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German Pages 120 Year 2009
Bildwelten des Wissens Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik
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1: J. & E. Wallis’ „The Panorama of Europe. A New Game”, London 1815, 47,5 x 61 cm (Spielbrett), University of Oxford, Bodleian Library. 2: Stadtschema als Merkbild aus Johann Host von Romberchs „Congestorium Artificiose Memorie”, 1533. 3: Unterricht in Geologie, Miniatur aus „De proprietatibus rerum”, Paris 1372, Bibliothèque Sainte-Geneviève (MS 1028 fol. 281). 4: Ernst Wilhelm Straßberger: Hauslehrer mit zwei Zöglingen bei der Weihnachtsbescherung, kolorierter Kupferstich, 8 x 10 cm, aus: Hold’s Erstes Buch für Kinder, Leipzig 1844, Tafel 3. 5: Pädagogisches Anschauungsmodell eines Zahnradgetriebes aus der Mechanischen Kammer Christoph Semlers, ursprünglich gebaut für dessen Realschule, heute Kunst- und Naturalienkammer der Franckeschen Stiftungen zu Halle. 6: Spiel- und handlungsorientierte Lernsoftware „GENIUS – Im Zentrum der Macht“, 2007, Screenshot. 7: „Weltkasten“ der Stoyschen Akademie, 18. Jh., 43 x 30 mm, 468 Pappkarten mit aufgeklebten Kupferstichen. 8: Interaktive e-Schultafel, Fotografie aus einer Werbebroschüre des Herstellers Legamaster, 2009. 9: Grafik aus einer Aufbauanleitung der Firma Ikea für ein Regal der Serie Billy, 2005. 10: „Kolles Schulbilderschrank“ zum Einsatz in Volksschulen, Holzstich, Anfang 20. Jahrhundert. 11: Martin Warnke: „Gesichter der Angst. Ein BildEssay“, Stichwort „Angstmacher“, Kursbuch 159, März 2005, S. 44. 12: Überblicksdarstellung der „Grammatica“ aus einem Manuskript, wahrscheinlich Nachschrift eines Schülers, 12. oder 13. Jh., Chorherrenstift Marbach, Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum (Hs 27 773). 13: Overhead-Folie zum
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„Berliner Modell“ als Ergebnis einer Gruppenarbeit von Studierenden zur Vorlesung „Grundlagen der Fachdidaktik“, WS 2003/2004, Technische Universität München, Fakultät für Informatik. 14: Johann Neudörffer d. Ä.: Anleitung zur richtigen Arm- und Fingerhaltung während des Schreibens, Mitte 16. Jahrhundert. 15: Beispiele und Gegenbeispiele aus Ernst Webers „Technik des Tafelzeichnens“, 6. Aufl., 1922. 16: Pressefoto für Ranga Yogeshwars TV-Sendung „Wissen vor 8“, 2008. 17: „Rechnen auf den Linien“ (Rechentisch), Einführung in die Multiplikation aus Michael Stifels „Deutsche Arithmetica“, 1545. 18: Tafel, an der Josep Guardiola, Trainer des F.C. Barcelona, den Spielern seine Taktik für das spanische Pokalfinale am 13. Mai 2009 gegen den Athletic Club Bilbao erklärte. 19: Wandtafel zur Bestimmung relevanter Merkmale bei Vögeln, o. J., 158 x 112 cm, Humboldt-Universität zu Berlin, Zoologische Lehrsammlung, Institut für Biologie (Inventar-Nr. Av 1). 20: Sogenannte „Hockbilder“, Anschauungsmittel für den Anatomieunterricht mit Knochengerüst (links) und Nerven (rechts), Handschrift aus dem Kloster Prüfening, 12. Jh. 21: Zeichnung aus der ersten Klasse einer MädchenHauptschule zur Frage: „Wie viele Kinder waren am Sonntag im Freien?“, aus Otto Neuraths „Bildstatistik nach Wiener Methode in der Schule“, 1933. 22: Initiale „M“ mit Darstellung Kaiser Maximilians I. und dessen Lehrers aus einem Lehrbuch für Maximilian, um 1460, Wien, Österreichische Nationalbibliothek (Cod. S. n. 2617 fol. 2r). 23: Überdimensionales Modell eines menschlichen Auges aus der Ausstellung „Das Wunder des Lebens“, Berlin 1935.
Herausgegeben von
Horst Bredekamp, Matthias Bruhn und Gabriele Werner Verantwortlich für diesen Band
Karsten Heck Redaktion
Das Technische Bild
Bildwelten des Wissens Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik. Band 7,1
Bildendes Sehen
Akademie Verlag
Inhaltsverzeichnis
Editorial
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Astrit Schmidt-Burkhardt: Barbeu-Dubourgs Lernmaschine.
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Geschichtsdiagrammatik im Zeitalter der Aufklärung Margarete Pratschke: Die Kunst, Technik zu vermitteln. Zur Bilddidaktik des Computers bei Charles und Ray Eames
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Lena Bader: „die Form fängt an zu spielen …“
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Kleines (wildes) Gedankenexperiment zum vergleichenden Sehen Steffen-Peter Ballstaedt: Text und Bild: ein didaktisches Traumpaar
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Farbtafeln
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Faksimile
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Bildbesprechung: Verstehendes Sehen und übersetzendes Zeichnen. Kunstpädagogische Praxis in der Sekundarstufe I
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Barbara Wittmann: Ohne Vorbild. Kinderzeichnungen machen Schule
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Kerrin Klinger: Zum ABC des geometrischen Zeichnens um 1800
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Kelly J. Whitmer: Unmittelbare Erkenntnis.
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Das Modell des Salomonischen Tempels im Waisenhaus zu Halle als Anschauungsobjekt der frühen Aufklärung Bücherschau: Wiedergelesen / Rezensionen
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Projektvorstellung: denCity – Vom QR-Code zum Blick auf die Stadt
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Bildnachweis
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Die AutorInnen
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Editorial
Ab dem Jahre 1841 hielt der erfolgreiche britische Architekt und Archäologe Charles Robert Cockerell (1788–1863) Vorlesungen an der Londoner Royal Academy zur Geschichte historischer Baustile, in denen er auch mit Schautafeln und Zeichnungen operierte, darunter mit einer von ihm so bezeichneten drop scene. Die Tafel führt eine in natura unmögliche Szene, eine Gesamtschau der Baukunst, vor Augen; namhafte Werke der (vornehmlich europäischen) Architekturgeschichte werden dazu in einer Frontalansicht hintereinander gestaffelt (dropped into scene) und fügen sich als dünne Schichtbilder zu einem Diagramm, in dem unterschiedliche Abmessungen und Stile direkt vergleichbar werden. Im Auge des Betrachters, der darin eine Assemblage einzelner Bauten erkennen muss, wird daraus eine synoptische, d. h. ‚zusammenschauende‘ Darstellung der Baukunst und ihrer Entwicklung, von der Cheops-Pyramide im Hintergrund über die gotischen Bauten in der Mitte bis zu Inigo Jones’ 1666 zerstörter Fassade der Londoner St. Paul’s Cathedral, welche die vorigen Bauten überschreibt. Insgesamt ergibt sich eine gewisse Symmetrie der Grundform, indem zur Linken der Turm des Stefansdoms in Wien und auf der rechten Seite der charakteristische, nur von einem Turm bekrönte Aufriss des Straßburger Münsters die Anordnung komplettieren. Als Baumeister zahlreicher Dependancen der Bank of England war Cockerell im Straßenbild verschiedener Städte mit seinen klassizistischen Tempelfassaden präsent, doch verstand er sich auch auf die Spielarten der britischen oder kontinen taleuropäischen Romanik und Gotik. Bei den Zuhörern stieß sein über vier mal drei Meter messendes Wandbild, das davon Zeugnis ablegen sollte, auf so viel Zustimmung, dass verkleinerte Versionen davon in der Fachzeitschrift The Builder publiziert und auch als Einblattdrucke in den Handel kommen konnten. Ein fachfremder Betrachter dürfte nicht unbedingt gewusst haben, was er im Einzelnen vor sich sah. So wurde der alles überragende Turm der Metropolitankirche von Mecheln in der gezeigten Form nie vollendet, daher bezog sich der Architekt in seinem Vortrag also auch auf Objekte, die nicht jedem geläufig waren. Hier fand er einen Kunstgriff, indem er Vögel als Silhouetten um die Kirchturmspitzen kreisen ließ, an deren Anzahl (von eins bis vier) sich erkennen ließ, ob Cockerell gerade von Wien, Köln, Mecheln oder Straßburg sprach. Das zur Unterrichtung angefertigte Bild verlangte also nach zusätzlichen zeigenden
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Editorial
Mitteln, so wie es im Unterricht auch der Zeigestock oder das gesprochene Wort sind; diese sind zugleich ein Hinweis darauf, dass es noch einen weiteren Faktor zu bedenken gab, nämlich die Kenntnis und Mitwirkung der Betrachter. Bei einem bildbasierten Lernen kommen Bilder keineswegs direkt und unverändert vom Bildträger (oder Dozenten) in den Kopf des Betrachters. Gerade dies wurde immer wieder auch als Argument gebraucht, um ihre Unzulänglichkeit zu beweisen, vor allem ihre dienende Funktion gegenüber dem höherrangigen Wort. Doch die Argumentation täuscht. Denn das bildliche Schema entfaltet nicht nur eine eigene rhetorische Kraft – es verlangt eben auch nach bildspezifischen Mitteln, die hier in pfiffiger Weise durch den Verzicht auf Ziffern geschaffen wurden. Der Architekt verleiht damit der grafischen Form eine eigene Bedeutung, so wie auch seine Architektur eine ‚sprechende‘ ist, ohne sich in ihrer Technik und Anmutung in irgendeiner Weise mit dem Wort oder der Zahl messen zu müssen. Anschaulichkeit, hier durch eine schematisierte Abbildung erzeugt, führt dem Betrachter eine unvollendete, ja vielleicht sogar unmögliche Architekturwelt vor Augen; doch ist diese nicht schwächer, scheinhafter oder suggestiver als das gesprochene Wort des Referenten, der an die Imagination seiner Zuhörer appelliert, sondern nutzt lediglich andere Kanäle und andere Sinne, um damit instruktive Nachhaltigkeit zu entfalten. Bildarrangements und -serien, Infografiken und Gebrauchsanweisungen entfalten auf unterschiedliche Weise ihr didaktisches Potenzial, und dies kann auf hohem gestalterischen Niveau oder in höchst naiver Weise erfolgen. Sie können neue Sichten eröffnen und zu intellektuellen Operationen anregen. Sie zu nutzen bedeutet also nicht unbedingt, eine begriffliche Information oder einen vorgegebenen Tatbestand in vereinfachender Form zu visualisieren oder zu popularisieren; sondern vielmehr die visuellen Möglichkeiten selber bis an die Grenzen auszuschöpfen. Daher meint eine bildliche Didaktik auch nicht notgedrungen den Einsatz von Bildern zu belehrendem Zweck, sondern eine Bilderlehre, welche die Lehrenden selber, im besten Falle, über ihr eigenes Wissen und ihr eigenes Tun unterrichtet. Die Herausgeber
Astrit Schmidt-Burkhardt
Barbeu-Dubourgs Lernmaschine. Geschichtsdiagrammatik im Zeitalter der Aufklärung Die steile Karriere der diagrammatischen Darstellung in der Historiografie des 18. Jahrhunderts ist einem Netzwerk von Intellektuellen geschuldet. Gemeinsam verhalfen sie der Visualisierung von Geschichte in Form von Wissenskarten zum Durchbruch, um an deren nachhaltigem Aufschwung weit über die Wende zum 19. Jahrhundert hinaus mitzuwirken. Den ausschlaggebenden Impuls setzte Jacques Barbeu-Dubourg (1709–1779), seines Zeichens Doktor der Medizin und Professor für Pharmazie an der Pariser Universität. BarbeuDubourg brachte 1753 eine bemerkenswerte Geschichtskarte in Umlauf: die Chronographie universelle & détails qui en dépendent pour la Chronologie & les Généa logies, kurz Carte chronographique genannt (Abb. 1 und 2, Tafel 1).1 Diese Karte hält erstmals die synchronoptische Universalgeschichte – von Adam und Eva bis zur Aufklärung – in grafischer Form fest. Für den praktischen Gebrauch der Karte hatte Barbeu-Dubourg eigens eine Maschine konstruiert. Sie sollte helfen, den aufklärerischen Bildungsauftrag der intellektuellen Elite vorbildhaft zu erfüllen.2 Ferner erschien eine kurze Begleitschrift.3 Chronografische Karte
Die Carte chronographique besteht aus 35 einzelnen Kupferdrucken im Folio-Format, die der Pariser Kartenstecher A. Cosmant angefertigt hatte.4 Nebeneinandergeklebt, ergeben sie ein langes Papierband von rund sechzehneinhalb Metern. Die Länge dieses Bandes war letztlich nur die Folge von Barbeu-Dubourgs konsequenter Zeiteinteilung: 6.500 einzelne, paritätisch aneinandergereihte Jahre.
