Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft: Theoretische Grundlegung und Anwendungsperspektiven 9783110908435, 9783110180268

In this volume, concepts of memory from literary studies are systematically recorded for the first time and presented fr

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German Pages 328 [332] Year 2005

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Table of contents :
Vorwort und Dank
Inhaltsverzeichnis
ASTRID ERLL & ANSGAR NÜNNING: Literaturwissenschaftliche Konzepte von Gedächtnis: Ein einführender Überblick
GÜNTER BUTZER: Gedächtnismetaphorik
FRAUKE BERNDT: Topik-Forschung
OLIVER SCHEIDING: Intertextualität
RICHARD HUMPHREY: Literarische Gattung und Gedächtnis
MIRJAM-KERSTIN HOLL: Systemtheorie, Gedächtnis und Literatur
MICHAEL BASSELER & DOROTHEE BIRKE: Mimesis des Erinnerns
BIRGIT NEUMANN: Literatur, Erinnerung, Identität
STEPHANIE WODIANKA: Zeit - Literatur – Gedächtnis
KIRSTEN DICKHAUT: Intermedialität und Gedächtnis
CLAUDIA ÖHLSCHLÄGER: Gender/Körper, Gedächtnis und Literatur
ASTRID ERLL: Literatur als Medium des kollektiven Gedächtnisses
BETTINA BANNASCH & ALMUTH HAMMER: Jüdisches Gedächtnis und Literatur
HERBERT GRABES & MARGIT SICHERT: Literaturgeschichte, Kanon und nationale Identität
Zu den Autorinnen und Autoren
Personenregister
Sachregister
Vorwort und Dank
Inhaltsverzeichnis
ASTRID ERLL & ANSGAR NÜNNING: Literaturwissenschaftliche Konzepte von Gedächtnis: Ein einführender Überblick
GÜNTER BUTZER: Gedächtnismetaphorik
FRAUKE BERNDT: Topik-Forschung
OLIVER SCHEIDING: Intertextualität
RICHARD HUMPHREY: Literarische Gattung und Gedächtnis
MIRJAM-KERSTIN HOLL: Systemtheorie, Gedächtnis und Literatur
MICHAEL BASSELER & DOROTHEE BIRKE: Mimesis des Erinnerns
BIRGIT NEUMANN: Literatur, Erinnerung, Identität
STEPHANIE WODIANKA: Zeit - Literatur – Gedächtnis
KIRSTEN DICKHAUT: Intermedialität und Gedächtnis
CLAUDIA ÖHLSCHLÄGER: Gender/Körper, Gedächtnis und Literatur
ASTRID ERLL: Literatur als Medium des kollektiven Gedächtnisses
BETTINA BANNASCH & ALMUTH HAMMER: Jüdisches Gedächtnis und Literatur
HERBERT GRABES & MARGIT SICHERT: Literaturgeschichte, Kanon und nationale Identität
Zu den Autorinnen und Autoren
Personenregister
Sachregister
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Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft: Theoretische Grundlegung und Anwendungsperspektiven
 9783110908435, 9783110180268

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Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft

Media and Cultural Memory/ Medien und kulturelle Erinnerung Edited by / Herausgegeben von Astrid Erll . Ansgar Nünning

Editorial Board / Wissenschaftlicher Beirat Aleida Assmann . Mieke Bai' Marshall Brown . Vita Fortunati Udo Hebel' Gabriele Helms' Claus Leggewie Gunilla Lindberg-Wada . Jürgen Reulecke . Jean Marie Schaeffer Jürgen Schlaeger . Siegfried 1. Schmidt . Werner Sollors Frederic Tygstrup . Harald Welzer

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Walter de Gruyter . Berlin . New York

Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft Theoretische Grundlegung und Anwendungsperspektiven Herausgegeben von Astrid ErB· Ansgar Nünning unter Mitarbeit von Hanne Birk . Birgit Neumann

Walter de Gruyter . Berlin . New York

@l Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

ISSN 1613-8961 ISBN 3-11-0 18026-X ISBN 978-3-11-018026-8 Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

© Copyright 2005 by Walter de Gruyter GmbH &

Co. KG, D-10785 Berlin

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für VervieWiltigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: Christopher Schneider, Berlin

Vorwort und Dank Der Gedächtnis-Begriff ist aus der kulturwissenschaftlichen und interdisziplinär ausgerichteten Forschung heute kaum mehr wegzudenken. Wo verortet sich die Literaturwissenschaft innerhalb dieser Diskussion? Welche Beiträge kann sie zur kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung leisten? Ziel dieses Handbuchs ist es, Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft erstmals systematisch zu erfassen, unter wissenschaftsgeschichtlichem, theoretischem und methodischem Gesichtspunkt darzustellen sowie Anwendungsperspektiven für die literatur- und kulturwissenschaftliche Forschung aufzuzeigen. Es geht darum, einen genuin disziplinären Beitrag zu der transdisziplinär geführten Diskussion um Gedächtnis und Erinnerungskulturen zu leisten. Die Literaturwissenschaft soll mit diesem Handbuch als eine eigenständige Erkenntnisform des erinnerungskulturwissenschaftlichen Feldes konturiert werden, aus der ebenso spannende wie belangvolle Einsichten in individuelle und kollektive Gedächtnisprozesse hervorgehen. Die dreizehn von Germanist/ inn/ en, Romanist/ inn/ en und Anglist/ inn/ en verfassten Beiträge des Handbuchs repräsentieren das breite Spektrum literaturwissenschaftlicher Zugänge zum Gedächtnis: Klassische Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft wie Topik, Intertextualität, Kanon und Literaturgeschichtsschreibung erfahren eine kulturwissenschaftliche Perspektivierung. Literarischkünstlerische Verfahren wie Metaphorik, Gattungskonventionen und narrative Inszenierungen des Erinnerns werden in ihrer gedächtnisförmigen, -abbildenden und -bildenden Dimension erschlossen. Literatur wird zu zentralen thematischen Paradigmen der Erinnerungskulturen-Forschung, wie Zeit, Identität und jüdisches Gedächtnis, in Bezug gesetzt. Dargestellt werden schließlich auch Konzepte, die sich neuere theoretische Ansätze, von der Kognitionspsychologie über die Systemtheorie und Medientheorien bis hin zu den Gender Studies, zu Eigen machen, um Literatur als Teil der kulturellen Erinnerungspraxis zu untersuchen. Jeder Beitrag stellt die Geschichte des jeweiligen Gedächtniskonzepts vor und erörtert Vorläufer, einflussreiche Werke, theoretische Grundlagen, zentrale Begriffe, Modelle und Standardwerke. Dabei werden sowohl die mit dem jeweiligen Konzept verbundene spezifische Methodik als auch interdisziplinäre Zusammenhänge und Möglichkeiten der erinnerungskulturwissenschaftlichen Perspektivierung von Literatur aufgezeigt. Hinweise zu zentralen Fragestellungen, aktuellen Forschungsfragen und Desideraten runden die Beiträge ab.

*** Wir möchten uns ganz herzlich bei Hanne Birk und Birgit Neumann bedanken, die den Löwenanteil der redaktionellen Arbeit übernommen haben. Außerdem sind wir Anna-Lena Flügel und Johanna Ruhl wieder einmal sehr zu Dank für ihre sorgfältige und engagierte Mitarbeit bei den verschiedenen Korrekturdurchgängen verpflichtet. Bei der Erstellung des Registers haben uns Dorothee Birke, Stella Butter und Julijana Nadj in äußerst kompetenter Weise zur Seite gestanden. Allen

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Vorwort und Dank

Beiträgerinnen und Beiträgern dieses Handbuchs möchten wir dafür danken, dass sie sich nicht nur bereitwillig an die zahlreichen Vorgaben unseres Stilblatts gehalten, sondern auch ebenso geduldig wie diszipliniert all unsere Fragen nach ihrem jeweiligen ,Gedächtniskonzept' beantwortet haben. Außerordentlich profitieren konnte der vorliegende Band schließlich von der fruchtbaren Zusanunenarbeit und vielen anregenden Diskussionen mit den Kolleginnen und Kollegen im Gießener Sonder forschungs bereich ,Erinnerungskulturen'.

Gießen, im Oktober 2004

Astrid Erll & Ansgar Nünning

Inhaltsverzeichnis A STRID ERLL & ANSGAR NÜNNING:

Literaturwissenschaftliche Konzepte von Gedächtnis: Ein einführender Überblick..... ......................... ......... .. ..... .... ............ .... ..... ..... 1 GÜNTER BUTZER:

Gedächtnismetaphorik ........... ........... .... ..... ......... ......... ..... .. ..... ......... .... ..... .. 11 FRAUKE B ERNDT:

Topik-Forschung ............................................................................ ..... ......... 31 OLIVER SCHEIDING:

Intertextualität ............. .................................................................................. 53 RICHARD HUMPHREY:

Literarische Gattung und Gedächtnis.. ... .... ................ ..... ............ ...... .... ... .. 73 MIRJAM-KERSTIN HOLL:

Systemtheorie, Gedächtnis und Literatur.. .... .... ...... ... ......... .... ... ..... ........... 97 MICHAEL BASSELER & DOROTHEE BIRKE: Mimesis des Erinnerns...................................... ......... ................................ 123 BIRGIT N EUMANN:

Literatur, Erinnerung, Identität... ....... ......... .... ... .. ....... ..... .... ............ .... ..... 149 STEPHANIE WODIANKA:

Zeit - Literatur - Gedächtnis .... ........... ......... ..... ..... ....... .... ..... ...... ......... ... 179 KIRSTEN DICKHAUT:

Intermedialität und Gedächtnis ... ..... ....... ....... ................. ..... ... ......... ......... 203 CLAUDIA ÖHLSCHLÄGER:

Gender/Körper, Gedächtnis und Literatur.................... ... ....... .................. 227 ASTRID ERLL:

Literatur als Medium des kollektiven Gedächtnisses .............. ................. 249 BETTINA BANNASCH & ALMUTH HAMMER: Jüdisches Gedächtnis und Literatur ............... ........................................... 277 H ERBERT GRABES & MARGIT SICHERT:

Literaturgeschichte, Kanon und nationale Identität .... ............................ 297 Zu den Autorinnen und Autoren .......... ............................... ... ......... .... ..... 315 Personenregister.......... ..... ............. ....... ......... ............... .... ........... .... ..... .. .. ... 319 Sachregister ...... .... .............. .. ..................... ......... ......... ........ ... ..................... 320

ASTRID ERLL & ANSGAR NÜNNING

Literaturwissenschaftliche Konzepte von Gedächtnis: Ein einführender Überblick Gedächtnis und Literatur - das ist eine ebenso viel diskutierte wie facettenreiche Verbindung. Kaum mehr zu überblicken scheint die Fülle der literaturwissenschaftlichen Studien, die den Gedächtnis-Begriff im Titel führen . An eingängigen Formeln fehlt es dabei nicht. So ist die Rede von dem "Gedächtnis der Literatur" (vgl. Lachmann 1990), vom "Gedächtnis der Kunst" (Wettengl 2000), von "Literature as Cultural Memory" (D'haen 2000) und von "Memory in Literature" (Nalbantian 2003) . Literaturwissenschaftliche Interpretationen explorieren die "Mnemotechnik des Schönen" (Koch 1988), "Bilder des kulturellen Gedächtnisses" (Weigel 1994), "Verfahren epischen Erinnerns" (Butzer 1998) und die "Topik der Erinnerung" (Berndt 1999) . Entwürfe einer "Poetics of Memory" (Wägenbaur 1998), Merkmale einer "Rhetorik der Erinnerung" (Löschnigg 1999) werden vorgestellt. Gattungen finden sich neu perspektiviert als "Repositories of Cultural Memory" (van Gorp/Musarra-Schroeder 2000). Ans Licht treten der "Gedächtnisroman" (Erll 2003), der "Gedächtnis ort ,Roman'" (Dehne 2002), das "Theater als Gedächtnis" (Siegmund 1996) oder die kulturellen und literarischen ,jtctions oj memory" (Nünning 2003; Neumann 2005) . Aber was genau versteht die Literaturwissenschaft unter ,Gedächtnis'? Die Antwort muss wohl lauten: vieles - und viel Verschiedenes. Zwischen poststrukturalistischen Studien zur Intertextualität als ,Gedächtnis der Literatur' und hermeneutischen Untersuchungen zur Darstellung von Erinnerung in literarischen Texten scheinen theoretisch und methodisch Welten zu liegen. Überdies erweisen sich einige literaturwissenschaftliche Gedächtniskonzepte als hochelaboriert, während andere auf einem alltagssprachlichen Begriffsverständnis basieren. Und doch finden sich all die diversen Ansätze unter dem gemeinsamen Dach einer ,literaturwissenschaftlichen Gedächtnis forschung'. Problematisch wird eine solche interne Heterogenität dann, wenn sie mit einem Mangel an (Bereitschaft zur) Explikation und damit auch zum Dialog einhergeht: Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft bleiben häufig implizit und werden nicht selbst Gegenstand theoretischer oder terminologischer Reflexionen. Sie haben den Status unausgesprochener Hintergrundannahmen, eines tarit knowledge der Literaturwissenschaft. Die Offenlegung, Beschreibung und Systematisierung literaturwissenschaftlicher Gedächtniskonzepte stellt unseres Erachtens jedoch in zweifacher Hinsicht mit Blick auf die eigene Disziplin und auf ihr Umfeld - ein dringendes Desiderat

