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German Pages 480 [482] Year 2019
Lateinamerika-Studien Band 33
Lateinamerika-Studien Herausgegeben von Walther L. Bernecker Titus Heydenreich Gustav Siebenmann
Hanns-Albert Steger Franz Tichy Hermann Kellenbenz t
Schriftleitung: Titus Heydenreich Band 33
Brasilien Die Unordnung des Fortschritts Herausgegeben von Detlev Schelsky und Rüdiger Zoller
Vervuert Verlag • Frankfurt am Main • 1994
Anschrift der Schriftleitung: Universität Erlangen-Nürnberg Zentralinstitut (06) Sektion Lateinamerika Bismarckstr. 1 D-91054 Erlangen
Gedruckt mit Unterstützung des Forschungsfördervereins "WIRTSCHAFT UND GESELLSCHAFT e.V. D-91056 Erlangen
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Brasilien : Die Unordnung des Fortschritts / hrsg. von Detlev Schelsky und Rüdiger Zoller. - Frankfurt am Main : Vervuert , 1994 (Lateinamerika-Studien ; Bd. 33) ISBN 3-89354-733-9 NE: Schelsky, Detlev [Hrsg.]; GT
© b y the Editors 1994 Alle Rechte vorbehalten Druck: ROSCH-BUCH, D-96103 Hallstadt Printed in Germany
INHALT
Einleitung
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Viagem ao Novo Mundo o Brasil visto pelo Príncipe Maximilian Wied zu Neuwied Eliana de Sá Porto De Simone, Heidelberg
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Das Brasilienbild Maximilians von Habsburg (1832-1867) Moema Párente Augel, Bielefeld
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Der Bürgerkrieg von 1893-1895 Brennspiegel der Widersprüche bei der Republikanisierung Brasiliens Jens Hentschke, Rostock
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Canga;o e Seca no Nordeste. Urna História Narrada em Prosa e Verso Maria da Guia Santos Gareís, Campiña Grande e Recife
127
Mensch und Gesellschaft, Natur und Umwelt in Brasilien Heinz Schlüter, Münster
163
"Gottes Erde, Land für alle" Landprobleme in Brasilien und die Rolle der Kirchen Wolfgang Schürger, Nürnberg
225
Moleques. Afrobrasilianische Straßenkinder Hannes Stubbe, Rio de Janeiro und Mannheim
263
A vida na instituitäo assistencial: a opiniäo da crianza Ethel V. Kosminsky, Säo Paulo
309
"Veränderung von unten": PT und Basisbewegungen Agenten der gesellschaftlichen Transformation Michaela Wolf, Graz
339
Staat und Wirtschaftsentwicklung in Brasilien Rüdiger Zoller, Erlangen
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Die Igreja Positivista in Rio de Janeiro Detlev Schelsky, Münster
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Das Dilemma der brasilianischen Sozialwissenschaftler Glaucia Villas Boas, Rio de Janeiro
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Auf der Suche nach einer brasilianischen Philosophie Alvaro L. M. Valls, Porto Alegre
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Die Autoren
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Einleitung
I. Aus europäischer Perspektive ein objektives Bild Brasiliens zu gewinnen, ist offenbar nicht leicht. Als Prinz Maximilian zu Wied von seiner Forschungsreise nach Brasilien (1815-1817) zurückkehrte, gab er Grafikern den Auftrag, seine dort gemachten Skizzen professionell zu gestalten. Diese Grafiker taten dabei allerdings des Guten zuviel: Sie verbesserten nicht nur die einfach gehaltenen Zeichnungen des Prinzen, die ursprünglich nur wiedergaben, was gesehen worden war, sondern änderten - entsprechend dem damaligen Zeitgeist - auch deren Charakter, indem sie diese zu romantischen Betrachtungen umgestalteten. Diese romantische Betrachtungsweise Brasiliens hat sich bis heute erhalten. Allerdings hat sich hierbei mittlerweile das Vorzeichen geändert. Denn in den letzten Jahren mußte die Sehnsucht nach dem Paradies Brasilien der Frustration über den Verlust dieses Paradieses weichen, da die Diskrepanz zwischen dem, was man sehen wollte, und dem, was wirklich geschah, zu groß geworden war. Dementsprechend entwickelten die Medien thematische Präferenzen. Ihr besonderes Interesse gilt dabei den Krisen ehemaliger oder potentieller Paradiese. Exemplarisch sind hier die häufigen Berichte über die Umweltprobleme im AmazonasRaum und im Pantanal, oder auch über die hohe Kriminalität in Rio de Janeiro. Die in den fünfziger und sechziger Jahren noch üblichen Berichte über das mondäne Leben in Rio de Janeiro sind fast gänzlich aus den Medien verschwunden und durch eine "Krisenberichterstattung" ersetzt worden. Gemeinsam ist diesen unterschiedlichen Betrachtungsweisen nur ihr meist stereotyper Charakter. So findet sich in deutschen Zeitungen jedes Jahr die schon fast rituelle Meldung, wieviele Tote es während des Karnevals in Rio de Janeiro gegeben hat. Daß ein Großteil davon aber "profane" Verkehrstote sind, die während des Reiseverkehrs umgekommen sind - die Karnevalszeit ist zugleich Urlaubszeit -, wird meist zu erwähnen vergessen. Im Rahmen der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Brasilien findet sich gleichfalls diese romantisierende Tendenz. Sie beeinflußt die Themenwahl wie die
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Verteilung von Forschungsgeldern. Darüber hinaus gibt es aber auch Bemühungen, die eigenen Projektionen und Theorien kritisch zu reflektieren. Auch in Hinblick auf Brasilien existiert die Debatte, ob die in den Industrieländern entwickelten (und dementsprechend die dortigen Verhältnisse reflektierenden) Theorien auf Brasilien anwendbar sind. Das Scheitern der universelle Gültigkeit beanspruchenden Entwicklungstheorien hat dieser Diskussion starken Auftrieb gegeben. Generell besteht das Problem, daß Brasiliens Wirklichkeit aufgrund seiner Geschichte sehr heterogen ist. Jeder Versuch, Brasilien auf einen Nenner zu bringen, würde den Beobachter unvermeidlich von dessen Realität wegführen. Er muß sich immer wieder neu seinen Zugang zu dieser widersprüchlichen Wirklichkeit öffnen, die nicht von eindeutig-schlichten Dichotomien, sondern von Ambivalenzen, Paradoxien und Aporien charakterisiert ist; die "Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen" scheint hier der Normalfall. Allerdings besteht auch die Gefahr, sich in dieser Heterogenität zu verlieren und dabei zu übersehen, daß diese tagtäglich von den Brasilianern wieder zu einer Einheit zusammengefügt wird. Auch die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Brasilien ist gehalten, diesen Balanceakt durchzuführen und ihn in manchen Fällen reflektiv nachzuvollziehen. Eine Möglichkeit, allzu einseitig-europäischen Betrachtungsweisen vorzubeugen, ist es "native Speaker", d. h. brasilianische Wissenschaftler zu Wort kommen zu lassen. Denn diese sind schließlich an der tagtäglichen Neukonstruktion von "Brasilien" beteiligt und haben damit ein "Insiderwissen", das auch der kompetenteste ausländische Beobachter kaum aufweisen kann. Aus diesem Grunde haben die Herausgeber brasilianische Kollegen um Beiträge zu diesem Sammelband gebeten; dies schien uns ein geeigneter Weg, um Vielfalt und Realitätsnähe der Perspektiven zu sichern. Es wäre allerdings eine Überforderung der brasilianischen Kollegen, von ihnen eine "authentische" oder gar eine "wahre" Sichtweise zu verlangen. Denn sie sind natürlich nicht nur insider, sondern auch in ihre Gesellschaft eingebunden. Zudem legen viele Brasilianer und somit auch brasilianische Wissenschaftler an ihre eigene Gesellschaft, deren Geschichte und deren Perspektiven mit Vorliebe fremde, importierte Maßstäbe an, denen das Land kaum gerecht werden kann; ungewollt wird damit auch einer Fehl-Perzeption der brasilianischen Realität Vorschub geleistet. Der Prozeß, die Entwicklungen in Brasilien nicht nur im Vergleich mit den Vereinigten Staaten von Amerika oder mit (West-)Europa,
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sondern primär vor dem Hintergrund der eigenen Geschichte sowie des lateinamerikanischen Umfeldes zu sehen und entsprechende Maßstäbe zu entwickeln, ist noch nicht abgeschlossen. Brasilien blickt auf eine Geschichte zurück, die sowohl die Eroberung und partielle Entvölkerung des Landes, als auch den "Import'' von Millionen Afrikanern als Sklaven, die Eingliederung einer ebenfalls in die Millionen gehenden Zahl von Einwanderern aus Mittel- und Südeuropa, aus dem östlichen Mittelmeerraum wie aus Japan umfaßt. Eine Geschichte, die als Ergebnis neben spektakulärem wirtschaftlichen Wachstum heute eine der weltweit extremsten Disparitäten in der Verteilung der Vermögen und Einkommen aufweist; eine Geschichte, bei der neben "Erschließung des Raumes" immer auch "Vernichtung" steht, angesichts derer der Begriff "Entwicklung des nationalen Territoriums" einen fast zynischen Beiklang erhält. Eine Geschichte, die nicht mehr wie vor zweihundert Jahren knapp drei Millionen, sondern heute Uber 150 Millionen Brasilianer betrifft. Nur bei einer vollständigen Berücksichtigung dieses geschichtlichen Hintergrundes und der damit gegebenen konkreten "Ausgangspositionen" lassen sich die in Brasilien erreichten Veränderungen einschätzen und gegebenenfalls als "Fortschritt" oder auch als "Rückständigkeit" würdigen. Der Leser der hier versammelten dreizehn Aufsätze aus und über Brasilien wird es also nicht leicht haben: Die Autorinnen und Autoren aus Brasilien, Österreich und Deutschland bieten ihm vielfältige Perspektiven, aber nicht ein Bild; sie offerieren ihm aus der Sicht ihrer jeweiligen Disziplin, der Kunstgeschichte und der Literaturwissenschaft, der Soziologie und der Politologie, der Geschichte und der Philosophie, der Psychologie wie der Theologie, notwendigerweise höchst unterschiedliche, ja häufig entgegengesetzte Interpretationen der brasilianischen Realilät(en), aber keine Gewißheiten. Die vielfach kritische Auseinandersetzung der Autoren mit Brasilien sollte aber für den Leser nicht Anlaß sein, seine Faszination und seine Sympathie für Brasilien und seine Bewohner zu verlieren. Diese Sympathie ist ebenso unentbehrlich für das Verstehen Brasiliens wie ihre Reflexion und eine kritische Perspektive. Beide Sichtweisen sind unverzichtbar, wenn man sich mit Brasilien beschäftigt; dies gilt umso mehr, wenn man dies wissenschaftlich tut.
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II. Die "Unordnung des Fortschritts" stellt nicht nur eine Paraphrasierung des sich in der brasilianischen Flagge befindlichen positivistischen lemas "Ordern e Progresso" (Ordnung und Fortschritt) dar, sondern gibt auch den Eindruck wieder, den viele Brasilianer wie auch ausländische Beobachter von der Entwicklung in Brasilien haben. "Ordnung und Fortschritt" und "Unordnung des Fortschritts" verhalten sich zueinander fast so wie Ideal und Wirklichkeit. Seit der Ersten Republik hat die politische Elite Brasiliens ihr Handeln bewußt unter das Motto "Ordnung und Fortschritt" gestellt und mit dem Selbstverständnis eines "politischen Ingenieurs" das Ziel der Modernisierung des Landes sehr bewußt betrieben. Dabei zeigte sich, daß die angestrebte modernizagäo sem mudanga, die Modernisierung ohne Wandel, nicht erreicht werden konnte. Vielmehr führte gerade die Vernachlässigung des (sozialen) Wandels zu gegenteiligen Wirkungen. Und die Defizite Brasiliens an Ordnung und Sicherheit, an (gesamtgesellschaftlichem) Fortschritt und (wirtschaftlicher) Entwicklung wurden angesichts der proklamierten Ziele weit klarer als die erzielten Erfolge. Auch der Versuch der Militärs während ihrer Diktatur zwischen 1964 und 1985, diese Ziele auf Seguranga e Desenvolvimento (Sicherheit und Entwicklung) einzuschränken, führte nur kurzfristig zu den erwünschten Erfolgen. Danach zeigte sich verstärkt, daß der Verzicht auf den notwendigen gesellschaftlichen Wandel eben jene Unordnung produzierte, die man vermeiden oder zumindest unterdrücken wollte. Und die Ironie der Geschichte will es, daß sich gerade unter der Militärdiktatur "ungeplant" neue soziale Organisationen wie die (kirchlichen) Basisgruppen, die freien Gewerkschaften und die Arbeiterpartei (Partido dos Trabalhadores - PT) gebildet haben, die den Wandel auf ihre Fahnen schrieben. Die große Spannung zwischen den Zielen und der Wirklichkeit führte zu einer weit verbreiteten Neigung, die brasilianische Geschichte als eine Serie von Mißerfolgen zu interpretieren. Dabei gibt es sowohl spektakuläre Erfolge in einigen Bereichen wie völliges Scheitern auf anderen Gebieten: Das Wachstum und die Differenzierung der Wirtschaft, die Versorgung einer rapide wachsenden, zunehmend urbanisierten Bevölkerung, die Hebung des Lebensstandards und des Bildungsniveaus für viele, aber auch die Erhaltung der staatlichen Einheit und der Unabhängigkeit, wie das zunehmende internationale Gewicht Brasiliens stehen auf der Seite - relativer - Erfolge. Dagegen steht das offensichtliche Versagen des Staates an der Aufgabe einer gerechten Verteilung von Land, Einkommen und
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Vermögen, der Gewährung auch nur einer Grundversorgung an Lebensnotwendigem für alle Brasilianer. Dagegen stehen nicht zuletzt die ungelösten Probleme des Rassismus, des anhaltenden Ethnozids an den Indianern, des "ökozids" in Amazonien und im Pantanal. Dagegen steht auch die sich verstärkende Tendenz zu regionalen Disparitäten und die sich daraus vielleicht ergebenden Gefahren für die staatliche Einheit Brasiliens. Das Streben nach Sicherheit und Ordnung weist auch auf das Gegenteil hin, nämlich die Präsenz von Gewalt und Unordnung. Die Geschichte Brasiliens war immer auch eine Geschichte der Gewalt, trotz aller (acht) wohlformulierten Verfassungen und frühzeitiger Kodifizierungen. Infolge der mangelnden Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols gab es neben staatlicher Repression immer auch parastaatliche Gewalt - als Ausdruck von sozialer oder regionaler Gegenmacht, aber auch als "Surrogat" der Staatsmacht. Der politisch gewollte Verzicht auf den Wandel führte dazu, daß in Brasilien heute vielfach noch die (sozialen) Verhältnisse des 19. Jahrhunderts herrschen, die gleichzeitig aber den Krisen des 20. Jahrhunderts ausgesetzt werden und die vielleicht sogar noch mit den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts konfrontiert werden. Eine Folge hiervon ist beispielsweise, daß die augenblicklich gültige Verfassung von 1988 nicht einen an der Gegenwart orientierten gesellschaftlichen Kompromiß oder gar Konsens darstellt, sondern daß dieser Konsens in die Zukunft verlegt worden ist, und die Verfassung dementsprechend eher einer Absichtserklärung, einem Entwicklungsprogramm für eine (ferne) Zukunft ähnelt. Dennoch stellt sich weder die von H. Jaguaribe 1989 formulierte Alternative "Reform oder Chaos" ("Brasil, Reforma ou Caos"), noch versinkt das Land in Agonie, wie Carl D. Goerdeler 1992 befürchtete. In wenigen Gesellschaften hat sich in den letzten hundert Jahren soviel verändert wie in der brasilianischen - mit der Entwicklung von der letzten offiziellen Sklavenhaltergesellschaft zu einem der zehn bedeutendsten Industriestaaten der Welt -, aber in kaum einer anderen haben sich die alten gesellschaftlichen Machtstrukturen auch als so resistent erwiesen. Gerade die Asynchronität des erreichten Fortschritts kennzeichnet Brasilien: Neben dem gläubigen bis voluntaristischen Fortschrittsoptimismus der Eliten auf dem Feld von Wirtschaft und Technologie steht die Ultra-Resistenz derselben Eliten gegenüber grundlegendem sozialen Wandel. Das Machtmonopol der alten donos do poder (Herren der Macht) scheint ungebrochen. Dieses Dilemma zwischen rapidem wirtschaftlichen Wachstum und Defiziten der gesellschaftlichen Entwicklung wird in der brasilianischen intellektuellen Diskussion schon lange thematisiert
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und ebenso intensiv wie kontrovers diskutiert Für die Lösung dieser Probleme bedarf es aber wohl eines tiefgreifenden strukturellen Wandels wie eines Elitenwechsels, die sich heute bestenfalls in ersten Umrissen als möglich, wenn auch noch nicht als wahrscheinlich abzeichnen. Die hier präsentierten Beiträge können natürlich nur Schlaglichter auf die skizzierten Probleme werfen. Eine Lösung können und wollen sie nicht anbieten bestenfalls Ansätze und Argumente zu weiterer Diskussion. Denn die Wirklichkeit ist noch weitaus heterogener, als es die in diesem Band vertretenen Autoren deutlich machen können.
III. Eingeleitet wird der Band durch zwei Beiträge, die Versuche der Annäherung an Brasilien durch reisende Ausländer im 19. Jahrhundert thematisieren: Eliana De Simone berichtet über die "Viagem ao Novo Mundo" von Maximilian zu Wied und den späteren Umgang mit seinen auf dieser Reise entstandenen künstlerischen Arbeiten; und Moema Parente Augel untersucht das Brasilienbild Maximilians von Habsburg anhand von dessen "Reiseskizzen" aus dem Jahr 1860. Beide Autoren setzen sich mittels dieser historischen Beispiele aber auch mit der allgemeineren Problematik auseinander, wie Ausländer Brasilien sehen und verstehen (können). Eine derart schwere Krise, wie sie Brasilien in den letzten Jahren getroffen hat, führt häufig zur historischen Reflexion. Im besten Fall dient diese zum besseren Verständnis der Gegenwart und ihrer Probleme, im schlechtesten Fall wird sie zur bloßen Erinnerung an die guten alten Zeiten. Rückbesinnung im Sinne von Ursachenforschung betreiben Jens Hentschke, indem er den Bürgerkrieg von 1893-1895 untersucht, und Detlev Schelsky, indem er auf die brasilianischen Positivisten hinweist. Beides, der Bürgerkrieg wie die Positivisten, haben die Alte Republik (1889-1930) wesentlich geprägt; bis heute sind viele politische Vorgänge nur verständlich, wenn man die Alte Republik und ihre Geschichte als eine wichtige, konstitutive Grundlagen des "modernen" Brasiliens entscheidend gestaltende Phase begreift. In Brasilien selbst reicht die historische Reflexion
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meist bis zur Zeit von Gelülio Vargas. Die Alte Republik ist mit Ausnahme der "abolisäo", der Befreiung der Sklaven, kaum mehr gegenwärtig. Auf eine andere Form der Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte weist Maria da Guia Santos Gareis in "Canga?o e Seca no Nordeste. Uma Histöria Narrada em Prosa e Verso" hin. Die hier angesprochene Thematik von staatlicher und nicht-staatlicher Gewalt wie deren Perzeption und Verarbeitung durch Bevölkerung und Literatura de Cordel ist nicht nur im Nordosten Brasiliens bis heute aktuell geblieben. Heinz Schlüter versucht in seinem Aufsatz "Mensch und Gesellschaft, Natur und Umwelt in Brasilien" in einer großen Skizze, die ökologischen Probleme Brasiliens und deren vielfältige Verknüpfungen mit anderen sozialen und politischen Fragen aufzuzeigen. Damit spricht er das Thema an, das in seiner Brisanz, aber auch mit seiner emotionalen Dimension das Brasilienbild vieler in Deutschland entscheidend geprägt hat. Die immer noch ungelöste Landfrage und die Rolle der Kirchen bei den Versuchen der Betroffenen, die Landverteilung gerechter zu gestalten, stellt Wolfgang Schürger in seinem Artikel '"Gottes Erde, Land für alle' - Landprobleme in Brasilien und die Rolle der Kirchen" aus persönlicher Anschauung dar. Die Frage der Landverteilung hat den zweifelhaften Nimbus, eines der ältesten sozialen Probleme Brasiliens zu sein. So wurde schon 1888 anläßlich der Befreiung der Sklaven die Frage aufgeworfen, ob man diese nicht auch mit Land ausstatten sollte, damit sie auf diesem ihren Lebensunterhalt verdienen könnten. Dies stellt wohl eine der ersten verpaßten Gelegenheiten dar, die soziale Entwicklung Brasiliens anders zu gestalten. Denn der Besitz von eigenem Land hätte sicher viele freigelassene Sklaven davon abgehalten, in die Städte zu ziehen. In dieser Zeit entstanden als Folge der Migration die ersten favelas, da viele der Migranten verelendeten. Heute sind in dieser Frage neben den Landarbeiter- bzw. Landlosenorganisationen die Kirchen eine entscheidende, auf Veränderung drängende Kraft. Eingebettet ist die Landfrage in das allgemeine, umfassendere Problem der ungleichen Verteilung von Vermögen und Einkommen. So soll Brasilien - entsprechend einer kürzlich veröffentlichten Studie - heute das Land mit der zweitschlechtesten Einkommensverteilung auf der Welt sein. Die Verteilungsfrage und die damit verbundenen sozialen Probleme sind neben der externen und internen Verschuldung der zweite Ausgangspunkt der letzten Krise in Brasilien. Während man aber die externe und zum Teil auch die interne Verschuldung weitgehend in
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den Griff bekommen hat, haben sich die asymmetrische Verteilung und die sozialen Probleme während des "verlorenen Jahrzehnts" noch verschärft und harren weiterhin einer Lösung. Die Lösung dieser Fragen ist aber von zentraler Bedeutung nicht nur für die weitere wirtschaftliche Entwicklung, sondern auch für die Bewältigung der ökologischen Probleme. Die städtischen und ländlichen Basisbewegungen wie die mit diesen verbundene Arbeiterpartei (PT) sind Organisationen der von der Krise hauptsächlich betroffenen Bevölkerungsschichten, die sich in den letzten beiden Jahrzehnten gebildet haben. Michaela Wolf zeigt in ihrem Artikel '"Veränderung von unten': PT und Basisbewegungen - Agenten der gesellschaftlichen Transformation" die Verbindungen zwischen PT und Basisbewegungen auf und analysiert die Veränderungen in Brasilien vor dem Hintergrund der internationalen Diskussion um die "Zivilgesellschaft". Manifest wird die Frage der Einkommensverteilung sowie die damit verbundene Armut z.B. in dem Problem der Slraßenkinder, das auch in deutschen Medien regelmäßig Berücksichtigung findet. Hannes Stubbe und Ethel Kosminsky gehen in ihren Aufsätzen dieses soziale Problem mit unterschiedlichen Fragestellungen an. H. Stubbe schildert nicht nur ausführlich das Leben der meist afrobrasilianischen Straßenkinder, der moleques, sondern verdeutlicht auch den sozialgeschichtlichen Hintergrund des Problems und skizziert Lösungsvorschläge. E. Kosminsky setzt sich mit der Qualität der Assistenzeinrichtungen für diese Kinder empirisch auseinander, indem sie Interviews mit Kindern auswertet, die in diesen Einrichtungen untergebracht sind. Daß das Festhalten der brasilianischen Eliten an Machtstrukturen, die eine grundlegende Lösung solcher sozialen Probleme verhindern, für die langfristige Weiterentwicklung Brasiliens weit problematischer ist als die meist im Vordergrund stehende aktuelle wirtschaftliche Krise, verdeutlicht Rüdiger Zoller in seinem Aufsatz "Staat und Wirtschaftsentwicklung in Brasilien". Die umfassende Krise, in der sich Brasilien seit Anfang der achtziger Jahre befindet, hat auch die Wissenschaften getroffen. Zum einen ökonomisch, denn vielfach fehlt einfach das Geld, um Wissenschaft betreiben zu können. Zum anderen ist die (Sozial-)Wissenschaft aber auch in ihrem Selbstverständnis getroffen worden. So stellen sich Fragen nach dem Stellenwert und der Aufgabe der Wissenschaft im heutigen Brasilien. Die Soziologin Glaucia Villas Boas geht dieser
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Frage nach, indem sie Thesen der "Gründungsväter" der brasilianischen Soziologie diskutiert. Dies beinhaltet sowohl Fragen der Ausbildung der Wissenschaftler wie auch das schon oben angesprochene Problem, inwieweit die in Europa und Amerika entwickelten Theorien auf Brasilien übertragen werden können. Alvaro L.M. Valls geht diese Frage anders an. Er sucht nach Wegen, die Qualität seiner Disziplin, der Philosophie, zu verbessern. Beide haben aber denselben Ausgangspunkt: Wie kann das eigene Fach am besten zur Entwicklung Brasiliens beitragen? Die Schilderung der Geschichte der Disziplin "Philosophie" in Brasilien durch Alvaro Valls macht darüber hinaus deutlich, wie spät - im Vergleich gerade zu den spanisch kolonisierten Teilen Südamerikas - in Brasilien Universitäten entstehen konnten.
IV. Dieses Buch hätte nicht entstehen können ohne die tatkräftige Hilfe, die Kooperations- und Diskussionsbereitschaft von vielen persönlichen Freunden wie "institutionell" Beteiligten, die hier leider nicht alle namentlich genannt werden können. Unser besonderer Dank aber gebührt allen Autorinnen und Autoren, die ihre Beiträge zur Diskussion stellen, den Reihenherausgebem, die diese Diskussion durch die Aufnahme des Bandes in die LATEINAMERIKA STUDIEN möglich machen, und dem Verein für Forschungsförderung Wirtschaft und Gesellschaft e.V., Erlangen, wie auch der Fricdrich-Alexander-Universität ErlangenNürnberg, die die Drucklegung jeweils durch eine Beihilfe unterstützten. Einige der hier vorgelegten Beiträge wurden bereits im Rahmen des regelmäßigen Lateinamerika-Kolloquiums der Universität Erlangen-Nümberg vorgestellt. Die meisten Aufsätze wurden allerdings speziell für diesen Band geschrieben. Im Druck erscheinen alle Aufsätze erstmals. Zum wiederholten Mal hat Frau Margit Boscher die Druckvorlage eines Bandes der LATEINAMERIKA STUDIEN gestaltet Ihr sei ebenso herzlich gedankt wie Frau Sonia Soares, Münster, und Herrn Carlos Schünemann, Erlangen, die bei der Korrektur der portugiesischen Texte und bei Übersetzungsfragen behilflich waren.
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Viele der Autorinnen und Autoren dieses Bandes sind wie die Herausgeber Hanns-Albert Steger auf ihren ganz unterschiedlichen Wegen von und nach Brasilien nicht nur begegnet, sondern von ihm auch in und außerhalb der Universität geleitet und begleitet worden. Dafür sei ihm an dieser Stelle ganz persönlich ein herzliches Wort des Dankes gesagt! Unsere dankbare Erinnerung gilt unserer Kollegin und Freundin Maria Bárbara Levy, Rio de Janeiro, die bis zu ihrem viel zu frühen Tod im Jahr 1992 erheblich dazu beigetragen hat, daß die Wirtschafts- und Sozialgeschichte Brasiliens heute auch in Europa besser verstanden werden kann.
Münster und Erlangen, im August 1994 Detlev Schelsky Rüdiger Zoller
Viagem ao Novo Mundo o Brasil visto pelo Principe Maximilian Wied zu Neuwied Eliana de Sä Porto De Simone, Heidelberg
1. Introdugáo O fascínio que desde o descobrimento o Novo Mundo exerceu sobre os europeus, gerou n3o só tratados e compendios científicos como também transformouse mu i tas vézes em obras de arte, registros que de alguma forma procuravam apreender e materializar essas imprcssóes. O Brasil do inicio do século XIX, apenas tornado acessível aos demais europeus náo-portuguéses, constituía meta de artistas e dentistas á procura desse fascínio, incentivados pelo ímpeto de classificar o mundo conhecido e difundir o saber, instaurado pelo Iluminismo. Etnólogo e zoólogo, portanto dentista antes que artista, Maximilian Wied zu Neuwied correspondía perfeitamente a esse perfil. Durante sua viagem ao Brasil entre 1815 e 1817, além das observafóes científicas, objetivo principal da expedido, o príncipe realizara quase 200 desenhos aquarelados, registros de acontecimentos de viagem, paisagens, representardes de indígenas de diversas tribos, de plantas e animais, concebidos como ilustra^Ses do livro que publicaría em 1820/21 sobre a viagem, além dos ¡números desenhos ilustrando as anotares de seus diários e as cartas enderezadas á familia na Alemanha. N3o tendo formado artística académica, Maximilian se considerava apenas um diletante; por esse motivo fez seus desenhos serem corrigidos por artistas gravadores profissionais, para tornarem-se adequados á ilustrado de seu livro Viagem ao Brasil; a obra foi publicada em dois volumes, ilustrados com 19 vinhetas, no inicio de cada capítulo e acompanhados de um atlas em grande formato, contendo 22 gravuras em metal e dois mapas. É verdade que por limitar e s técnicas da época os desenhos do príncipe nao poderiam ser reproduzidos tais como foram feitos; ou seja, de todo modo deveriam ser traduzidos para a forma de gravuras. Examinando os desenhos origináis e todo o espólio relativos
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Eliana de Sá Porto De Simone
á viagem ao Brasil 1 , contudo, verificamos que muitas vezes entre os desenhos origináis e as gravuras publicadas há um desenho intermediário de c o r r e ^ o . Assim, os desenhos que registraran^ as impressdes do príncipe foram modificados duas vezes antes de sua publicado. Nao é o aspecto da veracidade absoluta que nos interessa, ou seja, a correspondencia fotográfica da obra de arte com a imagem apreendida, mesmo porque o príncipe, sem treinamento académico difícilmente poderia reproduzir com exatidáo suas impressOes visuais. Este trabalho objetiva analisar os desenhos origináis de Maximilian como obras de arte e nao como meros estudos, e através de sua comparado com as gravuras correspondentes, verificar em que medida ocorre o processo de europeizado das imagens registradas. Em outras palavras: a passagem da objetividade "nai've" mas auténtica do príncipe, ao olhar idealizado do romantismo alemáo.
2. Nota Biográfica A vida e obra do Príncipe Maximilian Wied zu Neuwied (1782-1867) O Príncipe Maximilian nasceu a 23 de setembro de 1782. Como oitavo filho da familia dos Wied, difícilmente poderia vir a exercer o direito de sucessáo do pequeño principado de Neuwied, as margens do Reno; assim, pode dcdicar-sc as ciencias naturais, atividade a qual demonstrara interesse desde a juventude. A sua voca;3o de dentista logo se acrescentaria o amor pelas térras longínquas. Cedo o príncipe se decidirá pela explorado de térras pouco conhecidas do Novo Mundo. A tumultuada situado política européia devido ás incursóes napoleónicas no inicio do século XIX impediram-no de realizar logo seus projetos; nesse período, Maximilian iniciara sua formado, a principio auto-didata, colecionando desde cedo valiosos livros de diversas áreas das ciencias naturais.2 Porém, o 1
As obras aquí citadas cncontram-se abreviadas ao sobrenome do autor. Para a referencia extensiva da fonte bibliográfica, favor consultar a Literatura (Lit.). As citafdes das fontes alemas foram traduzidas para o portugués pela autora. Os desenhos origináis de Maximilian relativos á viagem ao Brasil, bem como exemplares de primeira edigao de suas obras sobTe a viagem, pertencem á Biblioteca Brasiliana da empresa alema Robert Bosch GmbH em Stuttgart, a quem agradecemos gentilmente a permissao de r e p r o d u j o das aquarelas.
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A biblioteca do Príncipe Maximilian contava com cerca de 1500 livros, dos quais a maior parte sobre ciencias naturais (empregamos aqui a definiifao de "ciencias naturais" correspondente ao uso correnle no inicio do século XIX, ou seja, abrangendo o atual campo da biología geral, sobretudo a zoología e botánica, e ainda os campos da
Viagem ao Novo Mundo
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período mais importante de sua f o r m a d o fóra aquele em que estudara em Góttingen (1811/13) sob a orientado de Johann Friedrich Blumenbach (17521840), um dos fundadores da moderna Antropología. 3 Os ensinamentos de Blumenbach, segundo os quais urna dada regiáo dcveria ser estudada de maneira universal, ou seja desde sua topografía, flora, fauna, condi^Oes climáticas, até os tipos humanos e suas rela?óes sociais, influenciaram urna gera?ao de empreendedores de expedi?5es científicas ñas Américas; entre eles, além do príncipe, constam Georg Heinrich von Langsdorff e Alexander von Humboldt, esse último tendo exercido grande influencia sobre Maximilian, e a quem o príncipe conhecera pessoalmente. 4 Duas expedi?0es ao Novo Mundo e um grande número de publica?Oes relativas a elas consistem o cerne da obra do Príncipe Maximilian: a primeira ao Brasil nos anos de 1815 a 1817, assunto do presente estudo, e a segunda á América do Norte, entre 1832 e 1833. Já desde os tempos de estudos em Góttingen, manifestara Maximilian o desejo de realizar urna viagem científica; seu objetivo inicial, no entanto, n3o era o Brasil, como atesta urna carta de 1811 a um amigo, o zoólogo sui'90 Heinrich Rudolf Schintz: "Estou aqui em Góttingen para adquirir conhecimentos que me faltam, e entilo, se a sorte assim o desejar, empreender urna viagem á América do Norte". 5 Contudo, o Brasil se tornaría seu
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antropología e etnografía), viagens e expediçôes. Destes destacamos a versäo alema da obra de Charles Darwin "Naturwissenschaftliche Reisen" (1844), que demostra a sua percepçâo do "Zeitgeist" científico de sua época, bem como obras de alto valor histórico como: "Histoire d'un voyage fait en la terre du Brésil" (1578) de Jean de Léry e "Historia naturalis Brasiliae" (1648) de Willem Piso e Georg Markgraf. Sobre a Biblioteca do Principe Maximilian ver a obra de Schmidt (Lit.). Blumenbach exercera carreira académica em Göltingen por quase 60 anos, com as cadciras de Historia Natural, Fisiología, Anatomía Comparada, Química e Historia da Medicina. No campo da (futura) Antropología, Blumenbach reunirá urna interessante coleçâo de crânios humanos, para fins de pesquisa e material didático, famosa em todo o mundo. Na introduçâo de seu livro Reise nach Brasilien, o Príncipe Maximilian revela seu modelo: "Sei que é temerario aventurar-me eu a publicar tais observaçôes ... depois do aparecimento da obra do nosso ilustre compatriota Alexander de Humboldt..." (Wied [5], pp.9/10). Carta citada por Schmidt, p.4.
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Eliana de Sá Porto De Simone
primeiro grande objeto de estudo, ocupando-lhe anos de intensa atividade científica.6 Entre os diversos aspectos de sua múltipla formado na área de ciencias naturais, o príncipe concentrou-se sobretudo na zoología. De fato, um dos principáis objetivos da expedido ao Brasil era colecionar e classificar espécimes animais, atividade que resultou na publicado do livro em fascículos Ilustragóes de História Natural do Brasil (1822/31). Examinando a reconstruyo de sua vasta biblioteca, encontramos urna preponderancia de volumes dessa especialidade, além de um extenso gabinete de ciencias naturais com cerca de 1600 itens ornitológicos, 500 ictiológicos, 400 anfíbios/répteis e 400 mamíferos, ao qual o príncipe se dedicara intensivamente nos últimos vinte anos de sua vida. Por outro lado, a antropología cultural ou etnología, também ocupou lugar de destaque em sua p r o d u j o científica; o estudo sobre os botocudos, parte de sua obra brasileira, e as observa?5es sobre as tribos indígenas norte-americanas da segunda viagem significaram um importante contributo á ciencia de seu tempo. Apesar de náo estar diretamente ligado aos centros universitários após o retorno de suas viagens ao Novo Mundo, o Príncipe Maximilian era bastante respeitado pela comunidade científica de seu tempo, mantendo-se sempre atualizado e sendo membro de diversas academias e sociedades de ciencias.7 Em seus Anais de 1821 Goethe elogia vivamente o livro Viagem ao Brasil do Príncipe Maximilian, recomendando-o ao público leitor.8 Um panorama geral da atividade científica do príncipe será tratado no capítulo 4, após o comentário da atividade artística.
6
Sobre a viagem ao Brasil, que durara dois anos inteiros, o Príncipe Maximilian publicaría tres extensas obras, enquanto que sobre a viagem á América do Norte, o príncipe publicaría apenas um livro (ver o verbete Wied [Lit.]).
7
Sobre a participado ñas diversas sociedades científicas ver: Schmidt, p. 12/13.
8
Johann Wolfgang v. Goethe, Annalen. Werke, Sophienausgabe, Abt. I, Bd. 36, S.199 (cit. em: Brasilien-Bibliothek, v. II/2, p.9).
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3. Os desenhos de Maximilian e as ilustra;óes da Viagem ao Brasil Do espólio artistico de Maximilian fazem parte 164 desenhos origináis de sua autoría, 31 do botànico Friedrich Sellow e 34 de autores desconhecidos. Urna sele?3o destes constituiu o Atlas ilustrado que acompanhava o livro Viagem ao Brasil, composto de 22 gravuras, além das vinhetas iniciando os capítulos dos dois volumes do pròprio livro; urna grande parte das ilustra?5es se originaran! a partir dos desenhos do príncipe. Os materíais empregados por ele foram làpis, nanquim (bico de pena) e aquarela. Dos 164 desenhos 34 representam cenas da travessia do Atlàntico e o restante cenas de sua estadia no Rio de Janeiro e principalmente da expedido. A maior parte dos desenhos "...foram esbozados por mim no proprio locai e mais tarde terminados", afirma Maximilian na Viagem. Ainda na mesma passagem o príncipe registra seu descontentamente com o resultado das correfOes: "As gravuras foram executadas por diversos artistas; apesar de todos os esfor^os, n3o se puderam evitar algumas inexatidOes."9 Autodidata também em arte, em viagem anterior pelo sul da Alemanha, Suiga e Itália, o príncipe já tinha experimentado o registro de vestimentas típicas e paisagens. Além disso, através de seus irmüos Cari e Luise, ambos formados pela Academia de Dresden, Maximilian adquiriu urna visáo artística geral; seus irmàos também o auxiliariam na corredo dos desenhos para adequá-los à public a d o . Ao longo da viagem pelo Brasil a habilidade artística de Maximilian desenvolveu-se consideravelmente; se no inicio, ñas aquarelas feitas a bordo, seu desenho é ainda duro, já em muitas de suas representaos da natureza tropical, consegue um modelado delicado com o uso de carnadas de cor. Maximilian era um narradaor por excelència. Ambas suas obras Viagem ao Brasil e Viagem ao interior da América do Norte, escreveu em forma de narra5ào cronológica dos fatos ocorridos ao longo das expedi?òes; os ensaios dedicados a temas especiáis sào tratados em capítulos à parte. Examinando as anota5ÒCS de seus diários escritos durante a viagem pelo Brasil, cuidadosamente catalogados em fichas, verificamos que s3o a origem do texto do livro. 10 De modo
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Wied [1], Apéndice, p.382. Róder (p.l 11/112) afirma que os desenhos tenham sido completados ainda no Brasil, pois apresentam urna unidade estilística, além de terem sido realizados com o mesmo tipo de papel (fabricado e marca d'água) também utilizado ñas cartas enviadas para a familia.
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Curiosamente, verificamos que, assim como os desenhos, que sao corrigidos duas vezes antes da publicafáo, os diários também apresentam duas versoes: urna feita in
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semelhante se desenvolve a atividade artística do príncipe; muitas imagens dos acontecimentos correspondem ao registro verbal do mesmo fato. Da primeira fase da viagem, ou seja, aínda durante a travessia do Atlántico, destacamos urna imagem que revela o interesse por fatos pitorescos; o espirito do dentista dá lugar á curiosidade do aventureiro. Trata-se do desenho Passagem do Equador na travessia para o Brasil; no convés do Janus, urna divertida comitiva mascarada e fantasiada comemora a "visita de Netuno"; a imagem é detalhadamente registrada e esclarecida pela legenda, que também indica senso de humor: "Netuno aparece a bordo... pouco depois de atravessarmos a Linha [do Equador]." 11 Aproximando-se da costa brasileira, Maximilian executa vários perfis de montanhas. A entrada da baía da Guanabara muito o impressionou, tanto que a registrou em quatro desenhos; um deles representa acuradamente os pontos principáis da baía, cujos nomes constam na legenda:"... Ilha Redonda, Ilha Rasa, Morro dois Irm3os, P3o de Acucar, Pico do Papagaio, Fortaleza Santa Cruz". 12 De fato, é na paisagem, sobretudo ñas vistas, onde o tra90 do príncipe apresenta maior firmeza. N3o se deve descartar a hipótese do eventual uso da "camera lúcida", já que ele revela o conhecimento do aparelho, um recurso muito usado por paisagistas no período anterior á invengo da fotografía. 13 A Vista da margem direita do rio Iritiba é um exemplo de paisagem que comparamos com o desenho de corre^áo Paisagem do rio Iritiba, provavelmente de autoría de Cari ou Luise, os irmaos artistas do príncipe; nüo tendo sido incluido no Atlas da Viagem, n3o há urna gravura correspondente aos desenhos. No original de Maximilian a paisagem é representada de modo bastante fiel14; na margem direita, loco e urna reescrita já na Alemanha, aperfeifoada e "passada a limpo", que originou o texto do livro. 11 Legenda do desenho original. Cole^ao Bosch, Stultgart. 12 Idem a 20. 13 Maximilian conheceu a Camera Lúcida atiavés do uso que fazia déla o botánico Sellow; trata-se da inven^ao do químico e físico inglés William Henry Wollaston (1766-1828), que consiste num aparelho para auxiliar o desenho, composto de urna superficie sobre a qual se reflete através de um prisma ou espelho a imagem do objeto a ser desenhado, facilitando assim a sua reprodujo. (Koschatzky, pp. 18/19). 14 A legenda do desenho original, que realmente corresponde á sua representado visual, diz: "As montanhas ao longe sao cobertas de florestas. A montanha escura no meio é mais próxima". (Coleíao Bosch, Stuttgart). No desenho de corre^ao mal se percebe esse detalhe.
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seu ponto de observado, está reproduzido um casario da "Vila Nova de Benevente" (atual cidade de Anchieta no Espirito Santo), do outro lado do rio há florestas, pastagens e montanhas ao fundo; o tra90, claro e praticamente reduzido aos perfis, faz supor aqui o uso da camera lúcida. No desenho de c ó r r e l o a paisagem parece domada, a vegetado, excessiva para o artista europeu, foi aparada e urna iluminado vinda da direita foi inventada, dando á cena urna atmosfera artificial; o caráter essencial foi diluido pelo esforzó de ordená-la. Das paisagens reproduzidas no Atlas e ñas vinhetas que iniciavam os capítulos da Viagem, pode-se dizer que, com maior ou menor intensidade, todas passaram pelo processo de "diluido", ou seja a perda do caráter tropical, que Maximilian soubera entretanto apreender em seus desenhos, e adaptado ao sistema de representado europeu. Renate LOschner, num catálogo de exposi^áo de parte do espólio de Maximilian, também alude a essa questáo, citando a apreciado de um contemporáneo do príncipe, referente á quarta gravura do Atlas Vista do rochedo de Jucutucoara (hoje rio Jucu, Espirito Santo): "...parece tratar-se de urna vista da floresta da Turíngia" (regiáo da Alemanha). Mais adiante a autora atribuí a inspirado da 15° gravura Vista da fazenda de Tapebugu, gravada por Cari Schleich em Munique, á obra do francés Claude Lorrain.15 N3o se pode relevar o fato de que a gera?3o de gravadores alemáes das primeiras décadas do século XIX foi profundamente marcada pelo Romantismo, corrente artística tüo fortemente arraigada naquele país. Johann Philipp Veith e Gottlieb Abraham Frenzel, autores de muitas das versOes em gravura dos desenhos do príncipe, eram ligados á escola de Dresden, que entre outros nomes do romantismo alemáo, contava com o grande Caspar David Friedrich.16 É exatamente em sua obra que faz pensar a adaptado do desenho da baía de Guanabara há pouco comentado17; o singelo perfil das montanhas de autoría de Maximilian tornou-se apenas o ponto de partida para a dramática paisagem reproduzida como urna das primeiras vinhetas do livro, Vista da entrada da baía de Guanabara; esta remete ás marinhas solitárias de Friedrich, com a característica ilumin a d o partindo do horizonte. Muito provavelmente a intenso aqui foi causar ao leitor o impacto de urna "ouverture"; isso é também patente na vinheta anterior
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Renate Löschner, p.14.
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Idem à anterior.
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Idem à nota 11.
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Tempestade durante a viagem, que náo corresponde a um fato ocorrido durante a travessia, mas sim à visào romàntica do artista gravador. Das paisagens representadas no Atlas, tres délas provém de origináis de Friedrich Sellow: a oitava gravara Vista do rio e da igreja de Santa Cruz (Santa Cruz Cabrália, Bahia), a décima-sexta, Vista da vila de Porto Seguro e a décimaoitava, Vista da vila e do porto de Ilheus. Seus desenhos sào executados com precisáo, poucos traaos, a maior parte apenas com contomos; talvez devido a sua maior exatidáo, nao precisaram de corretto, tendo sido diretamente aproveitados para as gravuras. 18 Assim sendo, escaparam de urna interpretado que certamente lhes roubaria muito de sua autenticidade. Mesmo assim, a simples transposi(ào para o meio gráfico, já implicava numa inevitável uniformizado de acordo com os cánones estéticos de urna época. A figura humana e sua representado constituirán) sem dúvida grande difìculdade para Maximilian, que geralmente se limitava a determinados esquemas. A maior parte dos estudos s3o de perfil; as representa?5es frontais sao evitadas; as poses sao normalmente simples, sem movimentos complicados. Já desde a chegada no Rio de Janeiro os tipos humanos brasileiros interessaram o príncipe, principalmente negros e mestizos: "...desde que se pde o pé ñas rúas da cidade, observa-se essa singular mistura de gentes... e junto délas urna reuniao de todas as nacionalidades da Europa." 19 Um desses estudos, Caladores brasileiros foi adaptado como terceira vinheta da Viagem; nesse caso a correcto foi adequada, limitando-se à detalhes anatómicos (pés e màos); as m o d i f i c a o s fisionómicas foram necessárias, dada a dificuldade de Maximilian em apreendé-las satisfatoriamente; com o correr da viagem sua habilidade se desenvolvería consideravelmente. Os poucos detalhes acrescentados para formar o "décor" da cena, algumas palmeiras e algumas modifica;des nos animais cacados, nao chegam a comprometè-la. Para auxiliar o artista gravador Maximilian oferecia urna minuciosa describo no livro: "...bons caladores brasileiros possuem urna excelente capacidade de atravessar as florestas; o corpo fortalecido e o costume de caminhar sempre com os pés descaaos, facilitam muito. Na vinheta que acompanha esse capítulo, retratei dois deles voltando da cafa. Sua vestimenta consiste numa
18 Como dissemos em nota 13, Sellow obteve excelente resultados com a camera lúcida; o conjunto de seus desenhos apresentam um nivel muito bom. De particular interesse sâo os estudos de cabeças de Botocudos, aos quais nos referiremos adiante. 19 Wied [5], p.24.
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camisa leve e urna cal?a de algodáo... na cabera um chapéu de palha ou feltro... pendurada no ombro, urna a l d de couro com a bolsinha de munido." 20 A representado dos indígenas em estado primitivo constituía um dos maiores interesses do príncipe; de fato, a maior parte de seus desenhos da figura humana sao de indios. Segundo o antropólogo Joseph ROder "...apesar de sua máo n2otreinada (como desenhista), Maximilian apreendeu com muita acuidade os hábitos dos nativos, o caráter dos movimentos, as particularidades significativas dos acontecimentos, ou seja toda urna atmosfera".21 Os indios Puri foram os primeiros com os quais Maximilian tivera contato, e consequentemente, os primeiros a serem retratados. Numa de suas aquarelas o príncipe registrou Os Puris em sua choga, que lhe parecera "...das mais primitivas do mundo... onde o homem se estende na rede, enquanto a mulher cuida do fogo e assa a carne".22 Esse desenho foi reproduzido como terceira gravura do Atlas. Como no caso das paisagens, entre o original de Maximilian e a gravura, também há um desenho de correoso, de modo semelhante, a atmosfera da cena foi grandemente modificada, resultado da idealizado da imagem do indígena como "beau sauvage". Além da usual modificado na "desordenada" vegetado, o indio que no desenho original, estava indiferentemente deitado na rede, na gravura dirige um olhar carinhoso á mulher e ao filho, que aqui também se entreolham ternamente, lembrando "...reminiscencias de urna Arcadia tropical"23; essa demonstrado de afeto correspondía claramente aos padróes das relances familiares européias, muito diversas das existentes entre os indígenas. Também os indios Patachós foram retratados por Maximilian; a gravura do Atlas, de dimensóes um pouco menores que as demais, o que indica talvez a inclusáo posterior, combina dois estudos do príncipe: á esquerda um indio agachado abre um coco e á direita o outro, de pé leva arco e flexa á müo. Nesse caso nüo há inclusüo de "décor"; a n3o ser pela ligeira modificado na postura do indígena da direita, a gravura é urna das mais fiéis á original. Mas foram os Botocudos que maior atendo do príncipe mereceram 24 ; cerca de quinze estudos retratam representantes desta tribo. No Atlas há tres gravuras e no segundo volume da Viagem há duas vinhetas relativas aos 20
Wied [1], p.60.
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Róder, p.l 12.
22
Wied [5], pp.110/111.
23
Loschner, p.14.
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A esse respeito ver: capítulo 4, comentário sobre o ensaio Algumas palavras sobre os Botocudos.
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Botocudos. A primeira gravura representa Urna familia de Botocudos em viagem; trata-se da combinado de dois desenhos diferentes. O que deu origem á gravura representa um botocudo atravessando um río, levando um prísioneiro; este na gravura foi substituido por urna india e tres crianzas, retiradas de um outro desenho do príncipe; também nesse caso existe a aquarela intermediária, provavelmente de autoría de Cari ou Luise Wied, quase idéntica á gravura. O que mais chama ateneo das modificagóes executadas sáo as relativas á estrutura física do indio, visivelmente adaptada aos ideáis clássicos de beleza: o guerreiro botocudo adquire a c o m p l e j o de um herói grego. Suas feifOes, contudo, correspondem apropriadamente as de um indígena desta tribo; isto se deve á existencia de vários excelentes desenhos de fisionomías de botocudos, a maior parte de autoría de Friedrich Sellow. Quatro deles foram reunidos na 17® gravura do álbum; sobre essa transposi?3o afirma o etnólogo Udo Oberem: "Notamos que os origináis [de Sellow] sao bem mais verdadeiros no que se refere aos dados antropológicos do que a gravura, 'melhorada' (grifo do autor) pela müo do artista." 25 Além dos desenhos de Sellow os gravadores podiam contar com as detalhadas describes de Maximilian. Os "botoques", atributos característicos dessa tribo impressionaram particularmente o príncipe, que comenta: "...os indígenas inserem pedamos cilindricos de madeira nos lóbulos das orelhas e no lábio inferior ... o que lhes confere urna aparéncia horrível." 26 Nesse comentário seus padrdes estéticos europeus impóem-se á atitude imparcial do etnólogo, a qual na maior parte das vezes predomina em seus julgamentos. Durante sua estadía entre os indios em Quartel dos Arcos (Bahia), o príncipe assistiu a urna lula entre dois grupos de botocudos inimigos, o que considerou excelente pois "...muito raramente viajantes podem testemunhar cenas como esta, t3o importantes para o conhecimento dos selvagens e seu caráter".27 O motivo da luta fóra a invasáo de terrritório de ca9a de um dos grupos por membros do outro. Essa luta serviría de motivo para urna das mais interessantes aquarelas de Maximilian. Diante de urna choga lutam dois guerreiros com varas, observados por outros que também se preparam para a luta; no canto á direita, duas indias lutam agachadas, aos socos
25
Udo Oberem, Ethnographische Erläuterungen zu den Bildern, em: Röder, p.128.
26
Wied [1], vol. II, p.5.
27
Wied [1], p.370.
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e puxOes de cábelos. A pintura corporal vermelha e negra (especial para ocasides de luta), as posturas agressivas e as expressóes de ódio foram cuidadosamente retratadas pelo príncipe, resultando uma cena auténtica e verossímil. Na gravura do Atlas correspondente, a cena perde a esséncia de seu caráter original; a veget a d o , que no desenho do príncipe está apenas esbogada, tem aqui a aparéncia de um cenário elaborado para enfatizar a luta em primeiro plano; os guerreiros parecem estar posando, perdendo a espontaneidade do desenho original; as fei?óes sao padronizadas, perdendo a individualidade e assemelhando-se mais ás dos negros africanos. Em mais de uma oportunidade Maximilian lamenta nao ter engajado um artista profissional em sua expedido ao Brasil, sobretudo para o registro do que fosse relativo aos indígenas. 28 Táo convencido da i m p e r f e t o dos próprios desenhos que em sua viagem á América do Norte contratou um pintor, o sui?o Cari Bodmer para acompanhá-lo: "...para a describo da viagem pelo rio Missouri acima... procurei compensar a falta de um artista, que em minha viagem anterior á América do Sul tanto se fez notar". 29 Muito questionável, no entanto, nos parece a autocrítica do príncipe quanto a sua habilidade artística. Se compararmos seus desenhos e aquarelas ás obras de Bodmer relativas á viagem da América do Norte, evidencia-se a contraposigáo da espontaneidade do amador á teatralidade do artista profissional. Sem o olhar treinado do artista, Maximilian permitiu-se tratar seus temas de modo mais direto, sem poses, sem conotagdes a lugares-comuns da pintura de seu tempo. É certo que Bodmer era um excelente artista de acordo com o gosto europeu das primeiras décadas do século XIX. Náo discutimos sua habilidade artística, mas sim a abordagem que faz da paisagem e dos habitantes do Novo Mundo; as paisagens sáo sempre observadas segundo um mesmo ponto de vista distante, apresentando um efeito de conjunto padronizado. Ao realizar estudos de indígenas, apesar da exatidáo de detalhes com que os retrata, transforma-os em figuras míticas, com posturas hieráticas, monumentais. Ñas representafóes de grupo o caráter exótico é acentuado; observando-se a gravura Corrida de cavalos dos Sioux é impossível náo constatar uma certa semelhan?a com os cavaleiros orientáis de Delacroix.30 Das representa?óes de indígenas do Atlas da Viagem ao Brasil, a gravura Grupo de Cama28
Kail Viktor zu Wied, Maximilian Prinz zu Wied, sein Leben und seine Reisen, em: Röder, p.20.
29 Wied [3], p.XI. 30 Pensamos aqui na tela O Massacre de Scio (1823/24) de Eugene Delacroix.
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cans na floresta é aquela em que mais claramente se nota o processo de "idealiza?3o" romántica, ou seja, como aquela que ocorre com Bodmer. Trata-se de urna interpretado livre do artista gravador 31 , que a partir de um estudo do príncipe desenvolveu urna cena "ideal". O desenlio original representa dois indígenas Camacans de pé, com suas armas e bolsas a tiracolo, o da esquerda de costas, evidenciando a longa cabeleira característica dessa tribo, e o da direita de frente; essa última figura é aproveitada na gravura, com grandes modifíca?5es. O indígena que no desenho do príncipe apresenta pele morena, traaos fisionómicos grossos e estatura média, metamorfosea-se num guerreiro de pele clara, pemas e bracos longos, complei?ao atlética e fei?5es européias; o leve sonriso que esboza condiz com o gesto de apoiar a mao sobre o ombro do companheiro; as outras figuras também sáo claras e longilíneas; no grupo há urna atmosfera de confianza, semelhante áquela da gravura Puris em sua choga, que evoca novamente padróes de comportamento e rcla^Oes humanas europeus. A floresta é "embelezada" de modo mais acentuado do que ñas gravuras anteriores: as plantas estáo dispostas harmónicamente, cordQes de flores envolvem os troncos das árvores; nada lembra desordem nesse "paraíso" tropical. Mais urna vez o indígena é transformado em "beau sauvage" e seu habitat em palco cónico adequado a esse personagem idealizado. A exuberancia da natureza tropical que os artistas europeus nao souberam transpor para as gravuras do Atlas, soube Maximilian apreender com excelencia em seus desenhos. Sobre a dificuldade da t r a d u j o da experiencia tropical através de meios artísticos afirma: "Mesmo para o melhor pintor de paisagens seria difícil representar a variedade e a riqueza de cores dessas florestas, e se ele o conseguisse, aqueles que nao estiveram nestas rcgiOes considerariam seus quadros como frutos de urna imagina93o fantasiosa." 32 As representa^Oes da floresta tropical constituem suas melhores aquarelas, onde consegue com muito éxito transmitir essa atmosfera. A Viagem pelo Rio Doce é um exemplo; o príncipe nao teme o excesso que a natureza efetivamente apresenta e retrata a floresta cerrada, as infinitas qualidades vegetáis, urnas sobrepostas ás outras, o bando de pássaros, o tronco caído sobre o leito do rio impedindo a passagem de seu barco, o que resulta num caos tropical, inaceitável para o olhar do artista europeu. Johann Jakob von Tschudi, que visitara o Brasil tres décadas mais tarde assim se 31 Na verdade foram dois os artistas que compuseram essa gravura: a paisagem foi gravada por Bitthauser, de Würzburg, e as figuras por Seyffer, de Stuttgart. 32 Wied [1], p.347.
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expressa sobre a "angùstia" artistica diante da natureza tropical "excessiva": "Na selva, o olhar nao tem descanso... falta harmonía, falta iluminado, falta um horizonte que limite a cena, falta urna moldura."33 Esses problemas Maximilian desconhece, pois nào tinha as limita^Oes do treino artístico; seu olhar era o de um atento dentista, e tudo o que estava em seu campo de observado era fielmente reproduzido no papel. Ao contràrio do que na maioria das vezes, na gravura do Atlas correspondente à Viagem pelo Rio Doce um resultado satisfatório é obtido, certamente porque o gravador seguiu a aquarela de modelo. De um ángulo semelhante Maximilian retrata Dois negros numa canoa no rio Alcobaga\ nessa aquarela fica claro que o importante nao é a figura humana, representada esquemáticamente, mas sim a paisagem tropical. A maior proximidade da cena permite um melhor registro do detalhe: arbustos de folhagem grande, frutas, flores e pássaros; no fundo, as folhas das árvores s3o esbozadas com traeos rápidos e para sugerir a mata densa o príncipe emprega tons aguados de verde acinzentado. Em outras aquarelas, como Cagada na floresta, Homens armados na floresta ou Encontro com o Cap. Bento Lourengo e seus homens consegue transmitir perfeitamente a impenetrabilidade da selva; o que Tschudi considerava dificuldades intransponíveis, Maximilian ignora: de fato, "o olhar n3o tem descanso", tudo é registrado com igual valor plástico, a "falta de um horizonte... de urna moldura" evita que a cena seja abordada de um ángulo usual. A corre?3o da "falta de iluminado" é patente na gravura correspondente ao Encontro com Bento Lourengo; no original o príncipe resolve a "falta de iluminado" com um fundo cinza escuro e urna luz igualmente distribuida sobre as figuras, árvores e objetos; na gravura urna iluminado é inventada, enfatizando as árvores em primeiro plano e certos personagens da cena. Finalmente, Cagador surpreende um bando de araras constimi urna das melhores representa?5es da natureza tropical de autoría de Maximilian. Trata-se de urna paisagem observada de um ponto próximo; à margem de um rio, apenas sugerido, um bando de araras s3o espreitadas por um calador indígena, que prepara o arco e flexa para atirar. Nela, vegetado, pássaros e figura humana tem um mesmo péso como elementos da composito; as cores e as formas vegetáis transmitem exuberancia de modo simples e direto, sem artificios, sem a mediado do idealismo clàssico ou romàntico. Num dos últimos capítulos da Viagem ao Brasil, o príncipe expressa sua crítica "...às descriases dos viajantes acostumados a representar tudo com exagerada beleza": "Faz-se geralmente na Europa idéia bastante inexata desses longínquos países... Essas describes, escritas nos gabinetes sobre tema 33
J.J. Tschudi, Reise durch Süd-Amerika. Leipzig 1866-69, cit. por Löschner, p.46.
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escolhido... ao sabor da fantasía e sem conhecimento dos fatos, podem agradar pelo primor do estilo e a forma atraente, mas n3o possuem nenhum valor real, repletas que s3o de erros. Como evitar os erros e as inexatiddes, quando n3o se tem presente aos olhos, o objeto de que se deseja trabar a imagem?" 34 Maximilian retratou o que tinha "presente aos olhos"; seus desenhos e aquarelas lembram ao autor Joseph ROder obras dos artistas modernos primitivos, como por exemplo Henri Rousseau. 35 Claro que para o crítico atual, com olhar habituado aos padróes estéticos modernos, que permitem liberdade de representa93o muito maior, n3o é difícil perceber as qualidades artísticas da obra de Maximilian e até encontrar nelas pontos em comum com as correntes primitivistas; afínal em ambos os casos os cánones clássicos d3o lugar a urna interpretado muito mais direta da imagem "diante dos olhos". N3o era i n t e n s o desse ensaio examinar exaustivamente a obra do príncipe Maximilian, mas antes acenar 3 existencia de um conjunto de desenhos e aquarelas de sua autoría que constituem urna das primeiras r e p r e s e n t a o s de paisagens, tipos humanos e da natureza tropical brasileira, que n3o pode deixar de ser examinado sob o ponto de vista de suas qualidades artísticas. Ou, formulando de outra maneira: tomar conhecidas entre nós a versSo original e muito mais convincente das imagens de um Novo Mundo lüo frequentemente idealizado pelos europeus.
4. A e x p e d i d o do Príncipe Maximilian Wied zu Neuwied • aspectos científicos Como varios outros alemSes da passagem do século XVIII para o XIX, podemos identificar o Príncipe Maximilian com o perfil do viajante-pesquisador de sua época, movido ao mesmo tempo pelo espirito de aventura e pela curiosidade científica. O racionalismo illuminista impulsionava-os á descrido e classifica(3o do mundo conhecido, a organizado de urna nova ordem, assim como á explorado de térras longínquas. O Brasil, dada suas dimensóes continentais e sua escassa povoa;3o, correspondía em muitos aspectos a essa imagem, atraindo o interesse dos viajantes. Outro fator que contribuía para que o país aínda permanecesse, em grande extens3o "térra incógnita", era o difícil acesso aos estran34 Wied [5], p.416. 35
Roder, p.l 14.
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geiros imposto pelas autoridades portuguêsas, situaçâo que se transformaría com a abertura oficial dos portos brasileiros em 1808. Essa proibiçâo constituiu um dos motivos pelos quais Alexander von Humboldt em sua viagem à América do Sul (1799-1804) chegara apenas à fronteira na regiâo do Orenoco, sem entrar em territòrio brasileiro.36 Outros cientistas europeus antecederam o Príncipe Maximilian; entre os alemàes destacamos o Barâo Wilhelm von Eschwege, geólogo e engenheiro de minas a serviço da coroa portuguêsa.37 Tendo já pesquisado o subsolo de Portugal, no Brasil, onde chegou em 1810 e permaneceu até 1821, Eschwege foi nomeado superintendente das minas de ouro, dedicando-se também à pesquisa de minas de ferro, de chumbo, à cartografia, à realizaçâo de mapas geológicos, à mediçôes metereológicas, além da construçào de estradas e pontes, principalmente na regiâo de Minas Gérais. Por outro lado, a expediçâo de Maximilian antccedeu de dois anos urna outra, que por suas proporçôes e seu caráter oficial foi considerada como a mais completa desse período. Tratava-se da expediçâo empreendida pelos cientistas e artistas que em 1817 acompanharam a princesa Leopoldina, que tinha pessoal-
36 Os territórios coloniais espanhóis também eram acessíveis somente a poucos cientistas estrangeiros. Humboldt, näo sem difìculdades, conseguili do Rei Carlos IV a permissäo de viagem às colonias espanholas (Beck, pp.96/101). Hanno Beck descreve ainda as difìculdades de Humboldt na regiäo da fronteira entre Brasil e Venezuela: "... do lado brasileiro encontraram 25 a 30 homens bem armados que ocupavam o pequeño forte de Sào José de Maravitanos... O comandante näo permitiu que H. visitasse o forte... Sem que H. soubesse, os portugueses já tinham tomado conhecimento de sua presela. No dia 2 de junho de 1800 o govemador do Ceará, Dom Rodrigo de Souza Coutinho, decretou a sua prisäo, caso H. pisasse o territòrio brasileiro, pois temia que os motivos científicos da expediijäo fossem apenas pretextos encobrindo objetivos políticos ou de exploraijäo económica" (Beck, pp.169/170). 37 Os alemàes, nào sendo provenientes entäo de um estado nacional constituido, nao representavam urna ameafa política aos olhos de Portugal, a menos é claro, que estivessem a servido de alguma potencia estrangeira. Em seu livro Reise nach Brasilien o Príncipe Maximilian menciona o Conde da Barca, "...ministro protetor das ciencias", que fomecia cartas de recomendafäo e possibilitava a obtenfäo de passaportes aos viajantes alemäes. (Wied [5], p.7).
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mente grande interesse pelas ciências naturais, em sua viagem ao Brasil após o casamento com o entáo príncipe, Dom Pedro.38 O Príncipe Maximilian conhecia a obra de Eschwege e menciona-o na introduçào da Viagem ao Brasil, justificando a escolha da regiáo de sua expediçâo; já que a regiâo de Minas já fora táo detalhadamente descrita pelo Barâo, e que o acesso a outras regides do interior lhe parecía demasiadamente difícil, "...achei melhor orientar minhas excursôes para a costa orientai do país... desde o 23a até o 13° grau de latitude sul... que em grande parte, era interamente desconhecida ou que, até entáo, nâo tinha sido absolutamente descrita."39 Ao contràrio de Eschwege, no entanto, a expediçâo do Príncipe Maximilian era auto-financiada, como a de Humboldt, o que naturalmente lhe dava muito maior independencia na escolha de objetivos e itineràrio. Do Rio de Janeiro até Ilhéus a comitiva de Maximilian acompanhou o litoral, com algumas incursóes pelo interior pouco distantes da costa; de Ilhéus partiu em direçào ao sertào chegando até "os confins da Capitanía de Minas Gérais"40; e de là rumo a Salvador, onde terminou a expediçâo. A travessia de Londres ao Rio de Janeiro, a bordo do navio inglés Janus, durara mais de dois meses. A comitiva de Maximilian constava de dois de seus empregados, um caçador e um jardineiro, dois dentistas alemâcs que conhecera no Rio de Janeiro, o ornitólogo Georg Wilhelm Freyreiss e o botànico Friedrich Sellow, dez brasileiros "...uns para tratar dos animais de carga, outros como caçadores"41, urna tropa de dezesseis muarés, alcm de câcs de caça alemàes. Na primeira etapa da viagem, do Rio até Cabo Frió e dai alé a "Vila de Sao Salvador dos Campos dos Goitacás" (a atual cidade de Campos), o príncipe colecionaia e classificara aves, animais e plantas, além de descrever minuciosamente paisagens e registrar acontecimentos da viagem. Subindo o Rio Paraíba na regiâo de Campos, a comitiva realiza sua primeira excursâo em direçâo ao interior, até a aldeia de Sâo Fidelis: "... apressci-me em visitar o que significava para nós a
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Entre os cientistas e artistas que acompanharam a princesa ao Brasil constavam: Johann Natterer, Thomas Ender, Johann Buchberger, Franz Joseph Frübeck, Johann Christian Mikan, Johann Baptist Emanuel Pohl, Carl Friedrich Philipp von Martius, Johann Baptist von Spix e o italiano Giuseppe Raddi.
39 Wied [5], p.9. 40
Idem, pp.391 a 439.
41
Idem, p.33.
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raridade de maior interesse, urna tribo de tapuias ainda em estado selvagem." 42 Tratava-se do prímeiro contato com os indígenas em estado primitivo, os indios Puri, que foram retratados por Maximilian, assim como seus utensilios, armas e ornamentos. A comitiva se detivera vários dias entre os indios, nos quais o príncipe fizera numerosas observaçôes sobre tipo físico, usos, costumes e língua; foram suas primeiras consideraçôes etnológicas, porém nâo as mais significativas; o ponto alto da atividade científica de Maximilian durante a expediçâo no Brasil, resultará das observaçôes feitas durante sua estadía entre os botocudos, entre o norte do Espirito Santo e o sul da Bahia. Très meses e meio convivera o príncipe com esses indígenas, "...táo irreconciliavelmente hostis no Rio Doce ... mas pouco temidos no Belmonte". 43 O ensaio "Algumas palavras sobre os botocudos" abre o segundo tomo do livro do príncipe Viagem ao Brasil, e permaneceu por muito tempo como o mais extenso e sério estudo sobre esses indígenas. 4 4 A partir das observaçôes de Maximilian ai contidas pode-se perceber muito sobre sua atitude diante de seu objeto de estudo. Apesar de um certo etnocentrismo, principalmente quando comenta os "carácteres moráis" dos botocudos 45 , o príncipe é um excelente observador, descreve com clareza e objetividade aquilo que examina, estabelcce na maioria das vezes julgamentos bastante coerentes, nâo obstante a falta de conhecimento científico inerente à época. Maximilian revela-se um dos pioneiros na defesa dos direitos do indio, reivindicando várias vezes ao longo do texto, um "tratamento humanitário" para com eles, nâo hesitando em acusar o tratamento indigno que frequentemente os portugueses lhes dispensavam, e elogiando as medidas do entâo novo governador da Bahia, Conde dos Arcos, que iniciava urna política de respeito ao indio. 46 A grande contradiçâo do príncipe Maximilian foi ter levado consigo para a Ale42
Idem, p.99.
43
Idem, p.248. O rio Belmonte, citado tantas vézes por Maximilian, é o atual rio Jequitinhonha. Segundo o príncipe, as matas do río Belmonte constituíam o principal recesso dos botocudos (ver pp.233/234). Os indígenas que na Capitanía do Espirito Santo eram tao ferozes (ver relato de um ataque pp.201/202), na regiao do "Belmonte" (sul da Bahia) eram acessíveis aos estrangeiros e habitantes da costa, mas mantinham-se livres e tinham autonomía sobre seu territorio.
44
45
Na versáo em portugués da Viagem, o tradutor/comentador lista os escritos sobre os botocudos e considera o ensaio de Maximilian "...efetivamente, nao só um dos primeiros, como o mais copioso estudo sério sobre a ra?a e a língua dos indígenas umversalmente conhecidos pela alcunha de Botocudos." (ver Wied [5], nota 469, p.283). Wied [5], pp.292/293.
46
Idem, pp.311/313.
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manha um jovem botocudo chamado Queck, provavelmente com o intuito de poder continuar os estudos sobre aquela tribo. Nao se pode, contudo, deixar de criticar a atitude de retirar um indígena de seu habitat natural e levá-lo para a Europa como um exemplar exótico, da mesma forma como com fizera com animais e plantas raras. Queck, nao se adaptando ás mudanzas radicáis que sofrera, tornou-se alcoólatra e morreu poucos anos depois.47
47
Segundo um descendente de Maximilian, muitas vezes para os höspedes do principe em sua propriedade em Neuwied, Queck tinha que vestir-se "a caräter" como indigena. O botocudo sentia grande falta de sua liberdade, estranhara enormemente o clima, acabaia viciando-se em älcool e morrera alguns anos depois. Karl Viktor zu Wied, Maximilian Prinz zu Wied, sein Leben und seine Reisen, em: Röder, p.25.
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5. Zusammenfassung Seit ihrer Entdeckung hat die Neue Welt Amerika europäische Wissenschaftler und Künstler fasziniert. Diese Faszination ließ nicht nur Kompendien und Traktate entstehen, sondern auch Kunstwerke, die versuchten, diese neue und weit entfernte Realität wahrzunehmen und zu erfassen. Brasilien wurde zu Beginn des 19. Jahrhunderts für die nicht-portuguiesischen Europäer gerade zugänglich, und dadurch wurde es ein begehrtes Ziel für die Wissenschaftler und Künstler, die auf der Suche nach jener Faszination waren. Eher ein Naturwissenschaftler als Künstler, entsprach Prinz Maximilian Wied zu Neuwied diesem Profil vollkommen. Während seiner Reise nach Brasilien zwischen 1815 und 1817 hat der Prinz neben den wissenschaftlichen Beobachtungen, die das Hauptziel der Expedition bildeten, über 200 aquarellierte Zeichnungen geschaffen, die Reiseereignisse, Indianer verschiedener Stämme, Pflanzen und Tiere darstellten; diese waren als Vorlagen für die Abbildungen eines Buches gedacht, das er 1820/21 veröffentlichte. Prinz Maximilian, der keine formale künstlerische Ausbildung besaß, betrachtete sich selbst als Dilettanten; deswegen ließ er seine Entwürfe durch ausgebildete graphische Künstler korrigieren, so daß die Zeichnungen, in Radierungen verwandelt, als Abbildungen für sein Buch Reise nach Brasilien geeignet wurden. Das Buch erschien in zwei mit 19 Vignetten illustrierten Bänden, begleitet von einem großformatigen Atlas, der 22 Radierungen und zwei Karten enthielt. Wegen der technischen Begrenzungen jener Zeit waren die Zeichnungen des Prinzen im Original nicht reproduzierbar. Das heißt, sie mußten auf jeden Fall in Radierungen "übersetzt" werden. Dabei wurden die zeichnerischen Studien, entsprechend dem damaligen romantischen Zeitgeist in Deutschland, vielfach in den Gegenstand idealisierende Darstellungen übertragen. Dies führte zu einem Verlust an Authentizität wie der genauen Beobachtung, die sich in den Originalzeichnungen von Prinz Maximilian findet. Ziel dieses Aufsatzes ist es, den Übergang von "naiven" aber authentischen Bildern zu romantischen und idealisierten Wahrnehmungen dieser Zeichnungen zu analysieren.
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Literatura Herbert Baldus, "Maximiliano Príncipe de Wied zu Neuwied", em: Revista do Arquivo Municipal, Säo Paulo 74(1941), pp.283 a 291. Hanno Beck, Alexander von Humboldts Amerikanische Reise. Stuttgart 1985. BRASILIANA - Von Amazonenland zur Kaiserreich. Catálogo de exposi?äo da cole?äo Brasilien Bibliothek der Robert Bosch GmbH; Biblioteca da Universidade de Heidelberg, 1989. Brasilien-Bibliothek der Robert Bosch GmbH. Band II, Teil I/II, Nachlaß des Prinzen Maximilian zu Wied. Stuttgart 1988. Luis Camara Cascudo, O Príncipe Maximiliano de Wied-Neuwied no Brasil 1815-117. Rio de Janeiro 1977. Renate Löschner, Die Reise des Prinzen Maximilian zu Wied 1815-1817 in Brasilien. Ausstellungskatalog des Ibero-Amerikanischen Instituts Preußischer Kulturbesitz. Berlin 1982. Walter Koschatzky, Die Kunst der Photographie. Herrsching 1989. Joseph Röder und Hermann Trimborn, Maximilian Prinz zu Wied. Unveröffentlichte Bilder und Handschriften zur Völkerkunde Brasiliens. Bonn 1954. Siegfried Schmidt, Bonn 1985.
Die Büchersammlung des Prinzen Maximilian zu Wied.
Maximilian zu Wied-Neuwied, Frankfurt a.M. 1820/21 [=1].
Reise nach Brasilien in den Jahren 1815-1817.
- Abbildungen zur Naturgeschichte Brasiliens. Weimar 1822/31 [=2], - Reise in das innere Nord America in den Jahren 1832-34. Koblenz 1839/41 [=3]. - Nachträge, Belichtungen, Zusätze zu der Beschreibung meiner Reise im östlichen Brasilien. Frankfurt a.M. 1850 [=4], - Viagem ao Brasil nos anos de 1815-1817. Säo Paulo 1958 [=5],
Das Brasilienbild Maximilians von Habsburg (1832-1867) Moema Párente Augel, Bielefeld
1. Historische Ausgangssituation Ferdinand Maximilian von Habsburg wurde am 6. Juli 1832 in Wien als zweiter Sohn von Franz Karl von Habsburg und Sophia von Bayern geboren. Aufgrund des Zusammenbruchs des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation nahm der deutsche Kaiser Franz II. als Franz I. von Österreich 1804 die Österreichische Kaiserkrone an. Von den 13 Kindern Franz' II. erbte der älteste Sohn als Ferdinand I. die Krone; eine Tochter, Marie Louise, wurde die zweite Frau Napoleons I.; seine Tochter Maria Leopoldina heiratete 1819 Pedro von Bragan?a, den späteren Kaiser Pedro I. von Brasilien (1822-1835); der jüngste Sohn, Franz Karl, wäre 1848 Thronfolger geworden, als sein ältester Bruder infolge der Revolutionsereignisse zur Abdankung gezwungen wurde; er verzichtete jedoch zugunsten seines Sohnes Franz Joseph, der bis 1916 als vorletzter Kaiser Österreichs regierte. Dessen Bruder, Ferdinand Maximilian, wurde 1854 Oberkommandierender der Österreichischen Marine und war 1857-59 Generalgouverneur des zu Österreich gehörenden Königreichs Lombardo-Venetien. 1864 wurde Maximilian auf Betreiben Napoleons III. Kaiser von Mexiko und als solcher am 19. Juni 1867 von den aufständischen republikanischen Truppen unter dem Befehl von Juárez erschossen. Maximilians Tante Maria Leopoldina, Tochter Kaiser Ferdinands I., hatte durch ihre Heirat mit dem späteren Kaiser Pedro I. von Brasilien eine bedeutende Verbindung zwischen dem Hause Habsburg und Brasilien hergestellt.1 Der Österreichische Hof wurde laufend über die Ereignisse in Brasilien informiert. Im Gefolge der Prinzessin Leopoldina reiste eine der bedeutendsten wissen1
Ezequiel Stanley Ramírez, As relagóes entre a Austria e o Brasil. 1815-1889. Säo Paulo 1968, S. 66 ff. Vgl. u.a. noch: Karl Heinrich Obcracker jr., Contribuigäo teuta ä formagäo da Nagäo Drasileira. Rio de Janeiro 1968
Moema Parente Augel
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schaftlichen Expeditionen nach Brasilien, die für die Kenntnis des Landes und seine naturwissenschaftliche Erschließung von hoher Wichtigkeit war. Spix und Martius, Pohl, Mikan und andere hinterließen bedeutende Werke über Brasilien. Maximilians Reise stand so sowohl in dem angedeuteten politischen und familiären Kontext als auch in der Tradition der großen wissenschaftlichen Expeditionen des 19. Jahrhunderts. Er bereiste 1860 Brasilien und veröffentlichte im Anschluß an diese Reise drei Bände Reisecrinnerungen: Heber die Linie, 1860, Wien 1861; Bahia 1860, Wien 1861; Mato Virgem, Wien 1864. Diese drei Bücher sind die letzten seiner siebenbändigen Reihe Reiseerinnerungen, die er unter den Gesamttitel Reise Skizzen stellte. In Ueber die Linie beschreibt er die Überfahrt nach Brasilien mit ihren Zwischenaufenthalten. Er zeigt sich stolz darauf, als erstes männliches Mitglied seines Hauses den Weg nach Brasilien zu nehmen: "Die 'Elisabeth' ist der erste österreichische Dampfer, der, seit Dampf die Welt regiert, die Linie passiert hat; und wenn auch eine Frau meines Stammes uns den Weg in die neue Welt gezeigt hat, so freue ich mich doch, der erste Mann meines Hauses zu sein, der in die südliche Hemisphäre einzieht."2
2. Problemstellung und Ziel Die beiden sich auf Brasilien beziehenden Bände bringen auf insgesamt 558 Seiten eine Fülle von Informationen, Eindrücken und Meinungen über Land und Leute in Salvador und dem kleinen Küstenstädtchen Ilh6us einschließlich des jeweiligen Hinterlandes, und zwar aufgrund eines Aufenthalts von vier Tagen in Salvador und einer Woche in Ilheus. Das Mißverhältnis zwischen einem so kurzen Aufenthalt und der Ausführlichkeit der Beschreibungen und Wertungen ist bemerkenswert. Reiseberichte stellen einen entscheidenden Beitrag dar zur Ausarbeitung des Bildes, das die Länder des nordatlantischen Staatensystems und der industriellen Revolution von ihren Kolonien oder Einflußgcbieten, der heutigen "Dritten Welt", entwerfen. Der "kulturelle Abstand" und das Machtgefälle zwischen dem Berichterstatter und dem Gegenstand seines Berichts werden in den Beschrei-
2
Bahia 1860, S. 259.
Das Brasilienbild Maximilians von Habsburg
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bungen offensichtlich. Der Reisebericht ist jedoch nicht nur Ausdruck ungleicher Beziehungen, sondern schafft diese selbst Der Reisebericht steht damit in einem Ursache-Wirkungs-Verhältnis besonderer Art Er ist Bericht über das, was andere an einer fremden Gesellschaft bemerkenswert fanden, und er konstruiert diese fremde gesellschaftliche Wirklichkeit, weil er das Vermögen hat, das von ihm geschaffene Bild als das Eigentliche, das Wesentliche, das Alleingültige durchzusetzen. Dies gilt nicht nur als Wirkungszusammenhang innerhalb der Gesellschaft, die Reiseberichte schreibt; die "koloniale Situation" der von Außenstehenden beschriebenen Gesellschaften zeigt sich darin, daß sie selbst sich das von außen an sie herangetragene Bild zu eigen machen. Durch Übernahme von Interpretationsmustern verliert der Kolonisierte jedoch die Fähigkeit, seine eigenen Interessen zu erkennen, zu formulieren und zu verteidigen. Hier schließt sich also der Ring, der vom Autor über die Objektdefinition zur abgeleiteten Selbstdefinition dieses Objekts führt. Weiterhin bedeutet die Konfrontation mit der fremden Wirklichkeit für den Reisenden eine kognitive Herausforderung: Zu den Strapazen der Reise kamen die klimatischen Umstellungen, die aus mangelnder Vertrautheit mit den örtlichen Gegebenheiten und aus mangelnder Sprachbeherrschung resultierende Unsicherheit, die Umstellung der Ernährungsgewohnheiten, die vielfältigen neuen Eindrücke. Zur Analyse solcher Faktoren ist neben der individuellen Persönlichkeit des Autors seine Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe oder Klasse zu berücksichtigen. 3 Als Fremder einer fremden Wirklichkeit entgegenzutreten, hat positive und zugleich negative Auswirkungen auf die Möglichkeiten und die Art und Weise, diese fremde Wirklichkeit zu erfassen. In seinem Buch zur Sichtweise Mexikos im angelsächsischen Bewußtsein rechtfertigt es Ortega y Medina, fremde Wirklichkeit "entdecken und durchdringen zu wollen mittels Texten, die stets unter besonderen Umständen geschrieben wurden: im Auftrag anderer, als Modeerscheinung oder unter dem Druck von Interessen"; er gegenargumentiert jedoch, daß die durch fremde Augen beobachtete Wirklichkeit gerade die "Fremdartigkeit" ("extrafieza") bloßstellt, die der Ausländer dem neuen Kosmorama gegenüber erfährt, dem er sich gegenüber sieht, und daß die durch fremde Augen ge3
Das menschliche Handeln hat fast nie ein isoliertes Individuum als Subjekt. Das Subjekt dieses Handelns ist vielmehr eine Gruppe, ein "wir". Vgl. u.a. Lucien Goldmann, Structures mentales et création culturelle. Paris 1970.
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sehene Wirklichkeit "intime Züge und psychologische Tiefen freilegt, die von einem einheimischen Schriftsteller vielleicht für nicht beachtenswert gehalten worden wären, da sie den gewohnten und vertrauten individuellen und nationalen Verhaltensregeln, dem nationalen Tonfall und dem gewohnten Kollektivverhalten entsprechen". 4 Auch der gegenteilige Einfluß, die Fremdheit als Negativum, sei hier wenigstens genannt, um einen Hinweis auf mögliche Interpretationsmuster zu geben. Die gesellschaftlichen Normen und Werte einer Gruppe, ihre Unterschiede gegenüber anderen Gruppen, ihr Orientierungssystem, Gebräuche und Gesetze stellen sich dem Neuankömmling als etwas seinen eigenen Normen Nichtentsprechendes dar, zu dessen Erfassung und Beurteilung er aber sein eigenes System als Bezugsrahmen nimmt, innerhalb dessen er sich bewegt, an dem er sich orientiert. Die dabei notwendigerweise bestehende Diskrepanz zwischen dem einen und dem anderen Normensystem, das von keiner der beiden Seiten bisher hinterfragt wurde, erschwert die Kommunikation und die Interaktion und macht sie vielleicht sogar unmöglich. Das Verständnis fremder Wirklichkeit würde damit also durch die Übertragung eines der fremden Wirklichkeit notwendigerweise fremden Bezugsrahmens erschwert, verzerrt oder unmöglich gemacht. Dabei muß bei Maximilian als einem bewußt in einer historischen Kontinuität lebenden Repräsentanten einer europäischen Großmacht besonders beachtet werden, daß die Wirklichkeit beider Gruppen und Systeme, des beobachteten und des beobachtenden, Ergebnis historischer Entwicklungen ist, von denen die Gruppenmitglieder geprägt sind, ob ihnen dies bewußt ist oder nicht. Das Lateinamerika-Bild und die Analyse der Reiseliteratur zu Lateinamerika (und im vorliegenden Fall besonders zu Brasilien) muß berücksichtigen, daß fast alle lateinamerikanischen Länder zu Beginn des 19. Jahrhunderts ihre politische Unabhängigkeit errangen. Während seit der Entdeckung und Eroberung bis zum Ende der Kolonialzeit die Kenntnis und die politisch-wirtschaftliche Durchdringung fast ausschließlich durch die "Mutterländer" Spanien und Portugal vermittelt wurde, hatte das 19. Jahrhundert einen großen Nachholbedarf, der sich in zahllosen Reisen, in vielen großen und kleineren wissenschaftlichen Expeditionen, in der Etablierung von diplomatischen und Handelsmissionen und in einer Fülle von Literatur über den neu in den Gesichtskreis und in das Tätigkeitsfeld Europas eingetretenen Subkontinent niederschlug. 4
Juan A. Ortega y Medina, México en la conciencia anglosajona. México 1953: I, S. 10.
Das Brasilienbild Maximilians von Habsburg
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Gegen Ende der Kolonialherrschaft hat Alexander von Humboldt die wissenschaftliche Erschließung Lateinamerikas begonnen - es ist wie eine Neuentdeckung des Kontinents. Die wissenschaftlichen Interessen, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Mittelpunkt eines großen Teils ausländischer Reisender in Lateinamerika standen, hatten als Ziel, die Aufdeckung der Zusammenhänge zwischen den einzelnen Bereichen der Natur, die Frage nach Ursache und Wirkung zu erforschen, die Suche nach den Beziehungen zwischen den natürlichen Bedingungen und der menschlichen Gesellschaft (z.B. bei der Weltumseglung von Fitzroy und Darwin). Dabei handelt es sich jedoch nicht um "nur" fachwissenschaftliche Erkundung. Vielmehr sind die Forschungsreisen Teile des Bemühens, die neu entdeckten Länder insgesamt zu begreifen, sich zu eigen zu machen. "Die Forscher, die ein mehr oder weniger eng begrenztes Fachwissen besaßen, seien es Biologen oder Zoologen, Völkerkundler, Vulkanologen oder Bergbaufachleute, trugen in der Regel nicht die Scheuklappen enger Fachinteressen, sondern öffneten Augen und Ohren für alle anderen Erscheinungen der Natur und Gesellschaft, eine Einstellung, die für den Universalgelehrten Alexander von Humboldt und seine Nachfolger bezeichnend ist".5 Von den großen Expeditionen nach Brasilien seien als Beispiele die österreichisch-bayerische Expedition (1817-1820) und die von Langsdorff geleitete und von Zar Alexander I. von Rußland finanzierte (1824-1829) genannt. In den Vereinigten Staaten finanzierte Nathaniel Thayer eine einjährige wissenschaftliche Expedition, die 1865/66 unter Leitung von Jean Louis Rodolphe Agassiz stattfand und an der auch der Geologe Charles Frederick Hartt, der spätere Leiter der Morgan-Expedition, teilnahm. 3. Europäisches Brasilienbild und Selbstidentifikation Brasiliens Das Brasilienbild des 19. Jahrhunderts kann neben einer Fülle mehr oder weniger bekannter Werke auf Autoren wie Agassiz, Av6-Lallemant, Darwin, Expilly, Graham, von Martius, Maximilian von Wied-Neuwied, Maximilian von Habsburg, Rugendas, von Spix u.a.m. zurückgreifen, wobei die genannten Namen nur eine Auswahl von über hundert Reisenden darstellen, die im 19. Jahrhundert allein über die brasilianische Stadt Salvador bzw. die Provinz Bahia 5
Herbert Scurla (Hrsg.), Im Banne der Anden, 1979, S. 7.
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schrieben.6 Wichtige Darstellungen der europäisch-nordamerikanisch-brasilianischen Beziehungen in dieser Zeit sind Ausdruck für die prägende Kraft dieser neu entdeckten Wirklichkeit - prägend durchaus im Sinne eines gegenseitigen Einflusses, der jedoch durch die wachsende Asymmetrie der internationalen Beziehungen immer einseitiger wurde. Eine Folge der wachsenden Fähigkeiten der Länder der industriellen Revolution, die Welt "nach ihrem Bilde und Gleichnis" zu gestalten und zu ihren Gunsten wirkende asymmetrische Beziehungen zu den kolonialisierten Ländern und Völkern aufzubauen, ist die Verinnerlichung des Fremdbildes durch die Kolonisierten selbst. Dabei verdrängt die Tatsache der politischen Unabhängigkeit nicht die auf anderen Gebieten fortbestehenden oder neu geschaffenen Abhängigkeiten. Die Öffnung der Häfen Brasiliens durch die portugiesische Krone (1808) war schon Ausdruck der bestehenden und sich weiter ausbauenden führenden Rolle Großbritanniens als Vormacht im Bereich des Handels und der Industrie. Die dynastischen Verbindungen zwischen Brasilien und Portugal blieben bestehen, und Brasilien erhielt im "Konzert" der europäischen Höfe die Rolle einer formal ebenbürtigen und als Heiratschance nachgeborener Adelstöchter durchaus gefragten Dynastie. Der brasilianische Adel und die Großbourgeoisie ihrerseits schickten ihre Söhne auf europäische Universitäten. Kulturell nahm Europa jetzt die Rolle des Vorbildes ein, die durch die restriktive portugiesische Kolonialpolitik bisher dem "Mutterland" vorbehalten gewesen war. Als Teil der mit der brasilianischen Unabhängigkeit zunehmenden kulturellen Orientierung der politischen und literarischen Elite Brasiliens nach Europa hin gewann im 19. Jahrhundert die europäische Literatur einen großen Einfluß. Auch Reiseberichte berühmter Europäer wurden bekannt, sei es durch Übersetzungen, sei es durch die Rezeption im Original durch die auf europäischen Schulen und Hochschulen gebildete brasilianische Elite. Es fehlt fast vollständig an Detailkenntnissen, um die Übernahme des in der europäischen Reiseliteratur gezeichneten Brasilienbildes nachzeichnen zu können. Dabei scheint es weniger wichtig, Einzelbeispiele zu benennen, etwa eine frühe Übersetzung eines entsprechenden Werks und eine Publikation in Brasilien. Wichtiger und wirksamer waren der gemeinsame kulturelle Hintergrund und die der europäischen und brasilianischen Elite gemeinsamen Werte und
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Nach Moema Parente Augel, Visitantes Estrangeiros na Bahia oitocentista. Säo Paulo 1980.
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Überzeugungen sowie deren konkrete Ausprägung in der Einschätzung brasilianischer Wirklichkeit. Die Schaffung eines "Brasilienbildes" durch Europa ist deshalb Bestandteil der allgemeinen Haltung der europäischen literarischen Elite in bezug auf grundlegende Fragen wie Rassenvorurteile, Sklaverei, soziale Schichtung und Gegensätze, Stellung zur Natur, Stellung zur kolonialen Ausdehnung Europas, Universalität kultureller Manifestationen, Eigenständigkeit autochthoner Kulturen u.a.m. Die Rückwirkungen der Vorstellungen und Werthaltungen, wie sie in ausländischen Reiseberichten über Brasilien zum Ausdruck kommen, auf die brasilianischen Vorstellungen und Werthaltungen in bezug auf das eigene Land sind also integrierter Bestandteil der Wirkungen "europäischer Kultur" auf Brasilien. Deutlicher noch werden diese Verflechtungen in der traditionellen Überzeugung brasilianischer Selbstidentifikation als Teil der westlichen Welt, als integrierter Bestandteil des christlich-okzidentalischen Kulturkreises. Eine solche globale Analyse ist natürlich innerhalb der vorliegenden Arbeit nicht zu leisten und nicht das Ziel. Vielmehr sollen anhand eines konkreten Einzelbeispiels die Einbettung des hierin entworfenen Brasilienbildes in allgemeine Werthaltungen des Autors, seiner Zeit und seiner sozialen Schicht gegeben und gleichzeitig die Rückwirkungen aufgezeigt werden, die dieses Bild von außen auf das Eigenbild der darin Gezeichneten hat. Der negativen Sicht Brasiliens von außen entspricht in der Selbstidentifikation die in der brasilianischen Geistesgeschichte als Ideologie des Pessimismus bekannte Selbsteinschätzung. Darunter ist eine Vielfalt von negativen Ideen und Überlegungen über die Kulturfähigkeit Brasiliens zu verstehen, die seitens der nationalen Elite in vielfacher Form verbreitet wurde und einhergeht mit der auch unterhalb der Elite weitverbreiteten Bewunderung für alles, was europäisch ist. Ein herausragendes und durch ein neueres literarisches Werk auch in Deutschland bekannt gewordenes Beispiel ist Euclides da Cunha, der in seinem journalistisch-dokumentarischen Hauptwerk Os Sertöes die Kulturfahigkeit des Menschen im Landesinnem thematisiert und überzeugt ist, daß durch Rassenmischung und das tropische Klima der brasilianische Mensch nicht in der Lage sei, sich aus den gegebenen örtlichen Bindungen und Beschränkungen zu lösen. Euclides da Cunhas Hauptwerk diente als Vorlage und Hauptquelle für den Roman von Mario Vargas Llosa, Der Krieg am Ende der Welt. Monteiro Lobato, einer der wichtigsten brasilianischen Autoren der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, schuf in seiner fast karikaturhaft dargestellten Figur des Jeca Tatu das Bild des hinterwäldlerischen, unterentwickelten und entwicklungsunfähigen
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Bewohners des flachen Landes (Urupes, 1918). Wichtig als Ausdruck des Kulturpessimismus sind auch das "Bild Brasiliens", Retrato do Brasil, von Paulo Prado, 1928. Gra^a Aranha zeigt in seinem Roman Canaä (1902) die "angeborene Schwäche" des Brasilianers, der er das Idealbild eines von Deutschen besiedelten und mit deutscher Effizienz und Rationalität organisierten Landes gegenüberstellt Auch Jorge Amado gehört mit seinem ersten Roman 0 Pais do Carnaval (Das Land des Karnevals, 1931) zu dieser Tradition, gegen die er sich selber jedoch sehr bald mit seinem "Zyklus des Kakaos" wendet. Die Übernahme eines fremdbestimmten Bildes, der Übergang von der "Objektdefinition zur abgeleiteten Selbstdefinition dieses Objekts" drückt sich zunächst in der großen Anzahl der in Brasilien veröffentlichten ausländischen Reiseberichte aus. Von den bei Parente Augel (1980) für Bahia im 19. Jahrhundert genannten ausländischen Reisenden werden im Literaturverzeichnis neben den Originaltiteln 33 brasilianische Übersetzungen von 98 Reisenden genannt, unter ihnen fast alle wichtigen Autoren, die in der brasilianischen Literaturgeschichte, Historiographie und in vielen anderen Bereichen einen festen Platz im brasilianischen Bild Brasiliens gewannen. Als ein Beispiel für die Präsenz ausländischer Reisender in der brasilianischen sozialwissenschaftlichen Literatur sei Gilberto Freyre genannt. Der ausländische Einfluß auf seine Konzeption des Werdegangs der brasilianischen patriarchalischen Gesellschaft ist besonders bemerkenswert, weil sein 1933 zuerst erschienenes Werk Cosa Grande e Senzala und Sobrados e Mocambos (1936) gerade als Dokument der Selbstbesinnung Brasiliens und der Entdeckung eigenständiger Wurzeln der nationalen Kultur angesehen werden. Unter seinen Quellen, aus denen er Einzelelemente eines fremdbestimmten Brasilienbildes übernimmt, befinden sich Reisende wie Agassiz, Arago, Castelneau, Denis, Expilly, Freycinet, Graham, Kidder, Koster, Lindley, Luccock, Martius, Nienhof, Ouseley, Pohl, Rugendas, Schaeffer, Wallace, Walsch, Wied-Neuwied u.a. Ähnlich wie bei Gilberto Freyre, dem Vater der brasilianischen Soziologie und Altmeister der brasilianischen Brasilien-Interpretation, finden sich ausländische Darstellungen als konstituierende Elemente in den Analysen von Thaies de Azevedo (Povoamento da cidade de Salvador, 1948), Pedro Calmon (0 espirito da sociedade colonial, 1934), Carlos Ott (Formagäo e evolugäo etnica da cidade do Salvador, 1955), Jose Wanderley de Araüjo Pinho (Histöria social da cidade do Salvador, 1968, und Salöes e Damas do Segundo Reinado, 1959), Heitor Ferreira Lima (Histöria politico-econömica e industrial do Brasil, 1973), J.F. de Almeida Prado (D. Joäo VI e o inicio da classe dirigente do Brasil, 1968) und in
Das Brasilienbild Maximilians von Habsburg
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vielen, wenn nicht in den meisten großen und kleineren, allgemeinen und spezifischen Werken zur kulturellen Entwicklung des Landes. 4.
Maximilian als Repräsentant seiner Zeit und seiner Gesellschaftsschicht
Als Mitglied des europäischen Hochadels der Zeit der Heiligen Allianz läßt Maximilian in seinen Büchern ein Spiegelbild der gesellschaftlichen Wirklichkeit seiner Zeit und seiner sozialen Schicht entstehen. Als Erzherzog lebte er ständig im inneren Widerstreit zwischen seinem Klassenbewußtsein und seinem romantischen Temperament, zwischen dem Stolz seiner Dynastie und dem ihm eigenen liberalen Gedankengut. Seine leidenschaftliche und träumerische Natur fand in den ästhetischen und philosophischen Tendenzen der zu seiner Zeit in Blüte stehenden Romantik ein ideales Feld künstlerischer Ausdrucksmöglichkeiten, stürzte sich in die Suche nach Neuem, nach Exotismus, und drängte ihn dazu, Regeln und Konventionen über Bord zu werfen und die in seiner Gesellschaftsschicht geltenden rigiden Normen zu fliehen. Habsburger von Blut und in seiner Erziehung, war er stolz auf seinen sozialen Status und verkörperte die Überzeugung und das Bewußtsein seiner eigenen Überlegenheit und des ihm angeborenen Charismas. Der Poet in ihm führte ihn jedoch auch zu wenig konventionellen Taten und zu Versuchen, aus dem bedrückend engen Kreis der "Staatsräson" und des "noblesse oblige" auszubrechen und seiner Sehnsucht nach Nahrhaftigkeit und Abenteuern zu folgen. Seiner Liebe zum Reisen nachzugeben, bedeutete für Maximilian eine Möglichkeit, dem Druck seiner Rolle und den Verpflichtungen zu entgehen, die ihm als Erzherzog oblagen. "Ja, wer reisen kann, der reise", denn nur darin "liegt des Lebens wahre Anschauung", schreibt er in einem der sieben Bände seiner Reiseerinnerungen. 7 Reisen ist für Maximilian ein Synonym für Freiheit. Hier kann er sich aus der engen und erstickenden Herrschaft der Etikette und des Hofes befreien, hier kann er er selbst sein, hier kann er sich spontan und kreativ seiner eigenen Sinne erfreuen, ohne sich durch Konventionen gebunden noch von den Augen des Mißfallens beobachtet fühlen zu müssen. "In den feinen parfümierten Salons" wird man eine solche Tendenz "Sucht nach Abenteuer nennen", gesteht er sich 7
Aus meinem Leben, II, S. 135.
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mitten im tropischen Urwald, als er den großen Traum seines Lebens verwirklichen kann und mit eigenen Füßen "das irdische Paradies" betritt. Seiner Meinung nach aber, so fährt er fort, ist "derlei Abenteuer für die Ausbildung des Charakters sehr gesund".8 Reisen bedeutet also Bildung, die Welt kennenlernen, kulturelle und moralische Bereicherung, zu seiner Persönlichkeitsbildung und für sein tiefstes Inneres nützliche Erfahrungen sammeln, bedeutet Nahrung seines Geistes und seiner Empfindungen, Möglichkeiten des Vergleichs und der Abwägung, Erweiterung seines geistigen Horizonts. Reisen rechtfertigt auf diese Weise sowohl die Interessen des Poeten als auch die Verpflichtung des Fürsten. Die vielen Veröffentlichungen über Maximilian haben ein Schwergewicht in seiner politischen Tätigkeit und im Debakel seines mexikanischen Abenteuers. Hier interessiert uns dagegen vor allem Maximilian als Schriftsteller, Maximilian als Reisender, also die von seinen Biographen weniger behandelten Aspekte, obwohl diese in hohem Maße Aufschluß über seine Persönlichkeit geben und zwischen den Zeilen seiner Reiseberichte wie in seinen Aphorismen und Gedichten die Ursprünge des letztendlichen Dramas seines Lebens erkennen lassen. Eine Analyse seiner verschiedenen Reiseerinnerungen zeigt die Entwicklung und den natürlichen Reifeprozeß im Verlauf seines fortschreitenden Alters und der Ansammlung von Erfahrungen. Als Jüngling betrachtet er ekstatisch griechische Ruinen oder ägyptische Pyramiden, er genießt den Ausdruck des Respekts und der Verehrung, die ihm als Repräsentant seines Hauses in Sizilien, Palermo oder Albanien entgegengebracht werden. Haslips Feststellung scheint berechtigt, daß sich in seinen Schriften kindliche Naivität und kosmopolitische Weisheit vermischen. 9 Die beiden letzten Bücher Maximilians dagegen, nämlich Bahia 1860 und Mato Virgem, sind Werke eines sehr viel erfahreneren und reiferen Autors und offenbaren insbesondere die in seiner doppelten Rolle als Fürst und als Dichter begründeten Widersprüche. Die sich auf Brasilien beziehenden Bücher des Erzherzogs illustrieren als ganz ausgezeichnete Beispiele die sich entwickelnden und verfestigenden asymmetrischen Beziehungen zwischen den Ländern der industriellen Revolution und denen der heute sogenannten Dritten Welt, die sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts stetig vertiefen. 8
Mato Virgem, 1864, S. 24.
