Die dunkle Seite der Politik: Philosophische Theorien des Despotismus, der Diktatur und des Totalitarismus [1 ed.] 9783428518296, 9783428118298

Man kann eine phänomenadäquate Theorie des Politischen weder anthropologisch noch geschichtsphilosophisch begründen. Wie

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German Pages 180 [181] Year 2005

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Die dunkle Seite der Politik: Philosophische Theorien des Despotismus, der Diktatur und des Totalitarismus [1 ed.]
 9783428518296, 9783428118298

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HEINZ-GERD SCHMITZ

Die dunkle Seite der Politik

Philosophische Schriften Band 62

Die dunkle Seite der Politik Philosophische Theorien des Despotismus, der Diktatur und des Totalitarismus

Von

Heinz-Gerd Schmitz

Duncker & Humblot . Berlin

Bibliografische Infonnation Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2005 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fremddatenübernahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: Color-Druck Dorfi GmbH, Berlin Printed in Gennany ISSN 0935-6053 ISBN 3-428-11829-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 § Internet: http://www.duncker-humblot.de

Inhalt Einleitung ......................................................... . .....

9

1. Exemplifikation der Methode ..........................................

19

2. Erste Station Griechisch-antike Verhältnisse (Platon und Aristote!es) ....................

25

3. Erste systematische Überlegung Despotismus und Paternalismus ........................................

41

4. Zweite Station, erster Teil Die neuzeitliche Despotismuskritik (Locke und Montesquieu) ... . . . . . . . . . ..

46

5. Zweite Station, zweiter Teil Das neuzeitliche Republikanismuspostulat (Kant) .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

62

6. Zweite systematische Überlegung Tyrannis und Diktatur .................................................

75

7. Dritte Station Die Rechtfertigung einer edukativen Wohlfahrtsdiktatur (Engels, Marx, Lenin)

86

8. Dritte systematische Überlegung Von der politiktheoretischen Untauglichkeit der Anthropologie .............

99

9. Vierte systematische Überlegung Kritik der edukativ-ethischen Diktatur ................................... 114 10. Vierte Station Der Totalitarismus (Hannah Arendt) .................................... 127 11. Fünfte systematische Überlegung Das Politische und die A-Politie ........................................ 142 12. Letzte systematische Überlegung Das Toleranz-Paradoxon. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 153 Bibliographie ............................................................ 167 Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 175 Sachverzeichnis .......................................................... 177

Abkürzungen Ak

Anth AwS BPF Civ. DA DeA DI DTgb EE Ein EL EN Ep Ess. EUtH Gern Gov. Grg. GzMdS Hier. KdU LCT Lev. Lg. LoM LP MdS Mem MEW MKP MuG

I. Kant: Werke. Akademie-Textausgabe. Unveränderter photome-

chanischer Abdruck des Textes der von der Preußischen Akademie der Wissenschaften 1902 begonnenen Ausgabe von Kants gesammelten Schriften. Berlin 1968 I. Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht K. MarxlF. Engels: Ausgewählte Schriften. 2 Bde. Berlin 1966 Hannah Arendt: Between Past and Future Th. Hobbes: De Cive Aristoteles: De anima A. de Tocqueville: De la Democratie en Amerique J. J. Rousseau: Discours sur l'origine de l'inegalite Hannah Arendt: Denktagebuch Aristoteles: Eudemische Ethik G. AchenwalllJ. St. Püfter: Elementa iuris naturae Montesquieu: De l'esprit des lois Aristoteles: Nikomachische Ethik C. Lefort: Essais sur le politique. XIXe_XXe siec1es J. Locke: An Essay Conceming Human Understanding Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft I. Kant: Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis J. Locke: Two Treatises on Govemment Platon: Gorgias I. Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten Xenophon: Hieron I. Kant: Kritik der Urteilskraft J. Locke: A Letter Conceming Toleration Th. Hobbes: Leviathan Platon: Nomoi Hannah Arendt: The Life of the Mind Montesquieu: Lettres Persanes I. Kant: Metaphysik der Sitten Xenophon: Memorabilia K. MarxlF. Engels: Werke. Hg. v. Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Berlin 1968 K. MarxlF. Engels: Manifest der Kommunistischen Partei Hannah Arendt: Macht und Gewalt

Abkürzungen nsD ÖphM OL PD Pen. Ph. Pol. Polit. Rel. Rep. Rh. RP RS SuR SW TCL Top. TP ÜR Uge ULRG VA Werke WuP ZeF

7

F. Schiller: Über naive und sentimentalische Dichtung K. Marx: Ökonomisch-philosophische Manuskripte J. St. Mill: On Liberty M. Oakeshott: Political discourse Montesquieu: Pensee Aristoteles: Physik Aristoteles: Politik Platon: Politikos I. Kant: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft Platon: Politeia Aristoteles: Rhetorik Cicero: De re publica Epikur: ratae sententiae W. I. Lenin: Staat und Revolution F. Schiller: Sämtliche Werke. Auf Grund der Originaldrucke hg. v. G. Fricke u. H. G. GÖpfert. 5 Bde. Darmstadt 1984.7. Aufl. I. Berlin: Two Concepts of Liberty Aristoteles: Topik M. Oakeshott: Talking Politics H. Arendt: Über die Revolution F. Schiller: Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? J. St. Mill: Utilitarianism. Liberty and Representative Government. London/Toronto/New York 1926 Hannah Arendt: Vita activa G. F. W. Hegel: Werke in 20 Bde. Auf der Grundlage der Werke von 1832-1845 neu edierte Ausgabe. Redaktion E. Moldenhauer u. K. M. Michel. Frankfurt/M. 1986 Hannah Arendt: Wahrheit und Politik. In: Wahrheit und Lüge in der Politik. München 1972. I. Kant: Zum ewigen Frieden

When I say that all govemments are alike, I consider that in no govemment power can be abused long. Mankind will not bear it. If a sovereign oppresses his peopIe to a great degree, they will rise and cut off his head l .

Einleitung Die philosophische Reflexion auf despotische Gewaltherrschaft ist integraler Teil einer Theorie des Politischen. Letztere kann ihren Gegenstand auf zwei verschiedene Weisen ausmachen - einmal so, daß sie ihn derivativ bestimmt, zum anderen aber auch so, daß sie ihn nicht aus etwas anderem herleitet, sondern ihn als Phänomen sui generis betrachtet. Der derivativ gewonnene Politikbegriff ist entweder anthropologisch oder geschichtsteleologisch fundiert. Beide Zugangsweisen zeichnen sich dadurch aus, daß sie in einem zweischrittigen Verfahren ihren Gegenstand zunächst identifizieren und sodann zu normativen Qualifizierungen übergehen. Eine anthropologische Fundierung des Politischen kann so skizziert werden: Man setzt zunächst die Prämisse, daß sich das Politische genau dann identifizieren läßt, wenn man die Eigenart der Subjekte der Politik näher ins Auge faßt. Die Umstände, unter welchen diese Subjekte agieren, sind hier von untergeordneter Bedeutung. Was man unter dieser Voraussetzung eruieren will, ist die allen Subjekten der Politik gemeinsame Natur - also denjenigen Komplex von Merkmalen, welcher es ermöglicht, sie als Element ein und derselben Klasse zu betrachten. Die Bestimmung der Bedingungen des Politischen resultiert schließlich aus dieser anthropologischen Kennzeichnung der Subjekte der Politik. Es werden Verhältnisse postuliert, in welchen das Wesen der politischen Subjekte verwirklicht werden kann. Damit ist die Identifikation des Politischen in die normative Qualifikation politischen Handeins umgeschlagen. Denn in den Augen einer anthropologisch fundierten Politiktheorie müssen genau die Verhältnisse als Perversion, i. e. als despotisch, angesehen werden, unter denen es den Subjekten verwehrt ist, das zu verwirklichen, was ihre Wesensbestimmung ausmacht. Die geschichtsteleologische Konzeption tritt unter einer anderen Voraussetzung an: Ihr gelten nicht die Subjekte der Politik als Ausgangspunkt der ÜberI Dr. Samuel Johnson zu Sir Adam Fergusson am 31.3.1772 (vgl. J. Boswell: Life of Johnson. Ed. by R. W. Chapman. Oxford 1998,477).

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Einleitung

legungen, sondern diese Funktion übernimmt die Reihe der Umstände, in welchen sich die Menschen vorfinden. Diese ordnet man so, daß ein systematischer Zusammenhang entsteht. ,Systematisch' meint hier: Es wird eine Regel eingeführt, welche es ermöglicht, das pure Nacheinander von Sachverhalten als ein Erfolgen des einen Ereignisses aus einem anderen zu verstehen. Die Gesamtheit der Ereigniskeue kann dann als ein Produktionsprozeß erklärt werden, in dem sich das verwirklicht, was die systemsteuernde Regel als Resultat vorgibt. Das Politische muß daher als der Prozeß seiner Verwirklichung verstanden werden. Wirklich ist das Politische genau dann, wenn der Richtungspunkt erreicht ist. Pervertiert wird es hingegen, wenn man zum Ziel erklärt, was die Prozeßregel nur als ein Vorstadium ausweist. Despotische Verhältnisse herrschen mithin genau dann, wenn ein einzelner Mensch oder eine Gruppe von Personen versucht, sich dem Gang der Geschichte in den Weg zu stellen und ihn so aufzuhalten. Daß beide, die anthropologische und die geschichtsteleologische Bestimmung der politischen Wirklichkeit, miteinander in Konkurrenz stehen, liegt an ihren unterschiedlichen Prämissen. Der Anthropologe wird dem Teleologen den Vorwurf machen, er mißachte die Subjekte der Politik, der Teleologe wird dem Anthropologen vorhalten, er sei zu historischem Denken nicht in der Lage. So vehement diese Vorhaltungen auch immer zum Ausdruck gebracht werden mögen, sie täuschen über eine grundlegende Gemeinsamkeit beider Ansätze hinweg. Diese besteht in einem gewissen Reduktionismus. Man führt nämlich in beiden Fällen eine Pluralität von Phänomenen auf ein einheitlich Eines zurück, welches entweder als das Wesen des Menschen oder als die teleologisch konstruierte höchste Verwirklichung des Politischen expliziert wird. Dabei läuft man unweigerlich Gefahr, das Phänomen des Politischen, aber auch das seiner Perversion, welche im folgenden , A-Politie , genannt werden wird, aus den Augen zu verlieren. Denn man hat sich einem Explikationsmuster überantwortet, welches ,metaphysisch' genannt werden kann. Unter ,Metaphysik' soll hier eine solche Lehre verstanden werden, mit der man folgende zwei Behauptungen aufstellt: (1) Wir müssen annehmen, daß es hinter der uns erscheinenden Welt etwas gibt, welches in den Erscheinungen zum Vor-Schein kommt. Im Falle der anthropologisch bzw. geschichtsteleologisch konzipierten Theorien der politischen Wirklichkeit ist das, was hinter den Erscheinungen steckt, entweder das Wesen des Menschen oder aber die Regel, welche die Gangstruktur der Geschichte erzeugt. Die zweite Behauptung, die eine metaphysische Lehre aufstellt, lautet: (2) Das, was hinter den Erscheinungen steckt, verursacht sie auch, es steht zur Welt des Phänomenalen in einem Fundierungsverhältnis.