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,\strid ErU & Ansgar Nünning

dar: Erstens kann damit denjenigen Studierenden und Forschenden, die künftig zum Themenkomplex ,Literatur und Gedächtnis' arbeiten wollen, der Einstieg in die Materie und die Wahl passender Konzepte erleichtert werden. Zweitens ermöglicht es die überblickshafte und konzeptorientierte Darstellung literaturwissenschaftlicher Gedächtnis forschung, sowohl den Nachbardisziplinen als auch einer interessierten Öffentlichkeit den spezifischen Beitrag der Literaturwissenschaften zu einer andauernden gesamtgesellschaftlichen und interdisziplinären Diskussion aufzuweisen. Welche Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft sind also zu unterscheiden? Auf welche bestehenden Ansätze können diejenigen zurückgreifen, die aus literaturwissenschaftlicher Perspektive zum Gedächtnis-Thema arbeiten möchten? Gibt es überhaupt genuin literaturwissenschaftliche Gedächtniskonzepte, oder bedeutet die Beschäftigung mit Gedächtnis und Erinnerung vielmehr zwangsläufig ein Verlassen des disziplinären Feldes - in Richtung Psychologie, Ethnologie oder Geschichtswissenschaft? Wo kann sich die Literaturwissenschaft innerhalb einer transdisziplinären Forschungslandschaft verorten, wie kann sie zur interdisziplinären Diskussion beitragen? Unter welchen Voraussetzungen sind literaturwissenschaftliche Vorstellungen von Gedächtnis überhaupt an den heutigen, seit Maurice Halbwachs deutlich sozialkonstruktionistisch geprägten Diskurs der kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung anschließbar? Und vor allem: Welche neuen Perspektiven und Forschungsfelder eröffnen sich durch die literaturwissenschaftliche Gedächtnisforschung? Dieses Handbuch setzt sich zum Ziel, Antworten auf solche und weitere Fragen, die sich aus einer gedächtnistheoretisch und -historisch informierten Beschäftigung mit Literatur ergeben, aufzuzeigen, indem es die wichtigsten Konzepte und Grundlagen einer ,erinnerungskulturwissenschaftlichen Literaturwissenschaft' darstellt. Drei Grundrichtungen der literaturwissenschaftlichen Beschäftigung mit Gedächtnis lassen sich - wiewohl nur analytisch - mit Gewinn unterscheiden. Wir nennen sie im Folgenden ,Gedächtnis der Literatur' (als Symbol- und als Sozialsystem), ,Gedächtnis in der Literatur' und ,Literatur als Medium des Gedächtnisses'. In Vorarbeiten zu diesem Band haben wir ausführlicher die historische und systematische Dimension der Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft vorgestellt (vgl. Erll/ Nünning 2003; Erll/ Gymnich/ Nünning 2003) . An dieser Stelle seien die drei Richtungen der literaturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung kurz rekapituliert: Der Begriff ,Gedächtnis der Literatur' stammt von Renate Lachmann, die in ihrer einflussreichen Studie Gedächtnis und Literatur. Intertextualität in der russischen Moderne (1990, S. 35) konstatiert: "Das Gedächtnis der Literatur ist seine Intertextualität." Im Rahmen dieses ersten Gedächtniskonzepts der Literaturwissenschaft werden intertextuelle Relationen im weitesten Sinne als ,Erinnerungs akte' begriffen. Durch den Bezug auf vorgängige Texte, auf Gattungen, Formen, Strukturen, Symbole und Topoi ,erinnert' Literatur an sich selbst. Oliver Scheidings Beitrag in diesem Band ("Intertextualität") bietet nicht nur einen Überblick über literaturwissenschaftliche Intertextualitätskonzepte seit l\1ichail M. Bachtin, sondern zeigt auch

Einleitung

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auf, an welchen Stellen sie mit Vorstellungen von Gedächtnis eine Verbindung eingehen. Gerade die Rede von dem ,Gedächtnis der Literatur' ist ein Beispiel für die metaphorische Sprechweise, deren sich der heutige kulturwissenschaftliche Gedächtnisdiskurs häufig bedient. Natürlich kann man frei nach dem Psychologen Wolfgang Schönpflug (2002, S. 224) einwenden: "Literatur hat kein und ist kein Gedächtnis". Diese Position bezieht Richard Humphrey ("Literarische Gattung und Gedächtnis"), wenn er sich gegen die Begriffe ,Gattungsgedächtnis' und ,Gedächtnisgattung' wendet. Lässt man sich aber auf die Metapher ein, dann öffnet das Konzept ,Gedächtnis der Literatur' den Blick für die diachrone Dimension des Symbolsystems Literatur, für die Beziehungen zwischen Kunstwerken und für die durchaus gedächtnisaffmen Verfahren der Wiederholung und Aktualisierung von ästhetischen Formen, wie sie bereits Aby Warburg in den 1920er Jahren mit seinem Mnemosyne-Adas (2000) veranschaulicht hat. Die Bildlogik der Gedächtnis-Metapher rückt die Selektivität, Gegenwartsgebundenheit und kontinuitäts stiftenden Funktionen literarischer Intertextualität ins Blickfeld. Denn die Vorstellung etwa, die europäische Literatur umfasse "einen Zeitraum von etwa sechsundzwanzig Jahrhunderten (von Homer bis Goethe gerechnet)", wie es Ernst Robert Curtius zur Begründung seiner historischen Topik in Europäische Uteratur und lateinisches Mittelalter (1993 [1948), S. 22) betont, gründet sich auf eben solche Text/ TextBezüge - in Curtius' Fall auf die Kontinuierung bestimmter Topoi. Frauke Berndt ("Topik-Forschung") stellt die antiken Quellen der literaturwissenschaftlichen Topik-Forschung im vorliegenden Band dar und zeigt verschiedene Anknüpfungspunkte an kulturwissenschaftliche Fragestellungen auf. Das Konzept ,Gedächtnis der Literatur' kann im Sinne eines genitivus subjectivus (Literatur ,hat' ein Gedächtnis) oder im Sinne eines genitivus objectivus (an Literatur wird erinnert) verstanden werden. Im ersten Fall kommt Literatur als Symbolsystem in den Blick, im zweiten als Sozialsystem (vgl. zu dieser Unterscheidung Schmidt 2000). Intertextualität, Topiken und Gattungen sind Ergebnis des ,Gedächtnisses der Literatur als Symbolsystem'. Die Erinnerung an Literatur hingegen erfolgt seit mehreren Jahrhunderten auf gesellschaftlich institutionalisierte Weise: durch Kanonbildung und Literaturgeschichtsschreibung. Da die Literaturwissenschaft an diesen Verfahren maßgeblich beteiligt ist, ist mit der Untersuchung des ,Gedächtnisses der Literatur als Sozialsystem' stets auch eine disziplinäre Selbstreflexion verbunden. Seit den 1980er Jahren ist in der Literaturwissenschaft verstärkt die Konstrukthaftigkeit von Literaturgeschichten in den Blick gerückt worden (vgl. Grabes 1988). Literaturgeschichten bilden nicht ab, wer im Laufe der Jahrhunderte was wie für wen geschrieben hat, sondern sie konstruieren aktiv bestimmte Versionen einer literarischen Vergangenheit. Damit handelt es sich bei der Literaturgeschichtsschreibung um eine i\rt konstruktiven Erinnerungsakt. Literaturwissenschafder/ innen wählen aus, gewichten und tilgen, und sie konfigurieren ihre so gewonnenen Daten durch verschiedene A.nordnungsstrategien zu kontingenten, d.h. in der jeweiligen Form nicht-notwendigen, Geschichten (vgl. White 1973).

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Astrid ErU & Ansgar Nünning

Die kulturhistorische Dimension des Kanons - seine Funktionen der Identitätsbildung, Wertevermittlung und politischen Legitimation - ist durch Jan und Aleida Assmanns Theorie des kulturellen Gedächtnisses (z.B. Kanon und Zensur, 1987) in den Blick gerückt worden. Wie Literaturgeschichten zur Herausbildung von Kanones und nationaler Identität beitragen, zeigen Herbert Grabes und Margit Sichert ("Kanon, Literaturgeschichte und nationale Identität'') am Beispiel Englands. Eine systemtheoretische Reformulierung erfährt die unter diesem zweiten Aspekt des ,Gedächtnisses der Literatur' subsumierte diachrone Dimension des Sozialsystems Literatur in dem Beitrag von Mirjam-Kerstin Holl ("Systemtheorie, Gedächtnis und Literatur'') . Der zweite Bereich literaturwissenschaftlicher Gedächtnisforschung betrifft die Darstellung bzw. Repräsentation von Erinnerung und Gedächtnis in literarischen Werken (vgl. z.B. A. Assmann 1999; Nalbantian 2003) . Damit verbunden ist ein Gedächtniskonzept, das wir ,Gedächtnis in der Literatur' nennen. Leitfrage ist dabei, mit welchen Verfahren die Inhalte und Funktionsweisen des Gedächtnisses thematisiert und inszeniert werden. Zu unterscheiden ist dabei zwischen der literarischen Darstellung individuellen Erinnerns und der Repräsentation des kollektiven Gedächtnisses bzw. gesellschaftlicher Erinnerungskulturen. Während das Konzept ,Gedächtnis der Literatur' die diachrone Dimension des Literatursystems und Beziehungen VJ'ischen mehreren Texten akzentuiert, konzentriert sich der Blick in Studien zum ,Gedächtnis in der Literatur' zumeist auf die Formen und Strukturen einzelner Werke. Häufig wird dabei auch die synchrone Verwobenheit des literarischen Textes mit erinnerungs kulturellen Kontexten, mit zum Zeitpunkt seiner Entstehung oder Rezeption kursierenden Vergangenheitsversionen und Gedächtniskonzepten, untersucht. Einen Überblick über das wohl älteste und bis heute einschlägigste Verfahren, ,Gedächtnis in ästhetisch-literarischen Formen' zu repräsentieren - die "Gedächtnismetaphorik" - gewährt der Beitrag von Günter Butzer. Er zeigt, dass und wie Gedächtnismetaphern auf die Medien und Praktiken ihrer erinnerungskulturellen Kontexte bezogen sind. Inwiefern dem Konzept ,Gedächtnis in der Literatur' ein mimetisches Literaturverständnis zugrunde liegt, fragen Michael BasseIer und 00rothee Birke ("Mimesis des Erinnerns''). Sie untersuchen, welche narrativen Formen den Eindruck der ,Erinnerungshaftigkeit' eines literarischen Textes hervorrufen können. Birgit Neumann ("Literatur, Erinnerung, Identität'') zeigt, welche Erkenntnismöglichkeiten kognitionspsychologische Ansätze für die Untersuchung von Formen und Funktionen der literarischen Inszenierung von Erinnerung und Identität bieten. Da dose reading, die Analyse von literarischen Formen und Strukturen, selbst nach einem cu!tura! und womöglich auch einem mnemonic turn der Literaturwissenschaft immer noch zu den Kernkompetenzen der Disziplin gehört, wird es kaum verwundern, dass die Verfahren, anhand derer im literarischen Text etwa gendered memories, Zeit oder die Erinnerung an die Schoah dargestellt werden, auch in zahlreichen anderen Beiträgen dieses Handbuchs Erwähnung finden. Gerade an den detaillierten Untersuchungen zum ,Gedächtnis in der Literatur' erweist sich die

