 H. Müller, »Cristina und ihre Attrappe oder Was (nicht) in den Securitate-Akten steht«, in: SO, S. 54.
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verschwand, blieb Stille, Angehörige und Freunde mit zu großen Augen. Der Stadtkönig lässt sich seine Schwächen nicht anmerken, wenn er torkelt meint man, er verneigt sich, aber er verneigt sich und tötet.«63 Vor diesem Zugriff war man noch nicht einmal geschützt, wenn man die Ausreise in den Westen geschafft hatte, denn die Securitate agiert auch auf ausländischem Terrain oder erpresst die Ausgereisten mit Repressalien der Freunde und Verwandten, die noch in Rumänien verblieben sind.64 Eine weitere wohldurchdachte Methode im System Angst, neben den ausgeklügelten Verhörtechniken, sind die ›Hausbesuche‹ bei den unter Beobachtung stehenden Personen. So berichtet Müller in ihrem Essay »Cristina und ihre Attrappe oder Was (nicht) in den Securitate-Akten steht«: »Der Geheimdienst kam und ging, wie er wollte, wenn wir nicht zu Hause waren. Oft wurden absichtlich Zeichen hinterlassen, Zigarettenkippen, Bilder von der Wand aufs Bett gelegt, Stühle umgestellt. Das Unheimliche zog sich über Wochen hin. An einem Fuchsfell, das auf dem Fußboden lag, wurde nach und nach der Schwanz, die Füße und zuletzt der Kopf abgeschnitten und an den Fuchsbauch drangelegt. Es war Psychoterror, man sah die Schnitte nicht. Beim Putzen bemerkte ich zum ersten Mal, dass der Schwanz abgeschnitten dalag.«65 Die Episode eines bei derartigen Hausbesuchen sukzessive zerschnittenen Fuchsfells geht in den Roman Der Fuchs war damals schon der Jäger (1992) ein und wird dort in seiner Auswirkung auf die Wahrnehmung literarisch analysiert. Der Roman erzählt den rumänischen Kleinstadtalltag in den letzten Monaten vor dem Zusammenbruch des Ceausescu-Regimes und trägt, wie die Prosa Herta Müllers generell, starke autobiographische Züge. Hauptfigur ist die Lehrerin Adina, die in den Blickfang des Geheimdienstes gerät und Opfer eben jener Hausbesuche wird. Die Übergriffe der Securitate zeichnen sich zunächst natürlich dadurch aus, dass sie unangekündigt und durch verschlossene Türen hindurch in den intimen Bereich des Wohnraums eindringen und Dinge zerstören, die wie das Fuchsfell Erinnerungstücke darstellen; indem diese Dinge mit der Geschichte und Identität einer Person verbunden sind, wird in ihrer sukzessiven Zerstückelung bei jedem Hausbesuch stellvertretend auch 63 H. Müller, »Der König verneigt sich und tötet«, in: K, S. 50. 64 Vgl. H. Müller: ›Ich glaube an die Sprache‹ (Fn. 23), S. 41. 65 H. Müller, »Cristina und ihre Attrappe oder Was (nicht) in den Securitate-Akten steht«, in: SO, S. 57. In dem Essay setzt sich Herta Müller mit ihrer Akte auseinander, in der sie mit dem Decknamen »Cristina« geführt wird. Der geheimdienstliche Bericht über ihr Leben ebenso wie die Streichungen in dieser Akte in einem ›Reinigungsakt‹ nach dem Regimewechsel, sind auch Anlass zur Reflexion über den Umgang mit der Vergangenheit in Rumänien heute, über die Fortsetzung der personalen Macht der Securitate-Mitarbeiter im gegenwärtigen Rumänien mit Rückblenden zu den Techniken der Überwachung und des Verhörs.
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die Person angegriffen. Zugleich ist diese offensichtliche Zerstörung des privaten und für die eigene Identität bedeutungsvollen Gegenstandes nicht die schlimmste Folge dieser Besuche. Wesentlich tiefer reichen und folgenschwerer sind die Minimalinterventionen im Wohnraum, wie das Hinterlassen einer Zigarettenkippe in der Toilettenschüssel, das Verrücken eines Stuhles oder Gegenstandes, denn sie sind kaum wahrnehmbar, denn es kann nicht mit Sicherheit gesagt werden, ob der Geheimdienst in der Wohnung war und wenn ja wann. Kann man nicht mehr mit Sicherheit sagen, wie man einen Stuhl oder die Zeitung auf der Konsole beim Verlassen der Wohnung hinterlassen hat, ob man die Toilettenspülung gezogen hat oder nicht, setzt eine gesteigerte Wachsamkeit ein, die die eventuellen Interventionen aufspüren soll, wenn die eigenen systematischen Kontrollgänge zu keinem Ergebnis mehr führten.66 Anstelle eines schärfer eingestellten Erinnerungsraumes, der das Eigene vom Fremden trennen hilft, öffnet sich dem Opfer dieser Zersetzungstaktik jedoch ein »Magnetkreis«67 der Paranoia, in dem alle Dinge einen »Schatten«68 tragen. »Beim nochmaligen luziden Auffädeln der Vorfälle lag einem der Schädel wuselnd um Haaresbreite neben dem Wahn.«69 Die Suche nach Indizien der Intervention verselbständigt sich von der ersten Verunsicherung hin zu einem permanenten Appell, dem Anschein der Dinge zu misstrauen und nährt einen »fremden Blick«, der das Wahrgenommene zerlegt, wie Herta Müller in ihrem gleichnamigen Essay »Der Fremde Blick« untersucht: »Er [der fremde Blick, S. Sch.] kommt aus den vertrauten Dingen, deren Selbstverständlichkeit einem genommen wird. Niemand will Selbstverständlichkeit hergeben, jeder ist auf Dinge angewiesen, die einem gefügig bleiben und ihre Natur nicht verlassen. Dinge, mit denen man hantieren kann. Wo die Spiegelung beginnt, 66 »Ich wollte mir die Wohnung durch diese Kontrollgänge vertraut halten, aber sie wurde mir umso fremder. Daß ein Zimmerstuhl in der Küche stand, war nicht zu übersehen. Aber bei kleinen Veränderungen, wenn ich sie entdeckte, wusste ich nicht, ob sie von heute sind, ob ich sie gestern oder mehrere Tage lang nicht gesehen hab.« H. Müller, »Der Fremde Blick oder das Leben ist ein Furz in der Laterne«, in: K, S. 134. 67 »Weil der Verfolger nicht nur körperlich anwesend, sondern aus den intimsten Dingen heraus, die ihn personifizieren, beobachten kann, fühlt sich der Bedrohte, was immer er in seiner Wohnung mit sich und seinen Gegenständen tut, mit dem Verfolger Aug in Aug und beobachtet sich und ihn gleichzeitig. Es entsteht ein wechselwirkendes, aufeinander lauerndes Geschau beider Seiten, ein wilder Magnetkreis beim Verhör.« Ebd., S. 139. 68 Vgl. dazu auch die Reflexion dieser Hausbesuche in: »Der Fremde Blick«, ebd., S. 139. 69 Vgl. ebd., S. 135. Im Bild des zerschnittenen Fuchsfells zeigt sich diese verunsicherte Wahrnehmung auch dadurch an, dass Adina auf dem Fuchs ausrutscht und im wahrsten Sinne des Wortes ins Wanken gerät.
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finden nur noch abstürzende Vorgänge statt, man blickt aus jeder kleinen Geste in die Tiefe. Das Einverständnis mit den Dingen ist kostbar, weil es uns schont. Man nennt es Selbstverständlichkeit.«70 Im Roman Der Fuchs war damals schon der Jäger werden die Dinge im »fremden Blick« der Protagonistin zu Akteuren, die Sprache verdichtet sich poetisch: »Am Küchenfenster steht der Mond, so aufgedunsen, daß er nicht bleiben kann. Er ist vom frühen Morgen angefressen. Es ist sechs Uhr, und der Mond ist übernächtigt, hat noch drei gelbe Finger und einer ist grau und hält ihm die Stirn. Die frühen Busse rauschen, oder ist es oben die Grenze der Nacht, an der der Mond, weil er nicht rund ist, hängen bleibt, wenn er die Stadt verlässt. Hunde jaulen, als wär die Dunkelheit ein großes Fell gewesen, und die Leere der Straßen im Schädel ein ruhiges Hirn.«71 Der Versuch Schnaps zu kaufen, um sich zu betrinken und dem psychischen Schwanken einen physischen Grund zu verleihen, misslingt, und die Protagonistin findet schließlich Zuflucht in der Wohnung von Freunden. Stellvertretend für das ins Wanken geratene eigene Dingsystem wird die vertraute Wohnung der Freunde und schließlich das noch angewärmte Bett zu einem Schutzraum, in dem sich der Tanz der Dinge und ins Surreale gesteigerte Sprache in einer sprachlich nüchternen Bestandsaufnahme wieder beruhigen: »Da stehen Adinas Schuhe im Flur. Da liegt ihr Mantel im Zimmer auf dem Stuhl, da liegt ihre Strumpfhose auf dem Fußboden. Der kahle Ast, der Flieder wird, steht in der Vase neben dem Bett. Das Bett ist noch warm von Anna.«72 Eine ähnliche Technik des Geheimdienstes, die die Destruktion vertrauter Wahrnehmung zum Ziel hatte, bestand in der Andeutung von Unfällen und Übergriffen. Entscheidend bei dieser Methode ist, dass derartige Übergriffe nie zweifelsfrei dem Geheimdienst zuzuordnen sind und so immer die Möglichkeit offenlassen, dass es sich um eine Koinzidenz, einen unglücklichen Zufall handelt. So überlebt der Lebenspartner Paul in Heute wär ich mir lieber nicht begegnet nur knapp einen Motoradunfall, der retrospektiv im letzten Verhör angekündigt zu sein schien.73 In dem Essay »Der Fremde Blick« erinnert sich Herta Müller an die scheinbar zusammenhangslos hingesagte Bemerkung des Geheimdienstlers: »Es gibt auch Unfälle«, der Tage später tatsächlich ein Fahrradunfall folgte und die Bemerkung rückblickend zu einer Bedrohung werden lässt. Auch ein gewöhnlicher Frisörbesuch, bei dem das Blondiermittel die Kopfhaut verätzt, reklamiert der Geheimdienstmitarbeiter mit der lapidaren Bemerkung »Blondsein muß leiden, nicht wahr« für sich und 70 Ebd., S. 147. 71 Vgl. H. Müller, Der Fuchs war damals schon der Jäger, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1992, S. 191 f. 72 Vgl. ebd., S. 196. 73 Vgl. H. Müller, Heute wär ich mir lieber nicht begegnet (Fn. 45), S. 139–141.
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lässt die falsche Dosierung des Bleichmittels zu einer geplanten Körperverletzung werden.74 In diesem Sinne ist das Ende des Romans Heute wär ich mir lieber nicht begegnet verstörend, denn nun gerät sogar der eigene Partner Paul in den Bannkreis derartiger losgelassener im Verhör gezüchteter Verdächtigungen. Dass sich die einem am nächsten stehenden Menschen als Spitzel entpuppen, ist jedoch nicht nur Ergebnis einer Verfolgungsangst, die alles in ihren Bann zieht, sondern gehört auch zu den traurigen Erfahrungen im Leben Herta Müllers und spaltet in Vorwürfen und Gegenvorwürfen bis heute die aus Rumänien stammenden deutschsprachigen Schriftsteller und Intellektuellen.75
5. Das Erbe der Angst In dem »Angstimperium«76 Ceausescus gab es eine ganze Reihe verschiedener Ängste, die sich als konkrete Ängste benennen und sogar auch in so etwas wie eine Rangfolge des mehr oder weniger bringen ließen: »Das Aufgefischtwerden war meine größte Angst. Die zweitgrößte war ein inszenierter Prozess – eine wirkliche Verurteilung mit erfundenen Beweisen und erpressten Zeugen.«77 Das eigentliche Ziel, das nach Müller erfolgreicher umgesetzt wurde als jedes Wirtschaftsziel des Landes, war jedoch die Erzeugung einer allumfassenden, inkorporierten Angst. Mit den zum Teil verklausulierten, zum Teil banalen, nie dingfest zu machenden Ankündigungen zukünftiger Übergriffe oder vagen Anspielungen stattgefundener Unfälle steigert sich die Macht des Geheimdienstes ins Uferlose und scheint in jedem Winkel des privaten Raumes potentiell präsent. Im gleichen Maße, wie sich die Bedrohung mit der suggerierten Allmacht des Geheimdienstes ausdehnt und letztendlich auf alles beziehen kann, dehnt sich auch die Angst aus, sie wird immer weniger konkret, immer diffuser. Hausbesuche, bei denen kaum wahrnehmbare Spuren hinterlassen werden, streuen einen Generalverdacht und haben einen Diffusionsprozess der Wahrnehmung zum Ziel, in der sich die Selbstverständlichkeit des Weltumgangs beginnt aufzulösen. Unter den Vorzeichen einer immer wachsameren und detailfokussierten Beobachtung 74 H. Müller, »Der Fremde Blick«, in: K, S. 131 f. 75 Neben Oskar Pastior, er wurde 2010 nach seinem Tod im Jahr 2006 als inoffizieller Mitarbeiter der Securitate unter dem Decknamen »Otto Stein« enttarnt, waren u. a. auch der deutschsprachige Schriftsteller Peter Grosz und der Germanist Andrei Corbea-Hoisie Mitarbeiter bei der Securitate. Ein Vorwurf der Mitarbeit ging auch an die Schriftsteller Claus Stephani, Dieter Schlesak und Werner Söllner. 76 AK, S. 132. 77 AK, S. 128.
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werden Mikroereignisse zu Angstauslösern, die sich kaum noch kritisch rekonstruieren lassen. Aber diese diffuse Angst breitet sich nicht nur über den Raum, sondern auch über die Zeit aus. Denn wie jedes erinnertes Erlebnis ist auch das angstbesetzte Erlebnis Teil einer »erfundenen Wahrnehmung«, in der sich Vergangenheit und Gegenwart überlagern. Auf diese Weise greift der Arm der Verfolgung nicht nur in Form von Handlangern ins Ausland hinein, sondern auch in Form der ausgereisten Erinnerungen, die jede neue Wahrnehmung programmiert – so wie die Gegenstände aus dem Lager in dem Roman Atemschaukel, das erinnerte Gepäck der »Nachtkoffersachen«, den Protagonisten Leopold Auberg auch in »Freiheit« immer wieder »heimsuchen«. Die Allianz von Wort und Ding, Sprache und Welt ist fragil und um die Stimmigkeit ihrer Entsprechung, die erlebte Authentizität der Sprache muss immer wieder neu gerungen werden. In dem von politischer Ideologie kontrollierten Stadtleben, in den Lügengeschichten des Verhörs, aber auch im immer gleich bleibenden Dorfalltag wird eine bestimmte Allianz von Sprache und Welt sanktioniert. Ihr gegenüber steht eine existentielle und eine politische Sprachlosigkeit, ein existentielles Nicht-sprechen-Können und ein Nicht-sprechen-Dürfen, an dem diese fragile Allianz zerbricht. Ein Mittel gegen Angst, ein Zufluchtsort im Sinne einer Orientierung und einer Möglichkeit, der eigenen Wirklichkeit wieder zur Sprache zu verhelfen, kann Literatur sein, die in Müllers stummem Schritt-für-Schritt-Rezitieren von Gedichten eine ganz körperliche Form annimmt. Zur Sprache kommt dieses Schweigen jedoch auch in Persiflage und Witz und in Schreibverfahren der Verdichtung, Fragmentierung und Montage als Kunst des Zwischen-den-Zeilen-Sprechens, wie sie für Müllers Prosa selbst charakteristisch ist. Aber ebenso wenig wie ein Schriftsteller oder eine Schriftstellerin in der Typologie der Angst per se dem Widerstand zuzuordnen ist,78 ist ein sprachliches Mittel per se subversive oder widerständige Technik des Schreibens und Sprechens. Es sind Mittel, die eine Sprachnormalität aufbrechen, möglicherweise gegen eine staatlich verordnete Sprachnormierung, aber ebenso auch als Folge einer durch Repression und Verfolgung zerstörten Selbstverständlichkeit 78 In Ihrem Essay »In der Falle« unternimmt Herta Müller den Versuch einer Typologie der Akteure innerhalb dieses von der Securitate aufgebauten »Angstimperiums«, das jedoch für alle »Menschen in allen Diktaturen« gilt, insofern sie »vor ähnlichen Grundsituationen stehen« und das in seiner gesamten Typologie auch für Schriftsteller zutreffen könne: Den »angstlosen Täter«, den »ängstlichen Täter«, den ängstlichen potentiellen Täter oder Mitläufer und denjenigen oder diejenige, die sich dem System nicht zur Verfügung stellen. Letztere sitzen »in der Falle« (H. Müller: »In der Falle« (Fn. 18), S. 11–16).
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auftreten können:79 »Das Einverständnis mit den Dingen ist kostbar, weil es uns schont. Man nennt es Selbstverständlichkeit.«80 Der »fremde Blick« als Merkmal dieses zerstörten Einverständnisses mit den Dingen, den Müller zum Beispiel in den verdichteten, kryptischen Sätzen ihrer wie Oskar Pastior deportierten Mutter findet, ist auch kein exklusives Merkmal der Literatur.81 Gleichwohl kann ihn sich die Literatur zu eigen machen. Die Aufarbeitung in Rumänien läuft schleppend und die alten Kräfte und Mächte sind oft nahtlos in das neue demokratische Regime gewechselt, Akten wurden verbrannt und gesäubert.82 Erst viele Jahre nach dem Fall des Ceausescu-Regimes erhält Müller Einblick in die eigene Akte, die unvollständig und geschwärzt viele offene Fragen hinterlässt, und die Belangung ehemaliger Mitarbeiter des Geheimdienstes scheint unmöglich: »Aber mein Vernehmer, so habe ich das von rumänischen Freunden gehört, ist als unschuldiger Rentner in seine Geburtsgegend zurückgekehrt. ER wurde niemals belangt.«83 79 Zur Diskussion dieser Frage vgl. S. Schmidt »Fremdeigene Wortreste« (Fn. 35), S. 611–614. Für P. Renneke, Poesie und Wissen. Poetologie des Wissens der Moderne, Heidelberg: Winter Verlag, 2008, S. 28 f. sowie im Anschluss an Renneke auch H. Mitterbauer, »Ästhetische Hybridisierung: Verfremdungstechniken in Herta Müllers ›Die blassen Herren mit den Mokkatassen‹«, in: P. M. Lützeler und E. McGlothlin (Hg.), Gegenwartsliteratur. Herta Müller (Schwerpunkt), Ein Germanistisches Jahrbuch 10 (2011), S. 75–92, hier S. 75, 89 f.) lässt sich Müllers in den Collagen gesteigerte Schreibpraxis sogar wesentlich allgemeiner und grundlegender als Widerständigkeit gegen den »Logos« und eine als »westlich« titulierte Denkstruktur lesen. Karin Bauer deutet im Rückgriff auf Adorno ähnlich weitreichend Herta Müllers Schreibweisen als Poetik der Nicht-Identität, durch die die Collage zu einem »Medium einer poetischen Wahrheit« werde. Vgl. »Editorial«, in: Dies. (Hg.), Literatur für Leser, 34/ H. 2 (2011), S. 63–69, hier S. 68. 80 Vgl. H. Müller, »Der fremde Blick«, in: K, insbesondere S. 147. 81 »Wer glaubt er habe sich den Fremden Blick erarbeitet durch stilistische Übungen und Sprachverständnis, weiß nicht, wieviel Glück er hatte, daß er dem Fremden Blick entgehen konnte. Er weiß nicht, daß er Nichtschreibenden gegenüber verächtlich ist und seine Eitelkeit an genau der Stelle aufbläst, an der die meisten Menschen nichtschreibend zerbrochen sind. Er weiß nicht, wie dreist und ungeprüft seine Attitüde daherkommt. Der Fremde Blick hat mit Literatur nichts zu tun. Er ist dort, wo nichts geschrieben werden und kein Wort geredet werden muß: bei den Holzsohlen, beim Fleischgrillen, beim Himmel des Picknicks, bei den Kartoffeln. Die einzige Kunst, mit der er es zu tun hat, ist, mit ihm zu leben.« Ebd., S. 150. 82 AK, S. 143 f. Vgl. auch ebd. S. 143: »Ich kann heute meine Akte lesen, aber das Geheimdienstpotential ist aus der Akte getilgt. Auch die drei Jahre in der Fabrik kommen in meiner Akte überhaupt nicht vor.« 83 Ebd., S. 142.
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Die Postdiktatur ist eine fragile Etappe auf dem Weg zur erhofften Demokratie und sie steht nicht nur vor der Aufgabe Verfolgung und Unrecht aufzuarbeiten, sie tritt auch eine Erbschaft an, die in den Verhaltens- und Erklärungsmustern, in Sprach- und Denkgewohnheiten der Menschen angesiedelt ist.84 Zu dieser Erbschaft gehört auch das »System Angst«. In dem jüngst gehaltenen Vortrag »Die Angstherrscher beherrschen das Angstvolk«85 auf der Brüsseler Konferenz European Angst am 5. und 6. Dezember 2016 markiert Herta Müller jene »Hinterlassenschaften der Diktatur« als »soziale Synapsen«, in denen sich Fremdenfeindlichkeit als eine altbekannte neubelebte Spielart der Angst erweist.86 In diesem Sinne wird die Analyse von Vergangenwart und Gegenheit auch zu einer aktuellen politischen Aufgabe.
84 Vgl. dazu auch Müllers Essay »ER und SIE. Armut treibt die Menschen an Ceausescus Grab«, in: dies., Hunger und Seide, Reinbeck bei Hamburg: Rowohlt 1995, S. 127–135. 85 URL: https://www.welt.de/debatte/kommentare/article160039053/ Die-Angstherrscher-beherrschen-das-Angstvolk.html, zuletzt abgerufen am 1.5.2017. 86 »Die Hinterlassenschaften der Diktatur sind ein Bündel von Abhängigkeiten. Die neue Freiheit hat diese nur zugedeckt, sie waren aber nie verschwunden. Die Diktatur ist vorbei, aber die sozialen Synapsen melden sich wieder und machen die osteuropäischen Länder mit ihren jungen Demokratien labil. [...] Die größte Gemeinsamkeit in Osteuropa war früher diese doppelte Angst. Heute ist es die Fremdenfeindlichkeit. [...] Auch die Fremdenfeindlichkeit ist eine Wiederkehr der doppelten Angst.« »Am einfachsten war es, die Fremden aus eigener Überzeugung zu verachten und ihnen Krankheiten anzudichten oder sie als halbwilde Untermenschen zu dämonisieren. [...] Diese Hochnäsigkeit war schon seinerzeit nichts anderes als Rassismus. Bei den Angstmachern war er zynisches politisches Programm. Bei den Angstträgern unbewusste Verlängerung dieses Programms.« (URL: https://www. welt.de/debatte/kommentare/article160039053/Die-Angstherrscher-beherrschen-das-Angstvolk.html, zuletzt abgerufen am 1.5.2016).
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Das Leben in der Warteschlange Literarische Figurationen realer Enthumanisierung im zeitgenössischen ägyptischen Roman am Beispiel von Basma Abdelaziz‘ Die Warteschlange Wer versucht, hinter diesen Vorgängen eine Logik oder ein System auszumachen, ist zum Scheitern verurteilt; vielmehr macht es den Anschein, dass die Irrationalität zum Ziel und Streben unserer Regierung geworden ist. Als sähe sie in der Abschaffung der Logik und in der Regellosigkeit ein geeignetes Mittel, um ihre Macht zu behaupten, ihre Gegner einzuschüchtern und ihre Anhänger so gut wie die Opposition in Angst und Unruhe zu versetzen. Mansura Eseddin1 Today, violence in society is taking the shape of torture. Aida Saif al-Daula2
Einleitung In den letzten Jahren sind eine Reihe Romane erschienen, die die Unterdrückung fundamentaler Bürgerrechte, eine willkürliche Verhaftungspolitik sowie Einschränkungen der freien Meinungsäußerung in Ägypten kritisch reflektieren und erzählerisch in eine dystopische Vision3 kleiden, 1
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M. Esedin, »Gespenster der Revolte« vom 25.01.2016, URL: https://de. qantara.de/inhalt/fuenfter-jahrestag-der-revolution-in-aegypten-gespenster-der-revolte (abgerufen am 30.05.2016). L. Attalah, »A beast that took a breack and came back« (Interview mit der Leiterin des Nadeem Center Aida Saif al-Daula), in: MERIP 275, Nr. 45, Sommer 2015, URL: http://www.merip.org/mer/mer275/beast-took-breakcame-back (abgerufen am 30.05.2016). Besonders der 2008 bei Merit erschienene Roman Utopia (Yūtūbiyā) von Ahmed Khaled Towfik, der von Regisseur Rami Imam verfilmt wurde und 2015 bei Lenos auch in deutscher Übersetzung erschien, wäre hier zu nennen. Vgl. hierzu z. B. den Artikel von C. Junge, »On Affect and Emotion
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bisweilen mit Bezügen zum Genre des Science-Fiction-Romans. Doch bereits zuvor hatten ägyptische und andere arabische Autorinnen und Autoren die in den Diktaturen oder unter Militärokkupation existierenden enthumanisierenden Lebensbedingungen thematisiert, mit denen sich die westliche Politik angesichts der einzig denkbaren Alternative zum Autoritarismus, dem islamistischen Modell, Jahrzehnte lang mehr oder weniger offiziell arrangiert hatte.4 Neben dystopischen Romanen gewähren vor allem das Gerne des Kriminalromans sowie dokumentarische, sich bisweilen an das Genre des Tagebuchs annähernde Romane (sing. riwāya tawthīqīya), wie zum Beispiel Hamdī al-Baṭrāns Yaumīyāt ẓābiṭ fī al-aryāf (Tagebuch eines Offiziers auf dem Lande, 1998/2012), tiefreichende Einblicke in entrechtende und korrumpierende Zustände, in denen grundlegende menschliche Rechte und Bedürfnisse umfassend verneint werden.5 In meinem Beitrag untersuche und diskutiere ich die literarische Figuration einer Politik der Angst und den Versuch von Seiten der Autorin, erzählerisch einen subversiven Gegendiskurs gegen die Mechanismen dieser Angst und der daraus resultierenden Zerstörung menschlicher Individuen zu entwickeln: den an die ägyptische Gesellschaft adressierten, im Frühjahr 2013 beim Verlag Dar al-Tanwīr erschienenen Roman aṭṬābūr (Die Warteschlange) der 1976 geborenen Psychiaterin, Künstlerin und Aktivistin Basma ʿAbd al-ʿAzīz (im Folg.: Basma Abdelaziz).6 Der Roman ist ein bemerkenswerter Seismograph der derzeitigen sozio-politischen und kulturellen Realität und jüngsten Vergangenheit Ägyptens und gewährt darüber hinaus repräsentative Einblicke in Deutungen, die
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as Dissent«, in: F. Pannewick, G. Khalil (Hg.), Commitment and Beyond. Reflection on/of the political in Arabic literature since the 1940s, Wiesbaden: Reichert Verlag 2015, S. 260 ff. Im Rahmen mehrerer staatlicher Maßnahmen zur Repression oppositioneller Akteure wurden im Februar 2016 nicht nur das Kairoer Nadeem Center for the Rehabiliation of Victims of Violence, sondern auch der Merit-Verlag und sein Verleger Mohammed Hashem mittels vorgeschobener juristischer Begründungen attackiert. Für einen Überblick über die subversive arabische Literatur der Jahrzehnte vor den arabischen Aufständen 2010/11 vgl. z. B. F. Pannewick und G. Khalil (eds.), Commitment and Beyond (Fn. 1); S. Milich, »Eine andere Welt ist möglich: Der arabische Frühling in der aktuellen arabischen Lyrik«, in: Peter-Weiß-Jahrbuch 21 (2012), S. 75–93. Das Buch des Generalmajors al-Liwā‘ Ḥamdī al-Baṭrān sorgte unmittelbar nach seinem ersten Erscheinen 1998 für Furore und wurde nach der Januarrevolution in der staatlichen Reihe Maktabat al-Usra (Familienbibliothek) neu aufgelegt. Vgl. B. Abdelaziz, aṭ-Ṭābūr (Die Warteschlange), Kairo: Dar at-Tanwir 2013. Sämtliche Zitate aus dem Roman sind von mir ins Deutsche übersetzt.
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sich oppositionelle ägyptische Intellektuelle von der Lebenswirklichkeit und den Zukunftsaussichten ihres Landes machen. Erzählerisches Kernelement in Die Warteschlange ist die Darstellung einer multi-traumatischen Lebenswelt, durch die drastisch deutlich wird, wie kritisch denkende, für ihre legitimen Rechte kämpfende Bürgerinnen und Bürger von Seiten der politischen Herrschaft als Personen gebrochen und enthumanisiert werden. Horkheimer definierte Entmenschlichung in seiner Kritik der instrumentellen Vernunft nicht allein angesichts der Katastrophen des Zweiten Weltkriegs und des Holocaust, sondern auch der fortschreitenden und nicht nur von autoritären Staaten zur Machtsicherung genutzten Technisierung. Fortschritt und technische Errungenschaften aber dienen nicht dem Menschen, sondern den partikularen Interessen einer subjektiven Vernunft, die den Menschen selbst instrumentalisiert: »Das Fortschreiten der technischen Mittel ist von einem Prozeß der Entmenschlichung begleitet. Der Fortschritt droht das Ziel zunichte zu machen, das er verwirklichen soll – die Idee des Menschen. Ob dieser Zustand eine notwendige Phase im allgemeinen Aufstieg der Gesellschaft insgesamt ist oder ob er zu einem siegreichen Wiedererstehen der jüngst auf den Schlachtfeldern besiegten neuen Barbarei führen wird, hängt wenigstens zum Teil von der theoretischen Fähigkeit ab, die tiefen Veränderungen, die im öffentlichen Bewusstsein und in der menschlichen Natur statthaben, zu interpretieren.«7 Während für Horkheimer die Frage nach den enthumanisierenden Auswirkungen des technischen Fortschritts, der Dominanz der subjektiven Vernunft und einer daraus hervorgehenden neuen Form der Barbarei im Vordergrund stand, meint Enthumanisierung im Fall des Romans, der sich hierbei an George Orwells dystopische Totalitarismuskritik in 1984 anlehnt, das Brechen und Zerstören widerständiger Menschen durch eine unangreifbare politische Macht. Diese politische Macht setzt alle erdenklichen Mittel dafür ein, absolute Kontrolle über die Menschen auszuüben und ihnen damit nicht nur ihre Würde, sondern auch ihre Identität zu rauben und ihre Persönlichkeit gewaltvoll zu verändern. Im Folgenden werden die Handlungsstränge und Figurenkonstellationen des Romans unter Berücksichtigung narrativer Strukturen und Techniken ›dicht‹ beschrieben und gedeutet. Nach einer kurzen Zusammenfassung der Handlung konzentriere ich mich auf eine Figurenanalyse der beiden männlichen Protagonisten Yaḥyā (im Folg. Yahya) und dessen Arzt Ṭāriq (im Folg. Tarek). Anhand zweier weiterer weiblicher Figuren und deren Schicksalen soll dann gezeigt werden, wie der Staat sich dem Bereich Gesundheit und medizinische Versorgung 7
M. Horkheimer, Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, Frankfurt a. M.: Fischer Verlag 2007, S. 14.
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bedient, um seine Bürgerinnen und Bürger willfährig und konform zu machen und jede Form des solidarischen Handelns zu zerschlagen. Da, so meine Ausgangsthese, zahlreiche ägyptische und arabische Autor/innen sich aufgrund der expansiven Präsenz und der Zwänge, die die Politik auf ihre Lebensverhältnisse ausübt, in ihren Werken oft sehr nah am Politischen bzw. der gesellschaftspolitischen Realität bewegen, und diese Werke häufig durch das Einfügen von Wirklichkeitssignalen oder real erscheinenden Dokumenten und Gegebenheiten in ihrem skandalösen Entmenschlichungspotential geprägt sind, ergibt sich eine sehr engmaschige Beziehung zwischen Text und Welt. Pionier dieser »doku-fiktionalen«8 Schreibrichtung in Ägypten war der Romancier Ṣunʿallāh Ibrāhīm.9 Aufgrund dieser engen Verflechtung zwischen literarischem Text und sozialer Wirklichkeit, die sich fortwährend ineinander schreiben, greife ich zur Interpretation des literarischen Werks nicht nur auf zeitgeschichtliche Informationen und Berichte von arabischen Aktivisten/NGOs, sondern auch auf Fachliteratur arabischer Psycholog/innen zurück. Denn während erst vor jüngerer Zeit festgestellt wurde, dass die wissenschaftliche Erforschung des Dschihadismus eines sozialpsychologischen Befundes bedürfe,10 zu dem die Islamwissenschaft einen Beitrag leisten könne, gilt dies seit langem für die arabistische Beschäftigung mit nahöstlichen Literaturen in Bezug auf das Verstehen bestimmter sozialer und kultureller Dynamiken. Dennoch bediente sich die Arabistik meines Wissens eher selten explizit psychologischer und sozialpsychologischer Ansätze und Paradigmen, obgleich die psychologische Dimension und der ›psychologische Blick auf die Welt‹ insbesondere im Genre des Romans einen wesentlichen Raum einnehmen. Dies ist in einem Roman, dessen Autorin als Psychiaterin und Leiterin der Abteilung Patientenrechte der Abbasiyya-Psychiatrie in Kairo tätig ist und die sich 8
S. Mehrez, Egypt’s Culture Wars: Politics and Practice, London & New York: Routledge 2008, S. 37. 9 Ibrāhīm gehört zu den Autoren der Generation der 1960er Jahre und wird von einigen jüngeren ägyptischen Romanciers wie Abdelaziz oder Ahmed al-Aidy als wichtiges Vorbild genannt. Zu Ṣ. Ibrāhīm siehe z. B. S. Mehrez, ebd., S. Guth, »Between Commitment and Marginalization: The ‘Generation of the Sixties’ in the Sadat Era«, in: F. Pannewick, G. Khalil (Hg.), Commitment and Beyond. Reflection on/of the political in Arabic literature since the 1940s, Wiesbaden: Reichert 2015, S. 125–142, sowie Ch. Junge, »On Affect and Emotion as Dissent«, in: F. Pannewick u. G. Khalil (Hg.), ebd., S. 253–272. Vgl. den Beitrag von Ibrahim Abdella und Sarah Schmidt zu Ibrāhīms Roman Der Prüfungsausschuss in diesem Band. 10 Vgl. U. Steinbach, »Die Täter zu Opfern, die Opfer zu Tätern machen – Räume und Grenzen islamwissenschaftlicher Forschung«, in: M. Reinkowski, & A. Poya (Hg.), Das Unbehagen in der Islamwissenschaft, Bielefeldt: Transcript 2008, S. 236.
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landesweit mit psychologischen Studien11 zu Folter und staatlicher Gewalt einen Namen gemacht hat, umso relevanter, wie im folgenden Abschnitt zu zeigen sein wird.
Die Warteschlange als zeitgemäßer Lebensraum neoliberaler Autokratie: Entmenschlichungsstrategien einer unsichtbaren Macht Sämtliche großen politischen Probleme, die seit mindestens zwei Jahrzehnten von den unterschiedlichen ägyptischen Protestbewegungen wie beispielsweise der Bewegung des 6. April und Kifāya (Genug!/Es reicht!) oder von einzelnen oppositionellen Intellektuellen kritisiert wurden, finden sich – mit Ausnahme der Kritik an der Weitergabe von Hosni Mubaraks Präsidentschaft an Sohn Gamal – auch im Roman Die Warteschlange: Die quasi-institutionalisierte Verstrickung des Militärs in Politik, Wirtschaft und Medien; die Instrumentalisierung der Religion als Waffe in politischen Kämpfen, zur Legitimation von frauenfeindlichem Verhalten und zur Aufrechterhaltung ausbeuterischer Strukturen; die ineffektive, oft absurde Ausmaße annehmende staatliche Bürokratie; und nicht zuletzt die autoritäre Willkürherrschaft des Regimes, das weder vor Einschüchterung noch Folter durch staatliche Organe wie der Polizei zurückschreckt.12 Im Mittelpunkt dieses ersten Romans Basma 11 Zu Basma Abdelaziz‘ Publikationen zählen neben zwei 2007 und 2008 erschienenen Erzählbänden sowie zahlreichen Berichten zu Folter und Menschenrechtsverletzungen in Ägypten die drei Monografien Ḏākirat al-qahr: dirāsa ḥawla manẓūmat at-taʿḏīb (Die Erinnerung der Unterdrückung: eine Studie über das System Folter), Kairo: Dar al-Tanwir 2014, die Studie Iġrā‘ al-sulṭa al-muṭlaqa (Versuchung der absoluten Macht), Kairo: Dar al-Safsafa 2011, sowie Mā warā‘ at-taʿḏīb (Was steckt hinter der Folter), Kairo: Merit Verlag, das vierte Kapitel ihrer auf Englisch verfassten Diplomarbeit. Zuletzt legte sie eine kritische Studie zum politisch-religiösen Diskurs der Azhar vor: Saṭwat an-naṣṣ: ḥiṭāb al-Azhar wa-azmat al-ḥukm (Die Macht des Texts: Der Diskurs der Azhar und die Krise der Herrschaftsausübung), Kairo: Dar Sifsafa 2016, sowie den im Frühjahr 2018 erschienenen Roman Hunā, Badan (Hier, ein Körper) Darüber hinaus schreibt sie regelmäßig Kolumnen in der ägyptischen Tageszeitung Al-Shorouk. 12 Zum Verhältnis von Staat und Gesellschaft aus politikwissenschaftlicher Perspektive im Allgemeinen und den auf die Januarrevolution folgenden Prozessen im Besonderen schreibt Albrecht: »In the eighteen days between January 25 and February 11, Egypt witnessed a meltdown of political institutions and policing capacities. But the regime’s core institution – the military apparatus – survived and took over power in the immediate post-Mubarak period to establish a junta regime in transition.« H. Albrecht, Raging
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Abdelaziz’ steht Yahya, ein 38-jähriger, unverheirateter und im 9. Bezirk einer anonymen Hauptstadt wohnender Mann, der nach Beendigung seines Studiums und einer darauf folgenden, länger währenden Arbeitssuche eine Stelle als Handelsvertreter (mandūb mabīʿāt) gefunden hat. Mit diesen Personendaten, die auf der ersten Seite der Krankenakte Yahyas notiert sind, setzt der Roman ein, dessen sechs Hauptkapitel jeweils von einem Blatt dieser Krankenakte eingeleitet werden.13 In Yahyas Körper steckt eine Gewehrkugel fest und bedroht sein Leben. Mit großer Wahrscheinlichkeit von staatlichen Sicherheitskräften verwundet, als er sich aus beruflichen Gründen an dem Tage auf dem Platz aufhält, an dem die sogenannten schandvollen Ereignisse (al-aḥdāṯ al-mušīna) – die durch das Datum 18. Juni14 auf die 18 Tage der ägyptischen Januarrevolution von 2011 anspielen – geschahen, muss Yahya erst eine Genehmigung der neuen Macht im Land, der »Pforte des nördlichen Gebäudes« (bawwābat al-mabnā aš-šimālī) erhalten, um überhaupt operiert werden zu dürfen.15 Um diese Genehmigung zu erhalten, ist er, wie immer mehr Menschen im Land gezwungen, persönlich in der Warteschlange zu stehen, die unter der diktatorischen Herrschaft der Pforte zum neuen, alles bestimmenden Lebensraum wird. Zentraler Schauplatz der Handlungen des Romans ist somit nicht der bereits Reminiszenz gewordene Platz (as-sāḥa) der Rebellion, mit dem die Autorin auf den Tahrirplatz (Maydān at-taḥrīr) anspielt, sondern die Warteschlange vor dem Tor des nördlichen Gebäudes, Sinnbild des post-revolutionären Lebens unter der against the Machine: Political Opposition under Authoritarianism in Egypt, Syracuse: Syracuse University Press 2013, S. 175. 13 B. Abdelaziz, aṭ-Ṭābūr (Die Warteschlange) (Fn. 6), S. 7. 14 Ironischerweise war der zweite große Aufstand am 30. Juni 2013 gegen die Regierung von Muhammad Mursi. Obgleich der Roman vorher erschien, mag die Autorin die darauf folgenden Ereignisse, die sich für manche Beobachter bereits abzeichneten, im Sinn gehabt haben. 15 Mehrere ähnliche Fälle sind seit 2011 an die Öffentlichkeit gelangt, in denen Verwundete aufgrund ihrer politischen Aktivitäten durch staatliche Maßnahmen wie Inhaftierung und Verweigerung medizinischer Versorgung unter Druck gesetzt wurden: »Die 23-jährige Easraa El-Taweel verschwand, nachdem sie am 1. Juni vergangenen Jahres [2015; Anm. d. V.] mit mehreren Freunden zusammen festgenommen worden war. Zwei Wochen lang fehlte jede Spur von ihr. Dann tauchte die ägyptische Aktivistin und Fotojournalistin im Frauengefängnis von Qanatar auf. […] Ihre Untersuchungshaft verlängerte sich immer wieder, obwohl die junge Frau nach einer Schusswunde aus der Zeit des Aufstands gegen Mubarak 2011 kaum ohne Hilfe gehen konnte und dringend medizinisch versorgt werden musste.« K. El-Gawhary, Brief eines Häftlings, »Warum gibt das Innenministerium nicht zu, das ich 122 Tage unter seiner Aufsicht verschwunden war?« in: Die Tageszeitung (taz) vom 22.01.2016, S. 4.
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neuen Herrschaft der Pforte und Zentrum der Topographie des neuen Ägyptens. Doch die Pforte,16 wie die Tür in Franz Kafkas Vor dem Gesetz (1915), öffnet sich nicht, so dass die Regierung, die dahinter sitzt, unsichtbar und somit unangreifbar bleiben kann, denn genau in dieser maskenhaften Unsichtbarkeit liegt ihre Macht. Aus diesem Grund trägt die herrschende Macht den seltsamen Namen des Eingangs zu einem Gebäude, zu dessen Innenraum die Menschen weder Zugang noch Informationen besitzen. Die Figuren im Roman wissen bis zum Schluss nicht genau, wer sie regiert, manipuliert und verwaltet. Dennoch bleiben sie, ihre Hoffnung mit unterschiedlichsten Strategien am Leben erhaltend, für immer absurder anmutende Genehmigungen und dafür anfallende Gebühren in der Schlange stehen und beginnen dort ihr neues Leben: »Immer mehr Menschen traten der Warteschlange bei, die jedoch keinerlei Beziehung zueinander verband, außer dem Umstand, dass sie aus irgendeinem Grunde dort stehen mussten. Jeder von ihnen begann, sich sein Universum dort neu zu errichten [; …] alle blieben auf ihren Plätzen, obgleich keine offizielle Verordnung erlassen worden war, die das Verlassen der Schlange unter Strafe gestellt hätte.«17 Wie der Mann in Kafkas18 Vor dem Gesetz nehmen die Menschen in der Warteschlange den neuen Ort, den sie zugewiesen bekommen, zunächst widerspruchsfrei hin und stabilisieren damit die Strukturen der Herrschaftsausübung, die das Endziel verfolgen, dass irgendwann einmal kein weiterer Lebenszweck als das In-der-Schlange-Stehen für die erschöpften und zermürbten Menschen denkbar sein wird. Im Gegensatz zu Kafkas Parabel wartet indes nicht ein einziger Mann vor der 16 Abdelaziz scheint in ihrer Namensgebung für Die Pforte (al-bawwāba) von Francois Bizots Buch Le Portail (Titel der einst geplanten Übersetzung ins Deutsche war Die Pforte) über das Kambodscha der Roten Khmer inspiriert, dass sie in ihrem Buch über staatliche Gewalt und Folter Ḏākirat alqahr (Die Erinnerung der Unterdrückung, 2014) erwähnt. Darin weist sie im Zusammenhang mit den Herrschaftsstrategien der Roten Khmer auf deren Funktionalisierung der Selbstkritik als Mittel zur absoluten Kontrolle der Innenleben der Beteiligten hin. Das psychologische Instrument der Selbstkritik wird in der strukturell ambivalenten Moderne nicht nur als Mittel zur Heilung oder ›Verbesserung‹ der/s Menschen, sondern auch als politische Waffe und Werkzeug der Machtausübung und Kontrolle eingesetzt. Abdelaziz geht noch einen Schritt weiter, indem sie die vom System (der Roten Khmer) erzwungene Selbstkritik als extreme Form der Folter versteht. Vgl. S. Abdelaziz, aṭ-Ṭābūr, S. 286. 17 B. Abdelaziz, aṭ-Ṭābūr, Klappentext. 18 Zur Rezeption Kafkas in der modernen arabischen Literatur und Kulturkritik vgl. A. Botros, Kafka – Ein jüdischer Schriftsteller aus arabischer Sicht, Wiesbaden: Reichert Verlag 2009.
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Tür, sondern Massen, die gegenseitig in Beziehung treten und sich ihre Schicksale und Nöte erzählen. Immer wieder scheint so die Möglichkeit auf, dass sich aus der Schlange eine solidarische Gemeinschaft, »eine Hand«, bilden könnte, die politisch agierte.19 Die Pforte aber scheint fest im Sattel der Macht zu sitzen, wie sie bei der Bekämpfung rebellierender Demonstrant/innen während der schandvollen Ereignisse seit Antritt ihrer Herrschaft bewiesen hat: »Den Einheiten der wie Greifarme zupackenden Sicherheitskräfte, die seit ihrer Gründung sich solcherart Aufrührern angenommen hatten und die noch besser als unter der vorherigen Regierung ausgestattet waren, gelang es innerhalb weniger Stunden, die Protestierenden unter Kontrolle zu bringen und den Platz ohne große Mühen gänzlich zu säubern. Tarek [der für Yahya zuständige Arzt, S. M.] hatte nicht den geringsten Zweifel daran, dass die alles niedermachende Pforte den Sieg davon tragen würde. Dennoch empfand er alles andere als Begeisterung für deren Herrschaft, insbesondere wenn er daran dachte, welche Vorboten dieses Sieges er bereits zu sehen bekommen hatte. Angesichts der Verwundungen, die er in der Notaufnahme mit eigenen Augen gesehen hatte, hatte er ausreichend verstanden, dass die immer wiederkehrenden Proteste, die vor dem Erscheinen der Pforte aufflammten, und welche damals das alte System beinahe hinweggefegt hätten, sich kein weiteres Mal wiederholen dürften.«20 Die Zersetzungsmechanismen und die Repression, in der nicht nur die polizeiliche Gewalt, sondern auch die von der Regierung gesäte Angst und Zwietracht eine herausragende Rolle spielen, scheinen zu mächtig zu sein, als dass die Menschen sich füreinander öffnen könnten und sich solidarisch zusammenschlössen, um davon ausgehend ihre gemeinsamen Interessen durchzusetzen.21 Was Horkheimer in Bezug auf den 19 In einem Gespräch unter Wartenden ist beispielsweise die Rede davon, dass die Menschen in der Schlange doch eigentlich »eine Hand oder eine miteinander verbundene Gemeinschaft« bilden könnten. Dies spielt ironisch auf den Revolutionsslogan »Volk und Militär bilden eine Hand« an. Aufgrund des Neids der Menschen, die nicht in der Warteschlange stünden, so die Erklärung von der am Gespräch beteiligten Umm Mabrouk, komme es aber nicht zu einer nachhaltigen Solidarisierung. Hier klingt eine Perspektive an, die nicht ausschließlich die politische Macht als verantwortlich für die soziale Fragmentierung sieht, sondern auch das destruktive, von Affekten und negativen Emotionen geleitete Denken und Verhalten der Menschen. Vgl. B. Abdelaziz, aṭ-Ṭābūr, S. 85. 20 B. Abdelaziz, ebd., S. 15. 21 Dies wird bereits im ersten Unterkapitel Die Wartschlange veranschaulicht, als Yahya von einem hinter ihm in der Schlange stehenden jungen Mann angesprochen und nach dem Grund seiner Anwesenheit in der Schlange gefragt wird. Anstatt mitzuteilen, dass er eine absurde Genehmigung der Pforte zur
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Faschismus formulierte, der »[t]erroristische Methoden bei seinem Bemühen [benutzte, S. M.], bewußte menschliche Wesen auf soziale Atome zu reduzieren«,22 trifft im Roman auf die Herrschaftsstrategie der Pforte zu, die darauf aus ist, jeden Widerstand gegen die Irrationalität der Macht zu zerschlagen.
Die Figuren des Romans zwischen Unterwerfung und Auflehnung Doch ebenso sehr wie die aus Angst vor Repression geborene Konformität und Kollaboration sind auch der Widerstand und der Wille zur Wahrheit elementare Bestandteile des menschlichen Verhaltens, wie es der Roman schildert. So hören die Figuren, ohne Augenzeugen zu sein, immer wieder von Unruhen und Protesten in der Hauptstadt, die jedes Mal brutal niedergeschlagen werden.23 Während einige der Figuren, die sich während des Wartens in der Schlange begegnen und unterschiedliche gesellschaftliche Typen, Schichten und Milieus in Ägypten repräsentieren, relativ klar einer der beiden Gruppen (kritisch und widerständig versus konform und untertänig) zugeordnet werden können, durchläuft die Mehrheit eine komplexere Entwicklung, die vom Zusammenspiel von Persönlichkeitsdispositionen einerseits und im Laufe der Geschichte gemachten Erfahrungen andererseits gespeist wird. Zur Gruppe der durchgängig Widerständigen zählen neben Yahya der Journalist Ihab und Yahyas Freund, der arbeitslose Philosoph und Soziologe Nadschi, die »Frau mit den kurzen Haaren«, sowie die die Krankenakten verwaltende Oberschwester Alfat, die später, als sie selbst eine Genehmigung von der Pforte benötigt, zu den ersten Verschwundenen aus der Warteschlange zählen wird.24 Ihnen gegenüber steht ein islamistischer Frömmler und selbsternannter Prediger, der von der Erzählinstanz »Der mit dem langen Übergewand« operativen Entfernung einer lebensbedrohlichen Kugel aus seinem Körper benötigt, erzählt Yahya lediglich, dass er Schmerzen im Darm habe und dafür ein seltenes Medikament bräuchte (vgl. B. Abdelaziz, ebd., S. 22). Damit und mit ähnlichen Verhaltensweisen wird die neue Ordnung legitimiert, die Beziehungen der Menschen untereinander beruhen nicht auf stabilen Grundlagen, und Gefühle der Scham und Ehre erschweren sowohl den offenen Austausch als auch solide, auf Ehrlichkeit beruhende Bindungen, die Voraussetzung für die Entstehung einer solidarischen Gemeinschaft wären. 22 M. Horkheimer, Zur Kritik der instrumentellen Vernunft (Fn. 5), S. 179. 23 So besonders die zweiten schandvollen Ereignisse, die ab Seite 99 beschrieben werden. B. Abdelaziz, aṭ-Ṭābūr, S. 99 f. 24 Vgl. B. Abdelaziz, aṭ-Ṭābūr, S. 242.
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(ḏū l-ğilbāb) genannt wird, und der seine Umgebung mit Hilfe seines repressiven und entmündigenden Religionsverständnisses so wirkungsvoll unter Druck setzt, dass er eine zweite kollaborierende Macht im Mikrokosmos Warteschlange zu etablieren vermag. Seine Aktivitäten werden gestützt von der religionspolitischen Ordnung, dessen Repräsentant der höchste Scheich (aš-šayḫ al-aʿlā) ist, dessen Aussagen wiederum die Interessen von Regime und Wirtschaft stützen.25 Als eine Streikkampagne gegen ein Mobilfunkunternehmen (»das violette Unternehmen«) ausbricht, das gratis Handys verteilt, nur damit der Geheimdienst – so kommt später ans Licht – die Menschen leichter überwachen kann, veröffentlicht der höchste Scheich ein Fatwa (Rechtsgutachten), das Boykott und Streik unter göttliche Strafe stellt und in der alle rechtschaffenen Gläubigen dazu aufgefordert werden, »Nachrichten erst zu prüfen, bevor man sie glaubt. Wenn aber einer mit solchen Nachrichten kommt und solches behauptet, muss er erst Beweise dafür liefern, sonst ist er ein Scharlatan… es ist dem Gläubigen nicht gestattet, seinen Bruder zu boykottieren und ihm materiell oder symbolisch Schaden zuzufügen, und auch niemand anderen hierzu aufzurufen… dies ist eine schwere Sünde (iṯm min al-kubrayāt), ausgenommen es dient dem Siege der Religion. [… retten könne sich der Sünder nur dadurch, S. M.] dass er faste oder sieben Mal in Folge telefoniere und das in Abständen, die einen Monat nicht überschreiten. Dies ist unser Buch, das euch die Wahrheit verkündet […].«26 Der selbsternannte Prediger der Warteschlange nutzt diese nur schlecht verdeckte ›Interessenvertretung‹ von Regime und Wirtschaft, um in regelmäßigen Predigten die Menschen mittels der genaueren Bedeutungen des Fatwas zu manipulieren und damit nachhaltig zu gewährleisten, dass der Boykott gegen das betrügerische Unternehmen nicht nur im Sand verläuft, sondern auch noch den Profit erhöht. Um die Frauen »auf den Pfad der Rechtleitung und Wahrheit«27 zu bringen, verteilt er darüber hinaus kleine Schriften über Themen wie »Die Besonderheiten der Frauen«, »Die Rechte in der Ehe« oder »Die Absorptionskraft der weiblichen Verführungsmacht«. Diese ironische Anspielung auf die ›soziale Arbeit‹ der Muslimbrüder und anderer islamistischer Gruppen wird dadurch noch verstärkt, dass der Scheich in seinen Lehrstunden 25 Dies stellt in etwa die politischen Kräfteverhältnisse unter Mubarak dar, in dessen späterer Amtszeit die Muslimbrüder sich damit zufrieden gaben, die medialen, erzieherischen und karitativen Bereiche und damit die ›ägyptische Straße‹ zu dominieren, ohne aber das Militär, die Wirtschaftskonglomerate oder die Staatsklasse um Mubarak selbst ernstlich herauszufordern, während die Al-Azhar, die höchste religiöse Institution im Land, vom Staat kontrolliert wurde und wird, und deren Rechtsgutachten (fatāwā) häufig politische Interessen stützen. 26 B. Abdelaziz, ebd., S. 153. 27 Ebd., S. 211.
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schließlich Werbung für das »Zentrum der Freiheit und Reform« macht, das an den in der ägyptischen politischen Landschaft neu gewählten Namen der Partei für Freiheit und Gerechtigkeit der Muslimbrüder erinnert. Dies ist nur ein Beispiel aus dem Roman, das verdeutlicht, wie nahe die Erzählung trotz der dystopischen sowie satirischen und parodistischen Elemente auf die ägyptische Wirklichkeit bezogen ist.28 Die anderen, stärker in ihrer Individualität gezeichneten Figuren der Warteschlange vollziehen eine Entwicklung, die stets durch die Konfrontation mit den von der Macht geschaffenen Strukturen ausgelöst wird: Schalabi (Šalabī), der für die Ehre seines bei den Spezialkräften arbeitenden und dort getöteten Bruders kämpft, hofft zunächst darauf, dass die Opfer, die sein Bruder für das Land vollbrachte, nun ihm zugutekommen. Da seine Erwartungen an die neue Macht ebenso kalt und reglos wie bei allen anderen abgespeist werden, und er zudem von dem Sachbearbeiter der neben der Pforte liegenden Ausgabestelle für »Zertifikate wahrer Staatsbürgerschaft« erniedrigt wird, verliert er die Nerven und schlägt im Affekt durch die Gitterstäbe auf sein Gegenüber ein, das aufgrund der Gesichtslosigkeit der Macht die einzig sichtbare Angriffsfläche bildet.29 Eine freiheitlich und emanzipatorisch gesinnte Lehrerin (Īnās), die aufgrund ihrer freidenkerischen, demokratischen Haltung Arbeitsverbot erhielt, wird in der Warteschlange dermaßen eingeschüchtert, dass sie ihr kritisches Denken und Handeln am Ende aufgibt, sich von allem Politischen zurückzieht und zur konformen Adeptin und späteren Ehefrau des religiösen Eiferers wird.30 Die ums Überleben ihrer Familie kämpfende Mutter Umm Mabrouk (Umm Mabrūk), die im Roman die einfache und arme, aber gutherzige Frau aus der ägyptischen Unterschicht repräsentiert, erfährt von Seiten der Behörden wie von Seiten diskriminierender Mitbürgerinnen und Mitbürger ein solches Maß an Beleidigung, Aggression und Missachtung, dass auch sie gezwungen ist, immer wieder ihre Menschlichkeit aufzugeben, um zu überleben. Auf ihre Person und Geschichte sowie auf Yahyas Freundin Amānī (im Folgenden Amani) werde ich weiter unten ausführlicher eingehen, da beide Schlüsselfiguren des Romans sind, an denen besonders drastisch deutlich wird, wie die Mechanismen und Strategien der Entmenschlichung funktionieren und in welchen Verhältnissen zahlreiche Menschen heutzutage 28 So stellt Elisabeth Jaquette, in deren englischer Übersetzung der Roman 2016 erschienen ist, in ihrer Rezension fest: »Basma Abdel Aziz constructs a dystopic vision of Egypt – yet one not far from current reality.« E. Jaquette, ›The Queue‹ by Basma Abdel-Aziz auf Madamasr vom 7.07.2013 (URL: http://www.madamasr.com/sections/culture/%E2%80%98-queue%E2%80%99-basma-abdel-aziz (aufgerufen am 30. August 2015). 29 Vgl. B. Abdelaziz, aṭ-Ṭābūr, S. 238. 30 Vgl., ebd., S. 210 f.
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– nicht nur in Ägypten – leben. Zunächst aber kehren wir mit Yahyas Arzt (Tarek), dem zweiten Protagonisten des Romans, zum Anfang des Romans zurück.
Doktor Tarek: Der Gesundheitssektor als Schlachtfeld von Repression und Widerstand Bereits in der ersten Szene wird der Chirurg auf eine Weise eingeführt, die prägnant verdeutlicht, wie sehr Gewissenskonflikte in ihm arbeiten: »Das erste, was Tarek tat, als er am Morgen [im Krankenhaus] ankam, war, die [gemeint ist Yahyas, S. M.] Akte von der Oberkrankenschwester anzufordern. Sie brachte sie in einem transparenten Plastikumschlag, der an allen vier Rändern laminiert zu sein schien, und auf dem stand: »Bearbeitungsvorgang unterbrochen bis zum Erhalt einer Genehmigung von der Pforte«.31 Alles hatte damit begonnen, dass, nachdem Yahya mit weiteren Verwundeten in Folge der Ausschreitungen auf dem Platz von Unbekannten in das Krankenhaus gebracht worden war, der zuständige Arzt Tarek nicht nur die Blutung stoppen und die Wunden verarzten, sondern auch die Kugel herausnehmen wollte. Ein jüngerer Arzt jedoch, der bei der Behandlung Yahyas ebenfalls anwesend gewesen war, hatte Tarek darauf hingewiesen, dass das Entfernen von Kugeln – da möglicherweise Staatseigentum, wie später in einer neuen Verordnung32 und deren Auslegung bekannt gegeben wird – vor kurzem durch die Pforte verboten worden sei: »Zwischen beiden war ein scharfer Wortwechsel entfacht, bis der jüngere Arzt energisch einen Stapel sorgfältig abgelegter Papiere vom oberen Regal nahm und daraus einen Gesetzestext, gedruckt auf feinem, gelbem Papier, herausgriff, […] und Tarek bat, diesen doch zu lesen, bevor er irgendeine Entscheidung träfe. Tarek überflog den Text, um seinen Inhalt zu erfassen, als ein lautes Quietschen 31 Ebd., S. 9. 32 Tarek entdeckt bei der Lektüre des von der Pforte erlassenen Artikels 4, der festhält, dass »das Entfernen von Kugeln und allen anderen Arten von aus Waffen abgefeuerten Geschossen aus Körpern von Personen, die getötet oder verwundet wurden, in privaten als auch in öffentlichen Krankenhäusern eine verbrecherische Handlung darstellt, ausgenommen, es liegt eine offizielle Genehmigung der Pforte des nördlichen Gebäudes vor«, den folgenden Kommentar, der »den Artikel und seine Verordnungen erklären sollte, und über den es hieß, […] dass die Gewehrkugeln und Geschosse im Allgemeinen Eigentum einer der unterschiedlichen Sicherheitskräfte sein könnten und somit Staatseigentum, sodass es folglich nicht erlaubt sei, diese ohne staatliche Genehmigung dem Körper zu entnehmen.« B. Abdelaziz, ebd., S. 57.
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ihren Disput beendete.«33 Angesichts dieser Verordnung hatte sich Tarek gezwungen gesehen, die nötige Behandlung abzubrechen, die lebensbedrohliche Kugel im Körper Yahyas zu lassen und damit gegen den Eid des Hippokrates zu verstoßen: Er muss die Wunde wieder zunähen, ohne die lebensbedrohende Kugel, die neben der Blase steckte, entfernen zu können. »Dann wurden die von Gewehrkugeln Verwundeten, darunter Yahya, in einem Notarztwagen in das staatliche Krankenhaus der Stimmungen (mustašfā al-ağwā‘) gebracht, von dem in Fernsehen und Radio verlautet worden war, dass sie dort in erhöhter Alarmbereitschaft Verwundete empfingen.«34 Als Yahya, wieder bei vollem Bewusstsein, im direkt der Pforte unterstehenden Krankenhaus der Stimmungen35 ankommt, begreift er rasch, dass dort etwas nicht mit rechten Dingen zugeht. Über das Krankenhaus hatten sich Gerüchte verbreitet, dass die Operationen dort nur zum Ziel hätten, sämtliche Spuren von Gewalt, die auf die revolutionären Vorfälle hinweisen könnten, zu beseitigen und unsichtbar zu machen: »Sie [die anderen Verwundeten, S. M.] unterwarfen sich den chirurgischen Eingriffen im Krankenhaus der Stimmungen und verließen dasselbe in dem Zustand, in dem sie sich vor den schandvollen Ereignissen befunden hatten, mit von allen Spuren gesäuberten Körpern, ohne Gewehrkugeln, ohne Splitter und sogar ohne Wunden; doch Yahya war nicht wie sie, ein anderer Schlag Mensch, ein Mann wie ein Fels so dickköpfig; er hatte nun endgültig begriffen, was diese ›staatliche Kugel‹ (raṣāṣ al-mīrī), die in seinem Körper gefangen war, bedeutete.«36 Denn würde Yahyas Kugel herausoperiert und beschlagnahmt werden, würde damit der Beweis, dass er während der Ereignisse von staatlicher Seite unrechtmäßig verletzt wurde, ebenfalls aus der Welt verschwinden. Yahyas aus sechs »Blättern« bestehende Krankenakte ist nicht nur Krankenakte, sondern zugleich Geheimdienstprotokoll, denn neben medizinischen Befunden – von denen im Laufe der Handlung Sätze oder ganze Abschnitte durch die Staatsicherheit wieder gelöscht werden, wie Tarek feststellen muss – werden auch geheimdienstliche Informationen zu Yahyas Verhalten dokumentiert, die bei Tarek zunehmend Verstörung auslösen. Obgleich Yahyas Freundin Amani Yahya zur Operation im regimetreuen Krankenhaus der Stimmungen überreden will, um sein Leben zu retten, entscheidet sich Yahya gegen diese einfachste der Möglichkeiten. Stattdessen beschließt er, für sein Recht und damit gegen den 33 Ebd., S. 53 f. 34 Ebd., S. 54. 35 Mit der Bezeichnung mustašwā l-ağwā‘ wollte die Autorin bei der ägyptischen Leserschaft das Bild der Krankenhäuser der ägyptischen Luftwaffe evozieren, ein Name, der nicht leicht ins Deutsche zu übertragen ist. (Die englische Übersetzung lautet Zephyr Hospital). 36 B. Abdelaziz, aṭ-Ṭābūr, S. 135.
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Unrechtsstaat der Pforte zu kämpfen, die die Erinnerung an die Rebellionen und damit an das Leben vor der Machtübernahme, ja die Möglichkeit von politischem Protest an sich auslöschen will. Doch alle nachfolgenden Versuche, die Genehmigung zu erhalten, scheitern. Darüber hinaus werden die für die Operation nötigen Röntgenbilder von einem von der Staatsmacht entsandten Arzt beschlagnahmt. Indem der Roman offenlässt, ob Yahya die Genehmigung jemals erhalten hätte bzw. ob überhaupt der Staat in seinem Krankenhaus der Stimmungen eine Operation Yahyas zugelassen hätte, wird die/der Leser/in ebenso wie Yahya und seine Freunde der völligen Ungewissheit ausgesetzt, die das gesellschaftliche Leben in Ägypten derzeit prägt. Die Willkür und Unberechenbarkeit, der die von Seiten staatlicher Stellen als wertlose Untertanen behandelten Bürger/innen im Alltag unterworfen sind, kann durch die/den Leser/in zudem dadurch nachempfunden werden, dass eine ganze Reihe von Gegebenheiten unklar oder widersprüchlich bleiben, oder wichtige Informationen erst viel später in der Erzählung mitgeteilt werden, was der/dem Leser/in ein hohes Maß an Konzentration, Geduld und Sorgfalt beim Lesen abverlangt. Zu den narrativen Techniken des Romans zählt außerdem die regelmäßige Unterbrechung und das teilweise erst sehr viel später erfolgende Aufnehmen der einzelnen Erzählstränge, die die/ den Leser/in immer dann in die ›Warteschlange‹ steckt, wenn der Verlauf der Erzählung die Erwartung an eine Auflösung des Spannungsbogens geweckt hat. Zudem gelingt es der Autorin mit dieser zeitlichen Strukturierung ihrer Erzählung, die an sich schon komplexe gesellschaftspolitische Wirklichkeit mit den inneren psycho-sozialen Realitäten einzelner Menschen zu verflechten, und die fragmentierten Zeiterfahrungen deutlich zu machen. Die zentrale Strategie, in der der Wille zum Machterhalt mit allen Mitteln zum Ausdruck kommt, ist die vollständige Intrusion und Durchdringung des Bewusstseins und der Mentalitäten der Menschen in der Warteschlange durch mediale, rechtliche und politische Maßnahmen, die sogar durch wissenschaftliche Aussagen legitimiert werden. Diese Prozesse werden von der nur teilweise neutralen Erzählinstanz, die mehr Nähe zu den oppositionellen Figuren und mehr Distanz zu den mit dem Unterdrückungsapparat kollabierenden Akteuren aufweist, mit Ironie und kühlem Blick beschrieben. So vermischt Abdelaziz die Figuren mit der Erzählerrede tendenziell stärker bei jenen Figuren, die auf Yahyas ›Seite‹ stehen, während antagonistische Akteure im Roman und deren geheime Gedanken, wie die des Mannes mit dem Übergewand, von der Erzählerinstanz kaum beziehungsweise stark vereinfacht beleuchtet werden.37 Dabei interessiert 37 Eine interessante Technik ist die Integration einer unscheinbar bleibenden Nebenfigur wie der Frau »mit den kurzen Haaren«, die an die Autorin selbst erinnert und die Leser/innen vor die Frage stellt, ob Abdelaziz – wie teilweise
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die Autorin vor allem, wie sich durch die Ausübung von Druck sowie der Verbreitung von Angst und falschen Informationen durch staatliche oder mit dem Staat kooperierende Akteure und Strukturen der Wandel von einem richtigen zu einem falschen Bewusstsein vollzieht.38 So stehen selbst Psychologen den Medien des Regimes als Experten zur Verfügung, um mit ihren (pseudo-)wissenschaftlichen Erklärungen den Societal Discourse of the Expert39 zugunsten des Regimes zu beeinflussen, indem sie die Protestierenden pathologisieren bzw. die Ursachen des Aufstands auf banale klimatische Bedingungen zurückführen: Rechtmäßige Forderungen der Aufständischen werden dadurch entkräftet und entpolitisiert, dass ein aus den Medien bekannter Psychologe im Radio Emotionen wie Wut weniger anhand ihrer Ursachen, Unrecht und Unterdrückung, begründet, sondern eher mit der absurden Kausalwirkung zwischen starker Sonneneinstrahlung und Aufstand: »Ein prominenter Psychologe, der ständig in Fernsehprogrammen und Diskussionsrunden zu sehen war, wurde zugeschaltet. Er erklärte und analysierte die Lage und betonte, dass viele Gründe diese Situation verursacht hätten, darunter vor allem die Hitze, die zu schnellen Gefühlsaufwallungen, zu Wut und deviantem Verhalten führe. Seine Ausführungen wurden abrupt von den aktuellen Nachrichten unterbrochen, in denen davon berichtet wurde, dass verantwortliche Stellen ernsthaft darüber nachdächten, an Orten mit hohem Menschenaufkommen riesige Sonnenschirme aufzustellen, um die nervliche Anspannung mancher Bürgerinnen und Bürger zu verringern.«40 Sobald einige der kritischen Bürger/innen ihre Position gegenüber der Macht in Frage stellen, beginnt die Fragmentierungsdynamik ihre Kraft zu entfalten, wie zum Beispiel in einer Passage des Romans, in der die zweite Protestwelle gegen die Pforte erfolgreich abgewehrt und zersetzt wird, und die mit Die schandvollen Ereignisse 241 überschrieben ist.42
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in von Filmemachern gespielten Nebenrollen in ihren eigenen Filmen – mit dieser Figur eine dritte Figurenebene eröffnet, die als dezidiert oppositionelle Beobachterin fungiert, und so eine weitere Perspektive auf die Ereignisse ermöglicht. Vgl. z. B. B. Abdelaziz, ebd., S. 139. In einer Email-Korrespondenz vom 13.01.2016 mit dem Verfasser schreibt Basma Abdelaziz: »[…] the authority is trying here to re-shape people’s thoughts and minds through making statements and speeches that deny everything they saw by their own eyes and heard by their own ears, and even carried in their bodies (the bullet inside Yahya’s body).« R. Papadopoulos, »Destructiveness, atrocities and healing: epistemological and clinical reflections«, in: Covington, C. et al. (Hg.), Terrorism and War. Unconscious Dynamics of Political Violence, London: Karnac 2002, S. 290. B. Abdelaziz, aṭ-Ṭābūr, S. 101. Ebd., S. 99 ff. Ein weiteres trennendes Moment entsteht durch die Opferkonkurrenz zwischen den Wartenden vor der Pforte: Sie beginnen, ihre Leidensgeschichten
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Denn nachdem die neue Macht die Lebensbedingungen nicht verbessern konnte, hatten trotz harscher Repression und Einschüchterung erneut Menschen auf dem Platz protestiert. Nachdem die Proteste zerschlagen wurden, hatte sich eine Gruppe von Rebellierenden, die von Umm Mabrouk abwertend »Rowdys« oder »Pöbel« (al-maqāṭīʿ)43 genannt werden, auf den Weg in die Warteschlange gemacht. Dort hatten sie die Warteschlange in zwei Hälften geteilt, indem sie einen Bereich und damit die dort Stehenden besetzt hielten, und sich mit allem Verfügbaren eine Absperrung bauten, hinter der sie sich verschanzten. Sofort aber beginnen die Macht und ihre Kollaborateure, sowohl Gerüchte auf der Straße als auch offizielle Medienberichte zu streuen, dass die Pforte in Bälde öffnen wolle, und nun aber von diesen Aufrührern daran gehindert werde. Zahlreiche der von den Aufrührern eingesperrten Menschen in der Wartschlange »waren wütend auf die Störenfriede, als sie begriffen, dass jene ja nur versuchten, die schnellstmögliche Öffnung der Pforte zu verhindern, und das besonders im Lichte dessen, dass man davon sprach, dass alle Vorbereitungen in Kürze abgeschlossen sein würden und die Pforte bald zu arbeiten anfinge«.44 Als unmittelbare Folge greifen immer mehr Eingeschlossene die Protestierenden an oder werfen ihnen zumindest vor, infantil und töricht zu agieren und sich auf Kosten der armen Menschen in der Warteschlange verantwortungslos zu verhalten. Obgleich die Aufrührer sich verteidigten, indem sie darauf hinwiesen, dass nun schon Monate vergangen seien, ohne dass sich irgendetwas Positives getan hätte, und dass es nötig sei, gemeinsam und vereint zu agieren und sich an einem anderen Ort neu zu formieren, »klammerten sich die Leute an die Hoffnung, keiner von ihnen wollte die Warteschlange verlassen, bevor nicht sein Anliegen erledigt sei, immerhin würde hier eine Art System und Ordnung herrschen, es gäbe Gesetze und Ordnungen, die doch alle beträfen und an die man sich immerhin zu halten hätte.«45 Einzig Nadschi erkennt die fatale Entwicklung, vertraut sich jedoch lediglich Yahya an, da er sich sonst zu verdächtig machen würde: »Er hatte damit gerechnet, dass es eine Ausnahme zur Regel gäbe, dass wenigstens einer aus der Warteschlange die ›Rowdys‹ unterstützt oder zumindest mit ihrem Aufruf zur Revolution gegen diese abnormale Situation sympathisiert hätte, doch nichts dergleichen geschah. Diese Warteschlange musste in ihrem Inneren so etwas wie einen Magneten verbergen, der die Menschen magisch gegeneinander auszuspielen, ohne zu einer Form des gegenseitigen Verständnisses und der Anerkennung des Leids zu gelangen. Vgl. insbesondere B. Abdelaziz, ebd., S. 90 f. 43 Das Wort bezeichnet im Ägyptischen eine Person, die von ihrer natürlichen Umwelt, der Familie oder einem Zuhause abgetrennt (maqṭūʿ) ist. Dies ist auch die Selbstbezeichnung der Ultras (Fußballfans) von al-Ahly. 44 B. Abdelaziz, ebd., S. 104. 45 Ebd., S. 105.
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anzog und sie in geschlossene Kreise einsperrte, um ihnen dann das Gefühl zu nehmen, dass ihnen jemals etwas geraubt worden sei. Es sei ihm sogar an sich selbst aufgefallen, auch wenn er immer noch eine Regung in sich verspürte, gegen das Unrecht zu rebellieren. Nur ein Schritt, ein einziger gemeinsamer Schritt aller würde doch die Mauern der Pforte einreißen und diese Starre aufbrechen, doch dieser Magnet […].«46
Umm Mabrouk: Die Zerstörung der Familie als Folge der Ausbeutung Neben den bereits erwähnten sechs Hauptkapiteln, die stets mit einem Eintrag aus der Krankenakte Yahyas beginnen, wird der Roman durch Unterkapitel strukturiert. Mehrere Unterkapitel sind nach den Namen von Figuren benannt, so auch das zweite Unterkapitel mit dem Namen »Umm Mabrouk«, die aufgrund der zahlreichen Schicksalsschläge alles andere als gesegnet ist, was die Bedeutung von »mabrūk«, dem Namen ihres Sohnes, eigentlich evoziert.47 Ihre Darstellung beginnt damit, wie sie von ihrer Arbeit als Putzfrau in Amanis Firma, in der sie fünf Tage die Woche von morgens bis abends schuftet, zur Warteschlange vor der Pforte eilt, um eine Genehmigung zur Operation ihrer kranken und später sterbenden Tochter zu erhalten. Das In-der-Schlange-Stehen raubt der Mutter von drei kranken Kindern, verheiratet mit einem sie schlecht behandelnden Ehemann, ebenso wie Yahya, der wie ein »Gefangener der Warteschlange (ḥabīs aṭṭābūr) die meiste Zeit des Tages und sogar manche Nächte wie so viele andere in der Warteschlange verbringt«, elementare Arbeits- und Lebenszeit.48 Als die Lebenskosten durch die Krankenhausaufenthalte des nierenkranken Sohnes und die vielen Medikamente, die ihre Kinder zum Überleben brauchen, mehr und mehr steigen, beginnt die erschöpfte Mutter, an den zwei freien Tagen in zwei weiteren Häusern zu putzen. Eines Tages auf ihrem Nachhauseweg in der Metro setzt sich ein riesiger, schmutzig gekleideter Mann auf den gerade neben ihr freigewordenen Platz. Die müde Mutter beschließt trotz des seltsamen Verhaltens und des üblen Geruchs, den der Mann ausströmt, sitzenzubleiben. Als sie aber in einem Moment fürchtet, er wolle in einer raschen Bewegung nach ihrer Brust grabschen, springt sie auf, beschimpft ihn laut und schlägt mit ihrer Tasche auf ihn ein. Die Tasche öffnet sich, und heraus fällt das kaputte Telefon, das die Firma ihr mitgab und das sie reparieren wollte, um endlich wieder ein Telefon zu haben – auch wenn die Familie seit über einem Jahr auf die Verlegung der dazu nötigen Leitungen wartet. Der Mann, zutiefst 46 Ebd., S. 105 f. 47 Vgl., ebd., S. 24–30. 48 Vgl., ebd., S. 25–26.
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erschrocken, springt kurzerhand noch vor dem nächsten Halt aus der Metro.49 Während die weiblichen Passagiere von Panik ergriffen werden, murmelt ein Fahrgast, der beste Platz für die Frauen sei zuhause, während ein zweiter, älterer Mann sogleich laut tönend beginnt, aus dem heiligen Buch zu rezitieren, um die panischen Frauen zu beruhigen; doch die Verse, die sie heraushört, erscheinen ihr in dem Moment gegen sie gerichtet zu sein, wie die aus Umm Mabrouks Perspektive gefärbte Erzählinstanz preisgibt. Nur ein Junge in Schuluniform zeigt ihr gegenüber emphatisches Verhalten, wendet sich ihr zu und fragt sie, ob sie verletzt sei. Durch diesen sozialen Druck und Tadel, dem sie in Folge des Vorfalls ausgesetzt ist, »machte sie sich selbst heftige Vorwürfe, dass sie neben ihm sitzen geblieben war, wo doch alle anderen fluchtartig Abstand gesucht hatten.«50 Angesichts all der Schicksalsschläge, die sie fortwährend heimsuchen, und für die sie sich zunehmend selbst die Schuld gibt, beschließt sie schließlich verzweifelt, den Großscheich um Hilfe zu bitten. Als dieser sie bei einer Konsultation mit religiösen Formeln und Erklärungen überhäuft und sie auffordert, weniger zu klagen und stattdessen öfter Bittgebete (al-ikṯār min ad-duʿā‘) und stets die fünf regulären Gebete zu absolvieren, lädt sich die geläuterte Umm Mabrouk aus Schuldgefühl mit der alltäglichen Erfüllung dieser religiösen Pflichten noch eine weitere Last auf ihre Schultern, »doch was sie sich vorgenommen hatte, konnte sie niemals erfüllen, sodass ihr in den Sinn kam, sie selbst sei besessen (mamsūs)«.51 Religion ist in Abdelaziz‘ Erzählung keine Quelle der Kraft, sondern lediglich zusätzliche Bürde im Alltag, Instrument der politischen Manipulation oder Mittel zur Flucht vor der allzu bitteren Realität. Ebenso vielsagend ist die Abwesenheit der Familie im Roman, denn neben den zahlreichen Individuen wird nur eine einzige Familie, jene von Umm Mabrouk, vorgeführt, die aber durch die Ausbeutungs- und Entmenschlichungsstrukturen nach und nach auseinanderbricht (letztendlich sterben ihre beiden Töchter). Im postrevolutionären Ägypten, in dem die Menschen mit Sadats wirtschaftlicher Liberalisierungspolitik (Infitāḥ52) ab den 49 50 51 52
Vgl., ebd., S. 27. Ebd. Ebd., S. 29. Mit dem Ausdruck Infitāḥ ist zum einen die Abkehr von der nasseristischen Dritte-Welt-Politik und außenpolitischen Neuorientierung Ägyptens in Richtung USA gemeint, zum anderen bezeichnet der Begriff die damit einhergehende Öffnung Ägyptens für ausländische Investitionen, aber auch liberalisierende Reformen von Wirtschaft und Arbeitsmarkt. Besonders letzteres hatte starke Auswirkungen auf die gesellschaftlichen und familiären Strukturen, da die ärmeren Schichten Ägyptens die dadurch angestoßenen Entwicklungen als destabilisierend und bedrohlich erlebten. Zur Infitāḥ in der ägyptischen Romanprosa siehe auch: S. Guth, Zeugen einer Endzeit.
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1970er Jahren bereits mehrere Jahrzehnte den Fragmentierungsdynamiken ausgesetzt waren, ist das Ende der intakten Familie bereits Fakt: Mit dem Zwang, alleine um sein Überleben zu kämpfen oder neue Formen der Bindung zu anderen Menschen zu knüpfen, hat die (ägyptische) Gesellschaft im Roman eine weitere Bedingung für die vom Kapitalismus geformte Modernität erfüllt. Während Samia Mehrez noch feststellt, dass neben der Nation die Familie als zweite Ikone der Literatur in den Werken der jüngeren Generation verschwunden sei, zeigt Abdelaziz in ihrem dystopischen Gegenwartsportrait die Resultate eines gesamtgesellschaftlichen, von politischen und wirtschaftlichen Faktoren gespeisten Prozesses, der keine Familie mehr intakt lässt und zugleich den metaphysisch aufgeladenen Begriff der Nation/Heimatland (waṭan) durch einen quasi sozialwissenschaftlich geprägten Blick auf die Gesellschaft ersetzt.53 Zu diesen die Familie zersetzenden Ausbeutungsstrukturen fügen sich die Maßnahmen der psychischen Zerstörung widerständiger Individuen und ihrer Familien, wie Basma Abdelaziz in ihrem Buch über Folter in Ägypten am Falle eines jungen Aktivisten aufzeigt, der als Vorlage für die Schicksale der Romanfiguren gedient haben könnte. So schreibt Abdelaziz über einen jungen Mann, der unter der Folter in einer der Gebäude der Staatssicherheit starb, und dessen Tod zur Folge hatte, dass »der gesundheitliche Zustand seiner Mutter sich extrem verschlechterte, sodass sie ärztliche Hilfe benötigte, während sein Zwillingsbruder aufgrund des schlimmen psychischen Zustandes einen Nervenzusammenbruch erlitt und seine Ehefrau aus Trauer und Verzweiflung das gemeinsame Kind abtreiben ließ, sodass die gesamte Familie sowohl ihren Zusammenhalt als auch ihre Einkommensquellen verlor.«54 Die Verhaftung und Folter hatten so zur Folge, dass nicht nur ein einzelner Bürger, sondern die Existenz einer ganzen Familie zerstört wurde, wodurch die Botschaft an die gesamte Gesellschaft übermittelt wird, es sich gut zu überlegen, bevor man politisch aktiv wird.
Amani: Traumatisierung als Instrument der Auslöschung von Widerstand, Bindungsfähigkeit und Lebenswille Schließlich macht auch die zweite weibliche Hauptfigur neben Umm Mabrouk, die der besser gestellten Mittelschicht angehörende Amani, eine extreme Wandlung durch, die ebenfalls den autoritären Strukturen Fünf Schriftsteller zum Umbruch in der ägyptischen Gesellschaft nach 1970, Berlin: Klaus Schwarz Verlag 1992. 53 Vgl. S. Mehrez, Egypt’s Culture Wars: Politics and Practice (Fn. 8), S. 143. 54 B. Abdelaziz, Ḏākirat al-qahr: dirāsa ḥawla manẓūmat at-taʿḏīb (Fn. 11), S. 279 f.
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des neuen Staates geschuldet ist: Sie wird, nachdem sie einen hartnäckigen und daher gefährlichen Versuch unternimmt, das der Pforte unterstehende Krankenhaus der Stimmungen zu bewegen, die für die Operation notwendigen, jedoch zuvor beschlagnahmten Röntgenbilder von Yahya auszuhändigen, inhaftiert, vergewaltigt und gefoltert. Der Sarkasmus und tiefschwarze Humor, die den Roman durchziehen, gelangen hier an einen Höhepunkt, denn Amani ist die einzige Figur des Romans, für die sich die Tür bzw. ein anderer Zugang zur Pforte öffnet, jedoch nur, um sie in die Folterkammer des Kellers (al-qabw) im fünften Stock des Krankenhauses einzulassen und ihr eine bleibende Lektion zu erteilen. In diesem »Nichts« (lā šay‘), so der Titel des Unterkapitels, schreit ihr ihr Folterer entgegen, dass »es niemals jemanden gegeben hat, der an jenem Tag von einer Kugel getroffen wurde, und auch nicht am Tag danach oder an irgend einem anderen Tag damals, verstanden!«.55 Das Verleugnen dieser Tatsache, die der Roman im Unklaren lässt, käme nicht nur einem Verrat an Yahya gleich, sondern auch an Amanis eigenem Wissen und ihrer Wahrnehmungsfähigkeit der Welt.56 Und so wehrt sich Amani ein letztes Mal und entgegnet ihrem Folterer: »Lüge, die Wunde gibt es, und die Kugel ist noch immer in seinem Körper! Der erste, der die Operation durchführt, wird sie in seiner Hand halten und damit aussagen, dass sie ihn damit getroffen haben, und das ist dann der Beweis!«57 Irgendwann später erwacht sie inmitten einer Leere, ohne Erinnerung und ohne körperliche Verletzungen. Als es Yahya und seinen Freunden gegen ihren Willen, gegen ihre Angst, endlich gelingt, Kontakt mit ihr 55 B. Abdelaziz, aṭ-Ṭābūr, S. 174. 56 David Becker beschreibt dieses Dilemma von aus politischen Gründen verfolgten und gefolterten Menschen in einem Gespräch mit Roland Kaufhold folgendermaßen: »Folter setzt den Gefolterten einer Situation aus, die wir in der Fachsprache Doppelbindung nennen. D. h. der Gefolterte wird vor eine Wahl gestellt, die er nicht treffen kann, aber treffen muss. Er muss nämlich wählen, ob er seine Überzeugungen verrät, das, was sein Leben lebenswert macht, oder ob er seinen Wunsch zu überleben verrät. D. h. wenn er erzählt, seine Partei, seine Genossen verrät usw., dann hat er seine Überzeugungen verraten, aber seinen Überlebenswunsch verteidigt. Umgekehrt: wenn er nichts sagt, dann ist er schuldig geworden an seiner Frau, an seinen Kindern, an seinem eigenen Wunsch zu überleben, weil er nämlich in Kauf nimmt, dass sie ihn vielleicht umbringen, wenn er nichts sagt. D. h. er wird vor eine Wahl gestellt, in der er wählen muss, und wie immer er wählt, wählt er falsch. Hinzu kommt, dass er oder sie extremsten Demütigungen ausgesetzt wird, und dass all diese Demütigungen, weil es ja scheinbar eine Wahl gibt, immer auch den Betreffenden das Gefühl lassen: ich bin selbst mit schuld.« R. Kaufhold, »Ohne Hass keine Versöhnung: ein Gespräch mit David Becker«, in: Psychosozial, 58/4 (1994), S. 125. 57 B. Abdelaziz, aṭ-Ṭābūr, S. 174.
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aufzunehmen und sie zu besuchen, finden sie einen anderen Menschen vor. Doch sie können nur vermuten, dass »sie sie bedroht, erniedrigt und geschlagen haben«,58 denn Amani will oder kann sich abgesehen von ihren unkontrollierbaren Albträumen an nichts mehr erinnern, »jeglicher Lebendigkeit und jeglichen Willens beraubt, in einem Zustand, in dem sie noch nie zuvor gewesen war.«59 Nicht nur Amanis Wille zum Widerstand, sondern ihre gesamte Existenz, ihr Wille zu leben, wird durch die im Keller des Krankenhauses verbrachten Tage und Nächte dermaßen erschüttert und gebrochen, dass sie keine Beziehung mehr zu anderen Menschen, und damit auch nicht mehr zu ihrem Freund Yahya, dem »Lebenden«, aufrechterhalten kann. Dabei ist der Keller zugleich realer Ort der Folter als auch Metapher für ihren seelischen Zustand, der im Fall eines Traumas oft in Form von Metaphern und Bildern leichter und genauer zum Ausdruck gelangen kann. Nach wochenlanger Krankschreibung kehrt sie zur Arbeit zurück, nur um festzustellen, dass sie nicht mehr arbeitsfähig ist, da ihre Nerven auch nicht die kleinste Belastung aushalten. »Neben der emotionalen Seite der Belastung scheint besonders die Ebene des körperlichen Erlebens«, die bei Amani deutlich zum Ausdruck kommt, »für die Verarbeitung traumatischer Erinnerungen von Bedeutung zu sein.«60 So leidet Amani mit ihrem ganzen Körper unter Albträumen, die sie immer wieder in den Keller zurückführen: »Der Keller: Mit einem Mal verstand sie, dass sie im Keller ist; so als ob dieses Wort die ganze Zeit über in der Luft gehangen hätte. Sie sieht es nicht, aber begreift ganz plötzlich alles, begreift alles mit all ihren Sinnen, in einem Moment furchtbarer Illumination. Und als sie sich vergewissert, für immer und ewig eingesperrt zu sein an jenem Ort, erwacht sie voller Entsetzen, und die Härchen auf ihren Armen beben und zittern, ihre Zunge klebt an ihrem trockenen Gaumen. Der Albtraum wiederholt sich die Nacht über in verschiedenen Variationen, bis sie nicht mehr zwischen Traum und Realität unterscheiden kann.«61 Ihre Traumatisierung und das damit einhergehende Gefühl der Leere, gleichbedeutend mit einem seelischen Sterben, stehen in scharfem Kontrast zu Yahyas ungebrochenem Lebenswillen und der Geradlinigkeit, mit der er seinen Weg verfolgt. In diesem Zustand kann Amani nicht nur nicht mehr weiterleben, sie wird auch leichtes Opfer staatlicher Gehirnwäsche, die in einem neuen Manöver offiziell die Behauptung verbreitet, 58 Ebd., S. 180. 59 Ebd. 60 M. Sack, »Narrative Arbeit im Kontext schonender Traumatherapie«, in: Scheidt, C. E. et. Al. (Hg.), Narrative Bewältigung von Trauma und Verlust, Stuttgart: Schattauer 2015, S. 158. 61 B. Abdelaziz, aṭ-Ṭābūr, S. 233.
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es hätte nie so etwas wie die »schandvollen Ereignisse« gegeben.62 Indem Amani ihrer eigenen Wahrnehmung und Erinnerung nicht mehr trauen kann, haben die Täter, das heißt der Staat, ihr Ziel erreicht. So zitiert Basma Abdelaziz in ihrem Sachbuch Die Erinnerung der Unterdrückung von 2014 George Orwell mit dem Satz aus 1984: »Du wirst leer… wir pressen alles aus dir heraus, bis du ganz leer geworden bist; und danach füllen wir dich mit unserem Selbst.«63 Diese bewusste Maßnahme der Ich-Zerstörung64 und Schaffung eines völlig verzerrten Selbst- und Weltbildes beim Opfer bedarf der Heilung, um wieder normal weiterleben zu können. »Wenn eine entsprechende Unsicherheit bezüglich der Realität der eigenen traumatischen Erfahrungen vorliegt, sind die Rekonstruktion der Erinnerung und die Klärung der Verwirrung vordringlich.«65 Genau dies aber erscheint unter den herrschenden politischen und sozialen Verhältnissen unmöglich zu sein, so dass es am wahrscheinlichsten ist, dass das Trauma und die Erinnerungsstörung – das, was Psycholog/ innen mit der Metapher der eingefrorenen Trauer oder Gefühle umschreiben – fortdauern. Mit der ›Bejahung der falschen Erinnerung‹ ihren letzten Hoffnungsschimmer aufgreifend, von dem sie sich paradoxerweise verspricht, ihre traumatische Vergangenheit für nichtig erklären zu können, ruft Amani – in der einzigen eigenen Initiative zur Kontaktaufnahme mit ihrer Umwelt – euphorisch Yahya an, um ihm zu verkünden, dass er nicht verletzt sein könne, und es sich um eine eingebildete Kugel66 handle, doch dieser »lässt sich nicht überzeugen und hört nicht auf zu bluten.«67 62 Im Regime unter al-Sisi ist die Teilnahme an der Januar-Revolution quasi zur Straftat erklärt, wie unter anderem die Verhaftung des Arztes und Aktivisten Tahir Mokhtar verdeutlicht. Vgl. den Beitrag von Mansoura Eseddin auf qantara.de vom 25.01.2016, URL: http://de.qantara.de/inhalt/fuenfter-jahrestag-der-revolution-in-aegypten-gespenster-der-revolte (aufgerufen am 2. Februar 2016). 63 B. Abdelaziz, Ḏākirat al-qahr: dirāsa ḥawla manẓūmat at-taʿḏīb (Fn. 11), S. 280. 64 Vgl., ebd., S. 276 f. 65 M. Sack, »Narrative Arbeit im Kontext schonender Traumatherapie« (Fn. 60), S. 157. 66 In diesem Zusammenhang sei das im August 2015 ratifizierte Anti-Terror-Gesetz erwähnt, das die Angabe ›falscher‹ Informationen für Medien unter Strafe stellt: »The controversial law […] sets a minimum fine of around $25,000 an a maximum of over $63,000 for anyone who strays from government statements in publishing or spreading ‚false‘ reports about attacks or security operations against militants.« Auf: Middle East Eye/ EgyptTurmoil, Montag, den 17. August 2015, URL: http://www.middleeasteye.net/news/controversial-anti-terror-law-fines-journalists-false-reporting-egypt-825313571 (aufgerufen am 21.Dezember 2015). 67 B. Abdelaziz, aṭ-Ṭābūr, S. 240.
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Das Neu- oder Umschreiben der Erinnerungen benötigt also nicht nur Zeit und ist als langwieriger und komplexer Prozess zu verstehen, sondern erfordert für eine Bewältigung günstige Rahmenbedingungen wie eine fürsorgliche und sichere Umwelt, die in der Situation eines ›ongoing trauma‹, wie sie im Roman geschildert wird, kaum gegebenen sind.
Die Einholung der Wirklichkeit durch die Dystopie Während Umm Mabrouk durch ökonomische ausbeuterische Strukturen klein gehalten und in ihrer Menschlichkeit beschnitten wird, muss der Staat bei Amani, die zu offensiv für das Recht ihres Freundes auf Leben kämpft, zu anderen Mitteln greifen: den Instrumenten der Folter und ihren genau kalkulierten Folgen, denen Abdelaziz mehrere kritische psychologische Studien gewidmet hat und die sie aus ihrer Arbeit beim Nadeem Centre for the Rehabilitation of Victims of Violence and Torture in Kairo nur zur Genüge kennt. Bereits 2007 schrieb sie bezogen auf die ägyptischen Verhältnisse in einem Artikel für die Zeitschrift Torture: »[…] state violence and torture are not restricted to or directed toward certain groups, but, as reported, Islamists are tortured as well as communists, socialists, criminals, poor people, human rights defenders, anti-war people, and suspects, thus creating another heterogeneous mixture, this time composed of victims. The enemy is considered to be anyone who is not clearly belonging to the system, who is not supported by the regime.«68 Während Amanis Entwicklung durch das Brechen ihrer Person mit der Aufgabe jeglichen Widerstands und mit der Absorption des offiziellen Narrativs endet, um sich eine andere Erinnerung anzueignen, vollzieht Tarek eine entgegengesetzte Entwicklung vom konformen, regeltreuen und damit zur Staatsmacht sich loyal verhaltenden Charakter zu einer immer nachdenklicher werdenden Person, die sich schließlich aus einem Wissen um die Wahrheit dazu entscheidet, ihr eigenes Leben aufs Spiel zu setzen, um Yahya ›illegal‹ das Leben zu retten: »Jetzt wusste er es und verstand, und er konnte dieses Wissen nicht mehr ignorieren, und er würde nicht mehr lügen können.«69 So greift die Erzählinstanz im letzten mit Tareks Vorschlag betitelten Unterkapitel des Romans erneut die inneren Konflikte von Tarek auf, die ihm sein Gewissen bereiten. Indem er zunehmend erkennt, welch perfides Spiel die neue Macht treibt, und dass nicht nur Yahya auf Schritt und Tritt, sondern nun auch er überwacht wird, beschließt Tarek schließlich, 68 B. Abdelaziz, »Torture in Egypt«, in: Torture – Journal on Rehabilitation of Torture Victims and Prevention of Torture«, Band 17/1 (2007), S. 52. 69 B. Abdelaziz, aṭ-Ṭābūr, S. 227.
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wider die Gefühle der Angst seinem Gewissen zu folgen: Er, der nun auch auf der anderen Seite steht, schlägt Yahya vor, ihn im Hause seines Freundes Nadschi heimlich zu operieren – da dies (noch) kein offizielles Vergehen gegen die Gesetze darstellt70 – und beginnt, die nötigen Vorbereitungen zu treffen. Der Roman aber lässt bewusst offen, ob es zur Operation und Rettung von Yahyas Leben und damit zu einem erfolgreichen Akt des politischen Widerstands kommt, denn die Autorin wollte, dass die Leser/innen die Geschichten der Romanfiguren selbst weiterschreiben, wie sie in einer Veranstaltung zu ihrem Roman betonte.71 Dennoch deutet die Erzählinstanz an, dass Tarek sich zu handeln entschließt. Ganz unten auf dem Blatt der fünften Krankenakte über Yahya, die mit Die Meinung der Pforte betitelt, aber aufgrund des bisher nicht gefällten Beschlusses der Regierung ohne Eintrag ist, »fügte Tarek am unteren Rand einen einzigen einsamen Satz in Handschrift hinzu, […] schloss dann die Akte, ließ sie auf dem Schreibtisch liegen und erhob sich.«72 Die Entscheidung eines Arztes, »sich zu erheben« und Leben zu retten, verwandelt sich unter Bedingungen der allgemeinen Entmenschlichung in die denkbar radikalste Form politischen Widerstands.73 Basma Abdelaziz setzt nicht nur Umm Mabrouk ein Denkmal, sondern mit dem Portrait Yahyas bewusst allen unbekannt bleibenden Aktivisten: all jenen, die von den Medien nicht als Revolutionäre bekannt gemacht wurden und ihren täglichen Kampf und Widerstand im Stillen führen. Max Horkheimer traf 1947 eine ähnliche Unterscheidung zwischen den zahllosen, unbekannten »Märtyrer[n], die durch die Hölle des Leidens und der Erniedrigung gegangen sind bei ihrem Widerstand gegen 70 Ebd., S. 241. 71 Vgl. den Beitrag As-suḫrīya allatī tuḥākī al-wāqiʿ (Die Ironie, die aussieht wie die Wirklichkeit) auf: Al-Badīl vom 12.04.2013, URL: (http://elbadil. com/2013/04/12/133571/ aufgerufen am 30.08.2015). 72 B. Abdelaziz, aṭ-Ṭābūr, S. 244. 73 Dies erinnert an die vielen mobilen Krankenstationen während der Proteste von 2011, bei denen Ärzt/innen und Krankenpfleger/innen Verletzte in improvisierten ›Feldlazaretten‹ versorgten. Staatliche Stellen setzten diese medizinischen Aktivist/innen unter Druck, da sie angeblich ›den Feinden und Kriminellen‹ helfen würden und sich dadurch strafbar machten. Siehe z. B. The Guardian vom 06.02.2011, URL: http://www.theguardian. com/world/2011/feb/06/egypt-protests-tahrir-square-medic (aufgerufen am 29.01.2016). Darüber hinaus scheint es in den letzten Monaten so, dass die Gewerkschaft der Ärzte in der Lage ist, durch große Demonstrationen gegen Polizeigewalt mehr als andere Akteure Kritik am Regime auszuüben. Siehe URL: http://www.theguardian.com/world/2016/feb/13/thousands-ofdoctors-in-egypt-protest-after-police-accused-of-attack-on-two-medics (abgerufen am 20.07.2016). Für die Hinweise danke ich Sarhan Dhouib und Fabian Heerbaart.
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Unterwerfung und Unterdrückung«, und den »[a]ufgeblähten Persönlichkeiten der Massenkultur, die konventionellen Würdenträger. Diese unbesungenen Helden setzten bewußt ihre Existenz als Individuum der terroristischen Vernichtung aus, die andere unbewußt durch den gesellschaftlichen Prozeß erleiden.«74 Auf die Kluft in der Wahrnehmung der zwei Gruppen von Aktivist/innen, den durch die Medien berühmt gewordenen und den eher aus den armen Schichten stammenden Alltagsheld/innen, hat Abdelaziz in ihrer 2014 publizierten psychologischen Studie Ḏākirat al-qahr: dirāsa ḥawla manẓūmat at-taʿḏīb hingewiesen, die auch häufig in Aussagen von Opfern staatlicher Gewalt, die eben nicht zu den ökonomisch bessergestellten Opfern zählen, zum Ausdruck kam.75 In diesem Zusammenhang zitiert sie auch zahlreiche Aussagen aus in der kritischen Tageszeitung al-Shurouk erschienenen Artikeln sowie aus Beratungsprotokollen der Menschenrechts-NGO Nadeem in Kairo, die unterschiedliche Facetten des Bündnisses von Medien und Staatssicherheit beleuchten, durch welches es den staatlichen Stellen zumeist gelingt, diejenigen Menschen, die den Widerstand und Protest tragen, auszuschalten.76 Auch unter staatlicher Gewalt leidende Bürger/innen, die durch Polizeigewalt und Folter traumatisiert wurden und nur zu leicht vergessen werden, finden sich in Abdelaziz‘ Roman repräsentiert. Dennoch zeichnet Basma Abdelaziz nicht das Portrait einer bereits implementierten totalitären Herrschaft, denn die Pforte übt noch nicht die totale Macht und Kontrolle über die Bevölkerung aus. Vielmehr scheint sie strategisch noch auf Unberechenbarkeit und Irrationalität angewiesen, um die noch bestehenden Mängel im Herrschaftsapparat wettzumachen. Trotz Repression und Restauration besteht damit weiterhin die Möglichkeit erfolgreichen Protests und Widerstands. Tarek findet in Yahyas Kranken- und Geheimdienstakte keine Aufzeichnungen über den letzten Tag, außer die sachliche Feststellung vom Vortag, dass »›Yahya Dschad al-Rabb‹ von seinem Leben bisher 114 Nächte in der Warteschlange verbracht hat«.77 Die Bedeutung, die die Autorin dieser sicher auf die 11478 Suren des Korans anspielenden Zahl verleiht, mag darin verborgen liegen, dass im heutigen Ägypten das wahre Prophetentum nur zum Ziel haben könne, den Menschen ihre Situation und die sie entmenschlichenden Strukturen bewusst und sichtbar zu 74 M. Horkheimer, Zur Kritik der instrumentellen Vernunft (Fn. 7), S. 179– 180. 75 Vgl. B. Abdelaziz, Ḏākirat al-qahr: dirāsa ḥawla manẓūmat at-taʿḏīb (Fn. 11), S. 155 f. 76 Vgl., ebd., S. 155 f. 77 B. Abdelaziz, aṭ-Ṭābūr, S. 244. 78 In der englischen Übersetzung heißt es 140 statt 114 Nächte, siehe B. Abdel Aziz, The Queue, New York/ London: Melville 2016, S. 217. Die Autorin bestätigte mir gegenüber, dass sie die Zahl 114 (Nächte) bewusst wählte.
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machen, um diesen Mechanismen der Entmenschlichung aktiv entgegentreten zu können. Währenddessen verweist der neue Name der Macht im Land, das nördliche Gebäude, auf eine zivilisatorische Regression in die Pharaonenzeit, denn das Wort Pharao, Bezeichnung des Herrschergottes im neuen Reich des alten Ägypten, bedeutete ursprünglich »großes Haus«. Damit enden mit dem Schluss des Romans auch Imagination, Fiktion und Parabel. Die Leser/innen sind in der Echtzeit angekommen, die mit der neuen Militärregierung unter Abdelfattah al-Sisi in einigen Punkten79 nicht genauer hätte beschrieben werden können. Ein besonders unheimliches Indiz hierfür ist neben der Vergesellschaftung der Folter, die im zweiten Eingangszitat von Aida Seif al-Daula in knappe Worte gefasst wird, die wachsende Zahl Verschwundener (mafqūdun), die an einem unbekannten Ort – wie im Roman Amani für einige Tage im Keller – inhaftiert und gefoltert werden.80 Der Realismus des literarischen Werks überschreibt das dystopische und fiktionale Moment, das allzu schnell zur bitteren Wirklichkeit geworden ist.
79 Ein wesentlicher Unterschied zwischen Realität und literarischer Dystopie ist der Umstand, dass die Macht im Roman – mit Ausnahme zweier Auftritte des ehemaligen hochrangigen Offiziers namens Zakī ʿAbd al-ʿĀl Ḥāmid bei Fernsehansprachen zur Bekanntgabe neuer Verordnungen – ohne Gesicht bleibt, während man in Bezug auf al-Sisi von einer ›Sisimania‹, einem Medienhype und Führerkult um die Person des neuen Präsidenten sprechen konnte. Dass genannter Offizier der Präsident des nördlichen Gebäudes ist, scheinen im Roman nur wenige zur Kenntnis zu nehmen (vgl. B. Abdelaziz, ebd., S. 129). 80 Die Egyptian Commission for Rights and Freedoms nennt für 2015 die Zahl 1.250. Siehe El-Gawhary, »Brief eines Häftlings«, in: Die Tageszeitung (taz) vom 22. Januar 2016, S. 4. Vgl. auch den auf madamasr veröffentlichten Brief des Verschwundenen Islam Khalil und die Verhaftung und Folter seines Bruders Nour Khalil, URL: http://www.madamasr.com/sections/politics/iam-talking-about-all-us-letter-prison (aufgerufen am 2. Februar 2016). Vgl. den Beitrag von Nadia El Ouerghemmi im zweiten Band Erinnerung an Unrecht der Titelreihe Unrechtserfahrung in transkultureller Perspektive, hg. von S. Dhouib .
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Teil II
Sven Kramer und Abdellatif Aghsain
Subversion und Gegendiskurs Zur Einführung Wie Sprechende und Schreibende der Diktatur mit den Mitteln der Kunst entgegentreten und dabei die vielgestaltigen Verwendungsweisen der Sprache nutzen, thematisiert der folgende zweite Teil. Hier werden Erfahrungen mit den beiden deutschen Diktaturen neben solche aus arabischen Ländern gestellt: vom nationalsozialistischen und realsozialistischen Deutschland reicht das Spektrum über Syrien, Ägypten, Tunesien bis nach Marokko. Den Hintergrund bilden dabei – historisch und kontextuelle Differenzierung der sehr unterschiedlichen Regime nicht nivellierend – zunächst strukturelle Ähnlichkeiten, etwa hinsichtlich der in Diktaturen und autoritären Systemen verwendeten Herrschaftstechniken. Alle Diktatoren unterdrücken die Artikulation nicht konformierender Einstellungen; sie marginalisieren, verbieten und verfolgen die politische Opposition. Das traf auf das Deutsche Reich unter Hitler zu und in eingeschränkter Form auch auf den deutschen real existierenden Sozialismus, und das gilt, noch heute für Syrien unter der Herrschaft der Assads sowie andere autoritäre Systeme im arabischen Kulturraum, allerdings unter anderen Bedingungen. Wie im vorangegangenen ersten Teil beschrieben, wird politische Herrschaft in der Diktatur auch als Sprachregime durchgesetzt – in Form von mehr oder weniger kodifizierten Sprachregelungen und -normierungen, die eine hegemoniale Stellung einnehmen. Verstöße ziehen Stigmatisierungen, Ausgrenzungen oder sogar die Verfolgung an Leib und Leben nach sich. Während in der Demokratie die Oppositionellen – zumindest dem Anspruch nach – das Recht auf freie Meinungsäußerung schützt, ist dies in den autoritären Regimen nicht der Fall. Deshalb ist der Sprachgebrauch hier stärker mit lebenspraktischen Folgen verbunden: Jede missliebige Äußerung kann existenzielle Konsequenzen für die Sprecher haben. Unter solchen Bedingungen finden die Oppositionellen, politische Dissidenten, bildende Künstler, Journalisten und Schriftsteller immer wieder Wege der sprachlichen Artikulation von Dissidenz, Resistenz, Opposition und Widerstand, die in den folgenden Beiträgen im Fokus stehen. Zu unterscheiden sind dabei die Aktivitäten im Einzugsbereich der Diktatur und diejenigen im Exil. Im ersten Fall werden regimefeindliche Gedanken aus der Klandestinität und der Illegalität heraus 177
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artikuliert und verbreitet. Im Exil sind die Möglichkeiten zwar besser, die Reichweite der Interventionen bleibt aber in der Regel beschränkt. Immerhin sickern durch die sozialen Medien manchmal Stimmen aus dem Ausland ein, die im Lande selbst nicht mehr zugelassen sind. In Diktaturen bilden sich dissentierende Stimmen in der Regel jenseits der offenen Regimekritik heraus; sie praktizieren unterschiedliche Formen der Subversion. Hier setzen künstlerische und im Alltag verwurzelte Praktiken an. Sprachliche Subversionen konterkarieren untergründig die Normierungen des herrschenden Diskurses, zum Beispiel durch Ambivalenzen, Übertreibungen, Ironie und Witz. Sie bewegen sich an den Rändern des Zugelassenen; sie signalisieren Dissidenz, indem sie das Erlaubte um ein Weniges übertreten und damit kleine Insubordinationen ins Werk setzen. Der von Michel Foucault geprägte Begriff des Gegendiskurses umreißt dagegen eine über die politischen Zustände hinausreichende, epistemologische Funktion. Foucault liest die Literatur als eine Praxis des Sprachgebrauchs, die dem tief verwurzelten, modernen Sprachverständnis ein Neues an die Seite stellt, in dem die Wörter in ein anderes Verhältnis zu den Dingen träten. Jede Literatur, die vorführt, dass die Möglichkeiten der Sprache die gegebenen Verhältnisse transzendieren, weist über diese hinaus – seien es diktatorische oder nichtdiktatorische. Allerdings konstituiere sich, so Foucault, die Literatur als Gegendiskurs »nur in ihrer Autonomie.«1 Im Einzugsbereich einer Diktatur wird diese in der Regel nicht gewährt. Ihr Potenzial als Gegendiskurs erreicht die Literatur deshalb meist im Exil oder nach dem Ende einer Diktatur. Wo sie politische Verhältnisse explizit kritisiert und dadurch in Opposition zu der vom Regime monopolisierten Weltsicht gerät, funktioniert sie eher im Rahmen einer agonalen Logik von Rede und Gegenrede. Die Exilpublizistik ist seit jeher ein Ort für solche Gegenaufklärung. Als Gegendiskurs funktioniert die Literatur aber nur dort, wo sie gegenüber jedem politischen Machtspiel, also gegenüber jeder expliziten politischen Rhetorik – auch der oppositionellen – einen eigenen Bereich markiert. Ausgehend von einem Gedicht Erich Frieds über die Sehnsucht nach den »guten« und »wenig brauchbaren« Wörtern reflektiert Sven Kramer über den »Gebrauch« der Sprache, die sowohl den Missbrauch wie das Angewiesen-Sein auf Sprache, aber auch die poetische Funktion jener Wörter umfasst, die sich einem Gebrauch entziehen. Dieses Spannungsfeld zwischen den missbrauchten, gebrauchten und unbrauchbaren Wörtern untersucht Kramer im Kontext des Nationalsozialismus anhand verschiedener Positionierungen der Exilpublizistik, der Sprachkritik und des literarischen Schreibens: Im Fokus stehen die kämpferisch-entschlossene antinationalsozialistische Exilpublizistik der 1940er Jahre, wie wir 1
M. Foucault, Die Ordnung der Dinge, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1974, S. 76.
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sie bei Brecht, Feuchtwanger und den Brüdern Mann vorfinden, Victor Klemperers Sprachkritik und das literarische Schreiben von Adler. In der Kunst sind punktuell Spielräume gegeben, die ansonsten im Staatsautoritarismus nicht mehr gewährt werden. Die einzelnen Strategien, Manifestationen und Traditionen oppositionellen Sprechens und Schreibens nehmen dabei – je nach den politischen Bedingungen und den kulturellen Traditionen vor Ort – äußerst vielfältige Formen an. Einige von ihnen werden im folgenden Teil als Modelle von Subversivität exemplarisch vergegenwärtigt. So zeigt Kenza Sefrioui, wie die Zeitschrift Souffles in Marokko seit 1966 zu einem künstlerisch-subversiven, antikolonialen, antikapitalistischen und zunehmend revolutionären Forum avancierte, bevor sie 1972 schließlich verboten und ihr Herausgeber Abdellatif Laâbi für mehrere Jahre inhaftiert wurde. Einige Autoren sind ins Exil gegangen. Im Mittelpunkt des avantgardistischen Projekts Souffles im Maghreb bzw. Marokko stand zunächst eine subversive Ästhetik, die Kultur in erster Linie als Politik verstand, deren Revolutionierung und Dekolonisierung mit der Erneuerung der Schreib- und Lesegewohnheiten einherging. Die Erneuerung fand ihre konkrete Realisierung in einer engagierten Kunst, die die vorherrschenden sozialen und moralischen Codes zerstört und den Leser mit seinen Tabus und dem gesellschaftlich Totgeschwiegenen konfrontiert.2 Dieses Formen des ästhetischen Engagements und der Subversivierung werden heute nicht zuletzt im Rahmen von zivilgesellschaftlichen Bewegungen fortgeführt, wie sie sich zum Beispiel in Form von Performance und Graffiti im öffentlichen Raum äußern.3 Wie die Grenzen des hegemonialen Diskurses in der Alltagskommunikation subvertiert, überschritten und dabei neu ausgehandelt werden können, zeigt Moez Maataoui anhand des Flüsterwitzes, den er insbesondere für das Tunesien unter der Präsidentschaft Ben Alis sprachwissenschaftlich untersucht. Diese sprachliche Praxis vollzieht den abweichenden, widerständigen Diskurs im Privaten. Sie verschiebt das von der Diktatur verordnete Sprachregime um ein Weniges und setzt dem Schweigen eine leise, aber vernehmbare oppositionelle Stimme entgegen. Indem Maataoui intertextuelle Bezüge zwischen dem politischen Witz im vorrevolutionären Tunesien und in der DDR herstellt, hebt er seine politische Sprengkraft hervor und macht deutlich, mit welchen sprachlichen Elementen der politische Witz in beiden Kontexten arbeitet, um 2
3
Ausgehend vom Beispiel der Zeitschrift Souffles – aber auch bezugnehmend auf andere publizistische Projekte in Marokko – betont der Beitrag von A. Lahkim Bennani im dritten Teil den aufklärerischen Impuls jener literarischen und kulturellen Bewegungen. Vgl. dazu den Essay am Ende dieses Bandes der Kunstphilosophin Rachida Triki.
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einen subversiven Effekt im Alltag zu erreichen.4 Ganz ähnlich argumentiert der Soziologe Asef Bayat in seinem Buch Life as politics und zeigt, wie der Witz autoritäre Doktrinen stört, insofern er ein konkurrierendes Modell darstellt, das Disziplin, rigide Strukturen, Einzeldiskurse und das Monopol auf Wahrheit in Frage stellt und im Lachen von Angst befreit.5 Abdellatif Aghsain vergegenwärtigt schriftstellerische Interventionen unter den Bedingungen der autoritären politischen Verhältnisse während der Herrschaft der Baath-Partei in Syrien. So thematisiert der im Exil lebende Dichter Adonis in diesem Zusammenhang die für jede Auseinandersetzung mit Diktatur und Sprache zentrale Frage nach dem Verhältnis von Sprechen und Schweigen. Auch Adonis gehörte, wie die Autoren von Souffles, zu der arabischen Avantgarde, die statt einer politischen eine umfassende kulturelle Revolution forderten, die ein Zur-Sprache-Kommen impliziert. In der Durchbrechung des von der Diktatur verordneten öffentlichen Schweigens liegt ein Akt der Befreiung, der in der Perspektive der arabischen Umbrüche – etwa bei dem tunesischen Philosophen Fethi Meskini – als eine Wiedereroberung des Wortes, ein Wortergreifen durch die Bevölkerung erscheint. Am Beispiel von zwei syrische Autoren – Nihād Sīrīs und Zakariyyā Tāmir – untersucht Aghsain die vermeintliche Dichotomie von öffentlichem Schweigen und machtkonformem Sprechen und unterstreicht das subversive Potential des Schweigens. Wie Machtstrukturen im Ägypten der achtziger Jahre nach dem Scheitern des sozialistischen Projekts von Ǧamāl ʿAbd an-Nāṣir (1918–1970) durch den durchdringenden Kapitalismus aufgrund der Infitāḥ-Politik seines Nachfolgers Anwar asSādāt (1918–1981) neue Dimensionen in ihrem Verhältnis zu den Dissidenten erreichen, thematisiert der Beitrag von Ibrahim Abdella und Sarah Schmidt. Die beiden Autoren untersuchen die eigentümliche literarische Subversion der ägyptischen Verhältnisse in Ṣunʿallāh Ibrāhīms Roman al-Lağna, 1981 (Der Prüfungsausschuss). In diesem an Kafka gemahnenden Text nimmt Ibrāhīm Sprech- und Verhaltensweisen der Herrschenden auf und wendet sie durch Verfahrensweisen wie die Übersteigerung ins Absurde und Surreale gegen das Regime. Das einhergehende Sprechen zwischen den Zeilen sowie die gezielte Inszenierung des Schweigens subvertiert deren Funktionsweise, ohne durchgehend zur expliziten Kritik zu werden. Gleichfalls distanzierend, jedoch mit einem anderen literarischen Verfahren, bezieht sich Durs Grünbein 4
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Eine Fortführung dieser Überlegungen zur Protestfunktion der Sprache – jedoch nicht während der Diktatur sondern während politischer Umbruchszeiten – gibt Moez Maataoui mit Bettina Bock und Stefen Pappert im dritten Teil. Vgl. A. Bayat, Life as politics. How ordinary people change the Middle East, Amsterdam: University Press 2010, S. 156.
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1988, kurz vor ihrem Ende, auf die DDR. In der ästhetischen Brechung, die Grünbein in die Auseinandersetzung mit dem Staatssozialismus einführt, erkennt Andreas Jürgens einen dritten Weg jenseits von poésie pure und littérature engagée. Grünbein, so konstatiert Jürgens, greift auf imaginierte Kindheitserinnerung und historisch-mythologisches Wissen zurück und setzt sie kontrapräsentisch zu der öden sozialistischen Wirklichkeit der DDR ein. Die Frage nach dem Schweigen führt auf die postdiktatorischen Verhältnisse, denn die in der Diktatur geprägte Sprachpraxis hört mit deren politischen Ende nicht einfach auf; das überwundene Regime wirkt in der Sprache fort: sei es, weil einflussreiche Gruppen sich in Kontinuität mit einigen Ideen des abgeschafften Regimes verstehen, sei es, dass sprachliche und gedankliche Bestände aus der Diktatur übernommen werden und undurchschaut virulent bleiben. Zudem finden viele von denen, die gewaltsam zum Verstummen gebracht und dadurch traumatisiert wurden, nicht wieder zurück zur Sprache.6 Sprachkritik und die Reflexion auf die Sprache werden dadurch zu Formen der Aufarbeitung des Erbes der Diktatur – und zugleich zu Instrumenten der Prävention gegenüber der Restauration diktatorischer Zustände. So hat der Romanist Victor Klemperer, ein Verfolgter des Naziregimes, sofort nach dem Krieg sein akademisches Feld gewechselt und eine Sprachkritik des Nationalsozialismus vorgelegt. Kritik und Subversion münden in der Postdiktatur dergestalt in Verfahrensweisen ein, die im Rahmen demokratisch verfasster Gesellschaften für aufklärerische Prozesse überhaupt stehen. Denn die Frage nach autoritären Strukturen in einer Gesellschaft betrifft neben dem politischen Autoritarismus auch viele weitere Bereiche, darunter jene sprachlichen Umgangsformen, in denen Herrschaft sedimentiert ist. Sprachkritik trägt hier im umfassenderen Sinn zur Aufklärung einer Gesellschaft über sich selbst bei. Und die Arbeit an der Sprache, welche die Literatur in der Postdiktatur ins Werk setzt, weist – wie bei H. G. Adler oder bei Adonis – über die reine Gegnerschaft hinaus, indem sie andere Formen des Sprechens, des Denkens und des Miteinanders erprobt als sie in der für den politischen Kampf instrumentalisierten Sprache praktiziert werden.
6
Das hat die Traumaforschung in den letzten Jahrzehnten herausgearbeitet, vgl. G. Fischer und P. Riedesser, Lehrbuch der Psychotraumatologie, 4. Aufl., München, Basel: UTB 2009. Aus kulturwissenschaftlicher Perspektive hat zum Beispiel Elaine Scarry den Zusammenhang zwischen Folter und Verstummen thematisiert, vgl. dies., Der Körper im Schmerz, Frankfurt/M.: Fischer 2009, S. 43–90.
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Diktatur und Sprache Konstellationen in den 1940er Jahren und darüber hinaus 1. Sprachen der Dichtung (Fried) 1981, noch während des Kalten Krieges, auf dem Höhepunkt der Nachrüstungsdebatte über die Bewaffnung Europas mit sowjetischen SS-20 und US-amerikanischen Pershing Mittelstreckenraketen, und nach einem Jahrzehnt des bewaffneten Kampfes der Roten Armee Fraktion gegen den bundesdeutschen Staat sowie dieses Staates gegen den Terrorismus, publizierte einer der meistgelesenen politischen Lyriker seiner Zeit, Erich Fried, das folgende Gedicht: Sehnsucht nach Worten Kommt ihr guten ihr wenig brauchbaren Worte Ihr taugt zu keiner Losung ihr schillert in keinen Farben zu denen man sich bekennt Ihr eignet euch für kein Kampflied Ihr laßt euch auf keine Fahnen schreiben Auch nicht auf Fahnen gegen Fahnen von Feinden1
Das Gedicht spricht von einer Welt, in der es Feinde gibt. In dieser Welt tritt die Sprache in Form von Losungen, Kampfliedern und beschriebenen Fahnen auf. Die Sprache wird somit zu einem Teil des Kampfes gegen die Feinde. Sie ist brauchbar, sie wird benutzt. Herbeigesehnt und – im 1
E. Fried, »Sehnsucht nach Worten«, in: ders., Gesammelte Werke: Gedichte 2, hg. v. V. Kaukoreit und K. Wagenbach, Berlin: Wagenbach 2006, S. 513 f.