Einleitung

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Anthropologisch gesprochen fundiert die allgemeine Menschennatur die Weisen, in der die Pluralität einzelner Menschen sich in ihrer Jeweiligkeit zeigt. Geschichtsteleologisch hingegen fundiert die Systernregel das Auftreten von Ereignissen derart, daß sie sie entlang einer Zeitlinie distribuiert. Sowohl die politische Anthropologie wie die Geschichtstheorie haben also metaphysischen Charakter, denn sie teilen die beiden Behauptungen, die für die Metaphysik kennzeichnend sind. Metaphysische Theorien fassen das Phänomenale aufgrund ihres Ansatzes als derivativen Modus von etwas auf, das sich an sich selbst nicht zeigt. Für den Metaphysiker sind die Erscheinungen lediglich Indikatoren, welche auf das zurückgeführt werden müssen, was sich in ihnen zum Ausdruck bringt. Die Metaphysik reduziert die Pluralität einer Klasse von Phänomenen oder aber das Erscheinende überhaupt auf ein einheitlich Eines, das sie angeblich hervorruft. Dieses Eine erhält traditionell den Namen ,Wesen'. Mit dem Begriff des Wesens gelingt es der Metaphysik, die Pluralität von Erscheinungen zu tilgen. Damit wird zugleich die Perspektivität des Auffassens beseitigt. Denn nun kann gesagt werden: Wenn das, was sich in einer Vielfalt von Phänomenen als einheitliches Eines indiziert, als das Fundament dieser vielfaltigen Erscheinungen angesehen werden muß, dann wird es möglich, die aus der Pluralität der Erscheinungen resultierende Perspektivität des Auffassens dadurch zu überwinden, daß man die Welt des Phänomenalen verläßt und nach etwas sucht, was jede der Erscheinungen allererst fundiert. Hat man es nun aber mit einem Gegenstand zu tun, dessen wesentliches Merkmal gerade Phänomenalität2 ist, dann läuft eine metaphysische Betrachtung dieses Gegenstandes Gefahr, ihr Objekt im Vorgang seiner Explikation zum Verschwinden zu bringen. Genau dieser Einwand kann gegen eine anthropologische sowie gegen eine geschichtsteleologische Bestimmung des Politischen und seines Gegenteils, der A-Politie, erhoben werden: beide sind aufgrund ihres metaphysischen Explikationsverfahrens gegen das gerichtet, was sie doch allererst erhellen sollen. Einer Theorie des Politischen verbleibt also nur eine nicht-derivative Definition ihres Gegenstandes. Doch diese kann sie nicht unmittelbar im Blick auf seine Phänomenalität gewinnen, weil es ihr gerade an dem Kriterium mangelt, mit dessen Hilfe sich die Erscheinungsformen des Politischen als solche identi2 Man könnte eine Theorie, welche besagt, daß etwas nur dadurch ist, daß es in Erscheinung tritt und dann wahrgenommen wird, ,Aisthetismus' nennen. Eine solche Auffassung läßt sich allerdings nur in schwacher Form formulieren. Sie kann nämlich nicht als Ontologie auftreten, da sie die Selbstanwendung nicht verträgt: Wenn alles, was ist, sein Sein nur in seinem Wahrgenommen-Werden hat, dann gerät eine solche Theorie in dem Falle, daß jemand nach ihrem eigenen Seinsstatus fragt, in einen infiniten Explikationsregreß. Den schwachen Aisthetismus ereilt dieses Schicksal nicht, da er seine These nicht auf alles bezieht, also - um einen Ausdruck Heideggers zu verwenden - lediglich eine Regionalontologie vertritt.

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Einleitung

fizieren lassen. Dieser Mangel ist freilich nicht Zeichen einer Schwäche. Vielmehr ist er unvermeidlich, da es ja eben die Theorie des Politischen ist, welche das Kriterium allererst herbeischaffen soll. Daher scheint in sie eingebaut, was dem Logiker als Todsünde gilt und gelten muß: ihre Explikationen haben unausweichlich den Charakter einer petitio principii - sie setzen als erwiesen voraus, was zu erweisen sie angetreten sind. Aus diesem Dilemma scheint es nur einen Ausweg zu geben. Er wird deutlich, wenn man sich die Verhältnisse erneut vor Augen führt. ,Die Politik' soll der Name für die Gesamtheit der Phänomene sein, welche mit dem Anspruch auftreten, politisch genannt zu werden. ,Das Politische' hingegen meint denjenigen Maßbegriff, der es einerseits erlaubt, gewissen Phänomenen den Anspruch, politisch zu sein, zu bestätigen, ihn anderen hingegen so zu bestreiten, daß man ihnen apolitischen Charakter attestiere. Apolitisch in diesem Sinne sind alle Phänomene des Despotismus, welche Bezeichnung man ihnen im einzelnen auch geben mag. Wie dieser Begriff des Politischen im oben angegebenen Sinne zu verwenden ist, kann auf folgende Weise verdeutlicht werden: Gegenstand einer Theorie des Politischen sind zunächst alle Phänomene der Politik. Sie stellen die Grundmenge dar, von welcher auszugehen ist. Aus dieser Grundmenge selektiert man mit Hilfe des Kriteriums K diejenige Teilmenge, welcher apolitischer Charakter nicht zu attestieren ist (Tp). Die verbleibende Teilmenge (Td) umfaßt nun alle Phänomene des Despotismus. Bis zu diesem Punkt ist das Vorgehen rein klassifikatorisch. Ein normatives Moment tritt erst auf, wenn den Elementen von Td vorgeworfen wird, kein Element von Tp zu sein, also K nicht zu erfüllen. Was politiktheoretisch umstritten ist, ist nicht die Unterscheidung von Tp und

Td , sondern die Gestalt, welche K annehmen soll. Man kann sich mithin nicht

darauf einigen, wie zwischen Phänomenen der Politik und der A-Politie genau zu unterscheiden sei. Dies liegt natürlich daran, daß der Maßbegriff der Politischen kontrovers diskutiert wird.

Lösen läßt sich das angegebene Problem dann, wenn man das Verfahren umkehrt, also nicht mehr die A-Politie vom Politischen her, sondern das Politische in Abgrenzung von der A-Politie bestimmt, also in Erfahrung bringt, nach welcher Maßgabe denn die A-Politie identifiziert wird. Sollte sich herausfinden lassen, nach welcher Regel gewisse Phänomene als Elemente von Td zu identifizieren sind, dann kann ex negativo angegeben werden, was das - oder sollte es mehrere geben, was die - klassenkonstitutive/n Merkmalle von Tp ist/sind. Ist 3 Die Unterscheidung stammt von P. Ricoeur (Le paradox politique. In: P. R.: Histoire et verite. Paris 1964, 268), der ,la politique' und ,le politique' differenziert. E. Vollrath (Was ist das Politische? Eine Theorie des Politischen und seiner Wahrnehmung. Würzburg 2(03) spricht in diesem Zusammenhang von der ,politischen Differenz' (33).

Einleitung

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dies geschehen, dann wird sich auch der Maßbegriff des Politischen genauer bestimmen lassen. Der Ausgang von Td empfiehlt sich, weil es hinsichtlich der Frage, was man als Phänomen des Despotismus aufzufassen hat, eine viel größere Einhelligkeit gibt, als hinsichtlich der Frage, was unter dem Politischen zu verstehen ist. Dies kann durch einen Blick auf die entsprechenden Erklärungen der politischen Theorie verifiziert werden. Es werden in den folgenden Kapiteln also nicht historische Phänomene ins Auge gefaßt - dies wäre Sache der Historiker und Politologen -, sondern der Blick richtet sich auf diejenigen theoretischen Erörterungen, denen sich das bzw. die klassenkonstitutiveIn Merkmalle von Td entnehmen läßt/lassen. Es wird mithin nicht um den Despotismus in seinen Erscheinungsformen gehen, sondern um Erklärungen, Rechtfertigungen, Verdammungen, welche man auf sie richtet. Diese werden als begriffliche Anstrengungen erster Stufe betrachtet, welche gewisse Phänomene konzeptualisieren. Die folgenden Überlegungen sind demgegenüber als Erörterungen zweiter Stufe gedacht, welche das auf der ersten Stufe Gefaßte weitergehend kontextualisieren. Um diese Unterscheidung schon in den Kapitelüberschriften zu verdeutlichen, nenne ich die rein darstellenden Teile des Buches , Stationen'; sie referieren zusammenfassend die begriffliche Anstrengung erster Stufe. Eingestreut werden dann ,systematische Überlegungen', die auf der zweiten Stufe angesiedelt sind. Diese Beschränkung der Untersuchung auf Positionen der politischen Philosophie sieht zunächst wie ein Verzicht aus - nicht die Sachen selbst, sondern nur das, was man von ihnen denkt und gedacht hat, soll thematisiert werden. So scheint das genuin Philosophische in Theoriegeschichte zu ertrinken. Dieser Einwand verfängt freilich nur dann, wenn zwischen der Sache selbst und ihrer Auffassung unterschieden werden muß. Eben dies ist aber im Felde der Politik gar nicht möglich. Hier ist die Sache zunächst genau das, als was sie in ihrer Apperzeption jeweils bestimmt wird4 • Der Grund für dieses Faktum ist schon benannt - der ausschließlich phänomenale Charakter der Politik und damit auch des Politischen. Das vorliegende Buch will also über eine Annäherung an das, was die politische Philosophie als Tyrannis, als Despotismus, als Diktatur und als Totalitarismus bezeichnet, einen Zugang zu dem gewinnen, was im oben bestimmten

4 Vgl. E. Vollrath, a. a. 0.; vgl. auch: ders.: Metapolis und Apolitie. Defizite der Wahrnehmung des Politischen in der Kritischen Theorie und bei Jürgen Habermas. In: Perspektiven der Philosophie 15(1989), 191-232; ders.: Die Kultur des Politischen. Konzepte politischer Wahrnehmung in Deutschland. In: V. Gerlwrdt (Htsg.): Der Begriff der Politik. Bedingungen und Gründe politischen Handeins. Stuttgart 1990, 267290.