1 Die Verfasserin bereitet derzeit eine umfassende Studie über die „Carte chronographique“ vor. Sie kann sich dabei auf Stephen Ferguson: The 1753 Carte chronographique of Jacques BarbeuDubourg. In: Princeton University Library Chronicle, Bd. 52, 1991, Nr. 2, S. 190–230, stützen. 2 Die „Carte chronographique“ konnte im 18. Jahrhundert über Barbeu-Dubourg und zwei Pariser Händler bezogen werden. Heute existiert nur mehr ein Exemplar als MaschinenFassung, das sich in der Princeton University Library befindet. Eine gebundene Ausgabe der Karten verwahrt die Bibliothèque nationale de France. 3 Jacques Barbeu-Dubourg: Chronographie, ou Description des tems; Contenant toute la suite des Souverains de l’Univers, & des principaux événemens de chaque Siécle, depuis la Création du Monde jusqu’à présent; En trente-cinq Planches gravées en Taille-douce, & réunies en une Machine d’un usage facile & commode, Paris 1753. Unter diesem Titel sind 1753 zwei Ausgaben in Umlauf gekommen, eine kürzere und eine um „Approbation“, „Avertissement“ und Symbolliste erweiterte Fassung. Im Folgenden zitierte Passagen sind von der Verfasserin ins Deutsche übersetzt. 4 Ob der Stecher A. Cosmant mit dem Buchbinder Antoine Cosmant identisch ist, wäre noch zu prüfen.
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Ein entsprechender Maßstab ist am oberen Rand der Karte eingetragen. Die horizontale Achse definiert er als durchgängige Zeitleiste der zweidimensionalen Geschichtstopografie. Die Kategorien auf der vertikalen Achse sind variabel, denn in ihnen spiegelt sich Abb. 1: Jacques Barbeu-Dubourg: Chronographie universelle & détails qui en dépendent pour la Chronologie & les Généalogies (kurz: „Carte chronoder Lauf der Geschichte. graphique“), 1753, Ansicht der Carte chronographique im Koffer. Bildeten am Anfang der Aufzeichnung noch die „Stammväter“, die „Nachkommen von Kain“ und „denkwürdige Ereignisse“ die strukturierenden Themenfelder, so kommen bald „berühmte Personen“ als neuer Leitbegriff hinzu. Nach der „Sintflut“ entwickeln sich dann einzelne Länder – beginnend mit „Ägypten“ und „China“ – immer stärker zu maßgeblichen Ordnungsgrößen auf der Geschichtskarte. Als topologische Formationen verdrängen sie schließlich die alttestamentarischen Kategorien. In der Geschichtsschreibung ist die Carte chronographique hinsichtlich ihres Darstellungsverfahrens ein Novum. Die Rezensenten sprachen deshalb von „invention“, von Erfindung.5 Tatsächlich neu ist allerdings nur die Methode. Barbeu-Dubourg hat sie aus der Geografie entlehnt und für die Geschichtswissenschaft adaptiert.6 Gemeint ist der Einsatz von Karten und Tafeln, die in der Erdkunde unerlässlich sind, um sich ein umfassendes Bild von den landschaftlichen Verhältnissen auf der ganzen Welt machen zu können. Die Historiografie kannte bis dato keine vergleichbaren Anschauungs- und Lehrmittel. Geschichte wurde zwar in einzelne Themenblöcke zerlegt und als solche immer wieder in Schautafeln konfiguriert, sie war aber noch nie in ihrer Totalität diagrammatisch erfasst worden. Und genau hier setzt Barbeu-Dubourg mit seinem Vorstoß einer synchronoptischen Gesamtschau der Vergangenheit an.7 Sein Beitrag zum bildenden Sehen, besser noch: zur visuellen Aufklärung, kann deshalb
5 So z.B. im Journal de Trévoux ou Mémoires pour servir à l’Histoire des Sciences & des beaux Arts, Bd. 53, Paris 1753, S. 1898–1902, 1901. 6 Barbeu-Dubourg (s. Anm. 3), S. 4. 7 Barbeu-Dubourg (s. Anm. 3), S. 13.
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nicht hoch genug eingeschätzt werden. Da sich Barbeu-Dubourg die „allgemeine Nützlichkeit“ seines Werkes zum obersten Gebot gemacht hatte, musste er auf die Geografie zurückgreifen. Sie bot jene bestechen de Anschaulichkeit, welche die reine, auf bloßen Fakten basierende Chronologie vermissen Abb. 2: „Carte chronographique“ in geöffnetem Zustand. ließ. Aufgrund ihrer optischen Attraktivität erschien die Geografie methodisch sogar ausgereifter zu sein als die auf bloße Namen und Zahlen beschränkte Chronologie. Barbeu-Dubourg bezeichnete die Erdwissenschaften mit ihren anschaulichen Karten und den vielfältigen grafischen Elementen daher als „heiter“, „einfach“ und „fesselnd“. Gemessen daran wirkten die abstrakten Daten der Chronologie in hohen Maßen „spröde“, „langweilig“ und „mühselig“.8 Der eigentliche Kunstgriff von Barbeu-Dubourg bestand darin, mit Hilfe der Geowissenschaften einen neuen Darstellungsmodus für die Chronologie gefunden zu haben, durch den sie obendrein an ikonischer Anziehungskraft gewann. Denn „[…] die Geografie ist viel entwickelter, sie wird im Allgemeinen weniger ignoriert als die Chronologie; & der Grund dafür ist sehr verständlich. Es gibt viele Möglichkeiten, die eine Wissenschaft zu studieren, diese hatte man bis jetzt nicht bei der anderen“.9 Erst in der Verknüpfung beider Disziplinen entstand etwas völlig Neues: die didaktische Karte als „unterhaltsame Wissenschaft“.10 Barbeu-Dubourg bestätigte mit seiner methodischen Kombinatorik, vor allem aber mit seiner visuellen Wissensvermittlung, eine Grundannahme der Enzyklopädisten, dass nämlich unmittelbare Erkenntnisse nur vermittels der Sinne gewonnen werden könnten.11 8 Barbeu-Dubourg (s. Anm. 3), S. 5. 9 Barbeu-Dubourg (s. Anm. 3), S. 4. 10 Barbeu-Dubourg (s. Anm. 3), S. 8. 11 Jean Le Rond d’Alembert: Discours préliminaire des editeurs. In: Denis Diderot und Jean Le Rond d’Alembert: Encyclopédie, ou Dictionnaire raisonné des Sciences, des Arts et des Métiers, par une Société de Gens de Lettres, Bd. 1, Paris 1751, S. I–XLV.