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Joan Haslip, Maximilian, Kaiser von Mexico. München 1972, S. 42.
Maximilian von Habsburg
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Festzustellen ist eine Parallelität zwischen der sich herausbildenden wirtschaftlichen Hegemonie Europas und seinem kulturellen Übergewicht, mit dem pari passu die politische Dominanz, die Vorherrschaft in Handel und Industrie und der Kulturimperialismus einhergehen. Maximilian unternimmt seine Brasilienreise inkognito und kümmert sich wenig darum, daß die brasilianischen Autoritäten sich zu seinem Empfang vorbereitet hatten. In Bahia, in Ilhéus, Rio de Janeiro und in Pernambuco läßt er vergeblich auf sich warten und gibt niemandem Anlaß zur Eitelkeit, einen Fürsten so hohen Geblüts empfangen zu können. Lediglich seine Landsleute - Lohmann, Steiger, Berbert - erleben Seine Hoheit aus nächster Nähe. Vor allem mit Baron von Steiger, dem dynamischen Landwirt von Ilheus, versteht sich Maximilian gut, sei es aufgrund einer gewissen Annäherung im sozialen Status, einer ähnlichen Weltsicht beider oder wegen der ihnen gemeinsamen Abneigung gegen gewisse verkrustete Strukturen. Im Recöncavo hatte er schon den wohlhabenden Besitzer des Landguts Engenho Novo, Tomás Percira Jeremoabo, kennengelernt, dem er Achtung und Bewunderung entgegenbrachte. Aber der Funke, der die gegenseitige Verbrüderung hätte entzünden können, war nicht übergesprungen. War es wegen der dunklen und unruhigen Augen des Zuckerrohrpflanzers oder weil er "dunkle Sklavengeschichten in der Vergangenheit"10 hatte? Jeremoabo befindet sich auf der anderen Seite der Waage. Trotz seines Fleißes und seines Talents scheint er für Maximilian nichts als ein blasser und verzerrter Reflex des Idealbildes: wie er, wie die Kolonisierten und Akkulturierten, sich im allmächtigen und allwissenden Europa spiegeln, sich zu seiner Religion und seinen Ideen bekehren, sie zurückweisen oder nachäffen, in jedem Fall aber endgültig und unwiderruflich in seine Herrschafts- und Kultursphäre einbezogen sind. Um in Maximilians Schriften den Ausdruck der Überzeugung seiner eigenen Überlegenheit und der Unterlegenheit des besuchten Landes, seiner Menschen und Institutionen zu finden, muß man hinter die allcraugenfälligstcn und gar krassen Ausdrücke dieser Haltung zurückgreifen. Es ist mehr als das Offensichtliche, mehr als die bei jedem Schritt zum Vorschein kommende Kritik und Verachtung gegenüber den brasilianischen Behörden und ihren Repräsentanten, die Lächerlichmachung der in seinen Augen wenig effizienten und wenig majestätischen Monarchie, die innere Revolte gegenüber der herrschenden Sklaverei oder
10 Bahia 1860, S. 275
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angesichts der mangelnden Würde des nationalen Klerus. Es ist auch nicht nur der überschwengliche Ausdruck der Begeisterung für die Natur auf Kosten aller anderen Aspekte des Lebens dieses Landes. Wir können vielmehr feststellen, daß für Maximilian Brasilien nicht nur Natur hat, daß Brasilien vielmehr in seinen Augen Natur ist. Das Land und alle seine Erscheinungsformen werden dem Naturzustand im wahren Sinne des Wortes gleichgesetzt Und alles, was sich mit diesem naturhaften und ursprünglichen Zustand verbindet, alles, was unberührt und paradiesisch ist, überschwenglich und rein, wird von ihm in den enthusiastischsten Tönen gefeiert. Sobald das Land jedoch sich anschickt, diesen Naturzustand zu überwinden, sobald es den Versuch unternimmt, der Zivilisation und der Kultur zu ähneln und sich ihr zu nähern, wird es heftig kritisiert und der Lächerlichkeit preisgegeben, verdient es nicht, in die Erzählung aufgenommen zu werden, da es sich um wenig anziehende oder schon bekannte Elemente handelt, die die idyllische Schilderung eines paradiesischen Zustands dieser neuen und andersartigen Welt stören würden. Und der Erzherzog bewaffnet sich pietätlos mit spitzer und unnachsichtiger Feder und bezeichnet die schwarzen Frauen und Männer als Affen, die in der durch ihre Anwesenheit verunstalteten Stadt herumlungern, er sieht in ihren Augen Anzeichen der Degenerierung und die Spuren von Schnaps, er betont, daß die Kutsche, die sich erdreistet, fürstlich sein zu wollen, in Wirklichkeit von Eseln gezogen wird, er ergießt sich in der Beschreibung der vergoldeten Livree der Kutscher, die so wenig ihren Modellen auf der anderen Seite des Ozeans gleichen, er belustigt sich über eine Art nachgeäffter Polizei, die er in Itaparica findet, er nennt boshaft das Gastland eine "sehr aufgeklärte Nation". 11
5.
Einige Aspekte des Brasilienbildes seiner Werke "Bahia 1860" und "Mato Virgem"
Selbst das überschwengliche Lob der Natur gerät Maximilian zum Ausdruck der Diskriminierung. Seine Beschreibungen sind exaltierte Lobpreisungen der in Brasilien vorgefundenen Natur, die er als jungfräulich-unberührt empfindet und dem erträumten irdischen Paradies gleichsetzt. Auch ohne die Stadt verlassen zu haben, in dem u.a. vom deutschen Konsul bewohnten Stadtteil Vitoria, reißt ihn die Vegetation der Gärten zur Begeisterung hin:
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Bahia 1860, S. 35.
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"Wirklich feenhaft sind die reizenden Gärtchen...; hinter reich gearbeiteten Gittern sieht man wie in einem Korbe oder wie in einer Juwelenfassung die köstlichsten Pflanzen des Erdballes im herrlichsten Farbenschmelze, vom goldenen Lichte der Sonne umflossen, in tausendfachen Blüthen funkeln und glühen... Hier ist in der Pflanzenwelt alles wahres Leben, übermüthige Lust, ja es scheint eine Kunst, in dieser Natur noch irgend etwas zu finden, was einen Garten auszeichnet; doch ist es gelungen, das Köstlichste des Köstlichsten zusammenzustellen, und alle Farben der Iris auf beschränktem Räume funkeln zu lassen...".12 Und ein wenig weiter kommt er zu der Überzeugung, "daß die Theologen sich über die Beschaffenheit des geschwundenen Paradieses vergebens den Kopfzerbrechen; was brauchen sie zu grübeln, da der Augenschein sie belehren kann. Wenn sie einen einzigen Spaziergang in den jungfräulichen Wald von Brasilien machen, wäre nicht mehr zu zweifeln, wie es war..." 13 Maximilians Naturbegeisterung steht im Gegensatz zu seiner sonst sehr kritischen und bissigen Art von Bemerkungen zur brasilianischen Gesellschaft und der von ihr geschaffenen Kultur. Sein Lob der Natur bildet nicht nur einen Gegensatz zur Kritik an der Gesellschaft, es ist selbst Ausdruck dieser Kritik. Wenn wir heute vielfach nicht mehr die Natur als den der Kultur entgegengesetzten Pol empfinden, so hatten doch Maximilian und seine Zeit die Überlegenheit der einen in bezug auf die andere in ihrem Bewußtsein allgegenwärtig. Um so schockierender ist für den brasilianischen Leser die Erinnerung daran, daß Brasilien insbesondere in der Zeit um 1860 bemüht war, die Umwandlung der ehemaligen Kolonie in einen modernen und "aufgeklärten" Staat zu konkretisieren und endgültig zu konsolidieren. Solche Bemühungen waren in der damaligen Vorstellung ebenfalls mit der Überwindung der überwältigenden Natur verbunden, die auf allen Gebieten durch Kultur ersetzt werden sollte: durch die politische Kultur des Hofes und der Provinzen, durch die materielle Kultur der Industrialisierung und der Kommunikation, durch akademische, künstlerische, kirchliche Kultur. Und all dieses wird von dem königlichen Besucher negiert, all dieses wird von dem aufgeklärten Reisenden in seiner Bedeutung herabgesetzt oder ignoriert, all dieses wird von dem unerbittlichen Schriftsteller lächerlich 12
Bahia 1860, S. 28/29.
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Bahia 1860, S. 162.
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gemacht und durch die Gleichsetzung des Landes und seiner Werte mit der Natur in seiner ursprünglichen Frische und in seinem jungfräulichen Zustand auf ein Nichts reduziert: eine Natur, die gerade durch die kulturellen Bemühungen der Menschen dabei ist, ihren Naturzustand zu verlieren, Menschen zudem, die dieses Paradies nur durch Zufall oder vielleicht auch infolge eines Irrtums bewohnen und verunstalten. Die Beschreibungen und die in den Reiseberichten des Erzherzogs enthaltenen Kommentare sind also weit davon entfernt, objektiv oder unparteiisch zu sein. Sie sind vielmehr Projektionen seiner eigenen Ursprungsgesellschaft, Reflexe seiner eigenen Biographie, und stellen so einen bedeutenden Beitrag für die Interpretation und Analyse des Bildes dar, das die Länder der industriellen Revolution sich von ihren Kolonien oder Satelliten machten. Der kulturelle Unterschied und die dem Autor möglicherweise bis zu einem gewissen Punkt unbewußte Situation der bestehenden Herrschaftsverhältnisse machen den Abstand zwischen dem Erzähler und dem Objekt seiner Erzählung zu einem unüberwindlichen Graben. Dieses wird in Maximilians Werken sehr deutlich und kann als exemplarisch angesehen werden, vielleicht auch gerade aufgrund der Subjektivität und stilistischen Spontaneität des Schriftstellers. Bahia 1860 und Mato Virgem bieten insgesamt hervorragende Beispiele für den konkreten Ausdruck der bestehenden Asymmetrie und nehmen damit in der sehr reichen Reiseliteratur über Brasilien einen ganz besonderen Platz ein. Maximilian drückt nicht nur diese Asymmetrie aus, sondern reproduziert sie neu durch die Art der von ihm gegebenen Informationen, durch die Auswahl der von ihm beschriebenen Dinge, durch die von ihm gebrauchten Ausdrucksmittel. Während sie sich selbst als Ausdruck dessen versteht, was der Autor sah und beobachtete, konstruiert die Erzählung eine fremde Wirklichkeit. Aus der Höhe seiner Autorität als Europäer, gezeichnet von seiner Position in der Hierarchie des Hochadels, legitimiert durch den Hauch von Wissenschaftlichkeit, der seine Reise umgibt, sieht sich Maximilian in der Situation, mit Überzeugungskraft als unbestrittene und unbestreitbare Wahrheit die Bilder zu entwerfen, deren Umrisse er selber im Laufe seiner farbenreichen und köstlichen Reiseschilderungen skizziert. Der Leser der Reiseskizzen, wie Maximilian selber seine Werke nannte und damit die Vorstellung impressionistischer Bilder vermittelt, muß sich die Frage stellen, was Maximilian erzählt, was er aus seiner Erzählung ausblendet, welche Informationen die Berichte enthalten und welche nicht, welche Werthaltungen mit diesen Informationen verbunden sind und beim Leser verbunden werden und
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weshalb. Und er wird feststellen, daß die Bewegung und nicht der Gegenstand, das Wie und nicht das Was dem Erzherzog den Stoff seiner Bücher liefern und seine schöpferische Inspiration beflügeln. Der Reisebericht über Bahia und den Reconcavo ist reicher an Einzelheiten, an Details, an Episoden, an Informationen, verweilt bei sehr unterschiedlichen Betrachtungen. Neben einer großen Fülle an Beschreibungen der tropischen Natur beschäftigt sich der Erzherzog mit einer allgemeinen Stadtbeschreibung und deren für den fremden Reisenden wichtigen Besonderheiten, verweilt bei der Darstellung der ihm begegnenden unterschiedlichen Typen von Menschen und spickt die Seiten mit wissenschaftlichen Bezeichnungen der botanischen Exemplare, die am meisten seine Aufmerksamkeit erregen, ergießt sich in langen Spekulationen politischer oder philosophischer Art aufgrund der in seinen Augen desolaten Situation des brasilianischen Kaiserreichs, würzt seine Beobachtungen mit beißender Ironie und spart nicht mit sarkastischen Stellungnahmen, in denen er sich stets als der Inhaber der unbestreitbaren Wahrheit sieht. Mit der Ausnahme weniger Bilder, in denen Menschen deutlich hervortreten, unter ihnen vor allem der Farmbesitzer Jeremoabo, weisen jedoch die in seinem Tagebuch von Bahia dargestellten Menschen keine klaren Konturen auf, bleiben unbestimmt und sind oft nicht mehr als sterile Typen. "Der europäisierte Dandy", der erste Brasilianer, der an Bord der "Elisabeth' erschien, ein Beamter des öffentlichen Gesundheitsdienstes und mit der vorgeschriebenen sanitären Inspektion beauftragt, stellt sich Maximilian dar als ein "Demonstrationsmodell der brasilianischen Befähigung zur Zivilisation", er bemerkt, daß der Beamte sich in "fließendem Französisch" ausdrückt, sich "wie ein Pariser Modell" kleidet, "den ominösen schwarzen Cylinder auf dem wohlgelockten und wohlgeschmierten Haupte". 14 Gleich beim Verlassen des Schiffes bemerkte er "zur Rechten einen Trupp schwarze Männer und Frauen, die im leichten Linnengewande unter Lärmen und Scherzen an der Schwelle eines verlassenen Hauses Bahianer Wäsche mißhandelten" 15 , ohne ihnen weitere Aufmerksamkeit zu schenken. Dagegen läßt er seiner Tropenbegeisterung gleich freien Lauf: "... während uns zur Linken auf unserem bergansteigenden Wege die grüne Tropenfülle umfloß; mächtiges Kräutergewächs, undurchdringliches Strauchwerk, verkettet und umstrickt von zahllosen Schlingpflanzen, grün von allen Färbungen, frisch, üppig und feucht, von einzelnen flammenden Blüthen durchspielt, drängte 14 Bahia 1860, S. 21/22. 15 Bahia 1860, S. 24.
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sich in vollem übermüthigem Reichthum an und über die Bergstraße; am Berghange ballten sich wie Gewitterwolken überhängend, dunkel und schattenreich, die Bambus-Massen." 16 In der Stadt lenkt eine andere Gruppe Schwarze seine Aufmerksamkeit auf sich. Er verweilt länger bei ihrer Betrachtung und beschreibt eine ganze Seite lang eine schwarze Frau, die ihm "durch ihre merkwürdigen Formen" auffiel. Seine Beschreibung ist ein Gemisch aus Erstaunen, fast Bewunderung, versetzt mit abfälligen, seine Geringschätzung und eigene Überlegenheit ausdrückenden Adjektiven. "Besonders ein Weib fiel uns durch ihre merkwürdigen Formen auf : Sie trug das malerische wunderliche Costüme der brasilianischen Negerinnen, welches noch einen Anklang an die ferne östliche Heimat hat; ein grell geblümter Kattunrock schlottert nachlässig um die weich sich wiegenden Lenden, ein weißes Hemd ohne Aermel flattert als zufällige Beilage um den Oberkörper. ... Die grellen und hellen Farben stehen zum bronzirten Tone des Körpers, wenn er noch jung und voll ist, sehr gut, und auch in dieser Richtung und auf dieser Stufe ist Coquetterie möglich. Das Weib, von dem ich sprach, und welches in Mitte der Gruppe selbstgefällig thronte, hatte einen Hals und Rücken, der dem Kaiser Vitellius Ehre gemacht hätte, und der weit entblößte Busen war in vollem Einklang mit dieser Fülle; dennoch war die ganze exotische Erscheinung durch den Sammetglanz und die Bronzefarbe der Haut in gewisser Weise brillant,"17 Seine folgenden weitschweifigen Bemerkungen zur physischen Konstitution der Afrikaner bzw. Afrobrasilianer sind mehr als eine Beschreibung dessen, was er sieht. Er stellt die ihm auf der Straße begegnenden Menschen nicht in den Kontext seiner Erlebnisse und Beobachtungen, sondern nimmt sie als Objekt seiner "wissenschaftlichen" Interessen, als Teil der menschlichen Fauna, der seine Aufmerksamkeit gilt. Die für ihn erstaunliche Feststellung, "daß Mohrinnen schneeweiße Haare haben können, ein unbeschreiblich scheußlicher Anblick, und daß diese Haare bei den Frauen auch nur kurze Wolle sind" 18 , läßt ihn Vergleiche mit der Tierwelt anstellen: "Wie wir bei den verschiedenen Thierfamilien den Grundtypus im Auge haben und die einzelnen Unterschiede des Individuums kaum bemerken, uns daher 16 Bahial860, S. 24. 17 Bahial860, S. 34. 18 Bahia 1860, S. 35.
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alle Strauße, alle Esel, alle Fasanen gleich erscheinen, so geht es uns auch traurig ist es zu gestehen - mit unserem schwarzen Nebenmenschen, der eben, wie man bemerken könnte, nur ein Nebenmensch ist Er bewundert den Körperbau der Männer, "mitunter herrliche Athletengestalten, besonders unter den berühmten Lastenträgern, die an die bronzenen Antiken erinnern", aber "die Waden fehlen wie beim Affen gänzlich". Bei den Frauen stellt er durchaus Anmut und Grazie fest, sie sind "schlank wie die Tannen", haben "einen auffallend schönen Gang, sehr hübsche kleine Hände und eine sehr schöne weichgeformte Büste". Eine solche "objekthafte" Beschreibung macht deutlich, daß er nicht "Menschen", weniger noch "Mitmenschen", sondern vielmehr "Nebenmenschen" im Sinne einer anderen, unterschiedlichen und zu unterscheidenden Seitenlinie der Menschheit beschreibt. "Der tief herabhängende, meist wie ein Brett plattgedrückte Busen ist ein scheußliches Merkmal der Race", und wenn auch mit gewissen menschlichen Zügen, etwa mit "pfiffiger Gemüthlichkeit" behaftet, so weist "die plötzlich auflodernde Tigematur" seinen Beobachtungsgegenständen doch eindeutig einen Platz außerhalb der menschlichen Gesellschaft zu. "Die Kinder der Schwarzen sind wie niedliches Spielzeug, erinnern aber in ihren Bewegungen doch sehr an den Urwald und die Kokosnüsse; scheußlich sind dagegen die Alten, es fehlt ihnen das Ehrwürdige, die Schönheit des Alters, und sie erinnern mich unwillkürlich an jenen greisen, schneeweiß gewordenen Affen, den ich im Jardin des Plantes trauern sah. Kindheit und Alter mahnen bei den Schwarzen an das Tier; nur in der Jugend und in der Fülle der Kraft scheinen sie sich vorübergehend zum Menschen emporzuraffen."20 Maximilians Bewunderung läßt ihn durchaus positive Worte für einzelne positive Attribute einzelner menschlicher Exemplare finden, so wie er auch Fauna und Flora in überschwenglichen Worten preist. Wo diese Art von staunender Begeisterung nicht möglich ist, bleibt nur Ekel und Distanzierung: "An der Mauer des Gartens, den Trottoire entlang, kauerte ein ganzer Trupp obstverkaufender Negerinnen, eine für den Neuling höchst interessante Gruppe, in der alle Größen, Alter und Dimensionen durch die originellsten Exemplare vertreten waren. Alte Negerinnen in leichten, schlotternden Gewanden, 19
Bahia 1860, S. 35.
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Bahia 1860, S. 36.
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wahre Hexen an roher Derbheit und schauererregender Häßlichkeit, die schwarze Lederhaut wie eine Gummielasticum-Flasche in tausend Falten gerunzelt, die schwarzgrauen Hände und Füße in affenartiger Beweglichkeit, den Ideinen schildkrötartigen Kopf mit kurzer weißer Wolle überzogen, mit langen blendenden Zähnen und widerlich stechenden, in Branntweinfeuer schwimmenden Augen, schrillten den Fremden mit höhnender Geschwätzigkeit an, um ihm Guaven, Bananen, Kokosnüsse und allerhand kleinere, mir noch unbekannte Früchte des Urwaldes feil zu bieten. Nebenan lagen in wiederkäuender Ruhe wahre Ungeheuer von jugendlicher schwarzer Fülle, die dunkles Fleisch in einer für unmöglich gehaltenen Masse und in einem wahrhaft gigantischen Umfange den Augen der Vorübergehenden preis gaben."21 Maximilians Beobachtungen und Reaktionen sind nicht etwa der Ausdruck des Schocks, den der frisch Angekommene angesichts der Überfülle ungewohnter Eindrücke erhält. Der zu analysierende Entstehungsprozeß seiner Reisebeschreibungen schließt Spontaneität weitgehend aus. Aber auch frühere Äußerungen zeigen, daß seine Beobachtungen einem bei ihm vorhandenen generellen Schema der Einordnung und Bewertung entsprechen. So steht auch in seinen Beobachtungen am 13. Dezember 1859 auf der Reise nach Brasilien in Madeira die Naturbegeisterung und die Überzeugung seiner eigenen hervorgehobenen Position neben der Distanzierung von den Menschen anderer Rasse und Kultur. Nachdem er in der unmittelbaren Umgebung Erkundigungen über die lokale Flora unternommen hatte und "dann noch bis zur einbrechenden Dunkelheit durch die Stadt schwebend einige Einkäufe" tätigte, bemerkte er: "Wir fanden das Volk, wie überall in Portugal, kriechend freundlich, plump, träge und dumm. Von der abstoßenden Häßlichkeit dieser Race, die zwischen den Mulatten und Affen schwankt, kann man sich keinen Begriff machen; man ist in so schöner Natur wirklich dadurch gekränkt."22 Vor allem aber ist es die Natur, die in den beiden auf Brasilien bezogenen Bänden seiner Reisebeschreibungen den größten Platz einnimmt. Ihre Fülle verschlägt ihm den Atem, er beschreibt sie enthusiastisch, gebraucht eine Fülle naturwissenschaftlicher Termini, belegt alle Erscheinungen bis zum Übermaß mit schmückenden Adjektiven zum Ausdruck seiner Begeisterung. Die Beschrei-
21 Bahial860, S. 33/34. 22
Ueber die Linie, S. 120.
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bung der tropischen Landschaft bildet den Kernpunkt von Bahia 1860 und mehr noch von Mato Virgem. Maximilian will nicht nur seine persönlichen Eindrücke vermitteln, er legt Wert darauf, auch dem Spezialisten, insbesondere also dem Naturwissenschaftler, eine Fülle von Informationen zu liefern. Seiner Genauigkeit in botanischen Angaben steht in anderen Bereichen eine erstaunliche Oberflächlichkeit und Ungenauigkeit gegenüber. Die von ihm gegebenen Informationen über tropische Pflanzen scheinen korrekt zu sein, weisen jedenfalls auch nach Meinung von Botanikern eine der Zeit und den Umständen entsprechende sehr große Vertrautheit mit den Erkenntnissen und Methoden der Botanik auf. Hinzu kommt, daß gerade die wichtigsten Reisebegleiter des Erzherzogs Botaniker waren. Dagegen liefert der von Maximilian gegebene kurze Abriß der Geschichte Brasiliens seinen europäischen Lesern eine Aneinanderreihung von Ungenauigkeiten und Absurditäten, wie z.B. die Geschichte, Catarina Paraguay habe mit ihrem Stamm die unter dem Kommando von Francisco Pereira Coutinho stehenden portugiesischen Segler gefressen. In Mato Virgem sagt er korrekt, daß Pombai für die Vertreibung der Jesuiten aus Brasilien verantwortlich ist, während er in Bahia 1860 diese Vertreibung Kaiser Pedro I. zuschreibt. Maximilian verfälscht, vereinfacht, verzerrt die von ihm genannten Ereignisse der brasilianischen Geschichte und macht sich nicht die Mühe, entsprechende Informationen in den in seiner reichen Bibliothek vielfach vorhandenen Büchern zu verifizieren. Aus dem Bibliothekskatalog seines Schlosses Miramar in Triest wissen wir, daß er zahlreiche brauchbare Werke zur Verfügung hatte, und um so mehr sind die historischen Ungenauigkeiten und Absurditäten von Bahia 1860 unverständlich. Der Umfang und die wissenschaftliche Sorgfalt der von ihm gegebenen botanischen Informationen Seite an Seite mit einer Reihe zusammengewürfelter falscher Angaben seiner Geschichte Brasiliens bestätigen ebenfalls, daß sich Maximilian während seines Brasilien-Besuchs nicht für die Menschen und ihre Handlungen interessierte. Im Gegenteil, er empfindet die brasilianische Geschichte wie auch die in Brasilien lebenden Menschen insgesamt als pseudozivilisatorische Interferenz, die nichts anderes bewirkt, als die paradiesische Harmonie dieser neuen und jungfräulichen Welt zu stören und zu bedrohen. Das Erlebnis der Tropen wird Maximilian bis zu einem gewissen Punkt eingeengt oder sogar in Frage gestellt durch seinen eigenen persönlichen kulturellen Hintergrund, der mit seinen vorgegebenen Denkschemata, Interessen und Werthaltungen die Erkenntnis der Wirklichkeit verstellt. Bewußt oder unbewußt wählt der Reisende während seiner Beobachtungen die Elemente aus, die er zu
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sehen gelernt hat und die er für sehenswert hält. Roy Preiswerk und Dominique Perrot113 betrachten gerade die visuelle Perzeption als kulturzentrisch, und zwar aufgrund der Gewohnheit des Beobachters, die Welt linear zu sehen, wodurch er unfähig wird, die seine Sichtwcise eingrenzenden ideologischen und kulturellen Faktoren zu überwinden und alles durch den Filter seines eigenen Erlebnishintergrundes sieht. Über diese Form der selektiven Wahrnehmung hinaus besteht ein zweiter Filter, der deformierend wirkt, nämlich die literarische Form, die der Autor seiner Beschreibung oder Reiseerzählung gibt und durch die er sein Ausgangsmaterial neu gestaltet. Hierbei folgt der Schriftsteller einem Code subjektiver Kohärenz und reinterpretiert die Fakten unvermeidlich auf der Basis eigener Werturteile. Maximilian vermittelt in seinen brasilianischen Reiseberichten offensichtlich mehr über seine Art, das Erlebte zu sehen, zu empfinden und zu interpretieren, als die "objektive" Beschreibung des Gesehenen. Der Vorgang der Internalisicrung der äußeren Umwelt folgt einem subjektiv kohärenten Interpretationsschema, das seine Beobachtungen leitet, die bestehenden Werte bestärkt, die Auswahl und die Art der Beschreibung der wahrgenommenen Dinge orientiert und alles in den großen kulturzentrierten Kontext einbezieht und in ihn ohne Brüche und Widersprüche integriert. Die Beschreibung von Ilhöus und Bahia sind mehr als einfache Faktendarstellungen, mehr als Diskurse über die Stadt Salvador, die Allerheiligenbucht oder über den Mato Virgem, den Urwald: Sie sind auch ein innerer Diskurs und eine Selbstbestätigung des Autors. Bahia ist nicht der Hauptgegenstand des Buches, ebensowenig der tropische Urwald. Das Thema dieser Reisebücher ist die Reise Maximilians zum eigenen Ich. Der dem Leser am nachhaltigsten verbleibende Eindruck ist der der Subjektivität der Beschreibung, das Bild des Autors selbst, das sich mitten aus seinen Ausrufen der Begeisterung oder aus seinem Hohngelächter heraus bildet. Der Autor stellt sich dar als romantisch, nazistisch, überschwenglich, aber auch rührend menschlich und verletzlich, er zieht auch den heutigen Leser in den Bann seines Interesses und läßt ihn daran teilnehmen, ihm seinen Sarkasmus und seine Intoleranz verzeihen und steckt ihn mit seinen eigenen Emotionen an.
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Roy Preiswerk und Dominique Perrot, Ethnocentrisme S. 66ff.
et Histoire,
Paris 1975,
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In Maximilians Reiseberichten kann also der informative, beschreibende und bis zu einem gewissen Punkt wissenschaftliche Aspekt deutlich unterschieden werden vom literarischen, schöpferischen, persönlichen und subjektiven. Der Autor selbst allerdings versteht sich als Reisender mit der Absicht einer sorgfältigen Dokumentierung seiner Beobachtungen, in den Fußstapfen eines Alexander von Humboldt und vieler anderer. Andererseits aber war er auch ein Kind der Romantik, der sich als Schriftsteller bemühte, seinen Seiten literarische Qualitäten zu verleihen. Maximilian beschränkte sich also nicht darauf, die in Brasilien vorgefundene Wirklichkeit zu beschreiben, sondern bediente sich ihrer als Mittel, um sich in sich selbst zu versenken, um seiner eigenen Sensibilität Ausdruck zu verleihen, um seine Reiseskizzen zu einer gefühlsgeleiteten Reise zu gestalten in der Tradition Goethes, Moritz', Heines oder Sternes. Die Arbeit des Künstlers und seine ästhetischen Absichten konstituieren bewußt oder unbewußt eine voluntaristische und verzerrende Beziehung zur Wirklichkeit, selbst wenn der Autor diese mit Genauigkeit beobachten und wiedergeben will. Die dokumentarische Objektivität ist bei Maximilian stets eng verbunden mit der schöpferischen Phantasie, die Naturbeschreibung mit der poetischen Inspiration. Nicht nur Maximilians Bemerkungen über die brasilianischen Negersklaven entsprechen einem kohärenten eurozentrischen Interpretationsmuster, sondern auch die über einzelne Repräsentanten anderer sozialer Schichten. "Ein lustiger, quittengelber Pfaffe" in der Kirche von Bonfim ist ihm Anlaß für eine spöttische Bemerkung: "Man verzeihe mir den Ausdruck, aber in Brasilien gibt es außer dem Nuntius keinen Geistlichen" 24 . Ähnlich respektlose Bemerkungen äußert er über den Mestizen Antonio do Norte von Ilhdus, den "europäisierten Dandy" der Gesundheitsbehörde und über verschiedene andere untergeordnete Repräsentanten des Gesetzes oder der großen oder kleinen einheimischen oder ausländischen Farmbesitzer u.a.m. Als Mitglied einer regierenden Dynastie kann sich Maximilian Leichtsinnigkeiten und Streiche erlauben wie etwa, die Etikette zu ignorieren und schnell an Land zu springen, um inkognito durch die Stadt zu streifen. Er kann es sich erlauben, die örtlichen Behörden zu verärgern und ihnen die Möglichkeiten zu vereiteln, sich neben dem königlichen Besuch zur Schau zu stellen. Er kann die Kleidervorschriften ignorieren und unkonventionelle Kleidung tragen, sich unter
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Bahia 1860, S. 132.
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die Raucher eines Billardsalons mischen, Ananas in der elenden Hütte eines alten Schwarzen essen, das Hemd eines einfachen ausgewanderten Siedlers anziehen, in der Hängematte in einem improvisierten Lager mitten im Urwald schlafen; er kann auch selbstbewußt dem Befehl des kleinen Polizisten gehorchen, den er für absurd und provozierend hält, die Jagdwaffen zurückzugeben, weil er nicht um Jagderlaubnis nachgesucht hatte; oder sich freudig und ungezwungen der Führung eines Heinrich Berbert, dem "Urwaldkönig", wie er ihn nennt, unterordnen. Eine seiner Äußerungen ganz am Anfang von Mato Virgem zeigt sehr prägnant sein Gefühl unbändiger Freiheit gegenüber Konventionen und Normen: "Ich, der ich mich in meinem Geschmacke weder an Styl noch an Gesetze halte..." 25 Für seine individuelle Biographie hätten solche Episoden lediglich zweitrangige Bedeutung. Hervorstechende biographische Züge Maximilians sind jedoch seine liberalen Ideen, seine spontane Bewunderung für die Republik der Vereinigten Staaten von Nordamerika, für den praktischen Sinn des Amerikaners oder auch seine ehrliche Begeisterung für Jeremoabo (trotz der oben genannten Einschränkungen), sein Verständnis und seine Zustimmung zu der einfachen Funktionalität des Herrenhauses sowohl auf der Farm Engenho Novo wie auf der Fazenda Vitöria in Ilhöus, die Freude, exotische und stark gewürzte Speisen zu versuchen, die Klugheit seiner Anpassung an das, was der Augenblick ihm an Nützlichem und Ergötzlichem bieten kann, so daß er z.B. selbst an Bord der "Elizabeth" in der Hängematte schläft, Maniokmehl nach Wien mitzunehmen wünscht und sich an dem "Universalgeschirr" begeistert, als er seine Begleiter aus Palmenblättern als Teller oder Becher essen und trinken sieht. 26 Maximilian war zweifellos ein Produkt seiner Zeit. Ob durch Temperament, ob durch seine umfangreiche Lektüre geprägt, ob durch andere Einflüsse der Zeit, in der er lebte, konnte er sich nicht der Romantik und deren Weltsicht verschließen. Von hierher rührt die in seinen Schriften immer wieder hervortretende Tendenz, harte und markante Kontraste zu suchen, von hierher sein ständiges Bemühen, das Lokalkolorit unverfälscht zu erfassen, von hierher die seine ganze Persönlichkeit erfassende Identifikation mit der Natur, seine intelligente Sensibilität, aber auch sein Narzismus, seine egozentrische Haltung, die die Welt um ihn selbst kreisen sehen möchte, seine Neigung, sich selbst zum
25 Mato Virgem, S. 11. 26 Mato Virgem, S. 204.
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Helden zu machen und anders, außergewöhnlich und außerhalb der Regeln sein zu wollen - all dies charakteristische, ästhetische und psychologische Züge der Romantik. Maximilian hatte sich stets vom Exotismus und der Suche nach dem Neuen und dem Anderen anziehen lassen: "Mir ist nur wohl, wo Palmen wallen", hatte er in einem Jugendgedicht gesungen. Auf seinen vielfältigen Reisen war es gerade das Exotische, das Unbekannte, das Kontrastierende, das am meisten seine Aufmerksamkeit und seine Feder in Anspruch nahm. Schon die faszinierende Anziehungskraft des Meeres, die Wahl einer Karriere in der Marine, die Lokalisierung seines schönen Schlosses Miramar im Golf von Triest bestätigen die Kohärenz zwischen seiner Biographie und seiner literarischen Produktion und spiegeln wahrheitsgetreu seine Erlebnisse und Neigungen wider. Seiner Herkunft und seiner Erziehung nach ist Maximilian in der Kultur der europäischen Hocharistokratie verwurzelt. Der Erzherzog fühlt sich aber gleichermaßen von den entfernten und südlichen Ländern angezogen, er bevorzugt die Sonne und die Hitze, haßt die Kälte und das Graue, verachtet den Mangel an Kontrasten und an Vitalität in den Ländern Zentraleuropas. In zahlreichen Passagen seiner Reiseerinnerungen gibt er dieser Aversion Ausdruck, beispielsweise bei seiner Fahrt nach Malaga auf der ersten Etappe seiner Ozean-Überquerung im Jahre 1859, als er respektlos behauptet, lieber ein Esel in Malaga sein zu wollen als ein Weiser im nassen und kalten Norden. In Bahia ist er von dem angenehmen Klima fasziniert und freut sich, so weit weg vom kalten Europa zu sein, wo man selbst mitten im Sommer manchmal den Kamin brennen lassen muß. In romantischer Manier betrachtet der Fürst Europa als verbraucht und verdorben, die Gefühle durch ein Übermaß an Zivilisation abgestumpft. Nur das Kalkül und die Scheinheiligkeit beherrschen das "kalte", "düstere", "alte", "fossilisierte" Europa. Es mag paradox erscheinen, daß er trotzdem den Verlust an Werten und Authentizität Deutschlands mit Traurigkeit, Ekel und Enttäuschung sieht: "Während die anderen Nationen mit Bellen und Beißen sich etwas erwirken, erschaffen und erkämpfen, hält der Deutsche Michel sentimentale Reden, philosophiert und singt sich Klagelieder vor, wodurch er sich endlich gemüthlich in einen geduldigen Schlaf einlullt. Mich überfiel auf meinem Balcon eine Art Katzenjammer, ein stilles Grauen, welches ich auch jedesmal empfinde, wenn ich das große Deutschland der Kreuz und Quer durchdampfe, wenn ich auf jenen Eisenbahnen hinzog, bei welchen die Residenzen statt den gewöhn-
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liehen Wachthäusern stehen und der Zug, wenn er über 12 Wagen zählt, mit der Maschine in einem Königreiche, mit dem Hauptkörper in einem Herzogthume steht und mit dem Schwänze sich noch um ein Fürstenthum ringelt."27 "Wenn man durch die weite Welt zieht, wird man es mit Wehmuth erst vollkommen inne, wie wenig der deutsche Stamm geehrt wird, wie ihm Alles fehlt, womit man große Politik betreibt und wie er überall eine höchst mittelmäßige Rolle spielt, ja wie er sich zum Diener der Andern herabwürdigt oder zum Fußgestelle der Klügeren. Der Deutsche wird die Geschicke nicht regieren, so lange er blos Philosoph bleibt, seinen Geist mit unpraktischen Theorien ermüdet und sein Herz, statt es mit Stolz und Begeisterung zu entflammen, in krankhafte Sentimentalität einwiegt. Die Deutschen sind die besten Dichter, die klangvollsten Aeolsharfen für den Hauch des Weltschmerzes, unübertreffliche Tonkünstler und Gelehrte, sie glänzen in Liedertafeln und Dichterkränzchen und treiben Alles, was das Leben ziert, mit Geschick, aber darüber versäumen sie die Hauptsache, und wenn sie einmal zusammentreten, um über ihre eigene politische Existenz zu berathschlagen, so verfallen sie nur zu oft in theoretisches Gewäsche."26 Die geographische Entfernung bedeutet einen Schock für den Reisenden und löst in ihm Vergleiche aus zwischen seiner eigenen Gesellschaft und seinen eigenen Werten auf der einen Seite und dem fremden und exotischen Land auf der anderen - Maximilian zeigt eine erhebliche innere Zerrissenheit zwischen diesen beiden sehr starken und entscheidenden Eindrücken. Der Erzherzog schaut mit kritischen Augen auf die politische, kulturelle und soziale Situation des von ihm besuchten Landes und betrachtet in ethnozentrischer Manier die Prinzipien seines Ursprungslands als gut und richtig. So lacht er über das Kaiserreich Brasilien, trägt unbarmherzig grelle Farben auf, wenn er sich auf die Unzulänglichkeiten und Beschränkungen der Regierenden bezieht (s. z.B. seine Bemerkungen zum Besuch Kaiser Pedros II. in Bahia), und kann sein arrogantes Überlegenheitsbewußtsein nur schlecht verbergen. Andererseits aber verweigert er sich der zivilisierten Gesellschaft und wünscht z.B. nicht, an dem von Konsul Lohmann zu seinen Ehren veranstalteten Ball teilzunehmen, wo die gesamte deutsche Kolonie anwesend war, es ergreift ihn ein Horror, als er sich als Mittelpunkt von Ehrerbietigkeitsbezeugungen in Itaparica sieht, er gähnt vor Langeweile beim
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Bahia]860,
S. 332.
28 Bahia 1860, S. 332/333.
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Gedanken an Österreich und Europa, schüttelt sich vor Empörung gegen den Zustand der dort herrschenden Dekadenz und flüchtet sich gerade deshalb in die Ekstase und Begeisterung angesichts der Betrachtung der Schönheiten der Natur. Solche für die Romantik typischen Widersprüche der Gefühle und Ideen Maximilians lassen sich auf Schritt und Tritt in seinen Büchern feststellen. Der Einfluß der Romantik zeigt sich auch in der für ihn charakteristischen Tendenz, sich gegen den Status quo aufzulehnen in einer Freiheitsliebe, die ihn wie betrunken macht, da er sich vom obligatorischen Frack befreit sieht und nach seinen eigenen Worten ohne Hermelin und Orden selbst das Gewissen auf der anderen Seite des Ozeans zurückgelassen glaubt. Überall legt er Wert darauf, inkognito und anonym zu bleiben, und dies weniger aus Bescheidenheit oder gar Schüchternheit als zweifellos als Ausdruck von Freiheit und Unabhängigkeit seiner starken Persönlichkeit. Vielleicht aber liegt in dieser rebellischen Hartnäckigkeit, die brasilianischen Autoritäten zu ignorieren, noch etwas anderes. Maximilian hatte noch an der Bitterkeit und dem Groll seiner kurzen und gescheiterten Regierungserfahrung zu arbeiten. Seine bittere Erfahrung als abgesetzter Halbmonarch und Regierungschef der Lombardei und Venetiens mögen hier eine Rolle spielen. Maximilian mochte nicht das Haas repräsentieren, das ihn aus dieser Herrschaftsposition entfernt hatte und ihn zu einer Anonymität zwang, die er selbst nicht wünschte. In Rio de Janeiro gab er sein Inkognito einen Moment auf, besuchte die Prinzessinnen, seine Cousinen, und fuhr Kaiser Pedro II. nach Espirito Santo entgegen. Allerdings hatte er es eilig, den offiziellen Teil seiner Verpflichtungen als Fürst zu beenden, und kehrte nach Bahia zurück, wo er sich emeut jedem Kontakt mit den Autoritäten verweigerte. In Ilheus läßt sich Maximilian mehr noch als in der Hauptstadt Bahias von der Erfahrung seiner flüchtigen und so sehr gewünschten Freiheit beeinflussen. Er verwirft innerlich immer wieder das alte, erschöpfte Europa, weiß jedoch nur zu gut, daß er sich bei seiner Rückkehr wieder an die Umgebung gewöhnen wird, wie es sein Stand erfordert. Die ständige Erinnerung an die Alpen, eine von dem besuchten Süden Bahias so sehr verschiedene Region, die er dort ebenfalls als landwirtschaftlich, verlassen, als bis zu einem gewissen Punkt "jungfräulich" empfindet, ist vielleicht Ausdruck des inneren Konflikts des Dichter-Fürsten. Der Brief des Erzherzogs an seinen Bruder, Kaiser Franz Joseph, vom 12. 2. 1860, in dem er einen Bericht dieses Aufenthalts gibt, faßt die gewaltiger. Ein-
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drücke und vielfältigen Erlebnisse dieses tropischen Abenteuers mit den folgenden Worten zusammen: "Die 7 Tage, während welchen ich in wilden Wald-Regionen, die bis jetzt nur wenige Europäer betraten, herumstreifte, werden mein ganzes Leben hindurch zu meinen schönsten Erinnerungen zählen; die Entbehrungen, die wir auf dieser Wanderung kennenlernten, waren in der That furchtbar, die Mühen unserer tagelangen Märsche durch ein oft beinahe undurchdringliches Dickicht unsäglich, die Hitze eine sehr bedeutende, denn wir waren eben in den brasilianischen Hundstagen und hatten mittags die Sonne im Zenit, doch vor den überwältigenden Wundern des Urwalds fühlte ich weder Hunger noch Durst, - ich vergaß die Plagen zahlloser Insectenschwärme, die Verwundung durch Dornen und die Gefahren giftiger Schlangen und bekam eine solche Leidenschaft für die ursprüngliche, männliche und kräftige Lebensart meiner rothhäutigen Führer, daß ich mich von ihr nur mit Mühe losreißen konnte, um am vorausbestimmten Tage wieder an Bord meines Schiffes einzutreffen". Ein paar Jahre später wird Maximilian dieser innere Widerspruch auch begleiten, wenn er sich für immer von der Alten Welt entfernt, diesmal aber Zepter und Krone in das tropische Paradies mitnimmt. 6. Maximilians Veröffentlichungen Erzherzog Maximilian von Habsburg publizierte seine Reiseberichte jeweils im Anschluß an eine seiner großen Reisen. Er gab ihnen den Gesamttitel Reise Skizzen, mit Untertiteln zur Bezeichnung der jeweils besuchten Länder. Die Erstausgaben erschienen in Wien auf der Grundlage seiner Manuskripte, die ihrerseits Ausarbeitungen der von ihm während der Reisen gemachten Tagebuchnotizen waren. Die Veröffentlichungen waren lediglich für einen engen Kreis von Verwandten und sorgfältig ausgewählten Freunden bestimmt und umfaßten jeweils nur 50 Exemplare (vgl. u. Verzeichnis seiner Schriften). Außer diesen Reiseberichten in sieben Bänden veröffentlichte der Erzherzog weiterhin Gedichte, und zwar zwei Bände 1859 und je einen 1863 und 1864. Der dritte Band enthält unter der allgemeinen Überschrift "Oceania" die von ihm während seiner Brasilienreise geschriebenen Gedichte. Sein erster Band Aphorismen wurde 1861 veröffentlicht; es sind kleine Distichen philosophischen oder politischen Inhalts, die uns weniger den Dichter als
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den Staatsdenker Maximilian zeigen, insgesamt aber eher von sekundärer Bedeutung sind. Unmittelbar nach Maximilians tragischem Tod in Querötaro veröffentlichte der Verlag Duncker & Humblot in Leipzig erneut die wichtigsten Werke des unglücklichen Kaisers, wahrscheinlich in der Hoffnung auf einen kommerziellen Erfolg, weil die dramatische Entwicklung der Ereignisse, die zum Tode des Kaisers von Mexiko führten, das Interesse einer größeren Zahl Leser in Europa geweckt haben könnte. Es handelt sich hierbei ebenfalls um sieben Bände, anonym wie alles, was Maximilian während seines Lebens publizierte, jedoch mit einigen Abänderungen gegenüber den Originalausgaben. Der Gesamttitel heißt jetzt: Aus meinem Leben. Reiseskizzen, Aphorismen, Gedichte. Die Bände werden durchlaufend von I-XII numeriert, und im 7. Band befinden sich außer Mato Virgem die Aphorismen und eine Reihe Gedichte aus den vier ursprünglichen Gedichtbänden, allerdings ohne Nennung der Originalausgaben. Die Gedichte über Brasilien befinden sich fast alle im ersten Teil unter dem Titel Stammbuchblätter. Der Leipziger Herausgeber ließ auch die Widmungen weg, die alle Originalausgaben enthielten und von denen einige interessant und aufschlußreich sind. Neben diesen Auslassungen wurden zahlreiche Kürzungen vorgenommen, die zwar nicht wesentlich den informativen Gehalt vermindern, da es sich im allgemeinen um nur wenige Zeilen und seltener um den Ersatz bestimmter Ausdrücke handelt, die allerdings eine genuin politische Bedeutung haben. Weggelassen wurden nämlich die Stellen, bei denen Maximilian gewisse Institutionen oder Personen herrschender Häuser kritisiert und damit unfreundliche Reaktionen hätte hervorrufen oder Empfindsamkeiten hätte verletzen können. Als Beispiel nennen wir die negativen Bemerkungen über Napoleon und seinen Hof ohne echte Tradition oder die diversen ironischen Ausfälle gegen verschiedene unter sich entzweite deutsche Staaten, die die nationale Einheit erschwerten. Als ein Beispiel für vorgenommene Korrekturen kann eine Passage gelten, die in der ursprünglichen Ausgabe (1861) enthalten, in der Leipziger Ausgabe von 1867 jedoch gestrichen ist. Im fünften Buch der Reise-Skizzen erzählt Maximilian mit einer Fülle von Einzelheiten, wie er vor der Überquerung des Äquators und schon unterwegs nach Brasilien die Neujahrsnacht auf Säo Vicente, einer der Inseln der Cap Verdischen Inselgruppe, verbrachte, wo er und die Offiziere der "Elisabeth" eine Quadrille mit den schwarzen Damen der Ortschaft veranstalteten. Hier wurden interessante und signifikante Streichungen vorgenommen, nämlich die Schilderung eines Tanzes der Schiffsbesatzung mit dem "Negervolk" am Strande:
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"Die ganze Gesellschaft sah mit Lust diesem Treiben zu, endlich wagte es ein Matrose schüchtern, mit einer schwarzen Tochter Eva's den Reigen zu eröffnen, dann folgten mehrere, hierauf schwang sich der Cadet J. ... unter die Tanzenden, dann unser Bräutigam, sein sich in Liebe abhärmendes Bräutchen vergessend, die Offtciere folgten und sogar der Pater familiae, der ehrsame Doctor, stürzte sich in den wilden Reigen; die Tarantel hatte Alle gestochen, und endlich - es sträubt sich meine Feder, es niederzuschreiben - verlangte die ganze Gesellschaft, alle Etiquette abstreifend, ja die heiligen Gesetze der Farbe vergessend, in ungestümem, brausendem Jubel eine Quadrille! - Jeder der Honorationen unserer Colonie griff nach einer Schwarzen, das Volk wurde zurückgedrängt ... Die Contraste dieses Tages waren überwältigend, ein Ball auf dem Dünensande, der Mond als einziger Lüster für eine pechschwarze Bevölkerung; die Herren in eleganten Reisecostüms, die Damen in zerlumptem Kattun, mit Glasperlen um den Hals, die Nacht des 31. Decembers, und dabei eine Luft, wie sie kaum eine unserer Julinächte bietet,.."29 Ebenfalls unmittelbar nach dem Tode Maximilians veröffentlichte der Verlag Duncker & Humblot ein bis dahin unveröffentlichtes Manuskript des verstorbenen Kaisers, den ersten Reisebericht, der bisher in den kaiserlichen Archiven geblieben war und die Erzählung der Reise nach Griechenland 1851 im Alter von 18 Jahren enthielt. Es ist das einzige Buch des Autors, das mit einem vom Herausgeber verfaßten Vorwort versehen ist, in dem er die Umstände seiner Publikation erläutert. In der Nationalbibliothek in Wien befinden sich weitere Publikationen Maximilians, die praktisch nie in das Verzeichnis seiner Schriften aufgenommen werden: Es handelt sich um ein "Meteorologisches Tagebuch Seiner Majestät Dampfer Elisabeth. Vom 1. December 1859 bis 17. März 1860", Wien, Hof- und Staatsdruckerei, 1861. Obwohl es unter Maximilians Namen katalogisiert ist, scheint es offensichtlich, daß der Erzherzog wenig oder gar nicht bei der Erstellung der darin enthaltenen Tabellen mitgewirkt hat. Die Tabellen beginnen im Dezember, während die Reise schon im Monat vorher anfing. Ohne Bezug zu seinen Reisen und als Ausdruck seiner Tätigkeit als Chef der österreichischen Kriegsmarine wurden mehrere kleine Werke über die österrei-
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chische Marine unter seinem Namen als Erläuternde Bemerkungen zum Budget der Kaiserlichen Kriegs-Marine, Wien 1863, veröffentlicht In der Zeit unmittelbar nach seiner Entlassung aus der Regierung LombardoVenetiens verfolgte er aus der Ferne verbittert die österreichische Politik und schrieb Pamphlete, in denen er seinem Inkonformismus Ausdruck gab und teils anonym, teils unter seinem Namen die Wiener Politik in harten Worten kritisierte. Zu nennen sind hier: Die österreichische Marine von einem österreichischen Seemanne, Wien 1860; Pläne zur Reorganisation der österreichischen Marine, Erlaeuternde Bemerkungen zum Budget der Kaiserlichen KriegsMarine, Wien 1863. Die letztgenannten Schriften befinden sich in keiner uns bekannten Bibliographie Maximilians, sind aber in der Wiener Nationalbibliothek unter dem gemeinsamen Titel der Erläuternden Bemerkungen vorhanden. Schon zu seiner Zeit als Kaiser von Mexiko wurden seine Ansprachen, offiziellen Briefe und Instruktionen unter dem Titel Alocuciones, cartas oficiales e instrucciones durante los años de 1864, 1865 y 1866, México, Imprenta Imperial, 1867, veröffentlicht. Aus dem gleichen Jahr 1867 stammt die Veröffentlichung der kleinen Schrift Los traidores pintados por si mismos, México, Imprenta del Gobierno, 1867, die als "geheimes Buch von Maximilian" bezeichnet wird und sich offensichtlich auf die Endkrise seiner Regierung bezieht. Maximilian unternahm seine Reise nach Brasilien nicht so sehr in seiner Eigenschaft als Erzherzog als vielmehr als Naturbegeisterter. Mit ihm reiste eine ganze Mannschaft von Wissenschaftlern zu seiner Unterstützung bei der Erstellung der Materialsammlung für die kaiserlichen Gärten und für sein privates Museum, ebenfalls mit dem Ziel der wissenschaftlichen Verbreitung der angetroffenen botanischen Raritäten. Der Bordarzt der "Elisabeth", Dr. Heinrich Wawra, wurde mit der Veröffentlichung der botanischen Ergebnisse der Expedition beauftragt, was ihm nach Überwindung großer Schwierigkeiten gelang: Heinrich von Fernsee Wawra, Botanische Ergebnisse der Reise seiner Majestät des Kaisers von Mexiko, Maximilian I. nach Brasilien (1859-1860), 2 Bde., Wien 1866. Es handelt sich um eine großformatige, schöne Edition mit einer von Wawra verfaßten langen Einführung, einem Abriß der Reise Maximilians mit Einzelheiten, die aus den anderen Quellen nicht hervorgehen, Beschreibungen der tropischen Natur sowohl in der Provinzhauptstadt Salvador wie im Recöncavo und in Ilhéus und mit Erläuterungen zur Sammlung und Organisation des botanischen Materials. Der 2.
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Band enthält in 100 sehr schönen Tafeln die Illustrationen zur Beschreibung der wichtigsten gesammelten Exemplare. Die aus der Reise resultierende Sammlung von Aroiden wurde durch den Direktor der kaiserlichen Gärten, Heinrich Wilhelm Schott, persönlich mit dem Ziel der Veröffentlichung untersucht; Schott starb jedoch vor Beendigung dieses Unternehmens, das dann aufgrund seiner Aufzeichnungen veröffentlicht wurde: Heinrich Wilhelm Schott, Aroideae Maximilianae. Die auf der Reise Sr. Majestät des Kaisers Maximilian I. Nach Brasilien Gesammelten Arongewächse, nach handschriftlichen Aufzeichnungen von H. Schott, Wien 1879. Maximilians Bewunderung für den Landwirt Ferdinand von Steiger fand ihren Ausdruck in einer bedeutenden Ehrung: Steigers Name wurde der Spezies Zomicarpa Steigeriana gegeben, "In dankbarer Erinnerung an die gastfreundliche Aufnahme", wie es am Ende der Beschreibung dieser Pflanze heißt. Schon im Jahr nach Maximilians Tod erschienen die ersten Übersetzungen seiner Erinnerungen. Die französische Ausgabe umfaßt 2 Bände mit aufeinanderfolgenden Auflagen (1868 und 1869). Sie wurde von Jules Gaillard vorgenommen unter dem Titel "Souvenirs de ma vie. Mémoires de Maximilien", 2 Bde., Paris 1868, und zwar auf der Grundlage der posthumen Ausgabe von Duncker & Humblot. Gaillard schrieb ein langes Vorwort, in dem er behauptet, daß Maximilian selbst diese Ausgabe besorgt habe, und zwar absichtlich außerhalb Österreichs und schon vor seiner Abreise nach Mexiko, daß die Arbeiten an der Herausgabe erst 1866 wieder aufgenommen wurden und der Kaiser selbst aus Mexiko persönlich die Revision besorgte und dabei Korrekturen und vor allem Auslassungen vornehmen ließ. Nach Maximilians Tod und als Ausdruck einer Geste der Menschlichkeit habe sein Bruder Franz Joseph den Befehl zur Wiederaufnahme und zum Druck der Erinnerungen Maximilians gegeben. Da Gaillards Vorwort jedoch verschiedene Ungenauigkeiten enthält, geben wir hier diese Informationen mit gewissem Vorbehalt wieder. Jules Gaillard gibt auch an, Maximilian habe die Besorgung der Drucklegung seines Gesamtwerks dem Baron von Münch-Bellinghausen anvertraut, der in der deutschen Literatur unter dem Pseudonym Friedrich Halm bekannt ist. In Englisch wurden zwei Übersetzungen veröffentlicht, Recollections on my Life, 3 Bde., London 1868; Band 3 enthält die beiden Brasilien-Bücher nach der Ausgabe von 1867, On the Wing, übersetzt von A.M. Lushington, London 1868. Vom letzteren kennen wir nur die bibliographischen Angaben. Die Übersetzungen sind nicht in der Wiener Nationalbibliothek vorhanden.
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Ebenfalls im Jahre 1868 erschien in Florenz eine italienische Übersetzung der Reise des Erzherzogs nach Neapel und Florenz unter dem Titel Pagine sull' Italia. Maximilian, der vor seiner Brasilienreise Generalgouverneur des Königreichs Lombardo-Venetien gewesen war, zeigt hier seine ganz besondere Liebe zu Italien und den Italienern. Übersetzungen ins Spanische erschienen verständlicherweise zuerst in Mexiko, und zwar in zwei verschiedenen Ausgaben von verschiedenen Übersetzern: Memorias de mi vida, Mexiko 1869; Recuerdos de mi vida, Mexiko 1869. Die erstgenannte Veröffentlichung, aus dem Englischen von Lorenzo Elizaga übersetzt, enthält die Bände 1 und 2, der zweite Band die Bände 3 und 4 sowie einen kleinen Teil des Bandes 5 der Leipziger Ausgabe. Die Übersetzung umfaßt damit Maximilians Reise nach Brasilien lediglich bis zur Einschiffung auf der Insel Madeira und hört mit dem 15. Dezember 1859 auf; mehr als die Hälfte des Bandes bleibt somit unübersetzt Unmittelbar nach Maximilians Tod (19.6.1867) erschienen in Paris in dem Feuilleton der Zeitung Le Temps drei Artikel von Th. Dubois über die "Oeuvres Posthumes" des erschossenen Kaisers (am 23., 24. und 31. August 1867). Maximilians Bücher scheinen eine weite Verbreitung gefunden zu haben. Sie dienten auch als Quelle für einige Abenteuerbücher von Karl May. Der deutsche Reisende Oscar Canstatt, der zum ersten Mal 1867, also unmittelbar nach der posthumen Publikation von Maximilians Reise-Erinnerungen, nach Brasilien kam und sich danach für lange Jahre in Rio Grande do Sul niederließ, gibt verschiedene Passagen von Bahia 1860 in seinen Schriften wieder, darunter eine Seite über den Dique von Salvador und eine andere über die Krebse in den Küstengewässern von Itaparica. Maximilians Aphorismen und Gedichte fanden dagegen weniger Verbreitung. Eine kleine Sammlung von sieben Gedichten wurde 1868 in Leipzig publiziert, von Hermine Stilke mit sentimentalen Illustrationen versehen und dem Kaiser Franz Joseph gewidmet unter dem melodramatischen Titel Immortellen aus einer Kaisergruft. Dichtungen, Leipzig, Arnoldische Buchhandlung, 1868. Maximilians Aphorismen wurden anläßlich einer in Schloß Hardegg/ Österreich 1974 über ihn veranstalteten Ausstellung im Ausstellungskatalog neu gedruckt, zusammen mit einer wichtigen historischen und ethnographischen Dokumentation über den Kaiser von Mexiko. In Portugiesisch scheint es keine frühere Übersetzung zu geben. Erst 1982 wurde der Band Bahia 1860 in Rio und Salvador in der Übersetzung von
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Antonieta da Silva Carvalho und Carmen Silva Medeiros mit Vorwort von Kätia M. de Queirös Mattoso und einer Einleitung, Anmerkungen und Revision von Moema Parente Augel herausgegeben. Die brasilianische Ausgabe von Mato Virgem ist in Vorbereitung. 30 Während über Maximilian insgesamt eine umfangreiche Literatur vorliegt, konnte zu seinem literarischen Werk lediglich eine Dissertation festgestellt werden, die in Lausanne 1910 veröffentlicht wurde. Es handelt sich um eine sorgfaltige Analyse der Schriften des Erzherzogs, die sowohl die Reiseberichte als auch die Gedichte und Aphorismen erfaßt. Die Autorin, Euphemia von Ferro, beschränkte sich leider darauf, die Leipziger posthume Ausgabe zu benutzen, was um so bedauerlicher ist, da diese unvollständig ist und insbesondere bei den Gedichten nur eine Auswahl enthält. Aus Unterlagen des Wiener Hof- und Staatsarchivs, das in vielen seiner Bestände über Maximilian noch nicht ausgeschöpft wurde, geht hervor, daß Maximilian noch mindestens zwei weitere Bände über Brasilien schreiben wollte, wahrscheinlich mit der Erzählung seiner Reise nach Rio de Janeiro und Pemambuco. Es handelte sich dabei offensichtlich um umfangreiche Bände mit dem Vorhaben der Illustration von Insekten und Schmetterlingen, Pflanzen und vielleicht Landschaften, unter Einschluß eines Bildes des Autors. Neben dem Plan zu diesem Werk fanden wir Material, aus dem die ersten Vorbereitungsarbeiten ersichtlich werden: umfangreiche Aufzeichnungen aus Büchern früherer Reisender wie z.B. Burmeister, Fletcher, Rugendas, Adalbert von Preußen und Darwin, ebenfalls Listen von Stichwörtern, Örtlichkeiten und touristischen Besonderheiten von Rio de Janeiro, alles in allem eine wertvolle Dokumentation der Vorbereitungsarbeiten für ein Buch, das nicht geschrieben wurde, uns aber die Sorgfalt und die Arbeitsmethoden Maximilians in der Ausarbeitung seiner Reiseberichte zeigt. Die Fortsetzung von Maximilians Reise von Ilhöus nach Rio de Janeiro, Espirito Santo, wieder Bahia und schließlich Pemambuco kennen wir nur aus vorhandenen handschriftlichen tagebuchartigen Notizen, die sich im Wiener Hof- und Staatsarchiv befinden.
30 Über den Besuch Maximilians im Urwald bzw. im "Mato Virgem" im Süden des Bundesstaats Bahia vgl. Moema Parente Augel, A visita de Maximiliano de Austria a Ilhéus, Salvador 1981.
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7. Zur Entstehungsgeschichte von "Bahia 1860" und "Mato Vir gern" Im Nationalarchiv in Wien fanden wir im katalogisierten Bestand unter dem Stichwort "Maximilian I., Kaiser von Mexiko" eine wertvolle Dokumentation, die Aufschluß über die verschiedenen Etappen der Ausarbeitung der hier interessierenden Werke gibt: 1. Ein Notizheft etwa im Format DIN A 5 mit kurzen, stichwortartigen persönlichen Notizen Maximilians von der Zeit vom 22.12. 1859 bis zum 13.2.1860, also praktisch über die gesamte Zeit seines Aufenthalts in Brasilien mit Ausnahme Pernambucos. Vermutlich hat Maximilian dieses Heft standig für Notizen bei sich getragen. 2. Ein Heft in einer etwa DIN A 4 entsprechenden Größe mit dem Titel Notizen über Brasilien, das inhaltlich weitgehend mit dem vorgenannten Heft übereinstimmt und die Wiedergabe dieser Notizen durch einen Schreiber beinhaltet, jedoch mit einer zeitlichen Verschiebung: Es beginnt am 11. Januar 1860, dem Tag der Ankunft in Bahia, und führt bis zum 19.2., umfaßt also den gesamten Aufenthalt des Erzherzogs in Brasilien von seiner Ankunft in Bahia (11.1.) über den in Mato Virgern beschriebenen Aufenthalt in I M u s vom 14.1. bis zum 23.1., den Aufenthalt in Rio de Janeiro und Umgebung einschließlich seines Besuchs der Prinzessinnen (27.1. bis 5.2.), dem Treffen mit dem Kaiser in Espirito Santo (7.2. bis 8.2.), die Fahrt zurück nach Bahia (11.2. bis 12.2.) und schließlich nach Pernambuco (15.2. bis 16.2.). Die Notizen enden mit den Wörtern "Abfahrt von Pernambuco um 5 Uhr NM. Abschied von Amerika". Dieses Heft ist das einzige Dokument, das die Rekonstruktion von Maximilians Aufenthalt in Brasilien ermöglicht, also einschließlich der Teile, die in den beiden genannten, später veröffentlichten Bänden nicht beschrieben werden. Die Notizen des Schreibers stimmen fast immer mit denen des ersten Hefts überein, enthalten jedoch häufig Verbesserungen und von Maximilian eigenhändig hinzugefügte Bemerkungen. 3. Ein weiteres Heft in etwa DIN A 4-Größe enthält Notizen vom 16. bis 22. Januar, also der Woche im Urwald. Es ist von einer anderen Hand geschrieben und enthält keine Verbesserungen oder Abänderungen durch Maximilian. Die Notizen stimmen inhaltlich nicht mit denen in Heft 1 und Heft 2 überein, ergänzen diese jedoch in vielen Punkten.
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4. Weitere Ergänzungen der Informationen aus erster Hand sind die von Maximilian an seinen Bruder, den Kaiser Franz Joseph, geschriebenen vier Briefe: 26.11.1859: Bericht über den Beginn der Reise in Europa; politische Überlegungen zur österreichischen Marine und die Überlegenheit der anderen Seemächte. 30.11.1859: Gibraltar - mit vorwiegend politischen und diplomatischen Anmerkungen. 12.2.1860: Mehr als 20 Blätter Bericht von der Ankunft in Bahia bis zum Besuch bei Kaiser Pedro II. Sehr ausführlicher und inhaltlich hochinteressanter Bericht 23.3.1860: Bericht über die Rückfahrt, politische Kommentare. Der dritte Brief ist wichtig für viele Details und Bemerkungen, die an keiner anderen Stelle berichtet werden. Nur hier erfährt der Leser, daß Bahia vielleicht "der einzige Ort auf der weiten Erde" ist, "wo die Deutschen wirklich einig leben". Oder: "In ihrem Sammelplatze, dem Schützenclub, ward zu Ehren der "Elisabeth" ein großes Déjeuner veranstaltet" - ein vielleicht unwichtiges Detail, das jedoch interessanterweise in dem als Buch veröffentlichten Reisebericht fehlt, der nur von einer Galasoirée im Hause des deutschen Konsuls spricht. In dem Brief erfährt man auch, daß Maximilian zweimal vom Pferd in den Urwaldsumpf Hei. Die lakonische Bemerkung "Mit Booten auf dem Fluß, von Indianern geführt" (22.1.1860) der Hefte 1 und 2 wird im Brief wie folgt umschrieben: "Um 10 Uhr in Canoes abgefahren. Mehr als 20 größere und noch mehr kleinere Stromschnellen passiert Beständig im Zick-Zack gefahren. Indianer deliberiren oft welche der gewundenen Wasseradern sie zum Herabfahren wählen sollen". Der Brief vom 12.2. an den Kaiser enthält folgende Einzelheit* "Am Abend des 22ten stießen wir auf eine kleine Niederlassung wilder Indianer, die anfangs scheu und furchtsam flüchteten, allmählich aber vertraulich wurden, uns gastfreundlich bewirtheten und ihre unmöglich zu beschreibenden Tänze producirten. Tags darauf ruderten uns einige dieser Rothhäute auf ihren Canoes über die Wasserfälle und Katarakten des reißenden Cachoeiras hinab und nach Ilhéus zurück".
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Die handschriftliche Fassung des Buches Bahia 1860, die als Vorlage für den Druck benutzt wurde, befindet sich ebenfalls im Hof- und Staatsarchiv in Wien. Sie enthält im Vergleich zur schließlich veröffentlichten Fassung nur wenige, insbesondere stilistische Abänderungen. 8. Resumo Entre as centenas de viajantes estrangeiros que visitaram o Brasil no decorrer do século XIX, destaca-se o Arquiduque Maximiliano de Habsburg, que passou ä História sobretudo como o malfadado imperador do México, fusilado por ordem de Juárez. O príncipe austríaco realizou muitas viagens e relatou suas impressöes em livros, que tiveram reduzida tiragem e permaneceram pouco conhecidos. O Brasil foi por ele visitado de 11 de janeiro a 15 de fevereiro de 1860. Nesse curto espa90 de tempo, o príncipe esteve em Salvador, excursionou pelo interior e pela ilha de Itaparica, alongou a viagem até o sul da Bahia, em busca do "mato virgem", da floresta ainda no seu esplendor näo devastado pelo homem, passou alguns dias na Corte, visitou seu primo, o Imperador Pedro II e empreendeu o caminho de volta a partir de Recife. Os resultados literários desse breve cruzeiro, incluindo a narrativa da travessia oceánica, estäo em 824 páginas de impressöes e de informagöes, distribuidas em tres volumes de memórias: Ueber die Linie, Bahia 1860 e Mato Virgem. Ao lado de farta descri9äo da natureza tropical, o arquiduque preocupou-se em discorrer sobre os lugares por onde passou, demorando-se na pintura dos tipos humanos com que se deparou, crivando suas o b s e r v a o s com ferina ironia, näo poupando sarcasmo e desprezo pelo pouco desenvolvimento que viu no país. Partindo da premissa que a percepgäo visual é necessariamente etnocéntrica, veiculando o visto através do filtro da própria vivencia, urna leitura dos diários do Brasil de Maximiliano de Habsburg faz-nos indagar que mecanismos cognitivos o influenciaram na apresenta^äo da realidade por ele descrita. A imagem do Brasil que Maximiliano transmitiu aos seus leitores foi focalizada através da perspectiva proporcionada pela sua própria biografía, tanto individual como do grupo social ao qual pertenceu. Esses diários representam excelentes exemplos das rela9öes assimétricas desenvolvidas ao longo da História, entre os países da revoluto industrial e os países do assim chamado terceiro mundo e que, surgidas desde a época dos "descobrimentos", foram-se aprofundando e radicalizando no decorrer do século XIX.
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Veröffentlichungen Maximilians in chronologischer Reihenfolge - Reise Skizzen. Als Manuskript gedruckt Wien, aus der k.k. Hof- und Staatsdruckerei, 1854-1861. Vols. 1-6: Reise Skizzen. Italien - 1854. Reise Skizzen. Spanien - 1855. Reise Skizzen. Sicilien. Lissabon. Madeira -1856 Reise Skizzen. Ein Stück Albanien. Galloafrica - 1856. Reise Skizzen. Ueber die Linie - 1860-1861. Reise Skizzen. Bahia - 1860-1861. - Gedichte. Wien, aus der k.k. Hof- und Staatsdruckerei, 1859-1864. Vols. 1-4. - Die österreichische Marine von einem österreichischen Seemanne. Wien, Druck und Verlag der Typograf. literar-artist. Anstalt (L.C. Zamarki & C. Dittmarsch). Pola, 1860. - Aphorismen. Wien, aus der k.k. Hof- und Staatsdruckerei, 1861. - Meteorologisches Tagebuch Seiner Majestät Dampfer Elisabeth. Vom 1. December 1859 bis 17. März 1860. Wien, aus der k.k. Hof- und Staatsdruckerei, 1861. - Erläuternde Bemerkungen zum Budget der kaiserlichen Wien, aus der k.k. Hof- und Staatsdruckerei, 1863.
Kriegsmarine.
- Mato Virgem. Als Manuskript gedruckt. Wien, aus der k.k. Hof- und Staatsdruckerei, 1864. - Alocuciones, cartas oficiales e instrucciones durante los años de 1864, 1865 y 1866. México, Imprenta imperial, 1867. - Los traidores pintados por si mismos. Libro secreto de Maximiliano. México, Imprenta del Gobierno, 1867. Prólogo y notas por Angel Pold. - Aus meinem Leben. Reiseskizzen, Aphorismen, Gedichte. Leipzig, Duncker & Humblot, 1867. Vols. 1-7: Bd. 1 - Reiseskizzen I - Italien
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Bd. 2 - Reiseskizzen II - Andalusien und Granada. 1851. Bd. 3 - Reiseskizzen III-VII III - Einige Tage in Sicilien. 1852. IV - Die Balearen. 1852. V - Valencia und Murcia. 1852. VI - Lissabon. 1852. VII - Madeira. 1852. Bd. 4 - Reiseskizzen Vili, IX VIII - Galloafrica. 1852 IX - Ein Stück Albanien. 1853. Bd. 5 - Reiseskizzen X - Lieber die Linie. 1860. Bd. 6 - Reiseskizzen XI - Bahia. 1860. Bd. 7 - Reiseskizzen XII - Mato Virgem. Aphorismen, Gedichte. - Mein erster Ausflug. Wanderungen in Griechenland. Leipzig, Duncker & Humblot, 1868. - Immortellen aus einer Kaisergruft. Dichtungen. Mit Illustrationen von Hermine Stilke. Leipzig, Arnoldscher Verlag, 1868. - Souvenirs de ma vie. Mémoires de Maximilien. Traduit par Jules Gaillard. Paris, A. Lacroix, Verboeckhoven & Cie., 1868; 2 1869. - Recollections of my Life. London, R. Bentley, 1868, Bd. 1-3. - On the Wing. By Maximilian... Translated by A.M. Lushington. London, Saunders, Otley and Co., 1868. - Pagine sull'Italia di Massimiliano dAbsburgo. Tradotto dal tedesco di F. Saverio Boufigei. Firenze, Tipografia Eredi Botta, 1868. - Memorias de mi vida. Traducidas del inglés por Lorenço Elizaga. México, Imprenta de F. Dias de León y S. White, 1869. Bd. 1-2. - Recuerdos de mi vida: Memorias de Maximiliano. Traducidas por D. José Linares y D. Luis Mendez. México, F. Escalante, 1869. Bd. 1-2. - Aphorismen. In: Maximilian von Mexico. 1832-1867. Ausstellung auf Burg Hardegg a.d. Thaya. (13.5.-17.11.1974). Wien, Enzenhofer, 1974. - Tres cartas inéditas del emperador Maximiliano. México, D.F., Vargas Rea, 1944.
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- Bahia 1860. Esboços de Viagem. Maximiliano de Habsburgo. Traduzido por A. da S. Carvalho e C.S. Medeiros. Introduçâo, notas e revisâo gérai de M. Parente Augel. Rio de Janeiro, Tempo Brasileiro; Bahia, Fundaçào Cultural do Estado da Bahia, 1982.
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Die Forschungen im Wiener Nationalarchiv wurden mit Unterstützung des Forschungsschwerpunkts Lateinamerika der Universität Bielefeld durchgeführt. Die Autorin dankt Frau Charlotte Böttjer, Bremen, für ihre Hilfe bei den Transkriptionen des handschriftlichen Materials.
Der Bürgerkrieg von 1893-95 Brennspiegel der Widersprüche bei der Republikanisierung Brasiliens Jens Hentschke, Rostock
Einleitung: Die Konfliktkonstellation Jacob Gorender hat die Abolition der Sklaverei von 1888 (auch eingedenk der politisch-rechtlichen Implikationen) einmal als die "einzige soziale Revolution" bezeichnet, die Brasilien jemals erlebt hat. 1 Dies ist gewiß überhöht, wenn man an den Ersatz des direkten Zwangsarbeitsregimes durch ein eher indirektes der Pachtsklaverei bei Erhalt des Bodenmonopols des ehemals sklavenhaltenden Großgrundbesitzes denkt. Die Möglichkeit der ehemaligen Sklaven, sich aufgrund der noch nicht abgeschlossenen ökonomischen Inbesitznahme des Bodens in den riesigen inneren Kolonisationsfonds zurückzuziehen und in selbstgenügsame Bauern zu verwandeln, wirkte wie ein Ventil auf die Konflikte im CentroSur. Das Latifundium war noch nicht zu einem unmittelbaren Hindernis (agrar-) kapitalistischer Entwicklung geworden und wurde folglich von den bürgerlichintellektuellen Kräften der wenigen Urbanen Zentren auch noch nicht als solches wahrgenommen. Die Schwäche des Agrarprogramms der abolitionistischen Bewegung belegt dies. Mit der Sklavenemanzipation zerfiel diese Bewegung. Die Republikanisierung war nicht mehr das Ergebnis einer Massenbewegung. Die Sozialreform wurde am Ende nicht durch eine konsequente politische Revolution bürgerlichen Charakters ergänzt. Sie ebnete vielmehr in the long run der (tendenziell) verbürgerlichenden Fraktion des Großgrundbesitzes, der Kaffeeoligarchie Säo Paulos, den Weg von der indirekten (ökonomischen) zur nahezu uneingeschränkten direkten (politischen) Macht. Mehr noch wird man sich in der brasilianischen Geschichte ebenso schwertun wie in der deutschen, überhaupt eine erfolgreiche politische Revolution zu identifizieren. Es überwogen stets 1
J. Gorender, A burguesía brasileira, 2. Aufl., Säo Paulo 1982, S. 21 (Tudo é historia. 2).
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reformerische Lösungen, Momente der Kontinuität. Gab es revolutionäre Versuche, blieben sie in dem erst in den dreißiger und vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts zusammenwachsenden Großflächenstaat regional verhaftet und (nicht zuletzt daher) im Ansatz stecken. Sie lösten kaum die sie auslösenden Herrschaftskrisen, sondern wurden von andauernden Phasen der Hegemoniekrise mit der ihnen inhärenten Ausfechtung von Alternativen gefolgt. Dies gilt für alle drei großen Zäsuren der neuzeitlichen brasilianischen Geschichte: 1817/22 (-1824), 1888/89 (-1894) und 1930 (-1937), also auch für die Republikanisierung. Der Sturz der Monarchie hatte sich letztlich auf konspirativem Wege und ohne Blutvergießen vollzogen. Es wurde jedoch bald offenkundig, daß die zahlreichen latenten Widersprüche in der Gesellschaft mit der formellen Proklamation der Republik nicht beseitigt waren. Sie wurden nur verschleppt und zugespitzt und zugleich durch neue Konflikte überlagert. Zeigte sich dies schon ansatzweise während der ersten Militärregierung Deodoro da Fonseca (1889-91), so brachen während der ihr folgenden Floriano Peixotos (1891-94), die versuchte, die 1889 gesteckten engen Grenzen sozioökonomischer und politischer Modernisierung mittels eines diktatorischen Regimes auszudehnen, die Gegensätze offen aus. Die Auseinandersetzungen, die sich zunächst in zahlreichen Parlamentsdebatten, außerparlamentarischen Protestaktionen und militärischen Aufständen offenbarten, kulminierten schließlich unter dem Einfluß eines regionalen Konflikts 1893-95 im blutigsten Bürgerkrieg der brasilianischen Geschichte, der zu einem Sinnbild der "Unordnung des Fortschritts" wurde und dessen Beginn sich 1993 zum 100. Mal jährt. Er steht im Mittelpunkt des vorliegenden Aufsatzes. Der Krieg hatte drei Kristallisationspunkte: erstens die Bundesregierung in Rio de Janeiro; zweitens den ebenfalls in der Bundeshauptstadt konzentrierten Aufstand der Marine; und drittens die sogenannte "Föderalistische Revolution", die ausgehend von Rio Grande do Sul bald alle drei Südstaaten Brasiliens erfaßte. Jeder dieser Konfliktherde stand für eine unterschiedliche Widerspruchsproblematik: Innerhalb der Zentralregierung existierte ein Gegensatz zwischen der von den Militärs besetzten Exekutive und der in der Legislative konzentrierten zivilen Opposition bzw. zwischen radikalen und positivistischen Elementen einerseits und liberalen Konstitutionalisten andererseits. Hinter der disputierten Frage, ob Brasilien als ein zentralistisches bis autoritäres Regime oder verfassungsgemäß als föderaler, repräsentativ-demokratischer Staat organisiert werden sollte, verbarg sich der noch unentschiedene Machtkampf zwischen den beiden
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stärksten soziopolitischen Gruppierungen innerhalb des republikanischen Lagers, der Paulistaner Regionaloligarchie und den Militärs, um die politische Hegemonie und damit die Durchsetzung ihrer jeweiligen wirtschaftspolitischen Interessen. Der Marineaufstand war die Folge eines schon gut zwei Jahrzehnte schwelenden institutionellen Konfliktes zwischen Heer und Marine, der auf einer unterschiedlichen technologischen Entwicklung und gesellschaftspolitischen Ausbildung, verschiedenen Rekrutierungsmustern und differierender Einbindung beider Teilstreitkräfte in das politische System vor und nach der Republikanisierung beruhte. Die "Föderalistische Revolution" schließlich wurzelte in den mit der sehr spezifischen Modernisierung in Rio Grande do Sul in Verbindung stehenden sozioökonomischen und politischen Machtverschiebungen. Es ging im Kern um die Ausgestaltung der politischen Macht innerhalb Rio Grandes einerseits und die Stellung des Bundesstaates innerhalb des brasilianischen Gesamtstaates, also das Verhältnis von Zentrum und Peripherie, andererseits. Trotz ihrer jeweils unabhängigen Genesis können die drei Konfliktherde schwerlich isoliert voneinander behandelt werden. Sie überlagerten und beeinflußten sich gegenseitig auf das engste: Erst das Eingreifen der Zentralregierung in den inneren Konflikt in Rio Grande ließ diesen militärisch eskalieren, sezessionistische Tendenzen annehmen und in den Sog der nationalen Auseinandersetzung zwischen Monarchisten und Republikanern geraten. Erst im Kontext dieser Polarisierung wiederum ist der Marineaufstand, der sich im Unterschied zur "Föderalistischen Revolution" von Anbeginn gegen die Zentralregierung bzw. das sie beherrschende Heer richtete, erklärbar. Beide Rebellionen, die schnell - wenn auch nicht widerspruchsfrei - Kontakt zueinander aufnahmen, übten jedoch auch eine kohäsive Wirkung auf die Konfliktparteien im Zentrum des politischen Systems aus. Dies führte einerseits zur Niederschlagung der gegenrevolutionären Bewegungen und damit zur Konsolidierung des republikanischen Regimes, andererseits zur Entmachtung des Heeres durch die Paulistaner und damit zu einer konservativen Wende. Das folgende Schema soll die mehrdimensionale Konfliktkonstellation unter dem Floriano-Regime zum besseren Verständnis noch einmal graphisch darstellen:
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Erläuterungen: (H)
Hauptwiderspruch der Phase der Konsolidierung der Republik: Republikaner-Monarchisten
(I)
Nebenwiderspruch 1 (Macht- und Hegemoniekampf unter den führenden Kräften des republikanischen Lagers): Paulistaner/liberale Konstitutionalisten - Heer/Positivisten
(1')
Von (1) abgeleiteter Neben Widerspruch Legislative-Exekutive innerhalb der Bundesregierung
(2)
Nebenwiderspruch 2 (Institutioneller Konflikt innerhalb der Streitkräfte): Heer/"junge" Offiziere - Marine/"alte" Militärs
(3)
Nebenwiderspruch 3 (Intraregionaler Widerspruch in Rio Grande do Sul): Castilhistas - Gasparistas
(3')
Von (3) abgeleiteter Nebenwiderspruch Gasparistas - Florianistas
(3")
Von (3') abgeleiteter interregionaler Nebenwiderspruch: Zentrum-Peripherie Durch (H) in bezug auf (3) überdeckter Gegensatz.
(4)
Es wird in diesem Schema bewußt von weitergehenden Differenzierungen abstrahiert Dies gilt insbesondere für die Gasparistas, die genaugenommen nicht en bloc im monarchistischen Lager plaziert werden können.
Der brasilianische Bürgerkrieg wurde so geradezu zum Brennspiegel der angestauten Widersprüche bei der Republikanisierung. Um so mehr verwundert es, daß er in der Literatur und selbst im öffentlichen Bewußtsein der Brasilianer vergleichsweise geringe Spuren hinterließ. 2 Dies mag auch mit der jeweiligen Sichtweise der Autoren auf den Bürgerkrieg zusammenhängen: Entweder wurde die "Föderalistische Revolution" als Zäsur der Süd-Riograndenser Geschichte dargestellt und allenfalls am Rande auf die Auseinandersetzungen im Zentrum verwiesen. Oder aber es stand umgekehrt der Konflikt zwischen Pakistanern und militärischer Bundesexekutive im Mittelpunkt der Betrachtung und es wurde nur mit wenigen wertenden Sätzen auf die letztendlich katalytischen Wirkungen 2
Vgl. Bibliographie in: S. Jatahy Pesavento, A Revolufäo Federalista, Porto Alegre 1983, S. 100 f. (Tudo 6 historia. 80).
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der beiden militärischen Erhebungen eingegangen. Im ersteren Falle erscheinen die Auseinandersetzungen im Zentrum, im letzteren die in der südlichen Peripherie als bloße Marginalie. Sicher muß man sich analytisch für eine Perspektive entscheiden; der vorliegende Aufsatz wählt die des Zentrums bzw. des zentralen Hegemonie- und Machtkampfes. Es wird versucht herauszuarbeiten, wie dieser erst im und durch den Bürgerkrieg entschieden wurde. Der Krieg war Kulminationspunkt aller drei miteinander verquickten Konfliktherde und gleichzeitig der übergreifenden, sich mit dem Krieg erschöpfenden Auseinandersetzung zwischen Monarchisten und Republikanern. Er war Höhepunkt der interregionalen Auseinandersetzungen im Brasilien der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts. Der Aufsatz beginnt mit einer Darstellung der Genesis von Konfliktherd (1) und (2) und untersucht dann die Entwicklung des zentralen Hegemonie- und Machtkampfes zwischen (in sich differenzierter) militärischer Exekutive (und zivilen Positivisten) einerseits, liberalen Konstitulionalisten in der Legislative und Säo Paulo andererseits von 1889 bis zum Ausbruch des Bürgerkrieges. Während dieser Phase blieb die Vorherrschaft der Militärs unangetastet. Im folgenden Abschnitt werden - von der Perspektive her in einem Exkurs - die intraregionale Genesis der "Föderalistischen Revolution" in Rio Grande (Konfliktherd 3) und die Ursachen für die Ausdehnung des Konfliktes entlang der Achsen des zentralen Koordinatensystems Zentrum-Peripherie und Republikaner-Monarchisten analysiert. Da sich dieser Konfliktherd erst vor dem Hintergrund der inneren Auseinandersetzungen im Zentrum verschärft, kann er auch erst nach deren Darstellung behandelt werden, auch wenn dies den gedanklichen Zusammenhang des zentralen Machtkampfes unterbricht. Der folgende Teil ist dem Bürgerkrieg selbst gewidmet. Dabei soll nicht, wie bisher meist üblich, eine bloße Gesamtinterpretation erfolgen. Vielmehr wird - nach unserer Meinung erstmals und deshalb auch mit nötiger Detailtreue - eine Periodisierung des Krieges versucht, die nicht nur die militärischen Handlungen ins Kalkül zieht, sondern das sich verändernde Kräfteverhältnis an den verschiedenen, sich Uberschneidenden Fronten verdeutlicht.3 Im Schlußabsatz wird nach den langfristigen Folgen der mit dem Krieg erreichten Befriedung der Konflikte gefragt.
3
Genauere Fakten, die eine Periodisierung erst möglich machen, sind vor allem in älteren Publikationen zu finden.
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Genesis des Konfliktherdes (1): Liberale Konstitutionalisten versus Positivisten Die Differenzierung der republikanischen Bewegung Als am 13. Mai 1888 als Ergebnis einer gesamtnationalen Krise die Sklaverei in Brasilien aufgehoben wurde {Lei Áurea), stellte die Monarchie nur noch "eine ausgehöhlte Schale" dar, "dazu bereit, beim ersten Ansturm zusammenzubrechen". 4 Im Gegensatz zur Zuckeraristokratie des Nordostens und den Kaffeebaronen des Paraiba-Tals, die trotz des schon länger andauernden wirtschaftlichen Verfalls ihrer auf Sklavenarbeit beruhenden Plantagenkomplexe noch immer im Staatsapparat dominierten, hatten die fazendeiros de café des prosperierenden Paulistaner Westens durch die Förderung des colonato europäischer Landarbeiter ihr Arbeitskräftesystem seit längerem auf freie Arbeit umgestellt. Die Abolition konnte sie nicht mehr empfindlich treffen. Als im Frühjahr 1888 die Fluchten von Sklaven von den fazendas in die Städte Massencharakter annahmen und die staatlichen Autoritäten nicht mehr Herr der Situation waren, verwandelten sie sich, um tiefergehende soziale Umwälzungen zu verhindern 5 , in emancipacionistas. Unfähig, die Abolition weiter hinauszuzögern, hatte die Monarchie bei den Pakistanern den letzten Rest an Legitimation verloren. Für sie war die Frage der Regierungsform immer sekundär gegenüber der Sklavenfrage gewesen. 6 Nichts konnte daher die Eliten Säo Paulos daran hindern, sich nun der allen Hofaristokratie zu entledigen und selbst die politische Macht in ganz Brasilien zu übernehmen. Politisches Instrument zur Durchsetzung der Interessen der Paulistaner Kaffeepflanzer um Prudente de Moráis und Campos Sales und ihrer hacharéis in 4
P. A. Martin, Causes of the Collapse of the Brazilian Empire, in: Hispanic American Historical Review (im folgenden HAHR), Durham, 4(1921)1, S. 5.
5
Wie die "Rio News" bereits am 5. Januar 1883 feststellten, lag die große Gefahr "in der Möglichkeit, daß einige Sklaven oder Freigelassene von außergewöhnlicher Fähigkeit oder Charakterstärke die Sache in die eigenen Hände nehmen könnten und ihre Rasse zu einer allgemeinen Revolte aufwiegelten". R. B. Toplin, Upheaval, Violence and the Abolition of Slavery in Brazil: The Case of Sao Paulo, in: HAHR 49(1969)4, S. 646. Wie realistisch diese Schicksalspropheten dachten, beweist das Scheitern eines Planes, am Weihnachtsabend 1886 eine Rebellion auf allen Paulistaner fazendas gleichzeitig zu entfachen. Vgl. R. Conrad, Os Ultimos anos da escravatura no Brasil. 1850-1888, Rio de Janeiro 197S.
6
Vgl. Ocerki istorii Brazilii, hg. v. W. I. Ermolajew, Moskau 1962.
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der Partei- und Staatsbürokratie, angeführt von Quintino Bocayuva, war seit 1870 der Partido Republicano Paulista (PRP). Er verkörperte die im (oligarchisch geprägten) liberalen Konstitutionalismus wurzelnde gemäßigte Strömung innerhalb der einzelstaatlich organisierten republikanischen Bewegung. So strebten die Paulistaner Republikaner nicht mehr eine am britischen Vorbild orientierte Monarchie an, wie bei den Konservativen (vgl. Joaquim Nabuco) und Liberalen (anfangs Rui Barbosa), sondern eine am US-amerikanischen Verfassungsmodell orientierte "demokratische Republik". Sie sollte repräsentative Demokratie und Föderalismus miteinander verbinden und auf friedlichem Wege (man sprach vom Prinzip der Evolution oder der "Revolution der Idee") durchgesetzt werden. Die Paulistaner strebten freilich nie eine breite politische Partizipation und einen kooperativen Föderalismus an, sondern interpretierten das neue Staatswesen elitär und kooptativ. Es ging ihnen um die Vermeidung von Erschütterungen ihres Wirtschaftssystems und darum, zukünftig unabhängig von der Hauptstadt über ihre eigenen Ressourcen verfügen zu können. Sie wollten einerseits als Garant gemeinsamer Interessen der verschiedenen Regionaloligarchien (Erhalt des Bodenmonopols des Großgrundbesitzes; Verteidigung des ökonomischen Liberalismus; weitgehender Ausschluß nichtoligarchischer Kräfte vom political decision-making) auftreten, andererseits durch die Monopolisierung der Zentralregierung auch die Interessen der kleinen Staaten in ihrem Sinne manipulieren. 7 Daraus erwuchs ein ambivalentes Verhältnis zwischen Zentrum und Peripherie. Nachdem die Sklaverei ohne großen Widerstand der Paulistaner aufgehoben worden war, trat der letzte Premierminister des Kaiserreiches, Visconde deOuro Preto, am 7.6.1888 vor Kaiser und Senat und mahnte inständig, die Krone solle nicht mit Gewalt und Repression auf die republikanische Bewegung antworten, sondern "Reformen in der politischen, sozialen und Wirtschaftsordnung in Angriff nehmen, die sich an der demokratischen Schule orientieren...". 8 Das von 7
Vgl. G. C. A. Boehrer, Da monarquía á república. História do Partido Republicano do Brasil (1870-1889), Rio de Janeiro o.J., S. 219-222; S. Buarque de Holanda, Da constituinte constituida á Leí Saraiva, in: História geral da civilizafáo brasileira, III Teile/11 Bde., hg. v. S. Buarque de Holanda/B. Fausto, Bd. II/7, Sao Paulo 1972, S. 256; J. M. de Carvalho, A construfáo da ordem. A élite política imperial, Brasilia 1981, S. 166-167 (Cole^áo Temas Brasileiros. 4). Vgl. Pesavento, A Revolufao Federalista, S. 15,21 f.
8
O parlamento e a evoluglo nacional (3a Série: 1871-1889), hg. v. Senado Federal, 6 Bde., Brasilia 1979, Bd. 1, S. 159-162.
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Ouro Preto vorgeschlagene Reformprogramm, das umfangreichste, das je von einer kaiserlichen Regierung ausgearbeitet worden war, schloß wesentliche Forderungen nicht nur der Paulistaner Kaffeeoligarchie, sondern auch der städtischintellektuellen Kräfte innerhalb der republikanischen Bewegung ein: Verwaltungsdezentralisation, Provinzautonomie, Abschaffung des lebenslänglichen Senats und des Staatsrates, die Erweiterung des Wahlrechts und der Wahlfunktionen, Verbesserungen im Bildungssystem sowie eine allgemeine, staatlich subventionierte Wirtschaftsstimulierung und Förderung der Immigration.9 Ouro Preto scheiterte und mit ihm die Monarchie. Große Teile der monarchistischen Parteien näherten sich nun aus unterschiedlichen Motiven den gemäßigten Republikanern an. Die einen, vor allem oligarchische Fraktionen der verschiedenen Großregionen, hofften, durch diesen Schritt gerade einer Demokratisierung, wie sie im Programm Ouro Pretos anklang, zuvorzukommen und sich so ihren Platz an der Staatskrippe zu erhalten. Andere, insbesondere Teile der städtischen Mittelschichten, wandten sich gerade aus Frustration über die Reformunfähigkeit der herrschenden Eliten von der Krone ab. Das Beispiel Rui Barbosas, der anfangs Monarchist war, sich aber immer für die Abolition und eine Demokratisierung und Föderalisierung der Monarchie eingesetzt hatte, und nun in das republikanische Lager übertrat, ist für letztere Gruppierung exemplarisch.10 Auch Barbosas Demokratievorstellungen blieben jedoch elitär. Er appellierte stets an die gebildeten und wohlhabenden Klassen als Agenten der Erneuerung.11 So waren gerade diefazendeiros für Barbosa "achtbare Bündnispartner", da sie sich ohne Widerstand in die Abolition ergeben hätten.12 Fortbestehende Interessenkonflikte mit den Oligarchien hinsichtlich der zukünftigen ökonomischen Entwicklung Brasiliens (Beibehaltung des uneingeschränkten laissez faire oder
9
Vgl. ebenda; R. Graham, Britain and the Onset of Modernization in Brazil (18501914), Cambridge/Mass. 1972, S. 40; C. Prado Jr., Evolución politica del Brasil, Buenos Aires 1964, S. 120.
10
Barbosa strebte eine "demokratisierte Monarchie, wo der Staatschef getreu der Verfassung seines Reiches handelt", an. Vgl. R. Barbosa, As origens repüblicanas (21. 3. 1889), in: R. Barbosa, A queda do impèrio. Diàrio de noticias, 2 Bde. Rio de Janeiro 1921, Bd. 1, S. 166. Zum Projekt einer Föderalisierung der Monarchie, wie es im Programm Ouro Pretos sichtbar wird, vgl. O parlamento, Bd. 6, S. 336-347.
11
In diesem Sinne wurde er selbst noch von den Militärs nach 1964 für ihre Zwecke als Kronzeuge benutzt. Vgl. A R e v o l u t o de 31 de mar90, Rio de Janeiro 1966, S. 33.
12
Vgl. Barbosa, As origens, S. 165.
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Wende zu einer mehr protektionistischen Industriepolitik) wurden durch die gemeinsame Grundlage des liberalen Konstitutionalismus Uberdeckt. Bildete letzterer den mainstream innerhalb der republikanischen Bewegung, existierte daneben stets eine aus der radikal-liberalen Tradition kommende, vor allem von bürgerlich-intellektuellen Kräften gebildete Strömung, die sich regional vor allem in der Republikanischen Partei Rio de Janeiros um Antonio da Silva Jardim konzentrierte. Sie trat, inspiriert vom französischen Positivismus Auguste Comtes, für eine aufgeklärte und zentralisierte Entwicklungs- und Erziehungsdiktatur ein, die notfalls auch "mit Waffengewalt auf dem Schlachtfeld oder mittels pronunciamento", "mit oder ohne die Billigung der ganzen Nation" errichtet werden sollte.13 In dem Ziel, auf die Wissenschaft gestützten technischen "Fortschritt", gleichbedeutend mit nachholender Industrialisierung und Diversifizierung der Landwirtschaft, durchzusetzen, waren sich die radikalen Republikaner mit Barbosa und anderen Vertretern der Mittelschichten im gemäßigten Lager einig. Nicht aber in der Wahl der Mittel (und den "ideologischen" Begründungen). Was beide Gruppierungen voneinander unterschied, war primär die Frage nach dem Grad politischer Liberalisierung, den die Auslösung eines Prozesses ökonomischer und politischer Modernisierung unter den Bedingungen Brasiliens erlaubte. In einem Land, in dem ganze drei Prozent der Bevölkerung wahlberechtigt waren 14 und in dem keine institutionellen Grundlagen einer liberalen Demokratie existierten, mußten nach Meinung der Positivisten (formell) demokratische Institutionen entarten. Die mächtigsten agrarischen Oligarchien würden sich ihrer bemächtigen und den Staat als Pfründe unter sich aufteilen. Um das als national verstandene Interesse an einer Forcierung der Industrialisierung, verbunden mit einer Zentralisation der Entscheidungsprozesse und ökonomischem Interventionismus, notfalls auch gegen die Regionaloligarchien durchsetzen und gleichzeitig die bereits aufkommende "soziale Frage" unter Kontrolle halten zu können, betonten die Positivisten die Notwendigkeit einer starken Exekutive. Die liberalen Konstituüonalisten hingegen beharrten auf dem parlamentarischen System und lehnten es ab, den Modemisierungsprozeß auch gegen den Agrar-
13
Vgl. Boehrer, Da monarquía, S. 238-239.
14
Vgl. S. Guerra Vilaboy/A. Prieto Rozos, Breve Historia del Brasil, La Habana 1987, S. 189.
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Export-Komplex voranzutreiben. 15 Letztlich strebten sie einen "preußischen", reformerischen Weg an. Ein besonderer Streitpunkt blieb in diesem Zusammenhang die Frage, ob die Exekutive auch in die Hände der Militärs gelegt werden dürfe. Während die Positivisten darin eine willkommene Möglichkeit für einen geordneten Übergang zur Republik sahen, war die Haltung der liberalen Konstitutionalisten äußerst widersprüchlich. Anfangs begrüßten sie die zunehmende Eingliederung der Armee in die Bewegung für Sklavenemanzipation und Republik in den achtziger Jahren und traten, wie das Beispiel Barbosas zeigt, sogar 1889 in eine militärisch geführte provisorische Regierung ein. Als die Militärs jedoch, besonders unter Floriano Peixoto, einen radikaleren Kurs nahmen und - an der Verfassung vorbei - auch in die Rechte der Einzelstaaten eingriffen, vertraten die liberalen Konstitutionalisten die Auffassung, die Armee gehöre in die Kasernen. Barbosa erklärte: "Wir sprechen den Militärs nicht das Recht ab, die Angelegenheiten des Landes zu verfolgen, sondern wir sprechen der Armee die Berechtigung ab, über Politik zu entscheiden ... Die Armee unterliegt vom Wesen ihrer Funktionen her einer besonderen Ordnung: Sie hat überhaupt keine politischen Rechte ... Warum ? Weil sie nicht politisch sein darf;... weil sie der Regierung gehorchen und nicht regieren soll. Wenn die Armee über Politik entscheidet, wird sie zwangsläufig Politik machen." 16 Barbosa ging am Ende soweit, selbst militärische Mittel zum Sturz der Militärs zu befürworten.
15
Die Frage, ob eine nach innen gerichtete Entwicklung sich eher mit einer repräsentativ-liberalen Demokratie oder einem autoritären, korporativ organisierten Zentralstaat populistischer Prägung durchsetzen läßt, bildete, unter neuen historischen Bedingungen und von neuen Doktrinen untermauert, noch in den dreißiger Jahren unseres Jahrhunderts einen Schwerpunkt der politischen Auseinandersetzungen. Vgl. J. Hentschke, Langfristige Auswirkungen der Großen Depression auf das politische System in Brasilien, in: Nord und Süd in Amerika. Gemeinsamkeiten-Gegensätze-Europäischer Hintergrund, 2 Bde., hg. v. Wolfgang Reinhard/Peter Waldmann u.a., Freiburg i. Br. 1992, Bd. 2, S. 851-861.
16
R. Barbosa, Obras completas, Bd. 20.2, Rio de Janeiro 1949, S. 304-305.
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Genesis des Konfliktherdes (2): Heer versus Marine - Die Differenzierung in den Streitkräften Die Differenzierung innerhalb der republikanischen Bewegung fand auch ihr Pendant in den Streitkräften. Der regionalen Polarisierung der zivilen Republikaner entsprach hier ein institutioneller Konflikt zwischen Heer und Marine, ohne den der Bürgerkrieg von 1893 bis 1895, vor allem der Marineaufstand, nicht erklärbar wäre. Der Konflikt entwickelte sich jedoch nicht allein entlang der Grenze zwischen den Teilstreitkräften, sondern wurde durch interne Differenzierungen, vor allem innerhalb des Heeres, ergänzt Das Offizierskorps von Heer und Marine unterschied sich hinsichtlich seiner sozialen Rekrutierungsbasis. An der Marineschule auf der Ilha das Enxadas wurden so hohe Gebühren erhoben, daß selbst weite Teile der Mittelschichten nicht in der Lage waren, ihren Kindern diese Ausbildung zu eröffnen. Zumeist entstammten die Kadetten den nicht nur begütertsten, sondern auch einflußreichsten Kreisen der brasilianischen Gesellschaft. Viele kamen aus Familien der Sklavenhaltcraristokratie und waren stolz auf die "ethnische Reinheit" der Marine. Sie wußten, daß sie auf der Ilha das Enxadas eine solide Ausbildung erwartete und sie danach ihre Kenntnisse noch auf ausgedehnten Reisen vertiefen konnten. Die Kadetten und Offiziere lebten nicht allein von ihrem Sold, sondern verfügten über Zuschüsse ihrer Eltern bzw. eigene zusätzliche Einnahmequellen. Bis zum Sturz der Monarchie gehörten die Marineoffiziere zu den Führungsschichten des Landes. 17 Nichts und niemand hätte sie veranlassen können, gegen die Krone aufzutreten. 18 Obgleich die Republikanisierung später als Werk von "Volk, Heer und Flotte" bezeichnet wurde 19 , war die Marine am Umsturz nicht beteiligt. 17
Die Marine blieb - trotz der niedergeschlagenen Aufstände der neunziger Jahre noch für etwa ein halbes Jahrhundert der elitäre Teil der Streitkräfte. Dies änderte sich erst mit der wachsenden Bedeutung der Luftwaffe.