Einleitung

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LeistungsEihigkeit der Literaturwissenschaft im kulturwissenschaftlichen Gedächtnisdiskurs. Sie ist diejenige Disziplin, die kulturelle Äußerungs formen (vom autobiographischen Text über die Gedenkrede bis hin zum Historienfllm) einer ,Lektüre' zu unterziehen vermag und die Strategien und Rhetoriken aufzeigt, die bestimmte gedächtnis bezogene Effekte erzeugen. Das dritte hier vorzustellende Gedächtniskonzept - ,Literatur als Medium des Gedächtnisses' - ist vergleichsweise jung und übt in der Literaturwissenschaft (noch) nicht in dem Maße Einfluss aus wie die beiden zuvor genannten. Es ist ein besonderes i\nliegen sowohl der Reihe Media and Cu!tura! Memory/Medien und kulturelle Erinnemng als auch speziell dieses Bandes, die Diskussion um die ,Gedächtnismedialität' literarischer Werke zu befördern (vgl. auch den ersten Band der Reihe, Medien des kollektiven Gedächtnisses, 2004). Die Anschlussfahigkeit der Literaturwissenschaft an die interdisziplinäre Gedächtnisforschung ist eng an eine solche Konzeption von Literatur als Gedächtnismedium geknüpft. In dieser Perspektive konstituiert sich Literatur als ein Medium, das nicht nur auf Gedächtnisprozessen beruht (,Gedächtnis der Literatur') oder Gedächtnis darstellt (,Gedächtnis in der Literatur'), sondern das überdies auch ,Gedächtnis' - von kulturspezifischen Schemata über Vergangenheitsversionen bis hin zu Vorstellungen von den Funktionsweisen des Gedächtnisses - in der Erinnerungskultur vennittelt. Dieses dritte Gedächtniskonzept macht die bereits erfolgte literaturwissenschaftliche Gedächtnisforschung keineswegs obsolet - ganz im Gegenteil: Bestehende Konzepte werden integriert, dabei aber erinnerungskulturwissenschaftlich re formuliert. Die Leitfragen lauten nun: Wie können Intertextualität, Topik, Gattungskonventionen, Kanonisierungsprozesse oder die literarische Darstellung von Erinnerungsprozessen dazu beitragen, dass Literatur als Medium in der Erinnerungskultur Wirkung entfaltet? Verschiedene Ausprägungen von "Literatur als Medium des kollektiven Gedächtnisses" werden von Astrid Erll vorgestellt. Ihr Beitrag zeigt zudem, welche literarischen Formen zur gedächtnismedialen Wirkung literarischer Texte beitragen können. Ein einschlägiges Beispiel für die kulturhistorische Bedeutung von Literatur als Medium des Gedächtnisses bieten Bettina Bannasch und Almuth Hammer ("Jüdisches Gedächtnis und Literatur''). Sie zeigen, welche bedeutende Rolle die Bibel, autobiographische und fiktionale Texte als Medien jüdischen Selbstverständnisses vor und nach der Schoah spielten. Medialität, erinnerungs kulturelle Situiertheit und Inszenierungsformen von Literatur kommen auch im Beitrag von Stephanie Wodianka ("Zeit - Literatur - Gedächtnis'') in den Blick. Sie verdeutlicht, dass Literatur ein zeitübergreifendes, ein zeitgebundenes und ein durch Zeit strukturiertes Medium ist. Als einen weiteren viel versprechenden Ansatz stellt Kirsten Dickhaut den Zusammenhang von "Intermedialität und Gedächtnis" vor. Medienkonkurrenz und ,Gedächtnisparagone' von Text und Bild stehen dabei im Vordergrund. Aus der Perspektive der Gender Studies beleuchtet Claudia Öhlschläger ("Gender/Körper, Gedächtnis und Literatur'') schließlich den Körper als ein Gedächtnismedium und die Literatur als ein mediales Verfahren der schriftlichen Fixierung und Archivierung von Körper-Wissen.

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Astrid ErU & Ansgar Nünning

Einer ,erinnerungskulturwissenschaftlichen Literaturwissenschaft', die sich auf das interdisziplinäre Gedächtnis-Paradigma einlässt, bietet sich die Chance, in einen gesellschaftlichen Poly log einzutreten, der sowohl ihr Blickfeld als auch ihren Wirkungsradius vergrößern wird. Welche verschiedenen Möglichkeiten sich zur Entwicklung einer solchen Literaturwissenschaft bieten, zeigen die Beiträge dieses Handbuchs im Detail - und durchaus auch kontrovers - auf. Um an dieser Stelle schon einmal Geschmack auf solche Perspektiven der Literaturwissenschaft zu machen, möchten wir abschließend einige Beispiele geben, die aus unserer Sicht in paradigmatischer Weise aufzeigen, welche außerordentliche Relevanz die literaturwissenschaftliche Forschung für die gesamtgesellschaftlichen Diskussionen der letzten Jahre hat und welche Anschlussmöglichkeiten sich dadurch an psychologische, geschichtsdidaktische, politische und wissensgeschichtliche Fragestellungen im Rahmen einer interdisziplinären und kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung eröffnen. Die Kodierung von Vergangenheitsversionen - von der Lebenserfahrung bis zur Nationalgeschichte - ist ohne literarische Formen undenkbar. Gattungen wie Tragödie oder Bildungsroman, narrative Strukturen und schließlich Verfahren der semantischen Verdichtungen zu Erinnerungsfiguren (etwa Metapher, Symbol, Allegorie) gehören zum kollektiven Gedächtnis. Ästhetisch-literarische Formen spielen eine konstitutive Rolle bei der ,Sinnbildung über Zeiterfahrung' Oörn Rüsen) und bei der Wissensorganisation in Literatur wie in allen anderen Bereichen der Erinnerungskultur. Die Literaturwissenschaft kann Auskunft geben über die Herkunft und Geschichte bestimmter Deutungsmuster, die häufig Gegenstände eines über mehrere Tausend Jahre sich erstreckenden kulturellen Gedächtnisses sind. Sie kann zeigen, welche literarischen Formen eine Erinnerungskultur bevorzugt und welche Bedeutungen mit diesen Mustern - und signifikanten Abweichungen von ihnen - verbunden sind. Die Chance zu einem intensivierten Dialog zwischen Literaturwissenschaft, Geschichtstheorie und Psychologie liegt dabei auf der Hand. Literatur und basisliterarische Verfahren (wie die Metapher) sind zentrale Repräsentations formen bei der kulturellen Imagination des ja bis heute weitgehend unbeobachtbaren Gedächtnisses. Bis in den wissenschaftlichen Diskurs dringen diese Formen vor, wie etwa die psychologische, am Medium des Computers ausgerichtete, Leitmetapher des Speicherns und Abrufens von Gedächtnisinhalten zeigt (vgl. Draaisma 1999). Gedächtnisdarstellungen in Romanen, Gedichten und Dramen können die gesellschaftliche Diskussion über die Funktionsweisen des Gedächtnisses durchaus aktiv mitprägen, was beispielsweise im Falle von Marcel Prousts A Ia Recherche du temps perdu (1913-1927) noch heute geschieht. Gerade Literatur erfüllt die Funktion, Grenzen der Alltagsimagination von Gedächtnis zu überschreiten und damit Annahmen unseres common sense sichtbar zu machen. Das zeigen hochgradig verdichtete literarische Erzählungen wie Louis Borges' "Funes, el memorioso" (1942) ebenso wie populäre Kinofilme wie Memento (2000). Die Literaturwissenschaft kann aufzeigen, welche ästhetisch-literarischen Verfahren der Imagination von Gedächtnis in einer Erinnerungskultur verfügbar sind und welche

Einleitung

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Möglichkeiten und Grenzen sie dem Denken auferlegen. Sie leistet auf diese Weise wichtige Beiträge zur Geistes- und Wissenschaftsgeschichte. Bei der Stiftung, Aufzeichnung, Tradierung und Zirkulation von kollektiven Mythen schließlich spielen literarische Texte, Theaterstücke und Fihne - im Verbund mit anderen Medien wie Geschichtsschreibung, religiösen Schriften, Gesetzestexten usw. - eine herausragende Rolle. In der Fiktion können auf praktisch entlastete Weise alternative Vergangenheitsversionen durchgespielt, bestehende Geschichtsbilder dekonstruiert und Gegengedächtnisse entworfen werden. Die Literaturwissenschaft kann das Leistungsspektrum und die Besonderheiten von Literatur und anderen Medien kollektiver ästhetischer Erfahrungsgestaltung in der Erinnerungskultur beschreiben und damit auch in erregte gesellschaftliche Diskussionen eingreifen - sei es mit Beiträgen zu der kognitive Schemata und damit auch Mentalitäten prägenden Kraft von Kriegsromanen und -fillnen, von Im Westen Nichts Neues (1929) bis zu Apocafypse Now (1979), sei es mit Einsichten in die Bedeutung literarischer Authentisierungsstrategien und Illusionsbildung, z.B. im Rahmen der als ,Fall Wilkomirski' bekannt gewordenen Diskussion um eine gefälschte Holocaust-Autobiographie (Bmchstücke, 1995), sei es schließlich mit detaillierten Analysen zu Fragen der narrativen Perspektivierung von Geschichte, von dem Einsatz des Stihnittels Erlebte Rede in der skandalträchtigen Jenninger-Rede im Jahr 1988 bis zur ambivalenten Erzählhaltung bei der Darstellung der letzten Tage im Führerbunker im Kinofilln Der Untergang (2004) . Mit ihren Kategorien zur minutiösen Analyse von ästhetischen, rhetorischen und narrativen Strategien hat die Literaturwissenschaft einen eigenen Zugriff auf Problem felder, denen sich auch die Zeitgeschichte, die Geschichtsdidaktik sowie die Politikwissenschaften widmen. Mit der Darstellung von ,Gedächtniskonzepten der Literaturwissenschaft' möchte dieses Handbuch einen Beitrag zur Entwicklung einer Literaturwissenschaft leisten, die sich Fragen nach Gedächtnis, Erinnerungskultur und Erinnerungsgeschichte in theoretisch reflektierter und konzeptuell anspruchsvoller Weise widmet. Eine gedächtnistheoretische und interdisziplinäre Ausrichtung wird nicht nur die traditionelle literaturwissenschaftliche Forschung durch neue Ansätze bereichern - dazu gehören heute etwa schon Hinweise darauf, wie narrative Schemata den Rezeptionsprozess steuern oder aus welchen Prozessen des sozialen Gedächtnisses Gattungskonventionen oder Kanones hervorgehen. Ein erinnerungskulturwissenschaftlicher Ansatz vermag der Literaturwissenschaft auch zu einer erhöhten Präsenz und deutlicher wahrnehmbaren Stimme im gesamtgesellschaftlichen Diskurs zu verhelfen.

literaturverzeichrUs Assmann, Aleida: Ednnemngsrällme. Formen lind Wandlllngen des kllltllrellen Gedächtnisses. München: Beck 1999. Assmann, Aleida/ Assmann, Jan (Hrsg.): Kanon lind ZenS1lr: Beiträge :;}Ir Archäologie der literadschen Kommllnikation II. München: Fink 1987.