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Imperativ »Kommt« – auch herbeigerufen werden andere Worte, nämlich die »wenig brauchbaren«. Das lyrische Ich wertet sie höher als die brauchbaren, denn die wenig brauchbaren sind die »guten« Worte, gegen die die anderen stehen. Die guten Worte, die, auf die die Sehnsucht zielt, entziehen sich den Mechanismen der Gegnerschaft und der Feindschaft, sie sind für den Kampf untauglich, weil mit ihnen keine Gefolgschaft organisiert, keine Parteilichkeit begründet werden kann. Aber welchen Stellenwert haben diese Worte in einer Welt, in der es Feinde gibt? Auf diese Frage könnte eine Reflexion auf den Doppelsinn des Verbs ›brauchen‹ antworten. ›Brauchen‹ bedeutet nicht nur benutzen, im Sinne von instrumentalisieren, sondern auch benötigen. Ist die häufig gebrauchte, polarisierende Sprache also eine zugerichtete, für den Kampfzweck modellierte, und zugleich, gerade in dieser Eigenschaft, eine benötigte? Ist sie eine ebenso ungeliebte wie unverzichtbare? Das Gedicht lässt diese zweite Bedeutung der Brauchbarkeit offen, denn es spricht nur in Negationen von der gebrauchten Sprache und ihren Worten. Verwiesen wird dadurch aber auf eine verborgene, vielleicht auch versteckte – eine schamvoll in den Negationen versteckte – Schicht des Gedichts, mit der sich der folgende Gedanke aufdrängt: Dass es einen Wunsch nach der guten Sprache gibt, muss nicht bedeuten, dass die im Kampf gegen den Feind gebrauchte Sprache obsolet ist und abzuschaffen wäre. Vielleicht müssen entgegen aller Sehnsucht beizeiten sogar schlechte Worte benutzt werden. Aber darf die Literatur sich einen solchen Gedanken zu eigen machen? Kann eine Literatur überhaupt verteidigt werden, die Partei im Kampf ergriffe und die schlechten Worte wider die Feinde gebrauchte? Sollte sie nicht vielmehr endlich die guten Worte ausbuchstabieren? Also jene, mit denen keine Feindschaft begründet werden kann? Frieds Gedicht ruft beide Sprachverwendungen auf und platziert sie in Spannung zueinander, ohne eine Lösung zu formulieren. Und in der Tat scheint die Sprache unter den Bedingungen realer Feindschaft in einen unauflöslichen Widerspruch verwickelt zu sein: Entzieht sie sich der polarisierenden Eigenlogik des Kampfes, so kann sie nicht in diesen eingreifen und wird wehrlos. Betreibt sie hingegen den Kampf, so verrät sie die eigenen Ideale und macht sich gemein mit dem Feind, also mit jener Macht, gegen die sie kämpft. Die Worte dieser Sprache können gleichermaßen auf den eigenen wie auf den feindlichen Fahnen stehen. Das Gedicht ruft den Widerspruch auf, ohne ihn lösen zu können. Es spricht gewissermaßen beide Sprachen. Das Problem der brauchbaren und gebrauchten Sprache, also der benötigten und zugleich instrumentalisierten, das Erich Fried unter den Bedingungen der Demokratie herausgearbeitet hat, betrifft in besonderer Weise jene Schriftsteller, deren Werk im Kontakt mit Diktaturen entsteht. Zu ihnen zählte auch Fried: 1921 in Wien geboren, 1938 vor den Nazis nach England geflohen und seither im Exil geblieben, kannte er die 183
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Zwangsmechanismen der nationalsozialistischen Diktatur aus eigener Lebenserfahrung. Wenn vorausgesetzt werden darf, dass Diktatoren zur Sprachlenkung tendieren und die Sprache in diesem Sinne instrumentalisieren, so ist die Frage, wie die Diktaturgegner unter den Schriftstellern und den Intellektuellen zur gebrauchten Sprache stehen, nicht vereinheitlichend zu beantworten, sondern nur mit Blick auf die vielen unterschiedlichen Sprachverwendungen. Dies soll nun für den Nationalsozialismus der 1940er Jahren geschehen, und zwar in drei Hinsichten, die zugleich unterschiedliche Positionierungen zur gebrauchten Sprache anzeigen: erstens hinsichtlich der Exilpublizistik, zweitens der Sprachkritik und drittens des literarischen Schreibens im engeren Sinne. Dabei kann es nicht um einen literaturgeschichtlichen Überblick gehen, der sehr viel umfangreicher ausfallen müsste, als es hier geleistet werden kann. Vielmehr werde ich mit Blick auf das Problem der gebrauchten Sprache einige aussagekräftige Beispiele typologisch voneinander abgrenzen und deren Funktionsweisen gegeneinander akzentuieren. Herausgearbeitet werden soll dabei insbesondere, was sich mit Frieds Gedicht ankündigt: dass in der Literatur Positionierungen gegenüber der gebrauchten Sprache möglich werden, die den anderen Sprachverwendungen aufgrund der in ihnen herrschenden Binnenlogiken entgegenstehen.2
2. Exilpublizistik im Kriege (Brecht, Feuchtwanger, Thomas und Heinrich Mann) Am 19. März 1942, wenige Monate nach dem Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg, erschien in den New Yorker Intercontinent News ein Aufruf, den Heinrich Mann, Lion Feuchtwanger und Bertolt Brecht unterzeichnet hatten. Brecht hielt sich seit Juni 1941 in Santa Monica auf. Heinrich Mann war schon 1940 dort angekommen, und auch Lion Feuchtwanger gelang 1941 die Flucht nach Los Angeles. In dem Artikel heißt es: »Deutsche! […] Ihr habt die Welt und euch selbst in ein Unglück gestürzt: es überschreitet jedes Maß. […] Ihr allein könnt den verderblichsten und sinnlosesten aller Kriege abbrechen. […] Überwältigt euren Führer […]. Vollbringt in der äußersten Stunde das einzige, was euch freisteht, um die Menschheit […] vielleicht zu versöhnen; das einzige, was Deutschland retten kann.«3 Dieser Aufruf steht in einer langen Reihe von politischen Interventionen, die die genannten Schriftsteller seit dem Machtantritt Adolf 2 3
In Bezug auf den arabischen Kontext vgl. die Reflexionen von Kenza Sefrioui und Abdellatif Aghsain in diesem Teil. H. Mann, L. Feuchtwanger, B. Brecht, »Deutsche!«, in: B. Brecht, Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, hg. v. W. Hecht u. a., Schriften 3, Berlin u. a.: Suhrkamp und Aufbau 1993, S. 423.
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Hitlers im Januar 1933 unermüdlich lancierten. Als politischer Text kennt er keine Zweideutigkeit. Auf seiner Fahne steht geschrieben: »Überwältigt euren Führer«. Daraus spricht die unmissverständliche, kompromisslose Gegnerschaft ebenso wie die aufgezeigte Handlungsorientierung. Die Schriftsteller bedienen sich hier – in Zeiten des Krieges – jener brauchbaren Sprache, um die es in Frieds Gedicht geht. Alle drei haben während der langen Jahre des Exils bedeutende literarische Werke verfasst, in denen auch die Mehrdeutigkeit einen Platz hat. Hier aber sprechen sie anders als in ihren literarischen Texten. Sie verbinden ihren Namen mit einer politischen Position, um in der Öffentlichkeit etwas zu bewirken. Sie sprechen zunächst als Staatsbürger, erst danach als Schriftsteller. Das gilt für viele Autoren im Exil, so auch für den Nobelpreisträger Thomas Mann, den ebenfalls die USA aufgenommen hatten. Zwischen 1940 und 1945 verfasste er regelmäßig Rundfunkansprachen, die von der BBC ins Deutsche Reich ausgestrahlt wurden. Auch er formulierte eindeutig. So nennt er die Nazis einen »Raub-Pöbel«4 und ein »Halunken-Regiment«5, und er legt den Deutschen den Umsturz nahe.6 Thomas und Heinrich Mann, Feuchtwanger und Brecht waren zuerst aus Deutschland und später aus Europa geflohen. Sie hatten sich dem wachsenden Einflussbereich der nationalsozialistischen Diktatur entzogen und waren nun nicht mehr an Leib und Leben bedroht. Darüber hinaus konnten sie – sogar als Ausländer – Freiheitsrechte der Demokratie in Anspruch nehmen, etwa das für Schriftsteller essenzielle Recht auf freie Meinungsäußerung. Das Exil brachte aber insofern eine für jeden dieser Schriftsteller schwierige Lage mit sich, als die Exilautoren von ihren deutschsprachigen Lesern weitgehend abgeschnitten waren. Thomas Manns Radioreden sind die Ausnahme von der Regel, weil sie ein deutsches Publikum fanden.7 Die Aufrufe und politischen Interventionen anderer Schriftsteller gelangten dagegen nur sehr selten in den Machtbereich des Nationalsozialismus. Auch der Gedanke an eine direkte politische Einflussnahme mit Hilfe von Prosa, Dramatik oder Lyrik war also schon wegen der fehlenden Leserschaft wenig realistisch. – Hinzu kamen die vielen verschiedenen Auffassungen davon, was Literatur überhaupt in politischer Hinsicht leisten könne, der hier aber nicht nachgegangen werden kann. 4
5 6 7
T. Mann, Deutsche Hörer! Radiosendungen nach Deutschland 1940– 1945, hg. v. der Europäischen Kulturgesellschaft Venedig, Darmstadt: Verlag Darmstädter Blätter 1986, S. 67 (Rede vom April 1942). Ebd., S. 68 (Rede vom Mai 1942). Vgl. ebd., S. 67 f. Zusätzlich erschienen sie 1945 im Druck, vgl. T. Mann, Deutsche Hörer! 55 Radiosendungen nach Deutschland, 2. erweiterte Auflage, Stockholm: Bermann-Fischer 1945.
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3. Spielräume des Schreibens in der Diktatur Jede Diktatur grenzt einen Teil ihrer eigenen Bevölkerung aus, sei es aus sogenannten rassischen Gründen (wie der Nationalsozialismus die Juden) oder aus politischen Gründen (wie der Stalinismus in seinen verschiedenen Säuberungswellen). Die Ausgegrenzten werden bestenfalls marginalisiert, meist aber verfolgt und im äußersten Fall ermordet. Sie werden als Feinde im Inneren behandelt, nicht als Diskutanten im Streit der Meinungen. Von ihnen erwarten die Diktatoren Unterordnung, von den übrigen – auch von den Intellektuellen – erwarten sie Unterstützung oder zumindest Konformismus. Moderne Diktaturen sind immer auch »Gesinnungsdiktaturen«8. In sprachlicher Hinsicht bedeutet dies, dass die Diktatoren das freie Wort unterdrücken und verlangen, dass die Bevölkerung das Sprachregime der Diktatur übernimmt. Zuwiderhandlungen werden sanktioniert, wofür die Polizei, insbesondere die in allen Diktaturen eingerichtete Politische Polizei, zuständig ist.9 Autoren, die sich als Gegner der Diktatur in deren Machtbereich aufhalten, stehen deutlich geringere Möglichkeiten der Meinungsäußerung offen als den exilierten.10 Je nachdem, ob es sich um eine aggressivere Diktatur handelt, wie etwa den Nationalsozialismus, der eine eliminatorische Politik gegenüber allen Juden und eine mörderische gegenüber allen Systemgegnern betrieb, oder um eine mildere Spielart, wie sie etwa unter Walter Ulbricht und Erich Honecker in der DDR praktiziert wurde, müssen die Autoren zunächst um ihre körperliche Unversehrtheit sowie gegebenenfalls sogar um Leib und Leben fürchten. In diesen Fällen steht nicht nur die Publikation der eigenen Texte außer Frage, sondern schon das Schreiben selbst ist gefährlich.11 Manche Autoren entscheiden sich für das Schreiben im Verborgenen. Wo die Verfolgung einen geringeren Grad erreicht und sich mitunter sogar Publikationsspielräume eröffnen, wie in der DDR, beginnt das lange Ringen mit der Zensur.
8
E. Lämmert, »Beherrschte Literatur. Vom Elend des Schreibens unter Diktaturen«, in: G. Rüther (Hg.), Literatur in der Diktatur. Schreiben im Nationalsozialismus und DDR-Sozialismus, Paderborn u. a.: Schöningh 1997, S. 15–37, S. 17. 9 Inwiefern der politische Witz den Polizeistaat in Frage stellt, zeigt Moez Maataoui in seinem Beitrag in diesem zweiten Teil. 10 Eberhard Lämmert zeichnet diese Spielräume für die sogenannte innere Emigration während des Nationalsozialismus sowie für die Opposition in der DDR nach (vgl. E. Lämmert, »Beherrschte Literatur«). 11 Zur subversiven Funktion des Schreibens unter der Diktatur vgl. z. B. die Beiträge von Kenza Sefrioui und Ulla Fix.
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4. Sprachkritik (Klemperer) Die Sprachkritik hat eine lange Tradition – auch im deutschen Sprachraum.12 In der Literatur darf Karl Kraus als einer ihrer hervorragenden Vertreter genannt werden. Darüber hinaus gibt es philosophisch und sprachwissenschaftlich akzentuierte Strömungen der Sprachkritik. Mit Bezug auf die Sprachkritik des Nationalsozialismus muss das Werk Victor Klemperers genannt werden. Je nachdem, ob man die Diaristik als eine Form der Literatur akzeptiert, kann dessen Sprachkritik zur Literatur hinzugerechnet werden oder nicht. Wichtiger als diese Rubrizierung ist hier allerdings die Position der Sprachkritik als einer Kritik der gebrauchten Sprache.13 Während die Exilpublizistik sich dieser Sprache bedient, um ihre politische Kritik zu platzieren, stellt sich die Sprachkritik gegen die Instrumentalisierung der Sprache. Klemperer war 1881 als Jude geborgen worden und konvertierte 1912 zum Protestantismus. Er wurde in Dresden Professor für Romanistik. Die Nationalsozialisten stuften ihn als Juden ein; da er aber mit einer sogenannten Arierin verheiratet war, wurde er nicht sogleich deportiert. Klemperer erhielt Berufsverbot und musste mit seiner Frau in ein Judenhaus umziehen, von wo aus beiden im Anschluss an die Bombardierung Dresdens im Februar 1945 die Flucht gelang. Während der Jahre der Verfolgung führte er ein geheimes Tagebuch, das ihn, wäre es bei einer Razzia entdeckt worden, wahrscheinlich das Leben gekostet hätte. Da er zuletzt nur noch Schriften und Zeitungsartikel der Nationalsozialisten lesen durfte, entschied er sich, der Analyse ihrer Sprache viel Zeit zu widmen. Nach der Befreiung wertete er 1946 seine Beobachtungen aus und verfasste das Buch LTI, das 1947 erschien. LTI, Lingua Tertii Imperii, nennt Klemperer ironisch die Sprache des von Hitler ausgerufenen Dritten Reichs, die er an vielen Einzelbeispielen untersucht. Diese Sprache sieht er weniger als eine Neuschöpfung an, in der auf der Wortebene mit Neologismen gearbeitet werden würde, sondern seine These lautet: »Die nazistische Sprache […] ändert Wortwerte und Worthäufigkeiten, […] sie beschlagnahmt für die Partei, was früher Allgemeingut war, und in alledem durchtränkt sie Worte und Wortgruppen und Satzformen mit ihrem Gift, macht sie die Sprache ihrem fürchterlichen System dienstbar, gewinnt sie an der Sprache ihr stärkstes, ihr 12 Vgl. z. B. J. Schiewe, Die Macht der Sprache. Eine Geschichte der Sprachkritik von der Antike bis zur Gegenwart, München: Beck 1998. 13 Karl-Heinz Siehr stellt den Konnex zwischen Klemperers Sprachkritik und literaturwissenschaftlichen Untersuchungen der nationalsozialistischen Sprache her, vgl. ders., »Victor Klemperers Sprachkritik im Lichte integrativer Bemühungen von Sprach- und Literaturwissenschaft«, in: M. Hoffmann, C. Keßler (Hg.), Berührungsbeziehungen zwischen Linguistik und Literaturwissenschaft, Frankfurt/M.[u. a.]: Lang 2003, S. 93–109.
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öffentlichstes und geheimstes Werbemittel.«14 Der Wortwert bezeichnet die Semantik, also die Wortbedeutung. Die Worthäufigkeit zielt auf den politisch-propagandistischen Aspekt der institutionellen Sprachlenkung und Sprachnormierung, die vor allem Joseph Goebbels in seinem Ministerium für Volksaufklärung und Propaganda betrieb.15 In weiteren Abschnitten geht Klemperer auch auf die Sprachverwendung und somit auf den kommunikativen und performativen Aspekt des sprachlichen Handelns ein. Den Gesamteffekt der Veränderung begreift er als ein Einwandern des nationalsozialistischen politischen Systems in die Sprache. Die Sprache wird zu einem Durchsetzungsinstrument für die politisch-ideologische Position der Nationalsozialisten, deren Weltauffassung der Allgemeinheit unter anderem sprachlich aufgezwungen werde.16 Um ein Beispiel zu geben: Allen Individuen innerhalb des nationalsozialistischen Machtbereichs wurde die Unterscheidung zwischen Juden und Deutschen aufgezwungen. Klemperer selbst wurde als Jude klassifiziert, während man ihm zugleich sein Deutschsein absprach. Für ihn sei es eine Qual, dass er, wie er schreibt, sich »ständig mit diesem Irrsinn des Rassenunterschiedes zwischen Ariern und Semiten beschäftigen muß, daß ich die ganze grauenhafte Verfinsterung und Versklavung Deutschlands immer wieder unter dem einen Gesichtspunkt des Jüdischen betrachten muß. Mir erscheint das wie ein über mich persönlich errungener Sieg der Hitlerei.«17 Die Nationalsozialisten haben diese ideologische Unterscheidung sprachlich durchgesetzt, indem zum Beispiel die als Juden Klassifizierten ihrem Namen »ein ›Israel‹ oder ›Sara‹ beizufügen«18 hatten und nur mit dem Zusatz »Jude« angesprochen wurden: »Wenn von mir amtlich die Rede ist, heißt es immer ›der Jude Klemperer‹«19. Klemperer resümiert: »ein Wort oder eine bestimmte Wortfärbung oder -wertung […] sind erst da wirklich existent, wo sie in den Sprachgebrauch einer Gruppe oder Allgemeinheit eingehen und sich eine Zeitlang darin behaupten.«20 Genau das sei nach Klemperer in Bezug auf die 14 V. Klemperer, LTI. Notizbuch eines Philologen (zuerst 1947), 23. Aufl., Stuttgart: Reclam 2009, S. 27. 15 Vgl. »der Nazismus glitt in Fleisch und Blut der Menge über durch die Einzelworte, die Redewendungen, die Satzformen, die er ihr in millionenfachen Wiederholungen aufzwang und die mechanisch und unbewußt übernommen wurden.« (Klemperer, LTI, S. 26). 16 Siegfried Jäger sieht Klemperer deshalb als einen Vorläufer Foucaults, vgl. ders., »Sprache – Wissen – Macht. Victor Klemperers Beitrag zur Analyse von Sprache und Ideologie des Faschismus«, in: Muttersprache, Jg. 109 (1999), H. 1, S. 1–18, S. 6. 17 V. Klemperer, LTI (Fn. 14), S. 45. 18 Ebd., S. 106. 19 Ebd., S. 106. Vgl. auch S. 261. 20 Ebd., S. 68.
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Sprache des Nationalsozialismus während dessen zwölfjähriger Dauer der Fall gewesen. Klemperer betreibt einerseits noch während des Faschismus die Analyse der LTI, andererseits möchte er im Nachkriegsdeutschland aufklären und helfen, die noch bestehenden Reste der nazistischen Sprache zu beseitigen. Dazu nimmt er die Position des Sprachkritikers ein, die bei ihm zuinnerst mit der des Moralisten verbunden ist. Das schlägt sich einerseits in seinen Argumentationen nieder, andererseits in seinem eigenen Umgang mit der Sprache. An Dutzenden von Beispielen zeigt er, wie sich die Nationalsozialisten eines Wortes bedienen und es im Sinne ihrer Ideologie semantisch aufladen: »Sippe, ein neutrales Wort der älteren Sprache für Verwandtschaft, für Familie im weiteren Sinn« sei einerseits zum Pejorativ herabgesunken, wo es um sogenannte jüdische Versippung geht, andererseits – in der sogenannten Sippenforschung – »zu feierlicher Würde«21 gelangt. Klemperer argumentiert, dass die Wortbedeutungen wieder von der nazistischen Bedeutung befreit werden müssten. Als engagierter Sprachkritiker greift er dabei selbst zur Metaphorik. So formuliert er, die einem persönlichen, fachwissenschaftlichen oder Gruppensprachgebrauch entlehnten Worte und Wendungen seien »ins Allgemeine übernommen und ganz durchgiftet worden mit nazistischer Grundtendenz«22. Wie hier wählt er durchgängig die Metapher des Gifts, um das Wirken der LTI zu beschreiben. Diese Sprache sei »aus giftigen Elementen gebildet« und »zur Trägerin von Giftstoffen gemacht worden«23. Seinen »erzieherischen«24 Auftrag sieht Klemperer darin, das »Gift der LTI deutlich zu machen und vor ihm zu warnen«25 sowie die Sprache zu reinigen, wo es geht. Dort aber, wo dies nicht möglich sei, drängt er darauf, »viele Worte des nazistischen Sprachgebrauchs für lange Zeit, und einige für immer«26 abzulegen. Erst das Verblassen dieser nazistischen Worte zeige die gelungene Befreiung von der Ideologie des Nationalsozialismus an. Klemperers Entgiftungsprogramm durch aufklärende Sprachkritik war 1946 eine verdienstvolle Pionierarbeit, neben der noch die etwas später erschienene Artikelserie Aus dem Wörterbuch des Unmenschen von Dolf Sternberger und anderen genannt werden könnte.27 21 22 23 24 25 26
Ebd., S. 109. Ebd., S. 233. Ebd., S. 26. Ebd., S. 25. Ebd., S. 27. Klemperer formuliert wörtlich: »Man sollte viele Worte des nazistischen Sprachgebrauchs für lange Zeit, und einige für immer, ins Massengrab legen« (Klemperer, LTI, S. 27). 27 Vgl. D. Sternberger, G. Storz und W. E. Süskind, Aus dem Wörterbuch des Unmenschen, Hamburg: Claassen 1957.
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Inwiefern Klemperers Sprachkritik noch heute wegweisend für die Forschung sein kann, ist umstritten. Einige problematische Elemente seiner Herangehensweise sollten nicht verschwiegen werden. So vertritt er einen positiven Begriff des Deutschtums28 im Sinne des Volksgedankens und verwendet trotz aller Kritik selbst Sprachbestände des Nationalsozialismus. Als Beispiel kann das Wort ›Entartung‹ angeführt werden, etwa in der Formulierung, der Nationalsozialismus müsse als eine »Entartung des deutschen Wesens«29 begriffen werden. Problematisch ist auch die Hauptstoßrichtung seiner Kritik, die die vergiftete, nazistische Sprache säuberlich von der gereinigten scheiden möchte. In einigen wichtigen Passagen überschreitet Klemperer allerdings seine pädagogisierende Schwarz-Weiß-Kritik, etwa wenn er feststellt, dass er, obwohl er bestrebt war, während des Dritten Reichs »ungefärbt neutral«30 zu sprechen, doch Elemente der von ihm so genannten »Judensondersprache«31 und sogar der LTI selbst verwendet hat. Zu seiner Entschuldigung bringt er vor, der Einzelne könne sich dem Feinddruck, der aus der eigenen Lage hervorgehe, »nicht entziehen«32; er passe sich unweigerlich an. Hier klingt die Grenze der Sprachkritik an, denn wo diese ansonsten einen Standpunkt außerhalb der kritisierten Sprache bezieht, stellt sich nun der Gedanke ein, dass noch der Sprachgebrauch des Kritikers notwendig in die kritisierte Sprache eingewoben bleibt. Der Duisburger Linguist Siegfried Jäger betont gerade diesen Aspekt in Klemperers Werk und sieht den Autor deshalb als den Vorläufer einer diskursanalytischen Sprachtheorie des Nationalsozialismus. Klemperers Verdienst sei es, die Zusammengehörigkeit von Sprache und Gesellschaft systematisch bedacht zu haben. Im Sinne von Foucault begreife er die Sprache in der Diktatur als ein diskursives Netz, das alle Bereiche der Gesellschaft durchdringe, weshalb man sich ihr nur schwer entziehen könne: »Mehr oder minder alle sind in den faschistischen Diskurs verstrickt«33. Die Aufgabe des Sprachkritikers sei es nun, trotz dieses Determinismus einen Standpunkt für die Kritik zu finden, »indem man sich diesen Diskursen […] nicht selbstverständlich und unbewusst überlässt, sondern sich kritisch und bewusst damit auseinandersetzt«34. Für das Thema der gebrauchten Sprache sind diese Überlegungen zum systematischen Ort des Sprachkritikers zentral. Denn ob man Klemperer eher als den Sprachreiniger oder als den Diskurstheoretiker liest – in beiden Fällen verlangt die Sprachkritik einen Ort der Kritik, der sich vom 28 29 30 31 32 33 34
Vgl. den Abschnitt »Zion« in: Klemperer, LTI, S. 270–288. V. Klemperer, LTI (Fn. 14), S. 179. Ebd., S. 245. Ebd., S. 245. Ebd., S. 245. S. Jäger, »Sprache – Wissen – Macht« (Fn. 16), S. 9. Ebd., S. 10.
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Eingebundensein in die Sprache der Diktatur abhebt. Sie muss sich der gebrauchten Sprache mehr oder weniger entgegensetzen, um sie kritisieren zu können. Gerade diese Überlegungen zum Grad der Verstricktheit des Sprachkritikers in die kritisierte Sprache der Diktatur werden in einigen zeitgenössischen literarischen Werken thematisiert und in ihrem künstlerischen Verfahren radikalisiert. Beispielhaft dafür soll hier H. G. Adlers Roman Eine Reise stehen.
5. Diktatur und Sprache in der Literatur (Adler) Adler wurde 1910 in Prag geboren. Wegen seines Judentums verfolgten ihn die Nationalsozialisten und sperrten ihn in verschiedene Arbeits-, Konzentrations- und Vernichtungslager, darunter Theresienstadt und Auschwitz. Er selbst überlebte, während achtzehn seiner Angehörigen in der Shoah ermordet wurden. Adler emigrierte 1947 nach London, wo er mit Franz Baermann Steiner und Elias Canetti einen Dichterkreis gründete, zu dem auch Erich Fried gehörte. Noch während der Internierung sammelte er in Theresienstadt Dokumente und verfasste auch Gedichte. Nach der Befreiung erarbeitete er ein theoretisches und ein literarisches Werk: 1955 erschien seine Monografie Theresienstadt 1941–1945. In den vierziger und fünfziger Jahren entstanden außerdem mehrere Romane, darunter Eine Reise. Adler schrieb den Text 1950 und 1951 nieder, einen Verlag fand er allerdings erst 1962. Mit der Sprache – auch mit dem Problem der gebrauchten Sprache – setzte sich Adler sowohl während des Nationalsozialismus als auch nach dessen Ende auseinander. So stellt er dem Theresienstadtbuch eine zwanzig Seiten lange Auflistung des besonderen Sprachgebrauchs in diesem Lager voran. Das erläutert er mit den Worten: »Obwohl ich mich bemühe, dieses Buch in unverdorbenem Deutsch zu schreiben, brachte es das Thema […] mit sich, daß sich im Text der Sprachverfall im Zeitalter des mechanischen Materialismus im allgemeinen, so wie die gestaltlos krampfhafte Sprache des Nationalsozialismus und die Umgangs- und Schriftsprache in Theresienstadt im besonderen spiegeln und oft geradezu aufdrängen mußte. Gewiß jedoch sollte der Ungeist, der dieses Lager schuf und vegetieren ließ, auch sprachlich überwunden werden.«35 Auch Adler spricht also von der Notwendigkeit einer Überwindung der nationalsozialistischen Sprache. Der Hinweis auf seine Theorie des mechanischen Materialismus deutet allerdings bereits an, dass er die nationalsozialistische Sprache nur als eine besonders radikale Manifestation innerhalb einer umfassenderen 35 H. G. Adler, Theresienstadt 1941–1945. Das Antlitz einer Zwangsgemeinschaft, 2. verb. u. erg. Aufl., Tübingen: Mohr 1960 [EA 1955], S. XXV.
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gesellschaftlichen Veränderung sieht, in die die Sprache insgesamt eingebunden sei.36 Ein Grundgedanke von Adlers kultur- und gesellschaftskritischem Impetus ist die These, dass schon das moderne Verständnis vom Menschen als dem Bestandteil einer Masse problematisch sei, weil hier das individuelle Leben einer Gruppenzuschreibung untergeordnet werde. Das habe der Nationalsozialismus auf die Spitze getrieben: »Der Nationalsozialismus verwandelte den Menschen aus einer zur Autonomie berufenen oder berufbaren Persönlichkeit bedenkenlos in einen behandelten Gegenstand. Darin war die nationalsozialistische Herrscherklasse unbedingte Anhängerin ihrer materialistisch denkenden und empfindenden Zeit, die schon vorher und auch außerhalb dieses Machtbereiches von Menschen und Völkern mit einem pseudokollektivistischen Ausdruck als von ›Masse‹ zu reden wagte.«37 Der Nationalsozialismus habe diese Tendenz der Instrumentalisierung der Menschen ins Extrem gesteigert, indem er jeden Einzelnen zu einer Nummer gemacht hätte, »die ein ›Stück‹ bezeichnet«38. In äußerster Konsequenz münde dieses mechanische Verständnis vom Menschen in den Massenmord. Wenn sich schon die Mehrheit der Bevölkerung in den modernen Staaten, übrigens einschließlich der Juden,39 nicht vom mechanischen Materialismus freimachen könne, so steigere sich, nach Adler, die Infiltration »mit totalitärem Denken«40 in den Lagern ins Übermächtige: »Überall hielt die herrschende Ideologie ihren verderblichen Einzug und vergiftete sogar noch den Protest, der ihr zu widersprechen wagte.«41 Sich diesem Druck zu entziehen, war ausgeschlossen. Adler resümiert: »Ein absolutes Nichtmitwirken war unmöglich.«42 Vielleicht noch entschiedener als Klemperer sieht Adler die Teilhabe der Unterdrückten und Verfolgten an der Weltdeutung der Nationalsozialisten in der Reise als unvermeidlich an. Einen Standpunkt, der sich von diesem Zwang absetzen könnte, erkennt er im Theresienstadtbuch einzig in der Position des Beobachters, in dem Vermögen, »sich die Fähigkeit des Zuschauens 36 Thomas Krämer hat Adlers Begriff des mechanischen Materialismus rekonstruiert, vgl. ders., Die Poetik des Gedenkens. Zu den autobiographischen Romanen H. G. Adlers, Würzburg: Königshausen & Neumann 2012, S. 61–65. 37 H. G. Adler, Theresienstadt 1941–1945. Das Antlitz einer Zwangsgemeinschaft (Fn. 35), S. 631. 38 Ebd., S. 634. 39 Vgl. »Die Mehrzahl war gemeinsam mit ihrer Umwelt dem mechanischen Materialismus verfallen und hatte dem Zerfall der Werte nicht widerstanden« (Adler, Theresienstadt, S. 653). 40 H. G. Adler, Theresienstadt 1941–1945. Das Antlitz einer Zwangsgemeinschaft (Fn. 35), S. 644. 41 Ebd., S. 644. 42 Ebd., S. 660.
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zu bewahren«43. Inmitten des unvermeidlichen Mitmachens könne auf diese Art zumindest eine Distanz zum eigenen Verstricktsein aufrechterhalten werden.44 Eine Reise setzt dieses Verstricktsein durch die literarische Komposition ins Werk. Adler schildert in dem Roman die Deportation und weitgehende Auslöschung einer jüdischen Familie in den nationalsozialistischen Lagern, die nur der Protagonist namens Paul Lustig überlebt. Schon diese Zusammenfassung des Inhalts verstößt allerdings gegen ein Hauptkompositionsprinzip des Buches, denn Adler nennt keine historischen Gruppierungen oder Parteien, keine Ortsnamen und gibt keine Jahreszahlen an.45 Bei ihm ist also gar nicht von Nationalsozialisten und Juden die Rede. Diese programmatische Entscheidung zeigt an, dass es dem Autor nicht um die Abgrenzung der Opfer oder eine Identifikation bestimmter Täter geht. Während die Exilpublizistik gerade letzteres unternimmt und während die Sprachkritik das verhüllende, euphemistische Sprechen der Nationalsozialisten entlarvt, begibt sich Adler mitten in die Sprachwelten der in dem Text geschilderten Gruppen und Akteure hinein. Dabei trennt er ihr Sprechen nicht in zwei Lager auf, er sucht nicht die Polarisierung, die ja in Deutschland gerade – so der Literaturwissenschaftler Jeremy Adler – »in den Abgrund geführt hat«46, sondern H. G. Adler geht umgekehrt vor: er verwebt die unterschiedlichen Sprachwelten miteinander. Jeremy Adler hat den Effekt dieses Erzählens treffend charakterisiert: »Der polymorphe Bewußtseinsstrom führt uns unaufhörlich von einer Perspektive in die nächste, oft wissen wir nicht mehr, wer spricht, schon meldet sich die nächste Stimme.«47 Der Dichter, Übersetzer und Literaturwissenschaftler Peter Filkins spitzt diesen 43 Ebd., S. 660. 44 In einem Vortrag aus dem Jahre 1971 arbeitet Adler diese Position für den Standort des Schriftstellers aus, vgl. ders., »Der Autor zwischen Literatur und Politik«, in: ders., Orthodoxie des Herzens. Ausgewählte Essays zu Literatur, Judentum und Politik, hg. v. P. Filkins, Konstanz: Konstanz University Press 2014, S. 13–25. Vgl. dazu auch L. L. Wolff, »›Der Autor zwischen Literatur und Politik‹. H. G. Adler’s ›Engagement‹ and W. G. Sebald’s ›Restitution‹«, in: H. Finch, L. L. Wolff (Hg.), Witnessing, Memory, Poetics. H. G. Adler and W. G. Sebald, Rochester, NY: Camden House 2014, S. 137– 156. 45 Krämer hat eindrücklich auf die eine, allerdings entscheidende Ausnahme aufmerksam gemacht: Das Geburtsdatum der Figur Ida (1.6.1882) wird im Zusammenhang mit ihrem 60. Geburtstag erwähnt, so dass der Zeitpunkt der Handlung ins Jahr 1942 fällt (vgl. Th. Krämer, Die Poetik des Gedenkens (Fn. 36) S. 174). 46 J. Adler, »Nur wer die Reise wagt, findet nach Hause«, in: H. G. Adler: Eine Reise, Wien: Zsolnay 1999, S. 307–315, S. 314. 47 Ebd., S. 311.
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Gedanken weiter zu: »One never quite knows where one is or who is speaking in The Journey […]. Such disorientation is meant to convey a society that has fallen into complete dissolution, one where all borders between perpetrator and victim are fluid and unbound, the menace that consumes them a force in itself.«48 Dieser unsichere Standort, an dem der Leser absichtlich positioniert wird, kann beispielhaft an dem Motiv des Abfalls erläutert werden.49 Adler verwendet zunächst zwei lexikalische Hauptbedeutungen des Wortes: Erstens im Sinne von ›Müll‹ und ›Ausschuss‹, durchaus mit der Bedeutung von ›Unrat‹ oder ›Dreck‹, zweitens im Sinne des Abfalls von einer Idee oder einem Glauben. Besonders die erste Hauptbedeutung wird in vielen Passagen geradezu mikrologisch ausdifferenziert. Filkins spricht in diesem Zusammenhang treffend von der musikalischen Natur des Textes und fährt fort: »Like an orchestral suite or tone poem, each separate part is related to all other parts through structural linkages, repeated themes, or even stark contrasts that depend on comparative readings to render the difference that both divides and unites them within the textual score.«50 Das Motiv des Abfalls stellt eine dieser strukturellen Verbindungen dar, die in dem Roman unablässig moduliert werden. Einigen seiner Verzweigungen soll nun nachgegangen werden. In einer ersten Textstelle heißt es zunächst scheinbar ganz eindeutig: »den Abfall muß man fortschaffen […]. Der Schmutzeimer in der Wohnung ist zu klein; wie leicht könnte er überfüllt werden.«51 Im Alltag landet der häusliche Abfall der Familie Lustig, die hier porträtiert wird, ganz selbstverständlich in den Müllbehältern auf dem Hof, die Adler ebenfalls erwähnt. Die alltägliche Szene steht aber im Zusammenhang mit der Aufforderung, die Wohnung zu verlassen. Es heißt, man solle auf eine Reise gehen. Wie sich bald herausstellt, ist das die euphemistische Umschreibung für die Deportation, die allerdings nicht beim Namen genannt wird. Die benachrichtigten Menschen können die existenzielle Reichweite der erhaltenen Aufforderung noch nicht einordnen. Da bei Adler aber immer die Stimme eines Erzählers mit in die Schilderung der Situation hineinspricht, fließt die Ahnung von der drohenden Katastrophe schon mit in die Passage ein. Die eingefügte Reflexion auf die Sprache betrifft deshalb auch das Motiv des Abfalls: »die Sprache gehört uns 48 P. Filkins, »Introduction«, in: H. G. Adler, The Journey, New York: Random House 2008, S. IX–XXVI, S. XVII. 49 Ruth Vogel-Klein hat auf Adlers Arbeit an diesem Motiv bereits hingewiesen, vgl. dies., »›Keine Anklage?‹ Der Deportationsroman ›Eine Reise‹ (1951/1962) von H. G. Adler. Publikation und Rezeption«, in: dies. (Hg.), Die ersten Stimmen. Deutschsprachige Texte zur Shoah 1945–1963, Würzburg: Königshausen & Neumann 2010, S. 79–111, S. 84 f. 50 P. Filkins, »Introduction«, in: H. G. Adler, The Journey (Fn. 48), S. XIII. 51 Adler, Eine Reise, S. 11.
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nicht mehr; fremd entringt sie sich dem, der anhebt zu reden. Aber dann rinnen die Worte fort, sie scheinen noch vertraut. Liebe Worte, fortgeschwommene Worte, meine Worte, deine Worte, sie reißen Wände ein und richten sie auf«.52 ›Abfall‹ erhält nun sukzessive Bedeutungen, die die vertraute Sprache fremd erscheinen lassen.53 Bei der Deportation muss zum Beispiel ein Musikinstrument zurückgelassen werden, es heißt, »die Laute sei doch kein Abfall«, woraufhin die eingetretene Bedeutungsverschiebung ausdrücklich bestätigt wird: »Jetzt aber war sie es«54. In dem fiktiven Ort Ruhenthal, das Adler nach dem Lager Theresienstadt modelliert hat, bezieht er das Motiv des Abfalls dann auf Menschen. Zunächst wird geschildert, wie Häftlinge – »Abfallgreise«55 – die Abfallbeseitigung mit Hilfe von Leichenwagen bewerkstelligen. Die Häftlinge leben buchstäblich im Abfall. In einer weiteren Passage heißt es, dass sich außerhalb des Lagers eine Bevölkerungsgruppe während des Krieges der Wut der Zerstörung überlasse, und es fallen die drohenden Worte: »wehe dem Abfall! Und wehe dem, was noch nicht Abfall ist! Niedergetreten muß es werden«56. Schließlich treffen solche Zuschreibungen eindeutig die Deportierten: »Unnütz ist, was sich mit Abfall abgibt, elende Gesinnung, die nicht mehr die Kraft aufbringt, ein Werk zu vollbringen. Darum ist es gerechtfertigt, daß man euch mit Zwang verwaltet, solange euer verworfenes Dasein noch zugelassen wird. […] so hat man euch abgesondert […]. Abfall seid ihr«57. Die Konsequenz dieser Gedanken mündet in die Vernichtung: »Zuschütten sollte man euch […]. Es wäre […] Erbarmen«58. An anderer Stelle meint ein Anwohner, dem »luftige[n] Gesindel aus Ruhenthal« solle man »Schrot in den Unterleib pfeffern«, dann »würden die stummen Geister […] schnell verrecken […] man müßte die Überbleibsel […] anzünden, ein großes hygienisches Feuer. Dann bleibt nur Asche übrig, die kann man verschütten.«59 Wie man weiß, haben die Nationalsozialisten genau dies in den Todeslagern in die Tat umgesetzt. In der Nachkriegszeit, die Adler ebenfalls schildert, wird das Motiv weiter modifiziert. Erst ganz am Ende des Romans jedoch ruft er die entscheidende zweite Hauptbedeutung auf, indem der Abfall nun als ein 52 Ebd., S. 11. 53 Krämer schreibt deshalb, das Motiv könne als ein »›Superzeichen‹ des Mechanischen Materialismus gewertet werden« (Th. Krämer, Die Poetik des Gedenkens, S. 204). 54 Adler, ebd., S. 13. 55 Ebd., S. 85. 56 Ebd., S. 87. 57 Ebd., S. 91. 58 Ebd., S. 92. 59 Ebd., S. 100.
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Abweichen vom Grundbestand der eigenen Person gedeutet wird. In einem Dialog, den Paul, der Überlebende, mit einem Herrn Brantel führt, der nicht zu den Verfolgten gehört, aber mit Hitlers Politik nicht einverstanden war, entwickeln beide – symphilosophisch – die zentralen Gedankengänge gemeinsam. Das ist schon deshalb bemerkenswert, weil damit eine gemeinsame geistige Disposition zwischen einem Überlebenden und einem nicht verfolgten Mitglied der Tätergesellschaft inszeniert wird. Adler setzt damit emphatisch die universelle Zusammengehörigkeit der Menschen im Zeichen des Humanen tiefer an als die trennenden Folgen geschichtlicher Ereignisse – und sei es eines Genozids. Und in der Tat geht es seinen beiden Figuren um die anthropologische, religiös angereicherte Bestimmung des Menschen. Herr Brantel formuliert in diesem Sinne: »Man muß eine Mitte haben, einen unbewegten Ursprungsort der Ruhe, an dem man mutig festhält, auch wenn man auf die Reise zieht, die unvermeidliche Reise…, einen untrübbaren Sinn, von dem es keinen Abfall gibt, nicht links, nicht rechts, nur Mitte, ein Bestand, der nicht verwandelt wird«60. Und Paul unterstreicht: »Keinen Abfall. Ich stimme bei. Der Abfall ist Verzweiflung. […] Die Mitte […] kann man uns nicht nehmen. Sie reist mit uns und hebt uns aus dem Abfall auf.«61 Diese Überlegungen entwickeln die beiden noch weiter, indem sie auch den Schöpfungsgedanken und den der Gnade mit einbeziehen. Die Reise, die dem Buch den Namen gibt und die euphemistisch die Deportation bezeichnet, gewinnt nun eine weitere Bedeutung; sie wird zur Lebensreise.62 Auch in diesem Sinne sollte der letzte Satz des Romans gelesen werden. Nachdem Paul einen Zug bestiegen hat, sieht er die umstehenden Menschen winken: »Er glaubt, sie winken ihm zu einer guten Reise, weil der Abfall überwunden ist.«63 Das freundliche Winken und die Überwindung des Abfalls bedeutet einerseits, dass der soeben noch Verfolgte, zum Abzuschaffenden Erklärte, nun wieder als Mensch angesehen wird, es bedeutet im Lichte der vorherigen Konversation aber auch, dass er trotz allem, was ihm genommen wurde, seine Mitte gefunden habe und sie nicht mehr hergeben werde. 60 Ebd., S. 301. – Zum Bild der Reise und zu Adlers literarischem Verfahren in dem Roman vgl. auch T. Fischer: »›Keine Sommerfrische‹. Das Bild der ›Reise‹ in der europäischen Holocaust-Literatur«, in: O. Ruf (Hg.), Ästhetik der Ausschließung. Ausnahmezustände in Geschichte, Theorie, Medien und literarischer Fiktion, Würzburg: Königshausen & Neumann 2009, S. 241– 256. 61 Adler, Eine Reise, S. 301. 62 Vgl. Th. Krämer, Die Poetik des Gedenkens, S. 169. – Krämer bezieht die zitierten Überlegungen überzeugend auf Adlers Aufsatz Bestand und Verwandlung. Vgl. Th. Krämer, Die Poetik des Gedenkens, S. 168–171. 63 Adler, Eine Reise, S. 304.
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Die Bedeutungswandlung, die das Motiv des Abfalls im Laufe des Romans erfährt, reichert alle einzelnen Wortverwendungen mit den Konnotationen der Parallelstellen an. Anstatt also die Worte im Sinne einer Vereinheitlichung zu gebrauchen, wie in der Exilpublizistik, oder sie von einer ihnen äußerlichen Position aus zu kritisieren, wie in der Sprachkritik, vervielfältigt Adler ihren Gebrauch, so dass sie mehrere Bedeutungsschichten zugleich aufrufen. Die Literatur simuliert auf diese Weise die Verstrickung in die Sprache. Sprachreinigung hilft hier nicht weiter, denn mag – und muss – auch der Gedanke, dass Menschen zu Abfall erklärt werden, sehr zu Recht kritisiert werden, so sehr ist er doch wirkmächtig gewesen und somit im Gedächtnis der Sprache aufbewahrt. Noch an der sprachlich artikulierten Idee, nicht abzufallen von der eigenen Humanität, kleben somit die übrigen, inhumanen Verwendungsweisen des Wortes Abfall. Indem Adler alle Bedeutungen in seiner Motivarbeit ineinanderwebt, ruft er sie – in unterschiedlichen Graden und mit unterschiedlicher Akzentuierung – jeweils miteinander auf. Und erst in diesem komplexen Miteinander drängen sich dann die brisanten Fragen auf, die in den Lektüren einzelner Leser je unterschiedlich formuliert werden, zum Beispiel: Wie ist im Zeichen des Wortes ›Abfall‹ das AufeinanderVerwiesensein von genozidalen Dispositionen und der Bewahrung des Humanen zu denken? Wie kann in einer Diktatur, die schon sprachlich die Ausgrenzung einer Bevölkerungsgruppe praktiziert, dieser Praxis widerstanden werden? Kann Pauls Versuch, einen zentralen Terminus aus der Sprache der Verfolger mit einer Bedeutungsverschiebung zu konterkarieren, einen Vorbildcharakter für den Umgang mit der Sprache der Diktatur nach ihrem Ende haben? – Literatur provoziert solche Fragen, sie ist aber der falsche Ort, um sie zu lösen. Das bleibt den Lesern aufgegeben, die in ihren Lebenszusammenhängen praktische Entscheidungen treffen müssen. Adler arbeitet also im Material der entmenschlichten Sprache. Er nimmt die gebrauchte Sprache in den eigenen Sprachkörper hinein. Sie wird ihm zum Thema, aber vor allem geht sie vielen seiner Protagonisten in dem Sinne in Fleisch und Blut über, in dem Sprache, Denken und Habitus miteinander verbunden sind. Und obwohl bei Adler die gebrauchte Sprache nicht das letzte Wort behält, weil er sie mit gegenläufigen Verwendungsweisen konfrontiert, präsentiert er dennoch keine gereinigte Sprache. In diesem Zusammenhang kann nun der Bogen zurück geschlagen werden zu Frieds Gedicht, und zwar mit der Frage, was in Adlers Roman aus jener gegenläufigen Sprache wurde, auf die Fried in seinem Gedicht verweist? Aus jenen ersehnten, guten Worten, die er nur in Verneinungen aufruft? Während die genannten Beispiele aus der Exilpublizistik sich der Sprache bedienen, um einen politischen Inhalt zu kommunizieren, und während die Sprachkritik mit den Ideen der Entgiftung und der Sprachreinigung eine Stellung bezeichnet, von der aus sie 197
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die guten Worte zumindest anvisiert – wenn nicht der Sprachkritiker sie sogar für seinen eigenen Sprachgebrauch in Anspruch nimmt, wie etwa Karl Kraus –, so scheinen in Adlers Roman die guten Worte zu fehlen. Wie bei Fried kommt auch bei Adler dem Fehlen selbst Bedeutsamkeit zu, indem es auch bei ihm einen Mangel anzeigt: Die guten Worte werden vermisst, sie erscheinen nur negativ, als Idee. Da Sprache gesellschaftlich amalgamiert ist, kann sie die Spuren der Verhältnisse, die sie an sich trägt, nicht abstreifen. Noch in der Idylle, noch in der Sprache der Liebe und in anderen Sprachverwendungen, von denen oft angenommen wird, dass sie den guten Worten, der guten Sprache, nahekämen, wirken die Zwangsverhältnisse weiter. Kann eine Sprache, die über dieses Faktum hinwegsieht, überhaupt als gute Sprache gedacht werden? Schließt also die Sehnsucht nach den guten Worten in einem gewissen Grad auch die nach guten Verhältnissen ein? Gerade Diktatoren nutzen gerne idyllisierende Darstellungen der eigenen Gruppe als identifikationsstiftende Bilder, also als rhetorische Mittel, um Einverständnis oder Gefolgschaft herbeizuführen.64 Dem treten sowohl die politische als auch die Sprachkritik entgegen, die beide auf unterschiedliche Art zeigen, warum das als gut Präsentierte den Kriterien des Guten nicht standhält. Weil also keiner sprachlichen Äußerung, die sich unter den Bedingungen der Herrschaft als eine gute aufspielt, getraut werden kann, verweist die Literatur allenfalls auf die gute Sprache, ohne sie selbst auszubuchstabieren. Im Kontext der Diktatur und unter der besonderen Berücksichtigung des Themas der gebrauchten Sprache haben alle drei vorgestellten Verwendungsweisen ihre spezifische Berechtigung. Manchmal wird die Sprache gebraucht, um eindeutig Stellung zu beziehen. Manchmal wird die missbrauchte Sprache unzweideutig kritisiert. Und manchmal benötigen wir die komplexe, vieldeutige Form, um darauf aufmerksam zu werden, dass die gebrauchte Sprache zugleich kritisiert und in Anspruch genommen werden kann. Dass die Rede vom Abfall gerade wegen ihrer unbefragten Bedeutung im Alltag einen Evidenzbonus mitführt, der in einigen Wortverwendungen stillschweigend auf anderes übergeht. Dass schließlich und zuletzt also nicht wir die Sprache beherrschen, so sehr wir sie auch gebrauchen, sondern dass es genau umgekehrt ist. Und diese umgekehrte Optik, die unterstellt, dass die Sprache zuerst uns spricht, bevor wir sie sprechen, ist es, die geradewegs in die Literatur führt. Das gibt uns keine Waffe gegen die Diktatur in die Hand, aber es sensibilisiert vielleicht für die besonderen Funktionsweisen diktatorischer Herrschaft.
64 Vgl. dazu den Beitrag von Kristina Stock im ersten Teil.
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Die Zeitschrift Souffles (1966–1972) Die Schrift aus der Entfremdung befreien »Befreie den sprachlichen Ausdruck, gestalte das Wort«1, lautet das Plädoyer von Abdellatif Laâbi2 in der Zeitschrift Souffles. Diese 1966 in Rabat von jungen, vor allem frankophonen Dichtern gegründete Zeitschrift – sie waren von bildenden Künstlern, Filmschaffenden und Intellektuellen der Linken, ja der extremen Linken umgeben – war in den sieben Jahren ihrer Existenz ein zutiefst subversives Projekt. Sie wurde sogar in einer zweiten Phase ihrer Existenz bis zur Verhaftung ihrer Protagonisten im Jahre 1972 zur Tribüne der marokkanischen marxistisch-leninistischen Bewegung. Souffles, die den arabischen Titel Anfās trägt, stand im Zentrum einer bedeutenden künstlerischen und intellektuellen Bewegung, die über die marokkanischen Grenzen hinaus ausgestrahlt, algerische und tunesische Schriftsteller, aber auch Autoren aus dem subsaharischen Afrika, Lateinamerika und Europa begrüßt hat. Den Kern des Projekts bildete der Wille, die Kultur zu dekolonisieren, um die Unabhängigkeit Marokkos zu vollenden. Doch über diese mit der neueren Geschichte des Landes verbundene Herausforderung hinaus ging es darum, gegen die von der Herrschaft gewollten autoritären und reaktionären politischen Orientierungen, Widerstand zu leisten. Die Originalität von Souffles bestand darin, dass dieses äußerst politische Projekt von einer künstlerischen und intellektuellen Vorgehensweise getragen war. Für die Herausgebergruppe bedeutete Kultur in der Tat Politik, das Fundament, ohne das ein politisches Projekt nicht solide verankert sein konnte. Die subversive Dimension des Unternehmens Souffles blieb der Macht nicht verborgen und löste eine gewaltsame Unterdrückung gegen es aus. Über die Inhaftierung einiger seiner Autoren und von Aktivisten hinaus, die wegen ›Verletzung der Staatssicherheit‹ zu schweren Gefängnisstrafen 1 2
A. Laâbi, »Marasmes«, in: Souffles. Revue culturelle arabe du Maghreb, 1 (1966), S. 25. Abdellatif Laâbi, 1942 in Fès geboren, war der Chefredakteur von Souffles. Er nahm aktiv an der politischen Wende der Zeitschrift teil und wurde 1972 verhaftet, gefoltert und bis 1980 inhaftiert. Er lebt heute in Frankreich und Marokko, ist weiterhin schriftstellerisch tätig und nimmt an der öffentlichen Debatte teil.
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verurteilt oder ins Exil gezwungen wurden, wurden so die Produktionsstätten kritischen Geistes geschlossen oder umfunktioniert, um sie ihres Sinns zu entleeren. Mehrere Jahrzehnte lang lag ein Mantel des Schweigens über der Geschichte dieser Zeitschrift. Doch trotz der Repression konnte die Botschaft von Souffles nicht verheimlicht werden. Souffles stellt ein wichtiges Datum in der Literaturgeschichte des Maghreb dar – die wichtigste Talentschule für Autoren dieser Generation, die dann zu den großen Namen der literarischen und intellektuellen Welt wurden und es noch immer sind. Die Zeitschrift bleibt eine unübertroffene Pionierleistung, und zwar in Gestalt des Dialogs, den sie zwischen Schriftstellern, Malern, Filmschaffenden und Theaterleuten etc. zu führen erlaubte, und zwar für dieses transdisziplinäre und zugleich zweisprachige Konzept, mit dem sie offen war für französisch- und arabischsprachige Autoren. Sie war eine der ersten, die die Herausforderungen der Kulturpolitik reflektierte und eine später in der Zivilgesellschaft weiterentwickelte Reflexion über den Platz der Sprache der Amazigh (Berber) und des jüdischen Kulturerbes initiierte – zu dieser Zeit tabuisierte Themen. Sie spielte auch eine publizistische Vorreiterrolle in der nicht parteigebundenen Presse und inspirierte so zahlreiche Magazine zur Zeit der Jahrtausendwende, darunter Le Journal hebdomadaire, Al-Sahifa, Al-Ayyâm, oder auch TelQuel.3 Letztlich werden ihre Werte weiterhin von der Mehrzahl der marxistisch-leninistischen Aktivisten verteidigt, die zu Kadern der sehr dynamischen Zivilgesellschaft geworden sind. In vielen Hinsichten bleibt das Reflexionspotenzial von Souffles aktuell. Es wurde sogar bei einer relativen und flüchtigen Lockerung der Pressefreiheit gegen Ende der 1990er Jahre und zu Beginn der 2000er Jahre wiederentdeckt. Die Herausforderungen an die Erinnerung, die zu dieser Zeit auch eine wichtige Debatte ausgelöst haben, haben die Autoren und Werte der Zeitschrift wieder in den Vordergrund gerückt. Und natürlich fährt die im Kulturbereich aktive Zivilgesellschaft fort, sich hiervon inspirieren zu lassen. Das ästhetische Projekt von Souffles entspricht der revolutionären Vision – es ist zutiefst subversiv. Die Zeitschrift fordert eine Kultur ein, die eine echte Befreiung der Köpfe erlaubt, ja sogar eine Transformation der Gesellschaft. Und dies geschieht mittels einer Reflexion über die Schrift und das Schreiben, deren Entwicklung drei Etappen hat: Am Anfang steht der Wille zu einem Bruch mit jeglicher Form von Akademismus, um eine neue, radikal experimentelle Art des Schreibens vorzuschlagen. Diese neuen Formen stützen sich im Übrigen auf eine radikale, in der Volkskultur verankerte Ästhetik. In dem Maße, wie die politischen Forderungen in der Zeitschrift nach und nach explizit geworden sind, verbreitet 3
Zur Rolle einiger marokkanischer Zeitschriften und deren Kritik des Autoritarismus vgl. den Beitrag von A. Lahkim Bennani in diesem Band.
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sich eine Ethik des Engagements, die literarisches Schaffen und Revolte miteinander verbindet. Das Bild, das sich aufdrängt, ist das der Revolution, der Kern der Artikulation zwischen dem politischen und dem ästhetischen Projekt, in Analogie zu einem alles erfassenden Kampf als Träger von Utopie und Hoffnung.4
Schriftsteller und der Bruch mit dem Bestehenden Wenn Souffles von der Kritik als »Dynamit«5 begrüßt worden ist, dann deshalb, weil sich die Zeitschrift dem Bruch mit den in dieser Epoche gängigen Schreib- und Lesegewohnheiten verschrieben hat. Vor allem beeindruckt die kategorische Verweigerung jeglicher Form von Akademismus. Die Dichter und Schriftsteller, die in der Zeitschrift mit ihrem Namen zeichnen, teilen ihre Suche nach Destruktion, das heißt nach dem Umsturz der etablierten ästhetischen Codes. Der Soziologe Abdelkébir Khatibi6 spendet Abdellatif Laâbi und Mostafa Nissaboury7 Beifall, weil sie »nach neuen Wegen und nach einer vom Akademismus befreiten Ausdrucksweise suchen« und »einen Bruch mit der klassischen Architektur der Poesie«8 anzeigen. Die Zeitschrift prangert das Ersticken der »frischen Energien und neuen Wege bei uns an, die nach wie vor den Druck und die Einschüchterungen der offiziellen bzw. quasi-offiziellen Literaturinstitutionen aushalten müssen.«9 Sie nimmt sich der 4
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Zur subversiven Rolle der Schrift bzw. des Schreiben in der DDR vgl. den Beitrag von U. Fix in diesem Band. Eine Reflexion über das Schreiben über Folter- und Gefängniserfahrung bieten einige Aufsätze im Band Erinnerung an Unrecht, hg. von S. Dhouib 2018. Notre Librairie, 83 (April–Juni 1986), zitiert in: URL: http://laabi.net, zuletzt aufgerufen November 2017. Abdelkébir Khatibi (1938–2009) hat bis zu dessen Schließung 1970 mit Paul Pascon das Institut für Soziologie in Rabat geleitet. Ihm sind Reflexionen über das Zeichen im Spannungsfeld von Semiotik, Anthropologie und Linguistik zu verdanken. 1943 in Casablanca geboren, ist Mostafa Nissaboury ein zwar wenig wortreicher Dichter, aber eine der großen Gestalten der zeitgenössischen marokkanischen Poesie. Er hatte 1964 mit Mohammed Khaïr-Eddine das Manifest Poésie toute und die Zeitschrift Eaux vives herausgegeben, einen Vorgänger des Experiments Souffles. Weil er die politische Wende von Souffles nicht guthieß, ging er auf Distanz und beteiligte sich mit dem Maler Mohammed Melehi und den Schriftstellern Tahar Ben Jelloun und Abdelaziz Mansouri am Start der Zeitschrift Intégral. A. Khatibi, »Bibliographie critique maghrébine«, in: Souffles, 13–14 (1969), S. 35. »Taqdīm«, in: Souffles, 13–14 (1969), S. 2 (auf Arabisch im Original).
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»Unterentwicklung der Schreibtechniken an, die bei uns im Namen der Moderne den westlichen Formen verhaftet bleiben, die imitiert werden und an die zur Sicherheit appelliert wird, oder aber die im Namen der Authentizität den alten arabischen Formen und dem, was daraus folgt, entnommen bleiben.«10 Ihr Ziel ist – wie im »Appell zur Schaffung einer Avantgarde-Literatur« bekräftigt wird – ein Beitrag »zur Destruktion des Pseudo-Bildes der Literatur und des Schriftstellers, das die Literaten bei uns befördern.«11 Die jungen Autoren wenden sich also gegen das, was als Sklerose wahrgenommen wird. Sie widersetzen sich insbesondere den klassischen poetischen Strukturen, wie sie dem Geschmack einer konservativen Gesellschaft entsprechen. Es ist nicht so, dass sie die Werke der klassischen Dichtung (šiʿr ʿamūdī) und die auf das regelmäßige Versmaß und den Reim gegründete Poesie nicht wertschätzen, aber sie verwahren sich dagegen, dass von ihnen verlangt wird, sie zu verewigen. »Alle diese Formen entheben uns der zeitlichen, zivilisatorischen und charakterlichen Distanzen.«12 Obwohl Souffles sich in die Kontinuität einer Bewegung formaler Erneuerung einreiht, die seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges in der arabischen Dichtung begonnen hatte, insbesondere in Ägypten und im Mašriq [d. h. östlich der arabischen Welt], übernimmt die Zeitschrift in Bezug auf Marokko eine Pionierrolle. Wie die arabischen und europäischen Avantgarden halten ihre Autoren daran fest, dass die Suche nach Formen mit dem Sinn verbunden bleibt: »Unsere Zeitschrift […] geht davon aus, dass die dichterische Schöpfung wesentlich ein Abenteuer des Schreibens ist (Gedanke + Form).«13 Das metrische Weiß, die zusammenstoßenden und ungewohnten Rhythmen mehren sich also auf den Seiten von Souffles wie die Vers- bzw. Zeilensprünge, die jede Koinzidenz zwischen Vers und Syntax vergessen machen. Das Wort wird zur Grundlage des Gedichts, das aus dem Zusammenprall mit den anderen Wörtern entsteht, um den Sinn hervorsprudeln zu lassen. Die Interpunktion tendiert zum Verschwinden. Grenzen zwischen den literarischen Gattungen existieren nicht mehr. Nissaboury ist der Autor eines Gedichtes ohne Titel, das wie ein ›Text‹ mit einem Inhaltsverzeichnis präsentiert wird.14 Gedichte und Berichte verschmelzen, ohne dass man entscheiden könnte, ob es sich eher um Dichtung in Prosa oder um poetische, zur Novelle tendierende Prosa handelt. Die Texte erinnern an die Mittel der Fabel, des Romans, des 10 11 12 13 14
Ebd. Ebd., S. 3. Ebd. Ebd., S. 2. Vgl. M. Nissaboury, »Sommaire«, in: Souffles, 10–11 (1966), sowie ebd., S. 44–47.
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Theaters etc. Diese Arbeit zu den literarischen Gattungen wohnt der Reflexion inne, die die Zeitschrift über die ästhetischen Codes anstellt, die das Verstehen und die Beurteilung der Werke bestimmen. Sie hinterfragen vornehmlich die Gattung des Romans, die europäische Gattung, die von den Autoren des Maghreb in jüngster Zeit übernommen wurde. Die Hauptfrage, die sich stellt, ist die nach der Verbindung mit den nationalen Kulturen des Maghreb. Khatibi erinnert daran, dass der »im Rahmen einer feudalen Gesellschaft und der aristokratischen Kultur«15 entstandene Roman mit dem Aufstieg der Bourgeoisie eine solche Popularität erlangte, dass er zum »täglichen Brot«16 in den Konsum-Gesellschaften wurde. Im Gegensatz hierzu hat sich diese Gattung im Maghreb im Moment der antikolonialen Kämpfe »in einem Kontext der Politisierung der Literatur«17 entwickelt, und dies belastet die ästhetischen Fragen. Doch der Roman gehört – so Khatibis Einschätzung – von nun an zu den Ressourcen der Konstruktion einer im Verhältnis zur Kultur der alten Kolonialmacht befreiten Kultur, und dies ist das zentrale Projekt von Souffles. Für den algerischen Intellektuellen Mostefa Lacheraf18 wird der Roman in der Tat die Situation der Länder des postkolonialen Maghreb spiegeln müssen, wenn er »nicht Gefahr laufen soll, früher oder später – je nach der einen oder der anderen Sprache, in der er sich ausdrücken wird – ein neo-französischer bzw. neo-orientalischer Roman zu werden.«19 Laâbi sieht die literarischen Gattungen und Klassifizierungen als archaisch an und interessiert sich nur für die Plastizität der Gattung. »Der moderne Roman ist so weit, zahlreiche Verwerfungen zuzulassen, zu befördern und verschiedene Formen des Schreibens nebeneinander existieren zu lassen: dramatische Elemente, poetischen Ausdruck, eine dem Kino, der journalistischen Reportage, dem philosophischen, politischen oder kulturellen Essay, der historischen Chronik etc. entsprechende Ausdrucksweise. Alle diese neuen Ausbrüche haben auf ihrem Weg mit mehr oder weniger Radikalität die humanen, chronologischen und topografischen Konstanten der ›romanhaft‹ genannten Gattung hinweggefegt.«20 Texte wie Le Polygone étoilé von Kateb Yacine oder Agadir und Corps négatif von 15 A. Khatibi, »Roman maghrébin et culture nationale«, in: Souffles, 3 (1966), S. 10. 16 Ebd. 17 Ebd. 18 Mostefa Lacheraf (1917–2007) war Mitglied des Conseil national de la révolution algérienne und Minister für nationale Erziehung in der Regierung Boumediene. 19 M. Lacheraf, »Le Roman maghrébin: brève contribution à un débat«, in: Souffles, 13–14 (1969), S. 6. 20 A. Laâbi, »Bibliographie critique maghrébine«, in: Souffles (Fn. 8), S. 36.
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Mohammed Khaïr-Eddine,21 denen er Beifall zollt, sind Aufschreie, die die Lesegewohnheiten ins Wanken bringen. Souffles bedeutet im Übrigen einen Bruch auch mit ›ausländischen‹ Mustern. Sein Projekt der Befreiung aus den Codes der Entfremdung ist umfassend, und es geht nicht darum, zu bisher sakrosankten Formen auf Distanz zu gehen, um Anleihen bei anderen zu machen, denn dies käme für die Autoren von Souffles einem Plagiat gleich. Beim Weltfestival für Schwarze Kunst spottet der Journalist Abdallah Stouky22 über die Mittelmäßigkeit der präsentierten Stücke: »ein schlechtes Plagiat des westlichen Theaters ohne jegliches Bemühen um eine originäre Recherche.«23 Für den Literaturkritiker und Romanautor Mohammed Berrada24 erlaubt es die Literatur gewiss, die Gesellschaft, von der man träumt, zu skizzieren, aber man muss weder »die Erneuerung um ihrer selbst willen anstreben noch ›Avantgarde‹ auf dem kürzesten Weg sein wollen (Anleihe der ausländischen künstlerischen Formen und deren Marokkanisierung) …«.25 Khaïr-Eddine entmystifiziert, was er in Frankreich sieht: »Alle hier, die beanspruchen, Avantgarde zu sein, täuschen sich. Avantgarde ist alles das, was in Afrika geschieht. Man tut hier nichts anderes als eine bestimmte Art des Schreibens fortzusetzen, das man schlecht und recht arrangiert, und eine sterile Philosophie, die vom Menschen nur etwas aufgrund des Vertrauens hält, das er in sie setzt.«26 Sein Brief ermutigt Souffles, sich dadurch zu bewähren, dass man aufhört, auf die ausländischen literarischen Strömungen zu schielen – nur zu gut bekannten Modellen –, und auf Distanz geht zu Autoren, deren Konservatismus er ebenso betont wie das Fehlen ihrer tatsächlichen Leistung. Auch Laâbi distanziert sich von der »offiziellen Denkweise, die seit Jahrhunderten in Europa vorherrscht und die authentischen Wege versperrt, bzw. von der Härte, mit der man sich Wege zu eigen machte, die diese Denkweise 21 Mohammed Khaïr-Eddine (1941–1995), gehörte zur Gruppe der Gründer von Souffles, bevor er nach Frankreich ging, wo er als Arbeiter die literarischen Milieus aufsuchte. Sein gewichtiges Werk war lange Zeit in Marokko verboten und wurde erst ab 2002 veröffentlicht. 22 1946 in Marrakesch geboren, war Abdallah Stouky an der Schule der kommunistischen Partei in Moskau. Später hat er bei der MAP, der offiziellen Presseagentur, und dann im Informationsministerium gearbeitet. 23 A. Stouky, »Le Festival mondial des arts nègres ou les nostalgiques de la négritude«, in: Souffles, 2 (1966), S. 43. 24 1938 in Rabat geboren, hat Mohammed Berrada lange Zeit an der Faculté des Lettres in Rabat gelehrt und zahlreiche Werke übersetzt; er wird als Wortführer des modernen marokkanischen Romans in arabischer Sprache angesehen. 25 M. Berrada, »al-Ğīl al-mawtūr«, in: Souffles, 10–11 (1968), S. 4 (auf Arabisch im Original). 26 M. Khaïr-Eddine, »Extraits de correspondance«, in: Souffles, 1 (1966), S. 7.
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anprangerten, um sie in seinen Humanismus-Klassizismus zu integrieren«.27 Dieser »Humanismus-Klassizismus«28 führt ihm zufolge nur »zu dem düsteren Singsang, zu diesen schalen Genüssen, zu denen seit einer Generation die französische Poesie geworden ist«,29 in der »sich die Wörter zu trägen Abstraktionen neutralisieren«.30 Neben diesen Prinzipien-Erklärungen bezieht Souffles Position gegen bestimmte literarische und künstlerische Bewegungen, um im Gegensatz zu ihnen eine eigene Ethik und Ästhetik zu bekräftigen, so in der einen nicht zu vernachlässigenden Raum in der Zeitschrift einnehmenden Kritik an der Bewegung der ›Négritude‹. Die Souffles-Autoren interessieren sich für die von dieser Bewegung repräsentierte Dimension des Widerstands gegen Unterdrückung; Stouky erklärt: »Die ›Négritude‹ war nichts anderes als eine gewaltsame rassische Reaktion der schwarz-afrikanischen Welt und der schwarzen Diaspora angesichts der monströsen, von den weißen ausbeuterischen Metropolen betriebenen Dekulturation und Assimilation. Vollständig die Rolle der schmutzigen Neger oder Nigger zu übernehmen, war für die Afrikaner und ihre in den erbärmlichen Laderäumen der Sklavenschiffe aus Afrika deportierten Sklaven-Großväter geltend zu machen, war für die Amerikaner und die Bewohner der Antillen die Form des Kampfes, den die Schwarzen der Welt gegen die Entpersönlichung führten.«31 Doch diese Bewegung passt nicht mehr in die Zeit. Souffles stellt sich gegen diese Rassen-Identifizierung des Denkens und die Mythisierung einer Identität. Zu unterstellen, »es gebe eine schwarze Zivilisation und von allen Schwarzen anerkannte, für alle akzeptable und unveränderliche Werte«,32 ist für den französischen Dichter André Laude33 ein vom realen Kontext entkoppelter und für eine Akkulturation symptomatischer Mythos. Laude sieht in der Dichtung Léopold Sédar Senghors eine oberflächliche »Rückgewinnung«34 von Elementen, nicht aber ein Wieder-in-die-eigenen-Hände-Nehmen der Kultur in ihrer Gesamtheit: »Nimmt man aus den Gedichten Senghors typische afrikanische Wörter wie kora und balafon, dann bleibt nur eine Poesie, 27 A. Laâbi, »Chroniques: Je 1 de Bernard Jakobiak«, in: Souffles, 6 (1967), S. 47. 28 Ebd. 29 Ebd. 30 Ebd., S. 48. 31 A. Stouky, »Le Festival mondial des arts nègres ou les nostalgiques de la négritude«, in: Souffles (Fn. 23), S. 45. 32 André Laude (1936–1995), ein den Surrealisten naher Dichter, war Journalist in Algerien und hat für die algerische Revolution, den Sozialismus und die Dritte-Welt-Bewegung gekämpft. 33 A. Laude, »Préface à un procès de la négritude«, in: Souffles, 3 (1966), S. 35. 34 Ebd.
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deren Struktur sich gar nicht von den westlichen Dichtern unterscheidet.«35 Und um mit bissiger Ironie zu schließen: »In diesem Sinne hat Senghor Grund, stolz zu sein: er hat sich zum Niveau eines Claudel, eines St.-John Perse erhoben. Seine schwarze Haut braucht nicht mehr zu erröten.«36 Diese Kritik wiegt für ein Projekt wie das von Souffles am schwersten, das auf die Entkolonialisierung der Kultur abzielt, auf die Wiedergewinnung der Definitionshoheit über die Persönlichkeit und über die nationale Kultur wie auch auf den Kampf gegen jede Form der Folklorisierung und Exotisierung dieser Kultur, die nur Vorurteile reproduziert. Vor allem unterstreicht Souffles die Gefahren einer politischen Verwendung dieses Mythos: Das 1966 in Dakar organisierte Weltfestival für Schwarze Kunst ist eine politische, »mit allen modernen Mitteln der Propaganda«37 ins Werk gesetzte Manifestation, die fortschrittliche Persönlichkeiten wie Paul Robeson oder Myriam Makeba ausschließt: Die ›Négritude‹ ist nun die offizielle Ideologie eines »Afrika, das unter der Führung der ›nationalen Bürokratien‹ ›unabhängig‹ geworden ist – das idyllische Bild einer Zukunft, die ungewiss ist.«38 Souffles räumt den nationalen Kulturen und ökonomischen und sozialen Realitäten viel mehr an Bedeutung ein als diesem überholten, vergangenen und gefährlichen Mythos. Doch wenn die Zeitschrift so viel Augenmerk auf die ›Négritude‹ richtet – während sie sich für die afrikanische Quelle der marokkanischen Kultur überhaupt nicht interessiert hat –, dann deshalb, weil sie grundsätzlich von dieser Bewegung das Konzentrat dessen behalten hat, wogegen sie Stellung bezogen hat: gegen die Mythisierung der Identität im Gegensatz zur Suche nach Authentizität, gegen oberflächliche Verankerungen als Symptome tiefer Akkulturation, gegen eine Vergangenheitsverklärung, die die Kultur erstarren lässt und sie auf eine exotische Folklore reduziert, die von reaktionären Kräften leicht missbraucht werden kann, und schließlich gegen das Fehlen echter ästhetischer Neuerung, die geeignet wäre, die Wahrnehmung der Dinge zu verändern. Souffles hat sich ferner nachdrücklich der ›naiv‹ genannten Kunstströmung widersetzt, und zwar durch die Stimmen der Künstler, die an der École des Beaux Arts in Casablanca lehrten und eine reflektiertere und theoretischere Sicht der Kunst verteidigten. Für Mohammed Chabâa39 ist 35 Ebd. 36 Ebd. 37 A. Stouky, »Le Festival mondial des arts nègres ou les nostalgiques de la négritude«, in: Souffles (Fn. 23), S. 41. 38 A. Laude, »Préface à un procès de la négritude«, in: Souffles (Fn. 33), S. 35. 39 Mohammed Chabâa (1935–2013) hat die theoretischen Aspekte seiner Arbeit in Schriften vorgestellt, die in der Presse veröffentlicht wurden. 1972 wurde er wegen seines marxistisch-leninistischen Engagements bei Souffles verhaftet; er war für die zweite Konzeption nach der politischen Wende von
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die naive Malerei tatsächlich »eine naturalistische Malerei, die von naiven, mehrheitlich aus nicht-intellektuellen Milieus stammenden Malern ausgeübt wird«,40 nicht aber der Ausweg aus einer »intellektualisierten Problemlage, die mit dem Anliegen der modernen bildenden Künste zusammenstimmt.«41 Mohammed Melehi42 stellt auf der Ebene »des sozialen Konsumtionsprozesses, nicht der Ästhetik«43 die naive Kunst der primitiven und populären Kunst entgegen: »Die primitive Kunst und die Volkskunst sind (hinsichtlich ihres Konsums) authentische Künste. Sie handeln von einer Kollektivität und wenden sich an eine Gesellschaft, die sie sofort konsumiert. […] Im Gegensatz zu ihnen ist die naive Kunst pseudo-primitiv und pseudo-populär. Sie gibt vor, kollektive traditionelle Anliegen zum Ausdruck zu bringen, während sie sich an eine privilegierte Klasse wendet, die sie durch Konformismus ermutigt (dies ist zumindest in Marokko der Fall).«44 Zu dieser Zeit waren in der Tat die wenigen Kunstgalerien in der Hand von Franzosen, die – geleitet von ihren kolonialen Vorurteilen – diese als ein Geschenk betrachtete Kunstform in den Vordergrund stellten. Farid Belkahia45 ist der Auffassung, dass die naive Kunst »unfähig ist zur Entwicklung in ästhetischer und spiritueller Hinsicht, d. h. dass ihre Thematik wie auch ihre formalen Aspekte vom Maler nur selten in Frage gestellt oder überschritten werden«:46 So »muss man ihr auch nicht mehr Bedeutung zuschreiben als sie verdient.«47 Diese Entgegensetzung zur primitiven Kunst ist die logische Konsequenz eines Projekts, das den
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1969 verantwortlich; im Prozess wurde er 1973 freigesprochen. Er leitete dann das Institut des Beaux-Arts in Tétouan. Autorenkollektiv, »Position 1: Situation de la peinture naïve au Maroc«, in: Souffles, 7–8 (1967), S. 74. Ebd. 1936 in Asilah geboren, war Mohammed Melehi für die erste Konzeption von Souffles verantwortlich. Weil er mit der politischen Orientierung der Zeitschrift nicht übereinstimmte, gründete er 1972 die Zeitschrift Intégral. Später war er Kultusminister und einer der Gründer des Moussem culturel (Kulturfestivals) in Asilah. Autorenkollektiv, »Position 1: Situation de la peinture naïve au Maroc«, in: Souffles (Fn. 40), S. 74–75. Ebd., S. 75. Farid Belkahia (1934–2014) war in der Epoche von Souffles Direktor der École des Beaux-Arts in Casablanca. Er war 1969 einer der Initiatoren des Ausstellungskonzepts auf dem Platz Ğāmiʿ el-Fna in Marrakesch. An der politischen Entwicklung von Souffles hat er sich nicht beteiligt. Autorenkollektiv, »Position 1: Situation de la peinture naïve au Maroc«, in: Souffles (Fn. 40), S. 74. Ebd.
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Willen artikuliert, eine bewusste und von folkloristischen Vorurteilen freie nationale Kultur zu schaffen. Schließlich geht Souffles auf Distanz zu den Älteren, ohne sie freilich gänzlich abzulehnen, zu den Pionieren der französischsprachigen Literatur im Maghreb. Die Zeitschrift beurteilt diese Literatur als zu deskriptiv und wirft ihr vor, eine im Wesentlichen ethnografische Ausrichtung zu haben. »Nach dem Zweiten Weltkrieg« – erläutert Khatibi – »hat sich die erste Schriftstellergeneration (Feraoun, Dib, Mammeri, Sefrioui…) der Beschreibung der lokalen Gesellschaft und einem hinreichend genauen Portrait der verschiedenen sozialen Schichten gewidmet – kurz: ›dies sind wir, so leben wir‹ –, und so hat man gesagt, diese Literatur sei zunächst einmal ein Zeugnis einer Epoche und einer gegebenen Situation.«48 Laâbi zögert nicht, die Werke des marokkanischen Romanautors Ahmed Sefrioui als »folkloristische Literatur« zu qualifizieren:49 »Diese Werke beunruhigten niemanden. Sie beschrieben ein Alltagsleben im Winterschlaf, verbreiteten sich über den ›Zustand der Seelen‹, was die nach einem heiteren Exotismus und nach Orientalismen hungernde Öffentlichkeit im Ausland sehr schätzte. Diese erstarrte Welt, in der das Anekdotische, die ›bunte Beschreibung‹ triumphierte, war von verschiedenen Komplexen und vor allem vom Bedürfnis nach Stilübung getrieben: ›ein Magier der französischen Sprache‹ sollte diesbezüglich ein Kritiker sagen, der ihn beschützen wollte. Sefrioui wünschte nicht mehr als diese Weihe durch ein Ehren- und Verdienst-Diplom.«50 Für Souffles sind diese Werke Symptome eines Verlustes des Selbst, und sie lesen sich wie eine Art Rechtfertigung vor dem Anderen, dem Kolonisten. Laâbi hebt die »verrückte Ortsnamenforschung«51 der militanten algerischen Poesie hervor, eine »Reaktion gegen einen schmerzlichen Verlust«,52 die trotz ihres revolutionären Charakters aus ihr eine zutiefst restaurative »Literatur der Kolonisierten«53 macht: »In gewisser Weise war diese Beschreibung in dem Sinne heilsam, dass sie bereits eine Art deskriptive Bilanz der kolonialen Lage war. Doch selbst auf dieser Ebene wurde sie von den Ereignissen überholt, die sich in Nordafrika abspielten. So widmeten sich die Romanciers z. B. in dem Moment, in dem die Algerier zu den Waffen griffen, um sich mit Gewalt zu befreien, der 48 A. Khatibi, »Roman maghrébin et culture nationale«, in: Souffles (Fn. 15), S. 11. 49 A. Laâbi, »Au sujet d’un certain procès de la littérature maghrébine écrite en français«, in: Souffles, 18 (1970), S. 65. 50 A. Laâbi, »Défense du Passé simple«, in: Souffles, 5 (1967), S. 19. 51 A. Laâbi, »Réalités et dilemmes de la culture nationale« (I), in: Souffles, 4 (1966), S. 11. 52 Ebd. 53 Ebd.
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minutiösen Beschreibung des Alltagslebens in einigen kabylischen Dörfern und die Dichter besangen die Ängste ihrer zerrissenen Persönlichkeit.«54 Aus diesem Grund ist diese Poesie veraltet.
Eine radikale, in der Volkskultur verankerte Ästhetik Im Gegensatz hierzu besteht das Projekt von Souffles darin, eine neue Ausdrucksweise zu erfinden – eine, die vom Verlangen nach Befreiung und Authentizität bei diesen jungen Schriftstellern spricht, die von Dekolonisierung und Emanzipation träumen. André Laude erinnert daran: »Jedes Streben nach authentischer Schöpfung ist ein Streben nach Emanzipation, nach Entstehung des Neuen, also nach Rodung des Alten.«55 Malek Alloula applaudiert gerade den in den ersten Nummern der Zeitschrift veröffentlichten Texten wegen ihrer Originalität: »Einerseits illustrieren sie und bringen jeder auf seine Weise das vitale Bedürfnis zum Ausdruck, die extrem festgetretenen Wege einer Poesie zu verlassen, die ihre Zeit gehabt hat. Andererseits macht mich der Ton dieser Gedichte sicher, dass die ›Ablösung des Alten‹ keine bloße Worthülse ist und mehr gegen eine verstaubte Kultur machen wird, die unbekümmert ins Exil gegangen ist (›die afrikanische Sonne‹ trägt gewiss dazu bei), in Richtung einer zerschlissenen Sedimentierung.«56 Die Neuartigkeit der Ausdrucksweise und der Ästhetik der Texte ist in der Tat für die Autoren von Souffles das erste Kriterium der Wertschätzung. Bezüglich Agadir und Corps négatif von Khaïr-Eddine begrüßt Laâbi »die seismische Gewalt dieses Aufschreis«57 und die »Entscheidung zur Überwindung einer Logiker-Ästhetik«,58 die zu »einer neuen Logik der Herangehensweise und der Wahrnehmung, der Konsumtion und der Wiederherstellung des Wirklichen«59 zwingt und »ein System des Schreibens konstituiert, außerhalb dessen nichts mehr zählt.«60 Dieses Kriterium gilt für alle Kunstformen. Beim Festival mondial des arts nègres spendet Stouky der Tragédie du Roi Christophe von Aimé Césaire und ihrer unerwarteten Ausdrucksweise Beifall – der Ausdrucksweise »der Rohheit, des Realismus und der Entmystifizierung.«61 Am algerischen Maler 54 A. Khatibi, »Roman maghrébin et culture nationale«, in: Souffles (Fn. 15), S.11. 55 A. Laude, »Préface à un procès de la négritude«, in: Souffles, 3 (1966), S. 34. 56 M. Alloula, »Extraits de correspondance«, in: Souffles, 2 (1966), S. 3. 57 A. Laâbi, »Bibliographie critique maghrébine«, in: Souffles (Fn. 8), S. 37. 58 Ebd., S. 36. 59 Ebd. 60 Ebd., S. 37. 61 A. Stouky, »Le Festival mondial des arts nègres ou les nostalgiques de la négritude«, in: Souffles, 2 (1966), S. 43.
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Mohammed Khadda schätzt der Dichter Alloula62 die Art und Weise, »eine neue und doch altüberlieferte Ausdrucksweise zu entwickeln«,63 die »ein abruptes Losreißen provoziert, das alle erworbenen bzw. ererbten Werte verwandelt und ständig zu einer Neujustierung der Wahrnehmung einlädt.«64 Laâbi lobt Six et douze von Majid Rechiche65 als »einen der seltenen Filme, in denen eine Gruppe junger marokkanischer Filmemacher (das Drehbuch und die Regie sind von Rechiche) versucht hat, die ausgetretenen Wege des propagandistischen bzw. touristischen Films zu verlassen und ein echtes schöpferisches Werk zu verwirklichen, in dem die Suche nach einer kinematografischen Ausdrucksweise eines der wesentlichen Anliegen ist.«66 Und er bedauert, dass sein Autor im Gefolge dieser als störend bewerteten avantgardistischen Kreation aus dem Centre cinématographique marocain ausgeschlossen wurde. Eine neue Ästhetik zu entwickeln bedeutet für die Autoren von Souffles, die Kunst als organische und ganzheitliche Erfahrung zu konzipieren, die darauf abzielt, den Worten von Rimbaud und Marx entsprechend durch Transformation der Wahrnehmung »das Leben zu verändern«, »die Welt zu verändern«.67 Zu den wichtigsten Bezugspersonen der Zeitschrift gehörte Aimé Césaire, der »mit dem Surrealismus die ›Wunderwaffe‹ gefunden hat, die fähig war, den angenagelten weißen Leichnam zu töten. […] Césaire hat die für den schwarzen Intellektuellen bestehende Notwendigkeit begriffen, seine Entfremdung zu überwinden, indem er den von den Wörtern verursachten Schwindel nimmt und die Hürden sprengt, hinter denen der authentische Mensch und nicht die von den feindlichen Mächten zugerichtete Kreatur harrt.«68 Eine Haltung ohne Vergangenheitsverklärung, aufmerksam auf den »konkreten Menschen«.69 Eine andere bedeutende Bezugsperson ist Kateb Yacine, der »auf bewundernswerte Weise dekolonisierte, indem er Brücken schlug zwischen 62 Malek Alloula (1938–2015), Dichter und Literaturkritiker, Bruder des 1994 ermordeten Dramaturgen Abdelkader Alloula und Ehemann der Schriftstellerin und Filmschaffenden Assia Djebar. 63 M. Alloula, »Chronique: Exposition Mohammed Khadda«, in: Souffles, 9 (1968), S. 58. 64 Ebd. 65 1942 in Kénitra geboren, hat Majid Rechiche später Karriere als Produktionsdirektor und technischer Direktor am Centre cinématographique marocain gemacht, wo er dokumentarische Kurzfilme über La Marche Verte (1974) und La mosquée Hassan II (1993) realisiert hat. Sein Spielfilm Les ailes brisées (2005) hat den Preis für den besten Film beim Festival international de cinéma in Damaskus gewonnen. 66 A. Laâbi, »Cinéma: Six et douze«, in: Souffles, 12 (1968), S. 47. 67 A. Laude, »Préface à un procès de la négritude«, in: Souffles, 3 (1966), S. 34. 68 Ebd., S. 35–36. 69 Ebd., S. 36.
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den Fragmenten der Geschichte, die der Kolonialismus segmentiert hatte, um den Unterdrückten die Nähe zu ihrer Erinnerung, zu ihrem Körper und zu ihrem Erbe zu nehmen«.70 Laâbi begrüßt in Le Polygone étoilé den »totalen Roman: Theater der Brutalität, exorzistische Poesie, Trunkenheit der Zeichen, Typologisierung in Schlaglichtern«,71 der die literarische Gattung des ›Interieur‹ pulverisiert. Er schwärmt für dieses Werk, »das die Distanzen der Geschichte des Menschen durchläuft und trotz seiner ›entfernenden‹ Leuchtkraft die Verhaftung mit dem Konkreten wahrt, mit dem Ereignishaften, mit der Mächtigkeit eines aus dem Alltagsleben der Menschen entnommenen Zeugnisses«.72 Hinsichtlich des Films schätzt Tahar Ben Jelloun73 die Herangehensweise des brasilianischen Regisseurs Glauber Rocha in Le Dieu noir et le diable blond: Das Cinéma Novo ist »ein Kino, das am Unterfangen, die Realität zu transformieren, teilhaben könnte, in die die Menschen ständig eingespannt sind«;74 er schätzt die Idee, dass ein Film »ein Mittel zur Erkenntnis der Realität und der Kommunikation mit dem Volk sein muss, ein Instrument kulturellen Widerstandes.«75 So viele Bezugspersonen also, die sich im Sinne des Projekts von Souffles äußern, die Kultur dekolonisieren und sie aus der Entfremdung befreien, eine unverkürzte Geschichte und fortschrittliche Werte einfordern. Sich von den ästhetischen Codes befreien ist so die erste Etappe einer echten Befreiung der Köpfe. Souffles zeigt also sein Interesse für jegliche Form von Kunst an, die mit der Realität verbunden und in ihrem sozialen Mutterboden verwurzelt ist. Und es ist die Volkskultur, in der die Autoren das Material für das emanzipatorische Projekt finden. Es geht in der Tat darum, die Verkrustungen aufbrechen zu lassen, die ein authentisches Lebewesen und einen authentischen Ausdruck hemmen. Die Volkskultur zu rehabilitieren, bedeutet für diese militante Gruppe, der modernen nationalen Kultur den Weg zu bereiten, von der sie träumt. Dies ist für alle die Matrix 70 A. Laâbi, »Réalités et dilemmes de la culture nationale« (I), in: Souffles, 4 (1966), S. 11. 71 A. Laâbi, »A propos du Polygone étoilé de Kateb Yacine«, in: Souffles, 4, S. 44. 72 A. Laâbi, »Réalités et dilemmes de la culture nationale« (I), in: Souffles (Fn. 70), S.. 11. 73 Tahar Ben Jelloun, geb. 1944 in Fès, ist einer der bekanntesten und am meisten medial verbreiteten marokkanischen frankophonen Autoren. Seit 1971 lebt er in Frankreich. Für La nuit sacrée wurde er 1987 mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet; er ist Mitglied der Akademie Goncourt. Er veröffentlicht regelmäßig Chroniken auf der sehr offiziellen Webseite www.le360.ma. 74 T. Ben Jelloun, »A propos de Le Dieu noir et le diable blond, film brésilien de Glauber Rocha«, in: Souffles, 18 (1970), S. 85. 75 Ebd.
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der Authentizität, und zwar nicht nur aufgrund der familiären Atmosphäre, die sie verbreitet, sondern aufgrund ihrer Strukturen. Die Volkskultur ist wirklich eine Fundgrube an Wegen für eine moderne Kreation. Die Dichter interessieren sich für die Volksliteratur und vor allem für die Volkspoesie wegen der Lebendigkeit ihres mündlichen Ausdrucks. »Wir sind Bewahrer einer uralten Tradition mündlicher Poesie«,76 erklärt Laâbi, für den »die Dichtung keine visuelle, mental zu erfassende Architektur ist; sie ist Wortgebrauch und direkte Kommunikation.«77 Diese von der von den traditionellen Eliten gefeierten Literatur so verschiedene Tonalität entspricht den zeitgenössischen Anliegen der jungen Dichter, die an Texten interessiert sind, die man sprechen, deklamieren, das heißt singen kann. Diese Suche nach Mündlichkeit ist besonders auffällig in Laâbis Gedicht ›Les Singes électroniques‹ [Die elektronischen Affen]: hé lé léhé lé lé Ouahli Ouahli grüßen wir Afrika, das Versuchskaninchen das ganz rein gespült, ausgelaugt, gereinigt, entwildert aus dem okzidentalen Labor kommt.78 Dies gilt auch für die halqa, die traditionelle Form des Theaters, die »wegen ihres sehr wertvollen artistischen Potenzials«79 als ein Weg zur Erneuerung des marokkanischen Theaters betrachtet wird. Rhythmische Takte, ein Solo zur Einführung durch den Erzähler, Dialog-Einlagen, Lieder und Chöre schaffen ein »Mosaik unterschiedlicher, aber komplementärer Rhythmen, entsprechend der Atmosphäre, die erzeugt werden soll (moderato, crescendo etc.), mit einem einzigen Refrain, der als Leitmotiv wiederkehrt, um den Akzent zu setzen«,80 bis zum Finale – so viele Elemente zählt Mohammed Jabir81 auf, um eine moderne halqa zu skizzieren. Die traditionellen Künste bieten Anlass für weitreichende Überlegungen der bildenden Künstler. Die Kunsthistorikerin Toni Maraïni, 82 die 76 A. Laâbi, »Chroniques: Je 1 de Bernard Jakobiak«, in: Souffles (Fn. 26), S. 48. 77 Ebd. 78 A. Laâbi, »Les Singes électroniques«, in: Souffles, 16–17 (1969), S. 40. 79 A. Laâbi, »Diwan Sidi Abderrahman Mejdoub de Taïeb Seddiki«, in: Souffles, 5 (1967), S. 44. 80 M. Jabir, »Etude du terme halqa«, in: Souffles, 2 (1966), S. 47. 81 Vgl. M. Jabir, Pseudonyme des Journalisten Mohamed Jibril, Aktivist der Union Nationale des Forces Populaires. 82 Die 1942 in Tokio geborene Toni Maraïni war die Ehefrau von Mohammed Melehi. Sie hat bemerkenswerte Beiträge zur Kunstgeschichte und Kunstkritik verfasst und ist auch Schriftstellerin und Dichterin.
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dann an der École des Beaux-Arts in Casablanca lehrte, erläutert die Problematik dieser Generation, die zwei Grundprobleme zu versöhnen sucht: »das der ›Avantgarde‹ (das der Gegenwart im Verhältnis zur Zukunft und zu den Erfordernissen des gegenwärtigen Lebens) und das der Tradition (das der Gegenwart im Verhältnis zur Vergangenheit und zu den traditionellen Werten der bildenden Kunst).«83 Mohammed Melehi erklärt sein Interesse an der Form der Welle, die, »obwohl sie ganz traditionell ist (die Welle erscheint überall in der afrikanischen Kunst)«,84 neu ist »(sie ist in plastischer Hinsicht modern)«:85 ihr Minimalismus erlaubt es, sich von einer akademischen, in der griechisch-römischen Kultur verankerten Bildung abzuheben, zugleich die islamische Tradition der nicht-figurativen und in den Raum integrierten Plastik wiederzubeleben und sie in die zeitgenössischen, durch Abstraktion gekennzeichneten Nachforschungen zu projizieren. Mohammed Chabâa, der die ländliche Kunst aufwertet und sich für die Teppichkunst wegen ihrer Art und Weise, den Raum aufzutrennen und in ihm einen Rhythmus zu schaffen, interessiert, betont den revolutionären und futuristischen Charakter der marokkanischen Tradition – Lehren, die beide an ihre Schüler an der École des Beaux-Arts in Casablanca weitergeben, die schreiben: »Das Erbe der traditionellen bildenden Kunst war der anonyme, um eine kollektive Seele bereichernde Ausdruck, der zugleich die Rolle individuellen Schaffens erahnen lässt.«86 Mit ihrer Parteinahme zugunsten der Volkskultur möchten die Autoren von Souffles deutlich machen, dass diese allein geeignet ist, ein Projekt nationalen Ausmaßes zu tragen. Weil diese Kultur populär ist, erreicht sie in der Tat die größte Zahl und ist nicht elitär. Diese Wahl von Souffles steht in Widerspruch zu dem in dieser Zeit offiziellen Projekt, das – die Forscherin Amina Touzani erinnert daran – »eine elitäre Kultur favorisierte, die einen großen Teil der Intelligentsia anspricht.«87 Im Gegensatz hierzu ging es darum, eine Kultur zu befördern, die das Volk berührt. Souffles begrüßt die Experimente, die die zeitgenössischen Werke der breiten Öffentlichkeit näherbringen. Die bildenden Künstler diskutieren über die Frage der Straßenkunst außerhalb der geschlossenen Zirkel der Galerien. Toni Maraïni zeigt sich vom Internationalen Symposium in Mexiko begeistert, wo 83 Vgl. T. Maraïni, »Situation de la peinture marocaine«, in: Souffles, 7–8 (1967), S. 11–16. 84 T. Maraïni, »Action plastique: Symposium international de sculpture de Mexico«, in: Souffles, 10–11 (1968), S. 52. 85 Ebd. 86 Elèves de l’École des Beaux-Arts de Casablanca, »Exposition annuelle, juin 1968«, in: Souffles, 10–11 (1968), S. 57. 87 A. Touzani, La Culture et la politique culturelle au Maroc, Casablanca: La Croisée des chemins 2003, S. 29.
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die Skulpturen – »ganz anders als die unberührbaren Werke eines Museums«88 – unter freiem Himmel präsentiert werden. Diese Reflexion erreichte ihren Höhepunkt, als Souffles von der Initiative von Mohammed Ataallah, Farid Belkahia, Mohammed Chabâa, Mustapha Hafid, Mohammed Hamidi und Mohammed Melehi berichtete, die zehn Tage lang ihre Werke auf dem Platz Ğāmiʿ el-Fna in Marrakesch ausstellten, der damals ein Busbahnhof war: »Diese Manifestation bedeutet die erste Ausstellung außerhalb der Galerien in der Geschichte der modernen Malerei in Marokko.«89 Das Ziel: »Die Volks-Öffentlichkeit da treffen, wo sie sich befindet«,90 sich »direkt und ohne Formalitäten einer wechselnden Öffentlichkeit präsentieren«,91 um Vorurteile in Frage zu stellen, die Neugierde anzustacheln, aber auch, um sich selbst hinsichtlich seiner Praxis und des Sinnes seiner Kunst zu befragen: »Wir haben uns tatsächlich ganz konkret dem Problem der in den städtischen Rahmen, in die Straße, in die entfernte Sicht, in das natürliche Licht etc. integrierten Kunst gestellt und wir haben uns – dies ist besonders wichtig – Rechenschaft von den durch die künstlerische Kommunikation gestellten Problemen abgelegt und von den Hindernissen, die in uns selbst, zwischen uns und gegenüber dieser Öffentlichkeit zu überwinden bleiben.«92 Die Volkskultur ist also alles andere als eine Subkultur, die abzuwerten wäre. Ihre Lebendigkeit und ihr Modernitätspotenzial, die bei manchen erstarrten künstlerischen Ausdrucksformen fehlen, ermöglichen das Zusammentreffen von Tradition und zeitgenössischen Bestrebungen. Dies erlaubt das Aufblühen eines zugleich populären und anspruchsvollen Projekts. Toni Maraïni bilanziert aus Anlass der Arbeit von Mohammed Melehi: »Jede Stellungnahme der bildenden Kunst war begleitet von einem mentalen Bewusstwerden. […] Melehi malt also, um ein grafisches Denken zu erreichen.«93 So muss die Kunst intellektualisiert werden. Diese Position führt Souffles dazu, die Bezüge zur marokkanischen Kultur zu vervielfältigen. Die Texte skizzieren ein Familien-Universum, verankern die Kunst im gelebten Leben, das heißt im Körper der Künstler. Gewürze, Parfums, Kleidung, Schmuck, Zeremonien, Landschaften, Personen des alltäglichen Lebens, Erinnerungen an Revolten, Auszählreime usw. schreiben das Intime in das Gefühl der Dichtungen ein. Das heißt: Es geht darum, den richtigen Ton bezüglich der 88 T. Maraïni, »Action plastique: Symposium international de sculpture de Mexico«, in: Souffles, 10–11 (1968), S. 51. 89 Autor unbekannt, »Action plastique: Exposition Jamaâ lfna. marrakech«, in: Souffles, 13–14 (1969), S. 45. 90 Ebd. 91 Ebd., S. 46. 92 Ebd. 93 T. Maraïni, »Expositions M. Chabâa, M. Melehi«, in: Souffles, 6 (1967), S. 45.
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Lebenswirklichkeit zu finden. Lacheraf gefällt diese Authentizität: »Ihr literarisches Handeln bleibt dieser Erde und diesen dunklen Menschen, die zu uns gehören, treu und bringt sie nicht entsprechend einer belanglosen und pittoresken Realität zum Ausdruck, wie sie die Touristen und die vom Regionalismus Begeisterten lieben, sondern durch eine noch ungeahnte, einzigartige, immer jungfräuliche Wahrheit, deren Geheimnis der Maghreb, seine braunen Horizonte, seine Berge, seine proletarischen Städte, seine mündliche Kultur, die Arbeiten seiner Menschen, ihrer Kämpfe und Leiden oder Freuden im Laufe der Jahrhunderte mehr oder weniger gelüftet haben.«94 Diese Herangehensweise ist bewusst und wird zum Gegenstand theoretischer Analyse: Es geht darum, dass in der Kunst und beim Schreiben – wie bei K. Yacine – »der Einbruch eines brutalen und totalen Lebens, der organische Ausdruck einer nicht losgelösten Existenz« gelingt.95 Die Authentizität ans Licht zu bringen bedeutet, das Wirkliche durch die Bewegung des schöpferischen Aktes selbst zu manifestieren. Laâbi verschreibt sich diesem Programm: »Der Künstler wird nicht mehr ein Orchesterleiter oder ein ambulanter Reiseführer sein, sondern ein tief verwurzelter strahlender Block der Wirklichkeit. Sein Ausdruck ist kein Rückblick, sondern eine Weise physischen Reagierens, des Antwortens auf verschiedene Erdstöße, die ihn erreichen und daraus das Epizentrum des Unbehagens machen. Tief verwurzelter strahlender Block, eruptiver Vulkan – dies ist sein Bild.«96 Die Kunst hat also nicht mehr die Mission, zu beschreiben, sondern die verschütteten Realitäten zu Tage treten zu lassen, das, was zum Stillschweigen gebracht war. Sie ist ein »schaffendes Leben (im Unterschied zu einem organisierenden Denken).«97 Das Werk muss deshalb ein totaler künstlerischer Ausdruck sein, der aus dem gelebten Lebens der Künstler zum Vorschein kommt. Die Metapher ist die des Vulkans: Authentisch zu sein ist nur um den Preis eines radikalen Ansatzes möglich, einer Weise, in der Welt zu sein.
Ethik und Ästhetik der Revolution Was aus dieser schöpferischen Bewegung hervorquillt, kann nur subversiv sein. Die ästhetischen Codes neu zu begründen, jeglichen Akademismus zu verwerfen und diese Schaffensweise zu befürworten, impliziert den Willen, die Gewohnheiten zu verwirren, ohne zu befürchten, damit 94 M. Lacheref, »Correspondance«, in: Souffles, 10–11 (1968), S. 6. 95 A. Laâbi, »A propos du Polygone étoilé de Kateb Yacine«, in: Souffles, (Fn. 71), S. 45. 96 Ebd. 97 Ebd.
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zu schockieren. Es ist in der Tat der »bourgeoise Geist«98, den es zunichte zu machen gilt, und mit ihm jegliche Form von Ästhetizismus und »kleinen Täuschungsmanövern«.99 Für Nissaboury ist es »der Mensch mit seinen Gesten, Grimassen, dem Schrei seiner Eingeweide«,100 der im Zentrum der Aufmerksamkeit des Dichters stehen muss. Diese Einstellung ist weder harmlos noch bequem: »In der Dichtung braucht es viel Mut«,101 denn »ein Gedicht leben bedeutet in die Kanalisation hinabsteigen und diese Gerüche, diesen schleimigen Schlamm hektisch einatmen, unmittelbar den Menschen in dem leben, was elementarer ist.«102 Kurz – Nissaboury ruft nach einer engagierten Poesie fern einer Kunst um der Kunst willen. Gegen »diese vertrockneten Trauben ästhetischer Objekte«103 und anderen »wohlmeinenden Plunder«,104 gegen die Gewohnheiten, falsches Prestige, Elfenbeintürme, krankhaften Sentimentalismus und Lyrismus plädiert Souffles für eine ungeschminkte Poesie. Die Dichter von Souffles ziehen keine Handschuhe an. Keine Frage, den Körper zu sublimieren: Man muss seine Mängel zur Schau stellen, den Ekel und das Grauen wecken. Die Texte sind voll von Gerinseln, Sperma, Auswurf, Krampfadern, Abtreibungen, Leichen und infizierten Lebensmitteln, sprechen von Leiden und Folter. Mehr noch als die Körper sind es die sozialen und moralischen Codes, die sie gerne zerstören. Diese Poesie fordert die Sitten und Bräuche heraus, provoziert die Leser, indem sie ihnen ins Gesicht wirft, was man nicht sagt, was man nicht hören will. Prostitution, Bastarde … sie bringt die von der Gesellschaft zum Schweigen gebrachten Tabus ans Tageslicht. Souffles steht in Einklang mit dem Roman Passé simple von Driss Chraïbi, den die Zeitschrift im Übrigen rehabilitiert hat. Zu La Répudiation von Rachid Boudjedra betont Laâbi: »Unsere Generation pfeift in ihrer unnachgiebigen Klarheit auf die schwankenden oder implantierten Moralvorstellungen, wie sie voller Wut alle Grenzen des Erlaubten und Benennbaren überschreitet.«105 Der »Realismus-Terrorismus«106 ist für Laâbi das wesentliche Merkmal einer maghrebinischen Schriftkultur, die mit den »letzten Bindungen an die intim-bourgeoise Literatur früherer Zeiten brechen muss«.107 Ihre Waffen, mit denen ihr dies gelingt, sind – um den Ausdruck von Marc 98 99 100 101 102 103 104 105 106 107
M. Nissaboury, »Extraits de correspondance«, in: Souffles, 1 (1966), S. 8. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Jean-Marie Le Sidaner, »Extraits de correspondance«, Souffles, 4 (1966), S. 50. Ebd. A. Laâbi, »Bibliothèque Souffles«, in: Souffles, 16–17 (1969), S. 54. Ebd. Ebd.
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Gontard108 zu verwenden – »die Gewalt des Textes« mit seinem Arsenal an rohen, das heißt vulgären Wörtern, Beleidigungen, und vor allem die Ironie, die der hölzernen Sprache, dem politisch Korrekten ein Ende bereitet und über die selbstgenügsamen Fadheiten spottet. Die Ironie verkehrt die Gebete in ihr Gegenteil, um die Mittelmäßigkeit anzuprangern: Herr, gib uns unseren Anteil an täglichen Absurditäten und bewahre uns vor unserer dumpfen Freiheit.109
Sie transformiert die Gedichte in Flugblätter und Plädoyers: Danke dafür, dass man mir die Wahlurne, das Parlament, die Halbtagsuniversität, die kinematografischen Karawanen, die Bibliotheken, in denen ich die Geschichte und ihre Riesen kennenlerne, in denen ich meine Fabeln, meine Rätsel und Charaden, meine mündliche Poesie in schönen Übersetzungen lese, in denen ich mit objektiver Distanz und dem nötigen Medienrummel meine Barden entdecke, meine Imediazzen, meine Akrobaten und Jongleure, meine anonymen Künstler, die Helden meiner verlorenen Reiche, meine futuristische Bildhauerkunst, die Picasso vor Entzückung ejakulieren lässt, meine Arabesken, Vasarely, Mondrian, meine pharaonisch-aztekischen Architekturen, meine Musikinstrumente, meine Wiegenlieder, meine Romanzen, die gewiss eines Tages die Beatles verwenden werden, meine pflanzliche Medizin, die Rezepte der alten Frauen meiner Harems Werde ich der Stammvater des Menschen sein die Wiege der Welt der Prüfstein der Genesis der Verwahrer von Atlantis
die Ausgrabungen gehen weiter.110 Diese Thematiken und diese Herangehensweise führen in der Zeitschrift zu einer Ästhetik der Revolte, die diese Poesie als »Poesie des Kampfes« qualifizieren lässt.111 Das Bild des revoltierenden und sich in seinem Kampf exponierenden Dichters vervielfältigt sich auf den Seiten der Zeitschrift. »Man muss für seine Person bezahlen. Und dies in der Poesie mehr als andernorts«,112 hämmert Malek Alloula ein. Es geht um die Legitimität des Dichters, der ansonsten nur ein »Dekorateur«113 wäre. Man missachtet die 108 M. Gontard, La Violence du texte, la littérature marocaine de langue française, Paris/Rabat: L’Harmattan 1981, S. 169. 109 A. Laâbi, »Marasmes«, in: Souffles, 1 (1966), S. 23. 110 A. Laâbi, »Les Singes électroniques«, in: Souffles, 16–17 (1969), S. 41. 111 P.-J. Oswald, »Extraits de correspondance«, in: Souffles, 2 (1966), S. 4. 112 Ebd. 113 B. Jakobiak, »Situation x«, in: Souffles, 4 (1966), S. 29.
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Gedichte über die Umstände, ihre Heuchelei und ihr Pseudo-Engagement. Laâbi geißelt, was nach der Niederlage des Juni 1967 an Werken erschienen ist, diese »Fülle an Trauerreden und flachen Auftragsübungen, von denen einige hart am Rande des skandalösesten Opportunismus sind«.114 Er macht eine Ausnahme für Montjoie Palestine! Ou l’An dernier à Jérusalem des algerischen Autors Noureddine Aba, das er wegen der Art und Weise, mit der er »diese tragische Prüfung in ihrem realen Kontext – dem langen Weg der palästinensischen und arabischen Völker – zu verorten wusste«,115 mit Cahier d’un retour au pays natal von Césaire vergleicht. In dem Maße, wie in Souffles die politischen Forderungen expliziter werden, verbreitet sich auf den Seiten der Zeitschrift das Bild der revolutionären und befreienden Literatur. Es geht nicht mehr nur um Revolte und Umsturz und um Zerstörung der alten Codes, sondern um die Öffnung neuer Wege. Die Autoren von Souffles bestehen auf der Verbindung von literarischer und revolutionärer Arbeit. Die Literatur kann von der gesellschaftlichen Wirklichkeit nicht getrennt sein, und die Künstler sind die Speerspitze der jeder Generation eigenen und in diese gesellschaftliche Dialektik eingeschriebenen Suche nach Wahrheit. Der »Appell zur Bildung einer Avantgarde-Literatur« besteht auf den »dialektischen Verbindungen zwischen künstlerischer und revolutionärer Arbeit«116 und verdeutlicht sich in Arbeitsthemen: »der Schriftsteller und die Notwendigkeit wirksamer Aktion«,117 »die Revolution und das Erbe«,118 »die Literatur der Dritten Welt und die revolutionäre Weltliteratur im Allgemeinen«,119 oder auch »die intellektuelle und ideologische Annäherung unserer Produkte und kulturellen Produktionen«.120 So ist der revolutionäre Ansatz untrennbar von einer ästhetischen Befreiung, die Laâbis Worten über K. Yacine zufolge einer »kopernikanischen Revolution«121 gleichkommt. Der Revolte, die im Werk zum Ausdruck kommt, muss die des Lesers gegen seine Gewohnheiten entsprechen, um für dieses radikal Neue bereit zu sein. Dies setzt voraus, diese Werke gänzlich in Frage zu stellen. »Genug!«, ruft Laâbi aus. »Lest uns entsprechend dem, was wir sind, und dem Projekt entsprechend, dem wir geduldig, bescheiden und frei den Weg zu ebnen versuchen und das 114 A. Laâbi, »Montjoie Palestine ou l’an dernier à Jérusalem de Noureddine Aba«, in: Souffles, 20–21 (1971), S. 63. 115 Ebd. 116 »Taqdīm«, in: Souffles (Fn. 9), S. 3 (auf Arabisch im Original). 117 Ebd. 118 Ebd. 119 Ebd. 120 Ebd. 121 A. Laâbi, »A propos du Polygone étoilé de Kateb Yacine«, in: Souffles (Fn. 71), S. 45.
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wir Euch zu debattieren bitten und reicher zu machen einladen. […] Beurteilt unsere Literatur nicht nach der bereits angeeigneten Kultur. Denkt daran, dass es sich um eine neue, zu konstruierende Kultur handelt, die auftaucht, sich herantastet und sich durch diese Werke, durch andere kommende Werke, bezeichnende Hieroglyphen der in die Höhe ragenden Pyramide, klarer abzeichnet.«122 Der Leser muss es hinnehmen, verwirrt zu werden, und er ist eingeladen, am Werk durch eine »aktive Lektüre, als Abenteurer«123 teilzuhaben: »Er schafft es neu.«124 Diese radikale Literatur ist von der Allgegenwart der Thematik der Destruktion und Konstruktion gekennzeichnet, die untrennbar verwoben sind. Laâbi schätzt es so ein, dass nur eine konstruktive Wut wirklich revolutionär ist: »Der Protest gegen ein System ist nicht wirksam und entscheidend, wenn er sich mit einem wütenden Anathema begnügt, mit der Drohung einer Ausrottung in der Sprache der Raufereien im Stadtviertel. Er wirkt in der Häutung, in der Demontage aller Mechanismen des Systems. Deshalb können alle Ressourcen eines noch so genialen Schreibens nicht genügen. Ohne effektive Macht über die globalen Realitäten der Geschichte, der jeweiligen Gesellschaft und des Systems und ohne eine direkte Praxis droht sich der Protest in einer Anprangerung auf kurze Sicht, in einer pathologischen Aggressivität einzumauern, die nichts mit einem revolutionären Protest zu tun hat.«125 In seiner Intervention beim Treffen der arabischen Dichter in Beirut im Dezember 1970 hat Laâbi selbst diese Dialektik von Destruktion und Konstruktion theoretisch gefasst: »Es scheint mir, dass man das Werk, das ich gerade vorantreibe und das erst in seinen Anfängen vorliegt, mit zwei Formeln zusammenfassen könnte: das Buch des Todes und das Buch des Entstehens, wobei das Ziel darin besteht, das zu erreichen, was ich ›das totale Buch‹ nenne.«126 Er hat präzisiert: »Für mich ist die Poesie nicht schöpferisch, die nicht fähig ist, im Tod die Voraussetzungen des Lebens und selbst in der blühendsten Vitalität die Symptome des Alterns und des Todes zu entdecken, der nicht herrschend ist – folglich die konkrete Dialektik der Realität, die sie zu bearbeiten, umzugestalten und zu transformieren beansprucht.«127 Die Dichtung muss also ein totalisierender Akt sein, ohne den sie weder »das bourgeoise Denken überwinden kann, das immer das Rationale vom Sinnlichen getrennt hat«,128 noch »den dynamischen Sinn der Geschichte und der gesellschaftlichen Kräfte erfassen, 122 123 124 125 126
A. Laâbi, »Bibliothèque Souffles«, in: Souffles (Fn. 105), S. 54. Ebd. Ebd. A. Laâbi, »Bibliographie critique maghrébine«, in: Souffles (Fn. 8), S. 37. A. Laâbi, »Intervention à la rencontre des poètes arabes«, in: Souffles, 20– 21 (1971), S. 56. 127 Ebd. 128 Ebd.
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die sie konstruktiv voranbringen«.129 Die echte Dichtung ist ein »Akt der Häresie«,130 sie zerstört »die Stützen der Entfremdung und der Ausbeutung des Menschen«.131 Nur sie versteht »das Inhumane unerträglich« werden zu lassen132 und »den unwiderstehlichen Vorgeschmack des Lebenswerten« zu geben.133 Als »Faktor der Beschleunigung der Zukunft«134 ist sie »Teil der Herausforderung, die der Mensch den blinden Kräften der Zerstörung entgegensetzt, und des Kampfes der beherrschten und ausgebeuteten Menschheit um die Verwirklichung des totalen Menschen«.135 »In dem Maße, wie sich unsere Gattung gegen die nukleare Erpressung, gegen die Gefahr der Automatisierung, gegen das von elektronischen Supergehirnen organisierte Massaker verteidigt, deren tagtägliche zahllosen Opfer die ausgebeuteten und kämpfenden Völker sind, werden die Dichtung und das menschliche Wort überleben.«136 So hängt für Laâbi die revolutionäre Dichtung ab »von der revolutionären Option und Praxis«:137 »Die Revolution verteidigt und schützt die Dichtung.«138 Umgekehrt wird jede nicht-revolutionäre Dichtung angeklagt, »eine Sabotage des langen Marsches des Menschen zu seiner vollständigen Verwirklichung zu sein«.139 Im Namen dieser totalisierenden Vision der Dichtung begrüßt Laâbi die palästinensische Poesie, weil sie eine Poesie »des Kampfes« ist.140 Sie veranschaulicht in der Tat die »echte Debatte«:141 »Wie kann die Dichtung vollständig ihren eigenen Schützengraben an der allgemeinen Kampffront gegen die vielfältigen Feinde der arabischen Völker besetzen? Wie wird es der Dichtung gelingen, sich selbst zu transformieren und als Ausdrucksform in Bewegung überzugehen und nicht allein den Dichter zu transformieren und seine Reflexion und Praxis eng anzuleiten, sondern wie kann sie den Verlauf des globalen Kampfes im Maßstab eines Volkes beeinflussen?«142 Schließlich betont Laâbi: »Das Beispiel der palästinensischen Poesie des Kampfes ist da, um uns zu zeigen, dass die Dichtung fähig ist, die Bewegung einer nationalen 129 130 131 132 133 134 135 136 137 138 139 140
Ebd. Ebd., S. 57. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 56. Ebd., S. 57. Ebd., S. 58. A. Laâbi, »La poésie palestinienne de combat«, in: Souffles, 20–21 (1971), S. 61. 141 Ebd., S. 62. 142 Ebd.
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Sprache und Kultur zu erfassen, um eine echte Energiequelle, eine organisierende Kraft zu werden, die so den Rhythmus ihrer Befreiung, ihrer Verbreitung im Volk und ihre Revolutionierung beschleunigt.«143 Einige Autoren von Souffles haben die enge Verbindung zwischen Literatur und Revolution bis auf die Spitze getrieben. In der vorletzten Nummer der Zeitschrift ist die Literatur der Revolution untergeordnet. Die Truppe des Théâtre de la Mer in Algier, deren Ankündigung Souffles veröffentlicht, erläutert ihr Projekt des dokumentarischen Theaters La Fourmi et l’éléphant (Die Ameise und der Elefant), ein Stück über die Geschichte des Kampfes des vietnamesischen Volkes. Warum musste dieses Volk revolutionäre Schlachten schlagen und warum schlägt es immer noch revolutionäre Schlachten? Wie konnte dieses einst kolonisierte Volk revolutionäre Schlachten schlagen und eines der ruhmreichsten Dien Bien Phu erkämpfen? Die Ameise und der Elefant ist genau unser Versuch, diese beiden fundamentalen Fragen zu beantworten – einerseits als Akt der Solidarität mit dem kämpfenden vietnamesischen Volk – andererseits, um zu versuchen, Lehren aus der beispielhaften revolutionären Erfahrung des heroischen vietnamesischen Volkes zu ziehen.144
Es handelt sich um ein aus Dokumenten, Filmen und Zeitungen über die Geschichte Vietnams und seines politischen, sozialen, ökonomischen, militärischen und kulturellen Lebens montiertes Stück. Das Théâtre de la Mer stimmt so in den Kampf der Völker ein, die »dem globalen Imperialismus sein Dien Bien Phu bereiten«.145 Es geht um eine Absichtserklärung; nichts erlaubt es, den literarischen und künstlerischen Wert dieses Projekts hoch zu schätzen, das im Übrigen außerhalb der Seiten der Zeitschrift zu realisieren war. Aber es ist ganz und gar bezeichnend, dass eine der letzten Nummern von Souffles damit endet, das anfängliche kulturelle Vorhaben der Zeitschrift auf totalisierende und Hoffnung erzeugende Weise einem gelebten Kampf unterzuordnen, um bis ans Ende der Prinzipien der Offenheit und des Kampfes für die menschliche Würde zu gehen. Souffles war während seiner ganzen Existenz Träger einer zutiefst avantgardistischen Vision der nationalen Kultur, die in den Prinzipien der Offenheit, des Pluralismus und der Integrität im Verhältnis zur Geschichte verankert sein sollte. Diese Vision, die in totaler Opposition zum 143 Ebd. 144 Der Text »la fourmi et l´éléphant« befindet sich in: Souffles, 20–21 (1971), S. 50 f. Hier S. 51. 145 Ebd., S. 50.
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offiziellen Projekt dieser Zeit stand, mündete in das politische Engagement eines Teils der Gruppe. Doch je offener der Kampf im Feld der Politik zum Ausdruck kam, desto mehr handelte es sich auf den Seiten der Zeitschrift um einen nahezu messianischen Diskurs der Hoffnung, als könnte ein bloß politisches Programm nicht Träger eines so totalen Projekts sein. Die seit der marxistisch-leninistischen Wende von 1969 erschienenen Nummern von Souffles wurden wegen ihres dogmatischen Diskurses kritisiert, doch dies bedeutete, zu vergessen, dass dieser Diskurs Träger einer Utopie und der Hoffnung auf Befreiung war, die eine ganze Jugend haben träumen lassen: In dieser Zeit erhöhte sich die Auflage von 1000 auf 5000 Exemplare, die nun sehr politisierte Studierende mitrissen. Neben der Relevanz der Analysen, von denen viele nach wie vor aktuell sind,146 hat Souffles diese Jugend berührt, indem die Hoffnung auf das Große Ende in einer messianischen Rhetorik besungen wurde. Das Paradox der Zeitschrift besteht darin, dass ihre Autoren in der Epoche, in der man sich bewusst war, das Produkt einer avantgardistischen, ja elitären Gruppe zu sein, alles getan haben, um mit einer breiten Öffentlichkeit zusammenzukommen, während die Gruppe, die dann das Projekt militanter getragen hat, sich als Speerspitze einer Massenbewegung gesehen hat und – die Realität seiner sozialen Lage vergessend – damit gescheitert ist, die größtmögliche Zahl an Adressaten zu erreichen. Und doch ist die Geschichte von Souffles nicht die Geschichte eines Scheiterns: Über die Repression hinaus ist die Botschaft dieser Gruppe von Künstlern und Intellektuellen nicht in Vergessenheit geraten, haben sie doch die kulturelle Dimension jeglichen politischen Projekts unterstrichen. Deshalb bleibt Souffles fünfzig Jahre nach dem Erscheinen eines der für die marokkanische Kultur reichhaltigsten Angebote. Aus dem Französischen übersetzt von Hans Jörg Sandkühler
146 Insbesondere die Analysen zu den Mängeln der Unterentwicklung, zum Neokolonialismus, zum Bildungssystem oder auch zum Fehlen einer Kulturpolitik.