18
J. M. Bello, A History of Modern Brazil. 1889-1964, Stanford 1966, S. 120-121; S. Buarque de Holanda, O caminho da república, in: Historia geral, Bd. II/7, Säo Paulo 1972, S. 342-343; J. J. Johnson, The Military and Society in Latin America, Stanford 1964, S. 193; Ocerki, S. 212; Pesavento, A Revolu9áo Federalista, S. 16.
19
Proklamation der Republik durch Deodoro da Fonseca. Vgl. Proclamado do Govemo Provisório, in: Diário Official da República Federativa Brazileira, Rio de Janeiro 29(1890-4-6)91, S. 1448-1454; vgl. auch: Papers Relating to the Foreign Relations of the United States. Transmitted to the Congress with the Annual Message of the President, Washington 1890, S. 59.
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Ein anderes Erscheinungsbild bot sich im Heer. Die militärische Laufbahn in den Landstreitkräften bot, besonders seit dem gewachsenen Bedarf während des Paraguay-Krieges (1865-1870), eine begehrte Karrieremöglichkeit für Söhne der städtischen Mittelschichten, niederer Handels- und Beamtenkreise und kleinerer Pflanzerfamilien, die aufgrund des Fehlens finanzieller Mittel und einflußreicher Fürsprecher, d.h. aufgrund ihrer Herkunft und gesellschaftlichen Stellung, in einem Eintritt ins Heer die einzige Möglichkeit des sozialen Aufstiegs sahen. Dem kam auch entgegen, daß die ethnische Ausgrenzung nicht so rigoros wie in der Marine war. Viele der Kadetten kamen aus den rückständigen Provinzen. Auch Floriano Peixoto entstammte einer minderprivilegierten Pflanzerfamilie des Nordostens. An der Militärschule von Praia Vermelha erhielten die Offiziersanwärter eine kostenlose Ausbildung und Zugang zu einem mehr oder weniger großen Wohlstand. 20 Ebenso akzentuiert waren die Unterschiede in der sozialen Zusammensetzung der Mannschaften: Während des Paraguay-Krieges wurden über 20.000 Neger und Mulatten, ehemalige Sklaven, in das Landheer aufgenommen. Eine verstärkte Aushebung fand auch bei marginalisierten Elementen der Städte statt. 21 Dies war in der Marine weder notwendig noch möglich. Einmal war ihre Aufnahmekapazität entsprechend dem Umfang und der vergleichsweise hohen technischen Austattung der Flotte begrenzt, zum anderen erforderte die Bedienung der Waffen- und Navigationstechnik eine Qualifizierung, die Bauern oder gerade aus der Sklaverei Entlassene nicht besaßen. Die Mannschaften setzten sich zu einem größeren Prozentsatz aus qualifizierten Arbeitern zusammen. Der Mangel an moderner Technik und Technologie im Heer, der nur durch eine erhöhte Rekrutierung von Soldaten ausgeglichen werden konnte, wurde während des Paraguay-Krieges durch die jungen Offiziere deutlich kritisiert. Sie erkannten, daß der Zustand der Armee nur ein Spiegelbild der Rückständigkeit Brasiliens war, die sie während der Truppentransporte durch das Landesinnere immer wieder schmerzhaft wahrnahmen. Das galt auch für deren politisch-soziale Begleiterscheinungen, wie Bürokratie und Vetternwirtschaft. Der Para20
Buarque de Holanda, O caminho, S. 329; Johnson, The Military, S. 193; E. Kalwa, Der brasilianische Tenentismo. Die Armee im nationalen bürgerlichen Revolutionszyklus (1889-1930), phil. Diss., Leipzig 1977, S. 36-37; Pesavento, A Revolu?äo Federalista, S. 16.
21
Vgl. Bello, A History, S. 41; Toplin, Upheaval, S. 650-651; Buarque de Holanda, O caminho, S. 329.
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guay-Krieg wirkte stimulierend auf das Wirtschaftsleben und ließ die brasilianischen Streitkräfte, wie die bestimmter hispanoamerikanischer Republiken, in eine Zeit größerer Professionalisierung und technologischer Entwicklung eintreten. Die Militäringenieure gehörten bald zur Bildungselite des Landes. 22 Indem sich die Offiziere mit den technologischen Errungenschaften in Westeuropa und den Vereinigten Staaten vertraut machten, wurden sie jedoch auch der sie begleitenden Prozesse geistiger Emanzipation gewahr. Unter allen Ideen, die damals rezipiert wurden 23 , fand der französische Positivismus Auguste Comtes den meisten Widerhall. Dabei wurden, wie Kalwa herausarbeitet, besonders die autoritären Konnotationen betont: "Die Comte'sche Gesellschaftskonzeption schien ihnen am besten durch die Machtkonzentration in einer Hand verwirklicht. Naturgemäß mußte die starke, diktatorische Regierung mit antiparlamentarischem Charakter die Garantie für eine stabile und prosperierende Republik sein." 24 In der Frage, ob die Armee nur als bewaffneter Arm des Staates gehorchen 25 oder sich als "Bürger Soldat", als Teil der Gesellschaft, öffentlich zu politischen Problemen äußern soll 26 , bestand der Hauptstreitpunkt zwischen den sogenannten "alten" und "jungen" Heeresoffizieren während der "militärischen Frage" (1884-1889). Es ging dabei um die Manifestation des Gegensatzes zwischen jenen Militärs, die, ähnlich wie in der Marine, aus meist aristokratischen Familien stammten und ganz im Korpsgeist erzogen waren, bzw. der Generation des Paraguay-Krieges, die eine gesellschaftspolitische Ausbildung der Kadetten als
22
Vgl. R. Graham, Britain, S. 28; Johnson, The Military, S. 189-190.
23
Vgl. J. Hentschke, A luta abolicionista-republicana no Brasil e a Grande Revolufäo Francesa - um estudo de história das ideias, in: Da monarquía escravocrata ä república paulista. Brasil 1889, hg. v. J. Hentschke, Rostock 1990, S. 15 ff.
24
Kalwa, Der brasilianische Tenentismo, S. 44, vgl. auch S. 39.
25
Dies hat die im Unterschied zu Hispanoamerika erst nach der Unabhängigkeit geschaffene brasilianische Armee nie zuverlässig getan. Im Gegenteil gehörte sie zu den politisch aktivsten Teilen der brasilianischen Gesellschaft. Nachdem sich die Armee während revolutionärer Unruhen mehrfach an die Seite der städtischen Mittelschichten gestellt hatte, gründete der Kaiser 1831 die Nationalgarde, die zukünftig mehr als die Armee die "Ordnung" verkörperte.
26
Vgl. Carvalho, A construyo, S. 149-150.
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wichtiger erachtete als bloßen militärischen Drill. Geistiger Führer der "jungen Offiziere" war der Oberstleutnant und Mathematikprofessor an der Escola Militär von Praia Vermelha, Benjamin Constant Botelho de Magalhäes. Er war es vor allem, der zeitig die Aufnahme von Kontakten mit der zivilen republikanischen Bewegung befürwortete und zu einem der Hauptinitiatoren der Bewegung des 15. November 1889 wurde.
Der Hegemonie- und Machtkampf im Zentrum bis zum Bürgerkrieg Der Sturz der Monarchie und die Regierung Deodoro da Fonseca Obwohl vor allem durch die Agitation der radikalen Abolitionisten und Positivisten innerhalb und außerhalb des Heeres vorbereitet, wurde die Republik letztendlich durch eine Koalition von vorwiegend gemäßigten Republikanern und dem Heer errichtet. Alarmiert durch die Erfahrungen der Massenfluchten und Aufstände von 1888, wählten sie den Weg der Konspiration. Die militärischen Positivisten um Constant begriffen, daß sie allein nicht über genügend Einfluß und Stärke verfügten, um die Monarchie zu stürzen. Daher versuchten sie, einen "alten" patriotischen Militär mit hohem Ansehen zu gewinnen, der der Monarchie kritisch gegenüberstand und in der Lage war, die nichtpositivistischen Kreise des Heeres mit sich zu reißen. Dafür war Marschall Deodoro da Fonseca, der Chef des mächtigen Militäriclubs, nach seiner mutigen Weigerung, der Aufforderung Prinzessin Isabels zu folgen, mit Hilfe der Armee flüchtige Sklaven zu jagen, prädestiniert Auf einer geheimen Zusammenkunft am 9. 11. 1889 gelang es Constant, den Marschall zu überzeugen, sich an die Spitze der Verschwörung nicht nur gegen das Kabinett, sondern gegen die Monarchie zu stellen. Zwei Tage später trafen sich beide mit den Führern des Partido Republicano Paulista, Barbosa und anderen liberalen Konstitutionalisten und planten die Einzelheiten des Staatsstreiches. Am 13.11. schloß sich auch Floriano Peixoto der Konspiration an. Seiner Verweigerung des vom Premierminister erteilten Feuerbefehls ist es zu verdanken, daß der Sturz der Monarchie ohne Blutvergießen vonstatten ging.27
27
Vgl. Bello, A History, S. 50; Boehrer, Da monarquia, S. 279, 284-285; Martin, Causes, S. 41-44.
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Die radikalen zivilen Republikaner blieben von der Bewegung ausgeschlossen. Sie trafen sich am Nachmittag des 15. 11. im Stadthaus von Rio de Janeiro und riefen ohne vorherige Absprache mit den Militärs und Paulistanem die Republik aus. Anschließend sandten sie eine Delegation zu Deodoro da Fonseca und übergaben ihm eine Erklärung, in der es hieß: 28 "Die Unterzeichneten leben in der Hoffnung, daß die patriotische Militärklasse diese Volksinitiative sanctionieren und unverweilt die neue republicanische Form der Staatsregierung decretieren wird." 29 Ein Akt, den Deodoro dann auch vollzog. Der Provisorischen Regierung gehörten zu Beginn Vertreter des PRP (Campos Sales, Bocayuva), liberale Konstitutionalisten aus den Mittelschichten (Barbosa), "alte" Militärs" (Deodoro da Fonseca als Präsident), der Führer der militärischen Posiiivisten (Constant) und sogar ein Marineoffizier (Wandenkolk) an, allerdings nicht einer der im Stadthaus versammelten Radikalen. 30 Constant, anfangs Kriegsminister, wurde bezeichnenderweise bald auf das weniger einflußreiche Amt des Ministers für Bildung, Post- und Telegraphenwesen abgeschoben. 31 Kurze Zeit darauf starb er. Barbosa scheiterte an den Fehlern und der Inkonsequenz seiner Wirtschaftsund Finanzpolitik, und Wandenkolk unterlag 1891 bei der Wahl des Vizepräsidenten deutlich gegenüber Floriano Peixoto. Die weitere Entwicklung wurde so vor allem vom Verhältnis zwischen Kaffeeoligarchie und Heer bestimmt. Der Beweggrund der Paulistaner, einer militärischen Machtexekutive zuzustimmen, lag in der Hoffnung, die Militärs für begrenzte Zeit als eine Art Stellvertreter einsetzen zu können, um mit ihrer Hilfe eine den Prinzipien Säo Paulos entsprechende Verfassung auf den Weg zu bringen und das neue Regime zu konsolidieren. Es zeigte sich jedoch bald, daß Deodoro sich ihnen nicht willfährig unterwerfen würde und auch nicht daran dachte, die Macht so schnell wieder abzugeben. Der Konflikt war vorprogrammiert. 28
Vgl. Bello, A History, S. 55; Boehrer, Da monarquia, S. 285.
29
T. H. Fulano, Der Sturz des Kaiserthrones in Brasilien und seine Folgen auf politischem und kirchlichem Gebiete, Köln 1892. Vgl. Papers 1890, S. 62.
30 31
Constant und die positivistische Fraktion vermochten es nicht, sich mit weitreichenden Reformvorschlägen gegen die oligarchische und gemäßigt-liberale Fraktion durchzusetzen. Von all den Forderungen der Radikalen, die "soziale Frage" zu lösen (Festsetzung von Minimallöhnen, Begrenzung des Arbeitstages, Garantie einer wöchentlichen Arbeitspause, jährlicher Ferien und bestimmter Kündigungsschutzregeln für Arbeiter nach 7 Jahren), blieb außer einer Regelung der Kinderarbeit nichts übrig. Vgl. Pesavento, A Revoluiäo Federalista, S. 36.
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Deodoro griff zunächst in Übereinstimmung mit den Pakistanern hart durch. Er ließ Gegner des Regimes, wie den späteren Führer der "Föderalistischen Revolution", Gaspar da Silveira Martins, aber auch bloße Kritiker seiner Regierung aburteilen und deportieren, schränkte klassische bürgerliche Rechte und Freiheiten ein (decreto rolha zur Knebelung der Presse) 32 und ersetzte in den meisten Bundesstaaten die dem alten Regime loyalen Regierungen durch Militärgouverneure. Anders in Säo Paulo. Hier wurde die noch in der Nacht zum 15. 11. 1889 vom Partido Republicano Paulista selbst bestimmte Junta unter ziviler Führung anerkannt. Die Paulistaner verteidigten auch erfolgreich die Unabhängigkeit der Staatsmiliz, während in einigen anderen Staaten deren Kommando an von Deodoro eingesetzte Offiziere übergeben werden mußte. Die lokalen Streitkräfte Säo Paulos wurden unter dem Gouverneur Prudente de Morais beträchtlich ausgebaut. Umfaßten sie 1888 nur 500 Mann, so vor Beginn des Bürgerkrieges 1893 schon 3000 sehr gut bewaffnete Soldaten. Damit konnten die Paulistaner zwar den Bundestruppen nicht Paroli bieten, wohl aber ihren Forderungen gegenüber der Zentralregierung Nachdruck verleihen.33 Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch zu erwähnen, daß der institutionelle Konflikt zwischen Heer und Marine (Konfliktherd 2) während des Deodoro-Rcgimes neue Nahrung erhielt. Heeresoffiziere wurden nicht nur als Gouverneure eingesetzt, sie übernahmen auch in der Staatsbürokratie, in der Wirtschaft und im Verkehrswesen, im diplomatischen und konsularischen Dienst bisher von Zivilisten wahrgenommene Funktionen.34 Viele von ihnen bekleideten zur gleichen Zeit verschiedene Ämter und kassierten mehrere Gehälter. Sie wurden befördert und erhielten zahlreiche politische wie kommerzielle Vorrechte. Die Marine fühlte sich demgegenüber diskriminiert.35 Entsprang diese Zurücksetzung bei Deodoro eher der traditionellen Rivalität beider Teilstreitkräfte, wurde sie unter Floriano Peixoto "ideologisch" gerechtfertigt. 32
Vgl. Ch. W. Simmons, Marshal Deodoro and the Fall of Dom Pedro II, Durham 1966, S. 141-144.
33
Vgl. J. E. Hahner, The Paulista Rise to Power: A Civilian Group Ends Military Rule, in: HAHR 47(1967)2, S. 151-155; dies.. Officers and Civilians in Brazil. 1889-1898, phil. Diss., Cornell Univ. 1966, S. 48-50.
34
Offiziere waren unter anderem im Stab des Vizepräsidenten, im Post-, Femmeldeund Eisenbahnwesen, in Feuerwehr, Polizei und Strafvollzug, Schlachthäusern, Sanitärinspektionen und Stadtverwaltungen, in städtischen Gesundheit^- und Hafeninspektionen sowie im Auswärtigen Dienst täüg. Vgl. Hahner, Officers, S. 128.
35
Vgl. ebenda, S. 54-55,127-128; Johnson, The Military, S. 192-193.
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Die Verschlechterung des Verhältnisses zwischen Deodoro und den Pakistanern war Ergebnis der staatsmännischen Unfähigkeit des Marschalls und einer tiefen Wirtschaftskrise. Beide Aspekte waren eng miteinander verflochten: Deodoro regierte Brasilien wie ein Regiment. 36 Er war zwar ein bewährter Militär, verstand jedoch nichts von den Problemen der Staatsverwaltung. Unfähig, politisch zu führen, gab er seinen Ministem alsbald außerordentliche Vollmachten in ihren jeweiligen Ressorts. Dies führte angesichts der persönlichen Zerstrittenheit, aber mehr noch des breiten Spektrums politischer Auffassungen in der Provisorischen Regierung rasch zu erbitterten Interessenkämpfen 37 , die schließlich mit dem Fiasko der Wirtschaftspolitik Rui Barbosas in eine emste Staatskrise einmündeten. Im Januar 1891 leitete Rui Barbosa eine Wende in der Finanzpolitik ein. Die Regierung erteilte mehreren Privatbanken das Recht, Banknoten im dreifachen Wert der zugrundeliegenden Goldeinheit auszugeben. Damit wurde das bisher unantastbare Prinzip der Golddeckung verlassen. Stattdessen garantierte fortan Papiergeld (Wertpapiere des Fiskus) den Kurs von Papiergeld (der Banken). Diese Politik führte zusammen mit dem Ausbau des Kreditwesens dazu, das fehlende Kapital für eine forciertere industrielle Entwicklung bereitzustellen. In der Folge entstanden zahlreiche neue Firmen, wurden infrastrukturelle Unternehmen vorangetrieben etc. Zugleich wurde die Währung extern entwertet, der Wechselkurs fiel. Damit verteuerten sich Importe, ein weiterer Stimulus für die Industrialisierung, der zusätzlich • vor allem aus fiskalischen Gründen - durch die parallele Anhebung der Importzölle (und eine Goldsteuer auf importierte Waren) untermauert wurde. Dennoch wäre es verfehlt zu glauben, diese Maßnahmen hätten sich auf Kosten des Agrar-Export-Komplexes vollzogen. Dies war auch gar nicht beabsichtigt, anderenfalls wäre zuerst an eine Lösung der Agrarfrage oder wenigstens eine Besteuerung von Grund und Boden gedacht worden. Die im Export engagierten Oligarchien profitierten zunächst von der mit Inflation und Abwertung verbundenen Umverteilung der Einkommen. Sie konnten für die auf dem Weltmarkt verdienten Devisen - zu dieser Zeit wurden trotz aller Schwankungen noch hohe Preise erzielt - eine größere Menge in einheimischer Währung einstreichen. Damit verbilligten sich für sie Löhne (nach Aufhebung
36
Eine Situation, die sich im übrigen unter der Regierung seines Neffen, Hermes da Fonseca (1910-1914), exakt wiederholen sollte. Dies war die labilste Präsidentschaft der Alten Republik.
37
Vgl. Simmons, Marshal Deodoro, S. 142-143.
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des Zwangsarbeitsregimes ein wachsender Kostenfaktor), Steuern, Gebühren, Zinsen für Kredite und andere interne Zahlungsposten. Nachteilig für die Industrie wirkten sich die hohen Zölle auch hinsichtlich des Imports von dringend erforderlicher Technologie aus. Und schließlich zeigt auch der Reziprozitätsvertrag mit den Vereinigten Staaten von 1891, der brasilianischem Kaffee den amerikanischen Markt sicherte, indem als Gegenleistung Getreide und Industrieprodukte aus den USA zu Vorzugszöllen nach Brasilien eingeführt werden mußten, daß die brasilianische Regierung nicht gegen die Interessen Säo Paulos handeln wollte. Der Staat war bald nicht mehr zu einer Steuerung der Inflation in der Lage. Es entwickelte sich eine gigantische Spekulation. Durch Reallohneinbußen der städtischen Bevölkerung, die hauptsächlich die Lasten dieser Politik tragen mußte, und eine ernste Nahrungskrise verschärfte sich auch die "soziale Frage". Das republikanische Regime geriet somit unter zunehmenden Druck. 38 Die am 15. November 1890 einberufene Verfassunggebende Versammlung, ab Februar 1891 ordentliche Legislative, entwickelte sich von Anbeginn zur Schaubühne des Kampfes gegen Deodoro. Als dieser seine Macht zu Privatunternehmungen ausnutzen und den Kongreß zu deren Sanktionierung zwingen wollte 39 , trat im Januar 1891 auch noch die Regierung zurück. Deodoro ernannte daraufhin das konservative Kabinett des unpopulären Barons von Lucena, der zunehmend monarchistische Kräfte um sich scharte. 40 In dieser Situation zunehmender wirtschaftlicher Anarchie und politischer Instabilität rückten die Paulistaner von der Regierung Deodoro ab. Bei den Prä-
38
Vgl. A. G. Frank, Capitalism and Underdevelopment in Latin America, New York 1967, S. 168-169; Pesavento, A Revolufäo Federalista, S. 26-28, 30-31; C. Prado Jr., Historia econömica del Brasil, Buenos Aires 1960, S. 248-251; S. Topik, The Evolution of the Economic Role of the Brazilian State. 1889-1930, in: Technical Papers Series, Nr. 15, Austin 1978, S. 2-3. - Das "Paradies der Narren", das Rio de Janeiro in dieser Zeit des Spekulationsfiebers darstellte, wird von Martin plastisch beschrieben. Vgl. P. A. Martin, Brazil, in: Argentina, Brazil and Chile Since Independence, hg. v. F. Rippy, Washington 1935, S. 222.
39
Es ging um die Annahme eines infrastrukturellen Projektes, an dessen Gewinnen der Präsident selbst beteiligt war. Vgl. Bello, A History, S. 81-83; Fulano, Der Sturz, S. 164-166; Hahner, Officers, S. 56-57; Ocerki, S. 209-210.
40
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sidentschaftswahlen im Februar 1891 stellten sie mit ihrem Gouverneur Dr. Prudente de Morais einen Gegenkandidaten auf. Dieser unterlag zwar, da sich der Kongreß in der Überzeugung, mit der Abwahl Deodoros eine Revolte der Armee zu provozieren, für das geringere von zwei Übeln entschied, aber die Konflikte verschärften sich dennoch. Die Kandidatur Prudentes als unentschuldbare Beleidigung betrachtend, versuchte Deodoro in der Folgezeit, mit Hilfe Lucenas die Position des Partido Republicano Paulista und die Positionen Säo Paulos zu untergraben. Prudente und alle Gouverneure, die ihn unterstützt hatten, wurden durch loyale Offiziere, "alte" Militärs, ausgetauscht.41 Aber weder die Paulistaner noch die Mittelschichten, die "...aus dem Kongreß ihren Schützengraben und aus Floriano Peixoto ihren Rettungsanker (machten)" 42 , waren allein in der Lage, Deodoro zu stürzen. Nachdem dieser am 3. 11. 1891 - um einer geplanten Beschränkung der Macht der Exekutive zuvorzukommen - die Legislative auflöste, mußten die zivilen Republikaner warten, bis dissidente Militärs der Agonie ein Ende machten. Dies war die Stunde der Marine. Am 22. 11. übernahm Konteradmiral Custödio de Melo das Kommando der Schiffe im Hafen von Rio de Janeiro und drohte mit dem Bombardement der Hauptstadt, falls Deodoro nicht zurücktreten würde. Die von Peixoto geführte Artillerie und die Kavallerie stellten sich auf die Seite der Aufständischen, Deodoro blieb nur die Infanterie. Angesichts dieses ungleichen Machtverhältnisses wich der Präsident am 23. 11. 1891 ohne Widerstand von seinem Posten. 43
Die Diktatur Floriano Peixotos bis zum Bürgerkrieg Floriano Peixoto, Absolvent der Militärakademie, avancierte im ParaguayKrieg vom Oberleutnant zum Oberstleutnant, war - im Unterschied zu dem ehemaligen Konservativen Deodoro - Mitglied der Liberalen Partei gewesen und hatte sich als Mitglied des abolitionistischen Klubs "Cearä Livre" für die Aufhebung der Sklaverei in Nordostbrasilien engagiert. Als die Monarchie gestürzt 41
Vgl. Hahner, The Paulista Rise, S. 156-157.
42
M. Bandeira, Presenfa dos Estados Unidos no Brasil (dois seculos de histöria), 2. Aufl. Rio de Janeiro 1978, S. 140. Vgl. Bello, A History, S. 87; Hahner, Officers, S. 68, 71-72; Simmons, Marshal Deodoro, S. 150, 157-158.
43
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wurde, war er Generaladjudant und Feldmarschall. 44 Sicher kann Peixoto keineswegs mit Benjamin Constant verglichen werden. 45 Doch mit ihm kamen erstmals die "jungen Offiziere", die Generation des Paraguay-Kriegs, zu größerem Einfluß und versuchten, ihre gesellschaftspolitischen Auffassungen zu verwirklichen. Sobald dies spürbar wurde, mußte es erneut und ungleich schärfer als unter der schlichtweg unfähigen Deodoro-Regierung zum Konflikt mit den Pakistanern führen. Schon unmittelbar nach dem 23. November 1891 begann Floriano Peixoto mit der politischen Stabilisierung seines Regimes. Wenn dieses mit dem Attribut "diktatorisch" versehen wird, bezieht sich das auf die zunehmende und gegen die (nie außer Kraft gesetzte) Verfassung verstoßende Monopolisierung und weitgehend unkontrollierte Ausübung der Staatsgewalt durch die militärische Exekutive und Peixoto selbst. Der Marschall hatte sich überdies als Vizepräsident nie der Wahl zum Präsidenten gestellt. "Diktatur" meint jedoch nicht die Unterwerfung nahezu aller Bereiche der brasilianischen Gesellschaft unter eine autoritäre Kontrolle. Das unmittelbare Einflußgebiet der Zentralregierung umfaßte ohnehin nur den Centro Sur, vor allem die Achse Rio de Janeiro-Säo Paulo. Die peripheren Bundesstaaten konnten hingegen ihr weitgehendes Eigenleben fortführen. Rio Grande do Sul hat dies bis weit in das 20. Jahrhundert immer bewiesen. Eingriffe in die Bundesstaaten erforderten, wie der Bürgerkrieg zeigte, angesichts der geographischen Entfernungen und mangelnden Infrastruktur einen enormen Kraftakt. Nach Machtantritt Peixotos wurden alle Gouverneure, die auf der Seite Deodoros gestanden hatten, ihres Amtes enthoben, selbst wenn sie nun beabsichtigten, die neue Regierung zu unterstützen. In verschiedenen Bundesstaaten wurden die lokalen Versammlungen und Behörden aufgelöst. 46 Andererseits berief
44
Vgl. Bello, A History, S. 42-43,49,90-94.
45
Peixoto galt noch unter dem letzten kaiserlichen Kabinett als feste Stütze der Monarchie. Er trat erst im letzten Moment auf die Seite der Republikaner Uber. Bezeichnenderweise ließ Deodoro Constant als Kriegsminister durch den ihm loyaler erscheinenden Floriano Peixoto ablösen.
46
Lediglich die Gouverneure von Pará und Santa Catarina durften ihr Amt weiter wahrnehmen. Vgl. Hahner, Officers, S. 73; Martin, Brazil, S. 228; J. Meirinhos, A formado republicana de Santa Catarina, in: Estudos Ibero-Americanos (im folgenden EIA), Porto Alegre 7(1981)1-2, S. 193; Simmons, Marshal Deodoro, S. 160.
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Peixoto das nationale Parlament wieder ein (wenn er auch fortwährend an ihm vorbei regierte) und erließ ein Dekret über die (begrenzte) Pressefreiheit. Diese Maßnahmen fanden zunächst durchaus breite Zustimmung: Da waren zum ersten die "jungen Offiziere", die das Vertrauen des Marschalls genossen und mit der Führung der örtlichen Regierungen beauftragt wurden. 47 Zweitens applaudierten die positivistisch orientierten zivilen Republikaner Rio de Janeiros angesichts der Beseitigung der "korrupten sozialen Mechanismen" 48 , die eine Modernisierung behinderten. Drittens schließlich sind auch die lokalen Oligarchien zu nennen, die aus eigenen Kräften nicht in der Lage waren, die von Deodoro nach den Präsidentschaftswahlen eingesetzten, verabscheuten Gouverneure zu stürzen. Das traf auch auf Säo Paulo zu. Die Bundestruppen, die Deodoro nach der Absetzung Prudentes dort stationiert hatte, waren mächtiger als die eigenen, so daß die Paulistaner von Florianos Befehlen an diese Einheiten abhängig waren. Sie wollten erst einmal die Kontrolle über ihre Provinzregierung wiedererlangen. Deshalb und aufgrund der Tatsache, daß Floriano zunächst die Selbständigkeit der Staaten respektierte, waren sie als Gegenleistung bereit, den Marschall bei den zu erwartenden Präsidentschaftswahlen zu unterstützen.49 Widerstand kam zum ersten aus den Kreisen der "alten Militärs", die an Einfluß verloren, und zweitens seitens der monarchistischen Reaktion, vor allem der Marine. Obwohl letztere den Hauptanteil am Sturz Deodoros getragen hatte, spielte sie nach wie vor nur eine untergeordnete Rolle. Lediglich Custödio de Melo besaß als Marineminister eine einflußreiche Position. Drittens sind jene um Barbosa gruppierten liberalen Konstitutionalisten zu nennen, die der Armee nach der traumatischen Erfahrung mit Deodoro nun keinerlei politische Rolle mehr zubilligten. 50 Die Regierung betrachtete es als ihre Hauptaufgabe, "Wächter des Staatsschatzes" zu sein, d.h. aus der Krise des Encilhamento herauszukommen. Dies entsprach auch den Interessen der Paulistaner. Als jedoch deutlich wurde, daß 47
Vgl. Bello, A History, S. 96,101.
48
Vgl. ebenda, S. 97.
49 50
Vgl. Hahner, The Paulista Rise, S. 158. Vgl. D. de Abranches, Govemos e congressos da República dos Estados Unidos do Brasil. Apontamentos biográficos sobre todos os presidentes e vicepresidentes da república, ministros de estado e senadores e deputados do congresso nacional. 1889-1917, 2 Bde., Bd. 1: 1889-1900, Sao Paulo 1918, S. 12; Bello, A History, S. 97.
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Floriano Peixoto die Stabilisierung der Staatsfinanzen und die Förderung der Industrialisierung durch eine wachsende Zentralisation, also Eingriffe in die einzelstaatlichen Rechte, erreichen wollte, führte dies emeut zum Konflikt.31 Dieser konnte jedoch angesichts der parallel erfolgenden Sammlung der monarchistischen Kräfte vorerst nicht offen ausgetragen werden, wollte man nicht riskieren, mit der Ablösung Florianos auch das republikanische Regime zu beseitigen. Seit dem Frühjahr 1892 wurde seitens der Gegner des Floriano-Regimes, insbesondere der Monarchisten und der gemäßigt-liberalen Presse, die Forderung nach Neuwahlen entsprechend Artikel 42 der Verfassung laut. 52 Hier ist vor allem ein von 13 Generalen und Admiralen, unter anderem auch Admiral Wandenkolk, unterschriebenes Manifest vom 31. 3. 1892 zu erwähnen, in dem von Floriano gefordert wurde, sich an die Verfassung zu halten. Dieser reagierte, indem er elf der Unterzeichner, darunter Wandenkolk, in den Ruhestand versetzte, zwei weitere degradierte.53 Schnell erhielt Peixoto den Titel des "Eisernen Marschalls". Dies hatte jedoch nichts mit dem Beginn einer "Herrschaft durch pronunciamento"54 zu tun. Die Anhänger Peixotos lehnten Neuwahlen - unter Berufung auf Übergangsbestimmungen zur Verfassung - aus gutem Grund ab. "Unter den Bedingungen der Konsolidierung der monarchistischen Kräfte, der Finanzkrise und der Rebellion in den Staaten barg die Durchführung einer Wahlkampagne eine Gefahr für die Republik in sich und konnte zum Zusammenschluß aller ihrer Gegner beitragen."55 Dies war auch den Pakistanern klar. Deshalb stellten sie sich, besonders als die Feinde Florianos zum bewaffneten Widerstand rüsteten, trotz aller Interessengegensätze auf die Seite der "jungen Offiziere".
51
Vgl. Hahner. The Paulista Rise, S. 158.
52
Danach sind Neuwahlen anzuordnen, falls das Amt des Präsidenten innerhalb der ersten zwei Jahre der Amtsperiode vakant wird.
53
Vgl. Bandeira, Presenja, S. 141; Bello, A History, S. 98-99; Hahner, Officers, S. 77; Martin, Brazil, S. 128; Simmons, Marshal Deodoro, S. 160.
54
F. Morales Padrón, El mundo brasileño, in: Estudios Americanos, Sevilla 10(1955) 48, S. 269.
55
Ocerki, S. 214.
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In dieser Situation konnte den Monarchisten im Zentrum die Eskalation des Konfliktes an der südlichen Peripherie nur willkommen sein. In einem Exkurs wird im folgenden zunächst auf die innerstaatlichen Auseinandersetzungen in Rio Grande do Sul und ihre Interaktion mit Konfliktherd 1 eingegangen.
Genesis des Konfliktherdes (3): Autonomistische Republikaner versus "Föderalisten" Exkurs zur Differenzierung zwischen Zentrum und Peripherie Rio Grande do Sul unterscheidet sich in seiner historischen, demographischen, sozioökonomischen und politischen Entwicklung deutlich von den anderen Regionen Brasiliens. Darauf kann hier nur unvollständig eingegangen werden. Die Probleme des Südstaates in den Jahren des Wechsels von der Monarchie zur Republik hatten, wie im folgenden, vor allem auf Pesaventos Arbeiten gestützt, verdeutlicht werden soll, eine ganz eigene Dimension: 56 Beruhte die Wirtschaft der Staaten des Centro-Sur auf der Plantagenproduktion für den Weltmarkt, so lieferte Rio Grande für eben jenen Plantagenkomplex Dörrfleisch, eines der Hauptnahrungsmittel für Sklaven. Bis zum Ende des Paraguay-Krieges war dies ein höchst profitables Geschäft. Doch beginnend mit den siebziger Jahren, gerieten die Dörrfleischproduktion und die ihr vorgeordnete Viehwirtschaft in die Krise. Die Gründe waren vielfältig: Zum ersten blieb Rio Grande zunehmend hinter seinen Konkurrenten, den La-Plata-Staaten, zurück. Vollzog sich dort ein beachtlicher Modernisierungsprozeß - sichtbar an der Einfriedung der Koppeln, der Einfuhr und Zucht hochwertiger Viehsorten, dem Übergang von der Dörrfleischproduktion zum Kühlhaus und Verbesserungen im Verkehrswesen -, der es möglich machte, besser und billiger zu produzieren und das Fleisch schneller an den Verbraucher zu bringen, waren diese Entwicklungen in Südbrasilien nur in embryonaler Form zu konstatieren. Die brasilianische Plantagenregion importierte daher in wachsendem Maße preiswerteres Fleisch aus Uru56
Vgl. J. Love, O Rio Grande do Sul como fator de instabilidade na República Velha, in: História geral, Bd. HI/1. Sào Paulo 1975, S. 99 ff.; S. Jatahy Pesavento, República Vclha Gaúcha. Charqueadas, frigoríficos, criadores, Pòrto Alegre 1980; dies., RS: Agropecuária colonial & industrializado, Pòrto Alegre 1983; dies.. Pecuaria e indùstria. Formas de realiza9áo do capitalismo na sociedade gaúcha no século XIX, Pòrto Alegre 1986; dies, A burguesía gaúcha. Dominarlo do capital e disciplina do trabalho. RS 1889-1930, Pòrto Alegre 1988 (Sèrie Documenta. 24); dies., A Revolu;ao Federalista, S. 39 ff.
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guay und Argentinien - zum Nachteil Rio Grandes. Zweitens verteuerte sich im Zuge der graduellen Abolition der Preis für Sklaven. Auch deren Ersatz durch freie Arbeiter bereitete ob des Kapitalmangels Probleme. Die Immigrationspolitik hatte sich zudem in Rio Grande immer auf die Anziehung selbständiger Bauern statt Landarbeiter (mit dem Ziel der Grenzbesiedlung nach dem Prinzip des uti possidetis51) konzentriert. Und drittens behinderten die hohen Importzölle die Einfuhr von wichtigen Rohstoffen für die Dörrfleischproduktion (z.B. Salz). Rio Grande gab der Zentralregierung die Schuld, sich seiner wirtschaftlichen Probleme nicht anzunehmen. Der so entstehende Konflikt zwischen Zentrum und Peripherie brach nicht sofort offen aus, da die Krise der Vieh- und Fleischwirtschaft durch die Prosperität der auf Kleineigentum beruhenden Landwirtschaft der Serra, die bereits zur Produktion von Nahrungsmitteln für den nationalen Binnenmarkt in der Lage war, teilweise aufgefangen wurde. Damit waren aber auch intraelitäre und regionale Umschichtungsprozesse innerhalb Rio Grandes verbunden. Die deutschen colonos der Serra wurden zu einer wichtigen Größe für die sich neu organisierenden politischen Kräfte. Hinzu kam ein weiteres Ventil: Um die Preisverluste im Centro Sur auszugleichen, zahlten die Dörrfleischproduzenten einen geringeren Preis für das Schlachtvieh. Dies führte zum Gegensatz zwischen verarbeitender Produktion und Großgrundbesitz, hatte aber auch einen Modernisierungsdruck auf die Viehwirtschaft zur Folge. Ihm konnte sich jedoch jener Teil der estancieiros entziehen, der in den Grenzregionen lebte und sein Vieh in die La-Plata-Republiken lieferte. Dieser Schmuggelhandel, der eine lange Tradition in Rio Grande besaß, war auch eine nahezu zwingende Folge der völlig unterentwickelten Verkehrsverbindungen innerhalb der Provinz. Sein Nutznießer war letztlich das Handelskapital Montevideos, während das der Hafenstadt Rio Grande geschädigt wurde. Die wirtschaftlichen Bindungen an die La-Plata-Republiken, denen Rio Grande do Sul in seiner wirtschaftlichen und ethnischen Struktur ähnlicher war als dem Rest Brasiliens, mußten sich zwangsläufig auch auf politischem Gebiet 57
Sildbrasilien war die einzige Region, in der das spanische und portugiesische Amerika nicht durch natürliche Barrieren (Regenwaldgebiete) getrennt waren. Somit war die nationale Abgrenzung und Arrondierung, die erst mit den Verträgen Rio Brancos zu Beginn des 20. Jahrhunderts zum Abschluß kam, auch nur hier wiederholt mit militärischen Mitteln ausgefochten worden und hatte zu einer erheblichen Militarisierung der Gesellschaft geführt.
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widerspiegeln: War Rio Grande do Sul während der Unabhängigkeitskämpfe ein heftig umstrittenes Gebiet zwischen Banda Oriental und Brasilien gewesen, organisierten sich dort auch in der Folgezeit immer wieder ultraföderalistische bis separatistische Bewegungen, die nach einer eigenen staatlichen Lösung suchten und dabei in starkem Maße die Ideen des Auslands rezipierten. Die Föderalistische Revolution ordnet sich hier ein. Als 1873 föderalistisch orientierte Liberale die Wahlen zur Provinzlegislative gewannen, standen sie einer von den Konservativen gebildeten Exekutive gegenüber - eine einmalige Situation im kaiserlichen Brasilien. Fünf Jahre später übernahmen die Liberalen die Macht. Ihr Führer, Gaspar da Silveira Martins, unternahm den Versuch, die schwelenden Widersprüche in der Provinz zu entschärfen, indem er die verschiedenen sozialen Gruppierungen, estancieiros, Handelskapital, colonos und bürgerlich-intellektuelle Kräfte, miteinander versöhnte. Dies sollte jedoch nicht über eine wachsende politische Partizipation erfolgen, sondern mittels des traditionellen patrimonialismo des luso-brasilianischen Staates. 58 Im Endeffekt vertrat der Partido Liberal die Interessen der traditionellen Viehzüchter. Die Gasparistas vermochten es nicht, die wirtschaflsgeographische Spaltung der Provinz, die sich in der Polarisierung von Binnenmarkt- und Schmuggelhändlem widerspiegelte, zu überwinden. Der Konflikt geriet bald in den Sog des nationalen Widerspruchs zwischen Monarchisten und Republikanern. 59 Der Partido Republicano Riograndense, gegründet am 23. 2. 1883, stand unter der Führung von Jülio de Castilhos, einem überzeugten Anhänger der Ideen Auguste Comtes. Die Partei band vor allem die neuen städtischen Mittelschichten, Kleineigentümer der Serra und "junge" Heeresoffiziere an sich. Die Republikaner stellten sich von Anbeginn als einzige Alternative zur Herrschaft der traditionellen Oligarchien dar, die ihre Unfähigkeit, die Probleme Rio Grandes zu lösen, hinlänglich bewiesen hätten. Die Partei wurde so bald zum Kristallisationspunkt aller Unzufriedenen. 60
58
Vgl. R. Faoro, Os donos do poder, 2 Bde., Porto Alegre 1969.
59
Vgl. Pesavento, A Revolu(äo Federalista, S. 45-51.
60
Vgl. ebenda, S. 50.
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Den Inhalt von progresso definierten die Republikaner sehr konkret an den Erfordernissen der Entwicklung Rio Grandes: Ausbau des Transportwesens, der Kommunikationen und der Industrie. Dies wurde später auch in der Reaktion der schon regierenden Castilhistas auf das Encilhamento überdeutlich: Rio Grande konnte von der Emissionspolitik wenig profitieren, bedeutete die Inflation doch einen Kaufkraftverlust für die einheimischen Konsumenten, und für sie produzierte der Südstaat im Unterschied zu Säo Paulo und den anderen Plantagenkomplexen. Ebenso wandten sich die Süd-Riograndenser gegen die Bedingungen des Handelsvertrages mit den USA, der die regionale Industrie schädigte.61 Der Staat sollte keine Klasseninteressen vertreten, sondern über den Klassen stehen und die ordnungspolitische Funktion der Garantie des freien Wettbewerbs und damit der Kapitalakkumulation wahrnehmen. Ziel könnte nicht die Entwicklung und Verteidigung der Interessen nur eines Wirtschaftssektors sein, sondern der Gesamtwirtschaft der Provinz. Um dies in die Tat umzusetzen, bedurfte es nach Meinung der Castilhistas nicht nur des von den Gasparistas vertretenen gemäßigten Föderalismus, sondern der völligen Autonomie Rio Grandes. Pendant zur Dezentralisierung auf der nationalen Ebene sollte, entsprechend der Auslegung Comtes, eine zentralisierte und autoritäre Regierung auf der Ebene des Bundesstaates sein. Die Republikaner setzten sich deshalb für eine Stärkung der Exekutive ein. Ihre Befugnisse sollten durch kein Parlament eingeschränkt werden dürfen. So war es der Exekutive erlaubt, außer bei finanziellen Fragen, per Dekret zu entscheiden. Bei einer Dreiviertelmehrheit konnte der Präsident unbegrenzt wiedergewählt werden. 62 Statt einer Legislative konzipierte der PRR lediglich eine Art Finanzkammer, in der die einzelnen Wirtschaftsbereiche vertreten waren und die allein für Haushaltsfragen verantwortlich zeichnete. Der Staat sollte weiterhin jedem eine universelle Grundausbildung garantieren, ansonsten aber nicht das geistig-kulturelle und religiöse Leben reglementieren.63
61
Vgl. ebenda, S. 65-67.
62
Aufgrund dieser Regelung sollte während der Alten Republik Rio Grandes Gouverneur Borges de Medeiros ein Vierteljahrhundert uneingeschränkt regieren.
63
Vgl. M. J. Barreias/E. Rochadel, PRR - A coesäo interna (1882-1929), in: EIA 7(1981)1-2, S. 212-214; Love, O Rio Grande do Sul, S. 109f.; Kalwa, Der brasilianische Tenentismo, S. 96; Pesavento, A R e v o l u t o Federalista, S. 50-53, 58-60, 70.
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Hatte die Partei bereits während des späten Kaiserreiches das politische Leben der Provinz wesentlich bestimmt, so wurde ihre führende Position mit der Wahl Castilhos' zum Gouverneur im Juli 1891 und der Annahme einer die positivistische Präsidialdiktatur bestätigenden Verfassung unterstrichen. Stand die Partei bisher noch unter einer kollektiven Führung, ging sie von da an ganz in die Hände Julio de Castilhos' über. 64 Um seine "wissenschaftliche Diktatur" gegen die "Unordnung" zu verteidigen, schloß er den gesamten Repressionsapparat des Staates zusammen und ließ politische Gegner erbarmungslos verfolgen. 65 Der Widerstand gegen sein Regime wuchs. Im Echo des Staatsstreiches Deodoros und der Insurrektion gegen ihn wurde Castilhos im November 1891 durch dissidente Republikaner als Gouverneur gestürzt und durch eine Junta ersetzt. In dieser Situation hoffte die Opposition des aus der Liberalen Partei und der ihr folgenden Uniäo Liberal hervorgegangenen Partido Federalista Brasileiro, die Regierung der abtrünnigen Republikaner absetzen und selbst die politische Macht in Rio Grande erobern zu können. Auf dem Parteitag von Bagé 1892 bestimmte sie den aus dem Exil zurückgekehrten Gaspar da Silveira Martins zu ihrem Parteichef und General Silva Tavares als zukünftigen Regierungschef. Sie verabschiedete zudem einen Verfassungsentwurf, der die Grundpositionen der Liberalen noch einmal deutlich widerspiegelte. Die Partei wandte sich entschieden gegen den "republikanischen Diktatorialismus" und strebte eine repräsentative Demokratie mit parlamentarischem System und weitreichenden Vollmachten der Legislative an. Die Wiederwahl des Gouverneurs sollte untersagt werden. Die Gasparistas wollten Rio Grande wieder als Teil eines föderalen Bundesstaates mit dem Zentrum verbinden. Da die Föderalisten aber viele der mit dem Schmuggelhandel verbundenen Clans des Campanha-Gebittes einschlössen, wundert es nicht, daß einzelne Stimmen den gemäßigten Föderalismus der Führung in einen offenen Separatismus weitertrieben. Während General Saraiva von der Lostrennung der drei Südstaaten Rio Grande do Sul, Santa Catarina und Paraná und der Proklamation ihrer Unabhängigkeit sprach, erwogen andere Föderalisten den Anschluß Rio Grandes an Uruguay, was dessen Unterstützung der Gasparistas im Bürgerkrieg motivierte, andererseits aber den Widerstand aller Republikaner und Nationalisten herausfordern mußte. 66
64
Vgl. Barreias/Rochadel, PRR, S. 213.
65
Vgl. ebenda, S. 213-214; Bello, A History, S. 110; Hahner, Officers, S. 82.
66
Vgl. Bello, A History, S. 112; Hahner. Officers, S. 82-83; Kalwa 1977, S. 97,104.
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Dies wird am Verhältnis zwischen Castilhos und Floriano Peixoto sichtbar: Seit ersterer den coup d'état Deodoro da Fonsecas verhalten gebilligt hatte, war die Beziehung beider Politiker durchaus gespannt. Peixoto aber begriff, daß es hier nicht um persönliche Feindseligkeiten gehen konnte, sondern allein die Verteidigung der republikanischen Institutionen und der Einheit der Nation zählte. Daher verhalf er (ohne erkennbare Opposition der eigentlich programmatisch den Föderalisten näher stehenden Paulistaner) den Parteigängern Julio de Castilhos dazu, am 17. 6. 1892 die Macht zurückzuerlangen. Dieses Eingreifen und das erneute Vorgehen der lokalen Regierung gegen alle Opponenten stachelte den Widerstand der Föderalisten an. Beide Parteien mobilisierten alle ihre Kräfte. Im Juli 1892 revoltierte die Flottille im Hafen von Porto Alegre und bombardierte die Stadt Dies war der Prolog des Bürgerkrieges.67 Zusammenfassend: Das hohe Maß an politischer Instabilität in Rio Grande do Sul und die Grausamkeit des heraufbeschworenen Bürgerkrieges - er sollte 10.000-12.000 Opfer kosten 68 - lassen sich aus mehreren Gründen erklären: Erstens beruhte die Unversöhnlichkeit des Widerspruchs zwischen Castilhistas und Gasparistas auf der starken sozialen und politischen Polarisierung in Rio Grande selbst: Man denke dabei an den mit Zentral- und mehr noch Nord- und Nordostbrasilien unvergleichbaren Dualismus von großem Grundeigentum (iestâncias der Campanha) und Kleineigentum (der Serrä) bzw. "preußischem" und "amerikanischem Weg" agrarkapitalistischer Entwicklung; die Spaltung zwischen Binnenmarktproduzenten und Schmuggelhändlem innerhalb des Großgrundbesitzes; die Existenz von zwei politischen Parteien mit extrem konvergierenden Programmen; und die Tatsache, daß nicht primär die soziale Position, sondern die davon durchaus unabhängige Stellung in der Parteihierarchie des den Staat beherrschenden PRR (coronel burocrata) politische Macht verlieh. "Junge Offiziere" und städtisch-intellektuelle Kräfte mußten sich in Rio Grande nicht, wie in den übrigen republikanischen Staatsparteien und der republikanischen Bewegung insgesamt, dem Diktat der mächtigsten Familienclans bzw. von anderen Bundesstaaten beugen.
67
Vgl. Bello, A History, S. 113-114; Hahner, Officers, S. 78-79; Love, O Rio Grande do Sul, S. 112.
68
Vgl. Love, O Rio Grande do Sul, S. 110.
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Zweitens gewann der Kampf der Gasparistas bald eine überregionale Dimension. Ihr Widerstand gegen den Castilhismo wurde zum Widerstand gegen den Florianismo, der das verhaßte PRR-Regime stützte. Dadurch wurde Rio Grande - drittens - zum Gravitationspunkt für alle Gegner des Floriano-Regimes in Brasilien. Die periphere geographische Lage, die Rückzugsmöglichkeiten in das den Aufständischen gewogene Hinterland der LaPlata-Staaten und die historischen Traditionen prädestinierten geradezu die Verwandlung Rio Grande do Suis in das Schlachtfeld des entscheidenden Kampfes zwischen republikanischem Regime und monarchistischer Reaktion auf nationaler Ebene.
Der Bürgerkrieg • Verquickung dreier Konfliktherde 1. Phase: Beginn der "Föderalistischen Revolution" (2.2. -
6.9.1893)
Nachdem die Castilhistas die Macht zurückerlangt hatten, wurden die meisten Föderalisten zur Emigration in die La-Plata-Länder gezwungen. Hier bereiteten sie eine bewaffnete Intervention in Brasilien vor. Ende 1892 erklärten sie bei einem letzten Treffen in Uruguay, getreu dem Plan von Bagö die Castilhos-Tyrannei beseitigen zu wollen. 69 Während Silveira Martins die politische Leitung der "Revolution" anvertraut wurde, übernahm General Silva Tavares die militärische Leitung der Operationen. Am 2. 2. 1893 begann die erste Phase des Bürgerkrieges. Unter dem Kommando des herausragenden chilenischen Heerführers Gumercindo Saraiva und von Tavares drangen von Uruguay aus föderalistische Truppen in Rio Grande do Sul ein und lieferten den Bundestruppen erbitterte Gefechte. Diese erste Invasion scheiterte jedoch. 70 Ihr folgten zahlreiche weitere. Der Bürgerkrieg wurde von beiden Seiten mit großer Härte geführt, 71 Im Juli 1893 entschloß sich Admiral Wandenkolk, der als eines der Opfer des "Manifestes der 13 Generale" nach Montevideo emigriert war, den föderalisti69
Vgl. auch Aufruf General Silva Tavares' an die Sild-Riograndenser Bevölkerung vom 5. 1. 1893 in: A. Thompson, Guerra civil do Brasil de 1893-1895. Vida e morte do Saldanha da Gama, Rio de Janeiro 1933, S. 21-23.
70 71
Vgl. Bello, A History, S. 118; Thompson, Guerra civil, S. 23. Vgl. zu den Grausamkeiten: Pesavento, A Revolufäo Federalista, S. 79 ff.
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sehen Truppen zu Hilfe zu eilen und damit an Floriano Peixoto Rache zu nehmen. Von Buenos Aires aus führte er ein mit Waffen beladenes Schiff, das für Rio de Janeiro bestimmt war, nach Rio Grande. In der gleichnamigen Hafenstadt veröffentlichte er ein gegen Floriano und Castilhos gerichtetes Manifest, das vor allem die Unterstützung der Marine mobilisieren sollte. Darin heißt es, "ein treuloser Soldat, der dreist vom Generaladjudanten der kaiserlichen Armee in die Republik überwechselte", habe sich der Nation bemächtigt und versuche, "sich kraft der Bajonette und ohne Unterstützung durch die öffentliche Meinung an der Macht zu halten, indem er das Gesetz mit der Zustimmung nur eines kleinen Kreises von grausamen Brasilianern, von Jakobinern, verletzt...". Die nationale Marine müsse sich daher als Garant der "Ordnung" an die Seite des Volkes stellen. 72 Doch die erhoffte Unterstützung blieb damals noch aus. Isoliert von den kämpfenden Einheiten, mußte sich Wandenkolk ergeben und wurde nach Rio de Janeiro abtransportiert Unter dem Eindruck der Ereignisse im Süden spitzte sich die Auseinandersetzung im brasilianischen Kongreß zu. An der Spitze der Opposition stand Rui Barbosa. Er klagte die Regierung im Mai 1893 offen an, ungesetzlich das Kriegsrecht erklärt zu haben, öffentliche Mittel für die Fortsetzung eines ebenso unberechtigten wie unnötigen Krieges zu verschwenden und Zwangsrekrutierungen vorzunehmen. Sie mische sich in die inneren Angelegenheiten eines Bundesstaates ein. Im "Jornal do Brasil" mahnte Barbosa Floriano Peixoto, er solle sich daran erinnern, daß er Ouro Preto am 15. 11. 1889 den Feuerbefehl auf die Aufständischen mit den Worten verweigert hatte, hier handele es sich um Brasilianer, nicht um Feinde. Und Barbosa fuhr fort: "Die einen wie die anderen, Föderalisten wie Republikaner in Rio Grande do Sul, beabsichtigen, die wirklichen Interessen des Landes besser zu interpretieren. Die einen wie die anderen gehorchen unwiderruflichen Überzeugungen. Die einen wie die anderen sind folglich unserer Achtung würdig."73 Den Vorwurf, es handele sich bei den Föderalisten um Monarchisten und Invasoren, bezeichnete Barbosa als absurd. Als zutiefst überzeugter liberaler Konstitutionalist griff er schließlich mit scharfen Worten Castilhos und Peixoto an, denen er vorwarf, das Volk der Demokratie zu berauben und "aus dem Kampffeld das Szenarium der Ernennung von Diktatoren" machen zu wollen, "um sich später als die Retter der Republik zu rühmen".74 72 73
Vgl. Thompson, Guerra civil, S. 29-31. Vgl. Barbosa, Obras, Bd. 20.3, Rio de Janeiro 1949, S. 6-8.
74
Vgl. ebenda, S. 153-156.
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Ein Mißtrauensantrag gegen den Präsidenten wurde jedoch im Parlament mit 93 zu 52 Stimmen abgelehnt. 75 Angesichts des Aufruhrs, nicht nur in Rio Grande do Sul, sondern auch anderen Bundesstaaten76, hatten die Pakistaner die von Barbosa unterschätzte Gefahr für die Republik und für ihre Interessen erkannt. Ihre Abgeordneten um den Wortführer Francisco Glicdrio sicherten Floriano Peixoto, unterstützt von den Vertretern des radikalen Flügels, die nötige Stimmenmehrheit 77 In dieser ersten Phase kam es zu einer deutlichen Polarisierung der Kräfte, wobei die Überlegenheit der Bundesregierung und innerhalb derselben der Exekutive gewahrt blieb. Die Föderalisten in Rio Grande erschöpften ihre Kräfte in Debatten über die eigentlichen Revolutionsziele, was zur Isolation von anderen Gegnern der Regierung führte und selbst ihre eigenen Anstrengungen weitgehend nutzlos machte.
2. Phase: Vom Ausbruch des Marineaufstandes in Rio de Janeiro bis zur Vereinigung beider Erhebungen (6. 9. • 1J 7.12.1893) Mit dem 6. 9. 1893 begann die zweite Phase des Bürgerkrieges bzw. die Eskalation von Konflikt (2). An diesem Tag erhob sich, nicht zuletzt als Antwort auf die Arrestierung Wandenkolks, die nationale Marine in Rio de Janeiro. Admiral Custódio de Melo, der das Amt des Marineministers niedergelegt hatte, wandte sich mit einer Proklamation an die brasilianische Bevölkerung. Darin klagte er Floriano Peixoto an, die Verfassung zu verletzen. Korruption und eigensinnige Macht regierten das Land. Der Staatschef bewaffne Brasilianer
75 76
Vgl. Papers 1894, S. 36-38. Der Gouverneur von Pernambuco klagte über ein hohes Maß an Indisziplin in den hier stationierten Truppenteilen. Eine Reihe von Offizieren war in einen konspirativen Versuch der Abtrennung des nördlichen Landesteils verstrickt. In Santa Catarina stand die Masse der Bevölkerung hinter den Föderalisten. Der Gouverneur, Dr. Lauro Müller, sah sich nur noch von einigen deutschen Kolonien unterstützt und war schließlich gezwungen abzudanken. Paraná erwartete ständig die Ausweitung des Konfliktes auf sein Territorium. Und in Minas Gerais sammelten sich Verfolgte der Floriano-Regierung. Vgl. Bello, A History, S. 119, Hahner, Officers, S. 97.
77
Vgl. Bello, A History, S. 119.
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gegen Brasilianer und bringe Not, Elend und Leid über das Land, "nur um seine persönlichen Launen zu befriedigen und seine eiserne Diktatur für die Zukunft gewaltsam zu stärken". 78 Wenn de Melo jedoch hoffte, der "23. November" könne sich wiederholen, hatte er sich verrechnet. Peixoto sollte nicht so schnell wie Deodoro von seinem Platz weichen. Die Erhebung der Marine, die - solange ihr offen monarchistischer Charakter noch nicht erkennbar war - auch bei Vertretern der gemäßigt-liberalen Fraktion im Kongreß Sympathie fand 79 , zwang die Regierung aber, von nun an einen Zweifrontenkrieg in Zentrum und Peripherie zu führen, und sie stimulierte den Widerstand in Rio Grande. 80 Custödio de Melo kontrollierte den gesamten Hafen 81 , besaß jedoch keinen Landzugang. Sich der Unterstützung der Stadtbevölkerung sicher wähnend, hatte er nicht einmal versucht, in Niteröi-Stadt Fuß zu fassen, eine verhängnisvolle Entscheidung. Floriano Peixoto, vom größten Teil des Heeres und den Pakistanern unterstützt, leitete sofortige Gegenmaßnahmen ein. Er verstärkte die Verteidigungsanlagen der Stadt, mobilisierte die Nationalgarde, dehnte das Kriegsrecht aus und gab den sehr kostspieligen Kauf von Schiffen in Europa und den USA in Auftrag. Die Jugend in den Militär- und Zivilschulen formierte Freiwilligenbataillone. Lediglich die Festung Villegagnon trat auf die Seite der Aufständischen über. 82 Wie sehr Admiral Custödio de Melo das Kräfteverhältnis verkannt hatte, demonstriert der verzweifelte Versuch, Santos einzunehmen, um von hier aus Säo Paulo anzugreifen und dort das Hauptquartier der Gegenregierung zu errichten. Ein Unternehmen, das die mächtigste soziale Gruppierung, die Kaffeeoligarchie, noch enger an die Regierung schmiedete.83
78
Vgl. Papers 1894, S. 48-49.
79
Barbosa war nach Ausbruch des Marineaufstandes zunächst nach Buenos Aires geflüchtet und wandte sich von da aus gegen Peixoto. Vgl. Ocerki, S. 214. Bello, A History, S. 122; Hahner, Officers, S. 83-87, 89; Martin, Brazil, S. 228229.
80 81
Er hatte sich der 16 Kriegs- und 18 Handelsschiffe sowie einer Anzahl Schlepper in der Bucht von Guanabara bemächtigt. Vgl. Thompson, A guerra civil, S. 46-51.
82
Vgl. Bello, A History, S. 124; Martin, Brazil, S. 229-230; Hahner, Officers, S. 96-97; Thompson, A guerra civil, S. 46-51; Ocerki, S. 214.
83
Hahner, Officers, S. 159; Thompson, A guerra civil, S. 40-43.
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Hinzu kam ein weiterer Umstand, mit dem der Admiral nicht gerechnet hatte: Die Kommandeure der im Hafen vor Anker liegenden Schiffe der USA, Frankreichs, Italiens, Großbritanniens und Portugals trafen am 10. Oktober 1893 zu einer Konferenz zusammen und verabschiedeten eine Note an de Melo, in der sie mitteilten, sie würden sich, nötigenfalls auch mit Gewalt, einem Bombardement der Hauptstadt widersetzen. Eine solche Aktion bedrohe die Sicherheit der ausländischen Bürger in Rio de Janeiro und widerspreche den Interessen ihrer Nationen. 84 Auch wenn sie gleichzeitig von Peixoto die Garantie erbaten, die Artillerie von den Hafenfestungen zurückzuziehen, gewann dieser doch die nötige Zeit, um die Stadt weiter zu befestigen und in Bahia und anderen Hafenstädten Handelsschiffe zu bewaffnen. 85 Somit befand sich de Melo in einer Sackgasse und war auf Gedeih und Verderb gezwungen, mit den Föderalisten Rio Grandes Kontakt aufzunehmen. Schon im September 1893 hatte der Admiral den Hauptmann zur See Frederico Guilherme Lorena beauftragt, eine provisorische Gegenregierung in Santa Catarina zu etablieren. Sie sollte sich vor allem aus Föderalisten und Vertretern der lokalen Behörden Santa Catarinas, die beiden Bewegungen gewogen waren, zusammensetzen. Lorena aber setzte völlig unerwartet und gegen alle Proteste ausschließlich "junge" Marineoffiziere (eine absolute Minorität in der Flotte!) ein. 86 Dies rief sowohl den Protest der estancieiros als auch de Melos hervor. In einem Brief an den Admiral schrieb Silveira Martins am 1. 11. 1893 aus Montevideo: "Es scheint mir..., daß die durch Ihre Exzellenz vorgeschlagene Organisation nicht die geeignetste war... Was gemacht wird, ist das ganze Gegenteil zu den Prinzipien der Revolution in Rio Grande; es ist ein Anschein von Florianismo... Und Rio Grande do Sul ist was bei alledem? Was repräsentiert es? Nichts... Es ist dringend nötig, die Provisorische Regierung im Namen der Revolution zu reorganisieren, die weder Militarismus noch Comtismus erlaubt, die in Brasilien das Zwitterprodukt der Militärschulen sind, denn nach der Doktrin des Meisters (Comtes-J.H.) schließen sich Comtismus und Militarismus aus..." 87 Um eine notwendige Einigung mit den Gasparistas zu erreichen, begab sich der Admiral 84
Lediglich ein deutsches Schiff weigerte sich, mit den übrigen ausländischen Kommandeuren zusammenzuarbeiten. Vgl. Martin, Brazil, S. 230.
85
Vgl. Hahner, Officers, S. 98-99; Martin, Brazil, S. 230-231; Thompson, A guerra civil, S. 153-161.
86 87
Vgl. Papers 1894, S. 65-66; Thompson, A guerra civil, S. 46. Vgl. Thompson, A guerra civil, S. 61-65.
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am 1. 12. selbst nach Santa Catarina, dessen Hauptstadt inzwischen schon von den Aufständischen der Marine beherrscht wurde, während sich die föderalistischen Korps vom Süden näherten. Die Vereinigung beider Aufstände kurz darauf bot die Möglichkeit gemeinsamer Aktionen und des Truppentransportes zur See. Sie stellte eine Zäsur im Bürgerkrieg dar.88 3. Phase: Gemeinsames Vorgehen beider militärischer Erhebungen und Kapitulation der Aufständischen der Marine (1J 7.12.1893 • 13.3.1894) Als am 7. Dezember 1893 Konteradmiral Luiz Felippe Saldanha da Gama seine politische Neutralität aufgab und sich als Chef der Marineschule samt seinen Kadetten auf die Seite der Aufständischen stellte, begann die dritte Phase des Bürgerkrieges. Einerseits erhielt die revoltierende Flotte einen willkommenen Kräftezuwachs, der sowohl die Hoffnung auf erfolgreiche Landoperationen als auch Seemanöver nährte.89 Andererseits wurde der bisher eher verschleierte monarchistische Charakter des Aufstandes nun offensichtlich. In seinem Manifest an die Nation erklärte Saldanha da Gama unumwunden: "Sowohl die Logik als auch die Gerechtigkeit rechtfertigen unser Bestreben, auch mit Waffengewalt die Regierung Brasiliens wiederherzustellen, die wir am IS. November 1889 hatten, die in einem unvorsichtigen Moment - einem Moment nationaler Betäubung - durch einen Militäraufstand, dessen bloße Fortdauer die gegenwärtige Regierung darstellt, gestürzt wurde."90 Damit sorgte der Konteradmiral für eine neue Kräftepolarisierung und sagte allen, die sich bisher loyal gegenüber der Marine verhalten hatten, weil sie Gegner Florianos waren, die aber das republikanische Regime verteidigen wollten, den Kampf an. Das Manifest Saldanhas kann noch nicht als der Höhepunkt des Krieges, wohl aber als sein retardierendes Moment angesehen werden. Es war in fast jedem Staat auf heftige Opposition unterschiedlicher sozialer und politischer Gruppierungen gestoßen, und die Presse war täglich voll von Protesten. 91 88
Bello, A History, S. 131-132; Hahner, Officers, S. 94; Martin, Brazil, S. 231; Papers 1894, S. 63.
89
Vgl. Bello, A History, S. 126-128; Hahner, Officers, S. 87-88, 90-92; Papers 1894, S. 77.
90
Papers 1894, S. 84.
91
Vgl. ebenda, S. 109-114.
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Sowohl die radikalen Republikaner als auch die Pakistaner unterstützten die Regierung mit allen Kräften. Letztere wußten, daß ihnen bei einem Sieg der Aufständischen die Militärs - selbst wenn sie die Republik erhielten - nicht die politische Macht überlassen würden. Floriano andererseits war mehr denn je auf ihre politische und militärische Hilfe angewiesen und mußte ihrem Kandidaten im Austausch dagegen die Regierung abtreten. Die Einberufung von Präsidentschaftswahlen zu diesem Zeitpunkt sollte dem Volk demonstrieren, daß die Militärs keine Verlängerung der Diktatur anstrebten. Floriano wurde eindringlich vor einer möglichen Aktion gewarnt, falls keine Wahlen abgehalten und der Pakistaner Dr. Prudente de Moráis nicht gewählt würde. 92 Indessen setzten sich die Konflikte innerhalb der Provisorischen Regierung von Desterro fort, die in der kritischen Situation, in der sich der Aufstand um die Jahreswende 1893/94 befand, nicht in der Lage war, Entscheidungen zu treffen, die sowohl den Interessen der Föderalisten als auch denen der Marine entsprachen. Erst nach längeren Verhandlungen traten die "jungen Offiziere" zurück. 93 Zu handeln verstand hingegen Oberst Piragibe, der die im Staat Santa Catarina operierenden Armeekorps kurzerhand übernahm und eine groß angelegte Offensive auf Paraná begann. Am 20.1. 1894 konnte de Melo in der Hauptstadt Curitiba eine ihm und den Föderalisten ergebene Regierung einsetzen. Gumercindo Saraiva plante nunmehr den Marsch auf Säo Paulo. 94 Damit war eine neue strategische Lage geschaffen worden und der Bürgerkrieg erreichte Ende Februar/Anfang März 1894 seinen Kulminationspunkt: Während die Aufständischen der Marine in Rio de Janeiro - obgleich zur Untätigkeit verurteilt - noch nicht bezwungen waren und militärische Kräfte Florianos banden, befanden sich Rio Grande do Sul, Santa Catarina und Paraná in der Hand der Föderalisten. Die feindlichen Truppen standen somit an den Grenzen Säo Paulos, die sie bei vereinzelten Angriffen bereits verletzt hatten. Die geographisch-strategische Lage des Staates zwischen beiden Bewegungen gegen die Zentralregierung bedingte, daß Säo Paulo die "Balance der Kräfte" halten mußte. Und konnte. Der Vormarsch der Föderalisten wurde hier gestoppt. 95
92 93
Vgl. Hahner, The Paul is ta Rise, S. 159-161; dies.. Officers, S. 93-94. Vgl. Hahner. Officers, S. 93-94; Thompson, A guena civil, S. 61 ff.
94
Vgl. Bello, A History, S. 133; Ocerki, S. 215; Thompson, A guerra civil, S. 130132. Vgl. Hahner, The Paulista Rise, S. 160-161; Papers 1894, S. 138.
95
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In dieser so entscheidenden Lage begann sich zugleich der künftige Machtantritt der Paulistaner abzuzeichnen und damit Konfliktherd (1) aufzulösen. Am 1. 3. 1894 wurde Prudente de Morais zum Präsidenten gewählt, was von der nichtmonarchistischen Opposition, aber auch einer breiten Mehrheit der Bevölkerung, die der Zivilregierung mit der Hoffnung auf Beendigung des Krieges und bessere Zeiten entgegensah, befriedigt aufgenommen wurde. Außerdem wirkten sich die Wahlen positiv auf die Haltung der ausländischen Mächte aus. Das galt besonders für die USA. Diese hatten von Anbeginn gehofft, mit dem republikanischen Regime, das ihre Verfassung kopiert und den Wunsch nach freundschaftlichen Beziehungen bekräftigt hatte, zukünftig eine gewichtigere Rolle in der brasilianischen Wirtschaft und Politik spielen und mittelfristig die britische Vorherrschaft bezwingen zu können. Als der Bürgerkrieg begann, übte Präsident Cleveland dennoch über lange Zeit eher Zurückhaltung, um sich bei einem eventuellen Sieg der Aufständischen nicht von vornherein alle Möglichkeiten der Einflußnahme zu vergeben. Die US-Administration ließ über ihren Flottenkommandeur Benham den Handlungsspielraum Custödio de Melos im Hafen von Rio de Janeiro einschränken und erkannte auch die Gegenregierung von Desterro nicht als Kriegführende Partei an. Aber die Amerikaner zögerten auch, direkt einzugreifen. Der Vorbehalt, es sei denn eine andere europäische Macht würde die Monroe-Doktrin verletzen, deutet jedoch darauf hin, daß auch diese Möglichkeit nicht ganz aus den Augen verloren wurde. So erhöhten die USA ihre Flottenpräsenz im Hafen von Rio de Janeiro, während sich andere Länder weitgehend zurückzogen. Als sich schließlich mit dem Manifest Saldanha da Gamas ein eindeutig restaurativer Kurs bei den Aufständischen abzeichnete und die Wahl Prudente de Morais vollzogen war, behinderte Benham die Aufständischen, wo er nur konnte. Er ging soweit, selbst "friedliche" Mittel der Auseinandersetzung, wie die Errichtung einer Handelsblockade, die das Floriano-Regime der Zolleinnahmen berauben sollte, zu verbieten und drohte, anderenfalls die Schiffe Saldanha da Gamas anzugreifen. Ziel dieser Maßnahmen war es auch, Zeit zu gewinnen, da die sogenannte esquadra de papeläo, die von Floriano Peixoto in den USA erworbene Hotte, Kurs auf Rio de Janeiro nahm.96
96
Zur Haltung der USA vgl. Bandeira, Presen?a, S. 142-145; Hahner, Officers, 1966, S. 99-100; Martin, Brazil, S. 232; Papers 1894, S. 63; Thompson, A guerra civil, S. 163-179.
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Als sie am 11.3. 1894 eintraf und Saldanha da Gama sich zudem von jedem Nachschub an Lebensmitteln, Waffen und Munition abgeschnitten sah, kapitulierte er und suchte am 13. 3. 1894 auf einem portugiesischen Schiff Asyl, das ihn nach Buenos Aires brachte. Damit endete der Marineaufstand und mit ihm die dritte Phase des Bürgerkrieges. Es blieb lediglich die Befriedung von Konfliktherd (3).
4. Phase: Das Scheitern der "Föderalistischen Revolution " (13.3. -10.8.1894) Der Sieg über die Marineerhebung machte das Scheitern des gesamten Aufstandes unvermeidlich. Die Regierung und die Paulistaner hatten nun die Hände frei, um die Kriegshandlungen in den Südstaaten zu beenden. Heer und Streitkräfte Säo Paulos, Nationalgarde, lokale Miliz und Freiwilligenbataillone, kurzum alle verfügbaren Kräfte, wurden im Kampf gegen die Föderalisten aufgeboten. Diese befanden sich in der vierten Phase des Bürgerkrieges ausschließlich in der Defensive: Custódio de Melo nahm Saigados Einheiten, die in Desterro von Bundestruppen eingeschlossen waren, an Bord seiner Schiffe und steuerte, nach vergeblichen Landnahmeversuchen in Rio Grande do Sul, Buenos Aires an. Die Föderalisten Rio Grandes flohen in das argentinische Misiones. Beachtung muß allerdings eine militärische Leistung finden, die nur mit dem Marsch der "Kolonne Prestes" in den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts verglichen werden kann: Gezwungen, seinen Plan, Säo Paulo zu besetzen, aufzugeben, versuchte Gumercindo Saraiva den Rückzug seiner Truppen von Paraná bis Rio Grande do Sul. Miserabel ernährt, teilweise verwundet und schlecht bewaffnet, lieferten die föderalistischen Einheiten dem sie verfolgenden Gegner dennoch erbitterte Gefechte, so in der blutigsten Schlacht des Krieges überhaupt, die sich am 27.6. 1894 in Passo Fundo ereignete. Konnte Gumercindo der Übermacht florianistischer Truppen in seinem Rücken noch trotzen, so lief er in Rio Grande den ihn bereits erwartenden Einheiten Castilhos' in die Arme. Am 10. 8. 1894 fand in Carovy das letzte große Gefecht des Bürgerkrieges statt, bei dem Gumercindo Saraiva seinen Verwundungen erlag. Nur einzelne Soldaten erreichten noch die Grenzen Argentiniens.97
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Vgl. Bello, A History, S. 133-134; Martin, Brazil, S. 233; Ocerki, S. 215; Papers 1894, S. 148; Thompson, A guena civil, S. 224-293.
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5. Phase: Machtantritt der Pautistaner und endgültige Befriedung des Landes (10.8.1894 -15.11.1894/24.8.1895) Die fünfte und letzte Phase war zum einen von einer unnachgiebigen Abrechnung der Regierung mit allen am Bürgerkrieg beteiligten Gegnern gekennzeichnet. 98 Schon am S. Mai hatte die Regierung in Übereinstimmung mit den Pakistanern im Kongreß einen Plan unterbreitet, der nach der bevorstehenden Beendigung des Krieges die republikanische "Ordnung" stabilisieren sollte: Reorganisation der Flotte; Entlassung aller Personen, die an regierungsfeindlichen Verschwörungen und den Aufständen beteiligt waren; Verschärfung der Strafgesetze e t c . " Zum anderen trafen die Föderalisten in Uruguay und Argentinien Vorbereitungen für eine emeute Invasion in Rio Grande. Die militärische Führung hatte der in Buenos Aires von dem portugiesischen Schiff geflüchtete Saldanha da Gama übernommen. Er hatte auch Kontakt zu Monarchisten in Europa aufgenommen. Dem Revolutionären Komitee gehörten weiterhin Silveira Martins und de Melo an. 1 0 0 Die kriegerischen Handlungen selbst erstreckten sich vorerst lediglich auf einige Scharmützel irregulärer föderalistischer Kräfte in den grenznahen Gebieten. Am 15. November 1894 trat Dr. Prudente de Morais die Präsidentschaft an. Die Paulistaner hatten ihr Ziel, die direkte politische Herrschaft in Brasilien zu übernehmen, erreicht. Der zentrale Hegemonie- und Machtkampf war nun entschieden. In der Presse und auf politischen Tribünen forderten Vertreter aller politischen Kräfte, den Krieg nun zu beenden. Selbst im Lager der Aufständischen kam es verstärkt zu Divergenzen; die Führung beharrte jedoch auf dem Sturz Prudentes und der Restauration eines parlamentarischen Systems. Am 29. 12. 1894 erklärte Saldanha da Gama in Buenos Aires gegenüber der Presse, die Absicht und das Programm der Revolution blieben die gleichen: "vor allem Bekämpfen der Tyrannei, in welcher Form 98
Die Regierung ging soweit, ein Gesetz aus dem Krieg der farrapos, das per Verfassung beseitigt worden war, wieder für gültig zu erklären. Es unterwarf zivile wie militärische "Revolutionäre" gleichermaßen Kriegsgerichten und erlaubte das Todesurteil. Vgl. Bello, S. 136; Martin, Brazil, S. 233.
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Vgl. Ocerki, S. 215.
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Vgl. Bello, A History, S. 130; Hahner, Officers, S. 101; Martin, Brazil, S. 233; Thompson, A guerra civil, S. 298-300.
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auch immer sie auftreten mag...; außerdem Forderung nach dem Recht jedes Brasilianers, in Brasilien ruhig im Schöße seiner Familie zu leben, seines Lebens sicher und seines Eigentums verbürgt zu sein; schließlich Wiederherstellung unserer alten und schon anerkannten Freiheiten, politischer wie bürgerlicher, wobei sie wesentlich in einem Regime gesucht werden, das mehr garantiert, großzügiger und erzieherischer ist und, alles in allem, mit unserem Temperament und unseren Sitten und Bräuchen übereinstimmt Und kann jenes Regime unter unseren Bedingungen ein anderes sein als das parlamentarisch-repräsentative... ? Vier Jahre Anwendung des Systems (des Präsidentialismus-J.H.) waren mehr als genug, um alle seine Nachteile und seine Gefahren aufzuzeigen... Unglücklicherweise zeigt sich die Politik des neuen Präsidenten nicht von solchen Absichten inspiriert.. Im Gegenteil, in seinem Rat sieht man erneut castilhistische Elemente und die Kamarilla der berüchtigten Generale... (Es) ist... eine Tatsache, daß die Verfolgungen in Santa Catarina und Paraná fortbestehen. In Rio Grande do Sul herrscht Kriegsrecht und, schlimmer als das Kriegsrecht: Der Castilhismo mit seinem Gefolge von Haß und Rache". Solange diese Mißstände nicht beseitigt waren, wollte Saldanha gegen das Unrecht auftreten. Bezüglich des Vorwurfs restauratorischer Absichten erklärte er wenig überzeugend: "Sicher, man gestehe mir das Recht meines Glaubens und meiner Überzeugung zu..., jedoch es ist wahr, allgemein bekannt und offenkundig, daß ich niemals illegale Handlungsweisen billigte, um solche Anschauungen und Überzeugungen durchzusetzen, noch bewies ich jemals, sie gewaltsam meinem Vaterland aufzuzwingen." 101 Die Durchführung einer groß angelegten Invasion wurde jedoch ab April 1895 immer schwieriger, da mit einem Einspruch der La-Plata-Republiken gerechnet werden mußte, deren diplomatische Beziehungen zu Brasilien sich zunehmend verbesserten. In aller Eile rüstete Saldanha eine Truppe aus, die sich schließlich am 24. Juni 1895 bei Ozório einer Übermacht republikanischer Armeekorps gegenübersah und unterlag. Saldanha da Gama fiel. Bereits am 1. Juli begann die Zentralregierung Friedensverhandlungen mit den Föderalisten, die jetzt von Silva Tavares geführt wurden. Das am 23. 8. 1895 unterzeichnete Dokument wurde schon am Folgetag ratifiziert. Damit war
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Der volle Wortlaut der Presseerklärung findet sich in Thompson, A guerra civil, S. 315-323.
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der Bürgerkrieg beendet. Am 21. Oktober erließ die Regierung eine Amnestie für alle, die direkt oder indirekt am Krieg teilgenommen hatten.102 Um künftig einer ähnlichen Hilflosigkeit der Paulistaner wie zwischen 1889 und 1894 vorzubeugen, begann Prudente de Morais, die Bundesstreitkräfte zu reduzieren, militärische Ausgaben zu kürzen und politisch weniger engagierte Offiziere zu fördern. Parallel dazu bewaffnete er Säo Paulo soweit, daß dessen militärisches Potential den Bundesstreitkräften von nun an gewachsen war.103
Die langfristigen Ergebnisse des Bürgerkrieges Abschließend soll auf einige langfristige Konsequenzen der spezifischen Befriedung der Konfliktherde eingegangen werden: 1. Mit dem Amtsantritt von Prudente de Morais 1894 und der Befriedung Rio Grandes 1895 war die "Ordnung" in Brasilien (wieder)hergestellt. Floriano Peixoto und den hinter ihm stehenden "jungen Offizieren" bleibt das Verdienst, die republikanischen Institutionen gegen die monarchistische Reaktion verteidigt und die Einheit der Nation bewahrt zu haben. Die Verfassung von 1891 wurde nun überhaupt erst Realität. Von "Fortschritt" in dem Sinne, wie ihn die militärischen Positivisten interpretiert hatten, konnte jedoch unter der Paulistanerherrschaft nicht die Rede sein. Brasilien definierte sich als ein "vorwiegend agrarisches Land" und lehnte die Förderung "künstlicher" Industrien durch eine protektionistische Wirtschaftspolitik ab. 104 Die Losung "Ordern e Progresso" auf der Staatsflagge und die Trennung von Kirche und Staat blieben das einzige, was, bezogen auf den brasilianischen Gesamtstaat, an den Positivismus erinnert. 2. Die "jungen Offiziere" hatten ihre Kräfte zunächst erschöpft, aber sie blieben politisch präsent. In Artikel 14 der Verfassung hieß es: "Die Land- und See102
Vgl. Love, O Rio Grande do Sul, S. 110; Thompson, A guerra civil, S. 315-343.
103 104
Vgl. Hahncr, Officers, S. 266. Vgl. L. Basbaum, História sincera da república, 2 Bde., 4. Aufl., Säo Paulo 1981, Bd. 2, S. 94-97; W. Dean, A industrializa9äo de Säo Paulo (1880-1945), Rio de Janeiro/Säo Paulo 1972, S. 142-145; P. Evans, Dependent Development. The Alliance of Multinational, State and Local Capital in Brazil, Princeton 1979, S. 86; N. V. Luz, A luta pela industrializado do Brasil (1808-1930), Säo Paulo 1961, S. 146-148. Wenn, wie unter Campos Sales, Importzölle erhoben wurden - zum Nutzen der Industrie -, geschah dies aus fiskalischen Gründen.
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Streitkräfte sind permanente nationale Institutionen, die zur Verteidigung des Vaterlandes nach außen und zur Erfüllung ihrer Gesetze im Inneren berufen sind. Die bewaffneten Kräfte sind wesentlich gehorsam innerhalb der Grenzen des Gesetzes ... und verpflichten sich, die verfassungsmäßigen Institutionen zu schützen". Daraus leiteten die "jungen" Heeresoffiziere ab, daß die Verfassung für sie auch zukünftig über allen Politikern und Regierungen stehen mußte, die nötigenfalls auch gestürzt werden konnten. 105 Der tenentismo der zwanziger Jahre und die "Revolution von 1930" griffen auf diese Verfassungsfiktion zurück. Die Marine hingegen spielte in den weiteren politischen Auseinandersetzungen keine aktive Rolle mehr. 3. Rui Barbosa prangerte in immer schärferer Form die Entartung der republikanischen Institutionen und die Begrenztheit der Modernisierung unter dem Paulistanerregime an und forderte es in mehreren Präsidentschaftskampagnen als Kandidat der städtischen Mittelschichten vergeblich heraus. Barbosa blieb weiter dem liberalen Konstitutionalismus treu und lehnte jede Art von "Militarismus" in der Politik ab (vgl. Campanha Civilisia 1910).106 Sein Tod 1923 fiel symbolträchtig mit dem Aufkommen des tenentismo zusammen. 4. Während der Alten Republik waren Kirche und Armee in der Tat die einzigen "permanenten nationalen Institutionen". Es bedurfte nicht mehr des durch den poder moderador der Monarchie hergestellten Vermittlungsmechanismus zwischen den verschiedenen Großregionen. 107 Der Föderalismus entartete schnell in einen engen Regionalismus. "Jeder große Staat sah sich als eine unabhängige Macht mit kleinen Staaten in seiner Einflußsphäre. Bündnisse zwischen 105 Vgl. Kalwa, Der brasilianische Tenentismo, S. 128 ff. 106 In der ihm eigenen bildhaften Sprache erklärte Barbosa: "Militarismus ist für die Armee, was Fanatismus für die Religion, Scharlatanerie für die Wissenschaft, Industrialismus für die Industrie, Merkantilismus für den Handel, Cäsarismus für die Monarchie, Demagogie für die Demokratie, Absolutismus für die Ordnung, Egoismus für das Ego ist". Die militärische Institution verkörpere die Ordnung, der Militarismus die Anarchie. Vgl. A Documentary History of Brazil, hg. v. E. B. Bums, New York 1966, S. 331. Vgl. auch: E. B. Bums, A History of Brazil, 2. Aufl., New York 1980, S. 342; A. Palha, Histöria da vida de Rui Barbosa, Rio de Janeiro 1954, S. 72-73, Ch. W. Turner, Ruy Barbosa. Brazilian Crusader for the Essential Freedom, Nashville/New York 1945, S. 148-149. 107
Vgl. J. Hentschke, Sklavenfrage und Staatsfrage im Brasilien des 19. Jahrhunderts, In: Amerikaner wider Willen, hg. von R. Zoller. Frankfurt/M. 1993, S. 231-260 (Lateinamerika Studien, 32).
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Staaten wurden gebildet wie in der internationalen Politik ... Regionale Interessen wurden über alle anderen gestellt" 108 Die mächtigsten Oligarchien, nämlich die von Säo Paulo und Minas Gerais, stellten in alternierender Folge den Präsidenten der Republik (café com leite) und kooptierten Vertreter der "kleineren" Staaten über das Amt des Vizepräsidenten, Minister- und andere Staatsposten. S. Die Dezentralisierung machte es möglich, daß in Rio Grande do Sul nach dem Ende der Föderalistischen Revolution ein vom Rest des Landes völlig abweichendes politisches System fortbestand, dessen Institutionen weiterhin vom Geist des Positivismus durchdrungen waren. Dieser "Burgfrieden" zwischen Zentrum und Peripherie galt jedoch nur unter der Voraussetzung, daß sich Rio Grande von der nationalen Politik fernhielt. Obwohl es keineswegs zu den sprichwörtlichen "zwanzig leeren Güterwagen" gehörte, die völlig von der "Lokomotive" Säo Paulo abhingen, sondern sich durchaus mit den Partnern des café-com-leite-Arrangements messen konnte, wurde es von der Präsidentschaft und anderen wichtigen Exekutivfunktionen ausgeschlossen. Kein Wunder daher, daß Rio Grande bei jedem Konflikt gegen die Zentralregierung an der Spitze der Opposition stand und auch zur treibenden regionalen Kraft der "Revolution von 1930" wurde. Die politische Stabilität und die beachtliche wirtschaftliche Entwicklung Rio Grandes beruhten, wie Pesavento hervorhebt, zum einen auf der "Friedhofsruhe" von 1894/95, einem hohen Maß an Repression, zum anderen aber auch auf der bargaining power des Staates, dem Korporatismus, einem System der Produktionsanreize, der Konzentration auf die Entwicklung der Infrastruktur zum Zusammenschluß des heterogenen Staates etc.. 109 Als mit Getúlio Vargas SüdRiograndenser Führungskräfte die Macht in ganz Brasilien übernahmen, gewannen auch positivistisch inspirierte, nun auch von neuen Doktrinen beeinflußte Strukturen in Staat und Gesellschaft neue Bedeutung. Rio Grande do Sul kann in mancher Hinsicht als "Laboratorium" für die später auf nationaler Ebene praktizierte Politik gelten. Das Konzept von "Ordnung" und "Fortschritt", das der PRR anbot, diente der organischen Gestaltung des gesamten Bundesstaates und nicht mehr nur den Interessen der estancieiros. Das Konzept, das der Getulismo durchzusetzen versuchte, diente den nationalen Interessen Brasiliens und nicht mehr nur denen der fazendeiros Säo Paulos und Minas Gerais'. Selbst die moder108
Vgl. Bello, A History, S. 255; vgl. auch T. L. Smith, Brazil. People and Institutions, 2. Aufl., Baton Rouge 1954, S. 617-618.
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Vgl. Pesavento, A Revolu?ao Federalista, S. 96.
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nere Fassung von "Ordnung und Fortschritt", "Sicherheit und Entwicklung", steht in der Tradition des Riograndenser autoritären Positivismus und der später die nationale Politik prägenden Absolventen der Rechtsfakultät und Militärakademie von Pòrto Alegre, der sogenannten "Generation von 1907".
Resumo O ensaio dedica-se à guerra civil brasileira de 1893/9S na quai culminaram os conflitos durante a fase da consolidaçâo do regime republicano. A guerra tinha très cenas principáis: primeira, o governo federal no Rio de Janeiro; segunda, a revolta da armada, também na capital federai; e, terceira, a chamada "Revoluçâo Federalista" no Rio Grande do Sul. Cada um destes conflitos teve a sua pròpria genese: Dentro do governo centrai existía urna contradig o entre o poder executivo, em mäos dos militares, e o poder legislativo, predominado pela oposiçâo civil, ou, respetivamente, entre elementos radicáis e positivistas, por um lado, e constitucionalistas liberáis, por outro. Nesta contradiçâo manifestou-se o empate da luta pela hegemonía e poder entre os dois agrupamentos mais fortes dentro do movimento republicano, o exército e a oligarquía do café em Sao Paulo. A revolta da armada foi a erupçâo dum conflito institucional entre o exército e a armada já latente desde mais de duas décadas. Ambas as partes das forças armadas diferiram entre si no grau do desenvolvimento tecnológico, na educaçâo política, no recrutamento social e étnico e no privilegiamento antes e depois da troca da forma de governo. A "Revoluçâo Federalista" radicou na modernizaçâo específica do Rio Grande do Sul e nas transformaçôes políticas dai resultantes. Tratou-se duma disputa sobre a questäo do sistema governmental na unidade federativa mais meridional, por um lado, e a posiçâo dele no Estado brasileiro, por outro. Apesar da gênese independente dos très conflitos, eles sobrepuseram-se e influenciaram-se mutuamente. A guerra civil somente é explicável por esta interaçâo. O autor descreve a correlaçâo permanentemente alterante entre os partidos em conflito nas diferentes frentes durante cinco fases da guerra. Ao firn eie discute as consequências a longo prazo da pacificaçâo do país em 1894/95.
Canga^o e Seca no Nordeste Urna Historia Narrada em Prosa e Verso Maña da Guia Santos Gareis, Campiña Grande e Recife
I. Introdujo Os séculos XIX e XX é urna época muito importante na historia dos movimentos sociais no Brasil, particularmente na regiáo Nordeste. Em vários espafos desta regiáo ocorreu urna sèrie de mobiliza^Ses coletivas, envolvendo vários segmentos sociais. Neste sentido, pode ser lembrado o registro de alguns movimentos como: Praieira, Quebra Quilos, Ronco da Abelha, Caldeiráo, Pedra Bonita, Canudos e, entre estes, o Cangaceirismo. Durante praticamente 100 anos, o Nordeste convive com o aparecimento de bandos de homens armados dentro da Caatinga. Inúmeras pessoas perderam a vida assassinadas brutalmente. Mulheres foram violentadas, vilas e cidades foram saqueadas e destruidas por esses homens que dominaram o Sertüo, utilizando a violencia e o terror como leis. Essa pràtica usada pelos cangaceiros foi a forma que os "rebeldes" encontraram para vingar o crime cometido contra suas familias, e também contra a opressSo que a populado pobre vivia sob o dominio dos grandes proprietários de terra. Esses homens, que, sob a lógica racional sao considerados meros bandidos, foram ao longo dos anos reverenciados como verdadeiros heróis do povo nordestino, com o aval, inclusive, de boa parte da historiografía recentemente produzida sobre o tema. Seriam os cangaceiros apenas "bandidos" comuns ou símbolos da indignado, da revolta popular? Para buscar entender tal problemática, é necessàrio recorrer à historia dos cangaceiros e das prováveis circunstancias que os levaram a formar grupos e saír pelo Sertáo adentro, aparentemente renunciando à ordem social estabelecida. Afora a análise da literatura especializada sobre o tema, tornou-se imprescindível o estudo da literatura de cordel, que registra a memòria histórica do povo, na tentativa de compreender-se as razoes da mitificado dos cangaceiros entre as
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carnadas populares. A percepgao das carnadas populares sobre o fenómeno do cangaceirismo no Nordeste realizou-se através da leitura social e histórica da literatura de cordel, urna vez que vários "Folhetos de Cordel" abordaram o tema, buscando resgatar o cotidiano em tomo desse fenómeno social.
II. E x p l i c a r e s para o surgimento do cangago 1. Algumas abordagens teóricas sobre o tema Em fins do século XIX, á medida que o cangaceirismo vai se intensificando no Nordeste, o pánico toma conta da populado, admitindo, entáo, as autoridades governamentais, que o cangago é um problema nao apenas regional, mas de ordem nacional. Na busca de entender o fenómeno, alguns estudiosos passaram a compreender o cangaceirismo como conseqüéncia da miscigenagao racial ocorrida no Brasil durante o processo de colonizado. Após o cruzamento entre as tres ragas (indios, brancos e negros) teria se gerado a formado de urna populagáo genéticamente predisposta ao crime e ao banditismo, especialmente na regiüo Nordeste, onde a miscigenagao havia predominado. Ancorados ñas idéias do determinismo biológico de Gobineau (onde a superioridade da raga branca era defendida) intelectuais brasileiros, como Euclides da Cunha 1 , Nina Rodrigues e Lourengo Filho 2 , acreditavam que o cangaceirismo era resultado da inferioridade racial do mestigo brasileiro. Por esse motivo, muitos cangaceiros, ao serem mortos, tinham os cérebros recolhidos para serem examinados por dentistas que tentavam descobrir substancias que deveriam ser responsáveis pela tendencia ao crime, existente na formagao biológica do cangaceiro. Como há registros da ocorréncia de casos de banditismo tanto na Europa quanto na Asia, a tese segundo a qual o cangaceirismo estaría ligado ao problema de miscigenagáo, no Brasil é superada. Embora o determinismo biológico fosse a opiniao corrente naquela época, existem outras tantas explicagóes. Assim, outros estudiosos comegaram a perceber o banditismo sob a ótica do processo histórico da formagao económica e 1 2
Euclides da Cunha, Os Sertôes, 13. ed., Sào Paulo 1936. Rui Facó, Cangaceiros e Fanáticos, 7. ed.. Rio de Janeiro 1983, p. 39.
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social do Brasil, em particular da regiao Nordeste. Na tentativa de entender o cangaceirismo como um fenómeno sócio-económico, Xavier de Oliveira afirma que: "O homem honesto e trabalhador de outrora é um bandido agora, por causa de urna questâo de terra. Sem terra, sem ocupaçâo certa, na mais exploraç3o de seu trabalho, revoltar-se-iam qualquer que fosse a dosagem do seu sangue, sua origem racial, o meio físico que atuasse sobre seu organismo." 3 A percepçào emitida por Xavier sobre as razôes para o aparecimento do cangaceirismo, atinge realmente alguns fatores essenciais para o surgimento desse fenómeno. Contudo, esse mesmo autor, acredita que a soluçâo para o problema seria a militarizado da regiao nordestina, como meio de reprimir o banditismo. A repressâo indiscriminada ao cangaceirismo era apontada como medida a ser adotada, sem tentar resolver os problemas que levaram tantos homens a seguir o caminho do crime. Essa era a forma mais fácil de reprimir os movimentos sociais, urna vez que essa açâo nao exigía do Estado a soluçâo dos problemas que afligiam as carnadas populares. Somente a força do poder era capaz de silenciar o grito e o sofrimento da populaçao. O cangaço também passou a ser explicado como forma peculiar de banditismo social. Como aponta Carlos Alberto Dória4, o que diferencia o criminoso comum do cangaceiro, na medida, em que surge em sociedades patriarcais marcadas pelos conflitos sociais intensos, é que sua açâo, regra geral, dá-se no sentido de contrapor-se às pressôes de que é vítima. Para o historiador Eric Hobsbawm 5 , o banditismo é uma forma de révolta camponesa, que é dirigida contra a sociedade, o Estado e contra os próprios agentes sociais da servidao em que o "bandido" vivia. Por esse motivo, é reconhecido e protegido pela populaçao. É essa cumplicidade entre o bandido social e sua gente que permite a sobrevivencia do banditismo nessas sociedades. Com relaçâo às implicaçôes políticas do cangaceirismo, Hobsbawm entende que o banditismo social é um movimento de caráter reformista e nao revolucionário, porque essas formas de révoltas nâo objetivam o fim da opressâo e sim, a diminuiçâo de seus efeitos negativos sobre o povo. O fato do banditismo ser ou 3 4
Rui Facó, op. cit., p. 40. Carlos Alberto Dória, O Cangro, 2. ed„ Sao Paulo 1981, p. 7.
5
Eric J. Hobsbawm, Rebeldes Primitivos, Rio de Janeiro 1978, p. 31.
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nâo revolucionário, parece, contudo, nâo retirar a importancia política e a relevancia histórica desse movimento social, mesmo que haja contribuido para a manutençâo da opressâo contra a qual teria se rebelado. "O bandido é um fenómeno pré-político e sua força está na proporçâo inversa da força dos movimentos revolucionário agrários organizados, do socialismo ou comunismo". "O banditismo, como movimento social, em tais situaçôes foi e continua sendo ineficiente sob todos os aspectos."6 Essas afirmaçôes de Hobsbawm sobre o caráter pré-político do banditismo, leva ao questionamento se o exercício da política seja necessariamente um exercício consciente. Mesmo "inconscientemente" será que os cangaceiros nâo exerceram urna prática política, a partir do momento em que emergem da populaçào sertaneja pobre e o cangaço leva os estudiosos a entenderem esse fenómeno sob a ótica da formaçâo histórica do Nordeste? Por outro lado, quando Hobsbawm afirma que a existencia do banditismo deve-se a ausência de meios mais eficientes de agitaçâo social, esse autor define como meios mais eficientes, os movimentos revolucionários conscientemente organizados, que podem ser subentendidos como movimentos organizados sob a forma partidária e, que têm por objetivo a conquista do socialismo ou do comunismo. Sobre essa visito, tudo indica que o autor procura enquadrar de forma anacrónica esses movimentos sociais que ainda nâo carregavam em seu bojo a açâo revolucionária, como no caso, o cangaceirismo.
6
Idem, op. cit., p. 34.
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2. Origens do cangaceirismo Os principáis fatores que contribuiram para o eclodir do cangaço sâo encontrados na formaçâo económica e social do Nordeste, e na crise secular que a regiâo enfrenta, provocando desestabilizaçâo completa, agravada pelos problemas das secas periódicas. Assim, urna das causas para os "surtos" de cangaceiros estava no monopólio da terra. O modelo económico e a estrutura agrària do Nordeste (latifundio agroexportador) entravavam o desenvolvimento económico da regiâo, e conseqiientemente as mudanças necessárias na estrutura das forças produtivas. Enquanto a regiâo Sudeste começava a desenvolver-se sob a égide do capital cafeeiro, a regiâo Nordeste enfrenta a estagnaçâo de sua economia, especialmente quanto à demanda dos chamados produtos nordestinos (açùcar, algodâo, fumo, couros e peles) no mercado internacional. As relaçôes sociais tradicionais e arcaicas que permaneciam no Nordeste, decorrentes da estrutura do espaço agràrio, espelhavam "o atraso" econòmico e social do Nordeste frente ao ambiente de "modernidade" vivenciado na regiâo cafeeira. O descompasso das relaçôes de traballio aliado à crise estrutural do sistema escravista, à decadencia da economia nordestina e à concentraçâo cada vez maior de terras com a criaçâo das usinas, sâo elementos que interagem para o aumento da pobreza no Nordeste em fins do século XIX. "Era mais do que natural, era legítimo, que estes homens sem terra, sem bens, sem direitos, sem garandas, buscassem urna "saida" nos grupos de cangaceiros, ñas seitas dos "fanáticos", em tomo de beatos e conselheiros, sonhando a conquista de urna vida melhor. E muitas vezes lutando por eia a seu modo, de armas nas mâos. Eram eles o fruto da decadencia de um sistema económico-social que procurava sobreviver a si mesmo." 7 A situaçâo de misèria com que as carnadas populares eram obrigadas a conviver, levaram ao surgimento do cangaceirismo, urna vez que o mesmo representa a resposta que o sertanejo consegue emitir diante da penuria que enfrenta há tantos anos. Os crimes praticados tinham o carátér de mobilizaçâo do "trabalhador rural" contra o latifundiário, a opressâo e a exploraçâo, as quais era submetido. Segundo Rui Facó 8 , o choque entre cangaceiros e latifundiários trans-
7
Rui Facó, op. cit., p. 17.
8
Idem, op. cit., p. 18.