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Doch nicht nur die Methode, auch die Art und Weise der chronografischen Gestaltung ist maßgeblich von der Geografie geprägt. So hat Barbeu-Dubourg das Kartennetz als Gliederungsstruktur für die Carte chronographique von der Zylinderprojektion übernommen. Im Zuge dessen wird die winkeltreue Einteilung der Erdoberfläche in Breiten- und Längenkreise in ein zweidimensionales Koordinatenraster aus Zeit und Raum umcodiert. Das Layout der gesamten Weltgeschichte ist damit determiniert. Die Zeit wird anfänglich mit gepunkteten, im Zuge der steigenden Datenmenge dann mit durchgezogenen vertikalen Linien nach Dekaden eingeteilt, der Raum mit horizontalen Linien grob nach Themen und Ländern geordnet. Durch den zusätzlichen Einsatz von Punktreihen und gestrichelten Geraden lässt sich auch bei hoher Faktendichte eine gewisse Übersichtlichkeit bewahren. In jedem Fall bietet die Rasterstruktur jeder historischen Person beziehungsweise jedem bedeutungsvollen Ereignis der Vergangenheit eine Systemstelle, von der aus sich ein größerer historischer Kontext erschließen lässt. Etwas abstrakter formuliert: Der horizontale Vergleich verschiedener Fakten ist auf derselben Variablen, der vertikale Vergleich zwischen unterschiedlichen Variablen zum selben Zeitpunkt angesiedelt. Der reflektierte Modernisierungsschub in der Historiografie, den BarbeuDubourg bewirken wollte, beruht auf der Kombination von unterschiedlichen Darstellungsverfahren. Nur so konnte sich Barbeu-Dubourg als konsequenter Advokat einer ikonischen Wende in der Geschichtswissenschaft gerieren. Mit seiner Methodenverknüpfung weist sich Barbeu-Dubourg aber auch als Mittler unterschiedlicher Wissenspraktiken aus, ein Selbstauftrag, der für das Zeitalter der Aufklärung charakteristisch ist. Hinweise auf die visuelle Bildungsfunktion der Carte chronographique finden sich in den Rezensionen, aber auch bei BarbeuDubourg selbst, etwa dann, wenn er – in intertextueller Anspielung auf eine Klischeevorstellung – die Geografie und die Chronologie als die zwei „Augen der Geschichte“ bezeichnet, um deren visuelle Qualitäten metaphorisch hervorzuheben.12 Die von Abraham Ortelius stimulierte Metapher von den „deux yeux de l’histoire“, die damals zum Repertoire der Historikersprache gehörte, steht symptomatisch für die Aufwertung des Sehsinns innerhalb der Historiografie im Übergang von 17. zum 18. Jahrhundert.13 Die verstärkte Bedeutung, die 12 Barbeu-Dubourg (s. Anm. 3), S. 4. 13 Christian Zwink: Imagination und Repräsentation. Die theoretische Formulierung der Histo riographie im späten 17. und frühen 18. Jahrhundert in Frankreich, Tübingen 2006, S. 317–327.
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dabei dem Sehen zukam, beschränkte sich nicht auf die in alten Quellen überlieferte Augenzeugenschaft von bedeutenden Ereignissen. Das bildende Sehen diente mehr und mehr der methodischen Fundierung des Geschichtsstudiums. Aufgrund ihrer sich leicht einprägenden Kraft wurden Karten und Tabellen als konstitutiver Bestandteil des Erkenntnisprozesses und der Evidenzbildung eingesetzt und zwar generationsübergreifend. Als Gelehrter wusste auch Barbeu-Dubourg, dass der Wille zum Wissen von Kindesbeinen an gefördert werden musste. In diesem Sinne eröffnete die Carte chronographique neue Spielräume des Lernens. Davon konnten junge Menschen – ausdrücklich beiderlei Geschlechts – profitieren, 3: Erklärung der in der „Carte chronograda sie vielfach keinen Lehrer hatten, der sie in Abb. phique“ verwendeten Zeichen. das Studium der Geschichte einführte.14 Ihnen bot das visuelle Begreifen mithilfe von bildhaftgrafischen Repräsentationen einen idealen Einstieg in das weite Terrain der Geschichte. Den Älteren wiederum halfen die Anschauungsformen beim optimierten Memorieren von historiografischem Grundwissen. Visuelle Aufklärung
Eine hilfreiche Orientierung bei der Navigation durch die Vergangenheit bot ein Symbolsystem, das Barbeu-Dubourg eigens für seine Carte chronographique entwickelt hatte. Gemeint sind jene ikonischen Markierungen, mit denen der Beruf, die Begabung, Eigenschaften oder Schicksalsschläge historischer Figuren auf der Karte angezeigt werden (Abb. 3). Als sinnbildliche Aufladung verleihen sie den Namen und Begriffen eine geradezu emblematische Qualität. Als ein mögliches Vorbild wurde deshalb Cesare Ripas Iconologia in Betracht gezogen, jenes berühmte Handbuch zur Deutung allegorischer Figuren und ihren Attributen, das zunächst ohne Abbildungen 1593 in Rom erschienen war und dann bis ins 18. Jahrhundert zahlreiche illustrierte Auflagen und Übersetzungen, auch 14 Mercure de France, Dez. 1753, S. 103–112, 111.
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ins Französische, erlebte.15 Der Einsatz von Symbolen ist aber nicht auf die Ikonografie oder Kunst allein beschränkt. Als chemische Zeichen, alchemistische Chiffren oder astronomische Sternbilder gehörten Symbole zum festen Bestandteil der Wissensrepräsentation. In der Genealogie kamen Symbole außerdem auch zur moralischen Charakterisierung historischer Personen vor; so Abb. 4: Herrscher des Morgenlandes: Zeichen um die Eigenschaften gleich mehrfach im Atlas Histo jedes Prinzen zu kennen (Detail). In: Atlas Historique, 1708. rique, ou Nouvelle Introduction à l’Histoire, à la Chronologie & à la Géographie Ancienne & Moderne, jenem aufwendig gestaltetem Editionsprojekt, das Anfang des 18. Jahrhunderts in Amsterdam verlegt wurde.16 Anhand von 19 Zeichen wurden hier die unterschiedlichen Qualitäten, Neigungen und Dispositionen zur individuellen Charakterisierung eines jeden Fürsten aufgeführt (Abb. 4). Gemessen am Atlas historique ist das Zeichensystem der Carte chronographique viel differenzierter. Barbeu-Dubourg hat sich nicht auf die Charakterzüge politischer Machthaber beschränkt. Stattdessen versuchte er mit 65 Symbolen eine beachtliche Bandbreite unterschiedlichster Personengruppen zu bestimmen. Alle Stände der Gesellschaft des Ancien Régime waren vertreten: vom Herrscher bis zum Gefangenen, vom Bischof bis zum Gotteslästerer, vom Philosophen bis zum Narren, vom Historiker bis zum Schauspieler. Die kleinen Sinnbilder verleihen der geometrisch gegliederten Fläche auch eine gewisse ornamentale Note (Abb. 5). Ästhetisierung des schlichten Schemas und Moralisierung nüchterner Fakten ergänzen sich. Die Symbole fesseln obendrein das Auge und fungieren als ikonische Wegweiser. Nach Ansicht Barbeu-Dubourgs sollten sie dem Betrachter helfen, mühelos zwischen dem „Gut und Böse“ in der Geschichte unterscheiden zu können.17 Mit 15 Ferguson (s. Anm. 1), S. 198, 211, 226. 16 Aubrey Rosenberg: Nicolas Gueudeville and his Work (1652–172?), Den Haag 1982, S. 79–91, 164–166, 253–259.
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besonderem Blick auf die Jugend wünschte sich ein Kritiker sogar noch mehr: Jeder Betrachter solle neue Symbole zu den Personen eintragen, die ihm in der Karte begegneten – sei es zu seinem Vergnügen, sei es nach eigenem Gutdünken.18 Erst indem die Abb. 5: „Carte chronographique“ (Detail), 1753. Geschichtskarte nach dem individuellen Interessenprofil des Studierenden weiter ausgestaltet wurde, übte sie ihre volle Bildungsaufgabe aus; erst dann fand angewandte Aufklärung statt. Von älteren Chronologie-Tabellen konnte sich Barbeu-Dubourg mit der Carte chronographique dadurch abheben, dass hier buchstäblich alles „zum Auge & zur Einbildungskraft spricht“.19 Anders als bei den historischen Darstellungen von Denis Pétau (Abb. 6), Claude de L’Isle oder Antoine Lancelot, durchweg anerkannte Autoren auf ihrem Gebiet und in ihrer Zeit, spannte Barbeu-Dubourg den monolinearen Erzählfaden der historiografischen Narration zu einem Entwicklungsschema mit synchronoptischer Dimension aus.20 Er antwortete damit auf das explizite Bedürfnis nach Präzision und Kürze, das in Reaktion auf die aufgeblähten Textbände zur Geschichte entstanden war. Ein Blick auf die Karte genüge, so Barbeu-Dubourgs Argumentation, um zu erkennen, dass weitschweifige Abhandlungen überflüssig seien: „Liest man Geschichtsbücher? Wenn man vor sich die Maschine platziert, an dem Jahrhundert geöffnet, das mit der Regentschaft korrespondiert, die man gerade studiert, so sieht man auf einen Blick alle zeitgenössischen Herrscher, die denkwürdigen Ereignisse desselben Jahrhunderts & die Persönlichkeiten, die am würdigsten sind, der
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Barbeu-Dubourg (s. Anm. 3), S. 4. Mercure de France (s. Anm. 14), S. 107, 111. Barbeu-Dubourg (s. Anm. 3), S. 8. Denis Pétau: Abregé chronologique de l’Histoire universelle sacrée et profane. Nouvelle Edition continuée jusqu’à présent, 5 Bde., Paris 1715; Claude de L’Isle: Tables généalogiques et historiques des patriarches, des rois, des empereurs et des autres princes […], Paris 1718; ders.: Historique: Abregé de l’Histoire universelle, hrsg. v. Antoine Lancelot, 7 Bde., Paris 1731
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Nachwelt in Erinnerung zu bleiben.“21 Doch war die topologische Anordnung des Geschichtsstoffs nicht alles. Barbeu-Dubourg hatte einen mechanischen Apparat entwickelt, um die Carte chronographique zu einer genuinen ChronologieMaschine aufzurüsten. Kinematografische Sehmaschine
Der ausgeklügelte Mechanismus, der BarbeuDubourgs Chronologie-Maschine zugrunde liegt, beruht darauf, dass das Papierband mit Hilfe von Metallkurbeln über zwei Holzzylinder in horizontale Bewegung versetzt werden kann. Mit Hilfe der von Hand betätigten Kurbeln wird die Karte von der einen Trommel abgespult und von der anderen gleichzeitig wieder aufgerollt. Dieser Prozess funktioniert sowohl vorwärts als auch Abb. 6: Denis Pétau: Table chronologique de rückwärts. Da der Abstand zwischen den Troml’Histoire universelle, 1715. meln, also der sichtbare Ausschnitt des Bildfeldes, mit etwa fünfunddreißig Zentimetern Breite stets konstant bleibt, verändert sich mit der Bewegung der Karte nur das Zeitfenster. Der Zeitrahmen von rund hundertfünfzig Jahren bleibt indessen fix. Die Universalgeschichte läuft so nie Gefahr in eine chronologische Totale auszuufern. Der Effekt, den die sukzessiv vorbeiziehende Datenlandschaft erzielt, kann durchaus als kinematografisch beschrieben werden. Der Mechanismus, den Barbeu-Dubourg lange vor der Erfindung des Films einsetzte, um durch optische Effekte Aufmerksamkeit und Spannung beim Betrachter zu erzeugen, hatte allerdings konkrete Vorbilder. Barbeu-Dubourg griff auf die bewährten Aufbewahrungspraktiken für großformatige Grafiken zurück; diese wurden aus konservatorischen Gründen aufgerollt.22 Mit dieser gleichermaßen simplen wie sicheren Technik ließen sich Knicke oder Brüche im Papier für lange Zeit vermeiden – für Barbeu-Dubourg unumgängliche Voraussetzung dafür, dass der chronografische Datenfluss nicht ins Stocken geriet. 21 Barbeu-Dubourg (s. Anm. 3), S. 13. 22 Mercure de France (s. Anm. 14), S. 107f.