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Astrid ErU & Ansgar Nünning

Berndt, Frauke: Anamnesis: Studien 'J'r Topik der Erinnemng in der erzählenden Literatur ~ischen 1800 und 1900 (Montz- Keller- Raabe). Tübingen: Niemeyer 1999. Butzer, Günter: Fehlende Trauer: Veifahren epischen Erinnerns in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. München: Fink 1998. Curtius, Ernst Robert: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. Tübingen/ Basel: Francke 111 993 [1948] . D'haen, Theo (Hrsg.): Literature as Cultural Memory. 10 Bde. Amsterdam/ Atlanta, GA: Rodopi 2000. Dehne, Corinna: Der "Gedächtnisort" Roman. Zur Literarisiemng von Familiengedächtnis und Zeitgeschichte im Werk Jean Rouauds. Berlin: Erich Schmidt 2002. Draaisma, Douwe: Die Metaphernmaschine: Eine Geschichte des Gedächtnisses. Darmstadt: Primus 1999. Erll, Astrid: Gedächtnisromane. Literatur über den Ersten Weltkrieg als Medium englischer und deutscher Erinnemngskulturen in den 1920er Jahren. Trier: WVT 2003. Erll, Astrid / Nünning, Ansgar: "Von der Echokammer der Vergangenheit zum Medium der Erinnerungskultur: Fünf Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft." In: Pethes, Nicolas/ Ruchatz, Jens (Hrsg.): Gedächtnisjorschung dis'{jplinär. Themenheft der Zeitschrift Handlung, Kultur, Interpretation: Zeitschrift für So'{jal- und Kultunvissenschaften 12,1 (2003), S. 141-163. Erll, Astrid / Gymnich, Marion/ Nünning, Ansgar (Hrsg.) : Literatur - Erinnemng Identität. Theoriekonzeptionen und Fallstudien. Trier: WVT 2003. Erll, Astrid / Nünning, Ansgar, unter Mitarbeit von Birk, Hanne/ Neumann, Birgit/ Schrnidt, Patrick (Hrsg.): Medien des kollektiven Gedächtnisses. Konstmktivität HistoriZität - Kulturspe'1fität. Berlin/ New York 2004. (= Media and Cultural Memory / Medien und kulturelle Erinnerung 1) Grabes, Herbert: "Selektionsprinzipien und Literaturbegriff in der anglistischen Literaturgeschichtsschreibung." In: GRM 38 (1988) , S. 3-14. Koch, Manfred: Mnemotechnik des Schönen: Studien 'J'r poetischen Erinnemng in Romantik und Symbolismus. Tübingen: Niemeyer 1988. Lachmann, Renate: Gedächtnis und Literatur: Intertextualital in der mssischen Moderne. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1990. Löschnigg, Martin: ",The Prismatic Hues ofMemory ...': Autobiographische ModelIierung und die Rhetorik der Erinnerung in Dickens' David Copperfield." In: Poetica 31,1-2 (1999), S. 175-200. Nalbantian, Suzanne: Memory in Literature: From Rousseau to Neuroscience. Basingstoke/ New York: Palgrave Macmillan 2003. Neumann, Birgit: Erinnemng - Identität - Narration. Gattungstypologie und Funktionen kanadischer fictions of memory. Berlin/ New York: de Gruyter 2005. (= Media and Cultural Memory/ Medien und kulturelle Erinnerung 3) [im Druck] N ünning, Ansgar (Hrsg): Fictions of Memory: Journalfor the S tu4J of Bn·tish Cultures 10,1 (2003) . Schmidt, Siegfried J.: Kalte Fas'{jnation: Medien, Klfltur, Wissenschaft in der Mediengesellschaft. Weilerswist: Velbrück 2000.

Einleitung

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GÜNTER BUTZER

Gedächtnismetaphorik The article presents three different ways of dealing with metaphors of memory. First, metaphors of memory, for example the wax tablet and the storehouse, are understood as models (Weinrich, Assmann) that serve as a basis for research on memory (see Blumenberg's concept of 'background metaphors') . Second, a relation between metaphors of memory and the evolution of media is asserted, with writing, in particular, conceived of as nearly congruent with memory (Carruthers, Haverkamp). Furthermore, a complex metaphor of digestion for oral memory (Goody/ Watt) and several inter-medial metaphors like the eating of texts (oral! scriptural; Butzer) or the theatre of memory (acting images; Bems) are presented. In addition to this, the metaphorical potential of 'new media' (photography, ftlm, computer) is discussed. Third, some remarks on the connections between metaphors of memory and cu/tural practices are made.

1. Gedächtnismetaphem als Denkmodelle 1.1 ,Zentrahnetaphern' der Memoria Als erster hat sich Harald Weinrich 1964 in seinem im Archiv für Begriffigeschichte erschienenen Aufsatz "Typen der Gedächtnismetaphorik" (wiederabgedruckt in Weinrich 1976, S. 291-294) mit dem Thema der "Metaphora memoriae" (so der spätere Titel) befasst. Wie Weinrich ausführt, lassen sich in der abendländischen Literatur zwei ,Zentralmetaphern' des Gedächtnisses verfolgen: zum einen das Magazin, das er der rhetorischen Mnemotechnik, zum anderen die Wachstafel, die er der Philosophie zuweist. Diese beiden Metaphern erfassen, so Weinrich, die beiden wichtigsten Funktionen der Memoria: Das Magazin stellt die Speicherkapazität des Gedächtnisses und damit einhergehend die getreue Aufbewahrung seiner Inhalte heraus. Ihr literaturgeschichtlich einflussreichstes Progranun hat die Magazinmetapher in der rhetorischen Loci-imagines-Lehre gefunden, die auf dem Zusanunenspiel von strukturierten Orten und darin niedergelegten Bildern beruht (vgl. Yates 1990 (1966), S. 11-33 sowie den Beitrag von Frauke Berndt in diesem Band). Aufgrund ihres hohen Allgemeinheitsgrades lässt sich diesem Progranun eine Vielzahl von "Gehäuse[n) der Mnemosyne" (vgl. Tausch 2003; A. Assmann 1999) wie das Haus, der Tempel, die Bibliothek und das Theater, aber auch abstrakte Wissensspeicher und -topiken (vgl. Schrnidt-Biggemann 1983) bis hin zur logischen ars combinatoria (vgl. allgemein Rossi 1983 [1960); Traninger 2001) zuordnen. Versteht man, wie es insbesondere im Rahmen poststrukturalistischer Litera-

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turrheorie geschehen ist, den literarischen Text selbst als ,Gedächtnisraum' (siehe unten Abschnitt 2.1), so weiten sich die Anwendungsmöglichkeiten der Magazinmetaphern auf den gesamten Bereich der Literatur aus. Demgegenüber betont die Wachstafelmetapher den Prozess von Merken und Erinnern, zunächst im Sinne des Einprägens von Bildern (so bei Platon und Aristoteles) , später vor allem im Sinne des Einritzens von Schriftzeichen (zuerst beim Auctor ad Herennium und bei Cicero) . Das im Kontext der Magazinmetaphorik eher statisch konzipierte Gedächtnis wird dadurch - insbesondere durch die Schreibmetaphorik - dynamisiert. Ihrem Grundcharakter nach handelt es sich jedoch bei beiden Bildfeldern um eine räumliche Metaphorik des Bewahrens und Ablegens und um eine visuelle Metaphorik des Sehens und Vergegenwärtigens. Obzwar sich die Magazinmetapher auf ein artifizielles, die Wachstafelmetapher hingegen auf das natürliche Gedächtnis bezieht, implizieren beide eine Externalisierung des Gedächtnisses, indem sie es als, wenn auch im Körperinnern angesiedeltes, technisches Gebilde vorstellen. Aleida Assmann hat in einem 1991 publizierten Aufsatz "Zur Metaphorik der Erinnerung" die beiden von Weinrich exponierten räumlichen Metaphern um zwei zeitorientierte ergänzt. Während die räumlichen Metaphern die "Persistenz und Kontinuität der Erinnerungen" betonen, stehen laut Assmann (1991, S. 22) bei den zeitlichen Metaphern des Erwachens und Erweckens "Vergessen, Diskontinuität und Verfall" im Vordergrund (vgl. bereits Meier 1975). Die heilsgeschichtliche Metapher des Erwachens ist eng mit der eschatologischen Figur der Erlösung verbunden. Sie beruht auf einer Dialektik von Erinnerung und Vergessen, wie sie beispielhaft im biblischen Bund Gottes mit dem Volk Israel formuliert wird (vgl. J. Assmann 1991; Hanuner 2004). l\1it der Erinnerung als Wiederherstellung des Vergangenen im Sinne einer restitutio in integrum ist hier zugleich die Überwindung der Zeitlichkeit schlechthin in der Ewigkeit verknüpft. Die magisch-animatorische Metapher der Erweckung zielt auf die Wiederbelebung bestinunter Vergangenheitsmomente in der Gegenwart. An die Stelle der technisch gesicherten Stabilität der Erinnerungen in den räumlichen Metaphern tritt in den zeitlichen deren "prinzipielle Unverfügbarkeit und Plötzlichkeit" (A. Assmann 1991, S. 22), die nicht auf die Bewahrung und Reproduktion von Wissen, sondern auf die Erfahrung des Neuen in der Wiederkehr des Früheren ausgerichtet ist - eine Konzeption unwillkürlicher Erinnerung, die in der Literatur seit der Romantik eine prominente Rolle spielt (vgl. z.B. Koch 1988, S. 103-111, und Gülich 1965, S. 68-71, zur magischen Gedächtnismetaphorik bei Baudelaire und Proust) .

1.2 Exkurs zu Metaphernkonzepten Sowohl Weinrich als auch Aleida Assmann heben die konstruktive Funktion der Gedächtnismetaphorik hervor. Weinrich (1976, S. 294) folgert aus der Konsistenz und der postulierten Vollständigkeit der von ihm dargestellten Bildfelder, hier handele es sich keineswegs nur um ein "Spiel mit Metaphern", und beschließt seine Ausführungen mit einer weit reichenden These: "Wir können einen Gegenstand

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wie die Memoria nicht ohne Metaphern denken. Metaphern, zumal wenn sie in der Konsistenz von Bildfeldern auftreten, haben den Wert von (hypothetischen) Denkmodellen". Assmann (1991, S. 13) erklärt im selben Sinn: "Wer über Erinnerung spricht, kommt dabei nicht ohne Metaphern aus", und ergänzt: "Das gilt nicht nur für literarische oder vorwissenschaftliche Reflexionen. [00'] Das Phänomen Erinnerung verschließt sich offensichtlich direkter Beschreibung und drängt in die Metaphorik." Solche Aussagen implizieren, dass Gedächtnis und Erinnerung zwar unterscheidbare Gegenstände bzw. Phänomene bilden, ihre Beschreibung aber nicht den Grad von Klarheit, Bestimmtheit und Eindeutigkeit zu erreichen vermag, der eine Metapher zum Begriff werden lässt. Warum dem so sein soll, wird weder von Weinrich noch von Assmann weiter begründet. Angesichts der Ergebnisse der psychologischen und neuro biologischen Gedächtnisforschung (vgl. z.B. Roth 1991; Singer 1991; Tulving 2000; Markowitsch 2002 sowie den Beitrag von Birgit Neumann in diesem Band) erscheint es jedenfalls problematisch zu behaupten: ",Metaphorik' ist auf diesem Gebiet nicht umschreibende, sondern den Gegenstand zuallererst erschließende, konstituierende Sprache" (A. Assmann 1991, S. 13). Von Metaphern als ,Denkmodellen' (Weinrich) bzw. ,Denk figuren' (Assmann) zu sprechen und diese als einzig möglichen Zugang zum Gegenstand der Memoria zu postulieren, nimmt die Gedächtnismetaphern nicht nur als Objekt der Untersuchung in den Blick, sondern unterstellt zugleich deren explikative und damit epistemologische Potenz. Dadurch wird ein Metaphernbegriff ins Spiel gebracht, der weit über den linguistischen bzw. literaturwissenschaftlichen hinausgeht, indem er die objektkonstitutive Leistung der Gedächtnismetaphern behauptet. Eine solche Position nähert sich Auffassungen an, die der Metapher jenseits ihrer rhetorischpoetischen Funktion eine ontologische Dignität zuweisen, wie dies etwa Paul Ricceur in der 1975 erschienenen Studie La metaphorr vive (Die lebendige Metapher, 1986) tut, wenn er von der "implizite[n] Ontologie der metaphorischen Aussage" (Ricceur 1986 [1975], S. 275) spricht, die auf dem "Paradox der Kopula" beruhe, "demzufolge Sein-wie zugleich sein und nicht sein heißt" (ebd., S. 303). Metaphern produzieren daher nach Ricceur "virtuelle [... ] Referenz" (ebd., S. 225) . Die Rede von ,Denkmodellen' bezieht sich offenbar auf Max Blacks (1962, S. 219-243) in dem Aufsatz "Models and Archetypes" formulierte These, wonach sich, was die Wirklichkeitsbeziehung betrifft, die Metapher zur dichterischen Sprache verhalte wie das Modell zur Wissenschaftssprache. In letzterer fungiert nach Black das Modell als ein heuristisches Instrument, das mit Hilfe der Fiktion eine inadäquate Interpretation sprengen und einer neuen, adäquateren den Weg bahnen soll. Ein vergleichbarer heuristischer Wirklichkeitsbezug eignet laut Black in der Poesie zwar nicht jeder einzelnen punktuellen Metapher, wohl aber den von ihm archetypes genannten Metaphern, die sich durch ihren radikalen und systematischen Charakter auszeichnen, welcher sie zur Ausbildung von Metaphernnetzen befahigt. Weinrichs ,Zentrahnetaphern' entsprechen offenbar Blacks ,Archetypen', und sein Begriff des ,Denkmodells' schließt an Blacks Modellbegriff an. Was allerdings bei Black parallelisiert wird - die Funktion von Modellen und Metaphern -, wird bei