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formou-se numa luta social, à medida em que representava a tentativa social de modificar a estrutura social responsável pela crise que assolava o Nordeste. Os cangaceiros representam, portanto, os sertanejos pobres que comeíam a sair da apatia em que se encontravam e iniciam um processo de enfrentamento da elite opressora. Formam urna "classe potencialmente revolucionária" mas que ainda n3o consegue distinguir conscientemente seu maior inimigo de classe. Por esse motivo, também surgem aqueles que acreditam que as desgranas "caem do céu" e necessitam implorar-lhe aos céus por melhora das cond¡9óes de vida. Sao os chamados fanáticos. Mesmo que os fatores sócio-económicos sejam importantes para o entendimento do processo do cangaceirismo, necessàrio se faz agregar outros elementos para se explicar o surgimento desse movimento social, urna vez que no dia-a-dia dos homens, diversos elementos interagem em suas agòes cotidianas. A constituido agrària do Nordeste, onde o sistema de sesmarias favoreceu a formado de urna classe de proprietários de grandes faixas de térras, impuseram rela?Oes de traballio extremamente rígidas e desfavoráveis aos camponeses. Essa desigualdade na posse da terra - urna parcela minoritaria da populado detinha o monopólio das térras, enquanto que as demais poderiam ser, no máximo, pequenos proprietários - criou as rela?6es de sujei?2o a que estavam submetidas as popula^des sertanejas. Para ter acesso à terra, o camponès submetia-se às condifOes impostas pelo proprietàrio. Essas sempre resultavam em lucros para os proprietários e em misèria para o vaqueiro ou arrendatário. Acontece que, em épocas em que ocorriam secas, provocando a perda da produco agricola, a s i t u a l o do sertanejo que já era ruim para o pobre, tornava-se ainda pior, em decorrènda da falta de alimentos e de água. Nessa s i t u a l o , o grande proprietàrio (coronel) raramente "protegía" os camponeses. Abandonado pelo "patr3o", o camponès via-se sozinho e com fome. "O modo como os tratavam os donos de terra durante os períodos em que eram obrigados a rastejarem em busca de comida e abrigo foi fazendo com que o sertanejo se sentisse ferido nos seus brios de homem honrado e trabalhador. Tratado como objeto ou escravo, o homem do campo se via geralmente numa s i t u a l o de misèria absoluta, da qual culpavam sempre os latifundiários. Os Jesuínos, Viriatos, etc., surgiram em ritmo cada vez mais crescente, engrossando as suas hostes como fugitivos da seca em busca da riqueza fácil." 9 9
Bismarck Martins de Oliveira, Cangaceirismo no Nordeste, Brasilia 1988, p. 18.
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As estiagens castigam o sertáo nordestino há vários séculos. Em 1540 já havia referencias do fenòmeno das secas nos relatónos enviados para Portugal sobre o Brasil. A partir do século XVIII, as secas passaram a ser cada vez mais intensas e freqüentes. As conseqüéncias das secas passam a ser mais violentas à medida que a zona sertaneja é ocupada por urna populado mais numerosa e carente de adquirir na pròpria regiao meios para a sobrevivéncia. Entretanto, de todas as secas que assolaram a regiao nordeste, nenhuma foi táo intensa quanto a que se verificou entre 1877 e 1879. A estiagem atingiu todos os Estados, contudo, o Ceará foi a área mais devastada. Naqueles anos um tergo da populado nordestina viveu em s i t u a l o de fome. Essa seca reforgou a crise da economia nordestina, causando a morte dos mais atingidos, e expulsando da regiao boa parte da populado. A populado faminta, foi impulsionada em alguns momentos a realizar saques ñas cidades e ñas feiras como única alternativa de evitar a morte pela fome. Apesar desse quadro social, os governantes dos Estados nordestinos nao conseguiram alternativas para aliviar a situalo; e as elites locáis, ansiosas para salvar seus empreendimentos, comegam a desviar os recursos oriundos do Governo Central para as áreas atingidas pela seca. Essa atitude dos governantes provocou maior acirramento dos conflitos sociais entre sertanejos pobres e coronéis. A maior parte da populado nordestina passou a viver o signo da misèria, da fome e da pobreza absoluta. Assim, é necessàrio considerar que a seca também irá desempenhar um papel importante para a ruptura, mesmo momentánea, das rela?5es sociais que prendiam o humilde camponés ao dono da terra. Nessa perspectiva, o cangaceirismo eclode como alternativa de sobrevivéncia dos homens pobres livres no mundo rural do Nordeste brasileiro. "Particularmente acho que o cangafo é 'filho da seca'. Tem-se tentado justificar o cangago como "banditismo social', o que acho paradoxo; se tem procurado dizer que os cangaceiros eram individuos antropologicamente predispostos ao crime, o que acho absurdo. Assim, a seca desalojava o homem, matava a sua piantalo, o seu rebanho, obrigando-o a lutar pela água, a matar por eia, o que o tornava um fugitivo. Criminoso, sem retorno para o convivio com a sociedade." 10
10
Idem, op. cit., p. 33. - Sobre fatores do cangaceirismo ver Manuel Diégues Jr., Os Fatores do Cangaceirismo, in: Jornal deAlagoas, Maceió, 20. 02. 1951.
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A seca de 1877 surge na memoria popular como um momento do surgimento da violencia no Serico. Durante a seca amplia-se o fenòmeno do cangamo; agravam-se os saques nas cidades; aumenta o roubo de gado e até mesmo de água. Além do mais, come^am a surgir, cada vez mais, motins nas cidades, onde a populado retirante se aglomera em busca de sobreviver à maldigo dos tempos de seca e de fome. Sendo o canga^o um meio de sobrevivencia, os sertanejos tinham como única forma para continuar vivos, a alternativa de violar a ordem social, matando e roubando: enfim, tornando-se um fora da lei, um cangaceiro. Embora a seca seja mais um fator que irá contribuir ao surgimento e intensifica?3o do canga?o no Nordeste, outros tantos elementos poderSo ser acrescidos para o surgimento desse fenómeno. Antes da seca de 1877 já havia no Sertao alguns grupos de cangaceiros. E mesmo com a volta das chuvas e a diminuido da estiagem, novos grupos se formaram, indicando que a seca teria contribuido para intensificar o sofrimento dos camponeses, e conseqüentemente estimulado a revolta desse grupo social. Neste sentido, é bom lembrar, que ainda hoje as secas periódicas atingem a regiao Nordeste, causando grande estado de penuria ao homem do campo. No entanto, o cangaceirismo nao sobreviveu aos dias atuais. Portanto, a r e l a j o seca - canga?o existe efetivamente, mas nao explica sua origem. Outra hipótese polèmica sobre as origens do cangaceirismo é defendida por Julio Chiavenato.11 Esse autor afirma que o surgimento do cangaceirismo iniciase no processo de colonizado do Brasil com a atua$ao dos Bandeirantes, que eram grupos armados com o objetivo de garantir a posse e o controle das térras brasileiras através do exterminio das comunidades indígenas. A respeito disto, ao longo dos anos, devido a historiografía tradicional, esses bandidos - os bandeirantes - foram consagrados como heróis defensores da "soberania" da patria. Durante todo o período colonial e o Impèrio, surgem diversos bandos: os BundOes, os Cacheados, os Vira-Saias, grupos que pelo uso generalizado da violencia, aterrorizavam toda a área do Sao Francisco, na regiao Nordeste. Os Capitáes-de-Estrada foram utilizados pelos proprietários de térras para escravizar os caboclos que viviam em liberdade no Sertao nordestino, fato que até certo ponto, contribuía para regularizar o mercado de escravos na regiao. Todas as vezes que o pre?o de escravos aumentava, os Capitaes-de-Estrada capturavam os
11
Julio José Chiavenato, Cangamo: a forfa do coronel, Sao Paulo 1990.
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caboclos, evitando em parte, que os grandes proprietários adquirissem escravos a presos excessivos. 12 Segundo Chiavenato, os cangaceiros tem sua origem intimamente relacionada a esses grupos. Os cangaceiros seriam os herdeiros, nos séculos XIX e XX, desses bandos organizados que agiam no Brasil desde o século XVI. Assim, como esses grupos existentes anteriormente, os cangaceiros seriam bandidos que tinham como fun?3o o controle das massas empobrecidas do Sertáo nordestino. O cangaceirismo teria sua atua?3o estimulada pelos latifundiários para que as populaijóes pobres n3o conseguissem, através das revoltas e dos saques, desestabilizar a ordem social. Essa tese tenta, até certo ponto, desmistificar a figura do cangaceiro. Para Chiavenato, os historiadores, os intelectuais e os poetas populares, de forma geral, sáo os que mais contribuem para perpetuar a imagem heróica dos cangaceiros; da mesma forma como também consagraram a imagem do Bandeirante durante muito tempo. 13 Durante a segunda metade do século XIX, a crise da economía nordestina causou grandes tumultos no Sertáo, com o surgimento de saques e invasóes de vilas. Também se observa o aparecimento de grupos de fanáticos e beatos, que atraem a m3o-de-obra camponesa para o interior dessas comunidades religiosas, causando grande preocupado entre os proprietários de térras e entre as autoridades estatais. Nesse sentido, a maior preocupado dos governos provinciais era com a garantía das propriedades contra os ataques dos flagelados, levando as autoridades a designar grupos civis e policiais para a manutengo da ordem. Soma-se a esses acontecimentos o fato de que a luta pelo controle político do Nordeste toma dimensóes mais fortes e, acirram-se cada vez mais os conflitos entre coronéis, que se utilizam dos cangaceiros para o dominio de áreas controladas pelas familias mais poderosas. É nesse momento que surgem os cangaceiros. Homens empobrecidos pela crise económica e social do Nordeste e que, para continuarem sobrevivendo a todas essas dificuldades, acabam aliando-se aos homens mais poderosos da regiSo para a defesa da ordem contra a amea^a de urna rebeliao popular. Essa alianza entre as elites e os cangaceiros, somente foi possível, segundo Chiavenato, porque o cangaceiro jamais lutou pela posse da térra, por sua distribuido entre os pobres, ou pela igualdade social. Por tais razOes, foram fácilmente cooptados pelas elites locáis, passando a disciplinar a 12
Idem, op. cit., p. 14.
13
Idem, op. cit., p. 15.
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populado pobre do Sertüo, através do terrorismo indiscriminado. "Conforme esboga-se na genealogia dos bandidos populares, os cangaceiros foram estimulados e mantidos por latifundiários para controlar a populado sertaneja." 14 Ao longo dos anos várias foram as análises realizadas em torno do fenòmeno do cangago, permanecendo, ainda, urna polarizado entre os que, de um lado, acreditam que os cangaceiros representavam a revolta popular contra as opressdes a que eram submetidos e, de outro, aqueles que reafirmam o caráter reacionário e conservador desse movimento social. Revolucionários ou conservadores, os cangaceiros contribuirán) para que as injustigas e a misèria impostas aos camponeses nordestinos fossem registradas das formas mais diversas, permitindo a reconstruyo histórica do cangaceirismo também sob a ótica dos vencidos.
III. Os heróis do cangago em prosa e verso 1. A literatura de cordel e o cangago Para melhor compreensao do entendimento do que é literatura de cordel, é necessàrio considerar alguns aspectos básicos que caracterizam essa literatura: a) apresentagáo em folhetos típicos; b) conteúdo de garantido interesse popular; c) comercializac3o sob forma peculiar (mercados e feiras, predominantemente sob pregao oral); d) baixo prego de venda. 15 De acordo com Manoel Cavalcanti Proenga a literatura de cordel é natural e descontextualizada, feita para ser recitada, mas ao ser impressa, por motivos mais económicos, nao perde sua característica oral. 16 Existe, portanto, convivio duradouro da literatura oral com a literatura de cordel, a partir do surgimento dos folhetos de cordel. A literatura de cordel baseia-se na literatura oral, mas nem
14
Idem, op. cit., p. 15.
15
Humberto Peregrino, Literatura de Cordel em Discussao, Rio de Janeiro 1984, p. 13.
16
Manoel Cavalcanti Proenga, Literatura Popular em Verso, Sao Paulo e Rio de Janeiro 1986, p. 27.
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por isso eia deixa de subsistir, urna vez que o cordel desde sempre aspira a ser ouvido, constituindo a forma impressa um meio de expansáo da oralidade. 17 Na literatura oral pode-se distinguir duas linhas: a) a folclòrica, isto é , aquela que se transmite oralmente; b) a popular, a que se transmite pela publicado impressa. O nome da literatura de cordel vem de Portugal, e recebeu essa denominado, pelo fato de serem folhetos presos por um pequeño cordel ou barbante, em exposi9¡k> ñas casas onde eram vendidos. Esse tipo de poesia está relacionado ao romanceiro popular. Apresenta-se como romances em poesia em virtude do tipo de narrado que descreve. 18 A p r e s e r a da literatura de cordel no Nordeste tem suas raízes lusitanas. Veio para essa regiao entre fins do século XVI, e inicio do século XVII, através do romanceiro peninsular. O romanceiro peninsular influenciou a poesia popular tanto da América Portuguesa como da América Espanhola. Na Espanha, a literatura de cordel era chamada de "pliegos sueltos", que corresponde à denominacao portuguesa de "folhas volantes". 19 O poeta popular, o autor dos folhetos, encontra-se ainda hoje, na regiao Nordeste, na mesma situado que os antigos cantadores enfrentavam, urna vez que nao podendo viver exclusivamente de sua produfao poética, trabalham em qualquer atividade para poder assegurar a sobrevivencia de suas familias. Vários estudiosos no Brasil, realizaram urna classificalo da literatura em versos. Em 1921, além da tentativa de Leornardo Mota, em Cantadores, podemos registrar outras mais recentes. A que se deve à Casa de Rui Barbosa, feita por um grupo sob a orienta?ao de Manoel Cavalcanti Proenga, que predominou nos demais trabalhos de classificafao, a de Orígenes Lessa, e a realizada por Ariano Suassuna. 20 A classificalo da literatura de cordel abrange, portanto,
17
Manoel Cavalcanti Proenfa, op. cit., p. 27.
18
Manuel Diégues Junior, Literatura de Cordel, in: Sebastiào Nunes Batista (ed.). Antologia da Literatura de Cordel, Funda;ào José Augusto, 1977, p. 18.
19 20
Manuel Diégues Junior, Literatura de Cordel, op. cit., p. 18. José de Ribamar Lopes (org.). Literatura de Cordel, Antologia, Fortaleza 1982, pp. 12/20.
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urna variedade de temas, desde a história de heróis, de personalidades, da natureza etc.. As histórias narradas nos poemas nem sempre sao puro produto das Iembrangas e imaginado do autor, urna vez que os poetas buscam suas histórias também no folclore e na leitura de outros livros. O autor, inicialmente, compOe oralmente o poema, para depois registrá-lo por escrito. Na transposi?3o da linguagem oral em gráfica, surgem problemas de métrica.21 A poesia popular utiliza quatro tipos de versos, e s5o na ordem crescente de silabas: os de cinco, sete, dez e onze sílabas. Com base na nomenclatura tradicional, pode-se afirmar, que há duas redondilhas (a menor e a maior) o decassílabo (versos de dez sílabas) de corte especial e o hendecassílabo (versos de onze sílabas) de arte maior. 22 A escolha de temas tem relapso com o tempo histórico, e a elaborado dos romances se prendeu sempre à necessidade de mostrar a maneira como os acontecimentos ocorreram, urna vez que as gera^Ses mais antigas tiveram necessidade de gravar e transmitir esses feitos através da história popular para registrar também sua história. Dentre os temas que a literatura de cordel registra, chamamos a a t e n e o para os fatos e personagens do canga^o. Os folhetos de cordel contam a história do cangago sob diversos aspectos, mas em todos percebe-se o registrar da memòria popular. Como a literatura popular, mostra a maneira que a sociedade vé sua pròpria história; incorpora o julgamento que a sociedade elabora dos acontecimentos e dos personagens históricos. Como os produtores da literatura de cordel normalmente nao elaboram pesquisa científica para produzir seus folhetos impressos, o registro das temáticas históricas elaborados por essa literatura traz consigo lembranijas que as carnadas populares guardam dos acontecimentos. Dessa maneira, a literatura de cordel revela os sonhos, as fantasías, o mito, e as idéias das carnadas populares sobre a sociedade. Como essa literatura traduz o imaginário das carnadas populares, é urna fonte riquíssima para a compreensSo da história dos grupos sociais que sao ausentes da produco histórica oficial.
21
Manoel Cavalcanti Proenija, op. cit., p. 27.
22
Venissimo Melo, Visio Histórica e Aspectos Principáis, in: José de Ribamar Lopes, op. cit., p. 23.
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O romanceiro popular do Nordeste também inspira suas idéias em romances, em filmes, teatros, circos e nos contos da tradi?ao oral. Na literatura de cordel estilo registradas as impressSes do povo a respeito dos acontecimentos, porque a história do folheto analisa os fatos sociais, culturáis, religiosos e políticos da gente pobre, especialmente do homem rural, da regiao Nordeste do Brasil. O folheto de cordel, vendido ñas feiras, constituí documentário de grande valor histórico sobre os costumes dessa populado. 23 A história dos movimentos sociais do Nordeste, especialmente a do cangan90, é narrada pela literatura de cordel como luta individualizada, urna vez que é a a?3o dos individuos que alimenta a percep?2o dos cordelistas sobre essa temática. Assim, é normal que aíóes de protesto á situado de opressSo em que sáo submetidos os excluidos da história sejam caracterizadas pela a?2o de um personagem individualizado de forma factual e sem referencial do tempo histórico. A literatura de cordel, recolhendo, registrando e interpretando fatos da vida real, constituí fonte preciosa da História. Os poetas populares, s3o em geral, exatos no que diz respeito ás informa?óes principáis dos fatos e dos personagens. 2. Cangaceiros e heróis Os personagens mais importantes do cangaceirismo sao abordados pela literatura, especialmente a de cordel, sob vários ángulos sociais e moráis, e, também, pelas simbologias que o cordelista consegue apresentar da sociedade, inclusive frente a realidade desse movimento e da vida política, cultural, social e económico da regiao Nordeste. Os cangaceiros sáo vistos por essa literatura como heróis e também como homens fora da lei. É impossível precisar-se a data do inicio do cangago (expressáo surgida no Nordeste devido á semelhan?a entre a forma com que os bandidos carregavam suas armas e a peía de madeira utilizada nos carros de boi, denominada de canga). Todavía, há documentos que indicam que em fins do século XVIII, bandos independentes já existiam, decorrentes das guerras entre as familias. Tendo como palco principal a área que se estende deste o Sul do Ceará até o Norte da Bahia, a história do cangaceirismo também tem seu inicio no século
23
Idem, op. cit., pp. 39/42.
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XVIII, momento em que se formam os primeiros grupos e a noticia de sua existencia passa a circular no Nordeste, atemorizando seus moradores. Conseguir tornar-se livre dos chefes políticos e parentelas no Sertüo brasileiro, especialmente no Nordeste, era por demais difícil, devido ao estado de misèria em que se encontrava o sertanejo. Muitos cangaceiros eram mantidos e pagos pelos coronéis e chefes políticos que detinham o poder estatal. No Nordeste economicamente estagnado, a situarlo agrava-se em conseqüéncia das terríveis secas que se sucederam no final do século XIX. As grandes secas eram cíclicas, e as ocorridas em 1825 e em 1877 sao consideradas as de maior intensidade. As secas afligiram a populado trabalhadora do sertáo nordestino e contribuíram para que essa parte da populado migrasse para várias regiSes do Brasil. Nessas épocas é que surgiram os bandos de cangaceiros; portanto, as secas contribuiram para empobrecer os trabalhadores rurais e para estimular o canga^o. A literatura de cordel registra as calamidades provocadas pelas secas, chamando a a t e n e o para a questuo da fome, da m i g r a l o e dos saques realizados pela populado faminta. "Oh! cruel s i t u a l o Do pessoal nordestino! A incalculável seca Que sempre traz em domino Levando tudo ao terror Do leito fatal da dor Do mais cruel desatino! A 21 de abril Curema foi atacado Por quase 300 homens Do pessoal flagelado Se o prefeito dalí Nao agisse de persi Nada teria ficado." 24
24
José Bernardo da Silva, Os Honores do Nordeste, Juazeiro do Norte/Ceará 1942 (Folheto de Cordel).
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A partir de 1930 o tema cangago transformou-se em fonte de inspirado para a literatura e as artes urbanas. O cangafo que até enláo era urna temática regional, tomou proporfóes de um tema de interesse nacional. Á medida que o cangago passou a ser temática de interesse da literatura erudita e das artes nao-populares, a figura do bandido pouco a pouco se modifica. Na literatura de cordel, a ambigüidade do personagem se manteve com seus aspectos positivos e negativos. Como a literatura de cordel personifica o cangaceirismo é comum que essa literatura ora apresente alguns feitos dos cangaceiros como atos heróicos e ora como atos de banditismo de homens cruéis. Todavía, apesar dessa ambigüidade, é inegável que os cangaceiros passaram a adquirir na literatura a imagem de defensores dos fracos e dos oprimidos. A literatura de cordel narra o cangaceirismo sobretudo através das a?óes dos personagens mais importantes do canga?o, personificando esse movimento social aos seus personagens. Apesar de a literatura de cordel ser fonte riquíssima sobre o cangaceirismo, nem todos os cangaceiros tém suas histórias de vida narradas pelo cordel. Sobre a passagem de José Gomes e Jo3o Calandro nao encontramos quase registro na literatura de cordel: todavía como foram os primeiros homens a constituir os bandos de cangaceiros no Nordeste, julgamos importante comentar a participado desses dois cangaceiros na história do cangago, embora os personagens mais destacados sejam Antonio Silvino e Lampiao.
2.1. José Gomes Os bandos de cangaceiros eram formados por grupos organizados sob a dire9áo de um chefe. Um dos primeiros cangaceiros do Nordeste apareceu nos fins do século XVIII. Franklin Távora, em seu romance "O Cabeleira" (1876) afirma que tres chefes de um bando, Joaquim e José Gomes (o "Cabeleira"), e o negro Teodósio escolheram o cangago por "maldade natural" e para realizar roubos. Cabeleira e seu bando chegavam até a cidade do Recife (Pernambuco) para assaltar e assassinar. Cabeleira tornou-se um bandido famoso, destacando-se por seus atos sanguinários e cruéis. Esse cangaceiro agiu por mais de vinte anos em Pernambuco. Juntamente com seu pai e o negro Teodósio despovoava regióes inteiras, apavorando os sertanejos. Um poeta popular anónimo cantou-o em versos, ainda hoje ouvidos no interior de Pernambuco.
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"Fecha a porta gente. Cabeleira ai vem ! Matando mulheres, Meninos também...." 25 A partir das a?5es violentas de Cabeleira, foram utilizadas as primeiras volantes (unidades policiais móveis) contra um grupo de cangaceiros. Em 1776, Cabeleira é preso por uma volante e levado para Recife, capital de Pemambuco, onde, entao, o govemador do Estado ordena seu julgamento. Preso, Cabeleira passa a afirmar que se arrependera de seus crimes. Ao declarar para a sociedade que está arrependido dos crimes cometidos, cometa a receber a simpatia popular, e até mesmo dos juízes que o condenaram á prisüo perpétua. Entretanto, o govemador de Pernambuco ordenou sua execugao por enforcamento ainda em 1776.26 Após sua morte, Cabeleira nao mais pertencia á galeria dos criminosos comuns. A memória popular tratou de redimi-lo. Suas fa9anhas e sua coragem sobrepujaram-se as atrocidades que cometerá. A justificativa para seus crimes era dada sob a perspectiva da chamada "vinganga social". O povo elevou-o á condi^áo de herói popular, e os romances de cordel e literatura consagraram-no como símbolo da coragem do homem do Sertáo.
2.2. Joáo Calangro Alguns cangaceiros adotaram a defesa dos retirantes sertanejos como o célebre José Rodrigues, que assaltava carros na estrada, tomava os alimentos e distribuía com os famintos. 27 Jo3o Calangro inicialmente distiguiu-se por sua lula contra os ladróes de gado e pela prote9ao que dava aos pequeños povoados nos dias de feira. Devido a essas afóes, a popula?ao nele confiava. Tanto fazendeiros como senhores de engenho, disputavam sua ajuda quando grupos de malfe tores comesavam a atacar os lugarejos.
25
Verso de Folheto de Cordel. Autor desconhecido. Citado por Julio José Chiav:nato, op. cit., p. 31.
26 27
Julio José Chiavenato, pp. 32/33. María Isaura de Queiroz, Os Cangaceiros, Sao Paulo 1977, p. 64.
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Como as autoridades públicas nao conseguiam diminuir o perigo dos retirantes, Jo3o Calangro foi convidado para substituir a a?áo dos policiais. Esse cangaceiro pertencia inicialmente ao grupo de jagun?os comandados por Inocencio Vermelho. O bando de Inocencio era mantido pelo Juiz de Direito do municipio de Jardim (Ceará) para reprimir os grupos de retirantes que amea^avam as vilas e circunvizinhangas. Originalmente, esse grupo era urna espécie de milicia cuja fun^ao era a de manter a ordem pública. Com a diminuido dos saques e a morte de Inocencio, o Juiz do municipio nega-se a continuar mantendo financeiramente o grupo. Joáo Calangro contrapóe-se a vontade do Juiz e foge, levando armas. A partir de entáo, passa a ser perseguido como criminoso e torna-se cangaceiro, vivendo clandestinamente. Em junho de 1876, com a morte de Inocencio Vermelho, Joáo Calangro assumiu o comando do bando. A seca fez esse cangaceiro tornar-se personagem famoso e respeitado. Todavía, antes de chegar a ser um chefe importante, teve Jo3o Calangro de vencer os Quirinos e os Viriatos, seus rivais. Vaidoso, com o posto que galgara, exigiu que o chamassem de General Brigadeiro Joáo de Souza Calangro. 28 Em 1879, a seca chegou ao término e o sertao voltou a ser a térra de seu povo. Como os retirantes deixaram de existir, os chefes políticos locáis, nao quiseram manter a autoridade de Joao Calangro. Mas, Calangro nao quis entregar seu posto, por isso foi perseguido como bandido. Em consequcncia dcsse fato come9a um verdadeiro conflito entre Calangro de um lado e a polícia com suas volantes do outro. Boa parte da popula?ao ajudava os cangaceiros, contribuindo para que fugissem da perseguido da polícia. Calangro conseguiu refugiar-se em Barbalha na casa do padre Manoel Antonio de Jesús, poprietário do sitio Silvério. Esses bandos independentes tém profunda ligado com a estiagem. No final do século XIX, o cangago independente, sem vinculado com a seca e a miseria dos retirantes, continuou a existir. Os chefes dos bandos independentes tratavam os chefes políticos e de parentela, como seus iguais, nao se colocando como submissos.
28
Idem, pp. 65/66.
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2.3. Jesuíno Alves de Meló Calado (Jesuíno Brilhante) O primeiro cangaceiro a ser aclamado como herói popular foi Jesuíno Alves de Meló Calado, conhecido por Jesuíno Brilhante. Jesuíno correspondía exatamente ao estereótipo do cangaceiro "romántico": aquele justiceiro que, em nome do povo, assaltava os "ricos" e distribuía a riqueza com os pobres. Jesuíno Brilhante nasceu a 2 de Janeiro de 1844, no municipio de Imperatriz, hoje Martins, no estado do Rio Grande do Norte: filho do também potiguar Jo3o Alves de Meló Calado e Alexandrina Brilhante de Alencar, de familia cearense, que tiveram cinco filhos: Jesuíno, Jo3o, Lucas, Lucio e Joaquina. Jesuíno casouse em 17 de Novembro de 1863 com a prima Carolina, passando a morar na fazenda Timbú de sua propriedade. Do casal nasceram quatro filhos: Filomena, Alexandrina, Francisca e Joáo. O fato que levou Jesuíno a entrar no cangafo em 1871, foi urna disputa entre sua familia e a dos Limóes. Era conhecido pelo respeito com que tratava as mulheres e nao permitía que os homens de seu bando praticassem qualquer violencia contra elas; ficou também conhecido pela p r o t e j o que oferecia aos desprotegidos. Socorría os amigos injustigados; Jesuíno n3o matava para roubar. Devido a essas a9óes o povo o aplaudía e rezava para Deus protegé-lo. A organizado dos grupos de cangaceiros era baseada numa hierarquia de disciplina extremamente rígida, onde o líder deveria ser obedecido incondicionalmente pelos demais membros, sob pena de serem mortos pelo chefe. Tanto no bando de Jesuíno como nos demais, havia um código de disciplina onde constavam as seguintes normas: 29 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10.
29
N3o trair o companheiro. N2o abandonar a arma em combate. N3o abandonar o companheiro ferido. Enterrar, sempre, os corpos dos companheiros mortos. N3o atacar coiteiros amigos. Respeitar as esposas dos companheiros. Obedecer, sem questionar, as ordens do chefe. N3o atacar padres ou igrejas. Poupar munido. Nao discutir ordens do líder com companheiros recém admitidos no grupo.
Bismarck Martins de Oliveira, op. cit., p. 77.
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É importante registrar que na época de Jesuíno, os bandos de cangaceiros tinham estrutura relativamente organizada, dispondo de fazendas em diversos Estados onde os coiteiros os abasteciam de armas e alimentos. É durante a seca de 1877/79 que Jesuíno Brilhante é consagrado herói. Quando a situado de penuria dos Estados nordestinos atinge níveis incontroláveis, as elites regionais aproveitam o ensejo para reivindicar aumento do número de volume de recursos destinados á regiáo, no que s3o atendidas. Entretanto, quase todos as verbas encaminhadas para o Nordeste, foram apropriadas pelos chefes políticos, coronéis e funcionários públicos. O povo faminto, ficou praticamente sem nenhuma ajuda. O escándalo foi bem maior no que se refere aos cambóios de alimentos destinados aos sertanejos flagelados. Os alimentos foram desviados por funcionários públicos e posteriormente vendidos ñas feiras causando revolta entre a populado flagelada. Jesuíno Brilhante, sabendo da corrupto que grassava no sistema de distribuid o de alimentos para os camponenses atingidos pela seca, cometa a assaltar os camboios que traziam os alimentos para o Sertño, distribuindo as cargas de alimentos com os flagelados. Esses atos praticados por Jesuíno, foram suficientes para torná-lo um mito entre os sertanejos.30 Por ser um cangaceiro "cordial", Jesuíno Brilhante conseguía, com facilidade, realizar acordos e aliabas com as familias tradicionais que o ajudavam com armas e alimentos. Percebe-se, dessa maneira, que ao tempo em que desagradava ás faajSes das elites nordestinas, era protegido por outras, o que caracterizava o caráter ambiguo de suas relaces. Mesmo contemporáneo do chamado "cangago independen te", Jesuíno Brilhante, apesar de ser bandido, conseguía a proeza de nao molestar as carnadas populares e, nem tampouco, algumas das familias tradicionais do Nordeste. Urna de suas "boas a?5es" pos fim á vida do bandoleiro mais temido da Paraíba: Luiz Viana. Para libertar seu irmáo, Lucas Brilhante, que estava preso em Pombal, municipio da Paraíba, Jesuíno assalta a cadeia pública da cidade e ainda liberta todos os presos, que passam a fazer parte de seu bando. Em dezembro de 1879, Jesuíno sofre urna emboscada do soldado preto Lim3o, causando-lhe a morte. 30
José Gregório Medeiros, Cangaceiro e Herói (Jesuíno Brilhante), Campiña Grande 1976.
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A literatura de cordel ao contar a historia de vida de Jesuíno Brilhante, mostra também a penuria vivida pelo sertanejo e o código de Justina e de moral que reinava no sertao. "O sertüo amigamente N3o era como hoje em dia O atraso dominava O homem n3o estudava Nem mesmo quando podia. Muitas vezes os amigos Eram unidos como irmaos Ñas quando havia urna intriga Entre aqueles cidadüos cíes faziam A lei com suas próprias müos. Ncsse meio de atraso Já crescendo a crianza Sem instruyo sem escola Sem meios de seguranza Só aprendia tres coisas O odio, o crime, a vingan?a. Bem sabemos que cultura Nao transforma a inclinado Ñas educa e orienta Traz a civilizasao Equilibra o raciocinio Melhora a civilizado. O mais triste acontecerá Porque numa fatal emboscada Estando o cabo Zé Limào Oculto numa curva da estrada Assassinou o chcfe do bandolciro Acabando urna bravura afamada." 31
31
José Alves Sobrinho, A Vcrdadcira Historia de Jesuíno Brilhante - Cangaceiro e Herói (Folheto de Cordel).
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É importante ressaltar que o poeta popular procurava registrar também as relagóes sociais e o abandono que o poder público deixava á populado sertaneja. Nesse verso o poeta chama a aten?3o para o problema do atraso da regiüo, apontando a falta de escola como um fator para a existencia do cangaceirismo. Vários folhetos relatam as a9oes de Jesuíno, perpetuando a imagem dele como defensor dos oprimidos, transformando sua imagem como um "bandido" romántico. "O cangaceiro romántico Protegía os devalidos As mo9as ultrajadas Os menores oprimidos Grande amigo da pobreza E dos menores favorecidos." 32 A representado que a literatura de cordel faz dos personagens ¡solados, n2o omite, contudo, o nivel de e x p l i c a r e s dos aspectos do mundo real que é simbolizado por formas ilusorias.
2.4. Manoel Baptista de Moráis (Antonio Silvino) Manoel Baptista de Moráis, que ficou conhecido como Antonio Silvino, foi "Rifle de Ouro, Rei do C a n g a ^ e Governador do SerUSo". Nasceu em 1896 no Estado de Pernambuco, filho de Balbina de Moráis, descendente dos Feitosas, dos Moráis e dos Brilhantes, e de Pedro Baptista de Almeida, o Bapiisiüo. Descendía, pois, de familias cujos conflitos marcaram o Nordeste. Baptistáo, pai de Antonio Silvino pertencia ao cía dos Cavalcanti Ayres, poderosa familia da Serra de Teixeira. A morte de Ildefonso Ayres, em 1875, de forma misteriosa, levou seu filho Silvino, a formar um bando para vingar a morte do pai, pedindo a ajuda dos dois filhos de Baptistáo, Manoel Baptista e Zefirino. Depois dessa vinganfa, os irmüos Baptista voltaram para junto do bando de Mansidáo, morto logo depois, o que leva Manoel Baptista a assumir a chefia do bando. Firmando sua atuafáo como chefe, Manoel Baptista, adotou o nome de Antonio Silvino em homenagem a seu padrinho Silvino Ayres.
32
Otacílio de Batista, Jesuíno Brilhantc (Folhcto de CoTdcl).
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Antonio Silvino foi o primeiro cangaceiro a ser regularmente cantado em versos pela literatura de cordel. Com ele cria-se o mito da invencibilidade do cangaceiro, devido à invocaçâo de forças inexplicáveis que o protegiam. "Por ai tem muita gente Que diz que sou encantado Meu encanto é porque corro Nâo espero por soldado Se eu nunca fui comandante Quero esse povo ao meu lado." 33 A partir de 1906, esse cangaceiro enveredou por um caminho individualista e ambicionou, através das armas, alcançar extensas áreas do Sertâo. Cometeu urna série de atos violentos e, finalmente, em 28 de novembro de 1914 foi ferido em combate, preso e condenado a trinta anos de reclusâo na penitenciária do Recife, capital de Pernambuco. Antonio Silvino também teve sua imagem de herói ligada às estripulias que aprontou pelos sertOes de vários Estados do Nordeste, e foi tâo temido e respeitado quanto Lampiáo. Resiste bravamente ao processo de modem izaçâo pelo quai passava o Nordeste no inicio do século XX, quebrando telégrafos e trilhos das estradas de ferro que passavam a cruzar a Caatinga. Ele perseguiu os Correios, tomando-lhes os malotes e queimando as correspondencias. Nâo admitindo que o progresso chegasse aos sertñes, tinha especial aversüo aos operários que construíam as estradas de ferro. Por esse motivo assassinou muitos dos operários que trabalhavam na construçâo de ferrovias. Seu òdio contra as estradas de ferro tinha urna razâo objetiva: as ferrovias facilitavam a chegada das volantes aos locáis onde os cangaceiros se escondiam. Essa pràtica do bando de Antonio Silvino é explicada também como tática de defesa contra as perseguiçôes sofridas pela policía. O cordel registrou o trajeto de Antonio Silvino desde seu nascimento, lutas, prisâo e morte. Embora sem fazer articulaçôes de causas estruturais.
33
Leandro Gomes de Barros, Antonio Silvino: O Rei dos Cangaceiros (Folheto de Cordel).
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"No ano mil oitocentos E setenta e cinco eu nasci No distrito de Afogados De Ingazeira - onde cresci Junto aos meus progenitores Com quem criei-me e vivi. "Como ninguém ignora, Na minha pátria natal Ser cangaceiro é a coisa Mais comum e natural Por isto herdei de meu pai Esse costume brutal... "Até os vinte e um anos Vivi calmo e sossegado, Desfrutando a mocidade Como um sertanejo honrado Porém nessa idade o crime Quis me fazer desgranado. "No ano mil oitocentos E noventa e seis (lembrando Inda estou) em Janeiro Meu pai foi assassinado. Por José Ramos da Silva E um subdelegado. "No Estado da Paraíba Com o Correio encontreime; Das malas que ele trazia Eu logo me apossei Entáo tomei testemunhas E as malas entao queimei. "Eu dei ao Correio as coisas Que a ele pertenciam, E queimei as malas porque Julguei que elas traziam Dinheiro e instru?5es Para os que me perseguiam.
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"Ao depois que cu tomei As malas dcsse Correio O governo entcndcu Que isto era um ato fcio E entilo em minha pista Urna grande escolta vcio."34 Antonio Silvino ficou conhecido lambem pela forma como tratava as mulheres. Ao casar-se com Juventina Maria da Conceigao (Tita), filha de um fazendeiro, pensou até em abandonar o cangafo. Após consultar coronéis e chefes políticos sobre essa idéia, escreveu urna carta ao governador do Estado do Rio Grande do Norte, pedindo permissáo para estabclcccr-se no Estado e, ofereceu seu apoio político ao governador. O governador enviou um grande número de policiais a sua procura com o intuito de prende-lo, frustrando, assim, a tentativa de Silvino de abandonar o canga^o. Na ca^a aos cangaceiros, as volantes cometiam inúmeras atrocidades com a populado das regióes por onde passavam. Isso levou as pessoas do Sertáo a temerem as volantes tanto quanto os próprios cangaceiros. Em 1912, os governadores dos Estados do Nordeste, nao suportando mais a presenta e a permanencia do cangaceirismo em seus Estados, assinam um tratado no qual o combate ao cangaceirismo seria conjunto. Os policiais teriam livre tránsito pelos Estados, aumentando o poder de combate dos grupos volantes. Mesmo assim, a luta por parte dos Estados contra o cangaceirismo sempre era ineficaz, devido: Primeiro: a dificuldade que a regiüo impunha aos policiais do ponto de vista geográfico e climático. Os cangaceiros estavam muito mais adaptados as intempéries da regiáo, e a conheciam muito bem, sabendo como torná-la aliada, náo ocorrendo o mesmo com as volantes. Segundo: os cangaceiros dispunham de coiteiros em quase todos os locáis do Sertáo. Contavam com a ajuda preciosa de coronéis e fazendeiros importantes, que os proviam de alimentos e munido, bem como os mantinham informados acerca da presenta das volantes; isso lhes permitía a fuga antes que a policia chegasse.
34
Francisco Chagas Batista, A Historia de Antonio Silvino (Folhcto de Cordel).
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Terceiro: a fragilidade das forças policiais de repressâo era evidente, urna vez que eram incomparavelmente inferiores aos bandos que perseguiam. Além do mais os policiais nâo eram preparados para as operaçôes que desenvolviam. Muitos nâo conheciam a regiâo sertaneja. Afora isso, os salários que os soldados recebiam eram irrisorios, além de serem pagos com atraso. Muitas volantes eram extremamente violentas com a populaçâo que deveriam defender, o que levava o povo a n3o colaborar com as milicias. 35 Durante o período em que passou na prisâo, sua mulher ía visita lo fielmente até sua soltura, mais de vinte anos depois, por ato do Presidente da República, Getúlio Vargas, que se interessava tanto por ele, a ponto de conseguir um emprego que possibilitasse ao famoso cangaceiro urna vida melhor. Mas Antonio Silvino nâo aceitou essa proposta. Em 1944, voltou a cidade de Campiña Grande, Estado da Paraiba, onde morreu no mesmo ano aos 48 anos de idade. Muitos afirmavam que após o firn do bando de Antonio Silvino, o cangaço seria finalmente extinto. Todavia, após seis anos da prisâo de Antonio Silvino, surge aquele que seria o maior e o mais temido de todos os cangaceiros e que permaneceu por muito mais tempo, agindo pelos Sertôes nordestinos, o quai foi denominado de Lampiào.
2.5. Virgulino Ferreira da Silva (Lampiâo) Virgulino nasceu em 12 de Fevereiro de 1898 na comarca de Vila Bela, em Pernambuco, filho de José Ferrreira e Maria José Lopes, que tiveram ao todo 10 filhos. A historia de Lampiâo é típica de guerras entre familias, perseguiçôes policiais e injustiças. Virgulino e sua familia foram colhidos por esses conflitos, levando-os a assassinar um inimigo que teria morto urna cabra deles. As desavenças com os poderosos locáis resulta na perda de seus roçados, pois, a familia Nogueira expulsa o pai de Virgulino de suas terras. A guerra é declarada e Virgulino Ferreira procura Sinhô Pereira, o famoso cangaceiro, contemporàneo de Antonio Silvino.
35
Maria Isaura de Queiroz, op. cit., pp. 71/81.
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Dois anos depois de entrar no grupo, Lampiâo assumiu o comando do bando, porque Sinhô Pereira abandonou o cangaço. Como o mais famoso e cantado bandido vai atuar ñas áreas do Sertâo, numa regiâo abandonada pelo governo, onde nâo há estradas, escolas, e a injustiça é praticada pelos poderosos. No Sertâo, predominam as relaçOes de trabalho semi-servis, e o trabalhador vive em péssimas condiçôes de vida. Como se isso nao bastasse, as guerras familiares intensificam os problemas enfrentados pela populaçào. O prestigio que o cangaço alcança, levou alguns chefes políticos locáis a solicitar o apoio de determinado bando independente de cangaceiros, forçando os adversários dos grupos apoiados pelos cangaceiros a buscarem o apoio da policía. Diante dessa realidade, a populaçào se dividía entre as pessoas que auxiliavam os cangaceiros, os chamados coiteiros e as que ajudavam as volantes, destacamentos móveis de polícia para combater o cangaço. Essas duas grandes facçôes em conflito existiram no Nordeste entre 1894 e 1940. Os mitos sobre o cangaço multiplicam-se. Os cantadores alimentam o mito do povo, através do registro da exaltaçâo da força dos cangaceiros. Todavía, a coragem e a violência nâo sâo suficientes para sustentar o mito, porque o medo também é um componente forte na crença do caráter diabólico ou heróico dos cangaçeiros. Nesse aspecto, Lampiâo é o símbolo por excelencia de seu povo. Nele está o mal, o bem, a miséria e o sofrimento. Nesse verso Lampiâo é apresentado como herói e defensor dos pobres, mas em outras é tido como bandido. "Prá haver paz no Sertâo E agente poder durmir Cumé, bebé e vestir Pelas festas vadiá Sem nunca se atrapaiá É preciso Lampiâo A polícia milita. Prá havê paz no sertâo E se as leis bem cumprida E as famia protegida E o povo pudê andá Sem medo de qualquer má Precisa que Lampiâo Dê sua opiniâo No diário oficial.
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Prá haver paz no sertño E as mogas pude prová E os rapaz se casá E o povo pude se ri E os menino se divertí É preciso urna inlei?ao Pra fazé de Lampiño Governador do Brasil."36 Sendo um símbolo tño marcante, Lampiño permanece como tal e é amado pela populado nordestina. A literatura de cordel traduz este sentimento e divulga a imagem do justiceiro tendo o como amigo dos pobres, como também como um fora da lei. Lampiño era tido como bandido para alguns e como herói para outros. Em torno de sua vida persiste urna grande mistificado. Prova desta veneragño é a grande quantidade de folhetos de cordel, que narram suas aventuras sob os mais diversos aspectos. Neste verso Lampiño é visto como bandido e covarde. "Agora caro leitor Pego licenza primeiro Para eu descrever a vida De um infeliz brasileiro Este ente é um bandido Porém vive arrependido Da vida de cangaceiro. Lampiño nño é valente Ele só tem covardia Como tem quem o proteja Por isso tem valentia Vou versar com preconceito O que Lampiño tem feito No Estado da Bahia."37
36
Verso de Folheto de Cordel citado por Bismarck Martins de Oliveira, op. cit., p. 75.
37
Laurindo Gomes Maciel, Lampiào Arrependido da Vida de Cangaceiro (Folheto de Cordel).
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Podemos destacar quatro faces da mistificagao cm rela?ao aos cangaceiros: a)
O mito alimentado ingenuinamente pelo povo que transforma Lampino em seu símbolo;
b)
O mito fabricado por seus perseguidores para esconder a incompetencia da cacada;
c)
A visáo ideológica de intelectuais, que vécm no banditismo de controle social a revolta do sertanejo contra a estrutura do poder;
d)
O mito vulgarizado pela imprensa que falsifica o canga^o e o scrt2o para favorecer o papel ideológico do Estado. 38
O personagem Lampiáo e também contado pela literatura de cordel como um bandido, um criminoso e malfeitor e perverso. Ncste sentido a sua a2-Gehalts in der Atmosphäre beiträgt. Zur Zeit gibt es noch keine hinreichenden Informationen darüber, in welchem Umfang die Brandrodungen in Amazonien zu diesem Prozeß beitragen. Es ist heute jedoch offensichtlich, daß der Anstieg an CO2 mit einer Erwärmung des Weltklimas in Zusammenhang steht, und zwar wegen des Treibhaus-Effekts, den das CO2 und einige andere "Treibhaus-Gase" in der Atmosphäre verursachen. Wenn der ganze Amazonas-Wald niedergebrannt würde, dann würden etwa 275 Milliarden t CO2 "freigesetzt". Einiges von diesem CO2 würde durch die natürliche Regeneration der Wälder wieder "eingefangen" werden. Der überwiegende Teil würde jedoch auf lange Zeit in der Atmosphäre verbleiben und deren C02-Gehalt um ca. 10% erhöhen.. Ein zusätzlich erschwerender Faktor besteht in dem Bau von großen Stauseen zur Elektrizitätserzeugung. Das Überfluten des durch den Damm geschaffenen künstlichen Tals erfolgt in der Regel, ohne daß zuvor die Bäume und die übrige Vegetation entfernt worden wären. So werden durch den Fäulnisprozeß im Wasser große Mengen an Gasen gebildet und in die Atmosphäre immittiert. Die Wälder spielen eine wesentliche Rolle für das hydrologische Gleichgewicht im Amazonas-Becken und darüber hinaus für das gesamte Staatsgebiet Brasiliens. Denn die Wälder tragen dazu bei, daß bei den hohen Niederschlagsmengen in Amazonien ein zu schnelles Versickern des Niederschlagswassers verhindert wird. Wenn dieser "Bremseffekt" durch die Vernichtung der Wälder wegfällt, so gelangt das Wasser schnell in die Flüsse und der Abfluß des Niederschlagswassers wird beschleunigt. Die Situation kann während der Trockenzeit in Amazonien noch dramatischer werden. Es ist von Wissenschaftlern festgestellt worden, daß es schon jetzt einen "hydrologischen Streß" in einigen Gebieten während der Trockenzeit gibt: Die Trockenperioden werden länger, und das Grundwasserniveau sinkt erheblich. Eine Herabsetzung der jährlichen Niederschläge um 600 mm - wie sie in einigen
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Bereichen Amazoniens nach der Entwaldung zu erwarten ist - wird zwangsläufig zu einer massiven Veränderung in der "biologischen Landschaft" führen müssen. Wenn der Wasserkreislauf in der bisherigen Weise erhalten bleiben soll, dann dürfen die Formen der Landnutzung sich nicht allzu sehr von der natürlichen Vegetation unterscheiden.29 Erinnert sei noch daran, daß das Amazonas-Flußsystem wegen der Süßwasser-Reserven eines Tages nicht nur für Brasilien (und dort nicht nur für den trockenen Nordosten), sondern für den ganzen Kontinent, ja für den Globus von überlebenswichtiger Bedeutung werden kann.
5.6.2 Regionale und lokale Auswirkungen der Entwaldung Nicht alle negativen Folgen der Waldvernichtung in Amazonien wirken sich national oder/und global aus. Manche sind eher in ihrer Reichweite begrenzt: a) Auswirkungen auf die Böden und auf landwirtschaftlich genutztes Land: Wer nicht mit Amazonien vertraut ist, hat oftmals die - falsche - Vorstellung, daß das Land eben ist. Das stimmt zwar für einige Bereiche des AmazonasBeckens. Es gibt jedoch in anderen Bereichen eine Topographie mit steilen Abhängen; in diesen Gebieten wird die Bodenerosion zu einem ernsten Problem, da nach der Entfernung des Waldes aufgrund der starken Regenfälle die fruchtbare Erde weggeschwemmt wird. Der Nährstoffgehalt der Böden geht schnell zurück, wenn er nicht durch chemische Düngemittel ersetzt wird, d.h. wenn nicht ein massiver "input" an Energie von außen - unter erheblichen finanziellen Kosten erfolgt. b) Auswirkungen der Entwaldung auf die Wanderlandwirtschaft: Diese traditionelle Form der Landwirtschaft hatte keine negativen Folgen für das ökologische Gleichgewicht, da das jeweils kultivierte Gebiet klein war und die Erholungsperioden für den Boden sehr lang waren - üblicherweise 10 bis 15 Jahre. Wenn jedoch größere Waldflächen in Ackerland verwandelt und die Brachzeiten verkürzt werden, dann wird dieser Rhythmus unterbrochen, und die Degradierung der Böden ist die unausweichliche Konsequenz. Der Wald ist zwar
29
Vgl. Diegues 1992.
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in der Lage, ein kleines Stück Land, das der Mensch genutzt hat, aus eigener Kraft zu regenerieren. Diese Fähigkeit geht ihm jedoch dann verloren, wenn große Flächen entwaldet und über längere Zeit wirtschaftlich genutzt werden. Die Regenerierung des Waldes erfordert ein "Waldmanagement", das seit langer Zeit in Amazonien gebräuchlich ist: Nach dem Entfernen des Waldes wird die gerodete Fläche unverzüglich mit Subsistenz-Nahrungsmitteln - z.B. Reis, Bohnen, Mais und Maniok - bepflanzt. Nach zwei oder drei Jahren sinkt die Bodenfruchtbarkeit ab. Der Ort wird verlassen, und die Menschen suchen einen neuen geeigneten Ort für die Fortsetzung ihrer Subsistenz-LandWirtschaft. Auf dem verlassenen Gelände beginnt die Regeneration des Waldes mit einem natürlich entstehenden Sekundarwald, der capoeira genannt wird. Bei dieser Art von Landwirtschaft wird nur eine kleine Fläche für den Anbau freigemacht. Das genetische Potential für die Regeneration des ursprünglichen Waldes bleibt erhalten. Nach wenigen Jahrzehnten sieht die capoeira fast so wie der übrige Wald aus - nur die Stämme der Bäume sind nicht so dick wie die des alten Waldbestandes. c) Auswirkungen auf die traditionelle Überschwemmungs-Landwirtschaft: Das Land, das periodisch unter Wasser steht und überschwemmt ist, umfaßt etwa 5 Prozent der Fläche Amazoniens. Darauf wurde früher Reis und wird in neuerer Zeit Jute kultiviert. Dieser Typ Landwirtschaft ist von Indianern und Flußbewohnern seit Jahrhunderten praktiziert, gepflegt und entwickelt worden. Värzea oder Landwirtschaft in Überschwemmungsgebieten wird immer risikoreicher, je weiter die Entwaldung fortschreitet, da aufgrund dieses Eingriffs des Menschen in die Natur sich die Überschwemmungs-Zyklen verändern. d) Auswirkungen der Entwaldung auf die traditionelle Binnenfischerei: Bis vor kurzem waren alle Siedlungen in Amazonien entlang der "Wasserstraßen" konzentriert, die in dieser Region als ein natürliches "Wege-System" dienen. Wichtigstes Nahrungsmittel der Flußbewohner war der Fisch. Ein Rückgang der Fangergebnisse (wie er sich andeutet) würde die Menschen vor kaum lösbare Schwierigkeiten stellen. Neuere Untersuchungen haben deutlich gemacht, daß Früchte und Samen der Waldvegetation, die während der Hochwasserperiode in die Russe fallen, einen wesentlichen Bestandteil der Ernährung der Fische darstellen. Diese enge Beziehung zwischen Wald und Fisch ist jedoch nur für die weißen Forscher eine "Entdeckung"; dieser Zusammenhang war den Indianern und den caboclos schon seit
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langer Zeit bekannt. Die Bevölkerung Amazoniens ist auf Reis und Fisch als Grundnahrungsmittel angewiesen. Es wird sicherlich mehr Reis verzehrt, jedoch ist Fisch der Hauptlieferant von Proteinen. e) Auswirkungen der Entwaldung auf die biologische Vielfalt' Die Entwaldung reduziert die Produktion von Brasilnüssen (Berthollitia excelsa) und Kautschuk (Hevea brasiliensis), Rosenholz-Öl etc. Oftmals werden Gebiete mit diesen grundsätzlich erneuerbaren natürlichen Ressourcen entwaldet und in Weiden verwandelt. Biologen weisen seit längerer Zeit schon auf die Notwendigkeit hin, die in Amazonien vorhandene genetische Vielfalt zu erhalten, da die Gefahr besteht, daß diese Ressourcen vernichtet werden, bevor sie überhaupt wissenschaftlich registriert worden sind.
5.7
Entwicklungs-Strategien für Amazonien im Wandel
Das Hauptziel bei der Entwicklung Amazoniens war, das nur dünn besiedelte Gebiet - geopolitisch-militärisch formuliert - für Brasilien durch Brasilianer zu "okkupieren". In der Anfangsphase war die Politik bemüht, arme, landlose Bauern und ihre Familien aus dem Nordosten und dem Süden des Landes in den "leeren" Wäldern Amazoniens anzusiedeln. Diese Siedlungspolitik führte nicht zu einer Vernichtung des Waldes in größerem Umfang. Der Bau des ausgedehnten Straßennetzes, das Amazonien mit dem Rest Brasiliens verband, hatte hingegen einen sehr negativen Einfluß auf die tropischen Regenwälder. Fremde "Hilfe" und Investitionen "von außen" spielten bei der massiven "Erschließung" der nachfolgenden Zeit eine Schlüsselrolle. Darlehen der Weltbank und anderer Finanzinstitutionen begünstigten den Straßenbau und die Durchführung anderer Infrastrukturmaßnahmen. Eine Intensivierung der Entwaldung war die unausweichliche Konsequenz. Die neuen Siedler in Amazonien waren und sind nicht die Hauptverursacher der Waldvernichtung in den beiden letzten Jahrzehnten. Vielmehr haben finanzielle Anreize des Staates zur Förderung der Land- und besonders der Viehwirtschaft im großen Stil zu einer immer mehr und immer weiter expandierenden Entwaldung der "ewigen Wälder" Amazoniens geführt bzw. diesen Entwal-
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dungsprozeß beschleunigt. Voraussetzung für die Vergabe staatlicher Mittel war und ist der Nachweis, daß das Land in der Gegenwart genutzt wird. Diese Landnutzung wird mit Vernichtung des Waldes gleichgesetzt. Die großflächig und in großem Stil betriebene "Konversion von Wald in Weide" bietet den "Neu-Großgrundeigentümern" außer den staatlichen Vergünstigungen für ihr entschlossenes, zupackendes Handeln den Schutz vor der Invasion von Landlosen in dieses durch das Niederbrennen von Naturlandschaft zu "Kulturlandschaft" "fortgeschrittene" Land. Das verwüstete ehemalige Waldland fügt sich "harmonisch" in die vorgegebene neue strategische "Ordnung" ein. Viehzucht hat sich in Amazonien als eine nicht langfristig tragbare wirtschaftliche Aktivität erwiesen. Die Viehzüchter ziehen hieraus eine gerade nicht ökologische Konsequenz: Sie verlassen die degradierten, zertrampelten Weiden und verlegen ihre Aktivitäten in andere noch nicht tangierte Gebiete, die noch mit einer geschlossenen Walddecke ausgestattet sind. Der Wandel in den Okkupations-Schemata in Amazonien in den beiden letzten Jahrzehnten zeigt sich darin, daß man noch in den siebziger Jahren darauf abzielte, 70.000 Familien aus Nordost-Brasilien hier anzusiedeln. Dieses Projekt schlug insofern fehl, als heute nur etwa 8.000 Familien - nach amtlichen Angaben - im Rahmen dieses Programms hier neu angesiedelt wurden. Transnationale Unternehmen griffen auf Amazonien zu und überführten mehr als 7 Mio. ha in ihr Eigentum, um auf diesem Neuerwerb Land- und Viehwirtschaftsprojekte durchzuführen. Viele kleinere Parzellen, die bei dieser Neuorganisation der Landverteilung und -Zuordnung den in- und ausländischen Großunternehmen "zugeschlagen" wurden, sollten nach den ursprünglichen Regierungsplänen bäuerlichen Familien eine dauerhafte Lebensgrundlage bieten. 3 0
6.
Geschützte Naturlandschaften
Innerhalb der großen Vielfalt von Ökosystemen des Landes und des Wassers, die es in Brasilien gibt und die infolge der fortschreitenden Okkupation des Territoriums dabei sind, "transformiert" und oftmals sogar zerstört und vernichtet zu werden, wird die Einrichtung von Schutzgebieten immer notwendiger. Diese müssen als "genetische Banken" und als Grundlage für die Forschungen der zu-
30
Diegues 1992:14 f.
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künftigen Generationen, insbesondere auf medizinisch-pharmakologischem und auf ernährungswissenschaftlichem Feld, unbedingt erhalten werden. Die brasilianische Gesetzgebung, die sich auf diese Schutzgebiete bezieht, etabliert für ihre Gründung und Unterhaltung drei Ebenen: Bund, Länder und Gemeinden. Außerdem stellt diese Gesetzgebung die Möglichkeit der Existenz von im Privateigentum stehenden Schutzgebieten fest. In der Mehrheit der brasilianischen Bundesstaaten beginnt man, Schutzgebiete einzurichten, die der Hoheit der Länder unterstellt sind. Es gibt daneben auch städtische Parks {parques municipais). Diese Parks beschränken sich auf Gebiete, die innerhalb des "städtischen Gewebes" gelegen sind und die als Erholungs- und Freizeilparks genutzt werden. Unter der Verantwortung der Bundesregierung stehen Schutzgebiete, die in allen Bundesstaaten, die die Union bilden, gelegen sind. Für sie ist heute das IBAMA {Instituto Brasileiro do Meio Ambiente e dos Recursos Naturais Renováveis = Brasilianisches Institut für Umwelt und erneuerbare natürliche Ressourcen) zuständig. Diese Schutzgebiete umfassen die Nationalparks, die Biologischen Reservate, die Ökologischen Stationen, die Waldreserven, die Ökologischen Reserven und die anderen Gebiete, die dem Natur- und Umweltschutz unterliegen: 1. Parques Nacíonais sind Gebiete, die repräsentativ für wichtige natürliche Ökosysteme des Landes sind. Sie befinden sich auf Gelände, das schon Eigentum der Regierung war oder das durch sie erworben wurde. Ihre wichtigste Bestimmung ist die Erhaltung der dort vorhandenen Natur, sekundäre Ziele sind die Forschung und Gewinnung von Erkenntnissen. Der erste Nationalpark in Brasilien wurde im Juni 1937 geschaffen; es war dies der Parque do Itatiaia, der im Bundesstaat Rio de Janeiro gelegen ist. Er hat eine Fläche von fast 30.000 ha. In der Folgezeit wurde der Parque Nacional do Iguagu in Paraná im Jahre 1939 im Grenzgebiet zu Argentinien gegründet. Aus derselben Zeit stammt der Parque da Serra dos Orgäos in Rio de Janeiro. Heute gibt es in Brasilien 33 Nationalparks mit einer Gesamtfläche von 10.086.929 ha, die durch Regierungsdekrete errichtet wurden. Die Mehrheit dieser Nationalparks befindet sich in einer prekären Situation, da sie unzureichend geschützt werden und nur über wenig Personal verfügen, das darüber hinaus unzureichend ausgebildet ist. Bei mehr als der Hälfte dieser Nationalparks ist die Rechtslage nicht eindeutig definiert. Dies führt zu permanenten Übergriffen der in ihrer Nähe wohnenden Bevölkerung.
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2. Reservas Biológicas haben ähnliche Aufgaben wie die Nationalparks; sie sind ebenfalls auf Gelände im öffentlichen Eigentum gelegen und sollen bei der Konfiguration eines Systems von Schutzgebieten eine wichtige Rolle spielen. Es gibt heute 17 Reservas Biológicas, die zwischen den Jahren 1943 und 1989 gegründet wurden. Sie umfassen eine Gesamtfläche von 2.367.692 ha und sind auf acht Bundesstaaten verteilt. 3. Esta^öes Ecológicas sind Schutzgebiete, deren wichtigster Zweck die Durchführung wissenschaftlicher Forschungen ist. Sie wurden nach 1981 gegründet. Es gibt heute 31 Estagöes Ecológicas, die insgesamt 3.146.054 ha umfassen. 4. Reservas Florestais sind in der Amazonas-Region auf Gelände gelegen, das dem Bund gehört. Diese Schutzgebiete wurden alle schon 1961 eingerichtet. Man kann vom heutigen Standpunkt aus nur sagen, daß dies eine glückliche Vorwegnahme der zukünftigen Notwendigkeiten des Naturschutzes war. Das wichtigste Ziel ist der Schutz der ausgedehnten Gebiete, die mit natürlichen Wäldern bedeckt sind, gegen mögliche Aktionen, die sie zerstören oder in einer unangemessenen Weise nutzen würden und dadurch ihre physische Integrität beeinträchtigen würden. Es gibt acht Reservas Florestais mit einer Gesamtfläche von 15.213.000 ha in den Staaten Pará, Rondönia, Mato Grosso, Roraima und Amazonas. 5. Reservas Ecológicas gibt es nur drei in den Staaten des Amazonasgebiets und in Bahia. Sie umfassen insgesamt 1.133.809 ha. Sie erfüllen eine "Zwischenstations"-Funktion (oder man kann in ihnen auch eine "Vorstufe" zukünftig einzurichtender "ökologischer Stationen" sehen. Es handelt sich also hier um Gebiete, deren ökologischer Wert schon erkannt ist. Sie sollen durch den Bund enteignet werden. Für diesen Zweck sind sie schon "vorgemerkt". 6. Areas de Prote^äo Ambiental weisen eine Besonderheit innerhalb des Nationalen Systems der Schutzgebiete auf: Ihre Eigentümer sind weiterhin Privatpersonen; sie unterliegen jedoch einer speziellen Gesetzgebung, die die Aktivitäten regelt, die die Eigentümer in diesen Schutzgebieten ausüben dürfen: Innerhalb eines jeden dieser Gebiete gibt es Zonen der integralen Erhaltung; andere Zonen sind selektiv nutzbar und wieder andere sind frei für die verschiedensten Nutzungen.
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Für die Schaffung von Areas de Protegäo Ambiental ist es notwendig, daß diese Gebiete bedeutsame ökologische Charakteristika aufweisen und daß in ihnen lokale Bevölkerungsgruppen leben, die vorzugsweise Aktivitäten ausüben, die mit der Erhaltung der Natur in Einklang stehen und die die Erhaltung der "lokalen Kultur" begünstigen. Es gibt heute neun solcher Areas de Protegäo Ambiental; sie umfassen insgesamt 826.809 ha. In Brasilien gibt es also beträchtliche Gebiete, die nach dem Gesetz dazu bestimmt sind, die Natur zu erhalten und zu schützen. Jedoch gibt es drei wichtige Problembereiche, die sich als Hindemisse für die tatsächliche Erfüllung dieser Aufgabe darstellen: - Die Strukturierung der Überwachung und Kontrolle ist äußerst prekär; außerdem ist für die Mehrheit dieser Gebiete die Rechtslage nicht eindeutig geklärt; das beginnt schon mit dem Rechtscharakter des jeweiligen Gründungsakts. - Die Quantität und Qualität des Personals, das für die Überwachung und die Entwicklung der Aktivitäten verantwortlich ist, ist absolut unzureichend, besonders gilt das für die Schutzzonen, die sich in der Nähe von Wohngebieten befinden; hier findet ein ständiger Druck auf die Schutzgebiete statt. - Es fehlt an einer präzisen Definition der Aufgaben, welche die unterschiedlichen Typen der Schutzgebiete haben sollen. Es wäre eigentlich erforderlich und sinnvoll, eine Neuklassifizierung vorzunehmen und die Grundlagen für ein "Neues Nationales System der Schutzgebiete" zu legen. Gegenstand verschiedener, aufeinander folgender Kontroversen war z.B. die Frage gewesen, ob es notwendig ist oder nicht, daß Parques Nacionais, Reservas Ecológicas und Estaqöes Ecológicas durch dasselbe staatliche Organ verwaltet werden. Aber warum sollen diese drei Kategorien nicht neu definiert werden? Ein weiterer Problembereich ist das Nichtvorhandensein von wissenschaftlichen Arbeiten, die in den Schutzgebieten durchgeführt wurden. Die Distanz zwischen den Forschern und Wissenschaftlern und der öffentlichen Verwaltung der Schutzgebiete ist sehr groß, was ein gemeinsames Vorgehen wesentlich erschwert. Die Schutzgebiete müssen endlich rechtlich eindeutig definiert werden. Aber ein nur defensiver Einsatz des Rechts und seiner Möglichkeiten zur Konservierung von Reservats-Nischen für Natur und Mensch reicht schon mittelfristig
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nicht aus, um das Überleben der Menschen - auch nicht in einem so kontinenthaften Land wie Brasilien - sicherzustellen. Rechtsetzung, Gerichte und Verwaltung müssen vielmehr ihre Instrumente aktiv und militant einsetzen, um der Aggression effektiv zu begegnen.
7.
Antworten des Rechts auf die ökologischen Herausforderungen
7.1
Umweltrecht und -Verwaltung zwischen Stockholm 72 und Rio 92
Die Haltung Brasiliens vor 20 Jahren hinsichtlich der Natur- und Umweltprobleme findet sich in dem Satz konzentriert: "Bemvinda a polui?äo, porque atenua os problemas da miseria, gerando empregos e riqueza!" ("Willkommen sei die Verschmutzung, da sie die Probleme des Elends mildert, indem sie Beschäftigung und Reichtum schafft!") In den beiden vergangenen Jahrzehnten hat sich in Brasilien manches getan: Schon 1973 gab die Zentralregierung zum ersten Mal der Umweltpolitik dadurch einen institutionellen Rahmen, daß sie die Secretaria Especial do Meio Ambiente (SEMA ="Umweltbundesamt") schuf. Obwohl diese Secretaria in den ersten Jahren schwach war und praktisch über keine Ressourcen verfügte, so wurde sie doch zum Kern, um den herum die ganze Umweltgesetzgebung und -Verwaltung Brasiliens sich entwickelte. Zu nennen ist insbesondere die Lei Nacional do Meio Ambiente (Lei No. 6.938/81), ein Gesetz, das nach umfangreichen Diskussionen verabschiedet wurde und unter dessen zentralen politischen Zielen sich die Bildung eines "Nationalen Systems der Umwelt" (SISNAMA = Sistema Nacional do Meio Ambiente) und eines "Nationalen Umweltrats" (CONAMA = Conselho Nacional do Meio Ambiente) finden. Der Umweltrat kann Beschlüsse über die großen Umweltprobleme des Landes fassen. Er trat jedoch erst 1984 zusammen, entfaltete aber nach dem Ende der Militärherrschaft 1985 - die Militärs waren diesem Umweltrat mit großem Mißtrauen begegnet - vermehrt seine Aktivitäten. Der Rat beschäftigte sich z.B. mit dem Einsatz toxischer Substanzen in der Landwirtschaft, mit der Kontrolle der Verschmutzung durch Kraftfahrzeuge und mit der Schaffung von Schutzgebieten.
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Auf der Ebene der einzelnen "Bundesländer" wurde seit 1975 damit begonnen, Institutionen zu schaffen, die für die Umweltkontrolle verantwortlich waren: Die ersten Länder waren Säo Paulo und Rio de Janeiro; es folgten Minas Gerais, Bahia, Paraná, Mato Grosso, Rio Grande do Sul - und die letzten waren die Amazonas-Staaten. Die Ebene, auf der in den verschiedenen Bundesstaaten der Umweltschutz institutionalisiert ist, ist sehr unterschiedlich: Die Staaten Säo Paulo und Rio haben Secretarias de Estado do Meio Ambiente, die politisch stark und personell, technisch und finanziell recht gut ausgestattet sind. In beiden Staaten haben die Secretarias mehr als 3.000 Mitarbeiter; sie arbeiten in einer Weise, die für das übrige Land Modellcharakter hat Daneben gibt es Bundesstaaten, in denen die Umweltbehörden aus wenigen, schlecht ausgebildeten und schlecht bezahlten Technikern bestehen, die darüber hinaus noch über zu knappe Ressourcen verfügen. Die große Mehrheit der Gouverneure hat die Bedeutung der Umweltfragen nicht begriffen und folglich für den Umweltschutz wenig Verständnis, den sie als sekundär ansehen und dem sie daher nicht die erforderlichen Ressourcen zuweisen. Mit der Verfestigung der Demokratie und mit dem wachsenden Umweltbewußtsein der Menschen wird vielleicht ein Wandel zu erreichen sein, insbesondere dann, wenn die ökologischen Verfassungsprinzipien in die Rechtsetzung (Legislative) auf allen Ebenen (Bund, Länder und Munizipien) eindringen und das Denken und Verhalten der entscheidungsbefugten Organe der übrigen öffentlichen Gewalten (Exekutive und Judikative) prägen werden.
7.2
Die Bundesverfassung von 1988: Abgehobene Prinzipien • mangelnde Umsetzung?
Welche sozialen Gruppen an den Formulierungen der demokratischen Verfassung partizipierten, kann hier nicht dargelegt werden. Die Beratungen der Entwürfe wurden in der Öffentlichkeit nach fast einem viertel Jahrhundert Diktatur mit großem Interesse verfolgt. Während der Sitzungen des Verfassunggebenden Kongresses (1987/88) traten die Umweltschützer zum ersten Mal als "Lobby" auf. Der Abgeordnete Fabio Feldman koordinierte mit Fleiß und Zähigkeit die Umweltaktivitäten in der Verfassunggebenden Versammlung und fungierte als Transmissionsriemen zwischen nationaler Ökologie-Bewegung und Verfassungs-Kongreß. Er hat einen wesentlichen Anteil daran, daß der Umweltschutz in angemessener Weise Ein-
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gang in den Text der Bundesverfassung gefunden hat Die Ökologie-Bewegung betätigte sich - nach diesem Erfolg auf Bundesebene - auch als "pressure group für Natur und Umwelt", als es in der Hälfte der Bundesstaaten darum ging, in den Jahren 1988/89 den Umweltschutz in den Länderverfassungen zu verankern.31 Unter den Prinzipien der Bundesverfassung (Constituigáo Federal) von 1988 sind wegen ihrer Bedeutung für die Definition und die Konsolidierung einer Umwcltpolitik die folgenden "Leitsätze" hervorzuheben: 1) "Alle haben ein Recht auf eine ökologisch ausgeglichene Umwelt." ("Todos tem direito no meio ambiente ecológicamente equilibrado." = Art. 225 Constituido Federal.) Die Konzeption des ökologischen Gleichgewichts muß in den konkreten Fällen gemessen und festgestellt werden, und die Gesetzgebung wird dafür Sorge tragen müssen, Normen zu erlassen, die in der Lage sind, bestimmte Verhaltensweisen der Individuen und/oder der Gesellschaft zu verlangen und - gegebenenfalls - zu erzwingen. 2) "Die Umwelt ist ein Gut zum allgemeinen Nutzen des Volkes." ("O meio ambiente é bem de uso comum do povo.") Die Verfassung stellt also klar, daß das Konzept "Umwelt" über den Begriff der privaten oder öffentlichen Sache hinausgeht. Dieser Ansatz zeigt, daß die Meinung, die das Eigentum an der Umwelt als eine eher private Angelegenheit sieht, von der Verfassung nicht geteilt wird. 3) "Eine ökologisch ausgeglichene Umwelt ist essentiell für die gesunde Lebensqualität." ("O meio ambiente ecológicamente equilibrado é essencial a sadia qualidade de vida.") Der Text der Verfassung betont den Aspekt, daß die Verteidigung der Umwelt insgesamt oder ihrer einzelnen Bestandteile nichts Sekundäres oder Akzessorisches ist, sondern daß es sich um ein essentielles Gut handelt, d.h. daß die Umwelt ein "wesentlicher Bestandteil" des Lebens selbst ist. 4) "Die öffentlichen Gewalten und die Gesellschaft haben die Verpflichtung, die Umwelt für die heutigen und zukünfigen Generationen zu erhalten und zu
31
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verteidigen." ("O Poder Püblico e a coletividade tem o dever de preservar e de defender o meio ambiente para as presentes e futuras gera^öes.") Es handelt sich hier nicht nur um eine Ethik des Überlebens für die menschliche Gattung. Bei der Raumplanung, bei der Nutzung des brasilianischen Territoriums dürfen die kurz- und mittelfristigen gesellschaftlichen und individuellen Bedürfnisse nicht zu Lasten der langfristigen realisiert werden. 5) "Das Eigentum wird garantiert, aber es muß mit den gesellschaftlich-sozialen Interessen in Einklang stehen." (Art. 170, II, III CF.) Auch das öffentliche Eigentum muß eine gesellschaftlich-soziale Funktion erfüllen. Eine dieser Funktionen ist, die Umwelt zu respektieren. Es gibt daher kein Eigentumsrecht am Rande des gescllschaftlich-sozialen Rechts, sondern dieses existiert nur in Harmonie mit den Aspirationen und den gesellschaftlichen Bedürfnissen. Das Recht kann Situationen vorsehen, in denen die Beachtung der sozialen Funktion des Eigentums dem zuwiderhandelnden Eigentümer Strafen auferlegt, die teilweise Nutzung des Eigentums verhindert, ja sogar der vollständige Verlust des Eigentums vorgesehen ist. 6) "Die Installation von Bauwerken oder die Durchführung von Aktivitäten, die potentiell beträchtliche Schädigungen der Umwelt hervorrufen können, hängt von der Durchführung eines öffentlichen Verfahrens ab, das 'Umweltverträglichkeitsprüfung' (Estudo de Impacto Ambiental - EIA) genannt wird." (Art. 225, 1, IV CF.) Die einfache Gesetzgebung wird klarstellen, in welchen Fällen ein solches Gutachten zu erstellen ist Die Bundesverfassung fordert, daß dieses Verfahren vor Bau- bzw. Betriebsbeginn öffentlich durchgeführt werden muß. 7) "Die Umweltschäden müssen repariert werden." (Art. 225,3 CF.) Es steht weder im freien Willen des Verschmutzers oder Schädigers, die durch sein Handeln verursachten Schäden zu beseitigen, noch im "Ermessen" der öffentlichen Verwaltung, deren Beseitigung zu fordern. Es ist eine Verpflichtung, die die Verfassung selbst als oberste Rechtsnorm im Land dem Verursacher auferlegt. Andererseits beseitigt die Zahlung einer Geldbuße oder einer Strafe oder die Erfüllung anderer Sanktionen nicht die Pflicht, den Schaden, der der Umwelt zugefügt wurde, zu beseitigen. 8) "Die natürliche oder juristische Person, die mineralische Ressourcen exploriert, ist zur Wiederherstellung der degradierten Umwelt verpflichtet, und sie hat
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dabei in Übereinstimmung mit der technischen Norm vorzugehen, wie sie von dem zuständigen öffentlichen Organ erlassen wurde." (Art. 225,2 CF.) Wenn der Explorateur mineralischer Ressourcen nicht die Wiederherstellung der Umwelt garantieren kann, kann seine Aktivität verhindert werden. 9) "Die besonders geschützten Räume und ihre Bestandteile können verändert werden. Ihr Schutz kann nur durch ein Gesetz aufgehoben werden." Die Verfassung hat nicht erwähnt, welches diese geschützten Gebiete sind. Die Einrichtung solcher Schutzgebiete ist dem Gesetzgeber oder der Exekutive übertragen. Schutzgebiete können folglich durch Gesetz oder durch Dekret geschaffen werden. Aber nur durch ein Gesetz können sie verändert oder beseitigt werden. Die Naturschutzgebiete genießen somit einen "relativen Bestandsschutz". 10) "Es ist die Pflicht der öffentlichen Gewalt, die Diversität und die Integrität des genetischen Erbes und Reichtums des Landes zu erhalten." (Art. 225, 1, II CF.) Der Exekutive des Bundes, der Länder und der Munizipien steht es nicht zu, darüber zu entscheiden, ob eine bestimmte Spezies erhalten bleiben soll oder ob die Art ausgerottet werden darf. Die Exekutive - auf allen drei Ebenen - hat vielmehr die gefährdete Art zu retten, und die dafür erforderlichen Vorkehrungen zu treffen. Die öffentliche Gewalt hat die Artenvielfalt auf dem gesamten brasilianischen Staatsgebiet zu sichern. 11) "Jedes Mitglied der Bundesregierung, der Länderregierungen und der Stadträte hat die Aufgabe, die Fauna und Flora zu schützen; es ist ihnen verboten zuzulassen, daß das Leben gefährdet wird, daß jemand Arten ausrottet oder Tiere grausam mißhandelt." (Art. 225,1, VII CF.) Das Unterlassen der Behörden wird durch die Verfassung selbst verurteilt. Es steht also nicht im Belieben der öffentlichen Gewalt, ob sie sensibel gegenüber der Fauna und Flora sein will oder nicht 12) "Der brasilianische Amazonas-Wald (floresta amazónica), der AtlantikWald (mata atlántica), das Meeresgebirge (Serra do Mar), das Pantanal von Mato Grosso und das Küstengebiet sind Erbe und Eigentum der Nation (patrimonio nacional)- Ihre Nutzung soll in der Weise und zu den Bedingungen geschehen, daß die Erhaltung der Umwelt, einschließlich der Nutzung der natürlichen Ressourcen, sichergestellt wird." (Art. 225,4 CF.)
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Der Gesetzgeber hat im Verfassungsartikel 225 einige Gebiete genannt, die ausdrücklich - nach dem Wortlaut der Verfassung selbst - als patrimònio nacional anzusehen sind, damit das besondere nationale Interesse sich auf diese Gebiete richtet. Es steht jedoch außer Zweifel, daß das gesamte Staatsgebiet Brasiliens den patrimònio nacional bildet. Die genannten geographischen Bereiche stehen zum Gesamten in einer unauflöslichen Einheit. Ein einfaches Gesetz wird - in der Zukunft - definieren, wie die Nutzung des Amazonas-Waldes und der übrigen in der Verfassung genannten Gebiete erfolgen soll. Aber dieses Gesetz wird den Buchstaben und den Geist der Verfassung beachten müssen. Die natürlichen Ressourcen - einschließlich der mineralischen - werden nur erforscht werden können, wenn diese Aktivitäten offensichtlich die Umwelt nicht angreifen. Ob Legislative, Exekutive und Judikative ihr Handeln und ihre Entscheidungen in den vergangenen fünf Jahren wirklich von diesen "Öko-sozialen" Prinzipien haben leiten lassen, ist bei der geringen Transparenz brasilianischer Politik nicht eindeutig positiv oder negativ zu beantworten. Aber die Fragen, die sich aus der Aufnahme eines "Staatszieles Umweltschutz" in den Verfassungstext ergeben, stellen sich ja nicht nur für und in Brasilien!
7.3
Ebenen der Verwaltungsstruktur • conselhos
In Brasilien - wie in der ganzen Welt - ist die Institutionalisierung der Umweltkontrolle durch die "öffentliche Gewalt" erst ziemlich neuen Datums. Der Umweltschutz dient in erster Linie der Gesellschaft als ganzer, also dem Zusammenleben der Menschen. Da die Ressourcen knapp sind, ist die Frage, über die es bisher keine Übereinstimmung gibt, innerhalb welcher Gesellschaft der Umweltschutz und die Nutzung der Ressourcen zu erfolgen hat, d.h. ob die nationale Gesellschaft oder die Völkergemeinschaft zuständig ist, und wie diese Ressourcen aufgeteilt werden sollen. So einfach es ist zu sagen, daß den Nutzen und die Vorteile aus der Natur und Umwelt die Menschen haben sollen, so schwer ist es doch zu spezifizieren, welche Staaten/Gesellschaften und welche gesellschaftlichen Gruppen die Vorteile erhalten sollen und welche die Kosten bezahlen müssen. Aber Natur- und Umweltschutz sind nicht Aufgaben der Regierungen allein; diese haben vielmehr die Partizipation der Bürger zu stimulieren, damit diese am
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Entscheidungsprozeß teilnehmen. Erst in einem solchen Prozeß wird es möglich sein, die scheinbar konträren Konzepte von Ökonomie und Ökologie miteinander in Einklang zu bringen. Es ist ein Recht und eine Pflicht der Gesellschaft, auf die Politik der Regierungen Einfluß zu nehmen, damit Entwicklungs- und Umweltpolitik korrigiert und harmonisiert werden. Ziel der Umweltgesetzgebung ist es, auf der Grundlage der Gesellschaft und ihrer Regierung und unter Zugrundelegung der vorgefundenen Umweltsituation die Umweltauswirkungen - insbesondere von menschlichem Tun und Unterlassen - in den Blick zu nehmen. Dazu sind Erhebungen, Analysen und Evaluierungen über die Umweltverträglichkeit der Entwicklungsprojekte unbedingt erforderlich. Die Informationen über die Umweltsituation müssen objektiv, verständlich und leicht zugänglich sein, damit sie effektiv von der Gesellschaft und den Umweltgruppen genutzt werden können. Andererseits muß die Regierung die Meinungen und Vorschläge der Öffentlichkeit sammeln und berücksichtigen und im Wege der Umwelterziehung Einfluß auf die Gesellschaft nehmen. Es ist wünschenswert, auf Länderebene eine Kohärenz mit den Prinzipien der Bundesgesetzgebung herzustellen und Umweltpolitiken zu verfolgen, die im gesellschaftlichen Kontext der Länder verwurzelt sind. Dazu wäre es hilfreich, wenn ein jeder der brasilianischen Bundesstaaten einen Conselho Estadual do Meio Ambiente - in Anlehnung an den Conselho Nacional do Meio Ambiente (CONAMA) - als ein kollegiales Organ einrichten würde, an dem die unterschiedlichen Sektoren der Gesellschaft - entsprechend den jeweiligen Besonderheiten vor Ort - beteiligt wären. Die Erfahrungen aus verschiedenen brasilianischen Bundesländern zeigen, daß diese Conselhos effektiver arbeiten, wenn sie entscheidungsbefugt sind und wenn sie Formen finden, wie sie die Partizipation aller Beteiligter erreichen können. 32 In der Bundesgesetzgebung sind auf Munizip-Ebene Conselhos Munizipais de Defesa do Meio Ambiente (Kommunale Räte zur Verteidigung der Umwelt) vorgesehen. In den Präfekturen sollen diese Räte exekutive Unterstützung finden (Departamento oder Divisäo). Der Umweltschutz auf dieser unteren Ebene kommt leider erst allmählich und mit Verzögerungen in Gang, obwohl er wichtige Aufgaben haben könnte. Z.B. könnten die Conselhos Municipais "öffentliche
32
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Anhörungen" für die großen Projekte durchführen; sie könnten weiterhin Kampagnen zur Umwelterziehung und zur Bewußtmachung der Umweltproblematik durchführen und an der Erforschung der Umweltsituation auf kommunaler Ebene teilnehmen. 7.4
Umweltpolitik und -Verwaltung - Ein zusammenfassender Überblick
Die staatliche Umweltpolitik Brasiliens beschränkte sich lange im wesentlichen auf wohlklingende Deklarationen, denen kaum Taten folgten, und auf die Errichtung vieler Institutionen und Gremien. Besonders die Spitze der Umweltverwaltung war in den vergangenen Jahren wiederholten Umstrukturierungen unterworfen. Bereits 1973 wurde als Reaktion auf die UN-Umweltkonferenz von Stockholm 1972 mit der Secretaria Especial do Meio Ambiente (SEMA) eine erste (Bundes-)Umweltbehörde geschaffen. In den achtziger Jahren entstanden dann das Sistema Nacional do Meio Ambiente (SISNAMA) und der Conselho Nacional do Meio Ambiente (CONAMA), das oberste Beratungsorgan für die gesamtstaatliche Umweltpolitik. Die SEMA blieb das Ausführungsorgan der Exekutive, hatte jedoch mit vielen Schwierigkeiten zu kämpfen. 1989 erfolgte - nach Auflösung bereits bestehender Behörden - die Gründung des IB AMA, des Instituto Brasileiro do Meio Ambiente e dos Recursos Naturais Renováveis, das zur zentralen Institution für Koordination, Ausführung und Kontrolle der brasilianischen Umweltpolitik wurde. Unter Präsident Collor wurde 1990 das neue "Nationale Umweltsekretariat" (Secretaria do Meio Ambiente da Presidencia da República - SEM AM) direkt dem Staatspräsidenten unterstellt. Dessen erster Chef wurde der bekannte Umweltschützer José Lutzenberger. IBAMA blieb weiterhin für die Ausführung der Umweltpolitik zuständig. Schließlich wurde, nun bereits unter (Vize-)Präsident llamar Franco, im Oktober 1992 das "Ministerium für Umwelt" (Ministério do Meio Ambiente) geschaffen und somit die brasilianische Umweltpolitik auf Bundesebene wiederum neu organisiert Im September 1993 wurde dieses Ministerium mit dem "Sonderministerium für Angelegenheiten des Amazonasgebietes" zum "Ministerium für Umwelt und für Fragen des Amazonasgebietes" vereint Auf der Ebene der "Bundesländer" finden wir die entsprechenden Landesumweltministerien sowie die "Landesumweltämter", deren Bezeichnung jedoch
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stark von Land zu Land variiert Im Bundesstaat Säo Paulo firmiert dieses Amt als Companhia de Tecnología e Saneamento Ambiental (CETESB = Gesellschaft für Umwelttechnologie und -Sanierung). Im Land Rio de Janeiro hat die Fundagäo Estadual de Engenharia do Meio Ambiente (FEMEA) die Aufgabe des "Landesumweltamtes" übernommen. Auf der unteren Verwaltungsebene, den Munizipien, sind Secretarías Municipais als kommunale Umweltämter eingerichtet worden. Die staatlichen Institutionen zum Umwelt- und Naturschutz sind nur unzureichend finanziell und personell ausgestattet und können schon deshalb nicht das politische Gewicht haben, das unbedingt notwendig wäre, damit sie den Bedrohungen für Umwelt und Natur begegnen könnten. 33
7.5
Kritische Würdigung von Umweltrecht und Umweltverwaltung in Brasilien
Die Mehrheit der brasilianischen Bevölkerung tritt heute für ein ausgeglichenes Verhältnis zwischen "Umwelt und Entwicklung" ein, wobei allerdings nicht übersehen werden darf, daß es auch jetzt noch Minoritäten gibt, die der ökonomischen Entwicklung oder der Umwelt absolute Priorität einräumen Die Bedeutung, die die Umweltproblematik in Brasilien erlangt hat, findet in einer relativ fortgeschrittenen (und "fortschrittlichen") Gesetzgebung ihren Ausdruck. Jedoch klaffen die Verhaltensweisen der Einzelnen und ihr Bewußtsein "in Sachen Umwelt" oft noch weit auseinander: Es sind nur sehr wenige (selbst unter den "militanten" Umweltaktivisten), die ganz zielgerichtet ihren Alltag nach den Kriterien einer effektiven Ausnutzung der Energie, nach den Recycling-Möglichkeiten der verwendeten Materialien, nach der Verringerung des Konsums von Luxusgütern und der Sauberhaltung der Umwelt ausrichten. Die Politik befindet sich zur Zeit auf halbem Wege zwischen einem Diskurs und einer Gesetzgebung, die hinreichend die Umwelt berücksichtigen, und einem Verhalten der Einzelnen und der Gesellschaft insgesamt, das im höchsten Maße umweltschädigend ist. Einerseits hat die Politik dazu beigetragen, ein System des Umweltschutzes zu etablieren; andererseits ist die öffentliche Gewalt -
33
Vgl. die Zusammenfassung bei Wöhlcke 1989:102f.
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Verwaltung und Justiz - nicht in der Lage, zu bewirken, daß die Einzelnen und die Unternehmen ihren Anteil bei der Erfüllung der Umweltgesetze leisten. 34 Die brasilianische Umweltgesetzgebung hat in den vergangenen Jahrzehnten beträchtliche Fortschritte gemacht, und es kann gesagt werden, daß - beginnend mit der Verfassungsebene - im Land Rechtsnormen gelten, die, wenn sie korrekt und konsequent angewandt und durchgesetzt würden, Instrumente einer effektiven Umweltpolitik sein könnten. Die Lei Nacional do Meio Ambiente No 6.938 vom 31. August 1981, die zur Durchführung erlassenen Reglamentos und die Entscheidungen des Conselho Nacional do Meio Ambiente (CONAMA) und die Umweltgesetze der Länder waren wichtige Schritte bei der Konstruktion eines "legalen Rahmens" für die Kontrolle der Umwelt in Brasilien. 35 Zwar werden die Inhalte der Umweltschutznormen auch von kritischen Beobachtern und NGOs gelobt. Die "Kraft des Faktischen" zeigt jedoch ein massives Vollzugsdefizit der in sich noch lückenhaften Rechtssetzung. 36 Dies wird z.B. darin deutlich, daß bereits in den Rechtstexten selbst Möglichkeiten der Einschränkung der Exekution der Schutzbestimmungen vorgesehen sind; soweit diese Texte nicht nur - fast "idealtypisch" - Verwaltungsverfahren normieren, sondern auch Sanktionen androhen, so sind diese einmal grundsätzlich zu niedrig angesetzt und werden darüber hinaus kaum im Wege prozessualer Verfahren - sei es durch die Verwaltungsbehörden oder die Gerichte - verhängt. Abstrakt-generell formuliert wird in Brasilien auch gelten: "Unkenntnis schützt vor Strafe nicht!"; praktisch-konkret jedoch bedeutet die Realität, daß auch Unrechtskenntnis und bewußtes, vorsätzliches und schuldhaftes Zuwiderhandeln in der Regel nicht zur angedrohten Strafe führt. Daher dürfte die Schlußfolgerung Wöhlckes wohl zutreffend sein: "Aber dieses Instrumentarium ist praktisch wirkungslos." 37 Oder anders gesagt: Umweltrecht und -Verwaltung sind notwendig. Sie können aber nicht volle Effizienz entfalten, wenn ihnen nicht private Organisationen durch ihr Handeln entgegenkommen und durch Erziehungs-, Bildungs- und Informationsarbeit, durch Protestaktionen etc. "aufklärerisch" und bewußtseinsverändemd wirken. Der Beitrag
34
Viola 1992:153.
35
Messias-Franco 1991:169.
36
Vgl. German 1987:285.
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der "Zivilgesellschaft in allen ihren Ausformungen" ist gefordert und muß das Handeln der öffentlichen Gewalten "von unten kommend" komplementieren, diesem "entgegenwachsen".
8.
Entstehung und Entwicklung des ambientalismo brasileiro
8.1 Anfange ökologischen Denkens in Brasilien Bereits seit dem 17. Jahrhundert gab es immer wieder Persönlichkeiten, die auf die negativen Folgen des Umgangs der Menschen mit der Natur in der Öffentlichkeit hinwiesen und dieses Verhalten anprangerten. Besonders zu erwähnen ist hier der französische Botaniker Auguste Saint-Hilaire, der in seinem klassischen Werk von 1833, "Viagem a Provincia de Säo Paulo e Resumo das Viagens ao Brasil", die Zerstörung der natürlichen Wälder dokumentierte und kritisierte. Er schrieb vielleicht das erste "Manifest" gegen das, was man den "wilden Kapitalismus" genannt hat, der in Brasilien bis heute dominiert.38 Als Vorläufer der Ökologie-Bewegung in unserem Jahrhundert kann Henrique Luis Roessler aus Säo Leopoldo (Bundesstaat Rio Grande do Sul) angesehen werden. Ihm gelang es, die Aufmerksamkeit der Bevölkerung vor Ort auf die Probleme der Umweltzerstörung zu lenken. Seit 1939 schrieb er über Umweltfragen in der Tageszeitung Correio do Povo/Rural. Er kritisierte schon damals das Vollzugsdefizit in der Exekution der lückenhaften Natur- und Umweltschutzgesetzgebung.39 Sein Freundeskreis, der nach Roesslers Tod 1963 seine Arbeit fortsetzte, nahm in der Folgezeit Kontakt zu José Lutzenberger auf, der zu der zentralen Gestalt im Kampf der brasilianischen Umweltbewegung werden sollte. Der erste Umweltschutzverband wurde 1951 gegründet. Es war dies die Associagäo da Fauna e da Flora. Das Gebiet und die Pflanzen und Tiere, die diese Organisation schützen wollte, wurden jedoch in den folgenden drei Jahrzehnten fast vollständig zerstört.40 37
Wöhlcke 1989:103.
38
Vgl. Guimaräes 1990.
39
Brocke 1993:5.
40
German 1987:288.
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Am 27. April 1971 wurde die Associagäo Gaücha de Protegäo ao Ambiente Natural (AGAPAN) in Porto Alegre (Rio Grande do Sul) gegründet Obwohl in dieser Zeit das brasilianische Militärregime große Brutalität im Kampf gegen die Bevölkerung entfaltete ("Nationale Sicherheit" vs. "Subversion"), wurden die Aktivitäten von AGAPAN zwar restringiert, aber nicht unmöglich gemacht. Dies ist wohl auf den betont "apolitischen" Charakter der Umweltbewegung zurückzuführen. Proteste gegen Luftverschmutzung, Rodung von Wäldern, Forderungen nach der Einrichtung von Naturschutzgebieten standen nach Ansicht der militärischen Machthaber nicht im Gegensatz zur die Herrschaft legitimierenden "Doktrin der Nationalen Sicherheit". Außerdem war die Umweltproblematik in dieser Zeit ohne Widerhall in der brasilianischen Bevölkerung und erst recht in der veröffentlichten Meinung. Wirtschaftswachstum haue absoluten Vorrang vor der Ökologie und wurde mit "Fortschritt" identifiziert. Die Abkopplung vom Politisch-Sozialen wird im Gründungsprogramm der AGAPAN deutlich. Es geht ihr einerseits um den Schutz der Natur und um die Förderung der Ökologie als Überlebenswissenschaft. Weiterhin thematisiert sie den Widerstand gegen eine unkontrollierte Jagd, gegen Brandrodungen und Kahlschlag, gegen das Zerstören der Böden durch eine übertriebene Mechanisierung der Landwirtschaft, den Kampf gegen Abfälle und Abwässer aus Industrie und Haushalt, gegen einen übermäßigen Einsatz von Insektiziden, Herbiziden und schließlich die Konzipierung und Etablierung einer Umweltethik. 41 Im September 1973 wurde in Säo Paulo das Movimento Arte e Pensamento Ecolögico (MAPE) gegründet Nach 1974 entstanden weitere Umweltschutzorganisationen in den Hauptstädten der übrigen süd-südöstlichen Bundesstaaten: in Florianöpolis, Curitiba, Rio de Janeiro und Belo Horizonte. Bei diesen Gründungen diente die AGAPAN in Porto Alegre als Vorbild. 8.2
Der apolitische conservacionismo
In der Phase des ambientalismo gab es insbesondere zwei Tendenzen bzw. zwei Fraktionen: Der conservacionismo war eine apolitische Bewegung, die den Kontakt mit der politischen Struktur und den Parteien vermied, da sie die Erhaltung der natürlichen Ressourcen und der Umwelt als ihre einzige und ausschließliche Aufgabe sah. Politik war in jedem Fall ein "schmutziges Geschäft" (Klien41
Brocke 1993:7.
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telismus, Machtkämpfe, Korruption); Politik war somit mit dem "reinen Bild" der Natur, das wiederhergestellt werden sollte, nicht kompatibel. Diese Haltung mußte dazu führen, die ökologischen Gefahren als losgelöst von der Gesellschaft und ihrer Organisationsstruktur, von Macht und Entscheidungsbefugnissen zu sehen. Allerdings setzte auch diese 'Fraktion' auf Umwelterziehung und gesetzgebung. Man war durchaus in der Lage, die negativen mittel- und langfristigen Konsequenzen des aktuellen ökonomischen Handelns zu sehen und das von Brasilien verfolgte Entwicklungsmodell zu kritisieren - allerdings nur marginal und nicht fundamental. Alternative Energien, rechtliche und technische Normen, die tatsächliche Kontrolle ihrer Einhaltung sind für die conservacionistas hinreichende Mittel, um aus der ökologischen Problematik einen Ausweg zu finden. Noch partieller und individualistischer waren die meist jugendlichen "Mittelschichts-Stadtkinder", die aus den Metropolen auf- (oder aus-)brachen, um "Landkommunen" zu gründen; sie wollten unter Verzicht auf Konsum eine neue Lebensqualität für sich schaffen. Es entstand so eine "Nischen-Kultur", die nicht an die Möglichkeit der "ökologisierung der Gesellschaft" glauben mochte - und erst recht nicht an die Chance der ökologischen Transformation der Gesamtgesellschaft und ihrer Institutionen. Das private Glück in der kleinen Gruppe war Mittel und Ziel dieser jungen und idealistischen Stadt-Land-Migranten und ihrer Bucht aus den anonymisierenden und isolierenden, sich immer stärker verdichtenden und doch territorial expandierenden Metropolen. In dieser Phase begannen erste publizistische Aktivitäten: Lutzenberger veröffentlichte 1976 sein "Manifestó Ecológico Brasileiro", das intensives Nachdenken und offene Debatten auslöste. 1978 begann MAPE mit der Herausgabe der Zeitschrift "Pensamento Ecológico", durch die die interne Diskussion in der Ökologie-Bewegung Brasiliens eine Tribüne erhielt. 8.3
Redemokratisierung
Voraussetzung für die Entfaltung der Ökologie-Bewegung auf breiter Basis waren die Ansätze zu einer allmählichen demokratischen Öffnung des Militärregimes unter dem General-Präsidenten Geisel. Zu diesem günstigen Klima im Inneren kam ein starker Impuls von außen hinzu: Aufgrund der 1979 von den Militärs erlassenen Amnestie konnten viele Intellektuelle, die im europäischen Exil gelebt hatten, nach Brasilien zurückkehren; es handelte sich bei ihnen fast
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ausschließlich um "Rote", die von der neuen "grünen" Idee durchdrungen, nach ihrer Rückkehr in die Heimat beide Denk- und Aktionsmuster - eingepaßt in die brasilianische Realität - kreativ miteinander zu verbinden suchten. Der Streit um die Errichtung des ersten Atomkraftwerks führte vom konkreten Anlaß zur Diskussion über die Energiepolitik und stellte letztlich das von Brasilien betriebene Entwicklungsmodell in Frage. Die Ökologie-Bewegung fand in dieser Auseinandersetzung Unterstützung bei der "Brasilianischen Gesellschaft für Physik" (SBF), bei der "Brasilianischen Gesellschaft für den Fortschritt der Wissenschaft" (SBPC) und bei der katholischen Kirche (Kardinal Arns). Die Kampagne gegen die AKWs führte im Staat Rio Grande do Sul zur Aufnahme des Verbots von AKWs in die Landesverfassung.42 Auf Länderebene fanden - nach 18 Jahren Diktatur - die ersten Wahlen 1982 statt Damit wurde die Integration des politischen Elements in die Ökologie-Diskussion geradezu herausgefordert. Im Gegensatz zu den conservacionistas glaubten die ecologistas nicht daran, daß sich die ökologische Krise allein mit neuer Umwelttechnologie und einer strengeren Umweltschutzgesetzgebung in den Griff bekommen ließe. Zu ihrer Überwindung bedürfe es eines fundamentalen Wandels in den grundlegenden Strukturen von Wirtschaft und Gesellschaft und der Abkehr vom Glauben, daß Wirtschaftswachstum eine positive gesellschaftliche Entwicklung und die Steigerung der Lebensqualität garantiere. Auch dürfe das auf Gewinnmaximierung ausgerichtete individuelle bzw. betriebswirtschaftliche Kalkül nicht länger das bestimmende Moment innerhalb des Wirtschaftsprozesses sein, sondern dieser müsse ökologische Verträglichkeit und soziale Gerechtigkeit zu seinen Leitprinzipien erheben; dies bedeute, daß dem Gemeininteresse im Zweifelsfall Priorität gegenüber Einzelinteressen eingeräumt werde.43
42
Brocke 1993:16.
43
Brocke 1993:18.