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Die Chronologie-Maschine musste reibungslos funktionieren. Erst wenn diese Voraussetzung erfüllt war, konnte sich die ermüdende Chronologie in eine lebendige Chronografie verwandeln, erst dann wurde aus einer so „spröden“, so „langweiligen“ und so „mühseligen“ Faktenwissenschaft, wie jene der Zeitkunde, eine unterhaltsame Wissenschaft. Die affektive Umschichtung war geglückt, wenn Schaulust und Wissensdrang zur Deckung gelangten.23 Barbeu-Dubourg setzte auf das mechanische Visualisierungsverfahren, um die Inspiration zu beflügeln, und er nutzte die optischen Möglichkeiten des Geräts, um die Geschichte mit wenigen Worten zur Geltung zu bringen. Von der Hand des Betrachters angetrieben, versetzt die schlichte, mitunter merklich raschelnde Chronologie-Maschine diesen in einen Art Geschichtsrausch. Im visuellen Fließen können Einsichten am laufenden Band generiert werden. Auf dem sich langsam bewegenden Kartenbild – Barbeu-Dubourg sprach von „tableau mouvant & animé“ – ziehen die vergangenen Epochen, die einstigen Herrscher und deren Zeitgenossen proportional zu ihrer Dauer, Regentschaft oder Lebensspanne an den Augen des Betrachters vorbei, ohne dass dieser große Mühe aufwenden müsste, um sie zu studieren. Das Visuelle, das Haptische und auch das Akustische werden als didaktische Mittel eingesetzt, um Erkenntnisse über unterschiedliche Sinneskanäle zu verdichten. Die denkwürdigen Fakten sprächen derart die Sinne an, so Barbeu-Dubourgs tiefe Überzeugung, dass sie gleichsam von selbst unvergesslich würden, indem sie sich dem Gedächtnis nachhaltig einprägten. Erklärter Endzweck war es, „gleichsam mechanisch zu lernen und ohne viel darüber nachzudenken“.24 Es ist dieses von der Sehmaschine erzeugte Spannungsverhältnis aus Spiel und Arbeit, aus Vergnügen und Wissen, das Barbeu-Dubourg viel Lob eintrug. Peu à peu führt das Objekt der fröhlichen Wissenschaft den Betrachter an die geschichtlichen Fakten heran, ohne dass dieser den wachsenden Informationsdruck zu spüren bekommt. Die Leichtigkeit, mit der hier Lernerfolge erzielt werden sollten, bewog nicht zuletzt den Mercure de France, von einer vollkommen neuen Art „wissenschaftlicher Maschine“ zu sprechen.25 23 Zur Medienarchäologie der Sehmaschine unter kinematografischen Gesichtspunkten vgl. Nike Bätzner, Werner Nekes, Eva Schmidt (Hg.): Blickmaschinen oder wie Bilder entstehen, Köln 2008; Bodo von Dewitz, Werner Nekes (Hg.): Ich sehe was, was du nicht siehst! Sehmaschinen und Bilderwelten. Die Sammlung Werner Nekes, Köln 2002. 24 Barbeu-Dubourg (s. Anm. 3), S. 8. 25 Mercure de France (s. Anm. 14), S. 104.
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Die Chronologie-Maschine bot ein kleines, visuelles Spektakel und befriedigte damit die Sehlust. Mit dem verweilenden und dem flüchtigen Blick und der Lust, mit der linearen Lesegewohnheit zu brechen, wurde die historiografische Vergangenheit neu erfahrbar gemacht. Der Betrachter sollte gleichsam mit dem Finger auf der Karte kreuz und quer durch die Geschichte reisen.26 Dabei konnte er die diachrone Abfolge mit ihren Zwischenstufen studieren oder synchronen Überschneidungen Beachtung schenken. Stets verwandelte sich die didaktische Sehmaschine in eine veritable Zeitmaschine. Das laufende Textbild schuf unentwegt Anreize, sich mit den überraschenden Veränderungen und Konstellationen in der Historie auseinanderzusetzen. Es gehörte zur Darstellungsstrategie der Carte chronographique, die Geschichte von vorne nach hinten oder umgekehrt, von hinten nach vorne, studieren zu können. Sie erlaubte, das irreversible Zeitgerüst, auf dem Geschichtsdarstellungen gemeinhin beruhen, in ein umkehrbares Denkmodell zu überführen. Der Benutzer konnte seinen Erkenntnisinteressen intensiv, vor allem aber aktiv nachgehen, denn er steuerte die Geschwindigkeit und in der Folge die Dauer und Intensität seiner Lektüre selbst. Auf diese Weise schlug die Unterhaltungskunst unversehens in eine visuelle Lerntechnik um. Das Bild des selbstständig Studierenden, das BarbeuDubourg vor Augen schwebte, fügte sich in den intellektuellen Prozess der Aufklärung. Den Weg aus der selbstverschuldeten Unwissenheit zeichnete die Carte chronographique didaktisch-diagrammatisch vor. Die Idee des interaktiven Users war geboren. 26 Barbeu-Dubourg (s. Anm. 3), S. 13.
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Die Kunst, Technik zu vermitteln. Zur Bilddidaktik des Computers bei Charles und Ray Eames 1971 eröffnete im IBM Corporate Exhibit Center in New York unter dem Titel A Computer Perspective eine Ausstellung zur Computergeschichte, die das Design büro von Charles und Ray Eames gestaltet hatte und die bis 1975 zu sehen blieb.1 Neben historischen Rechenmaschinen, Installationen und einer Diashow bildete das zentrale Ausstellungselement die sogenannte History Wall (Abb. 1), eine wandfüllende Zeitleiste, welche die Geschichte des Computers in einzelnen Dekaden von 1890 bis 1940 präsentierte. Sie setzte sich aus sich überlagernden Schichten von Objekten, rechteckigen Text- und Bildtafeln zusammen, die ein auf den ersten Blick verwirrendes Gesamtbild ergaben, dessen tiefenräumliche Zusammensetzung sich aus der Ferne kaum erfassen ließ. Für den Betrachter entstand eine zwar orthogonal ausgerichtete, aber schier undurchdringliche Collage scheinbar voreinander schwebender Elemente. Bei der vom Fußboden bis zur Decke reichenden Präsentation handelte es sich um eine vorne mit Glas abgeschlossene Vitrine, die in mehreren Ebenen aufgebaut war (Abb. 2). Auf der Rückwand waren Dokumente, Texte und Bilder sowie Konsolen für Objekte angebracht. Weitere Exponate waren in unterschiedlichen Abständen zur Wand an einer Vielzahl von Trägern montiert, wodurch die Elemente auf verschiedensten Tiefenebenen präsentiert wurden und optische Überlagerungen entstanden. Auf die nach vorne abschließenden Glasscheiben dieses Displays waren weiße Linien, Pfeile und Rechtecke aufgeblendet, welche Zitate, Erläuterungen und Informationen zu der im Hintergrund befindlichen Collage enthielten und die Themen kapitelartig bündelten, um den Betrachter von links nach rechts zu leiten.2 Während diese diagrammatische Struktur, die an einen Schaltplan erinnert, eine gewisse visuelle Orientierung für den Betrachter schuf, blieb der Gesamteindruck jedoch unsystematisch und war geprägt von einem ungeordneten Feld aufeinander wirkender Kräften.
1 The office of Charles and Ray Eames: A Computer Perspective. Background to the Computer Age. New Edition, Cambridge, Mass./London 1990 (zuerst 1973); John Neuhart, Marilyn Neuhart, Ray Eames: Eames Design. The Work of the Office of Charles and Ray Eames, New York 1989, S. 366–369; Pat Kirkham: Charles and Ray Eames: Designers of the Twentieth Century, Cambridge, Mass. 1995, S. 300–302; John Harwood: The Redesign of Design: Multinational Corporations, Computers and Design Logic, 1945–1976, Ph.D. dissertation, Columbia University, 2006, S. 347–358. Harwood diskutiert v.a. das bislang nicht bildlich publizierte „Communications Rack“, eine Installation, die ein Computersystem simuliert. 2 Abbildung 2 zeigt eine Ansicht der tatsächlichen Ausstellungssituation, während in Abbildung 1 die vorderste Glasschicht nicht mitaufgenommen ist.
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Abb. 1: Charles und Ray Eames, frontale Ansicht der History Wall in der Ausstellung „A Computer Perspective“ (Detail), IBM Corporate Exhibit Center, New York, 1971.
„A Computer Perspective“
Über den visuellen Effekt dieser überbordende Fülle auf den Betrachter wird berichtet, dass „[…] as the visitor moved along the wall, the objects appeared and disappeared from view in a constantly shifting display. Complex to mount and to read, the wall […] required a willingness to become involved and a reasonable amount of concentration from the viewer“.3 Der Betrachter wurde durch die spezifische Art der Anordnung des Ausstellungsdisplays herausgefordert, aktiv zu werden und sich stets neue Standpunkte zu suchen, um jeweils den Blick auf ein Detail beziehungsweise eine bestimmte Information aus dem je nach Betrachterstandpunkt stets neu konfigurierten, dynamisierten Gesamtbild zu richten. Durch das Arrangement der Teile konstruierten die Eames ein interaktives Spiel zwischen Display und Betrachter, das sich im stets neuen Zusammenspiel der Teile, je nach Blickwinkel des Betrachters, aus neuen relationalen
3 Neuhart, Neuhart, Eames (s. Anm. 1), S. 369.
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Abb. 2: Charles und Ray Eames, seitliche Ansicht der History Wall in der Ausstellung „A Computer Perspective“, IBM Corporate Exhibit Center, New York, 1971.