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Weinrich (und im Anschluss an ihn von A. Assmann) gleichgesetzt: Die Metaphern fungieren hier selbst als heuristische Modelle im wissenschaftlichen Diskurs über Gedächtnis und Erinnerung, indem sie den Gegenstand nicht beschreiben, sondern erschließen oder gar konstituieren. Sie erbringen damit eine referentielle, welterschließende Leistung, die in einem anderen Theorieralunen auch Hans Blumenberg (1998 [1960], S. 13) den von ilun so genannten ,absoluten Metaphern' des wissenschaftlichen Diskurses zuschreibt. Anders als Black, Ricceur und Blumenberg vollziehen Weinrich und Assmann durch die Vermischung von Metapher und Modell eine tendenzielle Annihilierung der Grenze von wissenschaftlichem und rhetorischpoetischem Diskurs - eine Position, die in der Metapherntheorie insbesondere vom Dekonstruktivismus vertreten wird (vgl. de Man 1983; Derrida 1987 [1979], 1988a [1971]).

2. Mediologische Interpretation der Gedächtnismetaphorik 2.1 Gedächtnis als Schrift Jörg Jochen Berns (2003, S. 523-597) hat in einem jüngst erschienenen umfassenden Beitrag zur Gedächtnismetaphorik in Antike und frühem Mittelalter die Frage aufgeworfen, warum von den beiden in Platons Theaitetos vorgestellten Gedächtnismetaphern, der Wachstafel und der Voliere, nur die erste "in der gesamten mnemonischen Diskussion bis heute so ungemein traditionsmächtig werden konnte, während die Volieren-Metapher im gedächtnistheoretischen Diskurs nahezu ohne Nachhall blieb" (ebd., S. 531). Berns beantwortet die Frage dahingehend, dass die Wachstafel-Metapher ihre Vitalität der "Kompatibilität mit der Mediengeschichte" verdanke, die Volieren-Metapher hingegen wurde "just in dem Maße obsolet, wie die Bedeutung der Jagd für die soziale Ernährungsökonomie zurückgedrängt wurde" (ebd.). Die Vereinbarkeit mit der Entwicklung der Konununikationsmedien wird hier als notwendige Bedingung für die Anschlussfahigkeit von Gedächtnismetaphern angesehen, während die Verankerung in kulturellen Praktiken (die hier nicht einmal Memorialriten sind; siehe dazu unten Abschnitt 3.) diese nicht gewährleiste. Aus Berns' Untersuchungen kann man den Schluss ziehen, dass die Geschichte der Gedächtnismetaphern auch eine Geschichte der Homogenisierung bildet, die sich nicht zuletzt als Assimilation an die Mediengeschichte darstellt. Dass die Schrift dabei einen prominenten Platz einnimmt, steht außer Frage. Dies zeigt bereits die Entwicklung der Wachstafelmetapher selbst, die zunächst bei Platon und Aristoteles als Eindrucksfläche von Siegeln entworfen wird, die "ohne Übersetzung in Zeichen, ohne Repräsentation in das Gedächtnis eingehen" (ebd., S. 532). Erst in einem zweiten Schritt wird im Kontext der römischen Rhetorik die Wachs- als Schreibtafel konzipiert, und damit werden die bildhaften Abdrücke durch Buchstaben ersetzt. Darüber hinaus integriert die Schreibtafel-Metapher aber auch die Loci-imagines-Lehre als Kern der Magazin-Metapher, indem zunächst der Auctor ad Herennium, dann auch Cicero die mnemotechnischen Orte mit der

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Wachstafel und die Bilder mit den darauf geschriebenen Buchstaben äquivalent setzen. Die mittelalterliche Metapher vom ,Buch des Gedächtnisses' (,illibro della mia memoria'), wie sie an prominenter Stelle im Eingang von Dantes Vita nuova erscheint, lässt sich hier problemlos anschließen (vgl. Singleton 1958 [1949], S. 2554; allgemein Carruthers 1990). Die Aktualisierung dieser Tradition hat bei einigen Vertreter/inne/n der neueren Gedächtnisforschung dazu geführt, Schrift und Gedächtnis weitgehend zu identifizieren. In zum Teil polemischer Abgrenzung gegenüber der die ältere Forschung dominierenden Loci-imagines-Lehre gewinnt die Schrift über die Zuordnung der Merkmale ,Räumlichkeit' und ,visualität' den Charakter einer omnipotenten Basismetapher der Memoria, die alle Leistungen der Tafel- und Magazirunetaphern in sich vereint, indem sie Merken, Bewahren und Erinnern als Schreiben, Text und Lektüre konzeptualisiert. Mary Carruthers (1990, S. 31) deklariert demgemäß in ihrer Studie The Book oJ Memory kategorisch: " [A] ny thing that encodes information in order to stimulate the memory to store or retrieve information is ,writing"'. Carruthers Arbeit zur mittelalterlichen Gedächtniskultur gegen Frances Yates' (1990 [1966]) klassische Abhandlung zur hermetischen Gedächtniskunst der Renaissance ausspielend, verordnet Anse1m Haverkamp im Jahr 1991 der Gedächtnisforschung einen "Paradigmawechsel" vom Bild zur Schrift: "Die erstmals von Yates auf eine systematische Pointe gebrachte Gedächtniskunst lebt von der geheimnisvollen Metapher eines Bildraums, den Carruthers als Metapher des Schriftraums lesen lehrt" (Haverkamp/Lachmann 1991, S. 11). ,Schrift' gerät hier zum privilegierten Medium des Gedächtnisses, weil sie die Bildlichkeit traditioneller Mnemotechnik zugleich begründet und destruiert; die Metaphorik des Bildes gehört gemäß dieser Interpretation "zur Sphäre der nachträglichen Effekte oder vorgängigen Erfahrungen" (ebd., S. 12) der Metaphorik der Schrift. Textualität und besonders Intertextualität - wird damit zum eigentlichen und letztlich einzigen Ort des Gedächtnisses (vgl. Lachmann 1990 sowie zur Intertextualität als Gedächtniskonzept der Literaturwissenschaft den Beitrag von Oliver Scheiding in diesem Band). Die mehr oder weniger treffende Metapher dafür ist diejenige des Palimpsests (vgl. Genette 1993 [1982]) . Das setzt voraus, dass die Relation von Schrift und Memoria als symmetrische verstanden wird, dass mithin alle Phänomene, die traditionell dem Gedächtnis zugeordnet werden, als ,Schrift' interpretiert werden kÖ!U1en. Dazu bedarf es eines expandierten Schriftkonzepts, wie es vor allem J acques Derrida in den 1960er und 1970er Jahren entwickelt hat. In seinem 1967 erschienenen Werk De fa grammatofogie (Grammatofogie, 1988) bringt Derrida (1988b, S. 219) jenseits der konkreten Schriftsysteme eine "Urschrift" in Ansatz, die als Vermögen der sprachlichen Differenzierung schlechthin bestimmt wird und empirisch gegebene Schriften, insbesondere die phonetisch-alphabetische Schrift, fundieren soll. Eine solche ,Urschrift', die sich nicht aus Buchstaben, sondern aus ,Spuren' (d.h. Merkmale der Abwesenheit) zusammensetzt, umfasst jegliche Art von Merkzeichen und konstituiert damit auch alles, was unter ,Gedächtnis' zu verstehen ist. Derrida hat dies in Bezug auf Sigmund Freuds Entwicklung unterschiedlicher metaphorischer Modelle für das Ge-

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dächtnis näher ausgeführt. Seine Ausgangsthese lautet: "Durch die Beharrlichkeit seiner [Freuds] metaphorischen Zernierung [d.i. Derrida-Übersetzer-Deutsch für ,Umzinge!ung1 bewirkt er [...], daß das, was man mit dem Begriff der Schrift zu kennen glaubt, rätselhaft wird" (Derrida 1985 [1967], S. 305). Nach Derridas Interpretation kuhninieren Freuds Konzepte des Gedächtnisses als neuronaler Bahnung (eine Auffassung, die die Neurobiologie bis heute vertritt, vgL z.B. Florey 1991, S. 173) im Entwurf einer Psychologie (1895) und der Erinnerungsspur in Jenseits des Lustpn"nzips (1920) schließlich in der Apparatur der Notiz über den Wunderblock (1925), die die Psyche als Schreibmaschine vorstellt, welche die unbegrenzte Aufnahmefähigkeit der bewussten Oberfläche mit der Erhaltung von Dauerspuren im Unbewussten verknüpfe (vgL Derrida 1985 [1967], S. 337-348). ,Gedächtnis' wäre demnach die unbewusste Seite einer Schriftapparatur, die die Spuren früherer Auf- und Einschreibungen erhält - nicht als Repräsentationen vergangener Anwesenheit, sondern als differentielle Struktur, die die Vorstellung eines Gewesenen erst im Nachhinein hervorruft und dadurch Derridas Schriftbegriff als "endlose Rückverweisung" (ebd., S. 340) der Zeichen aufeinander bestätigt. Eine weitere Wendung haben dieser Identifikation von Gedächtnis und Schrift Autor/inn/en gegeben, die, angeregt durch psychosomatische Konzeptionen eines Zusammenhangs von Unbewusstem und Körpergeschehen, schließlich auch ein schriftlich verfasstes Gedächtnis des Körpers postulieren (vgl. Öhlschläger/Wiens 1997, S. 9-22; vgl. außerdem den Beitrag von Claudia Öhlschläger in diesem Band). Dabei lassen sich zwei miteinander verknüpfte Varianten unterscheiden, die beide an Friedrich Nietzsches Bemerkung in der Schrift Zur Genealogie der Moral (1887) anknüpfen, das Gedächtnis entstehe dadurch, dass dem Menschen ,etwas eingebrannt' werde, denn "nur was nicht aufhört, weh Zu thun, bleibt im Gedächtniss" (Nietzsche 1988 [1887], S. 295). Diese Male eines ,informierten' Körpers werden einerseits historisch-anthropologisch als Gedächtnis sozialer Disziplinierung verstanden (vgl. z.B. Kamper/Wulf 1976 und zur Lippe 1981 [1974]) . Andererseits werden sie als Symptome einer Dynamik des Unbewussten interpretiert, das sich im Sinne der psychophysischen Konversion als Sprache des Körpers artikuliere. In ihrem Buch Bilder des kulturellen Gedächtnisses spricht Sigrid Weige! (1994, S. 48) in diesem Zusammenhang vom Körper als Schauplatz von graphischen Inszenierungen des Unbewussten, die der "Struktur einer entstefften Darsteffung" folgen und mit Hilfe der ,Codes' der Traumarbeit - wenn auch nicht eindeutig - lesbar sind. Über die Metapher der ,Lektüre' bzw. der ,Lesbarkeit' (als Komplement zu einer erweiterten Schriftauffassung) können nicht nur die unterschiedlichsten kulturellen Phänomene (von den Städten bis hin zum Tanz), sondern schließlich die ganze Welt als schriftlich verfasstes Gedächtnis - der Schöpfung, der Geschichte, der Evolution etc. - verstanden werden (vgL Blumenberg 1993 [1981]) .

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2.2 Medienarchäologie: Schriftliches und mündliches Gedächtnis Wird in den im vorangehenden Abschnitt dargestellten Ansätzen das Gedächtnis durch die zumeist ahistorisch konzipierte Metaphorik eines expandierten Schriftbegriffs repräsentiert, so versprechen medienarchäologische Untersuchungen (hier verstanden als Summe mediengeschichtlicher, kulturwissenschaftlicher und medienethnologischer Forschungen) weniger spekulative und voraussetzungsreiche Ergebnisse zum Verhältnis von Medien und Gedächtnis. Dabei ist auch hier von einer grundlegenden Übertragung auszugehen, die man sich angesichts der Diskussionen der letzten 20 Jahre noch einmal deutlich vor Augen führen muss. Noch im Jahre 1983 nämlich gehen Aleida und Jan Assmann selbstverständlich davon aus, dass der Begriff ,Gedächtnis' allein dem Bereich des natürlichen, innerlichen, sprich: mündlichen Gedächtnisses zuzuweisen sei, so dass sich der Titel Schrift und Gedächtnis des von ihnen herausgegebenen Sammelbandes als komplementäre Formulierung entpuppt: "Das Gedächtnis bildet als ,lebendige' Kopräsenz des als bedeutsam Erinnerten einen weit in die Vergangenheit ausgedehnten Besinnungs· raum. Die Schrift dagegen dient als ein vergleichsweise ,totes' Prinzip der Aufbewahrung und Anhäufung von Daten, deren Bedeutsamkeit verschwindet und allenfalls fallweise rekonstruiert werden kann" (A. Assmann/J . Assmann 1983, S. 267f.). Kaum zehn Jahre später erscheint mit Jan Assmanns Studie Das kuftureffe Gedächtnis eines der inzwischen kanonischen Werke der neueren Gedächtnis forschung, das schon in seinem Untertitel die Korrelation von "Schrift, Erinnerung und politische[r] Identität" O. Assmann 1992) herausstellt. Während noch Maurice Halbwachs, Assmanns Vordenker einer Theorie des kollektiven Gedächtnisses, dieses als mündliches und ,lebendiges' und damit in strikten Gegensatz zur ,toten' Schriftlichkeit der Historiographie versteht (vgl. Halbwachs 1985 [1950], S. 66-71), versucht Assmann, die Schrift als wenn nicht einziges, so doch zentrales Medium des kulturellen Gedächtnisses zu profilieren (zur Literatur als Medium der Erinnerungskultur vgl. den Beitrag von Astrid Erll in diesem Band.) Elena Esposito radikalisiert diesen Ansatz, indem sie in ihrem Buch Soifafes Vn:gessen (2002) den Begriff des (sozialen) Gedächtnisses im Rahmen eines systemtheoretischen Zugangs vollständig von dem (biologischen, psychologischen) Gedächtnis der Individuen abtrennt. Auf der Basis von vier ausgezeichneten ,Gedächtnismedien' - nicht-alphabetische Schrift, alphabetische Schrift, Buchdruck und Computer - unterscheidet Esposito (ebd., S. 42f.) vier Formen des sozialen Gedächtnisses, die sie in vier Metaphern ausgedrückt fmdet: der Wachsrnasse, bei der das Gedächtnis als physikalische Spur verstanden wird (,divinatorisches Gedächtnis'); dem Speicher, der das Gedächtnis als Sammlung von Gegenständen begreift (,rhetorisches Gedächtnis'); dem Archiv, das das Gedächtnis als Ordnungsprinzip konzipiert (,Gedächtnis als Kultur'); schließlich dem Netz, bei dem das Gedächtnis als Programm gefasst wird, das die Informationen nicht speichert, sondern auf der Basis eigener Operationen jedes Mal neu erzeugt (,prozedurales Gedächtnis').

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Bei Assmann wie bei Esposito spielt die Schrift als ,Basis medium' des Gedächtnisses eine zentrale Rolle. Zwar werden, anders als in den unter 2.1 angeführten Auffassungen, Schrift und Gedächtnis nicht identifIziert; die enge Korrelation der beiden Konzepte (bei Esposito erweitert um den Computer) ist aber offensichtlich. Damit vollzieht dieser Ansatz eine Umwertung der traditionellen medienarchäologischen Ansicht. Orale Gesellschaften bilden laut Esposito kein autonomes Gedächtnis aus; von einem ,mündlichen Gedächtnis' zu sprechen, erscheint ihr "eine Projektion von Gesellschaften zu sein, die über Schrift verfügen und deshalb annehmen, dass Gesellschaften ohne Schrift zumindest ein funktionales Äquivalent dafür besitzen müssten" (ebd., S. 40f.) . Gemäß der älteren Auffassung verhält es sich genau umgekehrt: Die Schrift wird hier als Technik der Aufzeichnung der gesprochenen Sprache untersucht, die diese auf Distanz rückt und dekontextualisiert. Für Eric Havelock (1990 (1982), S. 71-75) dient die (alphabetische) Schrift der phonetischen Analyse der Rede und im Anschluss daran der begrifflichen Distinktion und Abstraktion - nicht aber dem Gedächtnis. Während Schriftkulturen die Möglichkeit besitzen, mit Hilfe eines externen Mediwns Wissen zu akkumulieren und zu tradieren, sind orale Kulturen zu ihrer Reproduktion auf die Leistungsfähigkeit des menschlichen Gedächtnisses angewiesen und werden deshalb auch als "Gedächtniskulturen" (Schuster 1988, S. 60) bezeichnet. In diesem Sinn beschreibt Havelock in seinem bahnbrechenden Buch Preface 10 Nato (1963) die epischen Sänger metaphorisch als ,Enzyklopädie' der oralen Kultur, mithin als lebende Überlieferungsträger kulturellen Wissens (Havelock 1963, S. 61-86). Dass die literale Metapher der Enzyklopädie für die mündliche Gedächtnisleistung schlecht gewählt ist, weil sie ein fIxiertes Wissen unterstellt, in dem bei Bedarf ,nachgeschlagen' werden kann, belegen die Untersuchungen der Schriftethnologen Jack Goody und Ian Watt, die in ihrer erstmals 1963 publizierten Studie "The Consequences of Literacy" ("Konsequenzen der Literalität", 1986) für das Gedächtnis oraler Gesellschaften eine völlig andere Metaphorik vorschlagen, welche auf dem medizinischen Begriff der Homöostase beruht: "Was von sozialer Bedeutung bleibt, wird im Gedächtnis gespeichert, während das übrige in der Regel vergessen wird: und Sprache - in erster Linie das Vokabular - ist das wirksame Medium dieses wichtigen Prozesses sozialer Verdauung und Ausscheidung, den man als ein Analogon zur homöostatischen Organisation des menschlichen Körpers, vermittels deren er sein Dasein zu erhalten sucht, auffassen kann" (Goody IWatt 1986 (1963), S. 68). Das SpezifIsche des oralen Gedächtnisses liegt also in dessen Fähigkeit zum Vergessen - zu einem Vergessen, das nicht bewusst vollzogen wird, sondern in Form einer "strukturellen Amnesie" (ebd., S. 10M.) funktioniert, die das bewahrte Wissen beständig den Erfordernissen der Gegenwart angleicht. Es handelt sich um eine komplexe Körpermetapher, die vermutlich Nietzsehe entlehnt ist (vgl. Nietzsehe 1988 (1887], S. 291), aber, wie noch zu zeigen sein wird, weitaus älteren Ursprungs ist (siehe unten Abschnitt 2.3.1). Gemäß dieser Metaphorik verarbeitet der organische Körper das aufgenommene Wissen im Modus der Einverleibung, Verdauung und Ausscheidung. Er gewährleistet dadurch ein ausgewogenes Verhältnis von Erinnern und Vergessen. Imaginiert wird ein natürliches

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Körpergedächtnis, das ohne technische Hilfsmittel auskommt. So entsteht e1l1 homogenes Bildfeld für Gedächtnis, Erinnerung und Vergessen, das in Konkurrenz zur medialen Gedächtnismetaphorik der Schrift tritt: Das Gedächtnis wird als Magen metaphorisiert, Merken als Einverleibung und Verdauung, Erinnern als Ausspeien, Vergessen als Ausscheidung (vgl. Butzer 1998b, S. 233). Die Metaphorik ist in hohem Maße dynamisch, Bewahren heißt hier immer zugleich Verarbeiten und Aneignen.

2.3 Intermediale Gedächtnismetaphorik 2.3.1 Lektüre als Grammatophagie Die zuletzt vorgestellte Leib-und-Magen-Metaphorik des Gedächtnisses nimmt ihren "Bildspender" (Weinrich 1983, S. 319) überaus wörtlich, indem sie das ,mündliche' Gedächtnis als ein essendes vorstellt. Jenseits seiner ethnologischen Applikation auf orale Kulturen birgt dieses Bildfeld jedoch in der abendländischen Tradition ein enormes Potential, das aus seiner intermedialen Verwendung resultiert (zum Verhältnis von Intermedialität und Gedächtnis vgL auch den Beitrag von Kirsten Dickhaut in diesem Band). Mit Hilfe der Metaphorik des Essens, Verdauens, Ausspeiens und Ausscheidens kann nämlich auch ein oraler Standpunkt iC1l1erhalb der Schriftkultur eingenommen werden; das Bildfeld wird dadurch in einem Bereich verwendet, der allgemein als Verarbeitung von Schrift im Modus der Mündlichkeit, mithin als eine bestimmte Konzeption der Lektüre, zu kennzeichnen ist. Dieses intermediale Programm des ,Schriftessens' kommt in drei miteinander zusammenhängenden Diskursen zum Einsatz: in der literarischen imitatio-Doktrin, in der monastischen lectio divina und im Kontext christlicher translatio studii-Konzepte. Seit den ersten Formulierungen der imitatio-Doktrin im Zusammenhang mit der Beziehung zwischen römischer und griechischer Literatur spielt die Metaphorik des Schriftessens eine prominente Rolle. In enger Korrelation mit dem sog. ,Bienengleichnis' (vgL v. Stackelberg 1956; Kapitza 1974) wird jeweils versucht, innerhalb der imitatio ein - der homöostatischen Gedächtnisvorstellung entsprechendes - ausgewogenes Verhältnis zwischen Abhängigkeit und Neuerung, Autoritätsbezug und Originalität, Erinnern und Vergessen zu erzielen. Die zuerst bei Seneca belegbare Kombination der sorgfaltig auswählenden, ins Innere der Dinge vordringenden Arbeit der Bienen mit dem menschlichen Verdauungsvorgang zielt zum einen auf die Abwehr der Vielleserei und die Konzentration auf wenige kanonische Texte (so noch in der Lesesuchtdebatte des späten 18. Jahrhunderts, vgL v. König 1977), zum andern auf die über die bloße Nachahmung hinausgehende Verarbeitung der Vorbilder und damit auf deren Transformation zu etwas Neuern. Das kann, etwa bei Petrarca, Erasmus und Montaigne, so weit gehen, dass durch die Verschiebung des Gleichgewichts von Erinnern und Vergessen der Diskurs der imitatio von innen her in Richtung auf eine selbstgenügsame, genialische Produktion aufgesprengt