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8.4 Expansion der Ökologie-Bewegung über ganz Brasilien Während in den siebziger und zu Beginn der achtziger Jahre nur in den südsüdöstlichen Bundesstaaten und dort in den Haupt- und Großstädten die Ökologie-Bewegung entstand und sich verfestigte, gründeten sich neue Gruppen seit Mitte der achtziger Jahre insbesondere im Nordosten und im Amazonas-Gebiet. Für den Bundesstaat Säo Paulo wurde schon 1982 ein Dachverband aller Umweltgruppen, die "Ständige Versammlung der Umweltschutzorganisationen" (APEDEMA) geschaffen, dem schon in dieser Zeit 60 Organisationen angehörten. Seit 1984 fanden in Rio Grande do Sul, seit 1985 in Santa Catarina, in Paraná, Minas Gerais und in Rio de Janeiro Treffen der Umweltorganisationen auf Landesebene statt, auch wenn es zunächst nicht zu einer übergreifenden Organisationsform kam. Im November 1985 trat in Rio de Janeiro die "Interbundesstaatliche ökologische Koordinierung für die Verfassunggebende Versammlung" (CIEC) zusammen. Es fanden mehrere Treffen in verschiedenen Hauptstädten von Bundesstaaten statt. Eine Plattform wurde erarbeitet, deren zentrale Aussagen in die neue Bundesverfassung Brasiliens aufgenommen wurden. Deren Kernpunkte sind die "Öko-Entwicklung", eine alternative Energiepolitik (gegen AKWs und Großstaudammprojekte), soziale und ökologische Funktion des Eigentums, soziale Gerechtigkeit, partizipative Demokratie, eine ökologisch inspirierte Agrarreform, Demokratisierung der Massenkommunikationsmittel, Umwelterziehung und -bildung auf allen Stufen. Es kam innerhalb der so erweiterten ökologischen Bewegung in Brasilien zu heftigen Diskussionen um die Einführung "grüner Listen" für die Teilnahme an Wahlen und um die Gründung einer "Grünen Partei" {Partido Verde = PV). Da ein nationaler Konsens nicht zu erzielen war, wurde im Januar 1986 ein Partido Verde im Staat Rio de Janeiro gegründet
8.5 Die brasilianische Umweltbewegung und "Rio '92": Fòrum Global Im Juni 1990 - also zwei Jahre vor der "Konferenz der Vereinten Nationen über Umwelt und Entwicklung" (UNCED) im Juni 1992 - fand auf Anregung von OIKOS, SOS Mata Atlàntica und des Ökumenischen Dokumentation- und Informationszentrums (CEDI), drei Umweltorganisationen aus Säo Paulo, ein
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erstes Treffen von 40 NGOs in Säo Paulo statt Es wurde das Nationale Vorbereitungsforum für die Rio-Konferenz (Fòrum Global) gegründet Die Zahl der beteiligten NGOs wuchs innerhalb weniger Monate auf 700 an; die Organisation übernahm eine "Nationale Koordinierung". Die Organisationen, die sich an diesem "Gegen-Gipfel" beteiligen wollten, mußten inhaltlich das dominierende Entwicklungsmodell in Frage stellen; die ökologische mit der sozialen Frage verbinden; den Schutz, die Erhaltung und Wiederherstellung der Umwelt und der natürlichen Ressourcen als politische Frage auffassen und als solche zu lösen suchen. Das Fòrum Global setzte sich insbesondere diese Ziele: Sensibilisierung und Mobilisierung der brasilianischen Gesellschaft für die Probleme von Umwelt und Entwicklung; ständige Kontakte zur brasilianischen Regierung und Teilnahme an den offiziellen Vorbereitungskonferenzen für UNCED; Zusammenarbeit mit NGOs aus aller Welt; Vorbereitung von und Teilnahme an Parallelveranstaltungen zur offiziellen Konferenz "Eco '92". Auf nationaler Ebene kam es Fòrum Global darauf an, einen AlternativBericht über den Zustand von "Umwelt und Entwicklung" in Brasilien zu erarbeiten und vorzulegen, der den offiziellen der Bundesregierung kritisch beleuchten sollte. Auf internationaler Ebene sollten die schon bestehenden Kontakte - erinnert sei an Lutzenbergers ausgedehnte Vortragsreisen in Europa und in den USA - im Vorfeld von "Rio 92" verstärkt werden. Brasilianische Umweltschutz-Organisationen wurden ins Ausland eingeladen; ausländische NGOs nahmen an den vorbereitenden Treffen in Brasilien teil. 44
8.6
Zusammenarbeit der Ökologie-Bewegung mit anderen "neuen sozialen Bewegungen"
Die Zusammenarbeit ist auch heute noch auf nur einige "Punkte" beschränkt; die gesellschaftlich-soziale Basis der Ökologie-Bewegung in Brasilien hat zwar in den vergangenen Jahren viele Frauen integriert und ist von dem "Image" der "Männer-Bünde" weggekommen; aber noch immer stammen fast alle Mitglieder dieser Organisationen aus der Mittel- und Oberschicht.
44
Viola 1992:151.
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Bei den sozialen Bewegungen sind zu erwähnen: die Gruppen derer, die von Staudammprojekten betroffen sind; die Gruppen der caucheros (oder seringueiros), die in Zusammenarbeit mit Umweltschutzgruppen das Ziel der Einrichtung von reservas extractivas für die Kautschukgewinnung verfolgen; die IndianerBewegungen, die mit Naturschützem für die Erhaltung ihrer Mitwelt kämpfen; die Bewegungen der Landlosen, die sich für eine "ökologische Agrarreform" (kleinflächiger biologischer Anbau mit hohem Einsatz von menschlicher Arbeitskraft) in Kooperation mit Umweltschutzgruppen einsetzen; die Gruppen der Frauenbewegung, die die "feministische Frage" mit der "ökologischen und sozialen Frage" verbinden; Stadlteilgruppen auf zwei Ebenen: einerseits Kampf gegen die Emissionen aus den im jeweiligen Stadtteil gelegenen Fabriken, Gewerbeund Handwerksbetrieben etc., und andererseits Initiativen, die zur Verbesserung der Lebensqualität entstanden sind (Grünflächen, Stadtparks, Baumbepflanzung etc.); die Friedensbewegung ("Gerechtigkeit und Frieden"); die Bewegungen zur Verteidigung der Verbraucher; Bewegungen für die Gesundheit am Arbeitsplatz; die Studentenbewegung (in einigen Fällen ist auf dem jeweiligen UniversitätsCampus versucht worden, die Umweltproblematik zu diskutieren, soweit die Universität bzw. ihre Labors, Institute, Krankenhäuser etc. zu den Verursachem der Belastungen zählen).45 Die brasilianische Ökologie-Bewegung hat "die Phase der bloßen Denunziation von Umweltbelastungen endgültig abgeschlossen und versucht zunehmend, eigene Gesellschaftskonzepte als positive Utopien zu entwerfen"46 und so der iberisch-christlich-positivistischen (Gegen-)Utopie mit ihren destruktiven Konsequenzen entschlossen Einhalt zu gebieten und "das Rad zurückzudrehen".
45
Viola 1992:145 f.
46
Brocke 1993:26.
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III. Perspektiven: Frustrierte Illusionen - realistische Hoffnungen 1.
Von Stockholm
'72 nach Rio '92 und darüber hinaus
Zwischen beiden Daten und Orten liegt die zeitliche Distanz von zwei Dekaden und die räumliche von (Nord-)Europa nach (Süd-)Amerika. War Rio's UNCED 92 nur ein Riesen-Medien-Spektakel unter tropischer Sonne im Schatten des Zuckerhuts? Spiele ohne Brot, ja, ohne die Aussicht auf Nahrung, Wohnung, Kleidung, Bildung und Gesundheit für alle in der nahen Gegenwart und in den fernen Zukünften? Die Vereinbarungen sind zunächst einmal deklamatorischen Charakters, und die Möglichkeiten ihrer Um- und Durchsetzung könnten sich nur dann real eröffnen, wenn entweder die Einzelstaaten auf nationaler Ebene die umweltgünstigen Faktoren fördern und/oder aber in einem zweiten Schritt übereinkommen, der Erklärung Rechtsverbindlichkeit zu geben und ihre Exekutierung - notfalls mit Zwang - vorzunehmen. Das ist die Frage nach den neuen Aufgaben, nach der neuen strukturellen Qualität der UNO, nach der "UmweltWeltpolizei" im "Grünhelm". 2.
Eine Zukunft für Brasilien
Die Bedeutung von "Rio '92" für die brasilianische Umwelt-, Innen-, Wirtschafts- und Sozialpolitik kann nur dann im Ansatz zutreffend bewertet werden, wenn man den brasilianischen Ausgangspunkt von Stockholm '72 zugrundelegt. Der Leiter der brasilianischen Delegation, Costa Cavalcanti, erklärte damals: "Ein Land, das bisher noch keine zufriedenstellende Versorgung in wesentlichen Bereichen erzielen konnte, ist nicht in der Lage, nennenswerte Mittel für den Schutz der Umwelt bereitzustellen." 47 Insofern war sicherlich schon die Bewerbung Brasiliens um die Austragung der UNCED für das "Jahr 500" von einer nicht zu unterschätzenden Relevanz, auch wenn die Regierung vorrangig propagandistische Ziele verfolgt haben mag. Im Innern sollte der Ökologie-Bewegung und ihren Forderungen ein Stück entgegengekommen werden, und nach außen sollte eine positive Gegenposition in der Weltöffentlichkeit gegen das tradierte "schlechte Image" des "Anti-UmweltTäters" aufgebaut werden. 47
O Estado de Säo Paulo, 7. Juni 1972, S. 14; zitiert nach Brocke 1993:7.
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In der Gegenwart lassen sich in Brasilien eine Reihe von für den Umweltschutz günstigen Faktoren benennen, deren Auswirkungen mittel- bis langfristig "greifen" könnten: 1) Der öffentliche Raum, insbesondere der politische, der durch die Forderungen der Zivilgesellschaft nach Umweltschutz geschaffen wurde, wird ständig erweitert; Umweltgruppen und öffentliche Meinung nehmen sich des Umweltthemas an. 2) Bundesländer und Munizipien sind als Verwaltungseinheiten der Union gestärkt worden; gleichzeitig besteht Aussicht auf wachsende Konkretheit der Umweltpolitik, die in sich immer kohärenter und konsistenter wird. 3) Reaktionen auf die Umweltkatastrophen, die direkt oder indirekt gesellschaftliche Gruppen betreffen, mobilisieren die lokale, regionale, einzelstaatliche oder sogar nationale Gemeinschaft und bringen Allianzen hervor; die Dringlichkeit, Lösungen für die Probleme zu finden, wird immer mehr Menschen deutlich bewußt. 4) Die Wissenschaftler sind auf der Suche nach einem neuen wissenschaftlichtechnologischen Paradigma, das es gestatten wird, Fragen zu stellen und Antworten von gesellschaftlich-sozialer und ökologischer Relevanz zu formulieren, die weniger reduktionistisch und fragmentarisch sind, sondern die Komplexität der Erscheinungen zu begreifen suchen. 5) Das Bewußtsein einer akzentuierten ökonomischen Krise, die durch die extreme externe Verschuldung verschärft wird, drängt zu einem In-Frage-Stellen der ökonomischen Rationalität des gegenwärtig gültigen Entwicklungsmodells, das inadäquate externe Produktions- und Konsum-Stile imitiert. Das Bemühen um eine Entwicklung, die sich selbst dauerhaft trägt, ist die Suche nach neuen Rahmenbedingungen für gesellschaftliche und kulturelle Werte, nach einem Modell, das mittel- und langfristig "funktional" sein kann. 6) Die brasilianische Umweltgesetzgebung enthält Ansätze zu einer neuen juristischen Institutionalität. Die Assembleia National Constituinte von 1988 eröffnete zukunftsweisende Alternativen zu dem schon vorhandenen Umweltrecht. Die Verfassung ging soweit, Konzepte einzuführen, die geradezu revolutionär sind. 7) Die Strukturierung der öffentlichen Verwaltung im Umweltbereich erreichte einen zufriedenstellenden Grad an Dezentralisierung, d.h. die Verlagerung der Entscheidungskompetenz von der Zentrale "nach unten und vor Ort".
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8) Internationale Organisationen üben einen diskreten Druck auf Brasilien aus; diese Organisationen machen ihre Bereitschaft zur wissenschaftlich-technischen und finanziellen Zusammenarbeit von der Durchführung von Umweltschutzmaßnahmcn abhängig. 9) In der brasilianischen Unternehmerschaft gibt es - auch wenn sie noch in der Minderheit sind - Führungskräfte, die Beweise für ihre Reife und für ihr Verantwortungsbewußtsein angesichts der Umweltproblematik gegeben haben. 10)Die Gerichte und Staatsanwaltschaften geben Umweltfragen immer größere Bedeutung. Von ihnen gingen Anregungen für die Gesetzgebung, die Umweltbehörden, die Regieungsorgane und die Umweltgruppen aus. 48 Die für die Umwelt ungünstigen Faktoren haben im heutigen Brasilien noch ein großes Gewicht; sie sollen deshalb nicht verschwiegen werden. Sie haben ihre Wurzeln in der Kultur und in der allgemein verbreiteten "Pionier-Mentalität", in der brasilianischen Tradition der "Umweltnahme", im Widerstand der Institutionen des Landes gegen jegliche Veränderung, und in den wirtschaftlichen und politischen Krisen, durch welche Brasilien "schlingert". Nach der Erschöpfung der genutzten Ökosysteme erfolgte immer eine "Öffnung" und das Vorantreiben "neuer Grenzen". Einer Berücksichtigung von ökologischen Aspekten widersetzen sich Teile der öffentlichen Verwaltung und der Wirtschaft, die Trägheit und Ignoranz eines großen Teils der Bevölkerung und der politischen Klasse, die Medien und Sektoren, die antiquierte Vorstellungen über "Nationale Sicherheit" und "Souveränität" vertreten. Im einzelnen sind folgende ungünstige Faktoren hervorzuheben: 1) Um die exzessive Auslandsverschuldung Brasiliens abzubauen und um die Handelsbilanz auszugleichen, wird ein extremer Druck auf die natürlichen Ressourcen ausgeübt. 2) Das Bevölkerungswachstum führt ebenfalls zu einem verstärkten Druck auf die Umweltressourcen. Die unkontrollierbare Verstädterung hat negative Folgen für die Lebensqualität. 3) Technologische Abhängigkeit vom Ausland führt zum Import von nicht immer an die Wirtschaft und Gesellschaft Brasiliens angepaßten Modellen, wodurch die Entwicklung einer dem Lande und seinen Bedürfnissen angemessenen Technologie erschwert, wenn nicht gar verhindert wird. 48 Messias-Franco 1991.
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4) Die politische und institutionelle Krise hat viele Ursachen, wodurch die Vermittlung zwischen Gesellschaft und Staat schwierig wird - zwischen öffentlicher Gewalt und (Zivil-)Gesellschaft, zwischen politischer Klasse und den Bürgern. Diese "Bruchstellen" wirken sich negativ für die Umwelt aus. 3.
"Umwelt und Entwicklung" auf brasilianisch
Die Lösung der Umweltprobleme verlangt letztlich eine tiefgreifende Transformation der politischen, sozio-ökonomischen und kulturellen Strukturen. Deshalb darf die Umweltfrage nicht außerhalb eines umfassenden Kontextes gestellt werden. Ebenso wird jegliche Intervention unzureichende Resultate aufweisen, wenn nicht die unbedingt erforderliche Vernetzung zwischen den einzelnen Aspekten vorgenommen wird. Diese komplex-komplette Transformation der Strukturen verlangt folglich ein Verständnis der unterschiedlichen spezifischen Bereiche der Umwelt, wie z.B. - die Veränderung der Werte in der brasilianischen Gesellschaft, - die Neuorientierung der Wirtschaft, - die Transformation des Staatsapparats (größere Effizienz und Transparenz). In diesem Kontext ist eine Umweltpolitik notwendig, die eine sich selbst tragende Entwicklung einführt und die auf der rationalen Nutzung der natürlichen, insbesondere der erneuerbaren Ressourcen basiert. Es muß auch in Brasilien darum gehen, die "wirklichen" Bedürfnisse dieser und der zukünftigen Generationen zu befriedigen und die Umweltproblematik nicht nur in ihren Symptomen, sondern an der Wurzel zu kurieren. 49 Schon 1980 hatte F. H. Cardoso - seiner Zeit um Jahre voraus - in einem summarischen Essay "Entwicklung und Umwelt: Der Fall Brasilien" die Frage nach der Kompatibilität aufgeworfen und auf Zusammenhänge hingewiesen. Geschützt durch sein internationales Prestige als politisch engagierter Sozialwissenschaftler, für den seine wissenschaftlichen Erkenntnisse Bestätigungen seiner sozialistischen Grundüberzeugungen waren, konnte er, nachdem er den brasilianischen Entwicklungsstil scharf kritisiert hatte, in seinen 'Schlußbemerkungen' sagen: "Die Möglichkeiten, die sich eröffnen, um die kulturelle Autonomie und das Erbe der Natur zu bewahren und die sozialen Bedürfnisse zu befrie49
Messias-Franco 1991:180; Bandeira Ryff 1991; Viola 1992.
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digen, werden von hinreichend tiefgreifenden politischen Veränderungen abhängen; es kommt darauf an, ein Gegengewicht gegen die Tendenz der oligopolistisch-internalionalistischen Wirtschaft zu bilden, wenn nicht gar diese radikal zu ändern. Wenn dies geschehen sollte, stellt sich das Problem der Möglichkeit des Sozialismus in einem Land, das sich an der Peripherie der Weltwirtschaft industrialisiert".50 4.
Hoffnungsträger
In der Zeit nach der Beendigung der Militärdiktatur und mit dem Beginn des Redemokratisierungsprozesses in Brasilien fand eine Neuorientierung und Umgruppierung in der Parteienlandschaft statt. Trotz - oder vielleicht gerade wegen - der zeitlich parallel verlaufenden, umwälzenden Veränderungen im Macht- und Einflußbereich des "realen Sozialismus" (dessen klinischer Tod im Herzland und in den europäischen Gliedern mittlerweile nur noch zu diagnostizieren ist), stellte sich in den zur Demokratie zurückfindenden Staaten Lateinamerikas die Frage nach dem konkret-sozialistischen Inhalt von Politik. Eine radikal-ehrliche Antwort war dringend g e l t e n , die die innere Zerstörung der ausgehöhlten Dogmen (an-)erkannte und akzeptierte, die sich auf marxistische Ideen zu stützen vorgaben. Die Restauration kritischen sozialistischen Denkens mußte insbesondere die Beiträge integrieren, die in der und für die gesellschaftliche Praxis die Neuen Sozialen Bewegungen (Gewerkschafts-, Ökologie-, Frauen-, Stadtteil-, Landlosen-, Indianer-Bewegung) geleistet hatten. Für Brasilien hieß die Antwort: PT (Pariido dos Trabalhadores). "Eine ökologisch orientierte Politik hat in der PT in den letzten Jahren einen großen Stellenwert eingenommen. Die PT bekennt sich zu einem 'modernen Sozialismus', in dem es zwei Bereiche ökonomischer Aktivitäten geben muß, und zwar einen, der zentral geplant wird, und einen, der dezentral durch die Mechanismen des Marktes reguliert wird. Einen authentischen Sozialismus kann es nur geben, wenn die Bürger sich permanent für oder gegen ihn entscheiden können." 51
50 Cardoso 1986:290. 51
Fatheuer/Wtlrtele 1990:178.
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Die PT ist als eine heterogene linke Kraft ins brasilianische Leben getreten. Sie führt nach außen einen offenen Diskurs über die Definition ihrer Ziele und eine lebhafte interne Diskussion zwischen ihren divergierenden Fraktionen, aber immer den partizipativen Postulaten verpflichtet. Das alte Credo von sozialer Gerechtigkeit in freiheitlicher Gleichheit (und gleicher Freiheit!) könnte über Brasilien hinaus Wirkungen entfalten. "Diese Diskussionen stecken noch im Anfang, aber sie haben für die Entwicklung einer neuen Politik in Lateinamerika eine Bedeutung, die über Brasilien hinausweist."52 Vielleicht können über die Dritte-Welt-Länder hinaus die sich selbst als "links" definierenden politischen Parteien und Bewegungen im "Norden" und insbesondere in Europa aus diesen Diskussionen in Brasilien Anstöße für ihr Denken und Handeln rezipieren.
5.
Schlußfolgerungen aus Rio'92
Der Bericht "Unsere gemeinsame Zukunft" der "Weltkommission für Umwelt und Entwicklung" der UNO zeigte das dramatische "Bild" der Umweltsituation. In den Vorschlägen für die UNCED stellte das Dokument "Unsere eigene Agenda" der "Kommission für Entwicklung und Umwelt Lateinamerikas und der Karibik" - in Anlehnung an den Brundtland-Bericht53 - heraus, daß es notwendig ist, Gesetzesnormen zu erarbeiten und Institutionen zu schaffen, um gegen die Umweltgefahren Front machen zu können. Nach diesem Dokument müssen die alten Strukturen aufgebrochen werden, und es müssen den Gesellschaften und den lokalen Behörden neue Befugnisse gegeben und der Zugang zu vom Umweltgesichtspunkt aus akzeptablen Technologien eröffnet werden. Die NichtRegierungs-Organisationen müssen gestärkt werden. Dies muß die Stärkung der konstitutionellen Staaten implizieren. Die Existenz von Staaten, die in ihrem Innem durch das Gesetz regiert werden, ist unbedingt erforderlich, um die Beziehungen der Bürger untereinander und zum Staat zu garantieren - ebenso wie die Gewißheit, daß die Konflikte, die in diesen Beziehungen entstehen, immer in Gerechtigkeit gelöst werden. Die Effizienz des Umweltrechts hängt daher von der vorangehenden Internalisierung des Legalitäts-
52
Fatheuer/Würtele 1990:180.
53
Vgl. Kap. 12: Auf dem Weg zu gemeinsamem Handeln: Vorschläge für einen institutionellen und rechtlichen Wandel.
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empfindens seitens der Gesellschaft ab, die die Normen dieses Rechts als verpflichtend akzeptiert Die Umweltfrage ist im wesentlichen eine politische Frage. Es muß daher betont werden, daß die Verbesserung der Rechtsnormen, die von der Verteidigung der Umwelt handeln, wie auch die Spezialisierung der Rechtsprechenden Gewalt wichtige Ziele sind, die erreicht werden müssen ("Umweltrechtspolitik"). "Rio kann die Welt nicht retten, aber ein Anfang ist gemacht." So kommentierte Die Zeit im Juni 1992 die Perspektiven für "Unsere gemeinsame Zukunft". Aber ist ein Vor-Blick möglich? Wie sind die Chancen für eine "humanökologische" Politik? Eine Revolution der Rückkehr zum Gleichgewicht durch Bescheidung und Solidarität ist das unausweichliche Gebot der Stunde, damit es nicht zu spät ist. Für Brasilien, für Lateinamerika, für unsere gemeinsame Zukunft gilt es, ein neues Paradigma zu suchen und zu entdecken, und unter Beachtung der Lehren aus der historischen Vergangenheit die Vision eines ganz anderen "Eldorado" hineinzuholen, um dem menschlichen Abenteuer einen Sinn zu geben. Damit das Leben weitergehen kann! Oder, wie es der argentinisch-mexikanische Befreiungs-Philosoph Horacio Cerutti einmal im Titel eines Vortrags "vernetzt" auf drei Punkte zusammen gebracht hat, in einer Trias einander gegen- und wechselseitig bedingender Begriffe, Inhalte und Gehalte, meisterhaft und zukunftsweisend: "Überleben - Demokratie - Sozialismus!"
Resumo 1. Migragóes internas e novas ocupantes territoriais ñas últimas tres décadas levaram no Brasil á destruido parcial, as vezes total, do ecosistema original e dos recursos naturais - no mínimo á sua degradado, contaminado e poluifáo. 2. A agricultura para exportado (cana de acucar, café, tabaco) representou neste proceso um papel decisivo, sendo acelerada no século vinte a transformado de florestas em área cultivada através da agroindústria e da pecuária extensiva. 3. A urbanizado e industrializado formaram regióes metropolitanas e pólos de crescimento (química, metalurgia, minerado, petróleo); deste modo a contamin a d o do ar e da água, lixo, despejos, e ruido tornaram as cidades inabitáveis.
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4. Á margem das aglomera?5es das grandes cidades crescem as favelas para a maioria da populado marginalizada. A violencia estrutural se descarrega em franca violencia. Pobreza e miséria se expandem. Explodem os conflitos sociais. 5. Como saída preconiza-se o "desenvolvimento" da Amazonia. Mas queimadas de grandes superficies possibilitam as atividades de agricultura apenas a curto prazo, pois os colonos nao podem viver harmónicamente com o novo meio ambiente. Danos irreparáveis süo inevitáveis já a medio prazo. Junto com as florestas trapicáis desaparecerSo do nosso planeta a biodiversidade; recursos genéticos, tipos de plantas e animais até agora n2o compreendidos científicamente. 6. Na Conferencia do Meio Ambiente de Estocolmo em 1972, o Brasil se pronunciava por um crescimento económico sem "considerado dos custos ecológicos". Mas pouco a pouco mais pessoas iniciavam um processo de conscientiza93o sobre o meio ambiente. No inicio dos anos 80 o Regime Militar reconhecia que o País necessitava de urna política ambiental realizável através de medidas administrativas e legislativas. Urna primeira conseqüencia desta colocado transformadora foi a legislado do ano de 1981. 7. O movimento ecológico originou-se no Sul-Sudeste brasileiro no inicio dos anos 70 e se expandiu em todo o país ñas duas décadas seguintes. Ele constituí urna parte essencial dos "novos movimentos sociais" (movimentos de bairros, de sindicatos, de mulheres, dos sem térra, dos indígenas etc.). 8. A constituido de 1988 contem especialmente no Art. 225 "diretrizes" para a p r o t e j o dos recursos ambientáis como objetivo do Estado. A administrado ambiental é executada no nivel da comunidade, do estado e da federado. A Secretaria de Estado para o Meio Ambiente - SEMA - foi revalorizada pela nomea?ao do seu diretor, José Lutzenberger, conhecido nao só no Brasil como internacionalmente; institucionalmente a Secretaria evolui para Ministério. 9. Somente quando as a?5cs dos poderes públicos (Executivo, Legislativo, Judiciário) vir de encontro á disposifSo organizada dos cidadaos em contribuir para a p r o t e j o , manutengao e recuperado do meio ambiente, poderao ser alcanzados sucessos duradouros. 10. As "QuestOes Sociais" e as "QuestOes Ecológicas" estao entrelazadas estreitamente. Elas somente podem ser solucionadas por urna "política nova" no ámbito do conceito do Eco-socialismo, tal como formulado no programa do Partido dos Trabalhadores.
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"Gottes Erde, Land für alle" Landprobleme in Brasilien und die Rolle der Kirchen Wolfgang Schürger, Nürnberg
1. Einleitung "Gottes Erde, Land für alle", unter diesem Motto stand die Jahresaktion 1982 der "Evangelischen Kirche Lutherischen Bekenntnisses in Brasilien" (IECLB). In der Schlußbotschaft der 13. Generalsynode der IECLB vom 20. bis 24. 10. 1982 heißt es dazu: "Die Frage Wem gehört das Land?' erscheint unserer Kirche so wichtig, daß sie die Worte 'Gottes Erde, Land für alle' zu ihrem Schwerpunktthema 1982 und der 13. Generalsynode gemacht hat. (...) Jesus Christus gibt Leben und schützt es. Er ist Leben auch für diejenigen, die abseits stehen: die Armen, die Gefangenen, die Blinden und die Unterdrückten. Wir bekennen, daß es hart und schmerzlich ist, den bequemen Weg zu verlassen und uns auf den unbequemen Weg am Rande der Gemeinde und der Gesellschaft zu machen. (...) Da sind die zwei Drittel der Bevölkerung oder die 80 Millionen, die sich nur ein Drittel des nationalen Reichtums teilen müssen. (...) Da sind die Kleinbauern, deren Überleben von einer auf Bodenkonzentration und Export ausgerichteten Agrarpolitik bedroht ist. (...) Als Evangelische Kirche Lutherischen Bekenntnisses in Brasilien können wir angesichts dieser Realität nicht stumm bleiben. Wir rufen unsere Gemeinden, ihre Mitglieder, Vorstände und Pastoren auf, sich zu engagieren und für eine Veränderung einzusetzen, damit die Erde und ihre Reichtümer, auf dem Land wie in der Stadt, gerechter genutzt und verteilt werden können." Angesichts der Tatsache, daß die IECLB immer noch eine deutschstämmige Mittelstandskirche ist, dürfte deutlich sein, daß es sich bei der Wahl solch eines Themas um einen mühsamen Schritt gehandelt hat, und man wird fragen müssen, wie die Situation auf dem Land ausgesehen hat, bis es zu so einem Schwerpunktthema gekommen ist.
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Wolfgang
Schürger
Die Entwicklung der Landkonflikte und der Landproblematik nachzuzeichnen, ist daher das erste Anliegen dieses Artikels. Natürlich geht es nicht an, dabei dann schon 1982 stehenzubleiben. In diesen nun schon 10 Jahren hat sich die Situation gewaltig verändert - wie sich im Folgenden zeigen wird nicht zugunsten der Kleinbauern. In einem weiteren Schritt soll dann nach dem Engagement der Kirchen in der Landproblematik gefragt werden. Dabei gilt es zu bedenken, daß Erklärungen von Generalsynoden die eine Seite, die Arbeit vor Ort aber die andere Seite sind. Wird freilich die Arbeit vor Ort betrachtet, so ist diese nicht immer in Dokumentationen nachzulesen, so daß ich mich verchiedentlich auf meine Erfahrungen während meiner Studienaufenthalte in Brasilien 1986/87 und 1988 sowie auf Berichte aus dieser Arbeit stützen werde.1 2. Landkonflikte in einem Land von der Größe Europas? Wie kann es überhaupt zu Landkonflikten kommen in einem Land, das so groß ist wie Brasilien (dessen Ausdehnung etwa dem europäischen Kontinent entspricht)? Brasilien hat eine Landfläche von rund 850 Mio. Hektar. Davon waren 1984 570 Mio. ha zur Nutzung ausgewiesen. Von diesen 570 Mio. ha waren freilich alleine 32,5 Mio. ha Latifundien mit jeweils mehr als 100.000 ha Fläche. Zwischen 30 und 50 Mio. ha befanden sich in den Händen ausländischer Firmen. Diesen extrem großen, auf nur wenige Betriebe verteilten Flächen standen andererseits 71% der landwirtschaftlichen Betriebe gegenüber, die als Minifundien zu gelten haben, mit einer Räche von jeweils weniger als 10 ha. Diese 71% der Betriebe mit weniger als 10 ha Fläche besaßen 10,9% der gesamten Nutzfläche gegenüber von 67% der Nutzfläche, die sich in den Händen von nur 4% jener Betriebe mit jeweils über 10.000 ha konzentrierten.2 1
Der vorliegende Artikel ist aufgrund der Verzögerung der Drucklegung des Sammelbandes in mehreren Schichten entstanden: Die "Grundfassung" geht auf einen Vortrag zurück, den ich im Sommersemester 1990 im Lateinamerika-Kolloquium der Universität Erlangen-Nürnberg gehalten habe. Dieses Manuskript wurde im Oktober 1990 fertiggestellt. Damals konnte ich auf Erfahrungen zurückgreifen, die ich in den Jahren 1986, 1987 und 1988 gesammelt hatte. Von Juni 1992 bis Januar 1993 habe ich mich emeut in Brasilien aufgehalten und konnte dort neben vielen Gesprächen auch neueste Literatur zur Kenntnis nehmen. Hierbei haben sich einige interessante Aspekte ergeben, die ich im letzten Kapitel ("Von 1988 bis 1993") ergänzt habe.
2
Zahlen nach Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra (ed.), Agenda 1988.
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Für die Besitzer der Minifundien ist es in den letzten Jahren immer schwerer geworden, sich auf ihrem Land zu halten: zum einen hat die Regierung seit Anfang der 80er Jahre verstärkt auf die Entwicklung von Agrobetrieben gesetzt, genannt seien hier nur das Alkoholprojekt (aus Zuckerrohr) und das Sojaprojekt Da für die Umstellung auf Zuckerrohr- bzw. Sojaanbau vielfältige Hilfestellungen geleistet wurden (z.B. in Form von Krediten, aber auch von technischer Beratung), haben auch viele Klein- und Kleinstbetriebe diese Umstellung vorgenommen. Das teilweise Scheitern der Projekte (der Sojapreis ist z.B. seit Beginn des Projekts ständig gesunken) oder die hohen Kosten für Düngemittel und Pestizide haben viele Betriebe in den Ruin getrieben.3 Andererseits sind auch die Preise für Grundnahrungsmittel auf dem brasilianischen Binnenmarkt in den letzten Jahren ständig gefallen, und auch die Preise für Exportprodukte sind rapide gesunken, z.B. durch das NichtZustandekommen des Weltkaffeeabkommens. Zu dieser Verschlechterung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen kommt eine Zunahme der Übergriffe durch Großgrundbesitzer, die ihre Besitzungen ausweiten wollen. Die Zahl der bei Landkonflikten bundesweit getöteten Landarbeiter und Kleinbauern ist von 25 im Jahr 1976 auf 179 im Jahr 1986 gestiegen! 4 Dieses Szenarium auf dem Land hatte eine enorme Landflucht zur Folge: lebten 1980 noch 37% der Bevölkerung auf dem Land, so waren es 1987 nur noch 26%! Im Vergleich zu 1940 hat sich das Stadt-Land-Verhältnis schlichtweg umgekehrt: 1940 lebten 70% der Bevölkerung auf dem Land, 30% in der Stadt. Eine Folge dieser schnellen Umkehrung der Bevölkerungsverteilung ist eine schon völkerwanderungsartige Migration: 1980 befanden sich 40 Mio. Menschen (das entspricht etwa einem Drittel der Bevölkerung) auf Migration.5 Dies bringt mehrere Probleme mit sich: Zum einen finden nur die wenigsten Familien in den Großstädten Arbeit, und selbst wenn dies der Fall ist, so reicht der Lohn bei weitem nicht aus, um eine Familie zu ernähren. 6 Die Familien lan3
Eine gute Darstellung des Sojaproblems z.B. bei H. Schumann, Futtermittel und Welthunger, Hamburg 1986, v.a. S. 109; 129; 134f.
4
Zahlen aus: Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra (ed.), Agenda 1988.
5
Zahlen nach: Migra^öes no Brasil, Colefäo O Povo Quer Viver, Tomo 17, Säo Paulo 1986, S. 10; 18.
6
Der gesetzliche Mindestlohn, in den 30er Jahren von Getülio Vargas eingeführt als der Lohn, der ausreichen soll, um die Grundbedürfnisse (incl. Miete!) einer vierköpfigen Familie bei einem arbeitenden Familienmitglied zu erfüllen, reichte im Juli
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den in den favelas, den Elendsvierteln der Städte, die schnell zum Problem für die Bürgermeister werden können. Zum anderen verschärft sich durch die Aufgabe vieler Kleinbetriebe die Grundnahrungsmittelversorgung zusehends: sind es doch vor allem die Minifundien, die für den inländischen Markt produzieren. 1985 stellten die Minifundien (also Betriebe mit weniger als 10 ha Grund) 90% 80% 70% 50%
der Maniok-Produktion; der Bohnen-Produktion; der Mais-Produktion und der Reis-Produktion Brasiliens.7
Grundnahrungsmittel Versorgung sowie soziale und wirtschaftliche Situation in den Großstädten sind also von der Landproblematik unmittelbar milbetroffen. Zu Recht kann daher das Problem der Landverteilung (zusammen mit dem der Einkommensverteilung) als eines der vorrangigen Probleme Brasiliens angesehen werden. Dies also ist der Hintergrund, auf dem die IECLB die Landfrage zum Schwerpunktthema gemacht hat.
3. Geschichte der Landarbeiterbewegung und der Landreformprogramme 3.1. Der mühsame Weg zu einem ersten Landreformprogramm Die heutige Aufteilung des Landes auf Latifundien ist zu einem guten Teil noch ein Relikt aus der Kolonialzeit Brasiliens: Land ehemaliger Kolonialgesellschaften war auf die dünne Oberschicht verteilt worden. Es nimmt daher nicht wunder, daß die Geschichte der Landkonflikte fast so alt ist wie das Ende des kolonialen Systems in Brasilien. Diese Geschichte ist geprägt von dem Ineinander von Landarbeiterorganisation und Widerstandsbewegung einerseits und Landreformprogrammen andererseits. Deutlich vernehmbar wurde der Ruf nach einer Neuverteilung des Landes bereits im letzten Jahrhundert im Kampf um die Sklavenbefreiung: ein Ende der Sklaverei sei nur dann wirklich ein Fortschritt für die schwarze Bevölkerung,
7
1990 gerade aus, um die Kosten eines Studierenden in einer Wohngemeinschaft für Miete, Strom, Gas, Wasser und einen Liter Milch pro Tag zu decken! Zwei bis drei Mindestlöhne gelten als "guter" Lohn filr einen Industriearbeiter. Zahlen aus Brasilien-Nachrichten 90 (1986), S. 39ff.
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wenn damit auch gewährleistet werde, daß diese nicht plötzlich vor dem materiellen Nichts stehe. Mithin sei es wichtig, den ehemaligen Sklaven eigenes Land zu geben. Die erste richtige Bewegung der Landarbeiter entstand in den 50er Jahren dieses Jahrhunderts, als sich ausgehend von der Fazenda Galileia bei Recife in allen Bundesstaaten sog. "ligas camponesas" bildeten. Ziel der Ligas war, die Rechte der Landarbeiter durchzusetzen und eine Enteignung und Neuverteilung der Latifundien zu erwirken. Die Bauernligen verdanken einen Großteil ihres Erfolges dem Rechtsanwalt Francisco Juliäo, der als führender Kopf der Ligas den nötigen juristischen Sachverstand besaß, um im Kampf der Landarbeiter etliche gerichtliche Erfolge zu erzielen. Die Bauernligen verbreiteten sich sehr schnell über das ganze Land und entwickelten eine eigene Organisationsstruktur für jeden Bundesstaat. Schon seit den Anfängen litten sie allerdings unter den Verfolgungen der Gegenseite, so daß z.B. die Arbeit der jeweiligen Landeszentrale nur in den großen Städten, weit ab vom eigentlichen Konfliktgebiet, erfolgen konnte. An dieser Stelle ist einiges über die Situation der Landarbeiter in Brasilien zu sagen: sie haben de facto die Rolle der Sklaven in der ruralen brasilianischen Gesellschaft übernommen: die wenigsten von ihnen sind fest angestellt, Saisonarbeit ist vielmehr die Regel. Im Extremfall kann das heißen, daß sich die Männer und Frauen einer Region während der Erntezeit frühmorgens auf einem zentralen Platz versammeln, um von den verschiedenen Betrieben dann für denselben Tag angeworben zu werden. Das Einkommen selbst der festangestellten Landarbeiter ist das niedrigste in Brasilien, in Teilen des Nordens und Nordostens erreicht es nicht einmal den gesetzlich vorgeschriebenen Mindestlohn. Der Kampf der Bauernligen ist umso bedeutsamer gewesen, als die Landarbeiter bis 1964 auch rechtlich nicht den städtischen Arbeitern gleichgestellt waren. Erst im Landstatut der Militärregierung von 1964 wird das Recht auf Altersversorgung, Sozialversicherung und Unfallversicherung geregelt. Die Durchsetzung dieser Rechte ist jedoch nach wie vor schwierig, da die brasilianische Bürokratie viele Hürden davor gebaut hat, die für die oft nicht oder nur schlecht alphabetisierte Landbevölkerung unüberwindbare Hindemisse sein können. Gerade hinsichtlich der sozialen Rechte muß betont werden, daß es um diese nach wie vor schlecht bestellt ist: Übergriffe auf Landarbeiter, wenn diese
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sich organisieren wollen, sind auch heute noch die Regel; unabhängige Landarbeitergewerkschaften werden in ihrer Arbeit oft systematisch behindert.8 Die Zeit der Bauernligen fällt in die Epoche des sog. "brasilianischen Wirtschaftswunders" unter Juscelino Kubitschek (1956-61). Erst unter der Regierung des populistischen und sozialreformistischen Joäo Goulart (1961-64) jedoch kam es zu dem Versuch, die wirtschaftlichen Erfolge durch eine umfassende Strukturreform abzusichern und den Ertrag auf die gesamte Bevölkerung zu verteilen. Der von Planungsminister Celso Furtado entworfene "Piano Trienal de Desenvolvimento Econömico e Social" (1963) sah neben Verwaltungs-, Bank- und Finanzreformen auch eine Agrarreform vor. Die wichtigsten Punkte dieses Agrarreformplanes waren: - Bauern, die Land urbar gemacht hatten, sollten keine Pacht für dieses Land zahlen müssen, auch wenn sie keinen Besitztitel vorweisen können; 9 - Bauern, die mehr als zwei Jahre auf einem Land gearbeitet haben, für das sie keinen Besitztitel haben, und die von diesem Land durch den Eigentümer vertrieben werden, haben Anrecht auf eine Entschädigung; - unterproduktives Land oder solches, das zur Grundnahrungsmittelproduktion benötigt wird, soll enteignet werden können. Dafür ist dem Eigentümer eine Entschädigung zu zahlen. 8
Hingewiesen sei hier auf drei Artikel in der Juni-Ausgabe 1988 von tempo e presença, der Monatszeitschrift des CEDI - Centro Ecuménico de Documentaçâo e Informaçâo, Rio de Janeiro/Säo Paulo: Ildes Feneira de Oliveira zeigt in "Movimento sindical rural e Estado" die Probleme auf, die die Gewerkschaftsbewegung seit 1964 immer wieder dadurch zu bewältigen hatte, daß ihr von staatlicher Seite die Aufgaben der Gesundheitsvorsorge, der Verteilung staatlicher Hilfsprogramme u.a.m. aufgebürdet wurden. Die Artikel "Eleiçôes sindicáis: mediaçâo de forças" und "O novo sindicalismo rural paulista" beschreiben die Auseinandersetzungen der unabhängigen Gewerkschaftsbewegung mit den konservativen Kräften und deuten an, wie letztere systematisch versuchen, die Gewerkschaften wieder in ihre Hand zu bekommen bzw. sie durch die Einrichtung von Parallelorganisationen ins Abseits zu manövrieren. Der Kampf um die Vorherrschaft in den Gewerkschaften ist seit 1988 wieder heftiger und violenter geworden. Besonders im ländlichen Bereich versuchen Regierende und Großgrundbesitzer gezielt, durch finanzielle Versprechungen "ihren" Kandidaten zu unterstützen.
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Die Frage der Besitztitel ist eines der größten Probleme in Brasilien: viele nicht oder kaum alphabetisierte Bauern wissen nicht, daß oder wie sie einen Besitztitel erhalten können. Andererseits tauchen immer wieder gefälschte (oder gekaufte) Besitztitel auf, wodurch Landkonflikte erheblichen Ausmaßes entstehen können.
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Der Piano Trienal kommt nie zur Durchführung: seine Anliegen, insbesondere die Agrarreform erscheinen den Konservativen zu gefährlich, am 1. 4. 1964 putscht das Militär. Auf acht Jahre Demokratie sollten zwanzig Jahre Diktatur folgen! Schon während der Regierung Kubitschek und vollends unter Goulart entwickeln sich die Bauernligen zur Bedeutungslosigkeit, sie werden von den Landarbeitergewerkschaften abgelöst, die die Regierung Goulart massiv unterstützt. Castelo Branco, erster Präsident der Militärregierung (1964-67), stoppt sofort die Durchführung des Piano Trienal (und damit der Agrarreform), verabschiedet dann aber das Gesetz, das für die nächsten zwanzig Jahre die Landfrage bestimmen wird: am 30. 11. 1964 tritt als Gesetz Nr. 4504 der "Estatuto da Terra" in Kraft. Dieses Landstatut kann als das alternative Landreformprogramm der Militärs bezeichnet werden. Als Agrarreform gelten danach "alle jene Maßnahmen, die das Ziel verfolgen, eine bessere Verteilung des Landes durch Veränderung von Landbesitz und -nutzung zu fördern, um die Prinzipien der sozialen Gerechtigkeit zu verwirklichen und die Produktivität zu erhöhen". 10 Wesentliche Punkte dieses Planes waren: - die schon genannte Einführung von Arbeitsrechten auch für Landarbeiter und ihre Gleichstellung mit städtischen Arbeitern; - Landenteignung gegen Entschädigungszahlung und Neuverteilung gegen Bezahlung; - Neukolonisation von Urwaldgebieten. Diese Verknüpfung von Neukolonisation und Agrarreform wurde nicht nur für die weitere Entwicklung der Landfrage verhängnisvoll: in der Ausführung des Landstatuts durch die Militärs wurde aus der Agrarreform im wesentlichen eine Neukolonisation. In den Folgejahren beginnen die großen Völkerwanderungen vor allem in Richtung Amazonasbecken, das das Hauptgebiet der Neukolonisation werden soll. Mato Grosso und Rondonia sind die Staaten, die jetzt vor allem erschlossen werden. Diese großangelegten Umsiedlungsprogramme haben nicht nur großes Leid über die Bevölkerung gebracht, sondern sind für einen guten Teil auch mitverantwortlich für die Entstehung der Amazonas- und Regen10 Zitiert nach Anne Reyers, Agrarreformprogramme in Brasilien. In: Nachrichten 80 (1983), S. 20.
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waldproblematik, wie wir sie in den letzten Jahren nicht zuletzt durch die Klimakatastrophen immer deutlicher zu sehen beginnen. Die Probleme für die Bevölkerung waren vielschichtig: Für die indigene Bevölkerung der Amazonasgebiete bedeutete die Neukolonisation eine Bedrohung ihrer noch verbliebenen Stammländer. 11 Für die neuankommenden Siedler bedeutete sie Herausforderungen vielfacher Art, denen viele nicht gewachsen waren: zunächst sahen sie sich häufig damit konfrontiert, daß sie (entgegen anderslautenden Versprechungen der Regierung) das Land erst urbar machen mußten und in dieser Anfangszeit völlig auf sich selbst gestellt waren. Erschwerend kam hinzu, daß sie größtenteils aus den südlichen Bundesstaaten stammten und in eine völlig unbekannte Klimazone gekommen waren - ein Faktor, der sie auch bei der Bebauung des Landes vor neue Probleme stellte. Da auch jede medizinische Versorgung fehlte, starben viele der Neusiedler bereits in den ersten Monaten an den für Südbrasilianer unbekannten Tropenkrankheiten, insbesondere der Malaria. Eine Rückkehr in die angestammten Gebiete war ihnen jedoch aufgrund der Entfernung genauso unmöglich wie es schwer war, den Kontakt zu Verwandten, die im Süden geblieben waren, aufrecht zu erhalten. Viele Familien sind seitdem endgültig auseinandergerissen. Im Rahmen der Ausführung des Landstatuts wird 1970 das Institut gegründet, das auch für die Agrarreformprogramme der 80er Jahre von Bedeutung sein wird: der "Instituto Nacional de Colonizagäo e Reforma Agrària" (Institut für Kolonisation und Landreform, INCRA). Auch der INCRA wird sich in den folgenden Jahren vor allem der Neukolonisation und nur am Rande der Landreform widmen.
11 Es mag auffallen, daß ich auf das Problem der indigenen Gebiete so gut wie nicht eingehe. Jedoch ist die Frage der indigenen Rechte in Brasilien (und insbesondere in der neuen Verfassung vom 5. 10. 1988) so umfassend, daß dies den Rahmen sprengen würde. In der praktischen Arbeit der Kirchen sieht es darüber hinaus auch so aus, daß die Indianerfrage vor allem vom Indianermissionsrat (CIMI), die Landproblematik dagegen von der Kommission für Landpastoral (CPT) behandelt wird.
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3.2. Die Landarbeiter- und Bauernbewegung unter der Militärdiktatur Neben der Tatsache, daß die Bauernligen und die sie ablösenden Landarbeitergewerkschaften die erste bundesweite Organisationsstruktur von Landarbeitern darstellten, ist ihre Bedeutung für die Alphabetisierung der Landbevölkerung zu nennen. Bis März 1964 wurden nämlich unter Zusammenarbeit mit der Regierung zahlreiche Alphabetisierungskampagnen durchgeführt. Die Bedeutung dieser Kampagnen liegt zum einen darin, daß in den 60er Jahren das Wahlrecht nur für alphabetisierte Bürger galt, alle anderen aber ausgeschlossen waren, und zum anderen in der Methode, die dabei angewandt wurde. Paulo Freire, mit dessen Namen und Pädagogik die Kampagnen untrennbar verbunden sind, verstand nämlich Alphabetisierung gleichzeitig als Aufbruch aus der Entfremdung. Der "mitodo de conscientizafäo" hat über die Alphabetisierungskampagnen in weite Teile der Basisbewegungen Einzug gehalten. Dieser nur schwer übersetzbare Begriff meint "Bewußtseinsbildung", "Bewußtwerdung". Freire will dadurch, daß Menschen Lesen und Schreiben lernen, sie gleichzeitig zu einer kritischen Sicht ihrer eigenen Wirklichkeit befähigen. Dies geschieht, indem Schlüsselthemen der Lebenswelt auch als Schlüsselworte im Alphabetisierungsprozeß verwendet werden und die Schülerinnen dazu angeregt werden, über diese Themen zu sprechen. 12 Es wundert nicht, daß die Alphabetisierungskampagnen nach der Machtübernahme der Militärs 1964 sofort eingestellt wurden, Paulo Freire ins Exil flüchten mußte. Auch die noch existierenden und weitgehend von der Regierung selbständigen Bauernligen wurden umgehend aufgelöst. Die Gewerkschaften auf dem Land und in der Stadt wurden systematisch in Organe der Sozialfürsorge umgewandelt. "Nach 1964 wurden die Landarbeitergewerkschaften systematisch in Strukturen zur Unterstützung der Landesregierungen und des Bundes umgewandelt und als Organe verwendet, durch die die herrschende Bourgeoisie der damaligen Zeit ihre Herrschaft ausüben konnte. Dies geschah dadurch, daß ihre Hauptfunktion nun die eines Gesundheitspostens war, wo Untersuchungen 12 Eines der bekanntesten Beispiele hierfür ist der Ziegelstein ("tijolo"): In einem Kurs legt Freire einen Ziegelstein vor sich hin und fordert die Teilnehmenden auf, ihre Gedanken zu diesem Ziegelstein zu äußern. Nachdem der Großteil der Einwohner des Ortes in einer Ziegelsteinfabrik arbeitet, sich aber selbst keine Ziegelsteine leisten kann, da diese zu teuer sind, kommt auf diese Weise ein Gespräch Ober die eigene Lebenswirklichkeit zustande. Erst am Ende dieses Gespräches steht das Schreiben des Wortes.
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durchgeführt und Medikamente verteilt wurden etc. Auf diese Weise konnte die ländliche Gewerkschaftsorganisation lange Zeit ihre historische Funktion nicht mehr ausüben." 13 Erst mit Beginn der politischen Öffnung 1978 erstarken die Wiederstandsbewegungen im ganzen Land, werden unabhängige Stadtteilorganisationen und Gewerkschaften gegründet, finden wieder Streiks statt. So sind auch schon 1978 vereinzelte Aktionen der Bauernbewegung zu beobachten. 1979 schon kommt es zum "3. Nationalen Landarbeiterkongreß", auf dem unter anderem erneut die Forderung nach einer umfassenden Landreform (statt Neukolonisation) laut wird. Parallel dazu erfolgen im Süden Brasiliens die ersten Landbesetzungen durch Landarbeiter und Bauern, die ihr Land verloren haben. Die Landbesetzungen werden in den Folgejahren ein wichtiges Mittel werden, um der Forderung nach Landreform Nachdruck zu verleihen, aber auch, um die Not der ländlichen Familien etwas zu lindern. Die Bewußtseinsentwicklung nämlich, die auf Seiten der Bauern vor den Besetzungen erfolgt ist, und aus der heraus auch die erneute Forderung nach Landreform erst richtig verständlich wird, ist in etwa folgende: Die Teilnahme an den Neukolonisationsprogrammen war mit hohen Risiken verbunden: nicht nur die Krankheiten der Tropenregion hatten sich nur zu oft als übermächtig erwiesen, sondern es hatte sich auch gezeigt, daß die üppige Vegetation des Urwaldes nur aufgrund eines komplexen Ökosystems möglich, der Urwaldboden abgesehen von diesem Wechselspiel aber äußert labil und nach wenigen Jahren verbraucht war. Die Arbeit als Landarbeiter konnte immer weniger den Lebensunterhalt der Familien sichern, doch zeigte sich zugleich auch, daß die Abwanderung in die Großstädte keine Lösung (mehr) war, da auch dort die Zuwandernden in der Regel nur die Favelas vergrößerten. Eine Lösung mußte also in einer Umstrukturierung der ländlichen Region des Heimatstaates gesucht werden, und hier bot sich die Umverteilung der Latifundien an, die häufig nur für extensive Viehwirtschaft genutzt wurden oder brachlagen. Für die Geschichte der Landarbeiterbewegung in den südlichen Bundesstaaten, auf die ich mich in Folgenden konzentrieren werde, war an diesem 3. Natio-
13 Ildes Ferreira de Oliveira in: tempo e presenga 231, Juni 1988, S. 4 (Übers, vom Verf.).
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nalkongreß weiter wichtig, daß sich dort die durch den Bau des Staudammes Itaipü im Dreiländereck Brasilien, Paraguay, Argentinien landlos gewordenen Bauern zusammenschlössen und den "Movimento Terra e Justifa" gründeten. Durch den Bau von Itaipü (1975-1982) wurden schätzungsweise 80.000 Menschen von ihrem Land vertrieben. 14 Trotz der umfassenden Zusagen der Regierung wurden nur wenige Familien ausreichend entschädigt. Viele der Menschen, die ich 1987 und 1988 auf den Landbesetzungen in der Region um Cascavel/PR kennengelernt habe, sind damals durch Itaipü landlos geworden und haben bis heute noch keine Entschädigung gesehen!
Abb. 1 : Die Besetzung auf der Fazcnda Anoni (Rio Grande do Sul): knapp tausend Familien kämpften hier mehrere Jahre lang um eine Neuverteilung dieses brachliegenden Besitzes.
14 Zahlen aus: Deutsches Weltgebetstagskomitee (Hrsg.), Arbeitsheft zum Weltgebetstag 1988, S. 38.
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1981 kommt es zu der Besetzung, die bis heute der große Hoffnungsträger der Landlosenbewegung ist: 700 Familien besetzen ein brachliegendes Land in Encruzilhada Natalino im Munizip Ronda Alta (Rio Grande do Sul). Es ist die erste Besetzung von so großem Ausmaß und sie soll länger als drei Jahre dauern. Encruzilhada Natalino wird zum Kristallisationspunkt der Landlosenbewegung und ihrer Unterstützung durch Gewerkschaften und Kirchen. Nicht zuletzt der massiven kirchlichen Unterstützung ist es zu verdanken, daß diese Familien bereits (!) nach drei Jahren Land erhalten haben. Die Besetzung ist nicht nur Beginn der systematischen Organisation der Landlosenbewegung ("Trabalhadores Rurais Sem Terra"), sie zieht auch weitere Besetzungen in den südlichen Bundesstaaten nach sich, wodurch die Notwendigkeit einer umfassenden Agrarreform erneut ins öffentliche Bewußtsein kommt: Tancredo Neves verspricht 1985 unmittelbar nach seiner Wahl die systematische Durchführung des Landstatuts! Vom 21.-24. 1. 1984 findet in Cascavel (Paraná), in unmittelbarer Nähe des Stauwerks Itaipu also, der "I o Encontro Nacional do Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra" statt (1. Nationales Treffen der Landlosenbewegung). Die Anwesenheit von Repräsentanten aus 12 Bundestaaten zeigt, welchen Organisationsgrad die Bewegung mittlerweile erreicht hat. Das Treffen setzt die Grundlagen der Bewegung fest: Grundsätze, Ziele und Forderungen der Bewegung, aber auch die landesweiten Organisation- und Kampfformen werden beschlossen. Damit wird ein einheitliches Auftreten gegenüber den Regierenden ermöglicht. Das Treffen ist der Beginn für eine große Welle von Besetzungen über alle Bundesstaaten hinweg. Auf dem "I o Congresso Nacional dos Trabalhadores Rurais Sem Terra" (1. Nationalkongreß der Landlosen), der ein Jahr später, vom 29.-31. 1. 1985, in Curitiba (Paraná) stattfindet, sind dann bereits Repräsentanten aus allen (damals) 23 Bundesstaaten vertreten. Das wichtigste Ergebnis des Kongresses ist die Feststellung, daß acampamentos (Kampfsiedlungen) und Besetzungen das politisch wirksamste Mittel darstellen, um die Forderung nach einer Landreform zu unterstützen. Bis Ende Oktober 1985 bestehen im ganzen Land 35 acampamentos und Besetzungen, in denen ca. 35.000 Familien leben! Welche Bedeutung der Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra (MST) in dieser Zeit erlangt hat, zeigt die Tatsache, daß die Regierung Samey, der die Nachfolge des verstorbenen Tancredo Neves antritt, im April 1985 den MST einlädt, bei der Entwicklung des "I o Plano Nacional de Reforma Agrária"
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(PNRA - 1. Nationaler Agrarreformplan) mitzuarbeiten. Am 10. 10. 1985 wird der PNRA verabschiedet; er sieht vor, daß allein im Jahr 1986 4,6 Mio. ha Land enteignet und unter 150.000 Familien verteilt werden. Bis 1989 sollen 1,4 Mio. Familien Land erhalten. 15 Bereits während der Ausarbeitungsphase des PNRA regt sich Widerstand: im Mai 1985 wird die UDR gegründet ("Uniäo Democrática Rural", übers, etwa: Demokratische Land[besitzer]union), sie wird in den Folgejahren für die meisten gewaltsamen Übergriffe auf Mitglieder des MST und seine Unterstützer, etwa Priester, die sich für die Landfrage engagieren, verantwortlich sein. Schon 1986 ist ihre Mitgliederzahl auf 6.000 Personen angewachsen. Im Januar 1986 legt der Agrarreformminister Nelson Ribeiro einen umfassenden Plan für die Durchführung der Agrarreform vor, in dem unter anderem auch diejenigen Gebiete konkret benannt sind, die nach dem Landstatut für eine Enteignung und Neuverteilung in Frage kommen. Jedoch wird der Plan von der Regierung nicht akzeptiert, was im Mai 1986 zum Rücktritt Ribeiros führt. Der Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra sieht ab diesem Zeitpunkt die Agrarreform als gescheitert an und beginnt, die Besetzungen zu verstärken. Als neue Aktionsform entstehen die caminhadas, Märsche von Delegationen der einzelnen acampamentos des jeweiligen Bundesstaates in die Landeshauptstadt. Ihr Ziel ist es einerseits, auf dem Weg die Bevölkerung über Absicht und Ziele des MST zu informieren, und andererseits, durch die Präsenz an den Regierungssitzen - und Ziel der caminhadas ist, soweit möglich, die Besetzung der Länderparlamente - Einfluß auf Abgeordnete und Regierung auszuüben. 16 Die Statistik gab dem MST Recht: bis Juni 1986 hatten lediglich 6.000 Familien Land erhalten - weniger als ein Zwanzigstel der für 1986 geplanten Größe!
15 Das Zustandekommen des PNRA war ein großer Erfolg des MST. Er blieb jedoch schon als Projekt ein Tropfen auf den heißen Stein, wenn man beachtet, daß nach Angaben des MST allein im Bundesstaat Rio Grande do Sul im Jahr 1987 140.000 Familien zu den Landlosen zu zählen waren. 16 Zu einer netten Begebenheit kam es hierbei in Porto Alegre, der Hauptstadt von Rio Grande do Sul: Während der Gouverneur auf die Ausweisung aus dem Parlamentsgebäude drängte, meinte der Parlamentspräsident, es handle sich hierbei um das Haus des Volkes; wenn das Volk davon Besitz nehme, so müsse das Parlament dies akzeptieren.
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Jedoch nicht nur der PNRA, auch der Versuch, die Parlamentarier durch die caminhadas zu gewinnen, scheitert: Bis zum Jahresende 1986 geben alle Besetzungen in den Hauptstädten auf: Politische Erfolge waren auf diese Weise nicht zu erzielen, und die Lebenssituation war in den Besetzungen der Großstädte ungleich prekärer als im Landesinneren, konnte hier doch absolut nichts angebaut werden und war kaum Arbeit zu finden. Hinzu kam die Ungewißheit über das Geschick derjenigen, die auf den alten Besetzungen geblieben waren und von denen es kaum Nachrichten gab. So kehrten gegen Weihnachten 1986 fast alle Gruppen an ihre Ausgangsorte zurück. Im November 1986 fanden Wahlen zu den Länder- und dem Bundesparlament sowie zur Verfassunggebenden Versammlung statt, aus denen die PMDB, eine Partei, die zur Zeit der Militärs als MDB die einzig erlaubte Oppositionspartei war und nun ein Sammelbecken für die konservative Mitte darstellte, mit einer breiten Mehrheit als Sieger hervorging. Während des Prozesses der Diskussion des Verfassungsentwurfs, von dem die Jahre 1987 und 1988 geprägt waren, wurden von dem MST, dem Gewerkschaftsverband CUT (Central Unica dos Trabalhadores) und dem Rat für Landpastoral (CPT, dazu unten) mehrere sog. emendas populäres (Verbesserungsvorschläge aus dem Volk) eingebracht, um eine Sozialbindung des Landbesitzes und eine Agrarreform in der neuen Verfassung festzuschreiben. Unterstützt wurden diese Forderungen durch eine Massendemonstration in der Bundeshauptstadt Brasilia, bei der im Oktober 1987 mehr als 10.000 Teilnehmerinnen zusammmenkamen. Im Verlauf des Jahres 1987 zeigte sich jedoch die immer größer werdende Unwilligkeit der Regierung, den PNRA durchzuführen: die Repressionen nicht nur der UDR, sondern auch der Militärpolizei gegen die Landlosen und die Besetzungen wurden immer stärker. Das offene Eingeständnis dieser Unwilligkeit erfolgte am 21.10.1987, als durch den decreto lei (Präsidentenerlaß) No. 2.363 das Nationale Institut für Kolonisation und Landreform (INCRA) abgeschafft, umfassende Garantien für die Landbesitzer ausgesprochen und die Verteilung bereits enteigneten Landes erschwert wurden. In den Abstimmungsgängen der Verfassunggebenden Versammlung feiern dann die UDR und die Konservativen ihren (zumindest bis jetzt) endgültigen Sieg: Bei der Abstimmung über die Landreform am 11.5. 1988 entfällt in dem relevanten Art. 219 jede Sozialbindung des Landeigentums: "Produktives Land kann nicht enteignet werden", steht dort lapidar. Die neue Verfassung, die am
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5. 10. 1988 in Kraft getreten ist, geht damit hinter den Estatuto da Terra der Militärs von 1964 zurück! José Gomes da Silva, Agraringenieur und ehemaliger Präsident des INCRA, meint zu den Konsequenzen des Art. 219: "Na pràtica, a passar o preceito de que terras produtivas näo podem ser desapropriadas, restaräo apenas, para essa finalidade, as terras improdutivas. E se, eventualmente, os tribunais se fixaram no conceito de fertilidade (mais preciso 17 ), ficaräo para a reforma agrària apenas os carracais, charcos, areiöes, picarras e pirambeiras. E isso, é claro, nem os trabalhadores nem a racionalidade aceitaräo." 18 Seit dem Inkrafttreten der neuen Verfassung ist es folgerichtig kaum mehr zu neuen Landverteilungen gekommen. Die Repression von Militärpolizei und Privatarmeen der UDR dagegen hat rapide zugenommen. Selbst im Süden, in dem es bis 1988 relativ rechtsstaatlich zuging, sind Morddrohungen gegen Priester, die sich für die Landlosen einsetzen, heute keine Seltenheit mehr! Darüber hinaus versuchen Regierende und UDR, die Bewegung zu spalten: bei den Wahlen zu den Landarbeitergewerkschaften hat die UDR versucht, von ihr abhängige oder unterstützte Personen in die Führungspositionen zu befördern 19 , und die für die Landverteilung zuständigen Stellen haben seit 1987 bei Neuansiedlungen gezielt Gruppen, die im MST organisiert waren, mit solchen gemischt, deren Organisationsgrad gering war.
17
Was nach Gomes laut Aurelio, dem maßgeblichen Wörterbuch für brasilianisches Portugiesisch, möglich wäre.
18
"Wenn diese Vorschrift, daß produktives Land nicht enteignet werden kann, in die Praxis umgesetzt wird, so werden also nur die unproduktiven Ländereien für diesen Zweck übrigbleiben. Und wenn sich die Gerichte eventuell auf den Begriff der Fruchtbarkeit im engeren Sinn stützen, so blieben für die Landreform nur die Zwergwälder, Sümpfe, Steppen und Geröllfelder. Und das, soviel ist klar, würden weder die Landlosen noch der gesunde Menschenverstand akzeptieren können." Aus: J. Gomes da Silva, O conceito de terra produtiva, in: lempo e presenca 231, Juni 1988. - Vgl. auch die Beiträge in der Folha de Säo Paulo vom 12. 5. 1988, der Frankfurter Rundschau vom 20. 5. 1988 und dem Latin American Weekly Report vom 26. 5.1988.
19 Siehe die in Anm. 8 genannten Beiträge.
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4. Die Bedeutung der Organisationsstruktur im MST am Beispiel der Besetzung Encruzilhada Natalino Eine Landbesetzung ist eine Extremsituation, wie sie kaum eine der teilnehmenden Familien je erlebt hat: mit mehreren hundert Menschen auf engstem Raum zusammenzuleben in einer Situation extremer Ungewißheit und Bedrohung kann schnell zu einer Art "Lagerkoller" führen. Es war und ist deshalb bei den Besetzungen wichtig, von Anfang an Strukturen im Lagerleben zu schaffen, die zum einem das Zusammenleben regeln, zum anderen aber auch die nötige menschliche Geborgenheit vermitteln können. Zu dem ersten Bereich gehört, daß die praktischen Arbeiten geregelt werden, insbesondere die Verteilung des Mangels, soll heißen der von außen kommenden Hilfsgüter und Lebensmittel, aber auch die Verwaltung der Lagerapotheke und die Freistellung von in Heilkunde erfahrenen Personen. In den hitzigen Phasen einer Besetzung, in denen stündlich mit dem Eingreifen von Privatarmeen oder Militärpolizei gerechnet werden muß, gilt es weiter, die Wachen zu organisieren und Pläne für eine Verteidigung des Lagers vorzubereiten. Diese Dienste werden in der Regel auf Vollversammlungen verteilt, nur in Ausnahmefällen von der Lagerleitung bestimmt. Diese wiederum ist von den Familien oder den Regionalgruppen gewählt. Die Regionalgruppen sind so die Zwischenglieder zwischen den Familien einerseits und der Lagerleitung, die auch die Verhandlungen nach außen führt, andererseits. Für den Ablauf des Lagerlebens besteht ihre Hauptbedeutung m.E. jedoch darin, daß sie das Zusammenleben in überschaubare Gruppen ordnen und somit die zweite Strukturanforderung erfüllen, menschliche Geborgenheit zu vermitteln. Regionalgruppen bestehen je nach der Herkunft der an der Besetzung teilnehmenden Familien entweder aus Menschen derselben Herkunftsregion oder aber aus den Familien, die auf einer Besetzung in Nachbarschaft leben. Selten übersteigt eine Regionalgruppe die Größe von 10 Familien. Hier ist also ein persönliches Miteinander möglich. Zugleich aber stellen die Regionalgruppen ein Stück basisdemokratischer Organisationsstruktur dar; jeder Bewohner des Lagers ist gezwungen, sich an den Entscheidungen zu beteiligen. Die allermeisten Entscheidungen werden zunächst im Forum der Regionalgruppen diskutiert, bevor auf einer Vollversammlung (auf der sich dann oft nur Delegierte der Gruppen treffen) Beschlüsse gefaßt werden. Die Lagerführung ist (nach innen) in erster Linie ausführendes und koordinierendes Organ. Diese Organisationsstruktur ist wichtig, da auf diese Weise einem Mißtrauen gegen die exponierten
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Personen vorgebeugt wird: Entscheidungen sind letztlich nicht allein ihre Entscheidungen, sondern Entscheidungen aller. Weder die kritische Analyse der eigenen Situation noch das gemeinschaftliche Handeln sind Elemente, die der brasilianischen Bevölkerungsmehrheit aus ihrem Alltag vertraut sind. Ihre Einübung ist daher in der Regel ein schwieriger Prozeß, von ihrem Gelingen aber hängt ein großer Teil der Stärke und des Erfolges der Besetzungen ab. Und dies nicht nur während der Zeit der Besetzungen, wie sich im Fall von Encruzilhada Natalino gezeigt hat: Mit dem Landerhalt ist die kritische Zeit für die landlosen Bauern nämlich noch lange nicht überstanden, denn nun gilt es, sich auf dem Land zu organisieren und die harten Anfangsjahre zu überstehen.
Abb. 2: Hoffnungsträger der Landloscnbewegung: die Neuansiedlung Nova Ronda Alta.
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Zehn der 700 Familien von Encruzilhada Natalino bilden heute die Siedlung Nova Ronda Alta, die zum Hoffnungsträger des MST geworden ist. 20 Bei meinem ersten Besuch im Herbst 1986 erzählen sie: "Die große Gefahr nachdem wir 1984 das Land erhalten hatten, war zu sagen, nun haben wir's geschafft, jetzt können wir weiter machen, wie wir es von früher gewohnt sind, und wieder in den alten und allgegenwärtigen Individualismus zu verfallen. Doch hat uns die Zeit im acampamento gezeigt, wie wenig wir als einzelne bewirken können, daß der Schlüssel zum Erfolg die gemeinsame Arbeit ist. Und so haben wir beschlossen, daß wir unser Land gemeinsam bebauen wollen, obwohl uns von seiten des INCRA immer wieder dazu geraten worden ist, daß jeder sein eigenes Teil bebauen soll. Am Anfang haben wir noch die Schweine jeder selbst am Haus gehalten, doch jetzt sind wir dabei, auch diese in einem Stall zusammenzuführen." Voraussetzung für solches gemeinschaftliche Arbeiten war natürlich, daß die Familien während der Besetzungszeit lange Erfahrungen mit basisdemokratischen Entscheidungsprozessen gesammelt hatten und an diesem Prinzip weiterhin festhielten: Nach wie vor fanden wöchentliche Vollversammlungen statt, auf denen die anstehenden Entscheidungen (bis hin zur Fruchtfolge eines Jahres) getroffen wurden. Der Erfolg gab ihnen recht: Nicht nur, daß sie durch gemeinsame Einkäufe günstigere Konditionen erreichen konnten, auch gemeinsame Anschaffungen wurden möglich, so ein Traktor und eine Bewässerungspumpe - wenngleich hier nicht vergessen werden darf, daß Nova Ronda Alta für solche Zwecke auch immer wieder Unterstützung durch Kirchen und Solidaritätsgruppen erhielt. Die gemeinsame Arbeit ermöglichte es auch, das Land in erosionshemmenden Terrassen anzulegen. Eine weitere Folge war, daß ohne größere Probleme Bewohnerinnen freigestellt werden können, um zu Fortbildungen zu fahren oder den Kontakt zu neuen und alten Besetzungen zu halten. Dies alles ist jedoch nicht möglich, wenn auf einer Neuansiedlung plötzlich Familien dabei sind, die kaum Organisationserfahrung haben, und darin liegt die Gefahr der oben beschriebenen Maßnahmen für den MST. Der gemeinschaftlichen Organisation in Nova Ronda Alta war es zu verdanken, daß im Jahr 1988, als die Aufkaufpreise für landwirtschaftliche Produkte in den Keller gefallen waren, eine relative Autarkie der Siedlung erreicht werden konnte.
20
Selbst in Liedern des MST wird sie besungen.
"Gottes Erde, Land für
Abb. 3:
alle"
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Im "Wohnzimmer" einer Familie der Landbesclzung Padroeira/I'R.
5. Frauen im Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra Landlose Bäuerinnen haben wie die meisten Frauen in Lateinamerika gegen den Machismo (Chauvinismus) zu kämpfen. So nimmt es nicht wunder, daß auf Länder- und Bundesebene meines Wissens keine einzige Frau den MST repräsentiert. Auf der Ebene der Besetzungen jedoch sieht dies ganz anders aus: Schlüsselpositionen in der Lagerleitung und im Lagerleben sind zu einem guten Teil mit Frauen besetzt, die zwar manchmal Angst vor der Verantwortung hatten oder von ihren Männern zurückgehalten wurden, aber die Aufgabe dann doch übernommen haben.
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Überhaupt zeigt sich, daß nur allzu oft die Frauen die Kraftquelle und der Motor einer Besetzung sind: Sie sind es, die nach einer Vertreibung erneut den Mut aufbringen, von neuem die Zelte aufzubauen, sie sind es, die den Polizisten entgegentreten, sie, die nicht die Verzweiflung die Oberhand gewinnen lassen. In mehreren acampamentos und Neuansiedlungen waren es wiederum die Frauen, die darauf gedrängt haben, daß so schnell wie möglich eine Schule gebaut wurde, damit die Kinder lesen und schreiben lernten, und im besten Fall waren es dann einige von ihnen, die den Schulunterricht erteilten. Es ist freilich selten, daß eine Besetzung so gut ausgebildete Lehrerinnen unter sich hat, daß sie nach einem Landerhalt den gesamten Grundschulunterricht in Eigenregie übernehmen können. Wo dies jedoch der Fall ist, wie in Nova Ronda Alta, da stellt der Unterricht eine große Chance für die Kinder dar, sich von klein auf in die gemeinschaftliche Organisationsform einüben zu können. 21
6. Die Rolle der Kirchen in der Landfrage Die erste wichtige Verlautbarung der lutherischen Kirche (IECLB) zur Landfrage habe ich eingangs schon erwähnt, weitere Stellungnahmen sind gefolgt, teils als offizielle Dokumente, teils als theologische Arbeiten. Die katholische Bischofskonferenz Brasiliens (CNBB) ist schon in den siebziger Jahren wiederholt mit Stellungnahmen zur Landfrage an die Öffentlichkeit getreten. 22 Dieser
21 Eine Anekdote, die die Menschen in Nova Ronda Alta mir erzählt haben: Auch nach dem Landerhalt fuhren die Bauern damit fort, wöchentliche Versammlungen abzuhalten. Daraufhin fragten nach einiger Zeit die Kinder, warum sie selber nicht auch solche Versammlungen haben dürften. Nach anfanglichem Erstaunen kamen die Erwachsenen zu dem Schluß, daß dies ihr gutes Recht sei. Seitdem gibt es parallel zu den Erwachsenenversammlungen die Kinderversammlungen, in denen nur die Lehrerin mit anwesend sein darf. 22 Aus der Fülle der Literatur seien hier nur erwähnt die Studien der CNBB Nr. 11 und 13, erschienen bei Paulinas, die Arbeit des lutherischen Theologen Silvio Meincke, Luta pela Terra e Reino de Deus, von 1988 (Sinodal), die wiederholte Behandlung des TTiemas in der ökumenischen Zeitschrift Estudos Bíblicos, die seit 1984 erscheint, und als umfassendstes Werk die 'Teologia da Terra" von Marcelo de Barros Souza und José L. Caravias in der von Vozes publizierten Serie "Teologia e Libertad o " aus dem Jahr 1988.
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mehr oder weniger offiziellen Seite korrespondiert freilich ein Handeln der Kirchen vor Ort, auf das ich im Folgenden näher eingehen werde. Auf die finanzielle Unterstützung durch Kirchen in den ersten Jahren des Neuanfangs habe ich oben schon hingewiesen. Gerade im Fall von Nova Ronda Alta kam freilich der Kirche, und hier besonders dem Parochus von Ronda Alta, Pe. Amildo Fritzen, eine Vermittlerrolle zu, durch die eine Landverteilung erst möglich geworden ist. Diese Vermittlerfunktion besteht zum einen in dem Druck, der von kirchlicher Seite (und hier wieder insbesondere von offiziellen Kreisen) auf die Verantwortlichen ausgeübt werden kann, zum anderen aber vor Ort in der Rolle der Kontaktperson nach außen. Allzu häufig nämlich haben die Landeskoordination des MST oder Unterstützergruppen im In- und Ausland nur deswegen von oft dramatischen Veränderungen erfahren, weil der Kontakt zur Außenwelt über einen Priester aufrecht erhalten werden konnte; eine nicht zu unterschätzende Tatsache, wenn man bedenkt, daß die Besetzungen nur selten in der Nähe einer Stadt liegen und der Kontakt zur Außenwelt stundenlange Fußmärsche erfordert. Der "Käfer" des Priesters entwickelt sich hier zum Kommunikationsmittel von höchster Bedeutung. Doch geht die Bedeutung der Kirchen nicht in diesen "weltlichen" Dingen auf: die geistliche Dimension des Lebens ist für die meisten der Landlosen von hoher Bedeutung und die theologische und seelsorgerliche Begleitung der acampamentos ist von daher sehr wichtig. Gerade auch unter den landlosen Bauern zeigt sich (wie an so vielen Orten in Lateinamerika), was christlicher Glaube eigentlich ist: Theologie der Hoffnung, Theologie des Lebens. 23
23
Dies kommt sehr gut in den Kreuzesdarstellungen zum Ausdruck: Auf dem Kreuzweg um Land in Santa Catarina 1986 bestand das Hauptkreuz aus Ästen, aus denen wieder neue Triebe ausgeschlagen hatten. Die Verbindung von Symbol des Leidens und Symbol des Lebens zeigt, daß das Bewußtsein, daß auf dem Weg zu neuem Leben auch das Leiden nicht gescheut werden darf, in der Theologie der Landlosen gegenwärtig ist. Zu den Kreuzesdarstellungen vgl. Ulrich Schoenbom, Gekreuzigt im Leiden der Armen, Mettingen 1986.
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Abb. 4: Karfrcitagskrcuzwcg auf der Besetzung Padrocira/PR.
Das Volk 2 4 oder hier: die Landlosen, die in Lateinamerika bestärkt durch das 2. Vatikanische Konzil die Bibel selbst in die Hand genommen haben, entdecken Jesus auf der Seite der Armen und Ausgestoßenen, entdecken sich selbst wie das Volk Israel auf dem Auszug aus Ägypten, unter der Verheißung Gottes vom gelobten (Acker-)Land. Das Christentum, das in Lateinamerika so lange eine Religion der Knechtschaft war, das den Karfreitag so lange gefeiert hat, um bei Leiden und Tod stehenzubleiben, zu sagen: "So müßt ihr auch leiden" und das neue Leben des Ostersonntags zu unterschlagen, ist nun neu zur Religion der Freiheit geworden. 25
24
"Volk" ist im Zusammenhang der Befreiungstheologie durchweg klassistisch verstanden, meint also den ausgebeuteten, unterdrückten, marginalisierten (Groß-)Teil der Bevölkerung.
25
Vgl. die Aussage des Paulus in Gal. 5,1: "Zur Freiheit hat uns Christus befreit!"
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Abb. 5: Mehrere tausend Teilnehmer der Romaria da Terra von Paraná 1987 ziehen durch die Straßen von Lapa/PR. Leiden wird nun nicht mehr als Selbstzweck gesehen, als letztes Wort auf dem Weg des Lebens, getröstet vielleicht durch die Hoffnung auf ein besseres Jenseits, sondern es ist Zeichen der Nachfolge, Weg, auf dem das Ziel schon sichtbar wird: Das Leben der erlösten Welt, das mit Ostern angefangen h a t 2 6 Die Landlosen feiern den Karfreitag, aber er wird für sie nicht mehr Anlaß zur Resignation, sondern Grund der Hoffnung: "Jesus ist mit uns in unserem Leiden,
26 Zu dieser grundlegenden theologischen Umorientierung s. insbesondere den Vortrag des luth. Theologen (der IECLB) Martin Dreher: Luthers Theologia Crucis und das Anliegen der Theologie der Befreiung, in: Lateinamerikanische Theologie der Befreiung als Herausforderung an lutherische Theologie. Ein Reader - auch zur Vorbereitung auf die VIÜ. Vollversammlung des LWB 1990 in Curitiba/Brasilien, hrsg. vom ökumenischen Studienausschuß der VELKD und des DNK/LWB, 1989.
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denn er hat auch gelitten." 27 Im Kreuzweg der Karfreitagsprozession bringen die Landlosen ihr eigenes Leiden und das Leiden Jesu zusammen, doch hinter dem Karfreitag wird das neue Leben des Ostersonntags sichtbar, das zur Hoffnung wird auf dem Weg der Bauern. Was ich hier geschildert habe, sind Erlebnisse an Ostem 1987 in dem acampamento "Padroeira", in der Nähe von Cascavel (Paraná), doch ähnliche Bedeutung hat jede sonntägliche Eucharistiefeier im Leben der Besetzungen. Und seit Jahren schon kommen in jedem Bundesstaat einmal im Jahr mehrere tausend Christinnen zusammen, Landlose aus den verschiedensten Besetzungen oder auch Neuansiedlungen und Gemeinden, die ihren Kampf unterstützen, um gemeinsam den Kreuzweg der Erde 28 zu feiern. Diese Kreuzwege sind tiefer Ausdruck einer lebendigen und befreienden Spiritualität, die das Leben der Bewegung prägt, aber sie sind doch zugleich auch eine Demonstration für politische Veränderung, für eine rasche Agrarreform. Organisatorin dieser Kreuzwege ist die jeweilige Kommission für Landpastoral (CPT), die auf breiter ökumenischer Basis arbeitet. Die CPT ist im Oktober 1975 gegründet worden und ist neben den Christinnen vor Ort das wichtigste Moment der kirchlichen Unterstützung der Agrarreformbewegung. Sie dient nicht nur der Vernetzung der Gruppen untereinander und der Koordinierung der Pastoralarbeit, sondern leistet auch wichtige Hintergrundarbeit in Form von Seminaren und Studienprojekten. Zu den Studien gehören insbesondere die Erfassung von Landkonflikten sowie die Analyse der gesamtgesellschaftlichen Faktoren, die in die Landfrage hineinspielen. Öfters tritt die CPT auch auf den Plan, um die Interessen von Kleinbauern und Landarbeitern vor Polizei und Großgrundbesitzern zu vertreten. In Konfliktfällcn leistet sie Rechtsbcratung. Das Gründungsdatum 1975 wirft ein besonderes Licht auf die Rolle der Kirchen: waren sie doch während der Militärdiktatur29 der einzige Freiraum für Basisarbeit nach der Auflösung der Bauernligen und unabhängigen Gewerkschaften. Dieses Engagement der Kirchen war möglich geworden durch die lateinamerikanische Bischofskonferenz in Medellin 1968, die deutlich die Option Gottes 27
Vgl. Mt. 25,31ff!
28
Oder des (Acker-)Landes, der brasilianische Begriff "terra" umfaßt beides.
29
Deren "harte" Phase dauerte von 1964 bis 1978.
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für die Armen herausgestellt und gesagt hatte, die Kirche solle "die Rechte der Armen und Verfolgten verteidigen und deutlich die Ungerechtigkeit anprangern, die durch den allzu großen Unterschied zwischen Armen und Reichen, zwischen Mächtigen und Schwachen entsteht."30 Auch dies waren freilich wieder die offiziellen Aufnahmen eines Prozesses, der vor Ort schon länger angelaufen war: schon 1950 konnte Dom Inocencio Engelhe, Bischof von Campanha in Minas Gerais sagen: "Com nós, sem nós ou contra nós, será feita a Reforma Agrària no Brasil." 31 Das Engagement für eine Landreform hat die Kirchen und insbesondere die Pastorinnen und Priester, die sich vor Ort und/oder in der CPT für die Anliegen der Bauern einsetzen, immer wieder in Verfolgungen geführt. Der oben erwähnte Pe. Fritzen hat seit Ende 1989 wiederholt Morddrohungen von Seiten der UDR erhalten. Obwohl die Urheber dieser Drohungen bekannt sind, ist die örtliche Polizei bis heute nicht gegen sie vorgegangen. Pe. Fritzen ist kein Einzelfall; neu und erschreckend jedoch ist, daß die Welle der Gewalt nun offenbar schon bis in den Süden gekommen ist. Bekannte Märtyrer (zumindest werden sie von dem Volk als solche betrachtet) sind unter anderem Pe. Josimo, der am 15. 4. 1986 im Bico de Papagaio, dem zweifelsohne gefährlichsten Gebiet, Opfer eines Attentats der UDR wurde, und Pe. Francisco Cavazutti aus Mossamedes in Goiás, der das Auentat zwar überlebt hat, aber seitdem dauerhaft erblindet ist. Amnesty International hat ermittelt, daß dieser Fall (wie viele andere) nie richtig untersucht worden ist, ja daß ein Ermittlungsbeamter, der dies versuchte, mit 35 Jahren in den Ruhestand versetzt worden ist. In dem Bericht heißt es weiter: "Die Wahl des Zeitpunkts der Übergriffe und Morde war eng mit dem Grad der Organisation oder dem politischen Engagement der betroffenen Gemeinschaft verbunden. Je mehr sich eine Bauerngemeinschaft organisierte, sei es, daß sie sich gewerkschaftlich betätigte oder Landbesitzansprüche vor Gericht einklagte, desto mehr wurden ihre Führer und Berater das Ziel von Anschlägen und Morden. Viele Übergriffe und Morde fanden unmittelbar vor einer Gerichtsverhandlung statt, von deren Ausgang die Bauern eine Entscheidung zu ihren Gunsten erwarteten." 32 Der Bericht schließt: "Die in diesem Bericht beschriebenen Fälle
30 Brasilien Dialog 12, S. 3; dieses Heft ist die Übersetzung einer Untersuchung der Folha de Säo Paulo vom 23. 1. 1979. 31
"Mit uns, ohne uns oder gegen uns wird in Brasilien die Agrarreform stattfinden." Quelle: Journal da Jornada (des Marsches nach Brasilia 1987).
32
amnesty international, Brasilien - Straffrei töten, S. 49.
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sind nur einige unter vielen, doch veranschaulichen sie ein durchgängiges Muster: Den für Morde, Drohungen und andere, oftmals brutale Einschüchterungsversuche Verantwortlichen ist als allgemeiner Grundsatz praktisch Schutz vor Strafverfolgung gewährt worden. Die Regelmäßigkeit, mit der dies geschieht, läßt nur die Schlußfolgerung zu, daß ein solches Vorgehen von den örtlichen und bundesstaatlichen Behörden gebilligt und auch von der Bundesregierung toleriert wird." 33 Aber nicht nur von Großgrundbesitzern und Regierenden sehen sich die Kirchen verfolgt, sondern auch von den konservativen Teilen ihrer selbst, wobei hier insbesondere der Vatikan mit seinen Machtmitteln innerhalb der katholischen Kirche zu nennen ist. Das Bußschweigen, das Leonardo Boff auferlegt bekam, ist noch in guter Erinnerung, jedoch ist der Vatikan jetzt zu neuen Methoden übergegangen, um den Basisgemeinden und der Theologie der Befreiung das Wasser abzugraben. Insbesondere die Entmachtung progressiver Bischöfe und ihre Ersetzung durch konservative Nachfolger sind hier zu nennen. Hierher gehören die Nachfolgebesetzung von Olinda und Recife nach dem Ausscheiden von Dom Helder Cámara, die Versetzung des eng mit den Basisgemeinden verbundenen Dom Sinésio Bohn von Novo Hamburgo im Winter 1986 und seine Ersetzung durch den konservativen Ratzingerfreund Dom Bonaventura Kloppenburg, und als letzter, aber sehr wirkungsvoller Schlag die Teilung der Erzdiözese Säo Paulo in vier Diözesen im Jahr 1989, wodurch Dom Paulo Evaristo Arns, einer der Wortführer der Befreiungstheologie in der CNBB, entmachtet wurde. Die Hoffnung von Basisgemeinden, Bewegungen und Amtsträgern in dieser Verfolgungssituation ist, daß der Samen, der ausgesät worden ist, zu viel und zu kräftig war, als daß er nun noch getötet werden könnte. Oder, wie es Dom Oscar Romero, Erzbischof von San Salvador, kurz vor seiner Ermordung während einer Messe im März 1980 bei einem Interview ausdrückte: "Se llegan a cumplirse las amenazas, desde ya ofrezco a Dios mi sangre por la redención y resurrección de El Salvador. (...) si Dios acepta el sacrificio de mi vida, que mi sangre sea semilla de libertad y la señal de que la esperanza será pronto una realidad."34 33
amnesty international, Brasilien - Straffrei töten, S. 70.
34
"Wenn die Drohungen sich erfüllen sollten, so will ich Gott mein Blut für die Erlösung und Auferstehung El Salvadors darbringen. (...) wenn Gott das Opfer meines Lebens annimmt, dann möge mein Blut Same der Freiheit und Zeichen dafür sein, daß unsere Hoffnung bald Realität sein wird." Quelle: José Comblin, O Espirito Santo e a Libertafào, Petrópolis 1987, S. 163.
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Abb. 6: Auf jedem Kieuzweg präsent: die Märtyrer im Kampf um die Landreform.
7. Von 1988 bis 1993 - ein qualitativer Sprung? Sowohl in der Literatur als auch in den Gesprächen mit leitenden Personen der Landlosenbewegung wird deutlich, daß der MST und der Kampf um eine Landreform seit 1988 in eine neue Phase eingetreten sind. Die Jahre bis 1988 waren nämlich vor allem von dem Kampf um ein vernünftiges Agrarreformgesetz und von massenhaften Landbesetzungen geprägt, die dieser Forderung Nachdruck verleihen sollten - und teilweise sehr violente Gegenreaktionen hervorriefen. Einen vorerst letzten Höhepunkt dieser (direkten) Gewalt stelllte der Verlauf der Besetzung der Praga Matriz in Porto Alegre dar: Am 8. August 1990 fand dort, in der Hauptstadt des Bundesstaates Rio Grande do Sul, vor dem Regierungspalast eine Demonstration von ca. 400 landlosen Bauern statt. Diese sollte die Verhandlungen über die zügige Fortführung der Landreform, die im Inneren
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des Regierungspalastes stattfanden, unterstützten. Wie schon 1986 versuchten die Bauern auch diesmal, auf dem Platz einen acampamento zu errrichten. Ungewöhnlich und erschreckend war, mit welcher Härte die Militärpolizei bei der Räumung des Platzes vorging: Nach Berichten der gemäßigten Zeitung Zero Hora35 glich der Platz einem Schlachtfeld, große Teile der Innenstadt von Porto Alegre waren mit Tränengasschwaden verhängt. Militärpolizei und landlose Bauern lieferten sich regelrechte Straßenschlachten, 72 Personen mußten mit teils schwersten Verletzungen ins Notfallkrankenhaus eingeliefert werden. Der Höhepunkt der Gewalteskalation war die Ermordung eines Streifenpolizisten durch eine Gruppe aufgebrachter Bauern. Dieses Ereignis zeigt, wie hoch die Frustrastion war, die sich unter den landlosen Bauern angestaut hatte, ist doch der Verzicht auf aktive Gewalt gegen Menschen eines der wichtigsten Prinzipien der Landlosenbewegung. Jedoch waren die Menschen, die 1985 den Versprechungen des gefeierten Tancredo Neves und seines (unvorhergesehenen) Nachfolgers Sarney geglaubt und auf eine zügige Landreform gehofft hatten, mit ihrer Geduld an ein Ende gekommen. Fünf harte Jahre Wanderschaft, fünf Jahre hin- und hergetrieben von einem Ort zum nächsten hatten sie müde gemacht. M. E. wird gerade an diesem Zwischenfall deutlich, welch erhebliches soziales Konfliktpotential durch die ständige Verschleppung der Agrarreform in Brasilien geschaffen wird. Ungeachtet dieses Zwischenfalls lassen sich aber ab 1988 zwei "Frontverschiebungen" im Kampf um die Landreform beobachten. Zum einen gehen, vermutlich auch aufgrund des sehr kritischen AmnestyBerichts36, die direkten, gewalttätigen Auseinandersetzungen zurück. 37 Gleichzeitig läßt sich seit dieser Zeit eine Konfliktverlagerung in den Bereich der Justiz erkennen; nicht mehr die Polizei ist es, die von der Lobby der Großgrundbesitzer zur Bekämpfung der Landreform benutzt wird, sondern die Gerichte. So heißt es im Rechenschaftsbericht des MST für das Jahr 1992: "Percebeu-se uma institucionalizafäo na perseguisäo ao Movimento Sem Terra. Atraves do poder judieiärio, inqudritos policiais etc. Nos meios policiais e judieiärios hä diversas 35
Zero Hora, Porto Alegre/RS, vom 9. 8.1990, S. 36-46.
36
Vgl. amnesty international, Brasilien - Straffrei töten.
37
Nach einer mir vorliegenden Statistik des MST kamen bei Landkonflikten im Jahr 1987 noch 215 Menschen zu Tode (die höchste Zahl seit Beginn der Statistik im Jahr 1964!). Ein Jahr später war die Zahl der Toten auf 90 Personen gesunken.
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iniciativas no sentido de criminalizar as atividadcs do movimento, enquadrandoas como se fosse crimes e com isso buscando ¡solá-lo da sociedade." 38 Ais Mittel solchen gerichtlichen Drucks nennen die Verfasser: - Räumungsbefehle ohne vorherige Anhörung und mit einer Frist von weniger als 24 Stunden; - Räumungsbefehle ohne vorherige Prüfung der Rechtsansprüche des Antragstellers bzw. ohne Antrag eines Grundbesitzers; - Nicht-Eingreifen gegen den Einsatz paramilitärischer Einheiten von seiten der Großgrundbesitzer; - Vorbeugehaft ohne vorherige Anhörung gegen leitende Mitglieder des MST auf Landes- und Bundesebene; - Datenaustausch zwischen Militärpolizei, UDR und Gerichten; - stets gleichlautende, stereotype Anklagen in Prozessen gegen Mitglieder des MST. Der Fortgang der oben geschilderten Ereignisse von Porto Alegre paßt in dieses Bild: Nach den Unruhen wurden vier Personen aus einer Menschenmenge von Bauern herausgegriffen und als die für den Tod des Polizisten Verantwortlichen in Haft genommen. Obwohl in dem Prozeß Ende 1992 ihre Beteiligung an der Tötung nicht eindeutig erwiesen werden konnte, wurden sie zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Selbst die Tatsache, daß eine der Angeklagten hochschwanger war, führte nicht zu einer Aussetzung der Strafe auf Bewährung. Zum anderen aber ist es trotz dieser unverändert konfliktreichen Situation und trotz der allgemeinen politischen Lähmung, die Brasilien durch den "Collorgate" erfaßt hatte, in den Jahren zwischen 1988 und 1992 zu einem Anstieg der Neuansiedlungen ("assentamentos") gekommen. Dieser ist vor allem auf die Erfolge vieler Verhandlungen auf Landesebene zurückzuführen. Teilweise konnten sogar Gouverneure dazu bewegt werden, für die Neuansiedlungen erhebliche
38
"Es ließ sich eine Insütutionalisierung der Verfolgung des MST durch die Kräfte der Rechtsprechung, durch Polizeiverhöre etc. beobachten. Im Bereich von Polizei und Rechtsprechung gibt es verschiedene Versuche, den MST zu kriminalisieren, ihn als verbrecherisch darzustellen und so von der Gesellschaft zu isolieren." Zitiert nach S. 3 des internen Rechenschaftsberichtes.
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Finanzmittel zur Verfügung zu stellen. 39 So waren bis Februar 1991 in 524 assentamentos 94.026 Familien auf knapp 5 Mio. ha wiederangesiedelt worden 4 0 ; eine Zahl, die sich bis Ende 1992 auf 110.000 Familien in über 700 Neuansiedlungen erhöht hat. 41 Damit aber kamen auf die neuangesiedelten Familien wie auf den MST völlig neue Herausforderungen zu. Lag nämlich der Schwerpunkt der Arbeit in den Jahren vor 1988 stets auf der politischen Durchsetzung der Forderung nach einer Landreform, und stellte die Produktion nur einen Nebenaspekt zur Sicherung des eigenen Lebensunterhaltes dar, so müssen nun Formen gefunden werden, um das Zusammenleben und die Produktion auf dem neuerworbenen Land zu organisieren. Dies stellt insofern eine große Herausforderung dar, als für viele Familien nun die unmittelbare Not überwunden zu sein scheint und sie versucht sind, in den (eingespielten) Verhaltensweisen zu produzieren, d.h. ihr kleines Land wieder individuell zu bebauen. Damit laufen sie aber Gefahr, wiederum in den Teufelskreis der Kleinbauern hineinzugeraten und sich auf ihrem Land nicht halten zu können. Zunehmend sieht sich der MST auch dem Vorwurf von Seiten der UDR gegenüber, daß durch die assentamentos nur riesige favelas rurais geschaffen würden. 4 2 Der MST setzt daher seit einigen Jahren verstärkt auf die Entwicklung und Durchführung von "Modellen landwirtschaftlicher Kooperation", die allerdings zum Teil mit Widerstand der angesiedelten Familien zu kämpfen haben. Diese nämlich sind die individuelle Arbeit im Familienverband gewohnt, wo jeder Bauer und jede Bäuerin jeweils für den gesamten Produktionsprozeß verantwortlich ist. 43 Hier Verantwortung und Zuständigkeit an eine heterogene Gruppe abzugeben, setzt einen erheblichen Lernprozeß voraus. Auch begünstigt der gesellschaftliche Kontext Brasiliens den Individualismus, nicht aber Formen gemeinschaftlicher Organisation. Anfangs39
In Paraná wurde auf diese Weise z.B. im Jahr 1992 die Anstellung von zehn Landwirtschaftstechnikem durch den MST möglich.
40
Nach Zahlen der brasilianischen Regierung, in dem vertraulichen Abschlußbericht des Forschungsprojektes "Principáis Indicadores Sócio-Econòmicos dos Assentamentos de Reforma Agrària", Januar 1992, durchgeführt vom brasilianischen Landwirtschaftsministerium und der FAO.
41
Nach dem Rechenschaftsbericht des MST, S. 10.
42
"Ländliche Elendsgebiete", vgl. A Experiencia do MST na cooperado agrícola, S. 150, in: Sergio Antonio Görgen/Joäo Pedro Stédillc (ed.), Assentamentos, Petrópolis 1991.
43
Vgl. A Experiencia do MST (...), S. 155-157.
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Schwierigkeiten (organisatorischer oder finanzieller Art), wie sie gerade in genossenschaftlicher Arbeit häufig auftauchen, führen daher schnell zum Ausstieg beteiligter Familien. Ziel des MST ist es deshalb, einerseits durch Bildungsarbeit ein Bewußtsein für die Notwendigkeit gemeinschaftlichen Arbeitens zu schaffen, und zum anderen für die Durchführung gemeinschaftlicher Modelle konkrete Hilfestellungen zu geben. Dies hat dazu geführt, daß heute auf Neuansiedlungen unterschiedliche Produktions- und Organisationsformen nebeneinander anzutreffen sind, nämlich: - Familien, die individuell arbeiten und vermarkten; - Familien, die individuell arbeiten, sich aber zu einer Assoziation oder Kooperative zusammengeschlossen haben, um gemeinsam zu vermarkten und einen gemeinsamen Maschinenpark zu benutzen; - sog. "agrovilas", kleine "Dörfer" aus Familien, die zusammen wohnen, ihr Land gemeinschaftlich bearbeiten und zu Vermarktung und technischer Unterstützung in einer Genossenschaft zusammengeschlossen sind; - Assoziationen, die Mitglieder aus unterschiedlichen Produktions- und Organisationsformen umfassen und der technischen Beratung dienen; - Vertriebs-Genossenschaften, die versuchen, den Handel des gesamten assentamentos (und damit unterschiedlich organisierter Familien) zu bündeln. Der genossenschaftliche Zusammenschluß führt dabei sowohl zu der Möglichkeit, leichter Kredite der Banken und des Landwirtschaftsministeriums zu erlangen, als auch zu einer ungleich stärkeren Position der assentados gegenüber den Zwischenhändlern. Nicht nur der Rechenschaftbericht des MST, sondern auch die Untersuchung des Landwirtschaftsministeriums und der FAO über "Principáis Indicadores Sócio-Economicos dos Assentamentos de Reforma Agraria"44 kommt daher zu dem Schluß, daß der Zusammenschluß in Genossenschaften für die Neuansiedlungen die beste Möglichkeit ist, ihre Lebenssituation zu verbessern. Allerdings heißt es auch: "Tentativas desta espécie encontraram
44
Durchgeführt von März bis Dezember 1991. Der Abschlußbericht wurde offenbar von der brasilianischen Regierung für so brisant befunden, daß er als "vertraulich" eingestuft wurde; er ist aber in einer Veröffentlichung durch den MST vom Juli 1992 zugänglich.
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como obstáculo as condiföes impostas pelas cooperativas em termos de obrigatoriedade de possuírem o título da terra e outras garantías extraordinárias."45 Die genossenschaftliche Organisation der Neuansiedlungen hat heute bereits einen Grad erreicht, der dazu geführt hat, daß in fünf Bundesstaaten mit dem MST verbundene Genossenschaftsdachverbände existieren, die ihrerseits wiederum seit Mai 1992 in dem Bundesverband CONCRAB - Confederagáo Nacional das Cooperativas de Reforma Agrária no Brasil - zusammengeschlossen sind. Damit wurde erreicht, daß die Genossenschaften der Neuansiedlungen auch hinsichtlich ihrer politischen Vertretung von den (traditionellen) Genossenschaftsverbänden unabhängig sind. Seit einiger Zeit existieren darüber hinaus einige Projekte, die darauf zielen, nicht nur die Produktion, sondern auch die Weiterverarbeitung der Produkte und ihre Vermarktung durch Genossenschaften des MST vorzunehmen und so vom Zwischenhandel unabhängig zu werden.
8. Perspektiven Der schon erwähnte FAO-Bericht kommt zu dem Schluß: "O assentamento de popula?öes rurais de baixa renda ñas áreas desapropriadas pelo INCRA revelou-se eficaz na promo?üo do desenvolvimento rural e na fixa?äo do hörnern no campo. (...) Neste sentido, recomenda-se a expansäo deste programa, de forma tal que permita incorporar maior número de familias de baixa renda, evitando-se assim o isolamento dos assentamentos num contexto de pobreza rural. (...) Verificou-se a existencia de um marcado processo de integrado nos mercados, (...), o que revela que os assentamentos, alem de colaborar no aumento da
45
"Solche Versuche trafen auf das Hindernis, daß die Genossenschaft(sdachverbände, W.S.) den Besitz der Landtitel und andere außerordentliche Garantien forderten." Aus: Principáis Indicadores (...), S. 78. Da die Erteilung der Besitztitel oft auch nach der sog. Wiederansiedlung noch Jahre dauern kann, bedeutet dies im konkreten Fall, daß Neuansiedlungen zwar genossenschaftlich arbeiten, sich aber nicht als Genossenschaften eintragen lassen können. Dies wiederum hat dann zur Folge, daß z.B. der Zugang zu gerade in der Anfangszeit wichtigen Krediten verbaut ist.
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produ9äo de alimentos, foram eficientes ein desenvolver um setor de agricultores comerciáis." 46 Die Landreform und die aus ihr resultierenden Neuansiedlungen stellen also einen positiven wirtschaftlichen und sozialen Faktor für die weitere Entwicklung Brasiliens dar. Sowohl der Abschlußbericht der FAO-Untersuchung als auch der Rechenschaftsbericht des M S T und etliche Bundespolitiker 47 fordern daher für die nächsten Jahre eine Agrarpolitik, die das Anliegen der Landreform vorantreibt und die darüber hinaus politische und wirtschaftliche Rahmenbedingungen schafft, die die verschiedenen Modelle landwirtschaftlicher Kooperation, und hier insbesondere die Bildung von Genossenschaften, begünstigen. Dazu gehören unter anderem: - Beschleunigung der Erteilung der Besitztitel an Neuansiedlungen; - Änderungen im Genossenschaftsgesetz hinsichtlich des Wirtschaftsbetriebes und der Steuerpflicht von Genossenschaften; - Schaffung derselben Möglichkeiten von Finanzierung und Vorfinanzierung wie sie für Großbetriebe bereits bestehen; - Intensivierung der technischen Beratungsprogramme, unter besonderer Beachtung einer "naturgebundenen Landwirtschaft". 48 Es bleibt zu hoffen, daß die brasilianische Regierung die Zeichen der Zeit erkennt, und solche Untersuchungsergebnisse und Vorschläge nicht weiterhin als brisante Verschlußsache deklariert! 46
"Die Wiederansiedlung ländlicher Bevölkerung mit niedrigem Einkommen auf vom INCRA enteigneten Ländereien stellte sich uns also als geeignetes Mittel dar, um die ländliche Entwicklung voranzutreiben und die Landflucht zu bremsen. (...) So gesehen, empfehlen wir die Ausweitung dieses Programmes, dergestalt, daß von ihm noch mehr Familien mit niedrigem Einkommen erfaßt und die Isolierung der Neuansiedlungen in einer Umgebung ländlicher Verarmung vermieden werden können. (...) Es ließ sich auch eine deutliche Entwicklung hin zu einer Integration in die Märkte feststellen, (...), was zeigt, daß die Neuansiedlungen, abgesehen von ihrem Beitrag zur Steigerung der Lebensmittelproduktion, auch fähig waren, einen wirtschaftlichen Sektor der Gesellschaft zu entwickeln, in dem Bauern auch als Händler auftreten." Aus: Principáis Indicadores (...), S. 84.
47
Deren Vorschläge finden sich referiert bei José Gomes da Silva, in: Assentamentos, S. 70-84.
48
Principáis Indicadores (...), S. 85.
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9. Resumo Tanto a Igreja Católica como a Igreja Luterana (IECLB), nos últimos anos, mostraram urna preocupaçâo especial com a questüo da terra e da Reforma Agrària, no Brasil. O autor mostra, como a luta pela ierra faz parte da historia brasileira praticamente desde a aboliçâo da escravatura até hoje. Ele traça as linhas principáis dessa luta pela terra desde o surgimento das ligas camponesas, nos anos 50, até a atual atuaçâo do Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra (MST). Ele pergunta tanto pelas estruturas internas desse movimento como pelo papel das Igrejas e da fé cristá dentro dele. Finalizando, ele mostra quai a contribuito econòmica e social do MST para o futuro do Brasil. A questâo agrària nâo é um problema entre outros, mas representa um dos desafíos mais decisivos para o futuro do Brasil. Isto, porque a situaçâo latifundiária e o constante processo de concentralo da terra nâo só desafiam a populaçâo rural mas também a populaçâo urbana. A rápida inversâo da repartiçâo populacional entre campo e cidade no decorrer de nem 50 anos foi urna das causas da atual crise social nos grandes centros urbanos. Essa se dà pela falta de emprego tanto como pela inexistencia de urna infracstrutura capaz de amparar a milhares de migrantes. O autor mostra as tentativas de urna Reforma Agrària no "Plano Trienal de Desenvolvimento Econòmico e Social" do ministro Celso Furtado (1963) o quai provocou o golpe de 1964. Ele descreve a resposta militar no "Estatuto da Terra" (de 1964) e enfatiza a infeliz ligaçâo entre Reforma Agraria e Colonizaçâo feita por aquele documento. E por último avalia o penoso processo de luta pela consolidado da Reforma Agrària na Nova Conslituiçûo de 1988. O autor também relata o surgimento do MST desde as primeiras tentativas, ainda sob a ditadura militar, até a consolidaçâo como movimento nacional com urna estrutura econòmica propria. Ele enfatiza que o MST nüo é só um instrumento político para conseguir a Reforma Agrària, mas que dentro dele, ao mesmo tempo surge o núcleo de urna nova sociedade mais solidária. Neste contexto, ele dá énfase especial ao papel das mulheres dentro dos acampamentos e na organizaçâo de produçâo e da convivencia coletiva nos assentamentos. Pela formaçâo de associaçôes e cooperativas, o MST conseguiu, nos assentamentos, um avanço expressivo na geraçào de renda dos pequeños produtores re-assentados. Dessa maneira, o projeto da Reforma Agrària representa urna possibilidade de fixar as familias rurais de novo no campo e de barrar o éxodo rural.
"Gottes Erde, Land für alle"
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As Igrejas tiveram e têm ainda um papel importante, nessa luta pela terra: Durante a ditadura, muitas vezes foram o único espaço para os agricultores se articularem - e dessa maneira, nâo surprende que o MST hoje em dia, tendo mais espaço na sociedade, mostra urna maior autonomia frente às Igrejas. Mas ainda hoje, o apoio pelas Igrejas é urna força política muita importante. E muitas vezes, pastores, padres e leigos fazem parte das articulaçôes regionais do MST, sendo muitas vezes também vítimas prediletas da violencia contra o MST. A fé cristâ, para muitas pessoas do MST, é a fonte que alimenta a luta pela terra, é a força da resistencia: É a fé no Deus vivo que sempre se manifestou em favor dos pequeños e oprimidos e que libertou o seu povo da escravidâo do Egito, que dá a força mais profunda para muitos participantes do MST. As celebraçôes da eucaristia, assim, sâo tanto louvor da força vivificadora de Deus como também lembrança do sofrimento de Cristo e do pròprio movimento. Sofrímento e perseguiçâo nâo sâo entendidos como destino inalterável de Deus, mas como marca do sofrimento de Cristo hoje na luz, na promessa e na esperança da vida da Páscoa.
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"Gottes Erde, Land für alle"
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Nachrichten
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Moleques 1 Afrobrasilianische Straßenkinder Hannes Stubbe, Rio de Janeiro und Mannheim
Einleitung Das Straßenkinderproblem hat heute in vielen Ländern der Dritten Welt ein so gravierendes Ausmaß angenommen, daß manchmal jede Aussicht auf eine tiefgreifende Lösung unmöglich erscheinen kann. 2 Liest man die Berichte z.B. über Straßenkinder in Afrika 3 , Asien 4 oder Lateinamerika5 , so entsteht der Eindruck, 1
Das Wort "moleque" (auch "muleque") leitet sich aus dem Kimbundo (mu'leke = menino, rapazote, etwa "Kind", "Junge") ab und findet sich bereits 1731 in der Bedeutung "individuo sem palavra" (wortloses Individuum) oder "individuo sem seriedade" (unernstes Individuum; vgl. da Cunha, 1982:528; Mendonfa, 1948:244). Der "Aurelio" (Novo Dicionario Aurelio, 1975:937) schreibt: 1. negrinho (Negerchen), 2. individuo sem palavra ou sem gravidade (Individuum ohne Wort oder ohne Emst), 3. canalha, patife, velhaco (Lump, Schlingel, Halunke), 4. bras. menino de pouca idade (brasilianisch: Junge geringen Alters), 5. bras. aramandaia (Tupiwort?: Käfer oder Palmenfrucht), 6. bras. diabo (Teufel), 7. cngraijado, pilherico, trocista, jocoso (lustig, witzig, spöttisch, komisch), 8. canalha, velhaco (s. oben) (fem. moleca in der Bedeutung von 5. und 6.).
2
3 4
Amaral (1955:156) schreibt: "Mulique, s.m. - negrinho novo; menino vadio e mal educado (herumtreiberischer und schlecht erzogener Junge); rapaz brincalhäo (zu Streichen aufgelegter Junge)." (Vgl. auch Cabral, 1982:526, 527.) Vgl. International Congress on Child Abuse and Neglect, Rio de Janeiro 1988; "Kindheit in der Dritten Welt", Tagung, Hofgeismar 1987; "Encontro Nacional de Meninos e Meninas de Rua", Brasilia 1986; 8. Internationaler Kongreß über Kindesmißhandlung und Vernachlässigung, Hamburg 1990; UNICEF, 1992; Kindemothilfe e.V. Brasilien, 1990; WHO, 1987; vgl. auch den Film "Pixote" (dt. "Asphalthaie"), Brasilien, 1980. Ebigbo, 1988. Aptekar, 1988.
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Hannes Stubbe
daß der Teufelskreis, in dem diese Kinder leben, sich täglich noch verschärft und daß die staatlichen Stellen diesem Problem (im Gegensatz zu einigen kirchlichen, universitären und karitativen Einrichtungen) nur eine sehr geringe Beachtung schenken. Auch wissenschaftlich ist dieses Thema bisher kaum bearbeitet worden. In Brasilien hat die Situation der Straßenkinder (menores abandonados, meninos de rua, meninos na rua) in jüngster Zeit verstärkt die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit erregt, weil die "Constituinte" (Verfassunggebende Versammlung) diesem Problemkreis eine eigene Sitzung gewidmet hat und entsprechende Paragraphen zum Schutze der (Straßen-)Kinder in der neuen Verfassung vorhanden sind. 6 1986 lebten nach offiziellen Statistiken in Brasilien 36 Millionen Kinder in einer Entbehrungssituation (criangas carentes) und 7 Millionen von ihnen waren Straßenkinder, darunter ein sehr hoher Anteil von ca. 90 % AfroBrasilianer. 7 Nur insgesamt 427.000 Kinder wurden von der FUNABEM (Nationaler Kinderschutzbund) betreut. 8 In ganz Lateinamerika sollen ca. 40 Millionen Kinder ohne Heim leben.9 Was versteht man unter Straßenkindern? Nach unseren Erfahrungen lassen sich folgende Typen von Straßenkindem in Brasilien unterscheiden: - Auf der Straße arbeitende Kinder (z.B. als Schuhputzer, ambulante Verkäufer etc.), die jedoch oftmals aus den Vororten und Favelas in die städtischen Zentren heranfahren und in familienähnlichen Gruppen (oftmals alleinerziehende Mütter) leben (meninos na rua); - im Familienverband auf der Straße oder einem Platz (pra?a) lebende Kinder obdachloser Familien, die betteln oder auf der Straße arbeiten; - Straßenkinder, die in kleinen Gruppen ("Banden") an einem bestimmten Platz ohne Familienanschluß und Heim leben (Lokalgruppen, meninos da rua); 5
Vgl. z.B. zu Bogotá: Jähnigen, 24.10.1987; Krack, 7.2.1988; Guatemala: Heckl, 4./5.6.1988; Brasilien: Stubbe, 1988; 1992.
6
Vgl. C o n s t i t u y o da República Federativa do Brasil (de 5 de outubro de 1988), capítulo VII.
7
Vgl. Collen, 1987:86; Jomal da PUC, II, 1987:5.
8
Ferreira, 1979; Bierrenbach et al„ 1987; Luppi, 1987; Pollmann, 1986; Jomal da PUC, n, 1987; Roggenbuck, 1988; UNICEF, 1988; Augel, 1985.
9
Jomal do Brasil, 23.11.1984.
Moleques
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- zur Prostitution gezwungene Kinder, die an bestimmten Plätzen der Großstädte "arbeiten" und keinen Familienanschluß besitzen (versklavte Kinder); - von Zuhause (oder aus einem Heim) ausgerissene Kinder, die temporär auf der Straße leben; - verwaiste Kinder, die im Land oder im Stadtgebiet nomadisieren und ohne Familienanschluß leben. Wichtig bei allen Typisierungen und Definitionen der Straßenkinder ist das gemeinsame Merkmal: die Sorge für den eigenen Lebensunterhalt. Häufig überschneiden sich die obengenannten Gruppen auch in zeitlicher und räumlicher Hinsicht. Zudem muß festgestellt werden, daß in einem tropischen Land wie Brasilien "rua" (Straße) und "pra^a" (Platz) wichtige strukturelle Größen im Alltagsleben darstellen (s. unten). Bei über 300 wolkenlosen Tagen im Jahr und Temperaturen von über 20 Grad Celsius kann man sich eben fast immer im Freien aufhalten.
Zur Sozialgeschichte der Straßenkinder in Brasilien Die Sozialgeschichte der Straßenkinder in Brasilien reicht in die Zeit der portugiesischen Kolonisation (1500-1822) mit ihrer Sklaverei der Indianer und Afrikaner (seit dem ersten Drittel des 16. Jahrhunderts) zurück und durchzieht das Imperium (1822-1889) und die Republik (seit 1889) bis in die Gegenwart hinein. Kindesaussetzung war bereits den brasilianischen Indianern bekannt. Die Ausstoßungsreaktion wurde durch Notzeiten, aber auch durch Abweichungen von der Norm der Körperfarbe (z.B. Albinismus) und der Körperform (z.B. Verkrüppelungen), Verhaltensweisen (z.B. Zwillingsgeburt, Idiotentum, Abweichungen von der Sittennorm) und Sprache (z.B. falsche Laute) verursacht. Diese Ausstoßungsreaktion hängt auch stark davon ab, ob der "Abnorme" schon in den Sozialverband aufgenommen ist oder nicht und findet sich deshalb vorwiegend bei Neugeborenen. 10 Es darf vermutet werden, daß der durch die portugiesische Kolonisation verursachte rapide soziale Wandel (in Form eines Kulturschocks) in den indianischen Ethnien auch das Problem der "Straßenkinder" (d.h. vagabundierender 10 Vgl. Mar?al, 1946; Magalhäes, 1951; Baldus, 1954,1968,1984.
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Hannes Stubbe
Kinder) geschaffen hat. Außerdem existierte eine Kindersklaverei. Mit der Einführung der afrikanischen Sklaven ergaben sich für die Kinder der Sklavinnen besondere Probleme. Sie mußten nämlich von den Sklavenhändlern und -haltern mit durchgefüttert werden und wurden deshalb bald verkauft. Viele Sklaven flohen aber auch. 11 Mit dem Gesetz "Lei do ventre livre" (28.9.1871), das die Kinder der Sklavinnen "befreite", setzten viele fazendeiros (Gutsbesitzer) die "freien" Kinder ihrer Sklavinnen auf die Straße, ebenso wie die alten Sklaven, die seit dem Gesetz "Lei do sexagenärio" (1885) mit 65 Jahren frei wurden. 12 Eine Statistik aus den Jahren 1756 bis 1788 verdeutlicht, wie gering das Interesse der Sklavenhändler an afrikanischen Kindern und Jugendlichen gewesen sein muß (vgl. Tab. 1). Man kann jedenfalls generell feststellen, daß 80% der eingeführten Sklaven Erwachsene mittleren Alters waren (davon 60% bis 70% Männer) und die Sklavinnen bereits vor ihrer Verschiffung nach Brasilien von ihren Kindern getrennt wurden. 13 Es läßt sich insgesamt eine sehr hohe (soziobzw. psychogene) Mortalitätsrate der Sklaven beobachten. 14 Nur 60% überlebten das erste Jahr ihrer Versklavung. Was mit den Sklavenkindern geschah, ist kaum bekannt. Daß sie auch arbeiten mußten, steht außer Zweifel. Bereits bei Camper (1792:35) findet sich die Beobachtung, daß die Beinverkrümmungen der Sklaven auf die schwere Kinderarbeit in den Kolonien zurückzuführen sei. In Rio de Janeiro, der damaligen Hauptstadt Brasiliens (1762-1962), existierte wie in vielen anderen Städten eine "Roda dos expostos" (Kinderlade) zum Aussetzen von Säuglingen. Die Kindersterblichkeit war deshalb im Imperium außerordentlich hoch. 15 Die schwarzen Ammen waren oftmals gezwungen, ihre eigenen Kinder auszusetzen, um den Säugling der weißen Herrin zu stillen.16
11 Vgl. Goulart, 1972. 12 Vgl. Klein, 1987; Freitas, 1982; Maestri, 1986; Dornas Filho, 1939; Gorender, 1978; Stubbe, 1993. 13 Vgl. Klein, 1987:53 f. 14 Vgl. "banzo", Stubbe, 1987. 15 Vgl. Moncorvo Filho, 1926; Lobo, 1876; Stubbe, 1993. 16 Vgl. Lage da Gama Lima & Pinto Venancio, 1988.
Molequ.es
Tab. 1:
267
Afrikanische Sklaven (gekauft von der Companhia de Gräo-Parä zum Transport nach Brasilien) nach Alter und Geschlecht (1756-1788) Geschlecht
Altersgruppen
männlich
weiblich
Erwachsene
14.795
8.253
23.048
(80,5 %)
Jugendliche
3.045
2.465
5.510
(19,2 %)
99
(0.3 %)
Säuglinge Gesamt
17.840
10.718
gesamt
28.657
Quelle: Klein. 1987:59.
Mit der beginnenden forcierten europäischen Immigration (seit ca. 1823), der Sklavenbefreiung (1888), der allmählichen Verstädterung, der Industrialisierung und Bevölkerungsexplosion wurde dann das Problem der Straßenkinder auch aufgrund der wachsenden internen Migration immer gravierender. 17 In Brasilien (besonders auf dem Lande) existiert bis heute ein ausgedehntes Fosteragesystem, d.h. Kinder werden nach einem feststehenden Verfahren an Pflegeeltern (manchmal entfernte Verwandte) übergeben, wobei die Bedingungen dieser Unterbringung, die Wahl der Pflegeeltern und die Art der Beziehungen zu den wirklichen Eltern durch die Normen der Gesellschaft vorbestimmt sind. Hieraus kann sich später eine echte Adoption oder eine Rückkehr in die Ursprungsfamilie entwickeln. In beiden Fällen wird aber der Status des Kindes durch dessen Übergabe an die Pflegeeltern verändert, so daß meist hieraus fiktive Verwandtschaftsbeziehungen oder Solidaritätsverpflichtungen entstehen. Wichtig ist außerdem, daß wir in Brasilien, vor allem in den unteren Schichten, die die große Masse der brasilianischen Bevölkerung ausmachen, einen hohen Grad an Illegitimität18 beobachten können, der sich historisch auf die polygame 17 Vgl. Varella, 1874; Marques, 1925; Ribeiro, 1938; Clark, 1940; Arantes, 1988. 18 Vgl. König, 1978:129.
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Struktur der indianischen und afrikanischen Ethnien, aber auch vor allem auf die in Brasilien bis 1888 herrschende Sklaverei zurückführen läßt. 19 Auch diese Umstände haben die Straßenkindheit in Brasilien begünstigt. 20
Unterernährung Der größte Teil der brasilianischen Straßenkinder ist unterernährt und wurde von unteremährten Müttern geboren. Eine der großen Fragen, die sich der Medizin und Psychologie gegenwärtig stellen, betrifft die Unkenntnis der Auswirkungen, die Mangel- und Fehlernährung für die Funktionsfähigkeit der schließlich entstehenden Erwachsenenpersönlichkeit haben, insbesondere wenn die Entwicklung des noch unreifen Gehirns bereits verschiedenen Mangelzuständen ausgesetzt gewesen ist. 21 In den ärmeren Teilen Brasiliens muß die Unterernährung der Mutter während der Schwangerschaft ein sehr wichtiger Faktor für das Entstehen krankhafter Beeinträchtigungen sein. Wir können gegenwärtig jedoch noch nicht genau abschätzen, was solche Mangelernährung der Mutter im Hinblick auf die spätere psychische Funktionsfähigkeit des Kindes anrichtet. Besonders der 1982 gestorbene pernambucanische Mediziner Nelson Chaves hat zu dem Hungerproblem in Brasilien und seinen Auswirkungen auf die kindliche Entwicklung grundlegende Untersuchungen vorgelegt. 22 Diskutiert werden vor allem Beeinträchtigungen der intellektuellen Funktionsfähigkeit aufgrund frühkindlicher Mangelernährung und Persönlichkeitsmuster, die von German (1980) als "unreif, hysterisch und Reduktion der Hemmungsfähigkeit" charakterisiert werden und auf ein unzureichendes Funktionieren des Stirnhims schließen lassen. 23
19 Vgl. Margal, 1946; Vainfas, 1986. 20 Zur Geschichte der brasilianischen Sozialpolitik und Politik des Minderjährigen vgl. Bierrenbach et al., 1987:45 ff.; zur Geschichte des Sozialdienstes vgl. Castro, 1984. 21 Vgl. Guedes, 1985; Ciencia Hoje, no. 5, 1983; Diesfcld, 1989; Centro Regional de Documentación sobre Supervivencia Infantil, 1989. 22 Vgl. Chaves, 1973, 1982; zur sozialmedizinischen Therapie des hungerdystrophierten Kindes vgl. Gongales et al., 1974; Meilman & Py, 1974. 23 Vgl. auch Ciencia Hoje, 1984:16-18.
Moleques
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Das brasilianische Hungerproblem muß im Zusammenhang mit den geographischen Gegebenheiten, z.B. der "Seca" (Dürre) im Nordosten 24 , der längst überfälligen Landreform, der Propaganda der künstlichen Babynahrung (vgl. Nestlé-Skandal), der dadurch verursachten Abnahme des mütterlichen Stillens und der Frage der allgemeinen Schulspeisung gesehen werden.
Kinderarbeit auf der Straße Das deutsche Wort "Arbeit" ist tiefsinnigerweise etymologisch von einem Stamm herzuleiten, der das Begriffsfeld "verwaist" umschreibt. 25 "Ich bin ein Waisenkind, also muß ich arbeiten." Die schicksalhaft-gesellschaftliche Isolierung macht die Arbeit zur doppelten Mühsal. Wie stark muß dies wohl erst von Kindem erlebt werden? Die meisten Kinder in der Dritten Welt leben in bitterster Armut und ohne jegliche Zukunftsperspektiven. Ihre ersten 14 Lebensjahre haben kaum etwas gemeinsam mit dem, was der Begriff "Kindheit" in den Industrieländern beschreibt. Denn mindestens 100 Millionen, höchstwahrscheinlich sogar doppelt so viele Jungen und Mädchen unter 15 Jahren, müssen nach den Schätzungen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) in Afrika, Asien und Lateinamerika zur Überlebenssicherung ihrer Familien beitragen. In kaum einer Statistik tauchen aber die Kinderarbeiter auf, so daß niemand genau weiß, wieviele Kinder eigentlich in der Dritten Welt wirklich arbeiten müssen. In Bangladesch machen allein die Zehn- bis Vierzehnjährigen 12 % der offiziell registrierten Arbeitskräfte aus, in Indien müssen 30 Millionen Kinder arbeiten, und in Brasilien sind 25 % der offiziell registrierten Arbeitskräfte Kinder. 26 Pollmann (1984) kommt zu dem Ergebnis, daß 1975 etwa 7,2 Millionen Kinder unter 15 Jahren in Brasilien gearbeitet hätten (wobei ca. 62 % der Kinderarbeiter auf dem Land arbeiteten). Ein Anstieg auf heute etwa 12 bis 14 Millionen Kinderarbeiter ist durchaus denkbar. 27
24 Vgl. Ciència Hoje, no. 18, 1985; Castro. 1961. 25 Vgl. Kluge, 1963:29. 26 Vgl. Hücking, 1988. 27 Vgl. auch Pollmann, 1986.
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Kinderarbeit ist auch in Europa kein unbekanntes Phänomen. Otto Borst 28 fragt in seinem lesenswerten "Alltagsleben im Mittelalter" pointiert: "Gab es überhaupt Kinder? D.h. gab es eine eigene Kindheit im Mittelalter?" und stellt dann fest: "Strenggenommen ist dem Kind im Mittelalter überhaupt kein Abbildungsraum gegeben, mit einer Ausnahme, dem Jesusknaben." 29 "Die rührenden Akzente des Kinderlebens", schreibt auch Huizinga 30 , "sind in der Literatur des späten Mittelalters außerordentlich selten; für sie gab es keinen Platz in der gewichtigen Steifheit des großen Stiles."31 Gegen Ende des 18. Jahrhunderts nutzte man zuerst in der Industrie Englands die Kleinheit von Kindern, ihre Fingerfertigkeit, ihre Duldsamkeit zu skrupelloser Ausbeutung vor allem in Bergwerken und in der Textilindustrie. Heimarbeit z.B. in der Spitzenherstellung und ganz besonders in der Spielzeugherstellung erwies sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts als besonders profitbringend, weil Kinder hier unkontrolliert trotz staatlicher Kinderschutzgesetze (z.B. 1853 Schutzgesetz in Preußen) gegen Hungerlohn beschäftigt werden konnten. 32 Auch in den USA ist Kinderarbeit bis heute anzutreffen. 33 In Brasilien trat 1920 eine Bestimmung in Kraft, die für Jugendliche unter 18 Jahren die Nachtarbeit und für Kinder bis 14 Jahre jegliche Arbeit verbot. 1943 wird diesen gesetzlichen Schutzbestimmungen hinzugefügt, daß Jugendliche keine gefährlichen oder schädlichen Arbeiten verrichten dürfen, und 1946 werden sogar die bis dahin bestehenden Lohnunterschiede von Arbeitern unter und über 18 Jahren aufgehoben. Bereits auf dem Pan-Amerikanischen Kongreß des Kindes im Jahre 1948 hatten die nord-, mittel- und südamerikanischen Staaten eine "Erklärung der Rechte der Minderjährigen" verabschiedet und am 20. November 1959 wird die "Charta des Kindes" einstimmig von der UN-Vollversammlung beschlossen und somit auch in Brasilien zum Gesetz. Beide Erklärungen verurteilen die Ausbeutung
28 Otto Borst, 1983:310. 29 Ebenda, 311. 30 Huizinga, 1975:208. 31 Vgl. auch Aries, 1979. 32 Vgl. Museum für Verkehr und Technik, o.J.; Kuczynski, 1968; Johansen, 1978. 33 Vgl. Foner & Schultz, 1983:165 ff., 171, 179,182,459,511; UNICEF, 1992.
Moleques
271
oder Ausnutzung der kindlichen Arbeitskraft und fordern eine besondere Fürsorge und Schutz für das Kind. Die Militärdiktatur (1964-1985), die von der westlichen Welt begrüßt und unterstützt wurde, hat dann mit ihrem "Wirtschaftswunder" (milagre brasileiro) die Schutzgesetze wieder zurückgenommen: seit 1967 ist Kinderarbeit wieder ab 12 Jahren erlaubt, und zusätzlich ist ein "Minderjährigen-Lohn" (salàrio do menor) eingeführt worden. 34 Welche Arbeiten leisten die Kinder auf der Straße? Es gibt za diesem Thema bisher kaum arbeitswissenschaftliche, geschweige denn arbeitspsychologische Untersuchungen, die besonders die psychosozialen und physischen Überforderungen und Schäden dieser Arbeiten analysiert hätten. 35 Aus unseren Beobachtungen und aus der Literatur lassen sich u.a. folgende Arbeiten der Straßenkinder aufzählen: Auto waschen, Altpapier sammeln, Schuhe putzen, Süßigkeiten verkaufen, Lose verkaufen, Obst verkaufen, auf Autos aufpassen, Einkaufstaschen tragen, betteln, "cafezinho" verkaufen, Eis verkaufen, Karren ziehen, Alteisen sammeln, auf Feldern arbeiten, in Werkstätten arbeiten etc. Der Einfallsreichtum dieser Kinder ist unerschöpflich, wenn es darum geht, ihre Einnahmen zu sichern. Welche Auswirkungen hat die Arbeit auf die kindliche Persönlichkeit? Wir müssen leider heute feststellen, daß die Psychologie und insbesondere die Entwicklungspsychologie sowohl der Industrieländer wie auch der Dritten Welt diese Frage bisher nicht bearbeitet hat. Anregungen könnte sich die Forschung möglicherweise bei der hauptsächlich politisch motivierten, jedoch mit dem aufziehenden Faschismus nicht mehr weiterentwickelten "Psychologie des proletarischen Kindes" holen, wie sie vor allem von dem durch die Individualpsychologie Alfred Adlers beeinflußten Otto Rühle (1874-1943) 36 , von dem österreichischen Pädagogen Otto Felix Kanitz (1894-1940 in Buchenwald) 37 , von dem Russen A. S. Makarenko (1888-1939), dem Polen J.Korczak (1878?-1942) und von den Psychoanalytikern Siegfried Bernfeld (1892-1953) und August
34 Vgl. Pollmann, 1984; Bulhöes de Carvalho, 1977, Simöcs, o.J.; Código de Menores, 1979; Liborni, 1979; Neto, 1979, 1982. 35 Vgl. WHO, 1987. 36 Vgl. z.B. "Die Seele des proletarischen Kindes", 1925 37 Vgl. "Das proletarische Kind in der bürgerlichen Gesellschaft", 1925.
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Aichhom (1878-1949) 38 entwickelt wurden. Es braucht nicht eigens betont werden, daß bei der systematischen Erforschung des wirklichen Lebens der Straßenkinder begonnen werden müßte, wobei die (sozial-)historischen, ökonomischen, physiologischen, sozialen, psychologischen und kulturellen Bedingungen des Straßenkinderlebens zu analysieren wären. Auch eine Zusammenarbeit mit Anthropologen ist in einem Land wie Brasilien bei solchen Untersuchungen völlig unerläßlich. Da viele auf der Straße lebende Kinder mit ihrer Arbeit oftmals mehr als 30% des Familieneinkommens beisteuern, hat dies auch Auswirkungen auf die gesamte Familiendynamik und das Selbstwertgefühl dieser Kinder. In den (häufig) väterlosen Haushalten (mäe solteira) und bei Arbeitslosigkeit des Vaters gewinnt einerseits die Mutter stark an Bedeutung und andererseits spüren die Kinder, daß die Familie sie zum Überleben braucht. 39 Das macht sie selbstbewußt und stellt oftmals das übliche Abhängigkeit- und Autoritätsverhältnis zwischen Eltern und Kindern auf den Kopf. Die Kinder müssen sich selber helfen, sich alleine durchsetzen, und das fördert ihre frühzeitige Selbständigkeit. Kinderarbeit hat viele negative Auswirkungen auf eine Volkswirtschaft. Sie schafft nicht nur mehr Erwachsenen-Arbeitslosigkeit, weil die Kinder den Erwachsenen auf dem Arbeitsmarkt Konkurrenz machen, denn sie kosten weniger, sind geschickt, zuverlässig, gewerkschaftlich nicht organisiert (Ansätze zu Kindergewerkschaften existieren bereits in Lima und Recife), arbeiten vor allem in der Landwirtschaft und im informellen Sektor der Wirtschaft, d.h. steuerfrei, und gehören deshalb eindeutig zu den "komparativen Kostcnvorteilen" (David Ricardo) der sogenannten Billiglohnländer wie Brasilien. Außerdem belastet die frühe Überforderung und Schädigung der Kinderarbeiter (viele Kinder arbeiten z.B. mit hochgiftigen Chemikalien in der Landwirtschaft oder in siliziumhaltigem Staub von Glasfabriken) später das Sozial- und Gesundheitssystem des Landes, und schließlich stabilisiert die fehlende Schul- und Berufsausbildung die Unterentwicklung in technischer, edukatorischer und politischer Hinsicht.
38 Vgl. "Verwahrloste Jugend", 1925. 39 Vgl. Willems, 1955; Azevedo, 1961; Woortmann, 1984; Ferreira, 1987.
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Die Bildungssituation Brasilien ist nicht nur ein Land mit einem hohen Anteil von Kindern und Jugendlichen (0 bis 20 Jahre: ca. 50 % der Bevölkerung) 40 , sondern auch ein Land, in dem ein großer Teil der Bevölkerung weder lesen, schreiben noch rechnen kann (die Analphabetismusquote lag 1979 bei 34%, ist jedoch nach Bundesstaaten sehr unterschiedlich; im Nordosten betrug der Analphabetismus 198S 77% 41 ). Nur zwei Drittel der brasilianischen Kinder werden eingeschult und nur 20% erreichen die 4. Klasse. Die schulische Evasion beträgt ir. diesen vier Jahren also 80%. Auffällig ist auch der hohe Grad der Rcpetenz des ersten Schuljahres (fast 60%), sowie der hohe Grad des Absentismus, der die Frage aufwirft, ob das brasilianische Primarschulsystem den kulturellen, sozialen und ökonomischen Realitäten der Schüler in Brasilien überhaupt entspricht. 42 1987 waren in Brasilien 2,4 Millionen Kinder ohne Schule. Unter diesen Rahmenbedingungen ist es denn auch nicht verwunderlich, daß der Grad des Analphabetismus unter Straßenkindern außerordentlich hoch ist, sei es, daß sie die Schule nie oder nur unregelmäßig besuchen konnten, sei es, daß ihre Arbeit einen geregelten Schulbesuch nicht zuläßt. Die Mehrzahl der Straßenkinder ist natürlich "polizeilich nicht gemeldet", verfügt über keinen "festen Wohnsitz" und kann auch keine verantwortlichen Erziehungsberechtigten vorweisen. Obwohl in Brasilien seit dem Jahre 1854 die Schulpflicht (unter Strafandrohung) existiert 43 , sind diese Kinder von der Möglichkeit, eine ihnen entsprechende Schulausbildung zu bekommen, ausgeschlossen. Bisher gibt es über die Intelligenz- und Begabungsstruktur der Straßenkinder kaum Untersuchungen. Aus dem Umgang mit diesen Kindern ist aber bekannt, daß sie zumindest hinsichtlich ihrer "sozialen Intelligenz" und Kreativität vergleichbaren Kindern durchaus ebenbürtig, wenn nicht sogar überlegen sind. Straßenkinder leben in einer "oralen" Kultur, die u.a. durch orale Wissensvermittlung (z.B. als orale Mathematik) und Personalismus gekennzeichnet ist. Schliemann (1987) konnte in verschiedenen Untersuchungen über das mathema40 Vgl. IBGE, 1987. 41 Vgl. Jornal do Brasil, 27.2.1985. 42 Vgl. Joffily. 1977; Levy-Benathar, 1987; Freire, 1973; Lobgesang, 1980; Jornal do Brasil, 13.10.1984, 13.12.1987; Stubbe, 1987; Freire, 1983; Stubbe, 1992. 43 Vgl. Duarte, 1986.
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tische Wissen der Unterschichtkinder in Brasilien zeigen, daß solche Kinder bei mathematischen Schulaufgaben schlecht abschneiden, während sie äquivalente Aufgaben in ihrer natürlichen Arbeitssituation (z.B. beim Straßenverkauf) ausgezeichnet lösen können. Die mathematischen Denkoperationen, die diese Kinder in ihrer Arbeitssituation in ihrem Kopf durchführen, folgen durchweg den Prinzipien der in der Schule gelehrten Mathematik. Hier wird auch wieder die große Bedeutung kultureller Faktoren für die Kognition deutlich. Diese Untersuchungen, wie auch die Studien über die mathematischen Operationen in dem in Brasilien sehr beliebten (und von Analphabeten gespielten) Glücksspiel "Jogo do Bicho" könnten die Grundlage für eine tiefgreifende Reform des Mathematikunterrichts sein. Was die Alphabetisierung angeht, so hat Paulo Freire seit 1961 die für brasilianische Verhältnisse effizienteste und billigste Methode entwickelt. Nur wird sie leider nicht konsequent und allgemein angewandt. 44
Psychische Störungen Uber die Gesundheit der Kinder in der Dritten Welt (im Sinne der WHO) und insbesondere der Straßenkinder liegen bisher nur einige Rahmendaten vor. 45 Im Hinblick auf die psychische Gesundheit der Straßenkinder sind wir deshalb bisher vor allem auf Verhaltensbeobachtungen und biographische Angaben angewiesen. 4 6 1987 schrieb der sechzehnjährige Paulo Collen (angeregt von einer Lehrerin an einer "escola oficina" in Säo Paulo) seine bewegende Lebensgeschichte "Mais que a realidade" (Mehr als Realität). Hierin berichtet er über eine Fülle von psychischen Störungen bei sich und seinen Freunden, die in der Tabelle 2 aufgelistet sind und einen ungefähren Gindruck der psychischen Situation dieser Kinder geben können. Die Tabelle 2 verdeutlicht, daß Collen in fast einem Drittel des Textes seiner Autobiographie über psychische Störungen berichtet. Die meisten der von ihm genannten Probleme lassen sich als psychische Reaktionen auf Gewalt, Gefängnis, Lebenssituation, Entbehrungen und Deprivation erklären, aber auch auf bio-
44 Bildungsangebote für Straßenkinder, s. unten; Rizzini, 1989, o.J.. 45 Vgl. Manciaux, 1979; UNICEF, 1988; Jomal do Brasil, 7.11.1987, 31.10.1987. 46 Vgl. auch Arruda, 1983.
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graphisch bedingte psychische Entwicklungsstörungen zurückführen. 47 In der Ätiologie der psychischen Störungen der Straßenkinder spielt die FEBEM/ FUNABEM eine zentrale Rolle. Aus den bisher über diese "Heim-Gefängnisse" vorliegenden Berichten muß geschlossen werden, daß hier eine der entscheidenden Ursachen der individuellen psychischen Störungen dieser Kinder bzw. der späteren Erwachsenenpersönlichkeit zu suchen ist. 48 Die Zustände, die Collen (1987), Luppi (1987) und andere in solchen Institutionen beschrieben haben, reichen von Vergewaltigungen, Folter, Terror, Einzelhaft, bis hin zu Vandalismus und Mord. Baldige Flucht ist einziger Traum und Hoffnung der gefangenen Kinder.
Tab 2: Psychische Störungen in Collens Autobiographie Psychische Störungen Süchte (cheirar cola, maconha, tóxicos. artenis, Rauchen, Optalidon, amosterona, pinga etc.) Suizidales Verhalten, Automutilation Homosexualität (erzwungen, adquiriert) Depression (Verzweiflung, Wertlosigkeitsgefühl, Verlassenheit, Angst, etc.) Aggressionen (Gewalt, Vandalismus etc.) Kontakte mit der Psychiatrie Regressionen (Daumenlutschen, Enuresis, infantile Verhaltensweisen, Wunsch, Kleinkind zu sein etc.) Epilepsie gesamt (von 178)
Seitenzahlen
%
13 13 8
7,3 7.3 4.5
5 5 5
2.8 2,8 2.8
3 1 53
1.7 0.6 29.8
Quelle: Collen, 1987
47 Zu Straßenkinderbiographien vgl. Collen, 1987; Roggenbuck, 1988; de Jesus, 1968; Schwarz, 1983; Louzeiro, 1983. 48 Vgl. Collen, 1987; Luppi, 1987; Bickenbach et al„ 1987; CESME-USU-RJ, o.J.; Arantes, 1983, 1988.
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Hier wird auch meist die Homosexualität adquiriert, die oftmals bereits durch eine starke Mutterfixierung und eine fehlende Identifikation mit einer Vaterfigur vorgebahnt sein kann. Auch andere Formen der Homosexualität, wie das episodische Auftreten gleichgeschlechtlicher Handlungen in den Reifejahren (Entwicklungs-Homosexualität) sowie die Not-Homosexualität und Pseudo-Homosexualität lassen sich beobachten. Viele Straßenkinder werden auch zu homosexueller Prostitution ("Strichjungen") gezwungen. In Brasilien ist Homosexualität straffrei und verbreitet, worauf bereits Forel 49 hingewiesen hat. Kindliche Süchte sind bei Straßenkindem häufig zu beobachten. Hier spielen vor allem "maconha" (Cannabis sativa), "cheirar cola", d.h. Einatmen von Schusterklebe (durch das die Schleimhäute und Atemwege massiv geschädigt werden), Rauchen, "tóxicos" (Rauschgifte), Optalidon, Artenis, Amosterona (als Injektion in Wasser aufgelöst) und "pinga" (cachaba, Zuckerrohrschnaps) eine wichtige Rolle. "Maconha" und "cachaba" nahmen und nehmen vor allem in der afrobrasilianischen Kultur einen besonderen Platz ein (z.B. im Kult). 50 Die sogenannte Schnüffelsucht hat sich seit den 70er Jahren auch in Europa mit lebensbedrohlichen Folgeschäden unter Kindern und Jugendlichen ausgebreitet. Bei der Schnüffelsucht handelt es sich um den Mißbrauch von lösemittelhaltigen Industrie- und Haushaltsprodukten wie Klebstoffe und Klebstoffverdünner, Färb-, Lack- und Nitroverdünner, Nagellack und -entferner, Fleckentferner und Schnellreinigungslösungsmittel, verschiedene Sprays und Aerosole sowie verschiedene Gase und Benzin etc. 51 Alle diese Mittel sind frei zugänglich und legal zu erwerben, so daß eine wirkungsvolle Primärprävention kaum möglich ist. Die Standardmethode der Einnahme besteht in der Inhalation des Lösemittels aus einer kleinen Plastiktüte, wobei über Mund und Nase eingeatmet wird. In der Initialphase der Inhalation steht eine Euphorisierung, aber mit Zunahme der Intoxikation kommt es zu illusionären Verkennungen, Veränderungen der Farbwahrnehmung, akustischen Sinneswahrnehmungen und auch halluzinatorischen Erlebnissen. "Die fortgesetzte Inhalation führt zu Gang-, Stand- und Bewegungsataxie, psychomotorischer Verlangsamung, Sprachstörungen, Nystagmen und Bewußtseinsstörungen, die einem Dämmerzustand ähneln. Zeichen einer Verwirrtheit sowie affektive Störungen mit Enthemmung und zunehmende Vertiefung der Bewußtseinsstörung - evtl. über die Somnolenz hinaus - schließen 49 Forel, 1905:253; zur Sozialgeschichte der Sexualität in Brasilien vgl. Vainfas, 1986. 50 Vgl. Cascudo, 1959:120 f., 330; Servi ? o Nacional de E d u c a l o Sanitaria, 1958. 51 Vgl. Steinhausen, 1988.
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sich an. In der Regel besteht für die Phase der Intoxikation eine Amnesie." 52 Zu den akuten Komplikationen zählen Verletzungen, Unfälle und Automutilationen, akute Atemstörungen, Erstickung, Herzrhythmusstörungen und Herzstillstand als Folge einer Sauerstoffmindersättigung des Gehirns sowie Krampfanfälle. Die chronischen Komplikationen bestehen vor allem in einer Schädigung des Hirns, Rückenmarks, der peripheren Nerven, der Nieren und der Leber wie z.B. Enzephalopathien, hirnorganische Wesensveränderungen, Sprachstörungen. Die Prognose der Schnüffelsucht wird insbesondere mit zunehmender Chronifizierung als außerordentlich ungünstig und besorgniserregend angegeben. Luppi 53 schreibt: "Die Indizes der Gewalt wachsen und mit ihnen die Indizes des Drogen- und Alkoholkonsums. Von 260.000 Minderjährigen, die zwischen 1976 und 1981 die FEBEM in Säo Paulo durchliefen, konsumierten 53 % toxische Substanzen." 54 Die Straßenkinder werden heute auch immer stärker in den Handel und Krieg der Drogenhändler miteinbezogen. Die obengenannten Süchte der Straßenkinder lassen sich schlagwortartig einmal als eine Flucht aus der quälenden Wirklichkeit in ein "künstliches Paradies" des Rausches oder der Betäubung interpretieren, und zum anderen kommen sie der (noch) magischen Weltsicht dieser Kinder entgegen. Drogen "erleichtern" ihnen das Leben in einer gewalttätigen Umwelt. Im Hinblick auf die Heimkinder schreibt Luppi 55 : "Viele Minderjährige geben an, daß dies (der Konsum von Drogen, Anm. des Verf.) der einzige Ausweg sei, um die schwierige Situation in der FEBEM mit ihrer Gewalt und schlechten Behandlung bewältigen zu können. Es ist die Gewalt, die ein antisoziales Verhalten gebiert und noch mehr Verbrechen und noch mehr Gewalt." 5 6 Über suizidales Verhalten bei Kindern als Suizid oder Suizidversuch wird weltweit immer häufiger berichtet.57 Ob es sich um ein wirkliches Ansteigen der Suizidinzidenzen handelt, ist noch nicht eindeutig geklärt. Auch andere Phänomene wie Kinderarbeit, (politische) Kinderfolter 58 , psychische Erkrankungen, 52 Steinhausen, 1988: 233. 53 Luppi, 1987:220. 54 Weitere Dokumente über Kinderdrogensucht vgl. Luppi, 1987: 220-236. 55 Luppi, 1987:220. 56 Vgl. auch Imsta, 1985. 57 Vgl. Stubbe, 1988,1992. 58 International Journal of Mental Health, 1989.
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Kindesmißhandlungen, Kindersoldatentum, Kinderprostitution etc. legen jedoch die Vermutung nahe, daß sich der Druck auf die Kinder weltweit verstärkt hat. Postman (1982) spricht sogar von einem "Verschwinden der Kindheit". In Brasilien liegen bisher nur wenige epidemiologische Untersuchungen über suizidales Verhalten vor und insgesamt gesehen sind die Suizidraten in Brasilien eher niedrig (ca. 10/100.000 Einwohner). Über das suizidale Verhalten der Straßenkinder liegen bisher keine Untersuchungen vor; es ist aber bekannt, daß die Suizidinzidenz bei institutionalisierten Straßenkindern hoch ist. Collen z.B. versucht sich wiederholt den unmenschlichen Haftbedingungen in der FEBEM durch Flucht oder Suizidversuch zu entziehen. Die Konfrontation mit einer totalen Institution wirkt auf viele Straßenkinder tödlich. "Das Gewicht der Institutionalisierung ist gewaltig: die Stereotypbildung, die Massifizierung, die Fragmentarisierung, die Klassifizierung und die Bürokratie."59 Das Suizidverhalten der institutionalisierten Straßenkinder erinnert an die Suizide der afrobrasilianischen Sklaven der vorigen Jahrhunderte.60 Automutilation wird vor allem von den institutionalisierten Straßenkindern praktiziert, oftmals mit dem Ziel, in eine andere ("bessere") Abteilung verlegt zu werden oder um aus der Krankenabteilung fliehen zu können. Suizidale Tendenzen verschmelzen hierbei mit Selbstverstümmelungsneigungen. 61 Bei vielen Straßenkindern lassen sich auch körperliche Mißbildungen beobachten, die auf perinatale Geburtsschäden, auf Unfälle und fehlende ärztliche Versorgung zurückzuführen sind. Es ist nicht verwunderlich, daß psycho- und soziogene Depressionen (aber auch symptomatische Depressionen) bei Straßenkindern oft zu beobachten sind. Sie lassen sich als Folge eines psychischen Hospitalismus (aufgrund der MutterKind-Trennung) oder als Reaktion auf psychische Traumen verstehen. Kindliche Depressionen sind "körpernäher" als die Depressionen der Erwachsenen und können sich z.B. als Enuresis, pavor nocturnus, Gereiztheit, Gleichgültigkeit (Apathie), psychosomatische Symptome etc. ausdrücken. Glueck & Glueck in den USA fanden bei 14 % und Hartmann in Deutschland bei 48 % der delinquenten bzw. dissozialen Kinder und Jugendlichen depressive Verstimmungen.
59 Bierrenbach et al„ 1987:55. 60 Vgl. Stubbe, 1987:72 ff. 61 Vgl. z.B. Collen, 1987.
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Auch bei drogenabhängigen Kindern finden sich relativ häufig depressive Persönlichkeitsstrukturen.62 Collen berichtet auf vielen Seiten seiner Autobiographie über Verzweiflung, Wertlosigkeits- und Verlassenheitsgefühle. "Ich wurde entmutigt und dachte daran aufzugeben. Manchmal sind wir so; jedes Problem, das nicht so gelöst wird, wie wir es erwartet haben, ist schon ein Grund aufzugeben und daran zu denken, nicht mehr zu existieren. Zusammen mit der Entmutigung kommt die Angst." "Ich glaubte, daß die anderen Menschen glauben würden, daß ich nichts wert sei, ich selbst begann schon davon überzeugt zu sein." 63 "Man hört auf, sich irgendeinen Wert zu geben. Ich war auch so. Ich gab mir überhaupt keinen Wert." 64 Die psychosozialen Aspekte der Depressionen werden in diesen Zitaten besonders deutlich und würden sich m.E. einer individualpsychologischen Interpretation im Sinne Alfred Adlers geradezu anbieten. Unter den regressiven Verhaltensweisen der Straßenkinder lassen sich vor allem Enuresis, Daumenlutschen, Wünsche wieder Kleinkind zu sein u.ä.m. beobachten. Aus vergleichend-entwicklungspsychologischer Perspektive stellt sich hier (wie auch bei den obengenannten psychischen Störungen) aber die schwer zu beantwortende Frage nach dem Maßstab für das dem Lebensalter und Entwicklungsalter gemäße Verhalten der brasilianischen Straßenkinder (von den transkulturell-psychopathologischen Aspekten ganz zu schweigen). Aggressives Verhalten der Straßenkinder ist als Folge von frühkindlichen Traumen, Frustrationen, Gewalttätigkeiten der Militärpolizei und institutionalisierter Gewalt (z.B. FEBEM, FUNABEM) zu verstehen und zu erklären. In der brasilianischen Öffentlichkeit haben vor allem zwei Formen der Gewalt Aufsehen erregt: die Überfälle (manchmal schwer) bewaffneter Kinderbanden in Säo Paulo und Rio de Janeiro und der Vandalismus (Zerstörung und Brandlegung) in den Institutionen (wie FEBEM, FUNABEM). 65 Bei den oftmals reißerischen Reportagen über solche Vorkommnisse fragt man bisher selten nach den Ursachen dieser Gewalttaten. Wer die menschenverachtenden Zustände in
62 Vgl. Bojanovsky & Stubbe, 1982; Steinhausen, 1988. 63 Collen, 1987:111. 64 Collen, 1987:124. 65 Vgl. Luppi, 1987; Oliven, 1982; Jornal do Brasil, 24.11.1987, 7.11.1987; Film: "Asphalt-Haie" (Brasilien, 1980); Louzeiro, 1983, 1984.
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den gefängnisartigen Einrichtungen für Kinder kennt, versteht die Rebellionen als einzig möglichen Weg des Überlebens. "Die persönlichen Beziehungen zwischen den Kindern und dem Personal oszillieren gegenseitig zwischen "Verführung", "Unterdrückung", "Angst" und den Regeln des Katz-und-Maus-Spieles. Eine wirklich erzieherische Beziehung wird präjudiziell durch den "Verlust der Freiheit" des Kindes, und zudem noch durch Komponenten der Gewalt auf beiden Seiten, wobei auf der einen Seite die Macht zur Unterdrückung aufrechterhalten wird und auf der anderen Seite ein günstiger Moment zur Erwiderung abgewartet wird, auch als eine Form von Macht, die oftmals durch die Flucht repräsentiert ist, die dann dem Personal Probleme schaffen kann." 66 "Am Ende der Kette erbarmungsloser Zustände und hoffnungsloser Verarmung stehen die Straßenkinder. Doch sie wehren sich. In Säo Paulo gibt es schätzungsweise bereits 1200 Kinderbanden, die über ein riesiges Waffenarsenal verfügen. Gewalt ist die Antwort auf Hunger, Unterdrückung, Hoffnungslosigkeit und Leiden, über die die Ausbeuter dieses Landes arrogant hinwegsehen. "Tropas de choque" - Schocktruppcn nennt man die, die mit Gewalt auf das reagieren, was ihnen widerfährt. Stilette, Pistolen und sogar Maschinengewehre in Kinderhänden ..." 67
Kinderprostitution "Kinderprostitution ist in Wirklichkeit eine weitere Form der Ausbeutung und Versklavung der marginalisierten Kinder in Brasilien." 68 Luppi (1987) hat in seiner erschütternden Dokumentation über die brasilianische Kinderfrage darauf hingewiesen, daß das Thema der Kinderprostitution zu den am wenigsten untersuchten Aspekten gehört, die man unter dem Problemkreis "questäo do menor" (Kinder-Frage) debattiert. Ein Polizeibericht für das brasilianische Justizministerium aus dem Jahre 1985 schätzt die Zahl der Kinder, die in die Welt der Kinderprostitution (ein-
66 Figueiredo, 1987:182; vgl. auch Guirardo, 1986. 67 Pollmann, 1984:71. 68 Luppi, 1987:180.
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schließlich der Pornographie-Industrie) verwickelt sind, auf ca. 500.000 (Rio de Janeiro: ca. 100.000).69 Wir können zwei Formen der Kinderprostitution unterscheiden: die heterosexuelle und die homosexuelle Kinderprostitution. In einem Land wie Brasilien, in dem die Toleranz gegenüber weiblicher vorehelicher Sexualität noch gering ist, ist die heterosexuelle Prostitution ein sexuelles Schutzventil der tabuierten vorehelichen Sexualität, ein von der bürgerlichen brasilianischen Gesellschaft als notwendiges Übel betrachteter Mechanismus, das "tugendsame Reinheitsideal" der brasilianischen Frau aufrechtzuerhalten. Die Geschlechter sind insbesondere in ländlichen Gegenden noch stärker sozial polarisiert als das z.B. in Deutschland der Fall ist. 70 Es gibt in Rio de Janeiro z.B. siebenjährige Mädchen, die als Prostituierte arbeiten. Sie üben dabei jedoch meist keinen Geschlechtsverkehr aus, sondern masturbieren erwachsene (ältere) Männer. Dabei kommt es manchmal zu Vergewaltigungen. 71 Die (meist männliche) homosexuelle Kinderprostitulion unterscheidet sich in einigen wesentlichen Merkmalen von der (homosexuellen) Erwachsenenprostitution. Kinder werden zu diesem "Geschäft" getrieben und sind abhängig, sie werden meistens verführt und zu homosexuellen Akten gezwungen und werden nicht für ihren Orgasmus bezahlt. 72 Die Psychologin Irene Rizzini (USU-RJ) macht für das Ansteigen der Kinderprostitution in Brasilien vor allem das Fehlen einer Perspektive und die NichtExistenz einer langfristigen Politik verantwortlich, die in der Lage wären, das junge Mädchen auf eine würdige, gesunde und finanziell akzeptable Arbeit hin zu orientieren. 73
69 Luppi, 1987:180,186. 70 Zum machismo vgl. Stein, 1985; Machado et al., 1978; Vainfas, 1986; Manchete, 1986. 71 Für Recife: Vgl. iz3w, 1987 72 Vgl. etwa Collen, 1987:164 ff. 73 Vgl. Rizzini, 1985.
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Wie kommen die Mädchen in die Prostitution? "In Amazonien z.B. ist es üblich, Indianermädchen aus der Region des Rio Negro aus ihren Siedlungen zu entführen und sie nach Manaus zu bringen, damit sie dort in den Häusern reicher Familien als Dienstmädchen (empregada domistica) arbeiten. Von dort zur Prostitution ist es dann nur ein Sprung. Im allgemeinen werden sie aus diesen Häusern entlassen, weil sie in Fälle von sexuellem Mißbrauch von Seiten der Patrone oder ihrer Söhne verwickelt sind. Die Bars (boates) von Manaus sind voll von solchen minderjährigen Indianermädchen, die gänzlich in ein System der sexuellen Ausbeutung eingespannt sind." 74 "Auf den Fernstraßen ist die Kinder- und Jugendlichenprostitution eine grausame Tatsache, wobei die Jugendlichen von ihren eigenen Eltern gegen einen Geldbetrag den Fernlastwagenfahrem zugeführt werden. In Beiern gibt es ca. 30.000 Prostituierte im Alter von 11 bis 15 Jahren. 7 5 In den touristischen Gebieten, die vom internationalen Sex-Tourismus propagandiert werden, hat die AIDS-Furcht 76 dazu geführt, daß immer jüngere Prostituierte "angeboten" werden. Viele Kinderprostituierte kommen auch aus den großstädtischen Favelas. Eine weitere wichtige Quelle der weiblichen Prostitution in Brasilien (möglicherweise auch der Homosexualität) sind die staatlichen Heime (FEBEM, FUNABEM etc.), in denen die Mädchen eine ungenügende berufliche Ausbildung erhalten, so daß vielen nur die Arbeit als "empregada domestica" und bei Schwangerschaft der Abstieg in die Prostitution übrigbleibt. Viele Mädchen und Jungen können in der Prostitution in Brasilien (wie auch in anderen Ländern der Dritten Welt 77 ) weit mehr verdienen als in einem ihrer (mangelhaften) Schulausbildung entsprechenden Beruf.
74 Luppi, 1987:180 f. 75 Luppi, 1987:181. 76 Vgl. Frankfurter Allgemeine, 16.5.1988. 77 Vgl. Schmidt, 1985; Weidemann, 1987.
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Delinquenz und Kriminalität "Wußten wir auch, daß Kinder nicht nur durch Armut, Hunger, Krankheit oder die Gleichgültigkeit von Erwachsenen umkommen, sondern daß man sie einsperrt, foltert, mordet und hinrichtet?", fragte kürzlich mit Recht Katharina Zimmer. 7 8 Allein in Südafrika sind zwischen 1984 und 1986 etwa 11.000 Kinder ohne Gerichtsverfahren eingesperrt worden. 1000 wurden verletzt, 312 von der Polizei erschossen. In Argentinien, Brasilien, Peru und Chile "verschwanden" während der Zeit der Militärdiktatur Kinder spurlos. Alle diese Akte geschahen jedoch nicht aus Überforderung, Unreife oder Hilflosigkeit der Eltern, sondern "offiziell", absichtsvoll im Namen von Regierungen und Institutionen, die Recht und Gesetz in diesen Ländern vertreten. In einem solchen Klima der politischen Gewalt müssen viele Kinder in dieser Welt leben. Die (geringe) Delinquenz und Kriminalität der Straßenkinder in Brasilien ist ein sehr komplexes Thema. Zuerst einmal muß betont werden, daß auch Kinder anderer Klassen delinquent werden können (vgl. etwa Wohlstandsverwahrlosung und -kriminalität in den Industriestaaten) und daß sich außerdem die in den Industriegesellschaften gewonnenen Erkenntnisse und Theorien über Sozialisation, Kriminalität, Delinquenz und Verwahrlosung nur sehr beschränkt auf die Länder der Dritten Welt übertragen lassen. 79 Über die Häufigkeit der Delinquenz und Kriminalität der Straßenkinder liegen in Brasilien bisher keine zuverlässigen Daten vor, man kann aber versuchen, sich anhand der institutionellen Inzidenz (z.B. FEBEM) und der Statistiken der Polizeidienststellen ein ungefähres Bild zu machen. Bierrcnbach 8 0 kommt zu dem Ergebnis, daß in der "Unidade de R e c e p t o " (UR; Aufnahmestelle) der FEBEM in Säo Paulo (die seit 1982 existiert) nur etwa 30 % (von ca. 100 "Einlieferungen" täglich) als "infratores" (auffällig gewordene Kinder, die Übertretungen begangen haben) bezeichnet werden. Über die polizeilichen Anzeigeprotokolle (Boletim de Ocorréncia) schreibt sie folgendes: "... im allgemeinen wird in das Protokoll "Herumtreiberei" (Perambula^äo), "Verdacht oder Versuch eines Diebstahls" (Suspeita ou tentativa de furto) eingetragen. Wenige Fälle sind 78 Die Zeit, 12.2.1988. 79 Vgl. Stubbe, 1992. 80 Bierrenbach, 1987:54.
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bewiesen, noch besteht die geringste Verläßlichkeit auf diese Informationen, sei es, daß die Jüngeren das Delikt der Älteren der Bande auf sich nehmen,sei es, weil sie ihr Aussagenprotokoll nicht zu lesen bekommen oder es nicht lesen können, wenn sie es unterschreiben oder weil, in häufigen Fällen, die Aussagen durch schlechte Behandlung und Folter (!) erzwungen wurden."81 Eigentumsdelikte stehen nach polizeilichen Statistiken bei Straßenkindern an erster Stelle. Derzeit findet unter den brasilianischen Juristen eine erregte Diskussion über den "Código de Menores" (auch Lei 6.697/79), über die Begriffe "familia", "propriedade", "situado regular" bzw. "situasäo irregular" (weswegen die Kinder institutionalisiert werden), "abandono", "delinquéncia" etc. statt. Manche Juristen sprechen von einer "criminalizado das 'praticas de sobrevivéncia' pela edi^äo dos códigos penáis" (Kriminalisierung der Überlebenspraktiken durch die Gesetzes-Kodizes). 82 Die vorherrschende Rechtsschule betrachtet "abandono" wie "delinquéncia" als Resultate der Armut und Misere, aber die "misèria" ist nicht die Ursache des Verbrechens und die "Miserablen" sind nicht grundsätzlich potentielle Kriminelle. Es ist vor allem die Ungleichheit, die Ausbeutung, die Ungerechtigkeit, die den Widersetzlichkeiten Vorschub leisten.83 Im Alltagsleben der Straßenkinder spielen die (Militär-) Polizisten eine bedeutende Rolle. Die Initiativgruppe für Straßenkinder in Recife "Näo violencia" sagt dazu: "Die größten Probleme haben wir mit der Polizei. Die meisten Polizisten haben eine schlechte Ausbildung und verdienen schlecht. Da sie in der Polizeikaseme einem sehr starken Druck ausgesetzt sind, gehen sie auf die Straße und lassen dort den ganzen Dampf ab. Wir wollen nicht gegen einzelne Polizisten angehen, wir versuchen jedoch, gegen die Struktur des Polizeiapparates zu kämpfen, der sehr repressiv ist. Manchmal zwingen die Polizisten die Mädchen, sie zu masturbieren, zwingen die Kinder und Bettler, für sie zu stehlen." 84
81 Bierrenbach, 1987:54. 82 Vgl. Simöes apud Arantes, 1983,1988. 83 Vgl. auch Bulhöes de Carvalho, 1977; Libomi, 1979. 84 iz3w, 1987:45.
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Die Gruppen-Kultur der Straßenkinder Viele Straßenkinder leben in Gruppen, weil dadurch ihre Übcrlebenschancen vergrößert werden. Zudem verlangen Tätigkeiten wie Autowaschen, Altpapier karren und vieles andere mehr einen kooperativen Arbeitsstil. Straßenkindergruppen besitzen meist ein eigenes "Revier" (in dem sie oftmals keine Fremden dulden), eigene Schlafplätze (mocó), bestimmte Treffplätze, einen eigenen Tagesablauf und -rhythmus, spezifische sprachliche Prägungen und ein System von Verhaltensregeln. Ihr Normensystem unterscheidet sich von dem der "anständigen" Erwachsenengesellschaft der Mittel- und Oberschicht weitgehendst. Man hat in der Literatur und Presse häufig solche Straßenkindergruppen auch als "Banden", "Gangs", "Rotten" und "Horden" bezeichnet, um dadurch ihre Subkultur als einen Zusammenschluß zum Zwecke abweichenden Verhaltens oder zur Vorbereitung und Durchführung von Straftaten zu kennzeichnen. Diese kriminalsoziologischen Termini sind aber aus verschiedenen Gründen auf diese Gruppen nicht anwendbar. Sie enthalten nämlich das Vorurteil, daß Straßenkinder (potentielle) Kriminelle sind (ganz davon abgesehen, daß die Rechtsprechung in diesem Bereich sehr umstritten ist, s. oben), und berücksichtigen nicht, daß das "abweichende Verhalten" (soweit es überhaupt vorkommt) dem nackten Überleben dieser Kinder und ihrer Familien dient. Vergleicht man etwa die von F. Thrasher (1927), W. F. Whyte (1937), K. Cohen (1961) oder Zulliger (1961) gemachten Untersuchungen über kindliches und jugendliches Bandenwesen, so wird man schnell feststellen können, daß diese "Banden" mit den brasilianischen Straßenkindergruppen nicht zu vergleichen sind. Thrasher etwa berichtet, daß die von ihm beobachteten Jugendlichen ein Vergnügen an der Mißachtung von Regeln und Tabus zeigten, ja, daß der junge "Verwahrloste" die Normen der ihn umgebenden Gesamtkultur in ihr genaues Gegenteil verkehre. Whytes zentrale These besteht darin, daß die Lebensweise der "Eckensteher" (im Gegensatz zu der der "College-Boys") der vertikalen Mobilität entgegenwirkt. Die Lebensweise der brasilianischen Straßenkinder ist aber durchaus leistungsorientiert (man beobachte sie bei ihrer Arbeit!), nur unterliegen sie eben einer raffinierten Ausbeutung und können an der vertikalen Mobilität aus vielen obengenannten Gründen und sozialen Barrieren nicht teilnehmen.
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Der schweizer Kinder-Psychoanalytiker Zulliger hat versucht, die drei Begriffe "Horde", "Bande" und "Gemeinschaft" einer sozio-psychoanalytischen Analyse zu unterziehen und hat dabei vor allem Schüler im Auge. Aber die sozioökonomischen und kulturellen Verhältnisse dieser schweizer Kinder sind mit denen der brasilianischen Straßenkinder nicht zu vergleichen. Man kann die Straßenkinder-Kultur auch nicht im soziologischen Sinne als "Gegen-Kultur" charakterisieren, weil sie im großen und ganzen der Kultur der brasilianischen Massen entspricht. 85 Aus diesen Gründen ist es u.E. richtiger, von "Straßenkinder-Gruppen" oder "Straßenkinder-Kultur" zu sprechen. Wir brauchen also eine eigenständige "Anthropologie, Soziologie und Psychologie der Straßenkinder", die das Phänomen der Straßenkindheit als ein "totales Sozialphänomen" (Mauss) betrachtet, das die Gesamtheit der Gesellschaft und ihre Institutionen in Bewegung setzt. Straßenkinder sind keine kulturlosen "wilden Kinder". Daß man mit Recht von einer eigenen "Kultur" der Straßenkinder sprechen kann, drückt sich auch in der Tatsache aus, daß diese Kinder eine eigene Sprache (giria) sprechen und Ausdrücke verwenden, die nicht im "Aurelio" (dem offiziellen brasilianischen "Duden") enthalten sind. "Mit meiner Gruppe sprach ich 'giria"', schreibt Collen 86 , "mit den Erwachsenen unterhielt ich mich in ihrer Sprache." Sprachliche Prägungen wie "xepeiro", "laranja", "xepa", "pagar pau", "sossega-leäo", "deböes", "comes", "cadáver", "rato de mocó", "levantar a casa", "mocó", "maricona", "michés", "espiantando","loló" etc. 87 gehören zum Wortschatz (mit Regionalismen) dieser Kinder. Über die Wertvorstellungen der Straßenkinder hat Ferreira (1979) eine umfangreiche Untersuchung vorgelegt. Wir haben bereits oben darauf hingewiesen, daß "rua" und "pra9a" strukturelle Gegebenheiten des brasilianischen Lebens 88 und natürlich besonders der Straßenkinder sind. "... In den engen, schattigen Gassen, die in die Hauptstraße einmünden, nehme ich eine Besonderheit wahr; der Gegensatz zwischen Wohnung und Straße tritt weniger deutlich hervor als in Europa. Trotz des Luxus der in den Schaufenstern ausgestellten Waren reichen 85 Zur Kultur der Armut vgl. Lewis, 1967; de Jesus, 1968; Frcire, 1973; Moffat, 1984. Zur Mendigo-Kultur vgl. Neves, 1983. 86 Collen, 1987:60. 87 Vgl. Tacla, 1968; Collen, 1987; Luppi, 1987. 88 Vgl. Malta, 1985.
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die Auslagen der Läden bis auf die Straße hinaus, so daß man nie recht weiß, ob man draußen oder drinnen ist. Die Straßen sind nicht da, um hindurchzugehen, sondern um sich darin aufzuhalten; sie sind gleichzeitig lebendiger und friedlicher, belebter und geschützter als die unsrigen." (Durch die "camelòs" in den Straßen der Großstädte Brasiliens hat sich dieser Eindruck noch verstärkt) . ".. zunächst die unbewegliche feuchte Hitze, welche das Tragen von Wollsachen unerträglich macht und den Gegensatz zwischen Wohnung und Straße aufhebt einen Gegensatz, in dem ich nachträglich eine der Konstanten unserer Kultur entdecke", schreibt schon der französische Strukturellst Claude Lévi-Strauss 89 in seinem bekannten Reisetagebuch "Tristes tropiques" (1955). 90 Wenn auch der Begriff "Lebensraum" durch politische (vor allem biologistische und nationalsozialistische) Propaganda mißbraucht wurde, so eignet er sich m.E. dennoch zur Analyse des ortsgebundenen Erlebens und Verhaltens der Straßenkinder, und zwar in den Bedeutungen wie sie von der Umwelt-Psychologie (bereits von Hellpach, 1924), der typologischen Lebensraum-Psychologie von Martha Muchow (1935) und der Feldtheorie von Kurt Lewin (als "life space") entwickelt wurden (inwieweit sich der humancthologische Ansatz z.B. als Territorialverhalten oder Funktionskreis für diesen Forschungsbereich eignen würde, müßte noch erprobt werden). Hiernach können "rua" wie auch "pra^a" als "Orte" interpretiert werden, die den sozialpsychologischen Zusammenhang von Straßenkindergruppen mit den Bedingungen ihrer Umwelt, den Zusammenhang von Merk- und Wirkwelt der Straßenkinder und den Funktionszusammenhang zwischen den dynamischen Faktoren innerhalb und außerhalb der Straßenkinder in einem Feld (das in Zusammenhang mit der brasilianischen Gesamtkultur steht) analysieren bzw. interpretieren. Es sind vor allem Orte des (sozialen) Lernens dieser Kinder. "Da die 'pra?a' ein Ort für alle ist, verhielt ich mich an den ersten Tagen recht dumm, als ich die 'sanfoneiros' ihre Musik aus dem 'sertäo' spielen hörte. Ich fand die toll! Eine Menge 'nordestinos' versammelte sich um die 'sanfoneiros', sie kamen von überall her: Bahia, Recife, Sergipe. Aber am lustigsten fand ich den Mann mit der Schlange. Er erweckte die Aufmerksamkeit von allen, die über den Platz gingen, indem er behauptete, daß er eine Schlange in seiner Tasche habe. Alle Neugierigen versammelten sich um ihn. Und wenn er sah, daß 89 Claude Lévi-Strauss, 1970:38 f. 90 Vgl. auch da Maua, 1986.
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eine genügend große Zahl zusammengekommen war, begann die Show. Er beherrschte die Zuschauer und hielt sie dort, bis er glaubte, daß er nun ein Produkt anbieten könnte. Wenn es nicht gerade eine Seife war, war es ein Öl, das mehr Wunder vollbringen konnte als alle zusammengenommen. Danach verkaufte er eine gute Menge des Produktes und zeigte den Zuschauern eine uninteressante Schlange, aber erst gegen Ende, als viele schon weggegangen waren. Ich erkundete den Platz nach allen Seiten. Schließlich war er mein Heim und ich mußte mein neues Haus kennenlernen. Es gab dort alles. Eilige Arbeiter, alte Pensionäre, die ihr Leben damit zubrachten auf den Bänken zu sitzen. Eine Seite des Platzes nannte man die Seite der Huren. Sie blieben immer hinter der Kathedrale, jede an ihrem festen Platz. Wir verteilten uns über den ganzen Platz, aber unser häufigster Aufenthaltsort war das Fliperama in der Rua Irmä Simpliciana. Die Besitzer der Buden waren intelligenter als ich dachte. Immer wenn wir uns näherten um irgendetwas zu kaufen, waren sie aufmerksam. Wären sie es nicht gewesen, wären wir in der Lage, die Bude auszuräumen, ohne daß sie es bemerkt hätten. Wir machten das häufiger an den Buden der Pra9a da Bandeira, im Park Dom Pedro. Am S6 gaben sie nichts. Wenn wir bcuclten, sagten sie, wir sollten stehlen. Wenn wir stahlen, nahm man uns alles wieder weg. Wenn es uns heiß war, benutzten wir die 'chafarizes' (Brunnen mit Fontänen). Morgens wenn wir aufwachten und die Sonne schon strahlte, war nichts schöner als in den 'chafarizes' des Platzes unterzutauchen."91
Lösungen Die Lösungen des brasilianischen Straßenkindcrproblems müssen sich vor allem an seinen vielfältigen Ursachen orientieren. In Form eines Impact-Systems lassen sich die wichtigsten Zusammenhänge folgendermaßen darstellen (vgl. Abb. 1). Danach bildet die Straßenkindheit ein kompliziertes Geflecht von verschieden gewichtigen Faktoren, die sich gegenseitig beeinflussen.
91 Collen, 1987:137 f.
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(Afro-^Brasilianische Kultur- und Sozialgeschichte - Enkulturation - Sklaverei ex. Störungen Suizide •Süchte Depressionen egressionen etc.
Interne Migration
nlichkeit
Bildung:
Rechtssystem
Gesellschaft
- Kriminalisierung
- Vorurteile - Marginalisierung - etc.
- Institutionalisierung - Adoptionsfrage - Militärpolizei - etc.
Prostitution Delinquenz Irw. Arbeitslosigkeit Institutionalisierung
Drogen
Ökonomie eines Entwicklungslandes (Dependenzl -
Billiglöhne Kinderarbeit Arbeitslosigkeit etc.
Abb. 1: Das Impact-System der Straßen-Kindheit
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Einige Autoren (z.B. Roggenbuck, 1988) rücken im Hinblick auf die Verursachung vor allem die Bedeutung der spezifischen Sozialisalion, die zur Verwahrlosung führe, in den Vordergrund. Hiernach stelle sich die Straßenkindheit als ein sozialer circulus vitiosus in folgender Weise dar: Faktoren wie soziales Gefälle, stürmische Urbanisierung und Bevölkerungsexplosion führen zu urbanem Massenelend. Aus der Armut erwächst das Problem der "meninos na rua". Es kommt zur Bildung von peer-groups (meninos de rua). Durch Internierung wird die Verwahrlosung vertieft und die Lehre in der "Slraßcnschulc" führt zur Delinquenz als gewohnheitsmäßigem Verhalten. In methodischer Hinsicht müssen hierzu einige Einwände gemacht werden. Es mag durchaus sein, daß sich solche "delinqucntcn Karrieren" (die Biographien dürften aber viel komplexer gestaltet sein!) in Brasilien nachweisen lassen, obwohl hinsichtlich der Anzahl keinerlei wissenschaftliche Untersuchungen vorliegen. Es erscheint uns auch äußerst problematisch, europäische oder nordamerikanische Verwahrlosungs- und Sozialisations-Kon/.cpte auf die soziokulturelle Wirklichkeit Brasiliens zu projizieren. Die Ursachen der Verwahrlosung, die Verwahrlosten-Institutionen etc. sind z.B. in Deutschland eben völlig andere als in Brasilien. Solche rein soziologische Studien kranken vor allem daran, daß sie nicht die brasilianische Gesellschaft, Kultur, Sozialisalion, Enkulturation etc. als Bezugspunkt nehmen, und somit dem spezifisch brasilianischen Straßenkinderproblem in seiner Komplexität nicht gerecht werden können (dies gilt auch für viele brasilianische Arbeiten). Die Depcndenz der brasilianischen Wissenschaften ist eine allbekannte Tatsache. Dies gilt besonders für die Sozialwissenschaften. Z.B. das bekannteste und gebräuchlichste Lehrbuch der Sozialpsychologic in Brasilien, die "Psicologia Social" von A. Rodrigues 92 zitiert von 426 Titeln in der Bibliographie nur 19 brasilianische Arbeiten (d.h. 4 %!). Auch besitzen wir bis heute keine brasilianische Entwicklungspsychologie. Als Lehrbücher werden europäische und nordamerikanische Werke verwendet.93 Viele Autoren, die das Straßenkinderproblem wissenschaftlich bearbeiten, konzentrieren sich m. E. auch zu sehr auf Devianz, Delinquenz und Kriminalität und geraten damit leicht in den Sog der vorurteilsbelasteien sensationalistischen Presseberichterstattung. Themen wie Kinderarbeit, Kindergesundheit, Kinder92 A. Rodrigues, 1983,10. Auflage. 93 Vgl. dazu Stubbe, 1987,1992.
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Prostitution, Unterernährung etc. sind noch weitgehendst ein Tabu. Auch sind Straßenkinder vor allem Afrobrasilianer (hier wäre auch nach einem brasilianischen Rassismus zu fragen!). Hinzu kommt, daß bisher vor allem institutionalisierte "Straßenkinder" wissenschaftlich untersucht werden, obwohl sie doch eine winzige Minderheit in Brasilien darstellen, aber sie sind für einen Sozialforscher eben leichter zugänglich. Verallgemeinerungen auf "die" Straßenkinder können aus solchen Untersuchungen nicht gezogen werden. Last but not least, es sollte auch Voraussetzung sein, daß ein Sozialforscher mit der brasilianischen Kultur, insbesondere mit der "cullura populär", überhaupt vertraut ist, ehe er mit seinen Untersuchungen beginnt. Hüten wir uns vor einem Ethnozentrismus! Was wird in Brasilien für die Straßenkinder getan? Eine Vielzahl von lokalen Initiativ- und Solidaritätsgruppcn haben sich in Brasilien der Straßenkinder angenommen. Auch in vielen Universitäten Brasiiens gibt es Forschungs- und Betreuungsprogramme, die auf Straßenkinder gerichtet sind. Insbesondere die Katholischen Universitäten, z.B. PUC-RJ und USU-RJ in Rio de Janeiro, haben sich dieser Problematik angenommen. So existiert in der PUC-RJ ein eigenes Ambulatorium für Unterschichten, in dem die Psychologiestudenten ein halbjähriges Praktikum absolvieren können. Es ist meist die erste Konfrontation dieser Mittelschicht- und Obcrschicht-Studenten mit dieser sozialen Wirklichkeit. 9 4 Auch ein Forschungsprojekt über "Familie und Institution: Auf der Suche nach Alternativen zur Internierung von Kindern" 9 5 wird seit einigen Jahren durchgeführt. In der USU-RJ existiert ein Projekt über den minderjährigen Brasilianer. 9 6 Außerdem arbeiten viele Studenten im Rahmen der Gemeindearbeit (und Gemeindcpsychologie) in den Favelas. 9 7 In Recife (wo es 1987 ca. 16.000 Straßenkinder gab) arbeitet eine Gruppe etwa zwölf Personen mit Straßenkindern, Bettlern und Prostituierten auf Straße und in einem Schuppen (in dem sich die Kinder duschen, Wäsche schen und schlafen können), finanziert mit geringen Mitteln der Kommune 94 Vgl. Figueiredo, 1984; Stubbe, 1987. 95 Magalhäes Arantes, 1983, 1988. 96 Vgl. Luppi, 1987; Coordena^äo de Estudos sobre o Mcnor, USU-RJ. 97 Vgl. Stubbe & Langenbach, 1987:160 ff.
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der Katholischen Kirche (Dom Helder Cámara). Schwerpunkt der Arbeit ist die "conscientizagäo" (Bewußtmachung) und Alphabetisierung nach der Methode des Pernambukaners Paulo Freire (wobei von Schlüsselwörtern der Straßenkinder wie "rúa", "cola", "cadáver", "carro", etc. ausgegangen wird). Die Kinder haben völlige Freiheit bei ihrer Teilnahme in diesem Projekt. "Nachts auf der Straße halten wir unsere kleine Schule ab, machen Spiele, malen. Nach dem Unterricht gibt es einen Imbiß, das ist manchmal eine Suppe und manchmal das Vesper von der Bildungsbehörde. Später gehen wir in unseren Schuppen, wo die Kinder sich duschen und einige zum Schlafen bleiben. Die Kranken bleiben auch dort." 98 In diesem Projekt werden etwa 60 Straßenkinder betreut, am Unterricht nehmen 40 Kinder teil. Die Kinder sind im allgemeinen motiviert lesen und schreiben zu lernen, um die notwendigen Dokumente zu bekommen. Die Initiativgruppe versucht auch eine Kooperative der papiersammelnden Straßenkinder zu bilden, um den Zwischenhändler umgehen zu können." Ein weiteres Ziel ist die Gründung eines eigenen Hauses für Straßenkinder, in dem sie ihre Kreativität entwickeln können. 1 0 0 Es gibt bereits zwei eigene "Parteien" zur Verteidigung der Kinderarbeiter (PDMT und PMT) in Recife. 1 0 1 Die Straßenverwaltung von Recife verteilte an die Straßenkinder auch T-Shirts mit Aufschrift, um ihnen so offiziell Verdienstmöglichkeiten zu verschaffen. 150 km von Säo Paulo haben mehrere Gruppen, die mit Straßenkindern arbeiten, eine 40 ha große ehemalige Bananen-Plantage gekauft, um hier mit den Straßenkindern Säo Paulos ihre (Wochenend-)Freizeiten zu gestalten. Dieses "Projeto de Convivencia" wird von einer ökumenischen Gruppe und der Internationalen Friedensorganisation EIRENE finanziell unterstützt. Auch deutsche Zivildienstleistende arbeiten mit. An jedem Wochenende finden sich hier Gruppen aus jeweils anderen Favelas Säo Paulos ein und jede Gruppe trägt dazu bei, das Grundstück bewohnbar zu machen. Der Wald wird gerodet, es werden Pflanzungen angelegt. Geleitet wird das Projekt von einem erfahrenen "educador de rua" (Straßenerzieher), "...es hat auch keinen Sinn, wenn wir anfangen, an ihnen rumzuerziehen, so wie es die Staatlichen Erziehungsheime (FUNABEM, FEBEM) tun ... Wir müssen sie als Menschen ernst nehmen und zusammen mit 98
iz3w, 1987:45.
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Vgl. auch die Erfahrungen mit der "Gewerkschaft der arbeitenden Kinder Mantoc" in Lima; Hücking, 5.1.1988.
100 Vgl. iz3w, 1987; Pollmann, 1984,1986; Jornal do Brasil, 9.12.1984, p. 22. 101 Jornal do Brasil, 12.12.1987, p. 4.
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ihnen für Veränderungen kämpfen." 102 Deshalb haben die Jugendlichen nach demokratischen Prinzipien im "Projekt-Rat" das gleiche Stimmrecht wie die Erzieher, und im "Kinder-Rat" beraten sie völlig selbstständig. Mit Hilfe der Pflanzungen soll das Projekt möglichst unabhängig von Spenden werden, auf staatliche Hilfe will die Gruppe ganz verzichten, deshalb müssen die Kinder und Jugendlichen selbst das Geld für die Wochenendfreizeit aufbringen. Später soll das Grundstück ständig bewohnt werden, um die Pflanzungen kontinuierlich betreuen zu können und verfolgten Straßenkindem eine Zuflucht geben zu können. Auch im Staate Minas Gerais gibt es schon ähnliche Agrarkommunen für Straßenkinder. In Rio de Janeiro existieren viele vor allem von der Katholischen Kirche geförderte Projekte für Straßenkinder. In der Rúa do Catete 195 funktioniert eine "Casa do Acolhimento" (Aufnahmehaus), in der ca. 30 Straßenkinder Unterkunft finden. Sie können dort spielen, erhalten zu festen Zeiten Mahlzeiten, üben Hausarbeiten aus, erhalten einen Basis-Schulunterricht und können über ihre Probleme diskutieren. Das Haus soll den Kindern das Überleben auf der Straße erleichtem. Dieses Modell entspricht den "Casas Abenas" (Offenen Häusern) vieler brasilianischer Großstädte, z.B. in Säo Paulo (Pastoral do Menor de Säo Paulo), in die die Straßenkinder je nach Belieben kommen können, wo sie sich duschen, spielen und lesen können. 103 Die bereits oben erwähnten "Educadores de Rua" haben in Brasilien noch kein klar umschriebenes Berufsbild mit öffentlicher Anerkennung oder gar entsprechender wissenschaftlicher Ausbildung, aber es gibt bereits viele Sozialarbeiter und Pädagogen, aber auch Laien, die sich so nennen. 104 Ein weiteres Modell ist die sog. "Brinquedoteca", ein Spielhaus, in dem die Straßenkinder eine Vielzahl von Spielsachen vorfinden, mit den Spielsachen vertraut gemacht werden und auch lernen, sie zu reparieren. Die Spielzeuge werden durch Spenden erworben. Hier soll vor allem das bisher nicht geförderte kreative Spiel- und Intelligenzverhalten entwickelt werden. Dieses System könnte auch mobil, z.B. in Gestalt eines "Spiel-Omnibusses" (wie z.B. in Mannheim),
102 Schellenberg, 1987. 103 Vgl. Jornal da PUC-RJ, 1987. I M Vgl. UNICEF/SAS/FUNABEM, 1983, 1985, 1986; Jornal do Brasil, 13.10.1987, p. 2; Cheniaux, 1986.
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eingesetzt werden, der von Sozialpädagogen, Beschäftigungs- und Spieltherapeuten geleitet werden könnte. Auch Therio-Therapie ließe sich in diesem Rahmen durchführen. Überhaupt sind frühe Interventionen gefragt, die sozialpädagogisch begründet sein müssen, sowie therapeutische und rchabilitative Maßnahmen. Ein eindrucksvolles Straßenkinder-Projekt wird von "Tigre" (einem bekannten Straßenakrobaten und ehemaligen Straßenkind) im Rahmen des "Circo Voador" durchgefühlt. Tigre bildet die interessierten und begabten Straßenkinder zu Straßenakrobaten aus. Die Straßenkinder treffen sich täglich in Tigres Schuppen in der Innenstadt Rio de Janeiros, putzen dort ihre Zähne, bekommen eine Mahlzeit und Unterricht. Die übrige Zeit verbringen sie auf den "pra?as" und zeigen ihre akrobatischen Künste. Der Verdienst wird brüderlich geteilt und ein Teil auf ein Sparkonto (für jedes einzelne Kind) angelegt (für eine spätere Ausbildung etc.). Auf den brasilianischen "pra?as" ist es üblich, Straßentheater 1 0 5 und Akrobatik 1 0 6 zu zeigen. 1 0 7 Allem Anschein nach haben sich o f f e n e Angebote für Straßenkinder (im Gegensatz zu Internierungen) am besten bewährt. Einen umfassenden Katalog dringend notwendiger sozialpolitischer Maßnahmen die Siraßenkindcr betreffend hat Figueiredo 1 0 8 vorgelegt. Auch Reformen in der (Straf-) Gesetzgebung sind dringendst notwendig. 1 0 9 Manche Straßenkinder werden auch in den staatlichen Heimen der F E B E M / F U N A B E M untergebracht, aus denen sie mit hoher Frequenz fliehen, sobald sich nur eine Gelegenheit dazu bietet. 1 1 0 Diese "Heime" sind oftmals gefängnisartig organisiert und dementsprechend repressiv. Zwar sind schon in einigen dieser Institutionen Psychologen und Sozialarbeiter tätig, aber das übliche Heimpersonal 1 1 1 ist unterbezahlt, schlecht ausgebildet und oftmals brutal. Es kommt
105 106 107 108
Vgl. Boal, 1982. Vgl. die berühmte afirobrasilianische "Capoeira"; Cascudo 1959:371 ff. Vgl. Tigre, o.J. Figueiredo, 1987:192 ff.
109 Vgl. Arantes, 1988; Jornal da PUC, IP2, 1987:3. 110 Vgl. Figueiredo, 1987:173 ff. 111 Besonders die "Inspektoren", vgl. Collen, 1987:79.
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in diesen Einrichtungen häufig zu Vandalismus, Brandlegung und Massenflucht.112 Manche dieser Heime organisieren für ihre Heiminsassen spezielle Aktivitäten wie den "Bloco Maravilha" (wunderbare Karnevals-Truppe), der bei den Karnevalsumzügen in Säo Paulo mitmarschiert und tanzt. 113 Andere bieten eine Ausbildung zu Museumsführern 114 oder Handwerkern 115 an. Alle diese Aktivitäten sind jedoch nur ein Tropfen auf den heißen Stein und die Einrichtungen der FEBEM bedürfen dringendst einer grundlegenden Reform. 1 1 6 In diesem Zusammenhang ist auch eine Neuregelung der Adoptionsfrage in Brasilien notwendig. 117 In Brasilien existiert ein florierender internationaler Kinderhandel. 118 Eine eigene Abteilung der Militärpolizei in Rio de Janeiro, die "Divisäo de Seguranga e Protegäo ao Menor" fängt die Straßenkinder ein, die "nicht betreut" werden, "auf der Straße herumlungern", bei "antisozialen Akten" ertappt werden oder Mißhandlungen erduldeten. Sie werden dem zuständigen Richter vorgeführt und kommen dann meistens in die FEBEM. 119 Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) hat für Lateinamerika empfohlen, daß der Kampf gegen die Kinderarbeit bei dem pädagogischen Einwirken auf die Eltern beginnen sollte. Ihnen soll verständlich gemacht werden, daß die Arbeit der Kinder leichter und der Arbeitstag kürzer sein sollte. "Aber die ILO vergißt, daß die wirtschaftlichen Verhältnisse in Ländern wie Brasilien nicht so sind, daß die Familie einfach auf die Kinderarbeit verzichten kann", bemerkt hierzu richtig Pollmann. 120
112 Vgl. Bienenbach et al., 1987; Collen, 1987; Luppi, 1987. 113 Vgl. Bierrenbach et al., 1987:57. 114 Vgl. Jornal da PUC, IP2, 1987:6. 115 Vgl. CRIAM in Zusammenarbeit mit der FEBEM. 116 Vgl. dazu Bierrenbach et al., 1987. 117 Vgl. Arantes, 1988; Pilotti, 1985. 118 Vgl. Frankfurter Rundschau, 8.4.1988; Heinrich, 1986. 119 Vgl. Jornal da PUC, II, 1987. 120 Pollmann, 1984:107; vgl. auch Pollmann, 1986.
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Die brasilianischen Regierungen haben dem Straßenkinderproblem bisher kaum Aufmerksamkeit geschenkt. "Wichtigere" Probleme wie der Ausbau des Militärapparates, ein aufwendiges Raketenprogramm im Rakclcnzcntrum in Säo José de Campos (S.P.). der Bau der Atombombe und atomgetriebener Unterseeboote für die Marine, die Entwicklung einer exportorientierten Waffenindustrie und megalomane Industrie- und Energieprojekte stehen auf der Tagesordnung. 1 2 1 Das Straßenkinderproblem ist jedoch nicht allein ein nationales brasilianisches Problem. Obdachlose und Straßenkinder gibt es auch in der Ersten Welt. 1 2 2 Es gibt Straßenkinder in vielen Ländern der Dritten Welt und alle diese Länder können durch einen gegenseitigen Erfahrungsaustausch voneinander lernen. Es wären also internationale Kongresse und mehr Kommunikation über dieses dringliche Thema notwendig. Zum anderen sind die Industrieländer mit der brasilianischen Nationalwirtschaft eng verflochten (allein die BRD investierte in Brasilien ca. 8,4 Milliarden DM! 1 2 3 ), was sich auch auf den brasilianischen Arbeitsmarkt auswirkt. Es besteht also auch eine ethische Verpflichtung der Industrieländer, an der Lösung dieses Problems mitzuarbeiten. Eine Information über dieses Problem auf allen Ebenen, auch in Gestalt von Kinder- und Jugendbüchern 124 , ist deshalb unbedingt notwendig.
121 Vgl. Schirm, 1987; Wöhlcke, 1987; Lock, 1987. 122 Vgl. Mannheimer Morgen, 28./29.5.1988; Die Zeit, 15.1.1988. 123 Vgl. Die Zeit, Nr. 16, 15.4.1988; vgl. auch die Verschuldung, Warfenindustrie, Atomverträge etc. 124 Vgl. Jung, 1986; Schultze-Kraft, 1981; Pollmann, 1986; Amado, 1986; Louzeiro, 1983; ÖFSE, 1984; Erklärung von Bern, 1985.
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Resumo
Após urna introduco geral sobre o problema das crianzas de rúa no chamado Teryeiro Mundo, se é tentada urna tipologia heurística da crianza de rúa. A infancia de rúa no Brasil se origina, no que diz rcspeito à sua história social, do sistema escravagista. Na atualidade süo condados como subalimenta(3o, trabalho infantil, s i t u a l o econòmica precària, desordens psíquicas, prostit u i d o infantil, delinquència e criminalidade os fatores determinantes da infancia de rúa. Neste contexto o autor fala de urna "cultura grupal das crianzas de rúa" e propòe estudos interdiscipl inanes sobre este assunto tño complexo. Finalmente s3o apresentadas e discutidas, através do "Sistema de Impacto da Infancia de Rúa", diferentes modelos para urna compreensào mais ampia e possível s o l i d o do problema.
Eingereicht: 1988.
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1. Introduçào A populaçâo jovem no Brasil possui um peso bastante significativo: o ano de 1989, assinala a existência de 59 milhôes de crianças e adolescentes na faixa de 0 a 17 anos, o que representa 41% da populaçâo total. Esta populaçâo encontrase em urna situaçâo de pobreza familiar muito grave. Em 1989, a proporçâo de crianças e adolescentes em familias com Renda Mensal Familiar Per Capita (RMFPC) de até 1/2 salàrio mínimo é de 50,5%; também é significativa a proporçâo de crianças e jovens vivendo em familias em situaçâo de pobreza absoluta (RMFPC de até 1/4 de salàrio mínimo), 27,4%.1 A questáo da extrema pobreza de grande parte das familias do país pode ser comprecndida a partir do pròprio desenvolvimento do capitalismo no Brasil, que provoca exclusâo e marginalizaçâo de parcelas significativas das mesmas, e portanto, das crianças e dos jovens. Trata-se de urna "exclusâo integrativa que cria reservas de mâo-de-obra". 2 A miseria de parte da populaçâo, resultante desse processo, é conseqiiéncia direta da concentraçâo da renda e da queda do poder aquisitivo real dos salarios, o que vem ocorrendo desde a década de 70. 3 Para essas crianças, submetidas a difíceis condiçôes de vida familiar, as opçôes se restringem ao dcscmprcgo, à vida na rua, ao recolhimento em instituiçôcs assistenciais como "menores carentes" ou "abandonados", ou à internaçâo em instituiçôes corretivas como "infratores". Em 1987, a FEBEM/SP (Fundaçâo do Bem-Estar do Menor/Sâo Paulo) atendeu, na Grande Sâo Paulo, um total de 39.221 menores, dos quais 18.430 menores abandonados e 20.791 menores auto1
Fonte: PNAD, in: IBGE, "Crianças e Adolescentes: Indicadores Sociais", vol. 3, 1991: 15, 21.
2
M ai tins, 1989: 99.
3
Cf. Camargo et alii, 1976.
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res de infra^áo penal (dados fornecidos pela FEBEM/SP). Esses dados transmitem a idéia de que os infratores sáo em maior número do que os carentes e abandonados - o que de acordo com Maria Ignés Bierrenbach, presidente da FEBEM/SP de dezembro de 1983 a mar^o de 1986, náo se verifica. Assim, segundo esta última, "os chamados "carentes", isto é, cujas familias nao apresentam as mínimas condifOes de sobrevivencia (...) constituem 95% dos menores da FEBEM/SP". 4 Baseando-se no Código de Menores, instituido pela Lei no. 6.697 de 10/10/79, a FEBEM/SP classifica a sua clientela em "menores carentes ou assistidos", "abandonados" e "infratores". O termo "menor carente" se refere aos "menores" que tém pelo menos um adulto por eles responsáveis e que os mantém internados por falta de cond¡?5es económicas e/ou de saúde física ou mental. "Menores abandonados" sáo aqueles que se encontram em situado de abandono, por falecimento dos pais ou abandono e ausencia de adultos que os substituam, ou por perda do pátrio poder. 5 Essa classifica?ao das crian£as e adolescentes em carentes e abandonados contém alguns problemas. A primeira questáo se refere ao emprego do termo menor, que ganhou no Brasil, um sentido diferente daquele expresso pela menoridade civil, presente ñas normas legáis de incapacidade. Passou a ser aplicado em r e l a j o aos meninos pobres, com conota^ao claramente discriminatória. 6 Apesar do novo Estatuto da Infancia e da Adolescencia (1991) ter substituido o antigo Código de Menores, nao utilizando mais essa classificagSo, na prática, essa categoriza^ao continua sendo empregada, cabendo á FEBEM, o atendimento de toda essa populado, que é destinada a internatos educacionais (carentes e abandonados) e a instituiíócs corretivas (infratores). A classifica^ao de carente e abandonado oculta o estado de pobreza de grande número das familias do pais. Muitos nao chegam á idade adulta, "sao mortos ainda crianzas e adolescentes na expressao máxima da exclusao que os violenta". 7 Crianzas cujos caminhos possíveis conduzem aos futuros adultos desempregados ou subempregados reproduzem "a situado que os originou. Outros envol-vem-se definitivamente 4
Bierrenbach, 1987: 44.
5
Cf. Violante, O Dilema do Decente Malandro, 1985: 17.
6
Cf. Fausto, 1984; Correa, 1982.
7
Ferreira, 1980: 106; cf. Dimenstein, 1990.
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311
com o crime de modo irreversível. Uns poucos conseguem empregos regulares e assalariados, que nao s3o suficientes para extraí-los da condilo de marginaliza?ao". 8 Esse quadro se avolumou na década de 80, mas sempre constituiu um problema grave. Sua amplitude aumentou ou diminuiu conforme os momentos sócio-económicos dos país e das regi5es. Com o intuito de enfrentar o problema, políticas públicas de caráter assistencialista foram adotadas, instituyes privadas religiosas manifestaram-se, e urna das solu^flcs encontradas foi a internado de crianzas em institui^Scs assistenciais. É da última alternativa que trata este artigo. O presente texto faz parte de urna pesquisa mais ampia, intitulada "A Infancia Assistida"9, que apresenta dois aspectos primordiais: o de revelar como se apresenta a existencia infantil no interior de entidades públicas e privadas de caráter religioso; o de tentar a compreensáo da infancia assistida através de urna abordagem que considera, em primeira plana, a fala da crianza, o que se configura como a abertura de urna nova via de acesso ao real, adquirindo a pesquisa, por esse motivo, o aspecto de exploratoria. Estes s3o os objetivos mais significativos da pesquisa. A pesquisa compreende o estudo de crianzas pobres que vivem em instituiíOes assistenciais, classificadas pelos órgaos jurídico-assistenciais como "carentes" e "abandonadas". A coleta de dados foi realizada na cidade de Sao Paulo, do inicio de 1986 a maio de 1988, numa instituido pública, a Unidade Educacional D. Paulina de Souza Queiroz, a UE-2 da Fundagáo do Bem-Estar do Menor de Sáo Paulo (FEBEM/SP) e numa instituido católica, a Comunidade das Irmas Vicentinas Jardim Rubiano. Em seguida, foram também levantados os dados, entre 1987 e 1989, de crianzas internadas em duas institui?òes espiritas, localizadas na cidade de Marília, Estado de Süo Paulo, a Associando Filantrópica de Marília e o Lar de Meninas Amelie Boudet. O interesse da comparalo estava em descobrir se haveria diferengas entre a existencia infantil em entidades de variado tipo, além do mais localizadas em aglomerares urbanas muito diferentes. A cidade de Sao Paulo é urna metrópole e Marília, urna cidade de porte medio.
8
Ferreira, 1980, 106.
9
Tese de Doutorado em Sociología, realizada sob a orienta?ao da Profa. Dra. Maria Isaura Pcreira de Queiroz, defendida na Universidade de Sao Paulo, em 1992.
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O critèrio de sele^ao das crianzas entrevistadas obedeceu à faixa etária de 9 a 12 anos, em razao délas j á apresentarem urna verbalizatao suficiente para a rea l i z a d o da pesquisa, e também por nao tcrem ingressado ainda na adolescencia cujos problemas sao especiTicos. Além disso, a sele?ào desta faixa etária deve-se ao fato das criansas nao se defrontarem ainda com a perspectiva de salda da instituido, que coloca aos adolescentes "assistidos" novos problemas. A questáo aqui tratada abordará a avalia^áo da crianza tanto a respeito das atividades diárias realizadas, quanto sobre o seu relacionamento com os funcionarios e diretores e ainda, a sua opiniao sobre a vida fora da instituido. Desse modo será apreendida a visao da crianza sobre a instituido, comprcendcndo as opiniòes favoráveis e desfavoráveis sobre a mesma. Antes, porém, de proceder à análise da fala da crianza, convém verificar o tratamento dispensado, por vários autores, a respeito da internado, tanto de um modo geral, como específico, no que se refere às c r i a b a s pobres do país.
2.
I n t e r n a d o ou vida na r ú a ? A r e c e p d o de Foucault e GoíTman no Brasil
A discussüo a respeito da internatilo de pessoas, independentemente da sua idade, nao pode ser realizada sem que se leve em considerado o pensamento de Foucault e de Goffman. O primeiro estudou a internado de pobres, desempregados e loucos nos países protestantes e na Franta, a partir do final do século X V I ; onde urna populado de pobres e de incapazes foi colocada sob os cuidados do Estado ou da cidade. A internado, segundo Foucault, era acompanhada de urna preocupado com a moral e os costumes dos internos, e a partir do século X V I I I , com a disciplina, o que implicava numa vigilancia constante sobre os individuos. 10 Goffman por sua vez, criticou as instituitdes assistenciais "pela organizado burocrática de grupos completos de pessoas", e chama-as de instituitòes "totais". O controle, segundo o autor, tem como objetivo principal exigir que "todos fa9am o que foi claramente indicado como exigido". 1 1 Esta circunstancia determina a "mutilado do eu", que ocorre a partir da admissáo do internado, compreendendo desde o uso de uniformes pertencentes à instituido, até a perda do nome. 10 Cf. Foucault, 1978 e 1986. 11
Goffman, 1974: 18.
A vida na instituigáo assistencial
313
Tanto a vigilancia dos funcionários como o aniquilamcnto da individualidade tém como meta conseguir a quebra da vontade dos internados e sua total obediencia. 12 Partindo de perspectivas diversas, Foucault e Goffman tém em comum o repudio as institui?Ses de internamento. Foucault acentúa a maneira pela qual foi criada no interior das institui?5es urna vigilancia constante para evitar desvíos de comportamento; a individualizado que parecía acentuada por essa vigilancia, tinha de ser destruida pela disciplina que ali se tornou rígida, disciplina que, assim, era a um tempo base e instrumento do poder. Goffman, por sua vez, repudia as instituifSes que considera fatores de destruido da personalidade. Os dois autores de maneira diferente, convergem para a mesma interpretado das instituidles assistenciais. Foucault e Goffman foram os dois teóricos que influenciaran! os pesquisadores brasileiros, em suas análises das institui?óes de assisténcia á infancia; constituiram o quadro referencial em que se assentaram os trabalhos. A psicóloga Marlene Guirado publicou dois trabalhos sobre a relado entre a FEBEM/SP e a crianza. No primeiro, considerou que o fator mais importante que agiría sobre a personalidade infantil seria a separado da m3e, resultando numa especie de abandono da crianza no intemato. Esta primeira pesquisa foi "urna tentativa de reportar o inicio de um processo que pode terminar, mais tarde, na marginalizad° e dclinqüencia da crianza". A crianza ao ser internada, de acordo com a autora, se ressente da "perda de alguns vínculos afetivos" e a instituido n3o lhe fornece "elementos para que ela elabore esta perda ou construa outros vínculos estáveis".13 Na segunda pesquisa, Marlene Guirado realizou um estudo sobre as representa?5es "que os funcionários da FEBEM fazcm de seu trabalho nesta instituigáo", tambem esludou as "representa9óes que crian£as e adolescentes, ali internados, fazem de sua vida ñas rela?óes que mantiveram e mantém fora da FEBEM e dentro déla". 14 Observou a autora que institui^Ses como a FEBEM, ao se apresentarem com a f u n d o e o objetivo de recolherem crianzas que foram abandonadas por suas familias, na realidade, conservaram o abandono desta mesma crianza. O abandono tcm lugar no interior da instituido- ¿ tecido na trama da 12
Cf. Goffman, 1974.
13
Guirado, 1980: 10 e 175.
14
Macedo, in: Guirado, 1986: 9.