Ent- und Verdeckungen ergab. In eben diesem Moment der Interaktion des Betrachters mit dem ungewöhnlich arrangierten Bildraum des Displays lag die spezifische Intention des eamesschen Präsentationskonzeptes. So wird in der die Ausstellung begleitenden Publikation betont: „The Eames philosophy was that an exhibit on the origins and development of the computer demanded bold new techniques of communication.“4 Die bildnerische Vermittlungsstrategie der Designer suchte nach einer dem Computer und dessen Entwicklung entsprechenden neuartigen Kommunikationsform. Die nach Ansicht der Eames angemessene Präsentationsform der „Information Machine“,5 ihrer Geschichte und ihrer Funktionsprinzipien, bildete dabei ein auf Interaktivität, auf die Aktivierung des Betrachters zielendes Ausstellungsdisplay.
4 I. Bernard Cohen: Introduction. In: The office of Charles and Ray Eames (s. Anm. 1), S. 5. 5 Die über der History Wall angebrachte Überschrift lautete: „A Sequence of 20th Century Ideas, Events, and Artifacts from the History of the Information Machine“.
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Damit steht die Präsentationsweise in technikhistorischer Hinsicht in deutlichem Kontrast zum Inhalt des Gezeigten. Denn in der Phase der Computergeschichte von 1890 bis 1940, die auf den Paneelen der History Wall präsentiert wurde, kann in Bezug auf den Computer noch nicht von Interaktivität zwischen Mensch und Maschine im unmittelbar responsiven Sinn des heutigen Verständnisses gesprochen werden. Vielmehr wurde in der Ausstellung, angefangen mit Holleriths auf Lochkarten basierenden Tabelliermaschine bis hin zu frühen Großrechneranlagen wie dem ENIAC aus den 1940er Jahren, jene Entwicklungsphase des Computers vorgestellt, die nach dem Eingabeschritt langwierige Rechenoperationen bis zur Ausgabe eines Ergebnisses nach sich zog. Zugleich wurden mit den gezeigten Stationen die Fundamente der von IBM monopolhaft dominierten Entwicklungsphase des Computers als Rechenmaschine vor Augen geführt,6 die im New Yorker Ausstellungsraum mit aktuellen Rechnermodellen von IBM der 1960er Jahre wie dem System/360, das jedoch ebenfalls noch der Ära der ‚nicht-interaktiven‘ Mainframes angehört, argumentativ ergänzt wurden.7 Darüber hinaus hob sich die für die Geschichte des Computers gefundene Präsentationsform mit ihren schier undurchdringlichen Überlagerungen deutlich von der Formensprache jenes Teils des Œuvres der Designer ab, welcher der Vermittlung von technischen und naturwissenschaftlichen Themen in Ausstellungen und Filmen gewidmet war. Bereits zehn Jahre vor A Computer Perspective hatten die Eames das Konzept einer History Wall für die Ausstellung Mathe matica entwickelt, die 1961 für das California Museum of Science and Industry in Los Angeles entstand (Abb. 3).8 In der hierfür gestalteten Zeitleiste finden sich Bilder und Texte als Balkendiagramme unter den Registern einzelner Jahrhunderte in diagrammatischer Form nebeneinander angeordnet und lassen den Betrachter die Entwicklung als Fluss der Ereignisse systematisch strukturiert und auf einen Blick erfassen. In ebenso übersichtlicher Form drückte sich diese Vermittlungsstrategie in den zahlreichen, von Beatriz Colomina beschriebenen
6 Zur Geschichte von IBM siehe Emerson W. Pugh: Building IBM. Shaping an Industry and Its Technology, Cambridge, Mass./London 1995; allgemein zur Computergeschichte: Paul E. Ceruzzi: A history of modern computing, 2. Aufl., Cambridge, Mass. u.a. 2003. 7 Zum IBM System/360 und der mit ihm einhergehenden Problematik bei der Erstellung seiner Systemsoftware OS/360, die mit zum Auslöser der sogenannten Softwarekrise wurde, siehe Pugh (s. Anm. 6), S. 263–300. 8 Neuhart, Neuhart, Eames (s. Anm. 1), S. 254–259; Kirkham (s. Anm. 1), S. 296–299.
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filmischen Multi-Screen-Präsentationen der Eames aus, in denen die einzelnen Bild- beziehungsweise Bildschirm-Felder tableauartig nebeneinander angeordnet wurden, um simultane Seheindrücke zu schaffen.9 Indem sich die Eames in der History Wall von 1971 bewusst von dieser Darstellungskonvention abwendeten und sich für überlagernde Display-Struk- Abb. 3: Charles und Ray Eames, Ansicht der History Wall in der turen entschieden, setzten sie Ausstellung „Mathematica: A World of Numbers … and Beyond“, sich von jener Seherfahrung ab, California Museum of Science and Industry, Los Angeles, 1961. die dem Betrachter von einem Standpunkt aus ermöglichen sollte, einen Gegenstand visuell zu erfassen. A Computer Perspective warf somit einen neuartigen, nicht-perspektivischen Blick auf die Geschichte des Computers. In der Betonung der Interaktivität, die das Verhältnis zwischen Betrachter und Display in der Ausstellung, jedoch nicht den in der Ausstellung inhaltlich vorgestellten Stand der Technik charakterisiert, erwies sich A Computer Perspec tive zugleich als perspektivisch im visionären Sinne. Denn wenngleich sich die Interaktivität des Computers nicht in den Inhalten der Ausstellung spiegelte, so inkorporierten die Eames hier atmosphärisch jene Entwürfe und Visionen der Interaktivität des Computers, wie sie seit den 1960er Jahren etwa von J. C. R. Licklider geäußert wurden.10 In Lickliders manifestartigen Forderungen nach der Interaktvität des Computers wurde gerade dem Display, als technologischem Bestandteil und bildlichem Interface des Computers, die Schlüsselrolle für eine gelingende, symbiotische Mensch-Maschine-Interaktion zugeschrieben.
9 Beatriz Colomina: Enclosed by Images: The Eameses’ Multimedia Architecture. In: Grey Room, Bd. 2, 2001, S. 6–29. Colomina diskutiert die Multiscreen-Präsentationen der Eames inbesondere vor dem Hintergrund medialer Konfigurationen sogenannter War Rooms. 10 J. C. R. Licklider: Man-Computer Symbiosis. In: IEEE Transactions on Human Factors in Electronics, HFE-1, März 1960, S. 4–11; vgl. Jörg Pflüger: Konversation, Manipulation, Delegation. Zur Ideengeschichte der Interaktivität. In: Hans Dieter Hellige (Hg.): Geschichten der Informatik. Visionen, Paradigmen, Leitmotive, Berlin/Heidelberg/New York 2004, S. 367–408.
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In der eamesschen Aus stellungsgestaltung zur Computergeschichte durchdrangen sich hypothesenhaft die beiden Seiten des Begriffs des Displays, seine technologi sche und museal-ausstellerische Facette. Auf der Suche nach Abb. 4: Charles und Ray Eames, Shannons Kommunikationsmodell aus „A Mathematical Theory of Communication“ von 1948, Filmstill aus „bold new techniques of comdem Film „A Communications Primer“, 1953. Zugleich Teil der experimunication“ für die Vermittmentellen Unterrichtsstunde „A Rough Sketch for a Sample Lesson for a Hypothetical Course“/„Art X“, University of Georgia, Athens, 1953. lung des Computers fanden die Eames ein Äquivalent zwischen den im Entstehen begriffenen, computertechnischen Interaktionsformen und der Art der Ausstellungspräsentation: Um den Betrachtern ein Gefühl für das neue Medium zu vermitteln, entwickelten sie eine spezifische Art der Anordnung der Exponate und stellten ein interaktives Display in das Zentrum ihrer Interpretation des Computers. Sehen Lernen
Die Beschäftigung mit der Vermittlung und damit Popularisierung des Computers durch die Eames lässt sich bis zu einem frühen Film des Designerpaares zurückverfolgen, der erstmals die Funktionsweisen der „Information Machine“ im Rahmen des shannonschen Kommunikationsmodells thematisiert. Ausgehend von einer farbigen und leicht modifizierten Animation von Shannons Diagramm des Kommunikationssystems aus A Mathematical Theory of Communication (Abb. 4, Tafel 2) entfaltet der 20-minütige Farbfilm A Communications Primer von 195311 eine ausschweifende Formensprache, welche die zentralen Begriffe aus Shannons Theorie wie Rauschen, Redundanz, binäre Entscheidungsstrukturen, Rückkoppelung etc. darlegt und in alltägliche Zusammenhänge überträgt, um sie schließlich als Mechanismen des Computers zu erläutern. Das thematische Spektrum wie auch die formschöpfende Interpretation der Eames geht dabei 11 Neuhart, Neuhart, Eames (s. Anm. 1), S. 182f. Vgl. die Ähnlichkeit der linearen diagrammatischen Formensprache auf der Glasfront der History Wall von „A Computer Perspective“ der Eames mit der Gestalt von Shannons Diagramm, siehe Claude E. Shannon: A Mathematical Theory of Communication. In: The Bell System Technical Journal, Bd. XXVII, Nr. 3, Juli 1948, S. 379–423, hier: S. 381, Fig. 1.
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weit über die eigentliche Theorie Shannons, im Sinne der streng mathematischen Kommunika tionstheorie, hinaus, wenn etwa die sprachliche Übertragung einer Liebeserklärung im Satz „I Love You“, die in der animierten Sequenz ihren Ausgangspunkt in Abb. 5: Charles und Ray Eames, George Nelson, Alexander Girard, Form eines Herzens im Gehirn Gesamtansicht der Display-Installation der experimentellen „A Rough Sketch for a Sample Lesson for a des ‚Senders‘ nimmt, bis hin UHnterrichtsstunde ypothetical Course“/„Art X“, University of Georgia, Athens, 1953. zum Kuss in all ihren Implikationen der shannonschen Begriffe erläutert wird. Der Film A Communications Primer war Teil eines pädagogischen Experiments, an dem die Eames 1953 unter der Leitung des Designers George Nelson und unter Beteiligung von Alexander Girard teilnahmen. Für die University of Georgia entwickelten sie gemeinsam eine experimentelle Unterrichtsstunde zum Thema Kommunikation, der die Eames den Titel A Rough Sketch for a Sample Lesson for a Hypothetical Course gaben und die von Nelson als Art X bezeichnet wurde.12 Dabei sollte es weniger um singulär fachspezifische Wissensvermittlung als vielmehr um die Vermittlung von übergreifenden kommunikativen Phänomenen und die Erprobung medialer Mittel zur Standardisierung und zeitlichen Effizienzsteigerung des Unterrichts gehen. Das Ergebnis der Überlegungen von Nelson, Girard und den Eames bildete eine multimediale Präsentation, deren Hauptcharakteristika verschiedene mediale Bildanordnungen und assoziative Bild- und Formvergleiche darstellten. Die Fotografie des Vortragssaals (Abb. 5) gibt Einblick in die Struktur der Sample Lesson und ihrer Präsentationsformen: Im Vordergrund war eine angeschrägt aufgestellte Ausstellungswand zu sehen, die in Tableau 12 Die „Sample Lesson“ wird mehrfach, etwa auch an der UCLA, aufgeführt. Neuhart, Neuhart, Eames (s. Anm. 1), S. 176f.; Kirkham (s. Anm. 1), S. 317–320; vgl. die von und über George Nelson publizierte Literatur, die auf dasselbe Projekt unter dem Titel „Art X“ rekurriert: George Nelson: Art X = The Georgia Experiment. In: George Nelson: Problems of Design, 2. Aufl., New York 1965, S. 14–26; Stanley Abercrombie: George Nelson. The Design of Modern Design, Cambridge/London 1995, S. 142–149; Jochen Eisenbrand: Die Macht der Bildung und der Bilder: Lektionen in vernetztem Denken. In: Alexander Vegesack, Jochen Eisenbrand (Hg.): George Nelson. Architekt, Autor, Designer, Lehrer, Ausst.kat. Vitra Design Museum, Weil am Rhein 2008, S. 169–182.