14

Einleitung

Sinne ,das Politische' heißt. Denn der Despotismus im weitesten Sinne des Wortes ist - so wird sich zeigen - eine unthematische Prämisse der Politik. Was mit dieser Formulierung gemeint ist, wird deutlich, wenn man sich klarmacht, daß alle Politik - mit einem Worte Michael Oakeshotts - enthymematisehen Charakter hat. Dies muß kurz erklärt werden. In seinem Essay ,Political discourse,5 bestimmt Oakeshott, was er unter einem politischen Diskurs verstehen will. Seine Absicht ist es, einen Aristotelischen gegen einen Platonischen Politikbegriff auszuspielen und dadurch den - wie er sagt - enthymematischen Charakter politischen Argumentierens zu beweisen. Oakeshotts Bestimmungen sind schnell referiert: Politische Aktivitäten - so schreibt er - sind als Antworten auf eine politische Situation zu verstehen. Diese ist nicht das Resultat naturnotwendiger Wirkungszusarnrnenhänge, sondern sie entsteht, weil Menschen gehandelt, weil sie Entscheidungen gefällt haben. Zudem hat eine als ,politisch' zu kennzeichnende Situation immer öffentlichen, niemals privaten Charakter. Freilich muß zugestanden werden, daß die Vorstellung von dem, was man ,öffentlich' zu nennen bereit ist, von Ort zu Ort schwankt6 . Des weiteren stellt Oakeshott fest, daß jede politische Situation interpretationsbedürftig sei. Allerdings erfolge eine solche Auslegung nicht in erklärender, sondern in diagnostizierender, in prognostizierender Absicht. Interpretation ist mithin bereits Deliberation in dem Sinne, daß erst durch die interpretatorische Anstrengung festgestellt wird, daß überhaupt eine politische Situation vorliegt, daß genau diese und keine andere Lage gegeben ist, daß daher bestimmte Maßnahmen zu ergreifen sind. Daher läßt sich feststellen, daß eine politische Situation ohne Deliberation gar nicht in Erscheinung tritt. Auch die Maßnahmen, welche man am Ende ergreift, verdanken sich dem Diskurs, da keine Reaktion zwingend notwendig ist. Zudem kann die Antwort entweder eher prinzipiengesteuert oder eher pragmatisch orientiert sein. Im letzteren Falle reflektiert man auf ihre Konsequenzen 7 bzw. überlegt, in welchem Verhältnis bestimmte Folgen einer gewissen Reaktion zu den Vorstellungen stehen, die man hinsichtlich eines wünschbaren oder vermeidbaren Weltzustandes hegt.

5 M. Oakeshott: Political discourse (= PD). In: M. 0.: Rationalism in politics and other essays. New and expanded edition. Indianapolis 1991, 70-95. 6 Als eine einfache Formel bietet Oakeshott folgendes an: Immer dann, wenn die Menschen feststellen, daß eine gewisse Angelegenheit das Eingreifen der Obrigkeit nötig mache, liegt für eben diese Menschen eine öffentliche und damit politische Situation vor (PD 70). 7 PD 71.

Einleitung

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Oakeshott faßt seine Überlegungen mit einem Hinweis darauf zusammen, daß sich aus seinen Bestimmungen drei Voraussetzungen für politisches Handeln ergeben: (1) das Vorliegen einer politischen Situation,

(2) die Existenz einer Instanz, welcher man attestiert, sie sei zum Handeln autorisiert, (3) ein Deliberationsprozeß, in welchem eine Antwort auf die Situation gesucht wird 8 . Innerhalb politischer Diskurse findet sich immer ein spezifisches Vokabular, welches in seiner Gesamtheit eine ,Ideologie' genannt werden kann. Für Oakeshott ist eine politische Ideologie mithin eine Einladung, eine politische Situation zu identifizieren, sie auf eine ganz bestimmte Weise zu interpretieren, also zu bestimmen, was als wünschenswert zu gelten hat, welche Konsequenzen angestrebt und welche vermieden werden sollen. Allerdings ist auch bei einer einheitlichen Ideologie aller Diskurspartner nicht garantiert, daß man nicht in Dissens geraten kann 9 . Eben hier ist der Ort, auf den man mit Oakeshott die anthropologische und die geschichtsteleologische Bestimmung des Politischen zu verweisen hätte. Es handelt sich um Ideologien im Oakeshottschen Sinne. Ich will im folgenden den historisch sicherlich sehr belasteten Begriff der , Ideologie' nicht verwenden, sondern neutral vom Interpretationsrahmen sprechen. Ein gewisses Menschenbild, eine Vorstellung vom Gang der Geschichte ist nichts anderes als ein solcher Interpretationsrahmen, der sich metaphysisch zu nobilitieren und damit unangreifbar zu machen trachtet. Daher gehört er in das Feld des Rhetorischen genauer: Die Rede vom Interpretationsrahmen verweist auf die Aristotelische Lehre vom Enthymem, die hier kurz erklärt sei. Die Rhetorik ist für Aristoteles eine Logik des Praktischen. Diese Logik hat es nicht mit der Wahrheit zu tun, sondern mit dem Wahrscheinlichen. Grund für diese Bestimmung ist die ontologische Differenzierung der Sphäre des Theoretischen von der des Praktischen. Die Theorie bezieht sich auf das, was immer so ist, wie es ist. Sie betrachtet es, nimmt es auf und fonnuliert ihre Ergebnisse als Wissenschaft. Die Praxis hat es mit dem zu tun, was sich auch anders verhalten kann, als es sich verhält, was heute so und morgen so sein kann. Hier gibt es keine Wahrheit, sondern nur Wahrscheinlichkeit. Mit dem Wahrscheinlichen aber haben es Dialektik und Rhetorik zu tun. ,Dialektisch' nennt Aristoteles das Schließen aus Endoxa. Ein Endoxon ist das, was den Menschen einsichtig ist - nicht die Wahrheit, sondern das Wahr8

9

PD 72. PD 75.

Einleitung

16

scheinliche lO • Die Rhetorik ist ein Analogon der Dialektik, weil auch sie Schlüsse zieht ll . Sie tut dies, um herauszufinden, was an einer jeden Sache Glaubwürdiges ist. Die Rhetorik bemüht sich also darum, ein Pithanon (m8avov) zu etablieren 12 - etwas das einem Auditorium einzuleuchten vermag. Wie die Dialektik ist sie dabei auf kein besonderes Gegenstandsfeld beschränkt. Wie die Dialektik gelangt sie nicht zu Schlüssen, die wissenschaftliche Beweiskraft besitzen. Denn wie die Dialektik kann sie ihre Prämissen und daher auch ihre Ergebnisse nur durch Konsens verifizieren. Daß dies nicht anders sein kann, resultiert aus der Tatsache, daß wir uns im Felde der Praxis aufhalten. Hier sind die Dinge nicht immer so, wie sie sind. Daher kann man eben nicht mit absoluter Sicherheit sagen, was sein wird. In ihren Beweisgängen arbeitet die Dialektik mit Syllogismen, deren Prämissen epagogisch 13 fundiert sind; die Rhetorik arbeitet mit Enthymemen 14 , deren Prämissen paradigmatisch 15 begründet werden. Das Enthymem ist gleichsam ein geronnener Syllogismus 16 . ,Geronnen' meint, die erste Prämisse, an welcher die Gültigkeit der gesamten Argumentation hängt, wird nicht ausdrücklich formuliert. Nur so gewinnt das Enthymem seine rhetorische Schlagkraft. Diese besteht darin, so zu formulieren, daß als völlig evident erscheint, was bei kritischen Geistern möglicherweise Widerspruch auslösen könnte. Das Enthymem setzt also einen Allsatz voraus, den das Auditorium unbesehen akzeptiert. Dieser Allsatz kann, da man sich im Felde der Praxis aufhält, nur von komparativer Allgemeinheit sein, denn für Aristoteles herrscht hier im Gegensatz zur Platonischen Auffassung Kontingenz. Es muß sich also um eine Regel handeln, die nur meistenteils gilt. Dies ist keine Schwäche des rhetorischen Beweisens, es ist vielmehr die conditio sine qua non, welche sich aus der Kontingenz alles Praktischen ergibt. Denn die Sphäre des Handeins läßt ja keine Gewißheiten zu 17. Vgl. Topik (= Top.) 104 a 8 ff. 'H QT]"W'tLXT] E01:LV aV1:lmQoo~ 'tU ÖLUAEX1:LXU· aiJo'tEQaL yaQ nEQi 'tOLOlJ'twv 'tLVWV ELOLV cl xOLva 'tQonov 1:Lva umlv'twv Emi YVWQl~ELV xui OUöEiJLii~ EmmT]iJT]~ awQLOiJfVT]~· (Rhetorik [= Rh.] 1354 a 1-3) - Die Rhetorik ist das Gegenstück zur Dialektik; denn beide haben es mit solchen Dingen zu tun, die zu erkennen auf eine gewisse Weise allen gemeinsam und nicht einer besonderen Wissenschaft zukommt. 12 Rh. 1355 b 25/26. 13 Enuyoy~ öE T] 'twv xue' Exumu Eni 'to XUeOA01J EOÖO~ (Top. 105 a 13/14) - die Epagoge ist der Weg vom Einzelnen zum Allgemeinen. 14 Das Enthymen ist der rhetorische Beweis (anOÖELl;L~ QT]"WQLXT] - Rh. 1355 a 6); vgl. auch Erste Analytik 70 a 3 ff. 15 Zur Definition des Beispiels (nuQaÖELYiJu) vgl. Rh. 1357 b 27-30. 16 Vgl. Rh. 1355 a 8. 17 Der Begriff der Kontingenz läßt sich mit einigen Überlegungen präzisieren, die R. Taylor angestellt hat (The Problem of Future Contingencies. In: Philosophical Re10