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Der Flüsterwitz im vorrevolutionären Tunesien als widerständiger Diskurs Einleitung Der 14. Januar 2011 ging in die moderne Geschichte Tunesiens als das Ende einer 23-jährigen Diktatur ein. Den politischen Wechsel begleitete ein Umbruch im öffentlichen Sprachgebrauch. An die Stelle des für länger als zwei Jahrzehnte fortdauernden öffentlichen Sprachgebrauchs, der durch stereotype Wendungen und den sinnentleerten Gebrauch von Schlagwörtern wie Demokratie, Pluralismus und Menschenrechte gekennzeichnet und von offizieller Seite sowie durch Selbstzensur reguliert war, trat jetzt ein differenzierter formal und inhaltlich pluralistischer Diskurs, der es ermöglichte, eine öffentliche, zum Teil auch satirische, mit den Mitteln des Humors operierende Kritik an Politikern und politischen Organen zu üben. Eine solche Kritik war in Ben Alis Zeiten (1987–2011) und auch unter seinem Vorgänger Habib Bourguiba (1956–1987) nicht erlaubt. Diejenigen, die es wagten, das Regime öffentlich zu kritisieren, sei es in Form von politischen Traktaten, journalistischen Artikeln oder satirischen mündlichen Äußerungen, liefen Gefahr verfolgt und bestraft zu werden. Die Unzufriedenheit der Tunesier/innen mit den politischen und wirtschaftlichen Verhältnissen kam zu dieser Zeit fast ausschließlich in Äußerungen im privaten, nicht öffentlichen Bereich zur Sprache. Ein Mittel für den Ausdruck des Überdrusses war der Flüsterwitz, in dem man das Regime und dessen Vertreter auf subversive Art und Weise verspottete. Der Untersuchungsgegenstand des vorliegenden sprachwissenschaftlichen Beitrags sind Flüsterwitze aus der Ära von Ben Ali. Diese Texte verstoßen als Ausdruck eines widerständigen Diskurses inhaltlich und formal gegen den öffentlichen offiziellen Diskurs. Inhaltlich haben alle gesammelten Witze aus einem pragmalinguistischen Blinkwinkel die Gemeinsamkeit, dass sie die Sprachhandlung KRITIK ÜBEN AN DEN HERRSCHENDEN VERHÄLTNISSEN aufweisen, was ein klarer Widerstand gegen den öffentlichen Diskurs ist, der solche Sprachhandlungen ausschließt. Sie brechen Tabus, kritisieren die politische und soziowirtschaftliche Lage, greifen Repräsentanten des Systems an, insbesondere das Präsidentenpaar, und machen sich über ihre Korruption und ihr niedriges Bildungsniveau lustig. Die Zerstörung der von den Medien verbreiteten idealen Bilder von Ben Ali und seiner Frau findet zum Teil auch in sexuellen Witzen Ausdruck. 223
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Formal lassen sich zwei relevante Aspekte für die Sprachwissenschaft feststellen. Einerseits teilen alle Witze den Aspekt, dass sie im tunesisch-arabischen Dialekt erzählt wurden. Es ist die Sprachvariante, die in Tunesien als Alltagssprache gilt und die sich von der Standardsprache, dem Hocharabischen, in manchen Aspekten erheblich unterscheidet.1 Der Gebrauch des Tunesisch-Arabischen im Flüsterwitz vulgarisiert den politischen Stoff und markiert einen eindeutigen Abstand zum öffentlichen politischen Diskurs, der in der Regel das Hocharabische benutzt. Andererseits zeigen viele der gesammelten Texte kreative sprachspielerische Formen, die in einem Kontrast zur hölzernen Sprache des offiziellen politischen Diskurses stehen. Die Witztexte, die hier untersucht werden sollen, liefern Belege für zwei Aspekte des Gebrauchs kreativer sprachlicher Formen, die sich als relevant für eine sprachwissenschaftliche Untersuchung ergeben haben und deshalb im Fokus dieses Beitrags stehen. Es geht erstens um die Analyse des Gebrauchs der Mehrdeutigkeit lexikalischer Einheiten und zweitens um die Untersuchung intertextueller Bezugnahmen auf andere Texte und Textsorten. Ziel dieses Beitrags ist es, die verschiedenen Formen der Benutzung der lexikalischen Polysemie und der intertextuellen Bezüge in einigen ausgewählten tunesischen Flüsterwitzen zu untersuchen.2 1
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Unterschiede zwischen dem Hocharabischen und dem Tunesisch-Arabischen liegen beispielsweise auf der phonologischen und der lexikalischen Ebene. Anders als das Hocharabische zeigt das Tunesisch-Arabische etwa eine Silbenstruktur mit komplexen Anfangsrändern. Lexikalisch beinhaltet das Tunesisch-Arabische zahlreiche Wörter, die nicht aus dem Hocharabischen stammen, sondern ihren Ursprung in anderen Sprachen haben, wie dem Berberischen (Amazigh), Französischen, Italienischen, Türkischen bzw. Osmanischen oder Spanischen, was eine natürliche Folge des historischen Sprachkontakts ist. Das Sammeln der Witze begann im Frühjahr 2014 im Rahmen des DAAD-Projekts Verantwortung, Gerechtigkeit und Erinnerungskultur mit dem Ziel, ein Korpus für den vorliegenden Beitrag zu erstellen und die Texte vor dem Verschwinden zu schützen. Nur zwei Witze habe ich bisher im Internet in einer deutschen Fassung gefunden: URL: http://www.contreloubli.net/geschichte_ der_diktatur und URL: http://www.derueberblick.de/ueberblick.archiv/one. ueberblick.article/ueberblickb3bc.html?entry=page.199904.056. Die Witze des Analysekorpus habe ich durch direkte Befragung von Freunden und Bekannten sowie im Internet gesammelt. Das Korpus umfasst bisher insgesamt fünfundzwanzig Witze, die zum größten Teil von mir ins Deutsche übersetzt wurden. Die relativ geringe Anzahl der Witze könnte durch zwei Gründe erklärt werden: Erstens könnte die Knappheit der Witze darauf zurückgeführt werden, dass tatsächlich nicht viele Witze im vorrevolutionären Tunesien kursierten. Zweitens lässt sich vermuten, dass viele von diesen Witzen schon in Vergessenheit geraten sind und durch den Boom an öffentlichen politischen Sprachproduktionen in der Wendezeit verdrängt wurden.
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DER FLÜSTERWITZ IM VORREVOLUTIONÄREN TUNESIEN
Nach einer kurzen textlinguistischen Klassifizierung des Flüsterwitzes mit den Ansätzen von Margot und Wolfgang Heinemann3 und Ulla Fix4 werde ich die Formen lexikalischer Mehrdeutigkeit in tunesischen Flüsterwitzen semantisch untersuchen. Anschließend werde ich tunesische Flüsterwitze hinsichtlich der unterschiedlichen Typen intertextueller Bezüge in Anlehnung an den textlinguistischen Ansatz von Janich5 betrachten.
1. Die Textsorte politischer Witz Im Wahrig’s Deutschem Wörterbuch wird der Flüsterwitz wie folgt beschrieben: »Flüsterwitz: gegen das herrschende totalitäre Regime des eigenen Staates oder gegen einen seiner Vertreter gerichteter Witz, der nur im vertrauten Kreis (gewissermaßen im Flüsterton) erzählt werden kann.«6 Laut dieser Definition ist der Flüsterwitz ein Witz mit politischem Inhalt, also ein politischer Witz, der im Kontext von diktatorischen Regimen heimlich im privaten Gespräch mit vertrauten Personen mündlich erzählt wird und dessen Urheber unbekannt ist. Politische Witze können anhand der hierarchischen Stufung von Text-Klassen von M. und W. Heinemann7 als eine Textsortenvariante der fiktionalen Textsorte Witz betrachtet werden, die dem Text-Typ der sprachspielerischen Kurzformen untergeordnet werden kann:8 Text-Typ
sprachspielerische Kurzformen
Textsorte
Witz
Textsortenvariante
politischer Witz
3
4
5 6
7 8
M. Heinemann, W. Heinemann, Grundlagen der Textlinguistik. Interaktion – Text – Diskurs, Tübingen: Niemeyer 2002 (Reihe Germanistische Linguistik 230). U. Fix, Sprache, Sprachgebrauch und Diskurse in der DDR. Ausgewählte Aufsätze, Berlin: Frank & Timme 2014. Vgl. ebenfalls den Beitrag von der Autorin in diesem Band. N. Janich, »Intertextualität und Text(sorten)vernetzung«, in: N. Janich (Hg.), Textlinguistik. 15 Einführungen, Tübingen: Narr 2008. G. Wahrig, Deutsches Wörterbuch. Neu herausgegeben von Renate Wahrig-Burfeind. 6., neue bearbeitete Auflage. Auf der Grundlage der neuen amtlichen Rechtschreibregeln, Gütersloh: Bertelsmann Lexikon Verlag 1997, S. 493. M. Heinemann, W. Heinemann, Grundlagen der Textlinguistik. Interaktion – Text – Diskurs (Fn. 3), S. 143. Vgl. C. Fandrych, M. Thurmair, Textsorten im Deutschen. Linguistische Analysen aus sprachdidaktischer Sicht, Tübingen: Stauffenburg Verlag 2011, S. 325.
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Wie bei allen Textsorten der sprachspielerischen Kurzformen geht es bei politischen Witzen »um Spiele mit sprachlichen Strukturen, eine spielerische Gestaltung der Sprache, ihre Veränderungen, die Befreiung von sprachstrukturellen und kommunikativen Normen und Regeln, ihre Verletzungen und Durchbrechungen und anderes mehr.«9 Formal weisen politische Witze Merkmale auf, die für die Textsorte Witz typisch sind. Sie gehen kreativ mit der Sprache um und spielen häufig mit semantischen Ambiguitäten, wie der Polysemie von Wortschatzeinheiten, sowie den verschiedenen Lesarten von Phrasemen und Stilfiguren wie Metaphern und Allegorien. Ein Beispiel für einen sprachspielerischen Umgang mit der Polysemie des Wortes Schlange im Deutschen stellt der folgende DDR-Witz dar, der eine Frage-Antwort-Form hat und die schlechte Versorgungslage in der DDR kritisiert: »Was macht ein DDR-Bürger, wenn er in der Wüste eine Schlange sieht? Er stellt sich hinten an.«10 Witze sind in Bezug auf ihren Aufbau kurze in der Regel mündlich weitergegebene Texte, die häufig durch einen Erzählcharakter gekennzeichnet sind, und aus zwei Teilen bestehen, die Blasius folgendermaßen beschreibt: »Entsprechend seiner Struktur wird der Witz traditionell untergliedert in Exposition und Pointe. So baut ein Textteil des Witzes zunächst die Erwartungshaltung des Rezipienten auf und im nächsten Teil wird gegen diese Erwartung verstoßen.«11 Der plötzliche Verstoß gegen die Erwartungshaltung des Rezipienten soll dann einen Komikeffekt erzeugen, der Lachen auslöst. Zusätzlich zu der auf dem komischen Effekt beruhenden unterhaltenden Funktion vermitteln politische Witze, und das ist meines Erachtens ihre wichtigste Funktion, »auf subversive Weise politische Überzeugungen«.12 Sie zielen darauf, die bestehende politische Ordnung im Verborgenen mit Mitteln der Komik zu kritisieren: »Der politische Witz ist ein tendenziöser feindseliger Witz. […] Kennzeichnend für ihn ist im Allgemeinen das Verspotten, Angreifen, der Lächerlichkeit Preisgeben bestehender politischer Verhältnisse oder ihrer Repräsentanten.«13 Der politische Witz nimmt in einer kritischen Art und Weise Bezug auf die Zeit und die Situation seiner Entstehung und ist demnach historisch von besonderer Bedeutung: »Politische Witze spiegeln ihre Epoche. Aber 9 Ebd., S. 320. 10 H. Schlechte, K. D. Schlechte, Witze bis zur Wende. 40 Jahre politischer Witz in der DDR, München: Ehrenwirth Verlag 1991, S. 239. 11 A. Blasius, Der politische Sprachwitz in der DDR. Eine linguistische Untersuchung, Hamburg: Verlag Dr. Kovač 2003, S. 88. 12 M. Schwarz-Friesel, M. Consten, Einführung in die Textlinguistik, Darmstadt: WBG 2014, S. 41. 13 A. Blasius, Der politische Sprachwitz in der DDR. Eine linguistische Untersuchung (Fn. 11), S. 21.
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– und das ist ihr wichtigstes Merkmal – sie spiegeln sie nicht offiziell, aus dem Blickwinkel der Herrschenden, sondern inoffiziell, aus dem Blickwinkel der Beherrschten.«14 Ulla Fix, deren Ansatz im vorliegenden Beitrag gefolgt wird, zählt politische Witze zu den Texten des widerständigen Diskurses, die eine besonders kreative Form aufweisen, genauso wie Satiren, Spottgedichte, Graffiti,15 Wortspiele usw.16 In Bezug auf die DDR meint Fix mit widerständigem Diskurs »Texte, die ohne staatliche Genehmigung intern verbreitet wurden und auf sehr verschiedene Weise sowie in unterschiedlichem Maße Widerspruch zu den offiziellen Ideen und Verlautbarungen der DDR geübt haben, allein schon durch die Tatsache ihrer nichtlizensierten Existenz, aber auch durch ihre Inhalte und ihre Form.«17 In der Forschung herrscht allerdings kein Konsens, politische Witze als Form des Widerstands zu betrachten. Anderer Auffassung als Fix ist beispielsweise Klaus Bochmann, der dem politischen Witz keinen widerständigen Charakter beimisst: »Mit dem politischen Witz wird, das weiß man, nur Dampf abgelassen, er ist in gewisser Hinsicht sogar systemstabilisierend, weil das Problem, um das es geht, nur sprachlich erledigt wird. Aber daraus entsteht keine politische Front. Das ist keine ernsthafte Gefahr für die politische Macht.«18 Eine Art Ventilfunktion der Flüsterwitze wäre zweifelsohne nicht auszuschließen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass das Erzählen solcher Witze keinen Widerstandsakt darstellt. Im Vergleich zum organisierten politischen Widerstand vermögen diese Texte eine breitere Masse zu erreichen und dazu beizutragen, Tabus zu brechen und Missstände mittels des Humors zu kritisieren. Man sollte auch nicht außer Acht lassen, dass das Erzählen der Flüsterwitze in Diktaturen mit einem gewissen Risiko verbunden ist und im Falle einer Denunziation hart bestraft werden könnte, was nicht ohne weiteres nur auf ein passives sprachliches Dampfablassen 14 A. Schiewe, J. Schiewe, Witzkultur in der DDR. Ein Beitrag zur Sprachkritik, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 2000, S. 19. 15 R. Triki reflektiert in ihrem Kommentar über die Funktion der Graffiti in der Postdiktaturphase. Vgl. ihren Kommentar am Ende des Bandes. 16 U. Fix, »Sprache in totalitären Systemen – mehr als die öffentliche Sprache ihrer Repräsentanten, Stand der Forschung und offene Forschungsfelder«, in: U, Fix, Sprache, Sprachgebrauch und Diskurse in der DDR. Ausgewählte Aufsätze (Fn. 4), S. 56. 17 U. Fix, »Der unkonventionelle Gebrauch von Textmustern im widerständigen Diskurs. Das Beispiel Samisdat«, in: U. Fix, Sprache, Sprachgebrauch und Diskurse in der DDR. Ausgewählte Aufsätze (Fn. 4), S. 451. 18 K. Bochmann, »Revolutionierung der Sprachverhältnisse nach der ›Revolution‹ vom 22. Dezember in Rumänien«, in: B. Bock, U. Fix, S. Pappert (Hg.), Politische Wechsel – sprachliche Umbrüche, Berlin: Frank & Timme 2011, S. 355.
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zu reduzieren ist. Diese kontroverse Frage über den Widerstandscharakter des Erzählens von Flüsterwitzen soll uns hier nicht weiter beschäftigen. Festzuhalten ist, dass Flüsterwitze in dem vorliegenden Beitrag zu den sprachspielerischen Kurzformen und als Texte mit der Funktion eines widerständigen subversiven Diskurses gezählt werden. In den folgenden Ausführungen zum tunesischen Flüsterwitz in der Ära von Ben Ali wird der Versuch unternommen, einige Flüsterwitze in Bezug auf ihre kreative Form zu untersuchen. Dabei werden unter dem folgenden Punkt zuerst die verschiedenen Formen lexikalischer Mehrdeutigkeit dargestellt, die als ein häufiges Phänomen in den sogenannten Sprachwitzen gilt.
2. Lexikalische Mehrdeutigkeit Den Sprachwitz definieren Andrea und Jürgen Schiewe als »einen Text, dessen Wirkung durch eine bestimmte Verwendung von Sprache oder sprachlichen Elementen erzeugt wird. Beispielsweise kann der Gebrauch von Homonymen, gleichlautenden Wörtern mit unterschiedlicher Bedeutung, eine witzige Wirkung, die Pointe, hervorbringen.«19 Die untersuchten tunesischen Flüsterwitze bieten einige Beispiele für Sprachwitze, die mit verschiedenen Prozessen der Mehrdeutigkeiten bzw. Polysemie von Lexemen und mit unterschiedlichen Lesarten von Phrasemen operieren, von denen fünf Witze im Folgenden exemplarisch analysiert werden. Der erste Witz, der die damals herrschende Angst vor der Willkür und dem Unrecht des Systems thematisiert, benutzt die Polysemie des Lexems ʾiṭīr (fliegen).20 1. »Ein Lehrer hat die Tochter von Ezzin in seiner Klasse. Er fragt die Schüler: Könnt ihr mir Tiere nennen, die fliegen? Ein Schüler antwortet: der Vogel. Sehr gut, sagt der Lehrer. Dann steht die Tochter von Ezzin auf und antwortet: der Elefant. Sehr gut, sagt der Lehrer wieder. Verärgert gehen die Eltern der Schüler dann zum Lehrer und fragen ihn: Wieso bringen Sie unseren Kindern falsche Sachen bei? Darauf antwortet er: Was ist Ihrer Meinung nach besser: Fliegt der Elefant oder fliege ich?«
Dieser Text arbeitet mit der lexikalischen Mehrdeutigkeit, indem er zwei Bedeutungen des Verbs ʾiṭīr aktualisiert. Neben der primären standardsprachlichen Bedeutung des ›sich Bewegens aus eigener Kraft durch die 19 A. Schiewe, J. Schiewe, Witzkultur in der DDR. Ein Beitrag zur Sprachkritik (Fn. 14), S. 7. 20 ʾiṭīr ist die tunesisch-arabische Variante des hocharabischen Verbs ṭāra.
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Luft‹ wird dieses Verb in Tunesien in der umgangssprachlichen metaphorischen Bedeutung von ›plötzlich gekündigt werden‹ gebraucht. Dieses Sprachspiel war einfach ins Deutsche zu übersetzen, da das Verb fliegen im Deutschen auch in den beiden Bedeutungen gebraucht wird. Es ging um eine Volläquivalenz-Übersetzung, die bei Sprachwitzen aufgrund der semantisch-lexikalischen Unterschiede zwischen den Sprachen oft unmöglich ist.21 Ein weiterer formaler Aspekt dieses Witzes ist der Gebrauch des Spitznamens Ezzin statt des Familiennamens Ben Ali, der auch in mehreren anderen Witzen vorkommt.22 Der verspottende Gebrauch dieser Form holt den ehemaligen Diktator von oben nach unten, und macht keinen Rangunterschied mehr zwischen ihm und den Erzählern und Rezipienten des Witzes. Dies kann wiederum als eine formale Widerständigkeit gegen den öffentlichen Diskurs in den Medien, in dem Ben Ali als Herr Präsidenten Zine-el-Abidine Ben Ali bezeichnet wird. Das Gleiche gilt übrigens für Leila Ben Ali, seine Frau, die in einigen Flüsterwitzen einfach Leila genannt wird, während der öffentliche Diskurs sie Frau Leila Ben Ali oder die Erste Dame Tunesiens23 nennt. In diesem Witz wird die Angst davor thematisiert, den Herrschenden zu widersprechen. Die Angst ist dermaßen groß, dass der Lehrer es nicht wagt, die Tochter von Ben Ali, die selbst keine politische Macht besitzt, zu korrigieren, auch wenn sie etwas sagt, das gegen alle Gesetze der Natur verstößt. Die Angst vor der Willkür des Staats wird hier mit der Angst vor der Familie von Ben Ali gleichgesetzt, da es in der Wirklichkeit keine klare Trennung zwischen den Mitgliedern des Familienclans von Ben Ali und dem Staat gab. Der Staat stand mit seinen politischen, juristischen und wirtschaftlichen Institutionen zu ihren Diensten und es war gefährlich, ihnen zu widersprechen. Auf die mangelnde Intelligenz des Präsidenten und dessen niedriges Bildungsniveau zielt der zweite Witz ab, der die Polysemie des tunesisch-arabischen Wortes bhīm (Esel) benutzt und in dem drei Protagonisten vorkommen: Ben Ali,24 sein Premierminister Mohamed Ghannouchi 21 Im postrevolutionären Tunesien findet man eine Anspielung auf diesen Witz in einem 2015 erschienenen Rap-Song des bekannten Rappers Kafon, in dem gegen die politische und wirtschaftliche Lage protestiert wird. Das Lied trägt den Titel Gabi Gabi und enthält folgenden Vers: »Al-wazīr ʿ āyiš fī ḫīr, wildū yinǧaḥ w-il-fīl ʾiṭīr« (Der Minister lebt im Wohlstand, sein Sohn hat Erfolg in der Schule und der Elefant fliegt). 22 Vgl. auch die Witze 6, 10 und 12 im vorliegenden Beitrag. 23 »sayyidat tūnis al-ūlā«. 24 Das niedrige Bildungsniveau von Ben Ali, dem General mit einer militärischen Ausbildung in Frankreich und den USA, war kein Geheimnis. Er hatte kein Abitur und man behauptet sogar, dass er die Schule in der elften Klasse
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(von 1999 bis 2011) und die personifizierte Statue von Ibn Khaldun,25 dem bekannten tunesischen Gelehrten und Politiker aus dem 14. Jahrhundert. 2. »Eines Nachts geht Ghannouchi bei einem Spaziergang im Stadtzentrum an der Statue von Ibn Khaldun vorbei. Da ruft die Statue Ghannouchi und sagt ihm: Ehrlich gesagt, das Stehen macht mich müde. Tu mir einen Gefallen und bring mir ein Pferd, auf dem ich sitzen kann. Ghannouchi denkt kurz darüber nach und sagt dann: So etwas kann ich nicht allein entscheiden. Ich muss zuerst Rücksprache mit Ezzin halten und sage dir morgen Bescheid. Am nächsten Morgen ist Ghannouchi bei Ezzin und erzählt ihm, dass Ibn Khaldun ein Pferd will. Darauf sagt Ezzin: Hör mal auf zu scherzen! Statuen sprechen doch nicht. Darauf sagt Ghannouchi: Wenn du es mir nicht glaubst, dann komm einfach heute Nacht mit und du wirst es wohl mit den eigenen Augen sehen. Nachts gehen beide zusammen hin. Bei ihrem Anblick fängt Ibn Khaldun sofort an zu schreien: Ghannouchi, ich habe dir doch gestern gesagt, mir ein Pferd zu bringen. Ich habe dir nicht gesagt, dass ich einen Esel brauche.«
Im Tunesisch-Arabischen hat das Wort bhīm die gleichen polysemen Bedeutungen wie im Deutschen, was wieder eine relativ getreue Übertragung des Textes ins Deutsche ermöglichte. Es wird in der primären standardsprachlichen Bedeutung als eine Bezeichnung für ein Tier gebraucht. In der sekundären Bedeutung wird es metaphorisch umgangssprachlich in Bezug auf einen Menschen als ›Dummkopf‹ benutzt. In dieser zweiten Bedeutung ist bhīm ein verbreitetes und beleidigendes Schimpfwort in Tunesien. In der Pointe dieses dialogischen Witzes wird das Wort bhīm in einer überraschenden Weise in der metaphorischen umgangssprachlichen Bedeutung in Bezug auf den ungebildeten Ben Ali gebraucht. Der Lacheffekt entsteht durch die parallele Aktualisierung der ersten Bedeutung von Esel als Tier, die beim Rezipienten im ersten Teil des Witzes durch die Verbindung mit einem anderen Wort aus dem gleichen Wortfeld erweckt wird. Es geht um das Lexem Pferd, das in der primären Bedeutung von verlassen habe, was in dem bekannten verspottenden Ausdruck »président bac moins trois« (Präsident Abitur minus 3) seine Darstellung findet. 25 Das Denkmal wurde zu Ehren von Abderrahman Ibn Kahldun (1332–1406) in der Avenue Habib Bourguiba, der Hauptstraße von Tunis errichtet. Weltweit berühmt wurde Ibn Khaldun vor allem durch sein geschichtswissenschaftliches Werk Die Muqaddima (Die Einführung), von dem 2011 eine deutsche Teilübersetzung von Alma Giese und Wolfhart Heinrichs beim Verlag C. H. Beck erschienen ist.
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›Reittier‹ benutzt wird. Die abschließende wütende Reaktion der Statue von Ibn Khaldun bedient sich der Tiermetapher, des Gegensatzes zwischen dem mit positiver Symbolik beladenen Pferd als einem edlen klugen Tier und dem als Sinnbild für Dummheit und Starrsinn geltenden Esel. Dass die erniedrigende Aussage über den Präsidenten der Statue von Ibn Khaldun in den Mund gelegt wird, macht sie noch verletzender und herabsetzender, da Ibn Khaldun als Universalgelehrter, Historiker und Geschichtsphilosoph gilt, dessen Urteilen ein hoher Wahrheitsgehalt zugeschrieben wird, was auch am Denkmal, das ihn mit einem Buch in der Hand zeigt, zur Sprache kommt. Durch den Kontrast zwischen Ibn Khaldun und Ben Ali wird hier auch implizit bedauert, dass ein Land, dessen Geschichte Denker wie Ibn Khaldun kennt, zu Unrecht von einem unwissenden Diktator regiert wird, der keine durch Wissen und Intellekt verdiente Legitimität besitzt. Der dritte Witz benutzt wieder die Polysemie einer lexikalischen Einheit und kritisiert das niedrige Bildungsniveau der Präsidentengattin Leila Ben Ali, die angeblich nur eine Friseurausbildung gemacht hatte. Deshalb wurde sie im Volksmund oft als Leila die Friseurin26 bezeichnet. 3. »Carla Bruni Sarkozy empfängt Leila Ben Ali. Nach der Begrüßung will die Ehefrau des französischen Präsidenten die Eleganz von Leila loben und sagt: Oh! Quelle Classe! Daraufhin Leila: 2ème année coiffure.«
Dieser Witz unterscheidet sich von den beiden vorigen Witzen in zweierlei Hinsicht. Zum einen wird hier das mehrdeutige französische Wort classe benutzt, womit Bezug auf eine Fremdsprache genommen wird. Zum anderen ist die Sprache selbst der Auslöser des Lacheffekts in der Pointe, indem man sich über das Unwissen von Leila Ben Ali aufgrund der Polysemie dieses Wortes lustig macht. Das Wort classe wird in diesem Witz mit zwei Bedeutungen verwendet. In der Aussage von Carla Bruni wird es in der Bedeutung von Eleganz verwendet. Aus der Reaktion von Leila Ben Ali in der Pointe kann man feststellen, dass sie diese Bedeutung nicht kennt und das Wort nur in der Bedeutung von Schulklasse bzw. Schulniveau in ihrem Wortschatz vorhanden ist. Sie missversteht das Kompliment und nimmt den Ausruf als eine Frage wahr. Durch das Wortspiel werden die schlechten Französisch-Kenntnisse von Leila Ben Ali der Lächerlichkeit preisgegeben. In 26 Tunesisch: »Lailā al-ḥaǧǧāma«. Diese verspottende Bezeichnung tauchte in der Umbruchszeit wieder auf. In den Sprüchen der Revolution und auf Graffitis wurde Leila Ben Ali öffentlich als Friseurin bezeichnet, wie die beiden folgenden Sprüche zeigen: »ya Lailā ya ḥaǧǧāma, raǧǧaʿ flūs li-tāma« (Leila Friseurin, gib das Geld der Waisen zurück!) und »ya šaʿb fīq fīq, al-ḥaǧǧāma tuḥkim fīk« (Volk wach auf, wach auf, die Friseurin regiert dich!).
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ihrer Aussage wird ihr zudem der Grund für die mangelhaften Kenntnisse im Französischen, das als erste Fremdsprache in der tunesischen Schule unterrichtet wird, in den Mund gelegt, da sie nur eine Friseurausbildung gemacht hat. Die Pointe dieses Witzes wird noch dadurch verstärkt, wenn man bedenkt, dass die Verwendung des Worts classe auch im Tunesischen-Arabischen in den beiden erwähnten Bedeutungen gängig ist und so zum Vokabular des alltäglichen Sprachgebrauchs gehört, das auch Sprecher/innen mit einem geringen Schulniveau zugänglich sein sollte. Dieser Witz nimmt direkten Bezug auf den Beruf der Friseurin, der in Tunesien bis vor Kurzem mit negativen Bildern beladen war. Der Beruf der Friseurin war lange Zeit mit zwei negativen Vorurteilen verbunden. Einerseits sah man ihn als den Beruf derjenigen Frauen, die in der Schule in frühen Stufen scheiterten und demzufolge nicht intelligent genug seien. Andererseits galten Friseurinnen in den Augen vieler Tunesier/innen als unanständige, unmoralisch handelnde Frauen und standen unter einem generellen Prostitutions-Verdacht. Das negative Bild über Leila Ben Ali könnte auch dadurch erklärt werden, dass sie die zweite Frau des ehemaligen Präsidenten war und hinter seiner Scheidung von seiner ersten Frau stand. Das Bild von Leila Ben Ali in diesem Witz steht in einem klaren Gegensatz zum Bild der gebildeten und intelligenten First Lady, das vor allem in den letzten Jahren vor der Revolution im öffentlichen Diskurs verbreitet wurde. Man sah sie oft im Nachrichtenjournal auf dem ersten öffentlichen Sender als eine Frau, die sich in der Zivilgesellschaft für die Rechte von Frauen und Kindern engagiert und Reden zu verschiedenen Anlässen hält.27 Es wurde von ihrem angeblichen Engagement für die sozial schwachen Schichten auf der ersten Seite der meisten Zeitungen des Landes berichtet. Sie spielte eine Schlüsselrolle bei der Propaganda für den vom Regime betriebenen Staatsfeminismus. Der vierte Witz greift auf eine besondere Art der Polysemie lexikalischer Einheiten in der Pointe zurück. Es geht um die nur durch den Kontext motivierte okkasionelle Polysemie, die sich von der usuellen Polysemie in den drei vorigen Witzen unterscheidet. »Bei usueller Polysemie wird die entsprechende Wortschatzeinheit dann mit mehreren Bedeutungen im Lexikon gespeichert.«28
27 Ein anderer Witz nimmt einen indirekten Bezug auf Leila Ben Ali und macht nur eine Anspielung auf ihren Beruf. Er ist in der Form einer Frage-Antwort aufgebaut: Warum hat Gaddafi lange Haare? Weil seine Ehefrau keine Friseurin ist. 28 A. Blasius, Der politische Sprachwitz in der DDR. Eine linguistische Untersuchung (Fn. 11), S. 154.
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4. »Treffen sich zwei Hunde. Der eine, ein dürres Gerippe voller Wunden und Narben, ist aus Algerien nach Tunesien gekommen. Alles, was er möchte, ist: ausruhen, fressen und den Krieg vergessen. Der andere, ein gepflegter, wohlgenährter und parfümierter tunesischer Hund mit einem Kettenhalsband will gerade nach Algerien trotten. Der algerische Hund ist sehr überrascht: Warum willst Du nach Algerien? Willst Du Dich da umbringen lassen? Und selbst, wenn Du überlebst, wirst Du nichts zu fressen finden! Warum nach Algerien? Erwidert der tunesische Hund: Um bellen zu können, natürlich!«29
In diesem Witz wird die Unterdrückung der Meinungsfreiheit in einer lustigen Art und Weise aufgegriffen. Neben der lexikalisierten Bedeutung des Verbs bellen (yanbaḥ), als Vorgang einer natürlichen Lautäußerung des Hundes wird in der Pointe eine zweite metaphorische nicht-lexikalisierte Bedeutung dieses Verbs von ›offen sprechen, sich frei ausdrücken‹ aktualisiert. Im fünften Text, der die schlechten Lebensumstände in Tunesien kritisiert, entsteht der komische Effekt in der überraschenden Pointe durch eine semantische Modifikation eines idiomatischen Phrasems, indem man seine wörtliche Bedeutung durch den Kontext zusätzlich zu der idiomatischen Bedeutung aktualisiert. Es geht um das Phrasem ʿīšit liklāb, das die Form einer Nominalphrase im Genitiv zeigt und durch das Determinativkompositum Hundeleben ins Deutsche übertragen werden kann. 5. »Der Hündin von Bush gefällt das Leben in Amerika nicht mehr. Er schickt sie in die Schweiz. Ein paar Tage später ruft sie an und sagt ihm: Ich muss hier weg. Ich sterbe hier vor Langeweile. Dann schickt er sie nach Paris und nach ein paar Tagen kann sie die Langweile in Paris nicht mehr aushalten und will weg. Er schickt sie überall in die Welt und jedes Mal langweilt sie sich schnell und will weg. Es bleibt nur Tunesien, da sagt er sich: Was könnte wohl Tunesien gegen die Langeweile anbieten? Ich schicke sie trotzdem hin und sie wird mich bestimmt wie immer anrufen und will weg. Er schickt sie nach Tunesien. Drei Wochen vergehen, ohne eine Nachricht von ihr zu hören. Er macht sich Sorgen und lässt sie anrufen. Am Telefon sagt sie: Mach Dir keine Sorgen um mich! Es geht mir sehr gut und ich habe viel Spaß. Hier ist das wahre Hundeleben.«
Das in diesem Witz gebrauchte Phrasem ʿīšit liklāb (Hundeleben) bedeutet idiomatisch in Bezug auf Menschen ein erbärmliches Leben und hat somit eine klare negative Bedeutung. Die wörtliche Interpretation zeigt 29 URL: http://www.derueberblick.de/ueberblick.archiv/one.ueberblick.article/ueberblickb3bc.html?entry=page.199904.056 (zuletzt aufgerufen am 11.01.2017).
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die neutrale Bedeutung vom Leben der Hunde. Dieses Phrasem kann aufgrund der Tatsache, dass hier die Hündin eines ehemaligen Präsidenten der einflussreichen Weltmacht USA personifiziert wird, sowohl idiomatisch als auch wörtlich verstanden werden. Der Rezipient soll die Pointe idiomatisch verstehen und über die durch den Kontext aktualisierte wörtliche Bedeutung lachen. In diesem Witz wird die Sprachhandlung KRITIK AN DEN LEBENSUMSTÄNDEN IN TUNESIEN vollzogen. Im Vergleich zu allen anderen Ländern der Welt und vor allem zu den beiden explizit genannten Ländern Frankreich und der Schweiz, mit denen man in Tunesien eine besonders hohe Lebensqualität verbindet, wird Tunesien übertriebenderweise als das Land mit den schlechtesten Lebensumständen der Welt dargestellt. Hier wird kein bestimmter Bereich kritisiert, sondern allgemein Unmut über das Leben in all seinen Facetten geäußert. Die Bezeichnung des Lebens im vorrevolutionären Tunesien als Hundeleben bedeutet, dass es sich dort um Lebensumstände handelt, die unter der Würde der Menschen einzustufen sind. Es geht um einen widerständigen Diskurs zum öffentlichen Diskurs, der Tunesien zu den erfolgreichen Ländern der Welt zählt und die angeblichen Errungenschaften des Regimes in politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Bereichen ständig lobt. Die bisherige Analyse hat gezeigt, dass der Gebrauch lexikalischer Mehrdeutigkeit ein kreatives produktives Verfahren in den untersuchten tunesischen Flüsterwitzen ist, das unterschiedliche Formen aufweist und dem Lachen über Ben Ali, seine Frau, die Angst vor dem Regime und die schlechten Lebensumstände dient. Im Folgenden werde ich die gesammelten Witztexte hinsichtlich ihrer intertextuellen Bezüge untersuchen mit dem Ziel herauszufinden, welche Formen der Intertextualität mit welchen Funktionen gebraucht werden.
3. Intertextuelle Bezüge Intertextualität wird von Nina Janich folgendermaßen definiert: »Intertextualität ist eine konkret belegbare Eigenschaft von einzelnen Texten und liegt dann vor, wenn vom Autor bewusst und mit einer bestimmten Absicht auf andere, vorliegende einzelne Texte oder ganze Textgattungen/Textsorten durch Anspielung oder Zitat Bezug genommen wird, und zwar unabhängig davon, ob er diese Bezüge markiert und kenntlich macht oder nicht.«30 Bezüge auf einzelne Texte findet man bei Janich unter der Bezeichnung Einzeltextreferenz, während Bezüge auf ganze Textgattungen bzw. 30 N. Janich, Werbesprache. Ein Arbeitsbuch. Mit einem Beitrag von Jens Runkehl, 6., durchges. und korr. Aufl., Tübingen: Narr 2013, S. 232.
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Textsorten Systemreferenz genannt werden.31 Was die Art des intertextuellen Bezugs betrifft, so unterscheidet Janich zwischen Bezug durch Anspielung und Bezug durch Zitat bzw. Übernahme. Diese zwei Arten lassen sich wiederum nach dem Kriterium markiert/unmarkiert jeweils in zwei Untergruppen teilen: markierte vs. unmarkierte Anspielung und markiertes vs. unmarkiertes Zitat. In Bezug auf die Einzeltextreferenz findet man bei Janich folgende linguistische Typologisierung: 1. VOLLSTÄNDIGE ODER UNVOLLSTÄNDIGE ÜBERNAHME (Zitat) eines Referenztextes, weiter zu unterscheiden nach vorhandener oder fehlender Markierung; 2. ANSPIELUNG auf einen Referenztext durch die ÜBERNAHME VON (SYNTAKTISCHEN) STRUKTUREN BEI LEXIKALISCHER SUBSTITUTION; 3. ANSPIELUNG auf einen Referenztext durch VERWENDUNG ZENTRALER LEXIKALISCHER ELEMENTE BEI STRUKTURELLER MODIFIKATION (Aufgreifen von ›Schlüsselwörtern‹); 4. ANSPIELUNG auf einen Referenztext über den VISUELLEN CODE.32 Der Terminologie von Renate Lachmann33 folgend bezeichnet Janich Bezug nehmende Texte als Phänotexte und Texte, auf die Bezug genommen wird, als Referenztexte oder Referenztextsorten.34 Die untersuchten tunesischen Witztexte zeigen Fälle von Systemreferenz und Einzeltextreferenz, wobei die Einzeltextreferenz eindeutig überwiegt und zwei Typen aufweist, einen ersten Typ, der sich der Anspielung bedient und einen zweiten Typ, der die unvollständige unmarkierte Übernahme benutzt. Im folgenden Witz können sowohl Aspekte der Einzeltextreferenz durch Anspielung als auch der Systemreferenz festgestellt werden: 6. »Ezzin findet eine Wunderlampe. Als er daran reibt, erscheint ein Geist und sagt ihm, er habe einen Wunsch frei. Er wünscht sich daraufhin eine Autobahn von Tunesien nach Argentinien. Der Geist antwortet, 31 Vgl. N. Janich, »Intertextualität und Text(sorten)vernetzung«, in: N. Janich (Hg.), Textlinguistik. 15 Einführungen (Fn. 5), S. 188 ff. 32 Vgl. ebd., S. 189. 33 Vgl. R. Lachmann, »Ebenen des Intertextualitätsbegriffs«, in: K. Stierle, R. Warning (Hg.), Das Gespräch, München 1984, S. 133 ff. 34 Vgl. N. Janich, »Intertextualität und Text(sorten)vernetzung«, in: N. Janich (Hg.), Textlinguistik. 15 Einführungen (Fn. 5), S. 178. Zur Unterscheidung verschiedener Intertextualitätsformen vgl. den Beitrag von B. Bock und M. Maataoui in diesem Band.
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dass dies trotz aller himmlischen Kraft unmöglich sei. Ezzin gibt nach und sagt, dann wolle er, dass alle Tunesier ihn lieben. Daraufhin fragt der Geist: Wie viele Spuren soll die Autobahn denn haben?«
Durch die Anspielung auf die literarische Gattung Märchen entsteht ein Fall von Systemreferenz. Dabei geht es um eine Beziehung zwischen einem Textexemplar, dem vorliegenden Witz und einem Textmuster, der Gattung Märchen.35 Die Gemeinsamkeit zwischen diesem Witz und dem Märchen als literarischer Gattung besteht in dem narrativen Stil, der phantastischen wunderbaren Begebenheit und der unterhaltenden Funktion. Auf das konkrete Märchen Aladin und die Wunderlampe aus Tausendundeiner Nacht wird hier auch Bezug genommen und dadurch eine Beziehung zwischen Textexemplar und Textexemplar, das heißt eine Einzeltextreferenz hergestellt. Dieser erste in den tunesischen Flüsterwitzen festgestellte Typ von Einzeltextreferenz kann unter Bezugnahme auf Janich als eine »ANSPIELUNG auf einen Referenztext durch VERWENDUNG ZENTRALER LEXIKALISCHER ELEMENTE BEI STRUKTURELLER MODIFIKATION« betrachtet werden.36 Wunderlampe, Geist und einen Wunsch frei haben sind Schlüsselwörter bzw. kleine Wortverbindungen im Märchen Aladin und die Wunderlampe, die hier in Bezug auf ein aktuelles politisches Thema gebraucht werden. Der intertextuelle Bezug auf ein bekanntes Märchen trägt dazu bei, dass der Rezipient durch die Anknüpfung an das Bekannte aufmerksamer und interessierter wird. Eine wichtigere Funktion der Intertextualität besteht auch darin, Ben Ali anzugreifen und ihn als eine lächerliche, naive und unbeliebte Märchenfigur darzustellen, die zweimal etwas Unmögliches verlangt. Diese Verwandlung vom ehemaligen Diktator in eine Märchenfigur, die nichts Heldenhaftes zeigt, steht in einem direkten Kontrast zum offiziellen Diskurs, der ihn als einen starken intelligenten Mann, als einen Helden darstellt.37 Der Grund, dass in diesem Witz Argentinien gewählt wurde, liegt nicht nur darin, dass dieses lateinamerikanische Land weit weg von Tunesien 35 Vgl. ebd., S. 188. 36 Ebd., S. 189. 37 Das Wort Held (baṭal) findet man bspw. in der Wortgruppe baṭal at-taġyīr, was ins Deutsche als ›Held des Wechsels‹ übersetzt werden kann. Damit ist die Machtergreifung von Ben Ali am 7. November 1987 gemeint. In der Zeit des politischen Umbruchs wurde wieder auf das Muster des Märchens zurückgegriffen, um die Person des Präsidenten anzugreifen. In Sprüchen der Revolution sowie in Protestliedern und Karikaturen nahm man Bezug auf Märchen, wie bspw. in dem Spruch Ben Ali und die vierzig Trabelsi, in dem es eine Anspielung auf den Titel des Märchens Ali Baba und die vierzig Räuber aus Tausendundeiner Nacht gibt.
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liegt, sondern auch darin, dass unter vielen Tunesier/innen das Gerücht im Umlauf war, dass Ben Ali angeblich eine prachtvolle Residenz in Argentinien besäße. Diese Anspielung auf ein privates Eigentum von Ben Ali stellt einen impliziten Tabubruch dar, da der öffentliche Diskurs es nicht erlaubte, über dieses Thema zu sprechen. Dieser Witz folgt einem Muster, das produktiv ist und in vielen anderen Varianten im Umlauf war. Ein Beispiel für eine Variante dieses Witzes ist der folgende Text, der die Korruption der Familie von Leila Ben Ali kritisiert: 7. »Im Traum erscheint Ben Ali ein Engel und erklärt ihm, er habe einen Wunsch frei. Der Präsident wünscht sich daraufhin eine Autobahn von Tunis in die argentinische Hauptstadt Buenos Aires. Der Engel antwortet, dass das trotz aller himmlischen Kraft unmöglich sei. Ben Ali gibt nach und sagt, dann wolle er für immer Ruhe vor der korrupten Familie seiner Frau haben. Daraufhin der Engel: Dann bauen wir doch lieber die Autobahn.«38
In dem Witz werden die Trabelsis ausdrücklich als korrupt bezeichnet, was mit der historischen Realität weitgehend übereinstimmt und im öffentlichen Diskurs tabuisiert wurde. Nichts durfte in den tunesischen Medien über die Untaten dieser Familie veröffentlicht werden. Das Lexem ›Korruption‹ (fasād) gehörte zu den Wortschatzeinheiten, die selten im öffentlichen Diskurs gebraucht wurden. Ben Ali wird im Witz als machtlos gegenüber dem Clan der Trabelsis dargestellt. Er sei unfähig, sie loszuwerden und bittet deswegen den Geist um Hilfe, obwohl er Präsident ist. Dieses Paradox macht Ben Ali auch zum impliziten Angriffsziel des Witzes. Seine Ratlosigkeit lässt das Machtverhältnis zugunsten der Trabelsis erscheinen und er sei demzufolge zu schwach, das Land zu regieren. Die zweite Art der Bezugnahme tunesischer Flüsterwitze auf andere Texte lässt sich in den sogenannten Wanderwitzen beobachten, die von Blasius wie folgt beschrieben werden: »Neben den eindeutig auf konkrete politische Systeme oder Ereignisse gerichteten Witzen treten Witze auf, die einen politischen Inhalt aufweisen, jedoch nicht an bestimmte Systeme oder Politiker gebunden sind, in wesentlichen Textelementen daher variiert werden können, um gegen beliebige Systeme oder Persönlichkeiten zu zielen.«39 Beispiele für diese Witze liefern zahlreiche politische Witze, die in der DDR kursierten und in einer ähnlichen Form gegen die NS-Diktatur 38 URL: http://www.contreloubli.net/geschichte_der_diktatur (zuletzt aufgerufen am 15.05.2013). 39 A. Blasius, Der politische Sprachwitz in der DDR. Eine linguistische Untersuchung (Fn. 11), S. 26.
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erzählt wurden. Wanderwitze in der DDR waren dabei keine Randerscheinung: »Nach heutigem Wissen handelt es sich bei etwa der Hälfte der einschlägigen DDR-Witze um Wanderwitze aus der NS-Zeit.«40 Das untersuchte Korpus tunesischer Flüsterwitze enthält Texte, die bereits in der DDR oder unter der NS-Diktatur in einer ähnlichen Form im Umlauf waren, von denen drei Beispiele exemplarisch in den folgenden Ausführungen mit Hilfe der dargestellten Typologisierung von Janich beschrieben werden. Da ein eindeutiger Zusammenhang zwischen den deutschen und den tunesischen Varianten nicht bewiesen werden kann, werden die deutschen Witze aufgrund ihrer Ähnlichkeit mit den tunesischen Witzen als mögliche Referenztexte betrachtet. Die Intertextualität, die diese Witztexte aufweisen, kann Janichs erstem Typ intertextueller Bezüge der Einzeltextreferenz zugeordnet werden, und als eine »unmarkierte UNVOLLSTÄNDIGE ÜBERNAHME (Zitat) eines Referenztextes« bezeichnet werden. Die Klassifizierung dieser Art von Intertextualität als Einzeltextreferenz kann dadurch begründet werden, dass ein Textexemplar Bezug auf ein anderes Textexemplar derselben Textsortenvariante, nämlich des politischen Witzes nimmt. Der unmarkierte Charakter der Übernahme bedeutet, dass diese Art von Phänotexten dem Rezipienten keine Hinweise darauf gibt, dass im Text eine intertextuelle Bezugnahme auf einen Referenztext besteht. Diese Phänotexte zeigen – der Terminologie von Holthuis folgend – keine intertextuellen Dispositionen. Unter diesem Begriff versteht Holthuis, »daß im Text bestimmte Intertextualitätssignale vorliegen, die den Rezipienten, soweit er diese als solche erkennt, dazu veranlassen können, nach Relationen zu anderen Texten zu suchen.«41 Die Intertextualität hat hier keine rezeptionsorientierte Funktion, wie etwa die Aufmerksamkeit des Rezipienten zu erregen oder ästhetisch zu wirken und bekommt damit keine kommunikative Relevanz. Eine markierte Übernahme durch einen Hinweis auf einen Referenztext würde auch der Authentizität des Witzes beim Rezipienten schaden. Außerdem weiß der Erzähler des Witzes in der Regel nicht, dass dieser Witz in einer anderen Variante in einem anderen historischen und politischen Kontext im Umlauf war. Angesichts der Übernahme von Elementen anderer Referenztexte stellt sich die Frage nach dem kreativen Wert dieser Witze. A. und J. Schiewe 40 B. Müller, Lachen gegen die Ohnmacht. DDR-Witze im Visier der Stasi, Berlin: Ch. Links Verlag 2016, S. 52. 41 S. Holthuis, Intertextualität. Aspekte einer rezeptionsorientierten Konzeption, Tübingen: Stauffenburg 1993, S. 33, zit. nach N. Janich, »Intertextualität und Text(sorten)vernetzung«, in: N. Janich (Hg.), Textlinguistik. 15 Einführungen (Fn. 5), S. 182.
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sehen in den Wanderwitzen »ein schöpferisches Moment des politischen Witzes«, das eine gewisse geistige Kompetenz erfordert: »Dennoch ist es bemerkenswert, wie bestimmte Witze als Muster genommen und dann für die Beschreibung und Kritik der eigenen Zustände umgewandelt, verändert, an die eigenen ›Bedürfnisse‹ angepasst werden. Auch darin liegt ein schöpferisches Moment des politischen Witzes.«42 Die Kreativität dieser Texte liegt in ihrer Fähigkeit, andere Texte zu verändern und an neue Umstände anzupassen. Witze, die aus einem fremden Kultur- und Sprachraum entlehnt werden, können unterschiedliche Maße an sprachlicher und inhaltlicher Anpassung erfordern. Drei ausgewählte tunesische Flüsterwitze, die in der DDR oder unter der NS-Diktatur in einer ähnlichen Form kursierten, zeigen unterschiedliche Grade der Anpassung unter Beibehaltung der den Lacheffekt auslösenden Pointe. Diese Witztexte werden im Folgenden ihren möglichen Referenztexten gegenübergestellt und analysiert. Das erste Witz-Paar zeigt einen hohen Grad an struktureller Ähnlichkeit. In beiden Varianten wird die Unbeliebtheit von zwei Politikern ausgedrückt und der Komikeffekt beruht auf der überraschenden Reaktion des Fahrers in der Pointe: Tunesische Variante 8. »Ben Ali und Leila sind mit dem Auto unterwegs. Ben Ali wirft 100 Dinar aus dem Fenster und sagt: Jetzt freuen sich 10 Tunesier. Leila wirft 1000 Dinar aus dem Fenster und sagt: Jetzt freuen sich 100 Tunesier. Darauf der Fahrer: Wenn ich das Auto gegen eine Wand fahren würde, würden sich 10 Millionen Tunesier freuen.«
DDR-Variante 9. »Pieck und Grotewohl fahren in einem Auto durch Ost-Berlin. Niemand erkennt sie. Da sagt Pieck: ›Wenn ich jetzt Zigaretten aus dem Fenster werfen würde, wären sofort alle Männer hinter mir.‹ Darauf sagt Grotewohl: ›Wenn ich jetzt Damenstrümpfe rauswerfen würde, liefen sofort alle Frauen hinter mir her.‹ Murmelt der Fahrer vor sich hin: ›Und wenn ich die beiden Pfeifen hinter mir hinauswürfe, hätte ich sofort das ganze Volk hinter mir.‹«43
42 A. Schiewe, J. Schiewe, Witzkultur in der DDR. Ein Beitrag zur Sprachkritik (Fn. 14), S. 49. 43 H. Schlechte, K. D. Schlechte, Witze bis zur Wende. 40 Jahre politischer Witz in der DDR (Fn. 10), S. 18.
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In der tunesischen Variante wird die Pointe dem Fahrer in den Mund gelegt. Hier wird auf den Wunsch des Todes der Machthaber als Grund für die Freude der Bevölkerung angespielt, was einen hohen Grad an Unbeliebtheit zum Ausdruck bringt. Zehn Millionen war etwa die Anzahl der gesamten Bevölkerung Tunesiens zur Zeit der Entstehung des Witzes. Es geht hier um eine Übertreibung, da die Wirklichkeit anders aussah. Der widerständige Diskurs im Witz benutzt hier das Stilmittel der Übertreibung in seinem Kampf gegen den öffentlichen Diskurs, der selber oft auf solche Mittel zugreift, um die Wirklichkeit einer angeblich totalen Zustimmung unter der Bevölkerung zu konstruieren. Die Wahlergebnisse mit mehr als 90 % der Stimmen sind das beste Beispiel für diese Manipulation. Dieser Witz thematisiert auch in seinem ersten Teil den Umgang des Präsidentenpaars mit finanziellen Ressourcen. Einerseits wird Geld aus dem Fenster geworfen, was für ein verschwenderisches Verhalten spricht. Andererseits kann der kleine Betrag, den sie verschenken möchten, zehn Dinar pro Person (etwa vier Euro), als ein Zeichen des Geizes und der Geringschätzung der materiellen Bedürfnisse der unter Armut leidenden Bürger/innen gedeutet werden. Die DDR-Variante des Witzes wurde Ende der 1940er Jahre und in den 1950er Jahren erzählt. Dieser Witz kritisiert die schlechte Wirtschafts- und Versorgungslage und drückt die Unbeliebtheit der damaligen DDR-Politiker Wilhelm Pieck und Otto Grotewohl44 aus. Das zweite Witz-Paar zeigt einen niedrigeren Grad an struktureller Ähnlichkeit als das erste. In beiden Varianten wird die Unbeliebtheit des jeweiligen Diktators in makabrer Weise ausgedrückt und der Komikeffekt benutzt im Unterschied zum vorigen Witz-Paar die Mehrdeutigkeit von zwei Wortschatzeinheiten mit ähnlichen denotativen und konnotativen Bedeutungen im Deutschen und im Arabischen, um den Lacheffekt auszulösen: Tunesische Variante 10. »Eines Nachts kann Ezzin nicht einschlafen. Er zieht sich um, geht zu seinem Fahrer und sagt: ›Komm, lass uns eine Rundfahrt durch Tunis machen, fahr mal nach Mellesine45.‹ Darauf der Fahrer: ›Mellesine ist ein gefährlicher Ort vor allem zu dieser späten Stunde in der Nacht.‹ Ezzin will trotzdem hinfahren. In Mellesine überfährt der Fahrer einen Hund. Da ärgert sich Ezzin und sagt zum Fahrer: ›Steig jetzt sofort 44 Wilhelm Pieck (1876–1960) war Parteivorsitzender der SED und von 1949 bis 1960 Präsident der DDR. Otto Grotewohl (1894–1964) war von 1949 bis 1964 Ministerpräsident der DDR. 45 Mellesine ist ein Armutsviertel von Tunis, das dicht bevölkert ist und eine relativ hohe Kriminalitätsrate hat.
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aus und entschuldige dich bei dem Besitzer des Hundes.‹ Der Fahrer steigt zögernd aus. Er klopft an eine offene Haustür, geht hinein und lässt Ezzin im Auto warten. Erst kurz vor dem Sonnenaufgang kommt der Fahrer betrunken zurück. Da fragt ihn Ezzin wütend: ›Was ist los mit dir, wo warst du denn?‹ Darauf antwortet der Fahrer: ›Ich war in einem Haus und sagte zu den Leuten dort, dass ich der Fahrer von Ezzin bin und der Hund tot ist. Da haben sie sich sehr über meinen Besuch gefreut und wollten unbedingt, dass ich zum Essen bleibe.‹«
NS-Variante 11. »Der Hund vom Gastwirt Zieger wurde von einem Auto totgefahren. Im Auto saßen aber Hitler, Göring und Goebbels, denen der Vorfall peinlich war, weil ihre Volkstümlichkeit dadurch hätte Schaden nehmen können. Goebbels wurde deshalb abgeordnet, um den Gastwirt mit passenden Worten zu versöhnen. Nach seiner Rückkehr berichtet Goebbels: ›Ich trat in die Gaststube, wandte mich zum Wirt und sagte nur: ›Heil Hitler! Der Hund ist tot!‹ Den Jubel hättet ihr hören sollen!‹«46
Im tunesischen Witztext beruht der komische Effekt auf einem Sprachspiel mit der Polysemie des arabischen Wortes kalb (Hund). Dieses Lexem ist im Arabischen mehrdeutig, es bezeichnet je nach Kontext entweder denotativ ein Tier oder konnotativ eine Person mit schlechtem Verhalten und negativen Charaktereigenschaften. In dieser negativen Konnotation wird das Wort kalb häufig metaphorisch als eins der stärksten und verletzenden Schimpfwörter in der Alltagskommunikation gebraucht. Die der negativen Tiermetapher zugrundeliegende Ähnlichkeitsbeziehung zwischen Hund als Tier und Hund als schlechter Person könnte darin liegen, dass der Hund in Tunesien und generell in der islamischen Kultur oft als unreines Tier betrachtet wird. Diese Tiermetapher kann aber durch den allgemeinen Kontrast zwischen Tier und Mensch erklärt werden. Die mit diesem Wort bezeichnete Person wird dadurch entmenscht und auf das Wesen eines unvernünftigen Tiers degradiert. Dieser Witz ist durch eine drastische Pointe gekennzeichnet, die darin besteht, dass die Hausbewohner verstanden haben, dass der Präsident gestorben ist und sie sich über dessen Tod gefreut haben. Dass sie mit Hund den Präsidenten assoziiert haben und nicht das tatsächlich überfahrene Tier, liegt darin, dass ihnen der Unfall nicht direkt mitgeteilt wurde. Dieses Kontextwissen ist dem Rezipienten aus dem ersten Teil 46 R. Wiener, Hinter vorgehaltener Hand: Eine Kulturgeschichte des politischen Witzes, 2. Aufl., Leipzig: Militzke 2009, S. 141.
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des Witzes bekannt und die unerwartete überraschende Interpretation der Hausbewohner soll bei ihm einen Lacheffekt auslösen. Die deutsche, aus der NS-Zeit überlieferte Variante des Witzes arbeitet auch mit der Polysemie des Wortes Hund und erzielt damit einen ähnlichen Effekt wie die tunesische Variante. Der mögliche Referenztext wurde für die Beschreibung und Kritik der Situation in Tunesien an die eigenen Zustände, aufgrund der semantischen Ähnlichkeit zwischen den Wörtern Hund und kalb problemlos angepasst, ohne den komischen Effekt zu verlieren. In beiden Witzen geht es um einen Hund, der von einem Auto überfahren wird, in dem die anzugreifende Person sitzt. Die tunesische Variante hat eine längere und spannendere Exposition und zeigt einen größeren dialogischen Teil. Im Gegensatz zur Exposition des deutschen Witzes, der über die Reaktion der Kunden einer Gaststube in einem beliebigen Ort in Deutschland erzählt, benutzt der tunesische Witz Stereotype über Bewohner von Armutsvierteln, indem er sie als gefährliche Menschen zeigt, die viel Alkohol trinken. Dass sie sich über den Tod des Präsidenten freuen, kann man gut nachvollziehen, da sie zu den Verlierern seines Regimes gehören. Das dritte Witz-Paar zeigt einen noch niedrigeren Grad an struktureller Ähnlichkeit als die ersten beiden Witz-Paare. Übernommen wurde nur die Grundidee der Pointe, die darin besteht, dass das Bild bzw. die Statue der angegriffenen Politiker als beliebtes Angriffsziel gebraucht wird. Tunesische Variante 12. »Ezzin findet vor seinem Palast drei arme Männer in einem miserablen Zustand. Er lässt sie zu ihm bringen, fragt sie nach ihrer Situation und gibt ihnen jeweils hunderttausend Dinar. Zwei Jahre später lässt er sie zu ihm bringen und entdeckt, dass zwei wieder in Armut leben, und nur einer es geschafft hat, reich zu werden. Er fragt sie, was sie mit dem Geld gemacht haben. ›Ich habe das Geld für Partys und Spaß ausgegeben. Ich habe auch ein Auto gekauft, mit dem ich einen Unfall gebaut habe‹, antwortet der erste. Der zweite antwortet: ›Mit dem Geld habe ich ein Unternehmen gegründet, das Pleite ging‹. Der dritte, der sehr reich geworden ist, sagt aber: ›Herr Präsident, ich habe Angst, Ihnen die Wahrheit zu erzählen‹. ›Erzähl ruhig und ich werde dir nichts antun‹, ermutigt ihn der Präsident. ›Mit dem Geld habe ich eine Statue von Ihnen gekauft, stellte sie in der Habib-Bourguiba-Straße aus und bekam von den Passanten Geld: 1 Dinar für einmal Anspucken und 5 Dinar für einmal Anpissen.‹«
DDR-Variante 13. »In einem Leipziger Kaufhaus betritt ein Mann die Bilder und Rahmenabteilung. Er betrachtet die ausgestellten Größen der Sowjetzone. 242
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›Wer ist das?‹ fragt er, auf ein Bild zeigend. ›Das ist Walter Ulbricht, unser Stellvertretender Ministerpräsident.‹ – ›Davon möchte ich 50 Stück. Und wer ist das?‹ – ›Das ist Otto Grotewohl, unser Ministerpräsident.‹ – ›Davon nehme ich auch 50 Stück. Und wer ist der Dicke da?‹ – ›Das ist Wilhelm Pieck, unser Staatspräsident.‹ – ›Von dem packen Sie mir 100 Stück ein.‹ Erstaunt fragt ein wenig später die Verkäuferin: ›Was wollen Sie nur mit den vielen Bildern? Wollen Sie die etwa bei sich aufhängen?‹« – ›Wo denken Sie hin? Ich habe eine Schießbude!‹«47
Die tunesische Variante bringt die Unbeliebtheit und Verachtung des Präsidenten in einer karikaturistischen Weise zum Ausdruck, die die Verletzung des Präsidenten aufs Äußerste treibt und ihn drastisch in der Form des schwarzen Humors erniedrigt. Dieser Witz kommt auch gut an, weil die Pointe dem Präsidenten die angebliche Wahrheit direkt ins Gesicht sagt, ohne Rücksicht auf seine Gefühle zu nehmen. Der Überraschungseffekt ist hier im Vergleich zur deutschen Variante sehr stark. Die deutsche Variante des Witzes hätte für Tunesien nicht gepasst. Schießbuden als Attraktion in der Freizeit sind den meisten Tunesier/innen unbekannt. Ein Wort mit einer semantischen Äquivalenz dafür ist in Tunesien nicht gängig. In der Pointe wird die Schießbude durch einen der bekanntesten Orte in Tunesien, nämlich die Hauptstraße von Tunis ersetzt und statt mit einem Gewehr zu schießen, wird die Statue von Ben Ali angespuckt und angepisst.
4. Fazit Resümierend kann man sagen, dass die analysierten Flüsterwitze, die in Tunesien in der Ära von Ben Ali kursierten, als ein widerständiger Diskurs im Sinne von Ulla Fix48 betrachtet werden können. Durch ihre unerlaubte Existenz, ihren Inhalt und ihre Form standen sie in einem klaren Widerspruch zum politischen öffentlichen Diskurs. Inhaltlich greifen die untersuchten Witztexte die Machthabenden mittels des Humors an und üben Kritik an den herrschenden Verhältnissen. Was die Form anbelangt, so zeigen die Analyseergebnisse zu den beiden fokussierten linguistischen Aspekten, nämlich der lexikalischen Mehrdeutigkeit und der Intertextualität, eine kreative Vielfalt der Formen. Der Gebrauch der lexikalischen Mehrdeutigkeit als Auslöser des komischen 47 H. Schlechte, K. D. Schlechte, Witze bis zur Wende. 40 Jahre politischer Witz in der DDR (Fn. 10), S. 17 f. 48 U. Fix, »Der unkonventionelle Gebrauch von Textmustern im widerständigen Diskurs. Das Beispiel Samisdat«, in: U. Fix, Sprache, Sprachgebrauch und Diskurse in der DDR. Ausgewählte Aufsätze (Fn. 4), S. 451.
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Effektes in der Pointe beruht auf der Aktualisierung der beiden Bedeutungen eines Lexems oder eines Phrasems beim Rezipienten. Die Analyse konnte den sprachspielerischen Gebrauch der usuellen sowie der okkasionellen Polysemie aufweisen. Ein beliebtes Verfahren ist auch das Benutzen der Mehrdeutigkeit von Wörtern, deren zweite Bedeutung eine umgangssprachlich metaphorische, vor allem tiermetaphorische ist. Der sprachspielerische Gebrauch anderer Bedeutungsrelationen, die in Witzen benutzt werden können, wie Synonymie, Homonymie und Antonymie konnte nicht untersucht werden, da die gesammelten Witze keine Beispiele dafür lieferten. Was die Intertextualität anbelangt, so ließen sich kreative intertextuelle Bezüge mit dem textlinguistischen Ansatz von Janich beschreiben. Fälle von Systemreferenz und Einzeltextreferenz konnten belegt werden. Die Systemreferenz ließ sich an einem einzigen Beispiel mit einem Bezug auf die Textsorte Märchen feststellen. Am gleichen Beispiel konnte ein Typ der Einzeltextreferenz durch Anspielung auf das Märchen Aladin und die Wunderlampe beobachtet werden. Viel häufiger sind die Fälle von Einzeltextreferenz durch »unmarkierte UNVOLLSTÄNDIGE ÜBERNAHME (Zitat) eines Referenztextes«, die sich in den sogenannten Wanderwitzen manifestierten, deren kreativer Charakter in der Art und Weise ihrer Anpassung an unterschiedliche Verhältnisse besteht.
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Sprechen im »Reich des Schweigens« Subversive Erzählstrategien syrischer Autoren am Beispiel von Nihād Sī�rī�s und Zakarī�yā Tāmir 1. Das »Reich des Schweigens«: Syrien unter der Baath-Partei1 Die Legitimation arabischer postkolonialer Regime wurde nach der ›Niederlage‹ im Juni 19672 von vielen Intellektuellen in Frage gestellt. Die ›Niederlage‹ löste eine Welle von Kritik und Selbstkritik3 aus, die unterschiedliche literarische, politische und philosophische Formen angenommen hat. Vor diesem Hintergrund wurde nach der eigenen Verantwortung gefragt. Zugleich wurde das ästhetisch-politische Konzept einer ›engagierten Literatur‹ (adab multazim), welches in den frühen fünfziger und sechziger Jahren herrschte, kritisch hinterfragt und für eine Neubestimmung des Verhältnisses zwischen Politik und Ästhetik plädiert.4 Entscheidend für die Verbreitung dieses ideologisch vorherrschenden 1 2
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Die Arabisch-Sozialistische Partei der Wiedererweckung (hizb al-baʿṯ al-ʿarabī al-ištirākī) ist der syrische Ableger der Baath-Partei. Es handelt sich um den Krieg – bekannt als der Sechstagekrieg – zwischen den Armeen Ägyptens, Syriens und Jordaniens und Israel. Als kritische Reflexion über die Niederlage gilt das Buch von Ṣādiq Ğalāl al-ʿAẓm Die Selbstkritik nach der Niederlage (an-Naqd aḏ-ḏātī baʿd al-hazīma) als Pionierarbeit. Vgl. Ṣ. Ğ. al-ʿAẓm, an-Naqd aḏ-ḏātī baʿd al-hazīma, Bairūt: Dār aṭ-Ṭalīʿa 1968. Für die englische Übersetzung vgl. S. al-Azm, Self-Criticism After the Defeat, London: Saqi Books 2011. Vgl. Ṣ. Ğ. al-ʿAẓm, an-Naqd aḏ-ḏātī baʿd al-hazīma (Fn. 2). Dieses Buch ist ein Jahr nach der Niederlage 1968 erschienen. Im Bereich der Literaturkritik sei hier auf die Auseinandersetzung des al-Ādāb-Herausgebers Suhail Idrīs hingewiesen. Vgl. Ders., »Adab mā baʿd an-naksa« (Die Literatur nach der Niederlage), in: al-Ādāb, 16 (Januar 1968), S. 1 f. Zum Konzept von iltizām (Engagement) vgl. V. Klemm, Literarisches Engagement im arabischen Nahen Osten. Konzepte und Debatten, Würzburg: Ergon 1998. Für einen aktuellen Überblick über den Diskurs zum ›Engagement‹ in der arabischen Literatur und seiner Entwicklung seit den vierziger Jahren bis zu den arabischen Umbrüchen 2011 vgl. F. Pannewick und G. Khalil (eds.), Commitment and Beyond: Reflections on/of the Political in Arabic Literature since the 1940s, Wiesbaden: Reichert Verlag 2015.
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ästhetisch-politischen Konzepts einer engagierten Literatur war die in Beirut erscheinende nationalistische Zeitschrift al-Ādāb (Literaturen). Deren Herausgeber Suhail Idrīs fühlte sich einer ›Literatur des Engagements‹5 (adab al-iltizām) verpflichtet. Dezidiert forderte er einen Beitrag der patriotischen Literaten zur Verwirklichung der nationalen Projekte einer arabischen Einheit (al-waḥda al-ʿarabiyya) und die Umsetzung eines arabischen Sozialismus (ištirākiyya ʿarabiyya). Als Gegenentwurf zu einer ›engagierten Literatur‹ erschienen die beiden avantgardistischen Zeitschriften Šiʿr (Dichtung, 1957–1970) und Mawāqif (Stellungnahmen, 1968–1994) in Beirut. In ihnen setzte man sich schonungslos mit dem von Sartre übernommenen Konzept des ›Engagements‹ (iltizām) auseinander und propagierte Freiheit für den Literaten und eine avantgardistische autonome Ästhetik, die sich allein dem Menschen »in seinem Schmerz und seiner Freude […], in Freiheit und Versklavung, Armseligkeit und Größe, Leben und Tod«6 widmen sollte. Diese Abkehr von den Zielen eines arabischen Nationalismus und dessen Kollektiventwürfen wurde von den arabischen Regimen als Angriff gedeutet und führte zur Anfeindung der unter diesem ästhetischen Paradigmenwechsel agierenden arabischen avantgardistischen Intellektuellen, nicht selten zu ihrer Diskreditierung und letztendlich auch zur Einstellung der beiden theoretisch anspruchsvollen Zeitschriftenprojekte Šiʿr und Mawāqif.7 In Syrien, wo seit 1963 das arabische sozialistische Baath-Regime regiert, definierte sich das Konzept des Engagements (iltizām) nach der etablierten Ästhetik des sozialistischen Realismus als ›verpflichtete Literatur‹ (al-adab al-multazim),8 in der sich die Realität als Sozialkampf der Arbeiter und Bauern gegen die Bourgeoisie manifestiert. Literarische Texte sowie Autoren, die sich nicht dem Ideal einer sozialistischen Literaturtheorie unterwarfen, wurden von der Literaturkritik als ›bourgeois‹ beurteilt und abgestraft. Die Niederlage von 1967 und die 5 6
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Vgl. V. Klemm, Literarisches Engagement im arabischen Nahen Osten (Fn. 4), S. 67. Y. al-Ḫāl, »Aḫbār wa-qaḍāyā fī ṯalāṯati ašhur«, in: Šiʿr, 1 (April 1957), S. 99. Vgl. ebenfalls V. Klemm, Literarisches Engagement im arabischen Nahen Osten (Fn. 4), S. 71. Dasselbe geschah in Marokko mit der Zeitschrift Souffles. Vgl. dazu den Beitrag von K. Sefrioui in diesem Band. Um den Begriff iltizām entwickelten sich zwei ideologisch-politische Lager, die den Begriff für sich in Anspruch nahmen und davon ausgehend das Engagement des Literaten in seiner Gesellschaft bestimmten. Während im nationalistischen Lager um die Zeitschrift al-Ādāb und deren Herausgeber Suhail Idrīs der Ausdruck ›Literatur des Engagements‹ (adab al-iltizām) geprägt wurde, definierten Anhänger des marxistisch-sozialistischen Lagers ihr ästhetisch-politisches Konzept als ›verpflichtete Literatur‹ (al-adab al-multazim). Vgl. V. Klemm, Literarisches Engagement im arabischen Nahen Osten (Fn. 4), S. 63–67.
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Machtübernahme 1970 durch Hafiz al-Assad (Ḥāfiẓ al-Asad) hatten weitere Konsequenzen für das gesamte kulturelle Leben in Syrien.9 Kunst und Literatur folgten fortan nicht nur den Kriterien einer sozialistischen Literatur, sondern auch den Bedürfnissen eines Führerkults, der sich mit der Machtergreifung durch Hafiz al-Assad als »Assad-Kult«10 in Syrien etablierte und zu dessen Legitimation Kunst und Literatur beitragen sollte. Während der Regierungszeit von Hafiz al-Assad und später (d. h. ab 2000) seines Sohnes Baschar (Baššār) transformierte sich Syrien zu einem »Reich des Schweigens«.11 Wer nicht die Sprache des Baath-Regimes sprach, musste schweigen oder wurde zum Schweigen gebracht.12 Indem dieser Beitrag auf das Verhältnis von Sprechen und Schweigen in ausgewählten Werken zweier syrischer Autoren – Nihad Sirin (Nihād Sīrīs, geb. 1950) und Sakarija Tamer (Zakarīyā Tāmir, geb. 1930)13 9 10 11
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Vgl. A. Aghsain, »Politisches Theater in Syrien: Das Zimmertheater«, in: Inamo, 74 (2013), S. 18–20. Vgl. L. Wedeen, Ambiguities of Domination. Politics, Rhetoric, and Symbols in Contemporary Syria, Chicago: Univ. of Chicago Press 1999, S. 21–24. Die Bezeichnung Syrien als »Reich des Schweigens« hat sich in den letzten vierzig Jahren etabliert und geht aus den verschiedenen literarischen und intellektuellen Beiträgen hervor, auf die in diesem Aufsatz exemplarisch verwiesen wird. Als der syrische Intellektuelle und Dichter Faraǧ Bayraqdār nach 13 Jahren Gefangenschaft (er wurde für 15 Jahre Gefängnis verurteilt) 2000 entlassen wurde, schrieb er eine Art Gefängnisblatt mit dem Titel Ḫiyānāt al-luġa wa-ṣ-ṣamt (Der Verrat der Sprache und des Schweigens), in dem er das Schweigen einer ganzen Gesellschaft scharf verurteilte, während tausende ihrer unschuldigen Mitglieder in den Gefängnissen des Baath-Regimes tagtäglich gefoltert und misshandelt wurden (und werden) (vgl. F. Bayraqdār, Ḫiyānāt al-luġa wa-ṣ-ṣamt, Bairūt: al-ğadīd 2006). Während der arabischen Umbrüche 2011 schrieb der syrische Oppositionelle Riyyāḍ Turk, der über 20 Jahre in syrischen Gefängnissen verbracht hatte, in der Zeitung al-Quds al-ʿArabī (11.03.2011), dass die »Zeiten des Schweigens vorüber sind, und dass Syrien nicht das Reich des Schweigens bleiben darf.« 2014 produziert der Fernsehkanal al-Jazeera einen zweiteiligen Dokumentarfilm mit dem Titel Mamlakat aṣ-ṣamt (Das Reich des Schweigens), in dem der Aufstieg der Baath-Partei in Syrien dokumentiert wird. Vgl. URL: https://www.youtube.com/watch?v=fz0GjHBZtPo und URL: https://www. youtube.com/watch?v=C3TqnLy7z6w, zuletzt aufgerufen am 13.01.2018. Vgl. N. Sīrīs, URL: http://www.coburg.de/Portaldata/2/Resources/CO_Siris_ Rede.pdf, zuletzt aufgerufen am 07.12.2016. Es handelt sich um die Dankesrede des syrischen Romanciers Nihād Siris anlässlich der Preisverleihung Friederich Rückerts, Coburg, den 21.06.2013. Ausführlich wird in diesem Beitrag vor allem auf Nihād Sīrīs' Roman aṣṢamt wa-ṣ-ṣaẖab (2004 in Beirut) eingegangen. Zur deutschen Übersetzung vgl. N. Siris, Ali Hassans Intrige. Aus dem Arabischen von Regina Karachouli, Basel: Lenos Verlag 2008 und Z. Tāmirs Kurzgeschichte Šahrayār
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eingeht, beleuchtet er die politisch-gesellschaftliche Situation Syriens nach der Machtübernahme durch Hafiz al-Assad bis zu den Protesten im Jahr 2011. Es wird davon ausgegangen, dass während der Herrschaftszeit der Baath-Partei in Syrien Zensur und Repression die herrschende Praxis des Regimes gegen seine Gegner war, die sich nicht zuletzt im kollektiven Schweigen der Individuen der Gesellschaft manifestierte. Deshalb avancierte das Phänomen ›Schweigen‹ zum wichtigsten Aspekt in der syrischen Literatur, die in diesem Zusammenhang als ›Literatur des Schweigens‹ beschrieben werden kann. Schweigen wird jedoch nicht immer dichotomisch zum Sprechen aufgefasst. So erhält Schweigen einen subversiven Charakter etwa dann, wenn Individuen sich weigern, sich die Sprache der herrschenden Ideologie anzueignen. Demzufolge sind hier sowohl ›Schweigen‹ als auch ›Sprechen‹ im syrischen Kontext ambivalent aufzufassen und müssen differenziert betrachtet werden. Für einen theoretischen Rahmen, der es erlaubt, verschiedene Modi und Funktionen von ›Schweigen‹ und ›Sprechen‹ zu erfassen, bieten sich drei Schriften des syrisch-libanesischen Dichters und Intellektuellen ʿAlī Aḥmad Saʿīd (geb. 1930, bekannt unter dem Künstlernamen Adonis14) an: Der schwarze Ozean (al-Muḥīṭ al-aswad),15 Der Kopf der Sprache (ist) der Körper der Wüste (Raʾs al-luġa ğismu aṣ-ṣaḥrāʾ)16 und System und Sprechen (an-Niẓām wa-l-kalām)17 sowie die Abhandlung des tunesischen Philosophen Fethi Meskini (geb. 1961) Der andere Islam. Kultur, Identität und Demokratie.18 Sowohl Adonis’ als auch Meskinis Auseinandersetzungen mit dem Thema Zensur in der arabischen Welt liegen die Erfahrungen arabischer
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wa-Šahrazād, vgl. S. Tamer, Die Hinrichtung des Todes. Unbekannte Geschichten von bekannten Figuren. Aus dem Arabischen von H. Fähndrich und U. Stehli-Werbeck, Basel: Lenos-Verlag 2004, S. 31–35. Wichtig ist in diesem Zusammenhang auf die ambivalente Haltung von Adonis hinzuweisen, der in seinen zahlreichen theoretischen und literarischen Schriften zur Befreiung des Individuums in den arabischen Gesellschaften aufrief. Jedoch lehnte er die Proteste in Syrien ab, da sie – so argumentierte er – ihren Ausgang von den Moscheen nahmen. Somit stand Adonis' politische Stellungnahme in Diskrepanz zu seinen theoretischen Freiheitsüberlegungen. Vgl. Adonis, al-Muḥīṭ al-aswad (Der schwarze Ozean), Bairūt: Dār as-Sāqī 2005. Vgl. Adonis, Raʾs al-luġa ğismu aṣ-ṣaḥrāʾ (Der Kopf der Sprache [ist] der Körper der Wüste), Bairūt: Dār as-Sāqī 2008. Vgl. Adonis, an-Niẓām wa-l-kalām (System und Sprechen), Bairūt: Dār alĀdāb 1993. Vgl. F. Meskini, »Zur Identität der Revolution«, in: ders., Der andere Islam. Kultur, Identität und Demokratie, hg. v. S. Dhouib und H. J. Sandkühler, Frankfurt/M.: Peter Lang 2015, S. 127–152. Ich danke Sarhan Dhouib,
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Diktaturen seit den siebziger Jahren und ihre unterschiedlichen Manifestationen im Bereich der Kultur, Gesellschaft und Politik zugrunde. Während Adonis seine kulturkritischen Überlegungen bereits vor 2011 niederschrieb, zieht Meskini hingegen die arabischen Umbrüche von 2011 als Ausgangspunkt für seine Analyse des »öffentlichen Schweigens«19 (aṣ-ṣamt al-ʿumūmī) heran, welches den Individuen in den arabischen Ländern seit der Gründung der Nationalstaaten bzw. Unabhängigkeitsstaaten (dawlat al-istiqlāl) aufgezwungen wird.
2. Schweigen oder Sprechen? Theoretische Zugänge 2.1 Adonis: Sprechen und Freiheit In seinen kulturkritischen Schriften geht Adonis auf das Verhältnis von Sprache, Sprechen und dem Wort zum Schweigen ein. Adonis betrachtet das ›Wort‹ (al-kalima) nicht nur als ein Ausdrucksmittel, sondern vielmehr als einen ›Akt der Befreiung‹ (fiʿl taḥarrur), der sich in der triadischen Beziehung des Sprechenden zu sich, dem Anderen und der Welt manifestiert.20 Adonis wirft die Frage auf, weshalb das Schreiben und somit das Wort eine polizeiliche Angelegenheit seien. Denn in der herrschenden kulturellen Ordnung der arabischen Welt wird das Wort entweder als ›Überwachen‹ (ḥirāsa) oder ›Verletzung‹ (iḫlāl) verstanden und erfüllt bloß eine politische bzw. eine ›Sicherheitsfunktion‹ (waẓīfa amniyya).21 Der Politik mit ihrem ›Sicherheitswillen‹ (irāda amniyya) wirft Adonis vor, eine Sklavengesellschaft zu generieren, in der Unterwerfung und Unterdrückung zum Alltag gehören. Auch wenn Adonis von einem Verbot des freien Sprechens spricht, suggeriert er, dass eine andere Form der Sprachverwendung in autoritären Staaten erlaubt sei, die in diesem Zusammenhang als »restitutives Sprechen« bezeichnet werden kann. »Restitutives Sprechen«22 hinterfragt nicht kritisch eine durch Sprache konstituierte kulturelle Ordnung
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der mir das arabische Original von Meskinis Beitrag Zur Identität der Revolution zur Verfügung gestellt hat. Vgl., ebd., S. 135. Vgl. Adonis, al-Muḥīṭ al-aswad (Der schwarze Ozean) (Fn. 18), S. 229. Vgl., ebd. In Anlehnung an den russischen Literaturwissenschaftler J. M. Lotman und seiner Differenzierung zwischen narrativen Texten, in denen Grenzüberschreitung vollzogen wird und anderen, in denen dies scheitert, sprechen M. Martinez und M. Scheffel von »restitutiven« und »revolutionären Texten«. Vgl. M. Martinez u. M. Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, München: C. H. Beck 2016, S. 161.
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oder überschreitet die Grenzen dieser Ordnung, sondern sorgt vielmehr für ihre Erhaltung.23 Adonis formuliert den qualitativen Unterschied zwischen einem restitutiven und einem subversiven Sprechen in einem Aphorismus wie folgt: »Wer spricht, weiß nichts und wer weiß, schweigt« (man yatakallam lā yaʿrif wa man yaʿrif lā yatakallam).24 Die Dichotomien, die Adonis hier aufbaut, weisen auf einen politischen Kontext hin, in dem Sprechen kein Wissen voraussetzt, sondern Wissen vielmehr in Schweigen mündet. So wird der Gegensatz zwischen wissenden versus nicht-wissenden bzw. sprechenden versus schweigenden Menschen aufgehoben und neu geordnet. In einem repressiven politischen Klima werden Nicht-Wissende zu einem homogenen Kollektiv, dessen Sprechen politisch instrumentalisiert wird, während wissende Individuen entweder zum Schweigen gebracht werden oder in Schweigen flüchten, um sich vor Repressalien des autoritären Regimes zu schützen. Da das Sprechen (im Sinne eines Regimes) hier bloß ein Herrschaftssprechen ist und allein der Legitimation der Machtpraxis dient, deutet das Schweigen der Regimekritiker hingegen auf ein Erkennen und Sich-Weigern hin, an dieser teilzuhaben.25 Es ist somit als eine Form des stummen Protestes26 zu interpretieren. Verharren aber Dissidenten und ein Großteil der Gesellschaft aus Angst im Schweigen, so führt es zu dem, was von Meskini als »öffentliches Schweigen« charakterisiert wird. 2.2 Meskini: Der Sicherheitsstaat und das öffentliche Schweigen Meskini beschäftigt sich vor dem Hintergrund der arabischen Umbrüche bzw. der tunesischen Revolution retrospektiv mit dem Thema ›Schweigen‹ in autoritären arabischen Regimen. Er spricht von einem »öffentlichen Schweigen« und analysiert es als Charakteristikum der modernen arabischen Nationalstaaten der Postkolonialzeit. Diese Staaten seien 23 Mit Sprachlenkung und Sprachnormierung innerhalb autoritärer politischer Systeme befassen sich vor allem die Beiträge von B. Bock, S. Pappert und I. Khiari-Loch im ersten Teil dieses Bandes. 24 Adonis, Raʾs al-luġa ğismu aṣ-ṣaḥrāʾ (Der Kopf der Sprache [ist] der Körper der Wüste) (Fn. 16), S. 145. 25 Zur subversiven Funktion des Schweigens vgl. die Beiträge von S. Schmidt, U. Fix und S. Dhouib in diesem Band. 26 In der Türkei wurden solche Formen des stummen Protestes auf dem Taksim Platz verwendet, als türkische Aktivisten sich 2013 im öffentlichen Raum versammelten und schweigend gegen den Staat demonstrierten. Diese Form des Protestes wirkte subversiv, da die Sicherheitskräfte nicht wussten, wie sie darauf reagieren sollten. Aktivisten konnten dadurch auf sich aufmerksam machen und die Sicherheitskräfte irritieren, die die Proteste meistens mit Gewalt beendeten.
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allesamt bestrebt, eine »Staatsidentität« mit dem sicherheitsspezifischen Merkmal aufzubauen, »die beherrschten Völker in eine ›Nation‹, ein ›Vaterland‹ oder ein ›Volk‹ umzuwandeln, d. h. in ein symbolisches Gebilde, das die Persönlichkeit eines ›Führers‹ widerspiegelt.«27 Meskini stellt eine Verbindung zwischen dem Streben des Sicherheitsstaats, den eigenen ›Bürgerinnen‹ und ›Bürgern‹ bzw. Untertanen eine sicherheitsspezifische Identität aufzuzwingen, und dem »öffentlichen Schweigen« her. Denn »die Individuen wurden sämtlich in Säcke mit Identitätsetiketten gesteckt und vom zentralen durchorganisierten Unterdrückungssystem überwacht, das der langfristigen Kontrolle, des Ausspionierens und der Datenarchivierung mit allen Mitteln (Akten, Nummern, Aufsicht und Abhörmaßnahmen) fähig ist.«28 Durch solche Sicherheitsmaßnahmen garantiert sich der Staat den Zugriff auf die Identität von Individuen, die sich folglich weder der Kontrolle noch der Verfolgung und der Bestrafung des repressiven politischen Systems entziehen können. Meskini schlussfolgert, dass ab diesem Moment niemand mehr sicher sei und Widerständige »auf Lebenszeit zu öffentlichem Schweigen bzw. Gehorsam gegenüber dem Sicherheitsapparat des mit dieser Identität verkoppelten Herrschers«29 verurteilt seien. Dennoch formiere sich eine subtile Form des Widerstands gegen diese Führungssysteme, die Meskini als »die Sprache des öffentlichen Schweigens« bezeichnet und welche sich als Ausdruck der Wut des Volkes in den symbolischen Formen wie Kunst, Kultur, Religion und Denken manifestiere. Damit wird Literatur und Kunst allgemein zum Rückzugsort des Protests, wo das Schweigen gebrochen wird und das arabische Individuum eine Stimme erhält.
3. Das Narrativ vom Schweigen in der syrischen Literatur Ausgehend von Aristoteles’ Definition des Menschen als ein politisches Wesen, das »eine Sprache besitzt, die das Gerechte und Ungerechte zu einer Sache der Gemeinschaft macht«,30 konstatiert Jacques Rancière, dass in verschiedenen Epochen bestimmte Kategorien von Personen nicht als politische Wesen anerkannt werden, indem man ihnen die Fähigkeit 27 F. Meskini, Der andere Islam. Kultur, Identität und Demokratie (Fn. 18), S. 130. 28 Ebd., S. 132. 29 Ebd. 30 J. Rancière, Das Unbehagen in der Ästhetik, Wien: Passagen Verlag 2008, S. 34.
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eines vernünftigen Sprechens abstreitet.31 In autoritären Regimen fungiert das Schweigen als Mechanismus, sprechende Individuen zu unterwerfen und ihnen das Recht auf ein politisches Dasein abzusprechen. Eine solche Form der Entpolitisierung von Individuen äußert sich als signifikantes Charakteristikum der Machtpraxis arabischer Regime, das die algerische Autorin Aḥlām Mustaġānmī in ihrem Roman Das Gedächtnis des Körpers betont: »Der arabische Mensch verbringt die ersten Jahre seines Lebens damit, das Sprechen zu erlernen. Doch für den Rest seines Lebens bringen ihm die arabischen Regime das Schweigen bei.«32 Bereits drei Jahre nach der Machtübernahme durch Hafiz al-Assad erhält diese Dichotomie von Schweigen und Sprechen eine zentrale Stellung innerhalb der ästhetisch-künstlerischen Arbeiten syrischer Künstler und Autoren. In seiner berühmten Komödie Das Oktoberdorf (Ḍai‘at tišrīn) von 1973 schildert der syrische Dichter, Romanautor und Dramatiker Muḥammad al-Māġūṭ (1934–2006), wie der autoritäre Staat in Syrien seine ›Bürger‹ terrorisiert.33 Die Figur Ġawwār wird wegen ihres Schweigens verhaftet und verhört, da der Staat ihre politische Gesinnung nicht einzuschätzen vermag. In seiner Paranoia betrachtet das repressive Baath-Regime jedes ›Individuum‹, das nicht an seiner politischen Rhetorik partizipiert als einen potenziellen Feind. Schweigen wirkt in diesem Kontext subversiv, da Zensur nur dann funktioniert, wenn sich Dissidenten am öffentlichen Diskurs beteiligen, in dem der Sprache die Funktion von »Überwachen« (ḥirāsa)34 zukommt, wie es Adonis formulierte. Ġawwār wird gefoltert, um zu gestehen, was er nicht gesagt hat, aber vielleicht denkt. Das ambivalente Verhältnis des Systems zum Schweigen und Sprechen akzentuiert al-Māġūṭ durch seine Figur Ġawwār, wenn dieser während des Verhörs feststellt: »Egal ob man schweigt oder spricht, in beiden Fällen hat man ein Problem«,35 denn »ich bin ein Nichts, ich bin der wertlose Bürger.«36 Schweigen als Metapher für die fehlende Freiheitsrede einer gesamten Gesellschaft stellt die syrische Autorin Nādyā Ḫūst in ihrem 1997 veröffentlichen Kurzgeschichtenband Das Reich des Schweigens (Mamlakat aṣ-ṣamt)37 dar. Darin erzählt sie die Geschichte einer Gesellschaft 31 Vgl., ebd., S. 34. 32 A. Mustaġānmī, Ḏ̣ākirat al-ğasad (Das Gedächtnis des Körpers), Bairūt: Naufal 2013, S. 27. 33 Mit dem Werk von M. al-Māġūṭ beschäftigt sich der Beitrag von L. Tramontini und S. Milich im dritten Teil dieses Bandes. 34 Vgl. Adonis, al-Muḥīṭ al-aswad (Der schwarze Ozean) (Fn. 15), S. 229. 35 Vgl. Daiʿat Tišrīn: URL: https://www.youtube.com/watch?v=F56ldaDrVe0, insbes. ab Minute 140, zuletzt aufgerufen am 07.12.2016. 36 Ebd. Hier beziehe ich mich vor allem auf den Abschnitt ab Minute 140. 37 Vgl. N. Ḫūst, »Ṯawra fī mamlakat aṣ-ṣamt«, 12.01.2009, in: URL: http:// www.syrianstory.com/amis-4-5.htm, zuletzt aufgerufen am 07.12.2016.
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aus Toten, deren Lebensraum ein Friedhof ist. Die erste Geschichte in diesem Band trägt den Titel Eine Revolution im Reich des Schweigens ( Ṯawra fī mamlakat aṣ-ṣamt). Bereits zu Beginn der Kurzgeschichte erscheint ein Mann und ruft die Toten auf: »Oh ihr Toten, steht auf, steht auf! […] Es darf nicht mehr geschwiegen werden, oh ihr Toten, steht auf, steht auf!«38 Die Charakterisierung einer Gesellschaft als »Reich des Schweigens«, in der aber revoltiert werden muss, weist auf eine Herrschaftsordnung hin, in der dem Schweigen eine regulative Funktion zukommt. Die Individuen dieser Gesellschaft sind Tote und sind zum Schweigen verurteilt. Deshalb richtet sich auch ihr Aufstand gegen das Schweigen und zielt darauf, das Sprechen wieder zu erlangen. Denn nur durch den Akt der Selbst-Versprachlichung, so Adonis, erlange das Individuum seine Freiheit, bleibe ihm diese aber verwehrt, so sei es bloß ein lebender Toter.39 Im Reich des Schweigens erklärt die Erzählerin, dass das Schweigen der Toten nicht von der Angst herrühre, sondern von dem Wunsch nach Ruhe und Stille. Ihr Schweigen erscheint zuerst als eine freie Entscheidung, entpuppt sich später jedoch als Illusion aufgrund der drückenden Lebensbedingungen, unter denen die lebenden Menschen leiden. Denn die Toten können sich dadurch vor der Gefahr retten, der die Lebenden ausgesetzt sind, da sie geschlagen und gefoltert werden und weder arbeiten noch reisen dürfen.40 Im Kontext des ›Damaszener Frühlings‹ (rabīʿ dimašq), der dem Tod vom Präsidenten Hafiz al-Assad (2000) und dem Machtwechsel zu seinem Sohn Baschar folgt, schöpfen zahlreiche syrische Intellektuelle, Künstler und Schriftsteller Hoffnung auf Veränderung und Demokratie. Im »Reich des Schweigens« herrscht plötzlich ein reges Sprechen über das Recht auf politische Partizipation, Menschenrechte und Redefreiheit. Die neu gegründeten Foren (muntadayāt) dienen als Plattform für solche Diskussionen.41 Doch der ›Damaszener Frühling‹ ist von kurzer Dauer – die Zensur greift erneut ein, stellt die alte Ordnung wieder her und ihr folgt eine Restauration des Schweigens: »die hohle Stimme der Macht [dröhnte, A. A.] umso lauter und unangenehmer. Syrien wurde unter dem Sohn wieder so, wie es schon unter dem Vater gewesen war: Ein Land von Schweigen und Lärm«,42 wie Nihād Sīrīs43 die Situation 38 39 40 41
Ebd. (Eigene Übersetzung). Vgl. Adonis, al-Muḥīṭ al-aswad (Der schwarze Ozean) (Fn. 15), S. 230. Vgl. N. Ḫūst, »Ṯawra fī mamlakat aṣ-ṣamt« (Fn. 37). Vgl. M. Kahf, »The Silence of Contemporary Syrian Literature«, in: World Literature Today, 2006, S. 236. 42 Aus Sīrīs Rede anlässlich der Preisverleihung Friederich Rückerts, in: URL: http://www.coburg.de/Portaldata/2/Resources/CO_Siris_Rede.pdf (Fn. 12). 43 Zu Nihād Sīrīs siehe den Eintrag von F. Pannewick, in: Munzinger Online/ Kindlers Literatur Lexikon in 18 Bänden, 3., völlig neu bearbeitete Auflage
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nach 2001 beschreibt, die auch seinem im Folgenden näher betrachteten Roman Das Schweigen und das Getöse (aṣ-Ṣamt wa aṣ-ṣaḫab) (2004) als Folie dient.
4. Subversives Schweigen In seinem Roman Das Schweigen und das Getöse44 stellt Sīrīs das Thema des Schweigens in der syrischen Gesellschaft ins Zentrum. Bereits im Titel nimmt das Wort Schweigen eine Zentralstellung ein und wird dem Lärm gegenübergestellt. Im Roman erzählt Sīrīs die Geschichte seines Protagonisten Fatḥī Šīn, Schriftsteller und Moderator einer literarischen Sendung, der eines Tages mit dem Vorwurf konfrontiert wird, dass er in seiner Sendung »während der ganzen langen Zeit kein einziges Mal den Namen des Großen Führers erwähnt hätte.«45 Als er Rat bei seinem Direktor ersucht, schlägt ihm dieser vor, »einen literarischen Wettbewerb zum Thema ›Der Große Führer und seine Errungenschaften‹ aus[zu]schreiben.«46 Šīn lehnt diesen Vorschlag ab und wird daraufhin entlassen. Eine Reihe von Maßnahmen bringen Šīn endgültig zum Schweigen: Er darf weder publizieren noch öffentlich auftreten, seine Bücher werden denunziert und seine Mitgliedschaft im Verband für Schriftsteller und Journalisten wird gekündigt.47 Sīrīs nimmt das Schicksal und die persönliche Situation des Schriftstellers Šīn als Ausgangspunkt, um am »zwanzigsten Jahrestag der Machtübernahme durch den Großen Führer«,48 eine Analyse der gesamten politischen und gesellschaftlichen Situation seines Landes vorzunehmen. Dabei dienen ihm die beiden Konzepte des Schweigens und des Getöses als Grundlage für seine Reflexion. Denn während Šīn schweigen muss, dröhnt die »Stimme der Macht«, der Masse (al-ǧamāhīr) auf der Straße. Was auf den ersten Blick als Ziel des Regimes scheint, nämlich Šīn zum endgültigen Schweigen zu bringen, erweist sich im Nachhinein als sekundär. In einem Gespräch weist ihn Lamā, seine Geliebte, auf die Absicht des Regimes hin, das ihn nicht als »Stockfisch« braucht, sondern so,
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2009. URL: http://www.munzinger.de/document/22000859800, zuletzt aufgerufen am 07.12.2016. Das Schweigen und das Getöse ist die wortwörtliche Übersetzung des Originaltitels des arabischen Romans, der 2004 in Beirut erschienen ist. Der Titel der deutschen Übersetzung lautet Ali Hassans Intrige (vgl. Fn. 13). Hier wird auf den Originaltitel Bezug genommen, da er den zentralen Aspekt des Schweigens hervorhebt, zitiert wird jedoch die deutsche Übersetzung. Ebd., S. 68. Ebd. Vgl., ebd., S. 69. Ebd., S. 22.
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»dass du redest – allerdings zu ihrem Nutzen. Dass du zu ihnen gehörst. […] gerade weil du außerhalb des Schwarms bleibst. Niemand darf abseits stehen. Nach ihrer Ansicht hat sich jeder Schriftsteller zu ihnen zu bekennen und Lobreden auf den Großen Führer zu verfassen.«49 Nach Lamās Auffassung geht es dem Regime also darum, dass Fathi Šīn ein Teil der Propagandamaschinerie wird und zur Mobilisierung und Verblendung der Masse beiträgt. Da er sich jedoch verweigert und stattdessen schweigt, situiert er sich jenseits der Masse und erlangt dadurch eine gewisse Individualität, die vom Regime als Bedrohung empfunden wird und nicht geduldet werden kann. Zu diesem Schluss kommt Šīn ebenfalls, wenn er das Ziel der Propaganda folgendermaßen beschreibt: »Ihre Aufgabe [der Propaganda, A. A.] ist es, die Subjektivität der Menschen auszulöschen und sie wie Tropfen in der tosenden Flut der Masse aufgehen zu lassen. Jede Individualität stellt eine drohende Gefahr für die Herrschaft des Führers dar, und so zielt diese massenhafte Zusammenrottung nur auf eines: die Eliminierung von Individualität.«50 In diesem Zusammenhang betont Adonis die ›Kunst‹ der arabischen autoritären Politik, Veränderungen zu verhindern und eine Kultur hervorzubringen, deren Substrat er in einem Ein-System – Ein Führer/Erlöser, und in einer homogenen und gehorchenden Masse sieht.51 Das von der Regimepropaganda erzeugte und von der Masse reproduzierte Getöse wird zum Symbol des Individualitätsverlustes und »dient vor allem dazu, das Denken auszuschalten. Denken bedeutet Widerstand. Es ist ein Vergehen, ja Verrat am Führer.«52 Es ist charakterisierend für die syrische Literatur in diesem Kontext (zum Beispiel die Texte von Z. Tāmir), dass das syrische Regime als eine repressive Macht dargestellt wird, die das Denken bzw. das selbstdenkende Individuum als subversiv und als zu bekämpfende Bedrohung auffasst.53 In der Passage, in der Fatḥī Šīnseine Beobachtungen und Analysen des Verhaltens der Menschenmenge darlegt, wird deutlich, wie ein solcher Prozess der »Zusammenrottung« und Formierung zu »einer gehorchenden Masse« durch die Arbeit der verschiedenen Medien und der Regierungspropaganda vollzogen wird: »Eine Menschenflut in Form eines Aufmarsches zu schaffen bedeutet freilich mehr, als die einzelnen Tropfen zu sammeln und sie in eine bestimmte Richtung zu lenken. Noch wichtiger ist die Bildung einer psychischen und geistigen Flut, und dieser Fernsehmoderator leistete seinen Beitrag dazu. Wenn er eindringlich schilderte, dass die Menschen, die Steine und Bäume allesamt den Großen Führer liebten, rührte er an die 49 50 51 52 53
Ebd., S. 94. Ebd., S. 20. Vgl. Adonis, al-Muḥīṭ al-aswad (Der schwarze Ozean) (Fn. 15), S. 232. Ebd., S. 21. Vgl. S. Tamer, Die Hinrichtung des Todes (Fn. 13), S. 63–71.
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innerste Substanz eines jeden Menschentropfens, der in diesem Moment tatsächlich glaubte, was er fernab der Logik vernahm. Die Folgen waren, dass Differenzierungen des Charakters, des Denkens und Fühlens zwischen den einzelnen Praktiken der Menschenflut beseitigt werden. Alle Gefühle strömten nur noch in eine Richtung: zum Großen Führer hin.«54 Die von Sīrīs bewusst eingesetzte arabische Bezeichnung für die Masse, al-ǧamāhīr,55 welche in der sozialistischen Ideologie der Baath-Partei verankert ist, wird im Lauf der Handlung immer wieder in Verbindung (mit dem Getöse) verwendet. Die Masse erzeugt unter dem Einfluss der Medienpropaganda des Regimes bloß Lärm (ḍaǧīǧ), mit dem der Protagonist Fatḥī Šīn am frühen Morgen nach dem Aufstehen konfrontiert wird und dessen Bezeichnung in der arabischen Sprache er als »so abstoßend« empfindet: »›Lärm‹ kommt von ›lärmen‹ … Ich kenne in unserer Sprache kein anderes Wort, das so abstoßend wäre. ›Getöse‹ könnte vielleicht eine Alternative sein. Ich schreibe es hin, als suchte ich nach einer Bezeichnung, die den Tatbestand erträglicher macht.«56 54 N. Siris, Ali Hassans Intrige (Fn. 13), S. 20 f. 55 In diesem Zusammenhang ist es relevant darauf hinzuweisen, dass während der arabischen Umbrüche die Bezeichnung ›Masse‹ (al-ǧamāhīr) überhaupt keine Verwendung fand. Anwendung fand der Begriff ǧamāhīr jedoch in der während der Proteste in Ägypten bekannt gewordenen Satiresendung von Bāsim Yūsuf al-Barnāmağ (Die Sendung). Darin trat Ğamāhīr als eine weibliche Figur auf und war ein Symbol für Ägypten bzw. die Ägypter, die ein paradoxes Verhältnis zum Regime und zum Militär pflegten. Ğamāhīr, die ein langjähriges Verhältnis mit ihrem Mann/Regime einging, aber dann nicht mehr weiter bei ihm bleiben wollte, wurde eines Tages von ihrem Cousin, ein hochrangiger Funktionär des Militärs in den sie sich verliebte, befreit. Durch die Figur Ğamāhīr wird das Verhältnis der ägyptischen Bevölkerung zum Militär vor und nach den Umbrüchen von 2011 mit viel Humor und Satire kritisch hinterfragt. Vgl. URL: https://www.youtube.com/watch?v=_Z1K89f9f2Q, zuletzt aufgerufen am 15.01.18.Während der arabischen Umbrüche war die Rede vom ›Volk‹ (aš-šaʿb). Meskini zufolge »gibt der Ausdruck ›Volk‹ dabei weder einen Nationalismus noch eine ›Rasse‹, weder eine Ausdrucks- noch eine Organisationsform wieder: Vielmehr nahm man mangels einer einzigen stimmigen Bezeichnung bzw. eines Sinns unseres neuen Selbst – sei es nun revolutionär oder frei – Zuflucht zu unseren einfachsten Ausdrücken bzw. zu den ungenauesten oder am wenigsten trennenden Sinngehalten: ›das Volk‹ ist ein Bedeutungsgehalt für einen ›Niemand‹, der erfolgreich einen freien, wirkenden und aktiven ›Jemand‹ schuf, der ohne nationalistische, religiöse oder gruppenspezifische Vorbehalte agiert.« F. Meskini, Der andere Islam. Kultur, Identität und Demokratie (Fn. 18), S. 133. Zu den verschiedenen Verwendungen des Schlagwortes ›Volk‹ während der arabischen Umbrüche vgl. die Beiträge von M. Mataoui mit B. Bock und mit S. Pappert im dritten Teil dieses Bandes. 56 N. Siris, Ali Hassans Intrige (Fn. 13), S. 11.
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Der Eindruck des »abstoßenden Getöses« der Menschenmassen auf Šīn wird durch die im Roman beschriebene erdrückende Hitze verstärkt und antithetisch zu seiner durch Schweigen charakterisierten Situation hervorgehoben. Als er an einer anderen Stelle seine Wohnung verlässt, wird er von Funktionären des Regimes, »Ordnungshüter(n) in Khakiuniform mit rotem Abzeichen am Arm« kontrolliert, weil er »wohl für einen der Drückeberger, die sich vom Aufmarsch fortgeschlichen hatten«,57 gehalten wird. Šīn rechtfertigt seinen Boykott der Massenkundgebung dadurch, dass er weder »Angestellter« sei, noch einer »Gewerkschaft« angehöre und fügt hinzu: »Ich bin Schriftsteller, mein Name ist Fatḥī Šīn.«58 Mit seiner bewussten (Anti-)Haltung droht Šīn die Einheit zwischen »großem Führer« und homogener Masse als gesellschaftlicher Totalität zu destabilisieren und zu zerstören. Deswegen wird er von einem der Ordnungshüter als »elender Verräter«59 beschimpft. Zur Machtkonsolidierung des »großen Führers« werden neben der Mobilisierung der Massen alle anderen Formen kultureller Praxis ebenfalls in die Propagandamaschinerie eingebettet. Auch Musik und Kunst werden in ihrer Funktion entfremdet und müssen eine dezidierte Rolle zur »Aktivierung der Massen übernehmen.«60 Sie dienen der Erzeugung einer symbolischen Welt sowie zur Regulierung und Verwaltung von Bedeutung im Dienst der herrschenden Ideologie. Deswegen wird im Roman eine Theorie des L’art pour l’art61, die ihre ästhetische Autonomie dadurch propagiert, dass sie von jeglichem Lebenszusammenhang losgelöst existiert und sich daher jedem ideologischen Zugriff entzieht, mit der Machtübernahme des großen Führers durch eine patriotische Musik substituiert. Denn Musik, »die von Liebe und Sehnsucht spricht […] ist destruktives Geschwafel, das die Volksmassen entmutigt«62 und antipatriotische und reaktionäre Auswirkungen hat, die »den Zuhörer in eine nachdenkliche und melancholische Stimmung versetze.«63 Nicht die »gefühlvollen Weisen des Tarab und des Muwaschah«, sondern die 57 58 59 60 61
Ebd., S. 14. Ebd. Ebd. Ebd., S. 60. Vgl., ebd., S. 60. In den oben kurz angesprochenen kontroversen Debatten über das ästhetisch-politische Konzept des iltizām in den frühen fünfziger und sechziger Jahren werden Vertreter einer avantgardistischen Literatur und Dichtung, unter anderen Adonis und Z. Tāmir, als Anhänger einer L’art pour l’art diskreditiert werden, weil sie sich zwar für eine revolutionäre aber gleichzeitig autonome Kunst und Literatur jenseits von der etablierten Ideologie sprechen. Vgl. V. Klemm, Literarisches Engagement im arabischen Nahen Osten (Fn. 4), S. 72. 62 N. Siris, Ali Hassans Intrige (Fn. 13), S. 62. 63 Ebd., S. 60 f.
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militärische Marschmusik, die Lieblingsmusik des Führers, mit dem »Dröhnen der Trommeln« und dem Schmettern der Fanfaren, »könne die Menschen wachrütteln und begeistern. Sie stärke ihren Patriotismus und mache sie bereit, sich mit Leib und Leben für den großen Führer zu opfern.«64 Hierdurch wird jede Form von Subjektivität und Individualität aus allen Bereichen der Gesellschaft getilgt bzw. eng an die Persönlichkeit des Führers geknüpft, die sie dann widerspiegeln und mit ihr zu einer homogenen Einheit verschmelzen. Allein der Protagonist Fatḥī Šīn weigert sich, Teil dieses gleichgeschalteten Ganzen zu sein. Insbesondere sein Schweigen wird vom Regime als eine in den Herrschaftsdiskurs intervenierende Handlung und als Bedrohung betrachtet. Deswegen empfiehlt Ali Hassan, im Roman der lange Arm des Regimes, Šīn von seinem Schweigen abzulassen, wobei er die Strategie ›Zuckerbrot und Peitsche‹ verwendet, um Šīn dazu zu bewegen, nicht weiter zu schweigen und mit den Obrigkeiten zu kooperieren. Um Fatḥī Šīn gefügig zu machen, will ʿAlī Ḥasan seine Mutter heiraten und ihn dadurch zwingen, auf seine »Renitenz« zu verzichten und den braven Verwandten zu spielen. Wenn dies erfolge, dann würde ʿAlī Ḥasan Fatḥī Šīn zum »Leiter einer […] Medieneinrichtung« ernennen und er könne wieder schreiben. »Kommen Sie mit mir, ich führe Sie zur Macht, dann werden Sie uns schon mögen, und es gefällt Ihnen bestens, was abläuft. Sie werden neue Bücher veröffentlichen und gutes Geld verdienen. Genießen Sie Ihr Leben, Mann!«65 Als Fatḥī Šīn aber die Zusammenarbeit mit ʿAlī Ḥasan ablehnt und diese mit den Worten kommentiert: »Ihr wollt mich kaufen, damit ich eure Politik schönfärbe«,66 stellt ihn Ali Hassan vor die Wahl: »entweder das Schweigen des Gefängnisses oder das Getöse der Macht.«67 Fatḥī Šīn missversteht ʿAlī Ḥasan Andeutungen zunächst, dieser macht ihm jedoch deutlich, dass es sich um »das Schweigen des Grabes«68 handele und fügt hinzu: »Hören Sie, Professor Fatḥī, ich möchte ganz offen zu Ihnen sein. Sie sollten heute Nacht gründlich über die Sache nachdenken. Dem Großen Führer liegt an Ihnen. Er möchte weder, dass Sie abseits stehen noch, dass Sie schweigen.«69 Dadurch wird deutlich, dass Fatḥī Šīn kein anderes, selbstbestimmtes und jenseits des vom »großen Führer« prädestinierten Lebens führen kann. In dieser Form des Daseins sieht Adonis die Entfremdung des 64 65 66 67 68 69
Ebd., S. 61. Ebd., S. 162. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 163.
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arabischen Individuums sowie seine Verdinglichung und Versklavung in den Diktaturen begründet. Die politische Macht sehe in ihm bloß einen Anhänger, Eiferer und Untertan.70 Meskini erkennt darin die Idee einer gesellschaftlichen Totalität verwirklicht, die im Namen eines »Führers« und einer einzigen Partei, aber auch eines einzigen Gottes und eines Volkes, realisiert wird.71 Die obsessive Bestrebung nach einer homogenen Einheit der Gesellschaft mit der Person des Führers, der Partei und ihrer Ideologie scheint nur dadurch verwirklichbar, dass ein subjektbezogenes und freiheitliches Sprechen verboten und durch ein herrschaftskonformes ersetzt wird. Für Fatḥī Šīn hat diese Form der Politik die Konsequenz, »entweder Mitarbeit oder Schweigen für immer.«72 Als ihm die Ausweglosigkeit seiner Situation bewusst wird, fragt er sich: »Warum ließen sie mich nicht einfach weiterleben in meiner Einsamkeit und meinem Schweigen? Was konnte es ihnen schaden? Das Getöse der Macht oder das Schweigen des Grabes, hatte er gesagt. Das Grab ist ein stiller, ruhiger Ort. Ich hätte mich dafür entschieden, wenn ʿAlī Ḥasan nicht noch andere Gemeinheiten im Schilde geführt hätte. Er hatte alles auf die niederträchtigste Weise arrangiert, als er meine Mutter in seinen Plan einbezog.«73 Die einzige Antwort auf das Dilemma, in dem sich Fatḥī Šīn befindet, erhält er in Form eines seltsamen und visionären Traums, in dem seine Mutter in ihrer Hochzeitsnacht von ʿAlī Ḥasan vergewaltigt wird. In diesem Traum wird die Vergewaltigung ambivalent wahrgenommen. Während ʿAlī Ḥasan die Vergewaltigung als einen Racheakt inszeniert, indem er Fatḥī Šīn und seine Geliebte in einem Nebenraum einsperrt und durch die durchsichtige Wand zusehen lässt, gibt sich die Mutter dem sexuellen Akt hin und genießt, »was mit ihr geschah. Ja sie stöhnte vor Lust.«74 ʿAlī Ḥasan ist erzürnt, weil sein Plan durch die Reaktion der Mutter und das Gelächter von Šīn und Lamā ad absurdum geführt wird. Die Vergewaltigung als ein gegen Fatḥī Šīn und sein Schweigen gerichteter Gewalt- und Vergeltungsakt wird subversiv durch die empfundene Lust der Mutter und das Gelächter von Šīn und Lamā untergraben. Gelächter attestiert Bachtin das Vermögen, Individuen nicht nur von der inneren, sondern auch von der externen Zensur und Unterdrückung zu befreien.75 Ein weiterer subversiver Effekt hat auch der leidenschaftliche Sex, den Šīn mit seiner Geliebten Lamā hat, jedes Mal nachdem er 70 Vgl. Adonis, al-Muḥīṭ al-aswad (Der schwarze Ozean) (Fn. 15), S. 232. 71 Vgl. F. Meskini, Der andere Islam. Kultur, Identität und Demokratie (Fn. 18), S. 163. 72 N. Siris, Ali Hassans Intrige (Fn. 13), S. 163. 73 Ebd., S. 165 74 Ebd., S. 173. 75 Vgl. M. Bakhtin, Rabelais and His World, Bloomington: Indiana University Press 1984, S. 118.
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vom Sicherheitsapparat verhaftet, verhört oder bedroht wurde.76 Neben seinem Schweigen scheint Šīns subversiver Traum, in dem Lachen, Liebe und Lust eine politische Dimension erhalten, die einzige Antwort auf die repressive Politik eines autoritären Regimes zu sein. Schweigen wie auch Sprechen werden im Roman von Nihād Sīrīs als ambivalent dargestellt und bleiben in der Bestimmung ihrer Funktion sehr stark vom politischen Kontext und der Machtkonstellation, in denen sich die einzelnen Individuen bewegen, abhängig.
5. Subversives Erzählen Um die Ambivalenz von Sprechen und Schweigen kreist auch die Kurzgeschichte des syrischen Autors Z. Tāmir. Er gehört zu der literarischen Avantgarde der sechziger Jahre,77 die sich mit den Folgen der Niederlage von 1967 und der darauffolgenden Debatte über das Verhältnis von Moderne und Tradition in ihrem ästhetisch-politischen Konzept kritisch auseinandersetzt. Zu dieser Tradition gehören auch traditionelle Narrative und der Kanon der arabischen Literatur. Ihnen setzen die avantgardistischen Autoren eine moderne und revolutionäre Literatur entgegen, die sie als grenzüberschreitend und als »einen Sprung in das Jenseits der etablierten und festgelegten Bedeutungen verstehen; sie sei eine Veränderung in der Ordnung der Dinge und des Blicks auf diese.«78 Moderne Dichtung, meinte Adonis, verändere die Ordnung der Dinge und rebelliere gegen die traditionellen ästhetischen Formen und ihre Haltung gegenüber der Welt, die sie überschreite und überwinde.79 Genau um die Subversion der in den traditionellen Narrativen tradierten Wertvorstellungen und Perspektiven geht es in Tāmirs Kurzgeschichte Schahrayar und Shahrazad, wenn er den Blick auf das Verhältnis von Schweigen 76 Vgl. F. Pannewick, »Sīrīs, Nihād - aṣ-Ṣamt wa-ṣ-Ṣaḫab«, in: Munzinger Online/Kindlers Literatur Lexikon in 18 Bänden, 3., völlig neu bearbeitete Auflage 2009. URL: http://www.munzinger.de/document/22000859800_010, zuletzt aufgerufen am 07.12.2016. 77 Das ergibt sich aus der Tatsache, dass er sich für die Publikation seines ersten Kurzgeschichtenbandes in den Sechzigern bewusst für den avantgardistischen Verlag Šiʿr entschieden hat. Dies begründet Tamir dadurch, dass allein Šiʿr, ihr Begründer Yūsuf al-Ḫāl und Herausgeber Adonis in der Lage seien zu verstehen, was er schreibt. Vgl. Z. Tāmir, »Aktubu munṣitan faqaṭ li-ṣawtī ad-dāḫilī«, in: al-ʿArabī al-ǧadīd (07.02.2015). 78 V. Klemm, Literarisches Engagement im arabischen Nahen Osten (Fn. 4), S. 31. 79 Vgl. Adonis, »Muḥāwala fī ta‘rīf aš-ši’r al-ḥadīṯ«, in: Ši’r, 1 (Juli 1959), S. 79. Dazu auch S. K. Jayyusi, Trends and Movements in Modern Arabic Poetry, Leiden: Brill 1977, Vol. II, S. 572.
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und Sprechen in der traditionellen Rahmenerzählung von Tausendundeiner Nacht verändert und durch ein fragmentiertes Erzählen den Monoperspektivismus eines traditionell einheitlichen Erzählens offenlegt. Die Kurzgeschichte Schahrayar und Shahrazad stammt aus dem Kurzgeschichtenband Noahs Appell (Nidāʾ Nūḥ) von 1994 und hinterfragt kritisch die zentrale Bedeutung des Erzählens als Lebensrettung im Kanon der arabischen Literatur von Tausendundeiner Nacht. Die Rahmenerzählung von Tausendundeiner Nacht handelt bekanntlich von dem König Schahrayar, der wegen der Untreue seiner Frau beschließt, jede Nacht eine neue Frau zu heiraten und sie danach zu töten. Um dem Morden ein Ende zu setzen, entscheidet sich die Tochter des Wesirs Shahrazad, den König Schahrayar zu heiraten und ihn durch das Erzählen von Geschichten von seinem Racheakt abzubringen. Nach und nach gelingt es ihr, den König in den Bann des Erzählens zu ziehen, bis er ihr nach tausendundeiner Nacht Gnade gewährt. Zwar bezieht sich Tāmir mit seiner Kurzgeschichte Schahrayar und Shahrazad auf die Rahmenerzählung von Tausendundeiner Nacht, verändert sie jedoch so stark, dass hier von einer Umkehrung bzw. einer formalen und inhaltlichen Subversion der Rahmenerzählung gesprochen werden kann. Bei Schahrayar und Shahrazad handelt es sich um eine zweiteilige Geschichte, deren erster und zweiter Teil nichts gemeinsam haben als die Namen der beiden Figuren Schahrayar und Shahrazad. Sie können auch getrennt voneinander gelesen werden. Im ersten Teil Die Fälschung (at-tazwīr) wird das Machtverhältnis zwischen Schahrayar und Shahrazad auf den Kopf gestellt. So muss Schahrayar der Königin Shahrazad Geschichten erzählen, um sie zu unterhalten, damit sie »die Sorgen der Herrschaft […] und die abscheuliche, bittere Tatsache, dass die Männer ihren Frauen nicht treu sind«80 vergisst. Schahrayar erzählt Shahrazad bereits tausendundeine Nacht lang Geschichten und weigert sich, weiter zu erzählen, da er müde sei und eine Pause verdiene. Daraufhin lässt Shahrazad ihm den Kopf abschlagen und ruft »zahlreiche verlässliche Literaten« zusammen und befiehlt »ihnen, die Geschichten von Tausendundeiner Nacht niederzuschreiben und die nötigen Anpassungen vorzunehmen.«81 Der zweite Teil von Tāmirs Geschichte, Die letzte Nacht (al-Layla al-aḫīra), handelt von dem frisch verheirateten Ehepaar Schahrayar und Shahrazad. Schahrayar, ein Schuhputzer, heiratet Shahrazad, die Tochter des Schuhmachers. In der ersten Nacht erzählt Shahrazad Schahrayar, dass »[man] künftig einmal […] behaupten [wird], du wärest ein König 80 Hier wird die Übersetzung Schahrayar und Shahrazad von Hartmut Fähndrich und Ulrike Stehli-Werbeck zitiert. Vgl. S. Tamer, Die Hinrichtung des Todes (Fn. 13), S. 31–35. 81 Ebd., S. 33.
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und ich wäre eine Königin gewesen. Außerdem wird man behaupten ich hätte meinen Hals vor deinem Schwert gerettet, indem ich dir tausendundeine Nacht lange spannende Geschichten erzählt hätte. Was hieltest du davon, wenn ich dir solche Geschichten erzählte?« Schahrayar lehnt ihr Angebot ab und will stattdessen ein Fußballspiel im Fernsehen anschauen. Deshalb schlägt Shahrazad vor, ihm die Geschichten am nächsten Tag zu erzählen, aber Schahrayar wendet sofort etwas dagegen ein und meint, dass er am nächsten Tag eine Seifenoper im Fernsehen anschauen wolle. Auch übermorgen möchte Schahrayar von ihren Geschichten nichts wissen, denn er muss sich »den Film Superman ansehen, den das Fernsehen zum ersten Mal ausstrahlt.« Als Shahrazad dagegen protestiert, droht ihr Schahrayar mit den Worten: »Schweig! […] Die Fußballübertragung hat begonnen. Wenn du nur ein einziges Wort sagst, bring ich dich um und lass dich spurlos verschwinden.« Am Ende schweigt Shahrazad »angstvoll und sagte künftig kein Wort mehr – wie jeder Araber und jede Araberin.«82 Durch die formale und inhaltliche Fragmentierung der traditionellen Rahmenerzählung von Tausendundeiner Nacht gelingt es Tāmir, den Mythos von der Rettung durch Erzählen ad absurdum zu führen. Indem er im ersten Teil der Kurzgeschichte Die letzte Nacht das tradierte Machtverhältnis von Tausendundeiner Nacht auf den Kopf stellt, macht er deutlich, dass Sprechen immer mit Macht zu tun hat und über dessen (Miss-) Erfolg entscheidet. Zwar benutzt Shahrazad Erzählen in der traditionellen Rahmengeschichte als Strategie zum Überleben, was ihr auch gelingt, aber nicht ohne die Zustimmung eines mächtigen Königs, der daran Gefallen findet. Entscheidend ist hier, sowohl nach der Machtposition des Sprechers als auch des Zuhörers zu fragen. Shahrazads Rede in der traditionellen Erzählung von Tausendundeiner Nacht erfolgt aus einer schwachen Position und ist dem Zuhören einer privilegierten Machtposition des Königs unterworfen. Dies wird umso deutlicher, wenn Shahrazad in Tāmirs Geschichte Die Fälschung Schahrayar zum Erzählen auffordert und ihm droht, sein Verharren in Schweigen zu sanktionieren.83 In diesem Moment kommt es zu einer Umkehrung des in Tausendundeiner Nacht angeblich bedeutungsvollen und freiheitsbringenden Sprechens von Shahrazad, da Schahrayar durch sein Verstummen den Zwangscharakter einer Machtkonstellation aufzeigt, in der ein solches Erzählen stattfindet. Mit seinem Bezug auf die traditionelle Tausendundeine Nacht und durch die 82 Ebd., S. 35. 83 S. Tamer, Die Hinrichtung des Todes (Fn. 13), S. 33. Shahrazads Stimme klang zornig und drohend: »Hör mal gut zu! […] Wenn du mir jetzt nicht eine deiner boshaften, aufregenden und spannenden Geschichten erzählst, lass ich dir den Kopf abschlagen und mache mit dir, was ich schon mit meinen früheren Ehemännern gemacht habe«.
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Veränderung der Machtkonstellation im ersten Teil seiner Kurzgeschichte zeigt Tāmir auf, dass sowohl Sprechen als auch Schweigen Teil einer Machtpraxis sein können. In diesem Zusammenhang befasst sich Adonis in einem sehr fragmentarischen Essay, der den Namen Šahrazād trägt und ein Jahr früher erschienen ist als Tāmirs Kurzgeschichte, mit der arabischen Politik aus der Perspektive der weiblichen Figur Shahrazad aus Tausendundeiner Nacht. Dort stellt sich Adonis ein Theater vor, auf dessen Bühne der Herrscher seinen Thron hat und die Handlung dirigiert. Während der Herrscher, so Adonis, »schweigend auch wenn er spricht, sprechend auch wenn er schweigt – handelt«, »spricht al-umma/al-ama (die Nation/die Sklavin), um ihren Tod zu verzögern und den Wunsch des Herrschers zu erfüllen, denn sie besitzt nichts außer ihr Sprechen.«84 Für Adonis bildet die in seinem fragmentarischen Essay imaginierte Inszenierung von Shahrazads Schicksal eine Art des »geschichtlichen Unbewussten bzw. des kollektiven Gedächtnisses«, das die Politik der arabischen Regime bis heute prägt. Durch die gleiche Etymologie der beiden Wörter umma (Nation) und ama (Sklavin) stellt Adonis eine Verbindung zwischen dem Schicksal eines einzigen Individuums, sogar einer fiktionalen Figur, und dem Schicksal der ganzen arabischen Nation in ihrem Verhältnis zu den politischen Systemen her. Die umma/Nation wird zur ama/Sklavin des politischen Regimes, so dass ihr Sprechen allein dazu prädestiniert scheint, dem Wunsch der befehlenden Macht zu entsprechen. Angelehnt an Tausendundeine Nacht bezeichnet Adonis die arabische Politik als Tausendundeine Politik, in der es nicht darum geht, zu sagen was man will, sondern zu sagen, was der Herrscher hören möchte, was ihn fesselt.85 Was Adonis als das im kollektiven Gedächtnis verankerte geschichtliche Unbewusste beschreibt, realisiert Tāmir im zweiten Teil seiner Kurzgeschichte Die letzte Nacht. Dort werden die Herrschaftsverhältnisse noch entscheidender verändert, da es sich weder um den König Schahrayar noch um die Königin Shahrazad handelt, sondern vielmehr um zwei beliebige Individuen der arabischen Gesellschaft aus der Unterschicht. In der modernen Welt von Schahrayar und Shahrazad erscheinen die Machtverhältnisse subtiler als sie im Gemach des Königs aus Tausendundeiner Nacht dargestellt werden. Sie werden neu definiert und transzendieren durch ihre Verbindung zum modernen Kontext der arabischen Welt einerseits und der Kulturindustrie und ihren Massenmedien andererseits den politischen Bereich und werden auf die gesamten Gesellschaftsstrukturen übertragen – als ob Tāmir, dadurch die Unmöglichkeit des freien Sprechens im modernen Kontext der arabischen Welt noch stärker hervorheben wollte, indem er Shahrazads Scheitern 84 Adonis, an-Niẓām wa-l-kalām (System und Sprechen) (Fn. 17), S. 135. 85 Vgl., ebd., S. 138.
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zu erzählen nicht mehr allein auf Tausendundeine Politik zurückführt, sondern vielmehr auf die Symbiose zwischen ihr und den neuen gesellschaftlichen Strukturen der Kulturindustrie. Durch den Zentralaspekt des Erzählens aus der traditionellen Rahmenerzählung von Tausendundeiner Nacht gelingt es Tāmir, eine geschichtliche Entwicklung der arabischen Gesellschaft und Politik zu zeichnen, indem er eine Form der Gleichzeitigkeit erzeugt, die mit einem Begriff von Günther Grass als »Vergegenkunft«86 charakterisiert werden kann. Damit ist eine Gleichzeitigkeit von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gemeint, die eine Verschmelzung verschiedener Zeithorizonte ermöglicht und dem Rezipienten erlaubt, auf das Problem von Sprechen und Schweigen in der arabischen Geschichte einzugehen und es in Verbindung mit der eigenen Gegenwart und der politischen Situation zu bringen. Diese Gegenwart wird am Ende der Kurzgeschichte durch die Drohung von Gewaltanwendung und dem daraus resultierenden Schweigen des bedrohten Menschen charakterisiert. Die beiden Aspekte der Gewaltanwendung und des Schweigens scheinen somit eine gewisse Kontinuität in der Geschichte der arabischen Welt bis zur Gegenwart zu haben.
6. Fazit Die arabischen Umbrüche von 2011 in Nordafrika und dem Nahen Osten zeichneten sich dadurch aus, dass das Volk nach einem langen »öffentlichen Schweigen« wieder den öffentlichen Raum besetzte, das Wort ergriff und laut sprach: »Das Volk will den Sturz des Regimes«87 (aš-šaʿb yurīd isqāṭ an-niẓām). In Syrien war das Bedürfnis der Menschen nach einer »Selbst-Versprachlichung«88 besonders stark, da das Baath-Regime die Existenz seiner eigenen Bürger vierzig Jahre lang totschwieg. Daher ist es kein Wunder, dass die meisten künstlerischen und literarischen Werke sowie Memoiren von der Auseinandersetzung mit dem Problem der staatlichen Zensur und vom Phänomen des Schweigens in 86 Vgl. G. Grass, Aus dem Tagebuch einer Schnecke, in: ders., Werkausgabe, hg. von V. Neuhaus und D. Hermes. Bd. 7, hg. von V. Neuhaus, Göttingen: Steidel 1980, S. 127. 87 Die arabischen Proteste gingen von Tunesien aus und waren durch den Slogan »Das Volk will den Sturz des Regimes« geprägt, den das Volk zuerst in Tunesien und später auch in Ägypten und anderen arabischen Länder rief und einen Regimewechsel einforderte. Dabei wurde die Formulierung dieses Satzes verändert und dem politischen Kontext der jeweiligen Länder angepasst. Vgl. dazu den Beitrag von B. Bock und M. Mataoui im dritten Teil dieses Bandes. 88 Vgl. Adonis, al-Muḥīṭ al-aswad (Der schwarze Ozean) (Fn. 15), S. 230.
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der syrischen Gesellschaft handeln. Durch die Fiktionalisierung der eigenen Realität schufen sie nicht nur einen freien Raum für ein anderes Sprechen, sondern vielmehr zeigten sie das Potential von Schweigen auf und wendeten dessen negativen Charakter ins Positive. Wenn Sprechen ein Akt der Befreiung89 ist, so ist Schweigen die Subversion eines durch Macht durchdrungenen Sprechens, eine Form der Individualitätsgewinnung und der Absage an ein autoritäres Regime. Die Ambiguität von Sprechen und Schweigen und deren Herrschaftsverflechtung zwingt Autoren wie Tāmir, den eigenen historischen Kontext zu transzendieren und den Kanon der arabischen Literatur (wie Tauseindundeine Nacht), seine implizite Weltordnung und Perspektivität, als eine Form der Tradition zu dekomponieren und zu subvertieren. Dabei wird das traditionelle Narrativ von einem emanzipatorischen Erzählen hinterfragt und die gesellschaftliche und ästhetische Wirkung eines solchen einheitlichen Erzählens für die Neuzeit stark angezweifelt. In einem autoritären Kontext, wie dem syrischen, wird ein auf Harmonie und Einheit basierendes Erzählen zum Spiegelbild der herrschenden Ideologie. Um sich dieser jedoch zu widersetzen, entwirft Tāmir das Konzept eines fragmentarischen Schreibens, das sich gegen die im Kanon kodierten ästhetischen und moralischen Werte richtet und diese subvertiert.
89 Vgl., ebd., S. 229.
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»daß ich an all diese Flußgötter denke« Zur politischen Dimension anachronistischen Imaginierens in Durs Grünbeins Grauzone morgens An Durs Grünbeins Gedichtband Grauzone morgens, mit dem der damals junge DDR-Lyriker 1988 im westdeutschen Literaturbetrieb reüssierte, Fragen aus dem Problemkreis von Sprache und Diktatur heranzutragen und die Texte dieses Bandes damit in den Kontext des Politischen zu setzen, ist naheliegend und problematisch zugleich. Es ist naheliegend, weil in Grauzone morgens in »lauter kleine[n] Anti-Elegien«1 die Agonie und Inhumanität des realexistierenden DDR-Sozialismus notiert werden.2 Es ist problematisch, weil Grünbein selbst, im Zuge der kulturpolitischen Vereinnahmung seines Werkes seitens des bundesdeutschen Feuilletons der Nach-Wendezeit, der Politisierung seiner Texte eine klare Absage erteilte, ja sogar einen Einfluss seiner DDR-Erfahrung auf seine Kreativität abstritt.3 Folgt man der heutigen literaturwissenschaftlichen Einordnung des Grünbein’schen Frühwerks, so stellt es durch dessen unprogrammatische »Sehweise«4 »jenseits der Avantgarden«5 einen Bruch mit der Tradition der DDR-Literatur dar, als deren »Nicht-Repräsentan[t]«6 der Dichter gilt, dem es nicht »um die Kommentierung des Zeitgeschehens oder gar um Engagement zu tun«7 sei. Mag Grünbein in seiner poetologischen 1 2 3
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T. Naumann, D. Grünbein, »›Poetry from the bad side‹. Gespräch mit T. Naumann«, in: Sprache im technischen Zeitalter, 30 (1992), S. 444. Zur Kritik der autoritären Sprache in der DDR vgl. die Beiträge von B. Bock und S. Pappert im ersten Teil dieses Bandes. Vgl. hierzu insbes. M. Doerry, V. Hage, »Tausendfacher Tod im Hirn. Büchner-Preisträger Durs Grünbein über Utopien, das Ende der DDR und die Zukunft der Lyrik«, in: Der Spiegel, Nr. 41 (1995), S. 221–230. W. Emmerich, Kleine Literaturgeschichte der DDR. Erweiterte Neuausgabe, Leipzig: Kiepenheuer 1996, S. 394. H. Ahrend, »Der junge Grünbein und die DDR – Poetik eines Schreibens jenseits der Avantgarden«, in: J. Ludwig, M. Meuser (Hg.), Literatur ohne Land? Schreibstrategien einer DDR-Literatur im vereinten Deutschland, Bd. 1, Eschborn: Fwpf 2009, S. 407–422. Ebd., S. 408. F. Lampert, »›Der junge Dichter als Sphinx‹. Durs Grünbein und die deutsche Lyrik nach 1989«, in: K. Bremer, F. Lampert, J. Wesche (Hg.), Schreiben
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Selbstverortung Vom Stellenwert der Worte, wie Hinrich Ahrend bemerkt hat, auch »seine ausgeprägte Abneigung gegen jegliche Form engagierten Schreibens noch einmal unmissverständlich herausgestellt«8 haben, ein unpolitischer Autor ist er nicht. Vor allem in Feuilletons hat Grünbein sich immer wieder auch zum aktuellen politischen Geschehen geäußert, so etwa, um das wohl prominenteste Beispiel zu nennen, zu den Terroranschlägen vom 11. September 2001.9 An Volker Mergenthalers Beobachtung der Grünbein’schen Nine-Eleven-Reflexion wird deutlich, worin die Besonderheit eines Engagements à la Grünbein liegt: in der ästhetischen Brechung, durch die das verhandelte Ereignis mittels mythologisch-ikonographischer Verknüpfung seine Aktualität transzendiert und zu einem Bezugspunkt innerhalb eines überhistorischen Koordinatensystems anverwandelt wird.10 Grünbeins reflexives Verfahren, das Ähnlichkeiten mit der poetischen Simultanisierung historischer Zeitschichten aufweist, das als Strukturelement weite Teile seiner Dichtung bestimmt,11 könnte im Hinblick auf die Ambivalenz der Politizität des Grünbein’schen Werkes in den Worten am Schnittpunkt. Poesie und Wissen bei Durs Grünbein, Freiburg/Berlin/ Wien: Rombach-Verl. 2007, S. 25. 8 H. Ahrend, »Der junge Grünbein und die DDR – Poetik eines Schreibens jenseits der Avantgarden« (Fn. 5), S. 409. Ahrend verweist auf: D. Grünbein, Vom Stellenwert der Worte. Frankfurter Poetikvorlesung 2009, Berlin: Suhrkamp 2010, S. 10. 9 Vgl. D. Grünbein, »Aus einer Welt, die keine Feuerpause kennt«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 218 (2001), S. 53. Vgl. ferner Grünbeins kritische Auseinandersetzung mit den Pegida-Demonstrationen: »Das Volk, dieses Monster«, in: Die Zeit, Nr. 7 (2015), S. 37, und H. Klute, »Heimatabend. Ein Abstecher zur Pegida-Demonstration, mit Deutschlands wichtigstem Lyriker, dem Dresdner und Wahl-Römer Durs Grünbein«, in: Süddeutsche Zeitung, Nr. 248 (2015), S. 3. 10 Vgl. V. Mergenthaler, »Coventry und Dresden, Ninive und Sodom. Durs Grünbeins Koordinaten mythologischer Sinnstiftung nach dem 11. September 2001«, in: R. Görner, A. Nicholls (eds.), In the embrace of the swan. Anglo-German mythologies in literature, the visual arts and cultural theory, Berlin / New York: De Gruyter 2010, S. 168–186. Auch A. Payk-Heitmann legt ihren Fokus auf Grünbeins ästhetische Annäherung an Nine-Eleven: »Der 11. September im (fiktionalen) Tagebuch: Überlegungen zu Durs Grünbein und Max Goldt«, in: I. Irsigler, Ch. Jürgensen (Hg.), Nine Eleven. Ästhetische Verarbeitungen des 11. September 2001, 2. Aufl., Heidelberg: Winter 2011, S. 49–66, insbes. S. 51–57. 11 Vgl. hierzu A. Jürgens, »›Sturz durch die Zeiten‹. Transhistorie – Zum Werk Durs Grünbeins«, in: K. Andermann / A. Jürgens (Hg.), Mythos – Geist – Kultur. Festschrift zum 60. Geburtstag von Christoph Jamme, München u.a.: Fink 2013, S. 349–359.
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des Dichters selbst als ein »dritte[r] Weg«12 bezeichnet werden, der, so Hinrich Ahrend, »jenseits von poésie pure und littérature engagée« 13 zu sehen sei. Fragt man nach einer näheren Bestimmung dieses dritten Weges im Werk Grünbeins, ist man sogleich auf die kunstästhetischen und poetologischen Texte verwiesen, die der Autor seit den späten 1980er Jahren bis zur Mitte der 1990er Jahre vorgelegt hat und in denen er Voraussetzungen des Dichtens am Ende des 20. Jahrhunderts thematisiert. Als sowohl produktions- wie auch rezeptionsästhetischer Fluchtpunkt dieser Werkphase dient der moment juste, der nach Auffassung Grünbeins in seiner Flüchtigkeit der Polyvalenz und transitorischen Verfasstheit des zeitgenössischen Kunstwerks entspricht und Ausdruck der Obsoletierung des Werkbegriffs ist.14 »Aufhorchen und Weitergehen, so könnte die Devise aller freundlich Beteiligten lauten. Denn kein Diskurs hält sich im Transitorischen länger als bis zur nächsten Namensänderung, zum nächsten Hierarchiezerfall.«15 Das Transitorische und das damit verbundene semantische Feld des Übergangs, Durchgangs, der Flüchtigkeit oder des epiphanischen Augenblicks können als das wesentliche ästhetisch-erkenntnistheoretische Merkmal der frühen Werkphase Grünbeins gelten. Im Rahmen dieser Ästhetik des Hindurchbewegens vollzieht sich auch Grünbeins Zugriff auf das Geschichtliche als etwas Aufscheinendes, Reflexhaftes, sich fixierender Reflexion Entziehendes.16 »Nur in einzelnen Reminiszenzen oder erleuchtenden Augenblicken, die die Gegenwartswahrnehmung erinnerungsintensiv aufbrechen, blitzt etwas Historisches auf, das der öden Gegenwart eine komplexere zeitliche Tiefenstruktur unterschiebt«,17 schreibt Hinrich Ahrend mit Blick auf Grauzone morgens. Die aufblitzenden geschichtlichen Reflexe können mit Ahrend als 12 D. Grünbein, »Ameisenhafte Größe«, in: ders., Galilei vermißt Dantes Hölle und bleibt an den Maßen hängen. Aufsätze 1989–1995, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1996, S. 13. Zum Zitat vgl. H. Ahrend, »Durs Grünbeins Geschichtslyrik«, in: Geschichtslyrik. Ein Kompendium, hg. v. H. Detering / P. Trilcke unter Mitarb. v. H. Ahrend u. a., Bd. 2, Göttingen: Wallstein, S. 1170. 13 H. Ahrend, »Durs Grünbeins Geschichtslyrik«, in: Geschichtslyrik. Ein Kompendium (Fn. 12), S. 1170. 14 Vgl. D. Grünbein, »Transit Berlin«, in: ders., Galilei vermißt Dantes Hölle und bleibt an den Maßen hängen. Aufsätze 1989–1995 (Fn.12), S. 142 f. Vgl. ferner A. Müller, Das Gedicht als Engramm. Memoria und Imaginatio in der Poetik Durs Grünbeins, 2. Aufl., Hamburg: IGEL 2014, S. 70. 15 Ebd., S. 143. 16 Mit der Sprache des Protestes in der DDR der 1980er Jahre befasst sich U. Fix im dritten Teil dieses Bandes. 17 H. Ahrend, »Durs Grünbeins Geschichtslyrik«, in: Geschichtslyrik. Ein Kompendium (Fn. 12), S. 1169.
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poetische Distanzierungen zur gleichsam monolithischen geschichtsphilosophisch-ideologischen Sanktionierung des DDR-Sozialismus gelesen werden. Hinweise für das Verständnis einer solchen Dichtung, die durch »Risse« gekennzeichnet ist, und in der das Dichten sich in »Sprüngen« und »schockhafter Montage« vollzieht, »ohne Rücksicht auf Kausalitäten und Chronologien«,18 sind Kommentaren und autobiographischen Erinnerungen Grünbeins selbst zu entnehmen. So äußert der Dichter sich in einer 2005 verfassten Revision von Grauzone morgens zum Entstehungskontext der Gedichte: Eines ist ihm noch im Gedächtnis: ein langer Nachmittag an den Kaianlagen unten beim Elbhafen, unweit des Schlachthofs, in dem sein Großvater gearbeitet hatte ein Leben lang. Da geschah es, daß ihm zum ersten Mal ein paar abgerissene Verszeilen diktiert wurden, direkt ins Ohr, und er hatte sie sogleich aufschreiben müssen, und dies war der Beginn.19
Grauzone morgens sei, so Grünbein in seiner Revision, »das Portrait des Künstlers als Streuner am Ufer der Elbe.«20 In seinen 2015 erschienenen autobiographischen Erinnerungen Die Jahre im Zoo spielen kindliche Imaginationen in Formen des Träumens und Streunens eine nicht zu übersehende Rolle in der Herausbildung seines späteren poetischen Umgangs mit geschichtlicher Erinnerung. So habe er sich als Kind »eine gewisse Art des Tagträumens angewöhnt, ein wildes Imaginieren über Zeiträume hinweg, und das begann auf unseren Spaziergängen durch die Dresdner Vorstadt.«21 Seine Kindheit deutet Grünbein als »Schlummerstadium, mnemotechnische Rüstzeit… Was immer sichtbar war innerhalb dieses ersten Horizonts, trage ich seither mit mir herum.«22 Das Phantasieren des Kindes wendet sich im jugendlichen Alter zu einer gleichsam kritisch-imaginierenden Haltung gegenüber dem tristen sozialistischen Alltag. Die allmorgendliche Straßenbahnfahrt zur Schule gerät zur Fahrt »aus einem tröstlichen Dunkel in eine lähmende Dämmerung«:23 Auf den Gesichtern der Fahrgäste lag ein feiner Schleier aus Kohlenstaub, der die Augäpfel trübte und den Blicken etwas von abgeblendeten 18 Vgl. D. Grünbein, »Mein babylonisches Hirn«, in: ders., Galilei vermißt Dantes Hölle und bleibt an den Maßen hängen. Aufsätze 1989–1995 (Fn.12), S. 19. 19 D. Grünbein, »Revision ›Grauzone morgens‹«, in: ders., Gedichte. Bücher I–III, S. 380. 20 Ebd., S. 382. 21 D. Grünbein, Die Jahre im Zoo. Ein Kaleidoskop, Berlin: Suhrkamp 2015, S. 36. 22 Ebd., S. 55. 23 Ebd., S. 93.
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Scheinwerfern verlieh. […] Da stand man also, sich selbst ungeheuer, mitten im Wirbel der täglichen Stagnation, eingekeilt zwischen seinesgleichen, und trat auf der Stelle. […] Damals begann ich davon zu träumen, die Stadt zu verlassen, das Land, diese ganze, in sich kreisende, vor sich hin dämmernde Geisterbahnwelt.24
Das Realitätstranszendierende des phantastischen kindlichen Träumens und kritischen Imaginierens des Jugendlichen gerät in der Erfahrung der persönlich erfahrenen Repression zum wiederkehrenden Albtraum. Zwei der drei biographischen Szenen, die Grünbein in seiner 2009 gehaltenen Dresdner Rede Unfreiheit der zeitgenössischen beobachteten Freiheitsmüdigkeit25 vieler Ostdeutscher entgegenhält, scheinen für eine Betrachtung von Grauzone morgens durchaus bedeutsam zu sein. Zum einen eine Befragung vor einem Schultribunal wegen des Besitzes eines von seinem verstorbenen Großonkel geerbten Eisernen Kreuzes aus dem Jahr 1939, das der junge Schüler Grünbein seinen Klassenkameraden gezeigt hatte, und was daraufhin der Schulleitung gemeldet wurde. Zum anderen ein Verhör vor der Musterungskommission im Wehrkreiskommando, nachdem Grünbein sich gegen einen erweiterten Wehrdienst und gegen einen Dienst an der Staatsgrenze der DDR ausgesprochen hatte. Im Verlauf des Verhörs bekam er »eine Vorstellung von der informationstechnischen Überlegenheit des Systems, als man mir aus den Akten Kostproben aus meinem Privatleben bot […] Äußerungen von Lehrern, Freunden, Nachbarn, dazu die kleinen Geheimnisse einer Schülerliebe, die nicht mehr ganz platonisch war und sich doch unbeobachtet glaubte. Es gab keine pikanten Details, aber etwas schienen die Herren zu wissen.«26 Angesichts dieser Erinnerungen scheint Grünbeins Behauptung, das politische System der DDR habe keinen Einfluss auf sein Schreiben gehabt, fragwürdig. Nun wäre es jedoch zu grobschnittig, Grauzone 24 Ebd., S. 95. 25 Diese Freiheitsmüdigkeit war den Erfahrungen weiter Teile der ostdeutschen Bevölkerung mit westdeutschen Anschlusspraktiken geschuldet. Im Zuge des Vereinigungsprozesses wurde in Ostdeutschland eine Vielzahl privatwirtschaftlicher Vorgehensweisen westdeutscher Unternehmer als raubtierkapitalistisch empfunden. Auch die durch die Treuhandanstalt vorgenommenen Privatisierungen oder Stilllegungen ostdeutscher Betriebe und größerer Industriekombinate mit zum Teil zweifelhaften Praktiken ließen den Vereinigungsenthusiasmus vieler Ostdeutscher spürbar ermatten. Für sie entpuppte sich die anfänglich als Glücksversprechen wahrgenommene westliche Freiheitlichkeit, vor allem im Zuge der radikalen wirtschaftlichen Umstrukturierungen, als die schöne Maske eines sozial kalten Gesellschaftssystems. 26 D. Grünbein, »Unfreiheit. Rede in der Frauenkirche zu Dresden am 6. Oktober 2009«, in: Deutschland Archiv. Zeitschrift für das vereinigte Deutschland 42 (2009), S. 986.
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morgens mit quasi biographischer Notwendigkeit pauschal als engagierte Literatur einzuordnen. Vielmehr soll aus dieser Sammlung exemplarisch an den Gedichten »Wenn es nach einer« und »An der Elbe« der besondere Kunstcharakter des Grünbein’schen Dichtens herausgestellt werden, der sich – dies als Interpretationshypothese – dadurch auszeichnet, dass einem Gegenwartsrealismus ein imaginativer Anachronismus gegenübergestellt wird und so eine poetische Dialektik in Gang gesetzt wird, die zwischen Engagement und Distanzierung oszilliert, und die als Funktionsweise eines dritten Weges zwischen poésie pure und littérature engagée aufgefasst werden könnte. Das Gedicht »Wenn es nach einer«27 ist Teil des ersten Konvolutes Grauzone morgens des gleichnamigen Gedichtbandes. Vom Schriftbild folgt es der typographischen Unregelmäßigkeit nahezu aller Texte des Bandes mit unterschiedlich weiten Einrückungen, Absätzen, wörtlicher Rede und Klammerungen. Es sind jedoch ohne große Mühe vier Sinneinheiten erkennbar, deren jeweiliges Ende mit einem Absatz endet. Wie in den übrigen Gedichten des ersten Konvolutes bildet der Morgen die tageszeitliche Grundierung des Textes. Die erste Sinneinheit wird von einer Konditionalkonstruktion regiert, mit der eine Stimme einen wahrscheinlich Dresdner Morgen mit dem nach einer Amerikanischen Nacht in Beziehung setzt: »Wenn es nach einer Amerikanischen Nacht / einen Morgen genauso / künstlich / oder von / frischem Grau gibt, dann ist es einer / wie der: so ein / freundlicher Testbildmorgen.« Die West-Ost-Dichotomie (amerikanische Nacht und Morgen – Morgen in Dresden) wird jedoch durch die Zuschreibung gemeinsamer Eigenschaften relativiert: Der Morgen nach einer Amerikanischen Nacht ist genauso künstlich und von frischem Grau wie ein Morgen in Dresden. Der Frische der Grauheit des Morgens entspricht hierbei die Freundlichkeit des Testbildmorgens. In der Bezeichnung Testbildmorgen koinzidieren der amerikanische und der Dresdner Morgen, denn wenn es einen amerikanischen Morgen gibt, der ebenso künstlich und grau ist wie ein Dresdner Morgen, dann ist es wie ein in Dresden erlebter Morgen: ein Testbildmorgen. Obgleich als freundlich wahrgenommen, verstärkt die mit einem Testbild assoziierte technische Kälte und bloße Platzhalterfunktion die Künstlichkeit des Morgens, an der sich Frische und Freundlichkeit ironisch brechen. Mit dem Ausruf »›Auf jedem Bildschirm dieselbe Scheiße!‹« schließlich koinzidieren die bislang parallelgeführten Morgen; es kommt zu einer Aufhebung, zumindest zu einer Relativierung der West-Ost-Entgegensetzung. Die mit dem Amerikanischen verbundene unerreichbare Ferne wird auf diesem Wege relativiert und in den alltäglichen Vollzügen zumindest virtuell verfügbar. 27 Vgl. D. Grünbein, »Wenn es nach einer«, in: ders., Grauzone morgens. Gedichte, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1988, S. 25.
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Die neutrale Stimme der ersten Sinneinheit wechselt im folgenden Textabschnitt zu der eines wohl männlichen lyrischen Ich, das im Begriff ist, sich ein Hemd für den anbrechenden Tag auszusuchen (»Flanell oder / was sonst«) und dabei vom Bett aus von einer Frau beobachtet wird, die von dem lyrischen Ich in lateinischer Sprache mit dem Kosenamen »mea piscilla« (mein Fischchen) bezeichnet wird. Die bereits durch den Kosenamen eröffnete, leicht frivole Antikisierung dieser alltäglichen Handlung setzt sich fort mit der den Sinnabschnitt abschließenden, eher assoziierten Frage »– eine Wandinschrift in Pompeji?« Vielleicht wird das lyrische Ich von dem Bild der im Bett liegenden Frau an pompejische Wanddarstellungen, wie sie etwa in der Mysterienvilla zu finden sind, erinnert; der lateinische Diminutiv könnte als ein Indiz hierfür gelten. Klar scheint zu sein, dass es durch die antikisierende Wahrnehmung des lyrischen Ich zu einer Transzendierung und damit zu einer Distanzierung von dem künstlichen Testbildmorgen kommt, der Mittelpunkt des ersten Textabschnitts gewesen ist. Der folgende Textteil, der wieder von einer Stimme ausgesagt wird, die sich an ein Du richtet, scheint direkt an die pompejische Szene anzuschließen. Gesprochen wird von einem »Trick mit der Zeit«, womit vielleicht auf das Mittel der Antikisierung angespielt wird. Möglich, dass hiermit der Trick gemeint ist, der von der Stimme ausgemachten gefühlsmäßigen Monotonie des Lebens in der Grauzone zu entkommen: »Jeder / Gang durch die Vorstadt macht, daß Du / älter wirst ohne dich jemals zu fühlen«. An dieser Stelle bricht die Sinneinheit ab und setzt sich in einer Art Strophensprung mit der letzten Sinneinheit des Gedichts fort: »wie eine / Frau (irgendein neues / Gefühl, eine / heilsame Schizophrenie) –«. Freilich geht es hier nicht um das Gefühl des Frauseins oder die Krankheit der Schizophrenie. In der Klammer erläutert die Stimme, dass ›Frau‹ oder ›Schizophrenie‹ wohl eher als Symbole für etwas Anderes zu verstehen sind: für etwas Neues, Heilsames, etwas, was der Tristesse der Lebenswelt entgegengesetzt ist und ermöglicht, sich von ihr zu unterscheiden. Die folgenden hervorgehobenen Zeilen »›von den Gedichten / die ramponierten, von den Graffitis die / hingeschmierten‹« könnten als ein Zitat gelesen werden, mit dem die Stimme ihr Nachdenken bekräftigt. Das heilsame Andere, es wird auch durch das Ramponierte, Hingeschmierte verkörpert. Die letzte Sinneinheit gleicht einer Konklusion: Zu einer restlosen Entgiftung von der Inhumanität der Lebensumstände in der Grauzone wird es eine lange Kur brauchen. Auch in dem Gedicht »An der Elbe«,28 das in dem zweiten, nicht näher betitelten Teil von Grauzone morgens enthalten ist, wird die Realität 28 Vgl. D. Grünbein, »An der Elbe«, in: ders., Grauzone morgens. Gedichte (Fn. 27), S. 35 f.
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»DASS ICH AN ALL DIESE FLUSSGÖTTER DENKE«
des realsozialistischen Alltags durch historische Imagination transzendiert, ohne sie dadurch außer Kraft zu setzen. Das Gedicht, das in seiner typographischen Zerrissenheit dem vorigen gleicht, setzt mit dem Motiv des einsamen Streunens, des Umherschweifens ein. Dies wird zum einen durch den auf engem Raum wiederholten Einsatz des Personalpronomens ›ich‹, zum anderen durch relativierende, unbestimmte Indefinitpronomen, Numerale, Adjektive und Verben (»irgendwas scheint«, »weiß nicht«, »streunen«, »manchmal«, »grundlos«) zum Ausdruck gebracht. Das lyrische Ich streunt »diesen vergifteten Fluß / entlang« und zählt Enten und angesichts des belasteten Flusses geradezu »unverwüstlich[e] Schwäne«. In dieser Einsamkeit, die zugleich locus amoenus und horribilis ist, wird dem lyrischen Ich eine Epiphanie zuteil: und dann / geschieht’s, daß ich an all / diese Flußgötter denke (im Blick / den vorüber- / treibenden Unrat: Papierfetzen und / Blechkanister, etwas // Polystyrol) als hätte es sie (die / Orgasmen der 3000 / Töchter des Okeanos) überhaupt / nicht gegeben und / jeder Zufluß / wirft neue Blasen zartleuchtender / Chemikalien auf29 .
In der Betrachtung des vergifteten Flusses visioniert das lyrische Ich den von Hesiod überlieferten Schöpfungsmythos, nach dem die Meeresgöttin Thetys ihrem Bruder Okeanos 3000 Söhne, die Flussgötter, und 3000 Töchter, die Okeaniden, gebar.30 Die Frage nach der Wahrheit des Mythos stellt sich für das lyrische Ich nicht, denn die Verwendung des Konjunktiv II (»als hätte es sie […] überhaupt / nicht gegeben«) deutet auf die Annahme der tatsächlichen Existenz der Okeaniden hin. Vielmehr ist es der ökologisch katastrophale Zustand des Flusses, der einem Glauben machen könnte, dass es die Okeanostöchter nicht gegeben hätte. Und doch scheinen die fluoreszierenden Chemikalien, die das lyrische Ich anwidern, zugleich die Assoziation zu den sinnlich-marinen Okeaniden hervorzurufen. Während der erste Teil des Gedichts noch eine gewisse Idylle zu vermitteln vermochte, klingt das Gedicht nun nach der Okeaniden-Vision in einem entzauberten Realismus aus. Die Uferterrasse, von der das sich nun unbehaglich fühlende lyrische Ich spuckt, ist kahl, und anstatt Enten und unverwüstlicher Schwäne bewundert er »ein Paar strom- / abwärts keuchend[e] / alt[e] Männer // beim Jogging«. An den zwei Gedichten »Wenn es nach einer« und »An der Elbe« lassen sich verschiedene Lebensmotive und biographische Erfahrungen Grünbeins beobachten, die in poetischer Verdichtung zu einer 29 Ebd. S. 35. 30 Vgl. Hesiod, Theogonie, 337–368 (in: ders., Theogonie. Werke und Tage. Griechisch und deutsch, hg. u. übers. von A. von Schirnding. Mit einer Einf. u. einem Reg. von E. G. Schmidt, München: Artemis und Winkler 1991, S. 31 ff.).
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Oszillation zwischen Engagement und Distanz führen. Da wäre zuerst das frühkindliche Imaginieren und Tagträumen, die in beiden Gedichten als Wege zur poetischen Realitätstranszendierung beschritten werden. Das seit der Kindheit praktizierte Streunen findet in dem Gedicht »An der Elbe« seinen Niederschlag. Und schließlich ist es das morgendliche Grau der Trostlosigkeit und Unbestimmtheit, das in dem Gedicht »Wenn es nach einer« thematisiert wird. Es sind diese Motive, die den Gedichten trotz aller lebensweltlichen Härte einen nicht eindeutig fixierbaren, unbestimmten, leicht schwebenden, im Ungefähren liegenden Grundton geben. Er ist zugleich die atmosphärische Voraussetzung für das sich in den Gedichten vollziehende dialektische Oszillieren zwischen Auseinandersetzung mit und Abwendung von der Realität der Lebenswelt. Zwar wird sowohl mit der morgendlichen pompejischen Assoziation als auch mit der epiphanischen Okeaniden-Vision Tristesse, Künstlichkeit und Umweltverschmutzung antikisierend transzendiert, ausgeblendet wird die Realität dadurch jedoch nicht. In beiden Gedichten wird zu ihr zurückgekehrt, werden die durch staatliche Misswirtschaft und Ideologie verursachten defizitären Lebensbedingungen kommentiert und protokolliert. Das lyrische Ich beider Gedichte sieht sich jedoch nicht vor die Aufgabe gestellt, aktivistisch gegen sie anzugehen. Vielmehr kritisiert es sie, indem es durch mythologisch-antikisierende Assoziation und Imagination die reale Absenz dessen vor Augen führt, was – so legen es beide Gedichte nahe – aus dem Alltag der Menschen systematisch ausgeschlossen wird: Individualität, Andersheit und ökologisches Mitgefühl. In den Gedichten wird also weder Zuflucht in eine problemabgewandte poésie pure gesucht, noch wird einer Dichtung im Dienste des Engagements das Wort geredet, was jedoch nicht heißt, dass sie nicht politisch wären.
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Ibrahim Abdella und Sarah Schmidt
Desinformation, Neokolonialismusund Autoritarismuskritik in Ṣunʿallāh Ibrāhī�ms Roman Der Prüfungsausschuss (al-Lağna) 1. Einleitung »I decided I would be a novelist in prison. I’d had a passion for journalism since I was young. Later, in my twenties, I got into political work and decided to become a twenty-four-hour revolutionary. Gradually, I began to feel like that wasn’t for me either, and this feeling became more profound in prison, where I was with great leaders, intellectuals, heroes, college professors, workers, and other strong, extraordinary personalities, who were able to influence others. I felt I was incapable of doing what they did, and I felt that writing was the only way for me, because it provides great freedom. One isn’t obliged to be sensitive to things or the words of a person responsible for you, who tells you what to do and what not to do. You’re free to do whatever you want.«1 In diesen wenigen prägnanten Sätzen aus einem Interview im April 2009 gibt Ṣunʿallāh Ibrāhīm (geb. 1937) einen Einblick in die frühen Jahre seiner Biographie, die ihn zum Schriftsteller haben werden lassen. In den frühen 1950er Jahren beginnt Ibrāhīm zunächst ein Jurastudium, wendet sein Interesse jedoch schnell dem Journalismus und dem Theater zu und wird Mitglied der Kommunistischen Partei Ägyptens, die in diesen Jahren unter der Regierung Ğamāl ʿAbd an-Nāṣirs im Untergrund agiert. Aufgrund seiner politischen Aktivitäten wird er, kaum 20 Jahre alt, für fünf Jahre inhaftiert (1959–1964). Er erlebt dort brutale Verhörmethoden und unmenschliche Haftbedingungen, lernt aber auch viele bedeutende Personen kennen, liest die ins Gefängnis geschmuggelten Bücher und nimmt an von Häftlingen organisierten Fortbildungskursen teil. Die Haftzeit wird so zu einer Zeit des Lernens und Lesens, ja, eine Art Untergrundstudium.2 Im 1
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Sunallah Ibrahim, »Odd man out«, Interview mit Ahmed Al Attar, übers. ins Englische von Mona Abu Rayyan, in: http://bidoun.org/articles/sonallah-ibrahim, zuletzt aufgerufen August 2017. »He credits prison life with serving as a sort of university, saying that it brought him in contact with inmates from all walks of life, from college professors to laborers and peasants. He attended classes on hieroglyphics,
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Gefängnis wächst der Entschluss zu schreiben und er unternimmt erste schriftstellerische Schritte in Form seiner auf Zigarettenpapier notierten Tagebuchaufzeichnungen,3 die viele Jahre später unter dem Titel Yawmiyyāt al-Wāḥāt (engl. Memoirs oft the Oasis Prison) publiziert wurden. Seit seinem Erstlingswerk Tilka ar-Rāiḥa (1966) (engl. The Smell of It, 1971 u. 2013), eine Schilderung der ersten Tage nach seiner Haftentlassung, die eine Momentaufnahme der ägyptischen Gesellschaft ebenso wie eine Momentaufnahme der psychischen Innenlandschaft bietet und mit zahlreichen Tabus bricht, ist Ibrāhīm mit der Zensur vertraut.4 In seinen Werken entwickelt er einen dokumentarischen Stil, der häufig mit intertextuellen Verfahren arbeitet und Zeitungsausschnitte, Radiosendungen oder andere Alltagsdokumente in den Text integriert.5 Sie enthalten eine scharfe Kritik an nationalen wie internationalen politischen Machtverhältnissen, an kapitalistischen, imperialistischen und neokolonialen Strukturen und sind zugleich detailgenaue Beobachtungen voller Ironie einer in sich widersprüchlichen, konsumorientierten und gespaltenen ägyptischen Gesellschaft. Als er 2003 für die Auszeichnung Supreme Council of Culture’s Novel Conference Award nominiert wurde – die landesweit renommierteste
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history, and French, and read books that had been smuggled inside the prison walls by enterprising inmates.« (Abdalla F. Hassan, »Black humor in dark times«, Cairo Egypt, June 19 (2003), in: http://www.worldpress.org/ Mideast/1205.cfm, letzter Aufruf im August 2017); vgl. auch Robyn Creswell, »Sonallah Ibrahim: Egypt’s Oracular Novelist«, August 20 (2013) in: http://www.newyorker.com/books/page-turner/sonallah-ibrahim-egypts-oracular-novelist, letzter Aufruf August 2017. Zum Thema Gefängnis und Literatur vgl. den auf dieses Buch folgenden Band Erinnerung an Unrecht. »It’s a diary that I wrote on cigarette papers I had smuggled in while in the Oasis prison. That was 1963.« (S. Ibrahim, »Odd man out« (Fn. 1)). Die komplizierte Publikationsgeschichte dieses Buches steht paradigmatisch für den Weg vieler Bücher ägyptischer Autoren an die Öffentlichkeit unter den Bedingungen der Zensur: Es wurde kurz nach seinem Druck 1966 verboten, Ibrāhīm gelang es jedoch 100 Exemplare zu retten, die er der Literaturkritik zuspielte, sodass lobende Kritiken eines nicht vertriebenen Buches erschienen. (Vgl. A. F. Hassan, »Black humor in dark times« (Fn. 2)). Der Roman zirkulierte heimlich unter ägyptischen und arabischen Intellektuellen, wurde in gekürzter Fassung 1968 in einer Beiruter Zeitschrift, 1969 in zensierter Form in Kairo wieder aufgelegt, erschien 1971 in unzensierter Form auf Englisch und ist erst 1986 wieder in vollem Umfang für arabischen Leser zugänglich. Zur Zensurgeschichte dieses Romans vgl. das Buchkapitel von Marina Stagh, »Tilka al-Râ’iha by Sunʿallāh Ibrāhīm«, in: dies.: The Limits of Freedom of Speech. Prose Literature ans Prose Writers in Egypt under Nassar and Sadat, Stockholm: Almqvist & Wiksell International 1993, S. 184–226. So z. B. in den Romanen Bairūt, Bairūt (1984), Ḏāt (1992) und Warda (2000).
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und zugleich hochdotierte Auszeichnung, die vom ägyptischen Staat verliehen wird –, nutzte Ibrāhīm die große Resonanz der Preisverleihung für ein politisches Statement. Auf der Bühne des Kairoer Opernhauses lehnte er vor laufenden Kameras und ohne Vorwarnung den Preis ab und verband die Ablehnung mit einer deutlichen Kritik an Verfolgung und Repression des autoritären Mubarak-Regimes.6 Der Roman Der Prüfungsausschuss (al-Lağna) – für Stephan Guth »eines der genialsten der modernen Literatur«7 – erschien 1981 im Libanon und wurde ins Englische, Französische und auch ins Deutsche übersetzt und ist bis heute, trotz der internationalen Anerkennung Ibrāhīms, leider sein einziger ins Deutsche übertragener Roman.8 Der Prüfungsausschuss ist eine seltsame Parabel, in der ein namenloser, aus dem Gefängnis entlassener Protagonist sich einem Ausschuss stellt, dessen Prüfungsgegenstand, -methoden und -absichten im Unklaren bleiben. Die erhoffte bestandene Prüfung scheint jedoch eine so außerordentliche Auszeichnung oder ein so vielversprechender Gewinn, dass sich der Protagonist 6
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»When I think back, it’s true I didn’t feel like I could go and receive the award and go through all those congratulatory formalities, which I can’t stomach very easily anyway — but at the same time, I saw it as an opportunity to speak my mind. So I decided not to decline. I went in order to let it out, to say and project all that people wanted to say but could not. I believe that it was a successful initiative from one perspective, from the perspective that my appearance was a surprise for them. They didn’t anticipate that I’d actually come. So they weren’t able to react fast enough, and that’s why I escaped arrest. Anyway, things have changed. Today there are no media blackouts, as there were before. Today you’ll find attacks against President Mubarak and others in the press, and scandals and whatnot are being exposed as never before. I remember that when I got home that day, I felt serene and at peace with myself.« (S. Ibrahim, »Odd man out« (Fn. 1)). Vgl. auch A. Haist, »›Diese Realität ist fürchterlich‹. Ṣunʿallāh Ibrāhīms Ägypten zwischen medialer Selbstdarstellung und erlebter Alltagsrealität«, in: A. Neuwirth, A. Pflitsch u. B. Winkler (Hg.), Arabische Literatur, postmodern, München: Boorbeck 2004, S. 122–135, hier S. 122f. St. Guth, Zeugen einer Endzeit. Fünf Schriftsteller zum Umbruch in der ägyptischen Gesellschaft nach 1970, Berlin: Klaus Schwarz Verlag 1992, S. 117. Von kleinen Texten abgesehen wie der im Rahmen der documenta 13 in einem Sonderdruck in der Reihe 100 Notes – 100 Thoughts / 100 Notizen – 100 Gedanken erschienene Essay: S. Ibrahim, Two Novels and two Woman / Zwei Romane und zwei Frauen, Ostfildern, Hatje Cantz 2012, sowie das im NZZ Folio »Kiosk« August 1999 erschienene Essay: »Am Nabel des Nabels. Onkel Madbûlis Kiosk im Zentrum von Kairo«. An der Universität Freiburg ist gegenwärtig eine Übersetzung von Tilka ar-Rāiḥa (Dieser Geruch) in Arbeit, vgl. http://www.orient.uni-freiburg.de/islamwissenschaft/ mitarbeiter/megahed/sunallah.html, letzter Abruf August 2017.
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diesem langwährenden und peniblen Unternehmen mit ungewissem Ausgang stellt, in dessen Verlauf er mehrfache Vorladungen erhält und vielfältige Erniedrigungen in Kauf nimmt. So wird er nach stundenlangem Warten vor den Türen des Ausschusses in den langen Gängen einer nicht weiter zu identifizierenden Institution von den Mitgliedern gebeten, seine Hosen herunterzulassen und muss seine vermeintliche Impotenz prüfen lassen, und zwar in Form eines ihn penetrierenden Fingers eines Ausschussmitgliedes. Die weder schlecht noch gut verlaufende erste Anhörung endet und der Prüfling erhält ein paar Monate später per Telegramm den Auftrag, sich mit einer Abhandlung über die strahlendste ägyptische Persönlichkeit wieder vor den Mitgliedern einzufinden. Er entscheidet sich für einen allseits bekannten, nie benannten und für den Leser nebulös bleibenden »Herrn Doktor«, dessen Leben und Wirken der Prüfling anhand einschlägiger Zeitungsartikel beginnt zu recherchieren. In seinen Nachforschungen massiv behindert, schafft er es dennoch mithilfe wenig beachteter Frauenzeitschriften und einer amerikanischen Zeitschrift aus dem amerikanischen Konsulat in mühevoller Feinarbeit einzelne Informationsbausteine zu einem Gesamtbild zusammenzusetzen. Das Gesamtbild zeigt das Leben eines opportunistischen und skrupellosen Aufsteigers und zeichnet eine ägyptische Gesellschaft, in der wirtschaftliche, politische und militärische Machenschaften aufs engste miteinander verwachsen sind. Noch bevor er diesen Einblick zusammenfassen kann, erscheint der gesamte Ausschuss vollkommen unerwartet vor seiner Wohnung, legt ihm nahe, das Thema zu wechseln und lässt ihm den »Kleinwüchsigen«, ein Ausschussmitglied, das ihn schon mehrfach schikaniert hat, zur Überwachung da. Auf Schritt und Tritt von diesem Menschen auf engstem Raum verfolgt – er begleitet ihn auf die Toilette, schläft in seinem Bett, beobachtet ihn beim Arbeiten, isst seine Vorräte – verschafft sich der bedrängte Protagonist schließlich mit der Ermordung des Kleinwüchsigen wieder Freiraum. Eine erneute Vorladung vor dem Ausschuss, dessen Trauerkränze für den Ermordeten seine nationalen und internationalen Verflechtungen offenbaren, trägt den Charakter einer Gerichtsverhandlung, auch wenn der Ausschuss, wie die Mitglieder betonen, keinerlei juristische Kompetenz besitze. In seiner wenig offensiven Verteidigung ist der Protagonist vor allem daran interessiert, die Ergebnisse seiner Recherchen vorzutragen, in der die korrupten Verflechtungen zwischen Wirtschaft, Politik und Kultur deutlich werden. Diese letzte Vorladung endet mit der Empfehlung zur »Höchststrafe«, dessen Gehalt ihm erst der Türwächter entschlüsselt: Sie bestünde darin, sich selbst zu verspeisen. Nach dem er seine gesammelten Recherchen noch einmal ausgewertet hat und sein Leben sortiert und revue passieren lässt, nimmt er seine Forschungsergebnisse auf Tonband auf und vollstreckt das angeratene Urteil, indem er beginnt, sich selbst zu verzehren. 278
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2. Anklänge an Kafka und die Frage nach der literarischen Form der Gesellschaftskritik Hartmut Fähndrich sieht in dem Roman eine moderne Form des Rätselmärchens, in dem der Held ein oder gleich mehrere unterschiedlich schwere Rätsel lösen muss, bevor er im Falle seines Scheiterns verdammt wird oder aber im Falle des Gelingens mit einem großen Lohn rechnen kann.9 In Der Prüfungsausschuss staffelt sich der Schwierigkeitsgrad der Prüfungsfragen, und auch der namenlose Prüfling spricht im Zuge der letzten großen Prüfung immer wieder von Rätseln, die es zu lösen gilt. Allerdings ist in diesem modernen Rätselmärchen die Rätsel gebende Instanz nicht wirklich daran interessiert, eine Lösung zu erhalten, zumindest keine, die tatsächlich den Schleier lüftet und die Machtstrukturen innerhalb der Gesellschaft aufdeckt. Vielmehr wird der Protagonist dafür bestraft, dass er das Rätsel löst. Dieses groteske Szenario einer undurchsichtigen Vorladung vor eine Instanz, deren Verlauf nicht zu beeinflussen scheint und deren Logik nicht einsichtig ist, erinnert zumindest den deutschen Leser unweigerlich an Franz Kafkas Roman Der Prozess und auch Anklänge an die Erzählung Vor dem Gesetz stechen ins Auge.10 So sitzt der Protagonist bevor er endlich Einlass erhält, lange vor der Tür des Prüfungsausschuss, die von einem Wächter bewacht wird. Und es ist nicht der Prüfungsausschuss selbst, sondern eben jener Wächter, der ihm Aufschluss über die verhängte »Höchststrafe« gibt, freilich wieder in Form eines Rätsels: sich selbst zu verspeisen. 9
Vgl. H. Fähndrich, »Trails and The Trail. Sunʿallāh Ibrāhīm, Franz Kafka etc.« in: A. Neuwirth, B. Embaló, u. a. (Hg.), Maths, Historical Archetypes and symbolic Figures in arabic literature. Towards a New Hermeneutic Approach. Proceedings of the International Symposium in Beirut June 25th – June 30th, 1996, Stuttgart: Steiner 1999, S. 239–246, hier 240. 10 Eine sehr knapp gehaltene Untersuchung der narrativen Übereinstimmungen und Differenzen zwischen Kafkas und Ibrāhīms Erzählungen als Varianten einer Urgeschichte des Gerichts unternimmt H. Fähndrich, »Trails and The Trail« (Fn. 9), S. 242–245. Betont wurde Ibrāhīms Nähe zu Kafka immer wieder, meist ohne nähere Ausführung (z. B. P. Starkey, Sonallah Ibrahim. Rebel with a Pen, Edinburgh: Edinburgh University Press 2016, S. 75; St. Guth, Zeugen einer Endzeit (Fn. 7), S. 123, Fn. 21 oder auch – der literarischen Topographie entsprechend – im Rahmen des »Praque Writers’ Festival« 2013, auf dem Ibrāhīm Gast war, vgl. »Sonallah Ibrahim. Review oft he Committee«, publiziert auf der Webseite des Prague Writers’ Festival (2013), http://www.pwf.cz/rubriky/pwf-2013/ authors/articles/sonallah-ibrahim-review-of-the-committee_9590.html, letzter Aufruf August 2017). Auch in Atef Botros’ Buch: Kafka. Ein jüdischer Schriftsteller aus arabischer Sicht, Wiesbaden: Reichert Verlag 2009, findet sich nur eine sehr knappe, die Hinweise zu Kafka sammelnde Auseinandersetzung mit dem Roman Der Prüfungsausschuss (ebd., S. 120–123).
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Aber nicht nur hinsichtlich der narrativen Struktur, auch im Erzählstil Ibrāhīms finden sich viele Gemeinsamkeiten mit Kafka. Beide geben eine vermeintliche objektive, nüchterne und detailgenaue Beschreibung absurder und zum Teil erniedrigender Vorgänge, als entsprächen sie einer alltäglichen Routine. Die Protagonisten finden sich in diese Vorgänge ein, ihre Gedanken sind pragmatischer Art, Emotionen bleiben weitgehend außen vor.11 Zugleich bleibt die Kontextualisierung vage und allgemein, sodass eine Vieldeutigkeit entsteht, die dem Geschehen einen allegorischen Charakter verleiht. Auch wenn Der Prüfungsausschuss eindeutig während der Infitāḥ-Politik der as-Sādāt-Ära spielt und Ibrāhīms scharfe Gesellschaftskritik erst in diesem Bezug aufgeht, bleibt die Prüfungsinstanz und ihre Mitglieder derart vage und unfassbar,12 dass die Geschichte der Zeit enthoben wie eine Parabel erscheint, die sich in unterschiedliche Richtungen interpretieren lässt und zwischen einer konkret gesellschaftspolitischen, einer privat-menschlichen und existentiellen Bedeutungsebene oszilliert.13 Es entsteht so eine Spannung zwischen der Absurdität der Geschichte und der vermeintlichen Objektivität ihrer Erzählweise, aber auch zwischen der detailgenauen Schilderung einzelner Abläufe und ihrer vagen Kontextualisierung. 1981 – also zur Zeit des Erscheinens von Der Prüfungsausschuss – sind bereits wichtige Werke Kafkas, unter ihnen auch Der Prozess, ins Arabische übersetzt, wenn auch, sofern man dem Urteil des Germanisten Abboud folgt, mit erheblichen übersetzerischen Mängeln.14 11 Ein derartiger distanzierter, »kalter« Erzählstil kennzeichnet auch den Roman Nağmat Aġusṭos (1974) (August-Stern) und Ibrāhīms Erstlingswerk That smell (1966). Allerdings schiebt Ibrāhīm in diesen Romanen einen Gedankenstrom sein, der die Gefühle, Erinnerungen, Hoffnungen und Wünsche des Protagonisten einfängt und der auch typographisch in Kursivschrift abgehoben erscheint. Der Prüfungsausschuss unternimmt keine Ebenenunterscheidung dieser Art. 12 Dieser Unbestimmtheit entspricht, wie David F. Dimeo hervorhebt, dass es dem Protagonisten nie gelingt, die Anzahl der Mitglieder zu zählen. Sie scheint auf der einen Seite sehr groß (unzählbar) – zugleich passen die Ausschussmitglieder jedoch in seine kleine Wohnung, vgl. D. F. Dimeo, Committed to Disillusion. Activist Writers in Egypt in the 1960s–1980s, Kairo / New York: The American University in Cairo Press 2016, S. 174f. 13 Vgl. dazu auch St. Guths Interpretationsangebote in Zeugen einer Endzeit (Fn. 7), S. 118. Der Prüfungsausschuss lässt sich darüber hinaus auch als eine wunderbare Parodie auf die nazistischen Auswüchse und Machtspielchen der gegenwärtigen Wissenschaftslandschaft lesen, wie sie sich z. B. in Bewerbungskommissionen abspielen. Ibrāhīm selbst hatte, wie er in einem Interview bemerkt, konkret die Aufnahmekommission der Moskauer Akademie vor Augen, die ihn 1971 examiniert hatte, vgl. St. Guth, Zeugen einer Endzeit (Fn. 7), S. 123f., Fn 21. 14 Vgl. Abdo Abboud, Deutsche Romane im arabischen Orient, Frankfurt/M.: Peter Lang 1984, S. 142. Der Prozess (al-Qadiyya) erschien erstmals 1968 ins
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Bemerkenswert ist nun die Aussage des Autors, dass er selbst keine große Nähe zu Kafka sähe und Kafka auch nicht zu seinen literarischen Vorbildern zähle.15 Abgesehen davon, dass sich eine Textinterpretation auch gegen die ausgesprochene Intention eines Autors rechtfertigen lässt und der Text in dieser Unabhängigkeit vom Autor sein fortwährendes Leben behauptet, ist es interessant, diese Aussage Ibrāhīms vor dem Hintergrund der zeitgenössischen arabischen Kafka-Rezeption zu lesen. Wie der syrische Literaturwissenschaftler Abdo Abboud ausführt, wurde die literaturwissenschaftliche Kafka-Rezeption in den 1970er Jahren von einer Diskussion um den Zionismus-Vorwurf dominiert.16 Die Zionismus-Debatte, in der es um die Frage geht, ob Franz Kafka ein Zionist war und wie stark diese vermeintliche politische Dimension seine Schriften durchdrungen habe, kann ihrerseits als Baustein einer weiteren, umfassenderen literaturwissenschaftlichen Debatte angesehen werden, der »Engagement und Realismus Debatte«, die zu den wichtigsten Debatten der modernen arabischen Literatur gehöre.17 Im Fokus dieser letzteren steht die Frage nach der literarischen Form politischer und gesellschaftskritischer Stellungnahme in der Literatur, die im sozialistischen Realismus und seiner Forderung nach einer realistischen Darstellung mit klaren sozialen und nationalem Engagement eine mögliche Antwort findet. Wie kann und soll eine politische und gesellschaftskritische Dimension in der Literatur deutlich werden? Welche literarischen Mittel stehen ihr zur Verfügung, wie lässt sich in Zeiten politischer Zensur kritisch sprechen und kann auch absurde Literatur ein politisches Statement haben? Arabische übersetzt von Muṣṭafā Māhir, 1970 kommt eine zweite Übersetzung (al-Muḥākama) aus dem Englischen von Ğurğ Mansī heraus. Das Schloss (al-Qaṣr) erschien 1971 und wurde ebenfalls übersetzt von Muṣṭafā Māhir. 15 Diese Aussage entstammt einem Interview, dass A. Abboud mit S. Ibrāhīm geführt hat. Die Interviews liegen nicht schriftlich vor, in seinem Buch Deutsche Romane im arabischen Orient (Fn. 14) zitiert Abboud im Verlauf seiner Argumentation auszugsweise aus dem Interview und fasst ihre wichtigen Aussagen zusammen. Ähnliche Hinweise zur Meinung des Autors gibt auch St. Gut Zeugen einer Endzeit (Fn. 7), S. 123f., Fn. 21. 16 Diese Frage ist für einen deutschen Leser abwegig und deckt sich in keiner Weise mit der internationalen Kafka-Rezeption. A. Abboud gibt eine ausführliche Darstellung und Kritik dieser Debatte, in der der Vorwurf, Kafka sei ein Zionist gewesen, und der Ansatz, diese These zum alleinigen Ausgangspunkt der literarischen Interpretation zu wählen, der Unwissenschaftlichkeit überführt wird (vgl. A. Abboud, Deutsche Romane im arabischen Orient (Fn. 14), S. 154–173). Zur Zionismusdebatte vgl. auch die jüngere Darstellung von A. Botros, Kafka. Ein jüdischer Schriftsteller aus arabischer Sicht (Fn. 10), S. 124–171. 17 Vgl. A. Abboud, Deutsche Romane im arabischen Orient (Fn. 14), S. 133f., S. 258, Fn. 180.
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Als bekennender Anti-Zionist und Mitglied der kommunistischen Partei mag Ibrāh�m vor diesem Hintergrund eine deklarierte Nähe zu Kafka kein erstes Anliegen gewesen sein. Gleichwohl bietet Kafka, wie Abboud bemerkt, viele Anknüpfungspunkte für die arabische Welt – so zum Beispiel die beständige Auseinandersetzung Kafkas mit der Figur des Vaters und die Kritik an wuchernden ineffizienten bürokratischen Strukturen.18 Kafkas Erzählweise, die Vieldeutigkeit generiere, eignet sich hingegen sehr gut, um in Zeiten der Überwachung, Zensur und Reglementierung zu einer Form des literarischen Widerstandes zu werden.19 Letzteres ist, wie wir meinen, im Roman Der Prüfungsausschuss auf eine komplexe Weise umgesetzt.
3. Das Informationsvakuum und die Kunst der Andeutung Die Vorladung bzw. das Sich-Einstellen vor dem Prüfungsausschuss und die Durchführung der Prüfungen selbst sind durch Nicht-Wissen und einen akuten Informationsmangel auf den unterschiedlichsten Ebenen gekennzeichnet. Weder weiß der Prüfling, welche Art von Auszeichnung die Prüfung ihm bringen wird, noch kennt er die Prüfer, das Prüfungsprozedere, die -inhalte oder -absichten. »Mir war lediglich mitgeteilt worden, es sei unerlässlich. Also ging ich.«20 In der ein Jahr währenden Vorbereitung gelingt es dem Protagonisten nicht, einzelne Mitglieder des Ausschusses namentlich zu identifizieren, ehemalige Prüflinge 18 Diese Strukturen sind auch bei Kafka historisch zu identifizieren und insofern enthalten sie auch entgegen Ibrāhīms Statement eine gesellschaftspolitische Kritik: »Gemeint damit [mit dem Vorhandensein günstiger soziopolitischer Voraussetzungen für die Rezeption] sind die in dieser Region bestehenden, auf väterlicher und politischer Autorität beruhenden Herrschaftsverhältnisse, die jenen im ›Schloß‹ geschilderten nicht unähnlich sind. Der Grund dafür besteht darin, daß die in vielen arabischen Ländern bestehenden Gesellschaftsstrukturen, die sich nicht zuletzt durch überbürokratische, korrupte Staatsapparate sowie durch einen patriarchalischen Autoritarismus kennzeichnen, große Gemeinsamkeiten mit den realen historischen Hintergründen des Kafkaschen Werkes aufweisen.« A. Abboud, Deutsche Romane im arabischen Orient (Fn. 14), S. 152. 19 »Gerade aufgrund ihrer in der Erzählform verankerten Vieldeutigkeit entziehen sie sich dem Zugriff der Zensur, die stets bestrebt ist, das Werk auf bestimmte inhaltliche Positionen festzunageln und entwickeln sich dadurch zu einer Variante des literarischen Widerstands.« A. Abboud, ebd., S. 153. 20 Ṣ. Ibrahim, Der Prüfungsausschuss, übers. von H. Fähndrich, Basel: Lenos Verlag, 1993, S. 11 (im Folgenden PA).
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geben vor, die Prüfung vergessen zu haben, bleiben wage oder schweigen,21 und schließlich bereitet er sich quer durch alle Disziplinen mithilfe einer alten, auf Video aufgezeichneten Quizsendung vor.22 Es gehe, so mutmaßt der Protagonist, nicht nur um die Prüfung seiner Kenntnisse, sondern auch um seine intellektuellen Fähigkeiten und die Art und Weise, sich zu verhalten.23 Als die erste Begegnung ansteht, beginnt diese mit einer starken Verzögerung, über dessen Ursachen er ebenfalls im Unklaren belassen wird.24 Derart in einem Vakuum agierend, ist er auf seine Beobachtungs- und Interpretationsgabe angewiesen und versucht den Prüfungsausschussmitgliedern zu Beginn seine große Motivation vor allem durch seine Willfährigkeit zu demonstrieren, die bis zur vollkommenen Entblößung und Penetration durch ein Ausschussmitglied gehen. Der Eindruck des Absurden entsteht, wenn derartige Szenen der seelischen und körperlichen Misshandlung mit der größten Genauigkeit beschrieben und mit neutraler Selbstverständlichkeit hingenommen werden, als ob das Wissen um Gut und Böse und die Maßstäbe des Umgangs miteinander abhandengekommen wären. Dieses Nicht-Wissen, dieses Informationsvakuum zeigt sich auch auf der Ebene der Kommunikation in unterschiedlichen Spielarten der Kommunikationsverweigerung, die sich in undeutlichen, rätselartigen Fragen aber auch in undeutlicher Artikulation oder einem Schweigen äußern. So ist der Wärter maulfaul und kommuniziert gerne über Gesten,25 die Ausschussmitglieder unterhalten sich untereinander flüsternd,26 sie schieben sich wechselseitig Blätter mit roten, rätselhaften, nicht zu deutenden Linien zu,27 der »Kurzgewachsene« »brummte ärgerlich«,28 es werden unverständliche Vorwürfe genuschelt, die es zu erraten gilt,29 sie reden durcheinander, sodass niemand etwas verstehen kann30 oder sie schweigen ihn an.31 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31
Vgl. PA, S. 14. Vgl. PA, S. 13. Vgl. PA, S. 12f. Vgl. PA, S. 11. Vgl. PA, S. 11. Vgl. PA, S. 15, 23, 40. Vgl. PA, S. 23. PA, S. 20. Vgl. PA, S. 24. Vgl. PA, S. 25. Vgl. PA, S. 28. Dem Informationsvakuum auf Seiten der Mächtigen entspricht ein öffentliches Schweigen über brisante Themen auf Seiten der Unterdrücktenn wie es im Beitrag von A. Aghsain in diesem Band thematisiert
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Das Zurückhalten von Informationen, das Stellen rätselhafter und unpräziser Fragen, was zu Beginn vom Prüfling selbst als eine legitime Form der Prüfungsstrenge interpretiert wird32 – schließlich darf man dem Prüfling nicht zu viele Informationen zuspielen, er soll ja geprüft werden –, erweist sich jedoch mehr und mehr als eine Taktik, mit der das Gefühl des Ausgeliefertseins stetig steigt und eine einschüchternde Allwissenheit und Allmacht des Prüfungsausschusses vorgetäuscht wird.33 Je mehr der Prüfling versucht im Verlauf seiner Prüfungsgeschichte in dieses Informations- und Kommunikationsvakuum vorzustoßen und dem Ausschuss auf seine rätselhaften Fragen Rede und Antwort zu stehen, desto deutlicher wird, dass keinerlei politische, gesellschaftliche, historische oder wissenschaftliche Konkretion erwünscht ist und die anfängliche Kommunikationsverweigerung des Ausschusses geht über in eine Behinderung der Recherchearbeit, in Überwachung und Bedrohung.34 In diesem Sinne zwingt der Protagonist, der sich immer intensiver und mit einem immer größer werdenden Wahrheitsanspruch in wird. Eine Desinformation mit rhetorischen Mittel in Reden ausgewählter arabischer Politiker wird im Beitrag von K. Stock untersucht. 32 Vgl. PA, S. 49. 33 Dabei prüft der Ausschuss den Bewerber auf verwertbaren Schwachstellen ab. So wird der Prüfling z.B. aufgefordert zu tanzen, womit die hinterhältige Frage nach seiner Akzeptanz des unter dem Nāṣir-Regime verachteten Bauchtanzes verbunden ist, den er schnell und beflissen, seine Krawatte um die Hüfte gebunden ausführt und sich somit als Mann in eine weibliche Rolle begibt. Ein Zweifel an seiner sensuellen Orientierung schließt sich an und wird durch eine Penetration ›geprüft‹: »Nachdem der Mann seinen Finger zurückgezogen hatte, richtete ich mich auf und stand ihnen wieder gegenüber. Der blonde Mann blickte auf den Vorsitzenden und sagte triumphierend: ›Habe ich es Ihnen nicht gesagt?‹« (PA, S. 25). Liest man »sich aufrichten« und »gegenüber stehen« als Umschreibung für eine durch Stimulation ausgelöste Erektion, dann diente diese Szene dazu, die vermeintliche Homosexualität des Bewerbers zu beweisen. Unter dieser Prämisse wäre der Bewerber nun erpressbar und erklärt die aufsteigende Panik, die diesem Missbrauch folgt. 34 Der Protagonist stellt fest, dass die entsprechenden aufschlussreichen Artikel in allen Zeitungen fehlen und er unter fadenscheinigen Gründen keinen Zugang mehr zu wichtigen Dokumenten erhält. Allerdings wird nie deutlich, sondern nur angedeutet, dass der Prüfungsausschuss hinter dieser Behinderung steckt. Dass eine solche Behinderung eben nicht mit letzter Sicherheit auf den Prüfungsausschuss zurückgeführt werden kann, mindert nicht etwa, sondern steigert seine Macht, denn es nährt die Angst, dass er überall intervenieren kann. Eine ganz ähnliche Taktik der Allmachtsuggestion verfolgte auch der rumänische Geheimdienst Securitate, wie Herta Müller in ihren autobiographischen Essays schildert. Vgl. den Beitrag von Sarah Schmidt in diesem Band.
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die Beantwortung der ihm gestellten Fragen hineinkniet, den Ausschuss dazu, sein wahres Gesicht zu zeigen. Interessant ist nun, dass sich der Prüfling – und vermittelt über ihn auf einer höheren Ebene auch der Autor Ibrāhīm – diese rätselhafte Sprechweise, das Sprechen in Andeutungen zu eigen macht und zu einer Form des Widerstands werden lässt. Ohne Nennung von Namen und in seinen Ausführungen vage bleibend inszeniert Ibrāhīm ein Sprechen zwischen den Zeilen, mit dem es ihm gelingt, einen politischen Kontext zu benennen und Gesellschaftskritik zu platzieren, so dass sich der Spieß ab und zu umdreht und es dem ratlosen Prüfungsausschuss die Sprache verschlägt.35 Beispielhaft ist eine Szene während der erste Anhörung, in der der Prüfungsausschuss kontextlos danach fragt, wo der Protagonist in »jenem Jahr« gewesen sei, ohne »jenes Jahr« genauer anzugeben. »Natürlich durfte ich mich nicht nach dem Jahr erkundigen, das er meinte, sonst wäre ich in die Schlinge getreten. Es war meine Aufgabe, es allein herauszufinden, und zwar möglichst rasch. [...] Ich beschloss, der einzige Ausweg sei es, einige der in Frage kommenden Jahre, beispielsweise 48 und 52, wegen meines damaligen Alters als abwegig auszuschliessen. Dadurch engte ich den Bereich meiner Überlegungen ein, und es blieben noch die Jahre 56, 58, 61, 67. Bevor mich die Verzweiflung übermannte, kam mir eine Antwort in den Sinn, die wenngleich auch nicht ganz richtig, jedenfalls nicht weit von der Wahrheit entfernt war: ›Im Gefängnis‹«.36 In der stillen Reflexion des Protagonisten werden Jahre genannt, die alle von großer politischer Bedeutung für Ägypten waren: 1948 ist das Jahr des ersten arabisch-israelischen Krieges, 1952 fand die Revolution freier Offiziere (u. a. Nāṣir) in Ägypten statt, 1956 ist das Jahr der Verstaatlichung des Suez-Kanals und der militärischen Konfrontation Frankreichs, Großbritanniens und Israels mit Ägypten, 1958–1961 markieren Beginn und Ende der Vereinigten Arabischen Republik als Einheit zwischen Syrien und Ägypten, 1967 fand der Sechstagekrieg mit Israel statt. Allein mit der Nennung dieser Jahre wird ein politischer Kontext umrissen, die Auswahl eines, des Jahres, aus dieser Anzahl politisch entscheidender Jahre setzt jedoch eine Wertung voraus. Die Frage, was er in diesem Jahr gemacht habe, impliziert so möglicherweise eine politische Positionierung, die für den Prüfling heikel werden kann und macht deutlich, dass über diese Jahre und die sie repräsentierenden Ereignisse nicht offen diskutiert werden kann. Ausgerechnet die Antwort, im Gefängnis gewesen zu sein, mithin nicht direkter Handlungsträger gewesen zu sein, garantiert dem Prüfling eine gewisse Neutralität. 35 Vgl. PA, S. 28, 34. 36 PA, S. 22f.
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Nach einer Penetration, die der Geprüfte unwidersprochen über sich ergehen lässt, und mit der er als vermeintlich Homosexueller jederzeit erpressbar wird, folgt eine weitere Frage, die ein ebenso umfassendes wie spekulatives Ranking erfordert: An welches Ereignis, welches Phänomen von »weltumspannender« Bedeutung wird man »sich künftig an dieses unser Jahrhundert erinnern«?37 Seine (mit heruntergelassenen Hosen) vorgetragene Reflexion ist vollkommen überwuchert mit rhetorischen Stilfiguren und erscheint zunächst als Ausdruck eines in seiner Übertreibung und im Setting der Entblößung lächerlich oder überfordert wirkenden Überzeugungswillens. Unterschwellig werden die Stilfiguren jedoch keineswegs wahllos verwendet, sie stehen im Dienste einer übergeordneten Ironie, die das, was der Prüfungsausschuss zu hören wünscht, ad absurdum führt und kleine kritische Provokationen platziert. Auf der Suche nach dem »weltumspannenden« Ereignis geht der Protagonist in einer Art Ausschlusslogik vor, wobei er in ihrer Bedeutung vollkommen ungleiche Phänomene in eine groteske Gleichwertigkeit bringt und miteinander vergleicht. So werden in einem argumentativen Parallelismus vollkommen heterogene Dinge miteinander gleichgesetzt: vergänglich seien die durch Dior und Cardin entworfenen Schönheitsideale, vergänglich das menschliche Wesen, vergänglich das arabische Erdöl. Neben der Antithese oder der Paradoxie, dass das menschliche Wesen vergänglich sei, steckt bzw. versteckt sich in dieser Auflistung eine Provokation. Denn mit der behaupteten Vergänglichkeit des arabischen Öls wird auch die Fragilität der Allianz der arabischen Staaten mit den USA angesprochen. In einer freien Assoziation, das Nichtvergängliche suchend, landet der Prüfling bei der Straßenwerbung: »Das führt uns in eine andere Richtung, und wir finden ohne Schwierigkeiten den rechten Weg, der aber leider lang und, wie die Strasse zum Flughafen vollgestopft ist mit Tafeln, die die verschiedenartigsten Namen tragen wie Philips, Toshiba, Gilette, Michelin, Shell, Kodak, Westhouse, Ford, Nestlé, Marlboro.«38 Die genannten Markennamen repräsentieren pars pro toto die Ökonomie des gesamten westlichen Auslands und dominieren – so zumindest legt die in dieser indirekten metaphorischen Sprechweise platzierte Kritik nahe – anstelle von lokalen Richtungsschildern die Orientierung. Ungeachtet dieser negativen Einführung, werden sie in einem Euphemismus als »immerwährend« und als ein »wichtiges Ergebnis der wissenschaftlichen und technologischen Leistungen unseres Jahrhunderts«39 vom Prüfling gelobt. Auch diese verwerfend, kürt der Ich-Erzähler schließlich 37 PA, S. 25. 38 PA, S. 27. 39 PA, S. 27.
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Coca-Cola zum zentralen Phänomen des Jahrhunderts mit »weltumspannender«40 Bedeutung. Es gäbe nichts, »was die Zivilisation dieses Jahrhunderts, ihre Leistungen und ihre Horizonte in gleicher Weise verkörpert wie diese kleine wohlgeformte Flasche, deren schmaler Hals problemlos in jeden Hintern passt.«41 Die anschließende ausführliche Lobesrede auf Coca-Cola – die mit der als Witz getarnten Bemerkung eröffnet wird, Coca-Cola sei in der Lage alle und jeden zu penetrieren oder zu vergewaltigen – ist mit Euphemismen gespickt und zeichnet mit dem Ausdruck des höchsten Lobes in ironischer Sprechweise das Bild eines Politik und Kultur für seine Zwecke instrumentalisierenden imperialistisch agierenden Weltkonzerns: Coca-Cola wäre so weltumspannend, dass es auch im kommunistischen China vertreten sei, insofern es süchtig mache, garantiere es einen unvergänglichen Bedarf und es sei in derselben Stadt erfunden worden, aus der auch die »berühmten Ku-Klux-Klan-Banden«42 stammten. Coca-Cola sei »Frucht des ersten Freiheitskrieges« in Form des amerikanischen »Triumpf[es]«43 über die Indianer, habe die »Kunst der Propaganda«44 erfunden, sei »Vorkämpfer für die Nutzung des Radios« und »die Vereinnahmung von neuen Sternen und Idolen am Schauspielhimmel«45. Im Lob der »Pyramidenform«46 der Firmenorganisation wird schließlich nicht nur die Verstrickung des Konzerns in Politik und Kultur, sondern auch das ökonomische Vorgehen deutlich: Indem sich der Mutterkonzern alle Nutzungsrechte am Warenzeichen gesichert habe, biete sich gerade in der Zusammenarbeit mit und der Kontrolle lokaler Firmen die Gelegenheit, ohne eigene größere Investitionen und mit geringen Eigenmitteln die Märkte abzuschöpfen und weltweit zu expandieren. In dieser ironischen Hymne auf die Marke bzw. den Konzern Coca-Cola, der die »Wahl unseres Lebensweges, unserer Geschmacksrichtungen, unserer Präsidenten und Könige, ja, der Kriege, an denen wir teilnehmen, und der Verträge, die wir unterzeichnen«47, kommt eine Kritik am Neokolonialismus zum Ausdruck, die den gesamten Roman bestimmt und die im Folgenden kontextualisiert und näher untersucht werden soll.
40 41 42 43 44 45 46 47
PA, S. 25. PA, S. 28. PA, S. 29. PA, S. 30. PA, S. 30. PA, S. 31. PA, S. 32. PA, S. 34.
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4. Der Neokolonialismus, die Infitāḥ-Ära und der Opportunismus des »Herrn Doktor« Die Ausführungen des Protagonisten, in der so gut wie nie Namen von Persönlichkeiten aus Politik, Gesellschaft und Kultur, dafür aber jede Menge Markennamen fallen und ein Ägypten des offenen Konsums zeichnen, lassen darauf schließen, dass der Roman während der Regierungszeit as-Sādāts spielt. As-Sādāt reagiert auf die schwere wirtschaftliche Krise der 1960er Jahre mit einer Politik der Liberalisierung (genannt Politik der Infitāḥ), die die Wirtschaft ankurbeln sollte und die sich im engen Schulterschluss mit Carter an den USA orientierte. Eine Überschwemmung des einheimischen Marktes mit Produkten des westlichen Auslandes, der Einbruch in der Produktion traditioneller ägyptischer Produkte, eine Teuerung grundlegender Lebensmittel und Alltagswaren und infolgedessen eine immer größer werdende Schere zwischen arm und reich, einer profitierenden Schicht der Spitzenfunktionäre und des Militärs, einer absinkenden Mittelschicht und einer verelenden Unterschicht, waren die Folgen dieser Liberalisierung.48 Die großen Gewinner dieses wirtschaftlichen Umbruchs waren unter anderem die reichen Industrieländer, allem voran die USA, die sich neue Märkte erschlossen. In seiner Rede Eine Art von Ehrlichkeit, die er anlässlich der Verleihung des Ibn Rushd-Preises für freies Denken 2004 in Berlin hielt, skizziert Ibrāhīm diese neokoloniale Politik prägnant.49 48 Eine Einführung der politischen Maßnahmen und Folgen der Infitāḥ und ihre Auswirkungen auf schriftstellerische Aktivitäten findet sich bei St. Guth, Zeugen einer Endzeit (Fn. 7), insbesondere S. 3–22. 49 S. Ibrahim, »Eine Art Ehrlichkeit. Rede anlässlich der Preisverleihung des Ibn Rushd Preis 2004«, auf: http://ibn-rushd.org/pages/int/Awards/2004/ documents/speech-ge.html, zuletzt abgerufen im August 2017: »Währenddessen hat die korrupte kollaborierende Elite den Reichtum des Volkes an große internationale Konzerne vergeben. Die einheimische Industrie wurde vernichtet. Angestellte wurden von ihren Arbeitsplätzen vertrieben, Bauern von ihrem Land. Die wenigen Ersparnisse der armen Menschen wurden verbraucht, ihnen wurde die freie Behandlung von Krankheiten und kostenlose Bildung entzogen. Die Kosten für Wasser und Strom stiegen nach der Privatisierung und Neuplanung horrend an. Ebenso war ihnen der Arbeitsmarkt vorenthalten, der nunmehr reserviert war für die Söhne aus der oberen Schicht: Absolventen der amerikanischen Universität und der neuen kanadischen, französischen, deutschen und sogar rumänischen Universitäten im Lande. Allen wurde ermöglicht, mit ausländischen Produkten zu handeln und ihre Verbreitung voranzutreiben. In allen Bereichen machte sich Korruption breit. Ein organisiertes Verfahren zur Vernichtung des einheimischen Wertesystems war im Gang. All dies geschah während des Ausnahmezustands und der Herrschaft eines lebenslangen Alleinherrschers, der
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Die von den ausländischen Handelspartnern aufgezwungene Produktplatzierung nicht benötigter Produkte auf den Märkten der wenig entwickelten Länder verdrängt die lokalen Produkte und zerstört die lokal gewachsenen und sozial gestützten wirtschaftlichen Strukturen. Die im Roman Der Prüfungsausschuss platzierte Gesellschaftskritik wirft ein Licht auf diese neokolonialistischen Ausbeutungsstrukturen,50 aber ebenso auf eine vom Konsumverhalten wie hypnotisierte und sozial atomisierte ägyptische Gesellschaft, in der sich einige wenige Aufsteiger hemmungslos bereichern. So beschreibt Ibrāhīm nicht nur einen wirtschaftlich desolaten Zustand der ägyptischen Gesellschaft, sondern auch eine eingeschüchterte, narkotisierte Bevölkerung, die nicht aufbegehrt, sondern wie in einer Konsumtrance verharrt in der Hoffnung, dass nun auch für sie die goldenen Zeiten des Westens anbrechen werden. Die Kritik findet sich sowohl in den langen Ausführungen des Prüflings vor dem Ausschuss, die in seinen ersten Auftritten, wie oben beschrieben, zwischen den Zeilen zu suchen sind. Sie findet sich jedoch im späteren Verlauf des Romans auch auf narrativer Ebene in der Beschreibung der Recherchen des Protagonisten und seinen Wegen durch den ägyptischen Alltag der Straßen Kairos. Kennzeichnet für die ägyptische Gesellschaft ist die Gestalt des namenlosen »Herrn Doktor«, die im Zentrum der großen Recherche des Protagonisten steht und mit der – ohne mit konkreten historischen sich dem Diktat von Amerika und Israel beugte. So bezeichnet der ägyptische Präsident den Widerstand in Palästina und Irak nun als »Gewalt«, sein Verwaltungsapparat sammelt Informationen über die Widerstandskämpfer und überreicht sie dann ihren Mördern. Während das palästinensische Volk in aller Öffentlichkeit weiter vernichtet wird, legt die Weltmacht Amerika ihre Hand auf das irakische Öl und schickt sich dazu an, auch die Kontrolle über das Öl im Iran zu übernehmen. Aus dem Islam wird ein Monster gemacht, das die Kapitalisten Europas instrumentalisieren, um die Ausbeutung der eigenen Bürger zu verdecken. Im Namen der Bekämpfung des Antisemitismus werden faschistische Gesetze erlassen.« 50 Vgl. M. Klein, »Neokolonialismus«, in: Hans-Jürgen Müller, Lehrbuch, Angewandte Volkswirtschaftslehre, Wirtschaftspolitische Fallstudien mit Lösungstechniken, Wiesbaden: Springer Gabler Verlag 2012, s. v.: Klein beschreibt Neokolonialismus als direkte Beherrschung der Länder der Dritten Welt über Spielregeln des kapitalistischen Weltmarktes. Die vom Kolonialismus befreiten Entwicklungsländer konnten unter den Vorzeichen neokolonialer Wirtschaftsstrukturen allenfalls eine de Jure Unabhängigkeit erreichen; eine direkte Beherrschung wurde so durch eine indirekte abgelöst. Klein weist auch darauf hin, dass der Begriff des Neokolonialismus u. a. auch von Kwame Nkrumah (1909–1972) – er war Intellektueller, Politiker und erster Präsident Ghanas – thematisiert wurde, der ihn als »letztes Stadium des Imperialismus« bezeichnete.
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Gestalten identifiziert werden zu können – ein Prototyp des opportunistischen Profiteurs skizziert wird, der sich auch im Wechsel der Regime zu behaupten weiß. In der Auseinandersetzung mit dem Lebenslauf der nur mit seinem Respekttitel bezeichneten Figur51 werden die neokolonialen Zusammenhänge deutlich, die sich zwischen Wirtschaft, Politik, Kultur und Militär entspannen. Als der Bewerber eines Abends nach einer langen Wartezeit nach Hause kommt, findet er ein Telegramm vom Prüfungsausschuss vor mit dem Arbeitsauftrag, »eine Untersuchung über eine der glänzendsten, berühmtesten, zeitgenössischen arabischen Persönlichkeit [zu] schreiben«.52 Da er keine weiteren Informationen vom Ausschuss erhält, wie er diesen Auftrag zu interpretieren habe, entschließt er sich seinen eigenen Vorstellungen zu folgen. Nachdem in einem kurzen Rundumschlag Politiker, Dichter, Generäle, Schriftsteller und Richter, aber auch Sängerinnen und Tänzer, Ärzte, Ingenieure und Lehrer alle für nichtig erklärt werden und ungeeignet, zur »strahlendsten Persönlichkeit« des Landes zu avancieren, wird der ratlose Ich-Erzähler beim Anblick einer Werbung auf den ebenso bekannten und einflussreichen wie nebulösen »Herrn Doktor« aufmerksam.53 Die Recherchen zur genauen Biographie dieser Person richten sich zunächst auf die bekannten Zeitschriften. Der Archivzugang wird dem Prüfling jedoch bald aus unerfindlichen Gründen verweigert und auch in der Nationalbibliothek kommt er nicht an die angeblich alle in Restauration befindlichen Zeitschriftennummern. Der Ich-Erzähler beschreibt diesen Hindernislauf ohne ihn zu kommentieren und legt gerade dadurch dem Leser nahe, sich über die Gründe Gedanken zu machen. Ohne sich von diesen deutlichen Zeichen einschüchtern zu lassen, wendet er sich – »vorsichtshalber« unter dem vermeintlich falschen Vorwand, eine »Untersuchung über das grösste Verbrechen in der zeitgenössischen arabischen Geschichte«54 vorzubereiten – Frauenzeitschriften zu, die eine Art Resümee des öffentlichen Lebens bieten. Er wird fündig. Langsam fügen sich die einzelnen Lektüren und Informationen, die der Protagonist auf Karteikarten strukturiert, zu einem Gesamtbild. Der »Doktor« hat seine Finger im Öl- und Waffenhandel, er profitiert beim Import von Konsumgütern nach Ägypten, ist eine feste Größe im 51 In Ägypten spielt die Nennung von akademischen Titeln eine große Rolle und bringt ein Respekts- und Hierarchieverhältnis zum Ausdruck. Wie hohl diese Bezeichnung hier ist, kommt dadurch zum Ausdruck, dass der »Herr Doktor« – gerade in Bezug auf den Protagonisten, dessen Büchersammlung ihn als Intellektuellen ausweisen – durch seine hohe Bildung glänzt, aber auch durch die Ironie, dass ein arbeitsloser Professor für diesen Herrn Doktor arbeitet. 52 PA, S. 35. 53 PA, S. 55f. 54 PA, S. 67.
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kulturellen Leben und verfügt nicht zuletzt über seine geschickten Eheschließungen über politischen Einfluss. Trotz dieses sich abzeichnenden Bildes eines moralisch verrotteten gesellschaftlichen Aufsteigers, enthält sich der Ich-Erzähler auch jenseits seiner Auftritte vor dem Ausschuss einer Wertung, vielmehr hält er das Vorhaben aufrecht, über die »strahlendste Persönlichkeit« zu recherchieren. Die Diskrepanz zwischen den nüchtern vorgetragenen Rechercheergebnissen und den ungebrochenen Respektsbekundungen des Protagonisten und Ich-Erzählers für den »Herrn Doktor« unterstreichen die politische Brisanz der Ergebnisse und die Gefahr einer freien Meinungsäußerung, ohne sie direkt auszusprechen oder sie dem Prüfling als Wertung in den Mund zu legen. Eines Abends steht der gesamte Prüfungsausschuss vor der Wohnung des Bewerbers, verlangt Eintritt, fragt nach dem Stand der Arbeiten und empfiehlt ihm indirekt, die Nachforschungen über den »Herrn Doktor« einzustellen. Die erbetene Bedenkzeit wird ihm auf unbefristete Zeit gewährt, aber bis zu einer endgültigen Entscheidung bleibt ein Mitglied des Prüfungsausschusses vor Ort. Diese Person – im Roman lediglich als »Kurzgewachsener«55 bezeichnet – begleitet den Protagonisten wortwörtlich auf Schritt und Tritt und erzwingt seine Präsenz sogar im Intimraum der Toilette und im Bett.56 Diese alltägliche Bedrängung wird noch dadurch gesteigert, dass der Kleinwüchsige eine riesige schwarze Pistole mit sich führt, die er mehr schlecht als recht kaschiert. Als er die Schlagwortdatei des Bewerbers entdeckt und den Ausschuss über die gesammelten Fakten und Folgerungen alarmieren möchte, wird er vom Bewerber kurzerhand erstochen. War der Prüfungsanlass bisher vollkommen abstrakt und mysteriös, so wandelt er sich zu einer politischen Anklageinstanz mit dem handfesten Vorwurf des Mordes. Angeklagt des vorsätzlichen heimtückischen Mordes wird der Ich-Erzähler nun beschuldigt, den Mord zusammen mit einer Gruppe von Komplizen langfristig geplant zu haben und zwar von eben jener Gruppe, die ihn auch zuvor mit geheimen Informationen über den »Doktor« versorgt hätte. Mit den im Raum des Ausschusses ausgestellten beschrifteten Trauerkränzen für das gestorbene Mitglied, auf deren Trauerbändern sich führende Politiker des westlichen Auslands (samt Israel), internationale Konzernchefs und Führer diktatorischer Regime einfinden, erweist sich der Prüfungsausschuss nun selbst als verstrickt in eben jene Netzwerke, die den »Herrn Doktor« zum Aufstieg verhalfen.57 55 PA, S. 103. 56 Als »Kurzgewachsener«, der zudem regelrecht am Körper klebt, ist er eine personifizierte Wanze im Sinne eines Abhörgerätes, welches er dann auch, wie sich später zeigen wird, in der Wohnung installiert hat. 57 Vgl. auch P. Starkey, Sonallah Ibrahim (Fn. 10), S. 76.
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Mit seinem gewaltsamen Akt der Befreiung ändert sich auch die Haltung des Prüflings oder mittlerweile Angeklagten gegenüber dem Ausschuss. Anstatt sich zu verteidigen (oder wie in der ersten Begegnung opportunistisch nach dem zu fahnden, was der Prüfungsausschuss zu hören wünscht), plädiert der Protagonist auf Notwehr und nutzt die Gelegenheit, die von ihm während der Recherchen beleuchteten Zusammenhänge vorzutragen. Er liefert so – wie am Ende eines traditionellen Rätselmärchens – die Lösung der aufgegebenen Frage, die jedoch niemand zu hören wünscht. Die zuvor nur im Modus der Andeutung platzierte Kritik wird nun in Form einer klaren und deutlichen Beschreibung der Sachzusammenhänge vorgetragen, in der auch die Rolle des in einer früheren Rede oberflächlich gelobten, unter der Hand jedoch bereits kritisierten Coca-Cola-Konzerns noch einmal aufgenommen wird. Klar beschreibt der Protagonist den komplexen Zusammenhang zwischen der schleichenden Verschlechterung des Trinkwassers und der Zunahme der Marktanteile von Coca-Cola auf dem ägyptischen Markt und der geschickten Konzernpolitik. Denn seit den 1960er Jahren ist eine immer schlechter werdende Wasserqualität des Leitungswassers zu beobachten, die vormals die zentrale Trinkwasserquelle der ägyptischen Bevölkerung darstellte. Mittlerweile fließt nur noch eine braungefärbte Flüssigkeit, die ohne Filter kaum noch zu genießen ist, aus dem Hahn, und das auch nur außerhalb der Arbeitszeiten. Der Coca-Cola Konzern profitierte nicht nur durch diese Verschlechterung des Trinkwassers, die den Absatz des vermeintlichen Ersatzgetränkes in die Höhe trieb, er war auch Hauptakteur eines groß angelegten Bewässerungsprojektes, in dem der ägyptischen Bevölkerung ein Teil des Nilwassers entzogen wurde: »So führte nämlich der Coca-Cola-Konzern lange Zeit Bewässerungsprojekte für Wüstengebiete durch, die sich aber auf einen einzigen Teilbereich beschränkten – die Entsalzung von Meerwasser. Der Oktoberkrieg bot dem Konzern eine einmalige Gelegenheit zur Diversifizierung der Mittel durch Verwendung des Nilwassers zur Bewässerung der Wüste Negev, was dank gewaltiger Tunneldurchstiche unter dem Suezkanal möglich wurde. Es ist nur natürlich, dass eine solche Diversifizierung zur Knappheit des aus der Leitung fliessenden Wassers führte. Die Reduzierung der Speichermenge als Ergebnis der zusätzlichen Entnahme war dann verantwortlich für das Eindringen von Schmutz in das Wasser und die Veränderung seiner Farbe.«58 Mit der Höchststrafe aus dem Ausschusszimmer wieder in die Welt entlassen streift der Ich-Erzähler durch die Straßen Kairos und beschreibt 58 PA, S. 172. Wie Ṣ. Ibrāhīm in einem von S. Guth durchgeführten und paraphrasierten Interview bemerkt, habe er die Fakten zum Coca-Cola-Konzern einem Werbeprospekt von Coca-Cola entnommen. »Er habe es höchst reizvoll gefunden, im Roman damit zu ›spielen‹, daß all die Informationen, die
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die sozialen Verhältnisse, als würden sich ihm die Augen nun erst öffnen: Der ägyptische Alltag wird von minderwertigen ausländischen Konsumprodukte bestimmt und zugleich von Werbung aller Art beleuchtet und beschallt, die goldene Zeiten verheißt; das Gesundheitssystem, in dem sich die Ärzte bereichern, ist desolat, in den zwischenmenschlichen Beziehungen herrschen patriarchalische, darwinistische und sexistische Strukturen bar jeder Solidarität. Eine Schlüsselszene spielt sich auf dem Weg des Protagonisten nach Hause ab. Er beobachtet eine Menschenmenge, die sich um ein Geschäft rangelt, vor dem Coca-Cola verkauft wird. Die Menschen reißen dem Verkäufer die begehrten Flaschen aus den Händen, zahlen überhöhte Preise für die als eiskalt angepriesene, aber in Wirklichkeit lauwarme Flüssigkeit.59 Obwohl der Protagonist den Schwindel durchschaut und die Menschenmenge um sich herum in ihrem blinden Konsumgehorsam beobachtet,60 findet er sich plötzlich selbst wieder in einer Art »Trance«, die warme Flasche zu teuren Preisen kaufend und trinkend, selbst Teil einer dem Konsum ergebenen unkritischen Gesellschaft: »Völlig in Gedanken versunken, merkte ich gar nicht, dass ich eine geöffnete, warme Flasche in der Hand hielt, die ich unbewusst an die Lippen führte. Ich zahlte ebenso wie die anderen auch, dann ging ich langsam zum Busbahnhof.«61 Zu den minderwertigen, ausländischen Produkten, die im Roman auf dem ägyptischen Markt zirkulieren gehören zum Beispiel die auseinanderfallenden, schlecht verarbeiteten Busse aus dem öffentlichen Nahverkehr, die mit dem Aufkleber »Carter« ihre amerikanische Provenienz verraten, teure ausländische Zigaretten,62 aber auch Medikamente, die aufgrund ihrer hohen Nebenwirkungen in westlichen Ländern längst verboten sind.63
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vom Konzern als etwas Positives gedacht waren, von selbst kontraproduktiv würden, sobald man sie nur in den richtigen Zusammenhang bringe. Im Roman werde der Werbeprospekt auf diese Weise, obwohl an den Daten selbst rein gar nichts geändert worden sei, zur Anklageschrift.« St. Guth, Zeugen einer Endzeit (Fn. 7), S. 126, Fn. 28. Vgl. PA, S. 181. »Ich beobachtete sie, wie sie das magische Nass schlürften, die Flaschen mit den Händen betastend, als wollten sie sich ihrer Fähigkeit vergewissern, kalt und warm zu unterscheiden. Dann schluckten sie ergeben den Inhalt bis zur Neige und zahlten den Preis, den der Verkäufer verlangte. Es war, unter dem Vorwand des imaginären Eises, doppelt so viel wie angezeigt. Jeder zahlte artig, starr vor sich hinblickend« (PA, S. 181). PA, S. 182. Vgl. PA, S. 169. Die Kritik an dieser pharmazeutischen Praxis findet sich auch im Roman Warda (2000) und steht dort sogar wesentlich stärker im Vordergrund. Der Verkauf von minderwertigen Waren schafft Missstände und neue
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In einem völlig überfüllten Bus beobachtet der Protagonist eine ihm wohlbekannte Szene sexueller Bedrängung, stellt sich auf die Seite der belästigten Frau und erhebt so zum ersten Mal seine Stimme kritisch in der Öffentlichkeit, nicht zuletzt weil er seine eigene Untätigkeit nicht mehr ertragen kann.64 Solidarität erfährt jedoch nicht der mutige Helfer, sondern der hünenhafte Aggressor,65 der den Ich-Erzähler schließlich verprügelt. Als der Bus hält, hilft einer der Passagiere dem Protagnisten aufzustehen und ermahnte ihn »nicht noch mehr Unheil«66 anzurichten. Im nahegelegenen Krankenhaus wartet er schließlich vergeblich auf den Arzt, der nur noch in einer Privat-Klinik arbeitet und dessen Adresse der Protagonist erst gegen ein Bakschisch erhält. Das Arzthonorar in der Privatklinik ist erheblich – fünf ägyptische Pfund muss er zahlen – bevor ihm der Arzt sein Schultergelenk wieder einrenkt und Schmerzmittel auf ein kostenpflichtiges Rezept verschreibt. Als die Schmerzen nicht nachlassen, begibt er sich nochmals in die Privat-Klinik, muss jedoch – entgegen den Gepflogenheiten, eine Folgebehandlung eines bereits bezahlten Eingriffes gratis anzubieten – wieder ein Honorar entrichten. Es kommt zum Streit mit dem Arzt, der die Vorzüge einer vertraulichen Behandlung fern staatlicher Kontrolle betont – die wartenden Patienten schweigen und mischen sich nicht ein67 – schließlich endet auch hier der Versuch aufzubegehren mit einem Rausschmiss.68
5. Der Prüfungsausschuss als Bildungsroman? Die vage Kontextualisierung des Geschehens, das unterbestimmte Profil des Prüfungsausschusses, aber auch des Ich-Erzählers verleihen dem Roman den Charakter einer Parabel und lassen – in ihrer detailgenauen Beschreibung und ihrer feinen Ironie ähnlich den Kafka’schen Parabeln
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Bedürfnisse, die wiederum mit neuen schlechten Produkten bedient werden können. Zu dem den arabischen Patienten missbrauchenden Medikamentenmarkt vgl. auch St. Guth, Zeugen einer Endzeit (Fn. 7), S. 27. »Doch seit dem Morgen war ich in Wallung. Meine Unfähigkeit, dem Prüfungsausschuss meine Meinung zu sagen, hatte mich in Rage gebracht. Ebenso meine Unterwürfigkeit, die mir nichts genutzt hatte, und meine Machtlosigkeit gegenüber dem Coca-Cola-Verkäufer, der mir mein Geld abgeluchst hatte.« (PA, S. 191). »Ein Flittchen und ein Warmer«, tröstet ein Businsasse den Hünen, »Die können’s doch nur nicht sehen, wenn jemand ein Kerl ist wie du.« (PA, S. 193.) PA, S. 195. »Die wartenden Patienten und ihre Begleiter verfolgten schweigend unsere Unterhaltung. Ihre unbeweglichen Gesichter verrieten nicht, was in ihren Köpfen vorging.« (PA, S. 196). Vgl. PA, S. 196–199.
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– eine vielfache Interpretation zu. So changiert der Prüfungsausschuss zwischen einer wissenschaftlichen Prüfungskommission, einer geheimdienstlichen Untersuchung, einer beruflichen Bewerbungskommission, einem Gericht oder einem existentiellen, grundsätzlichen Gericht, der das Menschsein überhaupt zum Thema hat.69 Anders als Kafkas Roman Der Prozess beschreibt der Roman Ibrāhīms jedoch eine Entwicklung, die durchaus als eine Form der Aufklärung70 oder Selbstfindung des Protagonisten und somit auch als eine Art Bildungsroman gelesen werden kann, wie Sīzā Qāsim argumentiert.71 Lässt der Protagonist zu Beginn jede Form der Erniedrigung über sich ergehen und zeichnet sich durch einen devoten Opportunismus aus, so kann der Prüfling im Verlauf seiner Recherchen zur »strahlendsten Persönlichkeit« seine Wahrheitssuche nicht abstellen, die ihm gegen allen Widerstand mehr und mehr zum Selbstzweck wird. Wahrheit und Einsicht in die politischen Verhältnisse allein bringen jedoch keine Veränderung. Denn solange der Protagonist als Prüfling im System des Prüfungsausschusses agiert – seinen Befreiungsschlag vom Prüfungsausschuss also ausgerechnet vor dem Prüfungsausschuss zu rechtfertigen sucht –, finden Wahrheit und Aufrichtigkeit keine Plattform. In diesem Sinne gelangt er später zu der Einsicht, er habe nicht vor, sondern gegen den Ausschuss aussagen müssen.72 (Was der Autor Ibrāhīm mit seiner politischen Abrechnung vor laufenden Kameras während der geplanten Preisverleihung in Szene gesetzt hat.) Die Entwicklung des Prüflings als Aufklärungsprozess zu lesen, wird auch durch die Wortwahl unterstrichen, die zu Beginn des Romans, wie Stephan Guth analysiert, »das Bedeutungsfeld ›dunkel‹, ›undurchschaubar‹, ›unerklärlich‹, ›geheimnisvoll‹ umkreise[t]«73, ebenso wie durch unzureichende Licht- und Sichtverhältnisse, die den ersten Teil des Romans bestimmen: So sind die Gänge, durch die man zum Ausschuss gelangt, nur unzureichend beleuchtet und die Ausschussmitglieder tragen schwarze Brillen. Guths Argumentation fortführend kann man darauf hinweisen, das mit dem bewussten Austritt aus den dunklen Innenräumen in die reale Alltagswelt der Kairoer Straßen es nicht nur hell wird, sondern der Protagonist fortan auch seine eigenen Bedürfnisse, seinen Durst, seine Schmerzen und Verletzungen spürt und seine Stimme erhebt. Allerdings zeigt die Wortwahl, mit der die ersten Begegnungen vor dem 69 Eine existentielle Lesart schließt der Autor aus – so berichtet es zumindest H. Fähndrich, vgl. ders., »Nachwort«, in: PA, S. 216. Sie ist unseres Erachtens jedoch eine alle konkreten Lesarten begleitende Ebene. 70 Vgl. St. Guth, Zeugen einer Endzeit (Fn. 7), S. 123–125. 71 Dieser Hinweis stammt ohne Literaturangabe von St. Guth, ebd., S. 123, Fn. 19. 72 Vgl. PA, S. 203. 73 St. Guth, Zeugen einer Endzeit (Fn. 7), S. 123.
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Prüfungsausschuss beschrieben werden und die eine Kampfmetaphorik beinhalten, bereits an, dass der Ich-Erzähler schon bei der ersten Begegnung eigentlich weiß, mit wem er es zu tun hat, und dass er die Konfrontation mit dem Prüfungsausschuss als unterschwelligen Kampf erlebt.74 Dafür spricht, dass der Prüfling alles andere als ungebildet ist, und dass er, wie wir zu Beginn des Romans nebenbei erfahren, vor nicht langer Zeit aus dem Gefängnis entlassen wurde. Über den Ich-Erzähler erfährt der Leser sehr wenig und er muss sich – wie der Ich-Erzähler selbst – auf die Recherche machen und sich aus einzelnen Informationen Stück für Stück ein Bild zusammentragen. Wichtige Anhaltspunkte zur Identität des Ich-Erzählers bietet die minutiös beschriebene Wohnung. Die in ihr aufgehängten Bilder, ihre Bibliothek und Musiksammlung erlauben Einblick in den Bildungshintergrund des Protagonisten, der sich, seiner Bibliothek nach zu urteilen, als Linksintellektueller zeigt.75 Gehen wir davon aus, dass der Roman zur Zeit der Infitāḥ spielt, so wurde der Protagonist – wie der Autor selbst – mutmaßlich unter Nāṣir inhaftiert. Der Entschluss, sich dem Ausschuss zu stellen, erscheint vor diesem Hintergrund wie der Versuch, sich unter den Vorzeichen einer neuen Machtdisposition rehabilitieren zu lassen und wieder Anschluss an die Gesellschaft zu finden. Betont man die Entwicklung, die der Ich-Erzähler im Verlaufe seiner Auseinandersetzung mit dem Prüfungsausschuss durchmacht, dann ist das Romanende von großer Bedeutung. Wie deutet man das an sich selbst vollstreckte Urteil des Sich-selbst-Verspeisens? Das Romanende erscheint auf den ersten Blick als letzter opportunistischer Akt des Prüflings, der das Urteil (die Selbstvernichtung oder das In-Sich-Hineinfressen der Anklage und der Kritik als Selbstisolation) wider besseres Wissens an sich selbst vollstreckt. Dem entspricht, dass der Protagonist vor dem Prüfungsausschuss selbst nie gegen das Urteil aufbegehrt. Allerdings sind die Umstände dieser Urteilsvollstreckung nicht unwichtig und verdienen eine genauere Betrachtung. Nach der letzten Begegnung mit dem Prüfungsausschuss findet der Ich-Erzähler auf den Kairoer Straßen zwar seine eigene Stimme wieder, jedoch niemanden, der 74 Gleich zu Beginn der ersten Begegnung mutmaßt der Protagonist, er habe »die erste Runde verloren« (PA, S. 12). Er reflektiert über das Gerücht, der Ausschuss wisse »geschickt Fallen zu stellen« (PA, S. 14); er vermutet, eine Frage sei eine »Schlinge« (PA, S. 22), überlegt, ob er »einen Schlag gegen sie führen oder ich in gewisser Weise ihren Schlag parieren könne« (PA, S. 35). 75 Diese große Belesenheit und Kultiviertheit des Protagonisten steht dabei im Kontrast zu mangelnden Bildung der Prüfungsausschussmitglieder, die dennoch über ihn zu befinden haben. Die sich aufdrängende Frage nach der Kompetenz des Prüfungsausschusses ist ein Effekt derartiger Kontrastierungsverfahren, mit denen Ṣ. Ibrāhīm durchgängig im Roman arbeitet, um indirekt Kritik zu platzieren.
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in dieser atomisierten Gesellschaft bereit wäre, sie zu hören. Zurückgezogen in der eigenen Wohnung, dem Hausmeister Anweisung gebend, ihn gegen Besuch abzuschirmen, mit Vorräten für die kommenden Tage ausgestattet, beginnt er eine Art Bilanz seines eigenen Lebens, indem er seine privaten Unterlagen sichtet und »die Stufen meiner Erfahrung« mit dem Prüfungsausschuss »rekapituliert«.76 Die Recherchen richten sich nicht nur auf die politischen Zusammenhänge, sondern auf sich selbst und sind von der Erkenntnis bestimmt, dass die Probleme der Gegenwart durchaus auch als eine Erbschaft der Vergangenheit zu verstehen sind: »Beim Bild meines Vaters hielt ich inne. Es führte mir das schwere Erbe aus Leid, Charakterschwäche und Illusionen vor Augen, das er mir hinterlassen hatte.«77 Die Selbstbilanz oder Selbsterkenntnis – die wie eine Lebensbilanz vor dem Selbstmord inszeniert wird78 – gipfelt in einer Tonbandaufnahme, einer letzten Rede vor dem Prüfungsausschuss, übermittelt durch ein komplett neutrales, weil rein technischen Medium, gedacht für eine Zukunft, in der die wieder gewonnene Stimme Gehör findet.79 Das Sich-Selbst-Verspeisen erscheint mit diesem Vermächtnis weniger als gehorsamer Akt der Selbstvernichtung, sondern als Teil der gewonnenen Selbsterkenntnis, die einen gegenwärtigen Austritt aus einem als übermächtig empfundenen System nicht für möglich hält. In diesem Sinne ist der letzte Akt »Schicksal«80 oder eine »Tragödie«81, wie der Ich-Erzähler reflektiert. Allerdings lässt sich dieser letzte Akt auch weniger als konkrete Destruktion, sondern im übertragenen Sinne deuten. Im Arabischen steht der Ausdruck badaʾtu ākulu nafsī. Das Verb akala wäre besser mit »verzehren« als mit »verspeisen« zu übersetzen, insofern es nicht nur eine kulinarische, sondern auch eine psychologische Komponente zum Ausdruck bringt. Der Ort, an dem dieses Selbstverzehren stattfindet, ist nicht ohne Grund der eigene Schreibtisch. Das arabische Wort bedeutet im ägyptischen Dialektik auch etwas in sich hineinfressen.82 Führt der Ich-Erzähler seine Hand zum Mund und frisst in sich hinein, so lässt sich dieses Bild möglicherweise auch als Akt des (stillen) Schreibens lesen, das fortan die (laute) Stimme ersetzen wird. Ein Rückzug an den eigenen 76 PA, S. 202. 77 PA, S. 200. 78 So vergleicht er z.B. seine Situation mit dem Selbstmord Majakowskis und dessen letzter literarischer Produktion: »Stundenlang starrte ich auf jene Zeilen von Majakowski, die er wahrscheinlich kurz vor seinem tragischen Ende geschrieben hat.« (PA, S. 201). 79 Vgl. PA, S. 203f. 80 PA, S. 204. 81 PA, S. 202. 82 Vgl. Ṣ. Ibrāhīm, al-Lağna, al-Qāhira: Maṭbūʿāt al-Qāhira 1982, S. 154.
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Schreibtisch, für sich selbst schreibend, über sich selbst schreibend, sich selbst zum Gegenstand machend und sich im Akt des Schreibens zugleich als individuelle Person aufhebend. In dieser metaphorischen Lesart des Sich-Selbst-Verzehrens stünde am Ende des Bildungsromans Der Prüfungsausschuss nicht allein die Einsicht in die Übermacht des Machtdispositivs, sondern das Schreiben als Transformation der eigenen Stimme und der eigenen Existenz, als eine Form des Überwinterns in schweren Zeiten.
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Teil III
Sarhan Dhouib, Steffen Pappert und Mongi Serbaji
Wendepunkte: Protest und Öffentlichkeit Zur Einführung Der Kampf des Menschen gegen das Unrecht gleicht, um mit Milan Kundera zu sprechen, dem Kampf des Gedächtnisses gegen das Vergessen.1 Unter den Ausdruckmitteln, die die Menschen mobilisieren, um das Unmenschliche staatlicher Repressionen zu dokumentieren und sich so gegen das Vergessen zu wehren, ist die Form des künstlerischen Ausdrucks virulent. Sie hält – sei es in Form von Poemen, Prosadichtungen, Liedtexten oder schlagkräftigen Slogans – unser individuelles und kollektives Gedächtnis wach und bringt durch Zeit und Raum die Stimmen der Unterdrückten zu Gehör, die zum Schweigen verurteilt sind. Die Protestmittel, die ihren Ausdruck in der Literatur bzw. in den Memoiren über das Gefängnis, in Protestliedern, Graffitis, Slogans, aber auch in bestimmten Formen des Verweigerns finden, helfen uns das Gedächtnis zu rekonstruieren und die Öffentlichkeit, die von der Diktatur zu einem monodischen Raum gemacht wird, wieder zu gewinnen. Sie tragen dazu bei, manchmal mit Tumult, manchmal mit Schweigen, das Monopol autoritärer Staaten über die Öffentlichkeit und die damit verbundene symbolische Ordnung herauszufordern bzw. in Frage zu stellen. Sicherlich stellen diese Ausdrucksmittel nicht das einzige Widerstandsbzw. Kampfmittel gegen das Unrecht dar. Für den Widerstand werden verschiedene andere Vehikel eingesetzt: die physische Okkupation eines konkreten Raums (Sit-in), politischer, juristischer und gewerkschaftlicher Militantismus, zivilgesellschaftlicher Aktivismus usw. Dem autoritären System und seinen entwürdigenden Herrschaftspraktiken die Legitimität abzusprechen und gerechtere soziale und politische Verhältnisse zu installieren, gehört zu den Zielen sowohl von künstlerischen als auch von aktionistischen Ausdrucksformen. Die verschiedenen Formen von Protesten teilen jedoch ein Charakteristikum: Sie ermöglichen die Teilhabe an erlebter individueller und persönlicher Erfahrung. Durch diese Teilhabe findet sich der Leser oder aktiv Teilnehmende in den Akt des Widerstandes verwickelt. Er wird Zeuge eines Geschehens. Diese 1
In seinem Roman Das Buch vom Lachen und Vergessen schreibt M. Kundera: »Der Kampf des Menschen gegen die Macht ist der Kampf des Gedächtnisses gegen das Vergessen.« München: Hanser 1992, S. 10.
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in unterschiedlichem Maße künstlerischen Ausdrucksmittel sind in den Kampf gegen Diktaturen involviert. Es sind Mittel, die uns im Kampf gegen Unrecht engagieren noch vor ihrer Bezeichnung als engagierte Künste (arts engagés). Diese Ziele werden jedoch nicht mit einem einzigen Schlag erreicht. Sie sind Ziele eines Kampfes, dessen Akteure sich von der Historizität ihres Tuns und von der Prozessualität des Protests mit seinen Erfolgen, Schwierigkeiten und auch Scheitern bewusst sind. Hier zeigt sich die besondere artikulatorische Fähigkeit der künstlerischen Ausdrucksformen, ihre selbstgeschaffenen Diskurse dem situativen Bedürfnis anzupassen und zu entwickeln. Die Beiträge von U. Fix, S. Dhouib, L. Tramontini und S. Milich sowie von A. Lahkim Bennani zeigen, dass Proteste bereits unter autoritären Herrschaften, sei es in der DDR der 1980er Jahre oder in Syrien und im Irak oder in den maghrebinischen Ländern wie Marokko und Tunesien bis 2011, verschiedene Formen annehmen können. Widerständiger Sprachgebrauch in der DDR, provokative und sogar obszöne Sprache in der modernen arabischen Dichtung, aufgeklärte Analysen der vorherrschenden autoritären Strukturen sowie kritische Stellungnahmen arabischer und europäischer Intellektueller und Philosophen zur Verhaftung von politischen Aktivisten in den Maghreb-Ländern bieten verschiedene Möglichkeiten, sich mit den Erscheinungen des Autoritarismus kritisch auseinanderzusetzen. Sobald wir allerdings über die verschiedenen künstlerischen Ausdrucksformen als Widerstands- und Protestmacht nachdenken, laufen wir Gefahr, in unüberwindbare Widersprüche zu verfallen. Der erste Widerspruch gründet in dem Gegensatz der Ästhetik des künstlerischen Ausdrucks zur Objektivität der Grausamkeit. Dieser Widerspruch kann nicht vermieden werden: Wenn wir gegen eine bestimmte Realität protestieren, dann deswegen, weil wir sie als abscheulich erachten. Wenn wir aber diesem Protest eine künstlerische oder ästhetische Form verleihen, dann sicherlich nicht mit dem Ziel, die Schönheit der Realität vorzuführen, sondern ihre Hässlichkeit zu überwinden. Die Kunst in ihren verschiedenen Erscheinungen regt uns an, zu handeln und unser Bewusstsein zu verändern. Das Schöne ist die Macht derjenigen, die keine Macht besitzen. Der zweite Widerspruch betrifft den tiefen subjektiven Charakter des künstlerischen Ausdrucks und den ›objektiven‹ Aspekt der Unterdrückungspraktiken. Gegenüber dem Ich des Künstlers, des Intellektuellen bzw. des Akteurs der Proteste steht der omnipotente Unterdrückungsapparat der Diktatur. Was kann ein Gedicht, eine figurative Darstellung, ein Lied oder ein Musikstück gegen diesen Apparat ausrichten? Je mehr der künstlerische Ausdruck einen Objektivierungsprozess des persönlich Erlebten (Folter, Diskriminierung usw.) auslöst, desto mehr stellt er sich als einen Bereich der Subjektivierung dar, d.h. die Subjektivierung 302
WENDEPUNKTE: PROTEST UND ÖFFENTLICHKEIT
manifestiert sich als eine Selbstbestätigung, die den Formen von Erniedrigung und Missachtung widersteht. Der Akteur im Prozess der Proteste sucht ein beinahe zerstörtes Ich zu rekonstruieren. Ist diese Rekonstruktion ein Mittel zum Überleben oder ein Modus, den Willen des Folterers herauszufordern? Beides. Es sind sicherlich zwei Zwecke, die voneinander abhängig sind. Insofern die unterdrückte Person seine Isolation mithilfe der Literatur oder Musik überwindet, wird ein Ich jenseits der wirklichen und symbolischen Realität, die von dem Unterdücker dominiert ist, rekonstruiert. Gleichzeitig bemerken wir die Entstehung eines neuen Publikums, das sich langsam von den Fesseln dieser Dominanz zu entwinden versucht. Der dritte Widerspruch betrifft das persönliche, politische und ideologische Engagement der Aktivisten bzw. der Protestierenden einerseits und ihre Verantwortung, neue Formen der Emanzipation für jede Gesellschaft bzw. für die ganze Humanität zu produzieren andererseits. Die verschiedenen künstlerischen Ausdrucksformen erlangen mehr Wert, insofern sie einen transkulturellen Diskurs schöpfen und vermitteln, der jeder Form von sprachlichen und religiösen Grenzen entgeht. Ob sie nun mit Farbe oder Parole, durch Klang, Ton oder Schweigen ihren Protest zum Ausdruck bringen, jedes Mal kommunizieren die Protestformen eine menschliche Erfahrung, die von Individuen und Gruppen, die eigentlich anderen Kulturen angehören, erfahrbar und zugleich geteilt werden kann. Diese Macht der Einigung über universalisierbare Werte und darüber hinaus die Möglichkeit, über die Grenzen des Ichs und des Wir hinauszugehen, bildet die Macht des künstlerischen Protestdiskurses. Diese Macht kann jedoch nicht in Gang gesetzt werden, wenn die Protestierenden nicht in der Lage wären, ihre jeweilige Subjektivität zu transzendieren und die universelle menschliche Dimension ihrer jeweiligen Identität in den Vordergrund zu stellen. Die künstlerischen Ausdrucksformen bilden einen Ort, der von zwei entgegengesetzten Bewegungen bestimmt ist: Eine Bewegung der Subjektivierung, in der das Ich in den Mittelpunkt gesetzt wird, und eine Bewegung der Universalisierung, in der ein Verhältnis zum Anderen – als Opfer von politischer Unterdrückung – jenseits der kulturellen Identität hergestellt wird. Der »Arabische Frühling« konnte nur deswegen ein Echo auf dem Times Square oder in Madrid oder in anderen westlichen Orten finden, weil er den universellen Charakter seines Kampfes gegen das Unrecht in den Vordergrund gestellt hat. Diese Erfahrung der Teilhabe an universalisierbaren Werten bildet einen, wenn nicht den Ausgangspunkt für die interkulturelle und interdisziplinäre Begegnung im Zeichen geteilter Intellektualität. Während einer Diktatur zielen die Proteste darauf, ein kollektives Bewusstsein für die Abscheulichkeit der Unrechtserfahrung zu schaffen, sofern sie versuchen, diese Unrechtserfahrung öffentlich – sei es auf 303
SARHAN DHOUIB / STEFFEN PAPPERT / MONGI SERBAJI
nationaler oder internationaler Ebene – zu machen. Durch solche Bekanntmachungen von Unrechtserfahrungen, mögen sie auch sehr subjektiv sein, wird ein Prozess der Demystifizierung eines vorherrschenden Regimes in Gang gesetzt oder beschleunigt. Nicht die Vielzahl der Unrechtserfahrungen, sondern erst deren öffentliche Kundgaben, die diese Erfahrungen sichtbar machen, vermögen es, der Macht eine Anti-Macht entgegenzusetzen und führen zu einer Etablierung einer Gegenmacht. Gegen die Mikromachtverhältnisse installieren sich auch Formen der Mikrowiderstände, die vielfach im privaten oder halböffentlichen Umfeld ihre Wirkung entfalten, um sodann – wenn es die Bedingungen zulassen – in die Öffentlichkeit getragen zu werden. Während des Sturzes eines Regimes können Proteste schließlich Formen annehmen, die zur Veränderung der Machtsituation aufwiegeln. Sie erobern die Öffentlichkeit und werden somit intensiver und dichter. M. Maataoui untersucht in seinen jeweiligen Beiträgen mit B. Bock und S. Pappert Protestäußerungen und Protestlieder während des Umbruches autoritärer Staaten. An Beispielen aus der DDR, Syrien, Libyen, Tunesien und Ägypten wird gezeigt, wie die Protestierenden durch kreative Anverwandlungen alter Lieder und Slogans die Öffentlichkeit erobern und die Menschen für ihr Anliegen mobilisieren können. Die Untersuchung ausgewählter Formen und Funktionen von Intertextualität in den Protestäußerungen während der Umbrüche in der DDR (1989) und in Tunesien (2011) hebt den transkulturellen Charakter des Protestes hervor. In diesem Sinne verleiht die Öffentlichkeit den Protesten ihr Dasein. Den öffentlichen Raum bzw. die Öffentlichkeit nur im Sinne von einem Diskussionsraum zu definieren, würde die wirkliche Voraussetzung jeglicher möglichen Diskussion verkennen: eine demokratische Ordnung zu errichten, die den vorherrschenden Autoritarismus ersetzen kann. In dieser Hinsicht bedeutet der Protest nicht das Antonym der Diskussion. Wenn die Öffentlichkeit von illegitimen – oder zumindest noch nicht legitimierten – Machtstrukturen dominiert wird, ist es nicht der Diskussionsprozess, der diese Machtstrukturen herausfordert, herausgefordert werden sie von der Dynamik des Widerstandes, des Kampfes und der Kontestation. Der Protest wird somit als eine erforderliche Bedingung wahrgenommen, um die Diskussion von den ungerechten Machtverhältnissen zu befreien. Dies geschieht, indem die Grenzen des Sagbaren ausgelotet und die jeweils geltenden Regeln erfahrbar gemacht werden. So ist der Protest weder als eine reine nihilistische Negation noch als ein komplett konstruktiver Akt zu verstehen; er ist notwendig, um eine Erosion der herrschenden autoritären Legitimität zu produzieren und die Prozesse der Rekonstruktion einer neuen öffentlichen Meinung – verstanden als eine Anti-Macht – einzulösen. Insofern der Protest die Exklusivität und das Unrecht in Frage stellt, kann er erst dann möglich werden, wenn er seine eigene Grammatik, d. h. seine eigenen Ausdrucksmittel 304
WENDEPUNKTE: PROTEST UND ÖFFENTLICHKEIT
entwickelt. Was jedoch diese Grammatik und die Art und Weise, wie sie die Sprache in einem Widerstandszustand verwendet, bestimmt, ist die Natur des Protest- und Widerstandsraums (halböffentlich oder öffentlich) zum einen, und die Natur der erlebten Unrechtserfahrungen, die jedes Mal die Grammatik des Protestes bestimmen, zum anderen. Die in diesem Teil beschriebenen vielfältigen Protestformen offenbaren nicht nur die zu bekämpfenden Widersprüche diktatorischer Herrschaft, sondern zeigen, dass Proteste unterschiedlicher Ausprägung in der Lage sind, einen Prozess der Schöpfung von Sinn auszulösen. Einerseits mobilisieren Proteste ein symbolisches Universum, welches vielfältig und zugleich für das breite Publikum zugänglich ist: Lieder, Straßenkunst, Graffiti, Kleidung. Andererseits stellen die Proteste das von dem herrschenden autoritären Regime produzierte symbolische Universum in Frage: Ironie gegenüber seinen Emblemen, Verfremdung seiner Slogans usw. In beiden Fällen handelt es sich um einen Kampf um die Bedingungen der Möglichkeit demokratischer Teilhabe, dessen Erfolg ganz wesentlich davon abhängt, inwieweit es gelingt, das ›neue‹ symbolische Universum in der Öffentlichkeit durchzusetzen. Inwiefern und in welchem Sinne die Straßenkunst – etwa durch Graffiti, Schrift, Flugblätter, Aufkleber, Plakate – den demokratischen Prozess begleiten und die neue politische und Gesellschaftsordnung vor einem Abgleiten in eine Gegenrevolution schützen kann, zeigt der Kommentar von R. Triki eines Graffitis der Gruppe Ahl Al Kahf auf einer der Straßen in Tunis während der demokratischen Transformation. Mit dieser ersten Passage soll der Weg für den zweiten Band Erinnerung an Unrecht im Rahmen der Titelreihe Unrechtserfahrung in transkultureller Perspektive geöffnet werden.
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Ulla Fix
Der Sprachgebrauch als Möglichkeit öffentlichen und halböffentlichen Widerstandes Das Beispiel DDR der 1970/80er Jahre 1. Widerstand im autoritären System der DDR Wenn man sich aus kommunikativ-sprachlicher Sicht mit Fragen des Widerstands gegen totalitäre Systeme befassen will, wenn man, genauer gesagt, die Frage stellen möchte, ob und gegebenenfalls wie Sprechen und Schweigen, Sich-Äußern und Sich-Zurückhalten Akte des Widerstands sein können, ist aus meiner Sicht die Arbeit von Ilko-Sascha Kowalczuk Von der Freiheit, Ich zu sagen. Widerständiges Verhalten in der DDR1 nach wie vor die beste, auch auf andere totalitäre Systeme übertragbare Grundlage. Kowalczuk stellt einen Widerstandsbegriff vor, der von der Sicht auf die DDR als nicht-monolithischen Block, also als differenzierte Gesellschaft, bestimmt ist und der die verschiedenartigen Beziehungen zwischen Anpassung und Widerspruch im Blick hat. Zum Selbstverständnis der sich als sozialistisch bzw. kommunistisch deklarierenden Staaten, so auch der DDR, gehörte nach Kowalczuk die Überzeugung von der Überflüssigkeit, ja Schädlichkeit einer Opposition.2 Er bezieht sich in diesem Zusammenhang auf die Feststellungen des Kleinen Politischen Wörterbuchs, einer staatlich initiierten Publikation: »Da die sozialistische Staatsmacht die Interessen des Volkes verkörpert und seinen Willen verwirklicht [,...] richtet sich jegliche Opposition gegen die sozialistische Gesellschaftsordnung, gegen die Werktätigen selbst.«3 Folgerichtig konnte Opposition nicht parlamentarisch geübt werden, sie wurde vielmehr in vielen Fällen juristisch verfolgt.4 Es gab zwar ein Mehrparteiensystem in der DDR, das Opposition eigentlich ermöglicht 1
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Vgl. I.-S. Kowalczuk, »Von der Freiheit, Ich zu sagen. Widerständiges Verhalten in der DDR«, in: U. Poppe, R. Eckert, I.-S. Kowalczuk (Hg.), Zwischen Selbstbehauptung und Anpassung. Formen des Widerstands und der Opposition in der DDR, Berlin: Christoph Links 1995, S. 85–115. Vgl. ebd., S. 91. Kleines Politisches Wörterbuch, Berlin: Dietz Verlag 1967, S. 471. Vgl. I.-S. Kowalczuk, »Von der Freiheit, Ich zu sagen. Widerständiges Verhalten in der DDR«, in: U. Poppe, R. Eckert, I.-S. Kowalczuk (Hg.),
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hätte, dieses existierte jedoch lediglich formal. Stattdessen herrschte eine vorgegebene Einmütigkeit, die notfalls mit Gewalt durchgesetzt werden konnte. Hinzu kam, dass »der praktischen Nichtzulassung parlamentarischer Opposition vielfältige Versuche der Unterdrückung und Vernichtung jeder außerparlamentarischen Opposition«5 folgten. Gesteigert wurde die Rigorosität der Entmachtung der Bürger noch dadurch, dass »eine totalitär verfasste Gesellschaft sich [...] nicht mit dem Verzicht ihrer Bürger auf eigenständiges politisches und soziales Handeln« begnügt, sondern dass vom Regime darüber hinaus von jedem Bürger der »aktive Einsatz in seinem Sinne«6, das heißt im Sinne des Staates, verlangt wurde. Ein Sich-Heraushalten, ein Nicht-Mitmachen allein bedeutete schon Widerstand.7 Prinzipiell wird unter Widerstand und Opposition eine Verhaltensform verstanden, die den allumfassenden Herrschaftsanspruch in Frage stellt, begrenzt oder eindämmt. Ein solches Verhalten soll widerständiges heißen. Dabei kann dieses organisiert wie nichtorganisiert, in Gruppen, individuell oder institutionell geschehen.8 Kowalczuk beschreibt verschiedene Formen dieser Widerständigkeit, wie es sie in der Geschichte der kommunistischen Staaten gegeben hat. Es reiche nicht aus, so Kowalczuk,9 nur das historisch besonders ins Auge Fallende, nämlich die Aufstände, also offenen, gewaltsamen Protest von Gruppen gegen eine Regierung, zu betrachten, man müsse unbedingt auch weitere Formen des Widerstands in den Blick nehmen. Dass diese durchaus unauffälliger, unspektakulärer und weniger gefährlich sein konnten als ein Aufstand, hieß nicht, dass sie nicht auch bedeutende Risiken in sich trugen. Für die DDR lassen sich nach Kowalczuk10 vier Grundtypen erkennen, nämlich gesellschaftliche Verweigerung, sozialer Protest, politischer Dissens und Massenprotest. Er ergänzt die Sonderform des Widerstands im Rahmen der Kirche. Auf diese Typen wird im vorliegenden Beitrag unter kommunikativ-sprachlichem Aspekt ausführlicher und mit Bezug auf Beispieltexte eingegangen. Ich beziehe mich bei der Beschreibung des jeweiligen Typs und bei der Wahl der dazu gehörenden Beispiele im Folgenden auf eigene Arbeiten,11 die ich Zwischen Selbstbehauptung und Anpassung. Formen des Widerstands und der Opposition in der DDR (Fn. 1), S. 92. 5 Ebd. 6 Ebd., S. 96. 7 Zu den verschiedenen Formen des Widerstandes in der Diktatur vgl. z.B. die Beiträge von S. Schmidt, A. Aghsain und S. Dhouib in diesem Band. 8 Vgl. ebd., S. 90; Hervorh. im Orig. 9 Vgl. ebd., S. 97. 10 Vgl. ebd., S. 97–99. 11 Vor allem: U. Fix, »Der Wandel der Muster – der Wandel im Umgang mit den Mustern. Kommunikationskultur im institutionellen Sprachgebrauch
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zum Thema bereites veröffentlicht habe und in denen das Ganze jeweils ausführlicher dargestellt wird. Diese gebe ich inhaltlich wieder und zitiere sie auch.
2. Wissen und Sprache als Machtinstrumente Um verstehen zu können, welche Bedeutung die sprachliche Widerständigkeit in der DDR hatte, muss man zunächst betrachten, wie das Machtsystem der DDR funktionierte und welche Prinzipien es für den Gebrauch von Sprache verfolgte. Hilfreich ist dabei die Foucault’sche Denkfigur des Diskurses. Im Foucault’schen Verständnis ist der Diskurs »dasjenige, worum und womit man kämpft [...] die Macht, deren man sich zu bemächtigen sucht«.12 Macht stellt aus Foucaults Sicht das »Entwicklungs- und Integrationsprinzip« einer jeden Gesellschaft dar,13 ganz gleich, ob sie demokratisch oder totalitär verfasst ist. Dabei geht es ihm um eine spezielle Ausprägung von Macht, nämlich das Verfügen über das Wissen (und damit auch über das Sprechen). Man kann sich fragen, der DDR am Beispiel von Losungen«, in: Deutsche Sprache 4 (1990), S. 332–347; U. Fix, »Noch breiter entfalten und noch wirksamer untermauern. Zur Beschreibung von Wörtern aus dem offiziellen Sprachverkehr der DDR nach den Bedingungen ihres Gebrauchs«, in: R. Große, G. Lerchner, M. Schröder (Hg.), Beiträge zur Phraseologie, Wortbildung, Lexikologie. Festschrift für Wolfgang Fleischer zum 70. Geburtstag, Frankfurt/M. u.a.: Peter Lang, S. 13–28; U. Fix, »Die Beherrschung der Kommunikation durch die Formel. Politisch gebrauchte rituelle Formeln im offiziellen Sprachgebrauch der ›Vorwende‹-Zeit in der DDR. Strukturen und Funktionen«, in: B. Sandig (Hg.), Europhras 92. Tendenzen der Phraseologieforschung, Bochum: Brockmeyer 1994, S. 139–153; U. Fix, D. Barth unter Mitarbeit von F. Beyer, Sprachbiographien. Sprache und Sprachgebrauch vor und nach der Wende von 1989 im Erinnern und Erleben von Zeitzeugen aus der DDR. Inhalte und Analysen narrativ-diskursiver Interviews, Frankfurt/M. u.a.: Peter Lang 2000; U. Fix, »Sprache in totalitären Systemen – mehr als die Sprache ihrer Repräsentanten«, in: B. Bock, U. Fix, S. Pappert (Hg.), Politische Wechsel – sprachliche Umbrüche, Berlin: Frank und Timme 2011, S. 13–29; U. Fix, »Eine andere Stimme. Die Sprache der Kirche im entdifferenzierten Diskurs des letzten Jahrzehnts der DDR. Kommunikationsformen, Gattungen«, in: Gewaltlos in die Wende. Die Rolle der evangelischen Kirche im Raum Sachsen-Anhalt auf dem Weg zur friedlichen Revolution 1989. Schriften des Vereins für Kirchengeschichte der Kirchenprovinz Sachsen, Band 5, Magdeburg: o. V. 2011, S. 21–49. 12 M. Foucault, Die Ordnung des Diskurses, Frankfurt/M.: Fischer 1996, S. 11. 13 H. Fink-Eitel, Michel Foucault zur Einführung, Hamburg: Junius Verlag 2002, S. 7.
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SPRACHGEBRAUCH ALS MÖGLICHKEIT DES WIDERSTANDES
wieso Foucault diesem ›weichen‹ Instrument, dem Wissen, das größte Gewicht beimisst. Wenn man sich die konkreten Gegebenheiten, zum Beispiel in der DDR, anschaut, versteht man es. Gesellschaften, besonders aber totalitäre Systeme, nutzen und regeln die Hervorbringung und Verteilung des zugänglichen Wissens, um ihre Position zu festigen. Es wird von oben bestimmt, wer etwas wissen und wer etwas nicht wissen darf und was jemand wissen oder nicht wissen darf. Sowohl das Verfügen über das Wissen als auch die Inhalte des Wissens werden zugeteilt. Daraus folgt zwangsläufig, dass auch die Möglichkeiten des Sprechens zugeteilt werden. Es wird geregelt, wer wozu sprechen oder nicht sprechen darf. Und es wird ebenfalls geregelt, worüber und bei welcher Gelegenheit in welcher Weise gesprochen werden darf. Die Folgen sind klar: Wenn ein Mensch nur selektiv informiert wird, ist sein Wissenshorizont zwangsläufig begrenzt. Und wenn er nicht einmal über das vergleichsweise Wenige, das zum eigenen Wissenshorizont gehört, öffentlich und mit eigenen Worten sprechen darf, ist ihm der Zugang zur Erkenntnis verwehrt. Er kann keine Bedenken, keine Zweifel, keine Gegenargumente oder kritischen Fragen zur Sprache bringen. Das heißt, er darf alles das nicht tun, was der eigenen Einsicht und dem Austausch mit anderen zuträglich wäre. Foucault fasst die Regeln, die dabei wirksam sind, etwa so: Die Prozesse in einer Gesellschaft werden immer organisiert, das heißt, jemand, der die entsprechende Macht hat, bestimmt, wie diese Prozesse ablaufen. Zugleich werden sie kontrolliert, das heißt, jemand beobachtet, was abläuft, und greift gegebenenfalls korrigierend ein. Außerdem findet eine Selektion der Prozesse statt, das heißt, nicht alle sind erlaubt, und die erlaubten werden kanalisiert, bestimmte Richtungen werden zugelassen, andere nicht. Die Produktion von Texten und das öffentliche Sprechen, als wesentliche Hervorbringungen des Diskurses, geschehen also repressiv.14 Neben diesen Verfahren nennt Foucault als das gravierendste das Verbieten. Er spricht ausdrücklich vom »verbotenen Wort«15 und beschreibt dies am Beispiel des öffentlichen Sprechens. Wenn man sich das erst einmal klar gemacht hat und diesen Praktiken in der sprachlich-kommunikativen Praxis nachgegangen ist, kann man die Tragweite der sprachlichen Einschränkungen, die es in der DDR gegeben hat, verstehen. Man kann nun erfassen, von welcher Bedeutung auch sprachliche Widerständigkeit im Kontext der DDR war. Traditionell ging es bei der Analyse des widerständigen Umgangs mit Sprache in der DDR vor allem um den Wortgebrauch. Das reicht aber nicht aus. Im Sinne des Foucault’schen Ansatzes müssen die Möglichkeiten 14 Prozeduren, die »das Bild der repressiven Gesellschaft heraufbeschwören«. R. Konersmann, »Der Philosoph mit der Maske. Michel Foucaults L’ordre du discours«, in: M. Foucault, Die Ordnung des Diskurses (Fn. 12), S. 79. 15 Ebd., S. 16.
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der Teilhabe am Diskurs in den Blick genommen werden. Zu fragen ist, wer in der DDR bestimmen konnte, was der Gegenstand des Gewussten und damit des Denk- und Kommunizierbaren in einer Gesellschaft sein durfte. Ebenso, worüber wie gedacht und gesprochen werden sollte und durfte und, unsere Fragestellung betreffend, wie die Mitglieder der Gesellschaft sich dazu − sich anpassend oder widerständig − verhalten haben. Welche Möglichkeiten haben sie gefunden, sich der Machtausübung durch Sprachregelung zu entziehen, und was haben sie dieser entgegengesetzt? Mit welcher Art von Texten haben sie das vollzogen? Dem soll nun mit Bezug auf Kowalczuks Grundtypen der Widerständigkeit, belegt an Beispielen, nachgegangen werden. Dass im Rahmen eines Aufsatzes Vollständigkeit nicht erreicht werden kann, liegt auf der Hand. So muss es dabei bleiben, das Typische und Exemplarische herauszuarbeiten. Das wird im Folgenden am Beispiel halböffentlicher und öffentlicher Texte geschehen. Was ist mit ›halböffentlich‹ und ›öffentlich‹ gemeint? Während ›öffentlich‹ die Gesellschaft, die Allgemeinheit, das für die Allgemeinheit Zugängliche betrifft,16 bezeichnet ›halböffentlich‹ in unserem Kontext das Feld zwischen allgemeiner Zugänglichkeit und abgegrenzter Privatheit, also Äußerungen von Einzelnen und Gruppen, die an eine begrenzte, möglicherweise ausgewählte Menge von Adressaten gerichtet sind und demnach aus der Privatheit herausgenommen werden, zum Beispiel Texte von kirchlichen Gruppen und Umweltgruppen, Texte des künstlerischen und politischen Samisdat,17 Texte des DDR-Punk und der Montagsgebete. Sie drücken den Widerstand von unten aus. Die Texte des Massenprotestes dagegen sind öffentlich.18 Sie werden zum Beispiel auf Demonstrationen auf Transparenten gezeigt. In jedem der nun folgenden fünf Abschnitte, die sich mit jeweils einem Typ von Widerständigkeit befassen, wird ein exemplarischer Fall herausgegriffen und ausführlicher vorgestellt. Andere mögliche Fälle werden nur kurz ergänzend angesprochen. Zur Wahl der exemplarischen Fälle: Bei der Beschreibung der gesellschaftlichen Verweigerung sind es Interviews, in denen Befragte ihre sprachliche Anpassung oder Verweigerung schildern, im Fall der Widerständigkeit durch sozialen Protest wird die Textsorte ›Eingabe‹ als 16 Diese Bedeutung überschneidet sich mit ›offiziell‹: von einer Institution ausgehend, von ihr bestätigt. Offizielle Äußerungen können sowohl öffentlich als auch nichtöffentlich sein. 17 Samisdat: Veröffentlichung im Selbstverlag. Russisch: sam selber, isdat herausgeben. Vgl. I. Schäkel, Sudelblatt und Edelfeder. Über den Wandel der Öffentlichkeit am Beispiel der offiziell und inoffiziell publizierten künstlerisch-literarischen Zeitschriften aus der DDR (1979–1989), Berlin: dissertation.de-Verlag GmbH 2003. 18 Zu öffentlichen Protesten während der Umbruchzeit vgl. die Überlegungen von M. Maataoui in Zusammenarbeit mit B. Bock sowie in Zusammenarbeit mit S. Pappert in diesem Band.
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exemplarischer Fall betrachtet, für die Erscheinungsform der Widerständigkeit im politischen Dissens werden sprachspielerische politische Kleintexte und ein Gedicht vorgestellt, für den Massenprotest die so genannten Demo-Sprüche und für die Beschreibung der Widerständigkeit im Rahmen der Kirche wird das Montagsgebet als exemplarischer Fall herangezogen.
3. Möglichkeiten widerständigen Verhaltens durch Sprachgebrauch 3.1. Widerständiges Verhalten durch gesellschaftliche Verweigerung19 Die gesellschaftliche Verweigerung ist in einem Staat mit totalitärem Anspruch der sichtbarste Ausdruck des ›Konflikts zwischen Herrschaft und Gesellschaft‹. Diese Form des Widerspruchs kann als die alltägliche beschrieben werden.20 Verweigerung kann natürlich als Passivität aufgefasst werden, aber »in einer totalitär verfassten Gesellschaft [...] entzieht sich der Einzelne dadurch schon dem Herrschaftsanspruch der Machthaber, das heißt, er ist aktiv«.21 Man entzog sich, indem man im Bereich des Sprachgebrauchs nicht »mitmachte«,22 indem man sich dem Gebrauch der entdifferenzierten Sprache der DDR verweigerte. Das allein schon konnte kontrollierende Aufmerksamkeit auf sich ziehen und Misstrauen wecken; denn wenn bereits derjenige verdächtig ist, »der auch nur den Anschein erweckt, als wollte er abseits bleiben«, ist schon das Nicht-Handeln, das Nicht-Mitmachen als eine »Form des Widerstands, des widerständigen Verhaltens zu sehen«.23 Das Nichtmitmachen im Bereich des Sprachlichen hatte vor allem mit dem Überdruss am vorgeschriebenen einheitlichen Sprachgebrauch zu tun. Sprachwissenschaftliche, soziologische, 19 Vgl. U. Fix, D. Barth, unter Mitarbeit von F. Beyer, Sprachbiographien. Sprache und Sprachgebrauch vor und nach der Wende von 1989 im Erinnern und Erleben von Zeitzeugen aus der DDR. Inhalte und Analysen narrativ-diskursiver Interviews (Fn. 11) sowie U. Fix, »Sprache in totalitären Systemen – mehr als die Sprache ihrer Repräsentanten«, in: B. Bock, U. Fix, S. Pappert (Hg.), Politische Wechsel – sprachliche Umbrüche (Fn. 11), S. 13–29. 20 I.-S. Kowalczuk, »Von der Freiheit, Ich zu sagen. Widerständiges Verhalten in der DDR«, in: U. Poppe, R. Eckert, I.-S. Kowalczuk (Hg.), Zwischen Selbstbehauptung und Anpassung. Formen des Widerstands und der Opposition in der DDR (Fn. 1), S. 99. 21 Ebd. 22 Ebd. 23 Ebd., S. 96 f.
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zeitgeschichtliche, also aus verschiedenen Richtungen kommende Äußerungen zur »Sprache der DDR« stellen ziemlich übereinstimmend fest, dass sich der Totalitätsanspruch der SED auch auf die Sprache ausgewirkt hat. Die DDR war, so der Historiker Kocka, eine Gesellschaft, die durch die »[...] unbegrenzte Herrschaftsmacht von Staat und Partei«24 gekennzeichnet war. Eine einzige Machtinstanz regelte den Diskurs und tat dies auf rigide Weise. Das hatte eine − wie er es nennt − »funktionale Entdifferenzierung«25 auch im Sprachgebrauch zur Folge. Alles öffentlich Geäußerte klang gleich, öffentlich sagten alle dasselbe mit denselben Worten. Wer ausbrach, lief Gefahr, sich als Abweichler, Außenseiter, ja Gegner zu erkennen zu geben. Das konnte schon mit dem Gebrauch bzw. Nichtgebrauch einzelner Wörter und Wendungen geschehen. Auf Beispiele aus dem Bereich des Sich-Verweigerns will ich mich nun konzentrieren. Ich beziehe mich dabei auf ein Korpus, das im Rahmen eines DFG-Projekts unter dem Namen Sprachbiographien in den Jahren 1994 bis 1996 erhoben wurde. Ergebnisse des Projekts sind dreißig qualitative, nämlich narrative und diskursive Interviews, also solche, in denen die Befragten als Experten ihrer selbst über ihr Leben und ihre Erfahrungen relativ ungelenkt erzählen können. Einbezogen waren Menschen, die die DDR bewusst erlebt haben und die zum Zeitpunkt der Erhebung in den neuen Bundesländern lebten. Sie wurden befragt nach ihren sprachlich-kommunikativen Erfahrungen vor und nach 1989, das heißt, sie wurden gebeten, zu berichten bzw. zu erzählen, welche Rolle Sprache und Sprechen in ihrem Leben gespielt haben. Die Fragen lauteten etwa: Durften/ konnten Sie öffentlich sprechen? Haben Sie sprachliche Zensur erlebt? War etwas dran an der so oft genannten Zweizüngigkeit? Wie veränderte sich die Sprachsituation in der Phase des politischen Umbruchs? Die Interviews vermitteln, was sonst schwer zu fassen ist, nämlich das persönliche Erleben brisanter − auch sprachlich heikler − Situationen. Auf diese Weise konnte erfasst werden, wie die Befragten den verordneten Sprachgebrauch erlebt haben, wie sie damit umgegangen sind und wie sie sich ihm gegebenenfalls entzogen haben. Die Interviews wurden nicht mit dem Ziel statistischer Auswertbarkeit erhoben, sondern in der Absicht, jeweils einen exemplarischen, das heißt einen gesellschaftlich möglichen Fall zu erfassen, einen Ausschnitt aus einer Sprachbiographie, die zwar jeweils individuell, aber wie jede Biographie doch auch von gesellschaftlicher Bedeutsamkeit war. Allen im Projekt erhobenen Interviews ist gemeinsam, dass die Befragten die 24 J. Kocka, »Eine durchherrschte Gesellschaft«, in: H. Kaelble, J. Kocka, H. Zwahr (Hg.), Sozialgeschichte der DDR, Stuttgart: Klett-Cotta 1994, S. 549–553. 25 Ebd., S. 550.
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offizielle Sprache der DDR nicht als ein Mittel empfanden, mit dem sie sich gern ausdrückten und das ihnen die Herstellung von Identifizierung mit dem Staat ermöglicht hätte: Der offizielle Sprachgebrauch der DDR bot – abstrakt, farblos, undifferenziert, unrhetorisch, teilweise nichtssagend bzw. von falschem Pathos erfüllt – wenig Ansatzmöglichkeiten für die Entwicklung positiver Einstellungen, keine Möglichkeit für die Herstellung von Gefühlen wie Zugehörigkeit, gar von Stolz und Patriotismus. Die Aussagen in den Interviews sind in diesem Punkt ziemlich übereinstimmend. Nur war der Umgang mit dieser von allen empfundenen Zumutung, sich dieser Sprache als Mittel des Ausdrucks der Zugehörigkeit zur DDR zu bedienen, verschieden. Die einen verwendeten sie, wenn auch unsicher oder unlustig. Sie übten die sprachliche Anpassung. Die anderen fanden Mittel und Wege, sich dieser Sprache zu entziehen, sich anders als gesellschaftlich gewünscht auszudrücken, ohne sich damit zu gefährden. Die folgenden Zitate zeigen das. Sie sind Beispiele für Kowalczuks Typ der gesellschaftlichen Verweigerung. Beispiele für Anpassung Interview mit I. N., Kindergartenleiterin in einem kleinen Ort bei Leipzig »Ja also, das muss ich sagen, das war, wenn R. kam, das war meine Oberste in Leipzig, vom Rat des Kreises, oder wenn der Fachberater kam, dann hab’ ich anders gesprochen.«26 »Ich hab’s ja so gesagt, wie die das gerne hören wollten. Das war gemein, du musstest direkt, wie sagt man da, mit zwei Zungen sprechen, weil du musstest das ja so machen, wie die das gerne wollten [...] Und so hab ich’s dann auch gemacht. Was sollte ich mir denn da ein Zwiegespräch einhandeln, ich hab’ gesagt, was sie hören wollten, und, will mal so sagen, und hab meine Arbeit dann doch so gemacht, wie ich das gerne wollte.«27
Interview mit E. P., Lehrerin in einer thüringischen Kleinstadt »Also, die Zwänge sind immer da. Es kommt nur darauf an, wie gut man zwischen Zwängen laviert. Und was man auch für sich selbst als wichtig erachtet.«28 26 U. Fix, D. Barth, unter Mitarbeit von F. Beyer, Sprachbiographien (Fn. 11), S. 244. 27 Ebd., S. 249. 28 Ebd., S. 517 f.
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»Das, was man tun muss, macht man, sagen wir mal, ohne große innere Überzeugung. Und da ist man ja auch als Deutschlehrer in der Lage, solche Kernsätze zu formulieren. Die jetzt eben den Schüler charakterisieren in seiner − was weiß ich − Einstellung zum Staat.«29
Beispiele für Verweigerung Interview mit A. P., Bildende Künstlerin und Hochschullehrerein »Ich erinnere mich, dass ich manchmal ganz bewusst bestimmtes Sprachmaterial eingebracht habe, um mich zu distanzieren [...] Auch um zu provozieren. Weil ich wusste, das ist jetzt nicht angemessen, das wollen die nicht hören.«30 »Also eben wenn ein tabuisiertes Wort gebraucht wurde oder ein Begriff, der gängig war, gemieden wurde, eben nicht gesagt oder so − das ist ja alles schon aufgefallen.«31
Interview mit A. C., Mitarbeiter im Kommunalwesen einer Gemeinde »Das [Doppelzüngigkeit, U. F.] gab’s bei mir eigentlich gar nicht, weil, wie gesagt, diese offizielle DDR-Sprache nie meine Sprache war und ich sie auch so gut wie nie angewendet habe.«32
Interview mit H. G., Musikwissenschaftler an der Karl-Marx-Universität Leipzig »Ja, z. B. in der von vielen belächelten Praxis, dass wir Kollegen, die wir [...] also in den fünfziger Jahren studiert haben, dass wir untereinander immer beim ›Sie‹ geblieben sind. Auch also ›Herr Kollege‹ und ›Sie‹. Das war etwas, was [...] eine ganz deutlich spürbare, aber nicht formulierte Kritik an dem ›Du‹ der Genossen. Die SED-Genossen waren ja im Grunde genommen zum ›Du‹ fast verpflichtet, die mussten also auch ›Genosse Minister, Du‹ sagen, wenn’s drauf ankam [...] und dass unsere Sprachregelung [...] also auch unter bestimmten Studenten schon üblich gewesen war, die sich auch dem FDJtum nicht so ohne weiteres anschließen wollten, ja? Das war und ist zu beobachten. Das hat sich also zum Teil eben wie bei uns erhalten [...].«33 29 30 31 32 33
Ebd., S. 521. Ebd., S. 499. Ebd., S. 507. Ebd., S. 366. Ebd., S. 273 f.
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Interview mit M. K., Museumsmitarbeiterin, Rentnerin »Weißte, in dieser Uniformiertheit dieser sozialistischen Gesellschaft da bleibt uns nichts weiter übrig, als dass wir von der Stange die Klamotten kaufen, da bleibt uns nichts weiter übrig, als dass wir das tun, was man von uns verlangt, aber man kann sich durch die Körperhaltung, dass man sich nicht gehen lässt, und durch die Sprache und durch das Benehmen, da kann man sich absetzen, und daran erkennen wir uns dann wieder und halten wieder zusammen.«34
Natürlich wurden für die Verweigerung des geforderten Sprachgebrauchs auch andere sprachliche Möglichkeiten genutzt: zum Beispiel Witze, Wortspiele, Verballhornung der vorgegebenen Sprache, Fernbleiben von Massenveranstaltungen als eine Verweigerung des gewünschten Rituals, Empfang westlicher Medien, Hören unerwünschter Musik, Tragen geächteter Kleidung und Frisuren.35 3.2 Widerständiges Verhalten durch sozialen Protest Sozialer Protest ist eine Widerstandsform, die sich gegen soziale Erscheinungen und Einrichtungen richtet und sich für sozialpolitische oder innerbetriebliche Verbesserungen einsetzt. Dabei war es nicht notwendig, ausdrücklich politische Forderungen zu stellen. Denn jeder soziale Protest innerhalb dieser Gesellschaft war zugleich ein politischer Protest. Gleichwohl ist vielfach sozialer Protest unpolitisch motiviert gewesen.36 Während sich die meisten Formen sozialen Protestes in der westlichen Demokratie legal äußern können, bewegen sie sich in totalitär verfassten Gesellschaften am Rande der Legalität und Kriminalisierung.37 Da sozialer Protest in der DDR Kritik an den Heilsversprechungen der totalitär 34 Ebd., S. 296; Zitat innerhalb eines Interviews, das die Meinung eines Familienmitgliedes, Lehrstuhlinhaber und Dekan an einer Technischen Hochschule, wiedergibt. 35 Vgl. I.-S. Kowalczuk, »Von der Freiheit, Ich zu sagen. Widerständiges Verhalten in der DDR«, in: U. Poppe, R. Eckert, I.-S. Kowalczuk (Hg.), Zwischen Selbstbehauptung und Anpassung. Formen des Widerstands und der Opposition in der DDR (Fn. 1), S. 100 u. S. 102. 36 Vgl. ebd., S. 103. 37 Ebd. Vgl. z.B. die Beiträge von K. Sefrioui und A. Lahkim Bennani in diesem Band. Vgl. ebenfalls den letzten Teil im zweiten Band sowie den Zeugenbericht von der Philosophin Zaineb Cherni und das Interview mit dem Philosophen Salah Mosbah im dritten Band dieser Titelreihe (Unrechtserfahrung in transkultureller Perspektive).
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verfassten Gesellschaft und damit an ihrem Wesen bedeutete, musste seine öffentliche Äußerung vermieden bzw. gesteuert und kanalisiert werden. Das zentrale, über die gesamte DDR-Zeit übliche Mittel dafür war das Schreiben von Eingaben. Die Textsorte ›Eingabe‹ wird im Kleinen Politischen Wörterbuch folgendermaßen definiert: »Eingaben: Vorschläge, Hinweise, Anliegen und Beschwerden, mit denen sich jeder Bürger schriftlich oder mündlich an die Volksvertretungen, die staatlichen und wirtschaftsleitenden Organe, die volkseigenen Betriebe und Kombinate, die sozialistischen Genossenschaften und Einrichtungen sowie an die Abgeordneten wenden kann. Dieses Recht haben auch die gesellschaftlichen Organisationen. Die Arbeit mit E. ist im Eingabengesetz vom 19.6.1975 geregelt (GBl. I 1975, Nr.26). Aus der Wahrnehmung des E.rechts dürfen Bürgern wie auch den gesellschaftlichen Organisationen keine Nachteile entstehen. Es beruht auf dem in Art. 21 der Verfassung der DDR fixierten Grundrecht der Bürger auf umfassende Mitgestaltung des politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Lebens der sozialistischen Gesellschaft und ihres Staates [...] E. sind gewissenhaft und schnell zu bearbeiten, und die Mitarbeiter und Leiter sind verpflichtet, den Bürgern bei der Überwindung persönlicher Schwierigkeiten zu helfen. Jeder Bürger hat Anspruch auf begründete mündliche oder schriftliche Antwort auf seine E.«38
Dieses als Ventil zugestandene Mittel der Äußerung von Bedürfnissen und von Kritik − »oftmals Ausdruck unerfüllter Lebens- und Arbeitsumstände«39 − war für das System wenig gefährlich, da es sich nicht öffentlich abspielte. Die Möglichkeit des Schreibens von Eingaben wurde oft genutzt.40 Sie war »für viele Menschen die aktivste Form, sich gegen Teilbereiche des Systems zu wehren. Das entsprach der mentalen Verfassung der Mehrheit: etwas Legales tun und dabei doch opponieren«.41 Die Eingaben lassen sich grob unterscheiden in politische und soziale. Die politischen Eingaben gehörten nicht zu dem vergleichsweise harmlosen Protestverhalten, wie es die sozialen darstellten. Ihre Themen – zum Beispiel Militarismus in der DDR, Umweltverschmutzung, Kritik am ideologisierten Bildungswesen – zeigten, dass die Schreiber schon an der Grenze zum Dissidententum standen. Diese Texte wurden 38 Kleines Politisches Wörterbuch, 3., überarbeitete Auflage, Berlin: Dietz Verlag 1978, S. 188. 39 I.-S. Kowalczuk, »Von der Freiheit, Ich zu sagen. Widerständiges Verhalten in der DDR«, in: U. Poppe, R. Eckert, I.-S. Kowalczuk (Hg.), Zwischen Selbstbehauptung und Anpassung. Formen des Widerstands und der Opposition in der DDR (Fn. 1), S. 100 u. S. 104. 40 Kowalczuk geht von vielen Millionen Eingaben aus. Ebd., S. 108. 41 Ebd., S. 104.
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in der Regel nicht beantwortet, das heißt, es wurde Nichtachtung ausgedrückt. Zugleich konnten diese politischen Schreiben aber dazu führen, dass die Verfasser nun vom Staatssicherheitsdienst beobachtet wurden. Anders verfuhr man mit den sozialen Eingaben. Sie wurden beantwortet und führten vielfach zur tatsächlichen Lösung eines Problems, allerdings immer nur punktuell, auf den konkreten Fall bezogen. Sie waren kein Grund für die prinzipielle Überprüfung oder gar Veränderung der wirtschaftlichen und sozialen Strukturen und Vorgehensweisen. Häufige Anlässe für sie waren zum Beispiel Wohnverhältnisse, Krippen- und Kindergartenplätze, niedrige Renten, Arbeitsrechtsfragen, Schwierigkeiten bei »Westreisen«, Zulassungen zur Oberschule (Abitur), Vergabe von Studienplätzen, fehlende Ersatzteile für technische Geräte und anderes. Linguistisch gesehen haben wir mit der ›Eingabe‹ eine institutionelle Textsorte vor uns. Eine Privatperson wendet sich, durch die Gesetzgebung gestützt, mit einem Anliegen an eine Institution. Wenn Heinemann sie als »Textsorte der Alltagskommunikation im weiteren Sinne«42 bezeichnet, behandelt sie die Textsorte wie eine ›normale‹: Sie nennt sie zusammen mit Wetterbericht, Rätsel, Zeitungsanzeige, Kochrezepten, Gebührenbescheiden. Das wird dem immanent politischen Charakter dieser Textsorte jedoch nicht gerecht. Sie ist ein geeignetes Mittel gewesen, in einem gewissen Maße sozialen Protest zuzulassen, ihn jedoch ›unter der Decke‹ zu halten und so soziale Unzufriedenheiten, die auch in politische hätten umschlagen können, zu befrieden. Nach Wittich43 gab es keine Formvorschriften, keine Muster, nach denen man sich bei der sprachlichen Gestaltung hätte richten müssen. Es zeigt sich aber, so Wittich, dass die Schreiber mehr oder weniger dem Muster des offiziellen Schreibens folgten: Man findet, meist im Stil des offiziellen Verkehrs, eine offizielle Anrede, eine Darlegung des Anliegens und seiner Wichtigkeit und abschließend eine BITTE bzw. einen APPELL an die Institution. Dieser kann verbunden sein mit einer DROHUNG.44 42 M. Heinemann, »Textsorten des Alltags«, in: K. Brinker, G. Antos, W. Heinemann, S. Sager (Hg.), Text- und Gesprächslinguistik. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung, Berlin / New York: De Gruyter 2000, S. 611. 43 Vgl. U. Wittich, »›Dann schreibe ich eben an Erich Honecker!‹ ›Eingaben‹ und ›Stellungnahmen‹ im Alltag der DDR«, in: R. Reiher, A. Baumann (Hg.), Vorwärts und nicht vergessen. Sprache in der DDR: Was war, was ist, was bleibt, Berlin: Aufbau Taschenbuch Verlag 2004, S. 198. 44 Die folgenden Beispiele stammen aus U. Wittich, »›Dann schreibe ich eben an Erich Honecker!‹ ›Eingaben‹ und ›Stellungnahmen‹ im Alltag der DDR«, in: R. Reiher, A. Baumann (Hg.), Vorwärts und nicht vergessen. Sprache in der DDR: Was war, was ist, was bleibt (Fn. 43), S. 200–203.
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Anrede: Sehr geehrte Herren, Sehr geehrter Herr Stadtbezirksrat, Werter Herr Dr. M., Einleitung oder Ende der Darlegung des Anliegens: Diese Bitte ist im Sinne einer Eingabe zu behandeln ... / ich bitte Sie herzlich, dieses Schreiben als Eingabe zu betrachten / Als Mitglied der SED und leitender Wirtschaftsfunktionär wende ich mich heute an Sie in folgender Angelegenheit. Schluss: Für Ihre Bemühungen bedanke ich mich schon im Voraus und darf hoffentlich baldigen Bescheid erwarten / Ich bitte Sie hiermit herzlich um Verständnis und um die Berücksichtigung der Dringlichkeit meines Anliegens.
Die Möglichkeit, die Loyalität dem Staat gegenüber aufzugeben, wird − geschützt durch die interne, halböffentliche Situation − zuweilen angedeutet, indem etwa für den Fall, dass dem Antrag nicht stattgegeben wird, mit dem Fernbleiben von einer gerade bevorstehenden Wahl gedroht wird. Der oft eingesetzte offizielle Stil deutet daraufhin, dass den Schreibern das Offizielle des Vorgangs bewusst war. Andere Textsorten mit ähnlicher Funktion gibt es wenige. Das liegt in der Natur der Sache. Kritik sollte möglichst nicht zur Sprache kommen. Dennoch wurde hin und wieder, vor allem in den Betrieben, Kritisches geäußert, zum Beispiel in Arbeitsbesprechungen, in Anträgen an Institutionen, in der Planberichterstattung. Kabaretts und Satirezeitungen waren der Ort, an dem, freilich unter Parteikontrolle, Kritisches relativ deutlich gesagt werden konnte. Sie füllten die Rolle des von der Macht nicht nur geduldeten, sondern sicher auch gewollten Hofnarren aus, übten dabei aber tatsächliche Kritik. 3.3 Widerständiges Verhalten durch politischen Dissens45 »Die bewussteste Form der Gegnerschaft äußerte sich in der Widerstandsform des politischen Dissenses. Diese Opposition existierte während der gesamten DDR-Geschichte in allen gesellschaftlichen Bereichen, sozialen Gruppen und Generationen. Die Träger dieser Widerstandsform stellten stets eine deutliche Minderheit dar. Sie unterschieden sich von anderen dadurch, dass sie ihren Widerstand offen austrugen, bewusst Benachteiligungen und Verfolgungen in Kauf nahmen und sich teilweise organisierten.«46
45 Vgl. U. Fix, »Widerständige Sprache in der Literatur der DDR am Beispiel Jürgen Fuchs«, in: M. Hermann (u. a.) (Hg.), DDR-Literatur zwischen Anpassung und Widerstand, Jena: Garamond Verlag 2011, S. 67–95. 46 I.-S. Kowalczuk, »Von der Freiheit, Ich zu sagen. Widerständiges Verhalten in der DDR«, in: U. Poppe, R. Eckert, I.-S. Kowalczuk (Hg.), Zwischen
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Die innere Periodisierung der Opposition in der DDR orientiert sich laut Kowalczuk an historischen Einschnitten, wie dem Volksaufstand am 17. Juni 1953, dem Mauerbau 1961, dem Prager Frühling 1968 und anderen. Innerhalb dieser Perioden haben sich unterschiedliche Formen des Dissenses herausgebildet. In der Notwendigkeit zur Begrenzung greife ich nur eine Form heraus, nämlich die »soziokulturelle oder gesellschaftliche Opposition«,47 die vor allem in den siebziger und achtziger Jahren aktiv war. Diese Form der Opposition war »fast nur durch Gruppenbildung möglich«.48 Ihre Vertreter bildeten oft »subkulturelle Milieus« – zu Beginn waren es vor allem »Fan-Gruppen« (Musikgruppen), später Vertreter der »DDR-Generation«, die »eine bewusste Ablehnung des Systems«49 in öffentlicher politischer und kultureller Kritik übten. Bestimmend für die letzten Jahre bis hin zur politischen Wende von 1989 waren die Umwelt-, Frauen-, Totalverweigerungs- und Friedensgruppen,50 die vor allem im Schutzraum der Kirche entstanden und mit der Institution Kirche im Hintergrund größere Wirkungsmöglichkeiten als andere Gruppierungen zuvor hatten (vgl. 3.5.). Zu ihren Möglichkeiten, an die Öffentlichkeit zu treten, gehörten Veröffentlichungen im ›Samisdat‹, also Publikationen im nicht- oder halböffentlichen Selbstverlag. In den genannten Gruppen entstanden viele Texte, deren Bandbreite, um nur einige Textsorten zu nennen, von Sprüchen, Pamphleten und Aufrufen bis hin zu Gedichten, Theaterstücken und Künstlerblättern (Texte mit grafischer Gestaltung) reichte. Ein gemeinsames Form-Prinzip vieler dieser Texte ist, dass nicht nur inhaltlich, sondern auch sprachlich und gestalterisch vom ›Normalen‹, Erwartbaren üblicher Texte abgewichen wurde. Das Anderssagen, die Ungewöhnlichkeit der Form bedeutete für die Autoren der Texte bereits Widerständigkeit. An zwei Beispielen aus dem politischen Bereich51 und an einem aus dem künstlerischen werde ich das zu zeigen versuchen. Aus Gründen des Umfangs habe ich jeweils Kurztexte gewählt. Das erste Beispiel, das für Möglichkeiten des politischen Widerspruchs vorgestellt werden soll, ist der auf textiles Material gedruckte Spruch »Schwerter zu Pflugscharen«.52
47 48 49 50 51
52
Selbstbehauptung und Anpassung. Formen des Widerstands und der Opposition in der DDR (Fn. 1), S. 108; Hervorh. im Orig. Ebd., S. 111. Ebd. Ebd., S. 112. Vgl. ebd. Die beiden Beispiele aus dem Bereich der Politik verdanke ich Philipp Dreesen. Er hat mir freundlicherweise die Dateien überlassen, die in seinem Buch Diskursgrenzen (vgl. Fn. 52) zu finden sind. Ich beziehe mich auch zum Teil auf seine dort zu findenden Erläuterungen. P. Dreesen, Diskursgrenzen. Typen und Funktionen sprachlichen Widerstands auf den Straßen der DDR, Berlin/Boston: De Gruyter 2015, S. 278–292.
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Abb.1: Schwerter zu Pflugscharen. Quelle: P. Dreesen, Diskursgrenzen. Typen und Funktionen sprachlichen Widerstands auf den Straßen der DDR, Berlin / Boston: De Gruyter 2015, S. 280.
Dieser im Alten Testament (Jesaja 2,4; Micha 4,3) zu findende Text wurde 1981 in der zweiten Friedensdekade der Evangelischen Kirche 53 zum Symbol der Friedensbewegung in der DDR. Er war auf Vliesstoff in einer Größe von 7x7cm in Kreisform gedruckt. 54 Die Auflage betrug 162.000 Stück. Es wurde üblich, diese Drucke auf Jackenärmel aufzunähen, wie man das mit Abzeichen macht, die zum Ausdruck der Zugehörigkeit zu einer Gruppe bzw. Gemeinschaft dienen sollen. Damit wurde der Text öffentlich wahrnehmbar und es setzten Sanktionen ein: Sie reichten vom Abtrennen des Aufnähers über Einziehen der Kleidungsstücke, Notieren der Personalausweisnummer, Einzug des Personalausweises, Ordnungsstrafen von 200 bis 300 Mark, Zugangsbeschränkungen zur Schule bis zu Exmatrikulationsandrohungen.55 Jeder in der DDR wird die von der Sowjetunion an die Vereinten Nationen geschenkte Plastik Schwerter zu Pflugscharen gekannt haben, die in ihrer Symbolhaftigkeit auch in der DDR, zum Beispiel in Publikationen zur Jugendweihe, dem zentralen Initiationsritual, eine Rolle spielte. Ihre Bedeutung wurde niemals in Frage gestellt. Dass sich Menschen aber aus eigenem Antrieb dafür entschieden, dieses symbolische Bild auf ihrer Kleidung zu tragen, war unerwünscht. Es waren also der 53 Sich 1980 in Ost- wie Westdeutschland verbreitende kirchliche Veranstaltungsreihe zum Gewinn der Kirchenmitglieder für Friedensfragen. Das Friedensthema wurde damit zu einem Schwerpunkt im Kirchenjahr gemacht. In der DDR entwickelte sie sich zu einer Gruppierung, der sich auch Nichtmitglieder der Kirche aus politischen Gründen im Sinne der Opposition anschlossen. Sie wurde dann (siehe 3.5.) in einem gewissen Sinne politisiert und umfunktioniert. 54 Die Lesezeichen mit dem Bild Schwerter zu Pflugscharen wurden deshalb auf Vliesstoff gedruckt, weil dies ein Material ist, das keine Druckgenehmigung brauchte. 55 P. Dreesen, Diskursgrenzen. Typen und Funktionen sprachlichen Widerstands auf den Straßen der DDR (Fn. 52), S. 279 ff.
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Abb. 2: Demokratie. Quelle: P. Dreesen, Diskursgrenzen. Typen und Funktionen sprachlichen Widerstands auf den Straßen der DDR, Berlin / Boston: De Gruyter 2015, S. 325.
Träger mit seiner individuellen Entscheidung, der Ort (Kleidung) und das Material (aufnähbarer Vliesstoff), die aus dem affirmativen Gehalt der Plastik eine widerständige Aussage machten. Selbst das auf Verlangen herausgeschnittene Symbol hatte einen solchen Gehalt. Der leere Kreis, das Loch in der Kleidung, verwies, zumal wenn der Rand stehen gelassen wurde, für diejenigen, die den Aufnäher kannten, auf den Text. Das wirkte als Mitteilung darüber, dass die Wahrheit nicht unterdrückt werden kann. Je mehr man sich bemüht, sie zu entfernen, umso deutlicher wird sie, umso mehr gewinnt sie − in unserem Fall das Loch in der Jacke − an Erkennbarkeit. Dies ist ein Beispiel für eine intertextuelle und multimediale Form (Bild, Schrift, Stoff, Leere) der Widerständigkeit. 321
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Das zweite Beispiel ist ein Transparent mit den chinesischen Schriftzeichen für Demokratie und mit dem deutschen Wort ›Demokratie‹. Es richtete sich, das wird damals wohl jeder assoziiert haben, gegen das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens (Tiananmen-Platz) in Peking im Juni 1989 und rief dessen Befürwortung durch Egon Krenz56 in Erinnerung. Getragen wurde es auf dem Statt-Kirchentag am 9. Juli 1989 in Leipzig. Dieser Statt-Kirchentag war eine von Basisgruppen der Kirche gegen den offiziellen (staatlich beaufsichtigten) Kirchentag gerichtete und von der SED aus taktischen Gründen geduldete Veranstaltung. Deutlich war durch die Ungewöhnlichkeit des Textes (anders als übliche Losungen) und die Gelegenheit, bei der er zu lesen war (Basisgruppenveranstaltung), dass es um eine widerständige Mitteilung ging. Auf einer Demonstration, die sich an die Schlussveranstaltung des Statt-Kirchentages anschloss, wurde das Transparent durch Straßen im Süden Leipzigs getragen. Nach kurzer Zeit wurde es den Trägern von Vertretern des Ministeriums für Staatssicherheit weggerissen. Sie wurden gezwungen, in das Auto derer, die das Transparent konfisziert hatten, einzusteigen. Der Grund dafür war, dass chinesische Schriftzeichen als Träger der Information zu sehen waren. Es wird zwar den wenigsten bekannt gewesen sein, was sie bedeuten, sie waren aber als ›irgendwie‹ fernöstliches bzw. chinesisches Zeichen zu erkennen und boten so die Assoziation zum Geschehen auf dem Platz des Himmlischen Friedens und an die Wut auf Egon Krenz, der dieses öffentlich gebilligt hatte. Durch die deutsche Übersetzung wurde zugleich die − mit einem expliziten Text kaum mögliche − Forderung nach Demokratie geäußert. Wie beim ersten Beispiel kann auch hier vermutet werden, dass eine Gruppe handelte, nämlich Vertreter der Friedensbewegung, die das Transparent hergestellt und gezeigt hatten. Beide Texte veranschaulichen das für die damaligen widerständigen Texte der Subkulturen dominierende Anderssagen – das Abweichen als Prinzip der Widerständigkeit. Das nun folgende Beispiel für Abweichen als Widerständigkeit im literarischen Bereich ist ein Gedicht von Bert Papenfuß-Gorek.
56 Den damaligen Stellvertreter des Vorsitzenden des Staatsrates der DDR und Leiter der Zentralen Wahlkommission Egon Krenz betrachteten viele als mitverantwortlich für die im Mai 1989 vorgenommenen Ergebnisfälschungen bei der Kommunalwahl. Der blutigen Niederschlagung des Studentenaufstandes auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking stimmte er am 8. Juni 1989 in der Aktuellen Kamera ausdrücklich zu.
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rasender schmerts weiterlachen »ich such die kreuts & die kwehr kreutsdeutsch treff ich einen gruess ich ihn kwehrdeutsch auf wiedersehen faterland ich such das meuterland dort muessen sie landen die kleinen gruenen jungs in ihren warmhalteuniformen daumenlutscher lutschen dorne streifzuegler im grossfeuerholz spannend erzählt weitermachen.«57 Die politische Aussage, die diesem Text abzulesen ist, lebt ebenfalls vom Anderssagen, das heißt von der spezifischen Art der Einschreibung einer zweiten Botschaft. Dies wird durch den Umgang mit der Sprache erreicht, ist also ein formästhetisches Phänomen der Textoberfläche, verweist aber, indem die Form selbst Bedeutung erhält, auch auf die Tiefenstruktur. Es geht um Formexperimente, um Unerwartetes, Verfremdendes im Sprachgebrauch, um Übertreibungen, um Regelbrüche, kurz um Spiel mit der Sprache. All die Verfahren werden aber nicht um des Spiels willen gewählt, sondern um den verordneten Inhalten und der geläufigen, phrasenhaften, inhaltsleeren Sprache der öffentlichen Rede, speziell der Parteisprache, etwas Eigenes entgegenzusetzen. Dadurch, dass etwas gesagt wird, was schwer verständlich ist, gewinnt der Leser den Eindruck von Subversivität. Es scheint eine Grenze überschritten zu werden, freilich mit Mitteln, denen man die Grenzüberschreitung nicht direkt ansehen, denen man sie nicht nachweisen und die man daher (eigentlich) niemandem anlasten kann. Papenfuß-Gorek, der Autor des hier angeführten Gedichts, gehörte zur Gruppe der Schriftsteller vom »Prenzlauer Berg«. Dabei handelte es sich um eine urbane Jugend- und Gegenkultur, die in den 1980er Jahren jüngere Künstler versammelte, die sich auf keinen ideologischen und künstlerischen Kompromiss mehr einlassen wollten. Die Mitglieder der Gruppe wollten sich im Foucault’schen Verständnis der Dekonstruktion aus »erstarrten Diskursstrukturen«58 befreien und übten Widerspruch, 57 Bert Papenfuß-Gorek, dreizehntanz, Aufbau – Außer der Reihe, hg. von Gerhard Wolf, Aufbau-Verlag Berlin und Weimar 1988. 58 P. Geist, »Die Lyrik der nichtoffiziellen Literaturszene in der DDR«, in: U. Heukenkamp, P. Geist (Hg.), Deutschsprachige Lyriker des 20. Jahrhunderts, Berlin: Erich Schmidt Verlag 2007, S. 748.
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wie wir ihn schon von den Dadaisten oder von der russischen Avantgarde kennen. Aber − die »eigentlich wenig interessante[n] Wiederholungen dadaistischer Aktionen«59 konnten nun innovatorisch wirken, weil eben das, was schon die Vorgänger geleistet hatten und was nun wieder aufgegriffen wurde, zum aktuell Unerwünschten, Verbotenen gehörte. Ein solches Vorgehen war gefährlich in der Zeit der Kunstdoktrin des sozialistischen Realismus, in der es um die ›richtigen‹ Inhalte ging und Formbestreben als »dekadenter Formalismus« abgetan wurde. Das Ziel bestand ja darin, die »Strukturen der Herrschaftssprachen Ost und West zu unterlaufen«.60 Gesellschaftskritik als Sprachkritik zu üben hieß, auch für Papenfuß-Gorek, Worte zu verfremden, was bedeuten kann, ihnen einen ganz anderen Sinn oder ganz andere Assoziationsmöglichkeiten zu geben. Papenfuß-Goreks Mittel sind die »Neu-, Umund Überschreibungen konventioneller Wörter«.61 Das geschieht in unserem Fall in einem Gedicht, das Sprache selbst thematisiert. Mit den Benennungen kreutsdeutsch und kwehrdeutsch – aber auch über sie hinaus – reibt sich der Text an der vorhandenen Sprache. Zentral sind die Hochwertwörter Vaterland und Mutterland. Diese werden durch die Schreibung faterland, meuterland wie alle anderen verwendeten Mittel ›entzaubert‹ und verfremdet. Der respektlose, demaskierende Umgang mit alten Formen führt zum neuen Lesen und doppelbödigen Verstehen der Wörter in ästhetischer und politischer Hinsicht, besonders deutlich hier im Fall meuterland: Mutter, meutern. An Mitteln des Verfremdens findet man, um einen knappen Überblick zu geben: Abweichungen auf der visuellen/phonetischen Ebene: • bewusstes und irritierend wirkendes Abweichen von der Rechtschreibung: kwehr, faterland • das Auslassen und Vertauschen, auch Ergänzen von Buchstaben: meuterland • die Auflösung von Umlauten in der Schreibung: gruess, muessen, gruenen, streifzuegler, erzaehlt • das Zeichen & statt ›und‹ (et repräsentiert das Wort und ist nach der deutschen Rechtschreibung eigentlich nur in Firmenbezeichnungen möglich) • die ikonographische Anordnung: X-Form = Kreuzform (=kreuts) Abweichungen auf der lexikalisch/semantischen Ebene sind vor allem: • abweichende Neubildungen: kreutsdeutsch, kwehrdeutsch, warmhalteuniformen • Hochwertwörter wie Vaterland und analog Mutterland (faterland, meuterland), aber in verfremdeter Form 59 Ebd. 60 Ebd. 61 Ebd., S. 753.
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Der Text ist, wie deutlich zu sehen ist, gekennzeichnet durch das Spiel mit Wortbedeutungen und Wortschreibungen, durch den Umgang mit gewollt Fehlerhaftem − als Kritik an den Normen der deutschen Sprache, die nach Papenfuß-Goreks Erleben als eine Herrschaftssprache betrachtet werden muss. Alle drei unter 3.3. behandelten Texte zeigen so auf jeweils eigene Weise, dass Widerständigkeit im politischen Diskurs durch Anderssagen geübt wurde. 3.4 Widerständiges Verhalten durch Massenprotest62 »Der Massenprotest ist die Form widerständigen Verhaltens, die während der DDR-Geschichte am seltensten auftrat [...] Ein Massenprotest ist dann gegeben, wenn hunderte oder tausende Personen sich versammeln, um ihren Unwillen kundzutun, bzw. wenn sie sich wegen eines anderen Anlasses versammeln, der dann Ausgangspunkt des Protestes wird.«63
Kowalczuk nennt als allgemein bekannte Massenprotestereignisse der DDR den 17. Juni 1951 und den Herbst 1989. Auf den letzteren will ich mich in diesem Abschnitt beziehen. Die sprachlichen Formen der Widerständigkeit, die damals bestimmend waren, sind vor allem die sogenannten Demo-Sprüche: politische Slogans, die auf den Demonstrationen auf Transparenten getragen oder gemeinsam gesprochen bzw. gesungen wurden. Diese Sprüche sollen nun betrachtet werden. Die spontanen öffentlichen Debatten und die gut strukturierten Runden Tische, die beide neue, ungeübte mündliche Formen demokratischer Teilhabe an der Gesellschaft waren und auch der offenen Kritik 62 Vgl. U. Fix, »Der Wandel der Muster – der Wandel im Umgang mit den Mustern. Kommunikationskultur im institutionellen Sprachgebrauch der DDR am Beispiel von Losungen«, in: Deutsche Sprache (Fn. 11), S. 332– 347; U. Fix, »Noch breiter entfalten und noch wirksamer untermauern. Zur Beschreibung von Wörtern aus dem offiziellen Sprachverkehr der DDR nach den Bedingungen ihres Gebrauchs«, in: R. Große, G. Lerchner, M. Schröder (Hg.), Beiträge zur Phraseologie, Wortbildung Lexikologie. Festschrift für Wolfgang Fleischer zum 70. Geburtstag (Fn-11), S. 13–28; U. Fix, »Die Beherrschung der Kommunikation durch die Formel. Politisch gebrauchte rituelle Formeln im offiziellen Sprachgebrauch der ›Vorwende‹-Zeit in der DDR. Strukturen und Funktionen«, in: B. Sandig (Hg.), Europhras 92. Tendenzen der Phraseologieforschung (Fn. 11), S. 139–153. 63 I.-S. Kowalczuk, »Von der Freiheit, Ich zu sagen. Widerständiges Verhalten in der DDR«, in: U. Poppe, R. Eckert, I.-S. Kowalczuk (Hg.), Zwischen Selbstbehauptung und Anpassung. Formen des Widerstands und der Opposition in der DDR (Fn. 1), S. 113.
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dienten, die also widerständig waren, können aus Gründen des Umfangs nicht einbezogen werden. An der Gegenüberstellung von DDR-Losungen und Demo-Sprüchen soll gezeigt werden, worin das Widerständige der Texte des Herbstes 1989 bestand. Die Texte vermitteln Widerspruch sowohl im Inhalt und in der Situation (frei gewählte Themen), als auch in der Form (Streben nach dem Anderssagen). Bei den beiden Textsorten ›Losung‹ und ›Demo-Spruch‹ handelt sich um sehr ähnliche, scheinbar verwandte Erscheinungen. Beides sind Texte mit einer politischen Botschaft. Beide sind kurz und knapp, zum Zeigen auf Transparenten und zum Sprechen in der Öffentlichkeit gedacht. Dennoch sind sie grundsätzlich verschieden. Der Name ›Losung‹, wie er in der DDR gebraucht wurde, bezeichnete einen von der SED vorgegebenen politisch werbenden Spruch. Die wichtigsten Losungen, die für den 1. Mai, wurden im April eines jeden Jahres im Neuen Deutschland, dem »Zentralorgan der SED«, veröffentlicht. Ihre Verwendung war zwingend. Man durfte keine eigenen Texte formulieren und keine eigenen Probleme benennen.64 Anders als bei Wahlslogans in demokratischen Gesellschaften wenden sich die Losungen nicht an eine spezielle Adressatengruppe, sondern als Stimme der »Einheitspartei« undifferenziert an ausnahmslos alle Bürger des Landes. Sie sollten ein Gruppenbewusstsein als DDR-Bürger schaffen, also integrierend wirken. Folgen für die Sprachgestalt sind unter anderem Wörter ohne Aussagekraft, Stereotypie, leeres Pathos und Unbestimmtheit. Mit ›Demo-Sprüchen‹ sind die Texte gemeint, die auf den Demonstrationen des Herbstes 1989 getragen und gerufen wurden. Diese Sprüche waren nicht ›von oben‹ vorgegeben, hinter ihnen stand vielmehr eine Vielzahl von (noch) nicht legalisierten Gruppen und von Einzelpersonen. Allein in dieser Urheberschaft bestand schon ein Angriff auf das Prinzip des Systems. Während die Losungen einen einzigen Autor, die SED, hatten, gab es mit den Demo-Sprüchen eine nicht überschaubare und vielfältige Menge von Urhebern, die sich an sehr unterschiedliche Interessengruppen wandten. Die Beteiligten machten auf diese Weise von ihrem bisher immer vorenthaltenen Recht auf freie Meinungsäußerung Gebrauch. Die Vielfalt zeigte sich im Inhalt und in der schöpferischen, neuartigen, teils witzigen Formgebung. Es werden konkrete Anliegen genannt und statt der ritualisierten, sinnentleerten Formen der alten Losungen zeigt sich eine Fülle rhetorisch-stilistischer Elemente, mit denen das Anliegen kreativ – spielerisch, humoristisch, anspielungsreich – vortragen wurde. 64 »Freiheit des Andersdenkenden«: Das Zitat von Rosa Luxemburg stand am 17. Januar 1988 auf einem Plakat von Demonstranten bei den jährlichen offiziellen Feierlichkeiten zu ihrem Todestag. Der Vorfall löste eine Verhaftungs- und Ausweisungswelle aus und gilt als ein Vorbote der Wende von 1989.
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Einige Beispiele für Losungen aus der DDR werden zum Vergleich vorgestellt: Die Themen der Losungen sind abstrakt. Es ist zum Beispiel unbestimmt, was der Ausdruck Sozialismus in den Farben der DDR bedeuten soll. Man kann vermuten, dass es um eine bewusst unscharf gehaltene Benennung für die strikt ablehnende Haltung der DDR gegenüber den Protesterscheinungen im eigenen Land im Vergleich zur Perestroika-Politik Gorbatschows geht. Eine ebensolche Unschärfe findet sich in den reichlich verwendeten sogenannten Hochwertwörtern, also in Wörtern, die man als sehr positiv bewertet kennt, denen man aber, würde man danach gefragt, nur schwer einen Inhalt zuordnen kann. Was genau hat man unter den Wörtern Erfolg, Frieden, Sozialismus, Solidarität, Produktivität zu verstehen? Welche Art von Erfolg ist in dem Losungstext Weiter voran zu noch größeren Erfolgen gemeint? Hinzu kommt die beschönigende Formelhaftigkeit in der Steigerung. Unscharf ist auch die Losung Weiter voran unter dem Banner von Marx, Engels und Lenin. Welche Vorstellung soll man vom Banner von Marx, Engels und Lenin haben? Auch die Intentionen der Texte bleiben unklar. Sie sind (bewusst?) unscharf gehalten worden. In der Losung Der unzerstörbare Bruderbund mit der Sowjetunion – Quelle unserer Kraft könnte sowohl die Intention des Behauptens als auch die des Aufforderns gemeint sein. Es könnte also sowohl verstanden werden »Der Bruderbund ist die Quelle der Kraft« als auch »Der Bruderbund soll zur Quelle der Kraft werden«. Die Losung Mit noch besseren Ergebnissen in der Produktion zur Volkskammerwahl ist ein Beispiel für die übliche beschönigende Ausdrucksweise: Eine eigentlich schlechte Situation wird als guter Zustand dargestellt, den es lediglich noch weiter zu verbessern gilt. Dazu dienen die noch + Komparativ-Konstruktionen, wie zum Beispiel das hier verwendete noch besser. Zu den Demo-Sprüchen: Sie unterscheiden sich in jeder Hinsicht grundlegend von den Losungen. Gemeinschaftlichkeit im Ausdruck von Widerstand wurde angestrebt. Ihre Themen sind konkret, wie die folgenden Beispiele zeigen: • Gute Luft statt schlechte Kohle. Rettet die Dübener Heide. • Freie Einsicht in die Kaderakten. • Die Mauer muss weg. Die Intentionen, die sie verfolgen, sind klar zu erkennen. Sie haben nichts mehr mit Behaupten und Beschönigen zu tun. Die folgenden Beispiele zeigen das. Es geht um ganz andere Sprachhandlungen wie zum Beispiel FRAGEN, APPELIEREN, DANKEN. • Moralisches Appellieren: Schämt euch was • Danken: Kirche, wir danken dir. • Beschimpfen: Harry Tisch, du fauler Wisch! • Gefühle äußern: SED, das tut weh. • Drohen: Wenn die SED nicht geht, gehen wir. 327
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• Fordern: Stasi in die Volkswirtschaft • Zitieren (beim Wort nehmen): Vorwärts immer, rückwärts nimmer. (E. Honecker) Verbreitet sind die Mischungen mit anderen Textsorten und die Verwendung von Anspielungen. Sprichwörter zum Beispiel werden entweder einfach wiedergegeben oder es wird mit ihnen gespielt. • Verdummung und Stolz wachsen auf einem Holz. • Lügen haben kurze Beine. Gysi zeig uns doch mal deine. Das Bibelzitat stellt eine ethische Forderung vor Augen und bekräftigt zugleich die Verbindung zur Kirche, die damals für viele bestand. So soll es nicht sein unter euch; sondern wer unter euch groß sein will, der sei euer Diener; und wer der erste sein will unter euch, der sei euer Knecht. (Matthäus 20, Vers 26 und 27)
Spiele mit der Sprache zeigen sich im Umgang mit Wörtern, mit Reimen, mit Gleichklang und Schreibung. Alles Mittel, die man vor allem aus literarischen Texten kennt, die aber hier in den Alltagsgebrauch übernommen werden. • Wortspiel: Lieber Kohlplantage als sozialistische Versuchsfarm. • Kinderreim: Das ZK ins Altersheim, Gysi soll der Pförtner sein. • Abzählvers: 1, 2, 3 am 6. (Mai, U.F.) sind wir frei • Spiel mit Gleichklang und Schreibung: Rechtssicherheit ist die beste Staatssicherheit Luft entschwefeln – Politik entschwafeln Wir sehen, dass sich im Herbst 1989 das öffentliche Sprechen vom halböffentlichen zum öffentlichen verlagerte. Die Protestierenden, die nun von sich aus das Wort ergriffen, sprachen in aller Öffentlichkeit, auf der Straße und in allen zugänglichen Räumen wie zum Beispiel Theatern, Rathäusern und Schulen. Sie bestimmten ihre Themen selbst und fanden ihre eigene Sprache. Dabei lebten sie vom Spiel und vom Experiment. Die lange Zeit verschüttete Kreativität brach auf. Um das wirklich würdigen zu können, muss man wissen, dass es für diesen kreativen Umgang mit Sprache keine Vorbilder gab. So etwas hatte man im öffentlichen Bereich der DDR zuvor nie gesehen. Es ist also das ganz eigene kreative Bedürfnis und Vermögen, das sich ausdrückt und den absoluten Gegensatz zur öffentlichen Sprache der DDR darstellt.
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3.5 Sonderfall: Protest im Rahmen der Kirche65 »Eine Sonderform des Widerstands in der DDR war der institutionelle Widerstand, den in der DDR die Kirchen symbolisierten. Prinzipiell ist festzustellen, dass die Kirchen ihre Souveränität bewahrten, die sie als einzigen Gegenpol zum SED-Herrschaftsanspruch und -Machtbereich existieren ließen.«66
Die Kirche als Institution bildete in der gesamten Geschichte der DDR eine bemerkenswerte Ausnahme von der Durchherrschung durch die Machthabenden. Sie stand bis zu einem gewissen Grade außerhalb der Machtbefugnisse, die die Verhältnisse in der DDR sonst bestimmten, und war den geltenden Regelungen des Macht-Diskurses daher weniger ausgesetzt. So hatte sie sich auch im Bereich der Sprache dem Herrschaftsanspruch deutlich erkennbar entzogen: durch den Gebrauch religiöser Sprache, durch die Bewegung in anderen, freieren Kommunikationskonstellationen, die sie selbst bestimmen konnte. Diese freiere Situation übertrug sich auf die Gruppen, die unter ihrem Dach Asyl fanden. Sie war der Grund, weshalb sich Menschen, denen die Kirche eigentlich fremd war, dennoch an sie wandten. Diese Menschen suchten einen Ort, an dem ein offener Diskurs möglich war, und wandten sich an eine in der DDR-Gesellschaft bisher öffentlich wenig wahrgenommene Institution, die den Zugang zu einem – eigentlich unmöglichen − freien Diskurs ermöglichte, indem sie unter ihrem Dach das unzensierte öffentliche Reden zu selbst bestimmten Themen zuließ. In dem Moment, wo das geschah, entglitt den Machthabern die Regelung des öffentlichen Diskurses zu einem wichtigen Teil. Die Kirche bot außer der Gelegenheit, frei zu sprechen, auch die Möglichkeit, anders zu sprechen, und das heißt, anders zu denken. Andere Textsorten − solche des religiösen und kirchlichen Bereichs mit anderen Intentionen wie zum Beispiel VERKÜNDIGEN, und andere Terminologien mit anderen Bedeutungsinhalten, andere literarische Texte, andere Gesprächsstrategien und -stile und damit andere Denk- und Redeweisen wurden durch die Kirchen zugänglich. 65 Vgl. U. Fix, »Eine andere Stimme. Die Sprache der Kirche im entdifferenzierten Diskurs des letzten Jahrzehnts der DDR. Kommunikationsformen, Gattungen«, in: Gewaltlos in die Wende. Die Rolle der evangelischen Kirche im Raum Sachsen-Anhalt auf dem Weg zur friedlichen Revolution 1989. Schriften des Vereins für Kirchengeschichte der Kirchenprovinz Sachsen (Fn. 11), S. 21–49. 66 I.-S. Kowalczuk, »Von der Freiheit, Ich zu sagen. Widerständiges Verhalten in der DDR«, in: U. Poppe, R. Eckert, I.-S. Kowalczuk (Hg.), Zwischen Selbstbehauptung und Anpassung. Formen des Widerstands und der Opposition in der DDR (Fn. 1), S. 98.
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Die folgenden Beispiele für diese Situation betreffen zunächst den Wortschatz. Die Entdifferenzierung des Wortschatzes in der DDR und damit das Vorenthalten von Denkmöglichkeiten stellten, wie schon deutlich gemacht wurde, eine starke Beschränkung dar. Wer zum Beispiel nicht gelernt hatte, dass das Wort Wahrheit über die politisch-ideologische Bedeutung hinaus auch philosophische, theologische und ethische Bedeutungsmöglichkeiten hat, konnte in dieser Richtung natürlich nicht denken. Mit ihrem Wortschatz eröffnete die Kirche nun andere Möglichkeiten, als sie die öffentliche Kommunikation in der DDR zuließ. Das betraf zum einen Wörter, die außerhalb der Kirche kaum oder gar nicht verwendet wurden, also Wortschatz aus dem Bereich des Glaubens und des Ethischen wie zum Beispiel Demut und Barmherzigkeit. Es ging zum anderen um Wörter, die zwar auch außerhalb der Kirche gebräuchlich waren, die aber im Kirchenraum andere Bedeutungen entfalteten als die öffentlich gebräuchlichen. Der Gebrauch von Frieden und Wahrheit im kirchlichen Kontext hatte nichts mit den marxistisch-leninistisch geprägten Kategorien zu tun, sondern eröffnete Dimensionen, die über Politisch-Ideologisches weit hinausgingen. Im Philosophischen Wörterbuch heißt es 1974: »[…] Ist der Krieg eine gesetzmäßige Erscheinung der Klassengesellschaft und folglich ein Ziel der Bestrebungen der Ausbeuterklassen zur Sicherung und Erweiterung ihrer Macht, so ist der Frieden eine gesetzmäßige Erscheinung des Kommunismus und Ziel des Kampfes der Arbeiterklasse.«67 »[…] Im Gegensatz zu allen diesen Auffassungen geht die Wahrheitstheorie des dialektischen Materialismus von der Abbildtheorie aus und sieht […] die Wahrheit in der Übereinstimmung der Erkenntnis mit der objektiven Realität.«68
Dagegen steht ein ganz anderes Erlebnis mit denselben Wörtern: »Wovon der Pfarrer sprach, weiß ich nicht mehr. Ich erinnere mich auch nicht, wie ich an dem Tisch Platz fand. Ich weiß nur noch von dem Sog einer Sprache, in der die Worte eine ganz andere Bedeutung hatten. Was etwa das Wort ›Frieden‹ hier meinte, hatte nichts mit der imperialistischen Bedrohung zu tun. Wenn von ›Wahrheit‹ die Rede war, stand keine Partei im Hintergrund, sondern eine große Unbekannte: Gott.«69
67 Philosophisches Wörterbuch, hg. von G. Klaus und M. Buhr. Berlin: VEB Bibliographisches Institut Leipzig 101974, S. 429. 68 Ebd., S. 1273. 69 Christian Lehnert, Pfarrer, Studienleiter Evangelische Akademie Wittenberg, in: A. Brummer (Hg.): Vom Gebet zur Demo. 1989 – Die Friedliche
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Die verschlüsselte, metaphorische religiöse Sprache70 erwies sich, wie zum Beispiel die Montagsgebete gezeigt haben, überraschenderweise als geeignet, politisch brisante Gegenstände im Rahmen gottesdienstlicher Handlungen zu vermitteln. Interview mit H. S., freie Journalistin und Dozentin »Und in der Kirche war es natürlich möglich, über Metaphern zu verklausulieren und ›Wir beten für die Gefangenen in den Gefängnissen‹ [zu sagen] und dann war natürlich klar, welche gemeint waren […] So über Metaphern war ’ne ganze Menge möglich.«71
Das nun folgende Beispiel gilt einer komplexen Kommunikationssituation, dem Leipziger Montagsgebet in der Nikolaikirche vom 25. September 1989. Hier soll gezeigt werden, wie Menschen, denen die Kirche fremd war, sich deren Raum und Kommunikationsformen für den Ausdruck von Widerständigkeit zu eigen machten. »Im Sprechen selbst ereignete sich die Revolution, kam es zur Enttabuisierung des Bestehenden und zur Entdeckung neuer Möglichkeiten.«72 Will man die Rolle der Kirche in dieser Zeit nach innen und nach außen wirklich erfassen, muss man sich zunächst das Dilemma vor Augen führen, in dem sie sich mit der Herausforderung befand, für alle offen zu sein. Einerseits verfügte die Kirche über Möglichkeiten, die den oppositionellen Gruppen und Ausreisefordernden nicht zur Verfügung standen, nämlich Räume, Vervielfältigungsmöglichkeiten, Telefone und die Befreiung von der Anmeldepflicht für (gottesdienstliche) Veranstaltungen. Sie hatte damit eine gewisse Freiheit, die sie − aus ihrem religionsethischen Selbstverständnis heraus − verpflichtet war, mit anderen zu teilen. Andererseits war sie natürlich eine vom Staat nur geduldete und immer gefährdete Institution, die ihren Freiraum nicht verlieren wollte. Dieses Dilemma wird an vielen Stellen der historischen Arbeiten73 und in der Erinnerungsliteratur thematisiert. Das Ausweichen vor
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Revolution begann in den Kirchen, Frankfurt/M.: Hansisches Druck- und Verlagshaus 2009, S. 85. Vgl. K. Bayer, Religiöse Sprache. Thesen zur Einführung, Münster: Lit Verlag 2004. Unveröffentlichtes Manuskript. E. Neubert, Unsere Revolution. Die Geschichte der Jahre 1989/90, München: Piper 2008, S. 19. Vgl. Enquete-Kommission, Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland. Widerstand und Opposition, Revolution. VII, 1, hg. vom Deutschen Bundestag, Frankfurt/M.: Nomos Verlagsgesellschaft 1995, S. 612 ff.
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der Konfrontation mit dem Staat spielt eine Rolle, wie das folgende Zitat zeigt und wie es auch Kowalczuk erörtert: »Ich habe zu spät erkannt, dass in den ›Basisgruppen‹ sich die neue Erwachsenengeneration mit ihrem Recht, neue Wege in eigener Verantwortung zu gehen, zu Wort meldete. Ich habe die Konfrontation zum Staat mit bewusster Öffentlichkeitswirkung zu lange vor mir her geschoben. Und ich bin in den Jahren nicht frei genug von Gewöhnung an die damaligen Verhältnisse geblieben.«74 »Die Kirchen standen immer vor dem Problem, nicht als politisch gelten zu wollen, zugleich aber unter den obwaltenden Verhältnissen fast automatisch in eine politische Rolle und Funktion zu geraten. Allein ihre Existenz war in der Diktatur ein politisches Faktum. […] Im Prinzip ist den Kirchen auch nicht anzulasten, dass sie die Bedürfnisse des Parteistaates und die Ansprüche der Opposition nicht gleichermaßen ihren Entscheidungen zugrunde legten, sondern zu oft im Zweifelsfall für die staatlichen Bedürfnisse eintraten. […] Nicht zuletzt deshalb, und eben nicht nur aus theologischen Erwägungen heraus, blieb sie stärker staats- und weniger gesellschaftsorientiert. In ihren eigenen Worten hieß dies: Die Kirche ist für alle, aber nicht für alles da.«75
Es kommen aber nicht nur politische, sondern auch theologische Bedenken zur Sprache. »Wir haben auch gesagt […], dass das Christliche an unseren Veranstaltungen erkennbar bleiben muss.«76 Diese spielen für meine Überlegungen die größere Rolle. Was in gottesdienstlichen Handlungen vollzogen wird, ist ein anderes Sprachspiel, als es die Sprachspiele der politischen Kommunikation sind. Dieses »liturgische Sprachspiel« wird mit anderen Texten und einer anderen Intention vollzogen als die politischen, nämlich mit der Intention, die christliche Lehre im Rahmen der Liturgie als Vollzug kirchlicher Gemeinschaft zu verkündigen. Die gottesdienstliche Handlung, in der das geschieht, ist rituell geregelt. 74 J. Hempel, Erfahrungen und Bewahrungen. Ein biographischer Rückblick im Gespräch mit Udo Hahn, Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2004, S. 127. Johannes Hempel war damals Bischof der Evang.-Luth. Landeskirche Sachsens. 75 I.-S. Kowalczuk, »Von der Freiheit, Ich zu sagen. Widerständiges Verhalten in der DDR«, in: U. Poppe, R. Eckert, I.-S. Kowalczuk (Hg.), Zwischen Selbstbehauptung und Anpassung. Formen des Widerstands und der Opposition in der DDR (Fn. 1), S. 209. 76 J. Hempel, Erfahrungen und Bewahrungen. Ein biographischer Rückblick im Gespräch mit Udo Hahn (Fn. 74), S. 316; vgl. auch Enquete-Kommission, Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland. Widerstand und Opposition, Revolution. VII, 1, hg. vom Deutschen Bundestag (Fn. 73), S. 615 ff.
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Sprachliche Äußerungen sind vor allem Verkündigung und Auslegung des Wortes Gottes – zum Teil horizontal an die Gemeinde, zum Teil vertikal an Gott gerichtet. Selten aber richten sich die Äußerungen nach außen, über den Gottesdienstraum hinaus. Menschen, die in dem Sinne rituell handeln, also zum Beispiel an einer Liturgie teilnehmen, stellen einen Verweis über sich selbst hinaus auf Gott her. Sie vollziehen Handlungen, die nicht nur auf das Neben-Uns, auf andere Menschen, sondern die auf das Über-Uns, auf Gott, verweisen. Es ist klar, dass sich der Charakter gottesdienstlicher Handlungen ändern muss, wenn andere Beteiligte und andere Kommunikationselemente hinzukommen. »Für mich war diese Zeit auch als Theologin sehr spannend. Die Kirche hatte ja das Privileg, Veranstaltungen ohne vorherige Anmeldung durchführen zu können − aber eben ausschließlich Veranstaltungen mit gottesdienstlichem Charakter. Aus diesem Grund mussten alle eigentlich vorrangig politischen Veranstaltungen mindestens einen gottesdienstlichen Teil haben. Das war oft eine ungeheure Herausforderung für mich. Alle politischen Überzeugungen musste ich vor mir selbst, dem Gemeindekirchenrat und der Welt theologisch begründen.«77 »Die Friedensgebete in den Kirchen und die anschließenden Demonstrationen auf Straßen und Plätzen waren durch eine Art Liturgie miteinander verbunden. Viele Veranstaltungen begannen meditativ, als Gottesdienst oder Andacht, setzten sich fort als Informations- und Diskussionsrunde und mündeten schließlich in einer Demonstration. − Oder soll ich sagen Prozession? Entscheidend ist, dass dabei die oft unerträglich hohe Schwelle zwischen sakralem und profanem Bereich überschritten wurde. Was in der Kirche begann, setzte sich auf der Straße fort.«78
Zum Charakter der Montagsgebete in Leipzig: In diesen speziellen Andachten trafen Menschen, die traditionell zu einer Kirchgemeinde gehörten (die Gemeinden der Nikolaikirche und anderer Kirchen Leipzigs sowie aus dem Umfeld der Stadt), mit Menschen zusammen, die Mitglied keiner religiösen Gemeinschaft waren. Die Interessen der Zusammentreffenden waren unterschiedlich. Sie reichten vom Willen zur Teilnahme am gewohnten Vollzug eines religiösen Rituals bis zur Äußerung politischer Widerständigkeit im Kontext dieses Ritualvollzugs. Für all das mussten im Rahmen der schon seit Jahren geübten Montagsgebete von den Verantwortlichen − Pfarrern, Vertretern der Landeskirche, 77 Ruth Misselwitz, Pfarrerin, Pankower Friedenskreis, in: A. Brummer (Hg.), Vom Gebet zur Demo. 1989 – Die Friedliche Revolution begann in den Kirchen (Fn. 69), S. 113; Hervorh. im Orig. 78 Walther Bindemann, Theologe, Pfarrer, Studienleiter, ebd., S. 28 f.; Hervorh. im Orig.
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Landesbischof − Lösungen gefunden werden, die das Sakrale bewahrten und zugleich dessen ›Verweltlichung‹ zuließen. Am 25. September 1989 war die Kirche überfüllt. Es war klar, dass sehr viele Menschen anwesend waren, die der Kirche fremd waren. Dennoch fanden sich auch in diesem Montagsgebet die üblichen Sprachhandlungen des Gottesdienstes wie BETEN, SEGNEN, das Wort Gottes VORLESEN (hier der Wochenspruch), PREDIGEN, SINGEN, kirchliche Belange betreffendes MITTEILEN, BEGRÜSSEN, VERABSCHIEDEN. Hinzu kamen aber für eine Andacht unübliche bzw. seltene Sprachhandlungen wie die folgenden, nicht auf Transzendenz, sondern auf die politische Situation bezogene Handlungen wie politisches ARGUMENTIEREN, auf die aktuelle Situation gerichtetes INFORMIEREN sowie BITTEN um konkrete Verhaltensweisen und RATEN zu solchem Verhalten. Hier wird jeweils der Ritualrahmen durchbrochen und die sich außerhalb der Kirche befindliche Welt hereingeholt. Das Weltliche nimmt einen bedeutenden Platz ein. Es wird vor allem von Vertretern der veranstaltenden Gruppe getragen, also nicht vom Pfarrer als Vermittlerperson. Besonders interessant sind darüber hinaus die ineinander übergehenden Sprachhandlungen, die religiöses und politisches Sprachspiel miteinander verflechten. Das ist in besonderer Weise das PREDIGEN, aber es geht auch um das INFORMIEREN und ERMUTIGEN, das weltliche und kirchliche Anliegen verbindet. Hier wirken Gruppen und Prediger zusammen. Ein die Predigt an Umfang übertreffender Bericht über erlebte Gewalt endet mit dem Aufruf zur Gewaltlosigkeit. Hinter den praktischen Ratschlägen zum gewaltlosen Verhalten beim Verlassen der Kirche und außerhalb des Gebäudes, die in der Handlung des RATENs vermittelt werden, steht für alle deutlich das Bild der Schwerter, die zu Pflugscharen werden sollen, um das es auf einer zweiten Ebene in der Predigt ging und das nicht nur theologisch, sondern auch auf die konkrete politische Situation bezogen verstanden werden sollte. Dieses Bild hatten mit Sicherheit viele Teilnehmer während dieses Montagsgebetes, das dem Thema »Gewalt« gewidmet war, im Kopf. Sie werden den gesamten Ablauf, ob in seinen geistlichen oder in seinen weltlichen Passagen, vor dem Hintergrund dieses Bildes und Spruches, also als Verkündigung, erlebt haben. Die Geschichte des Spruches ist das wahrscheinlich deutlichste Beispiel für die Verflechtung von Sprachspielen in dieser Zeit: Er wird von den Basisgruppen außerhalb der Kirche entsakralisiert und politisiert verwendet. Indem der Spruch von diesen Gruppen aber wieder in die Kirche zurück gebracht wird, kommt er in seinen eigentlichen, den sakralen Raum zurück. Dort wird er von seinen ursprünglichen ›Sachwaltern‹, den Predigern, aufgegriffen und im geistlichen Sinne verwendet, ohne dass der politische Sinn dabei aus dem Blickfeld geriete. Grundsätzlich ist es ein Charakteristikum dieses Montagsgebetes wie aller anderen, dass sie direkter und ausgeprägter, als es sonst in Gottesdiensten üblich 334
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ist, Theologisches mit Lebenspraktischem verbinden. Einsatz und Gewichtung sowie unterschiedliche Transzendenzbezogenheit der Sprachhandlungen weisen darauf hin, dass es sich bei den Montagsgebeten um eine Struktur handelte, in der die Bedürfnisse aller Beteiligten erfüllt wurden, sowohl das nach Ritualität und Verkündigung als auch das nach Information und politischer Stellungnahme, ohne dass eines das andere überdecken oder ›aushebeln‹ musste. Alle Beteiligten konnten zur Sprache kommen, so dass auch die eigentlich Außenstehenden, die Beobachter, zu Teilnehmern wurden, die in den Ritualvollzug integriert waren. Das geschah auch durch das gemeinsame Singen, vor allem des allen bekannten Liedes We shall overcome. Die Kommunikationsrichtung war in quantitativer Hinsicht überwiegend horizontal an die anderen Teilnehmer und vertikal an die weltliche Macht gerichtet, von der man annehmen konnte, dass ihre Informanten79 anwesend sein würden. Qualitativ überwog das vertikale, an Gott gerichtete Handeln (Transzendenz) wie PREDIGEN, GEBET, SELIGPREISUNG, FÜRBITTEN, das den inhaltlichen Kern des Gottesdienstes bildete. »Das Sprachbedürfnis zeigte sich auch außerhalb der Kirche. Das Spezifische der Friedensgebete aber war, dass das religiöse Medium, Fasten-Aktionen, Rezitationen religiöser Texte, das Singen von Liedern und verschiedene Fürbittenformen die politischen Anliegen in Zukunftserwartungen übersetzten. Selbst lateinische Gesänge wie ›Dona nobis pacem‹ oder Choräle wie ›Verleih uns Frieden gnädiglich‹ wurden zu gültigen Zeugnissen aus einer fremden und doch berührenden Welt.«80 »Die Offene Arbeit erwies sich insgesamt als ein sehr erfolgreiches Sozialisierungs-, Politisierungs- und auch begrenzt Re-Christianisierungskonzept, das Zehntausende Jugendliche, die von Staat und Partei verpönt und geschmäht wurden, erreichte, einband und in vielen Fällen zu politischen Akteuren werden ließ. Diese Wirkung war nicht den Kirchenleitungen, sondern den an der Basis engagierten Pfarrern und Mitarbeitern zu verdanken.«81
Der Einsatz der Textsorten und Sprachhandlungen zeigt, dass es sich bei den Montagsgebeten um eine gute ›Mischung‹ von Texten handelt, in der die Bedürfnisse aller Beteiligten erfüllt werden, das nach Ritualität und Verkündigung wie das nach Information und politischer Stellungnahme. 79 Vertreter des MfS und Mitglieder der SED, die verpflichtet wurden, anwesend zu sein. 80 Neubert in A. Brummer (Hg.), Vom Gebet zur Demo. 1989 – Die Friedliche Revolution begann in den Kirchen (Fn. 71), S. 129. 81 I.-S. Kowalczuk, »Von der Freiheit, Ich zu sagen. Widerständiges Verhalten in der DDR«, in: U. Poppe, R. Eckert, I.-S. Kowalczuk (Hg.), Zwischen
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Die Gemeinde, die Teilnehmer von ›draußen‹ (Oppositionelle, Ausreisewillige), wie die Beobachter von SED und Staatssicherheit, werden jeden einzelnen Text sehr bewusst wahrgenommen und Predigt, Fürbitte, Seligpreisungen als widerständige Texte gehört haben. Die Vergegenwärtigung des Rituals als politisch-religiöser Handlungsvollzug hat hier in besonders komplexer Weise und unter besonders brisanten Umständen stattgefunden. Ein wichtiges Angeld auf die erhoffte Freiheit war die beglückende Erfahrung des freien Redens. Zeitzeugen aus allen Orten der DDR beschreiben immer wieder, wie die Menschen in den Friedensgebeten zu ihrer eigenen Sprache, zu ihrem eigenen Denken und Wollen zurückfanden.82 Dass es eine sprachliche Alternative zur öffentlichen Sprache der DDR gegeben hat, ist, so die Meinung vieler Historiker,83 zu einem beträchtlichen Teil der evangelischen Kirche zu verdanken.
4. Fazit Es ging in dem Beitrag darum, zu fragen, welche Möglichkeiten es im totalitären System der DDR gab, sich der Machtausübung durch Sprachregelung zu entziehen und ihr etwas Eigenes entgegenzusetzen. Dieser Frage wurde mit Bezug auf Kowalczuks Grundtypen der Widerständigkeit nachgegangen, die auch in anderen totalitären Staaten zu finden sein könnten. Am Beispiel halböffentlicher und öffentlicher Texte sowie an der Kommunikationssituation des Montagsgebetes wurde Typisches und Exemplarisches aufgezeigt. In jedem der fünf Abschnitte, die jeweils eine Art von Widerständigkeit betrachteten, wurde ein Fall als exemplarisch herausgegriffen und ausführlicher vorgestellt. Bei der Beschreibung der gesellschaftlichen Verweigerung sind es Interviewausschnitte, in denen Befragte ihre sprachliche Anpassung oder Verweigerung schildern. Im Fall der Widerständigkeit durch sozialen Protest ist es die Textsorte ›Eingabe‹, mit der widerständiges Verhalten kanalisiert werden konnte. Die Erscheinungsform der Widerständigkeit im politischen Dissens wird an sprachspielerischen politischen Kleintexten und an einem Gedicht gezeigt. Für den Massenprotest werden die sogenannten Demo-Sprüche als Kommunikationsform herangezogen und für die Beschreibung der Widerständigkeit im Rahmen der Kirche ein bestimmtes Montagsgebet. Selbstbehauptung und Anpassung. Formen des Widerstands und der Opposition in der DDR (Fn. 1), S. 206. 82 Vgl. E. Neubert, Unsere Revolution. Die Geschichte der Jahre 1989/90 (Fn. 72), S. 128 f. 83 Vgl. u. a. Kowalczuk 1995 (Fn. 1), Neubert 2008 (Fn. 72).
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SPRACHGEBRAUCH ALS MÖGLICHKEIT DES WIDERSTANDES
Als grundlegende Einsicht hat sich ergeben, dass widerständiges Sprechen und Schreiben immer etwas damit zu tun hatte und hat, dass geläufige, oft vorgegebene Ausdrucksweisen abgelehnt und entweder durch Schweigen oder durch eine neue Art des Formulierens in Frage gestellt werden. Dieses Infragestellen war und ist immer eine politische Absage. Der Zusammenhang von sprachlichem und politischem Handeln wird an diesen Beispielen besonders deutlich. Widerständigkeit bedeutet hier stets: Anderssein, Sich-Abheben, lebt also von den schöpferischen Potenzen der Beteiligten.
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Die widerständige Stimme und das Schweigen als Protest Zu Muḥammad aṣ-Ṣāliḥ Flī�s’ Zeitzeugenbericht Häftling in meinem Heimatland1 1. Schreiben über Gefängniserfahrung in Tunesien Seit den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts – vermehrt seit dem Sturz des autoritären Regimes 2011 – werden Zeugenschaften, Erfahrungsberichte und literarische Verarbeitungen veröffentlicht, die das unter den Staatsführern Bourguiba und Ben Ali erlebte Unrecht zum Gegenstand haben.2 Der Zeitzeugenbericht Cristal, den der Linksintellektuelle Gilbert Naccache3 im Gefängnis auf den Innenseiten von Zigarettenschachteln der Marke Cristal schrieb, hat als eine der ersten Schriften dieser Art in der Zeit der Unabhängigkeit Tunesiens mittlerweile eine fast legendäre Bedeutung erlangt.4 An denjenigen Schriften, die in der gegenwärtigen 1
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Für Verbesserungsvorschläge danke ich Sven Kramer. Eine veränderte Fassung dieses Beitrages erscheint 2018 in dem von ihm herausgegebenen Sammelband Ästhetiken des Widerstands. Literatur und Sprache in politischen des deutschsprachigen und des arabischen Raums, Springe: zu Klampen Verlag. Für die Unterstützung bei der Literatursuche in Tunesien danke ich Khaled Chaabane. Künstlerische Reflexionen und Reaktionen auf Unrechtserfahrungen sind in Tunesien seit der Kolonialzeit in der Volksmusik und in der Dichtung präsent, aber erst mit der Erzählung Cristal von G. Naccache (1982) entstehen Erzählungen und Berichte, in denen eine konkrete und detaillierte Kontextualisierung dieser Unrechtserfahrungen vorgenommen wird. Solange nicht vermerkt, stammen alle Übersetzungen aus dem Arabischen und dem Französischen vom Autor (S.D.). Gilbert Naccache wurde 1939 in Tunis geboren und ist dort aufgewachsen. Er studierte Agronomie am Institut national agronomique in Paris. Naccache arbeite zunächst als Ingenieur für Agronomie im Tunesischen Landwirtschaftsministerium. Im Rahmen der linken Bewegung Perspectives wurde er als Oppositioneller zur Politik von Bouguiba tätig. 1968 zu einer langen Haftstrafe verurteilt, wurde er erst 1979 freigelassen. Naccache arbeitet in Tunis als Verleger. Vgl. G. Naccache, Cristal. Récit [1982], Tunis: Mots passants 32011. Weitere Novellen und Erzählungen von Naccache, die im Gefängnis entstanden sind,
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Unabhängigkeitsära erschienen sind und die Gefängniserfahrung politischer Gefangenschaft behandeln, lassen sich meines Erachtens drei Grundtendenzen beobachten: Eine erste Gruppe von Autorinnen und Autoren ist darum bemüht, die Erfahrung des Unrechts ›ernsthaft‹ und dokumentarisch festzuhalten. Dabei wird viel Wert auf die detaillierte Beschreibung der Foltermethoden, der seelischen und leiblichen Schmerzen, auf die Organisation des Alltags und die Widerstandsstrategien (wie zum Beispiel Hungerstreik und Schweigen) gelegt, aber auch auf die intensiven politischen Diskussionen unter politischen Gefangenen.5 Der
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wurden 2005 und 2009 publiziert vgl. G. Naccache, Le ciel est par-dessus le toit. Nouvelles contes et poèmes de prison et d´ailleurs, Paris: Édition du Cerf 2005; der., Qu´as-tu fait de ta jeunesse? Itinéraire d´un opposant au régime de Bourguiba (1954–1979), gefolgt von: Récits de prison, Tunis/Paris: Mots passants/Édition du Cerf 2009. Retrospektive Analysen über seine politische und intellektuelle Erfahrung gibt Naccache in einem langen Gespräch mit M. Chagraoui vgl. G. Naccache, Comprendre m´a toujours paru essentiel. Entretiens avec Mohamed Chagraoui, Tunis: Chama Édition 2015. Für eine ausführliche Untersuchung von Naccaches Werk vgl. M. Chagraoui, La pensée de la liberté dans les écrits de Gilbert Naccache, Tunis: Latrach Editions 2016. Eine Reflexion über das Werk von G. Naccache und Ahmed Ben Othmane bietet außerdem der Beitrag von S. Mestiri im zweiten Band der Titelreihe Unrechtserfahrung in transkultureller Perspektive: Erinnerung an Unrecht, hg. von S. Dhouib. Schriften dieser Art finden sich in verschiedenen politischen Gruppen, sie sind von Linken, Islamisten oder Panarabisten geschrieben und im Original sowohl auf Arabisch als auch auf Französisch abgefasst. Zu nennen ist zunächst der Zeugenbericht über Folter und Repression in tunesischen Gefängnissen von Ahmed Ben Othman. Vgl. A. Ben Othman, »Repression en Tunisie«, in: Les Temps Modernes (393) 1979, S. 1662–1881. Nach der tunesischen Revolution sind zahlreiche Schriften historischer und dokumentarischer Art erschienen vgl. z.B. Mohamed Lamine Nasraoui, La dictature a tué aussi ma mère. Un militant de la gauche tunisienne témoigne de la torture qu´il avait subie, Tunis: Maison Perspectives 2013; Bašīr al-Ḫalfī, Drāga. Sitār yaḥğib al-ḥaqīqa [dt.: Versteck. Ein Vorhang, der die Wahrheit verhüllt], Tunis: Dār Mayyāra 2015. An dieser Stelle sei angemerkt, dass diese Tendenz auch Schriften umfasst, die als ›Roman‹ oder ›Erzählung‹ tituliert sind, sich jedoch in der Schilderung der Gefängniserfahrung durch einen detailliert dokumentarischen Stil auszeichnen, wie z.B. Samīr Sāsī, Burğ arRūmī. Abwāb al-maut (dt.: Burg ar-Rumi. Toren des Todes), Tunis: Manšūrāt Kārim aš-Šarīf 2011. Auf dem Cover des Romans heißt es: »Erste Erzählung (riwāya) über die Folter der islamistischen und politischen Gefangenen in den tunesischen Gefängnissen.« Eine erste Fassung der Erzählung wurde 2003 unter dem Titel al-Barzaḫ (dt.: Zwischen Diesseits und Jenseits) in London publiziert. Vgl. ʿAbd al-Ḥamīd al-Ğilāṣī, as-Sariqa al-laḏīḏa (dt.: Der süße Diebstahl), Tunis: Manšūrāt Sūtīmīdyā 2017. Unter der autoritären
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Leser erfährt im Detail über Grausamkeiten der Verhaftung und der Verfolgung, kann politische Entscheidungen und Strategien verfolgen und somit an der Erfahrung teilhaben. Neben den vielen Informationen, die diese dokumentarischen Schriften oder Werke im dokumentarischen Stil, in denen in der Regel das Ich des Opfers (oder des Heroen) im Mittelpunkt steht, bieten, erzeugt die Lektüre jener schmerzhaften Erfahrungen häufig Gefühle von Mitleid und Ohnmacht. Eine zweite Tendenz der Schriften über Unrechtserfahrung zeichnet sich durch eine Literarisierung der Darstellung und eine reflexive Distanz zum Geschehen aus.6 Ihre Auseinandersetzungen mit Unrechtserfahrungen enthalten Anklage wie Selbstkritik, sie sind zum Teil sehr humorvoll und mit Witz geschrieben und bringen nicht zuletzt auch durch eine Zuspitzung des Geschehens ins Absurde und Surreale zum Lachen.7 Sie setzen eine gewisse Bildung voraus, insofern sie viele literarische Anspielungen enthalten, rhetorische und stilistische Mittel im Lauf der Erzählung einsetzen und den Schriften somit eine originelle literarische und intellektuelle Dimension verleihen. Manche Zeitzeugenberichte können sogar als Ensemble von Novellen gelesen werden.8 Ihre kritisch-reflexive Haltung zeichnet sich auch dadurch aus, dass soziale und sexuelle Tabu-Themen wie sexuelle Frustration, Homosexualität, Prostitution
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Herrschaft von Ben Ali wurde unter dem Pseudonym Abdelwahab Sdiri ein Zeugenbericht in Frankreich publiziert. Vgl. A. Sdiri, Dans cinq ans il n´y aura plus de Coran. Un prisonnier tunisien témoigne, Paris: Éditions Paris-Méditerranée 2003. Der Zeugenbericht der tunesischen Philosophin Zeïneb Ben Saïd-Cherni wird im dritten Band der Titelreihe Unrechtserfahrung in transkultureller Perspektive publiziert. Für diese zweite Tendenz stehen exemplarisch Schriften wie die von Fatḥī Bin al-Ḥāğğ Yaḥyā und ʿIzzaddīn al-Ḥazgī vgl. F. Bin al-Ḥāğğ Yaḥyā, alḤabs kaḏḏāb…wa-l-ḥayy yarawwaḥ. Waraqāt min dafātir al-yasār fī az-zaman al-būrqībī [2009], Tunis: Mots passants 32011. Franz. Übers. Fathi Ben Haj Yahia, La gamelle et le couffin. Fragments d´une histoire de la gauche au temps de Bourguiba, Tunis: Mots passants 2010. Vgl. auch ʿI. al-Ḥazgī, Naẓẓārāt Ummī (dt.: Die Brille meiner Mutter), Tunis: Mots passants 2018. Es sei hier darauf hingewiesen, dass einige politische Gefangene sogar im Gefängnis Gedichte geschrieben bzw. ihre Erfahrungen dichterisch beschrieben haben vgl. z.B. hierzu Ğallūl ʿAzzūna, Miḥnat as-siğn au ʿurūq al-ḥurriyya (dt. Die Bewährungsprobe im Gefängnis oder die Wurzel der Freiheit, Tunis: Saḥar li-n-našr 2017. Flīs spricht von »Stimmen-Szene«. Muḥammad aṣ-Ṣāliḥ Flīs, Sağīn fī waṭanī. Ṣuwar min yaumīyāt muʿtaqal siyāsī (Häftling in meinem Heimatland. Bilder aus dem Alltag eines politischen Gefangenen), Tunis: Arabesques 2016, S. 124 (im Folgenden als Flīs, Sağīn fī waṭanī zitiert). Vgl. z.B. die Erzählungen Zwei Zigaretten (S. 15–18), Mūldīs Dusche (47– 49) und Ein Glas Wein bei al-Ḥāğğ (S. 187–193) im Zeitzeugenbericht von ʿI. al-Ḥazgī, Naẓẓārāt Ummī (Fn. 6).
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(zum Teil im tunesischen Dialekt und mit einem vulgären Tonfall) angesprochen und behandelt werden. Anders als in den dokumentarischen Schriften geht es hier nicht an erster Stelle um ein emotionales Miterleben, sondern um eine Aufforderung zum Nachdenken über un/menschliche Begegnungen und politische Entscheidungen. Ihre Literarisierung und ihre humorvolle Schilderung kann sogar einen für den Leser befreienden Effekt haben. Die dritte Tendenz, die sich beobachten lässt, verbindet die beiden anderen Tendenzen miteinander, sie ist sowohl sachliche als auch historische Beschreibung und zugleich eine kritische bzw. selbstkritische Reflexion, die sich literarischer Darstellungsmittel bedient. Zu dieser dritten Tendenz zählt die 2016 publizierte Autobiografie des ehemaligen tunesischen politischen Gefangenen Muḥammad aṣ-Ṣāliḥ Flīs Häftling in meinem Heimatland. Bilder aus dem Alltag eines politischen Gefangenen.9 Flīs verbrachte mehrere Jahre im Gefängnis, unter anderem in den wegen ihrer Folterpraxis berüchtigten Gefängnissen 9. April in Tunis und Burğ ar-Rūmī in Bizerte.10 Zum Zeitpunkt der Inhaftierung sympathisierte der Autor mit panarabistischen und linken Bewegungen, die er ständig kritisch hinterfragte. In seiner über 500 Seiten langen, 9
Vgl. Flīs, Sağīn fī waṭanī (Fn. 7). Man kann Cristal von G. Naccache sowie Sāriq aṭ-ṭamāṭim au zādanī al-ḥabsu ʿumran ([dt.: Der Tomatendieb oder das Gefängnis hat mein Alter verlängert] Tunis: Cérès 22017) von aṣ-Ṣādiq Bin Mhennī in diese Tendenz einordnen. 10 Muḥammad aṣ-Ṣāliḥ Flīs wurde am 07. Oktober 1946 in Bizerte geboren und wuchs dort in bescheidenen Verhältnissen auf. In Bizerte besuchte er Grundschule und Gymnasium und erhielt 1967 sein Abitur. Als Schüler erlebt er im Sommer 1961 die kriegerische Auseinandersetzung zwischen Frankreich und Tunesien um Bizerte – letzter strategisch wichtiger Stützpunkt der Kolonialmacht. Er verliert dabei seinen Bruder. Im Wintersemester 1967 immatrikulierte er sich im Fach Arabische Literaturen an der Universität 9. April in Tunis. Während seines Studiums an der Universität in Tunis wurde er aufgrund seines oppositionellen politischen Aktivismus mehrmals verfolgt, verhaftet und gefoltert. Seit seiner Entlassung ist er bis heute journalistisch tätig. Eine Beschreibung der autoritären Machtverhältnisse im arabischen Kontext (2009) sowie zwei autobiografische Berichte hat er 2010 und 2016 (vgl. jeweils Fn. 11, 11 u. 7) publiziert. 2014 wurde seine Übersetzung vom Französischen ins Arabische des Traité d´économie von Pierre Calam unter den Titel Baḥṯ fī al-iqtiṣād al-ʿādil (Untersuchung zu einer gerechten Ökonomie): Sfax/Beirut: Ittiḥād an-Nāširīn al-ʿArab herausgegeben. Zwei Texte von ihm befinden sich momentan im Druck: Eine Monographie mit dem Titel Sākin fī ismī [Ich wohne in meinem Namen], Tunis: Arabesque, und die Übersetzung von Gilbert Naccaches Bericht aus dem Gefängnis Cristal (Kristāl, Tunis: Chama) vom Französischen ins Arabische.
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zweiten Autobiografie11 liefert er nicht nur detaillierte Schilderungen über verschiedene Gefängnisaufenthalte und Foltererfahrungen, welche sie zu einem historischen Dokument der Ära des unabhängigen Staates Tunesien macht, sondern er reflektiert auch auf eine komplexe Weise über Fragen des Unrechts, der Zeugenschaft und des Widerstands. Dabei spielen intertextuelle Verweise auf Literatur, Dichtung, Musik und Philosophie, die selbst als ein Akt des Widerstands gelesen werden können, eine große Rolle. Zum Teil werden sie in einer bildreichen und poetischen Sprache formuliert. Diesem Widerstand mit ästhetischen Mitteln soll in diesem Beitrag nachgegangen werden, der sich auf einen Teilaspekt, nämlich auf die Phänomene der Stimme und des Schweigens konzentriert. Warum ist die Frage nach der Stimme im Kontext existentieller Unrechtserfahrung interessant? Sie ist zunächst – und ganz basal – ein 11 In einer ersten Autobiografie, die seinem Vater gewidmet ist, schildert er aus der Perspektive eines politischen Gefangenen das Verhältnis zu seinem Vater. Vgl. Flīs, ʿAmm Ḥamda al-ʿattāl (Onkel Ḥamda, der Lastenträger), Tunis: Arabesques 2010. Die Autobiografie trägt den Nebentitel Seiten aus dem Register der politischen Gefangenschaft in Tunesien der 70er Jahre (Waraqāt min siğğil al-iʿtiqāl as-siyāsī fī Tūnis as-sabʿīnāt) und wurde vom Autor 30 Jahre nach dem Tod seines Vaters (19. März 1979) geschrieben. Ausgangspunkt dieser ersten Autobiografie ist ein Gefühl ohnmächtiger Niedergeschlagenheit (al-qahr), denn der tunesische Geheimdienst verbot dem im Gefängnis Burğ ar-Rūmī einsitzenden Autor, an der Beerdigung seines Vaters teilzunehmen. Ein Verbot, das er in der Autobiografie als eine Facette der Unterdrückung behandelt (vgl. ebd. S. 13–71). Den beiden Autobiografien voran geht der 2009 publizierte kleine Band Waṭan an-nuğūm... anā hunā (Heimat der Sterne...ich bin da), Tunis: Arabesques 2009 (39 S.), der einen ersten Baustein für Flīs’ Memoiren legt. Vor dem Hintergrund seiner Verfolgung und Gefängniserfahrung entwirft der Autor hier ein fiktives (weil in der Realität unmögliches) Gespräch zwischen den arabischen autoritären Herrschenden und den Unterdrückten, in dem Themen wie Machtlegitimation, Gewalt und Freiheiten verhandelt werden. Das fiktive Gespräch, das eine Aufarbeitung von Unrechtserfahrung im arabischen Raum anregen soll, besteht aus einer Art Collage von Zitaten, Maximen, Aphorismen und Gedichten. Sprechen die arabischen bzw. muslimischen autoritären Herrscher seit der Ommayyadenzeit (661–750) in Form von (realen oder fiktiven) Zitaten, die ihre absolutistische Macht legitimieren sollen, so findet die Replik der Unterdrückten häufig in Form von kurzen modernen (arabischen oder übersetzten) Gedichten statt, die Widerstand zum Ausdruck bringen und Freiheit versprechen. Das fiktive Gespräch zwischen beiden finde – so formuliert es der Autor mit ironischem Unterton – weder auf der Erde statt (denn sie sei zu klein für die ›großen‹ arabischen Herrscher) noch im Himmel (denn er sei unerreichbar für die Unterdrückten), vgl. ebd., S. 13
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leiblich-geistiges Phänomen. Sie bringt einen Gedanken zum Ausdruck und ist für andere und für einen selbst als ein physisches Phänomen wahrnehmbar. Sie besitzt eine ästhetische Qualität (leise, sanft, rau, laut etc.), die selbst wiederum einen Aussagewert hat.12 Im Folgenden sollen ausgewählte Textausschnitte aus dem Zeitzeugenbericht des tunesischen Autors Muḥammad aṣ-Ṣāliḥ Flīs vorgestellt und analysiert werden, in denen der Stimme und dem Schweigen prominente Funktionen zukommen. Dabei verfolge ich eine immanente Analyse ausgewählter Stellen, die man als Stimme(n)- und Schweige-Szenen lesen kann. In einer Art Phänomenologie der Stimme und des Schweigens werden in diesem Zusammenhang verschiedene Funktionen unterschieden. Am Anfang soll jedoch ein Blick auf den politischen und kulturellen Kontext des postkolonialen Staates geworfen werden, der sich durch seine Fragilität der Freiheit charakterisieren lässt.
2. Der unabhängige Staat und die Fragilität der Freiheit Kennzeichnend für den tunesischen Staat nach der Unabhängigkeit ist, was auch auf viele andere Staaten in ähnlichen Konstellationen, das heißt auf dem Weg zu einer selbstbestimmten nationalen Identität, zutrifft: die Fragilität der Freiheit. Drei Beobachtungen dieser Fragilität, für die sich in dem Zeugenbericht von Flīs einige treffende Stellen finden, seien hier kurz angesprochen. Sie dienen dazu, mit einem besonderen Blick auf die Symbolik von Daten und Orten den politischen und kulturellen Kontext zu umreißen.
Erste Fragilität: Gegen die Freiheit im Namen der Freiheit Vor 1956 durchlief Tunesien einen Prozess der Befreiung von der Kolonialmacht Frankreich mit dem Ziel, einen souveränen, republikanischen, freien und gerechten Staat zu errichten. Der unabhängige Staat 12 Vgl. D. Di Cesare, »Stimme«, in: J. Ritter, K. Gründer (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Basel: Schwabe 1998, Bd. 10, S. 159–170. Vgl. ebenfalls B. Waldenfels, Sinne und Künste im Wechselspiel. Modi ästhetischer Erfahrung, Berlin: Suhrkamp 2010, insb. S. 180–207 sowie seine Studie »Das Lautwerden der Stimme«, in: D. Kolesch, S. Krämer (Hg.), Stimme. Annäherung an ein Phänomen, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2006, S. 191–210. Zu einer Untersuchung der Stimme bei E. Lévinas, J. Lacan, J. Derrida und G. Deleuze vgl. S. Till, Die Stimme Immanenz und Transzendenz. Zu einer Denkfigur bei Emmanuel Lévinas, Jacques Lacan, Jacques Derrida und Gilles Deleuze, Bielefeld: transcript 2014.
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(daulat al-istiqlāl), der im Kampf gegen das Unrecht der Kolonialherren entstanden war, wurde schnell von einer einzigen Partei dominiert und für einen Kult um den Präsidenten instrumentalisiert. Die versprochene Freiheit wurde dort, wo sich Opposition zeigte, im Keim erstickt.13 Wie der postkoloniale Staat bereits sehr früh zu einem autoritären Regime avancierte, lässt sich exemplarisch anhand des Umgangs mit dem Recht, freie Vereine zu etablieren und politische Parteien zu gründen, nachzeichnen.14 Das Recht, sich politisch und kulturell frei zu organisieren, stellte nach Erlangung der politischen Unabhängigkeit des Landes zwar einen wichtigen Anspruch der tunesischen Nationalbewegung dar und spiegelte sich deshalb in der Verfassung vom 1. Juni 1959 (Artikel 8) wider.15 Im Namen der Organisation des neuen politischen Systems vereitelt jedoch ein Gesetz vom 7. November 1959, dass das in der Verfassung verankerte Recht auf freie politische Organisation umgesetzt werden kann. Dieses Gesetz sieht nämlich vor, politische Parteien als Vereine zu betrachten, für deren Gründung eine Zulassung vom Innenminister nötig ist. Die Möglichkeit, diese Zulassung zu genehmigen oder abzulehnen, liege – wie der Jurist Mohamed Charfi bemerkt – im eigenen Ermessen des Innenministers und sei ohne Möglichkeit zum Einspruch.16 Wichtig dabei ist außerdem zu bemerken, dass dieses Gesetz nachdatiert wurde (auf den 7. November 1959), das heißt, es ist zwei Tage vor der ersten Versammlung des neuen tunesischen Parlaments datiert – liegt somit also in der Interimsphase, in der Bourguiba die absolute Macht hatte. Erst 1960 wurde es im Journal officiel de la République tunisienne publiziert und somit öffentlich.17 Mit diesem Gesetz, das im Widerspruch zum Artikel 8 der Verfassung 1959 steht, konnten die politischen Gegner im postkolonialen Staat verfolgt und ihnen vorgeworfen werden, Angehörige einer illegalen Organisation zu sein.18 13 Zur einer juristischen Analyse der Entstehung des autoritären tunesischen Staats vgl. z.B. die Autobiografie von Mohamed Charfi, Mon combat pour les Lumières, Tunis: Éditions Elyzad 2015 [12009], insbes. S. 47–57. 14 Vgl. ebd., S. 53 f. 15 So lautet der Artikel 8 der tunesischen Verfassung vom 1. Juni 1959: »Die Meinungs-, Rede-, Presse-, Publikations-, Versammlungs- und Vereinsfreiheit werden garantiert und in den durch Gesetz bestimmten Bedingungen ausgeübt. Das Recht, sich in Gewerkschaften zu organisieren, wird garantiert.« H. Baumann, M. Ebert (Hg.), Die Verfassungen der Mitgliedsländer der Liga der Arabischen Staaten, Berlin: Berlin Verlag 1995, S. 714. 16 M. Charfi, Mon combat pour les Lumières (Fn. 13), S. 53 f. 17 Vgl. ebd., S. 54. 18 Die Rechtsanwälte, die die politischen Gefangenen im September 1968 vor Gericht zu verteidigen versuchten, haben sich vor allem auf die »Illegalität«
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Zweite Fragilität: Bildung und Unrecht liegen nebeneinander Flīs studierte an der Fakultät in der Straße des 9. April, welche diesen Namen in Erinnerung an den Volksaufstand vom 9. April 1938 gegen die französische Kolonialherrschaft trägt. Am 9. April 1938 fanden Volksdemonstrationen in Tunis statt, die zu politischen Reformen aufriefen und sich für die Errichtung eines tunesischen Parlaments einsetzten. Die Demonstrationen wurden zwar von den Franzosen blutig niedergeschlagen, aber das Datum des 9. April markiert für die tunesische Nationalbewegung dennoch einen entscheidenden Schritt auf dem Weg zur Unabhängigkeit Tunesiens und wird in Erinnerung an diesen Kampf bis heute als Nationalfeiertag gefeiert. Die Fakultät bzw. die Universität war – und ist bis heute – ein Ort der Bildung der neuen tunesischen Elite. Die Fakultät, an der Flīs studierte, befindet sich jedoch bemerkenswerterweise in derselben Straße wie das Gefängnis des 9. April. Die Mehrheit der dort gefangen Gehaltenen und Gefolterten zählten später zu Angehörigen der politischen Elite Tunesiens. Die freie und humanistische Bildung befindet sich also in unmittelbarer Nähe eines Ortes der Folter und der Enthumanisierung. Das Gleiche gilt für das Innenministerium auf der Avenue Habib Bourguiba: Es ist ein Ort, an dem die Verhafteten unter Einsatz von Gewalt, Erniedrigung und Drohung verhört wurden – auf der anderen Straßenseite befinden sich Cafés, Kinos, ein Theater und Buchhandlungen – es ist ein Ort der Kultur. Einige tunesische politische Gefangene und Philosophen erinnern sich an die lebhaften politischen und intellektuellen Diskussionen, die Michel Foucault in seinen tunesischen Jahren (1966–1967) in dem dortigen Café l'Univers mit Studierenden und politischen Aktivisten führte.19 Nur ein paar Meter weiter von dem Café des Vereinsgesetzes von 1959 berufen. Vgl. Flīs, Sağīn fī waṭanī (Fn. 7), S. 206. 19 Diese Begebenheiten sind unter tunesischen Intellektuellen und Aktivisten aus der Zeit der 1960er Jahre bekannt. Sie wurden mir u.a. von dem Philosophen Fatḥī at-Trīkī und dem politischen Aktivisten ʿIzzaddīn al-Ḥazgī bestätigt. Zu Foucaults Unterstützung der linken Studierenden vgl. Aḥmad ʿUṯmānī u. Ṣūfī Basīs, at-Taḥarrur mina as-siğn (Die Befreiung aus dem Gefängnis), Sfax: Dār Muḥammad ʿAlī 2011, S. 24. Das Buch wurde in französischer Sprache geschrieben vgl. Ahmed Othmani avec Sophie Bessis, Sortir de la prison, Paris: La Découverte 2012. Vgl. ebenfalls Fatḥī at-Trīkī, »alLaḥẓa at-tūnisiyya fī falsafat Mīšāl Fūkū« (dt.: Der tunesische Moment in Michel Foucaults Philosophie), in: Awrāq falsafiyya, 15 (2008), 215–227. Ṣāliḥ Musbāḥ bemerkt in diesem Zusammenhang, dass Foucaults Lehre in einem postkolonialen Land, d.h. Tunesien, ein »gescheitertes Treffen« sei. Das postkoloniale Tunesien erlebte genau während Foucaults Aufenthalt an der Universität Tunis eine Phase politischer Repression, die vor allem linke Studierende und Aktivisten betraf. Foucault wäre – so Musbāḥ – von
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entfernt waren Studierenden, wie zum Beispiel Flīs und ʿUṯmānī, brutalen Verhören ausgesetzt. Der Name »9. April« legt sich als bedeutungsvolles Datum der Geschichte des Landes wie eine Klammer über dieses spannungsreiche Nebeneinander der Orte, Orte der Verhaftung (Innenministerium, Gefängnis), der Verurteilung (Justizpalast), der Bildung (Universitäten) und der Kultur (Cafés, Buchläden, Kinos und Theater). Die unerträgliche Nähe dieser Orte zum Ausdruck bringend, beschreibt Flīs bei seiner ersten Verhaftung den Weg vom Innenministerium bis zum Gefängnis des 9. April: »Die Tür schließt sich hinter dem Polizeiwagen, der sich in Richtung Türkische Straße wendet. Von dort aus durchquert er das Viertel, in dem sich der al-Ğallāz Friedhof, Quartier as-Sayyida und die Kaserne al-Gurğānī befinden. Der Polizeiwagen biegt in die Straße des 9. April ein, an der bekannten Universität [des 9. April, S.D.] vorbei und nachdem er auf die linke Seite gewechselt ist, hält er vor dem Zivilgefängnis in Tunis! […] Verdammt! […] Von der Universität […] ins Gefängnis!«20 Auch in der Gefängniszelle wird er an die Nähe von Straf- und Bildungsorten erinnert und bemerkt ironisch: »Mit meinem befreundeten Mitgefangenen kehrte ich in die Zelle Nr. 6 zurück; wir versanken in unsere Diskussionen. Ich hinterfragte seinen Aberglauben bezüglich des 28er Busses, der durch die Straße des 9. April fuhr und auf dem Weg zur Universität vor dem Gefängnis hält. […] Ich hörte ihn sagen: Sobald der Bus vor dem Gefängnis hielt, sagte ich mir: Gott möge uns vor diesem Ort fernhalten!«21
Dritte Fragilität: Das Gefängnis als koloniales Erbe. Geschichte einer Kontinuität Das Gefängnis des 9. April hat eine Geschichte, die der Autor in seinem Bericht immer wieder hervorhebt: Es ist ein Gefängnis, das von der Kolonialmacht Frankreich zu Beginn des 20. Jahrhunderts – neben vielen anderen Gefängnissen in Tunesien – gebaut wurde, um die tunesischen ihrem ideologischen Marxismus wenig angetan gewesen und habe in ihrer Protestbewegung kein Potential für eine gesellschaftliche Umwälzung, sondern lediglich einen moralischen Protest gesehen. Vgl. Ṣ. Musbāḥ, »Kalimat al-ʿadad« (Editorial), in: Revue Tunisienne des Etudes Philosophiques (58– 59) 2016/2017, S. 4 u. 93. Ein erstmaliger Zeugenbericht über Foucault, in Tunesien bietet im selben Heft Amor Cherni, der bei Foucault in Tunis studierte und einen Kontakt zu dem Philosophen in Frankreich gepflegt hat, vgl. »Réponse aux questions de Mark LeVine«, in: Revue Tunisienne des Etudes Philosophiques (58–59) 2016/2017, S. 98–103. 20 Flīs, Sağīn fī waṭanī, (Fn. 7), S. 147. 21 Ebd., S. 152. Vgl. ebenfalls ebd., S. 203 f.
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Freiheitskämpfer zu inhaftieren. Nach der Unabhängigkeit wurde es von denjenigen weiter betrieben, die, wie zum Beispiel Präsident Bourguiba, zum Teil selbst dort inhaftiert gewesen waren. In diesem Zusammenhang schreibt der Autor: »Ein erster Blick von außen auf dieses Gebäude [das Gefängnis 9. April], das von den Kolonialherren 1906 gebaut wurde, scheint zu vermitteln, dass es nichts mit der dunklen Seite der Unterdrückung zu tun hat. Seine zentrale Lage im Herzen der tunesischen Hauptstadt, in einem Viertel, in dem sich die Gesundheitsinstitutionen des Landes sowie die bekannte medizinische Fakultät befinden, lenkt keine Aufmerksamkeit auf sich, außer von denjenigen, die dort waren oder mit diesem Ort zu tun gehabt haben. Das Regime Ben Alis (1987–2011) hat in seiner Dekadenz und seinem fehlenden historischen Bewusstsein das Gefängnis komplett zerstört […]. Somit wurden wichtige Aspekte im Gedächtnis dieses Raums und im kollektiven Nationalgedächtnis in Bezug auf Repression und Unterdrückung – die sich unter der Herrschaft des unabhängigen Staates nicht wirklich von der Herrschaft unter dem Kolonialismus unterscheidet – ausgelöscht.«22 Nicht nur das Gefängnis des 9. April zeichnet sich durch diese problematische Kontinuität eines Strafortes zwischen Kolonialismus und postkolonialem Staat aus, sondern auch das wegen seiner Folterpraxis bekannten Gefängnis von Burğ ar-Rūmī in Bizerte. Während das Datum des 9. April an den Kampf für die Unabhängigkeit und somit an die Nationalgeschichte erinnert, ruft der Name ar-Rūmī unmittelbar die Kolonialherrschaft ins Gedächtnis, denn das Wort ar-Rūmī bezeichnet im tunesischen Dialekt den ›Römer‹ bzw. den ›Europäer‹ und meint im allgemeinen die europäische Fremdherrschaft. In diesem Zusammenhang beschreibt Flīs mit viel Ironie und Bitterkeit die Geschichte des Gefängnisses von Burğ ar-Rūmī in seiner Heimatstadt Bizerte: »Während der französische Kolonialismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der Hauptstadt [Tunis] (1906) und in den anderen großen Regionen des Landes zivile Gefängnisse gebaut hat, die die Gefängnisse (zandālāt)23 des osmanischen Reiches […] ersetzt haben, hat der unabhängige Nationalstaat dem tunesischen Volk eine Freude gemacht, insofern er ihm 22 Ebd., S. 158. Die Mitglieder der Forschergruppe Verantwortung, Gerechtigkeit und Erinnerungskultur haben mit dem ehemaligen linken politischen Gefangenen ʿI. al-Ḥazgī den Ort des ehemaligen Zivilgefängnisses 9. April am 10. Juni 2014 besichtigt. Es stand in Ruinen, die Grundrisse waren jedoch noch zu erkennen. In den Erzählungen von al-Ḥazgī erstanden die Mauern dieses Gebäudes noch einmal aus den Ruinen auf. Vgl. S. Dhouib, »Philosophy in Transition. Transition of Philosophy«, in: F. Kohstall, C. Richter, S. Dhouib, F. Kästner (eds.), Academia in Transformation. Scholars Facing the Arab Uprisings, Baden-Baden: Nomos 2018, S. 123–141. 23 Es gibt zahlreiche Wörter für »Gefängnis« im Tunesischen, die auf unterschiedliche Sprachen bzw. Sprachebenen verweisen, von denen man vier
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die kolonialen Kasernen als Gefängnisse zur Verfügung stellte, die noch nicht einmal über die minimalsten Bedingungen für die Menschlichkeit des Menschen verfügten – eine Menschlichkeit, für die die Aktivistinnen und Aktivisten der Nationalbewegung gekämpft haben. Sie werden stattdessen mit Verhaftungsorten belohnt, in denen die minimalsten Standards für Gefangene nach internationalen Kriterien fehlen; wir kehren somit häufig zur dunklen Seite des Kolonialismus zurück.«24
3. Strategien des Widerstands Über den Widerstand sollte man nicht im Singular sprechen, sondern im Plural. Denn es gibt unterschiedliche Formen und Akte des Widerstands, die je nach Kontext zu erfassen sind. Neben dem historisch-politischen Kontext ruft der Zeugenbericht mit der drohenden Zerstörung des Gefangenen auch einen spezifischen Kontext auf. Einsamkeit, Isolation und die Abwesenheit anderer Menschen (mit Ausnahme der Wärter) sind gezielt eingesetzte Strategien, die den Häftling physisch und psychisch mürbemachen und an den Rand des Wahnsinns führen sollen. Vor diesem Hintergrund ist jeder Akt, der sich diesen perfiden Techniken widersetzt, als Widerstand zu werten.25 Es ist ein Widerstand, der sich insbesondere in der Stimme manifestiert. Mit der Manifestation der Stimme gehen ebenfalls Momente des Schweigens einher, die verschiedene Protest- und Konfrontationsformen annehmen und somit ein Widerstandspotential beinhalten, das es in diesem Zusammenhang zu deuten gilt. unterscheiden kann: (1) Das Paar as-Siğn und al-Ḥabs sind Wörter aus dem klassischen Arabisch. (2) Das Wort zandāla (pl. zandālāt) hingegen wird aus dem Osmanischen abgeleitet und bezeichnet ein Gefängnis aus der osmanischen Zeit. (3) Karrāka ist ein Wort aus dem tunesischen Dialekt und scheint eine Adaptation des Spanischen la cárcel bzw. des Italienischen carcere zu sein. Die berühmte Karrāka in La Goulette im Norden bei Tunis ist beispielsweise ein solches Gefängnis, das an die Anwesenheit der Spanier und Italiener in diesem Viertel erinnert. (4) Die Worte Būdaffa, Būfarda und Dār ḫaltū stammen aus dem tunesischen Dialekt. Die ersten beiden Bezeichnungen sind eine Beschreibung der großen (einzelnen) Tür des Gefängnisses (sinngemäß: der Ort mit einer Tür), die dritte ist schwarzer Humor und meint das Haus der Tante. Zum Thema Gefängnisliteratur im postkolonialen Ägypten vgl. E. Benigni, Il carcere come spazio letterario ricognizioni sul genere dell´Adab al-Suğun nell´Egitto tra Nasser e Sadat, Roma: La Sapienza Orientale 2009. 24 Flīs, Sağīn fī waṭanī (Fn. 7), S. 215 f. 25 Vgl. zum Widerstandsrecht M. Kaufmann, »Widerstandsrecht«, in: H. J. Sandkühler (Hg.), Enzyklopädie Philosophie, in drei Bänden, Hamburg: Meiner 2010, S. 2989–2994.
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Eine erste Textstelle in Flīs’ Beschreibung seiner ersten Verhaftung, die am 4. April 1968 vor dem Studentenwohnheim in Tunis stattfand, beinhaltet eine Konfrontation zwischen zwei Stimmen, die normalerweise durch eine Machtasymmetrie ausgezeichnet sind. In der folgenden Szene manifestiert sich ein Ringen um dieses Machtverhältnis in den Stimmen – ihrer der Modulation ihrer Lautstärke und Höflichkeit bzw. Respektlosigkeit sowie im Schweigen. »Der Polizist stellte mir die Frage: ›Bist Du Herr Muḥammad aṣṢāliḥ Flīs?‹ Ich antwortete sofort mit einem ›Ja‹. Mit leiser Stimme, die man kaum hörte und in einer guten und respektvollen Sprache, sagte er mir: ›Wir brauchen Dich für ein paar Minuten. Danach wirst Du entlassen...‹. Ich schaute ihn konzentriert an, bemerkte seinen abgebrochenen Satz und fragte ihn – um mich abzusichern: ›Wer sind Sie?‹ ›Die Polizei‹ erwiderte er. Ich sagte sofort mit Geschlossenheit ›Bitte schön‹. […] Im Polizeiwagen unterbricht er plötzlich unser Schweigen und somit meine Konzentration. ›Hast Du Vorlesungen am Nachmittag?‹ Ich antwortete: ›Selbstverständlich‹. ›Nur ein paar Minuten und Du kannst danach die Vorlesungen besuchen!‹ Er kehrte danach zu seinem Schweigen zurück, ich tat es ebenfalls. […] In dem Moment, in dem wir in den Eingangshof des Innenministeriums eintraten […] überraschte er mich, ohne weitere Vorwarnung, mit missachtenden und provokativen Worten. Ich brach sofort mein Schweigen. […] Was ist ihm nun passiert, da er mich mit einem so arroganten Ton anging und seine Worte aus dem schlechtesten und respektlosesten Vokabular wählte. […] Als er die Würde meiner Eltern mit einer niedrigen Sprache beleidigte, wendete ich ihm mein Gesicht zu und zeigte ihm mit lauter Stimme seine Grenzen [...]. Er wurde zornig […]. Seine laute Stimme war der Grund, weshalb sein Chef [...] aus seiner Höhle herauskam. Er bereitete uns auf der Treppe einen großen Empfang und fragt ihn von weitem: ›Hast Du die Ratte mitgebracht?‹ Er antwortete: ›Er ist noch nicht einmal eine Fliege!‹«26 In dieser ersten Momentaufnahme der Verhaftung, die vom 4. bis zum 25. April 1968 dauerte,27 kommt eine Asymmetrie der Macht zum Ausdruck, die von dem Häftling ständig – manchmal durch Sprache, manchmal durch Schweigen – in Frage gestellt wird. Dabei wird der Stimme eine ethische Wertung zugeschrieben: Einer leisen – vermeintlich unsicheren – und formell höflichen Stimme des Geheimdienstmitarbeiters tritt eine selbstbewusste und entschiedene Stimme des Studenten entgegen, der mit seinen ständigen Rückfragen versucht, sich einerseits Informationen zu verschaffen und andererseits sich von der Angst vor autoritärer Macht zu befreien. Während das Schweigen des mächtigen Geheimdienstes als Ausdruck eines Sieges (als eine erfolgreiche Verhaftung) über 26 Flīs, Sağīn fī waṭanī (Fn. 7), S. 115 ff. Kursiv von mir. 27 Vgl. ebd., S. 114 u. 144 ff.
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einen armen Studenten gedeutet werden kann, drückt das Schweigen des Studenten im Polizeiwagen einen Moment der Orientierung aus. Sein Schweigen bedeutet keinesfalls eine Hinnahme der Vorgänge oder eine Niederlage. Vielmehr handelt es sich dabei um ein taktisches Schweigen, das es dem Studenten trotz der kurzen Zeit erlaubt, seine Kräfte zu sammeln und sich zu überlegen, wie er mit dem Unterdrückungsapparat umzugehen hat. Im taktischen Schweigen liegt eine Handlungsmöglichkeit, die später durch die Versprachlichung bzw. als eine Verteidigungsstrategie realisiert wird. Der Stimmwechsel von leise zu laut folgt im Innerministerium. Er impliziert eine Abwertung, und zwar in einer ästhetischen und moralischen Dimension. Da die Stimmen der beiden Geheimdienstmitarbeiter zu einem ununterbrochenen Schreien geworden sind, sind sie hässlich anzuhören. Sie bringen einen vorübergehenden Sieg der Unterdrückungsmacht zum Ausdruck. Durch die Sprache, das respektlose Vokabular und die Beleidigung des Studenten und seiner Eltern werden sie jedoch nicht nur hässlich, sondern auch unmoralisch. Gegen eine hässliche und unmoralische Sprache markiert der Übergang vom Schweigen zum Sprechen bei dem Häftling einen Wendepunkt, insofern er versucht, sich gegen die beiden schreienden Machtstimmen laut, aber höflich zu wehren. Erträgt der Student diese verbale Erniedrigung zunächst schweigend, so markiert seine laute Rede den Übergang von der Ohnmacht zur Verteidigung, die die Machtasymmetrie zu durchbrechen sucht. In dieser ersten Momentaufnahme zeichnet sich im Sprechen und Schweigen eine Choreographie von Unterdrückung und Widerstand nach. Sie erfährt je nach Kontext eine Wertung. Schweigen und Sprechen sind in diesem Zusammenhang vieldeutige Phänomene; Schweigen als das bewusste Nicht-Sprechen ist ebenso aussagekräftig wie das Sprechen selbst. Eine weitere Textstelle in Flīs’ Bericht, die als Momentaufnahme aus seiner ersten Verhaftung (1968) im Gefängnis des 9. April in Tunis gilt, bringt in diesem Zusammenhang einen fundamentalen Akt zum Ausdruck. Mit der Stimme versichert sich der Häftling seiner selbst und geht vom Sprechen-Können zum Sprechen über; sie bringt ein Selbstverhältnis zum Ausdruck: Ich rede, also bin ich. Die Stimme wird zu einer der »Quellen des Selbst«28 und als solche ein Akt des Widerstands. »Ich bleibe in diesem Zustand der Einsamkeit in einer Zelle, die nicht mehr als drei Meter lang, weniger als zwei Meter breit und ca. fünf Meter hoch ist. Ihre Wände sind feucht und dunkelbraun, sodass es unmöglich ist, sie bis zum Fenster hochzuklettern, um einen Blick darauf zu werfen, was im Hof auf der Seite der Einzel- und der Doppelzellen 28 Vgl. Ch. Taylor, Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1996.
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geschieht. Ich nehme mir vor, meine Einsamkeit während des Tages, der Woche oder des Monats zu möblieren … Wer weiß, ob es Monate werden… Ich stehe morgens auf, eine Totenstille herrscht in diesem Teil und in einem weiteren Teil des Gefängnisses nebenan… mit lauter Stimme beginne ich meinen Tag mit der Erinnerung an das Datum: Montag, der 15. Juni 1968. Ich bin Muḥammad aṣ-Ṣāliḥ, Sohn von Ḥamda, Sohn von Muḥammad, Sohn von Ḥāğğ Ḥamda Flīs; ich bin Sohn von Ṣallūḥa, Tochter von Muḥammad, Sohn von ʿAlī Sṭā, aus der Stadt Bizerte stammend. Ich bin festgenommen und sitze, wartend auf den Zugriff durch das Gericht der Staatssicherheit, im zivilen Gefängnis in Tunis, das sich auf der Straße des 9. April befindet; ich befinde mich im Isolationstrakt in der Zelle Nummer 9.«29 Es handelt sich um die eigene, ganz individuelle Stimme, durch die sich der Gefangene selbst affiziert und seiner selbst vergewissert. Der Gefangene wird zu sich selbst aufgerufen. In Anschluss an Heideggers existential-ontologische Analyse des Gewissens wird »[d]em angerufenen Selbst […] ›nichts‹ zu-gerufen, sondern es ist aufgerufen zu ihm selbst, das heißt zu seinem eigensten Seinkönnen«.30 Der Akt des zu Sich-Selbst-Sprechens markiert einen Moment des Überganges vom inneren Bewusstseins zur mitteilbaren Äußerung, von einem erzwungenen Schweigen zum Akt der Selbstbezeichnung.31 Durch die Selbstmanifestation wird seine Anwesenheit, wird eine elementare Identität sowie eine grundlegende Menschlichkeit erhalten. Im arabischen Text wird häufig von meiner »Adamität« (ādamiyyatī)32 als Synonym für meine Menschlichkeit gesprochen. Damit ist zunächst gemeint, dass man zum Geschlecht der Menschen gehört, ein Nachfahre von Adam ist, dem Inbegriff des Menschen. »Adamität« steht hier zum einen für die Universalität der menschlichen Existenz jenseits bzw. vor dem Beginn der kulturellen und religiösen Zugehörigkeit und zum anderen für einen Protest gegen den Verlust an Menschlichkeit im Gefängnis. Das rebellierende ständige Erinnern an 29 Flīs, Sağīn fī waṭanī (Fn. 7), S. 156. Kursiv von mir. 30 M. Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen: Max Niemeyer 192006, § 56, S. 273. 31 Nach Christian Lavagno hat die Stimme »etwas mit der Bewegung eines Überganges zu tun. Übergang von der physikalischen Dimension der Geräuscherzeugung zur semantischen Dimension der Bedeutung; Übergang vom Naturhaften des animalischen Schreis zur Verwendung sprachlicher Symbole in einer kulturellen Ordnung; Übergang vom inneren Bewusstseinsstrom zur verständlich mitteilbaren Äußerung – überall haftet der Stimme etwas Transitorisches an.« Ch. Lavagno, »Der Ort der Stimme. Philosophische Überlegungen«, in: J. Loch-Falge, M. Heinze, S. Offe (Hg.), Stimme – Stimmen – Stimmungen, Berlin: Parodos 2016, S. 17. Vgl. auch D. Mersch, »Präsens und Ethizität der Stimme«, in: D. Kolesch, S. Krämer (Hg.), Stimme. Annäherung an ein Phänomen (Fn. 12), S. 191–210. 32 Vgl. Flīs, Sağīn fī waṭanī (Fn. 7), S. 12, 125, 129, 138 f., 224, 411 u. 419.
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die »Adamität« seitens des Opfers greift auf ein Urmoment der Menschheit zurück, mit dem Ziel, seine »Adamität«, seine Menschlichkeit neu zu verhandeln. Diese Menschlichkeit verbindet sich im arabischen Wort mit dem menschlichen Leib, denn »Adamität« ist mit »adīm« verwandt, was sowohl die Oberfläche der Erde als auch die Haut bzw. den Leib meint.33 Im Prozess der Verhandlungen mit den Tätern wird »Adamität« ständig zu einer Formel des Protestes gemacht. Diese elementare Selbstvergewisserung wird auf verschiedene Weise verankert: durch die Bezugnahme auf die Zeit (ein Datum wird aufgerufen: heute), durch einen Raum (ein Ort wird als Gefängnis, Zelle, beschrieben), durch den Umstand (was ihm bevorsteht) und durch die Geschichte (in Form einer Genealogie seiner Familie, die ihn in seiner Herkunft verwurzelt). Zur Genealogie tritt auch seine geografische Herkunft aus der Stadt Bizerte. Zwei ästhetische Dimensionen sind hier präsent: Erstens ist die Stimme im Sinne von aisthesis ein sinnliches Phänomen, dessen Wahrnehmung eine Selbstaffektion ermöglicht. Die Stimme verbindet Geist und Leib und bewahrt somit eine minimale Einheit des Selbst bzw. der »Adamität«. Zweitens verkörpert die Stimme in ihrer Unverwechselbarkeit zugleich einen eigenen originären und originellen Existenzmodus, der auf eine singuläre Individualität hinweist. Trotz ihrer Fragilität tritt diese singuläre Individualität gegen die Grausamkeit, Unterdrückung und Zerstörung des Menschen auf. Dieser Widerstand erhält auch dadurch ein existentielles Gewicht, dass die Stimme dieser Individualität in einem Raum des Schweigens oder der Stille auftritt, welche in der deutschen Übersetzung als »Totenstille« (ṣamt ğanāʾizī) widergegeben wird. Durch die lebendige individuelle Stimme (ṣaut) des Häftlings wird das ›objektive‹ Schweigen (ṣamt) – verstanden als Schweigen der Objekte (der jedes Geräusch abschirmenden Gefängnismauern) –, die Totenstille der Isolation gebrochen. Ein weiterer Textabschnitt geht über diesen fundamentalen Akt der Selbstmanifestation hinaus und sichert nicht nur das Sein, sondern ein Mitsein, indem nun das Verhältnis zu anderen Personen ins Spiel kommt. Dies geschieht zum einen im Akt des Erinnerns bzw. der Vergegenwärtigung, und zum anderen in einem Akt der Projektion. Zum Akt der Vergegenwärtigung: »Ich vergegenwärtige mir durch Zufall einen Namen eines Freundes oder Bekannten oder Schulkameraden und verbringe meinen ganzen Tag mit dieser Person; ich gehe bis zu unserem Kennenlernen zurück, durchlaufe die Stationen unserer Beziehung und die Ereignisse, die sie möbliert haben, gehe auf die starken und schwachen Momente in dieser Beziehung ein. Manchmal passiert es mir, 33 Vgl. Artikel »adīm« und »Ādam«, in: H. Wehr, Arabisches Wörterbuch für die Schriftsprache der Gegenwart (Arabisch – Deutsch), Wiesbaden: Harrassowitz 51998, S. 14.
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dass die Vorstellungen von diesen Personen im Laufe dieser Vergegenwärtigung ineinander verschwimmen […]. Dann kehre ich in meine Einsamkeit zurück. Manchmal verschönere ich sie mir, indem ich mit einer lauten Stimme Gedichte in arabischer oder französischer Sprache lese; auf diese Weise muss ich auf meine Stimme nicht mehr verzichten als nötig; ich breche das Friedhofsschweigen; ich schöpfe aus mir selbst ein Selbst, einen Gesellen (anīs), einen Ähnlichen, einen Kameraden (rafīq) und einen Begleiter (murāfiq). Es passiert ab und zu, dass der ›Wächter‹ das Kontrollfenster öffnet, um sicherzustellen, dass ich mit keinem anderen Menschen kommuniziere außer mit mir selbst und dass ich noch nicht verrückt geworden bin.«34 Eingefügt sei an dieser Stelle eine kurze Bemerkung zu der Übersetzung von »Vergegenwärtigung«: Das Wort Istiḥḍār beschreibt im Arabischen eine Handlung, die mithilfe der Einbildungskraft geschieht, die die Anwesenheit einer Person, eines Objekts oder eines Ereignisses ermöglicht. Man könnte dieses Wort auch mit »Erinnerung« übersetzen, allerdings verfehlt man darin die Unmittelbarkeit der Anwesenheit (ḥuḍūr) der Anderen. Ob diese Vergegenwärtigung mit einer lauten Stimme geschieht, können wir dem Text nicht entnehmen. Der präzise formulierte Vorgang des Vergegenwärtigens lässt jedoch zumindest auf die Existenz einer inneren Stimme schließen. Darüber hinaus werden durch das Gedächtnis und die Einbildungskraft Bilder und Momente der Vergangenheit aktualisiert, die man als geistige und ästhetische Ressourcen des Widerstands, des Existierens selbst, interpretieren kann. Diese ästhetischen Ressourcen werden durch die innere Stimme des Gefangenen für die Gegenwart und die Zukunft mobilisiert. In der Geselligkeit mit Anderen, die einmal auf einer persönlichen Ebene mit Freunden und einmal auf einer kulturgeschichtlichen Ebene im Dialog mit der Dichtung geschieht, bewahrt sich der Gefangene seine »Adamität«. Im Gespräch versichert er sich nicht nur seiner nackten menschlichen Existenz, seines »nackten Lebens«35, sondern ebenso seiner gelebten Geschichte, seines Mitseins mit anderen. Die nackte Existenz wird mithilfe der lauten Stimme, im Rückgriff auf das ästhetische Bilderrepertoire gesichert; sie entwirft das Verhältnis zu sich selbst neu und gestaltet es in der Dichtung. Das Gedicht wird für den Häftling ein Zuhause. Hier entpuppt sich die Dichtung als eine Verdopplung der Welt und Behausungsmöglichkeit, als ein neuer poetischer Ort, der den Ort der Bestrafung ausklammert bzw. ersetzt. Geht man von der klassischen arabischen Dichtungstheorie aus – wie man sie zum Beispiel bei 34 Flīs, Sağīn fī waṭanī (Fn. 7), S. 156 f. Kursiv von mir. 35 In Anlehnung an Agambens Ausdruck »das nackte Leben«. Vgl. G. Agamben, Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben [1], Frankfurt/M.: Suhrkamp 2002.
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al-Ḫalīl ibn Aḥmad al-Farāhīdī (718–791) findet, so liegt es nahe, Dichtung als eine »Behausung« zu interpretieren.36 Dabei wird der Aufbau eines Gedichtes architektonisch gedeutet, denn ein klassisches arabisches Gedicht besteht aus einem Ensemble von Versen, bzw. von »Häusern« (abyāt), die »Gründe« (asbāb) haben und auf »Pfählen« (autād) beruhen. Das Gedicht wird in diesem Zusammenhang als Ensemble von »Häusern/Versen« gedeutet, die Bedeutungen haben und dem Menschen eine Behausungsmöglichkeit bieten. Ein Haus bzw. ein Vers, schreibt Ibn Manẓūr (1233–1312), »hält die Worte zusammen genauso wie ein Haus seine Mitbewohner«37. Das Gedicht folgt außerdem einem Rhythmus, indem ein Bezug zwischen »Welle« und »Musik« hergestellt wird, denn die verschiedenen Rhythmen der Gedichte werden in der klassischen arabischen Dichtungstheorie »Meere« (Metren) genannt. Die Rhythmen entstehen, wie Ilias Khoury poetisch anmerkt, wie eine musikalische Suite (Abfolge), die auf dem Wasser der Worte auftaucht.38 In der Polyphonie der Freunde, der »Mehrsprachigkeit«, tritt nun eine weitere Variation der Stimme in den Vordergrund. Das arabische Wort anīs, das hier mit Geselle übersetzt wurde, weist auf den Menschen (insān)39 und die muʾānasa (Geselligkeit) hin, deren humanistischer Hintergrund beachtet werden sollte. So steht zum Beispiel die muʾānasa von Abū Ḥayyān at-Tauḥīdī (923–1023) für einen anregenden intellektuellen Austausch und eine menschliche Begegnung, in der – in etwa dem frühromantischen Ideal der Geselligkeit entsprechend, nur einige Jahrhunderte früher – die Ideen, die Schönheit und die Sprache auf einem hohen Niveau reflektiert werden. Der anīs (der Geselle) bzw. der insān 36 Hier folge ich der Lesart von Iliās Ḫūrī (Ilias Khoury). Vgl. I. Ḫūrī, »al-ʿImāra fī zamān ad-damār al-ʿarabī«, in: al-Quds al-ʿarabī (22.01.2018). 37 Ibn Manẓūr, Lisān al-ʿArab, Bairūt: Dār al-Ğīl 1988, S. 292. 38 Vgl. I. Ḫūrī, »al-ʿImāra fī zamān ad-damār al-ʿarabī«, in: al-Quds al-ʿarabī (22.01.2018). Verbindungen zwischen Sprache und Haus bzw. Sprache und Architektur bzw. Sprache und Wohnen finden sich auch in der deutschen Geistesgeschichte. So z.B. in Martin Heideggers sprachphilosophischer Reflexion Dichterisch wohnt der Mensch in Anschluss an das Gedicht In lieblicher Bläue von Hölderlin (vgl. M. Heidegger, »...dichterisch wohnet der Mensch... «, in: GA 7 Vorträge und Aufsätze, Frankfurt/M.: Klostermann 2000, S. 189–208) oder aber in den Philosophischen Untersuchungen von Ludwig Wittgenstein, der die Sprache mit einer Stadt vergleicht (vgl. L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchung, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2003, § 18), oder in W. G. Sebalds Roman Austerlitz, der sich auf eben jene Stelle in Wittgensteins Philosophischen Untersuchungen bezieht (W. G. Sebald, Austerlitz, München: Hanser 2001, S. 178). 39 Vgl. F. Meskini, »Qui est l´individu en Islam«, in: J. Poulain, H. J. Sandkühler, F. Triki (Hg.), Pour une démocratie transculturelle, Paris: L´Harmattan 2010, S. 285.
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(der Mensch) steht für die Nicht-Fremdartigkeit (al-anasu) – der, der mir ähnlich ist – und Geselligkeit (muʾānasa) – der, der mich begleitet. So verstanden ist der Mensch derjenige, vor dem wir als unserem Gefährten und aufgrund unserer humanen Begegnung mit ihm keine Angst haben sollten. Neben dem Gesellen steht der Genosse (also ein Wort aus dem linken Vokabular) und der Begleiter. Beide haben, wie der Geselle, fiktionalen Charakter, insofern sie Schöpfungen des mit seiner Stimme aus der Gegenwart der Einsamkeit und der Bestimmungslosigkeit entfliehenden Ichs sind. Zum Akt der Projektion: Nicht nur der Akt der Vergegenwärtigung wird dem Gefangenen zu einer Quelle des Widerstands, sondern auch der Akt der Projektion. Insofern der Gefangene eine Vorstellung von seiner imaginierten künftigen Verteidigung vor Gericht entwickelt, wendet sich die Stimme nun in einer Anklage gegen jemanden bzw. gegen die autoritäre Herrschaft. Der Autor entwirft diese Gegenstimme als eine Form des konkreten politischen Widerstands, der die juristische Sprache in Anspruch nimmt: »Eine große Energie durchzieht mich, ich springe auf und beginne mit lauter Stimme zu reden, einen Diskurs an die Herrscher meines Landes zu richten, um mich für meine Verteidigung vor dem Gericht der Staatssicherheit vorzubereiten […]: Die ausgebildeten Jugendlichen in diesem Land wollen zu Bürgern werden; keine Macht darf sie daran hindern, ihre Heimat aufzubauen und am öffentlichen Leben teilzunehmen. Es gibt nicht nur eine Partei, keine herrschende Partei, keinen einzelnen Herrscher... Und wenn all diese Ansprüche, liebe Richter und liebe Parlamentarier, in Ihren Augen ein Verbrechen darstellen, so bin ich ein sehr guter Verbrecher. Darauf bin ich stolz und darauf bestehe ich. Ein Wächter macht das Kontrollauge im Fenster auf und weist mich an, doch mit leiser Stimme zu sprechen, wenn ich schon sprechen wolle. Ich will ihn beleidigen, verzichte jedoch darauf, um ihn durch mein Nicht-Antworten zu missachten, drehe mein Gesicht von ihm weg und setze mein Gespräch mit mir selbst fort. Ich genieße es, meine Stimme nach einer langen Zeit des Schweigens wieder zu hören und ignoriere seine Vorwarnung, die letztendlich meint: schweig und stirb.«40 Seine visionäre Rede, die sich an die Richter und an die Parlamentarier, also an ganz konkrete Personen richtet, artikuliert in einer lauten und immer lauter werdenden Stimme Ansprüche: Er will Bürger sein und fordert demokratische Strukturen. Dabei formuliert er nichts anderes als das, was in der tunesischen Verfassung von 1959 steht, aber indem er es laut artikuliert, verhilft er diesen Forderungen zu einer Präsenz; sie stehen im Raum, man kommt nicht mehr an ihnen vorbei. Mit diesen Forderungen formiert sich eine politische Position, mit 40 Flīs, Sağīn fī waṭanī (Fn. 7), S. 165. Kursiv von mir.
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der er, den man weggeschlossen hat, nun einen Raum beansprucht, den ihm seine Gegner nicht gewähren wollen. Vor diesem Hintergrund besteht die Bedeutung der laut werdenden Stimme in der Artikulation eines Rechtsanspruchs, der den Menschen zu einem Rechtssubjekt werden lässt. Die Wahrnehmung des Rechts auf Freiheit, sich politisch und kulturell zu organisieren (Artikel 8), bringt eine moderne Form der Subjektivität hervor. Die laute, individuelle Stimme des Unterdrückten erhebt sich gegen eine vorherrschende Stimme, die im Zitat nur stellvertretend erwähnt wurde, aber überall (im Radio, Fernsehen und an öffentlichen Orten) im Land zu hören ist: Es ist die Stimme von Bourguiba. Das Beharren auf das Recht, Bürger zu sein, wird meiner Meinung nach vor dem Hintergrund der Erfahrung von Unrecht besonders deutlich: In Anschluss an die Behauptung der Kolonialherren, dass vor dem französischen Protektorat die Tunesier/innen nur ein »Staub von Individuen« (poussière d’individus)41 waren, versichert der ›aufgeklärte‹ Staatsführer Bourguiba ständig in seinen öffentlichen Reden, dass sein Verdienst daran liege, diesen »Staub von Individuen« zu einer »Nation« zu transformieren.42 Gegenüber diesen fiktiven Gegnern sind die Wächter real. Sie sprechen eine einfache, herabwürdigende Sprache, sie beleidigen ihn, sind plump und vulgär. Der Widerstand gegen diese Wächter spielt sich nun auch auf einer sprachlichen Ebene ab, insofern sich der Gefangene dagegen wehrt, das Sprachniveau seiner Wächter und Folterer anzunehmen. Er will höflich und schön sprechen und dieser Wille motiviert auch sein Schweigen in der oben zitierten Passage, das man in einem gewissen Sinne als ein ausdrucksstarkes und beredtes Schweigen verstehen kann. Die Entscheidung, dem Wächter nicht zu antworten, drückt ein Schweigen aus, das als missachtendes Schweigen bezeichnet werden könnte. Das Nicht-Sprechen-Wollen ist nicht nur ein Akt des Protestes, eine Verweigerung, von der eigenen Stimme Gebrauch zu machen, sondern auch ein Akt der Missachtung des Wächters bzw. Peinigers, der des Gespräches nicht würdig ist. Dies wird auch durch die Gesichtsmimik und Körpersprache zum Ausdruck gebracht. Eine gesteigerte Form dieser Missachtung bezeichnet Flīs als das »Prinzip Schweigen«.43 Dieses Prinzip kommt in einer Sprechverweigerung während der Verhaftung zur Sprache und meint in seiner höchsten Form auch das Schweigen unter Folter. Ein »absolutes Schweigen«
41 Der Ausdruck wurde von einem französischen Résident général de France en Tunisie in seinem Bericht für den Quai d´Orsay verwendet. Vgl. M. Charfi, Mon combat pour les Lumières (Fn. 13), S. 56 f. 42 Vgl. ebd. 43 Flīs, Sağīn fī waṭanī (Fn. 7), S. 411.
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während der Folter ist die höchste Form des Protestes und des Widerstandes.44 Wie die Auseinandersetzung mit dem Wächter sind auch die Auseinandersetzungen mit dem Untersuchungsrichter und mit seinem Vater real. Im Unterschied zu den Wärtern spricht der Untersuchungsrichter zwar keine beleidigende Sprache, aber er versucht den Gefangenen durch bestimmte rhetorische Tricks in seine Anklagelogik zu verstricken. Das folgende Gespräch fand in einem Büro des Justizpalastes in Tunis während der ersten Verhaftung statt: »Der Untersuchungsrichter hat mich gebeten, mich zu setzen. Kaum hatte ich mich gesetzt, kam ein Schwall von Fragen: ›Dein Name, Familienname, Name des Vaters, Großvaters, Name der Mutter, ihr Familienname und Deine Postadresse…‹ Mit einer starken Stimme habe ich ihn unterbrochen: ›Mein Name ist Muḥammad aṣ-Sāliḥ Sohn von Ḥamda, Sohn von Muḥammad, Sohn von Ḥāğğ Ḥamda Flīs.‹ Er ging zum Vorwurf über: ›Dir wird vorgeworfen, Mitglied einer illegalen Organisation zu sein.‹ Wieder unterbrach ich ihn mit einer enthusiastischen Rede: ›Gibt es eine anerkannte Organisation oder Partei in unserem Land?‹ Er schrie mich warnend an: ›Ich frage und Du antwortest…‹ ›Ich habe Dir mit einer Frage geantwortet!‹ erwiderte ich, fuhr fort und nahm ihm die Chance, gleich zu intervenieren. ›Seit wann hat das Regime in unserem Land Organisationen zugelassen? Steht nicht das Gesetz vom 7.11.1959 im Widerspruch zur Verfassung?‹ Er wurde böse und arrogant: ›Du bestreitest also, dass du ein Mitglied einer illegalen Organisation bist?‹ Ich beantwortete seine Frage nicht und fragte ihn wieder: ›Bin ich kein Mensch, dass ihr mich über zwei Monate lang meine Kleidung nicht wechseln lasst und ich ohne einen einzigen Kontakt zu meiner Familie bleibe? Ist das der moralische und juristische Preis, den man zahlen muss, wenn man einer illegalen Organisation angehört? Angenommen, dass dies der Vorwurf an mich ist.‹ […]. Er sagte zu seinem Sekretär: ›Auf die Frage, ob er einer illegalen Organisation angehöre, ist er ausgewichen und hat sich hinter allgemeinen 44 Eine andere, sehr eindringliche Beschreibung dieses Schweigens als Protest findet sich bei A. ʿUṯmānī: »Ich habe mit ihnen [den Folterern] nie gesprochen; ich habe sogar nicht geschrien. Und dies hat sie außerordentlich wütend gemacht, sodass mich eines Tages einer von ihnen mit 500 Schlägen auf meine Füße geschlagen hat, um von mir vergeblich einen Schrei zu hören. […] Ich musste auf zwei Ebenen Widerstand leisten: Selbstverständlich ein Widerstand gegen die körperliche Folter und ebenfalls ein Widerstand gegen die Entwürdigung und die Entmenschlichung, die durch Folter verursacht wird. […] Was mich betrifft, so haben mich die Gefühle der Würde und des Stolzes gerettet; sie haben mir ebenfalls erlaubt, das absolute Schweigen vor meinen Folterern aufrechtzuhalten.« A. ʿUṯmānī u. Ṣ. Basīs, at-Taḥarrur mina as-siğn (Fn. 19), S. 30 f. Zu Leben und Werk von A. Othmani vgl. Ouvrage à plusieurs voix, Ahmed Othmani. Une vie militante, Tunis: Éditions Déméter 2012.
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Antworten versteckt. Er hat geleugnet, was er am Anfang des Gespräches gesagt hat.‹«45 Die Stimme des Gefangenen – die auch hier immer lauter wird – ist nun in einen Kampf um die Macht des Wortes verwickelt, ein Kampf gegen die Logik und Rhetorik der Repression, der er sich immer wieder zu entziehen sucht. Dabei ist die Lautstärke der Stimme insofern fundamental, als sie ein Mittel gegen die Angst ist. Der Gefangene gewinnt den Kampf, da er sich selbst treu geblieben ist. Er verliert ihn natürlich auch, weil er niemanden in diesem Wortgefecht überzeugen bzw. keine Freilassung erwirken kann. Ein weiteres Gespräch fand im Büro des Gefängnisdirektors von Burğ ar-Rūmī während einer weiteren Verhaftung (1969) statt: »Ich habe ebenfalls einen Besuch von meinen Eltern im Büro des Gefängnisdirektors und in seiner Anwesenheit bekommen. Und inzwischen habe ich verstanden, dass die Polizei meinen Vater eingeladen hat, um mich zu besuchen unter den Bedingungen, dass er mich davon überzeugt, einen Entschuldigungsbrief an den Präsidenten zu schreiben. In der Tat hat mein Vater Briefpapier und Kuli mitgebracht, die er aus seiner Tasche gezogen hat und mich darum gebeten, einen Brief an den Präsidenten zu schreiben. Ich habe versucht mit ihm zu diskutieren: ›Warum müssen wir uns bei ihm entschuldigen? Ist es nicht angemessener, wenn er sich bei uns entschuldigt, denn er hat unsere Bürgerrechte verletzt […]. Sofern ich in diesem miserablen Zustand und in dieser unmenschlichen Situation bin, in der meine Menschlichkeit (ādamiyyatī) und meine Rechte zutiefst verletzt sind, wie kann ich mir erlauben, mich zu entschuldigen? Und bei wem? Bei demjenigen, der mich verhaftet und mich und euch sogar gefoltert hat? […]‹ Inzwischen hatte mich der Direktor angesprochen. Mit seiner Hand zeigte er auf das große Bild des Präsidenten, das hinter ihm aufgehängt war und sagte mir: ›Ist er nicht auch Dein Vater? Wo ist das Problem, wenn der Sohn sich bei seinem Vater entschuldigt?‹ Ich habe ihm ins Gesicht geschrien: ›Er ist Dein Vater; ihr kommt aus derselben Stadt [Monastir]. Es gibt für mich nur einen einzigen Vater, dieser Kämpfer!‹ […] Ich fuhr fort: ›Auf jeden Fall bin ich nicht hier um mit Dir zu reden; ich bin da, um meinen Vater zu besuchen und du bist da, um uns zu kontrollieren! Kontrolliere uns und lass uns zusammen sprechen!‹«46 In dieser Szene hilft dem Gefangenen seine Stimme nicht nur dabei, dass er sich selbst treu bleibt, sondern zusätzlich gewinnt er auch das Wortgefecht, insofern er sich der Forderung, eine Entschuldigung zu unterschreiben, widersetzt und den ›zweiten Vater‹ nicht anerkennt.
45 Flīs, Sağīn fī waṭanī (Fn. 7), S. 174. 46 Ebd., S. 224 f.
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DIE WIDERSTÄNDIGE STIMME UND DAS SCHWEIGEN ALS PROTEST
Die Konfrontation mit dem ›zweiten Vater‹ – mit dem »Vater der Nation« – ist eine kritische Auseinandersetzung mit einer omnipräsenten männlichen autoritären Figur, die durch das Bild von Bourguiba visualisiert ist, insofern es überall in den staatlichen Räumen aufgehängt wurde. Das Bild von Bourguiba verkörpert eine Figur des Neopatriarchats, in der die klassische autoritäre politische (männliche) Macht und die moderne Technik miteinander verschmelzen. Das Neopatriarchat ist in gewisser Weise eine hybride Form des klassischen Patriarchats und zugleich eine verzerrte Gestalt der europäischen Moderne.47 Gegen diese Form des Neopatriarchats erhebt sich die Stimme des Häftlings und bestätigt seine alleinige Zugehörigkeit zu seinem biologischen Vater. Seine Ablehnung einer Entschuldigung ist verbunden mit einer Ablehnung der Unterschrift, mit der die vertragliche Bestätigung einer Unterwerfung erfolgen würde.
Fazit Es lassen sich zusammenfassend verschiedene Stationen und Positionen feststellen, in denen unterschiedliche Funktionen der Stimme zum Ausdruck kommen, wobei diese Funktionen immer auch mit bestimmten Modi des Schweigens in Verbindung stehen. In der ersten hier untersuchten Situation versucht der Häftling durch seine laute Stimme und sein taktisches Schweigen die Machtasymmetrie zu durchbrechen. Die Stimme erhält in diesem Zusammenhang eine existentielle Funktion, die im Wechselmodus von Rede und Schweigen agiert und dem Protagonisten die Kraft gibt, sich zu verteidigen. In der zweiten Situation geht es um ein durch die Stimme gestiftetes Selbstverhältnis, das nicht nur eine Selbstaffektion und eine Quelle des Selbst ist, sondern in dieser spezifischen Situation einen Widerstand gegen den Selbstverlust und gegen die Selbstzerstörung darstellt. In der Einsamkeit der Gefangenschaft bekräftigt die Stimme die menschliche Existenz. Das Sprechen zu sich selbst erfüllt eine ontologische Funktion. Die Manifestation der eigenen Stimme tritt gegen die Totenstille der Objektwelt im Gefängnis an. Das missachtende Schweigen – als eine Form des Protestes – prägt das Verhalten des Gefangenen zu den realen ›Anderen‹ (den Wächtern) während der Haft. Die dritte Situation geht über die nackte Existenz hinaus, schmückt die Einsamkeit mit einer Vergegenwärtigung der Mitmenschen und des einst mit ihnen gelebten Lebens aus. Der Gefangene versichert sich mit seiner mehrsprachigen Stimme seiner Persönlichkeit, seiner bestimmten, 47 Vgl. H. Sharabi, Neopatriarchy. A Theory of Distorted Change in Arab Society, Oxford: Oxford University Press 1988.
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geformten, endlichen Existenz. Hier tritt eine soziale Funktion der Stimme in den Vordergrund, die durch das Sprechen mit dem fiktionalen Anderen realisiert wird. Im Schweigen findet der Häftling die Kraft, seine Phantasie zu aktivieren, um eine neue Behausung durch Dichtung zu schaffen. Im kreativen und schöpferischen Schweigen wird die Isolation vorübergehend ausgeblendet. Aus dem Schweigen geht eine neue Welt hervor. In der vierten Position erhebt sich die Stimme gegen einen Anderen, und in der politischen bzw. der juristischen Positionierung beansprucht sie einen Raum, der ihr bisher verweigert wurde. Sie wird zu einer politischen Stimme. Der Raum wird bisweilen zu einem Kampfplatz, auf dem mit sprachlichen bzw. mit rhetorischen Mitteln gefochten wird. Diese Funktion der Stimme lässt sich als Sprechen gegen einen fiktionalen und realen Anderen bzw. gegen Unrecht charakterisieren und ist als politische Funktion der Stimme aufzufassen. Gegen das vorherrschende Schweigen im Land wird mit einer lauten Stimme das Recht auf Freiheit beansprucht. In allen diesen Funktionen spielt die Ästhetik eine Rolle: Erstens im Sinne von aisthesis als das sinnlich Wahrnehmbare. Zweites im Sinne einer ›schönen‹ Sprache, mit der der Protagonist sich phantasievoll seine Einsamkeit ausstattet. Eine Sprache, in der er sich selbst treu bleibt und in der er seine eigene, individuelle Existenz bewahrt. Diese Kreation durch Sprache ist auch mit einer ethischen Dimension verbunden, indem hier die Lüge abgewiesen, Treue zu sich selbst gewahrt und das Sprechen einer wahren Sprache praktiziert wird. Drittens im Sinne eines Bewusstseins für die inhaltliche Relevanz der sprachlichen Form im Wortgefecht mit anderen. Hier ist die rhetorische Ebene angesprochen. Alle Ebenen der Stimmfunktion und ihrer ästhetischen Implikationen sind Teil eines eigentümlichen Prozesses der Subjektivierung, mit der sich der stimmhafte und schweigende Gefangene der Repression widersetzt.
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Schreiben gegen Unrecht Protest und Engagement in der modernen syrischen und irakischen Dichtung Einleitung In unserem Artikel1 widmen wir uns zwei zeitgenössischen arabischen Dichtern, dem Syrer Muḥammad al-Māġūṭ (1934–2006) und dem Iraker Muẓaffar an-Nawwāb (geb. 1932 oder 1934), die die als skandalös empfundene Unterdrückung der Bevölkerungen durch die arabischen Herrschaftssysteme bloßstellten und dagegen anschrieben. Beide Dichter entstammen der gleichen Generation und obwohl sie formal unterschiedliche Stile entwickelt haben (al-Māġūṭ als Vorreiter des Prosagedichtes, an-Nawwāb als bahnbrechender Pionier der Dialektdichtung und des freien Verses), bestehen wichtige Gemeinsamkeiten, die in erster Linie ihr literarisches Engagement betreffen, aber auch auf die sozio-politischen Verhältnisse verweisen, denen sie als Autoren ausgesetzt waren: Sowohl an-Nawwāb als auch al-Māġūṭ litten unter der Unfreiheit, Korruption und Willkür in ihren Staaten. Und beide schreckten nicht davor zurück, eine provokative und zum Teil obszöne Sprache zu verwenden, um das vom Staat ausgehende Unrecht in ihren Gesellschaften anzuprangern.2 Obwohl oder gerade weil sie den offiziellen 1
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Dieser Artikel erscheint in einer leicht veränderten englischen Fassung in der libanesischen Zeitschrift al-Abhath, hg. Assaad Khairallah, Beirut: American University of Beirut Press, 2018. Mit dem Begriff des Unrechts beziehen wir uns auf die arabische Begrifflichkeit von ›Istibdād‹, ›Ẓulm‹ und ›Qahr‹ (Tyrannei, Unterdrückung, Unrecht), die als Schlüsselbegriffe und Kodes im politischen und kulturellen Diskurs zentrale Bedeutung einnehmen und umfassend das Gefühl der Unterdrückung durch einen nicht demokratisch oder religiös legitimierten Herrscher zum Ausdruck bringen. Die aus Sicht eines Großteils der Bevölkerung als unrechtmäßig empfundene Herrschaft greift zum Mittel der Unterwerfung und extremen Demütigung, um den Widerstand kritischer und oppositioneller Individuen und Gruppen zu brechen. In dieser Praxis der Herrschaftssicherung spielt auch Folter eine zentrale Rolle. Vgl. B. ʿAbd al-ʿAzīz, Ḏākirat al-qahr. Min manẓūmat at-taʿḏīb fī miṣr (Das Gedächtnis der Unterdrückung. Über das System Folter in Ägypten), Cairo: Tanwīr 2013, und G. Böwering, P. Crone, M. Mirza, The Princeton Encyclopedia of Islamic Political
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nationalistischen Diskurs als inhaltsleere Rhetorik und die Herrschenden als korrupte Politiker entlarvten und damit scharfe Kritik am arabischen Nationalismus (al-qaumīya al-ʿarabīya) übten, stehen in ihrem Schaffen thematisch die Sorge und der Kampf für ein freies arabisches Heimatland (al-waṭan al-ʿarabī) und die Befreiung des arabischen Individuums von politischer Willkür und sozialem Zwang im Zentrum, sodass sie einen alternativen Patriotismus vertraten, der dennoch einige Gemeinsamkeiten mit anderen Formen des arabischen Nationalismus aufweist.3 Damit blieb ihre Kritik nicht einem abstrakten Anti-Imperialismus verhaftet, wenngleich beide zahlreiche Gedichte gegen die Besetzung Palästinas und die Unterdrückung palästinensischer Rechte verfassten, sondern richtet sich ebenso sehr gegen die innere Kolonisierung oder Selbstkolonisierung, die als Fortführung von zuvor durch die Kolonialmächte errichteten Herrschaftsstrukturen verstanden werden kann. In der modernen arabischen Literatur gibt es eine Reihe prominenter politischer Dichter, die ihr Augenmerk auf die vom arabischen Staat ausgehende Unterdrückung richteten und deren Auftreten, Biografie und Werk von arabischen Literaturkritikern häufig als ›revolutionär‹ bezeichnet werden. Dazu gehören neben den hier vorgestellten Lyrikern auch Dichter wie Aḥmad Maṭar und Ḥusain Mardān (beide Iraker) oder Aḥmad Fuʾād Nagm und Nağīb Surūr (beide Ägypter), deren Leben und Handeln grundlegend von einer anti-diktatorischen Haltung geprägt war bzw. ist.4 An-Nawwāb äußert in seinen Gedichten, die formale, ästhetische und literarische Konventionen und Grenzen überschreiten, unverhohlen Kritik an der Korruption und Falschheit der arabischen Regime, die ihre Bürger als Untertanen betrachten, Kritik und Kreativität, die sie nicht kontrollieren zu können glauben, unterdrücken und sich gegen Reform
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Thought, Princeton (N.J.): Princeton University Press 2013, S. 571. Vgl. den Beitrag von S. Milich im ersten Teil dieses Bandes. Aufschlussreiche Einblicke in zentrale Wendepunkte der Geschichte des arabischen Nationalismus bietet Peter Wien, Arab Nationalism: The Politics of History and Culture in the Modern Middle East, London: Routledge 2017. Diese von einem literarischen Standpunkt aus vollzogene Perspektive auf Unterdrückung ist Teil einer umfassenderen Entwicklung in der Moderne: »Critiques of oppression and tyranny constitute a core theme of contemporary Islamic political thought. In the 20th century, tyranny manifested itself on two levels: foreign domination of the historic heartlands of Islam […] and domestic dictatorships […]« G. Böwering, P. Crone, M. Mirza, The Princeton Encyclopedia of Islamic Political Thought (Fn. 2), S. 572. Während aber in islamzentrierten Diskursen Ungerechtigkeit im Mittelpunkt der Kritik steht, konzentrieren sich liberale und manche linken Positionen wie die von al-Māġūṭ und an-Nawwāb auf die Freiheit (ḥurrīya) als wichtigsten Grundwert, den es gesellschaftlich, politisch und kulturell zu realisieren gilt.
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und Demokratisierung wehren. Seine Dichtung spricht ein großes Publikum an, und in Ländern, in denen sie verboten ist, wurde sie auf inoffiziellen Wegen gehandelt und verbreitet. An-Nawwāb genießt bis heute, vor allem auch durch seine Auftritte, hohes Ansehen in den arabischen Ländern und übt eine beachtliche Wirkung auf die zeitgenössische arabische Dichtung aus. Ähnlich grenzüberschreitend agierte Muḥammad al-Māġūṭ. Für viele arabische Literaturkritiker5 gilt er als wichtigster Pionier der Prosadichtung, der Genregrenzen und literarische Konventionen radikal ignorierte und für seine Persönlichkeit den freien Ausdruck suchte. Im Gegensatz zu an-Nawwāb ist al-Māġūṭ jedoch nicht nur Dichter, wenn er sich auch zuallererst als solchen begreift und man in seinen essayistischen und dramatischen Schriften stets einen poetischen Charakter erkennt. Neben zahlreichen Gedichten, die in fünf Gedichtbänden sowie mehreren Editionen seiner Gesammelten Werke vorliegen, verfasste al-Māġūṭ zahlreiche Theaterstücke,6 Drehbücher für Fernsehfilme7 und Serien sowie satirische Essays und kulturjournalistische Arbeiten, die ebenso wie seine Verse häufig von der als absurd empfundenen arabischen Realität handeln. Im Folgenden werden aus verschiedenen Schaffensphasen stammende Gedichte der beiden Lyriker, die die arabischen Unrechtsstaaten kritisch in den Blick nehmen, analysiert und in den größeren Zusammenhang der arabischen politischen Dichtung gestellt. Dabei geht es besonders um die Frage, welche inhaltsbezogenen, sprachlichen und stilistischen Mittel eingesetzt werden, um beim Publikum Emotionen wie Wut und Trauer hervorzurufen und mit Emotionen aufgeladene, halböffentliche Räume zu schaffen, in denen kritische Sichtweisen auf die gesellschaftspolitische Realität in den arabischen Ländern ohne Zugriff des Staates verhandelt und geteilt werden können.
Muẓaffar an-Nawwāb Welche Rolle das literarische Schreiben in der harschen Realität der arabischen Unrechtsregime einnimmt bzw. einnehmen kann/soll, wird unter arabischen Dichtern und Kritikern heiß diskutiert. Wenn bereits der Akt des Schreibens ein »Akt des Widerstandes gegen die Angst des 5
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Vgl. M. al-Māġūṭ, Iġtiṣāb kāna wa-aḫawātuhā (Es war Vergewaltigung und ihre Schwestern), Interviews Muḥammad Ṣuwailiḥ, Damaskus: Dār Rufūf 2013, S. 9. Zu al-Māġūṭs Theaterstücken, vgl. M. Hamdan, Poetics, Politics, Protest in Arab Theatre, Brighton: Sussex 2006, S. 79–131. Zu al-Māġūṭs Drehbüchern vgl. M. Hamdan, Poetics, Politics, Protest in Arab Theatre (Fn. 6), S. 132–139.
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Vergessens«8 ist, muss es dazu dienen, die alltägliche politische, wirtschaftliche und soziale Unterdrückung stets aufs Neue ins Bewusstsein zu rufen. Muẓaffar an-Nawwāb kommt diesem Aufruf nach, für ihn ist Dichtung zugleich Provokation und Inspiration, und am wichtigsten dabei ist ihm der Kontakt zu seinem Publikum. In seinen Lesungen und auf Dichterabenden arbeitet an-Nawwāb mit einem breiten Spektrum an schauspielerischen und performativen Mitteln, er heult, brüllt, wispert und kreischt seine Verse, er improvisiert und wiederholt Verse, die besonders gut ankommen oder die ihm besonders wichtig sind, und das Publikum reagiert darauf, bekundet Zustimmung oder Überraschung und applaudiert. Seit alters her haben in arabischen Gesellschaften Dichterlesungen einen hohen Stellenwert im öffentlichen Raum; bei öffentlichen Rezitationen ist das Publikum aktiv involviert, geht mit dem Dichter mit, und die Reimwörter werden mitgesprochen, wenn das Publikum sie erahnen kann. An-Nawwāb selbst meint dazu: »Arabische Dichtung […] mit ihren rhythmischen Kadenzen und ihrer Melodiosität spricht sowohl Auge als auch Ohr an. Deshalb ist die vorgetragene Rezitation oder Deklamation die eigentliche Essenz der arabischen Dichtung, und zwar seit vorislamischer Zeit bis heute. Von daher heißt es auch, dass Mutanabbī vor Sayf ad-Dawla stand und seine Gedichte vortrug und nicht, dass er sie vorlas.«9 Die Herausforderung, gerade für irakische Dichter, mit Zensur und Verfolgung zurechtkommen zu müssen, löste an-Nawwāb auf seine Art, indem er es gar nicht erst darauf anlegte, seine Dichtungen im Druck zu veröffentlichen: »Und genau aus diesem Grund versuche ich, durch meine Lesungen den Abstand zu meinem Publikum zu verringern, und kümmere mich nicht darum, ob meine Gedichte in Zeitungen, Zeitschriften oder gar Büchern veröffentlicht werden.«10 Tatsächlich wurde seine Dichtung in vielen arabischen Ländern verboten; so erschien sein erster Lyrikband erst 1969 in Baghdad, obwohl er bereits seit vielen Jahren als Dichter bekannt und beliebt 8
So in einem anderen Kontext die amerikanische Kritikerin Brinda J. Mehta, v»Writing against war and occupation in Iraq: Gender, social critique and creative resistance in Dunya Mikhail’s The War Works Hard«, in: International Journal of Contemporary Iraqi Studies, 4/1 (2010), S. 79–100, S. 86. 9 M. an-Nawwāb, al-Aʿmāl al-kāmila li-š-šāʿir Muẓaffar an-Nawwāb (Gesammelte Werke), ohne Ortsangabe, ohne Datum, S. 32. Im Folgenden werden die Gesammelten Werke, ohne Orts- oder Jahresangabe, mit o.J. abgekürzt. Tatsächlich gibt es bis heute keine von ihm autorisierte Gesamtausgabe; die sogenannten Gesammelten Werke, mit denen wir arbeiten, berücksichtigen seine Dialektdichtungen nicht, stellen also keinesfalls eine vollständige oder kritische Ausgabe dar. In Ermangelung eines anderen Werkes sind wir jedoch auf die Arbeit mit dieser Ausgabe angewiesen. 10 M. an-Nawwāb, al-Aʿmāl al-kāmila (Gesammelte Werke, Fn. 9), S. 32.
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war.11 Frei gesprochene Dichtung, die nicht in gedruckter Form vorliegt, bietet den staatlichen Kontrollstellen weniger Angriffsfläche für Intervention und Zensur. Die einzige Möglichkeit, die die staatlichen Kulturbehörden hatten, die Popularität an-Nawwābs einzuschränken, war es, mit aller Strenge gegen die klandestin gehandelten Mitschnitte solcher Abende vorzugehen. An-Nawwāb war sich in diesem Bereich seiner ›Macht‹ durchaus bewusst: »Das politische System fürchtet den Einfluss und die Atmosphäre, die ein Gedicht in einem Saal voller Leute erzeugen kann, und die ganz anders ist, als wenn einer ganz allein für sich im stillen Kämmerlein ein Gedicht liest. Die Atmosphäre bei solchen Dichterabenden ist elektrisiert, sie schafft Bewusstsein, sie provoziert und bringt Leute dazu, Dinge abzulehnen. Das ist zwar nicht das vorrangige Ziel von Dichtung, aber eines davon […], und von daher halte ich Dichterabende vor Publikum für sehr wichtig, vor allem auch, weil sich die arabischen Herrscherklassen davor fürchten!«12 Engagement in Dichtung (und ebenfalls im Privaten) war für an-Nawwāb allumfassend: »Für mich ist ein echter politischer Standpunkt der, der alle Aspekte des Lebens umfasst.«13 Durch seine radikale Gesellschaftskritik, seine flammenden Appelle und seine Schmähgedichte auf arabische Herrscher, in denen an-Nawwāb offen ausspricht, was viele der Zuhörer insgeheim dachten, aber nicht öffentlich zu sagen wagten, wurde er zum poetischen Sprachrohr sowohl der ›arabischen Straße‹ als auch vieler Intellektueller.14 Die dialogische Konzeption seiner Werke stellt einen engen Kontakt und Kommunikation mit dem Leser (in seinen Gedichten) und mit dem Publikum (in seinen Auftritten) her, um stark appellativ wirkende Gedankenfolgen und Gemeinschaft schaffende Emotionen unmittelbar und in gesteigerter 11 In seinem Diwan Li-r-rayl wa-Hamad (Für den Zug und für Hamad; 1969 erstmals erschienen) bediente er sich des südirakischen Dialekts, verstieß also gegen eine ungeschriebene Regel des Literaturbetriebs, dass nur die Dichtung wertvoll sei, die in der Hochsprache verfasst ist. Marilyn Booth argumentiert, dass Dialektdichtung par excellence bereits ein Ausdruck von Engagement sei (»an art of iltizām«; M. Booth, »Poetry in the Vernacular«, in: Modern Arabic Literature (Ed. M.M. Badawi), Cambridge: Cambridge UP 1992, S. 463). Nicht nur die romantischen Dialektgedichte dieses Diwans, sondern auch die politischen erfreuen sich einer bleibenden Beliebtheit. 12 M. an-Nawwāb, Interview 1999, in: al-Aʿmāl al-kāmila (Gesammelte Werke, Fn. 9), S. 75. 13 Zit. nach S. Simawe (Hg.), D. Weissbort (Hg.), Iraqi Poetry Today, Print. Modern Poetry in Translation, 19, London: King’s College 2003, S. 151. 14 Vgl. ʿĀ. al-Usta, Muẓaffar an-Nawwāb: aṣ-ṣawt wa-s-sadā (Muẓaffar an-Nawwāb: Die Stimme und das Echo), Kairo: maktabat Madbūlī 2002, S. 18, S. 40.
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Intensität zu vermitteln. Dass seine Strategie des direkten Kontaktes mit dem Publikum aufging, liegt an der Authentizität seiner Stimme und der politischen Relevanz seiner Anklagen, sodass an-Nawwāb davon überzeugt ist, dass Dichtung politisch und gesellschaftlich durchaus Wirkungsmacht entfalten kann: »In den meisten meiner Dichterabende habe ich festgestellt, dass mein Gedicht beim Publikum angekommen ist, trotz meiner wenigen Gedichtbände, und ich bin manchmal sehr erstaunt, wie sehr es angekommen ist in manchen arabischen Ländern! Das heißt doch, dass Dichtung noch nicht ihren (gesellschaftsformenden) Einfluss und ihre Macht verloren hat.«15 Ein eingängiges Beispiel für diese enge Verbindung zum Publikum ist das Gedicht Qimam (Gipfeltreffen), das provokativ und treffend die Vergeblichkeit der politischen Debatten der arabischen Staatsoberhäupter thematisiert und sie als eine Herde unmotivierter, aufgeblasener Mitläufer darstellt, die nichts zustande bringen. Dieses Gedicht ist eines der im Internet meist aufgerufenen16 und verdeutlicht an-Nawwābs raue poetische Diktion, mit der er Missstände anprangert und sein Publikum aufwühlt. Für ihn ist Dichtung der lebendige Austausch mit seinem Gegenüber; und wie dieses Gegenüber das Gedicht versteht, annimmt und aufnimmt, beeinflusst zugleich den weiteren Verlauf der Gedichtperformances und Darbietungsweisen, sodass die Gedichte mit ihrer Spontaneität und Lebendigkeit das Publikum in ihren Bann ziehen. In einer Art von moderner Adaption von Valérys Satz: C’est l’exécution du poème qui est le poème17 interagiert an-Nawwāb mit seinem Publikum, provoziert direkte Rückmeldungen und Reaktionen und geht darauf ein. Mit respektlosem, beißendem Humor gibt er die Herrschenden der Lächerlichkeit preis und demaskiert ihre Inkompetenz, indem er sie als Vieh beschreibt. Gipfel … Gipfel … Gipfel / Kleinvieh und Hammel / Seine Exzellenz der Ziegenbock / Seine Hoheit der Schafsbock / der Esel / seit immer schon! / Und die Sitzung beginnt / ›Nein!‹ / ›Noch nicht!‹ / ›Nicht mehr!‹ […] Der Ziegenbock / vom Fieberschauer ergriffen / pinkelte sich inmitten des Saales in die Hose / Das gefiel der Versammlung / Man klatschte Beifall / und bildete einen Kreis / Er pinkelte sich ein zweites Mal in die Hose / und der Beifall wurde lauter / ›Wie hat er das nur geschafft!‹/ Und sie starrten / und analysierten / und vertagten / und prüften / und saugten […] Pfui 15 M. an-Nawwāb, al-Aʿmāl al-kāmila (Gesammelte Werke, Fn. 9), S. 69. 16 Siehe https://www.youtube.com/watch?v=yhxZXe4KJbs, abgerufen am 6.2.2017. 17 P. Valéry, »Première leçon du cours de poétique« (1937) , in: Les classiques des sciences sociales, Université de Quebéc, S. 11, einsehbar unter: http://classiques.uqac.ca/classiques/Valery_paul/varietes/Lecon_1_esthetique_Var_V/cours_de_poetique.pdf, abgerufen am 7.2.2017.
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auf die Könige, Sheikhs, und Diener18 / vom ersten bis zum letzten / die dabei waren!19
Die Vergeblichkeit und Ergebnislosigkeit arabischer Gipfeltreffen wird sarkastisch aufs Korn genommen und die Unfähigkeit der Herrscher entlarvt: Mit vulgärer Sprache schockiert an-Nawwāb seine Zuhörer, die jedoch – besonders, wenn man sich die entsprechenden YouTube-Videos anschaut – vor Beifall toben und jauchzen. Diese Bloßstellung gipfelt in dem Beifall für das Pinkeln, ein immer wiederkehrender Topos bei an-Nawwāb, mit dem er Verachtung und Rachegefühl, aber auch seine Resignation darüber beschreibt, dass die arabischen Staaten von solchen Menschen regiert werden und ihnen ausgeliefert sind. An-Nawwābs Dichtung erschafft einen Raum gemeinschaftlich geteilter Gefühle in einer gemeinsam geteilten Lebenswelt: Seine Performances während der Dichterabende haben durchaus eine kathartische Funktion, denn sie bieten den Anwesenden, ihn selbst eingeschlossen, ein Ventil, die im Alltag angestauten Gefühle der Frustration und Wut auf die politischen Verhältnisse und Versäumnisse zu kanalisieren. An-Nawwāb stand zeitlebens für seine Überzeugungen ein und nahm dafür Repressalien, Haft und Exil in Kauf: Als Mitglied der Kommunistischen Partei musste er 1963 aus dem Irak fliehen und wurde auf der Flucht in die Sowjetunion im Iran verhaftet, an den Irak ausgeliefert und in Bagdad zum Tode verurteilt. Das Todesurteil wurde kurz darauf in lebenslängliche Haft im berüchtigten Gefängnis Nuqrat al-Salman umgewandelt, aus dem ihm nach einigen Jahren zwar die Flucht gelang, doch musste er bis zu einer Generalamnestie 1969 im Untergrund leben. In den 1970er Jahren verließ an-Nawwāb den Irak endgültig, und die Tatsache, dass er Ungerechtigkeit und Repressionen so hautnah ausgesetzt war, radikalisierte sein Schreiben in zunehmendem Maße. Die intime Kenntnis der politischen und gesellschaftlichen Gegebenheiten in unterschiedlichen arabischen Ländern und die daraus resultierende Wut, Trauer und Resignation zieht sich auch durch seine späteren Gedichte wie ein roter Faden. Mit den einfachen Leuten, den Unterdrückten, Geknechteten und Entrechteten verbrüderte er sich bewusst und machte sich für ihre Sache stark: Diesen Unterdrückten eine Stimme zu geben und ihr Leid 18 »Diener« (ḫādim) im Sinne des Ehrentitels ›Diener der beiden Heiligen Stätten (Mekka und Medina)‹ ist eine Anspielung auf die saudischen Monarchen. Die Anklage vor allem gegen die Saudi-Araber, denen er Heuchelei und Unterwerfung unter amerikanische Interessen vorwirft, taucht immer wieder auf; vor allem in seinem Langgedicht Ǧisr al-mabāhiǧ al-qadīma (Die Brücke der alten Freuden); vgl. Übersetzung in S. Simawe (Hg.), D. Weissbort (Hg.), Iraqi Poetry Today (Fn. 13), S. 173 u.a. 19 M. an-Nawwāb, al-Aʿmāl al-kāmila (Gesammelte Werke, Fn. 9), S. 540 ff.
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und Elend offen darzulegen, ist sein Hauptanliegen. Seine Gedichte demonstrieren ein vielschichtiges Verständnis von Identität und Nation und bieten Platz für Widerstand und Grenzüberschreitungen. Durch sein unstetes Exilleben sind ihm alle arabischen Staaten eine Heimat; die ›arabische Nation‹, die es so nicht gibt, als Ganzes – ganz ähnlich zu alMāġūṭ – ist sein Hauptreferenzpunkt in seinem Schaffen, aber auch in seinem Leben. An-Nawwāb schreibt quasi ›im Angriffsmodus‹, mit Wut im Bauch. Stets wiederkehrende Themen sind die quasi-feudale Situation, Armut und soziale Ungerechtigkeit in seiner Heimat, der Palästinakonflikt und die ›Arabische Sache‹ (al-qaḍīya al-ʿarab�ya). Besonders letztere ist ihm ein wichtiges Anliegen, für die er sich – eine weitere Gemeinsamkeit zu al-Māġūṭ und vielen anderen Dichtern seiner Generation – immer wieder einsetzte und wütend Anklage führte. In seinen Gedichten verkehrt er die Perspektiven in ihr Gegenteil: Nicht die Bevölkerung steht unter Generalverdacht, sondern die Herrscher werden im Raum seiner Dichtung zu Angeklagten. Der Entzug der politischen Legitimation schafft einen Ausgangspunkt, von dem aus der Umsturz, die Revolte, starten könnte. Auf der Suche nach Einheit und Solidarität mahnt er unermüdlich die politische und gesellschaftliche Emanzipation der arabischen Gesellschaften an; die Kritik an der nationalstaatlich verfassten arabischen Heimat als ideologisches Konstrukt ist dabei nur ein Nebenprodukt. Wer hat Palästina verkauft und sich bereichert, bei Gott / außer den Listen der Bettler auf den Schwellen der Herrscher / Wenn die Nacht hereinbricht / knallen die Gläser, Prost, dass Jerusalem die Braut Eures Arabertums ist / Willkommen! Willkommen! Willkommen! / Wer hat Palästina verkauft außer den revolutionären Schreiberlingen?! / Ich schwöre bei den Hälsen der Weinkrüge / und dem Gift in den Kelchen […] / Ich schwöre bei der Geschichte des Hungers und der Hungernot / Kein einziger Araber wird übrig bleiben / wenn unser Zustand so bleibt / mit diesen profitorientierten Regierungen! / Jerusalem ist die Braut eures Arabertums / Warum habt ihr alle Vergewaltiger der Nacht in ihr Gemach gelassen? / Und all eure Dolche gezückt / und euch vor Ehre aufgebläht / und sie angeschrien, still zu sein, um ihre Keuschheit zu wahren / Was ist das für eine Ehre bei euch? / Ihr Hurensöhne / Soll eine Vergewaltigte still sein? / Hurensöhne! / Ich habe keine Scheu, euch mit eurer Wahrheit zu konfrontieren! / Ein Schweinestall / ist reiner als der Reinste von euch! […]20
In seinem bekannten Gedicht al-Quds ʿarūs ʿurūbatikum (Jerusalem ist die Braut eures Arabertums) stellt er Palästina als keusche Jungfrau dar, die von den arabischen Staaten schändlich verraten und im Stich gelassen wird. Der Topos der Vergewaltigung und die Anklage der arabischen 20 M. an-Nawwāb, al-Aʿmāl al-kāmila (Gesammelte Werke, Fn. 9), S. 97 ff.
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Regierungsverantwortlichen als »Hurensöhne« zeichnen in ihrer Derbheit ein eindeutiges Bild einer im tiefsten Innern korrumpierten arabischen Welt. An-Nawwāb erstellt mit seinen Beschimpfungen und Anklagen der Herrschenden ein düsteres Bild von der arabischen Realität, die von Verrat und Unterdrückung gezeichnet ist. Er erschafft eine eigene poetische Welt mit eigenen Kürzeln, Symbolen und Bildern, auf die er in unterschiedlichen, miteinander korrespondierenden Gedichten zurückgreift: Palästina als Symbol für die nicht gelungene Arabische Einheit und nicht existente Solidarität; die Herrschenden, die nicht nur ihr eigenes Volk, sondern auch die ›Arabische Sache‹ verraten; die Reise als ewige Sehnsucht nach der Heimat; Basra (die Heimat) als Sehnsuchtsort und Utopie; und schließlich die arabische Welt als Gefängnis, in dem das Individuum aller Rechte beraubt ist, hilflos der Willkür der Herrschenden ausgeliefert. Seine Ideale, die er mit al-Māġūṭ teilt, sind Freiheit, Unabhängigkeit und Gerechtigkeit für alle. Trotz Entfremdung und Enttäuschung über den Zustand der arabischen Länder überwiegt bei an-Nawwāb die Wut, die er in den Willen zum Aufstand verwandelt und mit der er zum Widerstand aufruft, ein Schlüsselthema in seinem poetischen Schaffen. Dabei äußert sich der Widerstand gegen die Inkompetenz und Arroganz der herrschenden Regime auf unterschiedliche Weisen, wie im folgenden Abschnitt im Aufruf zum Kampf im Gedicht Ǧisr al-mabāhiǧ al-qadīma (Die Brücke der alten Freuden):21 Die zornigen Leute sind da / ich höre ihre Mägen vor Hungerschmerz knurren / und vor Wut / Sie sind alle gekommen mit zwei Spießen in der Hand / Oh Gott, genug von dieser Schande! / oh Gott, genug von nichtsnutzigen Anführern voller Löcher! […] Hier ist mein Spieß, oh Gott / Ich mache ihn heiß / Wir werden keine Gnade mit ihnen haben / […] Oh Gott, genug von diesen Herrschern voller Löcher! / Jede Person soll zwei zornige Spieße tragen / Kommt alle her und vereint euch, ihr Entrechteten dieser Erde / Wir werden die Masken der herumhurenden Klassen herunterreißen […] In eurem Namen, in eurem Namen, in eurem Namen / erkläre ich hiermit laut / Ich rufe das ganze Volk auf / alle, zwei große Spieße zu ergreifen 21 Aus Ǧisr al-mabāhiǧ al-qadīma, 1977, auch bekannt unter Tall az-Zaʿtar, der Name des palästinensischen Flüchtlingslagers in Beirut; vgl. auch die Übersetzung des gesamten Gedichtes bei S. Simawe (Hg.), D. Weissbort (Hg.), Iraqi Poetry Today (Fn. 13), S. 151–185. Dazu auch L. Tramontini, »Place and Memory – Badr Shākir al-Sayyāb and Muẓaffar al-Nawwāb Revisited«, in: S. Günther, S. Milich (Hg.), Visions and Representations of Homeland in Modern Arabic Poetry and Prose Literature, Hildesheim [u.a.]: Georg Olms Verlag 2016. Vgl. auch Bardensteins exzellente Analyse des Gedichtes: C. Bardenstein, »Stirring Words: Tradition and subversions in the poetry of Muzaffar al-Nawwab«, in: Arab Studies Quarterly, 19:4 (1997), S. 37–63.
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/ bespickt mit Nägeln / Jetzt, jetzt, und nicht morgen! Die Tore der arabischen Heimat müssen vor den herrschenden Affen geschlossen werden!22
Die Überzeugung, nur in Widerstand, Kampf und Revolution einen Ausweg aus dem Sumpf der Korruption und des Unrechts zu finden, in dem sich die arabische Welt seit langem befindet, findet sich in vielen Gedichten an-Nawwābs.23 Es ist ein Kampf um Gleichberechtigung und ein Leben in Würde und der Versuch, die arabische Welt an eine selbstbestimmte Zukunft heranzuführen: Meine Heimat lehrte mich, alle Dinge zu lesen / Meine Heimat lehrte mich, sie lehrte mich / dass die Buchstaben der Geschichte gefälscht sind / wenn kein Blut dran ist / Meine Heimat lehrte mich, dass die menschliche Geschichte / ohne Liebe / ein Heulen und Weinen in der Wüste ist / Meine Heimat, bist du ein Land der Feinde?24
In seinen Langgedichten, die ihm Raum zu Wiederholung, Abschweifung und Akzentsetzungen bieten, spielt er geschickt mit den unterschiedlichsten Registern. So wie ihm bei seinen öffentlichen Auftritten die Nähe zum Publikum am Herzen liegt, ist ihm auch in seinen Texten der Dialog mit dem Publikum wichtig: Er spricht den Leser direkt an, er fragt und ›redet‹ mit ihm und wechselt den Ton. Aber die Anklagepunkte bleiben dieselben, sie kreisen um die Inkompetenz der arabischen Herrscher und ihren Verrat an Volk und Individuum, die ihnen schutzlos ausgeliefert sind. Verzweiflung, Wut und Anklage über die arabischen Herrscher und ihre Unterdrückungsmechanismen gehören zu an-Nawwābs dichterischem Grundbestand, so wie in dem bekannten Langgedicht Ǧisr almabāhiǧ al-qadīma: Hast du gehört, was ich sage, Herrscher von Basra!? / Ich schieb’s dir den Arsch hoch! / Die vor Hunger krepiert sind, schreien / Die glorreiche aufspießende Rute hat sich erhoben! Steck sie rein, steck’ sie rein! / Bringt den Syphilis-König / denn es macht ihm Spaß, den Stock in den Arsch 22 M. an-Nawwāb, al-Aʿmāl al-kāmila (Gesammelte Werke, Fn. 9), S. 544– 576. 23 Dies spiegelt eine allgemeine Entwicklung in der Haltung und Bewertung von Unterdrückung durch einen Herrscher wider, denn während in der klassischen islamischen Tradition revolutionäre Positionen eher in der Minderheit waren (auch wenn es herausragende Vertreter solcher Meinungen wie die Kharidschiten gegeben hat), wird seit dem 20. Jahrhundert vermehrt Widerstand gegen Unrecht und Diktatur auch von zeitgenössischen islamischen Theologen gutgeheißen. 24 M. an-Nawwāb, aus: »Watarīyāt laylīya« (Nachtsaiten), in: al-Aʿmāl al-kāmila (Gesammelte Werke; Fn. 9), S. 105–187; hier S. 161 f.
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geschoben zu kriegen! / Doch wartet! Es gibt hier eine Partei, die aus freiem Willen die Rute im Hintern will / Es gibt keinen Zwang oder so’n Quatsch! […] Was an Gutem hat uns das Petroleum gebracht? / Die Bäuche blähen sich uns vor Hunger / während der Ölkönig Angst hat, dass Ratten sein Bargeld anknabbern / Der Westen mit all seiner wunderbaren nuklearen Oberhand und Perfektion / versammelt uns für Öl und schlachtet uns ab für Öl! / Lang lebe das Öl! / Lang lebe das Gas! / Lang lebe der König der Fürze!25
In diesen Zeilen manifestiert sich an-Nawwābs Wut auf die arabischen Herrscher nicht nur in einer schockierend obszönen Sprache, sondern auch in seiner offenen Anklage der Ölmonarchien am Golf, die sich in vielen seiner Gedichte wiederholt. Dabei steht das Öl, das der arabischen Welt weder Reichtum, Frieden noch Einheit brachte, den Regierungen der Ölländer dagegen Geld und Macht, als Symbol für moralischen Bankrott und Dekadenz der arabischen Regime: Die Regierungen setzen sich nicht für die Verwirklichung der arabischen Sache ein, sondern haben nur ihren eigenen Profit im Sinn. An-Nawwāb klagt sie an als Marionetten in westlichem Interesse, die ihr eigenes Wohl über das ihrer Völker stellen. Das Koranzitat »Es gibt keinen Zwang im Glauben« (lā ikrāha fī d-dīn, Sure 2:256) stellt einen weiteren Seitenhieb auf die Ölstaaten dar, denn indem er die perversen Spielchen der Herrscher (»Stock im Arsch«) mit ihrem gleichzeitigen Vorwand, Hüter des wahren Islam zu sein, kontrastiert, entlarvt an-Nawwāb ihre Heuchelei und gibt sie der Lächerlichkeit preis. An-Nawwābs literarischer Stil zeichnet sich neben dem Gebrauch vulgärer Alltagssprache aber auch durch theatralische Momente aus: In der kontinuierlichen Verschränkung von Privatem und Persönlichem mit dem Politischen, die an-Nawwāb durch einen Wechsel von lyrisch-romantischer Bildersprache und surreal-drastischer Ausdrucksweise realisiert, verbinden sich zeitkritische Urteile mit melancholischen Stimmungsbildern. In dialogischer Form wechselt er die Perspektiven innerhalb eines Gedichts: Er beginnt in lyrischem Ton mit den eigenen Befindlichkeiten, um umso unerwarteter seine persönlich empfundene Misere, Resignation und Wut mit der des Volkes zu verweben. Diese Parallelisierung beider Befindlichkeiten ergibt einen brisanten Befund von Verfall und Verletzlichkeiten, von Verwundungen und Missständen, die Individuum und Volk gleichermaßen kennzeichnet. Das Langgedicht Watarīyāt laylīya (Nachtsaiten) setzt ein mit der Beschreibung der Nacht in der Wüste: 25 M. an-Nawwāb, aus: »Ǧisr al-mabāhiǧ al-qadīma« (Die Brücke der alten Freuden), in: al-Aʿmāl al-kāmila (Gesammelte Werke, Fn. 9), S. 544–576, hier S. 571 ff., vgl. auch englische Übersetzung: S. Simawe (Hg.), D. Weissbort (Hg.), Iraqi Poetry Today (Fn. 13), S. 176 f., S. 179, S. 180.
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In jener Stunde / der nächtlichen Begierden / wenn die goldenen Dornenvögel / die Pracht der altvorderen arabischen Herrscher / enthüllen / und die Wüstensträucher / die Wärme einer jungen Beduinin verströmen / tropft Mandelmilch üppig / von ihren Brüsten in der Nacht / und ich liege darunter / und fange sie auf / In einer solchen Stunde / wenn die Dinge / reine Trauer sind / saß ich auf dem Kamel / überflutet / mit den ewigen Sternen der Nacht / und empfing den Geist der Wüste […]26 Danach ändern sich Stimmung und Stil, und es folgt die harsche Darstellung der verfahrenen Lage der arabischen Völker, die Apathie der Herrschenden, das Ausgeliefertsein der Menschen unter unmenschlichen Bedingungen, und damit verbunden sein ganz persönliches Bekenntnis, zu den Freiheitskämpfern zu gehören und die Konsequenzen (Bedrohung und Verfolgung als Kommunist) in Kauf zu nehmen. Regierung im Orient / ist nur ein anderes Wort für Vergnügungen / Ich gehöre den Freiheitskämpfern an / dem Kopf von Hussein / und den Karmaten / Ich piss’ auf die Polizei der Herrscher / Es ist Zeit / auf die Podeste zu pissen / auf die Parlamente / und Minister / Ich pisse ganz ohne Scham auf sie / Denn sie bekämpfen uns auch ganz ohne Scham […] Dies ist für den, der die verborgene Bedeutung kennt / In der Leidenschaft liegt ein Teil meiner Zugehörigkeit / Ich gehöre zu den Massen / deren Gewalt groß wie eine Pyramide ist! […] / Ich gehöre zu den Hungrigen / und zu denen, die kämpfen / Ich gehöre zum Messias / der am Kreuz geschmäht wurde […] / Zu Muhammad / unter der Bedingung, nach Mekka einzudringen / mit Waffen / Und zu Ali ohne jegliche Bedingungen / Ich gehöre zu den Freiheitskämpfern / und zum Kopf Husseins […]27
Auch in diesen Versen richtet sich an-Nawwābs Spott und seine Kritik mehr oder weniger ausdrücklich gegen die Golfaraber; in diesem Beispiel erfolgt die Kritik an der Vorherrschaft der Saudis und ihrer engstirnigen wahhabitischen Ideologie in einem quasi beiläufigen Nebensatz (»mit Waffengewalt nach Mekka einzudringen«). Dabei ist es vor allem das Ölgeld, der Petrodollar, und die damit einhergehende politische Macht, gegen die er sich so vehement wendet. Die religiöse Symbolik dieser Zeilen darf jedoch nicht davon ablenken, dass an-Nawwāb ein säkularer Dichter ist, der sich gegen jede Form der Instrumentalisierung von Religionen stellte und engagiert jeglichen Konfessionalismus bekämpfte. Mit der religiösen Konnotation, die ja nicht nur den Islam, sondern auch das Christentum einbezieht, verdeutlicht er sein Zugehörigkeitsgefühl zu den 26 M. an-Nawwāb, al-Aʿmāl al-kāmila (Gesammelte Werke, Fn. 9), S. 105. 27 Ebd., S. 107 f., S. 126.
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Unterdrückten und Entrechteten und sein Engagement, für eine gerechte Gesellschaft zu kämpfen. Zwar greift an-Nawwāb unermüdlich die gewaltvolle Strategie der arabischen Regime an, demokratische Reformen und politische Partizipation um jeden Preis zu verhindern, und geißelt Untätigkeit, Korruption und Verlogenheit; er entlarvt aber auch die Geheimdienste, die Intellektuelle und Künstler bedrängen und verfolgen, und jene, die sich an dem desolaten Zustand der Heimat bereichern, als ausbeuterisch. In all diesen Anklagen scheint Resignation durch: Meine Dame! Wie kann man anständig bleiben / wenn der Geheimdienst überall seine Finger drin hat / Und was kommt, wird noch schlimmer! / Wir werden in die Presse gesteckt, um Öl aus uns zu machen / Wohlsein! Zum Wohl meine Dame / […] Manch einer verkauft jeden Pipapo / und verteidigt alle Angelegenheiten der Welt / Doch vor seinem eigenen Problem haut er ab / Ich piss auf ihn und besauf mich! Und dann piss ich nochmal auf ihn und besauf mich weiter! / Die Bar ist vollgestopft mit einer Generation, die du nicht mehr kennst… einem Land, das du nicht kennst / einer Sprache, Gelächter, und anderen Dingen, die du nicht kennst […] / O Gott! Ich habe alles gebilligt bis auf die Erniedrigung / und dass mein Herz in den Käfig im Sultanspalast gesteckt wurde / Ich bin überzeugt, dass mein Schicksal in der Welt dem des Vogels gleicht / Aber, o Gott, sogar die Vögel haben eine Heimat und kehren dorthin zurück / Doch ich fliege immer noch… und diese Heimat, die sich von Meer zu Meer erstreckt / ist ein einziger zusammenhängender Kerker / Kerkermeister an Kerkermeister!28
Diese Verse wirken in ihrer Düsterkeit bedrückend; Resignation ist unüberhörbar. Hier zeigt sich eine weitere Qualität von an-Nawwābs Dichtung fernab von Inszenierung und grenzüberschreitender Performance: Sein Stil in Gedichten wie diesen besitzt eine genuin eigene poetische Diktion, mit der er es vermag, die Leserschaft in seinen Bann zu ziehen. Indem er einerseits ausfallend wird (›er pisst‹ auf die Herrscher und ihre Regeln) Rachegefühle anstachelt und offenkundige Tabus überschreitet, 28 M. an-Nawwāb, aus: »Fi l-ḥāna al-qadīma« (In der alten Kneipe), in: alAʿmāl al-kāmila (Gesammelte Werke, Fn. 9), S. 495–501. Siehe auch Yahyas Interpretation: A. Yaḥyā, Muẓaffar an-Nawwāb: saǧīn al-ġurba wa-l-iġtirāb: dirāsa naqdīya wa-ḥiwār (Muẓaffar an-Nawwāb: Gefangener des Exils und der Entfremdung. Kritik und Interview), Damaskus 2005, S. 197, S. 251. Auf dem Blogspot: http://mothafaralnawab.blogspot.de/2008/01/blog-post. html, abgerufen am 8.2.2017, wird darauf aufmerksam gemacht, dass mittlerweile drei verschiedene Versionen dieses Gedichtes mit unterschiedlichem Text kursieren, die letzte aus den 2000ern. Wir richten uns hier nach der mir vorliegenden Druckausgabe.
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mahnt er andererseits die ersehnte Solidarität unter der Gemeinschaft der Unterdrückten in mystisch-geheimnisvollen Versen an, in denen Kritik an den Zuständen eher indirekt ausgedrückt wird. Diese Dialektik, gipfelt in dem stets wiederkehrenden Bild des Gefängnisses, in dem sich die arabischen Gesellschaften befinden: O Blitzvogel / Du kommst spät / Ich hätte fast / hinter mir / die Lebenstür zugemacht / Fast hätte ich / meine Schuhe mit dem Schmutz der Tage / ausgezogen / Wie trostlos! / Höre! / Hinter den Ozeanen des Schreckens / voll brodelnder Hitze / liegt die Festung des Schweigens / In der Festung ist ein verlassener Brunnen / wie aufeinandergetürmte Gräber / Das letzte Grab / strömt über mit Geheimnissen / bis zum Gefängnis / Gefängnis / in dem ein Käfig steht / um den herum sich totes Gezwitscher windet / Darin die Überreste eines Vogels / der vor drei Jahrhunderten gestorben ist / Das ist meine Seele / seit Jahrhunderten / meine Seele wurde begraben / seit Jahrhunderten / lebendig begraben / seit Jahrhunderten […]29
In dieser Passage verdichtet sich an-Nawwābs Resignation und Trauer über die Unfreiheit der arabischen Welt, aber diese Verse stacheln nicht an, klagen nicht und spötteln nicht, sondern erschaffen eine Rückschau auf den Zustand der arabischen Gesellschaften, die seit Jahrhunderten fremdbeherrscht sind, auch wenn die externen Kolonialherren mittlerweile von der eigenen politischen ›Elite‹ abgelöst wurden. Diese Selbstkolonisierung gilt es zu ändern, um sich aus dem »Grab« oder »Gefängnis« zu befreien, damit nicht nur das Selbst, sondern auch die arabische Welt in Würde und Freiheit leben zu können: Wer die Liebe verriegelt / und sich verloren hat auf den Wegen Syriens, der versteht mich / Wer im Lager ist, in dem der Koran gelesen wird / in diesem arabischen Hurenhaus / versteht mich / Wer noch nicht falsch geworden ist bis jetzt / und nicht in jedem Café die Revolutionäre überbietet / versteht mich / Wer sich noch nicht zurückgezogen hat / um sich dem törichten Geschwätz zu widmen / versteht, welch geheime Riten in meiner Sprache sind / und kennt alle Zahlen / alle Märtyrer / und alle ihre Namen.30 Ach ihr Tore der Gärten von Ahwāz / Ich sterbe vor Sehnsucht / O Tore von Ahwāz / Ich sterbe vor Sehnsucht / Ich verließ das besetzte Paradies / wie ein Fluss / der vor dem Dreck der Kanalrohre flieht / Traurig / trage ich am Dreck der Welt / Denn der Fluss / bleibt sicher in seinem Bett / denn der Fluss / bleibt / bleibt / bleibt sicher / denn der Fluss bleibt31
29 M. an-Nawwāb, al-Aʿmāl al-kāmila (Gesammelte Werke, Fn. 9), S. 134 f. 30 Ebd., S. 162. 31 Ebd., S. 139 f.
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An-Nawwābs dichterische Qualität geht weit über vulgäre Beschimpfung und Verunglimpfung der politischen Regime hinaus. Wenn die irakische Autorin Haifa Zangana von einer langen Tradition von »kreativem Widerstand« (creative resistance) spricht, dessen machtvollstes Ausdrucksmittel die Lyrik war,32 so ist an-Nawwāb ein Paradebeispiel dafür. Es muss nicht immer die offene Kritik am herrschenden System sein wie in seinen provokativsten Gedichten, in denen er mithilfe von Tabuüberschreitungen Irritationen und Provokationen hervorruft. Widerstand gerade in der Lyrik kann auch auf sehr verhaltene Weise geschehen und dennoch von großer Wirkungsmacht sein. An-Nawwāb ist ein Meister solcher verschiedener Tonarten, die er virtuos einsetzt. In dem bereits zitierten Langgedicht Watarīyāt laylīya (Nachtsaiten), in dem er auch die Geschichte seiner eigenen politischen Verfolgung in den 1960er Jahren erzählt, löst die an ihm verübte und von ihm beschriebene Folter eine Vision des lyrischen Ichs aus, die den politischen Widerstand an religiöse und mystische Erfahrungen knüpft und im Bild von Palme und Herzen dichterisch überhöht: Meine Augen umnebelten sich von der Folter / mein Fleisch klaffte entzwei von der Peitsche / Ali legte meinen Kopf in seinen Schoß / und sagte: Halt aus! / Und ich hielt aus / Die Partei kam und sagte: Halt aus! / und ich hielt aus / und die Palme und die Flüsse sagten es / und ich hielt aus… Ich hielt aus […] Ich kannte das Spielchen / Am neunten Tag hörten sie auf, mich zu foltern / Sie rissen die Fesseln ab und das Fleisch kam mit […] Die Palme stieg in meinem Herzen auf / Eine von ihnen stieg höher als der Rest / und mein Herz stützte sich auf die Palmblätter wie ein Dattelbüschel / Wer erreicht das Herz jetzt noch? / Mein Fuß im Kerker / und mein Herz in den Dattelbüscheln / Mein ganzes Herz sagte: Zu dir hin! / Denn der Dichter hat tausend Möglichkeiten in der Dichtung […] Es gibt eine Entfernung des Bewusstseins / zwischen dem Eintritt der Trommel in 32 H. Zangana, City of widows: an Iraqi woman’s account of war and resistance, New York: Seven Stories Press 2007, S. 143; zit. in B. J. Mehta, »Writing against war and occupation in Iraq: Gender, social critique and creative resistance in Dunya Mikhail’s The War Works Hard«, in: International Journal of Contemporary Iraqi Studies (Fn. 8), S. 82. Verfolgt man die Entwicklung der irakischen Dichtung über die Jahrzehnte hinweg, so lässt sich diese Aussage tatsächlich untermauern, angefangen von den Revolutionsgedichten der 1920er Jahre, die sich ebenso gegen britische Bevormundung wie gegen die einseitige Dominanz der meist sunnitischen Offiziersklasse wandten und konfessionelle und ethnische Einigkeit in den eigenen Reihen anmahnten, über die Free Verse Bewegung der 1950er und 1960er Jahre, in denen das eigene Selbstopfer als Voraussetzung für das Entstehen eines demokratischen Staatsgebildes gesetzt wurde, bis hin zu den Dichtungen der Kriegsjahre in den 1980ern und die Embargodichtung der 1990er Jahre, die vor inneren Spannungen vibriert.
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die symphonische Tiefe / und dem Austritt der einfachen Trommel im Jazz / und ich stand da und war ganz nahe bei Gott.33
An-Nawwāb bezieht sich hier auf seine Inhaftierung im Gefängnis und auf die Verhöre und Folter, denen er als Kommunist ausgesetzt war. Die Mahnung der Genossen (»Ali«, »die Partei«), zu widerstehen und standhaft zu sein, wird von Fluss und Palme aufgegriffen. Zwar schwingt im Namen Ali stets auch die Assoziation an den Imam Ali, Begründer der Schia, mit; in diesem Kontext der politischen Verfolgung jedoch verschmelzen Volksglaube, politische Gesinnung und Natur zu einer Einheit; sie werden nicht als Widerspruch präsentiert, sondern bieten dem politischen Dichter Halt und Kraft. Standhaftigkeit wird zu einem lebensnotwendigen und unabdingbaren Gebot. »Palme« (Inbegriff des Symbols für den Irak) und »Fluss« spielen auf das Marschland des Südirak an, in dem er lange politisch im Untergrund aktiv war. Die Schmerzen, die der Gefolterte erleidet, rufen eine Art Delirium hervor, in dem die Palme in seinem Inneren wächst und den Gefolterten unantastbar werden lässt. Stets geht es an-Nawwāb um die Würde des Individuums, und in diesem Teil des Gedichtes, das von seinen höchst persönlichen Erlebnissen handelt, erlebt das lyrische Ich Dichtung als Ausweg und lebenserhaltende Option. Das Bild der Trommel evoziert Sufi-Derwische, die sich in Trance tanzen und auf diese Art ihrem Gott ganz unmittelbar nahekommen. Zusammengenommen entsteht so ein eindrückliches Bild von seinen Foltererfahrungen; im Gegensatz zu seinen polemischen Gedichten, in denen er die arabischen Herrscher verhöhnt und provoziert, um aufzurütteln und zu schockieren, transzendiert an-Nawwāb in melancholisch-leisem Ton seine Erinnerungen zu einer mahnenden Anklage gegen die Verletzung von Menschlichkeit. Über Jahrzehnte hinweg blieb an-Nawwāb ein eherner Verfechter humanistischer Überzeugungen: Im Jahr 2000 verfasste er ein flammendes Gedicht anlässlich des Todes des palästinensischen Jungen Muhammad al-Durrah, der zu Beginn der zweiten Intifada im Kugelhagel zwischen israelischen und palästinensischen Sicherheitskräften starb. Dieser Tod rief wütende Reaktionen in der arabischen Welt hervor, auch wenn nicht festzustellen war, durch wessen Schüsse der Junge tatsächlich starb. Du hast / den Hagel der Verbrecher / auf dem Rücken deines Vaters / gefürchtet / Doch du hast dich eng an seine Entschlossenheit gepresst / wegen der durchdringenden Kugeln / Trotz deiner Schreie / Wie süß war deine Stimme / als würden alle Vögel im Gesang / abgeschlachtet […] / Das Blut der arabischen Heimat bedeckt dein Hemd / Jede Kugel zielte auf die Heimat! / Und noch immer verstehen die Idioten nicht / dass die Kugeln der Weg der 33 M. an-Nawwāb, al-Aʿmāl al-kāmila (Gesammelte Werke, Fn. 9), S. 105– 187; hier: S. 183, S. 186, S. 187.
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Befreiung sind! / Muhammad! / Du hast den Gipfel der Hurerei / all unserer Schanden bloßgelegt / Schmähliche Reden haben dein Blut verkauft! / Nein! / Du bist das, was unmöglich zu verkaufen ist / Du bist die Erde, die unmöglich zu verkaufen ist / Du bist der Himmel / und du bist der Erzähler34
Muhammad ad-Durrah steht hier als Beispiel für alle Opfer des israelisch-palästinensischen Konfliktes, der immer noch nicht gelöst ist. Wieder wird der Topos des verratenen Volkes der Palästinenser heraufbeschworen und das Kind als Symbol für Würde, die unveräußerlich ist. Durch seine literarische Verarbeitung des Vorfalls wehrt sich an-Nawwāb gegen das kollektive Vergessen.35 Wie in zahlreichen früheren Gedichten führt er auch in seinem Alterswerk Anklage gegen die Herrschenden und ihren moralischen Bankrott, gegen Hurerei sowohl im wörtlichen als auch metaphorischen Sinn, gegen Verrat und Hintergehung als politische Mittel: Wenn das eigene Volk verraten und dem Tod überantwortet wird, bleibt nur der Aufstand. Wie in seinen früheren Gedichten verwebt sich auch hier an-Nawwābs persönliche und politische Überzeugung, dass Erlösung (ḫalāṣ) und Befreiung nur durch Revolution gelingen kann, dass das Volk sich wehren und einen Krieg auf zwei Fronten führen muss, sowohl intern gegen die eigenen korrupten Herrscher als auch gegen externe Feinde. Dass das Kind jedoch als Symbol der Reinheit und Unschuld zum Erzähler erhoben wird, leitet einen Perspektivwechsel ein: Seine Narration wird zum Richtmaß, an dem alles gemessen wird. So liegt die Zukunft bei der jungen Generation, die aufgefordert wird, ihre Wahrheit in die Geschichte und das kollektive Gedächtnis einzuschreiben.
Muḥammad al-Māġūṭ Während in der Dichtung von Muẓaffar an-Nawwāb oftmals Wut und Resignation über die herrschenden gesellschaftspolitischen Verhältnisse im Vordergrund stehen und den Ton der Verse vorgeben, bestimmen Trauer und Schmerz die emotionale Grundstruktur der Lyrik von Muḥammad al-Māġūṭ. So liest sich al-Māġūṭs Werk als Weigerung, die 34 M. an-Nawwāb, aus: »Wa-inta l-muḥāl allaḏī lā yubāʿ« (Du bist das, was unmöglich zu verkaufen ist), in: al-Aʿmāl al-kāmila (Gesammelte Werke, Fn. 9), S. 538 f. 35 Auch Mahmoud Darwish schrieb ein Gedicht über Durrah, und in Kuwait wurde eine dreibändige Gedichtsammlung Dīwān aš-šahīd Muḥammad al-Durrah (Gedichtsammlung für den Märtyrer Muhammad al-Durrah) von der Babtin-Stiftung herausgegeben; vollständiger Text einsehbar unter: https://ia601304.us.archive.org/16/items/lis03643/01.pdf, abgerufen am: 15.10.2016, vgl. auch A. Yaḥyā, Muẓaffar an-Nawwāb: saǧīn al-ġurba wa-l-iġtirāb: dirāsa naqdīya wa-ḥiwār (Fn. 28), S. 158.
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vorgefundene Lebenswelt zu akzeptieren und sich dem Diktat von Polizeistaat und einer repressiven Gesellschaft zu fügen. Begrifflichkeiten wie »Stiefel« (ḥiḏāʿ), »Peitsche« (ṣauṭ) oder »Hinrichtungsstätten« (amākin al-iʿdām) bilden bereits in seinem frühen Schaffen das lexikalische Inventar zur Enthüllung der freiheitsfeindlichen, unterdrückerischen Seiten der autoritären arabischen Regime. Dabei richtet sich der Blick nicht nur auf die desaströsen Lebensbedingungen in den arabischen Ländern, sondern auch auf die eigene Versehrtheit und Angst. In einer besonders in seinen späteren Werken oft ins Alltagssprachliche, Lapidare und Obszöne abgleitenden Redeweise, die dennoch ihren poetischen Charakter bewahrt, offenbaren die Dramatis Personae der Prosagedichte al-Māġūṭs ihre Verletzungen. Die bitteren, schockierenden Erfahrungen in politischer Haft prägten Weltanschauung und Schaffen von Muḥammad alMāġūṭ (1934–2006) ein Leben lang, wie der Pionier der arabischen Prosadichtung36 mehrfach in Interviews und Gesprächen mit Journalisten und befreundeten Dichtern betonte. Zu seinem poetischen Programm aber gehört auch, den Schmerz, die Angst und die Rebellion satirisch zu unterlaufen, nicht selten mithilfe kritischer Selbstironie. Im Jahr 1934 in Salamiyya (bei Hama) in eine Bauernfamilie geboren, wuchs al-Māġūṭ in ärmlichen Verhältnissen auf, ohne einen höheren Schulabschluss zu erreichen und sich wie andere moderne arabische Dichter Fremdsprachen wie Französisch oder Englisch aneignen zu können. Anfang der 1950er Jahre begann er, Gedichte in syrischen Literaturzeitschriften wie ad-Dunyā (Die Welt), an-Nāqid (Der Kritiker), al-Ğundī (Der Soldat) sowie al-Ādāb (Literaturen) in Beirut zu veröffentlichten. Eine wichtige Unterstützung in dieser jugendlichen Phase kam von seinem ersten Lehrer Sulaimān ʿAwād, der ihn mit modernen französischen Dichtern wie Rimbaud in arabischer Übersetzung bekannt machte und zum Schreiben ermutigte. Al-Māġūṭ war noch in seiner Geburtsstadt Salamiyya (ohne politisch davon überzeugt zu sein, wie er in Interviews betont37) in die Syrische Sozialnationalistische Partei (SSNP) bzw. Partie 36 Das Gedicht Lāğiʾa bayna r-rimāl (Eine Geflüchtete zwischen Sanddünen), 1951 während seines Militärdienstes in der Zeitschrift al-Ğundī veröffentlicht, gilt als sein erstes Gedicht in Prosa. Vgl. Ğ. Dāyih, Muḥammad alMāġūṭ wa-ṣūbīyā al-ḥizb al-qaumī (Muhammad al-Maghut und der Heizofen der Partie populaire), Beirut: Fağr al-nahḍa 2009, S. 193–196 . 37 In für al-Māġūṭ typischer Manier erklärt er seinen Beitritt bei der Syrischen Sozialnationalistischen Partei damit, dass deren Parteisitz im Ort näher am Haus seiner Familie lag und zudem über einen Heizofen verfügte, weshalb er sich gegen den Beitritt in die Baath-Partei entschied, deren Gebäude weiter entfernt lag und keine Heizung hatte. Vgl. M. al-Māġūṭ, Iġtiṣāb kāna wa-aḫawātuhā (Es war Vergewaltigung und ihre Schwestern), Interviews Muḥammad Ṣuwailiḥ (Fn. 5), S. 39. Allerdings hat al-Māġūṭ bis in die frühen 1960er Jahre politische Kolumnen für die SSNP verfasst, die belegen,
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Populaire Syrienne (PPS) von Anṭūn Saʿāda (1904–1949) eingetreten, was schließlich zu seiner ersten Verhaftung führte, nachdem ein Attentat auf den baathistischen Offizier ʿAdnān al-Mālikī im Jahr 1955 verübt worden war. Diese erste Haft im Jahr 1955 dauerte etwa sechs Monate.38 Nach seiner Entlassung aus dieser ersten Haft siedelte al-Māġūṭ nach Beirut um, um sich der literarischen Avantgarde um die Zeitschrift Šiʿr (Dichtung) anzuschließen. Dort lernte er auch seine spätere Ehefrau, die Literaturkritikerin und Dichterin Sanīya Ṣāliḥ, kennen.39 Um das Jahr 1960 kehrte er nach Damaskus zurück, nur um 1961 ein weiteres Mal für drei Monate inhaftiert zu werden.40 Er schrieb literarische und gesellschaftskritische Essays und Kolumnen für zahlreiche, vor allem syrische und libanesische Zeitungen und Magazine wie Tišrīn, al-Wasaṭ, al-Mustaqbal sowie al-Ḫalīğ aṯ-ṯaqāfī (VAE). Außerdem war er einige Jahre Herausgeber der Zeitschrift aš-Šurṭa. Während sein dramatisches, filmisches und essayistisches Werk von karnevaleskem Sprachwitz, Ironie und possenhafter Parodie geprägt ist, ist der Tonfall der Gedichte stärker von Traurigkeit, bitterem Humor und einer besonderen Form der Resignation bestimmt, so dass man je nach Genre von unterschiedlichen Schreibmodi und Humorformen sprechen kann.41 Im Folgenden werden aus allen drei Schaffensphasen ausgewählte Gedichte analysiert, um die wesentlichen Charakteristika in Inhalt und Form sowie grundlegende Entwicklungen und Kontinuitäten seines poetischen Programms exemplarisch nachzuzeichnen. In dem Gedicht Al-qatl42 (Das Morden) aus seinem ersten Band Ḥuzn fī ḍau‘ al-qamar (Traurigkeit im Licht des Mondes), das al-Māġūṭ während
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dass er die Ideologie der Partei bis zu jener Phase vertreten hat. Vgl. Ğ. Dāyih, Muḥammad al-Māġūṭ wa-ṣūbīyā al-ḥizb al-qaumī (Fn. 36). In einem Interview gibt al-Māġūṭ an, dass er neun Monate inhaftiert war. Vgl. M. al-Māġūṭ, Iġtiṣāb kāna wa-aḫawātuhā (Es war Vergewaltigung und ihre Schwestern), Interviews Muḥammad Ṣuwailiḥ (Fn. 5), S. 42. Der Titel ist eine ironische Verballhornung grammatikalischer Sammelbezeichnung wie z.B. »Inna und ihre Schwestern«. Sanīya Ṣāliḥ ist zudem die Schwester der Frau des prominenten syrischen Lyrikers Adonis, Ḫālida Saʿīd. Siehe M. al-Māġūṭ, Iġtiṣāb kāna wa-aḫawātuhā (Es war Vergewaltigung und ihre Schwestern), Interviews Muḥammad Ṣuwailiḥ (Fn. 5), S. 40–42. In einem Dokumentarfilm von Al Jazeera spricht al-Māġūṭ davon, 20 Mal verhaftet worden zu sein. Nur noch auf YouTube abrufbar unter https://www. youtube.com/watch?v=zpmz6EooCIM, abgerufen am: 11.10.2016. Zu den Theaterstücken, insbesondere in Zusammenarbeit mit dem syrischen Schauspieler und Dramaturg Duraid Laḥḥām, siehe M. Hamdan, Poetics, Politics, Protest in Arab Theatre (Fn. 6), S. 79 ff. Ich verwende die etwas kürzere Fassung des Gedichts, die beim Verlagshaus Dār al-Madā unter dem Titel Die dichterischen Werke (al-aʿmāl aš-šiʿrīya)
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seiner ersten Haftzeit 1955 im Gefängnis von al-Mezze (Damaskus) auf Zigarettenpapier verfasste und wohl im anschließenden Beiruter Exil vollendete,43 malt der Dichter eine Schreckenswelt aus, die trotz apokalyptisch-surrealer Bildersprache direkt auf die bereits vonstattengehende Militarisierung von Gesellschaft und Staat verweist. Dieses Langgedicht kann als eines der frühesten poetischen Zeugnisse der modernen syrischen Gefängnisliteratur44 gelten: Setz’ deinen steinernen Fuß auf mein Herz, Herr / das Verbrechen schlägt an die Tür des Käfigs / und die Angst zwitschert wie der Große Brachvogel / Da ist er, der Wagen des Tyrannen, den die Winde vor sich her treiben / Da sind wir, schreiten voran, / wie das Schwert, das den Schädel zerteilt / [….] Sie schufteten die ganze Nacht / die Dirnen und die mit den spitzen Schuhen / besprenkelten ihr Haar mit Parfum / warteten auf den Zug, der aus dem Krieg heimkehrt / ein riesiger langer Zug / wie ein Zug von Schwarzen / der ächzt in den Eingeweiden des sich auftürmenden Eises / auf den Leichen der Kaiser und Musikanten / trägt in seinem Gefolge einen ganzen Jahrmarkt / aus Schlamm und schmutzigen Kleidern / jener Schlamm, der die Gefängniszellen überschwemmt / erstmals 1998 erschienen ist. Die erste, davon teilweise abweichende Fassung erschien in der Zeitschrift Šiʿr, sowie anschließend im ersten Gedichtband Ḥuzn fī ḍau‘ al-qamar (Traurigkeit im Mondlicht) aus dem Jahr 1959. Zur Textgeschichte der Werke von al-Māġūṭ, vgl. I. Auer, Muḥammad alMāġūṭ: Dichter, Dramatiker, Essayist. Übersetzung und Analyse des ersten Diwans »Trauer im Mondlicht«, Unveröffentlichte Magisterarbeit (Universität Freiburg i. Br) 1987, S. 26. 43 Vgl. M. al-Māġūṭ, Iġtiṣāb kāna wa-aḫawātuhā (Es war Vergewaltigung und ihre Schwestern), Interviews Muḥammad Ṣuwailiḥ (Fn. 5), S. 39 f. Nach Angaben des Dichters veröffentlichte er die ursprüngliche, im Gefängnis verfasste Version, die für ihn zunächst nur Erinnerungsfetzen darstellten, da erst Adonis ihm die Augen geöffnet habe, dass es sich bei diesem Gefängnistext um Dichtung handle. Vgl. M. Ṣuwailiḥ (Hg.), Muḥammad al-Māġūṭ: Sanūnū l-ḍağr, Damaskus: Iṣdārāt al-Amāna 2008, S. 55. Dies ist allerdings nicht ganz überzeugend, da das Gedicht im ersten Band mit dem 2.3.1957 datiert ist und sich die Datierung des Gedichts üblicherweise auf das Datum der Vollendung des Texts bezieht. 44 Eines der frühesten, bis heute in Syrien bekannten Gedichte der syrischen Gefängnisliteratur des 20. Jh. (da später als Volkslied vertont) ist das von Nağīb ar-Rayyis (1898–1952) verfasste Yā ẓalām as-siğn (Oh finsteres Gefängnis), das er 1922 im Gefängnis auf der Insel Arwad (bei Tartus) niederschrieb. Noch in der klassischen Versform verfasst, kann es auch inhaltlich noch nicht zur modernen arabischen Dichtung gezählt werden. Die letzten beiden Verse lauten: »Nie hab ich schwer gesündigt / oder ein politisches System verraten / denn in meinem Herzen ist mein Heimatland fest verwurzelt.« Ich danke Abdo Abboud für diesen Hinweis.
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und die düsteren Moscheen im Norden / und der Vogel, der sang, wird in den Küchen gestopft und die Wirtin, die zu überschwänglich lacht, / in ihr mehrt sich der Wurm / […] / und in den Ebenen,45 in denen Weizen und Würmer sprießen / wo die Leichen auf Müllberge geworfen werden / sehnten sich die Räder der Zugwaggons / nach noch mehr Osten / jener greise Bräutigam, der hechelt und keucht / und mit seinem Schwanz wie ein Krokodil auf das Antlitz Asiens schlägt / Ihr [aber] hatten sie nur ein blutrotes Taschentuch gelassen / in den Folterkammern / und einen dicken Fächer aus den Häuten sibirischen Fleisches / gar viele Dichter / hungern nach Tinte in Sibirien. Das Gewehr ist geschwind wie der Lidschlag / aber die wilde Lunte ist ruhig im Angesicht der grünen Augen / da sind wir, treiben vorwärts wie gealterte Mücken / brennen an Mänteln und Füßen / wo der Schornstein sich unter der Mittagshitze den Blicken verbirgt […] Während ich schlafe, liegen auf meinem Kissen zwei Rosen aus Tinte / Der Herbst rollt donnernd heran wie eine goldene Fähre / und die gräulichen Stunden brennen lodernd zwischen den Knochen / meine Hand bleibt dem Blute unverständlich / und eine dichte Schicht aus schrecklichem Klagen / knurrt zwischen den wie Sand aneinanderklebenden Leibern […]
Am Ende dieses über 300 Zeilen langen Gedichtes heißt es: Wach auf, leise Stadt / Deine jungen Männer sind krank / Deine Frauen erleiden Frühgeburten auf den Bordsteinen / Die Brust sticht hervor wie das Messer / also gib mir deinen Mund, du mit allen Reizen aufwartende behelmte Frau! […] Die Freiheit liegt durchlöchert auf dem Rücken / und die Zügel sind vollgesaugt mit Säure / Setz deinen steinernen Fuß auf mein Herz, Herr / Der Wind pfeift über das Eis der Militärlager / da ist ein ausgemergelter Mann, hebt seine Jacke / trinkt seinen Kaffee / und weint wie ein Weib, das ihr Kleines verlor / Der fremde Wind fegt / die Triumphbögen hinweg und auch die Tücher der Alten und der Tänzerinnen / denn es sind Tote / eine Barrikade aus Schlaflosigkeit und verlassenen Schößen / wächst vor den Trümmern und rot gefärbten Kleidern / die Wölfe der Jahrhunderte kehren ohne Insignien noch Orden zurück / sie brechen sich ihren Weg im Innern des Bluts / verenden auf dem prächtigen heißen Sand / nichts weist darauf hin, dass die Erde rot sich färbte / der Vögel Schnäbel zerbrechen am Marmor des Palastes / Lebt wohl, lebt wohl, kleine Brüder / Ich breche nun auf, aber mein Herz kehrt zurück mit der Rauchwolke des Zugs.46 45 In einer älteren Fassung heißt es: »In den Ebenen der Ukraine«. Vgl. I. Auer, Muḥammad al-Māġūṭ: Dichter, Dramatiker, Essayist. Übersetzung und Analyse des ersten Diwans »Trauer im Mondlicht« (Fn. 42), S. 75. 46 M. al-Māġūṭ, al-Aʿmāl aš-šiʿrīya (Das lyrische Werk), Damaskus: Dār alMadā 2006, S. 58–72.
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Im wiederkehrenden Wechsel der Sprecherperspektive oszilliert das Gedicht zwischen einem ›Ich‹, das sich in seinem Schmerz, seiner Verletzung und Furcht zu erkennen gibt, und einem ›Wir‹, das von dunklen, tyrannischen Mächten bedroht wird. Adressat der Klage über die verheerte Welt des Ichs ist ein ›Du‹ mit Namen Leila,47 Akronym der Geliebten oder Schwester des Dichters, das in zahlreichen Gedichten als Adressat des Ichs auftaucht: »So sprechen die groben Lippen, Leila / Du kennst sie nicht / und riechst nicht ihren niedrigen, durchdringenden Gestank / Ich werde dir von ihnen erzählen, schlicht und ehrlich und voller Genugtuung.«48 Das bestimmende Element in der poetischen Vision des Dichters ist das Entsetzen vor einer bereits geschehenden, aber in surrealen Bildern verfremdeten und deshalb nur schwer ausmachbaren Heimsuchung, die in der Rede des erzählenden Ichs in weitere, noch gewaltigere Katastrophen zu münden droht.49 Die gewaltsamen, tyrannischen Kräfte (»die Wagen des Tyrannen«, »das Gewehr«, »die Heuschrecken«, »die grobschlächtigen Lippen«) bedrohen oder zerstören bereits die Schönheit und Menschlichkeit des Lebens: Die Vögel sind von Angst ergriffen, werden getötet oder »zerbrechen« ihre Schnäbel »am Marmor des Palastes«. Doch ist nicht nur von Tyrannei und Verbrechen die Rede, sondern auch von Krieg, der »Menschenmassen« von der Front zurück in die Heimat transportiert, um sie, so wie zu Ende des Gedichts, samt dem Herzen des Sprecher-Ichs »mit der Rauchwolke des Zugs« wieder zurück an die Front zu bringen. Aus dem Bekenntnis, dass »in meinem 47 Gemäß Irene Auers Interpretation ist Leila Symbol der Heimat. Vgl. I. Auer, Muḥammad al-Māġūṭ: Dichter, Dramatiker, Essayist. Übersetzung und Analyse des ersten Diwans »Trauer im Mondlicht« (Fn. 42), S. 110. Viele Passagen, in denen der Name Erwähnung findet, weisen in ihrer Konkretheit jedoch eher darauf hin, dass es sich bei Leila um eine konkrete Frauenfigur, die Geliebte, handelt, an die sich der Dichter unentwegt wendet, um aus seiner Welt zu berichten und so die Isolation des Gefängnisses oder des Fremdseins in Beirut zu durchbrechen. In manchen dieser frühen Gedichte könnte auch die Schwester des Dichters angesprochen sein. Seine Schwester Leila verstarb, ebenso wie sein Vater und seine Ehefrau, Mitte der 1980er Jahre, was gemäß seinen Aussagen in Interviews die schwerste Zeit seines Lebens war. 48 M. al-Māġūṭ, al-Aʿmāl aš-šiʿrīya (Das lyrische Werk) (Fn. 46), S. 61. 49 Die Furcht vor kommenden Katastrophen in einer schutzlosen Welt brachte der Dichter immer wieder zum Ausdruck, sie bildet ein Grundmotiv in seinem lyrischen Werk. In einem Interview werden Damaskus und Wein als Refugien vor den sich anbahnenden Gefahren genannt: »Wine and Damascus were always my refuge and my bare hut in the nudity of this world and its approaching cyclones […].« J. Donuhue, L. Tramontini (Hg.), Crosshatching in global culture: a dictionary of modern Arab authors: an updated English version of R. B. Campbell's »Contemporary Arab writers«, Würzburg: Ergon 2004, S. 702.
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Inneren die Wüste«50 herrscht, Sinnbild der physischen und seelischen Verwüstung und Zerstörung des Ichs, erwächst die Vision des Gedichtes, die dem Osten/Orient eine düstere Zukunft prophezeit, dessen Offenbarung kurz bevorsteht: »Der Weizen liegt tot zwischen den Bergen/ und in den oft gebrauchten Särgen / in den Bordellen und Hinrichtungsstätten/ bereiten sie eine Ladung Klauen, den Orient zu beleuchten […].«51 Al-Māġūṭ sagte über seine erste Haftzeit, während der das Gedicht entstand und das er bei der Entlassung mit sich in die Freiheit schmuggeln konnte: »Im Gefängnis brachen alle schönen Dinge vor meinen Augen zusammen, alle schönen Dinge waren dahin, nichts außer Terror und Schrecken blieb. Ich war ganz überrumpelt von der Brutalität und dem Terror, den eisernen Zwängen, in die sich meine schwache Persönlichkeit zu fügen hatte. […] Statt den Himmel zu sehen, sah ich Stiefel, die Militärstiefel von ʿAbd al-Ḥamīd Sarrāğ.52 Das hat mein ganzes Leben geprägt.«53 Angesichts dieser Bedeutung, die der damals Einundzwanzigjährige der Erfahrung politischer Gewalt und diktatorischer Unterdrückung beimisst, lassen sich Zeilen wie die folgenden, die in surreale Bilderabfolgen eingebettet sind, als direkte Aussagen über konkret durchlebte Folter und Gefängnis verstehen: »Wir verloren das Gefühl der Ehre / angesichts der nackten Füße und zerfetzten Kleider/ angesichts der Peitschen, die sich vom Fleisch eines Kindes im Rosenalter nährten«;54 oder: »Heftig fuhr der Schmerz in meine Arme / gar heftig, denn wir sind Sklaven, Leila / in jenem Moment kostete ich vom menschlichen Geschrei in seiner schlimmsten Epoche / Hunderte Peitschen und dürre Fußsohlen / überströmten meinen ächzenden Körper / meine Arme gestreckt wie ein Strick […] auf Brust und Herz trampelte die Gazelle des Terrors.«55 An anderer Stelle des Gedichts heißt es schließlich: »Mit einem Schlag begann ich die Welt zu hassen.«56 Die physische und psychische Verletzung und die Ohnmacht, dem Folterer und den harten Lebensbedingungen in der Haft ausgeliefert zu sein (unter anderem den »Läusen«, »Mauern«, »dem Gestank der Straße«, der den Militärstiefeln anhaftet), zwingt den Dichter dazu, seine poetischen Beschreibungen auf den eigenen Körper und dessen Versehrtheit zu richten, in der er die Versehrtheit seiner Welt widergespiegelt sieht: »Ich kaue mein 50 M. al-Māġūṭ, al-Aʿmāl aš-šiʿrīya (Das lyrische Werk) (Fn. 46), S. 71. 51 Ebd., S. 59. 52 ʿAbd al-Ḥamīd Sarrāğ (1925–2003) war ein syrischer Offizier und Politiker, der 1955 zum Geheimdienstchef ernannt wurde und in diesem Amt verantwortlich für die Verfolgung der Anhänger der SSNP war. 53 M. al-Māġūṭ, Iġtiṣāb kāna wa-aḫawātuhā (Es war Vergewaltigung und ihre Schwestern), Interviews Muḥammad Ṣuwailiḥ (Fn. 5), S. 40. 54 M. al-Māġūṭ, al-Aʿmāl aš-šiʿrīya (Das lyrische Werk) (Fn. 46), S. 69. 55 Ebd. 56 Ebd., S. 65.
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Blut / und suche nach tiefer Rache für meine Erinnerung.«57 Die erwähnten geschundenen Körperteile (»Knochen«, »Schädel«, »Arme«, »Füße«, »Lippen«, »Zunge«) scheinen zu bloßen Dingen degradiert, anonymen Kräften der Zerstörung, deren Verbildlichung in der Metapher der Würmer58 kulminiert, ohnmächtig ausgesetzt. Die seelische und körperliche Zerstörung findet dabei nicht nur innerhalb der Gefängnismauern statt, sondern sinnbildlich auch außerhalb, im Land des Tyrannen, das von einem aktuellen Krieg und der schweren Erbschaft des »Orients« (šarq) belastet ist, die mit jeder Generation erneut als Katastrophe hervorbricht.59 In dem 1958 erschienenen Gedicht Ḥarīq al-kalimāt (Wortverbrennung) geht es nicht um die Erfahrung von Gefängnis und Folter, sondern um ein anderes gewaltsames Ereignis politischer Natur: die im Jahr 1958 aufflammenden bürgerkriegsähnlichen Konflikte im Libanon, wo sich der Dichter aufgrund politischer Verfolgung ab etwa 1956 aufhielt. In Beirut wird al-Māġūṭ von Adonis, mit dem er im Gefängnis von Mezze zusammen eingesessen hatte, in den intellektuellen Kreis um die Zeitschrift Šiʿr60 (Dichtung) eingeführt, die den Kult des Dichter-Propheten und den modernistischen Mythos von Tod und Wiedergeburt zelebrierte, der mit der Kraft der poetischen Sprache eine neue, bessere arabische Kultur begründen wollte. Mit den Mitteln der Selbstironie und des Spotts (hiğaʾ) sowie der Absage an die in jener Zeit herrschende kulturrevolutionäre Euphorie destruiert al-Māġūṭ das Bild des Dichter-Propheten, das zur gleichen Zeit von anderen Tammūzī-Poeten (aš-šuʿarāʾ at-tammūzīyūn) um die Šiʿr-Gruppe konstruiert wird.61 Das Ich des 57 Ebd., S. 70. 58 bes. ebd., S. 59. 59 Der »Orient« taucht vor allem in den frühen Gedichten al-Māġūṭs auf und scheint semantisch mit orientalistischen Assoziationen wie Despotie, Sklaverei und brutaler Gewalt aufgeladen, die ebenfalls in der arabisch-islamischen Tradition der Gelehrten und Theologen im Gegensatz von Ordnung und Chaos/Konflikten (fitna) thematisiert werden. Eine eingehendere, kritische Untersuchung der bei al-Māġūṭ stark symbolisch besetzten Raummetapher des Orients steht meiner Kenntnis nach noch aus. 60 Der literarische Kreis um Mağallat Šiʿr (die Zeitschrift ›Dichtung‹) formierte sich Mitte der 1950er Jahre um die beiden Gründer und Herausgeber Yūsuf al-Ḫāl und Adonis (ʿAlī Esber Saʿīd). Ihr modernistisches Konzept umfasste die Neuschreibung von antiken Mythen und die Idee der kulturellen Wiedergeburt der arabischen Nation durch eine radikale Erneuerung der Sprache und des Denkens. Vgl. hierzu D. Badini, La revue Shiʿr, poésie et la modernité poétique arabe: Beyrouth (1957–1970), Paris: Sindbad 2006, sowie H. Otared, The prose poem and the journal Shiʿr, Reading: Ithaca Press 2008. 61 Diese Dichter bezogen sich in den 1950er und frühen 1960er Jahren auf verschiedene Archetypen vorderasiatischer und griechischer Mythen wie Adonis/Tammuz, Baal, Phönix, Christus, Gilgamesch und Prometheus, um die
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Gedichts von al-Māġūṭ ist kein Prophet, sondern ein von sexuellen Trieben gesteuerter Anti-Held, der der Mythisierung von arabischem Nationalismus und den modernistischen Versprechen der arabischen Dichteravantgarde eine provokante Absage erteilt. So spielt al-Māġūṭ in seinen frühen Gedichten mit der Figur des poète maudit, um die Dichtung samt Dichter zu entzaubern. Er versieht sein lyrisches Ich mit niederträchtigen Trieben, die die herrschende Moral herausfordern und provokant die Hässlichkeit und Niedrigkeit nicht nur der Welt, sondern auch des eigenen Ichs provokant und schockhaft zur Schau stellen: Du langweilst mich, Dichtung, unsterblicher Kadaver / Der Libanon brennt / und hüpft umher wie ein verwundetes Pferd am Eingang zur Wüste / Ich bin auf der Suche nach einem dicken Mädchen / an dem ich mich reiben kann in irgendeiner Straßenbahn / nach einem echten Beduinen, den ich an irgendeinem Ort niederschlagen kann / Mein Land stürzt ein / zittert nackt wie eine Löwin / während ich nach einer verlassenen Ecke suche und einem verzweifelten Dorfmädchen, um es ins Unglück zu stürzen […]62
Während seine Zeitgenossen Dichtung als heilige Kunstform feiern und sich als Erlöser und Erneuerer der als rückständig empfundenen ›arabischen Nation‹ inszenieren, entzaubert der junge syrische Rebell sowohl Arabertum (ʿurūba) und das klassisch arabische Kulturerbe (turāṯ) als auch Heldenkult und Selbstmystifizierung des Dichters als einen moralisch und geistig über dem Volk stehenden Retter. In der Verschränkung von klassisch arabischem Vokabular (unṯā aš-šibl: Löwin) und von Diktatoren missbrauchten Eigenschaftswörtern wie »al-ḫālida« (ewig, unsterblich) mit »Kadaver« (ğīfa) oder »langweilen« (suʾimtuka) werden Heiligkeit und Ruhm des arabischen Wesens mit niedrigen, obszönen Lüsten und Gedanken entweiht.63 Durch diese schöpferische ›Kontaminierung‹ und ›Verletzung‹64 der Dichtungs- mit Gossensprache wird sowohl der offizielle politische als auch der künstlerische Diskurs der Avantgarde parodiert. John Asfour schreibt in einem Aufsatz, der die Idee der notwendigen Zerstörung und darauffolgenden Wiedergeburt der arabischen Kultur zu propagieren. Vgl. S. K. Jayyusi, »Foreword« in: S. K. Jayyusi (Hg.), The Fan of Swords: Poems, Translated by May Jayyusi and Naomi Shihab Nye, New York: Three Continents Press 1991, S. xiii. 62 M. al-Māġūṭ, al-Aʿmāl aš-šiʿrīya (Das lyrische Werk) (Fn. 46), S. 50. 63 Vgl. Asfour, John: »Adonis and Muḥammad al-Māghūt: Two Voices in a Burning Land«, in Journal of Arabic Literature, Vol. 20, Nr. 1, März 1989, S. 20–30, hier S. 21. 64 »The works of Lahham and al-Maghout also represent the violation of conventional discourse. Such violation, […], is not accepted as a style in the discourse of the official media.« M. Hamdan, Poetics, Politics, Protest in Arab Theatre (Fn. 6), S. 107.
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poetischen Programme von Adonis und Māġūṭ vergleichend bearbeitet: »Unusual in modern Arabic poetry, this roguish speaker compromises the figure of the poet – who, with relatively few exceptions since Abū Nuwās and al-Hutayʾa, has retained a sober view of his artistic mission, little disturbed by self-directed irony.«65 Indem der Dichter immer wieder die Trennung zwischen Dichtung und Leben aufhebt, setzt er sich willentlich dem Verdacht aus, lyrisches Ich und Autor-Ich seien identisch – und steigert so das provokative Potential seiner Lyrik. Hierzu gehört auch, literarische Konventionen zurückzuweisen: Ich hasse Klassifikationen, Gesetze und Zuschreibungen und ich versuche, nicht nur im Gedicht, sondern auch außerhalb der Lyrik ein Dichter zu sein, weil Dichtung eine bestimmte Haltung gegenüber dem Leben ist, ein Gefühl, das in das gesamte Verhalten einfließt und das ich stets zu verkörpern versuchte. […] Ich schrieb als verwundeter Mensch und nicht als Anhänger einer [literarischen] Strömung oder Schule.66
Dennoch scheint der Anspruch des Authentischen immer dann von ihm selbst gebrochen zu werden, wenn die Ironie, wie Asfour beobachtet, gegen das lyrische Ich selbst gerichtet ist. Das Aufzeigen der eigenen inhaltlichen Widersprüche und menschlichen Schwächen ist aber aus Sicht des Dichters in die Persönlichkeit eingeschrieben, sodass die Widersprüche als wesentliches Element des dichterischen Selbstverständnisses zu lesen sind. Mit diesem Selbstverständnis vertritt al-Māġūṭ bis heute eine arabische Moderne, die im Grunde erst in den 1980er Jahren langsam Fuß fasste.67 Im Gegensatz zur dichterischen Avantgarde seiner Zeit sah er sich nie in der Rolle des erhabenen Dichter-Propheten oder geistigen Führers. Vielmehr entlarvte er den poetisch-politischen Diskurs über die ruhmreiche Zukunft der arabischen Nation und dessen Versprechen als gefährliche Ideologie, die einem von Illusionen verblendeten, falschen Bewusstsein entstamme. Während die Einen im Begriff waren, alte Mythen in Anlehnung an europäische Dichter und Denker lediglich mit einem neuen Mythos zu ersetzen und sich als radikale Modernisten und kulturelle Erneuerer feierten, kann al-Māġūṭ aus heutiger Perspektive als einer der wenigen Intellektuellen seiner Zeit betrachtet werden, die sich 65 J. Asfour, »Adonis and Muḥammad al-Māghūt: Two Voices in a Burning Land« (Fn. 63), S. 21. 66 M. Ṣuwailiḥ (Hg.), Muḥammad al-Māġūṭ: Sanūnū l-ḍağr (Fn. 43), S. 63. 67 Salma Khadra Jayyusi hebt in ihrem Vorwort zu einer englischen Anthologie mit frühen Gedichten von al-Māġūṭ ebenfalls diesen Aspekt hervor, wenn sie schreibt, »[h]e simply wrote a modernist poetry which transcended his times.« S. K. Jayyusi, »Foreword« in: S. K. Jayyusi (Hg.), The Fan of Swords: Poems (Fn. 61), S. xi.
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diesem Trend mit einer alternativen, schonungslos selbstkritischen und entzaubernden Haltung entgegenstellten. Die von ihm bereits damals vertretene literarische Moderne destruiert die großen Erzählungen ihrer Zeit, legt ihre eigene Verletzlichkeit und Schwäche offen und lenkt den Blick auf das Groteske, Zerstörerische und Unmenschliche, das die arabischen Lebenswelten dann in den auf die 1950er Jahre folgenden Jahrzehnten bis heute in zunehmendem Maße bestimmen sollte. Retrospektiv bewertet al-Māġūṭ seine eigene Generation und ihr Schaffen als »[e] ine Generation, die vom politischen Terror genährt wurde.«68 Während manch engagierter Dichter – besonders unter Folter – zu einem Akteur oder zumindest Wortgeber politischer Gewalt wurde und die Ideologisierung der Gesellschaft, sei es in Ägypten, in Syrien oder anderswo, weiter vorantrieb, zog sich Muḥammad al-Māġūṭ in die Dichtung zurück. Dieser Rückzug in die eigenen persönlichen Gründe und Abgründe hatte nicht nur zum Zweck, »die schmerzhaften Realitäten in der arabischen Welt zu entlarven anstatt sie zu ästhetisieren oder zu idealisieren«,69 sondern ist vielmehr als Überlebensstrategie zu sehen, wie Sanīya Ṣālīh in ihrem Vorwort zum lyrischen Werk al-Māġūṭs notiert: Der Höhepunkt dieser Tragödie [von al-Māġūṭ] liegt in seinem Beharren auf Veränderung der Realität, allein und mit nur einer einzigen Waffe bewaffnet: seiner Dichtung. Und so sehr doch das Wort in der Vorstellung ein Weg zur Freiheit sein würde, offenbart sich uns, dass das Wort doch nur den Weg ins Gefängnis bedeutete.70
Al-Māġūṭ, darin liegt bis heute seine Modernität und Aktualität, will in einer Zeit entzaubern, de-mystifizieren und ent-heroisieren, in der mit Ausnahme weniger arabischer Dichter die Mehrheit der modernistischen Dichter die alten Narrative und Mythen lediglich mit neuen Mythen und Erzählungen ersetzen. Fast zeitgleich wie der palästinensische Exildichter Taufīq Ṣāyiġ (1923–1971) – neben al-Māġūṭ, Unsī l-Ḥāğğ (1937–2016) und Adonis wichtigster Pionier der arabischen Prosadichtung – ist für al-Māġūṭ nicht einmal mehr das Heimatland heilig, das als Hure beschimpft wird.71 So heißt es in der zweiten, auf den oben 68 M. al-Māġūṭ, Iġtiṣāb kāna wa-aḫawātuhā (Es war Vergewaltigung und ihre Schwestern), Interviews Muḥammad Ṣuwailiḥ (Fn. 5), S. 44. 69 J. Asfour: »Adonis and Muḥammad al-Māghūt: Two Voices in a Burning Land« (Fn. 63), S. 22. 70 M. al-Māġūṭ, al-Aʿmāl aš-šiʿrīya (Das lyrische Werk) (Fn. 46), S. 7. 71 Vgl. S. Milich, »Heimsuchungen: Writing waṭan in Modern Arabic Poetry«, in: S. Günther, S. Milich (Hg.), Representations and Visions of Homeland in Modern Arabic Literature, Hildesheim: Olms 2016, S. 118. Taufīq Ṣāyiġ und Muḥammad al- Māġūṭ destruierten in ihrer Lyrik wie kaum ein anderer ihrer Zeitgenossen den Mythos des arabischen Heimatlandes. Im Unterschied
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zitierten Abschnitt folgenden Strophe der Erstveröffentlichung:72 »Die Herrin der Dichtung / stößt in mein Herz wie mit einem Dolch / wenn ich daran denke, dass ich meine Gedichte singe an ein unbekanntes Mädchen / an eine stumme Heimat / die mit jedem isst und schläft. / Ich kann lachen, bis das Blut von meinen Lippen tropft / Ich bin die kämpfende Blume / bin der Adler, der sich auf seine Beute ohne Mitleid stürzt […].« Auch wenn der Prozess des lyrischen Schreibens als schmerzhaft beschrieben wird und das Bild der blutenden Lippen auf eine Reinigung durch das Dichten verweisen könnte, kann von Katharsis nicht die Rede sein. Der Zustand des Sprechers ebenso wie der Welt bleiben schmutzig, gewaltvoll und grotesk. Dichtung wird nicht zum Wundermittel stilisiert, denn »wenn sie dich vernichten, Libanon / sind die Nächte der Poesie und der Bohème am Ende / und ich werde mir eine Kugel in die Kehle jagen.«73 Mit dem das Gedicht beendenden Bild der Kugel, die das Ich in seine Kehle zu jagen droht, kündigt der Dichter möglicherweise nicht so sehr seinen physischen Selbstmord an als ein Verstummen, sollte der Libanon, der den Dichtern die nötige Freiheit zum Schreiben gewährt, im sinnlosen Bürgerkrieg versinken. Die frühe Erfahrung der Folter bezeichnete der Dichter in einem Interview als formative Lehrzeit, die die Angst und Qual in sein Leben gebracht habe: »Ich habe viel gelernt vom Gefängnis und von der arabischen Peitsche in der Hand des Folterers. Gefängnis und Peitsche waren meine ersten Lehrmeister, und auch die Hochschule der Folter, die ich als gepeinigter, bis in alle Ewigkeit angsterfüllter Mensch absolvierte.«74 Damit einher, so al-Māġūṭ, sei der Verlust der inneren Sicherheit und des Weltvertrauens gegangen; das Innere sei immer noch von Angst erfüllt, sodass »jedes Mal der Schreck in meine Glieder fährt, wenn es an der Türe klingelt.«75 In seinem berühmten Gedicht al-Wašm (Die Tätowierung) aus dem dritten, 1970
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zu al-Māġūṭ war Ṣāyiġ jedoch »a highly cultivated man, educated at various universities, including Harvard, and had studied the most modern Western poets in their own language.« S. K. Jayyusi, »Foreword« in: S. K. Jayyusi (Hg.), The Fan of Swords: Poems (Fn. 61), S. xi. In der Version der gesammelten Werke des Verlags Dār al-Madā, die erstmals 1998 erschienen, lautet die Passage stattdessen: »Oh Herrin der Dichtung/ aus einem stummen Land/ sie isst und schläft mit dem, der es ihr erlaubt [….].« (yā rabbata š-šiʿr/ bi-bilādin ḫarsāʾ/ takulu wa tuḍāğiʿu man uḏnīhā), M. al-Māġūṭ, al-Aʿmāl aš-šiʿrīya (Das lyrische Werk) (Fn. 46), S. 50. Vgl. Y. al-Ḫāl (Hg,), Mağallat Šiʿr, 7–8 (1958), Beirut: Dār Maǧallat Šiʿr, S. 43. M. al-Māġūṭ, Iġtiṣāb kāna wa-aḫawātuhā (Es war Vergewaltigung und ihre Schwestern), Interviews Muḥammad Ṣuwailiḥ (Fn. 5), S. 41. Ebd.
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veröffentlichten Band al-Faraḥ laisa mihnatī (Die Freude ist nicht mein Beruf) kommt al-Māġūṭ erneut auf die Angst vor staatlicher Repression zu sprechen, die sowohl lyrisches Ich wie auch Autor-Ich zeitlebens nicht mehr losließ: Hier und jetzt / in der dritten Stunde des zwanzigsten Jahrhunderts / wo nur noch der Asphalt / die Leichen / von den Sohlen der Fußgänger trennt / werde ich mich auf die breite Straße setzen / wie die Beduinenscheichs / und nicht mehr aufstehen / bis alle Gefängnisgitter und Untersuchungsakten dieser Welt / zusammengetragen und vor mich hingestellt werden / damit ich auf ihnen kauen kann / wie ein Kamel, das mitten auf der Straße steht / bis alle Knüppel aus den Händen der Polizisten und Demonstranten / gefallen sind und wieder / zu blühenden Zweigen wurden in ihren Wäldern / In der Finsternis lache ich / in der Finsternis weine ich / und schreibe ich / bis ich meinen Stift nicht mehr von meinen Fingern unterscheiden kann / und immer, wenn es an der Türe klopft oder der Vorhang sich bewegt / verstecke ich meine Blätter / wie eine Prostituierte bei einer Razzia / Wer vererbte mir dieses Entsetzen / dieses Blut aufgescheucht wie ein Bergleopard/ sobald ich ein offizielles Schreiben unter der Türschwelle erblicke / oder eine Beamtenmütze im Türspalt, beginnen meine Knochen und Tränen zu zittern / mein Blut sprengt in alle Richtungen / als ob die ewige Polizeipatrouille der Ahnen / es von einer Ader in die nächste jagte / Ach, Geliebte! / Vergebens will ich meinen Mut und meine Tapferkeit [ba’s76] wiederfinden / Doch die Tragödie ist nicht hier zu finden / nicht in den Peitschen, den Polizeirevieren oder Sirenen / Sie ist dort / in der Wiege… im Uterus / sicher war ich / mit meinem Mutterleib nicht verbunden mit einer Nabelschnur / sondern einem Henkersstrick.77
Während in den frühen Gedichten eine surrealistische Bildersprache dominiert, sind die ab den späten 1960er Jahren entstandenen Gedichte von einer Lyrik gekennzeichnet, die um den von Angst und Frustration bestimmten Alltag kreist. Al-Māġūṭ bestimmt darin die Angst78 als den für ihn konstitutiven emotionalen Zustand: »This fear of everything which floats around in my blood like the eggs of fish at the bottom of the sea, how devise some stratagem against it?«79 Die Spannung im Gedicht wird langsam gesteigert, um mit einem Paukenschlag zu enden, 76 Das arabische Wort ›baʾs‹ bedeutet sowohl Panik, Schrecken, als auch Mut und Tapferkeit. 77 M. al-Māġūṭ, al-Aʿmāl aš-šiʿrīya (Das lyrische Werk) (Fn. 46), S. 199–200. 78 Seine Frau Sanīya Ṣāliḥ schreibt in ihrem Vorwort zu den dichterischen Werken: »Seit seiner Kindheit hat Muḥammad al-Māġūṭ nach Schutz gesucht.« M. al-Māġūṭ, al-Aʿmāl aš-šiʿrīya (Das lyrische Werk) (Fn. 46), S. 7. 79 J. Donuhue, L. Tramontini (Hg.), Crosshatching in global culture: a dictionary of modern Arab authors (Fn. 49), S. 703.
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der auf das größtmögliche Schockieren des Lesers aus ist, um die beabsichtigte Wirkung, das Wachrütteln, die Irritation und Reflexion zu erreichen, eine kompositorische Technik, die auch in den Werken einiger anderer zeitgenössischer Dichter zu finden ist. Der Henkersstrick, von dem sich der arabische Mensch auch nach der Geburt nicht trennen könne, zeigt eine Wirklichkeit, die nicht nur absurd, sondern auch grotesk, deformiert und monströs ist. Polizeistaat und politischer Terror sind die Kräfte, die die Freiheit und Sicherheit des arabischen Individuums radikal zerstören, »[a] scream of terror and a denunaciation of a world besieged by negative forces, a fallen world, completely suspect and abounding with the most venomous intentions against the freedom of the individual«,80 schreibt Jayyusi treffend. Das Entsetzen und die Angst werden hier nicht auf ein konkretes biographisches Ereignis zurückgeführt, sondern ins Ontologische gewendet. Die Angst sitzt so tief und ist so verbreitet, als ob sie angeboren sei und von Generation zu Generation weitergegeben würde. Ähnliches äußerte der Dichter – nicht ohne satirische Zuspitzung – in dem bereits oben zitierten Interview in an-Nahār: »Every man is from dust and unto dust he shall return, except the Arab. The Arab is from the secret police, and unto the secret police he shall return.«81 Humor, Ironie und Parodie scheinen im Frühwerk nur vereinzelt auf. Ab den 1970er Jahren werden sie zu den charakteristischen Stilmitten und Schreibweisen des Dichters. Die visionäre, surreale Bildersprache der frühesten Gedichte weicht einem satirischen Stil, der in den Theaterstücken seine volle Entfaltung findet. Im Gegensatz dazu findet sich in al-Māġūṭs Lyrik eher selten die leichtere, karnevaleske Form des Humors der Theaterstücke; hier dominiert das Dunkle, Verbitterte, Schmerzhafte und der schwarze Humor, der wenig Möglichkeit zum unbeschwerten Lachen bietet. Damit ist auch ein Unterschied zur Dichtung von Muẓaffar an-Nawwāb benannt: Während der irakische Dichter seine Leserschaft wütend zur Aktion treibt und die Empörung über die unerträglichen Zustände performativ anfacht, lösen al-Māġūṭs Gedichte Gefühle der Trauer und des Schmerzes aus. Die Lyrik legt schonungslos die Wunden und Verletzungen frei. Im offenen Geständnis der Niederlage und Verwundung bietet al-Māġūṭ seiner Leserschaft eine alternative Form der Identität an, die den Raum der Lyrik in erster Linie dazu nutzt, (be)drängenden Gefühlen freien Ausdruck zu gewähren, das gesamte Spektrum der eigenen Gefühle mit der Leserschaft zu teilen und damit auch zu einem Bewusstseinswandel in den arabischen Gesellschaften 80 S. K. Jayyusi, »Foreword« in: S. K. Jayyusi (Hg.), The Fan of Swords: Poems (Fn. 61), S. xviii. 81 J. Donuhue, L. Tramontini (Hg.), Crosshatching in global culture: a dictionary of modern Arab authors (Fn. 49), S. 703.
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beizutragen. Mit zunehmendem Alter schwindet jedoch die bereits in den 1960er Jahren nur spärlich vorhandene Hoffnung des Autors, durch literarisches Schreiben eine nennenswerte gesellschaftliche Wirkung erzielen zu können, ganz dahin.82 Römisches Amphitheater (Mudarrağāt rūmīya), ein Gedicht aus dem 2005 veröffentlichten Band Šarq ʿadan, ġarb Allāh: Nuṣūṣ ğadīda (Östlich von Aden, westlich von Gott: Neue Texte), liest sich als Fortführung des Abgesangs auf die arabische Welt und zugleich als poetisches Testament, das mehrere zentrale Grundthemen des Dichters zusammenführt. Es verdeutlicht einmal mehr, dass Aussagen wie »Ich werde mein Heimatland verraten«83 (saʾaḫūnu waṭanī) nicht nur als politische Provokation in einem nationalistisch geprägten Umfeld zu verstehen sind, sondern in noch größerem Maße als Versuch, dem offiziellen Nationalismus ein alternatives, humanistisches Verständnis von Heimat entgegenzusetzen. In diesem Verständnis von Heimat wäre kein Platz für eine Politik der Ausbeutung und die für diese Ausbeutung verantwortlichen Politiker, sondern für Menschen in Freiheit, denn sie sind die eigentliche Heimat. Der Begriff der Revolution, so al-Māġūṭ, sei seit langem entleert und von politischen Interessen missbraucht, die arabische Literatur und Kunst zu einer Kultur verkommen, die den Interessen der Herrschenden und der Manipulation der Bevölkerungen diene. Gesellschaftliche Militarisierung und Polizeistaat hätten den Kampf um persönliche und nationale Freiheit scheitern lassen. Die Wiederholungsfiguren und Auflistungen, die den desolaten Zustand der Heimat, den Überwachungsstaat und einen dysfunktionalen Alltag in den Blick nehmen, münden in dem resignierten Aufruf des Sprechers, der sterbenden Heimat die letzte Ehre zu erweisen: 1 Von den Glocken der Revolution blieb nichts als ihr Echo / Von den Rössern der Dichtung nichts als die Zügel / Vom Weg in die Freiheit nichts als ständige und fliegende Checkpoints / Ich verbrachte meine Kindheit und meine Jugend, und den gesamten Marsch für Freiheit und Befreiung / 82 Dies thematisierte Māġūṭ nicht nur in Interviews, sondern auch in seinen literarischen Texten. Vgl. das Gedicht Irtiğāl waṭan (Improvisation über die Heimat), in dem er schreibt: »Ihr heiligen Bücher: / Berichtet mir: / Was ist mit meinen Werken geschehen? / Ich hab’ mich lange abgemüht, sie zu erschaffen / nun will ich wissen, was ihnen widerfuhr / in welchem Regal sie schlummern / und in welcher Färberei sie benutzt werden? / Wie ich wünschte, dass das, was von ihnen blieb, / sich in einen Papierdrachen verwandelte / in der Hand eines Waisenkindes aus meiner Heimat.« Al-Māġūṭ, Muḥammad: al-Badawī al-aḥmar (Der rote Beduine), Damaskus: Dār alMadā 2006, S. 24. 83 So lautet der Titel einer bekannten Sammlung von Essays und kritischen Texten von Muḥammad al-Māġūṭ aus dem Jahr 1987.
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Zwischen Gewehren und Maschinengewehren, Ketten, Panzern und Raupenfahrzeugen, / Boden- und luftgestützten Patrouillen, und auf Schritt und Tritt: / Stehenbleiben: dein Ausweis / Stehenbleiben: deine Papiere / Stehenbleiben: dein Pass / Stehenbleiben: Was hast du da im Koffer? / Stehenbleiben: Was hast du da in den Hosentaschen? / Stehenbleiben: Was hast du da im Mund? / Stehenbleiben: Wo willst du hin? / Stehenbleiben: Wo kommst du her? / Und wann immer ich dieser Realität entfliehen wollte, / landete ich doch nur in einer Zelle! / *** [sic] / Ja, wir sind im 21. Jahrhundert angekommen / Doch so, wie eine Fliege ins Zimmer des Königs gelangt!
2 Die Zukunft des Irak ist düster / Die Zukunft Palästinas ist düster / Die Zukunft der Freiheit ist düster / Die Zukunft der Einheit ist düster / Die Zukunft der Befreiung ist düster / Die Zukunft der Wirtschaft ist düster / Die Zukunft der Kultur ist düster / Die Zukunft der Liebe ist düster / Die Zukunft des Wetters ist düster / Und überdies: Es herrscht mediale Verdunkelung / Politische Verdunkelung / Militärische Verdunkelung / Wirtschaftliche Verdunkelung / Kulturelle Verdunkelung / Konfessionelle Verdunkelung / Und überdies Stromausfall jede halbe Stunde / Und dennoch reden sie heute nur von Transparenz!
[…] 4 Ihr Schmiede / Ihr Tischler / Ihr Steinmetze / Ihr Trompeter in den Militärparaden / Ihr Trommler in den Pfadfindergruppen / Ihr Ramadan-Trommler in den ärmeren Vierteln / Ihr fliegenden Händler in den Einkaufsstraßen / Ihr Frauen, die sich von einem Fenster zum anderen beschimpfen / Ihr Autofahrer und Lastwagenfahrer / Ihr Verkehrspolizisten / Ihr Fans bei Sportereignissen / Ihr Redner und Parolenrufer bei offiziellen Umzügen / Ihr, die ihr von früh bis spät die Motoren eurer Autos aufheulen lasst / Senkt eure Stimmen / Und die eurer Pfeifen, Hupen und Hämmer / Sprecht im Flüsterton / Und geht auf Zehenspitzen / Denn die Heimat liegt im Sterben!!84
Der Kampf für Befreiung hat nur der Freiheit Entgegengesetztes hervorgebracht. Die Lebenswelt des Ichs war und ist von Militarisierung, Willkür und Gewalt gezeichnet. Selbst die Dichtung blieb vor politischer Instrumentalisierung und davor, Instrument der Manipulation der Massen zu werden, nicht verschont (im Bild der »Zügel« dargestellt). Straßenkontrollen, Heuchelei, abstrakte Beschreibungen des Zustandes heterogener gesellschaftlicher Bereiche und Phänomene (Wirtschaft, Politik, 84 Übersetzung aus dem Arabischen von Douraid Rahhal und Barbara Winckler in: Inamo 82, 2015, S. 66–67 (leicht geändert). Original in: M. al-Māġūṭ, Šarq ʿadan, ġarb Allāh (Östlich von Aden, westlich von Gott), Damaskus: Dār al-Madā 2005, S. 38–46.
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Kultur, Religion, Wetter, Liebe) mischen sich mit der Wut über den ständigen Stromausfall und die offensichtlichen Wiedersprüche zum offiziellen Diskurs, der sich Begriffen wie Transparenz bedient, obgleich Transparenz in der politischen Realität der arabischen Länder nicht zu finden sei, so das Gedicht. Die bisweilen monoton wirkende Auflistung als Stilmittel in zahlreichen Gedichten Māġūṭs verweist auf die Resignation, die durch die Anhäufung sich wiederholender Erfahrungen der Enttäuschung und Unterdrückung gesammelt wurden. Mit dem bitter-ironischen Schlusssatz der ersten Strophe, aus dem Demütigung und Zorn sprechen, wird nur allzu deutlich, dass die Araber, mit dem Bild der »Fliege« als wertlose, überflüssige Wesen gekennzeichnet, nur durch Zufall in das 21. Jahrhundert gelangt seien. Schließlich evoziert das Aufzählen der Berufsgruppen in der letzten Strophe die von umtriebigen Berufsgruppen geschaffene Geräuschkulisse der arabischen Straße, die mit dem Imperativ »Sprecht im Flüsterton« verstummen sollen. Der Lärm der Straße kaschiert die katastrophale Situation, in der sich Heimat und Bewohner befinden, nur schlecht. So bleibt dem gealterten Dichter nichts Anderes übrig, als von seinen Landsleuten zu erbitten, der Heimat die letzte Ehre zu erweisen und für einen Augenblick inne zu halten, um sich selbst und seine Umgebung endlich wieder sehen – und die bedrückende Misere erkennen zu können. Wenn die arabische Wirklichkeit schon nicht geändert werden kann, sollen der sterbenden Heimat zumindest Anstand und Respekt entgegengebracht werden, um ein Mindestmaß an Selbstachtung zu erhalten.
Schlusswort Bei beiden Dichtern entsteht mit den sich immer wieder neu durchmischenden sprachlichen Mitteln der Satire, Parodie, des Zynismus und der (Selbst-)Ironie, aber auch mittels heftiger Gefühlsausdrücke der Angst, Wut, Verzweiflung und des Schmerzes eine dichterische Sprache, die Masken, Mythen und Lügen über die arabische Realität zerstört. Beide waren nicht dazu bereit, künstlerische Beschränkungen zu akzeptieren und kämpften stets mit den von außen an sie herangetragenen Normen, Grenzziehungen und Beschneidungen. In ihrem Schaffen zeigt sich die Weigerung, sich an vorgefertigte soziale und künstlerische Konventionen zu halten: So entstand im Falle al-Māġūṭs sein erstes Theaterstück aus einem Gedicht, dessen dramatischen Gehalt seine Ehefrau und Weggefährtin, die syrische Dichterin und Literaturkritikerin Sanīya Ṣāliḥ, erkannt hatte.85 Auch bei an-Nawwāb dominiert seine individuelle 85 Auf Sanīya Ṣāliḥs Vorschlag schrieb der in einem winzigen Zimmer im Damaszener Viertel Ayn al-Kirsch Unterschlupf vor politischer Verfolgung
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Gestaltungskraft, die sich nicht an literarische Regeln hält und vor allem in seinen Langgedichten zum Ausdruck kommt. Die Vorliebe beider für das Langgedicht zeugt von dem Willen, die persönliche, politische und dichterische Freiheit nicht eingeschränkt zu sehen, um allen Raum für den freien, assoziativ und spontan wirkenden Ausdruck nutzen zu können. Al-Māġūṭ wendet sich damit, um mit Walter Höllerer zu sprechen, »gegen Einengung in abgegrenzte Kästchen und Gebiete […] gegen kleinliche Begrenzungen des Landes und des Geiste[s]«,86 eine Poetik, die sich sogar zum Banalen, Spontanen und Improvisierten bekennt, wenn es denn authentisch und aus subjektiver Warte des Dichters wahr und stimmig erscheint. Auch an-Nawwāb nutzt das Langgedicht mit seinen zahlreichen Möglichkeiten der Wiederholung, Betonung und unterschiedlichen Akzentuierung zur selbstbestimmten und selbstbewussten Artikulation seines Anliegens, ohne sich, frei vom Gebot der Höflichkeit und des Anstands, um literarische oder soziale Konventionen zu scheren. Wenn auch manche Gedichte al-Māġūṭs und an-Nawwābs einen eher monologisch-lyrischen Charakter haben, sind für beide vorwiegend dialogische Formen des lyrischen Sprechens zentral, wie die Ansprache, der Anruf, die Anklage, das Zwiegespräch und der dramatische Dialog, der bisweilen gar als absurdes Lustspiel oder Kurzdrama Figuren und Charaktere mit politischen Aussagen in Szene setzt. Sicher ist der unmittelbare Kontakt zum und Dialog mit dem Publikum Herzstück der Dichtung von an-Nawwāb, während al-Māġūṭ Lyrik-Performances mit tobendem Saal eher mied. Auf ihre je eigene Art jedoch schockieren beide mit sozialen Tabubrüchen und poetischen Grenzüberschreitungen. An-Nawwāb greift unter Verwendung einer obszönen, beleidigenden Sprache die arabischen Regierungen offen an und gibt sie der Lächerlichkeit preis, wodurch seine Dichtung in der Tradition des dichterischen Genres des hiğā‘ (Schmähdichtung) steht, in der die Feinde geschmäht und mit allen Künsten des Wortes beleidigt werden. In al-Māġūṭs Lyrik findet sich diese attackierende Direktheit hingegen kaum, denn er bezieht sich eher auf Stimmungen, Szenerien und Situationen, in denen die Absurdität des politischen Lebens arabischer Gesellschaften ans Licht gebracht wird. Während an-Nawwāb Dichtung verfasst, die darauf drängt, vorgetragen zu werden, entfaltet al-Māġūṭs Lyrik eher in der individuellen Lektüre ihre scharfe Kritik an Gesellschaft und Politik. Dem entspricht an-Nawwābs Überzeugung bzw. Hoffnung, dass Dichtung politisch relevante Wirkung entfalten könne, während suchende Dichter sein erstes kurzes Drama, Der bucklige Sperber (al-ʿaṣfūr al-aḥdab), das 1967 im Ḥiwār-Verlag von Taufīq Ṣāʾiġ erschien. Vgl. M. al-Māġūṭ, Iġtiṣāb kāna wa-aḫawātuhā (Es war Vergewaltigung und ihre Schwestern), Interviews Muḥammad Ṣuwailiḥ (Fn. 5), S. 69 f. 86 W. Höllerer, Der andere Gast: Gedichte, München: Hanser 1964, S. 402.
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al-Māġūṭ in seinen Gedichtbänden und Interviews die Wirkung von Lyrik, und Literatur im Allgemeinen, als gering beschreibt, obgleich er die Dichtung als seinen einzigen Rückzugsort in einer von ihm abgelehnten Welt bezeichnet. Um es noch weiter zuzuspitzen: Während an-Nawwāb seine Worte als Waffe einsetzt und zum Angriff auf politische Autoritäten und soziale Missstände aufruft, ist der Sprecher der Gedichte al-Māġūṭs ein sich selbst der Lächerlichkeit preisgebender Clown (Muharriğ87). Dieser Clown hält seinen lauschenden Mitbürgern den Spiegel vor und wirft mit den Mitteln der Satire und des schwarzen Humors immer wieder die Frage auf, was angesichts der absurden Tragik dieser Welt zu tun bleibt. Dieser zwischen Tragik und Komik oszillierende Dichter – und das mag der markanteste Unterschied zu an-Nawwāb sein – zeigt durch seine Worte keine Stärke und Angriffslust und ist in diesem Sinne auch nicht kämpferisch-revolutionär. Vielmehr sind es die Momente durchlebter Unterdrückung, für die al-Māġūṭ in seinen Gedichten zum persönlichen Symbol gewordene Metaphern entwickelte, die auf seine Gefängnisaufenthalte im Besonderen und die schwierige soziale und politische Lebenssituation in seinem Heimatland Syrien und anderen arabischen Ländern im Allgemeinen hinweisen. Al-Māġūṭs Gedichte lesen sich als Antworten auf die an ihm verübten und von ihm bezeugten Gewaltakte der erzwungenen Unterwerfung, Eingrenzung und Verletzung. Der Dichter, der seine Verletzungen und seine Verletzlichkeit eingesteht und sich damit tabubrechend selbst entblößt, enthüllt zugleich die skandalöse Unmenschlichkeit der arabischen Regime, denen die Bürger schutzlos ausgesetzt sind. Doch selbst das Sprechen über die traumatischen Erfahrungen enthält selbstironische Momente, wie der letzte Satz aus einem späten Interview al-Māġūṭs verdeutlicht: »Dass man aber wegen seiner Idee inhaftiert, erniedrigt und gefoltert wird, gab mir das Gefühl, dass noch etwas anderes als die Knochen in mir zerbrach, etwas, das elementarer ist als die Knochen, und das man nie mehr wiederherstellen können wird. Denn wenn ich für jedes zertrümmerte Glied meines Körpers Holzkrücken herstellen wollte, bräuchte ich eine Holzfabrik neben meinem Haus.«88 Anders verhält es sich bei an-Nawwāb: Seine Erlebnisse von Unterdrückung und Unfreiheit transzendiert er in Wut, Widerstand und Resignation – oft im gleichen Gedicht. So treffen durch ständige Perspektivwechsel die unterschiedlichsten Stimmungen und Tonarten aufeinander, doch immer scheint sein Engagement durch, das sich auf das Recht jedes Individuums auf ein Leben in Freiheit und Würde bezieht. Der stete Dialog mit seinem 87 So auch der Titel eines Theaterstücks, dessen Text Muḥammad al-Māġūṭ verfasste. 88 M. al-Māġūṭ, Iġtiṣāb kāna wa-aḫawātuhā (Es war Vergewaltigung und ihre Schwestern), Interviews Muḥammad Ṣuwailiḥ (Fn. 5), S. 42.
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Publikum, das Schauspiel, mit dem er seine Gedichte vorträgt, ist dabei ein wichtiges Mittel für ihn, seine politischen Ziele zu erreichen und die Menschen zu (Selbst-)Kritik und Widerstand anzuregen. Auch wenn beide Dichter von ihren unterschiedlichen Ängsten und Sorgen heimgesucht sind und sich auf ihre jeweils individuelle Art dagegen wehren, zeichnet sie eine freiheitsliebende Grundhaltung aus, die ihre literarische Diktion und ihren Widerstand gegen Regime und Sicherheitsapparate bestimmt, deren Macht der erfolgreichen Normalisierung von Unterdrückung und Unrecht im Namen einer Ideologie entspringt. Freiheit ist dabei vielleicht in noch größerem Maße als die Gerechtigkeit Gegenbegriff zu Unrecht und Unterdrückung und steht im Mittelpunkt dieser Lyrik.89 Der eigentliche Skandal ist aus dieser Perspektive nicht der sprachliche, politische oder soziale Tabubruch, den die widerständigen Dichter begehen, sondern die strukturelle, normalisierte staatliche Verletzung, Unterwerfung und Enteignung der Regierten.
89 Freiheit als Menschenrecht und nicht nur in Bedeutung von Befreiung von kolonialer Vorherrschaft fand als gesellschaftlicher Wert vor allem durch Akteure des liberalen Nationalismus in arabischen Ländern Verbreitung, dessen Hochzeit zwischen den 1920er und 1950er Jahren lag. Die zentrale Bedeutung der Freiheit im Werk vieler moderner arabischer Dichterinnen und Dichter spiegelt somit eine allgemeine Entwicklung im arabischen Denken wider, wie folgende Passage verdeutlicht: »[t]yranny becomes not so much the obverse of justice as of liberty (ḥurrīya), which in modern times has expanded ist meaning beyond simply indicating ›not enslaved‹« E. ad-D. Shahin (Hg.), The Oxford Encyclopaedia of Islam and Politics, Bd. 2, Oxford: Oxford University Press 2014, S. 506.
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Kultur als Protest Engagierte Literatur und Kulturkritk in Marokko in den 1960er und 1970er Jahren1 1. Bleiernde Jahre: Das postkoloniale Marokko Das Marokko der 1960er und 1970er Jahre ist ein postkolonialer Staat in seinen ersten Dezennien. Erst 1956 fand die formale und politische Unabhängigkeitserklärung statt, Franzosen und auch Spanier (bis 1958) gaben die Macht ab. An die Stelle der Kolonialherren trat ein Parlament, zu dessen Machtzentrale sehr schnell der aus dem Exil zurückgekehrte sich 1957 zum König erklärende Sultan Mohammed V. wurde. Bis zu seinem Tod 1961 übernahm er in Personalunion auch das Amt des Premierministers. Ihm folgte sein Sohn Hassan II. (zugleich Oberbefehlshaber der Armee) auf den Thron, der bis zu seinem Tod 1999 regierte und zur prägenden Figur dieser postkolonialen Ära wurde. 1962 erhielt Marokko den Status einer konstitutionellen Monarchie, wobei Hassan II. wie sein Vater selbst die Regierungsgeschäfte und die absolute Macht übernahm. Die Vormachtstellung in einer unruhigen Umbruchsituation untermauerte das Königshaus mit einer religiösen Argumentationsstrategie, insofern es die familiäre Genealogie bis zum Propheten Mohammed zurückführte. Zur Sicherung der Machtstrukturen griff Hassan II., der eine wichtige Figur des Unabhängigkeitsbestrebens gegen Frankreich darstellte, auf alte feudale, aber auch auf koloniale Strukturen zurück. Die Frage nach einer gesamtgesellschaftlichen Dekolonisierung und Demokratisierung wurde somit zu einer politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Herausforderung des postkolonialen Marokko. Oppositionelle aller Couleur, doch insbesondere die Stimmen aus den linken Lagern, die die koloniale Prägung infrage stellten, wurden mit Gewalt bekämpft. Volksaufstände wurden brutal niedergeschlagen.2 1
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Für zahlreiche Hinweise, anregende Kritik und das Lektorat des deutschen Textes danke ich ganz herzlich S. Dhouib, F. Dübgen, M. Maataoui und S. Schmidt. Übersetzungen aus dem Französischen, sofern keine deutsche Übersetzung ermittelt werden konnte, wurden vom Autor vorgenommen. Zu nennen wären hier u.a. die Aufstände von Januar 1959, März 1965, Juni 1881 und Januar 1990. Zur Relevanz der Auseinandersetzung mit den Menschenrechtsverletzungen in diesen Phasen des marokkanischen
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Menschenrechtsverletzungen, Folter, Inhaftierung, Gehirnwäsche und das Verschwindenlassen von Personen waren – wie zur Kolonialzeit – an der Tagesordnung. Weit über die Landesgrenzen hinaus berüchtigt war das Gefängnis Tazmamart im Atlasgebirge. Vor dem Hintergrund dieser kurzen Skizze den sogenannten »bleiernen Jahren« (les années de plomb)3, die sich erst gegen Ende der 80er Jahre wieder etwas lichteten, soll im Folgenden die Opposition innerhalb der literarischen und philosophischen Landschaft dieser Zeit in den Blick genommen werden. Literatur und Philosophie wurden in diesem Prozess auch zu Kampfbühnen, auf denen sich auf unterschiedliche Art und Weise, unmittelbar wie mittelbar, Widerstand und Protest abspielten. Ausgetragen wurden diese kritischen Debatten zum Beispiel in der Kultur- und Gesellschaftszeitschrift Lamalif (dt.: Nein! bzw. Widerstehe!) sowie der 1966 zeitgleich gegründeten, vorrangig der Literatur gewidmeten Zeitschrift Souffles (dt.: Atemzug, Inspiration). Die Zeitschrift Souffles galt in den 1960er Jahren als revolutionär und avantgardistisch, ihre Akteure waren zu Beginn politisch weitgehend marxistisch geprägt.4 Im Gegensatz dazu verfolgte Lamalif von Anfang an ein langfristig ausgelegtes, reformorientiertes Projekt. Beide Zeitschriften standen deutlich für Werte, die mit den vom Staat propagierten konservativen Werten konfligierten. Und beide Zeitschriften erschienen weitestgehend in französischer Sprache,5
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postkolonialen Staates vgl. die Arbeit zweier Mitglieder der Wahrheitskommission: Imbārak Būdirqa, Aḥmad Šawqī Binyūb, Kaḍālika kān…muḍḍakarrāt min tağribat hayʾat al-inṣāf wal-muṣālaḥa (dt.: Es ist so gewesen… Dossiers aus der Erfahrung der Gerechtigkeits- und Versöhnungskommission), Casablanca: Dār an-našr al-maġribiyya 2017, S. 95 f., 102 f., 113 f. Die »bleiernen Jahren« umfassen die Zeit von 1956 bis 1999. Eine Chronik dieser Jahre aus der Perspektive der Opposition gibt z.B. die ehemalige Herausgeberin der Zeitschrift Lamalif, Z. Daoud, in ihrem Buch Maroc: les années de plomb 1958–1988. Chroniques d´une résistance, Paris: Éd. Manucius 2007. Eine kurz nach dem Tod Hassan II. erschienene Darstellung des Unrechtsregimes von Hassan II. liefert der französische Journalist Gilles Perrault, Notre ami le roi, Paris: Gallimard 1991 (dt.: Unser Freund der König von Marokko – Abgründe einer modernen Despotie, Leipzig / Weimar: Kiepenheuer, 1992. Eine soziologische und juristische Analyse der Aufarbeitung der »bleiernen Jahre« findet sich bei F. Kastner, Transitional Justice in der Weltgesellschaft, Hamburg: Hamburger Edition 2015. Vgl. den Beitrag von K. Sefrioui in diesem Band sowie ihre Monographie: La revue Souffles 1966–1973. Espoirs de révolution culturelle au Maroc, Casablanca: Editions du Sirocco 2012. Es gab drei zweisprachige Hefte von Souffles: die Hefte 10–11 (1968), 12 (1968) und 13–14 (1969). Das Heft 15 (1969) wurde sowohl auf Französisch als auch auf Arabisch publiziert. Bis zu dem Verbot der Zeitschrift 1971 wurden insgesamt 22 Hefte herausgegeben. Ab Mai 1971 wurde eine
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ein Umstand, der mit ihrem dekolonialen Gestus zunächst nicht zusammen zu passen scheint, ist Französisch doch die Sprache der ehemaligen Kolonialherren. In französischer Sprache zu schreiben bedeutete jedoch auch, sich an die (auf Französisch gebildete) geistige Elite des Landes zu richten, sich ausdrücklich gegen eine Restauration traditionell-konservativer, patriarchalischer Werte zu positionieren und darüber hinaus zu einem Fenster zu werden, durch das diese innermarokkanische Kritik auch international bzw. in den frankophonen Ländern mehr Aufmerksamkeit erhalten konnte.6 Die akademische Philosophie war zu dieser Zeit ebenfalls mehrheitlich links ausgerichtet und verstand sich selbst insbesondere in Bezug auf die Dekolonisierungsfrage als eine Form des Kampfes (idéologie de combat).7 Das intellektuelle Engagement der meisten Philosophen und ihre kritische Reflexion von Machtstrukturen standen in der Tradition einer marxistischen Ideologiekritik. Eine zentrale Figur in diesem Zusammenhang war der Philosoph Muḥammad ʿĀbid al-Ǧābirī (Mohamed Abed al-Jabri, 1935–2010), dessen philosophisches Werk sehr früh die
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arabische Ausgabe unter dem Titel Anfās lanciert. Die Zeitschrift Lamalif erschien zwischen 1966 und 1988; sie umfasste insgesamt 200 Hefte. Zur ambivalenten Bedeutung des Französischen für Autor/innen im maghrebinischen Kulturraum als fremd-eigene Sprache bestehen umfangreiche Studien. Zur Verwendung des Französischen u.a. in der Zeitschrift Souffles und bei T. Ben Jelloun vgl. U. Jamin-Mehl, Zwischen oraler Erzähltradition und modernem Schreiben. Autoreflexive Elemente im marokkanischen Roman französischer Sprache, Frankfurt/M.: IKO 2003, insbes., S. 81–149; zur Reflexion über Körper bzw. Inkorporalisation der Kolonialsprache vgl. S. Kaiser, Körper erzählen: Der postkoloniale Maghreb von Assia Djebar und Tahar Ben Jelloun, Bielefeld: transcript 2015, insbes., S. 123–176; in Verbindung mit autobiographischem Schreiben vgl. C. Gronemann, Postmoderne-postkoloniale Konzepte der Autobiographie in der französischen und maghrebinischen Literatur, Hildesheim: Olms 2002, S. 129–139, 148–152, 178–180. Bezüglich der Dekolonisierungsfrage wäre in diesem Zusammenhang die Arbeit und das Engagement des personalistischen Philosophen und des Gründungsvaters der marokkanischen Universität (und somit das Institut für Philosophie) an der Universität Rabat Muḥammad Laʿzīz Laḥbābī (Mohammed Aziz Lahbabi) zu erwähnen. Obwohl er kein Vertreter des Marxismus war, hat er sich mit der Frage nach der Dekolonisierung und nach dem Menschen in der Dritten Welt beschäftigt. Vgl. dazu Sālim Yāfūt, »al-Falsafa fi-l maġrib fī niṣf qarn«, in: Muḥammad Misbāḥī (Hg.), Rihānāt al-falsafa al-ʿarabiyya al-muʿāṣira (dt.: Anliegen der zeitgenössischen arabischen Philosophie), Rabat: Fakultät Rabat, S. 425–431. Zur Philosophie von M. A. Lahbabi im postkolonialen marokkanischen akademischen Kontext vgl. den Beitrag von M. Kneer im dritten Band (Philosophieren in der Diktatur) der Titelreihe Unrechtserfahrung in transkultureller Perspektive, hg. v. S. Dhouib.
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Forderung einer Dekolonisierung des Staates aussprach. Entgegen der Entscheidung vieler Autoren des Maghreb betont al-Ǧābirī, dass sich eine Ideologiekritik der Kolonisierung auch mit der Sprache befassen muss, in welcher sich der Protest artikuliert. Denn ein Protest der nicht in der eigenen Sprache geführt wird, könne die breite Öffentlichkeit nicht für sich gewinnen. Al-Ǧābirī schrieb nicht nur auf Arabisch, sondern er beschäftigte sich auch mit der Frage, wie eine breite Öffentlichkeit erreicht werden könne. Neben seinen umfangreichen akademischen Werken publizierte er seit 1959 in unterschiedlichen Zeitungen und Zeitschriften kurze in einfacher Sprache gehaltene Beiträge, die die breite Öffentlichkeit erreichen sollten.8 Auf den folgenden Seiten steht der literarisch-ästhetische und publizistisch engagierte Widerstand im Zentrum, der sich im Marokko der 1960er und 1970er Jahren gegen einen zunehmend autoritär agierenden Staat entwickelte und der aufgrund der blutigen Repression immer indirektere Wege der Kritik suchte. Den Zeitschriften Souffles und Lamalif gebührt der Verdienst, die Literatur trotz aller Gefahren in den Dienst des sozialpolitischen Engagements gestellt zu haben. Ein Autor in den ersten Jahren der Zeitschrift Souffles war der Schriftsteller Taher Ben Jelloun. Sein schriftstellerisches Engagement steht für unterschiedliche Formen der literarischen Kritik am Regime.
2. Engagierte Literatur und das Bestreben nach kultureller Dekolonisierung in der Zeitschrift Souffles Die Zeitschrift Souffles (1966–1973) kämpfte in den ersten Jahren ihres Bestehens offensiv für eine Dekolonisierung des postkolonialen Staates. Dies bedeutete zum einen, sich von den die eigene Kultur abwertenden kolonialen Denkweisen zu befreien und das Projekt einer unabhängigen Nationalkultur zu verfolgen.9 Das Projekt einer unabhängigen 8
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Vgl. z.B. die Zeitschrift Mawāqif (dt.: Stellungnahmen), die al-Ǧābirī zwischen März 2001 (H. 1) und 2010 (H. 79) herausgegeben hat. Die Zeitschrift umfasst seine Artikel und Stellungnahmen, die er zwischen 1959 und 2002 geschrieben und in verschiedenen marokkanischen und arabischen Zeitungen und Zeitschriften publiziert hat. Sie beinhalten politische, intellektuelle und kulturelle Analysen zu bestimmten zeitgeschichtlichen Fragen sowie autobiographische Texte. Vgl. M. ʿĀ. al-Ǧābirī, Mawāqif, 1 (2001), S. 3 ff. Al-Ǧābirī hat ebenfalls zwischen September 1997 (H. 1) und April 2010 (H. 105) die Zeitschrift Fikr wa-Naqd (dt.: Denken und Kritik) herausgegeben. So liest man z.B. in dem von der Programmgruppe Association de recherche culturelle aufgestellten Leitprogramm (Programme de recherche et d´action)
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Nationalkultur bestand jedoch nicht in einer simplen und unreflektierten Restauration alter, unter Kolonialherrschaft unterdrückter Traditionen, sondern schließt auch eine gegen Mystifizierung und gegen Konservatismen gerichtete Kritik dieser Traditionen mit ein. Abdellatif Laâbi, Schriftsteller und Begründer von Souffles, formulierte die Ziele der neu zu entwerfenden nationalen Kultur in Marokko wie folgt: Das Ziel sei es, »eine Aktion der Klarstellung und Entmystifizierung der Grundlagen unserer Kultur zu führen, die Kulturarbeit von dem Monopol der Retrograde und des Neokolonialismus zu befreien, eine Forschungsinitiative zwecks Dekolonisierung, Neubewertung und Umgestaltung unserer Kultur zu entwickeln, am von allen progressiven Kräften des Landes geführten Befreiungskampf durch eine Arbeit der Kulturschöpfung und -mobilmachung teilzunehmen.«10 Während staatliche Akteure ein dichotomes Kulturverständnis verfolgten, demzufolge eine Kultur entweder fortschrittlich oder rückwärtsgewandt sei, stellt Abdellatif Laâbi diese polarisierende Perspektive in Frage und folgte dabei den sogenannten tiersmondistes, einem seit den 1960ern aktiven, vorwiegend linken weltweiten Zusammenschluss von Politikern und Intellektuellen, die sich für eine selbstbewusste und selbstbestimmte Politik der Länder der »Dritten Welt« einsetzten.11 Anstatt den Prozess der Dekolonisierung eng mit der Übernahme eines Fortschrittsdenkens zu verbinden – wie es einige Philosophen und Literaten taten12 –, um ältere, überlieferte Denkstrukturen zu überwinden, setzt Laâbi auf ein neues Selbstbewusstsein des Menschen aus der »Dritten Welt«13 und
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von Souffles: »Schon sehr früh zeichnete sich die Kolonialisierung durch eine Verneinung dieser [marokkanischen] Persönlichkeit und durch einen gezielten Versuch aus, unsere kulturellen Werte gering zu schätzen und zu denaturieren.« Association de recheche culturelle, »Programme de recheche et d´action«, in: Souffles, 12 (1968), S. 4. Association de recherche culturelle, »Programme de recherche et d´action«, in: Souffles, 12 (1968), S. 3. Zu den Befürwortern und literarischen Wortführern der tiers-mondistes gehörten u.a. J.-P. Sartre und F. Fanon. Ein Vertreter der tiers-Mondistes war auch der später ermordete marokkanische Oppositionelle Mehdi Ben Barka. Der Programmentwurf der Association de recherche culturelle von 1968 argumentiert nicht gegen die gesamte Kultur des Okzidents, sondern nur gegen den Impetus einer »kolonialen Kultur«. Denn die Kultur des Okzidents stehe auch für ein Protestdenken, wie den Marxismus (vgl. Association de recherche culturelle, »Programme de recheche et d´action«, in: Souffles, 12 (1968), S. 8. K. Sefrioui, La revue Souffles 1966–1973 (Fn. 4), S. 220. Vgl. A. Laâbi, »Réalités et dilemmes de la culture marocaine«, in: Souffles, 6 (1967), S. 29: »Die Dritte Welt sollte sich definieren. Der Kulturmensch hat endlich
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eine kritische Rückbesinnung auf die eigene Tradition, die sich jedoch auch gegen eine folkloristische Instrumentalisierung dieser Tradition zur Wehr setzt. In diesem Sinne richten sich die Literaturkritiker von Souffles insbesondere gegen Werke, die während der Kolonialzeit entstanden sind14 und die den von der Kolonialmacht geförderten Exotismus in Form von naiver Kunst und Folklore bedienten.15 Der angestrebten »Nationalkultur« sei hierdurch der Weg zu einer angemesseneren Repräsentation innerhalb der Literatur versperrt.16 Zwei Autoren aus der Kolonialzeit wurden von diesem Generalverdacht jedoch ausgenommen: Kateb Yassine mit Nedjma von 1956 (dt.: Nedschma) und Driss Chraïbi mit Passé simple von 1954 (dt.: Die einfache Vergangenheit).17 So beschreibt Laâbi den Roman Nedjma als eines »der ersten Werke der Dekolonisierung«.18 Entgegen einer Dienstbarkeit gegenüber alten Kolonialstrukturen wollte Souffles die Literatur in ihrer subversiven Ästhetik stärken und für den politischen Kampf im Rahmen der Dekolonisierung nutzen. Die dekolonialen Bemühungen wurden auch von Philosophen und Intellektuellen aus dem Ausland unterstützt, wie zum Beispiel Jean Paul Sartre.19
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verstanden, dass, egal wie objektiv und sympathisch der ausländische Spezialist gegenüber den sozio-kulturellen Problemen der Dritten Welt auch sei, er wird immer einige unserer Dimensionen nicht erfassen können. Der Kulturmensch aus der Dritten Welt wird nicht mehr hinnehmen, bei den wissenschaftlichen Laborversuchen zuzuschauen, denen seine Gesellschaft, Geschichte, Kultur und sogar Dekolonisierungsbemühung als bloße Versuchsobjekte dienen.« Diese Literatur »ist für den Verbrauch im Ausland bestimmt. Sie stellt gewissermaßen die ›maghrebinischen Beschwerdehefte‹ dar, ihr Ziel bestand darin, das Mitgefühl des Publikums der Metropole für eine Solidarität mit dem Kampf der maghrebinischen Bevölkerung zu erwecken. In diesem Sinne hat sie eine Sensibilisierung in den französischen Milieus beschleunigt, wie Abdellatif Laâbi es bemerkt. Im Gegenteil dazu hatte sie keine bzw. eine sehr geringe Wirkung auf das maghrebinische Publikum.« A. Tenkoul, »Souffles: de la critique à la modernité«, in: ders. (Hg.), Ecritures Maghrébines. Lectures croisées, Casablanca: Afrique-Orient 1991, S. 82. Vgl. A. Bouanani, »Pour une étude de la littérature populaire marocaine«, in: Souffles 5 (1967), S. 34–39. Vgl. K. Sefrioui, La revue Souffles 1966–1973 (Fn. 4), S. 231 u. B. Jakobiak, »Situation z«, in: Souffles, 6 (1967), S. 36–39. Vgl. K. Yassine Nedjma, Paris: Seuil 1956; dt.: Nedschma, Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag, 1958; D. Chraïbi, Le Passé simple, Paris: Gallimard 1954. A. Laâbi, »réalité et dilemmes de la culture nationale«, in: Souffles, 4 (1966), S. 11. Vgl. ebenfalls die Reflexion von A. Laâbi über den Roman Le passé simple von D. Chraïbi: »Défense du ›passé simple‹«, in: Souffles, 5 (1967), S. 18–21. Sartre übte einen entscheidenden Einfluss auf die Autoren der Zeitschrift Souffles aus. Wie Frantz Fanon sah auch Sartre Gewalt durchaus als
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Eine umstrittene Figur innerhalb von Souffles hinsichtlich ihrer Positionierung zum Kolonialismus war hingegen Albert Camus, der als »colonisateur sublimé« angesehen wurde.20 Denn er sähe vor allem in der Kunst den eigentlichen Ort der Revolte, nicht im gesellschaftlichen Kampf, die Dekolonisierung sei nach Camus nicht die zentrale Aufgabe21 und auch die Dritte Welt nicht die einzig relevante Öffentlichkeit. Im Fokus der Kritik steht unter anderem Camus’ Reflexion L’homme révolté, in der nicht die politische, sondern eine unhintergehbare existentielle Revolte des Menschen im Vordergrund steht, die sich als künstlerische Revolte manifestiert.22 Das Projekt eines prononciert politischen, publizistischen und literarischen Kampfes, wie es die Zeitschrift Souffles geradezu inkarnierte, ist letztlich sowohl an der zunehmenden politischen Repression23 als auch an der Resignation einer eingeschüchterten Öffentlichkeit gescheitert. Viele derjenigen Schriftsteller, die sich zu Beginn für ein explizit politisches Engagement der Literatur aussprachen und selbst politisch aktiv waren, entfernten sich vom ästhetischen Standpunkt einer engagierten Literatur oder gingen ins Exil, in der Regel nach Frankreich, um dort Zensur und Verfolgung durch den marokkanischen Staat zu entgehen. Die breitere frankophone Leserschaft im internationalen Raum gab ihnen die Gelegenheit, stärker auf die politischen Verhältnisse in Marokko aufmerksam zu machen und so zumindest indirekt auf sie einzuwirken.
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legitimes Mittel an und wendet sich in seinem Vorwort zu Fanons Die Verdammten dieser Erde gegen A. Camus als Vertreter der »Gewaltlosen« und seine Essaysammlung »Weder Opfer noch Henker«: »Sie sehen gut aus, unsere Gewaltlosen: weder Opfer noch Henker. Kommt mir bloß nicht damit! [...] wenn die Gewalt heute Abend begonnen hätte, wenn es auf der Erde niemals Ausbeutung und Unterdrückung gegeben hätte, dann könnte die demonstrative Gewaltlosigkeit vielleicht den Streit besänftigen. Aber wenn das ganze System bis zu euren gewaltlosen Gedanken von einer tausendjährigen Unterdrückung bedingt ist, dann dient eure Passivität nur dazu, euch auf die Seite der Unterdrücker zu treiben.« J.P. Sartre, »Vorwort«, in: F. Fanon, Die Verdammten der Erde, aus dem Französischen von Traugott König, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1981, S. 7–28, hier 22 f. Vgl. B. Jacobiak, »Camus le colonisateur sublimé«, in: Souffles, 12 (1968), S. 22–28. So beschreibt Jacobiak, wie Albert Camus in La peste »alle Spuren des kolonisierten Menschen in einer algerischen kolonisierten Stadt verwischt«. B. Jacobiak, »Camus le colonisateur sublimé«, in: Souffles, 12 (1968), S. 24. Vgl. A. Camus, Der Mensch in der Revolte, Hamburg: Rowohlt 1953, S. 205–225. Detaillierter zu den genauen Hintergründen vgl. den Beitrag von K. Sefrioui in diesem Band.
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Ein Beispiel für diesen Weg ins Exil ist der Schriftsteller Tahar Ben Jelloun.
3. Tahar Ben Jelloun: frühe und späte Gesellschaftskritik Tahar Ben Jelloun (geb. 1944) ist ein gesellschaftskritischer Autor, er schreibt über Unterdrückung, Gefangenschaft und Korruption und erlebt als junger Schriftsteller die Willkür des marokkanischen Staates von Anfang an hautnah mit. Als Philosophiestudent nimmt er 1965 an Studentenprotesten teil und wird 1966 unter dem Verdacht, die Unruhen organisiert zu haben, in ein militärisches ›Trainingslager‹ zwangsrekrutiert, aus dem er erst Anfang 1968 wieder entlassen wird. Hier schreibt er heimlich sein langes Gedicht L’Aube des dalles (dt.: Morgenröte der Steinplatten), das 1968 in Souffles veröffentlicht wird,24 dem Jahr, in dem Ben Jelloun am Gymnasium Charif Idrissi in Tetuan als Philosophielehrer seinen Dienst aufnimmt. Das Gedicht L’Aube des dalles wendet sich – wie auch viele seiner folgenden Gedichte, Erzählungen und Romane, jedoch in explizit anklagender Form – den gesellschaftlich Marginalisierten, den Schuhputzern, Dieben und Prostituierten der Städte zu.25 Es beschreibt die sozialen Missstände und Ungleichheiten, die zum Zündstoff der Jugendrevolte werden. Mit der Anklage der Entführung von Oppositionellen »Ein Mann ist heute morgen verschwunden«26 bezieht er sich konkret auf 24 T. Ben Jelloun, »L’Aube des dalles«, in: Souffles, 12 (1968), S. 38–43, im Folgenden zitiert nach: ders., Poésie complète 1966–1995, Paris: Seuil 1995, S. 13–22; dt.: ders., »Morgenröte der Steinplatten«, in: ders., Die Mandelbäume sind verblutet, Berlin: Aufbau 1979, S. 67–80. 25 »A toi la ville qui se situe entre la misère et le faste, entre l’orgueil et la lumière dissoute.« Ben Jelloun »L’Aube des dalles« (Fn. 24), S. 13; dt.: »Dein ist die Stadt, die zwischen Elend und Prunk, zwischen Stolz und zerfließendem Licht liegt.« ders., »Morgenröte der Steinplatten« (Fn. 24), S. 67. Lange Verse hat Ben Jelloun den unzähligen Kindern, den kleinen Schuhputzern gewidmet. Sie verkörpern den »gemeuchelten Hoffnungsstrahl« (»Morgenröte der Steinplatten«, S. 75), die »espérance meurtrie« (»L’Aube des dalles», S. 18). 26 »Un homme a disparu ce matin. / On me dit que la poésie ne peut rien / les mots s'enroulent dans un linceul de sang / Le verbe se coagule en poings levés / et l'homme, cet homme qui n'est plus revenu / un corps / qu'on a dissous dans l'acide sulfurique / un corps / qu'on a trempé dans la chaux / Que dira /le vent à l'érosion / Que dira / le sabre à la nuque déchirée / Quand / de cet homme il faudra se souvenir / Cet homme a disparu dans la clarté du matin / Aurait-il été un prophète libérateur ?« (T. Ben Jelloun, »L’Aube des dalles» (Fn. 24), S. 14 f. Dt.: »Ein Mann ist heute morgen verschwunden. /
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das Schicksal des oppositionellen Politikers Mehdi Ben Barka, der im Oktober 1965 vom marokkanischen und französischen Geheimdienst in Paris verschleppt wurde und dessen Fall hohe Wellen schlug.27 In der Verzweiflung der allgemeinen Misere ist keinerlei Hoffnung mehr möglich. »Du kannst nicht einmal von der Hoffnung sprechen. Du weißt nicht, was das ist.«28 Die Auswanderung lockt als Alternative, aber die als Bergarbeiter in den Westen »exportierten« jugendlichen Marokkaner müssen sich verpflichten, für den Reisepass zu bezahlen, mehr noch für den Arbeitsvertrag und erneut etwas für seine Verlängerung.29 Diese Thematik der Ausbeutung greift Ben Jelloun in seiner späteren Studie über das soziale Elend der Gastarbeiter La plus haute des solitudes 1977 wieder auf.30 Auch die in l’Aube des dalles thematisierte
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Man sagt mir, die Poesie vermöge nichts / die Worte hüllen sich in ein blutiges Leichentuch / Das Wort gerinnt zu erhobenen Fäusten / und der Mann, dieser nicht zurückgekehrte Mann / ein Körper / den man in Schwefelsäure aufgelöst hat / ein Körper / den man in Kalk getaucht hat / Was wird / der Wind zur Auswitterung sagen / Was wird / die Schneide zu dem durchtrennten Nacken sagen / Wann wird man sich dieses Mannes erinnern / Dieser Mann ist in der Helle des Morgens verschwunden / Wäre er ein Freiheitsprophet geworden?« (ders., »Morgenröte der Steinplatten« (Fn. 24), S. 71. Erst nach dem Tod seines Vaters Hassan II. erlaubte sein Sohn und Thronfolger Mohammend VI. offizielle Untersuchungen. Mehdi Ben Barka wurde vom französischen und marokkanischen Geheimdienst in eine Falle gelockt, vom marokkanischen Geheimdienst in Frankreich zu Tode gefoltert, sein Leichnam nach Marokko verschickt und in einem Säurebad beseitigt. Dies Narrativ bzw. diese Kurzversion, in der wichtige Details (noch) nicht zur Sprache kommen, wird von der marokkanischen Zivilgesellschaft kritisch hinterfragt. Vgl. z.B. zwei Hefte al-Ǧābirīs von Mawāqif, die Ben Barka gewidmet sind (Hefte 6 und 7 (2002) von Mawāqif). T. Ben Jelloun, »Morgenröte der Steinplatten« 1979 (Fn. 24), S. 67; »Tu ne peux même pas parler d’espoir. Tu ne sais pas ce que c’est.« ders., »L’Aube des dalles« 1995 (Fn. 24), S. 13. Vgl. T. Ben Jelloun, »L’Aube des dalles« 1995 (Fn. 24), S. 19: »Tu sais Orphée, dans notre pays la corruption est de rigueur : à l’ouvrier qu’on exporte pour les mines de l’Occident, on demande quelques cinq cents dirhams pour le passeport, un peu plus de mille pour l’embauche et quelques centaines pour le maintien. / Non tu ne le savais pas.« Dt.: ders. »Morgenröte der Steinplatten« 1979, S. 76 (Fn. 24): »Orpheus, du weißt, in unserem Land geht es nicht ohne die Korruption: von dem Arbeiter, den man in die Bergwerke des Okzidents exportiert, fordert man um die fünfhundert Dirham für den Paß, etwas über tausend für die Anwerbung und einige hundert für das Offenhalten. / Nein, das hast du nicht gewußt.« T. Ben Jelloun, La plus haute des solitudes, Paris: Seuil 1977; dt.: Die tiefste der Einsamkeiten: Das emotionale und sexuelle Elend der nordafrikanischen Immigranten, Frankfurt/M.: Stroemfeld/ Roter Stern 1986.
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Verschleppung in ein Militärcamp nimmt Ben Jelloun in dem sehr viel später, erst 2004 veröffentlichten autobiographisch geprägten Roman Le dernier ami (dt.: Der Letzte Freund) wieder auf.31 Im Roman wird diese Episode seines Lebens mit ihrer Vorgeschichte, der Revolte von 23. März 1965 kontextualisiert. Nachdem die Regierung den Zugang zum Gymnasium für bestimmte Altersgruppen stark begrenzte, war einer beträchtlichen Zahl der Jugendlichen die Möglichkeit auf eine höhere Bildung verwehrt. Der Protest für mehr Recht auf Ausbildung ging über in eine offene Revolte, die vom Militär32 blutig niedergeschlagen wurde. Es folgten viele Tote und Festnahmen. Das Jahr 1971 markiert ebenfalls eine Niederlage der politischen Opposition in Marokko: Das im Juli 1971 geplante Attentat auf Hassan II. schlägt fehlt und die überwiegend jungen Rädelsführer werden in den Kellern des berüchtigten Gefängnisses Tazmamart ermordet, gefoltert und jahrelang inhaftiert. 1971 entschließt sich Ben Jelloun Marokko zu verlassen, er geht ins französische Exil. Seine Gedichte, Erzählungen und Romane bleiben weiterhin gesellschaftskritisch, eine direkte Kritik an den und eine Reflexion der marokkanischen Machtstrukturen, wie sie charakteristisch für die Autoren von Souffles war, findet jedoch bis zum Tod von Hassan II. kaum noch statt. An die Stelle einer direkten Konfrontation tritt eine Analyse sozialer und gesellschaftlicher Verhältnisse, die als Nährboden politischer Verhältnisse auf einer anderen Ebene ansetzen, um Missstände aufzudecken. Metaphorisch und in indirekter Sprechweise lassen sich viele der Erzählungen und Romane weiterhin auch als Kritik an politischen 31 Ben Jelloun und viele andere Intellektuelle sollten dort offiziell ihren militärischen Dienst leisten. Tatsächlich handelte es sich jedoch um ein Straflager, in dem sie inhaftiert waren, vgl. dazu T. Ben Jelloun, Le dernier ami, Paris: Seuil 2004, S. 82–89; dt.: Der letzte Freund, Berlin: Berliner Taschenbuchverlag 2006, S. 85–92. 32 T. Ben Jelloun berichtet, dass General Oufkir, der mächtigste Offizier des scheidenden Königs Hassan II., aus einem Helikopter auf die Demonstranten geschossen hatte. Nach der gewaltsamen Unterdrückung der Jugendlichen (1965) wurde Oufkir noch mächtiger, vgl. T. Ben Jelloun, Le dernier ami, Paris: Editions du Seuil 2004, S. 85; dt.: Der letzte Freund, Berlin: Berliner Taschenbuchverlag 2006, S. 88. Allerdings wendete sich das Blatt für den General ein paar Jahre später. Nach einem gescheiterten Putschversuchen 1972 wurde Oufkir hingerichtet, seine Ehefrau und Kinder kamen lange Jahre ins Gefängnis. Oufkirs Tochter Malika berichtet in ihrer Autobiographie über die Gefangenschaft und die Zeit danach, vgl. M. Oufkir u. M. Fitoussi, La prisonnière, Paris: Grasset, 2000. Dt.: M. Fitoussi u. M. Oufkir, Die Gefangene. Ein Leben in Marokko, München: Marion von Schröder Verlag 1999. Es gehörte zur politischen Taktik von Hassan II. die Angehörigen von politischen Attentätern (wie 1971 und 1972) mit zu inhaftieren.
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Verhältnissen lesen. So tritt in dem Romanen L'Enfant de sable von 1985 (dt.: Sohn ihres Vaters)33 und La Nuit sacrée von 1987 (dt.: Die Nacht der Unschuld)34 an Stelle der staatlich-politischen Herrschaft die väterliche Macht ins Zentrum seiner Überlegungen. L'Enfant de sable erzählt die Geschichte eines kleinen Mädchens namens Zahra, die von ihrem Vater nach sieben älteren Schwestern als Junge erzogen wird. Der Roman La Nuit sacrée führt das Schicksal dieses kleinen Mädchens Zahra fort und setzt an, nachdem sie – nun in der Rolle eines jungen Mannes – das Erwachsenenalter erreicht hat. Das Aufwachsen in der Rolle eines Jungen ist für die Protagonistin existentiell ambivalent. Zum einen bedeutet es für das kleine Mädchen größere Freiheiten und eine Wertschätzung als potentielle(r) Nachfolger(in): »Wie ihr wisst, war ich dieser Sohn, von dem er träumte.«35 Zum anderen kommen die zwanzig Jahre Rollentausch dem Leben in einer Gefangenschaft gleich, in dem nicht zuletzt weibliche Triebe und Neigungen verboten sind und unterdrückt werden müssen. Der Gefängniswärter war niemand geringeres als der eigene Vater. »Es begab sich im Laufe jener geheiligten Nacht […], dass mein sterbender Vater mich an sein Bett rief und mich befreite. Er ließ mich frei, so wie man einst die Sklaven frei ließ.«36 Der Kampf um die Wiedergewinnung einer maskierten weiblichen (sexuellen) Identität, welche Ben Jelloun in Die Nacht der Unschuld meisterhaft beschreibt, ist ein Kampf gegen eine Gewalt, die sich gesellschaftlich, aber auch politisch deuten lässt. Es ist ein Kampf gegen den Auftrag, die unerfüllten Wünsche der Eltern befriedigen zu müssen. Und es ist ein Kampf gegen eine patriarchale Gesellschaftsstruktur, in der die Freiheit des vollwertigen Erben nur um den Preis der Selbstverleugnung möglich ist. Aber der Kampf um eine verleugnete Identität lässt sich auch als Kampf gegen ein repressives Staatsystem (kolonialer oder postkolonialer Natur) lesen, das sich in Familie, Schule und Justiz manifestiert. Dass die marokkanische Gesellschaft an keiner kollektiven Amnesie litt und leidet, zeigt sich unter anderem an den vielen Gefangenschaftsberichten, die seit den 1990ern erschienen sind.37 Entscheidend für ihr 33 Vgl. T. Ben Jelloun, L’enfant de sable, Paris: Seuil 1985; dt.: Sohn ihres Vaters, übersetzt von C. Kayser, Hamburg: Rowohlt 1989 (dt. EA 1986). 34 Vgl. T. Ben Jelloun, La nuit sacrée, Paris: Seuil 1987; dt.: Die Nacht der Unschuld, übersetzt von E. Moldenhauer, Berlin: Berlin Verlag 1988. 35 T. Ben Jelloun, Die Nacht der Unschuld (Fn. 34), S. 8; ders., La nuit sacrée (Fn. 34), S. 6. 36 T. Ben Jelloun, Die Nacht der Unschuld (Fn. 34), S. 22; ders., La nuit sacrée (Fn. 34), S. 22. 37 Vgl. z.B. C. Daure-Serfaty, Tazmamart. Une prison de la mort au Maroc, Paris: Stock 1992; A.-A. Bourequat, Tazmamart. Dix-huit ans de solitude, récit recueilli par F. Thibaux, Paris: Lafon 1993; A. Marzouki Tazmamart, Cellule 10, Paris: Méditerranée 2000; A. Serhane, La chienne de Tazmamart,
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reguläres Erscheinen auf dem Buchmarkt war ein zaghafter politischer Klimawandel. Nach einer Verfassungsänderung im Jahr 1992, noch unter Hassan II., wurde eine vorsichtige Liberalisierung angestoßen. Erst nach dem Tod Hassan II. 1999 und unter der Herrschaft seines Sohnes Mohammed VI. kam eine teilweise Aufarbeitung der unter Hassan II. begangenen staatlichen Verbrechen in Gang, die seit 2004 von einer Wahrheitskommission (L'Instance équité et réconciliation; dt.: Gerechtigkeits- und Versöhnungskommission) aufgearbeitet wurden und werden.38 Hatte sich Ben Jelloun im französischen Exil immer wieder für die Einhaltung der Menschenrechte ausgesprochen und auch politisch engagiert – so zum Beispiel für die Verhältnisse nordafrikanischer Emigranten in Frankreich39 –, so äußerte er im Exil keine direkte Kritik am marokkanischen Staat und den durch ihn erfolgten Menschenrechtsverletzungen. Erst nach dem Tod Hassan II. nimmt er unter anderem mit dem 2001 erschienenen Roman Cette aveuglante absence de lumière (dt.: Das Schweigen des Lichts) oder der bereits erwähnten literarischen Autobiographie Le dernier ami von 2004 wieder die politischen Verhältnisse und Unrechtserfahrungen in Marokko in den Blick. Cette aveuglante absence de lumière beschreibt detailliert Folter und Gefangenschaft40 und stützt sich dabei auf den Bericht Aziz Binebines, ein 1991 aus dem Gefängnis Tazmamart entlassener politischer Gefangener.41 Jede der Figuren im Roman lernt für sich, das Leid zu zähmen (durch Ausdauer, eine geistige Emigration aus dem gefolterten Körper, durch stoische Hinnahme, das Abdriften in Wahnvorstellungen, durch religiös-mystische Annäherungen an Gott, die Lektüre von Koranversen usw.).42
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Paris: Méditerranée 2001; A. Fakihani, Tazmamart côté femme : témoignage de Abdelfettah Fakihani, Casablanca: Ad-Dār al-ʿalamiya lil-kitāb 2003. Vgl. den Beitrag von M. Al-Hachimi, »Keine Versöhnung ohne Wahrheit. Zur Interaktion zwischen Staat und Zivilgesellschaft im Versöhnungsprozess in Marokko«, in: S. Dhouib (Hg.), Gerechtigkeit in transkultureller Perspektive, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft, S. 189–210. Vgl. T. Ben Jelloun, La réclusion solitaire, Paris: Denoël 1976 (dt.: Einzelhaft), ders., Les yeux baissés, Paris: Seuil 1991 (dt.: Mit gesenktem Blick, Hamburg: Rowohlt 1992) sowie ders., Les raisins de la galère, Paris: Fayard 1996 (dt.: Die Früchte der Wut, Berlin: Berliner Taschenbuchverlag 2007). Vgl. T. Ben Jelloun, Cette aveuglante absence de lumière, Paris: Seuil 2001; dt.: Das Schweigen des Lichts, Berlin: Berlin Verlag 2001. Für die Öffentlichkeit wurde der Bericht Aziz BineBines erst 2009 zugänglich: A. BineBine, Tazmamort: récit. Dix-huit ans dans le bagne de Hassan II, Paris: Denoël 2009. Vgl. T. Ben Jelloun, Cette aveuglante absence de lumière (Fn. 40), z. B. S. 163–166. dt.: ders., Das Schweigen des Lichts (Fn. 40), S. 171–175.
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Die internationale Öffentlichkeit erfuhr bereits viel früher über die Folterkeller Hassan II. – ab 1981 gelang es, Briefe aus Tazmamart zu schmuggeln, und Ben Jelloun erntete für seine späte Anklage nicht nur Anerkennung, sondern auch viel Kritik. Eigene Erfahrungen Ben Jellouns scheinen sich im Roman zu manifestieren, wenn er den durch willkürliche Festnahmen verursachten allgemeinen Verfolgungswahn beschreibt, der die Gesellschaft beherrscht und die Opposition paralysiert.43 Interessant wie problematisch ist, dass Ben Jelloun in Cette aveuglante absence de lumière (2001) im Prozess der Selbstbefreiung dem Vergessen als Lösung aus schmerzhaften Erinnerungen eine positive Rolle zuschreibt. Im Vergessen liegt eine Art Hoffnung, das Gefühl des Menschenhasses los zu werden, denn »Hass macht einen klein und schwach. Er höhlt von innen aus und greift das Immunsystem an«.44 Es gelte sich vom Hass, das heißt von »jenem zerstörerischen Instinkt, jenem Gift, das Herz und Leber zerfrisst«45 zu befreien. Aus der Perspektive des Gefangenen ist das Vergessen ein Versuch, das alte Leben hinter sich zu lassen, um ein neues zu führen, ohne die Gräueltaten der einstigen Peiniger zu verharmlosen.
4. Die aufklärerische Sozialkritik der Zeitschrift Lamalif (1966–1988) Die Zeitschrift Lamalif suchte mit ihrer aufklärerischen Sozialkritik und dem Ziel, die breite Öffentlichkeit zu sensibilisieren, einen eigenen Weg, mit der Diktatur und Repression des postkolonialen marokkanischen Staates umzugehen. Von Zakya Daoud und Mohamed Loghlam ins Leben gerufen, erschien Lamalif erstmals im Jahre 1966 (demselben Erscheinungsjahr wie Souffles).46 Der Titel der Zeitschrift bedeutet auf Arabisch das Protestwort »Nein!« (lā). Die Mitherausgeberin Zayka Daoud erklärt in ihrer Erinnerung über die Arbeit der Zeitschrift: »Der Titel ist nicht per Zufall gewählt worden; er ist eine Stellungnahme, ein offenes Nein zu allem, was den Erwartungen der Bevölkerung nicht entspricht und die Schwierigkeiten des Landes nicht löst«.47 Das 43 44 45 46
Vgl. ebd., S. 109–116, dt.: ders., ebd., S. 113–122. Ebd., S. 57, dt.: ders., ebd., S. 56. Ebd., S. 71, dt.: ders., ebd., S. 74. In ihren Erinnerungen über die Jahre der Zeitschrift Lamalif beschreibt die ehemalige Herausgeberin Z. Daoud die Kritik ihrer reformorientierten Zeitschrift an den radikalen politischen Ansichten der Herausgeber A. Laâbi und A. Sarfaty von Souffles vgl. Z. Daoud, Les années Lamalif. 1958–1988 trente ans de journalisme au Maroc, Casablanca: Tarik Editions 2007, S. 194 f. 47 Z. Daoud, ebd., S. 154.
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Nein richtet sich vor allem gegen die gesellschaftlichen Missstände und interveniert gegen die politische Macht, insofern die Unbeweglichkeit der konservativen Mentalitäten und die Ungleichheit der sozialen Verhältnisse die politische Macht stützen.48 Ohne eine direkte Konfrontation mit der politischen Macht suchen die Herausgeber von Lamalif eine breite Öffentlichkeit, um sie auf die sozialen Missstände aufmerksam zu machen.49 In den 1970er Jahren wird die Gesellschaft unter der Diktatur von Hassan II. immer wertkonservativer.50 Mit dem Ziel, der sittlichen Liberalisierung entgegenzuwirken, werden unter anderem die Koranschulen verstärkt gefördert.51 Gegen den Feldzug des Traditionalismus, der die politische Diktatur stärken soll, berichtet Lamalif in seinen monatlichen Ausgaben ausführlich über Verhaftungen und Unterdrückungen während der sozialen Ausschreitungen wie zum Beispiel am 20. Juni 1981, als es in Casablanca nach der Erhöhung der Lebensmittelpreise und einem Generalstreik zu schweren Unruhen mit vielen Toten und Verletzten kommt und viele Menschen verhaftet wurden.52 Die erste Ausgabe der Zeitschrift Lamalif reflektiert manifestartig auf den engen Bezug von Literatur und Protest: »Die Kultur ist nicht Zustimmung und kann es nicht sein, sie ist Protest, sie ist permanenter Protest. Literatur ist ein Risiko, sie ist Abenteuer. Will man die Schriftsteller in eine bestimmte Richtung steuern, zwingt man sie zum Schweigen oder lässt sie verarmen.«53 Ihrem deklarierten Selbstverständnis nach gibt sie sich als kulturelle, wirtschaftliche und soziale Zeitschrift aus. Wird das politische Ziel des Protests nicht in den Vordergrund gestellt, so steht doch die Überzeugung im Hintergrund, dass alle wirtschaftlichen Sorgen der Dritten Welt letzten Endes politischer Natur seien.54 Ähnlich wie 48 Vgl. ebd., S. 54. 49 So z.B. tritt Lamalif für die Frauenrechte ein vgl. Z. Daoud, ebd., S. 89–90. Als Form des Protestes verweist Lamalif auf die von Martin Luther King aufgerufenen friedlichen Massedemonstrationen und den zivilem Ungehorsam vgl. z.B. A. H., »M. L. King et la non-violence vus par un pacifiste marocain«, Lamalif, 19 (1968), S. 5. 50 Vgl. Z. Daoud, Les années Lamalif, S. 127. 51 Vgl. ebd., S. 201 f. 52 Vgl. ebd., S. 321. 53 Autorenkollektiv Lamalif, [o.T.], in: Lamalif 1 (1966), S. 32–37, hier S. 37; vgl. ebenfalls das Manifest von Lamalif, »Ce que nous voulons«, Lamalif, 1 (1966), S. 5 ff. 54 »Deswegen gehen wir davon aus, dass das Problem der Entwicklung und der Unterentwicklung kein wirtschaftliches mehr ist, sondern ein politisches, d.h. es ist nicht nur ein wirtschaftliches, sondern auch ein politisches Problem. Mit anderen Worten, an die Frage wird nicht mehr mit Bezug auf Zusammenarbeit und Hilfe, sondern unter dem Aspekt von Protest und Kampf
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Souffles versteht Lamalif Kultur als eine wichtige Arena des politischen Kampfs gegen Kolonialismus und Neokolonialismus;55 Kunst und Kultur sind Mittel und Plattformen, die breite Öffentlichkeit für die kritische Reflexion der sozialen Belange zu gewinnen. Für den Künstler bedeutet dies, dass seine Kunst nicht nur einer geschlossenen Minderheit vorbehalten ist, er bemüht sich darum, eine Brücke zur Öffentlichkeit zu schlagen, ohne dass seine Kunst politisch vereinnahmt wird. Denn eine politische Vereinnahmung der Kunst durch die Politik, ihre politische Dienstbarkeit, provoziert immer auch eine Gegenreaktion.56 Für die marokkanische Monarchie waren die politischen Unruhen nach der Unabhängigkeit immer ein Vorwand, die Repression und Verfolgung von Oppositionellen zu verstärken. Im gleichen Atemzug versuchte die Monarchie die intellektuelle Elite mit Privilegien zu ködern, sie in das System zu integrieren und somit ihre Kritik zu neutralisieren.57
5. Protest und Ideologiekritik bei Muḥammad ʿĀbid al-Ǧābirī Nicht nur unter den Schriftstellern und in der kritischen Publizistik, auch in der Philosophie formierte sich eine Opposition zum postkolonialen marokkanischen Staat. Eine zentrale Figur in der universitären Philosophie ist der Philosoph al-Ǧābirī, der den Begriff des politischen Engagements neu zu bestimmen sucht und davon ausgeht, dass es zunächst und vor allem um eine »Dekolonisierung der Köpfe« gehe, das heißt um eine Auseinandersetzung mit den nach wie vor bestehenden kolonialen Denkmustern, die es einer umfangreichen Ideologiekritik zu unterziehen gelte. Die Ideologie, gegen die sich seine Kritik richtet, besteht im Entlarven einer scheinbar alternativlosen zwei-Wege-Dichotomie: Auf der herangegangen.« Lamalif, »Le défi du tiers monde«, in: Lamalif, 18 (1968), S. 5. 55 »Die Befreiung der Kultur bedeutet die Befreiung des Menschen. Kann sich eine neue Nationalkultur unter der Herrschaft von Kolonialismus und Neokolonialismus entwickeln? […] Es wurde deutlich bewiesen, dass Kampf und Kultur eng miteinander verbunden sind. […] Die Verbindung von Kampf und Kultur wurde besonders von Abelelaziz Belal (Marokko) und Mario de Andrade (Angola) gezeigt.« Z. Daoud, »Le congrès culturel de la Havane. Présentation et compte rendu des Commissions«, in: Lamalif, 18 (1968), S. 34. 56 Vgl. Z. Daoud, »Le droit à la contestation est vital«, in: Lamalif, 18 (1968), S. 50. 57 Z. Daoud, Les années Lamalif (Fn. 46), S. 197.
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einen Seite steht die arabische Tradition, auf der anderen die westliche Denkrichtung. Der Kampf um die Rekonstruktion einer arabischen Identität setzt sich gegen eine unkritische Übernahme westlicher Ideologeme ab und ist nach al-Ǧābirī jedoch zugleich auch ein Kampf gegen die Abhängigkeit von einem erstarrten arabischen Erbe. Im Fokus der Ideologiekritik al-Ǧābirī steht darüber hinaus auch die Instrumentalisierung religiöser Quellen als Mittel zur Machtlegitimation. In diesem Sinne untersucht der politische Philosoph al-Ǧābirīs die Machtstrukturen vor dem Hintergrund ihrer historischen und sozialen Verhältnisse und zeigt auf, dass sie seit der ersten islamischen Dynastie vorrangig nicht mehr mit Religion, sondern mit Gewaltstrukturen verbunden sind.58 Die theologischen Fragen waren verdeckte politische Machtkonflikte, die von den politischen Mächten geschickt ausgenutzt wurden. An die Stelle einer die Wohlhabenden und religiösen Eliten schützenden und stützenden, die Abhängigkeit vom Westen pflegenden kolonialen Kultur soll nun eine kritisch reflektierte, das arabische Subjekt befreiende »Nationalkultur« treten.59 Im Namen dieser kritischen Selbsterkenntnis führt für al-Ǧābirī nur ein reformatorischer Weg (nahḍa) zum erfolgreichen Widerstand gegen die Kolonialherren.60 Eine revolutionäre Alternative, wie sie von arabischen Marxisten vertreten wurde und in den 1960er und 1970er Jahren die politische Opposition der sogenannten Länder der Dritten Welt bestimmte, lehnte er ab. Nur diejenigen Ideen und politischen Programme, die eine Unterstützung in der breiten Öffentlichkeit fänden, hätten das Potential für eine erfolgreiche Umsetzung und dies seien seiner Einschätzung nach die Werte der Demokratie, die auf den Menschenrechten gründe.61 Da das islamische Kulturerbe der arabischen Welt ebenfalls eine breite Zustimmung in der Bevölkerung findet, versuchte al-Ǧābirī, die Menschenrechte mit den islamischen moralischen Ideen zu verbinden.62 Ein reformatorisch orientierter Protest muss al-Ǧābirī zufolge von einer politischen Partei geführt werden, die legal am politischen Geschehen 58 Die Politik und Machtfelder werden von drei Determinanten geprägt: von der Stammesangehörigkeit, dem Glaubensbekenntnis und der Kriegsbeute. Das imaginäre politische Leben ist aufgebaut auf Gemeinschaft anstatt auf Individuum, auf Kriegsbeute anstatt auf funktionierender Wirtschaft und auf Ideologie anstatt auf rationalen Normen. Vgl. Muḥammad ʿĀbid al-Ǧābirī, al-ʿAql as-siyāsī al-ʿarabī. Muḥaddadātuhu wa-taǧallīyātuhu, Bairūt: al-Markaz aṯ-Ṯaqāfī al-ʿArabī 1990. Fr. Übersetzung M.A. al-Jabri, La raison politique en Islam. Hier et aujourd´hui, Paris: La Découverte 2007. 59 Vgl. M. ʿA. al-Ǧābirī, Mawāqif, 71 (2008), S. 51 ff. 60 Vgl. ebd., 63 (2007), S. 63. 61 Vgl. M. A. al-Jabri, Democracy, Human Rights and Law in Islamic Thought, [London [u.a.]: I. B. Tauris [u.a.] 2009. 62 Vgl. M. ʿA. al-Ǧābirī, Fikr wa-Naqd, 26 (2000), S. 13 f.
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teilnimmt. Politik sollte daher nicht im Untergrund operieren und auch nicht von revolutionären Parteien dominiert werden. In diesem Sinne versuchte al-Ǧābirī Mitte der 1970er die marokkanische Öffentlichkeit von demokratischen Wahlen anstatt von gewalttätigen Umstürzen zu überzeugen. Zudem tritt er für eine Kompromisslösung zwischen Protest und Loyalität zum politischen Regime ein, indem er den Gehorsam des Bürgers durch die staatliche Gerechtigkeit (al-ʿadl) kompensiert sehen will.63 Insofern die verschiedenen marxistischen Ideologien zwar die gebildete Elite ansprachen und an der Universität weit verbreitet waren, in der breiten Bevölkerung jedoch keine Basis fanden,64 wirft al-Ǧābirī auch einen kritischen Blick auf die Protestgeneration von Souffles und Lamalif und ihre politischen Überzeugungen. Eine Absage an eine revolutionäre Gewalt bedeutet jedoch zugleich eine Kompromisslösung mit dem Staat, der die Politik des Protests nun durch legale Oppositionsparteien erlaubte. Viele linke Bewegungen haben diesen als konservativen, von Kompromissen bestimmten Weg nicht akzeptiert.
6. Schluss Mit den beiden publizistischen Projekten Souffles und Lamalif, dem Schriftsteller Ben Jelloun und dem Philosophen al-Ǧābirī wurde ein Blick auf unterschiedliche Formen der Kritik und des Protestes gegen autoritäre Strukturen des postkolonialen Marokkos geworfen. Deutlich wurde, dass in allen oppositionellen Bestrebungen der Öffentlichkeit eine wichtige Rolle zukommt und dass eine Kritik an der Gegenwart immer eine Kritik der Vergangenheit einschließt, insofern Macht- und Unrechtsstrukturen strukturelle Kontinuität aufweisen, die es kritisch zu beleuchten gilt. Der Weg hin zu einer demokratischen marokkanischen Gesellschaft führt über eine Hinwendung zur vorkolonialen Tradition und ihre Kritik gleichermaßen; und er führt über eine Kritik der sogenannten westlichen Werte ebenso wie er an ihre emanzipatorischen Ideen anschließt. Steht die Forderung der Dekolonisierung des marokkanischen Staates immer wieder im Mittelpunkt der gesellschaftlichen Opposition, so leidet diese Forderung jedoch auch an einer inhaltlichen Unbestimmtheit, ohne dass sie im Namen einer eigenen kulturellen Identität an Anziehungskraft für die Massen verloren hätte. Insofern die Forderung nach Dekolonisierung kein bestimmtes politisches Programm einschließt, 63 Vgl. ebd., 25 (2000), S. 11 f. 64 Vgl. M. ʿA. al-Ǧābirī, Mawāqif, 71 (2008), S. 61.
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sondern alle Bereiche der Gesellschaft, das heißt eine Dekolonisierung des Rechts, der Geschichte, der Kultur und Sprache umfasst, kann sie politisch vielfältig besetzt werden. Sie ist zu einem neuen ideologischen Spielfeld geworden. Paradoxerweise ist in den letzten Jahren die Rhetorik der Dekolonisierung, die einst gegen den Staat gerichtet war, nun auch vom Staat selbst besetzt worden, und zwar mit dem Ziel, ihn zu traditionalisieren. In diesem Sinne ist es dem Staat teilweise gelungen, den Spieß der Protestbewegungen umzudrehen.
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FORM UND FUNKTIONEN VON INTERTEXTUALITÄT
Bettina Bock und Moez Maataoui
Form und Funktionen von Intertextualität in öffentlichen Protestäußerungen während der Umbrüche in Tunesien (2011) und in der DDR (1989) Eine Gegenüberstellung Ein kontrastiver Ansatz Warum wird hier ein Ansatz gewählt, der sprachliche Äußerungen aus dem Kontext zweier historischer Ereignisse gegenüberstellt, was sind Ziel und Grenzen dieser Untersuchung? Kontrastive Ansätze haben in der Sprachwissenschaft eine gewisse Tradition: Lange Zeit ging es um Vergleiche auf Systemebene, um Vergleiche zwischen Sprachen, aber auch um pragmatische und soziokulturelle Phänomene insbesondere im Bereich interkultureller Kommunikation.1 Zu den jüngeren Ansätzen gehört die kulturkontrastive Diskurslinguistik.2 Unser Vorgehen im vorliegenden Beitrag ist keiner dieser Richtungen eindeutig zuzuordnen. Ziel ist zudem kein ausführlicher Vergleich der Protestäußerungen im Sinne eines Sprach-, Kultur- oder Diskursvergleichs. Der Schwerpunkt des Beitrags liegt auf der Analyse von Einzelfällen, also Revolutionssprüchen, die aus einem deutschsprachigen DDR- bzw. einem arabischsprachigen Tunesien-Kontext stammen. Es wird aber kein systematischer Vergleich auf Sprach-, Diskurs- oder Gesellschaftsebene durchgeführt. Ausgehend von der analytischen Beschreibung der Sprüche wurden vielmehr Charakteristika der Intertextualitätsbeziehungen gegenübergestellt und Schlussfolgerungen in Bezug auf Gemeinsamkeiten und Besonderheiten hinsichtlich Form und Funktion gezogen. Diese Schlussfolgerungen bleiben hauptsächlich verankert in den einzelnen Texten.
1
2
Vgl. W. Czachur, Diskursive Weltbilder im Kontrast. Linguistische Konzeption und Methode der kontrastiven Diskursanalyse deutscher und polnischer Medien, Wrocław: ATUT 2011, S. 21 ff. Vgl. ebd.
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Auch bei dieser Form der Analyse und Gegenüberstellung muss der Verbindungspunkt zwischen den untersuchten Texten offen gelegt werden – es muss schlicht geklärt werden: Warum werden diese Demonstrationssprüche (und keine anderen) eigentlich untersucht und gegenübergestellt? Bei einer ›echten‹ kontrastiven Analyse wäre dies das tertium comparationis, das immer ein methodologisches Konstrukt und nicht direkt im System der Sprache oder in der Funktion angesiedelt ist.3 Den Anstoß für die Untersuchung in der vorliegenden Form gab zunächst einmal die Feststellung, dass Intertextualität in den Demonstrationssprüchen beider Kontexte vorkommt. Ziel der Analyse ist es, genauer zu beschreiben, in welcher Weise und mit welcher Funktion intertextuelle Bezüge von den Demonstranten eingesetzt werden. Gegenstand ist also eine bestimmte Textsorte und ein spezifisches sprachlich-textuelles Phänomen. Zwischen den historischen Kontexten, aus denen die Demonstrationssprüche stammen, gibt es dabei sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede. Diese werden als mögliche erklärende Dimension herangezogen, wenn es im letzten Teil des Beitrags darum geht, Schlussfolgerungen aus den Analyseergebnissen zu ziehen.
Die Textsorte Demo-Spruch In der Beschreibung der Textsorte Demo-Spruch orientieren wir uns an der theoretischen Beschreibung von Ulla Fix.4 Die Bezeichnung Demo-Spruch ist im Kontext der Wendezeit in der DDR üblich geworden. Demo-Sprüche bilden eine eigene Textsorte, die der Basistextsorte Spruch untergeordnet ist und die zur Familie der politischen Spruchtextsorten gehört, die also einen politischen Inhalt aufweisen und »als stark situationsgebundene Texte mit primär appellativer Funktion gebraucht werden.«5 Den politischen Spruchtextsorten werden auch die Textsorten Slogan, Losung, Graffito zugeordnet. Situationsgebundenheit, das heißt Bezug auf aktuelle Ereignisse, und appellative Funktion grenzen die politischen Spruchtextsorten von anderen Spruchtextsorten mit allgemeiner Aussage, wie beispielsweise Sprichwörtern, die eine für die Textsorte Spruch typische, generelle Aussage haben und sich auf eine verallgemeinerbare Situation beziehen, ab.6 3 4
5 6
Vgl. ebd., S. 155. Vgl. U. Fix, »Der Spruch – Slogans und andere Spruchtextsorten«, in: U. Fix, Texte und Textsorten – sprachliche, kommunikative und kulturelle Phänomene, Berlin: Frank & Timme 2008, S. 47 ff. Ebd., S. 57. Vgl. ebd.
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FORM UND FUNKTIONEN VON INTERTEXTUALITÄT
Die appellative Funktion der Demo-Sprüche besteht darin, Widerspruch in demokratischen und auch in autokratischen Systemen, wie etwa in der DDR oder im vorrevolutionären Tunesien, auszudrücken. Fix zufolge gelten Demo-Sprüche als Bestandteil eines »instrumentalen Sprachspiels« und bieten den »Herrschaftsunterworfenen« ein Mittel zum Ausdruck ihrer Forderungen oder von Widerspruch in der Öffentlichkeit.7 In demokratischen Systemen sind Demonstrationen und die dort gesprochenen bzw. getragenen Demo-Sprüche ein legitimes Mittel zu protestieren und die Politik zu kritisieren. Sie sind hinsichtlich ihrer Emittenten von den politischen Slogans abzugrenzen. Während politische Slogans von Parteien als Mittel des Widerspruchs gegen andere Parteien, als Protest gegen die Politik der Regierung benutzt werden, werden Demo-Sprüche von Bürgern konzipiert und propagiert, die nicht als Repräsentanten einer Partei auftreten. Es geht beispielsweise um »Mitglieder von außerparlamentarischen Bewegungen, Bürgerinitiativen und Protestgemeinschaften«.8 In autokratischen Systemen werden das Schreiben und Verbreiten der Sprüche seitens der Machthabenden in der Regel als illegal betrachtet und jegliche Widersprüche oft als Widersprüche gegen das Prinzip des Systems behandelt, die seine Legitimität in Frage stellen und tiefergreifende Veränderungen hervorrufen wollen.9 Für das System gelten auch diese Demo-Sprüche als gefährlich aufgrund der Tatsache, dass sich ihre Emittenten und Zielgruppen nicht einfach einordnen lassen. Es geht um eine »nicht überschaubare und vielfältig orientierte Menge von Emittentengruppen, die sich an differenzierte Interessengruppen wenden«.10 Formal sind Demo-Sprüche wie alle Textsorten der Basistextsorte Spruch kurz und prägnant. Fix nennt zwei Gründe für die prägnante Form der Sprüche. Zum einen geht es um den Bedarf an inhaltlicher Bündigkeit. Zum anderen sollte man die Sprüche sich leicht merken und auch gut sprechen können.11 Es werden Stilmittel unterschiedlicher Art benutzt, die der Kohärenz dienen, wie beispielsweise Endreim, Alliteration, Rhythmus, Antithese, Anspielung usw.12 In Bezug auf formale Eigenschaften der Demo-Sprüche der DDR schreibt Fix: »Man findet hier alle rhetorisch-stilistischen Elemente, die
7 8 9 10 11 12
Vgl. ebd., S. 60. Ebd. Vgl. ebd. Ebd., S. 57. Vgl. ebd. Vgl. ebd.
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Sprüchen den Charakter von Wiedergebrauchsrede geben, auch spielerische, humoristische, intertextuelle Elemente.«13
Intertextualität: Definitorisches und Vorgehen in der Analyse Die Analyse orientiert sich bei der Unterscheidung der verschiedenen Intertextualitätsformen an Janich.14 Intertextualität wird in einem linguistischen Verständnis als Texteigenschaft bzw. textuelle Disposition verstanden, die die verschiedenartigen Beziehungen zwischen Texten kennzeichnet. Im Sinne von de Beaugrande und Dressler betrifft Intertextualität »die Faktoren, welche die Verwendung eines Textes von der Kenntnis eines oder mehrerer vorher aufgenommener Texte abhängig macht«.15 Intertextualität hat in diesem Sinne Anteil an der ›Texthaftigkeit‹ bzw. Kommunikativität jedes Textes. In diesem Sinne charakterisiert sie auch Adamzik: »In Texten finden sich Spuren ihrer Rezeption und rezipierte Texte hinterlassen Spuren in später produzierten Texten. […] Jeder Text zieht weitere Texte nach sich oder beeinflusst Gehalt und Gestalt späterer Texte.«16 Das Ausmaß dieser Beeinflussung kann verschieden groß sein und die Beziehung mehr oder weniger offensichtlich oder verstehensnotwendig. Zu unterscheiden ist in der linguistischen Diskussion17 Intertextualität (1) als Gattungs- bzw. Textsortenproblematik (wie können beispielsweise einzelne Textexemplare als Vertreter einer Textsorte erkannt werden, in welcher Weise beziehen sie sich typologisch auf andere Texte?) und (2) als konkrete Beziehung zwischen Einzeltexten. In der folgenden Analyse der Demonstrationssprüche spielen zwar beide Aspekte – der Bezug zum Textmuster sowie konkrete Einzeltexte – eine Rolle, es geht jedoch immer um Intertextualität als Sprachspiel, und zwar als Sprachspiel, das vom Rezipienten erkannt oder entdeckt werden soll. Analysiert wird also nicht jeglicher Bezug auf andere Texte (beispielsweise die intertextuell 13 Ebd., S. 61. 14 Vgl. N. Janich, »Intertextualität und Text(sorten)vernetzung«, in: N. Janich (Hg.), Textlinguistik. 15 Einführungen, Tübingen: Narr 2008. Zu weiteren Ausführungen zur Intertextualität vgl. den Beitrag von M. Maataoui zum Thema Flüsterwitze in diesem Band. 15 R.-A. de Beaugrande, W. Dressler, Einführung in die Textlinguistik, Tübingen: Niemeyer 1981, S. 12 f. 16 K. Adamzik, Textlinguistik. Eine einführende Darstellung, Tübingen: Niemeyer 2004, S. 94 f. 17 Vgl. ebd. S. 98 f.; vgl. auch R.-A. de Beaugrande, W. Dressler, Einführung in die Textlinguistik (Fn. 15), S. 12 f.
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umgesetzten Merkmale der Textsorte Demo-Spruch), sondern diejenigen intertextuellen Bezüge, die mit einem Zuwachs an Textsinn einhergehen; diese Bezüge zu erkennen, erfordert mitunter eine besondere Rezeptionskompetenz beim Leser.18 Texte, auf die Bezug genommen wird, werden im Folgenden als Referenztexte (Referenztextsorte) bezeichnet, Bezug nehmende Texte als Phänotexte und die Markierungen intertextueller Beziehungen werden als Referenzsignale bezeichnet.19 Es gibt unterschiedliche Vorschläge zur Typologisierung von Intertextualitätsbeziehungen in Literaturwissenschaft und Linguistik.20 Herangezogen werden beispielsweise Kriterien wie die Explizitheit oder die Funktion des Bezugs. Eine immer wieder zitierte Systematisierung stammt von Tegtmeyer,21 der Textbeziehungen in vier Dimensionen beschreibt: 1. nach der Quantität der zu berücksichtigenden Referenztexte, 2. nach der Bewertung der Referenztexte im zu interpretierenden Text, 3. nach der Deutlichkeit der Referenz und 4. nach der Modalität der intertextuellen Beziehung (ist sie möglich, wirklich, notwendig). Die folgende Analyse versucht unter anderem der Frage nachzugehen, welche Funktion die intertextuellen Bezüge in den einzelnen Demonstrationssprüchen und allgemein im Kontext der Protestbewegung haben. Janich spricht beispielsweise davon, dass Intertextualität der Zusammenfassung dienen könne, der Nachahmung, Ergänzung, kritischen Kommentierung, Verstärkung, der Argumentation, dem Nachweis fremder Quellen, der Markierung von Verbindlichkeit, dem Widerspruch, der Persiflierung und Parodierung oder der Aufmerksamkeitserregung.22 Bevor die Frage der Funktion im Kontext der beiden untersuchten Umbrüche erörtert wird, müssen die intertextuellen Phänomene aber linguistisch beschrieben werden. Für diesen Teil der Analyse stützen wir uns auf die Typologisierung von Janich.23 Sie beschreibt drei Intertextualitätsformen, die nach dem Kriterium des Referenzobjekts bzw. der Referenzart unterschieden werden: 18 Vgl. N. Janich, »Intertextualität und Text(sorten)vernetzung«, in: N. Janich (Hg.), Textlinguistik. 15 Einführungen (Fn. 14), S. 178. 19 Vgl. ebd. 20 Vgl. für einen Überblick: Janich, »Intertextualität und Text(sorten)vernetzung«, in: N. Janich (Hg.), Textlinguistik. 15 Einführungen (Fn. 14). 21 Vgl. H. Tegtmeyer, »Der Begriff der Intertextualität und seine Fassungen – Eine Kritik der Intertextualitätskonzepte Julia Kristevas und Susanne Holthuis«, in: J. Klein, U. Fix (Hg.), Textbeziehungen: linguistische und literaturwissenschaftliche Beiträge zur Intertextualität, Tübingen: Stauffenburg 1997, S. 49–81. 22 Vgl. N. Janich, »Intertextualität und Text(sorten)vernetzung«, in: N. Janich (Hg.), Textlinguistik. 15 Einführungen (Fn. 14), S. 177 f. 23 Vgl. ebd., S. 189 ff.
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1. Einzeltextreferenz / referenzielle Intertextualität: Beziehungen zwischen konkreten Textexemplaren. Diese Beziehungen können nach ihrem Intensitätsgrad differenziert werden, sie können sich auf sprachstrukturelle Aspekte beziehen, sie können differenziert werden nach Formen der Bezugnahme und der Funktion im Einzelnen. Beispiele sind: Zitat, Paraphrase, Anspielung, Persiflage (beispielsweise eines literarischen Werks). Im Folgenden soll unterschieden werden zwischen transformatorischer Einzeltextreferenz, bei der der Ursprungstext spielerisch variiert wird, sowie zitierender Einzeltextreferenz, bei der dies nicht der Fall ist. 2. Systemreferenz / typologische Intertextualität: Bezug von Phänotexten auf Textmuster, Textsorten, literarische Gattungen. Gemeint sind hier aber nur Fälle, in denen dies mit einem semiotischen Mehrwert verbunden ist (Abgrenzung von einem weiten Intertextualitätsbegriff), das heißt, wenn beispielsweise eine Musterabweichung, Musterbrechung oder eine Mustermischung vorliegt etc. Diese können sowohl sprachlich als auch visuell, das heißt typografisch oder bildlich, realisiert sein. 3. Textsorten-in-Vernetzung / »Textsorten-Intertextualität«: systematische Beziehungen zwischen Textsorten. Es gibt zum Beispiel Textsorten, die eingebettet sind in einen bestimmten »Verfahrensablauf«, beispielsweise Gesetzestexte. Sie sind mit anderen Textsorten systematisch (und im Fall der Gesetzestexte auch durch eine bestimmte zeitliche Abfolge) miteinander verknüpft; diese Verknüpfung ist in diesem Fall sogar textsortenkonstitutiv. Ähnliches gilt für Rezensionen, die sich immer auf vorher produzierte Textsorten beziehen. Es geht bei dieser Intertextualitätsform also nicht mehr um konkrete inhaltliche oder formale Bezugnahmen, sondern um syntagmatische und paradigmatische Beziehungen.
Intertextualität in den Demo-Sprüchen in der DDR Ab dem Sommer 1989 organisierten sich in der DDR Unzufriedene und Oppositionelle zunehmend. Auf den Straßen vieler Städte, zuallererst in Leipzig, Plauen und Dresden, kam es zu Protesten und schließlich Massendemonstrationen, die zur sogenannten friedlichen Revolution in der DDR beitrugen. Am Montag, den 4. September 1989, gingen im Anschluss an die Friedensgebete in der Leipziger Nikolaikirche etwa 1200 Menschen auf die Straße, um gegen das SED-Regime zu protestieren. Dies gilt heute als erste Montagsdemonstration im »Wendeherbst«. Am 7. Oktober 1989 – dem Nationalfeiertag der DDR – fand in Plauen die erste Massendemonstration auf dem Gebiet der DDR statt, die nicht von Sicherheitskräften aufgelöst wurde. Große symbolische Wirkung ging auch von der Montagsdemonstration am darauffolgenden 9. Oktober 420
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in Leipzig aus, die trotz der unmittelbaren Gefahr einer Gewalteskalation seitens der Sicherheitskräfte friedlich blieb. Die Sprüche der Untersuchung stammen zum allergrößten Teil von Montagsdemonstrationen im Zeitraum zwischen Oktober 1989 und Januar 1990 in Leipzig.24 Vereinzelt wurden auch Sprüche von Gegenkundgebungen bzw. SED-Kundgebungen aus demselben Zeitraum in Leipzig aufgenommen, zudem einzelne sehr bekannte Sprüche, die unter anderem auf der Demonstration am 4. November 1989 in Berlin verwendet wurden. Es handelt sich sowohl um mündliche als auch – ab 16. Oktober – schriftliche Sprüche. Ein Augenmerk wird auch auf Formen bildlich repräsentierter intertextueller Bezüge gelegt.
Fälle von Einzeltextreferenz Direkte Zitate spielten als Formen des Widerstands und Protests während der gesamten Zeit der DDR eine Rolle.25 Ulla Fix26 hat in ihrer Analyse von Demo-Sprüchen bereits einige Fälle von intertextuellen Bezügen beschrieben. In den meisten Fällen handelt es sich um Phänomene der Einzeltextreferenz. Das hier untersuchte Korpus enthält ebenfalls viele Fälle von Einzeltextreferenz, der Fokus der folgenden Analyse liegt allerdings eher auf einer Detailbetrachtung der unterschiedlichen Bezugnahmen auf andere Texte. Noch mehr als in Fix’ Beispielen, die ebenfalls schon voraussetzungsreich sind, wird ein teilweise spezifisches Weltwissen benötigt, um die Sprüche überhaupt zu verstehen. Sie stellen insofern kondensierte Abbilder einer bestimmten, teilweise sehr kurzen Zeitspanne dar bzw. der politischen »Linien« und Positionen in dieser kurzen Zeitspanne. Ein Zitat, das weniger Ausdruck einer zeitlich beschränkten Deutung der Geschehnisse ist als vielmehr ein Symbol der osteuropäischen Umbrüche ab dem Ende der 1980er insgesamt, ist der Bezug auf Gorbatschow und die Schlagworte, mit denen er den Prozess des 24 Quellen: M. Naumann, Wende-Tage-Buch. Ein Tagebuch von der Wende bis zur Einheit, Leipzig: Militzke 2008; U. Fix, »Der Wandel der Muster – der Wandel im Umgang mit den Mustern. Kommunikationskultur im institutionellen Sprachgebrauch der DDR am Beispiel von Losungen«, in: U. Fix, Sprache, Sprachgebrauch und Diskurse in der DDR, Berlin: Frank & Timme 2014, S. 225–246. 25 Vgl. P. Dreesen, Diskursgrenzen. Typen und Funktionen sprachlichen Widerstands auf den Straßen der DDR, Boston/Berlin: de Gruyter 2013. 26 Vgl. U. Fix, »Der Wandel der Muster – der Wandel im Umgang mit den Mustern. Kommunikationskultur im institutionellen Sprachgebrauch der DDR am Beispiel von Losungen«, in: U. Fix, Sprache, Sprachgebrauch und Diskurse in der DDR (Fn. 24), S. 235 ff.
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gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Umbaus der Sowjetunion einleitete, der von der DDR-Führung offiziell abgelehnt wurde: »Перестройка / демократия / гласность« (Perestroika, Demokratia, Glasnost: Umgestaltung, Demokratie, Offenheit). Der Name Gorbatschow (auch als Ruf: »Gorbi!«) sowie Glasnost und Perestroika waren schon im Herbst 1989 Chiffren für den Wandel des Sozialismus bzw. für die Forderung danach. Das zweite Beispiel ist ein Zitat, das in gewisser Weise auf eine sprachliche Leerstelle verweist und diese (wieder) füllt: Die Nationalhymne der DDR durfte seit 1972 nur noch instrumental aufgeführt werden. Während der Montagsdemonstrationen wurde auf Transparenten immer wieder die 4. Zeile zitiert: »Deutschland, einig Vaterland«. Die wörtliche Bedeutung spielt hier natürlich eine entscheidende Rolle. Außerdem kann das Beispiel in Anlehnung an Dreesen27 und Janich28 auf diskursiver Ebene als eine Bezugnahme auf den herrschenden Diskurs (hier ausgedrückt durch die Nationalhymne) beschrieben werden, allerdings eine Bezugnahme auf den herrschenden Diskurs einer vergangenen Zeit, die das Regime durch das Textverbot gewissermaßen für überwunden erklärte. Diese Konstellation kennzeichnet auch den Bedeutungsunterschied: Während in der Nationalhymne natürlich ein ›einiges Vaterland‹ unter dem Vorzeichen des (realen) Sozialismus gemeint war, forderten die Demonstranten mit der Zeile ein ›einiges Vaterland‹ unter anderen Vorzeichen. Ein direktes Zitat mit wortspielerischer Erweiterung, das auf den Gegendiskurs (im Sinne von Dreesen29), und zwar konkret auf die zwei zentralen Sprüche der Wende-Demonstrationen verweist, ist: »Wir sind das Volk. / Wir sind ein Volk. / Ich bin Volker«. Ein Sonderfall zitierender Einzeltextreferenz ist der explizite Verweis auf einen anderen Text durch eine Quellenangabe, wobei das Zitat selbst dann fehlt. Fix nennt hier Verweise auf Bibelstellen: »5. Mose 20«, »Matthäus 20, Vers 26 und 27«30. Eine solche (chiffrenähnliche) Kürzung ist weniger als potenziell schützende Verschlüsselung zu verstehen, vielmehr ist sie ein impliziter Verweis auf Gruppenzugehörigkeiten: Nur, wer über das entsprechende (nicht ideologiekonforme) 27 Vgl. P. Dreesen, Diskursgrenzen. Typen und Funktionen sprachlichen Widerstands auf den Straßen der DDR (Fn. 25), S. 188 f. 28 Vgl. N. Janich, »Intertextualität und Text(sorten)vernetzung«, in: N. Janich (Hg.), Textlinguistik. 15 Einführungen (Fn. 14). 29 P. Dreesen, Diskursgrenzen. Typen und Funktionen sprachlichen Widerstands auf den Straßen der DDR (Fn. 25). 30 U. Fix, »Der Wandel der Muster – der Wandel im Umgang mit den Mustern. Kommunikationskultur im institutionellen Sprachgebrauch der DDR am Beispiel von Losungen«, in: U. Fix, Sprache, Sprachgebrauch und Diskurse in der DDR (Fn. 24), S. 238.
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Wissen verfügt, kann den Protest genauer verstehen. Für alle anderen erscheinen die Quellenangaben in sozialsymbolischer Funktion zumindest als An-Zeichen der Gruppenzugehörigkeit des äußernden Akteurs.31 Die Zahl transformatorischer Einzeltextreferenzen bei den Demosprüchen ist groß, ihre Form vielfältig. Einige Beispiele: Auffällig ist die wiederkehrende Anspielung auf westdeutsche Werbeslogans (siehe auch Abschnitt zur Systemreferenz): »Bei SED und FDJ sitzen Sie in der letzten Reihe« (Anspielung auf einen Slogan der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten: Bei ARD und ZDF sitzen Sie in der ersten Reihe). »An meine Haut lasse ich nur Wasser und Gysi« (Anspielung auf eine Seifenwerbung: An meine Haut lasse ich nur Wasser und CD).32 Allein die Tatsache, dass auf kapitalistische Konsumwerbung Bezug genommen wird, ist ein implizit widerständiges Signal, zeugt sie doch von einer unerwünschten, wenngleich zu dieser Zeit bereits geduldeten Rezeption westdeutscher Medien. Werbeslogans bieten sich sicherlich auch deshalb als »Sprachspielmaterial« an, weil sie durch ihren Wiedererkennungswert und ihre Geformtheit von vornherein sprachspielerisches Potenzial haben. Fix stellt fest, dass alte Muster offizieller DDR-Losungen bei den Sprüchen der Montagsdemonstrationen nur sehr selten übernommen wurden.33 Es gibt aber Belege für eine transformierende Referenz auf solche Losungen: »So wie wir heute demonstrieren, werden wir morgen leben« ist beispielsweise eine spielerische Abwandlung des Frida Hockauf zugeschriebenen Slogans: »So wie wir heute arbeiten, werden wir morgen leben«, mit dem Maßnahmen zur Steigerung der Arbeitsproduktivität propagiert wurden. Eine Umdeutung findet hier vor allem durch die sprachliche Abwandlung statt, wobei eine Neubesetzung oder neue Ausdeutung durch neue Kontextualisierung keineswegs sprachliche Abwandlung benötigt, wie das bereits angeführte Beispiel des Zitats der DDR-Nationalhymne zeigt oder auch die schon 31 Für ähnliche Fälle von Widerstands- und Protestäußerungen außerhalb der Wende-Demonstrationen vgl. Dreesen (Fn. 25), der z. B. Formen der sichtbaren Weglassung des »Schwerter zu Pflugscharen«-Abzeichens analysiert. 32 Ob bei diesem Spruch auch eine Anspielung auf das Akronym der Seifenmarke CD intendiert ist – CD steht für ›clear and distinct‹, also ›klar und durchsichtig‹, und ließe sich als implizite Forderung oder als Zuschreibung zur Person Gysi durchaus in eine semantische Relation bringen –, kann nicht zweifelsfrei geklärt werden. 33 Vgl. U. Fix, »Der Wandel der Muster – der Wandel im Umgang mit den Mustern. Kommunikationskultur im institutionellen Sprachgebrauch der DDR am Beispiel von Losungen«, in: U. Fix, Sprache, Sprachgebrauch und Diskurse in der DDR (Fn. 24), S. 235.
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viel früher als Protestäußerungen eingesetzten Rosa-Luxemburg-Zitate oder das Singen der Internationale.34 Es sind sowohl Phänomene des herrschenden als auch des Gegendiskurses, die durch eine Neukontextualisierung semantisch neu bzw. in spezifischer Weise besetzt werden können. Transformierende Einzeltextreferenz kommt zudem häufig in Bezug auf kurze Textformen vor: unter anderem Abzählreime, Kinderreime, Sprichwörter.35 Ein Beispiel für die Erweiterung eines Sprichworts ist: »Lügen haben kurze Beine, Gysi zeig uns doch mal deine«. Im Vergleich zum oben zitierten positiven Bezug auf die Person Gregor Gysi zeigt dies, wie unterschiedlich die Positionen in der Zeit der Wende im Einzelnen waren bzw. wie kurzfristig sie sich auch ändern konnten. Ganz Ähnliches zeigt sich im Übrigen auch auf der Gegenseite: Die SED veranstaltete sogenannte Willenskundgebungen, die sich gegen die Massendemonstrationen in der gesamten DDR richteten. Der folgende Spruch stammt von einer SED-Gegenveranstaltung am 11. November 1989 in Leipzig und zeigt, wie komplex die Verflechtungen der unterschiedlichen intertextuellen und semantischen Bezüge sein konnten: »Roland36 ins Politbüro/ Leipzig fordert Wende zwo«. Es besteht hier zum einen ein intertextueller Bezug auf Egon Krenz’ Antrittsrede am 18. Oktober 1989, in der er von einer nötigen »Wende« durch die SED gesprochen hatte. Der Ausdruck wurde nun in der Folge insbesondere von seinen Kritikern aufgenommen, die eine echte, also weitergehende »Wende« forderten. In dieser zweiten Bedeutungsakzentuierung ist der Begriff in den heutigen Sprachgebrauch eingegangen. Die Forderung der Leipziger SED nach einer »Wende zwo« bezieht sich nun eher auf diese Umdeutung des von Krenz programmatisch gewählten Ausdrucks: Die mittlerweile massenhaft geforderte, weitgehende politische »Wende« sollte nach Meinung der Leipziger SED in einem zweiten Schritt »zurückgewendet« werden.
34 Vgl. auch P. Dreesen, Diskursgrenzen. Typen und Funktionen sprachlichen Widerstands auf den Straßen der DDR (Fn. 25). 35 Vgl. U. Fix, »Der Wandel der Muster – der Wandel im Umgang mit den Mustern. Kommunikationskultur im institutionellen Sprachgebrauch der DDR am Beispiel von Losungen«, in: U. Fix, Sprache, Sprachgebrauch und Diskurse in der DDR (Fn. 24), S. 236 f. 36 Gemeint ist Roland Wötzel, Mitglied der SED-Bezirksleitung Leipzig bzw. Erster Sekretär; er galt zunächst als gesprächsbereit, regte aber kaum echte Reformen an und wurde im November von den Montagsdemonstranten abgelehnt.
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Eine weitere spezielle Form der Einzeltextreferenz arbeitet mit Bildern:
In beiden Beispielen37 wird spielerisch auf ästhetische Texte Bezug genommen: Auf dem ersten Transparent wird der Staatsratsvorsitzende Egon Krenz als der unter der Bezeichnung »Lügenbaron« berühmt gewordene Geschichtenerzähler Hieronymus Carl Friedrich Freiherr von Münchhausen dargestellt. Dessen Geschichten wurden von einer Reihe von Autoren literarisch verarbeitet. Die Geschichte vom Ritt auf der Kanonenkugel, auf die das Bild anspielt, ist unter anderem von Gottfried August Bürger überliefert.38 Statt einer Kanonenkugel reitet der bildliche »Lügenbaron« Egon Krenz hier jedoch auf dem Emblem der SED. Im zweiten Transparent wird auf das Märchen Rotkäppchen Bezug genommen. Egon Krenz wird als der als Großmutter verkleidete Wolf dargestellt, den das Rotkäppchen im Märchen verwundert abfragt, wieso seine Augen, Ohren, Hände usw. so groß seien. Die Frage nach den großen Zähnen, die hier aus dem Märchen zitiert wird, spielt zum einen auf das Aussehen Egon Krenz’ an, zum anderen ist es aber auch Rotkäppchens letzte Frage bevor sie vom Wolf gefressen wird (Antwort des Wolfs: »Dass ich dich besser fressen kann.«) und damit der dramatische 37 Bildquellen: linke Abbildung aus M. Naumann, Wende-Tage-Buch. Ein Tagebuch von der Wende bis zur Einheit, Leipzig: Militzke 2008, S. 80; rechte Abbildungen via https://www.wir-waren-so-frei.de/index.php/Detail/Object/Show/object_id/3869, zuletzt aufgerufen am 11.06.18. 38 G. A. Bürger, Wunderbare Reisen zu Wasser und zu Lande. Feldzüge und lustige Abenteuer des Freiherrn von Münchhausen, 1786. Der Ritt auf der Kanonenkugel wird beschrieben in der Geschichte »Abenteuer des Freiherrn von Münchhausen im Kriege gegen die Türken«, URL: http://gutenberg.spiegel.de/buch/munchhausen-620/5, zuletzt abgerufen am 23.06.17.
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Höhepunkt.39 In beiden Transparenten dient die Intertextualität einer Abwertung Egon Krenz’ in negativ-spöttischer Weise: Ihm werden über die Figuren Unehrlichkeit bis hin zur Hinterhältigkeit vorgeworfen. Systemreferenz Neben der intertextuellen Bezugnahme auf konkrete Texte wie im Beispiel des Rotkäppchen-Märchens gibt es auch die intertextuelle Bezugnahme auf Textmuster. Einige Beispiele hat bereits Ulla Fix beschrieben:40 So gibt es immer wieder den Bezug auf die Textsorte Traueranzeige (»SED / *21. April 1946 †6. Mai 1990«), teilweise reduziert auf die Nennung von zwei Daten, zudem Bezüge auf die Textsorten Gedicht, Abzählreim oder Aphorismus. Wie bei der Einzeltextreferenz sind es besonders formale Eigenschaften wie Reim, Rhythmus und Kürze, die diese Textsorten naheliegend erscheinen lassen. Fix führt aber auch eine längere Textsorte, nämlich den Brief, mit einem Beispiel an.41 Auch die Gedichte sind teilweise länger: »Erich [Honecker, M.M./B.B.] hat uns nur veräppelt, Und den Egon [Krenz, M.M./B.B.] hochgepäppelt. Schluss mit den SED-Monarchen, Wir lassen uns nicht mehr verarschen, Ende mit diesen Faxen, Wählt den ›Freistaat Sachsen‹!« Interessant ist, dass in den Demo-Sprüchen nicht nur auf konkrete Werbeslogans spielerisch Bezug genommen wurde, sondern auch auf die Textsorte Werbeslogan; Fix führt hierfür als Beispiel auf: »Sie wählen SED, wir drucken Ihnen Ihre Lebensmittelkarten«.42 Das folgende Beispiel kann als eine Anspielung auf die Textsorte Aphorismus verstanden werden, auch wenn es zunächst scheint, als stecke hinter den Formulierungen die Referenz auf ein konkretes Textexemplar: »Wir sind das Volk, wir sind die Kraft, /die hier die neue Freiheit schafft«. Der Spruch erinnert zunächst an den berühmten Ausspruch 39 Vgl. Grimms Märchen. Vollständige Ausgabe. Köln: Anaconda 2012, S. 148 ff. 40 U. Fix, »Der Wandel der Muster – der Wandel im Umgang mit den Mustern. Kommunikationskultur im institutionellen Sprachgebrauch der DDR am Beispiel von Losungen«, in: U. Fix, Sprache, Sprachgebrauch und Diskurse in der DDR (Fn. 24), S. 237 f. 41 Vgl. ebd. 42 Ebd., S. 236.
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von Mephistopheles in Goethes »Faust«.43 Bei genauerer Betrachtung ist allerdings bis auf den Jambus in der zweiten Zeile und die Reimworte ›Kraft‹ und ›schafft‹ keine Parallelität erkennbar. Dass ein inhaltlicher Bezug zu Mephistos Antwort hergestellt werden soll – die Demonstranten wollen das Böse, aber schaffen das Gute?, jeder ihrer Taten wohnt Böses und Gutes inne?, ein Verweis auf die Ambivalenz und die Gefahren der Freiheit? –, erscheint wenig plausibel. Näherliegender ist, dass eine eingängige, tiefsinnig anmutende Formulierung gewählt wurde, die im Resultat an die Textsorte Aphorismus erinnert (unabhängig davon, ob dieser Textsortenbezug unmittelbar intendiert war oder nicht): Der Spruch kann in diesem Sinne als »prägnant knappe, geistreiche oder spitzfindige Formulierung eines Gedankens« charakterisiert werden, die »bisweilen überspitzt, auf überraschende Wirkung bedacht« ist.44 Im ersten Teil des Spruchs findet sich zunächst einmal eine zitierende Referenz auf den Demospruch »Wir sind das Volk«, in Form einer Anapher wird der Spruch dann erweitert. Die zweite Zeile wechselt in ein anderes Metrum und wird insbesondere syntaktisch und durch Endreim an die erste Zeile angebunden. Als aphorismentypisch kann man die Dichte rhetorischer Stilmittel sowie das elaboriertere sprachliche Register ansehen.
Intertextualität in den Demo-Sprüchen in Tunesien Die Ereignisse der tunesischen Revolution begannen am 17. Dezember 201045 mit dem Selbstmord von Mohamed Bouazizi in Sidi Bouzid46 und haben ihren Höhepunkt und ersten großen Erfolg am 14. Januar 2011 mit der Flucht von Ben Ali nach Saudi-Arabien erreicht. Danach gingen die Proteste heftig weiter, bis der Premierminister Mohamed Ghannouchi zurücktrat und die Wahlen einer verfassungsgebenden Versammlung am 23. Oktober 2011 stattfanden. Während der einige Monate andauernden und auf den Straßen mehrerer Regionen, vor dem Amt des Premierministers sowie in den sozialen Netzwerken stattfindenden Proteste sind Demo-Sprüche entstanden, die soziale und 43 »Faust: […] Nun gut, wer bist du denn? Mephistopeheles: Ein Teil von jener Kraft, Die stets das Böse will und stets das Gute schafft.« (Goethe, Werkkürzel o.Ä.? 1335–1337). 44 G. Schweikle, I. Schweikle (Hg.), Metzler Literatur-Lexikon, Stuttgart: Metzlersche Verlagsbuchhandlung 1990, S. 21. 45 Ein Vorläufer dieser Ereignisse ist der Aufstand in der Bergbauregion von Gafsa im Südwesten Tunesiens, der vom Januar bis Juni 2008 dauerte und durch den Gebrauch von Polizeigewalt unterdrückt wurde. 46 Sidi Bouzid ist eine Stadt, die ca. 200 Kilometer südwestlich von Tunis liegt und vor allem von der Landwirtschaft lebt.
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politische Forderungen hatten. Die Sprüche der tunesischen Revolution zeigten im Allgemeinen eine ausgeprägte sprachliche Kreativität und waren teilweise durch intertextuelle Bezüge gekennzeichnet, die hauptsächlich Merkmale von Einzeltextreferenz aufweisen. Im bisherigen Stand der Forschung sind uns keine linguistischen Analysen der Sprüche der tunesischen Revolution in Bezug auf die Intertextualität bekannt.47 Fälle von Einzeltextreferenz Die gesammelten Sprüche hatten zum Teil die Form direkter Zitate. Als Beispiele dafür werden hier vier Sprüche präsentiert. Das erste Zitat ist auf Hocharabisch und lautet: »lā ḫauf baʿd al-yaum«48 (Keine Angst ab heute). Dieser Spruch wurde bereits seit 2001 vom islamistischen, im Exil lebenden Oppositionellen Hachmi El-Hamdi49 als Slogan einer politischen Sendung in seinem privaten, in London gegründeten Fernsehsender Almustakillah50 benutzt und gezielt gegen Ben Ali und sein Regime eingesetzt. Die Quelle für die Idee zu diesem Spruch könnte, auch aufgrund der politischen Linie seines Emittenten, ein Vers aus dem Koran sein (Sure 43, Vers 68): »Ihr meine Knechte! Keine Furcht sei heute auf euch, und ihr sollt nicht traurig sein!«51
47 Mit den Sprüchen der tunesischen und ägyptischen Revolution haben sich folgende linguistischen Arbeiten beschäftigt: N. Jerad, »The Tunisian Revolution: From Universal Slogans for Democracy to the Power of Language«, in: Middle East Journal of Culture and Communication, Volume 6, Issue 2 (2013), S. 232 –255. F. Al-Abed Al-Haq, H. Abdullah Abdelhameed, »The Slogans of the Tunisian and Egyptian Revolutions, a Sociolinguistic Study«, URL: http://media.leidenuniv.nl/legacy/fawwaz.pdf2011; N. Srage, Revolution and the Slogans of Egyptian Youth. A Linguistic Study in Spontaneous Expression, Qatar: Arab Center for Research & Policy Studies 2014. 48 ﻻ ﺧﻮف ﺑﻌﺪ اﻟﻴﻮم 49 Diesem Politiker wird vorgeworfen, dass er vor der Revolution mit dem Regime von Ben Ali sympathisierte und dessen Interessen diente. Nach dem politischen Umbruch hat er eine politische Partei gegründet, die bei den Wahlen zur Verfassungsgebenden Versammlung im Oktober 2011 unerwartet gute Ergebnisse erzielen konnte und die in den Medien oft als populistisch kritisiert wurde. 50 Arabisch: Der Unabhängige (Fernsehsender). 51 ﻳﺎ ﻋﺒﺎد ﻻ ﺧﻮف ﻋﻠﻴﻜﻢ اﻟﻴﻮم وﻻ أﻧﺘﻢ ﺗﺤﺰﻧﻮنDie obige Übersetzung stammt von: H. Bobzin: Der Koran, München: Verlag C. H. Beck 2015, S. 436.
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Ein gezielter Bezug auf den Vers aus dem Koran mit Verweis auf Gruppenzugehörigkeit war in den Ereignissen vor dem 14. Januar 2011 jedoch nicht naheliegend, wie es bei dem oben erwähnten Bezug auf Bibelstellen in den Demo-Sprüchen der DDR der Fall war.52 Die Protestierenden hatten anfangs ein gemeinsames politisches Ziel, nämlich den Sturz von Ben Ali und dies unabhängig von ihren jeweiligen Ideologien und politischen Überzeugungen. Ideologische Forderungen sind erst später entstanden, als eine starke Polarisierung der tunesischen Gesellschaft auftauchte und Konflikte zwischen dem islamistischen und dem laizistischen Lager mit den unterschiedlichen Gruppierungen ans Licht kamen. Das Naheliegende ist, dass dieser Spruch vielmehr darauf zielte, den Machthabern zu zeigen, dass die Mauer der Angst gefallen ist und dass das diktatorische Regime dadurch seine wichtigste Waffe verloren hat, die sich Jahrzehnte lang mehr oder weniger bewährt hat. Die Botschaft nach Innen bestand darin, eine ermutigende Wirkung bei den mitstreitenden Demonstranten zu erreichen, die sie zum Durchhalten motiviert. Dieser Spruch kann als eine Bezugnahme auf einen früheren widerständigen Diskurs gegen das Regime von Ben Ali gelten, der in einem kleineren Rahmen im Exil stattfand, durch das Medium Fernsehen jedoch eine weite Verbreitung erfuhr. Das zweite Beispiel einer zitierenden Einzeltextreferenz ist ein Sprichwort aus dem Hocharabischen: »Mā ḍāʿa ḥaqq warāʾahu ṭālib«53 (Nie geht ein Recht verloren, solange jemand es fordert.) Der Bezug auf ein Sprichwort drückt hier einen indirekten Appell aus, dass die Demonstranten nichts als ihre Rechte fordern und dass es eine allgemeingültige Wahrheit ist, dass man seine Rechte nicht verliert, solange man nicht aufgibt, sie zu beanspruchen. Hier wird impliziert, dass es sich bei den sozialen und politischen Forderungen um Rechte handelt, die man legitim erkämpfen will. Es geht um einen Kampf gegen das Unrecht, gegen die politische Unterdrückung und die soziale und regionale Ungerechtigkeit.54 Beim dritten Zitat geht es um die letzte Strophe der tunesischen Nationalhymne (seit 1987), die während der Demonstrationen immer wieder zitiert wurde, sei es geschrieben auf Plakaten, was vor allem den ersten Teil der Strophe betrifft, oder gesungen: 52 Vgl. das vorangehende Unterkapitel. 53 ﻣﺎ ﺿﺎع ﺣﻖ وراءه ﻃﺎﻟﺐ 54 Eine der Hauptforderungen der tunesischen Revolution ist die Forderung nach Arbeit, die bislang andauert und die sich im folgenden weit verbreiteten Spruch ausdrückt: »at-tašġīl istaḥqāq ya ʿisābit as-surrāq« (Arbeit ist ein Recht, ihr Diebesbande) ﻳﺎ ﻋﺼﺎﺑﺔ اﻟﴪاق، اﻟﺘﺸﻐﻴﻞ اﺳﺘﺤﻘﺎقDie Arbeit wird hier als ein Recht angesehen, dessen Verletzung als eine Folge der Korruption und Misswirtschaft der damaligen Herrscher betrachtet wird.
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»Iḏā aš-šaʿb yawman arāda al-ḥayāt Fa-lā budda an yastaǧība alqadar Wa-lā budda lil-layli an yanǧalī Wa-lā budda lil-qaydi an yankasir«55 (Wenn eines Tages das Volk leben will Dann muss das Schicksal sich beugen Die Nacht muss weichen Und die Fesseln werden gebrochen) Diese Strophe stammt aus der Feder des Nationaldichters Tunesiens Abou Elkacem Chebbi (1909–1934), der im Kontext der nationalen Befreiungsbewegung gegen die Kolonialmacht Frankreich patriotische Lyrik auf Hocharabisch schrieb. Der Inhalt dieser Strophe passt optimal zu den revolutionären Ereignissen und ermutigt die Demonstranten zum Durchhalten und zum Glauben, dass nichts stärker als der Wille des Volkes ist und dass die Mentalität des Fatalismus verworfen werden muss. Dieses Zitat zieht Parallelen zwischen dem Kampf gegen den Kolonialismus und der aktuellen Auseinandersetzung mit der Diktatur. Es geht darum, sich von allen Formen der Unterdrückung zu befreien und die Volkssouveränität durchzusetzen. Außerdem könnte das Zitieren dieser Strophe der Nationalhymne, unabhängig von ihrem Inhalt, als ein symbolischer Akt der Zugehörigkeit zu diesem Land gedeutet werden. Mit der Nationalhymne haben sich nämlich viele Tunesier Jahrzehnte lang nicht richtig identifizieren können, weil sie von der Diktatur, als Symbol für Patriotismus, vereinnahmt wurde und zum Schluss politischer Veranstaltungen von Ben Alis Partei immer gesungen wurde.56 Es geht hier um eine Bezugnahme auf den Gegendiskurs, um eine Besetzung eines wirksamen Kampfmittels. Das letzte Beispiel ist ein englischer Ausdruck aus Computerspielen, der auch in Tunesien von jungen Menschen in der Bedeutung eines abrupten Endes gebraucht wird: »Game Over«. Dieser Spruch wurde in einem fortgeschrittenen Stadium der Proteste gebraucht, als die Aussichten auf den Erfolg größer wurden. Der Gebrauch eines englischen Ausdrucks aus Computerspielen hat einerseits eine ironische Konnotation, die darin liegt, dass man sich in einer sehr ernsthaften Situation einer Sprache bedient, die aus dem Kontext des Spiels stammt. Das Gegenüber wird dadurch lächerlich gemacht. Andererseits bekommen die 55 وﻻ ﺑﺪ ﻟﻠﻴﻞ أن ﻳﻨﺠﲇ وﻻ ﺑﺪ ﻟﻠﻘﻴﺪ أن ﻳﻨﻜﴪ إذا اﻟﺸﻌﺐ ﻳﻮﻣﺎ أراد اﻟﺤﻴﺎة ﻓﻼ ﺑﺪ أن ﻳﺴﺘﺠﻴﺐ اﻟﻘﺪر 56 Der erste Vers dieser Strophe wurde auch während der ägyptischen Revolution mit wortspielerischer spottender Modifizierung benutzt: »Wenn eines Tages das Volk leben will, dann müssen die Kühe sich beugen.« Der Ersatz des Wortes Schicksal durch das Wort Kühe zielte darauf, die damaligen Machthaber zu verspotten und ihnen Dummheit zuzuschreiben.
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Proteste somit einen internationalen Charakter, da sie einen englischen Ausdruck benutzen, den viele Menschen auf der Welt problemlos verstehen können und somit Solidarität mit den Anliegen der Demonstranten entwickeln könnten. Transformatorische Einzeltextreferenzen haben Bezug auf unterschiedliche Texte genommen, wie beispielsweise Gebrauchstexte, literarische, politische und religiöse Texte. Das erste Beispiel ist eine Anspielung auf den bereits erwähnten ersten Vers der letzten Strophe der Nationalhymne: »Iḏā aš-šaʿb yawman arāda al-ḥayāt«57 (Wenn eines Tages das Volk leben will). Der Spruch lautet: »aš-šaʿb yurīd isqāṭ an-niẓām«58 (Das Volk will das Regime stürzen). In Bezug auf die Syntax hat man den mit der Konjunktion wenn eingeleiteten Konditionalsatz durch einen Aussagesatz im Präsens ersetzt. Der Wille des Volkes wird nicht mehr als eine Bedingung vorausgesetzt, sondern als Fakt formuliert, der dezidiert das Regime ablehnt. Dieser Spruch wurde erst am 14. Januar 2011 auf den Protesten im Stadtzentrum von Tunis auf der Habib Bourguiba-Straße benutzt, nachdem die Forderungen zusätzlich zu ihrem ursprünglichen sozialen Charakter politische Züge bekamen. Eine erste Version dieses Spruchs wurde auf einer Demonstration am 10. Januar 2011 benutzt: »aš-šaʿb yurīd at-tadāwul ʿalā as-sūlṭa«59 (Das Volk will ein Zirkulieren der Macht). Die Forderung des Sturzes des Regimes kam als Antwort auf die letzte Fernsehansprache von Ben Ali am 13. Januar 2011, die er im Unterschied zu allen bisherigen Reden im Tunesisch-Arabischen gehalten hat, und dabei den berühmten Satz vom Général de Gaulle (1890–1970) in der tunesischen Übersetzung: »āna fhimtkum«60 (Ich habe euch verstanden) benutzte, ohne wirklich auf die Forderungen der protestierenden Masse einzugehen. Der Satz »āna fhimtikum«61 lieferte die Idee für das zweite Beispiel transformatorischer Einzeltextreferenz: »yā wuḥūš ad-diktātūr fhimna 57 إذا اﻟﺸﻌﺐ ﻳﻮﻣﺎ أراد اﻟﺤﻴﺎةDieser Spruch wurde in den anderen Ländern des arabischen Frühlings und sogar auf Demonstrationen in China und anderen Ländern in seiner arabischen Version benutzt. 58 إﺳﻘﺎط اﻟﻨﻈﺎم،اﻟﺸﻌﺐ ﻳﺮﻳﺪ 59 اﻟﺘﺪاول ﻋﲆ اﻟﺴﻠﻄﺔ، اﻟﺸﻌﺐ ﻳﺮﻳﺪVgl. H. Baraket, O. Belhassine, Ces nouveaux mots qui font la Tunisie, Tunis: Cérès éditions 2016, S. 11. 60 أﻧﺎ ﻓﻬﻤﺘﻜﻢ 61 Dieser Satz wurde auch von der während der Revolution sehr aktiven Rap-Szene benutzt, deren Texte ähnliche intertextuelle Bezüge zeigen. Ein Beispiel von einem Lied mit Bezug auf Ben Alis Satz »ana fhimtkum« stammt von Mohamed Ali ben Jemaa und ist auf Youtube zu hören, URL: https://www.youtube.com/watch?v=MF8xKcEc3oE, zuletzt aufgerufen am 23.06.17.
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w-intūma ma fhimtūš«62 (Ihr Monster, der Diktator, hat uns verstanden und ihr habt nicht verstanden). Man spricht die Minister von Ben Ali an und wundert sich, dass sie bislang die Anliegen der Demonstranten nicht verstanden haben, wie es vor kurzem der Diktator getan hat, der deshalb nach Saudi-Arabien floh. Diese Art von transformatorischer Einzeltextreferenz greift auf den Sprachgebrauch des Gegners zurück und rekurriert auf den oben zitierten Satz »āna fhimtikum«, der als missglückter Versuch von Ben Ali gilt, die Protestwelle rhetorisch einzudämmen. Ben Ali ignorierte die wesentlichen Forderungen und seine damals versprochenen Angebote erfüllten die Erwartungen der Demonstranten nicht. Bei dem dritten Beispiel handelt es sich um einen transformatorischen Vorgang, der darin besteht, ein Zitat durch die Nennung des Adressaten zu erweitern. Beim vorliegenden Spruch wird Ben Ali namentlich angesprochen und eine Bitte an ihn geäußert: »Ben Ali nasʾaluka ar-raḥīla«63 (Ben Ali, wir bitten dich, wegzugehen). Hier liegt eine Anspielung auf den Titel eines bekannten ästhetischen Textes vor, eines Liebesgedichtes vom syrischen Dichter Nizar Qabbani (1923–1998): asʾaluka ar-raḥīla, der von der berühmten ägyptischen Sängerin Najet Essaghira (geb. 1938) gesungen wurde und zu den Klassikern der arabischen Musik zählt. Die Modifikation betrifft hier auch das Subjekt, da die erste Person Singular durch die erste Person Plural ersetzt wird. Ben Ali wird persönlich angesprochen und die Forderung wird in der Form einer höflichen Bitte formuliert, was eigentlich in klarem Kontrast zum prominenten Spruch »Dégage« (Hau ab) steht und eine ironische Konnotation aufweist. Die Modifikation eines Satzes aus der Liebesdichtung und seine sprachspielerische Anwendung in einem politisch-revolutionären Kontext verleihen dem Spruch einen ironischen, verspottenden Charakter. Das vierte Beispiel beinhaltet eine Anspielung auf einen Ausdruck aus dem Sprachgebrauch in Wirtschaft und Industrie: »intabih! šaʿb sarīʿ al-iltihāb«64 (Achtung, hochentzündliches Volk!). Dieser Ausdruck zur Kennzeichnung der Gefahr von Chemikalien, den man auf den Verpackungen chemischer Produkte oder auf Lastern, die solche Produkte transportieren, liest, wurde modifiziert und in Bezug auf das tunesische Volk benutzt, dem das Attribut Hochentzündlichkeit zugeschrieben wird. Hier ist nicht eindeutig, ob man die wörtliche oder die übertragene Bedeutung des Adjektivs »hochentzündlich« meint. Die wörtliche Bedeutung ist im Kontext der tunesischen Revolution möglich, wenn man bedenkt, dass der Auslöser der Aufstände die Selbstverbrennung des 62 ﻳﺎ وﺣﻮش اﻟﺪﻛﺘﺎﺗﻮر ﻓﻬﻤﻨﺎ واﻧﺘﻮﻣﺎ ﻣﺎ ﻓﻬﻤﺘﻮش 63 ﺑﻦ ﻋﲇ ﻧﺴﺄﻟﻚ اﻟﺮﺣﻴﻞ 64 اﻧﺘﺒﻪ! ﺷﻌﺐ ﴎﻳﻊ اﻻﻟﺘﻬﺎب
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protestierenden Gemüsehändlers Mohamed Bouazizi war, die dann auch mehrmals von anderen verzweifelten Menschen nachgeahmt wurde. Das fünfte Beispiel für transformatorische Einzeltextreferenzen nimmt Bezug auf den Titel einer Geschichte aus 1001 Nacht, nämlich Ali Baba und die vierzig Räuber: »ʿAlī Bābā fī as-Saʿūdiyya wa-l-ʾarbaʿūna Ghannouchi fī l-ḥukūma«65 (Ali Baba ist in Saudi-Arabien und die vierzig Ghannouchi sind in der Regierung). Die Ähnlichkeit der Namen Ben Ali und Ali Baba gab Anlass für die negative ironische Benennung von Ben Ali als Ali Baba, vor allem nachdem man herausfand, dass er sich durch Misswirtschaft und Korruption bereichert hatte. In der Übergangsregierung unter Mohamed Ghannouchi waren viele Minister des alten Regimes. Der Name von Ghannouchi wurde stellvertretend für alle Minister in seinem Kabinett, unter denen viele im alten Regime gedient hatten, benutzt. Dieser Spruch drückt das damalige Hauptziel der Demonstranten aus, das darin bestand, die Übergangsregierung zu stürzen. Das sechste Beispiel für eine transformatorische Einzeltextreferenz nimmt Bezug auf einen religiösen Text, und zwar ein Ḥadīt des Propheten Mohammed, in dem zehn von seinen Gefährten das Paradies versprochen wird: »Ghannouchi huwa min al-ʿašra al-mubaššarīn bi-Jeddah«66 (Ghannouchi ist einer der zehn, denen Jeddah versprochen wurde) (Anspielung auf »al-ʿašra al-mubaššarūn bi-l-ǧanna«67). Man hat das Paradies ǧanna durch das formal ähnliche Wort Jeddah ersetzt. Jeddah ist der Aufenthaltsort von Ben Ali in Saudi-Arabien. Ghannouchi wird mit dem gleichen Schicksal wie Ben Ali, nämlich Exil, bedroht, und zwar in negativ-spöttischer Weise, weil das versprochene Leben im Exil dem Bild des Paradieses nicht entspricht, das im Koran und in den Hadithen des Propheten beschrieben wird. Das Paradies sucht man auch selbst, soll hart dafür arbeiten und weiß nie, ob man dieses Ziel erreicht oder nicht. Der religiöse Bezug könnte als Hinweis für die Gruppenzugehörigkeit der Erfinder dieses Spruchs gedeutet werden. Islamisten tendieren allgemein auch in ihrem alltäglichen Sprachgebrauch dazu, Bezug auf die Sprache des Korans und des Propheten zu nehmen.68 Das letzte Beispiel einer transformatorischen Einzeltextreferenz bezieht sich auf einen Werbespruch für einen arabischen Fernsehsender, Rotana Cinema, der ägyptische Kinofilme zeigt. Wie bereits eingangs 65 66 67 68
ﻋﲇ ﺑﺎﺑﺎ ﰲ اﻟﺴﻌﻮدﻳﺔ واﻷرﺑﻌﻮن ﻏﻨﻮﳾ ﰲ اﻟﺤﻜﻮﻣﺔ ﻏﻨﻮﳾ ﻫﻮ ﻣﻦ اﻟﻌﴩة اﳌﺒﴩﻳﻦ ﺑﺠﺪة اﻟﻌﴩة اﳌﺒﴩون ﺑﺎﻟﺠﻨﺔ Man könnte vielleicht, aufgrund persönlicher informeller Beobachtungen, sogar von einem eigenen Soziolekt sprechen, der sich vor allem durch besondere Merkmale auf der Ebene der Lexik und der Phraseologie kennzeichnet. Dies soll allerdings noch von der Soziolinguistik untersucht und bestätigt werden.
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in Bezug auf die Sprüche der DDR erwähnt wurde, eignen sich Werbeslogans durch ihren Wiedererkennungswert und ihre Geformtheit für sprachspielerische Transformationen:69 »maʿa aš-šaʿb at-tūnsī miš ḥatiqdar tiġammaḍ ʿinīk ya l-Ghannouchi«70 (Mit dem tunesischen Volk wirst du deine Augen nicht schließen können Ghannouchi) (Anspielung auf den Werbespruch »maʿa Rotana cinema miš ḥatiqdar tiġammaḍ ʿinīk« (Mit Rotana Cinema wirst du deine Augen nicht schließen können)). Der Werbespruch ist bekannt in Tunesien und seine Werbebotschaft bedeutet, dass dieser Sender ununterbrochen interessante und spannende Filme zeigt, sodass die Zuschauer es nicht vermögen, die Augen zu schließen, vor Angst, dass sie den Spaß an den Filmen verpassen. Die Unfähigkeit, die Augen zu schließen, wird im Kontext der Werbung wörtlich und positiv verstanden. Die sprachspielerische Umdeutung im Demo-Spruch beinhaltet eine neue übertragene negative Konnotation, die besagt, dass die Tunesier/innen Ghannouchi nicht in Ruhe lassen werden, so dass er dadurch Schlafstörungen bekommt. Systemreferenz Die Sprüche der tunesischen Revolution zeigten Beispiele für intertextuelle Bezugnahme auf Textmuster. Zahlreiche Sprüche hatten die Form eines Verses mit zwei Teilen und Endreim und entsprachen damit der klassischen Form des arabischen Gedichts, wie folgende Beispiele zeigen: • • •
»Tūnis ḥurra ḥurra, at-taǧammuʿ ʿāla barra«71 (Tunesien frei frei, RCD raus) »yā Laila yā ḥaǧǧāma, ruddi flūs li-tāma«72 (Leila Friseurin, gib das Geld der Waisenkinder zurück!) »Ben Ali yā ǧabān, šaʿb Tūnis lā yuhān«73 (Ben Ali Feigling, das Volk Tunesiens lässt sich nicht erniedrigen)
Die reimende Form der Sprüche passt zu ihrem mündlichen Gebrauch auf Demonstrationen, da man sie dadurch besser sprechen und memorisieren kann, wie bereits oben in Bezug auf Ulla Fix erwähnt. 69 Vgl. das zweite Unterkapitel, in dem Bezug auf U. Fix (2008) genommen wird. 70 ﻣﻊ اﻟﺸﻌﺐ اﻟﺘﻮﻧﴘ ﻣﺶ ﺣﺘﻘﺪر ﺗﻐﻤﺾ ﻋﻴﻨﻴﻚ ﻳﺎﻟﻐﻨﻮﳾ 71 اﻟﺘﺠﻤﻊ ﻋﲆ ﺑ ﱠﺮه،ﺗﻮﻧﺲ ﺣﺮة ﺣﺮة 72 ردي ﻓﻠﻮس اﻟﻴﺘﺎﻣﻰ،ﻳﺎ ﻟﻴﲆ ﻳﺎ ﺣﺠﺎﻣﺔ 73 ﺷﻌﺐ ﺗﻮﻧﺲ ﻻ ﻳﻬﺎن،ﻳﺎ اﻟﺰﻳﻦ ﻳﺎ ﺟﺒﺎن
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Ein weiteres Beispiel für eine Systemreferenz ist die Bezugnahme auf die Textsorte polizeilicher Steckbrief nach dem amerikanischen Muster des wilden Westens, das aus amerikanischen Filmen bekannt sein dürfte. Dabei geht es um ein Poster mit dem Bild der gesuchten Person und weiteren Informationen über sie, wie dem Grund der Suche und der eventuellen materiellen Belohnung für Hinweise. Die beiden folgenden Beispiele beziehen sich auf Ben Ali:
Auf dem linken Poster74 werden die Sprachen Englisch und Französisch benutzt.75 Der erste Teil mit Überschrift (WANTED), Name und Herkunftsland ist auf Englisch. Der zweite Teil, der das Verbrechen nennt, ist auf Französisch und Englisch. Nach Ali wird wegen Diebstahls und
74 URL: http://nawaat.org/portail/wp-content/uploads/2011/01/ben_ali.jpg, zuletzt aufgerufen am 24.04.2018. 75 Für die Kombination von zwei oder mehreren Sprachen in einem Spruch liefern die gesammelten Sprüche weitere Belege, wie bspw. »RCD Out, bi-kulli ḥazm«. Hier bedient sich der Spruch der französischen, englischen und arabischen Sprache. RCD ist das französische Initialkurzwort für die Partei von Ben Ali (Rassemblement Constitutionnel Démocratique), »Out« ist ein englisches Wort und »bi-kulli ḥazm« ist ein Präpositionalgefüge aus dem Arabischen, das »mit ganzer Entschlossenheit« bedeutet und ursprünglich aus der letzten Fernsehansprache von Ben Ali am 13. Januar 2011 stammt. Hier geht es wieder um einen intertextuellen Bezug, in dem man einen Ausdruck aus dem herrschenden Diskurs nimmt und ihn in einer ironischen Weise verwendet.
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Diktatur gefahndet. Das rechte Poster76 enthält weniger Text; neben Ben Alis Bild stehen nur die englischen Ausdrücke WANTED als Überschrift und DEAD OR DEAD unter dem Foto. DEAD OR DEAD gilt als eine sprachspielerische transformatorische Einzeltextreferenz auf das Phrasem DEAD OR ALIVE, das man auf solchen Plakaten oft findet.
Textsorten-in-Vernetzung und Funktionen von Intertextualität Charakteristisch für Demosprüche im Kontext von Massenprotesten ist unseres Erachtens, dass es gerade keine spezifische zeit- oder verfahrensbezogene Vernetzung mit anderen Textsorten gibt, sondern dass (fast) alle Äußerungen und Texte ein Reservoir für intertextuelle Referenz sein können. Sowohl der herrschende Diskurs als auch der Gegendiskurs haben als Bezugsquelle Potenzial, sowohl alte als auch aktuelle oder fiktive Texte können in Sprüchen verarbeitet werden. Die sprachliche Form spielt eine besondere Rolle beispielsweise hinsichtlich der Sprechbarkeit (Rhythmus, Kürze) sowie Eingängigkeit, Witz und Überraschung. Aus diesem Grund liegen manche Bezüge näher als andere. Wie wir mit den vorangehenden Analysen zeigen wollten, kommen aber durchaus auch weniger naheliegende intertextuelle Bezugnahmen vor. Zudem sind auch typografische oder bildliche Charakteristika von Referenztexten und Textsorten von Bedeutung. Durch die Neukontextualisierung findet in der Regel eine mehr oder weniger weitgehende Umdeutung (des Referenztexts, der Referenztextsorte) oder eine Spezifizierung der Bedeutung (von Zitaten, Worten) statt. Sowohl in Tunesien als auch in der DDR wird (neben anderen politischen Texten des herrschenden Diskurses) auf die Nationalhymnen Bezug genommen. Der Prozess der semantischen Neubesetzung, allein durch den Kontext, also ohne sprachliche Transformation, dürfte hier am deutlichsten sein. Gleichzeitig zeigt sich, wie voraussetzungsreich das Verständnis der intertextuellen Demosprüche im Einzelfall (und nicht nur bei den Nationalhymnen) ist. In einigen Fällen gibt es auch einen Deutungsspielraum, möglicherweise auch sich verändernde Deutungen, je nachdem, wer einen Spruch äußert und in welcher Protestphase er ihn äußert. Bei anderen Sprüchen legt die Intertextualität möglicherweise Deutungselemente nahe, die nicht unmittelbar intendiert waren und vielmehr in der reinen Lust am Sprachspiel wurzeln. Das Funktionsspektrum im Kontext von Massenprotesten ist breit: Intertextualität ist insbesondere als spielerisches Element von Bedeutung: 76 URL: https://senorcanardo.files.wordpress.com/2011/01/ben-ali-11.png, zuletzt aufgerufen am 23.04.2018
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Äußerungen werden weniger direkt und meist mit einem »Hintersinn« formuliert. Das verstärkt den Effekt der Aussage und erregt größere Aufmerksamkeit. Die öffentlich ausgetragene Kreativität des Einzelnen, die individuell gestaltete Äußerung steht gegen die gleichmachende Konformität des herrschenden Regimes. Intertextualität erfüllt in den Demosprüchen unterschiedlichste Funktionen: Im hiesigen Kontext ist sie per se Teil von Protest (gleich welcher Richtung). Sie kann in Äußerungen auftreten, die indirekt oder direkt Forderungen zum Ausdruck bringen, die etwas implizit oder explizit befürworten und gleichzeitig kritisieren (beispielsweise den (zu reformierenden) Sozialismus). Sehr häufig geht damit Wertung einher, in Bezug auf Personen insbesondere negative Bewertung; es werden Slogans, Institutionen und politische Akteure durch intertextuelle Verweise verspottet. Durch den Bezug auf bestimmte Texte positionieren sich die Emittenten teilweise auch bereits in einer spezifischen Weise: Beispielsweise wenn sie sich auf vom Regime abgelehnte Texte oder Kommunikationsräume (wie die Kirche oder westdeutsche Medien in der DDR) beziehen. Sekundär ist Intertextualität auch in sozialsymbolischer Funktion von Bedeutung, sie bietet die Möglichkeit, sich in der Masse als Individuum (mit einem bestimmten Weltwissen, einer bestimmten Sprachspielkompetenz etc.) sichtbar zu machen. Ansatzweise lässt sich in unserem Untersuchungsmaterial und der vorangehenden Recherche beobachten, dass Intertextualität als kreativ-spielerisches Element von Protest vor allem in der zweiten Phase der Massendemonstrationen gehäuft auftritt und an Formvielfalt und Zahl zunimmt, wenn eine erste Phase der Anspannung und gesellschaftlich-politischen Zuspitzung schon überwunden ist oder überwunden scheint.
Anhang: Liste aller besprochenen Sprüche 1. Demo-Sprüche DDR Spruch
Quelle
»Перестройка / демократия / гласность« (Perestroika, Demokratia, Glasnost: Umgestaltung, Demokratie, Offenheit)
M. Naumann, Wende-Tage-Buch. Ein Tagebuch von der Wende bis zur Einheit, Leipzig: Militzke 2008, S. 28
»Deutschland, einig Vaterland«
Ebd., S. 94 f.
»Wir sind das Volk. / Wir sind ein Eigene Dokumentation Volk. / Ich bin Volker«
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»5. Mose 20«
U. Fix, »Der Wandel der Muster – der Wandel im Umgang mit den Mustern. Kommunikationskultur im institutionellen Sprachgebrauch der DDR am Beispiel von Losungen«, in: U. Fix, Sprache, Sprachgebrauch und Diskurse in der DDR, Berlin: Frank & Timme 2014, S. 238.
»Matthäus 20, Vers 26 und 27«
Ebd.
»Bei SED und FDJ sitzen Sie in der M. Naumann, Wende-Tage-Buch. Ein letzten Reihe« Tagebuch von der Wende bis zur Einheit, Leipzig: Militzke 2008, S. 79 »An meine Haut lasse ich nur Wasser Ebd., S. 93 und Gysi« »Lügen haben kurze Beine, Gysi zeig U. Fix, »Der Wandel der Muster – der uns doch mal deine.« Wandel im Umgang mit den Mustern. Kommunikationskultur im institutionellen Sprachgebrauch der DDR am Beispiel von Losungen«, in: U. Fix, Sprache, Sprachgebrauch und Diskurse in der DDR, Berlin: Frank & Timme 2014, S. 237. »Roland ins Politbüro / Leipzig for- M. Naumann, Wende-Tage-Buch. Ein dert Wende zwo.« Tagebuch von der Wende bis zur Einheit, Leipzig: Militzke 2008, S. 57 »Erich [Honecker, M.M./B.B.] hat uns Ebd., S. 78 nur veräppelt, Und den Egon [Krenz, M.M./B.B.] hochgepäppelt. Schluss mit den SED-Monarchen, Wir lassen uns nicht mehr verarschen, Ende mit diesen Faxen, Wählt den ›Freistaat Sachsen‹!« »Sie wählen SED, wir drucken Ihnen U. Fix, »Der Wandel der Muster – der Ihre Lebensmittelkarten.« Wandel im Umgang mit den Mustern. Kommunikationskultur im institutionellen Sprachgebrauch der DDR am Beispiel von Losungen«, in: U. Fix, Sprache, Sprachgebrauch und Diskurse in der DDR, Berlin: Frank & Timme 2014, S. 237. »Wir sind das Volk, wir sind die Kraft, W. Schneider (Hg.), Leipziger Demon/die hier die neue Freiheit schafft.« tagebuch, Köln: Kiepenheuer 1997
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2. Demo-Sprüche Tunesien Spruch
Quelle
»lā ḫauf baʿd al-yaum« (Keine Angst ab heute)
A. A. Sghaier, H. Tabbabi, S. Kchaou, A. Belhedi, M. Bani (Hg.), Aṯ-�aura fī Tūnis min ḫilāl al-waṯāiq, Tunis 2012, S. 226.
V. Bettaïeb (Hg.), Dégage – La révo»Mā ḍāʿa ḥaqqun warāʾahu ṭālib« (Nie geht ein Recht verloren, solange lution tunisienne 17 décembre 2010 – 14 janvier 2011, Tunis: Editions du jemand es fordert) Patrimoine 2011, S. 145. »Game Over«
M. Al-Ayyāri, Taʾṣīl šiʿārāt aṯ-ṯaura, Tunis 2012, S. 66.
»aš-šaʿb yurīd isqāṭ an-niẓām« (Das Volk will das Regime stürzen)
A. A. Sghaier, H. Tabbabi, S. Kchaou, A. Belhedi, M. Bani (Hg.), Aṯ-�aura fī Tūnis min ḫilāl al-waṯāiq, Tunis 2012, S. 224.
»aš-šaʿb yurīd at-tadāwul ʿalā as-sūlṭa« H. Baraket, O. Belhassine, Ces nou(Das Volk will ein Zirkulieren der veaux mots qui font la Tunisie, Tunis: Cérès éditions 2016, S. 11. Macht)
»yā wuḥūš ad-diktātūr fhimna w-intūma ma fhimtūš« (Ihr Monster, der Diktator, hat uns verstanden und ihr habt nicht verstanden)
V. Bettaïeb (Hg.), Dégage – La révolution tunisienne 17 décembre 2010 – 14 janvier 2011, Tunis: Editions du Patrimoine 2011, S. 145.
»Ben Ali nasʾaluka ar-raḥīla« (Ben Ali, URL:https://www.facebook.com/140 343599357109/photos/a.14036807 wir bitten dich, wegzugehen) 6021328.27084.14034359935109/ 140637399327729/?type=3&theater V. Bettaïeb (Hg.), Dégage – La révo»intabih! šaʿb sarīʿ al-iltihāb« (Achtung! Ein hochentzündliches lution tunisienne 17 décembre 2010 – 14 janvier 2011, Tunis: Editions du Volk) Patrimoine 2011, S. 140. »ʿAlī Bābā fī as-Saʿūdiyya wa-l-ʾar- Ebd., S. 144 baʿūna Ghannouchi fī l-ḥukūma« (Ali Baba ist in Saudi-Arabien und die vierzig Ghannouchi sind in der Regierung.)
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»Ghannouchi huwa min al-ʿašra Ebd., S. 147 al-mubaššarīn bi-Jeddah« (Ghannouchi ist einer der zehn, denen Jeddah versprochen wurde.) »maʿa aš-šaʿb at-tūnsī miš ḥatiqdar Ebd., S. 76 tiġammaḍ ʿinīk ya l-Ghannouchi« (Mit dem tunesischen Volk wirst du deine Augen nicht schließen können Ghannouchi.) »Tūnis ḥurra ḥurra, it-taǧammuʿ ʿāla A. A. Sghaier, H. Tabbabi, S. Kchaou, A. Belhedi, M. Bani (Hg.), Aṯ-�aura fī barra« Tūnis min ḫilāl al-waṯāiq, Tunis 2012, (Tunesien frei frei, RCD raus) S. 224. »yā Laila yā ḥaǧǧāma, ruddi flūs li-tā- Ebd., S. 224 ma« (Leila Friseurin, gib das Geld der Waisenkinder zurück!) »Ben Ali yā ǧabān, šaʿb Tūnis lā Ebd. yuhān« (Ben Ali Feigling, das Volk Tunesiens lässt sich nicht erniedrigen)
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Steffen Pappert und Moez Maataoui
Protestlieder in Umbruchzeiten Einleitung In einem Beitrag auf Deutschlandradio Kultur am 30.12.2014 zu den Protestliedern im ›Arabischen Frühling‹ konstatierte Erik Hillestad, ein norwegischer Plattenproduzent: »Und was natürlich auch geblieben ist vom Arabischen Frühling, das sind die Lieder. Lieder, die die Leute begeistern können, die mitreißen können.«1 Einige Lieder, die auf so markante Weise die Revolutionen in den arabischen Ländern geprägt haben, sind Untersuchungsgegenstand des folgenden Beitrags. In unserem Beitrag analysieren wir exemplarisch Protestlieder, die während der Demonstrationen in Tunesien, Ägypten, Libyen und Syrien von den Teilnehmenden gemeinschaftlich vorgetragen wurden.2 Protestlieder werden hier verstanden als Teil eines instrumentalen Sprachspiels,3 in welchem Missstände und Schuldige in einer ganz spezifischen Art und Weise angesprochen werden. Der Vergleich zwischen den in den jeweiligen Ländern gesungenen Liedern soll Aufschluss darüber geben, ob diese Form des Protestes gleichsam ein vereinigendes Element des ›Arabischen Frühlings‹ darstellt, oder ob landesspezifische Unterschiede darauf verweisen, dass die Aufstände jeweils eigene Ziele verfolgten. Untersucht werden die verwendete Lexik, insbesondere die auftretenden Schlüsselwörter (Volk, Blut, Freiheit etc.) und gruppenindizierende Wörter und Symbole. Ziel des Beitrages ist es nicht nur, Aussagen darüber zu machen, inwieweit sich in den Protestliedern Gemeinsamkeiten und Unterschiede offenbaren. Vielmehr wird durch die Analyse zu zeigen sein, ob hinter den in den Liedern verwendeten Argumentationen und Schlüsselwörtern auch dieselben Konzepte – sowohl in einem begrifflichen Sinn als auch im Zusammenhang mit den damit verfolgten Zielen – stehen. 1
2
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Nachzulesen unter URL: http://www.deutschlandradiokultur.de/friedenslieder-soundtrack-des-arabischen-fruehlings.2177.de.html?dram:article_ id=307431, zuletzt aufgerufen am 28.09.2015. Wir möchten an dieser Stelle Sarah Gharib danken, die die Auswahl der Lieder bewerkstelligte. Für eine bessere Lesbarkeit werden gängige arabische Namen in diesem Beitrag nicht transkribiert. Vgl. H. Grünert, »Deutsche Sprachgeschichte und politische Geschichte in ihrer Verflechtung«, in: W. Besch [u. a.] (Hg.), Sprachgeschichte. Ein Handbuch der Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung. 1. Teilband. Berlin/ New York: de Gruyter 1984, S. 29–37; hier S. 33.
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1. Politische Sprachspiele Ausgehend von Wittgensteins Sprachspielbegriff benutzt Grünert diesen operational, um auf der Grundlage vier verschiedener politischer Sprachspiele »die sprachliche Wirklichkeit, soweit sie auf die politische Wirklichkeit zielt, [zu] erfassen.«4 Das von Grünert entwickelte Raster dient als heuristisches Mittel zur Zuordnung der zu untersuchenden Protestlieder sowie ihrer diskursiven Vernetzung. Die politischen Sprachspiele lassen sich folgendermaßen systematisieren: (1) das regulative Sprachspiel, (2) das instrumentale Sprachspiel, (3) das integrative Sprachspiel und (4) das informativ-persuasive Sprachspiel. Diese Einteilung ist zu verstehen als »typologische Differenzierung«,5 die den Rahmen bildet, um dem Zusammenhang von Sprache und Macht in der historischen Beschreibung näher zu kommen. In einer solchen Beschreibung geht es um die Darstellung »der Durchsetzung und der Wirkung von Sprachspielen«6 durch die jeweiligen gesellschaftlichen Kräfte. »Verfügungsgewalt über Sprachspiele«7 innerhalb eines politischen Systems bedeutet dabei immer auch politische Macht. Um dies für unseren Untersuchungsgegenstand genauer zu fassen, ist es notwendig, kurz die einzelnen Sprachspiele vorzustellen. Innerhalb des regulativen Sprachspiels manifestieren sich am deutlichsten die politischen Herrschaftsverhältnisse, denn hier werden die sprachlichen Regeln gesetzt, die in der Gesellschaft als Verhaltensrichtlinien zu gelten haben und die die Bedingungen des jeweils Mach- bzw. Sagbaren festlegen. »Das regulative Sprachspiel bestimmt die Grenzen der politischen und sozialen Ordnung, es markiert die Beziehungen zwischen ›oben‹ und ›unten‹ zwischen den Regierenden und den Regierten. In diesem Sprachspiel sprechen die Mächtigen, hier setzt sich Herrschaft in sprachliche Zeichen um.«8 Zwei Aspekte müssen hierbei hervorgehoben werden. Zum einen geht es um die Legitimation der Herrschaftspraxis, die hier ihren sprachlichen Ausdruck findet. Zum anderen geht es um den spezifischen Adressatenkreis, für den die Richtlinien verbindlich sind und dem in letzter Konsequenz nur die Optionen ›Anpassen‹ oder ›Verweigern‹ zur Verfügung 4 5
6
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Ebd., S. 31 f. A. Burkhardt, »Deutsche Sprachgeschichte und politische Geschichte«, in: W. Besch [u. a.] (Hg.), Sprachgeschichte. Ein Handbuch der Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung. 2., vollständig neu bearbeitete und erweiterte Auflage. 1. Teilband. Berlin / New York: de Gruyter 1998, S. 98–122; hier S. 100. H. Grünert, »Deutsche Sprachgeschichte und politische Geschichte in ihrer Verflechtung«, in: W. Besch [u. a.] (Hg.), Sprachgeschichte. Ein Handbuch der Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung (Fn. 3), S. 31. Ebd. Ebd., S. 32.
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stehen. Innerhalb unseres Untersuchungsgebietes besitzen die ›alten‹ Regierenden bis zum sogenannten ›Arabischen Frühling‹ die alleinige Regierungsmacht. Umgekehrt geht es im instrumentalen Sprachspiel darum, das Begehren gegenüber den Herrschenden sprachlich auszudrücken, was auf vielfältige Weise geschehen kann. Die Ereignisse während der zu untersuchenden Zeit zeigen wohl am überzeugendsten, bis zu welchem Grade dieses Sprachspiel reicht. Es kann bei entsprechender Vehemenz das geltende regulative Sprachspiel außer Kraft setzen und so zum Machtwechsel führen: »Werden beim regulativen Sprachspiel von der mächtigen Autorität an den Adressaten Forderungen zur Erfüllung von Geboten und zur Beachtung von Verboten gestellt, für deren Sicherung dem Mächtigen bestimmte Herrschaftsmittel zur Verfügung stehen, so wird umgekehrt beim instrumentalen Sprachspiel das Begehren formuliert, um dessen Erfüllung der politisch/sozial Mächtige angegangen wird.«9 Das integrative Sprachspiel hat die Funktion, »Gruppen zu definieren, nach außen abzugrenzen und nach innen zu stabilisieren, so daß sich das einzelne Gruppenmitglied mit der Gruppe identifizieren kann.«10 Diese Gruppen spielen eine besondere Rolle in pluralistischen Systemen, man denke nur an die verschiedenen Interessen von Parteien und Verbänden, die sich vor allem im abgrenzenden Sprachgebrauch widerspiegeln.11 In autoritären Ordnungen finden sich diese unterschiedlichen Interessen (offiziell) nicht. Anders verhält es sich freilich in Umbruchsituationen, in denen sich eine Opposition formiert. Innerhalb dieses Sprachspiels geht es also darum, ob wir von einer oder mehreren Gruppen auszugehen haben, die jeweils auf ganz spezielle Art und Weise versuchen werden, ihre Identität kommunikativ zu konstruieren und zu konsolidieren: »Die Gruppe wird definiert durch das, was man sagt und was man nicht sagt, was man nicht sagen darf, sie wird definiert durch ein bestimmtes Vokabular, durch bestimmte Argumentationsstrukturen und durch das, was das nur schwer Faßbare des Atmosphärischen ausmacht. [...] Im integrativen Sprachspiel entsteht ein Sprachduktus, bei dem rational-diskursive Strukturen überlagert sind von emotionaler Bildhaftigkeit auf der einen Seite, von leerer Abstraktion auf der anderen Seite, bei denen die denotative Funktion von Sprache gegenüber ihrer konnotativen Funktion zurückgedrängt wird.«12 9 Ebd., S. 33. 10 Ebd., S. 34. 11 Das »Besetzen der Begriffe«, wie es Biedenkopf 1973 nannte, ist in diesem Zusammenhang von besonderer Bedeutung; vgl. die Beiträge in F. Liedtke, M. Wengeler, K. Böke (Hg.), Begriffe Besetzen. Strategien des Sprachgebrauchs in der Politik, Opladen: Westdeutscher Verlag 1991. 12 H. Grünert, »Deutsche Sprachgeschichte und politische Geschichte in ihrer Verflechtung«, in: W. Besch [u. a.] (Hg.), Sprachgeschichte. Ein Handbuch der Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung (Fn. 3), S. 34.
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Die vierte Art von Sprachspielen ist das informativ-persuasive Sprachspiel. Hier handelt es sich um die Diskurse, die der Manipulierung und Steuerung von Bewusstsein dienen. Dieses Sprachspiel ist ausgerichtet auf die öffentliche Meinung, die auf verschiedene Art und Weise, jedoch mit einer bestimmten Zielsetzung gelenkt wird: »Das informativ-persuasive Sprachspiel [...] zielt ab auf Bewußtseinsbildung und dient der Begründung, Motivation und Vorbereitung, der Analyse und Kritik und Rechtfertigung politisches [sic!] Handelns, es dient der politischen Werbung.«13 Die Wege und Verfahren reichen hierbei von der Vermittlung entsprechender Denkmodelle der politischen Theorie, über allgemeine und umfassende Informationsvorgänge bis hin zu Agitation und Propaganda, wobei den Medien bei den zwei letztgenannten Strängen eine zentrale Rolle zukommt. Die Funktion dieses Typs besteht darin, die politische Praxis zu legitimieren, ohne freilich »unmittelbar in politisches Handeln verflochten«14 zu sein. In unserem Zusammenhang richtet sich der Blick auf solche Strategien, mit denen Gegner und Unentschlossene von der Notwendigkeit politischer Veränderungen überzeugt werden sollen. Im Großen und Ganzen bewegen wir uns mit unserer Untersuchung im Rahmen des instrumentalen Sprachspiels, wobei die Besonderheit solcher Umbruchsituationen eben darin besteht, dass die oppositionellen Gruppen nach ihrer Herausbildung sich nach innen festigen und nach außen abgrenzen (integratives Sprachspiel), andere von der Notwendigkeit des Handelns zu überzeugen haben sowie – im Falle einer Regierungsübernahme – zu Akteuren des regulativen Sprachspiels werden. All dies ist zu berücksichtigen, das heißt, eine Untersuchung der Protestlieder ist einzubetten in die jeweils vorfindlichen gesamtgesellschaftlichen Konstellationen, denn letztlich ist davon auszugehen, dass das bisherige Gefüge der Sprachspiele in den zu betrachtenden Ländern neu geordnet werden soll und – wie auch immer – wird.
2. Protestlieder Die Demonstrationen auf den arabischen Plätzen wurden maßgeblich durch die dort gesungenen Lieder geprägt. Das war wohl in der Historie von Demonstrationen schon immer so: Wenn Menschen sich versammeln, um gegen Unrecht oder andere aus ihrer Sicht auftretende Missstände aufzubegehren, singen sie meistens gemeinsam Lieder, nicht 13 Ebd., S. 36. 14 Ebd. Zur Gruppenbildung und ihrer Mechanismen in der arabischen politischen Rhetorik sei hier auf den Beitrag von K. Stock in diesem Band hingewiesen.
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nur, um gehört zu werden, also um Aufmerksamkeit zu erzeugen. Vielmehr erfüllen Lieder ganz bestimmte Funktionen, die einerseits aus dem Zusammenspiel von Sprache und Musik, andererseits aus dem gemeinsamen Handeln, also dem (Mit-)Singen resultieren. Eingängig vertont, lassen sich sprachlich artikulierte Forderungen nicht nur besser vermitteln. Eine wiedererkenn- und mitsingbare Melodie hat zudem den Vorteil, dass sie die Emotionen der (Mit-)Demonstrierenden anspricht und somit die Memorierbarkeit der Inhalte, aber auch die Engagiertheit der Beteiligten fördern kann. Vor allem das Singen in einer großen Gemeinschaft vermittelt dem Einzelnen immer auch das Gefühl von Zusammengehörigkeit und Stärke. Was kennzeichnet nun aber die zu diesen Anlässen gesungenen Lieder? Wir verstehen die von uns analysierten Lieder als Protestlieder, also als eine Unterart politischer Lieder. Auf der Suche nach einer Definition der so bezeichneten Lieder ist es aus unserer Sicht angezeigt, sich in einem ersten Schritt darüber klar zu werden, was man unter einem politischen Lied fassen kann. So lautet der Eintrag im Online-Universallexikon zum Stichwort ›politisches Lied‹: »Sammelbezeichnung für Lieder, die bestimmte, für ihre Zeit aktuelle gesellschaftliche Fragen oder politische Ereignisse kritisch, mitunter auch patriotisch aufgreifen und meist mit dem Ziel einer allgemeinen Solidarisierung oder Agitation verfasst und vorgetragen werden. Dabei beschränken sich politische Lieder aufgrund ihres v. a. operativen Charakters in der Wahl der musikalischen Mittel in der Regel auf einfachere melodische und harmonische Strukturen. Politische Lieder entstehen meist in Umbruchzeiten, besonders jedoch in der Auseinandersetzung zwischen Herrschenden und Beherrschten, so zur Zeit der Bauernkriege (1524/25), in der Französischen Revolution (1789/90), während des Weberaufstandes (1844) und der Revolution 1848/49. Seit dem 19. Jahrhundert entstanden Lieder gegen kapitalistische Ausbeutung und Imperialismus (Arbeiterlieder), im 20. Jahrhundert auch gegen Faschismus (v. a. im Spanischen Bürgerkrieg), Rassendiskriminierung (besonders in den USA und der Republik Südafrika) und politisch-kulturelle Unterdrückung (Mittel- und Südamerika). Während bis in die 1950er-Jahre unter politischem Lied noch weitgehend der Typ des kämpferischen Massenliedes in der Tradition z. B. H. Eislers verstanden wurde, reicht die Spannweite des politisch engagierten Liedes seit dem Aufkommen der Rockmusik in den 60er-Jahren vom gitarrenbegleiteten Protestsong der Liedermacher sowie dem Folklore und soziales Engagement verbindenden Folksong und Folkrock über die Aussteigerthemen der Neuen deutschen Welle (New Wave) und dem Rock-Kabarett (Floh de Cologne, Erste Allgemeine Verunsicherung) bis zum aggressiv agierenden Politrock.«15 15 URL: http://universal_lexikon.deacademic.com/286551/politisches_Lied, zuletzt aufgerufen am 28.09.2015.
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Die hier gelieferte Definition ist – das wird schnell deutlich – nur in Teilen für die von uns zu untersuchenden Protestlieder des ›Arabischen Frühlings‹ zutreffend. Um den Untersuchungsgegenstand einzugrenzen, bedarf es demzufolge weiterer Kriterien, die im Folgenden in aller Kürze aufgezählt und erläutert werden: • Protestlieder sind eine Form ritueller Kommunikation, sie dienen »der Entlastung und Absicherung sprachlich-kommunikativen Handelns«;16 die damit vollzogenen »Rituale nehmen Bezug auf Werte, die über den einzelnen und die konkrete Situation hinausweisen«.17 • Protestlieder sind Massenlieder; sie stehen in direktem Bezug zu sozialen oder revolutionären Bewegungen und dienen diesen als Erkennungszeichen. • Die Urheber der Lieder sind heterogen. Oftmals werden allseits bekannte Lieder (beispielsweise Volkslieder) für die jeweiligen Belange rekontextualisiert, das heißt, die Originale werden in Melodie und Text übernommen. So sangen die Demonstranten 1989 bei der friedlichen Revolution in der DDR Lieder wie Die Internationale, die sie in der Schule lernen mussten, und die aus der Sicht der Machthabenden gegen den sogenannten Klassenfeind gerichtet waren, nun aber adressiert an die Mitdemonstrierenden, aber eben auch an die Machthabenden, denen auf diese Weise ein Spiegel vorgehalten wurde. Eine andere Möglichkeit besteht darin, neue Texte in alte Melodien zu kleiden. Oder die Lieder entstehen im Zuge der Bewegung, verbreiten sich lauffeuerartig und werden so zum Gemeingut der Aufbegehrenden. Protestlieder sind also – wenn oftmals auch aus anderen Zusammenhängen – in Text und/oder Melodie bekannt. • Protestlieder sind – vergleichbar Liedermacherliedern – »bei aller Multimodalität durch eine deutliche Dominanz der sprachlichen Elemente gekennzeichnet«;18 dabei überwiegen sprachlich einfache Strukturen, die oftmals unter bevorzugter Verwendung von Schlagwörtern kombiniert werden. 16 U. Fix, »Rituelle Kommunikation im öffentlichen Sprachgebrauch der DDR und ihre Begleitumstände«, in: G. Lerchner (Hg.), Sprachgebrauch im Wandel. Anmerkungen zur Kommunikationskultur in der DDR vor und nach der Wende, 2., durchges. Aufl., Frankfurt/M. [u. a.]: Lang 1996, S. 11–63; hier S. 31. 17 Ebd. 18 K. S. Roth, »Das politische Liedermacherlied vor, während und nach 1968 – zur Modellierung dynamischer Textsorten-Diskurs-Relationen«, in: H. Kämper, J. Scharloth, M. Wengeler (Hg.), 1968. Eine sprachwissenschaftliche Zwischenbilanz, Berlin, New York: de Gruyter 2012, S. 163–200; hier S. 163.
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• Inhaltlich geht es in Protestliedern vor allem um die Artikulation von (alternativen) Vorstellungen und Werten, bisweilen aber auch um konkrete Forderungen, die sowohl an die zu Bekämpfenden als auch an die Mitkämpfenden gerichtet sind. • Mittels Protestliedern wird die eigene Gruppe konstruiert und gegen die anderen abgegrenzt. • Protestlieder sind in diesem Sinne immer Bestandteil eines instrumentalen Sprachspiels, wobei das integrative, aber auch das informativ-persuasive Sprachspiel immer mitgedacht werden muss. Ob und inwieweit die aufgeführten Merkmale auch für die arabischen Protestlieder zutreffen, wird im Zuge der nun folgenden Analyse gezeigt. Analysiert werden fünf Protestlieder, jeweils eins aus Ägypten, Tunesien, Libyen und zwei aus Syrien.19 Die Protestlieder aus Nordafrika und eines aus Syrien richten sich gegen die vorhandene Herrschaftsform. Das zweite syrische Protestlied sympathisiert mit der herrschenden Klasse und richtet sich somit gegen die Herrschaftsgegner.
3. Schlagwörter und Konzepte In diesem Kapitel sollen besonders die in den Liedern verwendeten Schlagwörter und die dahinterstehenden Konzepte ins Auge gefasst werden. Mithilfe von Schlagwörtern bezeichnen wir die Dinge der Welt. Jedoch ist das Verhältnis von den Ausdrücken und den Dingen nicht immer eindeutig, vielmehr stehen, insbesondere bei politischen Sachverhalten, meist Bezeichnungsalternativen zur Verfügung. Schlagwörter unterscheiden sich laut Niehr oft durch die ihnen inhärente Wertungskomponente: »Die moderne Forschung bezeichnet mit Schlagwort einen Ausdruck, der zu einer bestimmten Zeit besondere Aktualität gewinnt und mit dem ein Programm oder eine Zielvorstellung öffentlich propagiert wird. Schlagwörter sollen sowohl das Denken wie auch die Gefühle und das Verhalten von Menschen steuern. Deshalb werden sie in metaphorisch-polemischer Perspektive häufig mit einer gefährlichen Waffe verglichen, die der (politische) Gegner in Händen hält.«20 Zunächst werden die am häufigsten benannten Schlagwörter betrachtet und analysiert. Zudem ist es auffällig, dass die auftretenden Schlagwörter entweder in Form von Personifikationen oder als Metaphern aufscheinen. Das heißt, dass eine konkrete Abgrenzung zwischen diesen 19 Die Texte dieser 5 Protestlieder (in deutscher Übersetzung) befinden sich im Anhang dieses Beitrags. 20 T. Niehr, »Schlagwort«, in: G. Ueding (Hg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Band 8, Tübingen: Niemeyer 2007, S. 496.
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Erscheinungsformen kaum sinnvoll ist. Vor allem die Metaphern sind es, die durch die Hervorhebung ganz bestimmter Aspekte der Bedeutung des jeweiligen Schlagwortes mehr Gewicht verleihen.
Volk (šaʿb) Das erste Schlagwort, das in den Liedern verwendet wird, ist Volk. In dem syrischen Protestlied gegen Baschar al-Assad21 ist mit dem syrischen Volk die Gruppe gegen die Herrschenden gemeint. Es wird als ein syrisches Volk, das nicht zu demütigen ist, beschrieben: »Baschar du Feigling / Agent der Amerikaner / Das syrische Volk lässt sich nicht demütigen.«22 Durch den Bezug auf das syrische Volk versuchen die Singenden ihre Forderungen als Forderungen der gesamten Bevölkerung Syriens zu legitimieren. Im syrischen Protestlied für al-Assad bezieht sich das Wort Volk auf die Anhänger von al-Assad, auf die Gegenspieler des davor genannten Volkes, das al-Assads Sturz fordert: »Armee und Volk / Hand in Hand / Wollen wir Syrien schützen«. Das Schlagwort Volk steht hier in einer Kollokation mit dem Wort Armee. Damit ist die Armee von al-Assads Regime gemeint, die mit Gewalt gegen die Rebellen kämpft. Volk und Armee bilden eine Einheit gegen die Gegner des Regimes. Das Volk wird als Unterstützer der Armee betrachtet. Dieser unterschiedliche semantische Gebrauch des Lexems Volk kann als ein Fall des »Kampf[es] um die Bedeutung von Wörtern bzw. Begriffe-Besetzen[s]«23 betrachtet werden. Genauer geht es hier um eine ›Taktik des Umdeutens‹, in der ein Ausdruck von den beteiligten Akteuren mit veränderter Bedeutung gebraucht wird.24 Im tunesischen Protestlied taucht das Schlagwort Volk nicht auf. Es ist aber die Rede von einer Revolution, die alle umfasst: »Wie schön ist die tunesische Revolution, die alle umfasst.« 21 Dieses Lied wurde von der Symbolfigur des syrischen Aufstands, Ibrahim Qaschusch, gesungen, der im Juli 2011 brutal ermordet wurde. Man schnitt ihm die Kehle durch und entfernte ihm die Stimmbänder. Man schrieb ihm auch den Text zu. Später hieß es, dass der Autor des Textes ein anderer im Exil lebender Syrer sei. Nachzulesen unter URL: https://de.wikipedia.org/ wiki/Ibrahim_Qaschusch, zuletzt aufgerufen am 3.05.2017. 22 Hier wird ein intertextueller Bezug auf eine in arabischen Protestbewegungen bekannte reimende Schablone: »x yā ǧabān, y lā yuhān« (x Feigling, y lässt sich nicht demütigen) hergestellt. 23 T. Niehr, Einführung in die linguistische Diskursanalyse, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2014, S. 83. 24 Ebd., S. 86.
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Alle wird nicht näher definiert. Darunter kann man aber alle Tunesier/ innen verstehen, die gesamte Bevölkerung Tunesiens, oder alle, die mit dem Regime unzufrieden sind und auf den Straßen protestieren. Möglich wäre auch eine Deutung, die einen Charakter der tunesischen Revolution betont, nämlich dass die Revolution ohne bestimmte politische Farbe und ohne politisches Programm begonnen hat. Blut (dam) Das metaphorisch gebrauchte Schlagwort Blut tritt im syrischen Protestlied für al-Assad im Kontext eines Kampfes auf. Es ist der Kampf um die Aufrechterhaltung des Landes und steht zudem in Verbindung zur Erde. Die Rede ist vom teuren Blut, das während eines Kampfes auf die Erde fließt. Erde und Blut werden miteinander über eine Metapher verknüpft: »Das teure Blut, oh mein Land opfern wir gerne deinem Boden«. Die Metapher ist zugleich ein Vergleich, in der die Erde als wertvoller, wichtiger erachtet wird als das Blut. Die Bereitschaft, für das eigene Land zu sterben, ist ein bekanntes Motiv, das man auch in mehreren Nationalhymnen arabischer Staaten findet, die im Kontext des Befreiungskampfs gegen den Kolonialismus entstanden sind.25 Die Demonstranten im syrischen Protestlied gegen al-Assad verwenden das Schlagwort in zwei verschiedenen Bedeutungen. Die erste Bedeutung, die dem Schlagwort zugeschrieben wird, ist, dass al-Assads Blut fließen wird. Hier findet eine Bedeutungsverschiebung statt. Das Blut, das zuvor immer als etwas Wertvolles angesehen wurde, bezieht sich auf den ›verdammten‹ Baschar: »Dein Blut wird in Daraa fließen«. Baschar wird in dem Lied stets aufgefordert zu verschwinden. Dass ihm angedroht wird, dass sein Blut in Daraa fließen wird, ist in dem Kontext nicht verwunderlich. Die Stadt Daraa kann als die Wiege der Revolution in Syrien bezeichnet werden, da hier die Proteste begonnen haben, auf die das Regime mit Gewalt reagierte. Zweitens ist die Rede von einem nicht billigen, also einem wertvollen Blut der syrischen Gefallenen aus dem Lager der Gegner al-Assads, für die die Demonstranten Rache schwören: »Baschar du Schuft / Das Blut 25 Beispiele dafür sind die Nationalhymnen von Tunesien und Libyen, die auf Wikipedia in deutscher Übersetzung zu lesen sind. Hier sei jeweils ein Vers aus ihnen zitiert: Tunesien: »Das Blut schreit in unseren Adern / Wir sterben, wir sterben, es lebe unser Vaterland!« (URL: https://de.wikipedia.org/ wiki/Humat_al-hima, zuletzt aufgerufen am 07.06.2017). Libyen: »Oh mein Land! Du bist das Erbe der Großväter, / Möge Gott jede Hand abwehren, die Dir Schaden zufügen könnte, Wenn Du überlebst, kümmert es uns nicht, wenn wir fallen.« (URL: https://de.wikipedia.org/wiki/Libiya,_Libiya,_Libiya, zuletzt aufgerufen am 07.06.2017).
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der Märtyrer ist nicht billig«. An einer weiteren Stelle des Liedes wird wiederum vom Blut der Gefallenen gesprochen. Sie singen, dass es nicht zu verzeihen ist, dass dieses Blut geflossen ist: »Dem Blut der Märtyrer bleiben wir treu«. In dieser Bedeutung wird das Schlagwort Blut auch im ägyptischen Protestlied gebraucht. Es geht um fast den gleichen Ausdruck »Mubarak du Schuft – Das ägyptische Blut ist nicht billig«. Im ägyptischen Lied wurde das Blut der Märtyrer durch das ägyptische Blut ersetzt. Die Bezugnahme auf Ägypten involviert alle Ägypter, die sich dadurch mit den Märtyrern identifizieren können. Es soll die Aufgabe aller Ägypter sein, unabhängig von ihrer politischen, sozialen oder religiösen Zugehörigkeit, Rache zu nehmen. Die frappierende Ähnlichkeit zwischen den Textstellen in den beiden Liedern liegt darin, dass sie sich auf eine zweite, in der arabischen Welt bekannte Schablone für einen Demo-Spruch beziehen, die auch in früheren Protesten in arabischen Ländern gebraucht wurde, wie etwa im Jahr 2004 gegen den amerikanischen Präsidenten Bush während des dritten Golfkriegs: »x yā ḫasīs, y muš riḫīs« (x du Schuft, y ist nicht billig). Diese Schablone kann beliebig durch eine angegriffene Person oder Institution (x) im ersten Teil und eine widerstandsleistende Person, Region, gesellschaftliche Gruppe, Institution, Berufsgruppe usw. (y) im zweiten Teil ergänzt werden.26 Sowohl im tunesischen als auch im libyschen Protestlied kommt das Schlagwort Blut nicht vor. Setzen wir jedoch Blut mit dem heldenhaften Sterben oder dem Töten als Racheakt für die Opfer des Widerstands gleich, können wir so eine Brücke zum tunesischen und libyschen Lied schlagen. Im tunesischen Protestlied fürchten die Rebellen keine Waffen und kein Feuer und wollen Rache nehmen. Sie zeigen die Bereitschaft im Widerstand zu sterben und ihre Gegner auch umzubringen: »Wo sich meine freien Mitkämpfer treffen / Die keine Waffen und kein Feuer fürchten / Und der Rebell ist ein Mann, der sich rächt«. Im libyschen Protestlied findet man auch eine Anspielung auf den ehrenvollen Tod der Widerstandskämpfer und auf das Umbringen des Gegners. In der folgenden Textstelle wird auf den Tod des Gegners angespielt: »Glückwunsch, Glückwunsch, heute haben wir den Tyrannen besiegt / Der Gott nicht fürchtet und nur in einem Sarg enden wird«. Naheliegend ist, dass der gemeinte Tyrann Gaddafi ist. Auf seinen Tod wird hier durch den Gebrauch der Metapher des Sargs angespielt. Die Rebellen sind auch bereit, im Kampf zu sterben, was in den folgenden Zeilen zum Ausdruck kommt: »Mein Herr al-Muchtar, die Rebellen 26 Eine intertextuelle Bezugnahme auf den ersten Teil dieser Schablone finden wir an einer anderen Stelle im Protestlied gegen al-Assad: »Baschar du Schuft / Du bist verdammter als der Teufel« (ya Baschar ya ḫasīs / inta al ʿan min iblīs).
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folgten deinem Ruf / Deinem Motto folgend sterben wir oder leben wir heute frei«. Hier wird Bezug auf Umar al-Muchtar (1862–1931),27 den berühmten Anführer des bewaffneten Widerstands gegen die italienische Kolonialherrschaft, genommen. Umar al-Muchtar war ein Islamgelehrter und wurde zu einer Ikone des Widerstands in der arabischen Welt. Man spricht al-Muchtar an und verspricht ihm, dass man seinem Motto folgt. Es geht um einen bekannten Spruch, der von diesem Rebellenanführer stammen soll: »Wir werden nicht aufgeben, wir siegen oder wir sterben.« Dieser Spruch ist zu einem bekannten geflügelten Wort geworden, der auch in der tunesischen Revolution als Demo-Spruch benutzt wurde. Der intertextuelle Bezug auf al-Muchtars Spruch dient dem Verstärken des Gruppengefühls und der Suche nach einer verbindenden historischen Persönlichkeit als Symbol für die Einheit der Libyer und den Kampf für die Freiheit. Freiheit (ḥurriyya) Freiheit ist ein zentrales Schlagwort in den untersuchten Protestliedern. Neben dem Gebrauch des Nomens finden wir auch adjektivische Formen, die sich meist auf die Protestierenden beziehen. Freiheit wird als Ziel erstrebt oder gefeiert. Im ägyptischen Lied wird die Freiheit personifiziert und mit ihr ein Dialog geführt. »Freiheit wo bist du?« Diese rhetorische Frage stellen die ägyptischen Demonstranten dreimal. Sie suchen hier keineswegs eine Antwort auf die Frage, sondern skizzieren mit ihren Antworten, die sie selber geben, das politische despotische System: »Oh Freiheit wo bist du? Hosni Mubarak steht zwischen uns und dir Oh Freiheit wo bist du? Die Verfälschung steht zwischen uns und dir Oh Freiheit wo bist du? Die Staatssicherheit steht zwischen uns und dir« Die aufgezählten Missstände müssen für die Demonstranten verschwinden, damit der Weg zwischen ihnen und der Freiheit eröffnet werden kann. Freiheit wird nicht charakterisiert, es wird lediglich ex negativo aufgezählt, was sie nicht ist. Im libyschen Protestlied wird die wieder erlangte Freiheit nach einer langen Zeit unter der Herrschaft der Diktatur gefeiert:
27 Das Leben von Umar al-Muchtar wurde 1980 in dem Film von Moustapha Akkad Omar Mukhtar – Löwe der Wüste dargestellt, in dem Anthony Quinn die Rolle von al-Muchtar spielte.
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»Mit Gottes Hilfe wird der Thron des Unrechts nicht mehr herrschen Libyen Glückwunsch für die erlangte Freiheit« Die Freiheit ist das wertvollste Ziel, das teurer ist als das eigene Leben. Für das gewonnene freie Leben ist man bereit zu sterben, wie die bereits zitierten Zeilen zeigen: »Mein Herr al-Muchtar, die Rebellen folgten deinem Ruf Deinem Motto folgend sterben wir oder leben wir heute frei« Im tunesischen Protestlied ist die Freiheit ein Ziel, das man verspricht zu erreichen: »Ich komme, ich komme durch das Meer in mein Land zurück Wo sich meine freien Mitkämpfer treffen« Das tunesische Lied stammt ursprünglich aus einem anderen Kontext, nämlich dem Widerstandskampf der Palästinenser und wurde nach dem Sturz von Ben Ali in einer feierlichen Stimmung gesungen.28 Das Original wurde in seiner Melodie und mit einem leicht veränderten Text übernommen. Eine weitgehende textuelle Anpassung an den tunesischen Kontext wurde nicht unternommen. Die Rückkehr der Vertriebenen und Flüchtlinge bildet beispielsweise ein zentrales Motiv in diesem Lied, das auf den tunesischen Kontext nicht ohne weiteres zutrifft. In der tunesischen Revolution, die oft als die Revolution der Würde und der Freiheit bezeichnet wird, war die Freiheit eine der Hauptforderungen. Das Motiv der Freiheit war aber auch Gegenstand von ursprünglich tunesischen Protestliedern, wie etwa dem bekannten Protestlied der Sängerin Amel Mathlouthi »Mein Wort ist frei«.29 Das syrische Lied gegen Baschar al-Assad enthält auch die Forderung nach der Freiheit: »Baschar du Lügner / Zum Teufel mit dir und deiner Rede / Die Freiheit steht schon vor der Tür«. Die Freiheit wird hier auch als Ziel erstrebt, das bald zu erreichen ist. Deshalb soll man nicht aufgeben und den Versprechungen von al-Assad nicht glauben.
28 Der Text wurde erstmals vom jungen Demonstranten Khaled Falhi leicht bearbeitet und mit der gleichen Melodie bei Protesten vor dem Amt des Ministerpräsidenten der Übergangsregierung gesungen. 29 Eine deutsche Übersetzung dieses Liedes, das bei der Verleihung des Nobelpreises für Frieden 2015 an das tunesische Quartett für den nationalen Dialog gesungen wurde, ist im Internet auf der folgenden Seite zu finden, URL:https://www.antiwarsongs.org/canzone.php?id=37657&lang=fr, zuletzt aufgerufen am 10.05.2017.
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4. Gruppenindizierende Wörter In den Protestliedern wird die eigene Gruppe gebildet, stabilisiert und gegen die anderen abgegrenzt. Die untersuchten Protestlieder beinhalten bestimmte lexikalische Einheiten mit einer gruppenindizierenden Funktion, zu denen zumeist Personal- und Possessivpronomen der ersten Person Plural und Wörter mit positiven Konnotationen gehören. Die Gegner, die nicht zur Wir-Gruppe gehören, werden durch den Gebrauch negativ konnotierter Wörter stigmatisiert. Der Gebrauch von Personal- und Possessivpronomen der ersten Person Plural für die singende Gruppe kommt außer im tunesischen Lied in allen untersuchten Liedern vor. • »Wir wollen die ganze Welt erschüttern« (Syrisches Lied für al-Assad) • »Wir wollen dich stürzen Baschar mit unserer starken Entschlossenheit« (Syrisches Lied gegen al-Assad) • »Wir bauen dich neu, Stein auf Stein« (Libysches Lied) • »Oh Freiheit wo bist du? Hosni Mubarak steht zwischen uns und dir« (Ägyptisches Lied) Im tunesischen Lied ist der Sprecher eine einzelne Person, die die Personal- und Possessivpronomen der ersten Person Singular benutzt, der sich als Rebell bezeichnet und stellvertretend für die ganze Gruppe der Rebellen spricht. Die gruppenindizierende Funktion unterstützen hier lexikalische Mittel mit positiven Konnotationen, die die Solidarität innerhalb der Gruppe verstärken. »Ich komme, ich komme durch das Meer in mein Land zurück Wo sich meine freien Mitkämpfer treffen Die keine Waffen und kein Feuer fürchten Und der Rebell ist ein Mann, der sich rächt« Der Gruppe der Rebellen werden im Refrain positive Eigenschaften im revolutionären Kontext zugeschrieben: Sie sind ›löwen‹-starke Männer und freie Menschen, die keine Angst vor Waffen haben und Rache nehmen können. Es wird nicht genauer definiert, wer diese Rebellen sind, sondern gesagt, dass die Revolution alle umfasst: »Wie schön ist die tunesische Revolution, die alle umfasst«. Alle als Indefinitpronomen steht hier für eine unbestimmte Menge von Personen, deren Identität aus dem Kontext nicht eindeutig erschlossen werden kann. Der Sprecher des tunesischen Protestliedes ist anonym, das Einzige, was wir bestimmen können, ist, dass er ein tunesischer Staatsbürger ist und dass es sich um eine einzelne Person handelt: »Ich komme, ich 453
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komme durch die Grenzen in mein Land zurück«. Einen Adressaten finden wir erst an einer späteren Textstelle, ›Dein Stolz Tunesien…‹. Das Land Tunesien wird als Adressat gewählt und dies bleibt so bis zum Schluss. Im syrischen Lied für al-Assad wird die Gruppe näher definiert, indem man Armee und Volk explizit als solidarische Gruppe mit einem gemeinsamen Ziel verbindet: »Armee und Volk / Hand in Hand / Wollen wir Syrien schützen« »Wollen wir deinen Boden hier schützen« »Opfern wir gerne deinem Boden« »Von unserer Einheit rücken wir nie ab« Im syrischen Protestlied gegen al-Assad werden zwei Personengruppen und eine Person explizit benannt. Baschar al-Assad wird mit seinem Vornamen und über die Pronomen du, dich und deine direkt aufgerufen, während die singende Gruppe lediglich über das Pronomen uns, das syrische Volk und die Gefallenen identifiziert wird. Al-Assad ist Adressat und die Sprecher sind seine Gegner. Die dritte Gruppe sind al-Assads Anhänger – sein Bruder Maher, die Baath Partei und alle Menschen die ihn beachten, die persönlich angesprochen werden. »Baschar du bist keiner von uns / Nimm Maher und geh weg von uns« »Baschar du Infiltrierter / Zum Teufel mit dir und der Baath-Partei« »Baschar scheiß auf dich / Und die dich beachten« Die singende Gruppe schließt explizit Baschar al-Assad aus: »Baschar du bist keiner von uns«. Ihm wurde seine Angehörigkeit zu Syrien und zum syrischen Volk aberkannt. Dies wird nochmals durch den Gebrauch des Wortes Infiltrierter bekräftigt. Im syrischen Lied für al-Assad wird die singende Gruppe über die gruppenindizierenden Wörter wir, unserer, mein, Syriens Männer und Armee und Volk charakterisiert. Der Adressat in dem Lied ist das Land Syrien selbst: »Syrien was auch immer geschieht / Dein Haupt bleibt ewig hoch« Zusätzlich wird eine dritte Gruppe erwähnt, nämlich die Welt bzw. die ganze Welt: »Wir wollen die ganze Welt erschüttern« »Auch wenn die Welt den Verstand verliert« In diesem Lied bilden Volk und Armee eine Einheit. Die Existenz von Gegnern des Regimes aus dem Inland wird tabuisiert. Syrien muss gegen 454
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die Bedrohungen aus dem Ausland geschützt werden, egal wie stark diese Bedrohungen sind und wer dahinter steht. Das libysche Protestlied wählt, vergleichend zum vorher genannten Lied, denselben Adressaten, nämlich das Land Libyen: »Libyen Glückwunsch zum heutigen Sieg« Der Adressat ändert sich aber in weiteren Stellen im Text, wo zuerst Umar al-Muchtar und dann der Tyrann als Anspielung auf Gaddafi angesprochen werden: »Mein Herr al-Muchtar, die Rebellen folgten deinem Ruf« »Ohne dich Tyrann sind all unsere Tage Feste« So ein Wechsel ist ebenfalls beim Sprecher festzustellen, da dieser in zwei verschiedenen Perspektiven auftritt, zum einen in der Ich-Form: »Mein Land du hast mit mir ›Gott ist größer‹ mehr und mehr gerufen«, und zum anderen in der Wir-Form: »Glückwunsch, Glückwunsch, heute haben wir den Tyrannen besiegt«. Zusätzlich wird der Sprecher charakterisiert: »Mein Herr al-Muchtar, die Rebellen folgten deinem Ruf«. Es fällt auf, dass der Adressat stets wechselt, dies jedoch stark mit dem Aufbau des Liedes verbunden ist. Der Inhalt stellt eine Art Kausalkette dar, die die Ereignisse in Libyen aufgreift. Zuerst wird Libyen als Land vorgestellt, der »Boden des Widerstandes und des Stolzes«. Danach wird dem Land eine Person »Das Land von al-Muchtar« zugeschrieben. Es wird davon ausgegangen, dass Libyen sich über al-Muchtar definiert. Nachdem al-Muchtar eingeführt wurde und nun als Adressat gilt, wird wieder Libyen zum Sieg gratuliert, in dem man das Böse noch einmal benennt und direkt anspricht: »Ohne dich Tyrann sind all unsere Tage Feste«. Das ägyptische Protestlied hat keinen eindeutigen Sprecher, es kann nicht eindeutig gesagt werden, wer sich hinter der singenden Gruppe verbirgt. Es ist klar, dass sie sich gegen Mubarak richten und sie sich über »das ägyptische Blut« definieren. Der Adressat ist zum einen Mubarak »Mubarak du…«, zum Zweiten das Land »Oh mein Land sei stark« und zum Dritten das Symbol Freiheit »Oh Freiheit wo bist du? Hosni Mubarak steht zwischen uns und dir«. Festzuhalten ist, dass der Sprecher der Lieder meist eindeutig, aber teils anonym erscheint. Wohingegen der Adressat meist wechselt, aber nicht anonym ist. In vier von fünf Liedern nimmt das jeweilige Land die Rolle des Adressaten ein. Dass das Land der Adressat ist, erscheint für uns nicht verwunderlich, da in jedem Lied der Wunsch nach Veränderung geäußert wird und diese Veränderung wird vom Land gefordert und nicht von den Regierenden, da diese meist verflucht werden oder gestürzt werden sollen.
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5. Fazit Abschließend ist festzuhalten, dass die analysierten Protestlieder, die in vier Ländern des ›Arabischen Frühlings‹ auf Demonstrationen gesungen wurden, als Teil des »instrumentalen Sprachspiels« (sensu Grünert) betrachtet werden können. Sie haben eine einfache Sprache und benutzen ähnliche Schlagwörter, wobei das Protestlied aus Libyen durch eine stärkere religiöse Ausprägung gekennzeichnet ist. Bis auf das Lied für Baschar al-Assad war das Schlagwort Freiheit als Forderung des Protests in den anderen vier Liedern präsent. Konstatiert werden kann also, dass die Lieder in den verschiedenen Ländern sowohl im Hinblick auf ihre Funktionen, das heißt bezüglich der durch sie realisierten Sprachspiele, als auch zum Teil hinsichtlich der verwendeten Lexik Gemeinsamkeiten aufweisen. Alle untersuchten Lieder zeigen gruppenindizierende Wörter, die die eigene positiv dargestellte Gruppe von der Gruppe der Gegner trennen, die mit negativ konnotierten Wörtern bezeichnet wird. Darüber hinaus zeigten die Texte auch intertextuelle Bezüge mit bekannten Demo-Sprüchen und anderen Protestliedern. Anhang: Protestlieder (Syrien, Libyen, Tunesien, Ägypten) Protestlied für Baschar al-Assad30 »Wir wollen die ganze Welt erschüttern Syrien ist niemals zu erschüttern Syrien, deine Männer bleiben ewig Schwert der Mannhaftigkeit und voller Stolz Auch wenn die Welt den Verstand verliert Wollen wir deinen Boden hier schützen Das teure Blut, oh mein Land Opfern wir gerne deinem Boden Nein, nein, nein Nein, nein, nein Syrien was auch immer geschieht Dein Haupt bleibt ewig hoch Deine Fahne mit Lorbeer belaubt Weht stets über mein Land Auch wenn die Welt den Verstand verliert Wollen wir deinen Boden hier schützen Das teure Blut, oh mein Land Opfern wir gerne deinem Boden 30 Originaltext unter URL: https://www.youtube.com/watch?v=FSuPTKyrrvk, zuletzt aufgerufen am 17.01.2017.
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Armee und Volk Hand in Hand Wollen wir Syrien schützen Von unserer Einheit rücken wir nie ab, Bis zum Ende der Welt Auch wenn die Welt den Verstand verliert Wollen wir deinen Boden hier schützen Das teure Blut, oh mein Land Opfern wir gerne deinem Boden« Protestlied gegen Baschar al-Assad31 »Baschar du bist keiner von uns Nimm Maher und geh weg von uns Deine Legitimität erkennen wir nicht mehr Los Baschar, verschwinde! Baschar du Lügner Zum Teufel mit dir und deiner Rede Die Freiheit steht schon vor der Tür Los Baschar, verschwinde! Los Baschar, verschwinde! Baschar du Schuft Das Blut der Märtyrer ist nicht billig Pack deine Sachen in Tüten Los Baschar, verschwinde! Baschar du Infiltrierter Zum Teufel mit dir und der Baath-Partei Sprich ›s‹ richtig aus32 Los Baschar, verschwinde! Baschar scheiß auf dich Und die dich beachten Los Baschar, verschwinde! Baschar du Feigling Agent der Amerikaner Das syrische Volk lässt sich nicht demütigen Los Baschar, verschwinde! Baschar du Verdammter Glaubst du, dass wir es dir verzeihen? Dem Blut der Märtyrer bleiben wir treu Los Baschar, verschwinde! Baschar du Doktor 31 Originaltext unter URL: http://changeforsyria.blogspot.com/2011/08/blogpost.html, zuletzt aufgerufen am 17.01.2017. 32 Baschar al-Assad hat eine Störung bei der Artikulation des Konsonanten »s«.
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Hör auf um uns herumzuschleichen Dein Blut wird in Daraa fließen Los Baschar, verschwinde! Baschar du Schuft Du bist verdammter als der Teufel Los Baschar, verschwinde! Wir wollen dich stürzen Baschar mit unserer starken Entschlossenheit« Protestlied (Libyen)33 »Libyen Glückwunsch zum heutigen Sieg Libyen unser Land, Land von al-Muchtar Mein Land du hast mit mir ›Gott ist größer‹ mehr und mehr gerufen Mit Gottes Hilfe wird der Thron des Unrechts nicht mehr herrschen Libyen Glückwunsch zur erlangten Freiheit Libyen Boden des Widerstands und des Stolzes Glückwunsch, Glückwunsch, heute haben wir den Tyrannen besiegt Der Gott nicht fürchtet und nur in einem Sarg enden wird Libyen Glückwunsch zum heutigen Sieg Libyen unser Land, das Land von al-Muchtar Mein Herr al-Muchtar, die Rebellen folgten deinem Ruf Deinem Motto folgend sterben wir oder leben wir heute frei Libyen Glückwunsch zur erlangten Freiheit Libyen Boden des Widerstands und des Stolzes Wir bauen dich neu, Stein auf Stein Ohne dich Tyrann sind all unsere Tage Feste« Protestlied (Tunesien)34 »Wie schön ist das Zusammenkommen am Wasser und wie schön ist der Frühling Wie schön ist die tunesische Revolution, die alle umfasst Oh meine Mutter, oh meine Geschwister seid nicht traurig Gottes Licht glüht immer noch in meinem Herzen Wie schön ist das Zusammenkommen am Wasser und wie schön ist der Frühling Wie schön ist die tunesische Revolution, die alle umfasst Ich komme, ich komme durch die Berge in mein Land zurück Wo sich meine Mitkämpfer als Männer treffen Dein Stolz Tunesien bleibt immer noch hoch Und der Rebell ist dein Kind und dein voranreitender Ritter 33 Originaltext unter URL: http://bnat-ly.yoo7.com/t865-topic, zuletzt aufgerufen am 17.01.2017. 34 Originaltext unter URL: http://silverscorpion.ahlamontada.net/t5070-topic, zuletzt aufgerufen am 17.01.2017.
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Wie schön ist das Zusammenkommen am Wasser und wie schön ist der Frühling Wie schön ist die tunesische Revolution, die alle umfasst Ich komme, ich komme durch die Grenzen in mein Land zurück Wo sich meine löwenstarken Mitkämpfer treffen Deine Ehre Tunesien ist berühmt und hoch Und der Rebell ist dein Sohn, der allem gewachsen ist Wie schön ist das Zusammenkommen am Wasser und wie schön ist der Frühling Wie schön ist die tunesische Revolution, die alle umfasst Ich komme, ich komme durch das Meer in mein Land zurück Wo sich meine freien Mitkämpfer treffen Die keine Waffen und kein Feuer fürchten Und der Rebell ist ein Mann, der sich rächt Wie schön ist das Zusammenkommen am Wasser und wie schön ist der Frühling Wie schön ist die tunesische Revolution, die alle umfasst« Protestlied (Ägypten)35 »Mubarak du Schuft Das ägyptische Blut ist nicht billig Hela Hela Hela Hela Diese Nacht ist die letzte Nacht Hilfe Hilfe Hilfe Hilfe Oh mein Land sei stark! Oh Freiheit wo bist du? Hosni Mubarak steht zwischen uns und dir Oh Freiheit wo bist du? Die Verfälschung steht zwischen uns und dir Oh Freiheit wo bist du? Die Staatssicherheit steht zwischen uns und dir Staatssicherheit, Staatssicherheit! Wo ist die Sicherheit und wo ist der Staat? Nieder, Nieder Hosni Mubarak Nieder, Nieder mit dem Regime«
35 Originaltext unter URL: https://www.youtube.com/watch?v=HqlbrdZxYSg, zuletzt aufgerufen am 17.01.2017.
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Passage I
© Eva Kimminich
Rachida Triki
Kunst und Widerstand Die tunesische Revolution, bei der der Kampf für Freiheit und Menschenwürde im Vordergrund stand, ist unter anderem als Jugendrevolution und als Digitale Revolution beschrieben worden. Darüber hinaus war sie von Anfang an ein Ausgangspunkt für eine bemerkenswerte Kreativität: So haben Internetnutzer/innen durch die Art und Weise, wie sie sich des digitalen Netzes bedienten, ganze Systeme von Bildern geschaffen, die gleichzeitig informativ, fiktional und kreativ sind. Durch die Kombination von Schnelligkeit, Kraft der Präsenz, Bewegung und Materialität entwickelten diese Bilddispositive in Echtzeit eine kommunikative und ansteckende Intensität. Facebooknutzer/innen verwendeten die Macht der produzierten und reproduzierten Bilder, um die unterschiedlichen Formen der Zensur zu umgehen und ihre Fotografien von den Aufständen und den Repressionen seitens des Staates allerorten zu verbreiten. Diese Bilder, die häufig unter gefährlichen Bedingungen mitten in Aktion aufgenommen wurden – sei es mit Kameraausrüstung, herkömmlichem Fotoapparat oder mit dem Mobiltelefon –, haben schnell die Funktion von Parolen erlangt. Die Straße war dabei der Schauplatz unterschiedlicher künstlerischer Manifestationen: Happenings, kollektiver Bildschöpfungsprozesse bzw. Performances, die das Publikum mit einbeziehen, künstlerischer Interventionen an Mauern etc. Dieser öffentliche Raum, den die Künstler/innen gleich am Tag nach dem Beginn der Bewegung im Januar 2011 besetzt hatten, bleibt auch heute weiter bestehen und erinnert ständig an das Recht der Künstler/innen auf freie Gestaltung. Schon sehr früh wurden die Bilddispositive der Revolution auch zum Medium eines Gegendiskurses, der sich dem öffentlichen Raum anonym eingeschrieben hatte: Zu finden sind sie auf den Mauern in den Städten, in Karikaturen, Gedichten, Slogans, Zeichen und Symbolen, die versuchen, ein anderes Denken zu entwerfen. In den Kämpfen gegen die Zensur und die Unterdrückung hat die imaginative Vorstellungskraft dazu beigetragen, die Bilder der Machtikonen zu zerstören und sie durch anonyme Graffiti1 zu ersetzen: So ist es auch im Fall dieses Freskos mit Porträts subversiver Intellektueller, hastig mit Schablonen 1
Es handelt sich um ein Graffiti von einem anonymen Kollektiv, das den Namen Ahl Al Kaf trägt. Die Gruppe definiert sich auf ihrer Facebookseite als eine »Bewegung junger Leute aus Tunesien, Anti-Globalisierung und Anti-Orientalismus, geboren aus der Revolution«.
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auf eine Mauer in Tunis gesprayt und zusammengefügt. Es sind die Porträts von Mohamed Chokri, Antonio Negri, Edward Saïd und Gilles Deleuze. Über jedem Bildnis zu jeweils einem der Intellektuellen steht ein Zitat auf Arabisch als Slogan des Widerstandes: »Ich schreibe, um zu überleben« (M. Chokri), »Die Macht ist überall, wir müssen sie abschaffen« (A. Negri), »Es liegt an den Intellektuellen, die Geschichte zu schreiben, die sie bezeugen« (E. Saïd), »Erschaffen heißt Widerstand leisten« (G. Deleuze). Der Bezug auf zeitgenössische Philosophen und Schriftsteller aus Marokko, Italien, Palästina/USA und Frankreich, die für ihr emanzipatorisches Denken gegen die Macht in all ihren repressiven Formen bekannt sind, zeigt hier in einem lokalen Kontext den transkulturellen Charakter des Widerstands gegen die Entfremdung in all ihren Formen. Die Visualisierung der jeweiligen Autoren greift auf Figuren zurück, deren Werke im gymnasialen und akademischen Kontext in Tunesien diskutiert werden. Die Zitate in arabischer Sprache überschreiten sprachliche Besonderheiten, um tunesischen Bürger/ innen dieses universelle Denken des Widerstands zugänglich zu machen. Dieses subversive »Fresko« ist zusätzlich angereichert mit unterschiedlichen Inschriften, in denen die Öffentlichkeit in einen Dialog mit dieser graphischen Intervention in Form eines neuen Genres eingetreten ist: Initialen, Datumsangaben, Verdopplung des arabischen Imperativs »Widerstehe!« (qāwim) in Schwarz und Rot, Unterschriften und Durchstreichungen sind als öffentliche Reaktionen auf diese Widerstandsanreize gleichsam aufgepfropft. Eine Schmuckbordüre, die am unteren Rand der Intervention an der Mauer angebracht ist, besteht aus einer Kolonne großer Ameisen. Die Eingangsöffnung zu ihrem unterirdischen Bau markiert den Anfang der Porträtserie. Diese Zeichnungen stellen eine Parallele zu dem Gemälde von Mohamed Ben Slama vom Juni 2012 – Mitte des revolutionären Prozesses und der damit einhergehenden Konterrevolution – dar, in dem mit der Darstellung einer aus der Mappe eines Schuljungen hervorkommenden Ameisenkolonne gearbeitet wird, für das der Künstler von Fundamentalisten Morddrohungen erhalten hat, weil es die arabische Inschrift 464
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»Subḥān Allāh« (»Ehre sei Gott«) trägt.2 Die Zensoren sahen darin einen Verstoß gegen den Koran, und zwar besonders gegen die »Sure der Ameisen« (27. Sure: an-Naml), die diese Geschöpfe ehrt und den Schöpfer verherrlicht. Die brutale Zensur der Ausstellung »Frühling der Künste« (»le printemps des arts«, im Palais Abdelia in La Marsa), in der dieses Werk gezeigt wurde, hat Unruhen provoziert und gleichzeitig zu einer starken Mobilisierung von Künstler/innen in Verteidigung der Freiheit geführt. Das Graffito mit den Ameisen und den Porträts engagierter Intellektueller schreibt sich in diese Linie von Protest und Widerstand gegen die Konterrevolution ein, die an Verboten und Einschüchterungen zu erkennen ist. Diese Intervention in Form von Graffiti etabliert neue Individualisierungsformen und weist auf ein bürgerliches Engagement hin. Es handelt sich hier um kreative soziale Subjektivitäten, die künstlerische Interventionen im Inneren eines kulturellen Systems praktizieren, das seinerseits in anachronistischen Darstellungsweisen gefangen ist. In der Regel nehmen sie die Form subversiver dissidenter Aktionen an. Sie sind Teil der Widerstandsbewegungen, indem sie neue und verbotene Formen in die dominante Kultur einführen, die durch autoritäre Macht oder das despotische Regime in einer pathologischen Art und Weise generiert wurde. Solche Aktionen sind in der Regel von einer libertären Forderung nach Freiheit angetrieben und sind Teil der Avantgarde der Bewegung zur Destabilisierung jener Werte, die dem Prozess der Unterwerfung der individuellen Bürger/innen dienen. Als kreativer und interaktiver Aktivismus prangern solche neuen Formen künstlerischen Schaffens von der lokalen Ebene aus die unterschiedlichen Mystifizierungen des politisch-kulturellen Systems im Ganzen und die Perversion des Umgangs mit unseren Wahrnehmungen an. Sie vertreiben uns gezielt aus unseren gewohnten Kommunikationsvorstellungen und eröffnen uns neue Möglichkeitsräume in der Abweichung und Differenz. Damit handelt es sich um eine Wiederbelebung des öffentlichen Lebens und der Sozialität, indem neue Zeiten und Räume für andere Erfahrungen von Lebensorten eröffnet werden. Gegenwärtig versuchen zahlreiche künstlerische Aktionen, das alltägliche Leben durch künstlerische Verfremdungen oder Brüche zu erneuern, indem sie Widerstand gegen die Kodifizierung tradierter Raumverhältnisse, gegen die Zirkulation der vorgegebenen Bedeutungen und gegen die Gewöhnung an alle Formen der Diktatur leisten. Solche Prozesse machen es möglich, sich neue Subjektivierungsweisen vorzustellen, um uns von den vorgefertigten Individuationsmustern zu befreien, die
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Quelle: http://lunettesrouges.blog.lemonde.fr/2012/06/13/tunisie-art-contre-integrisme/allah-insecte/ (abgerufen 09.04.2018)
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RACHIDA TRIKI
von der ökonomisch-kulturellen Maschine des Konsumismus in Indifferenz und Instrumentalisierung der Kultur vorgefertigt sind. In diesem Sinne stellt das künstlerische Schaffen einen Freiraum dar, um sich von konventionellen überkommenen Darstellungen zu befreien und um die Gegenwart zu erfassen – durch den Umweg über jene Codes, die ihre Vermittlungsmacht erschöpft haben. Ausgehend also von einer neuen Sprache können Künstler/innen die Sinnfrage neu stellen, gerade durch ihre transkulturelle Offenheit. Aus dem Französischen von Steffi Hobuß
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Die Autorinnen und Autoren Ibrahim Abdella, Professor für Germanistik an der Philosophischen Fakultät, Beni Suief-Universität, Ägypten. Forschungsschwerpunkte: Vergleichende Literaturwissenschaft und interkulturelle Germanistik. Veröffentlichungen (Auswahl): »Die Wirkung eines Tabubruches in der modernen arabischen Literatur und dessen Einfluss auf die gesellschaftliche Entwicklung Ägyptens am Beispiel von Nagib Mahfuz’ Roman Die Kinder unseres Viertels«, in: E.W. B. Hess-Lüttich, A. Khattab, S. Steinmann (Hg.), Zwischen Ritual und Tabu, 2013; »Die Auseinandersetzung mit den externen Quellen und deren Einflüsse auf den Roman Fabian. Die Geschichte eines Moralisten von Erich Kästner«, in: Kairoer Germanistische Studien, 2014. Abdellatif Aghsain, M.A., studierte Germanistik, Arabistik, Islamwissenschaft und Französisch an der Universität Mohamed Ibn Abdellah in Fez (Marokko) und an der Universität Freiburg. Von April 2013 bis April 2016 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am CNMS an der Universität Marburg. Forschungsschwerpunkte: Moderne arabische Literatur nach 1967, literarische Anthropologie und Kultur- sowie Ideengeschichte der arabischen Welt. Zurzeit arbeitet er an dem Promotionsprojekt: Literarische Subversionen im Werk von Zakariyā Tāmir. Bettina M. Bock, Juniorprofessorin am Institut für deutsche Sprache und Literatur II der Universität Köln. Forschungsschwerpunkte: Textlinguistik, Diskurslinguistik, Sprache und Politik, Sprache und Inklusion, Sprachkritik. Veröffentlichungen (Auswahl): »Blindes« Schreiben im Dienste der DDR-Staatssicherheit. Eine text- und diskurslinguistische Untersuchung von Texten der inoffiziellen Mitarbeiter, 2013; »Verschwundene Wörter? Begriffe des DDR-Sozialismus und des Geheimwortschatzes der Staatssicherheit nach 1989/90«, in: H. Diekmannshenke, T. Niehr (Hg.), Öffentliche Wörter, 2013; »Die Stasi-Akten aus dem Blickwinkel der Sprachwissenschaft«, in: S. Kittel, T. Großbölting (Hg.), Welche ›Wirklichkeit‹ und wessen ›Wahrheit‹?, im Druck). Sarhan Dhouib, seit 2010 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie an der Universität Kassel. Forschungsschwerpunkte: Kant und der Deutsche Idealismus, insbesondere Schellings Philosophie, Politische Philosophie, Philosophie der Menschenrechte, Klassische und Moderne Arabische Philosophie, Interkulturelle Philosophie. Veröffentlichungen (Auswahl): Kultur, Identität und Menschenrechte. Transkulturelle Perspektiven (Hg., 2012); Demokratie, Pluralismus und 467
DIE AUTORINNEN UND AUTOREN
Menschenrechte. Transkulturelle Perspektiven (2014); Gerechtigkeit in transkultureller Perspektive (Hg., 2016). Ulla Fix, emeritierte Professorin für deutsche Sprache der Gegenwart an der Universität Leipzig. Forschungsgebiete u.a.: Textlinguistik/Stilistik, Semiotik, Sprache in totalitären Systemen. Forschungsschwerpunkt u.a.: Sprache in der Politik mit Schwerpunkt DDR und die Umbruchsituation der politischen Wende von 1989/90. Veröffentlichungen (Auswahl): Sprache, Sprachgebrauch und Diskurse in der DDR. Ausgewählte Aufsätze, 2013; Texte und Textsorten – sprachliche, kommunikative und kulturelle Phänomene, 2011; Politische Wechsel – sprachliche Umbrüche (hg. mit Bettina Bock und Steffen Pappert), 2011; Rhetorik der Selbsttäuschung (hg. mit Gerd Antos und Bettina Radeiski), 2014. Andreas Jürgens, wissenschaftlicher Mitarbeiter am College der Leuphana Universität Lüneburg, Mitglied des Scientific Advisory Board der Mailänder Rivista internazionale di Filosofia e Psicologia. Forschungsschwerpunkte: das Werk Ernst Cassirers, Interkulturelle Philosophie, Literatur und Philosophie, Narrativität. Veröffentlichungen (Auswahl): Humanismus und Kulturkritik. Ernst Cassirers Werk im amerikanischen Exil (2012); Mythos – Geist – Kultur. FS zum 60. Geb. von Christoph Jamme (hg. mit K. Andermann, 2013); Liebe. Zu Geschichte und Erscheinungsformen einer rätselhaften Emotion (Hg., in Ersch.). Ina Khiari-Loch, Ethnologin, Assistentin am Institut Supérieur des Sciences Humaines in Medenine, Universität Gabes, Tunesien. Gegenwärtig promoviert sie am Institut für Ethnologie an der Georg-August-Universität Göttingen zum Thema »Weibliche Identität im gesellschaftlichen Wandel – Vergleichende Interpretation biographischer Texte aus Südtunesien«. Forschungsschwerpunkte: Biographieforschung, Sozialer Wandel und Geschlechterkonstruktionen, Erinnerung und Zeugenschaft (Tunesien). Veröffentlichungen (Auswahl): »Die tunesische ›Revolution für Freiheit und Würde‹. Ein Hintergrund- und Erfahrungsbericht zu den Gründen des Volksaufstandes«, in: Periplus. Wandel in der Arabischen Welt, 2012; »Frauen in Tunesien zwischen Staatsfeminismus und neuem islamischen Bewusstsein – Das Kopftuch als Symbol des Islamismus oder der Freiheit?«, in: Human Law. Actes du colloque sur la pédagogie et la culture des droits de l’homme, 2013. Sven Kramer, seit 2005 Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft und Literarische Kulturen an der Leuphana Universität Lüneburg (BRD). Forschungsschwerpunkte: Kodierung von Gewalt in Literatur und Film; literaturtheoretische und ästhetische Fragestellungen im Umfeld von kritischer Theorie, Dekonstruktion und kritischer Hermeneutik. 468
DIE AUTORINNEN UND AUTOREN
Publikationen (Auswahl): Transformationen der Gewalt im Film. Zu Riefenstahl, Améry, Cronenberg, Egoyan, Marker, Kluge, Farocki, 2014; Walter Benjamin zur Einführung (4. Aufl. 2013); Die Folter in der Literatur. Ihre Darstellung in der deutschsprachigen Erzählprosa von 1740 bis ›nach Auschwitz‹, 2004. Azelarabe Lahkim Bennani, Professor für Philosophie an der Universität Sidi Mohamed Ben Abdellah, Fès, Marokko. Forschungsschwerpunkte: Praktische Philosophie, Menschenrechte, Politische Philosophie und Rechtsphilosophie. Veröffentlichungen (Auswahl): Semantik und Phänomenologie bei Franz Brentano und Anton Marty (auf Arabisch), 2003; Hermeneutik, Ästhetik und Theologie (Französisch/Arabisch) (Hg., 2007); Der Protest zwischen Philosophie und Recht (auf Arabisch), 2017. Moez Maataoui, Dozent für germanistische Linguistik an der Faculté des Lettres, des Arts et des Humanités der Universität Manouba, Tunesien; 2016–2018 Koordinator des DAAD-Projekts mit der Universität Lüneburg »Transformation – Kultur – Geschlecht« und 2014–2015 Koordinator des DAAD-Projekts mit der Universität Kassel »Verantwortung, Gerechtigkeit und Erinnerungskultur«. Forschungsschwerpunkte: Politolinguistik, Phraseologie, Kontrastive Linguistik. Veröffentlichung: Wortakzent des Deutschen bei tunesischen Lernern des Deutschen. Eine Untersuchung im Rahmen der Optimalitätstheorie, 2008. Stephan Milich, seit 2013 Akademischer Rat am Orientalischen Seminar der Universität zu Köln. Forschungsschwerpunkte: Moderne arabische Dichtung, Trauma in der zeitgenössischen arabischen Prosa und deutsche Islampropaganda im WK I. Literarische Übersetzungen aus dem Arabischen. Veröffentlichungen (Auswahl): »Fremd meinem Namen und fremd meiner Zeit«: Identität und Exil in der Dichtung von Mahmud Darwisch, 2005; Representations and Visions of Homeland in Modern Arabic Poetry and Prose Literature (hg. mit S. Günther, 2016); Conflicting Narratives: Literature, Culture and Politics in Modern and Contemporary Iraq (hg. mit F. Pannewick und L. Tramontini, 2012); Poetik der Fremdheit: Palästinensische und irakische Lyrik des Exils, 2009. Steffen Pappert, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Germanistik der Universität Duisburg-Essen. Forschungsschwerpunkte: Politische Kommunikation, Medienkommunikation, Multimodalität. Veröffentlichungen: Politische Sprachspiele in der DDR: Kommunikative Entdifferenzierungsprozesse und ihre Auswirkungen auf den öffentlichen Sprachgebrauch, 2002; »Plakatbusting: Zur Umwandlung von Wahlplakaten in transgressive Sehflächen«, in: H. Kämper, M. Wengeler (Hg.), Protest – Parteienschelte – Politikverdrossenheit. Politikkritik 469
DIE AUTORINNEN UND AUTOREN
in der Demokratie, 2017; »Europa als multimodaler Zeichenkomplex im Europawahlkampf 2014«, in: E. W. B. Hess-Lüttich, H. Kämper, M. Reisigl, I. H. Warnke (Hg.), Diskurs – semiotisch. Aspekte multiformaler Diskurskodierung, 2017. Sarah Schmidt, seit 2012 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Forschungsschwerpunkte: Klassische deutsche Philosophie, Frühromantik, deutsche Gegenwartsliteratur, Wechselwirkung von Literatur und Philosophie, materiale Kultur und Wissenssammlung, Interkulturalität und Fremdheitsdiskurse. Zuletzt erschienen: (Hg.) Sprachen des Sammelns. Literatur als Medium und Reflexionsform des Sammelns 2016; Begriff und Interpretation im Zeichen der Moderne (hg. mit J. Zovko und D. Karydas, 2015); Wissen in Bewegung (hg. mit G. Raulet, 2014); Suchraum Wildnis. Positionsbestimmungen künstlerischer Forschung (hg. mit dem Künstler G. Steinmann, 2013). Kenza Sefrioui, Kulturjournalisten und Literaturkritikerin. Von 2005 bis 2010 Redaktionschefin der literarischen Rubrik im Journal hebdomadaire. Zurzeit Mitarbeiterin bei Tel Quel, Diptyk und www.economia.ma. Mitbegründerin des Verlags En Toutes Lettres und Kulturaktivistin im Verein Racines für die Kulturentwicklung in Marokko und in Afrika. Veröffentlichungen: Mitherausgeberin von Casablanca œuvre ouverte und Casablanca poème urbain, 2013; La revue Souffles (1966–1973). Espoirs de révolution culturelle au Maroc, 2013; Le livre à l’épreuve, les failles de la chaîne au Maroc, 2017. Mongi Serbaji, lehrt und forscht am Institut supérieur des sciences humaines in Medenine, Universität Gabes, Tunesien. 2016 erhielt er den Arabischen Preis für Geistes- und Sozialwissenschaften des Arabischen Zentrum der politischen Forschungen und Studien in Doha. Forschungsschwerpunkte: Philosophie der Menschenrechte, Politische Philosophie und Bildungsphilosophie. Veröffentlichungen (Auswahl): »Die Kultur der Menschenrechte und ihre Feinde in der arabischen Welt«, in: S. Dhouib (Hg.), Demokratie, Pluralismus und Menschenrechte, 2014; »Das internationale Recht und das Problem der Anerkennung. Ideen für eine weniger ungerechte Welt«, in: S. Dhouib (Hg.), Gerechtigkeit in transkultureller Perspektive, 2016. Kristina Stock, Lehrkraft für besondere Aufgaben am Orientalischen Institut der Universität Leipzig. Lehr- und Forschungsschwerpunkte: Dolmetsch- und Übersetzungswissenschaft, Rhetorik, Dichtung, literarische Übersetzungen. Fachübersetzungen aus dem Englischen und Französischen, literarische Übersetzungen aus dem Arabischen. 470
DIE AUTORINNEN UND AUTOREN
Veröffentlichungen (Auswahl): Sprache als ein Instrument der Macht. Strategien der arabischen politischen Rhetorik im 20. Jahrhundert, 1999; Arabische Stilistik, 2005; Basiswissen Arabische Dichtung, 2016. Leslie Tramontini, Geschäftsführerin und Koordinatorin am Centrum für Nah- und Mittelost-Studien der Philipps-Universität Marburg. Forschungsschwerpunkte: Krieg, Gewalt und Erinnerung in moderner irakischer Dichtung sowie Konstruktionen von Heimat und Nation; Transformationen religiöser Autorität durch neue Medien. Veröffentlichungen: »Place and memory – Badr Shākir al-Sayyāb and Muẓaffar al-Nawwāb revisited«, in: S. Günther, S. Milich (Hg.), Representations and Visions of Homeland in Modern Arabic Literature, 2016; »Renegotiating Shariʿa-based Normative Guidelines in Cyberspace: The case of womens’ ʿawrah«, mit S. Damir-Geilsdorf, in: online Heidelberg Journal of Religions on the Internet, (9), 2015. Rachida Triki, emeritierte Professorin für Philosophie an der Universität Tunis. Mitbegründerin und Präsidentin der Association tunisienne d´esthétique et de poïétique. Vizepräsidentin der Société internationale de poïétique. Forschungsschwerpunkte: Ästhetik, Kunst- und Kulturphilosophie, politische Philosophie. Veröffentlichungen (Auswahl): L’image: Ce que l’on voit, ce que l´on crée, 2008; Politique de la photographie du corps, 2007; L’Esthétique et la question du sens, 2001.
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Weitere Herausgeberbände von Sarhan Dhouib bei Velbrück Wissenschaft: Kultur, Identität und Menschenrechte. Transkulturelle Perspektiven (2012) ISBN 978-3-942393-49-2, EUR 29,90 Demokratie, Pluralismus und Menschenrechte. Transkulturelle Perspektiven (2014) ISBN 978-3-942393-69-0, EUR 29,90 Gerechtigkeit in transkultureller Perspektive (2016) ISBN 978-3-95832-081-9, EUR 39,90