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314
intersubjetividade e a fala das criabas mostraría esse processo continuo de abandono, em que a familia e a instituido se complementan!. A instituido recriaría, pois, o abandono e a marginalidade da criaba. 1 5 P o s i l o semelhante à de Marlene Guirado, de critica à internarlo de crianzas, é encontrada nos trabalhos de Maria Lucia Violante, que realizou urna pesquisa em diferentes Unidades da FEBEM/SP, com o objetivo de apreender "a identidade do menor institucionalizado do ponto de vista psico-social". Em seu traballio entrevistou menores "abandonados" e menores "infratores", acima de 14 anos. De acordo com esta autora, "o menor é sempre visto negativamente", ele é responsabilizado pela sua situatilo, quer ele seja "infrator", quer seja "abandonado" ou "carente". Ao longo de urna especie de "carreira institucional", "o menor vai adquirindo as mesmas cren^as que os agentes institucionais tòm a seu respeito - urna pessoa na qual n3o se pode confiar, nem investir em educado, mas apenas controlar e reprimir. O menor vai se desacreditando como pessoa, autodepreciando-se e buscando urna forma de sobrevivencia física e psicológica na 'malandragem' e/ou na 'decencia'. Isso significa que sua identidade é tecida sob o conflito que consiste numa identidade contraditória entre a decencia e a malandragem". Assim, a "fun^ao real nao declarada de FEBEM/SP é conter e apassivar os já excluidos. Na pràtica, eia cumpre esta funf3o, produzindo os efeitos desejados: docilizar e apassivar a maioria dos mcmbros, imbecilizando-os. Apenas a minoría revolta-se".16 Apoiando-se principalmente em Goffman e Foucault, somados à sua pesquisa e ainda à sua experiencia de trabalho na FEBEM/SP, onde foi funcionária, Maria Lucia Violante observa que a instituidlo reproduz num outro ambiente a marginalidade do menor e reforja a sua exclusao da sociedade; portanto, a internalo de crianzas "abandonadas" e "carentes" em instituii;6es assistcnciais nao pode ser considerada solu?üo para estas crianzas. P o s i l o semelhante é a adotada por Maria Ignés Bierrenbach, também apoiada em Foucault e na sua experiencia de trabalho na FEBEM/SP. Apoia-se ainda na teoria do psiquiatra italiano Basaglia, que num trabalho sobre a natureza das instituyes, denuncia o poder ali existente, o que determina violenta opressSo sobre aqueles que estáo colocados sob o seu dominio, conforme se depreende da
15
Cf. Guirado, 1986.
16
Violante, "Paraalém da humanizado", 1985: 113/115.
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obra deste autor. 17 Ao analisar a rotina das unidades assistencialistas, afirmou Bierrenbach que nelas se aplicava a "disciplina em nome da ordem": "Ordem 'stricto sensu', preocupado exagerada com a limpeza, sob pena dos menores lustrarem o chao com os pés, pisando em esfregOes, como se fossem robos. Ordem aparente, para fins externos, que expressa a desordem do embasamento, a confusáo metodológica, a ausencia de compromisso com o menor. (...) os componentes educacionais sao desviados pelo autoritarismo e dominado impregnados no binomio 'ordem e seguranza' e hegemonicamente difundidos." Essa sequéncia de "ratinas e ritos institucionais", a seu ver, "n3o formam ninguém e deformam as pessoas, turvando as consciéncias e suprimindo projetos de vida". 18 Os trabalhos até aqui expostos foram realizados em algumas Unidades da FEBEM/SP, mas generalizam os resultados obtidos para todas as Unidades da mesma e para toda e qualquer instituigáo assistencial de tipo intemato. De acordo com os estudos acima comentados, concluía-se que as i n s t i t u i o s seccionadas para o estudo apresentariam scmclhan^as entre si, pois existiría urna organizando comum a todas, baseada em urna rotina diária muito estrita e rígida, na qual a individualidade da crianza seria abafada e impedida de se manifestar. Supunha-sc tambem que os funcionários n3o tratariam as crianzas como estas scriam cuidadas numa familia, onde receberiam mais a t e n e o por parte dos adultos, mais tolerantes e calorosos. Além das ideias expressas pelos autores, encontram-se tambem difundidas na nossa sociedade, afirma^Ses tais como: "é preferível a crianza viver na rúa do que numa instituido, pelo menos na rúa ele aprende a se virar, a se tomar inteligente"; "por mais pobre que seja a familia, ela será melhor cuidada do que por funcionários de urna instituidlo"; "a instituido transforma a crianza internada numa crianza retardada, que nao sabe andar sozinha e nem sequer tomar um ónibus", etc. Estas observares foram registradas em conversas informáis com diversas pessoas, mas, principalmente com assistentes sociais. A elas se contrapóem outras, de que somente por meio de intematos de tipo variado seria possível dar um apoio a estas crianzas; neles encontrariam pelo menos alimentado, um teto e um mínimo de educado.
17
Ver Basaglia, 1974:36,37.
18
Bierrenbach, 1987: 62.
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A comparado das pesquisas acima referidas levaram a pesquisadora a sintetizar as características mais salientes das opiniOes e dos comportamentos a que se referem os autores, dando-os como específicos das crian9as que iria encontrar: as crianzas náo gostariam da instituido nem dos funcionários, o que as levaría a fugir com frequéncia; ao mesmo tempo, muitas seriam apáticas e sem iniciativa, o que se manifestaría na sua incapacidade de se relacionar com outras crianzas através de brincadeiras. Estes aspectos contraditórios resumiam as atitudes das crianzas submetidas a um intemato, fosse este qual fosse.
3.
A fala da crianza sobre a instituido
A bibliografía acima comentada serviu, de um lado como ponto de partida do que se esperava encontrar, e do outro, como ponto de chegada, através do seu confronto com os dados levantados nesta pesquisa. Em primeiro lugar, serao apresentados os dados, referentes ás criabas, de cada urna das instituigOes levantadas, e em seguida, os mesmos serao comparados com a bibliografía descrita.
3.1. As crianzas da UE-2 da FEBEM/SP A Unidade Educacional-2 da FEBEM/SP, instituido que pertence ao Governo do Estado de Sao Paulo, situada na cidade de Sao Paulo, abriga aproximadamente 200 crianzas e jovens, entre 5 e 18 anos de idade, de ambos os sexos. Como nao foi adotado o procedimento estatístico de selago da amostra - trata-se aqui de urna pesquisa qualitativa -, das cerca de 60 crianzas da faixa de idade estabelecida, foram entrevistadas 15. Destas 15 crianzas, 12 querem sair e 3 nao querem ir embora da entidade. As 3 crianzas que expressaram o desejo de permanecer na instituido, justificaram dizendo: "Gosto daqui, já me acostumei"; "Aqui está melhor". Provavelmente, o desejo de permanencia está ligado ao fato destas crianzas nao terem tido experiencia de vida em familia, em decorréncia do abandono quando muito pequeñas. A maior parte das 12 crianzas que querem sair da instituido, aspiram regressar á familia, a qual adquire assim um sentido positivo, apesar das conotaijóes
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negativas registradas na maioria dos prontuários 19 , onde as familias náo apresentam as mínimas condeses de cuidar das crianzas, sofrendo estas, em alguns casos, inclusive máus-tratos. Entre as justificativas para aspirar um retorno ao lar, essas crianzas consideram que, a vida na familia é melhor do que na instituido, como diz um menino: "A minha m3e vai me tirar daqui e aos meus irmaos, quando acabarem as minhas provas. Estou achando bom. Eu vou ficar junto com a minha familia. Prefiro. Acho que a gente se sente melhor lá, perto da familia; é mais gostoso." Por pior que possa ter sido a experiencia familiar dessas crianzas, há um desejo de retorno á familia, que é quase sempre representada pela referencia concreta á mae. A opiniao a respeito da instituido também é encontrada, quando se pergunta á crianza seu gosto ou seu aborrecimento em r e l a d o á própria instituigáo. A maioria das crianzas entrevistadas expressaram atitudes positivas, com excedió de urna, cuja opiniao foi nítidamente negativa. Esta última, urna menina afirmou: "Aqui dentro é chato, nao tem nada para a gente fazer aqui". Esta resposta contrasta com as demais, em que a aceitado da instituido é clara; como diz um menino: "Eu gosto daqui porque a gente come, bebe, dorme, trabalha. Trabalha no Núcleo, pega na enxada." 20 Urna menina se expressou claramente: "A vida aqui é legal. Aqui nos também passeamos. Sexta-feira tcve festa aqui. Foi a festa do dia das crianzas. Cada um ganhava um premio da sua professora." A opiniao sobre a instituido pode aparecer também na apreciado das atividades rotineiras, que compreendem, principalmente, os servidos de limpeza, é a chamada "escala", que as crianzas sao obrigadas a cumprir. A maior parte das crianzas gostam, urna parte nao gosta e ainda, algumas outras preferem executar urnas tarefas em detrimento de outras. Entre as afirma^Scs positivas, encontrase, por exemplo, a de um menino: "Eu fa?o escala. Nós temos que fazer tudo, a senhora - refere-se á pesquisadora - tem que encerar o chao, a senhora tem que passar paño, tem que varrer, tem que fazer a trouxa e levar para a lavandería, eu fago tudo isso. Um derruba comida no chao, mesmo se nao fui eu, eu vou limpar, 19 Os prontuarios das crianzas consistem em relatónos existentes ñas instituifdes e que contém dados sobre a vida da crianza anterior á internado e também aspectos da existencia da mesma na entidade, desde que registrados. 20 Entre as atividades realizadas na instituigáo, além das aulas de acompanhamento dadas ás crianzas que estudam fora - o chamado "reforjo" - há, ainda, as atividades de marcenaria, executadas no "Núcleo", denominafao dada á urna das casas da entidade, e ainda o trabalho na horta, que ocupa urna pequeña parte do terreno da instituido.
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quero conservar o lar limpo. A senhora nào gosta de conservar sua casa limpinha?" Para esse menino, ali é "a casa dele". As crianzas que nao gostam das tarefas diárias, se queixam da repetido das atividades e do cansado. Diz um menino: "Essa noite eu nao dormi, limpando um banheiro. Fui passar enceradeira e nüo dormi bem. E ainda fui lavar..." Algumas crianzas gostam de algumas tarefas e nao de outras, como afirma urna menina: "Gosto de estudar, de trabalhar, de passar pano; nao gosto de varrer. Quería fazer doce, mas qucm é pequeño aqui nao pode." A vida na instituido nao é feita só de trabalho; o tempo de lazer também tem suas apreciares, que implicitamente indicam opiniòes sobre a entidade em si. As opinióes das crianzas sobre o lazer que a instituido proporciona, estao concentradas em sua maioria, em aprecia?óes positivas. As atividades preferidas pelas criansas s3o os passeios à praia, que de vez em quando a entidade promove: "A gente foi na Praia Grande, de ònibus, foi legal!"- diz um menino. Além disso, as crianzas se referem com agrado aos programas de televisao: "Eu vejo TV, desenlio, filme, acho bonito, gosto de tudo" - afirma urna menina. Nesta Unidade da FEBEM, existe a possibilidade da c r i a b a sair em ferias ou em fins de semana, desde que tenha "bom comportamento". Poucas crianzas saem com a familia: "De vez em quando, eu vou lá para casa" - diz um menino. Um outro, cuja mae é cozinheira de urna familia, relata: "Eu passeava de lancha na casa da patroa da minha m3e. Eles passeavam lá em Guarujá." Com excepto desse menino, os demais nao descrevem o que fazem quando vào para a casa de suas familias. As crianzas que saem com funcionárias, referem-se com muito mais animado a esses passeios: "Eia, a inspetora, leva a gente para a casa dela. A casa é gostosa, é legal. Os filhos dela sao legáis. A comida que eia faz, é legal; eu ajudo a fazer a comida. Vou là quando nao tenho aula. Passo o dia là e durmo também. Fico brincando com o filho dela, vou passear num parquinho que tem lá. É gostoso" - conta urna menina. Apesar da funcionária levar a c r i a b a para a sua casa, geralmente para a execudo de tarefas domésticas, isso nao impede que esta goste desses fins de semana. As crianzas que nao tém possibilidades de sair com a familia, referem-se a casos de doen^a da mae, à distancia existente entre a instituido e a casa, ao desaparecimento de ambos os pais ou de um deles. Dessa forma, observando-se a opiniao da crianza sobre a vida dentro e fora da instituido, verifica-se que há urna aparente contradido entre o desejo apresentado pela maioria das crianzas de deixar a FEBEM e a apreciado positiva sobre a instituido formulada por grande parte délas. A aspirado demonstrada pelas
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criabas de viver com a familia, é desmentida pelas impossibilidades contidas nos prontuários. Assim, o desejo de ser buscada pela familia, mostra que a crianza conserva urna imagem positiva da familia, talvez proveniente do valor que eia possui na sociedade brasileira. Muito importante nesta análise é o relacionamento das crianfas com os funcionários e o diretor da instituido. As opiniOes sobre a instituido em si e sobre suas atividades podem decorrer desses aspectos. Poucas crianzas manifestaram opinióes a respeito do diretor. Essas referencias foram todas elas positivas, em que o diretor aparece ora como protetor, ora como aquele que proporciona passeios. Diz urna menina: "Eles (os funcionários) batem de braso, porque se eles baterem de cinta, de alguma coisa, de soco, eles váo embora daqui. É só a gente falar para o diretor, que o diretor manda embora." As crianzas nao se referem aos funcionários que ocupam urna hierarquia intermediària entre o diretor e os monitores: os professores do "reforgo", a assistente social, a psicóloga, a secretária, etc. As suas referencias se restringem aos monitores, como s3o denominados os funcionários que délas cuidam diariamente. A maior parte dessas referencias compreendem ora opiniOes positivas, ora negativas, conforme a experiencia de seus contatos. Urna menina diz: "Tem uns funcionários que eu nüo gosto, tem uns que eu gosto. Eu nao gosto porque eles sáo folgados, porque a gente nüo mexe com ninguém e eles querem bater." Um menino justifica a sua opiniüo: "Inspetor (antiga designado de monitor) mesmo que eu gosto mais, daqui, sáo só dois, só; porque quando há passeio, como amanhá que é sábado, vai ter um para Santos, o seu R. vai me deixar ir." Os aspectos positivos, seja quanto ao diretor, seja quanto aos funcionários, se referem a urna certa aproximado, como "o defensor", ou como aqueles que proporcionam lazer, ou porque düo pequeños presentes. Estes comportamentos permitem a constatado de que o relacionamento positivo tem por base sentirem as criabas urna atendo dada a elas com simpatia. As manifestagòes negativas se basearam em atengOes constrangedoras ou punitivas. Assim, a visüo geral da crianza com respeito à UE-2 da FEBEM/SP repousa sobre seu relacionamento pessoal com os funcionários, inclusive o diretor. Quando o relacionamento é mais próximo e urna a t e n d o simpática é dada à crianza, a opiniáo positiva se manifesta no detalhe do cotidiano e tende a colorir de modo positivo a imagem da instituigào, e o contràrio sucede se o relacionamento é distante e frio ou mesmo malevolo.
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3.2. As criangas da Comunidade Jardim Rubiano Trata-se de urna instituido pequeña, de religiosas católicas, situada na cidade de Sao Paulo, e que abriga 28 crianzas e jovens, de ambos os sexos, dos 2 aos 18 anos de idade. Apenas 4 crianzas puderam ser entrevistadas, devido á faixa etária que n3o comportava outras mais. As crian9as da Comunidade Jardim Rubiano avaliam a instituido em termos predominantemente positivos, o que se manifesta através do desejo de permanecer na instituido, pois as respostas foram unánimes: as 4 criabas disseram nao querer sair déla. Urna menina diz: "A vida aqui é boa. A gente brinca, almona, estuda e vai na escola." Um menino formula opiniao idéntica: "Aqui é bom para morar! Aqui é como a nossa casa. Logo a gente se acostuma aqui. É mclhor do que ficar na rúa, porque na rúa nao tem comida, a gente passa frió, se molha." Um menino fala da sua preferencia pela instituido em detrimento da familia: "Gosto mais de morar aqui porque lá (na casa, com a familia) nao tinha essas coisas, meu pai nao dava condi^Ses de cuidar da gente, ele bebia." A opiniño das criabas sobre a sua experiencia na casa dos pais é negativa. Diz urna menina: "Prefiro ficar aqui. Nao quero nunca voltar para casa. Gosto de lá, mas lá nao dá. Morava com a minha mae, meu pai, meus irmaos. Era ruim. A nossa m3e nao tinha condido de cuidar da gente, o pai também nao. Ele bebia. Brigava e batia na nossa mae. Um dia ele quase matou um irmao meu, que é grande. Lá entrava menino para pegar minha irmá. Lá era muito frió. É gclado!" A fala das crian£as mostra que para elas o retorno á familia de origem nao é almejado, como explica um menino: "Eu falei assim, Irma A., nao quería morar lá. Á noite, a minha mae bebia e meu pai bebia e brigavam de faca, de garfo. Ai, eles brigavam com minha irma. Eu nao gostei muito de minha m3e, nao." Todavía, existe nestas crianzas urna aspirado pela vida em familia. Um menino diz: "A Irma A. esta arranjando urna familia boa para mim. Eu quería urna familia boa, pode ser pobre também, desde que nao bebesse." As referencias á familia trazem implícitas um detalhe importante: nao se aspira a qualqucr familia, nem a urna familia rica, mas sim a urna familia "boa", isto é, em que houvesse o que comer, os adultos nao brigassem, nao bebessem e nao maltratassem a crianza. Existe na mente destas 4 crianzas a imagem de urna familia ideal, em que a vida é de certa fartura e de alguma harmonía. A vida cotidiana na instituido é retratada por meio da apreciado das tarefas e do lazer, as crianzas manifestando suas preferencias. Um menino diz: "Gosto
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de brincar, assistir televisáo, fazer servido. Nao tem nada que eu nao gosto de fazer. Gosto de fazer tudo." Urna menina só vé os aspectos do lazer: "A vida aqui é boa. É, a gente brinca todo o dia. Brinca no parquinho." As crianzas internadas no Jardim Rubiana passeiam com algumas das Irmas ou com a psicóloga da entidade. Estes passeios refor^am a opiniáo positiva que formulam a respeito déla. As visitas á familia - que nem sempre acontecem e por razóes variadas, inclusive por proibi?3o do Juiz - sáo experiencias em geral pouco agradáveis, como se verifica do relato de um menino: "Um dia eu fui lá, visitar eles. Eles vieram aqui me buscar. EntSo, eu estranhei lá. Lá é um azar! É pobre, a casa caindo." O relacionamento com a diretora é visto de modo positivo pelas 4 crianzas entrevistadas e exprimem o carinho com que sáo tratadas. Um menino diz: "A Irm3 A. é bonita! É urna gatinha! Ela cuida bem de nós, dá remédio quando a gente fica doente". Além de cuidar das crianzas, a diretora é apresentada também como a pessoa que promove e organiza brincadeiras e festas, incluindo as de aniversário. É ela ainda qucm, segundo as crianzas, dá roupas e brinquedos. Das 4 crianzas entrevistadas, um menino afirma gostar mais das Irmas do que dos funcionários, "porque elas cuidam da gente, dao remédio". Todos os outros afirmaran) gostar de todos, Irmas e funcionários e que só apanha ou dorme mais cedo, "quando a gente apronta alguma coisa, quando faz bagun^a". A avaliado que a crianza faz da instituido recaí principalmente sobre o seu relacionamento pessoal com a Irma-diretora. Como o relacionamento com ela é mais afetivo, sobressai a preferencia que as crianzas manifestam. No entanto, também as outras Irmas e funcionários dao atengao carinhosa á crianza. Assim, quando a crianza avalia positivamente o seu relacionamento com os adultos, essa mesma opiniao tende a se refletir nos mínimos aspectos do cotidiano e na visito geral sobre a instituido. E assim o relacionamento das crianzas com a diretora, as Irmas, e os funcionários aparece como fundamental para a formado da opiniao délas sobre a instituido, em que todas se manifestaram positivamente. De modo semelhante, as 4 crianzas apontam únicamente para as vantagens oferecidas pela instituido, nao encontrando nela desvantagens.
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As crianzas da Associaqao Filantrópica de Marttia
A Associando está situada na cidade de Marília, interior do Estado de S2o Paulo, é espirita e abriga cerca de 90 crianzas e jovens do sexo masculino, dos 2 aos 18 anos de idade. Foram entrevistados 15 meninos. Urna grande parte dos meninos entrevistados manifestou o desejo de permanecer na instituido, pois, como afirmou um menino: "Aqui é melhor porque aqui dà mais alimento. Lá em casa só tem chuchu, mandioca, batata dòce." Um outro concorda: "Gosto mais daqui porque eu gosto de brincar. É gostoso." Estas afirmagOes implicam em urna comparado com a familia, indicando a preferencia da crianza pela institui9áo. Mcsmo quando a crianza pretende retornar à familia, isso nao significa que eia esteja desaprovando a instituido: "Gostaria de ir com a minha mSe porque lá tem o meu irmáo, meus primos para brincar, ai eia me cria." Ao mesmo tempo, ele ressalta os aspectos da entidade que mais lhe agradam: "Aqui tem tudo! Tem piscina, tem o campo, lem as quadras de esporte, tem o parque." Um número pequeño de meninos acha a vida na Filantrópica "ruim". Um explica a sua preferencia pela familia: "Aqui bate, lá na minha casa nüo bate." Um menino acha a vida ali táo ruim quanto a anterior, quando morava com a m3e. Reclama dos funcionários porque "batem de varinha", se qucixa das tarefas obrigatórias e da comida "com muito sal". No entanto, quando eslava com a máe, sofría maus tratos por parte desta: "Um dia, eia pegou urna vara de espinho, bateu tanto aqui, que rasgou, saiu sangue." As falas das crianzas süo claramente desfavoráveis à instituido, contendo urna délas preferencia pela familia e denotando a outra urna grande insatisfa^áo em re l a d o a ambas. Oulras crianzas emitiram opinides nostálgicas em relado à familia, o que náo significa que desejem deixar a entidade, como diz um menino: "Acho bom morar com o pai. E, morar com o pai é bom, a gente sente falla." Um outro afirma: "Eu gostaria de morar com a minha m3e. Eu tenho o nome déla. Eu náo sei déla." Essas coloca^des das criabas indicam um desconhccimento de sua pròpria familia e, ao mcsmo tempo, mostram urna valorizado positiva atribuida a eia de modo geral. Essas criarlas conservam cntño, urna visáo positiva da familia, oriunda talvez do valor que eia possui na sociedade brasileira. A maioria das crianzas mostrou satisfa^ao com o cumprimento das tarefas diárias. E o que se constata, por exemplo, da opiniáo de um menino: "A vida aqui é muito boa! Comida aqui é muito boa! Gosto. Quando volto da escola, eu passo pano no chao do refeitório, depois vou brincar. Depois que a gente brinca,
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Y. (o funcionário) manda entrar todos para o salüo para ganhar doce. Todos os dias! É glória, bala, sorvete." Apenas algumas criands se queixam das atividades, entre os quais, destaca-se um menino: "Tem que passar paño no chao, tem que varrer, tem que varrer todas aquelas escadas." As opiniSes sobre o lazer s3o também reveladoras da r e l a d o que a crianza mantém com a entidade. A grande maioria das crianzas aprecia essas atividades: "Nos brincamos, depois assistimos tclevisáo. Nós assistimos filme. Tem dias que jogamos bola. O X. (o professor) vem treinar a gente. Aqui fora tem um parque, nós brincamos. Nós vamos passear no bosque em Garfa (cidade próxima). É legal!" Urna outra atividade proporcionada pela instituigáo e que as crianzas acham "legal" é a comemorado dos aniversariantes do mes. Um menino explica: "Todo mundo faz aniversario, todo mundo do mes. Primeiro, nós fazemos a prece, o Pai Nosso e depois os aniversariantes do mes váo lá na frente. Ai dáo urna lembrancinha, mandam eles cantarcm, depois eles sentam. Ai nós comemos." A respeito das saídas da instituido durante os fins de semana e férias, observa-se que poucos meninos saem da entidade, indo para a casa da familia. Destes, urna parte preferiría nao ir para casa, em raz3o de encontrarem mais comida e maiores possibilidades de brincar na instituido. Os meninos que preferem sua casa á instituido, dcmonstraram um vínculo afetivo grande com a familia. As entrevistas em seus variados aspectos mostraram a opiniüo favorável da maioria das criabas a respeito da vida na Filantrópica. O relacionamento com os diretores e funcionários pode trazcr mais revela^Ocs. As crianzas nao apresentaram de modo significativo referencias valorativas em relado á diretoria. Do mesmo modo, as opinióes sobre os professores das aulas de "reforjo" foram escassas, o que parece indicar um certo distanciamento entre eles e as crianzas. A respeito do relacionamento mantido com os funcionários, as opiniSes das crianzas dividem-se entre gostar de todos e, gostar de uns e n3o de outros. Poucas crianzas afirmaram nao gostar de funcionário algum. Neste último caso, encontra-sc um menino que mostrava-se zangado e quería deixar a instituido: "É por causa da mulher. Ela só bate na gente. Ela é a cozinheira. Ela quer que ajude na cozinha. Ela bate de varinha." Entre os meninos que gostam de todos os funcionários, encontram-se justificativas como, por exemplo, esta: "Os funcionários süo bons. Eles fazem alguma coisa para a gente. A gente ajuda eles, eles olham a gente, nao deixam ninguém
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brigar." Quanto às crianzas que afírmaram gostar de uns funcionarios e nSo de outros, as explica?5es dadas referem-se ao fato de que algumas funcionárias s3o "boazinhas", enquanto outras, como a cozinheira, "é ruim, é muito brava"; ainda um outro funcionário "bate em quem faz arte". Assim, a visito geral da criaba sobre a instituidlo se apoia principalmente no seu relacionamento com os funcionários. Quando o relacionamento é mais próximo e a crian(a é tratada com ateneo, a opinilo positiva se reflete também nos demais aspectos da entidade, o contràrio ocorrendo se o relacionamento é distante ou predominantemente punitivo. A maioria das crianzas, tendo respostas positivas, mostra que o relacionamento com os funcionários é visto como predominantemente bom.
3.4. As crianzas do Lar Amelie Boudet O Lar de Meninas Amelie Boudet é urna instituido espirita, situada na cidade de Marflia, e que abriga 27 crianzas e jovens do sexo feminino, dos 2 aos 18 anos, podendo a idade de saída ser prorrogada até os 21 anos. Na faixa etária estipulada pela pesquisa, contavam-se 8 crianzas, tendo sido todas estas entrevistadas. A maioria das crianzas entrevistadas n2o quer dcixar a instituido; o que pode ser constatado, por exemplo, na afirmado de urna das meninas: "Ah! Eu acho aqui gostoso! Eu nao gostaria de morar em outro lugar, nao! Eu nao sei se quero morar com o meu pai, acho que n3o!" Na fala da única crianza que quer deixar a entidade, percebe-se urna certa ambiguidade entre o ir e o ficar: "Eu vou embora no Natal. É, no dia 25 de dezembro. Vou morar junto com a minha m3e. Tenho vontade de ir porque faz tempo que eu nao vejo a minha m3e, que nao vejo a minha familia. Vou sentir saudades daqui; a menina (urna amiguinha) falou que, às vezes é bom vir aqui para visitá-la." Das 8 crianzas entrevistadas, todas declararam gostar da instituido e das suas atividades: "Eu acho aqui gostoso, a gente passeia, a gente limpa a casa, vai na escola", diz urna menina. Urna outra: "Eu gosto de ajudar na cozinha. Eu varrò lá fora, varrò aqui dentro." Do mesmo modo, as atividades de lazer s3o apreciadas com satisfago: "Gosto (da instituido) porque aqui a gente vai passear, vai no Centro (espirito). O tio (o diretor) chega e leva a gente ao Centro, aos domingos. Depois, ele nos traz, ai a gente brinca, assiste TV, faz qualquer coisa. À tarde, a
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gente brinca, às vezes, tem festa de aniversário. A gente toma sorvete lá na cidade e mais um monte de coisa!" A respeito das possibilidades de saída da instituidlo em fins de semana e férias, constatou-se que a maioria das crian9as saem com a familia. Quase todas gostam e descrevem o que fazem, como esta menina: "Eia (a m2e) vem me ver e buscar. Passo as férias, acho gostoso". Outras meninas preferem a entidade: "Aqui eu acho mais gostoso que lá porque aqui tem mais menina para brincar." Ainda outras, mostram-se divididas: "Às vezes, a gente tem vontade de sair, às vezes a gente nao tem. Porque a gente sente saudades das pessoas daqui. Às vezes, a gente nao quer mais voltar, porque sente saudades da madrinha, da m3e, dos amigos, de tudo!" A maioria das meninas dispdc de um bom relacionamento familiar, com e x c e d o de urnas poucas, que sofreram maus-tratos por parte da màe, em um caso e do homem que vivia com a mSe, em outro. Nesta entidade, as crianzas se referiram de modo positivo ao diretor: "Scu X. (o diretor) pega a gente, e a gente fica passeando de carro lá na cidade. Ah! Ele é bonzinho!", diz urna menina. A maioria das crianzas gosta dos funcionários de um modo geral, manifestando, no entanto, suas preferencias: "Ah! Aqui é muito divertido! Às vezes a Tia A. (urna funcionária) dá bronca, mas eia nao fica muito brava, nao! E tem a lavadeira, tem os empregados que s3o muito legáis! A gente se diverte muito! Muito bom! Eu acho todos eles legáis! Gosto mais da Tia A. porque eia ajuda, eia compra coisa para a gente, no meu aniversário eia me deu presente! Eia leva a gente para passear, compra sorvete, deixa a professora (da aula de reforjo) brincar com a gente na classe." Apenas urna menina tem opiniao ambigua sobre determinada funcionária: "Eia é boazinha, às vezes. Quando eia fica nervosa, eia briga com a gente. É porque as meninas ficam fofocando, ou urna bate na outra. Ai, eia bate e às vezes, eia póe de castigo." As entrevistas mostram a existencia de um relacionamento positivo entre as crianzas e os funcionários, sendo mais intenso com a funcionária A.; até mesmo com o diretor, o aspecto positivo é dominante. A avalia^áo positiva da entidade está ligada ao bom relacionamento com os funcionários e o diretor.
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3.5. Comparagáo entre as quatro instituyes da perspectiva da crianza As diversas entidades pesquisadas estilo localizadas em duas cidades de porte diferente (Sao Paulo e Marflia); foram criadas em universos diferentes de pensamento (urna é leiga, urna católica e duas espiritas); fundadas em categorías económico-administrativas diveras (urna é pública e tres de origem particular). Estas circunstancias poderiam ter afetado o clima interno de cada urna das instituyóos, determinando diferen^as no relacionamento dos funcionários com as crianzas, quanto ñas próprias rela?óes das crianzas entre si. Os resultados scriam visíveis ñas opinióes e nos comportamentos de ambos. Podia-se supor que a diferen^a entre as cidades em que estáo localizadas as entidades produzisse diversidade dos relacionamentos, urna vez que as circunstancias de urna cidade grande produzindo maiores dificuldades de vida, determinam condi?5es de relacionamento que diferem do que existe ñas cidades menores. A gradado de opinióes das crianzas relativas as instituyóos, indo das mais favoráveis ás menos favoráveis, se operou a partir da Comunidade Jardim Rubiano, passando para o Lar Amelie Boudef, em seguida vem a Filantrópica e finalmente a UE-2 da FEBEM/SP. Ora, a Filantrópica e o Lar Amelie Boudet estilo em Marflia, a FEBEM e a Comunidade Jardim Rubiano em Süo Paulo. Noutras palavras, a seriado nao segue a divergencia cidade grande e cidade pequena, já que a Comunidade Jardim Rubiano, a mais querida, e a UE-2 da FEBEM/SP, a menos apreciada, pertencem ambas a Sao Paulo, á metrópole. Desse modo, o fato da instituido se encontrar em cidade maior ou em cidade menor nao parece exercer influencia sobre a avalia?3o das crianzas. Urna vez que das quatro entidades estudadas, tres sao religiosas e urna é leiga, poder-se-ía pensar que os principios tanto da religiao católica (urna entidade) quanto do espiritismo (duas institui^óes), dado que suas doutrinas dao muita énfase ao amor ao próximo, poderiam dar mais calor ao relacionamento entre as crianzas e os funcionários das instituyóos. Nüo foi detectado um proselitismo evidente ñas tres entidades religiosas. Este aspecto precisaría ser mais aprofundado através de urna pesquisa específica. Na aqui relacionada, que perseguía outros fins, nao havia indica?óes nítidas a respeito. O tamanho das entidades pode influir no relacionamento entre funcionários e crianzas. Analisando a Comunidade Jardim Rubiano e em seguida o Lar Amelie Boudet, que sáo as menores estudadas, verificou-se que o relacionamento que as criabas estabelecem com o pessoal das mesmas é bastante próximo, e nos casos
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pesquisados, afetivo, recebendo a crianza maior ateneo. Ñas duas outras, que s3o mais avantajadas, há certo distanciamento entre as crianzas e os adultos, o que ocorre com mais intensidade na Unidade da FEBEM, de maior porte, do que na Filantrópica, pois a primeira abriga o dobro de crianzas da segunda. A gradad o quanto ao tamanho coincide com a avahado que a crianza faz da instituido; inteiramente positiva na Comunidade Jardim Rubiano, vai diminuindo em unànimidade à medida que aumenta o tamanho da instituido, na seguinte ordem: o Lar, a Filantrópica e a UE-2 da FEBEM/SP. Dessa forma, a envergadura da instituido parece exercer influencia no relacionamento, o que se revela na opinilo das crianzas sobre a entidade. Os possívcis fatores até agora examinados e que podcriam agir sobre a opiniao das crianzas, sáo condicionamentos externos à experiencia de vida délas. Mais importantes seriam aqueles que dizem respeito diretamente a esta experiencia; assim, a visito positiva ou negativa que a maioria das crianzas formulou em relado à instituido em que vive, poderia derivar da comparado com a situado familiar revelada nos prontuários c ñas entrevistas e anteriormente enfrentada. A fala das crianzas manifestou algumas vezes um desejo de retorno à familia. Este desejo aparece de forma decrescente na fala das crianzas da UE-2 da FEBEM! SP, da Filantrópica e do Lar Amelie Boudef, nao aparece entre as crianzas da Comunidade Jardim Rubiano. Nesta última entidade, a aspirado pela vida em familia surge como um desejo de a d o d o por urna familia "boa"; neste caso, o que parece haver é urna nostalgia da vida familiar, sem o desejo de retorno à antiga familia. A saudade da familia ou o almejar urna familia "boa" nao significa, entretanto, que as criangas estejam insatisfeitas com a instituido. Apenas um pequeno número afirmou nao gostar da entidade, habitando todas elas ñas duas entidades maiores, a FEBEM e a Filantrópica. A maioria das entrevistas mostrou o contràrio, isto é, urna opiniao favorável. Assim, a nostalgia ou o desejo de urna familia poderia derivar da crianza possuir urna imagem ideal da familia, oriunda dos valores básicos da sociedade em que vive, muito embora sua experiencia de vida fosse amarga; esta suposido fica sustentada pela constatado de que a grande maioria délas nao se mostrou saudosa da familia ou de urna familia. As opinides foram marcadamente pró-instituigóes, mostrando que, nao obstante o valor da familia na sociedade, a crianza aprecia a vida que está levando, cujas vantagens percebe. Assim, o número de opiniSes positivas parece estar relacionado com o tamanho da instituido. Ele ocorre por unánimidade ñas entidades
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menores; ñas de grande envergadura, esse número é maior na Filantrópica, decrescendo na FEBEM. O ponto de convergencia das manifestases positivas das crianzas a respeito das entidades pesquisadas foi com o tamanho das mesmas, associado com a opiniao favorável aos funcionários; tal observafao leva á conclusSo, pelo menos no que concerne ás crianzas estudadas, que quando esse relacionamento envolve maior proximidade e determinada atitude favorável por parte de diretores e funcionários, elas consideram a instituido "boa", n3o manifestando o desejo de deixá-la. 4. Confronto entre os autores referidos e os dados da pesquisa Os trabalhos dos autores já citados conduziram á formulado de urna imagem sobre as opini5es e atitudes das criabas, a qual será agora confrontada com os dados da pesquisa. A convergencia entre a maneira de pensar dos autores citados e as observa9des que se originaram da análise dos dados é indispcnsávcl para se verificar se o que é afirmado pelos primeiros é adequado ao que se depreende dos últimos. Foucault mostrou como a cria?3o de obras assistcnciais, a principio urna oblig a d o moral e religiosa, passou em seguida a ser principalmente um dcvcr do Estado. O exame de urna instituido pública e tres de cunho religioso mostra que também entre nós houve urna expansáo do dever em relado ao próximo; que obriga moral e religiosamente os individuos a acudir os pobres, por mcio de instituidas privadas e estende a exigencia ao nivel governamental, criando instituiS6es públicas.21 Tanto Foucault quanto Goffman encaram a instituido como um instrumento para abafar a individualidade do internado. No entanto, na pesquisa aqui relatada, as crianzas manifestam sua individualidade, sendo capazes de tecer comentários favoráveis á entidade e também de apontar críticas a ela, bem como constantemente manifestar seus gostos e preferencias. Sua participado ñas atividades e nos jogos, suas iniciativas váo no mesmo sentido. 21
Assim, sao as institui^óes privadas mais numerosas do que as públicas (para 9 Unidades da FEBEM/SP destinadas a "carentes" e "abandonados" existiam 55 intcrnatos privados, em 1986, na cidade de Sao Paulo), por um lado; por outro lado, o Estado nao só mantém as instituifóes por ele fundadas, mas auxilia com subvenfóes as particulares.
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Destes comentários se depreende que a vigilancia nao parece alcanzar os graus apontados por Foucault, nem mesmo na Unidade da FEBEM/SP analisada; portanto, é difícil acreditar que existisse nelas "urna perpétua pirámide de olhares" vigiando todas as atividades infantis; em segundo lugar, que a disciplina se abrandou e até se modificou conforme o tamanho das instituigóes. Esta segunda condigno passa a ter muita importancia quando se atenta para os graus de vigiláncia no interior das institui;6es. A UE-2 da FEBEM/SP se destacou em primeiro lugar, com bastante vigiláncia sobre as crianzas. Em segundo lugar, vem a Associagáo Filantrópica de Marília, onde a vigiláncia embora existindo, é menor do que na UE-2 da FEBEM/SP. Ñas duas outras instituyóos, a Comunidade Jardim Rubiano e o Lar Amelie Boudet, a vigiláncia náo primava pelo seu rigor, sendo em grau menor do que ñas outras duas institui^Ses maiores. As obs e r v a o s de Foucault e de Goffman náo parecem caber indiscriminadamente a todas as entidades que internam individuos; ainda no caso de um mesmo tipo de instituido, como o estudado, as exigencias disciplinares variam segundo o tamanho das entidades. Antes de aceitar as observafñes dos autores há que considerar de que instituifOes se trata e de qual o seu tamanho. Segundo o criterio elaborado por Goffman, i n s t i t u i o s deste tipo teriam como característica básica o "fechamento", que impediría o contato dos internados com a sociedade global; ele as classifica por isso como " i n s t i t u i o s totais". Tal maneira de definir o conceito, entretanto, náo se mostrou adequado ás instit u i o s pesquisadas, urna vez que em todas elas as crianzas estudam fora; algumas também trabalham externamente á entidade. Em todas elas, passeios existiam com frequéncia. Para o citado autor, seria o asilo um instrumento de controle social para reduzir os "desviantes" ao comportamento esperado pela sociedade; tal maneira de ver segue o mesmo sentido das o b s e r v a o s de Foucault. Essa preocupado foi encontrada ñas instituiijóes pesquisadas, ñas quais um dos objetivos a ser atingido é a correoso de comportamentos considerados impróprios, que por acaso manifestem as crianzas. A possibilidade, porém, é remetida á ocorréncias futuras, quando a crianza tiver saído da instituiqáo. Durante a permanencia, as instit u i o s se orientam justamente para evitar que, no futuro quando adultas, as crianzas se comportem de maneira considerada nociva. Enquanto internada, a crianza náo pareceu ser considerada um ser "sub-humano", como afirma Violante; ela é vista como "normal", como semelhante a todas as crianzas de poucos recursos, que puderam se conservar num ambiente familiar. Havia em todos os funcionários urna preocupa?áo com o futuro das crianzas, reveladora do desejo
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de que nao seguissem o rumo da "vagabundagem" e talvez do crime. Mas no contato diàrio tal ansiedade permanece latente; o que existe é o cuidado para que n3o faltem às aulas, se desempenhem satisfatoriamente de seus deveres, sigam a rotina da casa. Nao foi sentido da parte dos funcionários que lidam diretamente com as crianzas um rigor de comportamento e de palavras que revelasse que estariam tratando com futuros marginais. Os comentários dos funcionários, em conversa com a pesquisadora íam no sentido de lastimarem que aquelas criabas que ali estavam recebendo cuidados, tivessem mais tarde de enfrentar, sem p r o t e j o alguma, um futuro duro e cruel. Observavam que havia um aproveitamento diferenciado do que ali era oferecido; e afirmavam que, de um modo geral, aqueles que haviam sabido aproveitar os ensinamentos e as vantagens das i n s t i t u i o s (por exemplo, ali podiam estudar) provavelmente enfrentariam melhor o mundo adverso em que mergulhariam "lá fora". "Ali dentro" elas estavam, pois, "protegidas" e era essa a visao dos que com elas lidavam. Novamente se verifica aqui, também, a n3o existencia de um esmagamento das personalidades; estas existem e sSo reconhecidas na maior ou menor facilidade que tém as crianzas de se expressarem sem constrangimcntos. Maria Lucia Violante constatara que o "menor" se auto-deprecia como pessoa e buscaría na "malandragem" e na "decencia", urna forma de sobrevivencia dentro da instituido, de que pequeños furtos, mentiras, d e l a t e s scriam as formas mais habituais. Apesar de se ocupar com crianzas de idade inferior a dos "menores" estudados por Violante, malandragem e mentira apareceram ñas duas entidades maiores; por exemplo, na preocupado das crianzas em defender seus objetos por meio de cadeados em suas gavetas ou armários, ou entao, de n3o levarem para a entidade os brinquedos mais apreciados; ou entao colocarem em outrem a culpa do que fizeram; mas nao foram em quantidade apreciável. Ñas duas institu¡9des menores, tais atitudes nao foram detectadas. Novamente o tamanho da instituido mostra ter peso na determinado das condutas; o contato mais próximo dos funcionários com as crianzas tal vez explique a falta de ocorréncia porque a crianza recebe mais atendo. Quanto à auto-depreciado de que fala Violante, que se originaria de complexos de culpa inculcados pelo comportamento daqueles que as cercam e que elas interiorizam, nao foi encontrada ñas crianzas estudadas. A falta de èxito destas crianzas em suas lides nao era encarada como urna "culpa", e sim como urna "falta de jeito" ou urna "falta de sorte"; no primeiro caso, a culpa era da "natureza" e no segundo, do acaso.
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No entanto, os dados da pesquisa aqui analisados se referem à instituiçôes outras que nâo apenas a FEBEM/SP e a faixas etárias abaixo das pesquisas de Violante; o confronto entre ambas precisa levar em conta estes pontos. Se a pesquisa atual se orientasse para adolescentes da FEBEM/SP, como foi o caso da pesquisa de Violante, talvez houvesse urna acentuaçâo de comportamentos de malandragem, talvez aparecessem complexos de culpa. Considera-se que existem em adolescentes (acima dos 12 anos) levando vida familiar, comportamentos agressivos, furtos, fugas decorrentes do choque representado pela passagem da infancia à idade adulta e pelas dificuldades de ajustamento a esta outra fase da vida; seriam fenómenos habituais na adolescencia, surgindo com maior ou menor força, conforme a situaçâo e a personalidade. Nâo se poderia, assim, considerá-los resultados de internaçâo em instituiçôes como a FEBEM/SP, mas como fenómenos que surgem entre os próprios adolescentes vivendo em familias até mesmo abastadas. Também a atitude de auto-depreciaçâo é comum na adolescencia, ligada a complexos de inferioridade. A segunda pesquisa de Marlene Guirado trata das representaçôes, mormente afetivas, de "menores abandonados" e "infratores" de Unidades da FEBEM/SP, também de idade acima das crianças desta pesquisa; o internado na instituiçâo vería reproduzida a sua situaçâo de abandono, em razâo principalmente de que, na instituiçâo, "o ato de cuidar nâo se insère num conjunto de práticas 'naturais' e ¡mediatas, mas, de práticas profissionais, mediatizadas pela condiçâo de ser esta urna relaçâo de trabalho, urna prática produtiva". 22 Acha ela que nessas instituiçôes as crianças se encontram num meio dominado pelas relaçôes profissionais, pelo falo dos funcionários receberem salários; esta situaçâo desenvolvería um relacionamcnto indiferente e de descaso, de que se ressentiriam os internados. Numa instituiçâo grande como é a UE-2 da FEBEM/SP, as crianças referindo-se com naturalidade aos funcionários, mostrando que gostam de alguns e nâo de outros, sâo contrárias a tais asserçôes; a aprovaçâo das crianças se orienta para os funcionários que melhor as tratam, que as presenteiam com balas, sendo que alguns chegam a levá-las para casa em fins de semana. O mesmo comportamento foi encontrado em todas as instituiçôes, ñas quais, pequeñas e grandes, sâo funcionários que tratam das crianças, com exceçâo da Comunidade Jardim Rubiano em que os cuidados sâo dados principalmente por freirás. Ñas quatro entidades pesquisadas, o relacionamcnto da criança com o funcionário, na pers-
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Guirado, 1986:201.
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pectiva infantil, é mais próximo e mais satisfatório ñas duas i n s t i t u i o s menores. Como sempre, o tamanho da instituido também aqui exerce sua influencia. Maria Ignés Bierrenbach diz que a vida na FEBEM/SP é um conjunto de retinas, imperando na entidade a monotonia das tarefas e dos dias. Essa retina "n3o forma ninguém e deforma as pessoas", afirma a autora. A descrivilo da vida diària em todas as instituifóes estudadas, inclusive numa Unidade da FEBEM/SP, mostra, ao contràrio, urna sucessào de tarefas e de recrea;5es, sendo que nestas últimas tém as crianzas direito de escolha do que preferem jogar e também podem ali, com mais facilidade, exercer sua criatividade. As queixas infantis se referem à preferencia por determinadas tarefas, ou a nao gostarem nada de certas dentre elas, sendo obrigadas a executá-las; ao mesmo tempo que se queixam de determinados trabalhos, mostram sua satisfago por outros ou pelas atividades de lazer. Neste caso da retina e do lazer, atitudes e opiniòcs s3o semelhantes e ocorrem com a mesma frequència nas quatro entidades. Na verdade, a retina das institui?Oes com sua divisáo em tarefas e atividades de recreio se assemelha ao cotidiano dos colegios internos e das familias burguesas; em ambos, tarefas alternam com o lazer. Nas familias "pobres", o cumprimento dos trabalhos domésticos é encarado como tarefa infantil, enquanto que na burguesía a frequència à escola e a aquisido de instruyo de um modo geral sao ressaltados como deveres fundamentáis. Nos colégios internos, a preocupagao máxima é com a inslruQào, a qual, quando os colégios pertencem a congreg a r e s e irmandades é acompanhada de urna énfase nos deveres religiosos. A diferenciado de classe nao se dà pois ao nivel da organizado da retina e sim da intensificado de determinados itens constitutivos da vida diària. Nas instituifOcs estudadas, a preocupado maior é com o cumprimento das tarefas e com a aquis i d o de urna instrudo básica a qual é acompanhada de um "treinamento" para o trabalho. As obrigagSes religiosas foram observadas nas instituiijSes privadas, sem que houvesse, no entanto, nenhum rigor na exigencia do seu cumprimento, tanto na entidade católica, quanto nas duas espiritas pesquisadas. A afirmado de que as crianzas nao gostariam da instituido, nem dos funcionários, o que as levaría a fugir sempre que possível; ao mesmo tempo, e contraditoriamente, seriam apáticas e sem iniciativa, encontradas em muitas assergdes habitualmente efetuadas em conversas informáis, nao é sustentada pela análise dos dados da pesquisa. Nas quatro instituifSes pesquisadas, as criabas estudavam fora da entidade, íam geralmente sozinhas à escola ou acompanhadas de urna crianza mais velha e, no entanto, nao fugiam da instituido, o que indi-
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cava que elas encontravam satisfago em ali residir. Na comparado feita com os dados da vida da crianga no período anterior à internado, em todas as quatro instituifOes, transpareceram as vantagens que a crianza reconhecia encontrar na entidade onde estava internada; se eia recebia a t e n e o dos adultos, isso significava mais um ponto favorável à sua permanencia nela.
5. Conclusáo A análise da fala e dos comportamentos das crianzas entrevistadas n3o parecem confirmar nem as apresentagOes teóricas examinadas, nem as demais pesquisas aqui citadas. As teorías lidam com abstra?5es; as pesquisas buscaram, a partir de seus dados, estender suas conclusdes à generalidade das institui?5es. Um abandono fundamentalmente sentido no decorrer das análises aqui efetuadas foi a de nao ser levada em considerado determinada especificidade que se apresentou como importante: a envergadura da instituido. Trabalhos teóricos, trabalhos de pesquisa devem ser confrontados sempre com novas i n v e s t i g á i s , para se poder verificar: sua adequatilo a um conjunto de dados aparentemente scmelhantes; sua extensào e também as limita^óes a que estáo sujcitos e que muitas vezes nao foram percebidas. No caso de teorías, lembrar que estas constituem ora "construyo hipotética, opiniSo de um sábio sobre questdes controvertidas", ora " o p o s i t o ao detalhe da ciencia", tomando a forma de "grande síntese que se propóe explicar grande número de fatos, admitida, a título de hipótese verossímel, pela maioria dos sábios de urna época". 23 No caso das pesquisas, devem elas ser constantemente submetidas à verificad o por intermèdio de novas análises de dados que ampliam o conhecimento já obtido, ou entáo o póem em dúvida; nos dois casos, a utilidade de outras invest i g á i s é indiscutível. As obras citadas de Foucault e de Goffman se inserem justamente entre as grandes sínteses de que fala André Lalande, ao comentar o conceito de teoría; simplificadas, as noyóes que oferecem estes autores se estcndem a todos os dados passíveis de caber dentro déla, representando esquemáticamente a realidade, sem atentar para divergencias possivelmente existentes. Os autores acima referidos estendem a todo tipo de internato - prisóes, manicomios, orfanatos - o fruto 23
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de suas elocubra;5es, efetuadas a partir do raciocinio abstrato, isto é, consideraran! um elemento como fundamental na explicado da realidade, a internado em ¡nstitui^óes, quaisquer que sejam os individuos a que elas s3o aplicadas, em qualquer época, em qualquer lugar, em qualquer sociedade ou grupo. Em que medida os dois autores consideraram seus raciocinios como representantes válidos de urna realidade? Em que medida os apresentaram como construyóos hipotéticas que poderiam explicar um grande número de dados da realidade, cobertos por urna teoría que lhes parecía verossímil? Se esta segunda interpretado for verdadeira, todos aqueles que a aceitaram como verdade indiscutível cometeram certamente urna falha crítica. Se a primeira interpretado for cabível, entáo os dois autores se aventuraram no terreno das afirmasóes arbitrárias, especulativas e, portanto, de duvidoso valor. A decisáo sobre qual das duas maneiras de ver seria aplicável a estas obras só poderá ser aventurada quando for feito um estudo profundo de seus fundamentos e de seus raciocinios. A presente pesquisa n3o pode senáo alertar para os aspectos em que nao houve coincidencia das qualifica;des de ambas as teorías ao material levantado e analisado; cabia este no conceito abstrato de ambos os autores, mas as qualificafóes e consequéncias por eles indicados n3o caracterizavam o material da investigado aqui apresentada. Comparado esse com os dados de vários trabalhos de pesquisa nüo foi também constatada convergencia, apesar destes terem efetuado suas coletas também na FEBEM/SP, da qual urna Unidade foi incluida no trabalho atual. É preciso lembrar que o material colctado neste último n3o abarcou ncm adolescentes, nem delinquentes; foi composto somente de meninos e meninas entre 9 e 12 anos de idade, isto é, idade em que se presumía que pudessem entabular diálogo válido com a pesquisadora dada a dificuldade de expressüo das crianzas; as crianzas eram ou abandonadas, ou entilo internadas pelo Juizado de Menores por andarem soltas ñas rúas ou por serem vítimas de maus-tratos familiares. A maioria das pesquisas efetuadas pelas demais pesquisadoras náo efetuavam estas distinyóes; partiam aparentemente do principio de que os internados na FEBEM/SP eram todos iguais, fossem quais fossem as idades e os motivos de internado. A falta de convergencia do resultado da pesquisa atual com as demais pode estar explicada por esta diferenga. No entanto, as autoras elevaram suas conclusóes ao nivel de generalizares, estas indo no mesmo sentido dos trabalhos teóricos de Foucault e Goffman. A presente pesquisa mostra que tais generalizafóes parecem deformar a realidade. Se a expressüo "parecem deformar a realidade" foi aqui empregada é porque a pesquisa que serve de instrumento para esta apreciado crítica nüo foi extensa. A
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quantidade de crianzas entrevistadas nao sendo grande, há base para que se considere a necessidade de urna ampliado das investigáis. Noutras palavras, obs e r v a o s e comentarios conservam caráter hipotético e necessitam de urna expansáo das i n v e s t i g á i s para poderem ser considerados como representaos válidas da realidade. O que advoga em favor dos resultados a que se chegou foi o fato do material coletado nüo encerrar somente dados colhidos em entidades idénticas. O tamanho das instituios; sua localizado geográfica e urbana inteiramente diversa; a qualifica?ao dos diferentes sistemas de valores que orientam a a?üo dos mantenedores e dos dirigentes das entidades poderiam ter agido como linhas de demarcado dos limites entre urnas e outras. As divergencias no entanto foram de pequeña monta e se concentraram sobretudo na envergadura das entidades; alguns traaos - como a maior ou menor liberdade das criabas - dependeram claramente do tamanho da instituido e este apareceu assim como um fator que nao pode ser esquecido quando as instituios, ou s3o organizadas, ou sáo estudadas.
6. Zusammenfassung Mehr als die Hälfte der 59 Millionen Kinder und Heranwachsenden Brasiliens lebt z. Zt. - so die offiziellen Statistiken - mit ihren Familien in Armut, gut ein Viertel sogar im Zustand absoluter Armut. Aufgrund der wachsenden Marginalisierung breiter Schichten und der weiter zunehmenden Ungleichheit innerhalb der brasilianischen Gesellschaft stellt sich für viele Kinder aus prekären Familienverhältnissen nur die Alternative, als Straßenkinder zu überleben, oder als "bedürftige" bzw. "verlassene Minderjährige" in Heimen oder sogar als "Gesetzesbrecher" in staatlichen Besserungsanstalten "verwahrt" zu werden. Der vorliegende Aufsatz, der auf der Dissertation der Autorin beruht, untersucht vor dem Hintergrund der brasilianischen Rezeption der Schriften von M. Foucault und E. Goffman sowie anhand aktueller brasilianischer Literatur dazu (M. Guirado, M.L. Violante, M.I. Bierrenbach) die Einstellung der Kinder gegenüber dieser Problematik. Ziel war eine Gegenüberstellung und Überprüfung der Thesen Foucaults und Goffmans, deren Kritik sich auf jede Form der Internierung bezieht (Gefängnisse, Irrenhäuser, Waisenhäuser), und ihrer abstrakten Folgerungen anhand von konkreten Beispielen aus Brasilien. Für die Untersuchung wurden in der Stadt Säo Paulo die staatliche "Unidade Educacional D. Paulina de Souza Queiroz" sowie die katholische "Comunidade
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das Irmäs Vicentinas Jardim Rubiano", in der Stadt Marilia (Staat Säo Paulo) die von Spiritisten geführten Heime "Associafäo Filantröpica de Marilia" und "Lar de Meninas Amelie Boudet" ausgewählt. Dort führte die Autorin zwischen 1986 und 1989 Interviews mit 9-12jährigen Kindern durch, wobei von ihr bewußt weder Heranwachsende noch straffällig gewordene Jugendliche befragt wurden; es handelte sich durchwegs um verlassene oder vom Jugendrichter wegen Mißhandlung durch die Eltern eingewiesene Kinder. Dabei zeigte sich, daß die Kinder dieser Altersgruppe ein eher positives Verhältnis zu den Institutionen haben. Sie unterscheiden sich damit signifikant von älteren Kindern, die in anderen Untersuchungen befragt wurden. Deren Verhältnis zu den Heimen war kritisch bis ablehnend. Die vorliegende Untersuchung kommt somit zu dem Schluß, daß das empirisch erhobene Material nicht nur in Einzelfällen mit den Ansichten beider Theoretiker nicht übereinstimmt, sondern daß auch deren Wertungen und Folgerungen nicht mit den hier vorgelegten Ergebnissen vereinbar sind. Die fehlende Übereinstimmung dieser Ergebnisse mit denen anderer aktueller Arbeiten aus Brasilien weist auf die Gefahr vorschneller Verallgemeinerungen hin, die die Realität deformieren können. Folgerungen aus Beobachtungen der vorliegenden Art haben stets nur einen hypothetischen Charakter; sie müssen somit erst durch eine Vielzahl von Einzeluntersuchungen gestützt werden, bevor sie als repräsentativ gelten können.
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Literatura Franco Basaglia, "A instituido da violencia", in: Revista Tempo Brasileiro. Rio de Janeiro. 35, ouL-dez. 1973 (publicado em 1974). María Ignès Bierrenbach, "Instituido fechada e violencia: urna visüo de dentro", in: Bierrenbach et alii, Fogo no Pavilhao: urna proposta de liberdade para o menor. Sao Paulo 1987. Càndido Procópio Ferreira de Camargo et alii, Sao Paulo, 1975. Crescimento e Pobreza. 4 ! ed. Sao Paulo 1976. Mariza Correa, "Antropologia e Medicina Legal: Varia?5es em torno de um Mito", in: Eulálio et alii, Caminhos Cruzados. Sao Paulo 1982. Gilberto Dimenstein, A Guerra dos Meninos: assassinato de menores no Brasil. 3* ed., S3o Paulo 1990. Boris Fausto, Crime e Cotidiano. Sao Paulo 1984. Rosa Maria Fischer Ferreira, Meninos da Rúa, Sao Paulo, Comissao Justina e Paz/CEDEC, 1980. Michel Foucault, Historia da Loucura na Idade Clàssica. Sao Paulo 1978. Michel Foucault, Vigiar e Punir. 4* ed. Sao Paulo, Petrópolis 1986. Erving Goff man, Manicomios, Prisòes e Conventos. Sao Paulo 1974. Marlene Guirado, A Crianza e a FEBEM. Sao Paulo 1980. Marlene Guirado, Instituido e rclagOes afetivas: o vínculo com o abandono. Sao Paulo 1986. IBGE, Crianzas e Adolescentes: indicadores sociais, voi. 3. Rio de Janeiro, IBGE, 1991. Ethel V. Kosminsky, "A infancia assistida", mimeo. Sao Paulo, tese de doutoramento, FFLCH/USP, 1992. André Lalande, Vocabulaire Technique et Critique de la Philosophie. París, PUF, 1972. José de Souza Martins, Caminhada no Chao da Noite. Sao Paulo 1989. Maria Lucia Violante, O dilema do decente malandrò. 4 1 ed., Sao Paulo 1985.
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"Veränderung von unten": PT und Basisbewegungen Agenten der gesellschaftlichen Transformation Michaela Wolf, Graz
"[...] a existencia do Partido dos Trabalhadores (PT) 6 uma completa irregularidade e anormalidade no ämbito do sistema partidärio brasileiro e na histöria politica brasileira." 1 Margaret Keck bezeichnet ihr Buch über die Geschichte der PT nicht umsonst als "estudo de anomalia". Noch gegen Ende der Diktatur in Brasilien, als sich die sozialen Kräfte des Landes in verstärktem Maße sammelten, war es schwer denkbar gewesen, daß eine Partei als Auffangbecken und gleichzeitig als Kristallisationspunkt der sozialen Bewegungen zum Sprachrohr eines großen Bevölkerungsanteils heranreifen würde. Was bewirkt die Aufrechterhaltung dieses Spannungsverhältnisses zwischen "Basis" und Parteispitze, und inwieweit ist diese Basis an dem mit alternativen Konzepten betriebenen Veränderungsprozeß, den die PT eingeleitet hat, beteiligt? Oder ist dieser Prozeß überhaupt durch die "Revolution der zivilen Gesellschaft" 2 bedingt? Eine Beantwortung kann nur über eine Analyse der sozialen Bewegungen selbst erfolgen, zunächst in globalem Zusammenhang, in der Folge im spezifisch brasilianischen Kontext.
Zivile Gesellschaft und soziale Bewegung Auf die Frage, wie die Beziehung zwischen einer politischen Partei und dem Staat auf der einen Seite und der Zivilgesellschaft, den Gewerkschaften und den sozialen Bewegungen auf der anderen Seite aussehen könnte, reden führende Politiker des avantgardistischen linken Spektrums des lateinamerikanischen
1 Margaret E. Keck: PT. A logica da difercr^a, Säo Paulo 1991, S. 3. 2 Javier Gorostiaga, "Die Revolution der zivilen Gesellschaft". In: Herbert Berger/ Leo Gabriel (Hrsg.): Alternativen zum Neoliberalismus in Lateinamerika. Wien 1992, S.21-30.
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Kontinents einhellig einer partizipatorischen Demokratie das Wort.3 So bezeichnet Federico Storani von der argentinischen Unión Cívica Radical Basisgruppen wie Stadtviertelorganisationen als "verdaderas escuelas de democracia interna donde se expresan los debates y los puntos de vista del conjunto de la comunidad". 4 Und der inzwischen verstorbene Salvadorianer Guillermo Ungo vom Movimiento Nacional Revolucionario sieht die politischen Parteien als wichtigstes Bindeglied zwischen Staat und ziviler Gesellschaft.5 Die Idee des Zusammenwirkens von sozialen Bewegungen und Parteien als bester Ausdrucksform partizipatorischer Demokratie geht demnach einen Schritt weiter als jene Basisbewegungen gegangen sind, die in vielen zumeist lateinamerikanischen Staaten sukzessive die Befreiungsbewegungen ersetzt haben. Um welche Art von "Basis" handelt es sich dabei? "Soziale Bewegungen", die in der Praxis am ehesten Ausdruck dieser Basis sind, inkludieren in historischer Sicht alles, was tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen bewirkt. Historiker/innen verwenden den Begriff demnach sowohl in bezug auf die Französische Revolution und den afrikanischen Nationalismus als auch auf die österreichischen Bauernkriege und den Kampf der lateinamerikanischen Landarbeiter/innen. Soziale Bewegung also als antisystemischer Ausdruck6: Sobald Grundbediirfnisse der jeweiligen Bevölkerungsgruppe bzw. jedwede Art sozialer Gerechtigkeit von Seiten der herrschenden Macht nicht ausreichend befriedigt werden, ist die Möglichkeit des Entstehens sozialer Bewegung gegeben.7 Als Eingriff von 3
Nueva Sociedad Nr.91, sep./oct. 1987, Caracas, S.63-89.
4
Ebda., S.68.
5
Ebda., S.75. Ähnlich beurteilt Enrique Bernales vom Partido Socialista Revolucionario, Peru, die Beziehung zwischen Partei und ziviler Gesellschaft, wenn er sagt: "El partido pretende ser un instrumento para canalizar la energía política existente en la sociedad civil". Ebda., S.79.
6
André Gunder Frank/Marta Fuentes-Frank (Hrsg.): Widerstand im Weltsystem, Wien 1990, S.7. "Los movimientos sociales en América Latina, como también en otras partes, pueden considerarse como movimientos de emancipación que enfrentan en una sociedad formas concretas de subordinación, de aislamiento en lo económico, de pasividad impuesta en todo lo que es cultural, económico o político y que se rebelan en contra de la descomposición corporativa que tiene lugar en la sociedad actual". Enzo Faletto: "Propuestas para el cambio. Movimientos sociales en la democracia", S.141-147. In: Nueva Sociedad Nr.91, a.a.O., S.145. Vgl. zur Entstehung von sozialen Bewegungen
7
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unten ist sie • so sie mit Flexibilität und sozialer Sprengkraft ausgestattet ist außergewöhnlich effektiv. Ob dies ausreichend dafür ist, ein Forum für tiefgreifende Veränderungen der gesellschaftlichen Verhältnisse darzustellen, bleibt zunächst dahingestellt. Ausschlaggebend für diesen Charakter der sozialen Bewegung ist in den meisten Fällen der Anlaß für ihre Entstehung. Einen Überblick über die zum Teil sehr unterschiedlich gearteten Entstehungsgeschichten von sozialen Bewegungen zu geben, ist nicht Aufgabe der vorliegenden Arbeit. Eine umfassende Analyse könnte jedoch Aufschluß geben über die langfristigen Auswirkungen von Widerstand gegen herrschende Systeme und eine Typologie der Widerstandsmethoden erstellen, die in den verschiedensten Gesellschaftsbereichen im Laufe der Geschichte immer wieder angewendet wurden. Ein möglicher Ausgangspunkt für das Entstehen solcher Bewegungen ist eine Situation der Unterdrückung, in der ethnische, linguistische, religiöse, soziale und andere Minderheiten der Ungerechtigkeit einer wirtschaftlichen und politischen Entwicklung ausgesetzt sind. In der Summe machen diese Minderheiten - auf die Weltbevölkerung bezogen - die Mehrheit aus. Soziale Bewegungen sehen ihre wesentliche Funktion darin, die Durchsetzung ihrer Forderungen immer direkt oder indirekt mit der kontinuierlichen Ausübung politischer Freiheiten in Bezug zu setzen. Soziale und politische Emanzipation sind somit Teil eines globalen Prozesses, durch den überhaupt erst die Grundfesten für eine partizipative Demokratie gelegt werden können. Im aktuellen Kontext würde dies für soziale Bewegungen in der sogenannten "Dritten Welt" bedeuten, daß gerade auf Grund der globalen Wirtschaftszusammenhänge sowie der enormen Verschuldung in einer Vielzahl der Staaten des Südens jene zur Tat schreiten, die durch diese Situation zwar am meisten betroffen sind, aber auch in eine noch schwächere - soziale, wirtschaftliche und politische - Position gedrängt worden sind. Es wollen also immer mehr Leute zu einem Zeitpunkt, an dem gerade ihr Schicksal von nicht mehr überschaubaren Wirtschaftsfaktoren abhängt, die Initiative ergreifen und selbständig und entschieden gesellschaftliche Aktionen einleiten.8 v.a. in den Ländern des Südens: Franz Nuscheier: Lern- und Arbeitsbuch Entwicklungspolitik, Bonn 1991, S.298. 8
Der Nyerere-Bericht sieht im Wachstum der sozialen Bewegungen den positivsten Entwicklungstrend der vergangenen Jahrzehnte. Vgl. Nuscheier, a.a.O., S.297.
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Die innere Struktur der sozialen Bewegungen ist in diesem Zusammenhang ein weiterer ausschlaggebender Faktor. Sind diese Bewegungen im günstigsten Fall mit der Fähigkeit ausgestattet, für neue politische Dimensionen Ansätze zu liefern, die schließlich die Kräfte eines tiefgreifenden Wandels ausmachen, so sind sie mit Sicherheit die wichtigsten Agenten im Prozeß der partizipatorischen Demokratie. Der chilenische Soziologe Enzo Faletto führt drei auf Hegel verweisende Prinzipien an, die der wirksamen Arbeit von sozialen Bewegungen als Grundlage dienen sollten: - Prinzip der Identität, mit dessen Hilfe sich die Bewegungen in ihrem Wesen definieren; - Prinzip der Opposition, mit dem der "Feind" beschrieben bzw. analysiert wird; - Prinzip der "Totalität", das die Lösungsmöglichkeiten in Verbindung mit den vorhandenen Kapazitäten in realistischer Weise abschätzt.9 Diese Ansätze für neue politische Dimensionen waren in der Vergangenheit entweder in der Gründung von politischen Parteien oder in Befreiungsbewegungen gesucht worden. In der Regel gingen soziale Bewegungen ebenso in Parteien auf wie Befreiungsbewegungen; gerade die nicaraguanische FSLN ist ein charakteristisches Beispiel dafür. Es hat sich jedoch in der Praxis gezeigt, daß viele Parteien als Instrument zur Förderung oder als Garantie zur Durchführung von emanzipatorischen Prozessen keine dauerhaften Erfolge erzielen können. 10 Es scheint offensichtlich, daß die der Staatsmacht bzw. den politischen Parteien herkömmlicher Prägung innewohnenden Hierarchien nur schwer dauerhafte politische, wirtschaftliche, kulturelle etc. Umwälzungen zulassen. Da bieten soziale Bewegungen durch ihren flexiblen Handlungsspielraum eine Alternative.
9 Faletto, a.a.O., S.144. 10 Vgl. Frank, a.a.O., S.163 ff. Frank führt im Detail die Etappen des Übergangs von revolutionären zu sozialen Bewegungen an und kommt zu dem Schluß, daß der Schritt zu einer partizipatorischen Gesellschaft nur über soziale Bewegungen verschiedenster Prägung und nicht über Institutionen und/oder Parteien erfolgen kann. Wir schließen uns diesem Urteil in historischer Sicht generell an, wollen aber in der Folge an Hand des Beispiels der brasilianischen "Arbeiterpartei" beweisen, daß hier in exemplarischer Weise ein für beide Teile - soziale Basisbewegungen und politische Partei - vorteilhaftes und befruchtendes Verhältnis sehr wohl bestehen kann, ohne daß sich die Bewegung nach Erreichung ihrer Ziele wieder auflöst bzw. in der institutionalisierten Macht aufgeht.
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Sie brauchen eine nicht autoritäre Organisation, die sie davor schützt, institutionalisiert zu werden. Nur so können sie als Träger neuer Visionen - zum Teil zwar nur kurzfristig - agieren und ihre Anliegen mit umso größerem Nachdruck verfolgen. 11 Überdies kann den Forderungen der Bürgerinnen und Bürger, des "Volkes" im allgemeinen, durch soziale Bewegungen ein vielfach stärkerer Nachdruck verliehen werden als durch den Umweg über Parteien. Nicht zuletzt hat der gesellschaftliche Akt, die erstrebten Ziele einzufordern, an sich bereits eine gesellschaftsverändernde Funktion - unabhängig davon, ob diese Ziele letztendlich erreicht werden oder nicht. Was diese Ziele anbelangt, so sind sie zwar, wie bereits bemerkt, antisystemisch ausgerichtet, werden jedoch in der Praxis zumeist allmählich in das System aufgenommen; die innovative Wirkung der sozialen Bewegungen besteht in diesem Fall hauptsächlich in der Reflexion und der darauffolgenden qualitativ erneuerten Wechselwirkung zwischen den Individuen der Gesellschaft und den staatlichen Organisationen. Damit hat der Begriff der Zivilgesellschaft vor allem für die Basisbewegung der Länder des Südens eine besondere Bedeutung erlangt. Als zivile Gesellschaft in der heutigen Bedeutung kann die Gesamtheit der Beziehungen unter und zwischen Individuen, Gruppen und sozialen Klassen außerhalb der Machtbeziehungen, die die staatlichen Institutionen darstellen, angesehen werden. 12 Demnach bildet die Zivilgesellschaft als Sphäre basisdemokratischer Selbstorganisation die Grundlage zum Austragen von wirtschaftlichen, ideologischen, sozialen und religiösen Konflikten. Von hier gehen die Fragestellungen aus, die 11 Die Wirtschaftskrise, die in den vergangenen Jahrzehnten vor allem die Länder des Südens in katastrophalem Ausmaß zu spüren bekamen, veranlaßte Samir Amin in Anbetracht der mangelnden Möglichkeiten annehmbarer Überlebensperspektiven einer Vielzahl von Menschen im Rahmen einer Konferenz im Jahre 1987 zu dem Aufruf, daß es für die sozialen Bewegungen an der Zeit sei, zur Aktion zu schreiten und neue und andersgeartete Spielregeln zu entwickeln. Dabei sollten sie unter allgemeiner Veränderung der Gesellschaft den sozialen und politischen Emanzipationsprozeß initiieren und auf politische Parteien als Mittel zur Erringung und Verwaltung von Staatsmacht verzichten. Vgl. Frank, a.a.O., S.169. 12 Norberto Bobbio: "Società civile". In: Dizionario politico, Torino 1976, S.956. Zur Begriffsdefinition von "Zivilgesellschaft" im vorliegenden Kontext vgl. Sabine Kebir: Gramsci's Zivilgesellschaft, Hamburg 1991; Frank, a.a.O., S.193. Zur Zivilgesellschaft im heutigen Europa vgl. Jürgen Habermas: Vergangenheit als Zukunft, Zürich 1990, S.119.
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vom Staat beantwortet werden müssen, und hier liegt auch der Ausgangspunkt für die Mobilisierung, die Vereinigung und die Organisation von sozialen Kräften, die einen gesellschaftsverändemden Prozeß bewirken. Globale Probleme verlangen globale Problemlösungen. Was als abgegriffenes Schlagwort erscheint, bedeutet in Wirklichkeit die dringende Notwendigkeit der effektiven Vernetzung globaler Planungen, deren Konzeption und Formulierung von den jeweiligen sozialen Kräften ausgehen soll: "Die Architektur der Weltpolitik ist nicht mehr die alte; die Welt ist keine Staatenwelt mehr, in der Besitz militärischer Gewaltmittel Macht und Einfluß zuteilten. Sie ist auch noch keine Weltgesellschaft, die auf Verfügung über Gewaltmittel verzichtet und sie einer Zentralgewalt überantwortet hat. Diese neue Welt ist am ehesten eine Gesellschaftswelt, die von der staatlichen Organisation formiert, aber von den Interessen der Gesellschaften bestimmt wird". 13 In Lateinamerika wird heute von maßgeblichen Persönlichkeiten des politischen Lebens "zivile Gesellschaft" mit "sozialer Bewegung" gleichgesetzt. So meint der aus Panama stammende Jesuit Javier Gorostiaga, daß es gerade die zivile Gesellschaft sei, die, bestehend aus Bauern-, Arbeiter- und Frauenorganisationen, aus der Umweltschutzbewegung und den christlichen Basisgemeinden, die neue demokratische Bausubstanz bilde. Als Beispiel für eine Demokratiekonsolidierung durch die zivile Gesellschaft nennt er Haiti, wo die LavalasBewegung Aristide den überwältigenden Wahlsieg eingebracht hatte. Gorostiaga bezeichnet die Lavalas-Bewegung als "geballte Kraft der Organisationen und Institutionen der zivilen Gesellschaft". 14 Die weitere Entwicklung der LavalasBewegung wurde durch die militärische Machtergreifung jäh unterbrochen. Aber es sind auch Stimmen aus Lateinamerika, die vor einer Gleichsetzung des Begriffs Zivilgesellschaft mit sozialer Bewegung warnen. Rubén Zamora, salvadorianischer Oppositionsführer, sieht darin ein zu beschränktes Konzept und regt an, unter Zivilgesellschaft nicht nur die organisierten Massen als agierende soziale Kraft zu sehen, sondern auch diejenigen, die nach Gramsci als
13 Emst-Otlo Czempiel: "Konturen einer Gesellschaftswelt". In: Merkur Okt./Nov. 1990, S.843.
Nr.10,
14 Vgl. Javier Gorostiaga, "Schlußdokument der Konferenz 'Die Perspektiven Lateinamerikas in den neunziger Jahren - politische und ökonomische Alternativen zum Neoliberalismus', Burg Schlaining, Österreich, 18.-21. April 1991". In: Südwind, Entwicklungspolitisches Magazin. Nr.6, Juni 1991, S.II.
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"Öffentlichkeit" bezeichnet werden: Gramsci spricht diesbezüglich in seinen "Quaderni" und "Lettere" von "Überbauten" wie Kirche, Gewerkschaften und Schulen, die durch den gesamten Komplex der ideologisch-kulturellen Beziehungen gekennzeichnet sind. Für Gramsci ist die Presse ebenso Teil der "società civile" wie alles andere, was direkt oder indirekt die öffentliche Meinung beeinflussen kann, also auch Bibliotheken, Schulzeitungen, Kulturverbände und Clubs verschiedener Art bis hin zu Architektur oder Straßenbenennungen. 15 Das Konzept der Zivilgesellschaft muß also im Sinne Gramscis ausgeweitet werden, da es sonst die Gesellschaft in zwei Klassen teilt: Die Bürgerinnen und Bürger erster Klasse sind die Organisierten, die Bewußten, die Subjekte, während die zweite Klasse aus den Nicht-Organisierten, den Rückständigen, den Objekten bestehen würde. In Lateinamerika manifestiert sich diese "zivile Gesellschaft" heute in der Herausbildung neuer Kräfte, die innerhalb eines weiten sozialen Netzwerks eine konstruktive Beteiligung in Wirtschaft, Politik und Kultur fordern. Gustavo Esteva geht hier einen Schritt weiter: für ihn sind diese Netze vorwiegend "zum Fangen gemacht", also ihrem ursprünglichen Zweck nicht entsprechend bzw. ihn sogar hindernd. Er wendet sich gegen das "integrative Prinzip", das als Tendenz innerhalb eines Netzes - also der Vernetzung von verschiedensten sozialen Kräften - aufscheint, weil es Homogenisierung hervorrufe und zu Unterwürfigkeit und Anhänglichkeit verleite. Deshalb benutzt er die Hängematte als Metapher dafür: "Das Bild der Hängematte vermittelt die Vorstellung des Horizontalen und des Fehlens eines Zentrums (außer des Schwerpunkts), wie es ein Netz hat. Und es eröffnet andere Möglichkeiten. Die Hängematte ist dort, wo sie aufgehängt wird: Man ist nicht in ihr drinnen, nicht Teil von ihr oder Mitglied. Sie kann wann und wie immer benutzt werden - oder auch nicht." 16 Esteva unterscheidet bei der Einforderung einer demokratischen Partizipation drei Ebenen, auf denen die Bürgerinnen und Bürger in abgestufter Form ihren Einfluß bestimmen: Der Weg über eine politische Partei rangiert dementsprechend - je nach direkter oder indirekter Wahl - auf Rang zwei und drei; an erster Stelle steht die Demokratieausübung durch Basisorganisationen. 17 Wie eine 15 Vgl. Antonio Gramsci: Lettere dal carcere, Torino 1968, S.481. Zu R. Zamora: Lateinamerika Anders Nr.5, Mai 1991, S.2. 16 Gustavo Esteva: Fiesta - jenseits von Entwicklung, Hilfe und Politik, Frankfurt/Wien 1992, S.ll f. 17 Ebda., S.44.
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Verbindung dieser drei Ebenen aussehen kann, ist am Beispiel der brasilianischen Arbeiterpartei erkennbar: Hier fließen die politischen Forderungen der sozialen Bewegungen in einer Partei zusammen, die durch verschiedene Instrumentarien eine fortwährende Wechselwirkung zwischen Basis und Parteiführung gewährleistet.
Die brasilianische "Arbeiterpartei" PT In Brasilien ist das Entstehen der "Arbeiterpartei" an die Notwendigkeit eines Zusammenschlusses der oppositionellen Kräfte gebunden; vor allem gegen Ende der siebziger Jahre schien es, daß nur eine gemeinsame politische Aktion die Militärs von den politischen Schalthebeln entfernen konnte. Ein historischer Anfang für ein konzertiertes Zusammenwirken der sozialen Bewegung kann mit den großen Streikwellen ab 1978 gesetzt werden, als der von den brasilianischen Diktatoren initiierte Wirtschaftsboom im Zusammenwirken mit der Ölkrise stark nachließ. Schauplatz der Streiks war der Industricgürtel um Säo Paulo, wo sich eine kämpferische Gewerkschaftsströmung mit Luiz Inäcio Lula da Silva als dem bekanntesten Exponenten herausbildete. 18 Aber auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen hatte eine Bewußtseinsbildung an der Basis angesetzt. Vor allem in den Basisgemeinden der Kirche trafen Schwarzenbewegung, Frauen-, Landarbeiter-, Stadtteilbewegung u.a. zusammen und diskutierten, von ihrem jeweiligen Bereich ausgehend, über die politische Situation. Schon diese von der Kirche ausgehende Initiative macht deutlich, daß es sich in Brasilien zu diesem Zeitpunkt nicht um "dissoziierte" soziale Bewegungen defensiven Charakters mit der Tendenz zu kurzfristigem Leben handelte, die sich also wieder auflösten, wenn sie ihre Ziele - in diesem Fall die Gründung einer Partei, die ihre Anliegen vertreten sollte, - erreicht hatten, 19 sondern daß diese Bewegungen assoziiert sind und schließlich in gemeinsamem Wirken eine Partei nähren, die sie
18 Hier kann nicht im einzelnen auf die Entstehungsgeschichte der PT eingegangen werden. Vgl. Keck, a.a.O., vor allem S.17, 25-28, 57-58; Frederico Füllgraf: "O PT e nosso. Die Partei der Arbeiter in Brasilien". In: Lateinamerika-Analysen und Berichte Nr. 5, Berlin 1981, S.148-184; Thomas Fatheuer/Werner Würtele: "Brasilien: Mit Tatkraft und Demagogie". In: Vom Elend der Metropolen. Lateinamerika-Analysen und Berichte Nr. 14, Hamburg 1990, S.171-180; Brasilien Dialog Nr.4, 1980. 19 Frank, a.a.O., S.206.
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durch eine kontinuierliche Wechselwirkung überdies ständig erneuern. 20 Das Zusammenwirken von gewerkschaftlicher und sonstiger Basis macht deutlich, daß unter gewissen repressiven Bedingungen soziale Bewegungen offensichtlich sehr schnell aus ihrer Eigendynamik heraus zu einer politischen "Grenzüberschreitung" 21 bereit sind. Die Fortdauer sozialer Konflikte bewirkt demnach im Zusammentreffen mit der Fortdauer politischer Unterdrückung, daß gerade die sozialen Bewegungen im Einklang mit den Gewerkschaften den ihnen vom Staat zugedachten Bereich verlassen und zu einer übergeordneten politischen Kraft werden. Das Projekt zur Gründung der "Arbeiterpartei" ergab sich demnach aus der Diskussion über einen parteipolitischen Zusammenschluß, der über die Gewerkschaftsorganisation hinausgehen sollte. Das Zusammenfließen verschiedenster politischer Strömungen (unabhängige Marxist/innen, ex-Guerilleros/-as, Trotzkist/innen u.a.) und gesellschaftlicher Bereiche (soziale Bewegungen) mit verschiedenen Konzeptionen und Ideologien in einer Partei, in der zum Teil sich diametral widersprechende Auffassungen vertreten werden, zog bei der Gründung 1979 eine Grundsatz-Kontroverse innerhalb der PT nach sich, die nach wie vor das Spannungsverhältnis zwischen den einzelnen Gruppierungen bestimmt. Allein die Zusammensetzung der PT zeigt auf, daß der Schlüssel für ihre politische Arbeit nicht aus einem theoretischen Modell gezogen werden kann, sondern vorrangig aus der Notwendigkeit einer gemeinsamen politischen Aktion, wie sie vor der Gründung der Partei von den sie später konstituierenden Elementen partei-extern ausgeübt worden war. 22 Daraus kann gefolgert werden, daß
20 In einer Resolution des 5. Parteitreffens zur Strategie der Partei formulierte die PT ihr Grundverständnis folgendermaßen: "Wir wollen eine Partei der Massen, die Tausende oder gar Millionen von aktiven Menschen in den sozialen Bewegungen organisiert". An anderer Stelle der Resolution heißt es: "Das Projekt des Sozialismus, für den wir kämpfen, muß die Perspektiven beinhalten, die von verschiedenen sozialen Bewegungen ausgedrückt werden, die spezifische Unterdrückungsverhältnisse bekämpfen...". Zitiert nach Bresche Nr.3, 1989, S.33. 21 Füllgraf, a.a.O., S.154. 22 Vgl. dazu Lula in der Declaragäo Política der Parteigründung in Säo Bernardo: "A idéia do Partido dos Trabalhadores surgiu com o avanzo e o fortalecimento desse novo e ampio movimento social que, hoje, se estende das fábricas aos bairros, dos sindicatos äs Comunidades Eclesiais de Base, dos Movimentos contra a Carestía ä associaijöes de moradores, [...]". Zitiert nach: Keck, a.a.O., S.109.
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vor allem das Zusammenwirken bzw. der Schulterschluß zwischen Parteiführung und Volksbewegungen die politische Arbeit bestimmt. Das herkömmliche Modell der sozialen Bewegung, die in Zeiten großer sozialer, wirtschaftlicher und politischer Mißstände aktiv wird, punktuellen Erfolg erzielt und schließlich zumeist an der Frage scheitert, wie eine kontinuierliche Organisationsform aussehen könnte 23 , scheint im Falle der brasilianischen Arbeiterpartei eine wirksame Alternative gefunden zu haben. Die Gefahren, die in einem solchen Fall für die sozialen Bewegungen bestehen, treffen für das brasilianische Modell nicht zu: Integration in das herrschende System, Anpassung, u.a.m. Die sozialen Bewegungen behalten hier ihre Unabhängigkeit. Die Notwendigkeit einer Methodik zur Förderung von sozialen Bewegungen und die Schaffung von Mechanismen zur aktiven Teilnahme des Volkes an der Demokratieausübung, wie sie Luis Maira, Vizepräsident der Sozialistischen Partei Chiles, fordert 24 , ist in Brasilien zumindest ansatzweise bereits Praxis.
Soziale Bewegung: Agens oder Handlanger? Das für die Wechselwirkung zwischen Parteispitze und Basis notwendige Instrumentarium liefern vor allem die "núcleos", dezentrale Gruppen, die die Basis des aktiven und demokratischen Apparats ausmachen. Die Zellen sind in den Fabriken, Wohnvierteln, Banken, Universitäten, Schulen usw. präsent und haben der PT erlaubt, sich in ein "Instrument" der Erziehung, der Organisation, der täglichen Aktion und kontinuierlichen Beteiligung an den Mobilisierungen zu verwandeln, also eine Partei von Aktivistinnen und Aktivisten zu sein und nicht bloß von Anhängern und Wählern.25 Die Zellen, die auch als Ortsverbände26 bezeichnet werden können, wählen Delegierte, die sich auf lokalen Konferenzen
23 Vgl. Frank, a.a.O., S.10. 24 Schlußrunde der Konferenz "Die Perspektiven Lateinamerikas in den neunziger Jahren", a.a.O. 25 Vgl. Michael Löwy, "Eine Partei neuen Typs". In: ¡nprekorr Nr.225, 1990, S.9. Weitere Details zu "núcleos": Partido dos Trabalhadores (Hrsg.): Resoluföes do I o Congresso do PT, realizado em novembro/dezembro de 1991, Säo Paulo 1992, S.58 f. 26 Vgl. Peter Feldmann, "Kleine Geschichte der Partido dos Trabalhadores". In: Blätter des IZ3W Nt.164, März/April 1990, S.28.
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versammeln und über die Orientierung der Partei abstimmen sowie ihrerseits Delegierte für die Konferenz auf Bundesstaatsebene wählen. Es sind die Zellen, die die PT zu einer "Partei des Alltagslebens" machen und es gleichzeitig verhindern, daß die Partei zu einem allmächtigen bürokratischen Apparat wird, der die Anhänger/innen in eine amorphe Masse verwandelt. Anfänglich war es überdies Bedingung für die Mitgliedschaft in der Partei, einer Zelle (deren Existenz übrigens nicht legal ist) anzugehören und sich damit aktiv an der Basisarbeit der PT zu beteiligen. Unabhängig davon sind in einigen kommunalen und provinzialen Bereichen Initiativen entstanden, die sich als "Volksräte" institutionalisiert haben. In Santo André zum Beispiel, einer der Städte im Industricgürtel um Säo Paulo, wo die PT den Bürgermeister stellt, sind alle öffentlichen Projekte, die laufend im Rahmen der Urbanisierung der Favelas, des Umweltschutzes, der Erziehung u.a.m. durchgeführt werden, auf die Zusammenarbeit mit den entsprechenden Basisbewegungen zurückzuführen. An diesem Diskussionsprozeß sind bisher - über die Volksräte - etwa 5000 Personen beteiligt gewesen. 27 Die Volksräte sollen vor allem dazu dienen, daß die Partei selbst unabhängig vom Staatsapparat bleibt, ihren Einfluß jedoch benützt, um Strukturen der Selbstverwaltung zu schaffen. Diese Wechselwirkung zwischen Parteiführung und Basis ist keinesfalls unproblematisch. Die "Arbeiterpartei" hat es sich zum Postulat gemacht, die Autonomie der Basisbewegungen zu sichern und gleichzeitig ihre Entscheidungsprozesse zu fördern. Trotzdem zwingt die Partei diesen sozialen Bewegungen mit z.T. radikaldemokratischen Ansätzen kein politisches Programm auf. Die verschiedenen Positionen im Inneren der PT koexistieren in einem dialektischen Verhältnis, das vor allem durch das Tendenzrecht gewährleistet ist. Die Vertreter/innen dieser "tendèncias" sind hauptsächlich (ehemalige) Aktivistinnen und Aktivisten der Basisbewegung. Gerade zur Wahrung dieser Heterogenität hat es sich die PT von Anfang an zur Aufgabe gemacht, "von unten nach oben" wirksam zu sein, also der Selbstaktivierung der Basis kontinuierlich einen breiten Platz einzuräumen. In der Umsetzung der politischen Forderungen, die von der Basis formuliert werden, ergeben sich Schwierigkeiten vor allem aus dem Umstand, daß die Vertreterinnen und Vertreter der Gewerkschaftsbewegung und der Basisgemeinden, die auf die längste Tradition des politischen Kampfes zurückblicken konnten, der Partei 27 Vgl. ILA Nr.133, März 1990, S.19-21.
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nicht die Aufgabe der Organisation der Basisbewegungen sowie der Transformation zugedacht hatten, sondern vielmehr der Integration;28 die Mitglieder der Partei sollten also in den Gewerkschaften und Bewegungen mitarbeiten und helfen, sie zu stärken, ohne sie der Partei je unterzuordnen. Viele Probleme dieser Art müssen im Licht der Genese der PT verstanden werden. Mit ihrem Selbstverständnis, die Fortsetzung der Bewegung sein zu wollen, konnte sie anfänglich ihrem gleichzeitigen Anspruch, sich als Partei zu definieren, nur schwer gerecht werden: viele Parteimitglieder sahen in der Partei als Institution ein Element in einem weiten Netz von Organisationen. Und aus dem Wunsch, die Partei der sozialen Aktion und Mobilisierung zu sein, zur selben Zeit aber innerhalb der politischen Institutionen effizient zu arbeiten, entstand ein dauerhaftes Spannungsverhältnis. Aus der Auseinandersetzung mit diesem Spannungsverhältnis ergab sich die besondere Charakteristik und Arbeitsmethodik der PT, nämlich sich als "Bewegungspartei" herauszubilden, also durch die Basisbewegung getragen zu werden und gleichzeitig als Vehikel die Forderungen der Basis in das politische System einzubringen. Vor allem in den achtziger Jahren gelang es der Partei, eine immer genauere Kenntnis über die Beziehungen zwischen dem Aufbau einer Bewegung in der Gesellschaft und der politischen Aktion zu erlangen. Diese Erkenntnis führte auch zu einer Bereicherung der politischen und theoretischen Debatte innerhalb der Partei. Ein gravierendes Problem beruht auf dem Wechsel verschiedener führender Persönlichkeiten von der Arbeit in den Basisbewegungen in die politische Arbeit der Partei. Zum einen hat sich jeder Wahlsieg der PT kurzfristig als Schwächung der sozialen Bewegungen ausgewirkt: Führende Kräfte der Bewegungen wurden als Kandidaten und Kandidatinnen aufgestellt und zum Teil gewählt. Daraus ergibt sich die Gefahr von Vereinnahmung und Aufsaugung einzelner Führungskräfte der sozialen Bewegungen oder auch von Mittelspersonen; die negativste Auswirkung dieser oft fließenden Übergänge - viele gewählte Kandidaten bleiben ohnedies in sozialen Bewegungen tätig - ist eine Aushöhlung der Basisbewegungen, die ja eigentlich ihr Nährboden sein sollen. Auch im strukturellen Bereich gibt es Schwachstellen: Viele "núcleos" haben einstweilen ihre Arbeit wieder eingestellt. Des weiteren wird das Informationsgefälle zwischen der PT-Zentrale in Säo Paulo und den anderen Landesverbänden bemängelt. Und Lula selbst sagte in einem Interview, daß die Schaffung 28 Vgl. Keck, a.a.O., S.275.
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der Volksräte nur sehr langsam fortschreite. 29 Ein weiterer Schwachpunkt ist der zum Teil nicht vollzogene Zugang zu den extrem marginalisierten Bevölkerungsgruppen. Hier gestaltet sich die Arbeit der sozialen Bewegungen als außerordentlich mühsam und zäh. Die Zerrüttung der Urbanen Infrastruktur in den Großstädten, vor allem als Folge der Abwanderung aus den ländlichen Gebieten auf Grund der Landkonflikte, und die Ballung hunderttausender Unterbeschäftigter und Arbeitsloser in den Favelas ließ zwar gerade im städtischen Raum zahllose Selbsthilfegruppen u.ä. aufkommen, doch wurden lange Zeit keine übergeordneten politischen Zusammenhänge wahrgenommen. An der mangelnden Beteiligung der PT am Vorantreiben dieses Prozesses lassen sich die Auswirkungen davon erkennen, daß die Partei ursprünglich aus der Gewerkschaftsbewegung hervorgegangen war und in den verschiedenen Konflikten der Arbeitsbereiche ihre ersten Erfahrungen sammelte. Der Großteil der brasilianischen Bevölkerung jedoch kämpft ums tägliche Überleben, und die Mehrzahl dieser Menschen hat tatsächlich kurzfristig keine gemeinsamen Interessen mit anderen Einzelkämpferinnen und -kämpfern. Für die einzelne Straßenhändlerin ist die andere eine Konkurrentin, und die Reichen sind Kunden und keine Ausbeuter. Damit erweist sich die Strategie der PT im Hinblick auf die Arbeitswelt für die im informellen Bereich tätige Bevölkerung, die kaum auf die organisierte Vertretung kollektiver Interessen setzt, als falsch. 3 0 Eine Organisierung dieser Leute an ihrem Wohnort, in ihrem eigenen Lebensbereich ist deshalb zielführend und inzwischen längst von der PT als solche erkannt worden. Deshalb sieht die PT auch die Stärkung der sozialen Bewegungen als ihre große Herausforderung an.
"Veränderung von unten" Die Herausforderung der brasilianischen Arbeiterpartei liegt vor allem darin, nicht nur Bewußtsein zu schaffen, Prozesse auszulösen, Incffizienzen der Institutionen oder Korruption zu bekämpfen. Es geht vorrangig darum, die sozialen
29 In: Teoria e Debate, März 1991, zitiert nach: Tierra Nuestra Nr.5, 1992, S.59. Vgl. weiters: Feldmann, a.a.O., S.29. 30 Vgl. Andreas Novy: "Jenseits von Populismus und Marxismus". In: International Nr. 3-4, 1990, S.50.
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Bewegungen zu stärken, indem ihre Fähigkeiten und Impulse gefördert werden, ohne diese für sich in Anspruch zu nehmen; und es geht - nach Esteva - darum, eine vernetzte und dezentralisierte Struktur zu schaffen, die die Ausübung der direkten Demokratie gewährleistet, also die Mitsprache eines größtmöglichen Teils der Bevölkerung bei der Planung, Programmierung und Durchführung ihrer Belange. Nur so kann auch die wachsende organische Integration verhindert werden, die in die geistige Gleichschaltung mündet. 31 Die von Esteva vorgeschlagene Taktik besteht darin, die autonomen Initiativen (der sozialen Bewegungen) mit den öffentlichen Aufgabenbereichen zu verbinden, um wirkliche Kompromisse innerhalb der vorgegebenen Richtlinien zu erzielen. Gerade das ist eines der primären Anliegen der PT: "[...] a proposta de constru^äo de uma central de movimentos populäres, que englobe os diversos tipos de movimentos, unificando suas lutas mais gerais em princfpios e a?öcs nacionais comuns, garantindo a autonomia, a especificidade e o respeito à realidade de cada um". 32 Die Gefahr des Verlustes der Eigenständigkeit der sozialen Bewegungen besteht hier nicht, da ihre Anliegen direkt in die politische Arbeit der PT münden. Auch in anderen Punkten herrscht Übereinstimmung zwischen den Forderungen Estevas und der - zum Teil im Planungsstadium befindlichen - Politik der PT. Unter steter Betonung der dezentralisierten Struktur der sozialen Bewegung - vgl. das "Modell der Hängematte" - schlägt Esteva die strategische Erstellung von Richtlinien durch die autonomen Initiativen vor. In den Resolutionen des Ersten Parteikongresses unterstreicht die PT die Notwendigkeit, daß die sozialen Bewegungen kontinuierlich ihre Forderungen formulieren und fordert überdies die Kenntnis über die Arbeit der sozialen Bewegungen ein, von denen für die Arbeit der Partei ein Lernprozeß ausgehen soll. 33 Die Absage Estevas an jedwede Form der Institutionalisierung und sein Plädoyer für autonome Initiativen und Dezentralisierung ist eindeutig auch eine Absage an die Durchsetzung sozialer Forderungen durch Parteien. 34 André Gunder Frank, auf den in der vorliegenden Arbeit wiederholt Bezug genommen wurde, spricht zwar den Parteien als Instrument zur Durchsetzung von sozialen Forderungen nicht ihre Legitimität ab, versucht jedoch zu beweisen, daß in dem Pro31 Esteva, a.a.O., S.105. 32 Resolutes do 1° Congresso do PT, a.a.O., S.37. 33 Ebda., S.37 und 45. 34 Vgl. Esteva, a.a.O., S.127.
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zeß der Überleitung dieser Forderungen von der Basis in die Parteien die sozialen Bewegungen von der Partei aufgesogen und ihrer ursprünglichen Form der "Bewegung" beraubt werden; er spricht von der Unfähigkeit bzw. Unzulänglichkeit von (Staatsmacht und) Parteipolitik, die Anliegen der sogenannten Basis gesellschaftlich in Angriff zu nehmen und meint: "[...] heute [sind] Staats- und Parteipolitik weit davon entfernt, den Anliegen des Volkes zum Durchbruch verhelfen zu können." 35 Die Analyse der Wechselbeziehungen zwischen brasilianischer "Arbeiterpartei" und sozialer Bewegung soll zeigen, daß die scharfe Trennung der beiden Bereiche im Falle der PT nicht zutreffend ist Das bestehende dialektische Verhältnis, für das die PT trotz aller Mängel exemplarisch ist, wird auch von anderer Seite aus dem lateinamerikanischen Raum eingefordert. 36 In seiner Studie über die Rolle der sozialen Bewegungen in der Sicherstellung von Demokratie sagt Enzo Faletto: "Se postula que en la relación entre democracia y movimientos sociales, los partidos políticos juegan un papel decisivo". 37 Auch für Guillermo Ungo waren die politischen Parteien "vínculo principal de relación entre el Estado y la sociedad civil". 38 Und Paulo Freiré meint: "Die traditionellen politischen Parteien der Linken und der Rechten werden an der Unbeweglichkeit und Erstarrung zugrunde gehen, wenn sie sich nicht den sozialen Bewegungen des Volkes nähern". 39 "Einig in der Verschiedenheit" ist sich ein Forum von ca. 35 Frank, a.a.O., S.169. 36 Auch Gramsci spricht sowohl in den "Lettere" als auch in den "Quaderni" wiederholt von einer "società politica (o un partito, una classe) che aggregando a sé gli intellettuali e le organizzazioni della società civile sia capace di esercitare il potere attraverso il consenso". In: Unità (Hrsg.): Gramsci. Le sue idee nel nostro tempo, Roma 1987, S.106. Gleichwohl warnt Gramsci vor der Polizeifunktion, die eine Partei zuweilen in diesem Zusammenhang ausüben kann; vgl. Henning Melber: "Befreiungsbewegungen an der Macht". In : Uwe Hirschfeld/Werner Rügemer (Hrsg.), Utopie und Zivilgesellschaft. Berlin 1990, S.179-188, hier: S.185. Zu betonen ist in diesem Zusammenhang, daß es sich weiterhin um eine Partei handelt, die (bundes-) regierungsextem agiert; zweifellos werden im Falle eines Eintritts der PT in die Regierung verschiedene Bezugsfelder, in denen sich die sozialen Bewegungen artikulieren, neu reflektiert werden müssen. Die Partei sieht das als ihre größte Herausforderung an. 37 Enzo Faletto, a.a.O., S.141. Ähnlich definiert diese Beziehung Bobbio, a.a.O., S.1088. 38 Guillermo Ungo, a.a.O., S.75. 39 Brasilien Rundbrief Nr.l, 1991, S.23.
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70 linken Parteien und Organisationen, die auf mehreren Treffen über gemeinsame politische Strategien auf dem lateinamerikanischen Kontinent diskutierten. Auch hier stand die Diskussion über die Organisationsform linker Parteien im Mittelpunkt, wobei viele das Konzept der PT als Bewegungspartei als nachzueiferndes Exempel sehen. 40 Aus den Erfahrungen der PT als Bewegungspartei wollen auch europäische Parteien lernen. Nach der Abspaltung von der italienischen PDS (ex-KPI) vertritt die Rifondazione Comunista PRC die Ansicht, "il PRC deve essere completamente rispettoso dell'autonomia, delle forme organizzative che si daranno i lavoratori e i movimenti; deve essere interno a questi, ma anche formulare in termini politici rivendieazioni prospettive di alternativa socialista".41 Die Organisationsstruktur der PT entspricht also keinem bisher bekannten Modell; ihr "Modell" besteht darin, sich mit den sozialen Kämpfen und durch sie zu verändern. Die aufgezeigten Probleme ergeben sich gerade aus dem Spannungsverhältnis, das entsteht, weil die Basisorganisationen nicht in die Partei inkorporiert werden wollen. Und sie wissen, daß eine Veränderung nur von ihnen, "von unten", kommen kann. Die Zukunft der brasilianischen Arbeiterpartei ist unweigerlich an diesen Prozeß gebunden. "As mudanzas só aconteccm quando o povo resolve lutar, alterar esse quadro." 42
40 Vgl. Leo Gabriel: "Integración y desarrollo de alternativa en América Latina". In: Tierra Nuestra Nr.5, 1992, S.64-66. 41 Franco Turigliatto: "Il radicamento sociale di un partito comunista", S. 10-14. In: Bandiera Rossa Nr.23, Marz 1992, S.13. 42 Luiza Erundina, in: A Tribuna, Santos, 31.8.1991.