II

ano

Einleitung

17

Je nach der Beschaffenheit des als Selbstverständlichkeit behandelten AllSatzes unterscheidet Aristoteles das Wahrscheinlichkeits- und das Zeichenenthymem. Es ist freilich nicht diese Unterscheidung, sondern vielmehr die grundsätzliche Beschaffenheit von Enthymemen, welche Oakeshott vom enthymematischen Charakter der Politik sprechen läßt. Denn um eine Situation als politisch relevant bezeichnen zu können, werden Prämissen in Kraft gesetzt, die man nicht ausdrücklich macht, sondern deren Selbstverständlichkeit vorausgesetzt wird. Ohne diese unausgesprochenen Vordersätze wäre keine Deliberation denkbar. Sie eigens zu formulieren, hieße nämlich, politisch deliberationsund handlungsunfähig zu werden, da man sich in philosophische Debatten verstrickte. Es hieße daher, das Geschäft der politischen Philosophie aufzunehmen. Treffen die bisherigen Überlegungen zu, dann liegt an der Wurzel jeder Politik eine unausgesprochene Prämisse, welche es ermöglicht, Situationen, Umstände, Sachverhalte als politisch zu identifizieren. Da es nun recht schwierig zu sein scheint, bei der Suche nach dieser Prämisse zu positiven Bestimmungen zu gelangen, will ich in diesem Buch den negativen Weg beschreiten, also nach der Prämisse suchen, welche es erlaubt, gewisse Phänomene als a-politisch, i. e. als despotisch, zu bezeichnen. Ein Beispiel mag verdeutlichen, daß in der Tat eine solche negative Prämisse stets in Kraft ist, ja daß sie es zuweilen ist, aus der überhaupt erst ein positives Verständnis der Politik gewonnen wird. Hier ist das politische Denken des berühmtesten Tyrannenhassers 18 der deutschen Literaturgeschichte besonders erview 66[1957], 1-28). Taylor unterscheidet vier Arten von Notwendigkeit: ,,(1) logical necessity is predicable of a statement or proposition and corresponds to analyticity .... a logically contingent statement is thus one which is neither analytic nor self-contradictory. (2) Epistemic necessity is predicable of events and states, though only in a derivative way, and corresponds to what is known to be .... an epistemically contingent event is one concerning which it is not known whether it exists (has existed, will exist) or not" (9110). ,,(3) Nomical necessity ... is necessitation by causation and is predicable of an event. ... a nomically contingent event is therefore one neither the occurrence nor nonoccurrence of which has a cause. [... ] (4) Temporal necessity ... applies to any event that has happened, and is thus relative to a date .... a temporally contingent event is thus simply one which has not yet occurred, an event temporally incompatible with it having likewise not yet occurred" (10111). Wenn von der Kontingenz des Weltverlaufs die Rede ist, dann ist gewiß nicht logische oder temporale Kontingenz gemeint. Aber auch die nomische Kontingenz, i. e. Fall (3), muß ausgeschlossen werden; denn man zieht ja nicht in Zweifel, daß Ereignisse kausal verknüpft sind, sondern meint lediglich die Unüberschaubarkeit der jeweils wirksamen Gründe, so daß Vorhersagen schließlich unmöglich sind. Kontingent ist der Weltverlauf mithin im Sinne der epistemischen Kontingenz. 18 Niemand hat dies treffender ausgedrückt als Heinrich Heine. Er schreibt: "Schiller schrieb für die großen Ideen der Revolution, er zerstörte die geistigen Bastillen, er baute an dem Tempel der Freiheit ... , der alle Nationen, gleich einer einzigen Brüdergemeinde, umschließen soll" mit Bezug auf die ,Räuber' fährt er fort, hier gleiche der 2 Schmitz

18

Einleitung

hellend, des jungen Dichters Friedrich Schiller. Die folgende ,Exemplifikation der Methode' wird es kurz thematisieren.

Dichter einem "kleinen Titanen ... , der aus der Schule gelaufen ist und Schnaps getrunken hat und dem Jupiter die Fenster einwirft". Zum ,Don Karlos' heißt es: "er selber ist jener Marquis Posa, der ... unter dem spanischen Mantel das schönste Herz trägt, das jemals in Deutschland geliebt und gelitten hat". In: Sämtliche Werke. Hg. v. H. Kaufmann. München 1964. 9, 44/45 (der Band wird wie in allen gleichgelagerten Fällen vor dem Komma, die Seitenzahl danach angegeben).

Herrschsucht zertrümmert die Welt in ein rasselndes Kettenhaus 1 .

1. Exemplifikation der Methode Die enthymematische Voraussetzung der politischen Auffassungen des frühen Schiller bildet die Negation einer Vorstellung des Despotismus, welche die Regenten, die in Schillers frühen Dramen auftreten, exemplifizieren. Der erste große Schurke, den er auf die Bühne schickt, Franz von Moor, rechtfertigt seine politischen Ziele so: "Jeder hat gleiches Recht zum Größten und Kleinsten, Anspruch wird an Anspruch, Trieb an Trieb und Kraft an Kraft zernichtet. Das Recht wohnt beim Überwältiger, und die Schranken unserer Kraft sind unsere Gesetze,,2. Die Rede vom Gewissen ist für ihn nur eine Vogelscheuche, mit welcher man Narren und den Pöbel davon abhält, das Potential zu nutzen, welches in ihnen schlummert. Von sich sagt der selbst-designierte Tyrann dann, er wolle ein Herr im griechischen Wortsinne, mithin öeon;Ü'tT]~ sein, was zur Folge hat, daß er jeden ausschalten muß, der sich ihm in den Weg stelle. Wie dieses Räsonnement vom Zuschauer beurteilt werden soll, macht Schiller in der Vorrede zur ersten Auflage des Dramas deutlich. Der Autor sagt von seiner Figur, sie habe die "Schauer des Gewissens in ohnmächtige Abstraktionen" aufgelöst, die richtende Empfindung "skelettisiert", die "ernsthafte Stimme der Religion" hinweggescherzt, kurz: den "Verstand auf Unkosten seines Herzens" verfeinert4 • Eben diese "herzverderbliche Philosophie"s ist es, die den Despoten ausmacht. Als Topos zur Kennzeichnung der von Schiller seinem tyrannischen Protagonisten in den Mund gelegten negativen Politikauffassung dient das theoretische Werk Machiavellis. Im ,Principe' liefert der Florentiner nämlich in den Augen Schillers eine Theorie, in welcher ein Kriterium zur Kennzeichnung politischer

1 F. Schiller: Die Verschwörung des Fiesco zu Genua. Text nach der Buchausgabe, Mannheim 1783. In: Sämtliche Werke (= SW). Auf Grund der Originaldrucke hg. v. G. Fricke u. H. G. GÖpfert. 5 Bde. Darmstadt 1984. 7. Aufl. Hier: 1,731. 2 Die Räuber SW 1, 500. 3 Die Räuber SW 1, 502. 4 SW 1,485. 5 Diesen Begriff verwendet Schiller in seiner Selbstbesprechung im ,Wirtembergisehen Repertorium' (SW 1,625). 2*

20

1. Exemplifikation der Methode

Phänomene verwendet wird, das es erlaubt, Phänomene der A-Politie zu selektieren. Es geht hier um folgende Thesen Machiavellis: (1) Das politische Handeln unterliegt keinen strikten ethischen Normen, die für

jeden nur denkbaren Fall sagen könnten, was zu tun und was zu lassen sei.

(2) Der Weltverlauf ist kontingent. (3) Eine Anthropologie taugt nicht dazu, dem politisch Handelnden eine Berechnungsgrundlage zu verschaffen. Haben die Bedingungen (1) bis (3) Gültigkeit, dann verbleibt dem Politiker zur Orientierung nur die Klugheit, negativ ausgedrückt: die Verschlagenheit. Schiller richtet seinen theoretischen Angriff zunächst gegen (3), indem er anthropologische und damit verbundene geschichtsteleologische Prämissen in Kraft setzt und so die Voraussetzungen für einen derivativen Politikbegriff schafft. Seine These lautet: Da sich sehr wohl gewisse anthropologische Konstanten im Gang der menschlichen Historie finden, ist es möglich, im Felde der Geschichte analog zu schließen und dem so aufbereiteten historischen Material per interpretationem Finalität zu unterstellen. Die Geschichte muß als progredierender Ereignisgang verstanden werden. Denn ein Vergleich des gegenwärtigen Zeitalters mit den rohen Anfängen der Kultur berechtigt zu dem Schluß: "Es zieht sich .. . eine lange Kette von Begebenheiten von dem gegenwärtigen Augenblicke bis zum Anfange des Menschengeschlechts hinauf, die wie Ursache und Wirkung ineinander greifen,,6. Ihnen retrospektiv nachzuforschen, ist die Aufgabe des Historikers. Ist er bis zum Anfang der Zeugnisse vorgestoßen, so folgt er anschließend darstellend dem Gang der Historie wiederum bis zu seinem eigenen Zeitalter. Es ist zwar eine Illusion, hier jemals die vollständige Reihe von Ursachen und Wirkungen auffinden zu wollen, man wird sich mit einem Aggregat, einer Ansammlung von Bruchstücken begnügen müssen, eben mit der Partikularität des Faktischen, das den Eindruck macht, keiner Regel gemäß, also kontingent aufzutreten. Dieses Aggregat erhebt der Historiker dann aber zum System, i. e. zu einem ,vernunftmäßig zusammenhängenden Ganzen,7. Ein erster Schritt zur Erreichung dieses Ziels ist die Anwendung von Analogieschlüssen, welche durch die "Einheit der Naturgesetze und des menschlichen Gemüts"g möglich werden. Damit ist behauptet, was in der Bedingung (3) bestritten wurde, nämlich die Existenz gewisser anthropologischer Konstanten, die dem Historiker Schiller dazu dienen, VOn dem, was vor Augen liegt, auf das zu schließen, was vergangen ist.

6

Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? (= Uge) , SW

4, 76l. 7

8

Uge SW 4, 763. Uge SW 4, 763.

1. Exemplifikation der Methode

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Doch hat die Geschichte damit noch keinen systematischen Charakter gewonnen. Dieser tritt in der Darstellung des Historikers erst auf, wenn er beginnt, "alles um sich herum seiner eigenen vernünftigen Natur zu assimilieren,,9, so daß, was er als partikulare und damit kontingente Faktizität antrifft, "sich dem blinden Ohngeflihr,,10 entzieht. Regelmäßigkeit, ja sogar Absicht kommt auf diese Weise in die Ereignisse, welche nun gar nicht mehr den Eindruck eines kontingenten Geschehens erwecken. Der von Schiller postulierte philosophische Kopf macht sich also die Faktizität teleologisch zurecht. Damit hat er die Bedingung (2) der Apperzeption des Politischen, die man dem , Principe , entnehmen kann, für sich außer Kraft gesetzt. Nun vermag er dem Machiavellisten in einem dritten und letzten Schritt eine ethische Restriktion des Politischen entgegenzusetzen. Schiller tut dies, indem er vehement einen privaten Glücksanspruch der Regierten reklamiert und dieses Postulat damit rechtfertigt, daß er Tugend und Glück identifiziert: Der Mensch ist nur dann vollkommen, wenn er glücklich istlI. Der moralische Wert einer Handlung leitet sich daraus ab, inwiefern sie die Vollkommenheit, i.e. die Glückseligkeit befördert hat 12, aber nicht so, daß die Moralität aus dem Grad des eintretenden Glücks resultiert, sondern so, daß jede moralische Handlung glücklich macht und jede Glück stiftende Handlung auch moralisch ist. Glück und Moralität stehen also in einem Verhältnis der Äquivalenz. Wenn es darum geht, die politische Ordnung zu beurteilen, dann dient hierzu kein anderer Maßstab als diese eudämonistische Kategorie. Schiller nimmt also an, daß die Ereignisse in der geschichtlichen Welt nicht regellos erfolgen, daß das Handeln der Menschen vielmehr gewissen anthropologischen Gesetzmäßigkeiten unterliegt. Um es zu kultivieren und damit allgemeines Glück zu erzeugen, ist es moralisch zu restringieren. Daraus resultiert als Handlungsanweisung für die Herrschenden: Wenn sie nicht vor jeder Äußerung der Tugend, i. e. vor dem Glücksstreben ihrer Untertanen, zittern wollen\3, dann müssen sie moralisch handeln, also auf eine despotische Regierung verzichten. Damit ist sichtbar geworden, daß an der Wurzel der Schillerschen Bestimmungen ein Begriff des Despotismus liegt, welcher so gefaßt ist, daß sich aus ihm - ex negativo - eine politische Eudämonologie ergibt. Diese erfährt dann eine metaphysische Absicherung durch die Inkraftsetzung gewisser anthropoloUge SW 4,764. Uge SW 4,764. 11 So Schiller in seiner ersten Dissertation (Philosophie der Physiologie - 1779), SW 5, 251. 12 Tugend in ihren Folgen betrachtet SW 5, 281. 13 Vgl. Don Carlos SW 2, 126. 9

10

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gischer Prämissen, welche durch eine teleologische Geschichtskonstruktion abgesichert werden. Sind Glück und Tugend auf der einen und Politik auf der anderen Seite so in Einklang gebracht, dann tritt ein Zustand ein, welchen Schiller in seinen frühen Dramen in Form einer Idylle kennzeichnet. Dieser - zunächst vielleicht recht abwertend klingende - Begriff läßt sich hier deshalb verwenden, weil er im Denken Schillers eine ganz eigentümliche, gar nicht negativ konnotierte Bedeutung hat. Der Dichter unterscheidet nämlich in seinem berühmten Essay ,Über naive und sentimentalische Dichtung d4 die zwei im Titel genanten Arten von Literatur und definiert zugleich die Begriffe: Satire, Elegie und Idylle. Die Termini werden folgendermaßen hergeleitet: Der naive Dichter ist seinem Objekt gänzlich verhaftet, ist mit seinem Werk durchaus identisch, i. e. er ist Natur. Der sentimentalische Autor sucht hingegen die Natur. Denn die Freiheit der Phantasie und des Verstandes entfernen den Menschen von der Einfalt, Wahrheit und Notwendigkeit der Natur, und nur der moralische Trieb führt ihn zu ihr zurück. Auch der sentimentalische Autor ist also eine Wirkung der Natur, er hat lediglich ein anderes Verhältnis zu ihr als der naive. Für ihn ist die sinnliche Harmonie aufgehoben. Die Übereinstimmung von Empfinden und Denken existiert nicht mehr wirklich, sondern nur noch idealisch. Sie wird zu einem Gedanken, der realisiert werden soll. Schiller wendet dann den Begriff der Poesie auf beide Zustände folgendermaßen an: Der naive Autor strebt nach Nachahmung des Wirklichen, dem sentimentalischen geht es um die Darstellung des Ideals, die Erhebung der Wirklichkeit zum Ideal. Denn für ihn soll unter den Bedingungen der Reflexion die naive Empfindung wiederhergestellt werden 15. Die verschiedenen Möglichkeiten der Behandlung eines Gegenstandes ergeben sich für den Dichter daraus, daß er mehr bei der Wirklichkeit oder mehr bei der Idee verweilen kann, und daraus, wie er Abneigung und Zuneigung der Wirklichkeit bzw. dem Ideal gegenüber merken läßt. So wird die Darstellung satirisch oder elegisch. Eine der beiden Empfindungsarten zeigt sich mehr oder weniger bei jedem sentimentalischen Dichter. Sind verlorene Natur und unerreichbares Ideal Gegenstand der Trauer, hat man es mit einer Elegie im engeren Sinne zu tun. Werden beide als wirklich vorgestellt und sind sie so ein Gegenstand der Freude, liegt eine Idylle vor. Der Zweck der Idylle besteht darin, den Menschen im Stande der Unschuld zu zeigen, i. e. Harmonie und Frieden. Dieser Zustand findet sich vor dem Anfang der Kultur, er ist zugleich das Ziel aller Kultur. Die Idylle produziert erhebende Fiktionen. Satire, Elegie und Idylle er14

15

= nsD SW 5, 694-780. nsD SW 5, 752, Anm. 1.

1. Exemplifikation der Methode

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schöpfen das Feld der sentimentalischen Dichtung gänzlich. Denn Empirie und Ideal können miteinander nur in Übereinstimmung (Idylle) oder in Gegensatz (Satire) stehen. Das Gemüt ist also von der einen oder der anderen Stimmung ergriffen oder zwischen beiden hin- und hergerissen (Elegie)16. Im Sinne dieser Tenninologie schwankt Schiller in seiner literarisch zum Ausdruck gebrachten Auffassung des Politischen zwischen strafender Satire, Elegie im engeren Sinne und Idylle, wobei freilich die erste Ausdrucksform durchaus die Oberhand behält. Die Idylle ist dann durch Negation des satirisch Verdammten gewonnen: Der Tyrann ruiniert sein Volk, weil er unmoralisch ist. Negiert man diesen Zustand, dann ergibt sich das Idyll, welches vorschreibt: Der moralische Herrscher macht wie ein liebender Vater seine Untertanen glücklich, weil er mit milder Weisheit regiert, so daß "Bürgerglück ... versöhnt mit Fürstengröße wandel[t] ,,17. Damit ist aus der Negation des Despotismus gewonnen, was Oakeshott eine Ideologie, was ich lieber einen , Interpretationsrahmen , nennen will, der folgende Aufgaben zu erfüllen hat: (1) Er muß Kriterien bereitstellen, die es erlauben, eine Situation als politisch

zu diagnostizieren,

(2) er muß Vorstellungen enthalten, inwiefern eine als politisch erkannte Situation zu verändern ist, (3) schließlich hat er zu erklären, wie genau die neue Situation herbeizuführen ist. Auf allen drei Ebenen ist Dissens möglich, wie das Beispiel der Schillerschen Bestimmungen zeigt. Man könnte nämlich einwenden, daß sich aus der Negation des Despotismus nicht das Postulat privaten Glücks, sondern vielmehr das politischer Teilhabe ergebe, daß letztlich also Freiheit das Kriterium des Politischen sei. Schlösse man sich diesem Einwand an, dann gewönnen Situationen politischen Charakter, welche durch Schillers Bestimmungen ganz anders klassifiziert würden. Andererseits verlören Konstellationen an Bedeutung, weil sie nun als Sachverhalte erschienen, die dem Bereich der privaten Lebensgestaltung zuzurechnen wären. Entsprechend wandelte sich auch die Empfehlung, bestimmte Maßnahmen zu ergreifen. Treffen die bisherigen Überlegungen zu, dann kann die Disziplin einer politischen Philosophie wie folgt definiert werden: Eine politische Philosophie deckte den Interpretationsrahmen auf, der als unthematische Prämisse zur Identifikation der A-Politie wie des Politischen dient. Sie hat genau das ausdrücklich zu

16 l7

nsD SW 5, 745, Anm. 2. Don Carlos SW 2, 124.

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machen, was der enthymematische Charakter der Politik verhüllt, die unausgesprochenen Prämissen der Deliberation. Gegenüber den in der Einleitung skizzierten anthropologisch bzw. geschichtsteleologisch fundierten Ansätzen, welche durch das Denken Schillers exemplifiziert worden sind, weist eine so bestimmte politische Philosophie folgende Stärken auf: Sie ist einmal dazu in der Lage, ihre beiden Konkurrentinnen dadurch zu überbieten, daß sie sie sich einverleibt, indem sie sie unter all , die stillschweigenden Prämissen rechnet, die in den unthematischen Interpretationsrahmen eingehen, der nötig ist, wenn eine Situation als politisch identifiziert und normativ qualifiziert werden soll. Da sie nicht-metaphysischen Charakter hat, ist sie zudem - im Gegensatz zum politischen Anthropologen bzw. Geschichtsteleologen - dazu in der Lage, ihrem Gegenstand gerecht zu werden; denn das Faktum einer Pluralität von Menschen, die in der Sphäre der Öffentlichkeit in Deliberationsprozesse verwickelt sind, läßt sich nur dann angemessen konzeptualisieren, wenn man sich stets der Rhetorizität ihrer Interaktionen bewußt ist. Diese aber kommt in nichts klarer zum Ausdruck als im enthymematischen Charakter politischer Argumentationsgänge. Macht man ihn bewußt, dann hat man sich der Phänomenalität des Politischen weiter angenähert, als alle metaphysische Theorie es jemals vermöchte. Daher läßt sich sagen, politische Philosophie arbeitet an der Auflösung des Enthymems jeweiliger Politik. Konstitutiver Teil dieses Enthymems aber ist eine Vorstellung davon, was man unter despotischer Herrschaft zu verstehen hat. Die folgenden Kapitel gehen diesem Begriff durch die Jahrhunderte politischen Denkens nach. Dabei wird sich in den ,Stationen' genannten historischen Darlegungen und den eingestreuten systematischen Überlegungen zeigen, daß im Gang von der Antike bis zum 20. Jahrhundert der Despotismus auf eine ganz eigentümliche Art und Weise hoffähig wird. Diesen Prozeß zu erfassen und ihn zugleich zu erklären, ist das Ziel der folgenden Darstellung. Die Überlegungen münden dann in der angekündigten Bestimmung des Politischen aus seiner Negation (fünfte systematische Überlegung). Sie wird so weit reichen, daß schließlich nur noch ein letztes Problem thematisiert werden muß - die Konzeptualisierung eines Toleranzbegriffs, welcher den gewonnenen Ergebnissen adäquat ist. Dazu müssen die Prämissen dessen, was ,politisch' heißen soll, in einer abschließenden Überlegung noch einmal reformuliert werden.

'ÜßQLV U1:eUeL 1:uQavv[~ - Die Tyrannis erzeugt den

Hochmut!.

2. Erste Station Griechisch-antike Verhältnisse (Platon und Aristoteles) Für die antike Welt liegen die Verhältnisse klar. Der mit dem pejorativ 2 konnotierten Begriff ,Tyrann' bezeichnete Regent herrscht ohne gesetzliche Grundlage 3, daher ist seine Machtfülle unbegrenzt (a6QLO"to~/. Im Auge hat er nur den persönlichen Vorteil 5 , und da die von ihm Beherrschten sich nur ungern gefallen lassen, wie er mit ihnen umspringt6 , muß er stets auf Selbstschutz bedacht sein7 • Xenophon betont diesen letzten Aspekt in seinem Dialog ,Hieron' besonders deutlich, wenn er das Leben eines Despoten schildern läßt: Der Tyrann - obwohl mit unbeschränkter Macht ausgestattet - lebt dennoch wie ein Gefangener; er ist in seinem Palast gleichsam eingesperrt, denn seinen Machtbereich zu verlassen, um sich die Welt anzusehen, darf er nicht wagen, weil er nicht sicher ! Sophokles: König Ödipus 872 - dies ist die von R. D. Dawe mit überzeugenden Gründen vorgeschlagene Lesart der berühmten Sophokles-Stelle (vgl. Sophocles: Oedipus Rex. Ed. R. D. Dawe. Cambridge/Port Chester/Melbourne/Sydney 1991, 182). 2 O. Höffe weist darauf hin, daß die Griechen neben dem uns geläufigen pejorativen auch einen moralisch neutralen Tyrannis-Begriff kennen. Dieser bezeichnet einen Alleinherrscher, der nicht durch Erbfolge an die Macht gekommen ist. In diesem Sinne nennt Sophokles Ödipus einen Tyrannen. (Aristoteles' ,Politik': Vorgriff auf eine liberale Demokratie? In: O. H. [Hrsg.]: Aristoteles, Politik. Berlin 2001, 187204. Hier: 194). 3 Platon: Politikos (= Polit.) 302 c 8 ff. Vgl. auch Xenophons Bestimmungen in den ,Memorabilien' (= Mem): 1:TJV !lEV yo.Q EXOV'tWV 1:E 1:WV av9Qw:rtwv xal, Xato. VO!lOU~ 1:WV :rtoAEwv aQ)(TJv - die Herrschaft, welche mit Zustimmung der Menschen und nach den Gesetzen des Staates erfolgt, heißt ßaOLAELa - Königsherrschaft; 1:TJV ÖE axoV'twv 1:10 xal, !lTJ Xato. VO!lOU~, aAl.' ö:rtw~ () aQ)(wv ßOUAOL'tO - die aber, welche ohne Zustimmung und nicht gesetzmäßig, sondern nach dem Willen des Regierenden ausgeübt wird, nennt man Tyrannis (Mem IV, vi, 12). 4 Aristoteies: Rh. 1366 a 2. 5 Vgl. Aristoteles: Pol. 1278 b 35; Nikomachische Ethik (= EN) 1160 b 2/3. 6 Aristoteles stellt fest, in einer Polis der Sklaven und Despoten gebe es keine Freundschaft; vgl. Pol. 1295 b 22 f. 7 Aristoteles: Rh. 1366 a 6.

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2. Erste Station - Griechisch-antike Verhältnisse

sein kann, was in seiner Abwesenheit aus seiner Herrschaft wird. Mißtrauisch, wie er sein muß, wird er niemandem seinen Besitz anvertrauen wollen. Auch im eigenen Land kann er sich an keinen Ort begeben, an dem die Menge stärker als er ist8 . Er befindet sich nämlich überall in Feindesland, trägt daher stets Waffen und kommt ohne eine Leibwache gar nicht aus 9 • Von Feinden umringt lO gibt es für ihn also keinen Frieden mit den Menschen, über die er herrschtlI. Dies gilt auch dann, wenn man ihm allenthalben versichert, er werde geschätzt, geliebt und verehrt I2 . Er wird solchen Beteuerungen nicht trauen. Denn man kann ihn ja öffentlich gar nicht kritisieren. Im Geheimen aber hegt gewiß jedermann üble Gedanken gegen ihn. Das öffentliche Lob, das man ihm zollt, ist also verlogen und daher nichts wert 13 . Ist er dieses Lebens müde und denkt darüber nach, seine Herrschaft niederzulegen, wird ihm klar, daß er in einer Falle sitzt, aus der es kein Entrinnen gibt. Der Tyrann kann seine Macht nämlich nicht einfach aufgeben. Er wird nicht die Mittel finden, alle die zu entschädigen, die er beraubt hat; er kann auch nicht die Gefängnisstrafen absitzen, zu denen er andere verurteilt hat; schließlich hat er nur ein Leben, er kann mit ihm nicht angemessen für alle die zahlen, die er zu Tode gebracht hat 14 . So vermag er seine Herrschaft weder niederzulegen noch sie glücklich auszuüben 15 . Isokrates vervollständigt in seiner Friedensrede das Bild: Der unumschränkte Herrscher sieht sich gezwungen, gegen alle seine Untertanen Krieg zu führen, Menschen zu hassen, die ihm nie etwas angetan haben, seinen Freunden zu mißtrauen. Vor denen, die sein Leben schützen sollen, muß er sich genauso fürchten wie vor denen, die gegen ihn Komplotte schmieden. Auch den nächsten Verwandten kann er nicht trauen; denn er weiß ja nur zu gut, daß andere Hieron (= Hier.) I, 12. Hier. 11, 8. 10 Hier. IV, 8. 11 Hier. 11, ll. 12 Hier. I, 37. 13 Hier. I, 15. 14 Hier. VII, 12. 15 Hier. VII, 13: Xenophon stellt im ,Oeconomicus' fest, der Tyrann, der über Untertanen herrsche, die sich nicht von ihm beherrschen lassen wollen, lebe das Leben eines Tantalos, von dem man sage, er lebe stets in Furcht vor einem zweiten Tod (XXI, 12). Daß Xenophon hier ähnlich wie in seinem Dialog formuliert, macht die Interpretation des ,Hiero', die L. Strauss (On Tyranny. Revised and expanded edition. Including the Strauss-Kojeve Correspondence. Ed. by V. Gourevitch and M. S. Roth. New York 1991) vorgelegt hat, recht unwalrrscheinlich. Strauss meint, die Kritik der Tyrannis sei übertrieben (45), man könne ihr nicht trauen (46). Denn Xenophon lasse sie von einem nicht weisen und obendrein interessierten Mann vortragen, während sein Lob der Tyrannis von Simonides, einem Weisen, vorgebracht werde, der keine persönlichen Interessen habe (67). 8

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2. Erste Station - Griechisch-antike Verhältnisse

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Despoten vor ihm durch ihre Eltern, durch ihre Söhne, ihre Brüder oder ihre Ehefrauen getötet worden sind 16 . Niemand könne sich - so stellt Isokrates abschließend fest - freiwillig in solche Verhältnisse begeben 17 . Liegen die Dinge so, dann kann man nur von einer verfehlten Staatsform sprechen 18 . Platon geht insofern über diese Angaben hinaus, als er Gründe dafür nennt, daß man widersinnigerweise die Tyrannis anstrebt - er verweist auf ungezügelte Begierde (bnOUf.LLu) gepaart mit Unwissenheit (äYVOLU)19. Angesichts der von Xenophon und Isokrates geschilderten Umstände wird man kaum zu einem anderen Ergebnis kommen.

Locus classicus der antiken Debatte um die Staatsformen, in welcher die Frage nach dem Wesen der Tyrannis angesiedelt wird, ist eine historisch höchst unwahrscheinliche, politiktheoretisch aber sehr aufschlußreiche Diskussion, welche Herodot die Perser Otanes, Megabyzos und Dareios führen läßt. Man erörtert, auf welche Weise das Gemeinwesen in Zukunft beherrscht werden soll. Otanes vertritt die Sache der Demokratie auf folgende Weise: Dem Alleinherrscher sei es erlaubt zu tun, was er wolle, ohne jemandem Rechenschaft zu schulden 2o . Daher befalle ihn unausweichlich Hochmut (ÜßQLC;), er sei mißgünstig und trete die hergebrachte Ordnung mit Füßen21 . Herrsche hingegen die 16 Die Beseitigung eines Tyrannen gilt der Antike, wenn sie nicht zur Errichtung einer neuen Tyrannis führt, durchaus als ehrenvolle Tat. H. Berve stellt fest, seit Mitte des 4. Jahrhunderts konnte der Tyrannenmord "weder rechtlich noch moralisch als problematisch gelten. Denn die Vergewaltigung der Polis war mehr als ein rechtswidriger Akt, sie war ein todeswürdiges Verbrechen, und kein Eid, keine patriotische Verpflichtung bestand dem Mann gegenüber, der sich außerhalb von Recht und Sitte des Gemeinwesens gestellt hatte. Mit der ganzen Schärfe romantisch-doktrinärer Sinnesart bestrafen gerade die Gesetze der späten Zeit den gestürzten Tyrannen, sein Haus und alle, die ihm direkt oder indirekt Dienste geleistet haben. Noch einmal tritt mit aller Deutlichkeit hervor, was den griechischen Tyrannen kennzeichnet, nämlich daß er nicht Repräsentant, Leiter oder auch nur Organ des Staates, sondern als bloßer Machthaber dessen Gegenspieler und auch dann sein Feind ist, wenn er sich um eine maßvolle Herrschaft bemüht." (Wesenszüge der griechischen Tyrannis. In: F. Gschnitzer [Hrsg.]: Zur griechischen Staatskunde. Erstmals in: Historische Zeitschrift 177[1954], 1-20. Darmstadt 1969 [= Wege der Forschung, Bd. XCVI], 161-183. Hier: 180). 17 112/113. In der Helena-Rede heißt es, diejenigen, welche eine Gewaltherrschaft anstrebten, seien nicht Herren, sondern Sklaven. Indem sie das Leben anderer bedrohten, brächten sie sich selbst in Gefahr. Sie müßten also alle ihre Untertanen mit Krieg überziehen, die sie doch brauchten, wenn es Invasoren abzuwehren gelte. Sie seien nicht frei, sondern Todeskandidaten im Gefangnis vergleichbar (32-34). Tyrannen seien keine Regenten, sondern eine Seuche (vom'1I1m;u - 34). 18 Vgl. Aristoteles: Pol. 1279 a 17 ff.; Platon: Polit. 302 c 8 ff. 19 Polit. 301 c 3. In den ,Nomoi' (= Lg.) heißt es zur näheren Erklärung, es sei Jtavw.lv avSQo.lJt(J)v ... XOLVOV EmSuJlTU.lU ( Lg. 687 c 1) - ein allen Menschen gemeinsames Begehren, 'to xmu 't~v 'tT]~ uu'tOu 'jJUX~~ EJthu;LV 'tu YLyvOf.LEVU yiyvwSm (Lg. 687 c 5/6) - daß alles, was geschieht, nach der Festsetzung erfolgt, welche die eigene Seele vornimmt. Dabei müsse freilich die richtige Einsicht walten. 20 aVEuSUVql JtOLEELV 'tu ßouAE'tm (3, 80, 3). 21 3,80,2.

2. Erste Station - Griechisch-antike Verhältnisse

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Menge, so führe das Gemeinwesen die schönste aller Bezeichnungen; man nenne es nun nämlich ,1sonomie,22. Zur Begründung für dieses Lob heißt es, das Gemeinwesen finde sich nur in allen23 , niemals aber in einem einzelnen. Megabyzos spricht für die Oligarchie24 , wenn er einwendet: Nichts sei unvernünftiger und hybrider als die Masse. Man entkomme der Hybris eines Tyrannen, nur um dem Übermut des Volkes anheimzufallen. Die Masse handele ohne zu wissen, was sie tue. Der dritte Gesprächspartner, Dareios, zählt zunächst die möglichen Staatsformen auf und behauptet dann, nichts sei besser als die Herrschaft eines Mannes, wenn es sich um den besten Mann handele 25 . Die Oligarchie führe nur zur Feindschaft der Oligarchen untereinander, woraus Zwist, Parteienstreit entstehe26 ; Volksherrschaft erzeuge Feigheit, Gemeinheit, Niederträchtigkeit (xax(rtTJ~)27. Wenn aber solche Niederträchtigkeit im Gemeinwesen Platz greife, dann entwickelten sich häufig politisch gefährliche starke Freundschaften; denn diejenigen, welche dem Gemeinwesen Schaden zufügen wollten, täten es, indem sie zusarnmenrückten28 . Nachdem man sich in einer Abstimmung für die Monarchie entschieden hat, verkündet Otanes, welchen Schluß er für sich persönlich aus den verschiedenen Überlegungen zu ziehen geneigt ist. Alleinherrscher wolle er gewiß nicht werden, sich aber auch ungern der Herrschaft anderer aussetzen. Seine Maxime laute daher: oihe ... 1JOEL :7tOAL"tLXOV ~00v. Wer von Natur aus und nicht durch ein Geschick ("t1JXl]) unpolitisch ist, ist entweder besser oder schlechter als ein Mensch. In der ,Nikomachischen Ethik' stellt Aristoteles fest: E:7tELOlj qruoEL :7tOAL"tLXOV 0 aveQW:7tO~ (EN 1097 b 11); im gleichen Werk finden sich folgende Sätze: aveQW:7tO~ yaQ "tn UOEL ouvOuamLxov IlUAAOV ~ :7tOAL"tLXOV (EN

2. Erste Station - Griechisch-antike Verhältnisse

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Die ontologische Basis für dieses Diktum bildet die Aristotelische Fonn der Präsenzmetaphysik: Sie ruht auf der Unterscheidung zweier Hinsichten auf das, was ist. Diese beiden Hinsichten eröffnen eine metaphysische Differenz, welche dann in einer teleologischen Bewegung geschlossen wird: Alles, was ist, weist einen hyletischen und einen eidetischen Aspekt auf. ,Eidetisch' meint dasjenige an einem Seienden, was es zu einem bestimmten Dieses-Da macht. Das Eidos von etwas ist seine Fonn. Alle anderen Qualitäten, die es besitzt, machen den hyletischen, i.e. den materiehaften, Aspekt aus63 . Freilich muß in dem, was lediglich hyletisch ist, der Möglichkeit nach bereits das eingeschlossen sein, was es eidetisch ist. So ist der Hennes im Stein - auch schon dann, wenn der Bildhauer noch gar nicht mit seiner Arbeit begonnen hat - freilich nur potentialiter und deshalb in Latenz. Der Differenz von Hyletischem und Eidetischem korrespondiert mithin die bereits benannte Unterscheidung von Möglichkeit und Wirklichkeit. Alles Seiende tritt daher in zwei Seinsmodi auf - im Modus der Möglichkeit und in dem der Wirklichkeit64 . In diesem Sinne ist der halbwüchsige männliche freie Oikos-Bewohner nur ein möglicher Mensch, der erwachsene Polis-Bürger hingegen ist in seine Wirklichkeit, in sein Telos gelangt. Der Modus der Wirklichkeit ist noch einmal zu differenzieren. Diese Einsicht resultiert aus der Erkenntnis, daß jemand der Wissen besitzt, aber von diesem Wissen augenblicks keinen Gebrauch macht, zwar nicht mit dem identisch ist, der dieses Wissen allererst noch zu erwerben hat, aber auch nicht mit dem, der sein erworbenes Wissen wirklich verwendet65 • Der Modus der Wirklichkeit tritt daher als erste und als zweite Entelechie auf. Auch wenn es dem Oikos-Bewohner gelungen ist, als Bürger in einer Polis sein Wesen zu verwirklichen, er 1162 a 17/18) und :n:OAL'tLXOV yaQ 6 äv8Q(J):n:o~ xai (J'U~Tjv :n:E'UXO~ (EN 1169 b 18). Die ,Eudemische Ethik' (= EE) formuliert: 6 yaQ äv8Q(J):n:o~ Oll !J.ovov :n:oA-nxov aAA.a. xai OLXOVO!J.LXOV ~iPov ... (EE 1242 a 23 f.). Mit Verweis auf die letzte Stelle betont E. Schütrump! in seinen Kommentar zu Pol. 1253 a 1 ff. die Wichtigkeit des Zusatzes ,von Natur aus' (Aristoteles: Politik. Buch I. Übers. u. erl. v. E. Sch. Berlin 1991 [= Aristoteles: Werke in dt. Übers. Begr. v. E. Grumach. Hg. v. H. Aashar. Bd. 9, I], 208), denn ohne den teleologischen Aspekt sei die Angabe falsch, weil der Mensch eben auch ein ökonomisches Wesen ist. 62 Hier liegen die schwerwiegendsten Einwände gegen die Rechtfertigung der Sklaverei, aber auch gegen die Tatsache, daß Frauen und Metöken der Zugang zur Politik nicht erlaubt wird. Will man diesen Gruppen nicht das Menschsein absprechen, dann behandelt man sie mit der Verweigerung von Partizipationsmöglichkeiten eben tyrannisch. Aristote1es selbst liefert das Vokabular, mit dessen Hilfe man seine einschlägigen Bestimmungen kritisieren muß. 63 J. L. Ackrill formuliert recht anschaulich: "To ask why an X is an X is ... to ask why certain specified matter is (constitutes) an X; and to answer such a question one must give the form of X. The form is thus the ,what-it-is-to-be-X'. Not, of course. that an X is identical with its form - an X is a composite of form and matter" (Aristotle's Definitions of psuche. In: J. Barnes/M. Schofie1d/R. Sorabji [Hrsg.]: Artic1es on Aristotle. Bd. 4: Psychology and Aesthetics. London 1979,65-75. Hier: 67/68). 64 De anima (= DA) 412 a 6-11. 65 Vgl. Physik (= Ph) 255 a 31 ff.

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2. Erste Station - Griechisch-antike Verhältnisse

bleibt immer noch gezwungen, sich von Zeit zu Zeit in das Haus zurückzubegeben, um dort seine physische Existenz zu wahren und an seine Kinder weiterzugeben. Das heißt aber nicht, daß er dort seine Wirklichkeit als politisches Wesen wieder verliert. Vielmehr tritt diese in einen anderen entelechetischen Modus über. Auf diese Weise bleibt die Präsenz des tov JtOAL'tlXOV in abgeschwächter Form, nicht als absolute, aber doch als partielle Präsenz gewahrt. Die metaphysische Differenz von Wirklichkeit und Möglichkeit leistet nicht nur die Unterscheidung zweier Seinsmodi, sie liefert auch die Möglichkeit, diese beiden Seinsmodi zu hierarchisieren. Alles, was nur der Möglichkeit nach ist, das Hyletische, ist von geringerem Rang als das, was der Wirklichkeit nach ist, das Eidetische. Das Eidetische macht nämliche das Substantielle aus. Der Begriff der Substanz findet bei Aristoteles einmal eine logische, dann eine ontologische Verwendung. Ontologisch meint Substanz das, was als ein Selbständiges Bestand hat - im Gegensatz zu dem, was nur an einem anderen, nämlich an einem Substanzhaften auftreten kann. In diesem Sinne Substanzhaft ist die zweite Entelechie, der Seinsmodus, in welchem etwas in seine vollendete Wirklichkeit, in sein Telos, getreten ist. Die beiden anderen Seinsmodi stellen defizitäre Realisationsstufen eines Seienden dar. Diese Konstruktion ermöglicht es im Felde der Politiktheorie, den Substanzcharakter des Polis-Bürgers auch dann zu wahren, wenn er sich in die Sphäre der Privatheit zurückziehen muß. Das, was er seinem Wesen nach ist, tritt dann in eine gewisse Latenz zurück. Dies unterscheidet ihn von Frauen, Sklaven und weiblichen Kindern; denn diesen ist es nicht möglich, jemals auch nur in einem Latenzzustand politische Wesen zu sein. Gleichzeitig wird deutlich, wie verheerend tyrannische Verhältnisse für den Aristotelisch bestimmten Polismenschen sind. Sie versperren ihm den Zugang zur Sphäre der Öffentlichkeit, welche ja der Raum des Politischen ist. Damit geht seine Substanz als tov JtOAL'UXOV verloren; denn er fällt nun aus den entelechetischen Modi heraus - zurück in den Zustand höchster Latenz. Die mit seinem Eintritt ins politische Leben teleologisch überwundene Differenz von Wirklichkeit und Möglichkeit bricht wiederum auf. Dies kehrt die Richtung natürlichen Werdens um. Daher kann man sagen: Der Tyrann pervertiert die Menschen im Wortsinne, er zwingt sie - was ihr Menschsein betrifft - in ein Stadium tiefer Latenz zurück, dem sie lange entwachsen waren. Kann er sich an der Macht halten und eine Dynastie begründen oder löst ihn ein anderer Gewaltherrscher durch Mord oder Aufruhr ab, so daß von einer den Menschen offenstehenden Sphäre des Politischen auf lange Sicht nicht mehr gesprochen werden kann, dann wird aus dem, was der Mensch von Natur aus sein soll, eine leere Möglichkeit. Die Objekte despotischer Herrschaft sind dann nur noch Hülsen, in denen kein Kern mehr steckt - ohne die Aussicht, auf absehbare Zeit wieder zu dem zu werden, was zu sein die Natur ihnen eigentlich auferlegt hat.

The right of Dominion ... , which the Parent hath over his Children ... is called Patemall. And is not so derived from the Generation ... but from the Childs Consent, either expresse, or by other sufficient arguments dec1ared'.

3. Erste systematische Überlegung Despotismus und Paternalismus Nach Darstellung der griechisch-antiken, insbesondere aber der Aristotelischen Bestimmungen wird eine erste systematische Überlegung möglich, in welcher die Begriffe ,Despotismus' und ,Paternalismus' definiert werden. Der Interpretationsrahmen, innerhalb dessen Aristoteles die Tyrannis bestimmt, hat metaphysischen Charakter. Dies gibt seinem Verdikt die nötige Schärfe und wertet zugleich den mit der Bestimmung des Menschen gegebenen Politikbegriff auf: Der chrematistische Tyrann ist dadurch gekennzeichnet, daß Politisches und Soziales in der denkbar radikalsten Form identifiziert werden. Daraus resultiert dergestalt eine Pervertierung der unterdrückten Bevölkerung, daß die Menschen in ein Stadium tiefer Latenz geworfen werden, in welchem sie das, was sie von Natur aus sind, nicht sein können - politische Wesen nämlich. Nimmt man diesen Bestimmungen ihre metaphysische Grundierung, dann ergeben sich die folgenden Definitionen des Despotismus (= Dp) und des Paternalismus (= Pt). Die Bestimmungen werden, wenn möglich, minimalistisch erfolgen, also so, daß die Zahl der in ihnen enthaltenen Elemente möglichst gering gehalten wird.

Dp - bezeichnet das Verhältnis zwischen mindestens zwei Personen (P), Pz). Eine von beiden, Pb beansprucht für jede ihrer wie auch immer gearteten Anweisungen (A), welche sie an P 2 richten mag, unbedingten Gehorsam. Nötigenfalls ist sie dazu bereit, ihren Willen durch Einsatz gewisser Druckmittel (D) durchzusetzen, von denen sie weiß, daß P2 sie nicht zu ertragen in der Lage oder willens ist. P2 unterwirft sich PI nur aufgrund von D, keine andere denkbare Qualität (Q) von PI ist hier ausschlagge-

, Th. Hobbes: Leviathan. Ed. C. B. Macpherson (= Lev.). Harmondsworth 1972.

Hier: Lev 253.

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3. Erste systematische Überlegung - Despotismus und Paternalismus bend, und PI führt auch nichts außer D an, wenn die Frage gestellt wird, warum P 2 sich PI unterwerfen sollte.

Grundlage für diese Definition ist die von Kallikles/Thrasymachos vorgebrachte Pleonexia-Lehre, nicht etwa die Rede vom Nomos der Natur; denn der sich despotisch Gebärdende gibt keine Erklärung für sein Verhalten, er droht lediglich mit Konsequenzen. Auch auf sein Mehr-Haben-Wollen verweist er nicht ausdrücklich. Er stellt es vielmehr durch sein Verhalten aus. Den Hinweis auf seine Pleonexia muß sich also der von ihm Bedrohte selber geben, wenn er sich fragt: Warum tut er mir das an? Despotische Gewalt ist in der Tat stumm 2 - sieht man von dem Befehl ab, der sie begleitet. Paternalistischen Charakter nimmt die Beziehung zwischen mindestens zwei Personen an, wenn die mit Q bezeichneten Stelle besetzt wird. Dies schränkt zugleich die Zahl möglicher Anweisungen (A) ein, welche PI erteilen, sowie der Druckmittel (D), welche PI einsetzen könnte. Die Definition lautet: Pt -

bezeichnet das Verhältnis zwischen mindestens zwei Personen (P h P2 ). Eine von beiden, P j, beansprucht für gewisse Anweisungen (A), welche sie an P2 richten mag, unbedingten Gehorsam. Nötigenfalls ist sie dazu bereit, ihren Willen durch Einsatz gewisser Druckmittel (D) durchzusetzen, von denen sie weiß, daß P2 sie nicht zu ertragen in der Lage oder willens ist. PI erwartet hier allerdings, daß P2 sich nicht nur aufgrund von D unterwirft. PI führt nämlich, wenn gefragt wird, warum P2 sich PI fügen sollte, eine oder mehrer Qualitäten Q an, welche PI angeblich auszeichnen und aus deren Besitz folgen soll, daß PI berechtigt sei, P2 Anweisungen zu erteilen; D habe also nur die Funktion, diese Befugnis wirkungsvoll zum Ausdruck zu bringen, wenn P 2 temporär oder aber auch grundsätzlich nicht einzusehen vermöchte, daß Q vorliege oder daß Q überhaupt zu etwas berechtige.

Die Bezeichnung ,Paternalismus' legt es nahe, Q zunächst mit der Eigenschaft Vater von P2 zu besetzen. Damit läge nicht nur eine biologische Qualität vor, sondern auch eine gewisse Verpflichtung, welche PI P 2 gegenüber hat oder zu haben glaubt, etwa bestimmte erzieherische Aufgaben, gewisse Schutzfunktionen, Fürsorgepflichten. Daher wird P j, wenn sie ihre Verpflichtungen ernst nimmt und ernst zu nehmen überhaupt in der Lage ist, nicht jede Anweisung (A) an P2 richten. Ein Befehl nämlich, der prädefinierten oder intuitiv erfaßten Erziehungs- und Fürsorgezielen widerspricht, der gar die Sicherheit von P2 gefährdet oder zumindest als gefährdend empfunden wird, verbietet sich. Auch die Druckmittel finden hier eine Grenze. 2 Vgl. H. Arendt: Macht und Gewalt (= MuG). 3. Auf!. München 1975, 20; dies.: Über die Revolution. Erstmals: On Revolution. New York 1963 (= ÜR). 3. Auf!. der Neuausgabe 1974. München 1986,20.

3. Erste systematische Überlegung - Despotismus und Paternalismus

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Diese Bestimmungen ergeben sich aus der Platonischen Lehre vom Philosophenkönig, der ja nichts anderes ist, als der fürsorgliche Hausvater, welcher den unmündigen Bürgern zeigt, was in welcher Lage zu tun ist. Diesen paternalistischen Regenten verweist Aristoteles dann ins Haus und setzt ihn als Vater über die Kinder. Die damit vollzogene Oikos-Polis-Trennung sorgt zugleich dafür, daß Soziales und Politisches auseinandergehalten werden. Von nun an wird das Adjektiv ,paternalistisch' politiktheoretisch zu einem Vorwurf, der sich enthymematisch verwenden läßt, denn hinter ihm steht unausgesprochen die Kritik, der so Bezeichnete verwechsle Haus und Staat. Macht man den Vorwurf ausdrücklich, dann lassen sich vier Gründe ins Feld führen, mit denen man zu zeigen versucht, daß eine als patemalistisch ausgegebene Beziehung despotischen Charakter habe: (l) Man kann bestreiten, daß Q vorliege.

(2) Wenn man zugesteht, daß Q vorliege, dann läßt sich negieren, daß Q überhaupt irgendeine Verfügungsgewalt über andere Personen mit sich bringe. (3) Wenn man zugesteht, daß Q vorliege und obendrein zu gewissen Anweisungen berechtige, dann kann man im Falle einer ganz bestimmten Aufforderung anzweifeln, daß diese mit den Verpflichtungen übereinstimme, welche Q mit sich bringt. (4) Wenn man zugesteht, daß Q vorliege, daß Q zu gewissen Anweisungen berechtige und daß ein ganz bestimmter Befehl den mit Q verbundenen Verpflichtungen nicht widerspreche, dann läßt sich immer noch im Falle einer bestimmten Drohung, welche zur Durchsetzung der Anweisung erfolgt, behaupten, daß diese den Obligationen dessen zuwiderlaufe, der sie ausspricht. Bezieht man diese Vorwürfe auf familiäre Verhältnissee, dann lassen sie sich so exemplifizieren: Der erste Fall liegt vor, wenn ein Sohn sich seinem Stiefvater mit Hinweis darauf widersetzt, daß er nicht sein biologischer Erzeuger sei; der zweite hingegen, wenn zwar zugestanden wird, daß sich Väter und Stiefväter nicht wesentlich unterscheiden, wenn man allerdings anzweifelt, daß Väter oder Stiefväter in irgendeiner Hinsicht ihren Söhnen gegenüber weisungsberechtigt seien. Im dritte Falle gesteht der Sohn zu, was er im zweiten angezweifelt hat, weist allerdings darauf hin, daß eine bestimmte Anweisung sich mit der Vaterrolle nicht vereinbaren lasse. Im letzten Falle schließlich wird auch die vom Vater erteilte Anweisung akzeptiert, die mit ihr verbundene Drohung allerdings kritisiert, etwa wenn im Falle einer Weigerung des Sohnes, dem Befehl Folge zu leisten, schwere körperliche Züchtigung angekündigt wird, welche zu dauerhaften Gesundheitsschäden führt. Die Fälle sind nach dem Grade der Radikalität geordnet, mit der die Autorität von PI in Frage gestellt wird. Der in jedem Falle erhobene Vorwurf allerdings ist immer der gleiche. Er lautet: Mir eine solche Anweisung zu geben, ist despotisch.

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3. Erste systematische Überlegung - Despotismus und Paternalismus

Politisch gewendet lassen sich diese Vorwürfe mit Platons Seefahrergleichnis exemplifizieren. Hier behaupten die Matrosen dem Steuermann gegenüber, man könne von der Seefahrt gar nichts wissen, er habe also keine Fähigkeiten, welche die ihren überstiegen. Was bei Platon einfach als Unverschämtheit machthungriger Ignoranten 3 auftritt, gewinnt auf dem Hintergrund der Aristotelischen Ontologie, welche eine eigentümliche Sphäre der Praxis kennt, ein ganz neues Gesicht; denn im Bereich des Handeins verhalten sich die Dinge nicht immer auf die gleiche Weise. Daher ist der sich paternalistisch gebende Anspruch des Steuermanns in der Tat nicht zu rechtfertigen. ,Paternalistisch' heißt mithin genau dasjenige Verhältnis zwischen mindestens zwei Personen, welches die eine aus Gründen über die andere setzt, die beide als hinreichend empfinden, eine derartige Ungleichheit und die mit ihr verbundenen Befugnisse - sei es für einen gewissen Zeitraum, sei es auf Dauer - zu legitimieren. Vorausgesetzt wird hier immer die Insuffizienz einer Person bzw. Personengruppe und die Fähigkeit einer anderen überlegenen Person oder Personengruppe diesen Mangel abzubauen oder wenigstens zu kompensieren4 . Sich in paternalistische Verhältnisse zu begeben, heißt daher immer zuzugestehen, daß man etwas noch nicht oder überhaupt niemals ohne fremde Hilfe bewerkstelligen kann. Vorgetäuscht, i. e. despotisch, ist der Paternalismus genau dann, wenn entweder gar keine Insuffizienz vorliegt, oder wenn eine solche Schwäche zwar vorhanden ist, derjenige aber, der behauptet, sie abbauen zu können, dazu nicht in der Lage ist, oder schließlich, wenn man durchaus von einem Defizit auf der einen und der Fähigkeit, es zu beseitigen, auf der anderen Seite sprechen kann, der vermeintliche Helfer sich aber durch inadäquate Anweisungen oder Drohungen desavouiert. Eine eigentümliche Mischung aus Despotismus und Paternalismus hat Tocqueville am Ende seines berühmten Amerika-Buches5 beschrieben. Er präsentiert sie in Form einer Ahnung dessen, was als eine neue Form des Politischen heraufziehen könnte. Zunächst werden die Regierten näher gekennzeichnet. Sie sind einander völlig gleichgestellt. Diese Gleichheit äußert sich auch in ihrer 3 Von den Matrosen heißt es: fttl1:E ftu80vta :rtp:rW1:E 1:~V 1:EXVljV fttl1:E EXOV"tU a:rtoöEL;UL ÖLMoxUAOV EUUWU ftljÖE XQovov Ev