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Form Bilder in unterschiedlicher Größe mit verschiedensten Motiven aufwies, darüber war eine weiße Leinwand angebracht, auf welcher Filme und Dreifachprojektionen von Dias gezeigt wurden, sowie an den Seiten des Vortragssaals weitere einzelne Tafeln mit Bildmotiven. In dieser räumlichen Konfiguration wurden den Betrachtern nacheinander ein einleitender Film von George Nelson zum Thema Kommunikation, eine Diaschau zu visueller Kommunikation, der erste, Communications Process betitelte Teil des Films A Communications Primer, eine Dreifachprojektion zum Thema Abstraktion, Ausschnitte aus den Filmen La Let tre und The animated calligraphy of sound, ein Dokumentarfilm über Ägypten und abschließend der zweite Teil von A Communications Primer der Eames unter dem Titel Communications Method vorgeführt.13 Dabei basierten alle Bestandteile auf Aspekten, die mit der auf Shannon beruhenden Informationstheorie eingangs vorgestellt und so in verschiedene Richtungen vertieft wurden. Das assoziative Vorgehen der Designer in den einzelnen Modulen hinsichtlich der Verknüpfung von Bildmotiven und Formen zeigt sich exemplarisch in George Nelsons mit Abstraction titulierter Dreifachprojektion, die von einer Erzählstimme beziehungsweise Audioeinspielungen begleitet wurde (Abb. 6). In ihr entfaltete sich, ausgehend von der Einzelansicht eines abstrakten Stilllebens von Pablo Picasso, ein Kaleidoskop an visuellen Thesen, die durch Bildvergleiche hergestellt wurden: Von Picassos Bild sprang der Film zu einer diagrammatischen Kartenansicht Londons, die von der Erzählstimme als ebenfalls abstrakte Form vorgestellt wurde. In vergleichenden Dreifachprojektionen folgten weitere Kartendarstellungen Londons, die in Form von U-Bahn-Routen, Parkplatzstandorten etc. jeweils verschiedene Daten visualisierten. Während die Stimme betonte, dass sich je nach zugrunde liegender Information das jeweilige Bild ergeben und verändern würde, zoomte die Kamera in die einzelnen Darstellungen, bis nur noch wenige, abstrakt wirkende Farbpunkte zu sehen waren. Von hier aus folgte ein Schwenk zu einer entfernten Ansicht der Kathedrale Notre-Dame in Paris, die ebenso als ein Beispiel von Abstraktion beziehungsweise als das Resultat jahrhundertelanger Filterungsprozesse gedeutet wurde. Aus dieser Einzelansicht entwickelte sich eine Dreifachprojektion, die den Betrachter mit simultanen Innen- und Außenansichten der Kirche konfrontierte. Und während begleitend Orgelmusik eingespielt wurde, kam schließlich die Nahansicht eines Glasfensters ins Bild und Weihrauchduft durchströmte den Vortragssaal. 13 Siehe v.a. die Zusammenschau mit Bildbeispielen in Nelson: Art X (s. Anm. 12), S. 20–26.
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In diesem etwa vier Minuten dauernden Fragment der Präsentation wechselten sich rhythmisch in schneller Folge Einzelund vergleichende Mehrfachansichten ab, die dem Betrachter motivische und mediale, assoziative Formvergleiche technischer wie künstlerischer Bilder vorführten. Nelson betonte neben der Schnelligkeit, die durch audio-visuelle Methoden bei der Vermittlung von Wissen erreicht werden könnte, vor allem die Möglichkeiten, neue Verbindungen von Themen zu schaffen: „[…] what may be even more significant is the extraordinary force with which it can be used to relate idea and concepts.“ In der Kompetenz, Relationen zu erfassen, lag für ihn das oberste Ausbildungsziel. Der didaktische Anspruch universitärer Ausbildung dürfte nicht länger in der Vermittlung von Spezialwissen liegen. Vielmehr wäre Exzellenz und hieraus abgeleiteter Führungsanspruch das Resultat des Vermögens, transdisziplinäre Verknüpfungen herzustellen: „The success of leadership […] depends to an ever-increasing extent on comprehension of these relationships. […] Superior performance as a specialist is no longer enough.“14 Mit ihrem pädagogischen Experiment machten George Nelson und Charles Eames deutlich, dass sich diese Verknüpfungskompetenz aus einem v isuellen 14 Nelson: Art X (s. Anm. 12), S. 17.
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Abb. 6: George Nelson, als Tableau gestaltete Teilansicht der Dreifach-Diaprojektion zum Thema „Abstraction“ der experimentellen Unterrichtsstunde „A Rough Sketch for a Sample Lesson for a Hypothetical Course“/ „Art X“, University of Georgia, Athens, 1953 (hier aus einem Artikel zu „Art X = The Georgia Experiment“ von George Nelson, 1954).
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Training ergeben würde, das mit spezifischen Arten der Bildanordnung operiert. So schlossen sie an einen pädagogischen Topos des Lernens und Vermittelns an, wie er mit den Tableaus der Bildenzyklopädien des 18. Jahrhunderts verbunden ist.15 In Form von Bilderreihungen Abb. 7: Johann Peter Voit: Schauplatz der Natur und Künste, wurden die Übersichtstafeln zu Frontispiz, Wien, c. 1774. Lehrinstrumenten, die der Veranschaulichung und Memorierung von Wissen dienten. Die Erkenntnis ergab sich hierbei nicht (allein) aus dem einzelnen Bild, sondern aus dem Zusammenspiel der Bildteile als einer Schule des vergleichenden Sehens. Dabei fungierten die Bildtableaus als wesentliches Instrument bei der Erziehung des Kindes. So ging es etwa in Johann Siegmund Stoys Bilder-Akademie für die Jugend von 1784 vor allem darum, eine Systematik des Wissens zu vermitteln.16 Gemäß dem enzyklopädischen Anspruch der Akademie, sämtliches Wissen zusammenzufassen, wurde in den Tableaus das Wissen visuell summarisch zusammengezogen und erschien tabellarisch klassifizierbar und in relativ strenger Ordnung. Das Frontispiz von Johann Peter Voits pädagogisch-enzyklopädischer Schrift Schauplatz der Natur und Künste (Abb. 7) zeigt den Unterricht eines jungen Mannes, der vor einem Wandtableau steht und dabei von einem Älteren unterwiesen wird, während im Vordergrund ein Knabe an einem Mikroskop arbeitet. Das hochrechteckige Tableau links weist gleichgroße Bildfelder auf, die fein gerahmt sind. Während es hier insbesondere darum geht, anhand eines statischen Ordnungsgefüges und mithilfe der Gedächtniskunst die Inhalte und Zusammenhänge einer Systematik zu verinnerlichen, führt die assoziative und dynamische Anordnung der Projektionen und Displays der Sample Lesson weniger zur systematischen Aneignung von Wissen als vielmehr zu visuellen Hypothesen und inspirativen Fragestellungen über Klassifizierungsgrenzen hinweg.17 15 Anke te Heesen: Verbundene Bilder: Das Tableau in den Erziehungswissenschaften des 18. Jahrhunderts. In: Hanno Schmitt, Jörg W. Linke, Frank Tosch (Hg.): Bilder als Quellen der Erziehungsgeschichte, Bad Heilbrunn 1997, S. 77–90. 16 Anke te Heesen: Der Weltkasten. Die Geschichte einer Bildenzyklopädie aus dem 18. Jahrhundert, Göttingen 1997.
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Abb. 8: George Nelson, Ansicht einer als Tableau gestalteten Doppelseite aus dem Band „How to See“, 1973.
Bei allen Unterschieden zwischen den systematischen Tableaus des 18. Jahrhunderts und den assoziativen Bildanordnungen der Sample Lesson verbindet beide Vermittlungsstrategien jedoch nicht nur die Methodik des vergleichenden Sehens. Vielmehr wird in beiden Fällen der Kern der pädagogischen Arbeit nicht allein in den relationalen Bildinhalten, sondern in der Schulung des Sehens selbst ausgemacht. Im 18. Jahrhundert kreisten die pädagogischen Debatten um Tableaus darum, mit ihrer Hilfe „richtiges Wahrnehmen“ zu lehren.18 Und dieser Grundgedanke einer visuellen Erziehung findet sich in den Überlegungen von Charles Eames und George Nelson wieder. Dies drückt sich vor allem in Nelsons Band How to See von 1973 aus, der als ‚visuelle Studie‘ ursprünglich im Auftrag der Social Security Administration des U.S. Department of Health, Education and Welfare angefertigt wurde und später in mehreren Auflagen wiederaufgelegt wurde.19 Der Bildband stellt in zahlreichen Tableaus thematisch gebündelt Motive zusammen, um das Auge des Betrachters darin zu schulen, Differenzen und Gemeinsamkeiten visuell zu erfassen. Dabei werden in einem Seh-Leitfaden 17 Zu Fragen von Bildanordnungen und mit ihnen einhergehenden unterschiedlichen Argumentationsprinzipien siehe Margarete Pratschke: Bildanordnungen. In: Horst Bredekamp, Birgit Schneider, Vera Dünkel (Hg.): Das Technische Bild. Kompendium zu einer Stilgeschichte wissenschaftlicher Bilder, Berlin 2008, S. 116–119. 18 te Heesen: Verbundene Bilder (s. Anm. 15), S. 85–87. 19 George Nelson: How to see, hg. v. U.S. Department of Health, Education, and Welfare. Social Security Administration, DHEW Publications No. (SSA) 73–10063, (o.O.) May 1973; anschließend ausgearbeitet in zwei Ausgaben mit unterschiedlichen Untertiteln: George Nelson: How to See. A Guide to Reading Our Manmade Environment, Boston 1977; George Nelson: How to See. Visual Adventures in a World God Never Made, Boston 1977.
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immer wieder Motive unterschiedlicher Provenienz aus Wissenschaft, Kunst, Alltagssituationen oder Design und aus verschiedenen zeitlichen Kontexten einander gegenübergestellt, um assoziativ formale und motivische Parallelen oder Gegensätze hervorzuheben (Abb. 8). Im Training des Sehsinns anhand assoziativer Tableaus sah Nelson gleichermaßen einen Akt kognitiver Schulung, denn für ihn war klar, dass Sehen und Verstehen als anschauliches Denken miteinander verbunden waren, dass „[…] seeing is as much in the mind as in the eye“.20 Schon vor der Publikation von How to See und ehe das Experiment der Sample Lesson durchgeführt wurde, beschäftigte sich Nelson mit der grundsätzlichen Frage des Sehen Lernens, suchte nach Möglichkeiten einer „enlargement of vision“21 und fragte danach, „[…] how can one learn to see the world […]“.22 Seine Überlegungen machen immer wieder deutlich, dass es die relationalen Bildanordnungen und Display-Formen sind, die für ihn zentrale Medien dieser Schule des Sehens bildeten, um den neuen dynamischen Wahrnehmungsweisen der Welt gerecht zu werden: „The modern way of seeing things starts with the assumption of a dynamic rather than a static situation, and it proceeds from the assumption to a growing understanding that relationships can take us closer to the truth about things than the things themselves.“23 In Bezug auf die Sample Lesson hob Charles Eames hervor, dass es im universitären Kontext darum gehen müsste, eine „language of vision“24 zu vermitteln. Die hierfür von den Eames, Nelson und Girard gefundene visuelle Sprache formulierte spezifische Formen der Bildanordnung, die sich über Disziplingren 20 Nelson: How to see, 1973 (s. Anm. 19), S. 15. Vgl. dazu: Rudolf Arnheim: Visual Thinking. In: Gyorgy Kepes (Hg.): Education of Vision, New York 1965, S. 1–14; Rudolf Arnheim: Visual Thinking, Berkeley/Los Angeles/London 1969. 21 Vortrag am American Institute of Architects, Detroit, 22. März 1951, siehe: George Nelson: The Enlargement of Vision. In: George Nelson: Problems of Design, 2. Aufl., New York 1965 (1957), S. 58–74. 22 Nelson: The Enlargement of Vision (s. Anm. 21), S. 64. 23 Nelson: The Enlargement of Vision (s. Anm. 21), S. 67. Vgl. den im Jahr der „Sample Lesson“ von Nelson veröffentlichten Band zur Geschichte und Theorie von AusstellungsdisplaySystemen: George Nelson: Display, New York 1953; dazu grundsätzlich seine zahlreichen Ausstellungsgestaltungen: Abercrombie (s. Anm. 11), S. 151–183. 24 „The original ‚Rough Sketch‘ was intended to demonstrate the importance of using the language of vision in the university […]“, Charles Eames: Language of Vision: The Nuts and Bolts. In: Bulletin of the American Academy of Arts and Sciences, Bd. 28, Nr. 1, Oct. 1974, S. 13–25, hier: S. 14; vgl. den gleichnamigen Band: Gyorgy Kepes: Language of Vision, Chicago 1944.
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zen hinwegsetzten. Während in der Sample Lesson die nebeneinandergestellten Anordnungen den Rahmen für die erstmalige Vermittlung von Computer mechanismen durch die Eames bildeten, trieben die Designer dieses didaktische Prinzip in A Computer Perspective von 1971 in den sich überlagernden Strukturen zu einer neuen visuellen Sprache weiter. Hierdurch vermittelten sie nicht nur die Inhalte der Computergeschichte, sondern eine neue Art des Sehens, die es nicht mehr von einem festen Betrachterstandpunkt aus erlaubte, erfasst und verstanden zu werden. In der Perspektive, der Blickführung durch die Art der Anordnung der Informationen zur Computergeschichte, lag die Botschaft des Displays als Sehschule. Displays – Computer und Ausstellungen als Learning Environments
Parallel zu den didaktischen Experimenten zum Sehen und zu Ausstellungsdisplays für Computerthemen durch Designer stellten auch Computerindustrie und Grundlagenforschung zur Computertechnik Überlegungen zur Frage des Lernens mit je sehr unterschiedlichem Fokus an, die aber dem Visuellen jeweils eine zentrale Position einräumten. Der Computerkonzern IBM, für den die Eames 1971 die Ausstellung A Computer Perspective entwickelten, hatte sich während der 1960er Jahre zunehmend darum bemüht, mögliche neuartige Felder der Computernutzung zu erschließen. Vor diesem Hintergrund förderte und organisierte IBM nicht nur Ausstellungen, die der Vermittlung naturwissenschaftlicher und technischer Phänomene, insbesondere des Computers dienten, sondern untersuchte auch gezielt die Rolle und Effizienz der Wissensvermittlung im musealen Bereich. So fand im April 1968 im Metropolitan Museum of Art in New York eine Konferenz mit dem Titel Computers and their Potential Application in Museums statt, die in enger Zusammenarbeit und mit Unterstützung von IBM initiiert wurde.25 Unter der Leitung des Panofsky-Schülers Edmund A. Bowles suchte das Department of Educational Affairs der IBM Corporation nach Anwendungsmöglichkeiten des Computers in den Geisteswissenschaften und förderte so den Austausch zwischen Computer Science und anderen Disziplinen, indem etwa J. C. R. Licklider zu einem Vortrag zur Tagung im Metropolitan Museum eingeladen wurde.26 25 Computers and Their Potential Application in Museums (A Conference Sponsored by The Metropolitan Museum of Art, April 15–17, 1968), New York 1968. 26 J. C. R. Licklider: Computer Graphics as a Medium of Artistic Expression. In: Computers and Their Potential (s. Anm. 25), S. 273–302.
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Für IBM stellte Robert S. Lee die Untersuchungen zum Lernen im Museum vor. Er hatte in experimentellen empirischen Studien analysiert, wie Museumsbesucher Informationen in Ausstellungen aufnahmen und welche Rolle insbesondere „computer-based exhibits“ beim Lernen in musealer Umgebung spielten. Er kam zu dem Schluss: „We have come to believe that interaction was the key – not the superficial mechanical interaction of pressing buttons, but the more engrossing interaction of cognitive and emotional engagement with a responsive environment.“27 Mit Interaktion als dem Schlüssel für erfolgreiches Lernen entwarf Lee die Vorstellung eines „individualized museum environment“,28 das von einem Computer gesteuert werden sollte: „These studies indicate that it is technologically feasible to have, in a gallery or even in an entire museum, many different interaction exhibits run by a single computer. Furthermore, it may be possible for the computer to gather information about the visitor so that it can adapt the responsive interaction sequence to the individual’s particular interests and background knowledge about the subject.“29 Solchermaßen würden die Besucher eines Museums über die Exponate mit einem Computer in Interaktion treten. Lees Überlegungen zur Future of the Museum as a Learning Environment, so der Vortragstitel, implizierten, dass die Art der installativen Anordnung, das konkrete Ausstellungsdisplay, das Interface zwischen dem Betrachter und dem Computer bildete, der die Inhalte steuerte. Übertragen auf das Display, das die Eames mit der History Wall in der Ausstellung A Computer Perspective geschaffen haben, wäre die Form des Overlapping das strukturbildende Merkmal eines solchen utopischen Interfaces. Auch die maßgebliche technische Entwicklung des Computers während der 1970er Jahre hin zu einem interaktiven Massenmedium war geprägt von pädagogischen Überlegungen: „… millions of potential users meant that the user interface would have to become a learning environment along the lines of Montessori and Bruner.“30 Damit beschrieb der Computerwissenschaftler Alan 27 Robert S. Lee: The Future of the Museum as a Learning Environment. In: Computers and Their Potential (s. Anm. 25), S. 367–387, hier: S. 378. 28 Lee (s. Anm. 27), S. 383. 29 Lee (s. Anm. 27), S. 378. 30 Alan Kay: The Early History of Smalltalk. In: Proceedings of the History of Programming Languages Conference, ACM Sig Plan Notices, Bd. 28, Nr. 3, 1993, S. 69–95, hier: S. 69. Vgl. Alan Kay: User Interface. A Personal View, in: Laurel, Brenda (Hg.): The Art of HumanComputer Interface Design, Reading, Mass. u.a. 1990, S. 191–207, hier: S. 193ff.
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Kay, der als Leiter der Learning Research Group im Forschungslabor Xerox PARC die Interaktion zwischen Mensch und Maschine in Form neuartiger Programmierungsmöglichkeiten zu vereinfachen suchte, den pädagogischen Grundzug, den die Arbeit seiner Forschergruppe trug und der zur Entwicklung der grafischen Benutzeroberfläche führte (Abb. 9). Ausgehend von Jerome Bruners Entwicklungspsychologie des Kindes und in Anlehnung an die Lernexperimente von Sey- Abb. 9: Screenshot der Benutzeroberfläche von Smalltalk auf dem mour Papert am MIT setzte Kay Alto, mit multiplen, sich überlagernden Fenstern, ca. 1975. den Fokus auf ikonische Interaktion, um den Computer zu einer Lernumgebung für unerfahrene User zu machen. Dabei berief sich die Forschergruppe auf Bildtheorien von Rudolf Arnheim und Ernst Gombrich, um neue Formen ikonischer Programmierung zu entwickeln.31 Im Zentrum der Form der grafischen Benutzeroberfläche, die bei PARC entstand, standen die sich überlagernden Fenster, die sogenannten Overlapping Windows. Um die Benutzerfreundlichkeit dieser Strukturen in der Mensch-Maschine-Interaktion des Computers entspann sich im Interface Design der 1980er Jahre eine Debatte um die Fragen der Anordnung dieser Fenster-Felder auf dem Display.32 Trotz der formalen Nähe zur Problematik der Interaktion in Ausstellungen, der hierin erprobten Anordnung und Struktur von Displays, geschah diese jedoch, ohne auf Erkenntnisse über die Gestalt und Funktionen von Displays im Aus 31 Margarete Pratschke: Die Entstehung der grafischen Benutzeroberfläche als Bild – Zur Rezeption Rudolf Arnheims und Ernst Gombrichs in der Computer Science. In: Christiane Kruse, Sabine Kampmann (Hg.): Nicht/künstlerische Bilder, Kritische Berichte, Nr. 4, 2009 (im Erscheinen). 32 Sara A. Bly, Jarrett K. Rosenberg: A comparison of tiled and overlapping windows. In: Proceedings of the SIGCHI conference on Human factors in computing, New York 1986, S. 101–106.
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Margarete Pratschke
stellungsbereich zurückzugreifen. Es scheint eine Ironie der Geschichte zu sein, dass die Eames und ihre Kollegen längst eine implizite Theorie über die Funktionalität des Displays vorgelegt hatten, dies aber trotz paralleler Anstrengungen zum Lernen mithilfe visueller Mittel von den Computerkonzernen, welche die Interaktivität des personalisierten Computers in Produkte überführte, übersehen wurde. IBM selbst, die schon 1971 die Ausstellung A Computer Perspective eröffnete, stieg erst 1981 verspätet in den Markt der Personal Computer ein, für die anderenorts seit den 1970er Jahren bildhafte Interfaces entwickelt worden waren. Mit dem Betriebssystem Windows 2.0 der Firma Microsoft verfügten Rechner von IBM ab 1987 erstmals über eine Benutzeroberfläche, die mit Overlapping Windows operierte und so die Interaktion für Benutzer weltweit zu einem Spiel mit Fensteranordnungen im Multitasking werden ließ.
Lena Bader
„die Form fängt an zu spielen …“ Kleines (wildes) Gedankenexperiment zum vergleichenden Sehen Ein Blick, zwei Bilder – gleich zu Beginn der Moment der Anschauung selbst (Abb. 1). Unumwunden setzt Le Mystère Picasso (Clouzot 1956) ein. Eine kurze Sequenz, kaum 30 Sekunden, schon ist der Zuschauer mitten im Geschehen: „Le peintre avance en tâtonnant comme un aveugle, dans l’obscurité de la toile blanche, et la lumière qui naît peu à peu, c’est le peintre qui la crée, paradoxalement en accumulant les noirs.“1 Zunächst aber wirft Picasso lediglich flüchtig einen raschen Blick auf die weiße Leinwand (rechts) und wendet sich stattdessen zwei nebeneinander hängenden Bildern an einer Stellwand (links) zu. Die Aufnahme folgt erst ihm, dann, auf diese fokussiert, den fragenden Augen des Künstlers (Abb. 2). Mit wechselnder Blickrichtung lassen sie bereits die Bewegung des vergleichenden Sehens erahnen, bevor das Bildpaar direkt zu sehen ist. Einen markanten Moment lang hält die Kamera bei dem Vergleich der zwei Bilder inne – ein Wendepunkt ist erreicht: In der nächsten Einstellung, welche die Stellwand nunmehr von hinten zeigt, sieht der Zuschauer Picasso zur weißen Leinwand schreiten. Auf die vergleichsweise langsame Einleitungssequenz folgt ein wild bewegtes Spiel der Formen: Zeichen und Zeichnung treffen in einem dynamischen Dialog aufeinander, zarte und grobe Striche, Schraffuren und Konturen durchkreuzen sich und fließen zu einem rhythmischen Konzert der Formen zusammen. Heinrich Wölfflins feste Überzeugung, „daß jede Form zeugend weiterarbeitet und jede Wirkung [nach] einer neuen ruft“2 wird auf erhellende Art und Weise anschaulich, indem der Zuschauer als Augenzeuge im Prozess künstlerischer Kreation am „geheimnisvollen Leben der Form“ teilhat.3 Bis auf wenige Ausnahmen ist Picasso selbst nicht zu sehen, die Leinwand wird von der Rückseite her gefilmt. Wie von Geisterhand gezeichnet, gestalten und entwickeln sich die Bilder, erst in Tusche, dann in Farbe, immer begleitet von der Musik Georges Aurics.
1 Le Mystère Picasso (Dt. „Das Wunder Picasso“), Regie: Henri-Georges Clouzot, 1956, 1h14min30s. Die französischen Zitate sind Transkriptionen aus der Einleitungssequenz. 2 Heinrich Wölfflin: Kunstgeschichtliche Grundbegriffe. Das Problem der Stilentwicklung in der neueren Kunst (1915), München 1920, S. 248. 3 Wölfflin (s. Anm. 2), S. 256. Wiederholt rekurriert Wölfflin auf das Motiv vom „Spiel der Formen“, um bemerkenswerte Bild-Beobachtungen zu beschreiben (vgl. u.a. S. 21: „die Form fängt an zu spielen …“). Im Zentrum steht dabei die Erfahrung einer „Kraft in der Form, das Sehen aufzuwecken (…), der sich auch ein stumpfer Betrachter kaum entziehen kann“ (S. 167).
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Der Impuls, die Arbeit am Bild vor Augen zu führen, wird in der Einleitungsszene durch einen eigenwilligen Rekurs auf den Paragone antizipiert: „Ce qui est impossible pour la poésie et la musique, est réalisable en peinture: Pour savoir ce qui se passe dans la tête d’un peintre, il suffit de suivre sa main.“ Die präzise choreografierte Sequenz macht deutlich, dass der Vergleich nicht nur dramaturgisch Auftakt und Ausgangspunkt ist, sondern als folgenreicher Kondensationspunkt einer bildgewaltigen Montage fungiert. In der anschaulichen Erfahrung k reativer Erkenntnisprozesse eröffnet die einleitende Szene dabei eine bedeutende Perspektive auf das vergleichende Sehen und lässt das Prinzip als Abb. 1: Le Mystère Picasso, Screenshots aus der Einleitungssequenz. elementare Sehtechnik hervortreten. Die visuelle Pointierung ist bezeichnend und bietet eine bemerkenswerte Alternative zur theoretischen Erörterung der Frage. In der Auseinandersetzung mit Texten und Theorien zum vergleichenden Sehen4 lassen sich drei Perspektiven auf das Thema beobachten. Besonders dominant erscheint die Assoziation der anschaulichen Gegenüberstellung mit stilkritischen Fragestellungen im Sinne eines Begriffs- und Forschungsinstruments. Dabei wird insbesondere der weitreichende Einfluss Wölfflins erkennbar. Sein Beitrag zu einer aus der Wechselwirkung von visueller Inszenierung und beschrei
4 Lena Bader, Martin Gaier, Falk Wolf (Hg.): Vergleichendes Sehen, München 2009 (in Vorbereitung).
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bender Betrachtung entwickelten „vergleichenden Kunstgeschichte“ gehört zu den topischen Bezugspunkten in diesem Zusammenhang.5 Daneben findet das vergleichende Sehen – in Reflexionen über mediale Bestimmungen und Grundlagen – als technisches Dispositiv Beachtung, was wiederum auf die erfolgreiche Karriere der Dia-Doppelprojektion schließen lässt.6 Am theorieärmsten ist sicherlich die Erörterung des vergleichenden Sehens als anschauliche Information oder visuelles Zeugnis, nicht zuletzt im populärwissenschaftlichen Bereich.7 Wie die clouzotsche Montage mit Abb. 2: Le Mystère Picasso, Detail. ihrem bildemphatischen und weitgehend stummen Zugang nahe legt, wird die Perspektive der Bilder in dieser Trias vorschnell ausgeblendet. Inwiefern vergleichendes Sehen als bildendes Sehen nicht nur die Wahrnehmung von Kunst, Medien oder Realität prägt, sondern zugleich eine bestimmte Auffassung von Bildern möglich und auch nötig macht, wird paradoxerweise nicht thematisiert. Das erstaunt umso mehr, als das Verfahren der anschaulichen Gegenüberstellung im Lehrbetrieb der Kunstgeschichte, aber auch im Rahmen der Naturwissenschaften (etwa vergleichende Zoologie) oder im Bereich der Medizin (Radiologie als „Kennerschaft“) Bilder in ihrer Rolle als epistemische Objekte markant inszeniert.
5 In diesem Sinne würdigt u.a. Warnke Wölfflin als den „unübertroffene[n] Meister des vergleichenden Sehens“: Martin Warnke: Warburg und Wölfflin. In: Horst Bredekamp, Michael Diers, Charlotte Schoell-Glass (Hg.): Aby Warbug. Akten des internationalen Symposions Hamburg 1990, Weinheim 1991, S. 79–86, hier: S. 83. Das Konzept einer Kunstgeschichte als „Lehre von den Sehformen“ (Wölfflin, s. Anm. 2, S. 257) scheint jedoch nicht immer angemessen Berücksichtigung zu finden: Vgl. in diesem Sinne als Zuspitzung einer KunstPerspektive (auf Kosten der Formfrage) die vorrangig ikonografische Bestimmung des vergleichenden Sehens: Otto Pächt: Methodisches zur kunsthistorischen Praxis (insb. den Abschnitt „Die Rolle des Vergleichens“), Wien 1977, S. 187–300. 6 Vgl. in diesem Sinne exemplarisch: Wolfgang Ernst, Stefan Heidenreich: Digitale Bildarchivierung: Der Wölfflin-Kalkül. In: Sigrid Schade, Georg Christoph Tholen (Hg.): Konfigurationen. Zwischen Kunst und Medien, München 1999, S. 306–320. 7 „Zwei Bilder sagen auch in der Wissenschaft oft mehr als tausend Worte, hundert Datenreihen oder zehn Meta-Studien. Was das Auge sehen kann, transportiert Realität, und der Vergleich zweier Realitäten vermittelt reale Veränderung.“ (Richard Friebe: Zwei Bilder sagen mehr als tausend Worte. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.6.2005).
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Ein Bilderstreit um den Vergleich
In Hinblick auf eine Bildgeschichte des vergleichenden Sehens, die als Pendant, aber auch als Korrektiv zu Methoden- und Begriffsgeschichte zu rekonstruieren wäre, bietet der sogenannte Holbein-Streit einen aufschlussreichen Ausgangspunkt.8 Der Streit wurde durch das Auftauchen einer zweiten Version der „Madonna des Bürgermeisters Meyer“ von Hans Holbein d. J. im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts ausgelöst, um sich schnell zu einem Schlüsselereignis für die Konstituierung der Kunstgeschichte zu entwickeln. