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German Pages 494 Year 2001
EDWIN CZERWICK
Bürokratie und Demokratie
Beiträge zur Politischen Wissenschaft Band 121
Bürokratie und Demokratie Grundlegung und theoretische Neustrukturierung der Vereinbarkeit von öffentlicher Verwaltung und demokratischem System
Von Edwin Czerwick
Duncker & Humblot · Berlin
Die Deutsche Bibliothek- CI?-Einheitsaufnahme Czerwick, Edwin: Bürokratie und Demokratie : Grundlegung und theoretische Neustrukturierung der Vereinbarkeit von öffentlicher Verwaltung und demokratischem System I Edwin Czerwick. Berlin: Duncker und Humblot, 2001 (Beiträge zur politischen Wissenschaft ; Bd. 121) Zugl.: Koblenz, Landau, Univ., Abt. Koblenz, HabiL-Sehr., 1998 ISBN 3-428-10414-5
Alle Rechte vorbehalten
© 2001 Duncker & Humblot GmbH, Berlin
Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0421 ISBN 3-428-10414-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 §
Vorwort Die öffentliche Verwaltung ist bei fast allem, was Menschen tun, direkt oder indirekt zugegen. Ihre Allgegenwart hat sie in Verbindung mit ihren auf Ordnung und Herrschaft gerichteten Eingriffen in das gesellschaftliche Leben zu einem bevorzugten Thema öffentlicher Diskurse gemacht, sei es in den Parlamenten, an den Stammtischen der Wirtshäuser, in Intellektuellenzirkeln oder in den Medien. Auch Literaten, Soziologen, Historiker, Juristen, Ökonomen und Politikwissenschaftler haben sich immer wieder mit ihr aus den verschiedensten Blickwinkeln auseinandergesetzt, ohne jedoch ihrer organisatorischen Vielfalt und mehrdimensionalen Eigenrationalität sowie ihren gesellschaftlichen Funktionen gerecht werden zu können. Die öffentliche Verwaltung entzieht sich schon wegen ihrer Komplexität dem Zugriff und der Erklärung durch einzelne wissenschaftliche Disziplinen. Beschreibungen und Erklärungen öffentlichen Verwaltens sind deshalb immer wieder Herausforderungen für ein interdisziplinäres oder transdisziplinäres Untersuchungsdesign. Dieses macht einzelwissenschaftliche Analysen nicht entbehrlich, läßt ihren begrenzten Blickwinkel dafür aber um so deutlicher zu Tage treten. Selbst die Politikwissenschaft vermag solchen Beschränkungen nicht zu entgehen, doch ist sie noch am ehesten in der Lage, einzelwissenschaftlich bedingte Perspektivenverengungen zu überwinden. Vor allem verfügt sie über das notwendige theoretische und analytische Rüstzeug, um die politische Bedeutung der öffentlichen Verwaltung und ihre Stellung innerhalb einer demokratischen Gesellschaft näher zu bestimmen. Von besonderem Interesse sind dabei Antworten auf die immer wieder aufgeworfene Frage, wie öffentliche Verwaltungen und demokratische Systeme organisiert sein müssen, um einerseits ihre jeweilige Eigenrationalität verwirklichen zu können, ohne sich andererseits wechselseitig zu blockieren. Insofern sind Einsichten in die Möglichkeiten und Grenzen der Vereinbarkeil von demokratischem System und öffentlicher Verwaltung nicht nur von theoretischem Interesse, sondern daraus können auch unmittelbare praktische Konsequenzen gezogen werden. Wie eng demokratisches System und öffentliche Verwaltung miteinander verbunden sind, haben vor allem die Verwaltungsbeamte erfahren, die im Zuge der Wiederherstellung der deutschen Einheit in den neuen Bundesländern ihren Dienst versahen. Im Mittelpunkt der Arbeit, die als Habilitationsschrift an der Universität Koblenz-Landau im Jahre 1998 angenommen worden ist, steht zum einen die Aufarbeitung der wissenschaftlichen Diskussion über das Verhältnis von demokratischem System und öffentlicher Verwaltung. Zum anderen wird hieran anschließend untersucht, wie die Vereinbarkeit von demokratischem System und öffentlicher
Vorwort
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Verwaltung in der Bundesrepublik Deutschland strukturell abgesichert ist. Die Habilitationsschrift wurde für die Veröffentlichung überarbeitet, wobei die Literatur bis Anfang 2000 berücksichtigt wurde. Von den vielen Menschen, die in jeweils unterschiedlicher Weise am Zustandekommen der Arbeit beteiligt waren, erlaube ich mir nur wenige hervorheben. Danken möchte ich Herrn Professor Dr. Heinz Vogelsang, Leiter des Instituts für Politikwissenschaft an der Universität Koblenz-Landau in Koblenz, der mich nicht nur nachdrücklich zu dieser Studie ermutigt hat, sondern der mir auch den dafür notwendigen Freiraum gewährt hat. In großer Dankbarkeit bin ich meinem Freund Professor Dr. Ulrich Sarcinelli verbunden, der mir immer mit Rat und Tat sowie konstruktiver Kritik zur Seite gestanden hat. Zu danken habe ich aber auch Frau Karin Adelfang und Herrn Sven Rischen, die mir bei der Erstellung der Druckvorlage eine unentbehrliche Hilfe gewesen sintd. Untershausen, den 20. April 2001
Edwin Czerwick
Inhaltsverzeichnis I. Grundlegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Demokratisches System und öffentliche Verwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2. Die Diskussion über das Verhältnis von demokratischem System und öffentlicher Verwaltung in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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a) Überlegungen zur Demokratisierung der öffentlichen Verwaltung in der Weimarer Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
27
b) Die wissenschaftliche Diskussion über eine demokratische öffentliche Verwaltung in der Bundesrepublik Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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aa) Politikwissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
40
bb) Verwaltungswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
46
cc) Staatswissenschaft(en) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
52
dd) Verwaltungslehre, Verwaltungsrecht und Verwaltungsverfahrensrecht . . . .