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Basisbewegungen
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Resumo: "Mudanga da base": PT e movimentos populares • agentes da transformado social Baseando-se no exemplo do Partido dos Trabalhadores do Brasil, estuda-se a colaborado entre movimentos populares e partido, prioritariamente sob o aspecto da garantía n3o só para a democracia participativa, como ainda para urna continua mudanza que sai da "base". A análise dos movimentos sociais e dos motivos para a sua formado no contexto global e, particularmente, no contexto latino-americano, leva à pergunta de como tenha que formar-se a r e l a j o entre movimentos sociais e sociedade civil por um lado, e estado e partido político pelo outro lado. A discussilo de vários modelos - saindo do conceito da "società civile" de Antonio Gramsci, até a "revoluto da sociedade civil" de Javier Gorostiaga e o modelo de Gustavo Esteva da "rede" como metáfora da aqZo conjunta sem alto grado organizativo - evidencia que a pràtica política do PT representa a maior aproximado à ideia que só a continua colaborado entre partido e movimentos sociais pode garantir urna mudanza social, politica e econòmica a longo prazo. A permanente a d o recíproca entre PT e a "base" representa a garantía para a sobrevivencia do PT como partido de movimento. Este fenomeno é analisado sob o aspecto de preservar a autonomia dos movimentos sociais e de impedir que o PT abuse da base para os próprios interesses. A análise das rela?5es recíprocas entre PT e movimentos sociais teria que revelar que no caso do PT náo é possivel tramar qualquer linha de divisilo dos dois ámbitos. Apesar de todos defeitos e problemas desse modelo, essa re lado diatètica é a base do processo de mudanza: "As mudanzas só acontecem quando o povo resolve lutar, alterar esse quadro" (Luiza Erundina).
Michaela Wolf
356
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Staat und Wirtschaftsentwicklung in Brasilien Rüdiger Zoller, Erlangen
1.
Entwicklung oder Dauerkrise? Fragen und Maßstäbe
Die wirtschaftliche Entwicklung Brasiliens wie die Rolle des Staates in diesem Prozeß haben in der wirtschaftswissenschaftlichen und politologischen Literatur starke Beachtung gefunden. Es läßt sich kaum mehr überblicken, wie viele Theorien am Beispiel "Brasilien" exemplifiziert, welche unterschiedlichen Rezepte zur Problemlösung propagiert wurden. Die "Halbwertzeit" in der sozialwissenschaftlichen Theoriebildung wird offenbar immer geringer; schon deshalb soll und kann hier kein Überblick über die Literatur gegeben werden. Zudem darf der Anspruch der Entwicklungs-Theorien heute, nach dem sichtlichen und eingestandenen "Scheitern der großen Theorie" 1 , wohl deutlich geringer gewichtet werden als noch während der Kontroversen der siebziger Jahre. Die Auraktivität der damals so beeindruckenden monokausalcn und nomologischen Theorieansätze ist aufgrund ihres eher geringen Erklärungswertes für die Realität geschwunden. Die folgenden Überlegungen zum Thema "Staat und Wirtschaftsentwicklung" wollen somit bewußt keine spezifische Theorie anwenden. Bei der Analyse der Geschichte der brasilianischen Wirtschaftspolitik scheint uns nicht so sehr die Orientierung am jeweils gerade aktuellen theoretischen Diskurs, sondern vielmehr eine gewisse Gelassenheit nötig. Denn die disparate Realität Brasiliens läßt sich nicht vorschnell in ein theoretisches Korsett zwingen. Deshalb soll versucht werden, in historischer Perspektive die wirtschaftliche Entwicklung Brasiliens seit den dreißiger Jahren zu skizzieren, um jenseits der Tagesaktualität Erfolg und Mißerfolge dieser Politik beurteilen zu können, Konstanten und Wandel, Probleme wie Problemlösungen deutlich werden zu lassen. Ein Blick in die Literatur zu Brasiliens Wirtschaftsentwicklung macht deutlich, daß es offenbar nicht leicht ist, die für eine sachliche Beurteilung "richti1
Vgl. hierzu Ulrich Menzel, Das Ende der Dritten Welt und das Scheitern der großen Theorie. Frankfurt a. M. 1992.
360
Rüdiger
Zoller
gen" Maßstäbe zu finden. Die vermeiniliche Alternative von marxistisch inspirierten Dependenz-Ansätzen und teils doch naiven Modernisierungs-'Theorien" blockierte eher den Blick auf die Realität, als sie zu erklären. Durch die nach der Euphorie des milagre brasileiro um so mehr schockierende Verschuldungs- und Wachstumskrise der achtziger Jahre fühlten sich offenbar manche Autoren in ihren Analysen bestätigt. Endzeitvisionen und "prophetische Worte" dominierten so gegenüber nüchternen Analysen. Diese sollten von der gegebenen Realität ausgehen, und nicht von idealen Maßstäben, von Entwicklungen auf anderen Kontinenten oder in anderen Jahrhunderten. Unser Maß für Erfolg oder Mißerfolg brasilianischer Politik ist einmal die Entwicklung in Brasilien selbst: Geht es den 150 Millionen Brasilianern von heute besser als den 35 Millionen 1930? Zum zweiten, verlief die Entwicklung in Brasilien besser oder schlechter als in anderen Volkswirtschaften Lateinamerikasl Und zum dritten: Ist der Abstand zu den führenden Industrienationen größer oder kleiner geworden? Brasiliens Entwicklung ist vielfach gebrochen und voller Widersprüche: Die wirtschaftliche Entwicklung koinzidiert nicht mit der sozialen; die einzelnen Regionen und Bundesstaaten haben ihre je eigene Geschichte und sind in sich auch wieder alles andere als homogen; der Diskurs der brasilianischen Politik hat oft nicht viel mit der Realität zu tun; Wunschdenken, Wunderglauben und Erlösungssehnsucht können hier problemlos mit "moderner" sozial- und wirtschaftswissenschaftlicher Terminologie bemäntelt und "verkauft" werden. Kein Stabilisierungsprogramm ohne professorale Rechtfertigung, keine Wahl ohne neuen "Erlöser": 1985 Tancrcdo Nevcs, 1989 Fernando Collor, 1994 Fernando Henrique Cardoso (FHC)... Allzuleicht wird - auch und gerade in Brasilien - die historische Dimension ausgeblendet, der Ausgangspunkt der Entwicklung der brasilianischen Wirtschaft und Gesellschaft vergessen oder unterschlagen. Vor gut hundert Jahren, bis 1888, war Brasilien noch ein Sklavenhalterstaat; vor zweihundert Jahren betrug die Bevölkerung auf dem Territorium Brasiliens knapp drei Millionen Menschen; der größte Teil des Landes war noch unerschlossen. Wenn man Prozesse wirtschaftlichen Wachstums und gesellschaftlicher Veränderung reflektiert, sollte man sich auch die Geschwindigkeit dieser Veränderungen immer vor Augen halten. In Brasilien erfolgte ein explosionsartiges Wachstum der Bevölkerung durch Sklavenimport, Einwanderung und natürliches demographisches Wachstum: Über vier Millionen Afrikaner wurden als Sklaven "importiert", davon allein 2,1 Mio. 1781-1850! - Seit dem 19. Jahrhundert folgte die vorwiegend europäische Einwanderung. Zwischen 1884 und 1949 zählte man insgesamt 4,1 Mio. Einwan-
Staat und
Wirtschaftsentwicklung
361
derer, vor allem aus Italien und Portugal, aus Mitteleuropa und seit 1908 auch aus Japan. Mit der Einführung eines Quotensystems 1934 ging die Einwanderung aus Europa allerdings stark zurück; sie spielt derzeit keine Rolle mehr. Die Gesamtbevölkerung Brasiliens stieg von 3,6 Mio. Einwohnern 1819 (zuzüglich 800.000 indios näo domesticados, die nicht in die offizielle Statistik eingingen!) auf 9,9 Mio. 1872, anläßlich des ersten Zensus; über 17,3 Mio. 1900, 30 Mio. 1920, 70 Mio. 1960 und 119 Mio. 1980 wuchs sie auf 152 Mio. 1993 an. Wenn auch das demographische Wachstum inzwischen auf 1,9% p.a. zurückgegangen ist, so heißt dies doch, daß Brasiliens Bevölkerung weiterhin um ca. 3 Mio. Einwohner pro Jahr zunimmt - die Gesamtbevölkerung des Landes vor 200 Jahren!2 Dem demographischen Wachstum korrespondierte eine Erschließung und "Inwertsetzung" des Landes während der letzten Jahrzehnte, die in Ausmaß, Geschwindigkeit und Folgen die Raumerschließung während der vorangegangenen drei Jahrhunderte kolonialer Durchdringung weit in den Schatten stellte. In der Nordregion3 - die den größten Teil des Amazonas-Raumes einschließt - nahm die Bevölkerung von 332.847 Einwohnern 1872 auf 10,2 Mio. 1991 zu - allein von 1980 bis 1991 verdoppelte sie sich annähernd. In Roraima wuchs die Bevölkerung im letzten Jahrzehnt um durchschnittlich 9,6% p.a. Dieser rasante, weitgehend ungestcuerte und inzwischen auch unkontrollierbare Kolonisierungsprozeß ist eine direkte Folge des Ausbaus von Straßen und sonstiger Infrastruktur seit den sechziger Jahren, der die Migrationsströme in die vormals "leeren" Räume lenken sollte. Die Militärregierungen setzten damit den systematischen Ausbau des Straßensystems fort, der unter Präsident Kubitschek (1956-1960) begonnen wurde. Von dem sehr niedrigen Niveau von 3.133 km asphaltierter Überlandstraßen ausgehend, vervierfachte sich in seiner Regierungszeit das Straßennetz, um dann bis 1965 nochmals auf 26.546 km zu wachsen! Während bis in die dreißiger Jahre die Küsten- und Flußschiffahrt noch vor dem unzureichenden und wegen unterschiedlicher Spurweiten nur schlecht vernetzten Eisenbahnsystem für 2
Die Nachweise für die Daten werden hier aus Platzgründen nicht einzeln aufgeführt. Alle historischen statistischen Angaben nach: IBGE, Estatísticas Históricas do Brasil. Series Económicas, Demográficas e Sociais de 1550 a 1988. Rio de Janeiro 21990; IBGE, Anuário Estatístico do Brasil 1992, Rio de Janeiro 21993. Aktuelle Wirischaftsdaten nach: Kurzbericht über Lateinamerika, Hamburg, und Economic and Social Progress in Latin America. 1993 Report. Hrsg. von der Interamerikanischen Entwicklungsbank. Washington D.C. 1993.
3
Der Norden umfaßt 45% der Fläche und 1% der Gesamtbevölkerung Brasiliens.
362
Rüdiger Zoller
die wirtschaftliche Erschließung Brasiliens prioritär war, ist heute durch Fernstraßen und Flugplätze der Raum in seiner Tiefe erschlossen - und die Agrarkolonisten und Minengesellschaften verändern das Gesicht Brasiliens. 4 Hinzu kommt ein Prozeß der Urbanisierung, dessen Geschwindigkeit alle historischen Vergleiche mit Europa übertrifft; Lebten 1940 noch 69% der Brasilianer auf dem Land, so leben heute schon 77% der Bevölkerung im städtischen Bereich. Seit der zweiten Hälfte der sechziger Jahre übertrifft die städtische Bevölkerung die ländliche, und seit 1970 geht diese infolge der Binnenwanderung auch in absoluten Zahlen zurück. Während heute der Zuzug in die Metropolen des Südostens nachläßt - 1980 wuchs die Einwohnerschaft Säo Paulos noch um 3,5%, 1991 "nur" noch um 2,1% -, wachsen nun die Millionenstädte des Nordostens, vor allem Salvador und Fortaleza, umso schneller. Auf 10% der Räche Brasiliens leben, vor allem im Küstengebiet, 75% der Einwohner. Vor dem Hintergrund dieser demographischen Veränderungen ist der Prozeß sozialen Wandels und wirtschaftlichen Wachstums zu sehen, mit dem wir uns befassen. Die Prioritäten der Politik, die Entscheidung für schnellste Industrialisierung bei starker Kontrolle der gesellschaftlichen Kräfte "von oben", werden angesichts dieser Strukturumbrüche verständlich. Und vor diesem Hintergrund stellt sich nicht so sehr die Frage nach einem Versagen der Wirtschaft, sondern man kann sich über deren erwiesene Anpassungs- und Problemlösungsfähigkeit wundem. Setzt man die Entwicklungen in Brasilien in Vergleich zu denen in lateinamerikanischen Nachbarländern oder anderen Staaten der Dritten Welt, so bietet sich nicht ein Bild des Versagcns, sondern relativer wirtschaftlicher Erfolge in Brasilien. Für die Millionen von Brasilianern, die heute am Rande des Existenzminimums und am Rande ihrer Gesellschaft leben, sind solche Vergleiche allerdings wenig hilfreich. Es ist auch keineswegs die Absicht dieser Ausführungen, die Probleme Brasiliens, und d.h. der Brasilianer und nicht einer abstrakten Entität, wegzudiskutieren oder zu relativieren. Es ist aber zu fragen, unter welcher Perspektive man die Probleme analysiert. Und weder Moralisieren noch vermeintlich "realpolitischer" Zynismus helfen hier weiter.
4
Zum Prozeß der Agrarkolonisation im allgemeinen und zur Problematik der Erschließung Amazoniens im besonderen vgl. die Arbeiten von G. Kohlhepp, zuletzt in: D. Briesemeister u.a. (Hrsg.), Brasilien heute. Frankfurt a. M. 1994, sowie den Beitrag von Heinz Schlüter in diesem Band.
Staat und
2.
Wirtschaftsentwicklung
Wirtschartswachstum
und
363
Strukturwandel
Verlauf und Stand der wirtschaftlichen Entwicklung in Brasilien werden gegenwärtig vielfach kritisch eingeschätzt. Die infolge der Verschuldungskrise nach 1982 manifest gewordenen Steuerungsdefizite der Politik, die für Brasilien absolut untypische Abfolge von fünf Rezessionsjahren (1981,1983,1988,1990 und 1992), das wiederholte Ansteigen der Inflationsrate bis an die Grenze der Hyperinflation 5 , und die daraus wiederum resultierenden interventionistischen Eingriffe haben in der Öffentlichkeit den Eindruck des Scheiterns der Wirtschaftspolitik und einer permanenten Krise verfestigt. Dieses Bild ist für die achtziger Jahre sicher nicht falsch, denn der Leistungsausweis der brasilianischen Wirtschaftspolitik in diesen Jahren ist mehr als bescheiden: Man zählte - ohne Gewähr auf Vollständigkeit - acht Stabilisierungsprogramme, vier Währungen, fünf Lohn- und Preisstopps, elf Indices zur Inflationsberechnung, 54 Änderungen bei den Preiskontrollen etc. Doch wie die nun vorliegenden Ergebnisse des Zensus von 1991 zeigen, ist das negative Urteil selbst für diesen Zeitraum zu relativieren. 6 Falsch ist dieser negative Eindruck aber, wenn man in mittel- oder längerfristiger Perspektive die brasilianische Wirtschaftsentwicklung insgesamt betrachtet. Dann erweist sich, daß Brasilien - im internationalen Vergleich - zu den relativ erfolgreich wachsenden Volkswirtschaften gehört, wobei dieses Wachstum einen völligen Strukturwandel in der Wirtschaft impliziert. Im folgenden soll auf diesen Wachstums- und Wandlungsprozeß der brasilianischen Wirtschaft eingegangen werden, wobei die Rolle des Staates besonders interessiert
5
Diese wäre definitionsgemäß bei 5 0 % Preissteigerung p r o M o n a t erreicht. Im Juni 1994 lag Brasiliens Inflationsrate mit 4 5 , 2 % (Zwölfmonatsvergleich: 5.182%!) nur knapp darunter.
6
Nach den Ergebnissen des Zensus von 1991 lebten die damals 150 Mio. Brasilianer teilweise besser als die 119 Mio. von 1980. Das Wachstum der Gesamtbevölkerung (1991: 1,9%) wie der großen Städte hat sich verlangsamt, der Anteil der Analphabeten an der Bevölkerung hat ebenso abgenommen (von 25,5% auf 20%) wie die Zahl der Geburten j e Frau (1970: 5,7; 1991: 2,7). Allerdings stagnierte das Pro-Kopf-Einkommen. Während die Lebensqualität im SUden Brasiliens inzwischen an (süd-)europäische "Normalverhältnisse" herankommt, gibt es im Nordosten nach wie vor Zonen, die an Schwarzafrika erinnern. Vgl. "A década ganha" in: Veja vom 10. August 1994.
364
2.1
Rüdiger
Zoller
Die Ära Vargas (1930-1954)
Im Zeitraum von 1850 bis 1930 war der Binnenmarkt Brasiliens schon infolge des Anstiegs der Bevölkerung von weniger als 8 Mio. auf ca. 35 Mio. Einwohner erheblich gewachsen. Während die Exporte noch 1860 ca. ein Drittel des Bruttoinlandsprodukts (BIP) stellten, war ihr Anteil 1930 auf ca. 15% des BIP gefallen. Die temporäre Abkopplung Brasiliens vom Weltmarkt durch den Ersten Weltkrieg hatte der binnenorientierten Wirtschaft Impulse gegeben. Die Erzeugung der Exportgüter, primär Kaffee, Kakao, Baumwolle und Kautschuk, war auf lediglich vier Einzelstaaten konzentriert, die zusammen 80% der Exporte erzeugten und damit auch das politische Interesse am Außenhandel "zentrierten". 1930 stellten die unverarbeiteten Agrarprodukte noch 79,8% der Exporte Brasiliens, Kaffee allein 62,6%. Die Weltwirtschaftskrise 1929 und der Zusammenbruch des Weltmarkts für Kaffee trafen Brasilien deshalb mit großer Härte. Hierdurch änderte sich mehr als die terms of trade; es schwand das Vertrauen in den liberalen, offenen Weltmarkt: "The emergence of a protcctionist and nationalistic Centre was the greatest shock to Latin American economies during the 1930s, going beyond its direct negative impact on the region's terms of trade."7 Schon seit Juni 1928 war der Zufluß von Kapital aus den USA gestoppt worden 8 , nun wurde auch der Außenhandel substantiell reduziert: Von 1929 bis 1938 nahm das Exportvolumen Brasiliens um 31,1% ab, die Kaufkraft der Exporte um 45,6%, und das Importvolumen sogar um 63,8%. Dennoch fiel das BIP Brasiliens in diesen Jahren nur um 7,3%, während z.B. in Chile ein Rückgang um 26,5%, in Cuba gar von 36,5% zu verzeichnen war. Mit welchen Mitteln konnte Brasilien die Auswirkungen der Reduzierung seines Außenhandels auf den Binnenmarkt so relativ erfolgreich abmildern? Schon 1906 hatte es mit dem Vertrag von Taubate (zwischen Säo Paulo, Minas Gcrais und Rio de Janeiro) den ersten Ansatz zur sog. "Kaffeevalorisation" 7
Carlos F. Diaz Alejandro, Latin America in the 1930s. Aus: R. Thorp (Ed.), Latin America in the 1930s. Oxford 1984, hier: S. 21.
8
Die USA hatten Großbritannien in Brasilien als wichtigster Investor abgelöst: Während von 1914 bis 1930 die Investitionen aus Großbritannien bereits um 10% abnahmen, aber mit insgesamt ca. 600 Mio. US $ immer noch gut die Hälfte des Bestands an Direktinvestitionen stellten, vervierfachten sich die Direktinvestitionen aus den USA auf ca. 200 Mio. US $. Vgl. hierzu Marcelo de Paiva Abreu (org.), A Ordern do Progresso, Rio de Janeiro 1990, S. 76.
Staat
und
Wirtschaftsentwicklung
365
gegeben, die in den zwanziger Jahren - zunächst auf der Ebene der Bundesstaaten, so 1924 in Säo Paulo - institutionalisiert wurde. Hierdurch wurden Überschußmengen an Kaffee aus dem Markt genommen, um den Preis zu stützen - "the Third World's first institutionalized interventions in the world market". 9 Diese Politik war in Brasilien angesichts der vorherrschenden "liberalen" Lehrmeinung keineswegs unumstritten. Aber das Ende des alten Agrarexportschemas führte auch zum Ende der "Alten Republik": Mit dem Staatsstreich vom Oktober 1930, der Getúlio Vargas 1 0 an die Macht brachte, setzte sich der Staatsinterventionismus durch und wurde nun institutionell untermauert. 1933 wurde das Instituto Brasileiro do Café (IBC) gegründet, das für die folgenden Jahrzehnte alle Transaktionen auf dem Kaffeesektor in Brasilien beherrschte. Eine ähnliche Organisation wurde auch für den Bercich Zucker und (den daraus gewonnenen) Alkohol geschaffen - der Beginn der autarquías. Allerdings beruhte diese Politik nicht auf einer spezifischen neuen Ideologie oder theoretischen Einsicht, sondern auf einer Vielzahl von ad Zioc-Reaktioncn auf die krisenhafte Situation. Sie entwickelte sich über einen Prozeß von Versuch und Irrtum, wobei sie auf Elemente zurückgriff (Kritik am wirtschaftlichen Liberalismus, Förderung von Autarkie, staatlicher Interventionismus), die schon lange diskutiert wurden. Durch den Aulkauf der Kaffee-Übcrschußproduktion durch die Zentralregierung wurde der Zusammenbruch der Binncnnachfrage in Brasilien verhindert. Begleitet von Abwertungen (allein 1930/31 verlor der Mil-réis gegenüber dem US-$ 55% an Wert!), förderte dies die Stärkung und den Ausbau der heimischen Leichtindustrie. In den späten dreißiger Jahren wurde im diktatorischen Estado Novo (19371945) die liberale Wirtschaftsdoktrin auch offiziell abgelegt. Der Staat ging nun zu einer bewußten Politik des Interventionismus und der industriellen Importsubstitution über, einmal indirekt durch Schaffung von (Steuer-)í'ncenfívej und (Einfuhr-)Verboten, durch Wcchsclkurskontrollen und Lohnregelungen, dann aber auch durch direkte Investitionen in Eisenbahn und Schiffslinien, in die öffentliche Infrastruktur, in Elektrizitätsversorgung und Grundstoffindustrien. Die Industrieproduktion nahm durch diese Politik 1932 bis 1939 um ca. 10% p.a. zu - nach einem Rückgang um 9% von 1928 bis 1930. 1939 stellte die heimische
9
Steven Topik, The Political Economy of the Brazilian State, 1889-1930. Austin 1987, S. 91. - 1940 folgte mit dem Interamerikanischen Kaffee-Abkommen eines der ersten Rohstoff-Kartelle.
10 Vargas war von 1926-28 ein durchaus orthodoxer Finanzminister unter Präsident Washington Luis gewesen, dessen Nachfolger er nun wurde.
Rüdiger Zoller
366
Erzeugung bereits mehr als die Hälfte des Verbrauchs an Industriegütern - mit Ausnahme der Investitionsgüter. Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs stagnierte das Bruttosozialprodukt; 1940 und 1942 nahm es sogar ab. Dennoch stieg die brasilianische Industrieproduktion schon 1943 wieder um 13,5% und behielt dieses Wachstumstempo in den folgenden Jahren bei. Der Staatseinfluß verstärkte sich im Bereich der Produktion entscheidend. Fünf bedeutende Staatsfirmen wurden gegründet: Der Stahlproduzent Companhia Siderúrgica Nacional (CSN), die Companhia Vale do Rio Doce (CVRD) 1 1 , die Eisenerz produziert, die Fábrica Nacional de Motores, die ursprünglich Flugzeugmotoren wartete, dann aber Automobile herstellte, die Chemiefirma Companhia Nacional de Alcalis, und der Energieerzeuger Companhia Hidroelétrica do Säo Francisco. Der brasilianische Industrialisierungprozeß beruhte somit auf zwei Faktoren: Einmal auf der infolge der Weltwirtschaftskrise verringerten Importkapazität, mit der daraus folgenden Politik der Importsubstitution und der entsprechenden Verlagerung der privaten Investitionen vom agrarischen Exportsektor auf den Industriesektor und die Binnenmarktproduktion; und zum zweiten auf dem wachsenden Interventionismus des Staates, der sich ein entsprechendes institutionelles Lenkungs-Instrumcntarium 12 aufbaute, aber auch direkt wirtschaftlich tätig wurde. Die Politik von Getúlio Vargas schuf die Basis für diesen "starken Staat". Die Weltwirtschaftskrise hatte klargestellt, daß Brasilien keine andere Option blieb, als sich zu industrialisieren. Die diesbezüglichen Entscheidungen wurden aber nicht öffentlich diskutiert und demokratisch gefallt, sondern von oben dekretiert Sie waren die Antwort der 1930 neu formierten politischen Elite auf die Krise. Die Verfassung des Estado Novo von 1937 formulierte dann die Forderungen des wirtschaftlichen Nationalismus: Nationalisierung des Bergbaus, der Energieerzeugung, der Banken, der Versicherungsgesellschaften und der Grundstoffindustrien. Die Ideen und die Ideologie für diese Politik kamen einmal aus den modcrnisierungswilligen Kreisen junger Offiziere (tenentes), die nach 1930 viele 11
Die C V R D ist heute das größte brasilianische Unternehmen.
12
Dieses Instrumentarium war allerdings äußerst unvollkommen; so gab es bis 1945 nicht einmal eine Zentralbank, und danach nur ein "Zentralbank-Substitut" - die Superintendència da Moeda e do Crédito, SUMOC. Erst 1964 wurde der heutige Banco Central do Brasil gegründet; und sogar erst im Februar 1986 verlor die Geschäftsbank Banco do Brasil ihre letzten zentialbankähnlichen Funktionen! Die Nationale Entwicklungsbank B N D E wurde 1952 gegründet.
Staat und
Wirtschaftsentwicklung
367
politische und wirtschaftliche Schlüsselstellungen einnahmen. 13 Ohne deren Unterstützung hätte das Vargas-Regime nicht so lange bestehen können. Zweitens gab es eine Reihe von Industriellen aus Säo Paulo, wie Roberto Simonsen, die diese Politik mitkonzipierten und für sie warben. Letztlich aber war es Vargas selbst, dessen Herrschaft Institutionen und Verhaltensweisen prägte, die sowohl seinen ersten politischen Sturz 1945 als auch seinen Selbstmord 1954 überleben sollten. Trotz dieser Industrialisierungstrategie war Brasilien auch nach dem Zweiten Weltkrieg ein agrarisch geprägtes Land: 1950 lebten von 51 Mio. Brasilianern noch 33 Mio. auf dem Land; von 17 Mio. wirtschaftlich Aktiven arbeiteten 10,3 Mio. im Agrarsektor, der 29% des BIP stellte. Auch während seiner zweiten, nun demokratisch legitimierten Präsidentschaft (1951-54) versuchte Vargas, ein gesamt- wie außenwirtschaftliches Gleichgewicht aufrechtzuerhalten, seine Investitions- und Wachstumsstrategie aber trotz steigender Inflation beizubehalten. Hierin unterschied sich die brasilianische Politik von rein demagogischen Varianten des Populismus in Lateinamerika. Auch Vargas pflegte eine nationalistische Rhetorik 14 , akzeptierte aber den Zufluß von Auslandskapital und z.B. die Zusammenarbeit in der Brasilianisch-Nordamerikanischen Wirtschafts-Kommission. Neben den schon erwähnten Eisen- und Stahlkonzernen (CVRD und CSN) schuf Vargas in seiner zweiten Amtszeit weitere große Staatskonzerne, die bis heute die brasilianische Wirtschaft dominieren, wie Petrobräs (1953) und Eletrobrds. Die Zahl der dirigistischen Eingriffe nahm zu: Die Preise für "strategische Güter", wie Gas, Benzin, Stahl, Zucker, Weizen, konnten sich nicht nach Marktkonditionen bilden. Ein System multipler Wechselkurse sollte zudem die Lenkungs- und Umverteilungsfunktion der staatlichen Politik fördern.
13 Auf die auffällige personelle Kontinuität von der Vargas-Ära bis zum Militärregime nach 1964 sei hier nur kurz verwiesen. Die Permanenz vieler Elemente der Entwicklungsideologie in Brasilien über die Jahrzehnte hinweg beruht auch auf der anhaltenden Präsenz dieser Offiziere im politischen Raum - und eben auch im Bereich der Staatswirtschaft. 14 Im Handeln der multinationalen Konzerne sah Vargas eine "açâo predatòria destas forças de rapina que nâo conhecem bandeira nem cultuam outra religiâo que nâo seja a do lucro". Zitiert nach: Clovis de Faro/S.L. Quadros da Silva, A década de 50 e o Programa de Metas. Aus: Castro Gomes (org.), O Brasil de JK, S. 50.
Rüdiger Zoller
368
Vargas' Populismus der dreißiger bis fünfziger Jahre zielte auf die Anpassung einer unterentwickelten, agrarischen Wirtschaft an die industrielle Entwicklung. Der entscheidende Schritt zum Industriestaat erfolgte aber erst unter der Präsidentschaft von Juscelino Kubitschek (1956-60).
2.2
Die Industrialisierung unter
Kubitschek
Noch 1955 stellte der Kaffee 60% der Exporte Brasiliens. Während die industrielle Produktion schon von 1949 bis 1955 um durchschnittlich 8,9% p.a. stieg, erreichte dieses Wachstum 1958 mit 16,8% seinen historischen Höhepunkt. (Ein vergleichbares Wachstum gelang erst wieder 1973 mit 16,6%.) Erreicht wurde dieser quantitative Sprung, der durchaus einen qualitativen Wandel signalisiert, durch Kubitscheks "Programa de Metas". Eine Politik der Industrialisierung um jeden Preis, die - so Kubitscheks Wahlslogan - 50 Jahre Entwicklung in fünf Jahren aufholen wollte, veränderte das Gesicht Brasiliens. Sie zielte durch staatliche Investitionen in Schlüssclsektoren und Förderung ausländischer Direktinvestitionen auf eine Beseitigung der bottlenecks, der strukturellen "Flaschenhälse", die nach der damaligen Wirtschaftstheorie ein gleichmäßiges Wirtschaftswachstum verhinderten. Kubitschek schuf am 1. Februar 1956 den Conselho do Desenvolvimento, der direkt dem Präsidenten unterstellt wurde und das erste zentrale Planungsorgan in Brasilien war. In Zusammenarbeit mit der Entwicklungsbank BNDE arbeitete dieser Entwicklungsrat ein Programm von 30 konkreten Zielen aus, und zwar auf den Gebieten der Energieversorgung (Elektrische Energie, Nuklearcncrgie, Kohle, Öl), dem Transportsektor (Eisenbahnen, Straßenbau, Häfen, Handelsmarine, Flugverkehr), dem Nahrungsmiuelsektor (Produktion, Lagerung, Mechanisierung, Dünger), der Grundstoff- und Kapitalgüterindustrie (Eisen, Aluminium, Zement, Chemie, Automobilbau, Schiffbau) sowie dem Erziehungssektor. Dieses Programa de Metas und seine Ergebnisse können hier nicht ausführlich wiedergegeben werden; 1 5 zusammenfassend kann man aber sagen, daß es einen erstaunlichen Erfolg erzielte und entscheidend zum Ausbau der Infrastruktur und der industriellen Produktion (Automobilbau!) beitrug. Säo Paulo wurde zum gro-
15
Vgl. hierzu die prozentualen Angaben zum jeweiligen Erfolg der Einzelprogramme bei: Faro/da Silva, a.a.O., S. 60 ff.
Staat und
369
Wirtschaftsentwicklung
ßen Gewinner der Ära des mineiro Kubitschek. Die negativen (Neben-) Wirkungen dieser Politik sollten erst unter seinen Nachfolgern spürbar werden. Indikatoren der wirtschaftlichen Entwicklung (Durchschnittswerte p.a. in Prozent)1®
Administration
BIP
Vargas (1931-45)
4,41
Vargas (1951-54)
6,18
Lohn (nominal) -
18,09
Geldmenge Ml
Inflation
14,46
6,75
20,56
17,15
Kubitschek (1956-60)
8,23
26,15
25,61
20,13
Goulart (1961-63)
5,27
46,36
48,85
54,40
Castelo Branco (64-67)
4,18
56,27
62,61
53,13
Médici/Geisel (68-78)
9,14
29,62
40,56
29,58
Figueiredo (1979-84)
2,38
107,23
84,94
119,25
Sarney (1985-89)
4,64
528,00
435,62
515,62
Die von der CEPAL, der UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika, propagierte Theorie - oder Ideologie - des desarrollismo bzw. desenvolvimentismo war nun Grundlage der Regierungspolitik. Kubitschek stand vor demselben Dilemma wie seine Vorgänger und Nachfolger: Der vermeintlichen Wahl zwischen Wachstum und Stabilität. Und wie seine Nachfolger wählte Kubitschek bewußt Wachstum statt Stabilität - Kubitschek brach 1959 mit dem IWF. Die Geldmenge wurde ausgeweitet - und die Inflation stieg von 9,4% in 1950 über 23% 1955 auf 39,2% 1959 an. Es waren die Jahre der 'strukturalistischen' Theorien, die von der CEPAL verbreitet wurden und in Lateinamerika negative Langzeitwirkungen zeitigen sollten. Die Parole des crescimento com endividamento, des Wachstums mittels Verschuldung, sollte in Brasilien während der siebziger Jahre, unter der Regierung Geisel, wieder propagiert und praktiziert werden.
16 Nach: Paulo Rabello de Castro/M. Ronci, Sesenta años de populismo en el Brasil. Aus: Rüdiger Dornbusch/S. Edwards (comp.), Macroeconomía del Populismo en la América Latina. México D.F. 1992, hier: S. 182.
370
Rüdiger
2 . 3 Das Milagre
Zoller
brasileiro
Die Entwicklungspolitik der zivilen Präsidenten Vargas und Kubitschek findet nicht nur ihre Fortsetzung, sondern gewissermaßen ihren Höhepunkt im Ausbau des staatlichen Wirtschaftssektors unter den Militärpräsidenten nach 1964. Nach einer Phase der Konsolidierung und Stabilisierung der Wirtschaft und einer "Reformation" des Staatsapparates 17 , für die die Namen Roberto Campos als Planungsminister 18 und Octavio Gouvea de Bulhöes als Finanzminister stehen, sollten die Jahre des sog. milagre brasileiro folgen. In den Jahren 1968 bis 1973 wuchs die brasilianische Wirtschaft um ca. 10% p.a., die Industrieproduktion deutlich höher, 1973 sogar um 16,6%. Der sichtbare strukturelle Wandel infolge dieses Wachstumsschubs machte Brasilien plötzlich zum "Modell" in der entwicklungstheoretischcn Diskussion. Was die damalige "liberale" Begeisterung für die Entwicklungsstrategie der Finanzministcr Antonio Dclfim Netto (1967-74) und Mario Henrique Simonsen (1974-79) sowie des Planungsministcrs Reis Vclloso (1969-79) offensichtlich übersah, war das Wachstum der staatlichen Bürokratie und der Staatsbetriebe in dieser Phase. Der staatliche Industriesektor war die Basis des "brasilianischen Wirtschaftswunders". Der staatliche Finanzsektor finanzierte dessen Investitionen über den Banco do Brasil, die Caja Economica Federal oder den BNDE. Auch die "externe Ersparnis", also die Kreditaufnahme im Ausland, wurde zunehmend für die Investitionsvorhaben aktiviert, neben der Förderung ausländischer Direktinvestitionen. Der Staat gewährte Stcucrnachlässe, zahlte direkte Subventionen, oder schuf über die regionalen Entwicklungsorganisationen (SUDENE, SUDAM) incentives zur Investition von privater Seite. Besondere Förderung erfuhr der (industrielle) Ausfuhrsektor, was nach Jahrzehnten stagnierender Exporte seit Beginn der siebziger Jahre zur Steigerung und Diversifizierung der Exporte erheblich beitrug. Es ergab sich so eine zunehmende Vermischung privater und staatlicher Interessen, ein "clientclismo corporativo" (Jaguaribc). 17 In Brasilien folgten auf Perioden des staatlichen Interventionismus und wirtschaftspolitischen Voluntarismus geradezu gesetzmäßig kurze Phasen des Liberalismus und der Stabilisierung, die aber nicht zu einer prinzipiellen Abkehr von der interventionistischen Politik führten, sondern durch Kurskorrekturen und zeitweise Stabilisierung gerade deren Fortführung ermöglichten. 18
Der Anspruch auf staatliche Planungskompetenz kommt in der Schaffung dieses Ministeriums gut zum Ausdruck. Erster Planungsminister Brasiliens wurde 1963 Celso Furtado.
Staat und
Wirtschaftsentwicklung
371
Während es bis 1964 24 Staatsunternehmen gab, wurden 1964-73 60 und 1974-86 weitere 58 gegründet 19 - also teils noch zu einer Zeit, in der in anderen Ländern Lateinamerikas bereits die Privatisierung der Staatsbetriebe anlief. Auch in Brasilien wurde seit Mitte der siebziger Jahre eine intensive Diskussion um "Entstaatlichung" geführt, die allerdings in engem Zusammenhang mit der sich formierenden politischen Opposition stand und zunächst folgenlos blieb. Die erste Ölkrise 1973, die Brasilien als Ölimporteur hart traf, wurde von der Administration Geisel (1974-79) mit dem 2. Nationalen Entwicklungsplan (PND 10 beantwortet. Dieser brachte eine neue Welle öffentlicher wie privater Investitionen in den Grundstoffindustrien (Stahl, Metallverarbeitung, Chemie und Petrochemie, Zellulose) sowie in der Kapitalgüterindustrie (Fahrzeugbau, Elektroindustrie, Kommunikation) sowie in die öffentliche Infrastruktur (Energie, Transport und Kommunikation). Das Ziel bestand darin, die brasilianische Industriestruktur zu komplettieren und die Exportfähigkeit der Industrie zu erhöhen. Die Exporte von Fertigwaren stiegen auch von 1965 bis 1981 mit 19,5% p.a. Das Defizit des Staatshaushaltes (in % des BIP) stieg von 1,4% 1974 auf 13,1% 1979. 20 Aber nicht nur die interne, vor allem die exteme Verschuldung des Staates und der Staatsbetriebe stieg rapide an. Die Inflation, deren Höhe seit 1968 um die 20% p.a. schwankte, verdoppelte sich und stieg auf 52,7% 1979. Das Problem der steigenden Ausgaben für Ölimporte - 1974 mußte Brasilien 20,2% seiner Importe, 1982 sogar 49,3% dafür aufwenden - beantwortete man auf dreifache Weise: Erstens durch die Steigerung der eigenen ölproduktion, z.B. durch off-shore-Fördcmng, aber auch durch die nun mögliche Beteilung von Auslandskapital mittels "Risikoverträgen"; dann durch die Substitution von Öl durch Alkohol im Straßenverkehr durch das Proälcool-Programm - ein Subventions-
19 Nach H. Jaguaribe (comp.), La Sociedad, el Estado y los Partidos en la Actualidad Brasileña, vol. I. México D.F. 1992, S. 50. - Allein 1968-1974 sollen auf allen staatlichen Ebenen 231 neue öffentliche Unternehmen gegründet worden sein, davon 175 im Dienstleistungssektor und 42 in der verarbeitenden Industrie. Vgl. Marcelo de Paiva Abreu (org.), A Ordern do Progresso. Cem anos de política económica republicana, 1889-1989. Rio de Janeiro 1989, S. 268. - 1992 waren unter den 500 größten Unternehmen 68 staatlich, 54 ausländisch und 378 (75,6%) private brasilianische Unternehmen. Vgl. Conjuntura Económica, 47(1993)8, S. 56. 20
Vgl. Rabcllo de Castro/Ronci, a.a.O., S. 189.
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Rüdiger
Zoller
posten, der den Staatshaushalt erheblich belastet und gesamtwirtschaftlich eher fragwürdig ist; und drittens eine Exportoffensive in die Ölexportländer. Unter dem letzten Militärpräsidenten, Joäo Baptista de Oliveira Figueiredo (1979-1985), verlor die staatliche Wirtschaftspolitik nach dem zweiten Ölschock 1979 merklich an Steuerungskapazität. Sie zielte auf kurzfristige Effekte, wechselte dabei wiederholt die Zielstellung, konnte keine langfristige Industrialisierungsstrategie mehr verfolgen. Die verordneten niedrigen Tarife vieler Staatsfirmen erschöpften deren Investitionskapazität. Die Erwirtschaftung von Handelsbilanzüberschüssen zur Bedienung der Auslandsschuld wurde zum wichtigsten Erfolgskriterium. Statt einer Öffnung des Marktes flüchtete man in den Protektionismus - die Politik im Informatikbereich ist hierfür typisch. Das Eindringen des Staates in die Wirtschaft führte gewissermaßen dialektisch zu einer privatizaqäo do Estado: Das staatliche Handeln wurde mehr und mehr von Privatinteressen bestimmt. Die Inflation stieg in Etappen von ca. 53% 1979, über 105% 1981 auf 227% 1985 an, die Schuldenkrise brach 1982 aus, das Wachstumsmodell war mit seinen Möglichkeiten am Ende. Die Halbierung der Brutto-Kapitalbildung von 32,1% (des BIP) 1975 auf 15,7% 1984 ist ein unmißverständliches Indiz dafür. Der Prozeß der demokratischen Öffnung, der abertura, ließ entschiedenes Handeln der Regierung nicht mehr zu; die Politik verkam zwischen Attentismus und sprunghaftem Aktionismus.
2 . 4 Das Krisenjahrzehnt Zwischen Aktionismus und
Attentismus
Der gewählte Nachfolger Figueiredos, Tancredo Nevcs, hatte offenbar vor, seine große Popularität trotz der Erwartungen der Bevölkerung in ein orthodoxes Stabilisierungsprogramm zu investieren, das sein Neffe Francisco Dornelles als Finanzminister entwarf. Doch Tancredos Tod vor der Amtsübernahme verhinderte die Realisierung dieser Politik. Sein Nachfolger José Sarney, Exponent des abgetretenen Militärregimes, entbehrte nicht nur der Autorität von Neves, sondern hatte offensichtlich auch nicht die Absicht, seine in Maranhäo verinnerlichten klientelistischen Praktiken zu vergessen. Die Administration Sarney (1985-90) brachte drei Stabilisierungspläne zur Anwendung, die jeweils zu einer noch höheren Inflationsrate führten: Den Piano Cruzado vom 28. Februar 1986; den Piano Bresser vom 12. Juni 1987; und den "Sommerplan" vom Januar 1989. Der Cruzado-Plan sollte die "Trägheitsinfla-
Staat und
Wirtschaftsentwicklung
373
tion" durch einen Lohn- und Preisstopp bekämpfen. Dieser Plan scheiterte nach den Wahlen vom November 1986 am fehlenden Willen, das Defizit der öffentlichen Haushalte einzuschränken und die Geldmenge zu begrenzen. Der BresserPlan war pragmatischer, scheiterte aber ebenso an mangelnder politischer Unterstützung. Nun wurde die Inflation vierstellig: 1.320% im Jahr 1989. Bressers Nachfolger, Maflson da Nöbrega, versuchte sich wiederum mit einem Lohn- und Preisstopp und stellte zudem die Zinszahlungen an die Auslandsgläubiger ein. Nach der populistischen Entwicklungsstrategie war nun auch der voluntaristische Interventionismus am Ende. Die Wahl des politischen und "regionalen" Außenseiters Fernando Collor de Mello 1989 zum Präsidenten symbolisierte die Unzufriedenheit der Wähler mit der politischen Elite. Allerdings wurde die Alternative gewählt, die noch "systemkonform" schien, und nicht die "linke", vielleicht sogar "revolutionäre" Alternative Lula da Silva. Ebenso wie der brasilianische Wähler scheinen politische Analysten 21 von Rhetorik und showmanship Collors beeindruckt worden zu sein. Nur so ist zu erklären, daß sie glaubten, mit 1990 begänne eine neue Etappe der brasilianischen Wirtschaftsentwicklung, und die Widerstandskraft des klientelistischcn Systems unterschätzten. Aus heutiger Sicht versuchte Collor durchaus vernünftige Ansätze der Modernisierung durch die Öffnung des Marktes, durch Entstaatlichung (Privatisierung von Usiminas 1991), den Abbau von Subventionen und des bürokratischen Wasserkopfes etc. Aber im Scheitern seiner diesbezüglichen Ansätze wie in der vergeblichen Inflationsbekämpfung durch den Piano Brasil Novo (der u.a. das Einfrieren privater Bankguthaben verordnete) erweist sich gerade die Widerstandskraft des Systems. Collors Sturz wurde sicher durch die Aufdeckung seines aus Alagoas importierten Korruptionssystems beschleunigt, aber politisch mußte er sich bereits vorher mit der alten Politikerkasie arrangieren - es nützte ihm nur nichts mehr. Ob die Stabilisierungskonzepte unter seinem Nachfolger Itamar Franco zu mehr dienen werden, als die Kontinuität des Regimes in Person von F.H. Cardoso zu sichern, läßt sich heute seriöserweise nicht sagen. Die Ankündigungen Cardosos im Wahlkampf hinsichtlich geplanter Privatisierungen gehen weit über alles hinaus, was sich unter Collor als machbar erwies. -1994 wird die brasilianische Wirtschaft wie 1993 um ca. 5% wachsen. Allerdings lag das BIP 1992 21
Vgl. z.B. den Beitrag "Induslrialisierungsstratcgie und Industriepolitik" von Jörg Meyer-Stamer in: D. Briesemeister u.a. (Hrsg.), Brasilien heute. Frankfurt a.M. 1994, S. 304.
374
Rüdiger Zoller
kaum höher als 1986, und das Pro-Kopf-Einkommen hat das Niveau von 1980 noch nicht wieder erreicht. Die década perdida halle ein hartes Lehrgeld gefordert
3.
Krisenindikatoren
Verschuldung und Inflation begleiten den brasilianischen Wachstumsprozeß seit dem 19. Jahrhundert. Schon vor der Weltwirtschaftskrise war Brasilien der größte Schuldner in Lateinamerika. Verschuldung und Inflation sind auch keineswegs nur ungewollte Nebeneffekte einer unfähigen Wirtschaftspolitik; vielmehr wurden sowohl die Inflation wie die (interne und externe) Verschuldung von der Politik bewußt eingesetzt, um Zahlungsproblcmc und Vcrtcilungskonflikte abzumildern, zu verschleiern oder hinauszuzögern. Beide Strategien erwiesen sich langfristig als nicht gangbar, da die Folgen unkontrollierbar wurden: Der gewollte und bewußte Prozeß externer Verschuldung (growth cum debt-Strategie) wurde durch den Ausbruch der mexikanischen Verschuldungskrise im August 1982 zur Falle - nicht wegen der damaligen brasilianischen Wirtschaftsdaten, sondern durch den generellen Vertrauensverlust der Banken in die Region Lateinamerika. Die Inflation geriet infolge der spezifisch brasilianischen Kombination von Defizilfinanzierung und Indexierungspolitik Ende der achtziger Jahre außer Kontrolle. Trotz Verschuldung und Inflation blieb die Wirtschaft mit Ausnahme weniger Jahre auf Wachstumskurs. Bei Rückführung der Inflation auf das historische "Normalmaß" und angesichts der geregelten Auslandsschulden sollten beide Faktoren in Zukunft keine bestimmende Rolle mehr spielen müssen.
3 . 1 Inflation Die Inflationsraten Brasiliens waren nicht nur Mitte 1994 weltweil "Spitze": Schon 1955 sollen nur vier Länder der Welt eine höhere Inflationsrate als Brasilien aufgewiesen haben. 22 Die Inflation gehört(e) gewissermaßen zum way of life in Brasilien. Sie wurde in den fünfziger Jahren bewußt in Kauf genommen, diente der Finanzierung des Industrialisicrungsprozcsses und dem (scheinbaren) Ausgleich von Interessen, und wurde bis Ende der siebziger Jahre durch eine "graduelle" Politik der Inflationsbekämpfung lediglich auf einem hohem Niveau 22
Vgl. Castro Gomes (org.), O Brasil de JK, a.a.O., S. 54.
Staat und
Wirtschaftsentwicklung
375
stabilisiert. Die Vervierfachung der Inflation in den siebziger Jahren (von 20,2% 1971 auf 82,8% 1980), der erstmalige "Einstieg" in den vierstelligen Bereich während der achtziger Jahre (1988: 1.038%; 1993: 2.709%) wurde erträglich durch das 1964 etablierte, immer ausgefeiltere Indexierungssystem (das andererseits die Inflation perpetuierte!) und die Politik der (monatlichen) Lohnanpassungen. 23 Die Instabilität der brasilianischen Währung(cn) wird in der immer schnelleren Abfolge neuer Währungseinheiten deutlich: Nach dem Mil-reis (bis 1942) lösten sich der Cruzeiro (bis 1967), der Novo Cruzeiro (bis 1986), der Cruzado (bis 1989), der Novo Cruzado (bis 1990) und wiederum der Cruzeiro (bis 1993) ab. Nach dem kurzen "Auftritt" des Cruzeiro Real ist seit dem 1. Juli 1994 der Real die neue brasilianische Währung. Während es sich bisher eher um Umbenennungen als um Währungsreformen handelte und die Streichung von jeweils drei Nullen (außer 1990)24 vor allem die "Handhabbarkeit" der Währungseinheit sichern sollte, wurde 1994 ein Umstellungskurs von 2.750 Cruzeiros Reais (CR$) auf 1 neuen Real (RS) festgelegt. Allerdings war schon seit dem Februar 1994 durch die parallele Existenz der an den Dollar gebundenen Verrechnungseinheit URV (JUnidade Real do Valor) zum Cruzeiro Real - alle Preise mußten auch in URV ausgezeichnet werden - diese Umstellung für den Verbraucher transparent gemacht worden. Damit sollte der Versuch verdecktcr Preiserhöhungen mittels überhöhter Umrechnung verhindert werden und der seit 1979 dreizehnte Stabilisierungsplan endlich zum Erfolg führen. Die Währungsrcform vom 1. Juli 1994 orientierte sich in vielem am argentinischen "Plan Cavallo" von 1990. Sie wurde durch Währungsreserven von netto 35 Mrd. US S (brutto: 43 Mrd. US S), die achthöchsten weltweit, erleichtert. Diese Reserven und die schon seit 1983 üblichen Handelsbilanzüberschüsse (zwischen knapp 10 und fast 20 Mrd. US $ p.a.) würden eine Stabilisierung des Außenwertes des neuen Real durchaus ermöglichen. Unverzichtbar für künftige Stabilität der Währung ist aber die Beseitigung der Defizite der öffentlichen Haushalte. 1989 betrug das brasilianische Haushaltsdefizit - nach Angaben der IDB - 24,9% des BIP. Unter der Collor-Administration wurde dieses Defizit deutlich zurückgeführt; es soll "operational", also nach 23
Vgl. hierzu: Catarina Irene Issel, Inflation Accounting: Die brasilianische Geldwertbcrichtigung. Diss. St. Gallen 1981; John Williamson (Ed.), Inflation and Indexation. Argentina, Brazil, and Israel. Washington D.C. 1985.
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Rüdiger
Zoller
Herausrechnen der inflationären Aufblähung, 1993 nur noch 0,1% des BIP betragen haben, nach 1,9% 1992. Für 1994 und 1995 soll durch vorübergehende Sondereinnahmen durch den "Sozialen Notfonds" ein Defizit ganz vermieden werden. - Entscheidend für eine Stabilisierung der neuen Währung auf Dauer wird sein, ob der politische Wille dafür vorhanden ist - und eine Mehrheit im Parlament, die die nötigen Verfassungsänderungen durchsetzt. Die Politik muß auch diejenigen Interessen bekämpfen, die nicht nur mit der Inflation gut gelebt haben, sondern auch und nicht zuletzt von ihr. Die Tatsache, daß nach Presseberichten im ersten Monat des laufenden Stabilisierungsplanes der Umfang der Dienstleistungen der Geldinstitute um bis zu 70% geschrumpft ist, spricht eine deutliche Sprache. 25
3.2
Auslandsverschuldung
Auslandsverschuldung des Staates wie der privaten Wirtschaft gehört seit der Unabhängigkeit zur brasilianischen Realität; der Rückgriff auf ausländisches Kapital auch durch den Staat und regelmäßige Umschuldung alter Verpflichtungen wurden gleichsam "normal". Der erste Finanzministcr der Republik, Ruy Barbosa, meinte zwar "O Imperio era o defizit!" ("Das Kaiserreich war das Defizit!"), aber die "Alte Republik" blieb in dieser Tradition und mußte bereits 1898 ihre erste große Umschuldung per funding loan aushandeln. Die Technokraten der Regierung Vargas standen 1930 erneut vor einem Chaos. Zur Neuregelung der Auslandsverpflichtungen wurde 1934 der "Plan Osvaldo Aranha" entwickelt, nachdem bereits 1932 eine weitere funding loan vereinbart worden war. Brasilien konnte diese Verpflichtungen aber nicht einhalten - die Regierung spielte bewußt amerikanische und deutsche Handelsintcresscn und britische wie US-Kapitalinteressen gegeneinander aus. Während des Zweiten Weltkrieges kam es schließlich zu neuen Regelungen, wobei die USA Druck auf Vargas ausübten. Im Abkommen von 1940 versprach Brasilien die Zahlung etwa der Hälfte der aus dem Aranha-Plan von 1934 datierenden Verpflichtungen. 1943 wurde dann ein definitives Abkommen ausgehandelt. Es bot zwei Optionen für die Gläubiger: Einmal Rückzahlung der nominellen Schulden zu geringerem Zinssatz; und zweitens Ausgabe neuer Schuldtitcl zu 3,75% und Rückkauf alter Titel zu 29% des Nennwertes. Durch die Kombination beider Lösungen wurde Brasilien de facto 24
1 Billion ursprünglicher Cruzeiros
entsprach einem Cruzeiro
25
Vgl. Neue Zürcher Zeitung vom 28./29. August 1994.
Real von 1994.
Staat und
377
Wirtschaftsentwicklung
etwa die Hälfte seiner Auslandsschuld erlassen. Die Technik dieser Umschuldung ähnelt den Mechanismen unter den Brady-Abkommen der Gegenwart. Brasiliens Auslandsverschuldung liegt 1994 bei ca. 138 Mrd. US S. Diese Verschuldung entstand durch die bewußt auf "externe Ersparnis" zurückgreifende Wirtschaftspolitik der Militärregierungen in den siebziger Jahren - noch 1970 betrug sie nur 5,3 Mrd. US $! Ca. 70% der Schulden gehen auf das Konto von Staatsunternehmen. Die Kredite wurden vor allem für Industrialisierungsprojekte und für den Ausbau der Infrastruktur eingesetzt, z.B. im Rahmen des PND II. Der Zinsschock der Jahre 1979-82 zwang die Regierung Figueiredo allerdings, Auslandskredite auch zum Zahlungsbilanzausgleich aufzunehmen. Die abrupte Einstellung der Kreditgewährung durch die Banken im August 1982 nötigte Brasilien in eine Folge von Umschuldungsabkommen mit Banken und IWF. Während in der innenpolitischen Auseinandersetzung der achtziger Jahre die Auslandsverschuldung und die Auflagen des IWF für fast alle Probleme (und Fehlentscheidungen!) herhalten mußten, wurzelten die meisten dieser Probleme vielmehr in der zunehmenden Inlandsverschuldung des Staates und der Unfähigkeit der Regierungen, die hausgemachten Strukturprobleme zu lösen. Die brasilianische Auslandsverschuldung war bis 1991 die größte Lateinamerikas. Dann "überholte" Mexiko infolge seines hohen Außenhandelsdefizits, das durch Kapitalimporte abgedeckt bzw. ermöglicht wurde, Brasilien in dieser Rangliste. 26 Während Mexiko bereits vor fünf Jahren ein Brady-Abkommen unterzeichnen konnte, das zu erheblichen Schuldenminderungen führte, hat Brasilien durch eine oft inkonsequente Vcrhandlungslaktik, bedingt durch die innenpolitische Schwäche und Konzeptionslosigkeit der Regierungen, erst als letzter der lateinamerikanischen Großschuldner zum 15. April 1994 eine erneute Umschuldung vornehmen können. 27 Es wurden dabei 32,48 Mrd. US S Altforderungen in 28,55 Mrd. US $ neue Umschuldungsanleihen umgetauscht. Zu der nominellen Schuldenminderung von 3,93 Mrd. US S (durch den Abschlag von 35% beim Umtausch in sog. Discount-Bonds) kommt eine Zinsersparnis von weiteren ca. 4 Mrd. US $, da Brasilien für die restlichen Altforderungen günstigere Zinskonditionen erhielt. Die Neukreditc der letzten Umschuldung von 1988 in Höhe von 3,8 Mrd. US $ und 26
Die rasante Neuverschuldung Mexikos (1989: 99 Mrd. $ - 1993: 154 Mrd. $) ist Ausdruck des ihm gegenwärtig von der Finanzwelt zuerkannten Vertrauens.
27
Zur aktuellen Lage vgl. Kurzbericht
Uber Lateinamerika,
Juni 1994, S. 42.
Rüdiger Zoller
378
die von 1991 bis 1994 aufgelaufenen Zinsrückstände von 5,7 Mrd. US $ wurden ebenfalls in Anleihen umgewandelt. Zur Absicherung der neuen Bonds erwarb Brasilien Zero-Coupon-Bonds des US-Schatzamtes für 2,74 Mrd. US S mit dreißigjähriger Laufzeit. Durch diese Umschuldungskonditionen hat sich allerdings der Stand der Auslandsverschuldung Brasiliens infolge der wieder steigenden Neuverschuldung kaum vermindert. Die Zentralbank hat ihn für Ende 1992 mit 133,6 Mrd. US S angegeben; 1993 soll er um ca. 4 Mrd. US $ gestiegen sein. Angesichts der hohen Außenhandelsüberschüsse, der differenzierten Exportstruktur und des Vertrauens der Banken in das Wachstumspotential der brasilianischen Wirtschaft sollte die Auslandsverschuldung in Zukunft kein entscheidendes Hindernis für die Wirtschaftsentwicklung darstellen. Sie kann allerdings jetzt auch nicht mehr wie in den siebziger Jahren als Instrument eingesetzt werden, nötige Strukturveränderungen und Umverteilungsmaßnahmen hinauszuzögern.
4.
Zwischen Reformbereitschaft und
4 . 1 Eliten
und
Machterhalt
Ungleichheit
Im Gegensatz zu den Industrialisierungs- und Wachstumsprozessen Europas und Nordamerikas wurde der Prozeß wirtschaftlichen Wachstums in Brasilien begleitet von einer sich ständig verstärkenden Konzentration von Einkommen und Besitz wie von einer Zunahme der regionalen Disparitäten. Brasilien ist nie eine Gesellschaft der Gleichen gewesen - die Strukturen der Kolonialzeit und der Sklaverei sind heute noch greifbar. Die Chancen bezüglich Lebenserwartung und Bildung, Ernährung und Gesundheitsversorgung, Rechtssicherheit und sozialem Aufstieg sind mitnichten für alle Brasilianer gleich. Der "Weltentwicklungsbericht" der Weltbank und der Human Development Report der UNDP weisen jährlich dieses Distributionsproblcm für Brasilien statistisch säuberlich nach, und auch die Interamerikanische Entwicklungsbank (IDB) ist zur Erkenntnis gekommen, daß extrem ungleiche Einkommen Wachstum nicht fördern, sondern behindern. Der politische und verfassungsrechtliche Diskurs Brasiliens von "Freiheit" und "Gleichheit" wurde und wird quasi aus einer anderen Welt importiert. Auch die Voraussetzungen zur Industrialisierung wurden "importiert": Ohne die europäische Einwanderung wäre der Industrialisicrungsprozeß in Säo Paulo nicht denkbar, gäbe es keine "brasilianische" Untcrnehmerschicht. Und mit den Einwandcrem und der von ihnen ausgelösten wirtschaftlichen Dynamik wurde der
Staat und
379
Wirtschaftsentwicklung
regionale Konflikt zwischen Nordosten und Südosten bzw. Süden institutionalisiert: Aus Brasilien wurde Belindia.28 Die Frage der Macht war in Brasilien seit Schaffung der capitanías an den Landbesitz gebunden. Das Scheitern aller Ansätze zu einer Bodenreform ist ein sicherer Indikator für die realen Machtverhältnisse. Die Re-Demokratisierung des Jahres 1985 erlaubte es den traditionellen Eliten vor allem des Nordostens, ihre durch die Technokraten des Militärregimes zeitweilig zurückgedrängte Machtposition wieder auszuspielen - auch F. H. Cardoso hat sich mit ihnen verbunden. Nachdem der "Staatskapitalismus" der Elite schon die Formel bot, sich wirtschaftlich zu behaupten, erleichterte nun die "Demokratie" den legalen, völlig verfassungsgemäßen Zugriff auf die Ressourcen des Staates. Die "Korruption" ist kein Betriebsunfall und kein Charakterproblem der beteiligten Politiker; sie ist lediglich ein Indiz für die Atavismen der brasilianischen Gesellschaft. "Samey" und "Collor" können sich jederzeit wiederholen, solange die gesellschaftlichen Machtverhältnisse sich nicht ändern.
4 . 2 Modernisierung des Staates - Entstaatlichung der Wirtschaft Die Fähigkeit oder besser: die Bereitschaft der Eliten, den Weg für den gesellschaftlich notwendigen Strukturwandel zu öffnen, scheint jedoch äußerst beschränkt. Die Problematik Brasiliens liegt also weniger im (unzureichenden) Wirtschaftswachstum, sondern in der Stellung, die die Eliten Brasiliens über alle politischen Systemänderungen und Regimewechsel hinweg beanspruchten und verteidigten. Die gekonnte Adaption der Eliten an die jeweils aktuellen, "modernen" Diskurse darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß die "klassischen" Eliten den Staat stets dazu instrumentalisierten, ihre "legitimen Vorrechte" zu bewahren. In Brasilien hat nie ein revolutionärer Elitenwechsel stattgefunden - so viele "Revolutionen" auch in den Geschichtsbüchern auftauchen. Es lösten sich nicht unterschiedliche Machtclilcn ab, sondern in einem Kooptations- und Lernprozeß bleiben die agrarischen Eliten bis heute mit an der Macht. Die politischen Kooptations- und Machtzuteilungsprozesse koinzidieren mit dem klientelistischen System in der Wirtschaft. Die Elite hat so den klassischen Populismus der Vargas-Ära verinncrlicht; auch die Konservativen identifizierten sich mit dem 28
Belindia
vereint das Gegensatzpaar Belgien
und
Indien.
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Rüdiger
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von Vargas entwickelten interventionistischen Modell. Und der Putsch von 1964 sicherte gewissermaßen für zwei weitere Jahrzehnte die Viabilität dieses Modells. Brasiliens politische Eliten waren dabei überaus erfolgreich: "Entre los años cuarenta y los setenta, Brasil pudo montar el Estado más moderno del Tercer Mundo. Aunque ese Estado haya tenido siempre una proporción elevada de burocratismo y de clientelismo, logró alcanzar un nivel de funcionalidad y de eficiencia superior incluso al de diversos Estados europeos." 29 Dieser Staat geriet jedoch in den achtziger Jahren in eine Krise, die in seinen gesellschaftlichen Strukturen wurzelt. "This crisis is also a Signal that, more than the model of State Intervention, it is the model of society in Brazil that is exhausted." 30 Autonomie und Kompetenz des Staates blieben letztlich zu gering. Der Staatsinterventionismus führte zu einer chaotischen Überregulierung und einer "korruptionsintensiven Genehmigungsbürokratie". Das Kernproblem der Wirtschaft war nicht der quantitative Ausbau des Industriesektors, sondern die zu geringe Produktivität im internationalen Vergleich, die letztlich zu einer enormen Ressourcenvergeudung führte. Die Krise führte zwar zur Destruktion alter Wirtschaftsstrukturen, ließ jedoch die Macht- und Vermögensstrukturen voll intakt. 31 Die "Neue Republik" erbte so das bestehende bürokratische System und den Klientelismus - nur ohne die Kontrollmöglichkeilen des autoritären Systems der Militärs. Das etatistische Entwicklungsmodell überlebt noch in der Praxis des Protektionismus, der Absprachen und korporativen Strukturen, nicht durch die Kraft der Argumente oder seiner Funktionalität. Aufgrund der Interessen von politischer Elite und Staatsbürokratie begegnete die Privatisierungspolitik in Brasilien von Anfang an starken Widerständen. Unter Collor konnten für ca. 3,55 Mrd. US $ und unter Itamar Franco für 3,24 Mrd. US $ Staatsfirmen privatisiert werden. Im Vergleich zu Mexiko oder Argentinien und besonders in Relation zum Umfang des brasilianischen Staatssektors war dies wenig. Dennoch wird sich der Privatisierungsprozeß aufgrund wirtschaftlicher Zwänge auch gegen Widerstände mittelfristig durchsetzen - nicht
29
Helio Jaguaribe (comp.), a.a.O., S. 62.
30
Luiz Carlos Brcsscr Pcreira, A pragmatic approach to State intervention: the brazilian case. In: CEPAL-Review. (1990)41, S. 49.
31
Vgl. Klaus Eßer, Neue Konzepte zum Erfolg: Die wirtschaftlichen Herausforderungen Lateinamerikas in den neunziger Jahren. Aus: Detlev Junker u.a. (Hrsg.), Lateinamerika am Ende des 20. Jahrhunderts. München 1994, S. 170-190.
Staat und
Wirtschaftsentwicklung
381
aus ideologischen, sondern aus finanziellen Gründen: Unter den 20 Unternehmen mit den größten Verlusten im Geschäftsjahr 1992 waren nur drei private! "Desde un punto de vista evolutivo, parece haber llegado el momento de la liberación en el Brasil. Pero no llegará mediante una decisión racional de la élite, sino por medio de diversos elementos de presión surgidos de la base del sistema económico." 32 Die grundlegenden Strukturprobleme Brasiliens, insbesondere das Verteilungsproblem, werden sich nicht lösen lassen, solange die Präpotenz der alten Eliten anhält.
5.
Zwischenbilanz und
Perspektiven
Brasilien ist das einzige wirtschaftlich relevante Land Lateinamerikas, das bis in die neunziger Jahre an den Grundsätzen des nationalen Entwicklungsprojektes der dreißiger bzw. fünfziger Jahre - Industrialisierung mit starkem Staatssektor mittels Importsubstitution und Defizitfinanzierung - festhielt. Es ist aber auch das einzige südamerikanische Land mit einer integrierten, vollständigen Industriestruktur - trotz aller noch bestehenden technologischen Abhängigkeiten. Beides mag in einem Zusammenhang stehen: In Brasilien ist der Industrialisierungsprozeß nicht gescheitert, sondern realisiert worden. Es gab auch in der Krise keinen De-Industrialisierungsprozeß wie in Chile oder Argentinien. Brasilien ist - neben Mexiko - das einzige lateinamerikanische Land mit einer differenzierten Exportstruktur. Der Export wird inzwischen mit einem Anteil von 62% von Industriegütern beherrscht Aber auch die Agrarexporte wurden diversifiziert: Brasilien ist nicht mehr vom Kaffee abhängig wie noch in den sechziger Jahren. Die Handelsbilanzüberschüsse der letzten zehn Jahre lassen sich nicht allein durch die Kontraktion des Binnenmarktes und die Exportsubventionen erklären - dahinter steht erworbene Kompetenz in Produktion und Vermarktung. Brasilien ist also ein wirtschaftlich erfolgreiches Land. Es ist durchaus wahrscheinlich, daß unter der nächsten Administration auch die wirtschaftlichen Strukturreformen angegangen werden. Historische Parallelen wie 1930, 1954
32
Paulo Rabcllo de Castro/Marcio Ronci, a.a.O., hier: S. 198.
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oder 1964 zeigen, daß der politische Wille zur Kompetenzsteigerung im Staatsapparat durchaus auch kurzfristig zu Erfolgen führen kann. Wenig wahrscheinlich ist hingegen aufgrund derselben historischen Erfahrungen eine kurz- oder mittelfristige Lösung des Distributionsproblems und eine Beseitigung der Ursachen der unterschiedlichen regionalen Entwicklung. Zwar gibt es auch hier durchaus einzelne Ansätze von Kompetenz- und Leistungssteigerung, sowohl auf der Ebene der Einzelstaaten (Cearä unter Ciro Gomes) wie unter den Kommunen (das Curitiba Jaime Lerners) 33 , aber die traditionell enge Verflechtung von politischen und wirtschaftlichen Interessen dürfte verhindern, daß Reformen greifen, die die Machtfrage stellen könnten. Die Ultra-Resistenz der Machtcliten gegenüber einem Wandel der sozialen Strukturen gehört schließlich ebenfalls zum Erfahrungsschatz brasilianischer Politik. Langfristig könnte deshalb soviel sozialer Sprengstoff und politischer Konfliktstoff entstehen, daß wirtschaftliches Wachstum allein nicht mehr als "Valium" ausreicht, um den Ausbruch akuter gesellschaftlicher (Umverteilungs-)Konflikte zu verhindern. Um die anfänglichen Fragen nach der Bewertung des brasilianischen Industrialisierungsprozcsscs aufzunehmen: Es geht den Brasilianern heute im Durchschnitt besser als 1930, aber es geht heute auch mehr Brasilianern schlecht, als es 1930 überhaupt Einwohner gab. Brasilien hat sich schneller entwickelt als die meisten Staaten Lateinamerikas - aber es ist im Vergleich zu den führenden Industriestaaten zurückgefallen. Sowohl innerhalb Brasiliens wie im internationalen Vergleich nehmen die Unterschiede also zu. Menzel beantwortet die Frage nach den für eine erfolgreiche Industrialisierung nötigen gesellschaftlichen Strukturen folgendermaßen: "Die Antwort hat sehr viel mit Bildung, technischer Qualifikation, sozialer Durchlässigkeit, Rechtssicherheit, innovationsfördernder Konkurrenz, Lösung der Agrarfrage, administrativer Kompetenz, Entfaltung von Eigeninitiative, intelligenter handelspolitischer Absicherung zu tun. Mit anderen Worten, der Aufbau von geeigneten internen gesellschaftlichen Strukturen war und ist die entscheidende Dimension zur erfolgreichen Bearbeitung der Entwicklungsproblematik." 34 Diese Antwort aber muß Brasilien selbst geben - die Änderung gesellschaftlicher Strukturen kann
33
Auch in Brasilien ändern sich die Strukturen Personenl
nicht ohne die Initiative einzelner
34
Ulrich Menzel, Das Ende der Dritten Welt und das Scheitern der großen Theorie. Frankfurt a.M. 1992, S. 219f.
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Wirtschaftsentwicklung
383
nicht von außen verordnet werden. Und diese Antwort kann nur von der brasilianischen Elite selbst kommen. Dazu aber bedarf es der Bereitschaft zum zumindest teilweisen Machtverzicht - und davor steht wohl ein langer Lernprozeß.
6.
Resumo
A crise política e económica no Brasil dos anos 80 que ficou manifesta com a eclosüo do problema da divida externa em fim de 1982, pode dar a impressao de um total fracasso do modelo de desenvolvimento e de industrializado brasileiro. Analisando-se porém, nao só a "década perdida", mas também a evoludo económica numa perspectiva mais ampia, e comparando-se o processo das mudanzas estruturais no Brasil com a atua^ño dos seus vizinhos latino-americanos, concluise que esta impressao está errada. No século XX a política económica do Brasil - para além de todas as 'revolu?óes' políticas - obedece a um projeto da elite política: promover o crescimento através da extensáo do mercado interno. Com a política de substituido de importa9óes o intervencionismo estatal visa a um crescimento económico e urna industrializado acelerada. Tomando-se cm considerado as mudanzas estruturais alcan9adas, a ampliado da infra-estrutura e a diferenciado no comércio exterior, o Brasil faz parte das economías com melhor desempenho no mundo. Essa afirmado está certa nüo obstante as di fe rencas sociais e regionais se agravando e aumentando a cada ano. O Brasil é um exemplo extremo quanto ao "crescimento desigual". Justamente com o sucesso das mudabas estruturais aumentam mais rápidamente nüo só as desigualdades no rendimento como também as disparidades no desenvolvimento regional. Com o processo de re-democratizad o as élites nüo somente mantém os seus privilégios, como também asseguram desavergonhadamente o seu acesso por vias "democráticas" ao ornamento do Estado. Por isso a evolufño da sociedade brasileira é muito paradoxal: Precisamente o crescimento económico facilita ás "velhas" elites conservar a sua posido privilegiada tendo como consequcncia tanto o agravamento das diferengas sociais e a permanencia da hipertrofia estatal. O Brasil hoje é o último colocado em toda a América Latina no que diz respeito as reformas estruturais necessárias na esfera do Estado, a saber: liberalizado do comércio exterior, privatizafüo, "emagreci-
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mentó" estatal. Assim o éxito da política económica alcanzado até agora poderá por em perigo o desenvolvimento a longo prazo. Parece que as elites brasileiras süo mais fácilmente capazes de modernizar as estruturas económicas do que as elites de outros países latino-americanos. Por outro lado a sua resistencia forte contra toda tentativa de mudanza ñas estruturas da sociedade vai impedir reformas de base que possam atenuar os problemas sociais. E nesta tendencia á continuidade das elites no poder que reside a carga explosiva á persistencia a longo prazo do sistema brasileiro económicamente tío eficaz. Mais do que mudanzas funcionáis na economia o Brasil carece de urna disposi?üo para mudanzas ñas estruturas sociais.
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385
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Die Igreja Positivista in Rio de Janeiro Detlev Schelsky, Münster
1. Einleitung Die Igreja Positivista (positivistische Kirche) in Rio de Janeiro ist bis heute das Zentrum des positivistischen Glaubens in Brasilien. So befindet sich dort der älteste "Tempel der Humanität", wie auch die größte Anzahl von Mitgliedern der Kirche an einem Ort. Weitere Tempel gibt es in Porto Alegre (Rio Grande do Sul) und in Curitiba (Paraná). Grundlage des positivistischen Glaubens sind die Spätschriften von Auguste Comte. In diesen hat Comte versucht, ein religiöses System zu stiften. Außer in Brasilien fand dieser Glauben auch in einigen anderen Ländern Anhänger, so z. B. in Großbritannien, Chile und in Frankreich. In keinem dieser Länder hat sich der positivistische Glauben allerdings solange erhalten und eine solche politische und gesellschaftliche Bedeutung gewonnen, wie dies in Brasilien der Fall gewesen ist. Allerdings hat der positivistische Glauben heute auch dort keine große Bedeutung mehr. Was ihn als Phänomen für eine sozialwissenschaftliche Untersuchung interessant macht, sind die indirekten sozialen und kognitiven Auswirkungen, die bis heute Folgen zeigen. Obwohl der positivistische Glauben sowohl in gesellschaftlicher wie in politischer Hinsicht für Brasilien bedeutsam gewesen ist, und die sozialwissenschaftliche Untersuchung der verschiedenen Religionen in Brasilien sehr weit fortgeschritten ist, so gibt es über die Igreja Positivista bisher nur wenige soziologische oder geisteswissenschaftliche Studien. Ein Grund hierfür ist sicherlich, daß deren Grundlage, die Spätwerke Comtes, in den Sozialwissenschaften fast keinerlei Berücksichtigung finden. Ein weiteres Hindernis besteht vermutlich darin, daß im Rahmen des positivistischen Glaubens der wissenschaftlichen und insbesondere sozialwissenschaftlichen Erkenntnis zentrale Bedeutung zukommt. Zum einen können sich hieraus terminologische Schwierigkeiten ergeben. Darüber hinaus scheint die mit der positivistischen Religion verbundene Auflösung des seitens der Wissenschaft - die sich ja vielfach selbst als "positiv" versteht - unterstellten Widerspruchs zwischen Glauben und wissenschaftlicher Rationalität zu Berührungsängsten der Wissenschaft geführt zu haben.
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Dies hat dazu geführt, daß die Erforschung der Igreja Positivista, wie die des Positivismus in Brasilien generell, weitgehend positivistisch orientierten Autoren überlassen worden ist; wobei hier mit "positivistisch" eine eng an Comte angelehnte Wissenschafts- und Weltauffassung gemeint ist. Beispiel hierfür ist Ivan Lins, der mit A Histöria do Positivismo no Brasil das wohl verbreitetste Werk über den Positivismus in Brasilien geschrieben hat. Auch er ist ein überzeugter, wenn auch kein religiöser Anhänger der Lehren von Auguste Comte gewesen.
2. Die Religion der Menschheit 2.1. Das Spätwerk von Auguste Comte Das Werk von Comte wird im allgemeinen in drei Phasen unterteilt.1 In der ersten Phase (1820-1826) entwickelte er in den Früh werken seine grundsätzlichen Ideen, die er dann in den folgenden Jahren (1830-1842) vertiefte und ausarbeitete. Im Zentrum dieser Phase steht die Publikation des Cours de philosophie positive, die sich über mehrere Jahre erstreckte. In seinen letzten Lebensjahren entwickelte er in seinen "Spätwerken" die "Religion der Humanität" (1851-1855). Zu den Spätschriften Auguste Comtes gehören der vierbändige Système de politique positive (1851-1854), der Catéchisme positiviste ou sommaire exposition de la religion universelle (1852), der Appel aux conservateurs (1855), sowie die Synthèse subjective ou système universel des conceptions propres à l'état normal de l'humanité (1856). Während es im Système de politique positive für Comte darum ging, seine Theorien weiterzuentwickeln und so seine Religion zu begründen, hatten die übrigen Bände vor allem den Zweck, seine "Religion der Menschheit" zu propagieren. Der "Katechismus" richtete sich vor allem an "die Frauen und das Proletariat", der "Appell an die Konservativen" an die "okzidentalen Staatsmänner".2 Da für Comte die Stiftung der positivistischen Kirche ein "work in progress" gewesen ist, kommt diesen beiden Büchern, wie auch 1
Vgl. Raymond Aaron: Hauptströmungen des soziologischen Denkens, 1. Bd. Köln 1971, S. 71 ff. Dort findet sich eine zusammenfassende Darstellung des Gesamtwerks Comtes.
2
Auguste Comte: Apelo aos Conservadores. Rio de Janeiro 1899, S. V.
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vielen Briefen dieser Zeit, zudem eine Bedeutung für die Weiterentwicklung seiner Ideen zu. Die Entwicklung der "Religion der Menschheit" führte unter den Anhängern und Freunden von Comte zu Auseinandersetzungen und viele von ihnen lehnten diese Religion ab. Zu diesen gehörten Èmile Littré ebenso wie John Stuart Mill, der Comte jahrelang finanziell unterstützt hatte. Auch nach Comtes Tod war die Reaktion auf die "Religion der Menschheit" überwiegend negativ. Einige Kritiker gingen sogar davon aus, daß Comte in dieser Phase seines Lebens geisteskrank gewesen sei. 3 Allerdings scheint diese These nicht haltbar. Zwar gibt es durchaus Elemente des positivistischen Glaubens, die man als abstrus oder sogar als verrückt ansehen mag, aber andererseits läßt sich die Stiftung der "Religion der Menschheit" durch Comte durchaus als Fortführung seiner früheren Arbeiten ansehen. Mit Sicherheit kann man jedoch sagen, daß die Stiftung der positivistischen Kirche ohne einen biographischen Zufall im Leben Comtes wohl nicht stattgefunden hätte. Dieser biographische Zufall bestand darin, daß er 1844 eine Frau namens Clotilde de Vaux kennenlernte und bis zu ihrem Tode 1846 eine sehr enge Beziehung mit ihr hatte. Dieser Verlust führte dazu, daß Comte sich wieder verstärkt der Frage der individuellen wie gesellschaftlichen Sinnstiftung zuwandte. Daß für ihn dieser Problemkreis nicht neu gewesen ist, zeigen seine Frühwerke. So spricht er schon in dem 1822 zuerst erschienenen Prospectus de travaux scientifiques nécessaires pour réorganiser la société Fragen wie die nach der Trennung von weltlicher und geistiger Macht, der Reorganisation der geistigen Macht, oder auch die der Vermittlung der neuen Lehre an; Fragen also, die im Zusammenhang mit der Stiftung der Religion eine wesentliche Bedeutung bekommen haben. 4 Und er sah schon zu diesem Zeitpunkt sehr deutlich die Schwierigkeiten einer Vermittlung und Verbreitung seiner Ideen. "Man wird niemals die Masse der Menschen für irgendein System leidenschaftlich erregen, indem man ihnen beweist, daß es dasjenige ist, dessen Erfüllung der Gang der Kultur seit seinem Beginn vorbereitet hat und welches dieser Gang heute erfor3
Vgl. Auguste Comte: Die Soziologie - Positive Philosophie. Hrsg. von Friedrich Blasehke. Leipzig 1933; bes. die diesbezüglichen Anmerkungen des Herausgebers, S. XVI ff.
4
Vgl. Auguste Comte: Plan der wissenschaftlichen Arbeiten, die für eine Reform der Gesellschaft notwendig sind. Hrsg. von Dieter Prokop. München 1973; insbesondere S. 57 ff. bzw. 112 f.
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dert, um die Gesellschaft zu leiten." 5 Allerdings dachte Comte zu dieser Zeit primär politisch und keinesfalls an die Stiftung einer Religion. Das hat er zu dieser Zeit sogar explizit abgelehnt. 6 Vielmehr sah er die "emotionale" Vermittlung seiner Lehren als eine Aufgabe der Kunst. 7 Auch Auguste Comte verstand die Stiftung der "Religion der Menschheit" durchaus als Fortführung seiner bisherigen Arbeit. Um dies zu demonstrieren, veröffentlichte er seine Frühwerke im Rahmen des Système de politique positive noch einmal. 2.2. Die Prämissen der Religionsstiftung Grundsätzlich gilt, daß die Gesamtheit der Ideen und Theorien von Comte das Dogma des positivistischen Glaubens bilden, d.h. auch seine schon früher entwickelten Theorien wie das Dreistadiengesetz oder das Enzyklopädische Gesetz sind ebenfalls Teil des Dogmas. Gleichzeitig sind die Theorien die Grundlage für die Konstruktion der "Religion der Menschheit". Von zentraler Bedeutung sind dabei die "religionssoziologischen" Überlegungen Comtes, seine Theorie der menschlichen Natur, seine Theorie der Menschheit, sowie sein Verständnis der Bedeutung der Frau innerhalb der Gesellschaft. Comte geht davon aus, daß es ein natürliches Bedürfnis der Menschen nach Religion gibt. So gibt es für ihn ein menschliches Streben, sich einer übergeordneten Macht unterzuordnen.8 Dabei geschieht diese Unterordnung umso leichter, je mehr die individuelle wie gesellschaftliche Harmonie aufgrund der Existenz dieser übergeordneten Macht gegeben ist. 9 Denn die Religion entspringt laut Comte dem Bedürfnis nach einem gesellschaftlichen wie individuellen Konsens, bzw. dem Streben nach einer gesellschaftlichen wie moralischen "Synthese". "Die Religion beruht also darauf, daß sie jede individuelle Natur ordnet und alle Individuen zusammenfaßt; dies stellt aber nur zwei unterschiedliche Fälle des-
5
Ebenda, S. 113.
6
Vgl. Karl Löwith: Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Stuttgart 1979, S. 87.
7
Auguste Comte: Plan der wissenschaftlichen Arbeiten, die für eine Reform der Gesellschaft notwendig sind, a.a.O., S. 112 f.
8
Auguste Comte: Catecismo Positivista. Rio de Janeiro 1934, S. 47.
9
Ebenda, S. 48.
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selben Problems dar." 10 Des weiteren geht er davon aus, daß der Zweck einer Religion in der Bereitstellung eines Weltbildes besteht. "Jede religiöse Lehre beruht notwendigerweise auf irgendeiner Erklärung der Welt und des Menschen, das fortwährende zweifache Objekt unserer theoretischen und praktischen Überlegungen." 11 Eine Besonderheit der positivistischen Religion ist, daß die religionssoziologischen Überlegungen Comtes Teil der religiösen Unterweisung sind. So beginnt der "positivistische Katechismus" mit den Überlegungen Comtes zum Charakter der Kirche. 12 Die potentiellen Kirchenmitglieder werden also im Rahmen der Unterweisung darauf hingewiesen, daß die Kirche einen funktionalen Charakter hat. Und Comte betont ausdrücklich, daß der positivistischen Kirche keine finale oder metaphysische Begründung zugrundeliegt. 13 Denn auch für den positivistischen Glauben gilt: "In seinen theoretischen Anschauungen erklärt er immer das wie und niemals das warum." 14 In Système de politique positive entwickelte Comte ein tableau cérébral der menschlichen Natur 15 , wobei er versuchte, die menschlichen Eigenschaften verschiedenen Gehimteilen zuzuordnen. Dabei geht er von der in Grafik 1 dargestellten Grundstruktur der menschlichen Natur aus. 16
10
Ebenda, S. 42 f. "A religiäo consiste, pois, em regular cada natureza individual e em congregar todas as individualidades; o que constituí apenas dois cazos distintos de um problema único."
11
Ebenda, S. 53. "Toda doutrina religióza repouza necessáriamente sobre urna esplica;äo qualquer do mundo e do hörnen, duplo objeto continuo de nóssos pensamentos téoricos e práticos."
12
Ebenda, S. 41-65.
13
Ebenda, S. 53 ff.
14
Ebenda, S. 53. "Em suas concep9óes teóricas, éla explica sempre como e nunca porqué."
15
Vgl. auch Auguste Comte: Apelo aos Conservadores. Rio de Janeiro 1899, S. 63.
16
Vgl. Raymond Aaron: Hauptströmungen des soziologischen Denkens, a.a.O., S. 96 f.
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Grafik 1 Egoismus Gefühl (aflection) Hera
"
\
Altruismus
Menschliche Natur Verstand
Verstand (abstraktes Denken)
Das Gefühl ist dabei der Ursprung für die Aktivitäten bzw. die Handlungen, welche wiederum durch den Verstand gesteuert werden. Comte hat dies in dem berühmt gewordenen Satz "agir par affection et penser pour agir" schlagwortartig zusammengefaßt. 17 Die Empfindungen bzw. Gefühle lassen sich laut Comte in egoistische und altruistische Empfindungen unterscheiden. 18 Beide Empfindungen sind für ihn von Anfang an Teil der menschlichen Natur, wobei zuerst der Egoismus dominierend gewesen ist, der Altruismus dagegen erst im Laufe der kulturellen Entwicklung des Menschen an Gewicht gewonnen hat. Zu den altruistischen Eigenschaften gehören die Freundschaft, die Verehrung, die Güte und die Liebe. Zu den egoistischen Eigenschaften gehören der Geschlechtstrieb, der Hungertrieb, die Mutterliebe, sowie, wenn auch in geringerem Maße, die militärischen und industriellen Affekte; letztere sind allerdings zugleich den altruistischen Empfindungen zuzuordnen. Aus diesen menschlichcn Eigenschaften ergibt sich für Comte die Notwendigkeit, daß die Gesellschaft, insbesondere die positivistische Gesellschaft dafür zu sorgen hat, daß die altruistischen Empfindungen das Übergewicht bekommen und die egoistischen Ge-
17
Auguste Comte: Catecismo Positivista, a.a.O., S. 68.
18
Laut H. J. Störig soll der Begriff des "Altruismus" durch Comte geprägt worden sein. Vgl. Hans Joachim Störig: Kleine Geschichte der Philosophie 2. Frankfurt a. M. 1972, S. 144.
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fühle zurückgedrängt werden. Diese Aufgabe fällt laut Comte der positivistischen Kirche bzw. ihren Priestern zu. Aus diesem Verständnis der menschlichen Natur leitet Comte auch die Grundstruktur der "Religion der Menschheit" ab. 19 Diese besteht aus dem Dogma, dem Kult, sowie der Lebensordnung (regime). Das Dogma dient der Ansprache des Verstandes, der Kult der des Gefühls, und die Aktivitäten sollen durch die Lebensordnung gesteuert werden. Das Zentrum der Theorie der Menschheit bildet "das fundamentale Gesetz der menschlichen Ordnung": "Die Lebenden sind immer, und jedesmal mehr, notwendigerweise regiert durch die Toten." 20 Darüber hinaus weist Comte im Rahmen seiner "Theorie der Humanität" darauf hin, daß die Existenz des Grand Être von dem Glauben der einzelnen Menschen an diesen, und somit nicht von einer metaphysischen Instanz abhängig ist. 21 Unter dem Grand Être, dem "großen Sein", ist die Gesamtheit der bedeutenden Menschen in der Vergangenheit, der Gegenwart sowie der Zukunft zu verstehen. 22 Für Comte ist dies der Inbegriff der "Humanität". In der "Religion der Menschheit" nimmt der Grand Être die symbolische Position des Gottes ein. Neben den Priestern kommt den Frauen die Aufgabe zu, den positivistischen Glauben zu vermitteln. 23 Während aber die Priester den öffentlichen Teil des Kultes führen, sind die Frauen im Rahmen der Familie für die Durchführung des privaten Teils des Kultes zuständig. 24 Denn die Frau - Comte nennt sie auch das "affektive" Geschlecht - ist für ihn die Inkarnation der Liebe bzw. des Grand Être25, d.h. des positivistischen "Gottes". Generell ist für Comte die Frau affektiv und stetig, während der Mann intellektuell orientiert, aber auch unstetig ist. 26 19 20
Auguste Comte: Catecismo Positivista, a.a.O., S. 63 f. Auguste Comte: Catecismo Positivista, a.a.O. "Os vivos säo sempre, e cada ves mais, govemados necessiriamente pelos mörtos."
21 22
Ebenda, S. 77 f. Auguste Comte, a.a.O., S. 72.
23
Zu den religiösen Aufgaben der Frau vgl. auch den entsprechenden Brief von A. Comte in: Georg Maria Regozini: Auguste Comtes "Religion der Menschheit" und ihre Ausprägungen in Brasilien. Frankfurt a.M., Bern 1977, S. 212 ff.
24
Auguste Comte: Catecismo Positivista, a.a.O., S. 21.
25
Ebenda, S. 120.
26
Ebenda, S. 20 ff.
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Die Aufgabe der Frau ist es weiterhin, den Mann im Sinne des Positivismus zu "zivilisieren". Das Frauenbild Comtes entspricht in weiten Teilen den in seiner Zeit üblichen Vorstellungen. Selbst daß der Grand Être durch die Vierge-Mère, eine junge Frau mit einem Kind, symbolisiert wird, entspricht durchaus der damaligen Zeit. Der Marienkult, oder die Symbolisierung der Französischen Revolution durch die Marianne sind Beispiele dafür. Ungewöhnlich ist allerdings, daß er diese Idealisierung der Frau nicht auf diesem abstrakten Niveau beließ, sondern vielfach Clotilde de Vaux als konkrete Inkarnation der Humanität bzw. des Grand Être in die positivistische Religion einführt hat.
2.3. Das Dogma Grundlage des Dogmas sind die von Comte entwickelten "Gesetze" sowie die allgemeinen Naturgesetze. "Die grundlegende Lehre der universellen Religion beruht also auf der erkannten Existenz einer unveränderlichen Ordnung, der die Ereignisse jeglicher Art unterworfen sind. Diese Ordnung ist zugleich objektiv und subjektiv." 27 Als objektiv oder extern versteht er dabei die "natürliche" oder auch "universelle" Ordnung, als subjektiv bzw. intern dagegen die "artifizielle", d.h. die gesellschaftliche Ordnung. 28 Die "Umwelt", um einen heutigen Begriff zu verwenden, ist also beides zugleich. Bezüglich dieser begrifflichen Konstruktion beruft er sich dabei ausdrücklich auf Leibniz und Kant. 29 Des weiteren geht er davon aus, daß diese äußere Welt sich nur "konstatieren", aber nicht "erklären" läßt. 30 Der erkenntnistheoretische Fortschritt, wie Comte ihn in seinem Dreistadiengesetz beschrieben hat, beruht also darauf, zunehmend die Gesetze der äußeren Ordnung zu erfassen und die innere Ordnung diesen Gesetzen anzupassen. "Unser grundsätzlicher theoretischer Verdienst besteht darin, die natürliche Unterordnung des Menschen 'in' die Welt soweit vervollkommnet zu haben, daß sich unser Gehirn zu einem genauen Spiegel der ex27
Ebenda, S. 54. "O dogma fundamental da religiáo universal consiste, portanto, na ezisténcia constatada de urna órdem imutável a que estáo sujeitos os acontecimentos de todo género. Ésta órdem é ao mesmo tempo objetiva e subjetiva ..."
28
Ebenda, S. 54 ff.
29
Ebenda, S. 175.
30
Ebenda, S. 55.
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ternen Ordnung wandelt, dessen zukünftige Resultate sogleich aufgrund unserer inneren Handlungen vorhergesehen werden können."31 Noch deutlicher wird dies, wenn man sein Verständnis der intellektuellen Freiheit betrachtet. Denn diese besteht für ihn in nichts anderem, als sich der objektiven Ordnung unterzuordnen. "Unsere Intelligenz bekundet ihre größte Freiheit, wenn ... sie zu einem genauen Spiegel der äußeren Ordnung wird." 32 Die Aufgabe der "Religion der Menschheit" ist es dementsprechend, die Harmonie zwischen objektiver und subjektiver Welt herzustellen.33 Inhaltlich umfaßt das Dogma die Mathematik, die Astronomie, die Physik, die Chemie, die Biologie (Physiologie), die von ihm selbst geschaffene Soziologie (soziale Physik), sowie die Moral. Es handelt sich also weitgehend um die von Comte im Rahmen seines enzyklopädischen Gesetzes im Cours de philosophie positive anerkannten Wissenschaften. Im Zuge der Religionsgründung nimmt Comte allerdings einige Veränderungen vor. So fügt er den enzyklopädischen Wissenschaften die auf das Individuum bezogene "Moral" hinzu. Des weiteren faßt er Mathematik, Astronomie, Physik und Chemie als "Kosmologie", sowie Biologie, Soziologie und Moral als "Soziologie" zusammen.34 Auch hier bildet die oben beschriebene Unterscheidung von äußerer und innerer Welt die Grundlage. Im Zuge der Religionsstiftung wurde die wissenschaftliche Erkenntnis an sich zur Grundlage des Glaubens und damit selbst zum Dogma. Für Comte und später auch für die brasilianischen Positivisten galt dabei der von Comte in seiner Theorie synthetisierte Wissensstand als Ausgangspunkt. Zu der Frage, in welcher Weise neue wissenschaftliche Erkenntnisse in Hinblick auf das positivistische Dogma zu handhaben sind, hat sich Comte nicht geäußert. Auch in den Gesprächen des Verfassers mit Mitgliedern der positivistischen Kirche war diesbezüglich keine eindeutige Auskunft zu bekommen.
31
Ebenda, S. 176. "Nosso principal mérito teórico consiste em aperfeijoar assás éssa subordinado natural do hómen ao mundo, para que o nósso cerebro se torne o fiel espelho da órdem estertor, cujos rezultados futuros pódem desde lógo ser previstos mediante as nóssas operafoes interiores."
32
Ebenda, S. 244. "Nóssa inteligencia manifésta sua maior liberdade quando se toma ... um espelho fiel da órdem esterior ..."
33 34
Ebenda, S. 54 f. Ebenda, S. 197.
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2.4. Der Kult Im Gegensatz zum Dogma soll der Kult vor allem die Emotionen ansprechen und diese in das positivistische Weltbild zu integrieren. So sieht Comte als Hauptzweck des Kultes die Entwicklung von Gefühlen, die den Gläubigen befähigen sollen, "für den Anderen zu leben". 35 Der Kult findet auf verschiedenen sozialen Ebenen statt. Die dementsprechend von Comte vorgenommene Gliederung des positivistischen Kultes ist in der Grafik 2 wiedergegeben.
Grafik 2
privaiif Kulí^
f i n t i n i (Mutter; Gebete, Befolgung des Kalenders) familiär (Vater; Zelebration der pos.Sakramente)
öffentlich (Feste, Versammlungen im Tempel)
Dem vom Vater geführten "familiären" Teil des Kultes kommt dabei die Aufgabe zu, den Familienbereich mit dem öffentlichen Bereich der Religionsausübung zu verbinden. So werden die die Familie betreffenden positivistischen Sakramente, obwohl Teil des familiären Kultbereiches, im Tempel ausgeübt Die Symbolstruktur des Kultes hat Comte teilweise von der des Katholizismus übernommen. So tritt der Grand Être an die Stelle von Gott, die jmgfräuliche Mutter Vierge-Mére in der Person von Clotilde de Vaux an die Stelle von Maria und der Heiligenkalender wird durch einen Kalender der bedejtenden Menschen ersetzt Die Vierge-Mére bezeichnete Comte als "Göttin", aber auch als "Symbol" der Menschheit. Sowohl für den Grand Être, wie für die ViergeMére gilt, daß sie für Comte zwar "heilig" und verehrenswürdig, aber nicht in ir-
35
Ebenda, S. 288.
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geideiner Weise metaphysisch legitimiert sind. Im Sinne einer wie auch immer aufgefaßten Übernatürlichkeit ist die positivistische Kirche eine Kirche ohne Gott. Um jeden Anschein des Numinosen zu vermeiden, spricht Comte bezüglich der religiösen Symbole meistens nur von der "Glorifikation" und "Verehning" und vergleichsweise selten von deren "Heiligkeit". Ebenfalls aus dem Charakter des Grand Être ergibt sich für Comte die heilige Formel der "Religion der Menschheit": "Die Liebe als Prinzip, die Ordnung als Giundlage; der Fortschritt als Ziel." 36 Verbunden mit der heiligen Formel ist, als Substitut des christlichen Kreuzzeichens, das "heilige Zeichen", welches man vollzieh:, indem man die rechte Hand nacheinander auf den Hinterkopf, den Scheitel und die Stirn legt. Diese drei Stellen des Kopfes repräsentieren die Liebe, die Ordnung und den Fortschritt.37 Diese Vorgehensweise ergibt sich aus der im tableau cérébral vorgenommenen zerebralen Verortung der menschlichen Eigenschaften. Des weiteren gibt es drei heilige Devisen des Positivismus. Dies sind "Ordnung und Fortschritt", "Leben für den Anderen" und "Offen leben". Letztere ist die auf das Individuum bezogene Grundformel der öffentlichen Lebenscrdnung.38 Im Zentrum des öffentlichen Kultes steht die Verehrung des Grand Être. Dies bedeute: konkret, daß vor allem die in dem von Comte entworfenen positivistischen Kalender aufgeführten historischen Persönlichkeiten verehrt werden. Aufgrund dis "fundamentalen Gesetzes der menschlichen Ordnung" wird im Rahmen de: öffentlichen Kultes darüber hinaus generell den Vorfahren und insbesondereden Bedeutenden hiervon gedacht. Während die positivistische Religion intellektuell (d.h. vor allem deren Dogma) auf die Erreichung des zukünftigen positivi;tischen Zeitalters ausgerichtet ist, ist sie emotional vor allem an der Vergangenheit orientiert, so daß man schon fast von einem Ahnenkult sprechen könnte. Hierzu gehört z.B. auch die von Comte beabsichtigte Institution der "Ewigei Witwerschaft", die es einem gläubigen Positivisten verbietet, noch einmal nach dem Tod des Ehepartners zu heiraten. Man kann sagen, daß der intellektuellen Vergegenwärtigung der Zukunft die emotionale Vergegenwärtigung der Ver»angenheit gegenübersteht, so daß beide für die Gläubigen von gleicher Bedeuting sein dürften. 36
Aiguste Comte: Catecismo Positivista, a.a.O., S. 60. "O Amor por principio, e a Óriem por baze; o Progrèsso por firn."
37
Giorg Maria Regozini: Auguste Comtes "Religion der Menschheit", a.a.O., S. 100.
38
Aiguste Comte: Catecismo Posiüvista, a.a.O., S. 354.
Detlev Schelsky
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A. Comte hat zwei positivistische Kalender entwickelt; einen vorläufigen, der als "konkreter" Kalender bezeichnet wird, sowie den "abstrakten" Kalender, der dann verwendet werden soll, wenn sich die positivistische Gesellschaft, die Sociocratie, voll entfaltet hat. 39 Der "konkrete" Kalender stellt eine Kombination des Dreistadiengesetzes mit den bedeutenden Mitgliedern des Grand Être dar. So stellen die 13 Monate dieses Kalenders eine Abbildung des Dreistadiengesetzes dar und analog zum katholischen Heiligenkalender trägt jeder Tag den Namen eines bekannten Politikers, Wissenschaftlers oder Künstlers. Die Zeitrechnung dieses Kalenders beginnt mit der Französischen Revolution von 1789. Vor allem die Benennung jeden Tages mit dem Namen eines Mitgliedes des Grand Être hatte für Comte den Zweck, die Mitglieder wie die Menschen allgemein mit dem enzyklopädischen Denken und mit der positivistischen Konzeption der universellen Ordnung vertraut zu machen. 40 Ein weiteres Element, welches Comte in seiner Grundstruktur von der katholischen Kirche übernommen hat, sind die Sakramente, die in Tabelle 1 aufgeführt sind. 41 Bei Frauen fällt nicht nur die "Zulassung", sondern auch die "Bestimmung" auf das 21. Lebensjahr. Der Zeitraum zwischen der "Reife" und dem "Rücktritt" ist der Zeitraum, in dem die Männer der "Humanität" dienen können; nur dieser Zeitraum ist die Grundlage für die Entscheidung seitens der Priester, ob ein Mann in den Grand Être aufgenommen wird. Dementsprechend sind die Sakramente der "Reife", des "Rücktritts", sowie der "Einverleibung" nur Männern vorbehalten. 42 Die Verehrung der Frau, insbesondere als Mutter, hält Comte für selbstverständlich. 43 Allerdings wird nicht deutlich, ob die Frauen Teil des Grand Être sein können, oder ob sie nur durch die drei Engel, dies sind, neben Clotilde de Vaux, die Mutter sowie die Adoptivtochter von Auguste Comte, repräsentiert sind. 44 39
40
Zu den Kalendern vgl. Georg Maria Regozini: Auguste Comtes "Religion der Menschheit"..., a.a.O., S. 216 ff. Dort befindet sich auch eine deutschsprachige Version des "konkreten' Kalenders. Auguste Comte: Catecismo Positivista, a.a.O., S. 155.
41
Aufgestellt nach den Angaben von Georg Maria Regozini: Auguste Comtes "Religion der Menschheit"..., a.a.O., S. 96 ff., sowie Auguste Comte: Catecismo Positivista, a.a.O., S. 128 ff.
42
Auguste Comte: Catecismo Positivista, a.a.O., S. 138.
43 44
Ebenda, S. 139. Ebenda, S. 18 f.
Die Igreja Positivista in Rio de Janeiro
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