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wird: Die vollständig verdauten vorbildlichen Texte werden ununterscheidbar vom Eigenen des Autors. Entscheidend für diese Konzeption ist die Gegenüberstellung eines bloß bewahrenden Gedächtnisspeichers auf der einen und eines quasi körperlichen Aneignungs- und Verinnerlichungsvorgangs auf der anderen Seite, der das Gelesene dem eigenen Wesen assimiliert (vgl. Butzer/Jacob/Kurz 2005) . Unmittelbar an die intermediale imitatio-Metaphorik schließt die monastische Metapher der ruminatio, des Wiederkäuens, an. Im Kontext der lectio divina, der meditativen Lektüre der Heiligen Schrift, meint ruminatio eine Lektürepraxis, die als Essen des Textes, Aufnahme in den Magen des Gedächtnisses, wiederholtes Wiederkäuen seines Gehalts und Übergang ,in Fleisch und Blut' vorgestellt wird (vgl. West 1976; Ruppert 1977). Als Ziel der ruminatio erscheint die Extraktion des geistlichen, insbesondere des moralischen Schriftsinnes, der durch den Akt der Verdauung internalisiert und in einen ethischen Habitus des Lesenden überführt werden soll. Aufgrund der Tatsache, dass es sich im Unterschied zur imitatio-Doktrin bei der lectio divina per deftnitionem um die Lektüre heiliger Texte handelt, unterhält sie Beziehungen zu Inspirations- und Enthusiasmuskonzeptionen, die, vorgebildet im alttestamentlichen Buch Ezechiel (2,8-3,3) und in der ApokalYpse Johannis (10,9-10), Inspiration als Bibliophagie vorstellen (vgl. Butzer 1998b, S. 235; Butzer 2000, S. 69-74) . Das intermediale Modell eines Verzehrens von Schrift liegt auch dem Programm zugrunde, das die Kirchenväter für den Umgang mit der antiken Kultur entwickelt haben. Die Idee einer translatio studii impliziert weder die vollständige Verwerfung antiker Bildung noch deren unkritische Übernahme, sondern einen Aneignungsvorgang, der zum einen aus der Tradition das Wertvolle und Brauchbare auswählt, zum anderen dieses Wissen in den Dienst der christlichen Religion stellt und dadurch einem weitgehenden Transformationsprozess unterzieht. Für diesen Vorgang wird immer wieder die Metaphorik des Essens und Verdauens herangezogen, weil sie in optimaler Weise die hier postulierte Dynamik von Rezeption, Applikation und Produktion verknüpft (vgl. GniIka 1984, S. 102-133). Über den Begriff der chresis, des ,rechten Gebrauchs', besteht eine enge Verbindung zwischen der translatio studii und ethischen Konzeptionen der Lebenskunst (vgl. Butzer /Jacob/Kurz 2005).

2.3.2 Gedächtnistheater Dass das Theater nicht nur eine Raum- bzw. Magazinmetapher des Gedächtnisses unter anderen bildet, sondern ein vielfältiges intermediales Potenzial zur Verfügung stellt, hat Lina Bolzoni in ihrem Buch über Giulio Camillo, II teatro de/la memoria (1984), überzeugend dargelegt. Über seine mnemotechnisch zu funktionalisierende topologische Struktur (siehe oben Anschnitt 1.1) hinausgehend, liefert das Theater mit dem Begriff der Handlung (actio) ein Element, das von der Interaktion der Gedächtnisbilder bis hin zu einem umfassenden Illusions- und Simulationsgeschehen reicht. Der klassische Terminus der antiken Rhetorik für die mnemotechni-

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schen Merkbilder weist bereits in diese Richtung: imagines agentes, ,handelnde Bilder' sind "Bilder [...], die eine affektprovozierende, theatralische Kraft entfalten" (Berns 2003, S. 546), indem sie so zu gestalten sind, dass sie beim Rhetor eine "beliebig dirigierbare Selbsterregung" (ebd., S. 547) ermöglichen. Sie tun dies, indem sie zu einer Art tableau vivant arrangiert werden und damit ein interaktives Potential verkörpern, das es dem Redner erlaubt, die Merkleistung durch Selbstafftzierung zu erbringen. In den christlichen Meditationskonzeptionen wird dieses interaktive Potential der Merkbilder zu einem interiorisierten Theatergeschehen ausgeweitet - aus interagierenden Bildern entwickelt sich szenische Aktion, die wiederum textuell gesteuert wird. Ansatzpunkte dafür sind bereits im frühen Mittelalter festzustellen (vgl. Carruthers 1998), ihren Höhepunkt erreicht dieses innere Gedächtnistheater in den Meditationsprogrammen der spätmittelalterlichen Frömmigkeitsbewegungen (v.a. der devotio moderna) und der frühneuzeitlichen religiösen Reformbewegungen (v.a. der Sodetas Jesu), die wiederum enge Beziehungen zum geistlichen Spiel (vgl. Müller 1998) und zum religiösen Theater (vgl. Valentin 1978, S. 194-199) unterhalten. Insbesondere die Vita und die Passion Christi werden auf der Bühne der Memoria erinnernd nachvollzogen und regelrecht miterlebt, denn das inszenierende Ich wird hier zugleich zum Akteur, sofern es aufgefordert ist, sich selbst unmittelbar von dem im Gedächtnis aufgerufenen Geschehen afftzieren zu lassen. Im 17. J ahrhundert können auf dieser inneren Bühne auch andere Spektakel aufgeführt werden, nicht zuletzt dasjenige des eigenen Lebens in der meditatio morlis (vgl. Wodianka 2004).

2.4 Gedächtnismetaphorik und Neue Medien Interessanterweise haben die technischen Bildmedien, trotz - oder vielmehr, wie ich im Folgenden argumentieren möchte: gerade aufgrund der Tatsache, dass es sich zumeist um extrem leistungsfähige Speichermedien wie die Fotografie oder den Film handelt, kaum eine eigenständige Gedächtnismetaphorik hervorgebracht (zu Ansätzen in der Physiologie und Psychologie des 19. Jahrhunderts und deren zeitgenössischer Kritik vgl. Draaisma 1999, S. 123-139). Immerhin ist es auffällig, dass die Versuche zur Exponierung etwa fotografischer Gedächtnismetaphern gerade die Speicherkapazität des Mediums nicht aktualisieren. So findet sich z.B. bei Walter Benjamin (1980, S. 1238) im Kontext seiner geschichtstheoretischen Reflexionen die Vorstellung, die Vergangenheit werde bewahrt in Bildern, "die man denen vergleichen könne, die von einer lichtempfindlichen Platte festgehalten werden" - erst "die Zukunft hat Entwickler zur Verfügung, die stark genug sind, um das Bild mit allen Details zum Vorschein kommen zu lassen". Aufschlussreich ist hier die Dynamisierung des vermeintlich statischen Speichers der Fotografie durch die Zerlegung in einen zeitlichen Prozess: Die unsichtbaren Bilder auf der Platte liefern die unbewussten Gedächtnisspuren, die erst im Nachhinein entwickelt und dadurch ins Bewusstsein gehoben werden können. Dabei geht Benjamin

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in einem entscheidenden Punkt über die fotografische Metaphorik hinaus, denn der Prozess der Entwicklung bringt bei ihm nicht die authentische Vergangenheit hervor, sondern das Vergangene ,im Licht der Gegenwart'. Er überspielt damit die beiden grundlegenden Momente der Fotografiemetapher des Gedächtnisses: die Statik und die exakte Reproduktion, um schließlich doch wieder zur Schriftmetapher zurückzukehren, wenn er den vermeintlich selben Gedanken mit einem Diktum Hugo von Hofmannsthais zum Ausdruck bringt: "Was nie geschrieben wurde, lesen" (ebd.). Damit formuliert er aber letztlich genau das Gegenteil dessen, was die fotografische Gedächtnismetaphorik beinhaltet. Ähnliches lässt sich auch für die Verwendung der Gedächtnismetaphorik in der modernen Literatur konstatieren. Manfred Schneider hat in seiner Studie Die erkaltete Herzensschrift (1986) gezeigt, wie verschiedene neue Speichermedien (Fotografie, Film und Grammophon) in die Erinnerungsliteratur des 20. Jahrhunderts eindringen. Dabei wird jedoch, wie schon im Fall Benjamins, deutlich, dass diese scheinbar statischen Speicher um funktionalisiert und in den Dienst einer dynamischen Bewegung des Aufschubs, der Abwesenheit und der Verbergung gestellt werden. Daraus ließe sich folgern, dass das Spezifikum moderner Gedächtnismetaphorik in der Verzeitlichung des Gedächtnisses liegt, die jegliche Art von Speicherkonzept und der damit verbundenen Vorstellung authentischer Reproduktion eine Absage erteilt zugunsten einer an die Gegenwart gebundenen konstruktiven Elaboration von Erinnerung (vgl. Rusch 1991). Von hier aus könnte man zwei schriftliche "Hintergrundmetaphern" (vgl. zu diesem Terminus Blumenberg 1998, S. 91110) des Gedächtnisses unterscheiden, die nicht explizit verwendet werden müssen, um dennoch unterschwellig die Gedächtnisdiskurse zu determinieren: auf der einen Seite die vormoderne Metapher des Buches (bzw. der Bibliothek) als Totalität von Zeichen, deren Stabilität letztlich von einem göttlichen Autor garantiert wird (der liber memoriae als liber vi/ae et naturae); auf der anderen Seite die moderne Metapher der Spur (siehe oben Abschnitt 2.1) als paradoxe Figur einer abwesenden Anwesenheit, die weder bewahrt noch vergessen, sondern in der Erinnerung immer aufs Neue erfunden wird (vgl. Butzer 1998a, S. 33, 37 f.). Innerhalb dieser Alternative lassen sich dann auch die technischen Bildmedien situieren, indem entweder ihre authentische Speicherfahigkeit oder ihre mediale Eigengesetzlichkeit betont wird . •\nders verhält es sich indessen mit der an den Computer gebundenen NetzMetapher, die sich grundsätzlich jenseits der Alternative von Buch und Spur stellt, insofern hier "die Sedimentation der Daten durch die ununterbrochene Zirkulation der Prozesse" (Esposito 2002, S. 340) ersetzt wird. Das Netz scheint eine Metapher totaler Präsenz bzw. totaler Absenz zu liefern, die keine auch noch so minimale Bleibe als Grundlage jedes graphomorphen Gedächtnisses zu denken erlaubt. Das Gedächtnis des Netzes kann zwar fast beliebig manipuliert und weiter geschrieben werden, es ermöglicht aber weder die literale Form des Palimpsests noch die orale Form der Grammatophagie (vgl. Butzer 1998b, S. 243f.) . Von daher erscheint es nahe liegend, die Netzmetaphorik eher dem Vergessen als dem Gedächtnis zuzuweisen.

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In der neueren Forschung wird häufig im Anschluss an Nietzsche (1988 (1887], S. 291) das Vergessen als die fundamentalere Kategorie gegenüber dem Gedächtnis herausgestellt (vgl. Smith/Emrich 1996; Esposito 2002; Butzer/Günter 2004) . Zum Beschluss dieses Abschnitts sei daher ein Blick auf die Metaphorik des Vergessens geworfen. Harald Weinrich (1997, S. 16-18), der auch hier Grundlegendes geleistet hat, stellt in seiner Studie Lethe. Kttnst und KritIk des Vergessens fest, dass die Metaphern des Vergessens stets auf diejenigen des Gedächtnisses bezogen seien: Die Raum- und Landschaftsmetaphorik der Mnemotechnik lässt das Vergessen als Einöde, als Abort und Alibi erscheinen; die Magazinmetaphorik bringt die Vorstellung des Vergessens als des Verborgenen (,lethe' als Komplement zu ,aletheia), Abgründigen, Dunklen und Schlafenden bis hin zur Krypta und zum Grab hervor; die Wachstafel- und allgemein die Schriftmetaphorik produziert das Vergessen als Tabula rasa, Erasion und Löschung. All diese Merkmale werden auch Lethe, der als Unterweltsfluss vorgestellten Göttin des Vergessens, zugeschrieben, die wiederum das Verfließen und die Verflüssigung als zentrale Vergessensmetaphern liefert (vgl. Berns 2003, S. 577, 579; dazu unten Abschnitt 3.). Das Vergessen(e) ist also gemäß dieser Metaphorik kaum je das einfach Absente, sondern das in der Abwesenheit weiterhin ,wesende' - wie Hegel und Heidegger übereinstimmend formulieren (vgl. Butzer 1998a, S. 16). Vor dem Hintergrund dieser Bildlichkeit lässt sich die moderne, an einem expandierten Schriftbegriff ausgerichtete Gedächtnisauffassung (siehe oben Abschnitt 2.1) auch als Wechsel von der Gedächtnis- zur Vergessensmetaphorik verstehen.

3. Kulturalistische Interpretation der Gedächtnismetaphorik Neben der Auffassung der Gedächtnismetaphern als konstruktive Denkmodelle bzw. deren mediologischer Interpretation, die selbst wiederum zum Teil mit einem metaphorischen Schriftbegriff operiert, wäre eine kulturalistische Interpretation denkbar, die die Metaphern des Gedächtnisses mit kulturellen Praktiken verknüpft, bislang allerdings wenig thematisiert wurde. Die Gedächtnismetaphorik hätte hier keine primär epistemologische Funktion inne (siehe oben Abschnitt 1.2), sondern stünde im Dienst kultureller Selbstbeschreibung und würde somit zum Gegenstand kulturgeschichtlicher Forschung. Ihre Behandlung könnte an Blumenbergs Progranun einer Metaphorologie anschließen, in dem es nicht um die wie irruner motivierte Dekonstruktion des wissenschaftlichen Diskurses durch Metaphorik zu tun ist, sondern um die Offenlegung von Sinnhorizonten, die durch Metaphern geschaffen werden, welche den Wissenschaftsdiskurs nicht unterwandern, sondern fundieren (vgl. Blumenberg 1998, S. 11). Über Blumenberg hinausgehend, müsste ein solches Verständnis der Gedächtnismetaphorik versuchen, diese auf kulturelle Praktiken, in erster Linie auf Memorialpraktiken, zurückzuführen, die somit als wichtigste ,Bildspender' des Gedächtnisses anzusehen wären. Die oben vorgestellten Bildfelder der Memoria erlauben jedenfalls die Hypothese, hier handle es sich zunächst um konkrete kulturelle Praktiken, die erst durch

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eine synekdochische Verallgemeinerung als Metaphern des Gedächtnisses bzw. der Erinnerung schlechthin fungieren. Für die Magazinvorstellung der rhetorischen Loci-imagines-Lehre hat Stefan Goldmann (1989) in einem viel beachteten Aufsatz postuliert, dass diese als römische ,Deckerinnerung' griechischer Begräbnisrituale zu verstehen sei. Darüber hinaus wäre die Beziehung von räumlich geordneten imagines und Totenkult anhand des römischen Leichenzugs (pompa funebris) zu belegen, dessen Prozession der Ahnenbilder (agmen imaginum) sowohl der Vergegenwärtigung der Verstorbenen als auch der Manifestation sozialer Ordnung dient (vgl. Flaig 1995). Dass die Wachstafelmetapher im Zusanunenhang mit der Etablierung der Schriftkultur im Griechenland des 6./5. Jahrhunderts v. ehr. steht, erscheint unmittelbar einleuchtend (vgl. z.B. Draaisma 1999, S. 33-36). Ebenso nahe liegend ist der Bezug der Metapher des Erweckens auf animistische Opferrituale, wie sie etwa in Odysseus' Totenbeschwörung am Eingang der Unterwelt im elften Gesang der Otfyssee zum Ausdruck gelangen (vgl. A. Assmann 1991, S. 26) . Die Metaphorik des Schriftessens geht einerseits zurück auf das antike und christliche Totenmahl, das am Grab des Verstorbenen abgehalten wurde und als symbolische Memorialform in der christlichen Eucharistie erscheint (vgl. Oexle 1984). Andererseits beruht sie auf magischen Praktiken des Schriftessens, in denen durch den Verzehr heiliger Buchstaben die Kraft des Göttlichen auf den Menschen übertragen werden soll (vgl. Bertholet 1949). Durch die wechselseitige Austauschbarkeit von Gott und Wort gemäß der Theologie des Johannesevangeliums wird es möglich, die Lektüre der Heiligen Schrift als rituellen Memorialakt zu verstehen, mit dem Abendmahl zu parallelisieren und somit Theophagie und Granunatophagie in der Evokation eines memorativen Enthusiasmus zusanunenzuführen (vgl. Butzer/Jacob/Kurz 2004). Auf den kulturgeschichtlichen Hintergrund der Theatermetaphorik in der antiken Theaterpraxis und deren Kritik durch die Kirchenväter, die zu einer Internalisierung des theatralen Akts führt, hat Berns (2003, S. 544-560) hingewiesen. Die Grundlage der mit dem Lethestrom verbundenen Vergessensmetaphorik in antikchristlichen Vergessens- und Initiationsriten - von der Einnahme von Vergessensdrogen (vgl. Weinrich 1997, S. 26-30) bis hin zur Sündenabwaschung in der Taufe (vgl. Arend 2004) - sei abschließend noch erwähnt. Diese hier nur kursorisch anzuführenden Zusanunenhänge legen den Schluss nahe, dass es sich bei der zur Diskussion stehenden Gedächtnismetaphorik nicht um Denkmodelle handelt, die in Konkurrenz zur wissenschaftlichen Erforschung des Individualgedächtnisses stehen, sondern vielmehr um Modelle kultureller Selbstbeschreibung. Die Gedächtnismetaphern verstehen demnach kollektive wie individuelle Memorialakte als kulturelle Handlungen und sind insofern strikt von der kognitionswissenschaftlichen Gedächtnisforschung zu trennen (vgl. die in eine ähnliche Richtung zielende Argumentation zur Trennung von sozialem und individuellem Gedächtnis bei Esposito 2002, S. 12-19, sowie zur Trennung von wissenschaftsgeschichtlich bedeutsamer Gedächtnismetaphorik und aktueller kognitionswissenschaftlicher Gedächtnisforschung Pethes 2001, S. 198f.). Als Konzeptualisierung kultureller Praktiken kann Gedächtnismetaphorik nicht veriftziert oder

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falsifIziert werden, weil sie ein Element des sozialen Imaginären bildet, das selbst zum Gegenstand der Untersuchung werden muss. Die Bindung an kulturelle Praxis bedingt auch die genuine Historizität der Gedächtnismetaphorik, die sie grundsätzlich in Abstand rückt zur Wissenschaftssprache und deren "Ideal einer endgültigen Terminologie" (Blumen berg 1998, S. 8). Die Prozesse, die die Autonomisierung der Metaphorik gegenüber den zu Grunde liegenden Praktiken steuern und damit die Wahrs~heinlichkeit ihrer Proliferation erhöhen, sind sicherlich nicht als streng funktionale Beziehung zwischen (medien)technischen Innovationen einerseits und Gedächtnismetaphern andererseits zu beschreiben (vgl. Draaisma 1999, S. 11). Vielmehr liegt hier ein durchaus komplexer Zusammenhang von kultureller Praxis und gesellschaftlicher Einbildungskraft vor, dessen Analyse noch aussteht.

4. literaburverzeichrUs 4.1 Standardwerke und Einführungen Assmann, Aleida: "Zur Metaphorik der Erinnerung." In: Asssmann, Aleida/Harth, Dietrich (Hrsg.): Mnemosyne. Formen und Funktionen der kulturellen Erinnemng. Frankfurt a.M.: Fischer 1991, S. 13-35. Berns, Jörg Jochen (Hrsg.): Gedächtnislehren und Gedächtniskünste in Antike und Frühmittelalter. Dokumentsammlung mit Übersetzung, Kommentar und Nachwort. Tübingen: Niemeyer 2003. Butzer, Günter: "Pac-man und seine Freunde. Szenen aus der Geschichte der Grammatophagie." In: Assmann, Aleida/Weinberg, Manfred/Windisch, Martin (Hrsg.): Medien des Gedächtnisses. Stuttgart/Weimar: Metzler 1998. (= Sonderheft der Deutsche ViertelJahrsschrift für Literatmwissenschaft und Geistesgeschichte 72), S. 228-244 (= Butzer 1998b). Carruthers, Mary J.: The Book of Memory. A Stu4J of Memory in Medieval Culture. Cambridge, MA/London: Cambridge UP 1990. Draaisma, Douwe: Die Metaphernmaschine. Eine Geschichte des Gedächtnisses. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1999. Esposito, Elena: So::jales Vergessen. Formen und Medien des Gedächtnisses der Gesellschaft. Frankfurt a.M. : Suhrkamp 2002. Meier, C hris tel: "Vergessen, Erinnern, Gedächtnis im Gott-Mensch-Bezug. Zu einem Grenzbereich der Allegorese bei Hildegard von Bingen und anderen Autoren des Mittelalters." In: Fromm, Hans/Harms, Wolfgang/Ruberg, Uwe (Hrsg.): Verbum et signum. Festschrift für Friedrich Oh(y. Bd. 1. München: Fink 1975, S. 143-194. Pethes, Nicolas: "Gedächtnismetapher." In: Ders./Ruchatz, Jens (Hrsg.): Gedächtnis und Erinnenmg. Ein interdisziplinäres Lexikon. Reinbek: Rowohlt 2001, S. 196199.

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Weinrich, Harald: "Metaphora memoriae." In: Ders.: Sprache in Texten. Stuttgart: Klett-Cotta 1976, S. 291-294. -: Lethe. Kunst und Kritik des Vergessens. München: Beck 1997.

4.2 Weiterführende Literatur Arend, Stefanie: ",Vor allem werde ich nicht zugeben, daß die Seele imstande sei zu vergessen ... '. Tertullians Kritik an Platon in ,De anima'." In: Butzer, Günter / Günter, Manuela (Hrsg.) : Kulturel/es Vn;gessen. Medien - Rituale - Orie. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2004, S. 115-128. Assmann, Aleida: Erinne17lngsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München: Beck 1999. Assmann, Aleida/ Assmann, Jan (Hrsg.): Schrift und Gedächtnis. Zur Archäologie der literarischen Kommunikation. München: Fink 1983. Assmann, Jan: "Die Katastrophe des Vergessens. Das Deuteronomium als Paradigma kultureller Mnemotechnik." In: Assmann, ."'leida/ Harth, Dietrich (Hrsg.): Mnemosyne. Formen und Funktionen der kulturellen Ennnenmg. Frankfurt a.M.: Fischer 1991, S. 337-355. -: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinne17lng und politische Identität in frühen Hochkulturen. München: Beck 1992. Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften. Hrsg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Bd. 1. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1980. Bertholet, Alfred: Die Macht der Schrift in Glauben und Aberglauben. Berlin: Akademie 1949. Black, Max: Models and Metaphors. I thaca: Cornell UP 1962. Blumenberg, Hans: Paradigmen 'fl einer Metaphorologie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998 [1960]. - : Die Lesbarkeit der Welt. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 31993 [1981] . Bolzoni, Lina: II teatro della memoria. Studi su Giulio Camillo. Padua: Liviana 1984. Butzer, Günter: Fehlende Trauer. Ve1ahren epischen Erinnerns in der deutschsprachigen Gegenwarisliteratur. München: Fink. (= Butzer 1998a) -: "Rhetorik der Meditation. Martin Mollers ,SoWoqvia de Passione Iesu Christi' und die Tradition der eloquentia sacra." In: Kurz, Gerhard (Hrsg.): Meditation und Erinnenmg In der Frühen Neuzeit. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2000, S. 57-78. Butzer, Günter/ Günter, Manuela (Hrsg.): Kulturelles Vergessen. Medien - Rituale Orie. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2004. Butzer, Günter/Jacob, Joachim/ Kurz, Gerha.rd: ",Und vieles / Wie auf den Schultern eine / Last von Scheitern ist / Zu behalten.' Zum Widerstreit von Gedächtnis und Erinnerung an Beispielen aus der Lyrik des 16. bis 19. J ahrhunderts." In: Oesterle, Günter (Hrsg.): Erinne17lngskulturen interdis, Vittoria: "Gedächtnis und Medialität: Die Herausforderung der Alterität. Eine medienphilosophische und medienhistorische Perspektivierung des Gedächtnis-Begriffs." In: Bors