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ee) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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3. Problematisierung des Verhältnisses zwischen Demokratie und Bürokratie . . . . . .
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a) Die Grundlegung des Verhältnisses von Demokratie und Bürokratie durch Max Weber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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b) Nichtvereinbarkeil von Demokratie und Bürokratie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
78
c) Theoretische Ansätze zur Vereinbarkeil von Demokratie und Bürokratie . . . . .
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aa) Das Konzept der responsiven Bürokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
87
bb) Repräsentative Bürokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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cc) Das Konzept der legislatorisch gesteuerten Bürokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 dd) Pluralistische Bürokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 ee) Partizipatorische Bürokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 ff) Rätedemokratische Bürokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120
d) Bürokratie als demokratisches und demokratietheoretisches Problem . . . . . . . . 124
8
Inhaltsverzeichnis
II. Theoretische Neustrukturierung des Verhältnisses von Demokratie und Bürokratie. .. .................... . ... . .. ........... . ...... . . . .. ................. . ... . . . 128 I. Rationalität(en) als Handlungsprärnisse(n) sozialer Systeme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128
2. Die Theorien der "strukturellen Kopplung" und der ,.lnterpenetration" . . . . . . . . . . 133 3. Demokratische und bürokratische Rationalitätskriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 a) Rationalitätskriterien "der" Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 aa) Offenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . !51 bb) Revidierbarkeit...................... . ...... . ... . .......... . ...... . ...... 153 cc) Konkurrenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 dd) Öffentlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 ee) Gleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 ff) Konsequenzen demokratischer Rationalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 b) Bürokratische Rationalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 aa) Orientierung an Gesetzen und Vorschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 bb) Sachbezogenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 cc) Routine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . 177 dd) Geheimhaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 ee) Kollegialität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 ff) Konsequenzen bürokratischer Rationalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 c) Strukturelle Kopplung von Demokratie und Bürokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189
111. Praxis in der Bundesrepublik Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 I. Strukturelle Kopplung zwischen Politik und Ministerialverwaltung . . . . . . . . . . . . . 195
a) Politik und Verwaltung als "autonome" soziale Systeme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 aa) Erklärungsansätze zum Verhältnis von Politik und öffentlicher Verwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 bb) Unterschiede zwischen Politik und Ministerialverwaltung als Voraussetzung für strukturelle Kopplung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 cc) Zur wechselseitigen Beobachtung von Politik und Ministerialverwaltung
210
b) Politische Rationalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 aa) Öffentlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 bb) Konkurrenz .. .. .. . . . . .. . .. .. .. . . .. . . . .. . . . . .. .. .. . .. . . . . .. . .. . . . . . .. . .. . 229 cc) Opportunismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232
Inhaltsverzeichnis
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dd) Allzuständigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 ee) Innovation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 ff) Das Verhältnis zwischen demokratischer und politischer Rationalität . . . . 239
c) Der Vollzug der strukturellen Kopplung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 aa) Anschlüsse zwischen politischen und bürokratischen Rationalitätskriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 bb) Kommunikation zwischen Politik und Ministerialverwaltung . . . . . . . . . . . . 252 cc) Die Infonnalität der strukturellen Kopplung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 d) Institutionalisierungen struktureller Kopplungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 aa) Akteure struktureller Kopplung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 bb) Verankerung und Absicherung der strukturellen Kopplung . . . . . . . . . . . . . . . 268 e) "Politisierung" und "Demokratisierung" der Ministerialverwaltung . . . . . . . . . . 270 2. Prozesse der strukturellen Kopplung zwischen demokratischem System und öffentlicher Verwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278 a) Die Unabhängigkeit der öffentlichen Verwaltung gegenüber dem demokratischen System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 aa) Die Eigenständigkeil der öffentlichen Verwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 bb) Rechtliche Bindungen der öffentlichen Verwaltung an das demokratische System . . ................ . ......... . ....... . .......... . ..... . .... . .. . .. . . 286 b) Demokratisches System und öffentliche Verwaltung im Bewußtsein des Verwaltungspersonals . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294 aa) Demokratisches Bewußtsein und bürokratische Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 bb) Ablösung und Ergänzung bürokratischer durch demokratische Rationalitätskriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302 cc) Strukturelle Kopplung zwischen demokratischen und bürokratischen Bewußtseinselementen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310 c) "Kooperative Verwaltung" als aktuelle Erscheinungsform einer demokratisierten öffentlichen Verwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318 aa) Kooperative Verwaltung in der wissenschaftlichen Diskussion . . . . . . . . . . . 319 bb) Entwicklung und Merkmale kooperativer Verwaltung ............. . . .. . . 326 cc) Bürokratische und demokratische Rationalität in der kooperativen Verwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 328 dd) Das demokratische Potential der kooperativen Verwaltung . . . . . . . . . . . . . . . 334 d) Die "Selbstdemokratisierung" der öffentlichen Verwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 aa) Mitentscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 bb) Enthierarchisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345
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Inhaltsverzeichnis cc) Bürgemähe
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dd) Kornmunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357 ee) Partizipation . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . 367 3. Die Demokratisierung der öffentlichen Verwaltung im demokratischen System der Bundesrepublik Deutschland .. . . . . . .. . . . .. . . . . . . .. . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . .. . 378 IV. Folgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383
1. Demokratische Verwaltung in einer demokratischen Gesellschaft: Chancen und Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395 Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 470 Sachwortverzeichnis . . .. . . ... . .. .. .. .. .. .. .. .. . . ...... .. .... ..... .. . . . . . .. .... .. . . .. .. 473
I. Grundlegung 1. Demokratisches System und öffentliche Verwaltung Die öffentliche Verwaltung ist in den letzten Jahren einmal mehr zum Gegenstand kontroverser öffentlicher Debatten geworden. Die vielfältigen und nachhaltig wirksamen weltweiten Veränderungen in Gesellschaft, Wirtschaft und Politik haben zwangsläufig die Frage nach der aktuellen und zukünftigen Rolle der öffentlichen Verwaltung in den Mittelpunkt des Interesses treten lassen. Das gilt auch und gerade für die deutsche Verwaltung, von der angenommen wird, daß sie sich in einer Umbruchssituation befindet. Von daher ist auch die verstärkt zu beobachtende Suche nach grundlegenden Deutungen und Interpretationen der historischen Entwicklung, des gesellschaftlichen Stellenwerts und der gesellschaftlichen Funktionen und Wirkungen öffentlichen Verwaltens nur allzu verständlich. 1 Ohne Zweifel wirken sich die Maßnahmen zur Angleichung der Lebensverhältnisse in Deutschland, die voranschreitende europäische Integration, die weltwirtschaftliehen Umbrüche, die nur sehr oberflächlich mit dem Begriff der "Globalisierung" beschrieben werden können, sowie die staatlichen Finanzprobleme in kaum zu überschätzender Weise auf die organisatorischen Strukturen, die HandJungsformen sowie auf die Denkstrukturen in der öffentlichen Verwaltung aus. Unklar und strittig ist dabei aber, in welcher Richtung sich die Verwaltung verändern wird. Diese Unsicherheit zeigt sich auch in der Terminologie. So spricht man von der modernen oder postmodernen Verwaltung, von der postbürokratischen Verwaltung, von der postindustriellen und entfesselten Verwaltung, von der Risikoverwaltung oder von der Gewährleistungsverwaltung, um nur einige der geläufigsten Termini anzuführen. Trotz aller Unsicherheit über die zukünftige Entwicklung der Verwaltung, Jassen sich gleichwohl intensive Bemühungen erkennen, die in Richtung Privatisierung, Deregulierung und Entstaatlichung weisen. Nicht zuletzt angesichts knapper Haushaltskassen und einer beachtlichen Staatsverschuldung halten die politisch Verantwortlichen nach Möglichkeiten Ausschau, die Haushaltsdefizite zu verringern. Daher ist es kein Wunder, daß angesichts eines relativ hohen Kostenanteils des Verwaltungspersonals an den Ausgaben von Bund, Ländern und Kommunen auch die öffentlichen Verwaltungen zu einem wichtigen Objekt von Einsparwünschen werden, zumal gerade im öffentlichen Dienst unausgeschöpfte Sparpotentiale vermutet werden, die man ohne größere administrative Leistungseinbußen realisieren zu I
Siehe hierzu den breit angelegten Überblick bei Ruck 1997 und 1998.
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I. Grundlegung
können glaubt. 2 Neben Fragen des finanziellen Aufwands, des administrativen Haushaltsgebarens und der Wirtschaftlichkeit geht es gleichermaßen aber auch um die gesellschaftlichen und politischen Voraussetzungen, Rahmenbedingungen und Konsequenzen öffentlichen Verwaltens. In diesem Zusammenhang werden vor allem das umfangreiche rechtliche Regelwerk, die vermeintlich langsamen organisatorischen Abläufe sowie die angeblich zu geringe Leistungsfähigkeit und -bereitschaft des Verwaltungspersonals und seine "Privilegien" angeprangert. Da befürchtet wird, daß sich aus allen diesen negativen Begleiterscheinungen Gefährdungen für die internationale Konkurrenzfähigkeit des "Wirtschaftsstandorts Deutschland" ergeben könnten, werden Verwaltungsreformen zur Voraussetzung für die Überlebensfähigkeit nicht nur der deutschen Wirtschaft, sondern auch der Demokratie in der Bundesrepublik stilisiert. 3 Inwieweit eine derartige Situationsbeschreibung jedoch die Realität der öffentlichen Verwaltung angemessen widerspiegelt, soll hier nicht entschieden werden. Fest steht aber, daß der öffentliche Dienst zum Sündenbock für eine Vielzahl wirtschaftlicher, politischer und sozialer Schwierigkeiten gemacht wird.4 Gleichzeitig wird er aber auch, und dies mag paradox erscheinen, zur Lösung der Probleme herangezogen, die er angeblich oder tatsächlich mit verursacht hat. Durch Maßnahmen wie Deregulierungen, Verwaltungsvereinfachungen, "Lean Administration" oder die Einführung von Managementtechniken und Wettbewerb soll die Verwaltung "fit für die Zukunft" gemacht werden und dazu beitragen, daß die anstehenden gesellschaftlichen Probleme in Zukunft effizienter und effektiver gelöst werden können. 5 In der Regel liegt den Diskussionen über die Reform der öffentlichen Verwaltung, die sich nicht selten populistischer Argumente bedienen und häufig auf einer ökonomisch verengten Perspektive beruhen, ein höchst widersprüchliches Rollenverständnis und Verwaltungsbild zugrunde. Einerseits wird suggeriert, daß sich die Verwaltung zu einem Fremdkörper entwickelt habe, der weder den Imperativen des demokratischen Systems noch denen des Wirtschaftssystems gerecht wird. Ihre allgegenwärtige Präsenz im gesellschaftlichen Leben enge, so der ständige Vorwurf, die Entfaltungsmöglichkeiten und die freie Selbstbestimmung der Bürger und der Wirtschaft unnötig ein. Andererseits hofft man aber auch, durch entsprechende Reformen und intensivere Kontrollen die Verwaltung wieder mehr an das demokratische System heranführen zu können. Allerdings leiden die diesbezüglichen Vorschläge und Maßnahmen häufig daran, daß sie die Verwaltung von ihren 2 Es ist an dieser Stelle nicht möglich, auch nur einen kurzen Einblick in die vielfältigen Aktivitäten, Kontroversen, Gutachten usw. zu geben, die sich aktuell mit der "Modemisierung" der öffentlichen Verwaltung befassen. Als Einstieg in die Diskussion empfehlenswert Brinckmo.nn 1994 sowie der Überblick bei Czerwick 1996. 3 Budäus/Grüning (1997, S. 91) scheuen sich nicht, sogar von einer möglichen Staatskrise zu sprechen. 4 /sensee 1998. 5 Vgl. hierzu Damkowski/Precht (Hrsg.) 1998.
1. Demokratisches System und öffentliche Verwaltung
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vielfältigen und komplexen sozialen und politischen Bezügen und Verbindungen isolieren6 und mit mikroökonomisch ausgerichteten Produktivitätsbegriffen arbeiten, die den Besonderheiten des öffentlichen Dienstes und seinen gesellschaftlichen Aufgaben nur sehr unzureichend gerecht werden? Dabei dürfte doch gerade das Schicksal friiherer Verwaltungsreformen nachdriicklich verdeutlicht haben, daß eine "Modernisierung" der Verwaltung ohne gleichzeitige Einbeziehung ihrer Umwelt mit einer Vielzahl von negativen Begleiterscheinungen einhergeht, sofern sie nicht überhaupt zum Scheitern verurteilt ist. Eine Reform der öffentlichen Verwaltung kann ihre intendierten Ziele nur im Rahmen eines umfassenderen Reformprozesses erreichen, der Politik, Wirtschaft und Gesellschaft mit einschließt. Ein solcher erweiterter Reformansatz setzt jedoch sowohl klare Vorstellungen von den gesellschaftlichen und politischen Rollen der Verwaltung als auch vertiefte Kenntnisse über die Bedeutung voraus, die sie innerhalb des demokratischen Systems und für das demokratische System hat. Aber genau hier bestehen die größten Mängel. Generell läßt sich nämlich feststellen, daß das Verhältnis zwischen demokratischem System und öffentlicher Verwaltung noch in vielerlei Hinsicht ungeklärt ist. Ließe sich dieser Zustand beseitigen, wäre damit eine wichtige Voraussetzung erfüllt, um Reformvorschläge konzeptionell breiter und differenzierter anlegen und Möglichkeiten, Widerstände und Auswirkungen von Verwaltungsreformen besser abschätzen sowie undifferenzierter Bürokratiekritik leichter entgegentreten zu können. Hierzu möchte die Arbeit einen Beitrag leisten. Das Erkenntnisinteresse der Arbeit ist auf das Verhältnis von Demokratie und Bürokratie gerichtet. Dabei wird an eine Denktradition angeknüpft, die in einer demokratischen öffentlichen Verwaltung eine zentrale Voraussetzung und einen integralen Bestandteil demokratischer Systeme erblickt. Denn: "The reality of democracy lies in the quality of the relationships it achieves through its public service apparatus. " 8 Vor den Herausforderungen, die sich hinter diesem Satz verbergen, stehen heute vor allem die osteuropäischen Staaten, die eine in vielfältiger Hinsicht ineffiziente, korrupte, rechtsstaatliche Grundsätze ignorierende kommunistische Kaderverwaltung in eine demokratische Verwaltung transformieren müssen. Weil der demokratische Staat nicht allein auf demokratischen Prinzipien aufbauen kann, sondern auch demokratisch verwaltet werden muß, stellt sich die Frage, wie und in welcher Weise die Verwaltungen darin integriert sein sollen, welche Rolle und Funktionen sie innerhalb der demokratischen Systeme spielen (sollen) und inwieweit sie für diese ein beförderndes und stärkendes oder ein sie schwächendes Element darstellen. 9 Bedenkt man, daß öffentliche Verwaltungen in der Regel über sehr viel Macht verfügen und mit ihren Maßnahmen ständig direkt oder indirekt in Vgl. aber Weber 1994, S. 256 ff. und S. 272. Zu erweiterten Produktivitätsbegriffen wie sie in den Konzepten der Sozialbilanz und der Ökobilanz oder in gesamtgesellschaftlichen Performanz-Analysen, wie z. B. anband von "Sozialen Indikatoren", Verwendung finden, siehe Pfaff 1994, S. 21 - 32. 8 Gawthrop 1987, S. 213. 9 Bleicken 1991, S. 183- 194. 6
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I. Grundlegung
das Leben und die Freiheit der Menschen eingreifen, dann ist es unmittelbar einleuchtend, daß eine der zentralen Aufgaben eines jeden demokratischen Systems darin besteht, wie und in welcher Form es das "Bürokratieproblem" löst bzw. gelöst hat. Dementsprechend wird im Umgang mit der Verwaltung die eigentliche Aufgabe der Demokratie gesehen. Stellvertretend für viele sei Thomas G. Masaryk zitiert: "Die Demokratie ist heute eigentlich keine Volksregierung, sondern eine Volksverwaltung - die Administration ist die eigentliche Aufgabe der Demokratie."10 Dementsprechend wird in der wissenschaftlichen Literatur nahezu einhellig die Auffassung vertreten, daß demokratische Systeme nur überleben können, wenn sichergestellt ist, daß die öffentlichen Verwaltungen ein Mindestmaß an struktureller Komplementarität zu demokratischen Normen, Institutionen und Prinzipien aufweisen. Strittig ist nur, wie sehr die Verwaltungen selbst sowohl nach innen als auch nach außen demokratisiert sein müssen, damit sie demokratischen Systemen zum Nutzen und nicht zum Schaden gereichen. In diesem Sinne ist die Ausgestaltung des Verhältnisses von Demokratie und Bürokratie bzw. von demokratischem System und öffentlicher Verwaltung von zentraler praktischer Bedeutung für jede Gesellschaft, für ihre den Menschen eröffnenden Freiheitsgrade und politischen Partizipationsmöglichkeiten ebenso wie für ihre Innovationskraft und Leistungsfähigkeit. Gegenstand der Arbeit ist deshalb das Verhältnis von Demokratie und Bürokratie im allgemeinen und die Wechselbeziehungen zwischen demokratischem System und öffentlicher Verwaltung in der Bundesrepublik Deutschland im besonderen. Struktur und Praxis der deutschen Demokratie und der in ihrem Kontext agierenden öffentlichen Verwaltung werden in einigen wichtigen Bereichen analysiert, wobei besondere Aufmerksamkeit den Schnittpunkten von demokratischem System und öffentlicher Verwaltung geschenkt werden soll. Dabei wird davon ausgegangen, daß sich das demokratische System und die öffentliche Verwaltung in Abhängigkeit zueinander fortentwickeln. Ein Schwerpunkt der Analyse soll dabei auf der "Demokratisierung" der öffentlichen Verwaltung liegen, weil dieser Aspekt in der wissenschaftlichen Literatur häufig zu kurz kommt. Es soll dabei der Versuch unternommen werden, eine Erklärung dafür zu finden, warum sich die öffentliche Verwaltung im Verlauf der Entwicklung der Bundesrepublik immer mehr "demokratisiert" hat, wie diese "Demokratisierung" beschrieben werden kann und wo ihre Grenzen liegen. Die Arbeit wird sich also weniger damit beschäftigen, ob die öffentliche Verwaltung in der Bundesrepublik Deutschland "demokratisch" ist, wie eine demokratisch zu nennende öffentliche Verwaltung auszusehen hätte oder welche Maßnahmen zu ergreifen sind, um sie zu demokratisieren. Derartige Fragen sind entweder zu allgemein oder zu sehr normativ geprägt, als daß sie präzise beantwortet werden to Zitiert nach Batscha 1994, S. 218. Insbesondereamerikanische Autoren stellen immer wieder sehr eindringlich die Frage nach den Möglichkeiten einer Integration der Verwaltung in das demokratische System.
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könnten. Wesentlich fruchtbarer scheint dagegen eine genauere Analyse des Verhältnisses zwischen demokratischem System und öffentlicher Verwaltung im Hinblick auf die sich daraus eventuell ergebenden Konsequenzen für eine Demokratisierung der Verwaltung zu sein. Von daher wird behauptet, daß die öffentliche Verwaltung in der Bundesrepublik Deutschland nicht ausreichend beschrieben werden kann mit Hilfe von Stereotypen und Vorurteilen, die sich um Schlagwörter wie "Bürokratie" oder "Bürokratisierung" gruppieren. Natürlich können und sollen Bürokratisierungsprozesse in der Verwaltung keineswegs geleugnet werden. Sie sind zu offensichtlich, als daß man sie übersehen könnte. Gleichwohl ist ihr Erklärungswert für das administrative Handeln eingeschränkt, weil sich hinter der Fassade von Bürokratisierung Prozesse erkennen lassen, die weit über bürokratische Verhaltensformen hinausweisen und die sogar Elemente beinhalten, die als "Demokratisierung" bezeichnet werden können. Diesen Prozeß der "Demokratisierung" gilt es zu beschreiben und für ihn nach Erklärungen zu suchen. Eine solche Vorgehensweise entspricht zwar nicht der "Logik der Forschung", wie sie etwa seitens der Theorie des Kritischen Rationalismus gefordert wird und mit Hilfe des Falsifikationsprinzips angewendet werden soll. Von daher ist es auch nicht das Ziel, die These von der Demokratisierung der öffentlichen Verwaltung einem "harten" empirischen Test zu unterziehen. Stattdessen sollen solche Sachverhalte herausgestellt werden, die die Plausibilität einer "Demokratisierung" der öffentlichen Verwaltung unterstreichen. Daß die These von einer Demokratisierung der öffentlichen Verwaltung in der Bundesrepublik Deutschland keineswegs übertrieben oder unbegriindet ist, wird relativ schnell erkennbar, wenn man die Situation der öffentlichen Verwaltung von heute mit der nach 1945 vergleicht, als sie nach den Jahren der totalitären nationalsozialistischen Diktatur mit demokratischen Spielregeln konfrontiert worden ist, mit denen umzugehen sie erst lernen mußte. Wie sich zeigte, hat sich die Verwaltung auf diese Regeln eingestellt und zu ihnen schließlich eine weithin positive Einstellung entwickelt, ja man kann sogar sagen, daß der öffentliche Dienst das demokratische System in Teilbereichen gewissermaßen "verinnerlicht" hat. So läßt sich feststellen, daß sich die Wechselbeziehungen und -Wirkungen zwischen demokratischem System und öffentlicher Verwaltung im Verlauf der geschichtlichen Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland sehr stark vermehrt und intensiviert haben. Ihre Interaktionsbereiche haben sich vervielfacht, und die Dichte ihrer Beziehungen hat ebenso zugenommen wie deren Komplexität. Waren nach 1945 bzw. nach 1949 die Interaktionen vor allen Dingen rechtlich geprägt, so besitzen heute soziale, technische, kommunikative, politische und andere Faktoren eine mindestens ähnlich große Bedeutung wie rechtliche Normierungen. Allerdings hätte dieser zum Teil sehr mühselige, langwierige und keineswegs durchgängige und konfliktfreie Prozeß im Ergebnis auch dazu führen können, daß sich die öffentliche Verwaltung zu einem Fremdkörper im demokratischen System hätte entwickeln und sich demokratischen Werten und Verfahren hätte widersetzen können. Dies hätte nicht unbedingt zu aktivem Widerstand gegenüber dem demo-
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kratischen System führen müssen, sondern hätte sich auch in einem passiven Widerstand zeigen können, indem z. B. die Verwaltung versucht hätte, so viel als möglich von der Vorstellung des öffentlichen Verwaltens als eines hoheitlichen Gewerbes zu bewahren. Genau dies war und ist aber nur begrenzt der Fall, wie wir heute wissen. Zwar läßt sich nicht leugnen, daß man in Teilen des öffentlichen Dienstes demokratischen Spielregeln noch immer eher skeptisch gegenübersteht. Aber durch die enorme Ausweitung und Komplizierung der administrativen Aufgaben, die die Verwaltung enger an die demokratische Gesellschaft herangeführt haben, ergaben sich doch mit der Zeit enge Verbindungen zum demokratischen System. Von nicht zu unterschätzender Bedeutung für diese Entwicklung war (und ist), daß nach 1945 ein normativer Rahmen geschaffen worden ist, der dem öffentlichen Dienst genügend Spielraum geboten hat, sich in selbständiger Art und Weise mit dem demokratischen System auseinanderzusetzen. Und indem die öffentliche Verwaltung aktiv mit den normativen Spielregeln umging und sie dazu nutzte, ihre Eigenständigkeit als System zu reproduzieren, bestanden immer auch genügend Anreize, sie zu akzeptieren. Die Demokratisierung der öffentlichen Verwaltung wird sowohl im Hinblick auf ihre inneren Strukturen als auch in bezug auf ihr Verhältnis zur Umwelt offenbar. Zumindest gibt es genügend Anhaltspunkte, die in eine solche Richtung weisen. Im Falle der auf die inneren Strukturen gerichteten Demokratisierung zeigen sich neben der Institutionalisierung demokratischer Normen, Werte und Verfahren und deren Anwendung auch vielfältige Möglichkeiten der Mitsprache und Mitbestimmung des Verwaltungspersonals an den sie betreffenden Entscheidungen ("Partizipation"). Weiterhin erweist sich die Demokratisierung der Verwaltung in einer "inneren Gewaltenteilung", die sich u. a. in dezentralisierten Entscheidungsstrukturen und I oder in der Vorlage und Diskussion alternativer Entscheidungsprogramme zwischen verschiedenen Verwaltungseinheiten niederschlägt. Demokratisierung ergibt sich aber auch aus der "Enthierarchisierung" der Verwaltung. Hierbei stehen die Abflachung der Hierarchien durch die Delegation von Entscheidungsbefugnissen nach "unten", die Verlagerung von Tätigkeiten auf Teams und Arbeitsgruppen sowie ein "demokratischer Führungsstil", bei dem auf Einzelweisungen verzichtet und stattdessen eine generelle Entscheidungsprogrammierung bevorzugt wird, die dem Verwaltungspersonal Handlungsspielraum beläßt, im Mittelpunkt. Als Demokratisierung kann dariiber hinaus die Einführung neuer Organisationsformen wie die Selbstorganisation oder teilautonome Arbeitsgruppen sowie die Aufhebung der Diskriminierung von bestimmten Gruppen von Verwaltungsmitarbeitern (z. B. von Frauen) bezeichnet werden. Weiterhin erschließt sich eine Demokratisierung aus dem Verhältnis der öffentlichen Verwaltung zu ihrer Umwelt. Sie nimmt sehr genau Veränderungen innerhalb des demokratischen Systems und der demokratischen Gesellschaft zur Kenntnis und geht nicht selten auf die dort formulierten Erwartungen und Interessen ein. Dies wird unter anderem ersichtlich in dem Stellenwert, den die Verwaltung der Kommunikation mit der Öffentlichkeit einräumt. Des weiteren ist das von ihr in
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vielfältiger Weise praktizierte bürgernahe Verwalten ebenso Ausdruck ihrer Orientierung am demokratischen System wie der Tatbestand, daß sie sich gegenüber Bürgern und gesellschaftlichen Gruppen öffnet und ihnen Mitwirkungs- und Mitbestimmungsmöglichkeiten bei Verwaltungsentscheidungen einräumt und Informationsmöglichkeiten gewährt. Die hier angeführten Hinweise auf eine "innere" und "äußere" Demokratisierung der Verwaltung sind natürlich nicht vollständig. Sie zeigen aber den Weg an, in die sich die Demokratisierung der öffentlichen Verwaltung bewegt: Es geht unter anderem um den Abbau überschüssiger Macht, die Erweiterung der Beteiligungsmöglichkeiten und die Schaffung größerer Transparenz. Mit der Demokratisierung der öffentlichen Verwaltung ging eine (nicht kausal interpretierbare) Erweiterung und Stärkung ihrer politischen und gesellschaftlichen Rolle und Bedeutung einher. Ihre Größe stieg in personeller und finanzieller Hinsicht an, ihre Eingriffsmöglichkeiten in die gesellschaftlichen Abläufe dehnten sich aus und vervielfachten sich, ihre Kapazitäten zur Informationsverarbeitung verbesserten sich in rascher Folge usw. Insgesamt kann man diese Entwicklung als eine Zunahme von Komplexität interpretieren, durch die sie sich bemüht hat, den unterschiedlichsten Anforderungen gerecht zu werden. Die Erhöhung ihrer Eigenkomplexität zeigt sich u. a. in einer Professionalisierung des Personals, dem Ansteigen der Koordinations- und Kooperationsnotwendigkeiten sowie in einem Aufbau neuer Strukturen. Sie stellen aber nur die eine Seite des Eingehens der öffentlichen Verwaltung auf die gestiegenen Herausforderungen dar. Die andere Seite zeigt sich in Entstaatlichungsprozessen und damit in einer Vergesellschaftung des Verwaltungshandelns, das u. a. darin zum Ausdruck gelangt, daß "private" Akteure wie Beratungsfirmen, Verbände oder Unternehmen immer häufiger und intensiver an der Vorbereitung administrativer Entscheidungen beteiligt werden, daß Verwaltungsentscheidungen nicht mehr nur im hoheitlichen Sinne durchgesetzt, sondern ausgehandelt werden, wobei spezifische Anreizprogramme das Wohlverhalten der Adressaten sicherstellen sollen und daß generell den Erwartungen und Reaktionen der Öffentlichkeit eine größere Aufmerksamkeit zuteil wird. Die hier nur schlagwortartig skizzierten Entwicklungen waren und sind in der gesellschaftlichen Alltagspraxis mit einer Vielzahl von Widersprüchen und Mißverständnissen zwischen demokratischem System und öffentlicher Verwaltung verbunden und werden auch in Zukunft nicht ohne Konflikte, wie zum Beispiel zwischen politischer Führung und Verwaltung, Bürgern und Verwaltung, Verbänden und Verwaltung, sein. Dies ist auch keineswegs ungewöhnlich, denn eine Demokratisierung der öffentlichen Verwaltung bedeutet ja auch, daß bestehende politische Strukturen und Machtverhältnisse in Frage gestellt werden, und daß neue politische Arrangements, und damit auch neue Interessen- und Konfliktkonstellationen, entstehen. Wenn die angedeutete Entwicklung zu einer demokratischen oder vorsichtiger: in das demokratische System integrierten öffentlichen Verwaltung zutreffend ist, 2 Czerwick
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dann stellt sich natürlich auch die Frage, was haben demokratisches System und öffentliche Verwaltung damit zu tun, inwieweit sind sie Subjekt oder Objekt dieser Entwicklung. Eine sinnvolle Antwort auf diese Frage läßt sich nur innerhalb eines theoretischen Bezugsrahmens formulieren, in dem das Wechselverhältnis zwischen demokratischem System und öffentlicher Verwaltung eingebettet und präzisiert werden kann. Hierbei wird wiederum davon auszugehen sein, daß einerseits die öffentliche Verwaltung und das demokratische System jeweils eigenständige soziale Systeme darstellen 11 , deren Handlungen durch jeweils spezifische Rationalitäten gekennzeichnet sind, die als Handlungsprämissen fungieren und daß andererseits zwischen den beiden Systemen eine Vielzahl von Austauschprozessen stattfinden, die im Zeitablauf zu Veränderungen sowohl innerhalb des demokratischen Systems und der öffentlichen Verwaltung als auch in ihren Interaktionen miteinander führen. Nach diesen einleitenden Bemerkungen sollen nun die wesentlichen Grundzüge im Verhältnis von demokratischem System und öffentlicher Verwaltung näher erörtert werden. Wie Abbildung 1 zeigt, können ihre Wechselbeziehungen in verschiedene Richtungen hin untersucht werden.
Wirkungsobjekte
Wirkungsdimensionen Demokratisierung Bürokratisierung
Demokratisches System
Öffentliche Verwaltung
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Abb. 1: Wechselbeziehungen zwischen demokratischem System und öffentlicher Verwaltung
Das demokratische System kann zu einer Demokratisierung und I oder zu einer Bürokratisierung der öffentlichen Verwaltung beitragen. Umgekehrt kann die öffentliche Verwaltung auf eine Bürokratisierung des demokratischen Systems und/ oder auf eine Demokratisierung des demokratischen Systems hinwirken. Dies sind zunächst einmal nur theoretische Möglichkeiten. Ob sie alle in der Realität gleiII Zu den strukturellen Unterschieden von Demokratie und Bürokratie vgl. Hyden 1997, S. 244.
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ehermaßen anzutreffen sind, ob Schwerpunktbildungen erkennbar oder ob manche Möglichkeiten überh~upt nicht nachweisbar sind 12, wird noch zu prüfen sein. Der Schwerpunkt der meisten Arbeiten zum Verhältnis von Demokratie und Bürokratie bzw. von demokratischem System und öffentlicher Verwaltung lag bis jetzt, von wenigen Ausnahmen einmal abgesehen, auf einer Untersuchung der Konsequenzen, die sich aufgrund des öffentlichen Verwaltens für das demokratische System ergeben. Dagegen haben sich nur wenige Arbeiten mit den Auswirkungen des demokratischen Systems auf die öffentliche Verwaltung oder mit den wechselseitigen Einwirkungen von demokratischem System und öffentlicher Verwaltung auseinandergesetzt Diejenigen Studien, die sich mit den Folgen des öffentlichen Verwaltens auf das demokratische System beschäftigten, haben sich in den meisten Fällen damit zufrieden gegeben, einen unter demokratietheoretischen Prämissen nicht (mehr) zu rechtfertigende Bürokratisierung des demokratischen Systems und der Gesellschaft zu konstatieren. Im Kontext solcher Untersuchungen wurde die öffentliche Verwaltung zu einer Gefahr und Bedrohung für demokratische Systeme, Demokratie zu gewährleisten. Die zumindest unter theoretischen Gesichtspunkten bestehende Möglichkeit, daß öffentliche Verwaltungen ein Interesse daran haben könnten, demokratische Strukturen und Spielregeln anzuerkennen oder in ihren Handlungen Rechnung zu tragen, wurde bislang nicht näher beachtet. 13 Desgleichen blieb vielfach unberücksichtigt, daß auch ein demokratisches System für eine öffentliche Verwaltung ein Problem darstellen kann. Zu den wenigen Ausnahmen, die solche Überlegungen angestellt haben, gehören Eva Etzioni-Halevy (1985) und Walter Leisner (1979). Wahrend Etzioni-Halevy darauf hingewiesen hat, daß "democracy generates a dilemma for bureaucracy: under the present, rather inconsistent democratic rules, bureaucracy is expected to be both independent and subservient, both politicized and non-politicized at one and the same time" 14, vertritt Leisner die These, daß die parlamentarische Demokratie "aus ihrem parteipolitisch-dynamischen Wesen heraus nicht ruhen kann, bis sie an dieser Institution gerade das zurückgedrängt oder gebrochen hat, was sie am nötigsten braucht" 15 , nämlich die innere Disziplin des öffentlichen Dienstes, seine hierarchische Struktur, die unbedingte Exekution parlamentarischer Entscheidungen sowie die Kontinuität der Ämter und Kompetenzen. Ebenfalls wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde aber auch der Tatsache, daß zwischen demokratischem System und öffentlicher Verwaltung eine Vielzahl von Wechselbeziehungen bestehen, die dazu führen, daß sich beide in ihren Handlungen jeweils auch am anderen orientieren, ihn sozusagen als eine Prämisse für die eigenen Entscheidungen berücksichtigen. 12 Das könnte auf den ersten Blick vor allem für die (theoretische) Möglichkeit gelten, daß das demokratische System zu einer Bürokratisierung der öffentlichen Verwaltung beiträgt. Auf den zweiten Blick sieht man aber, daß diese Möglichkeit so unwahrscheinlich gar nicht ist (vgl. Luhmann 1987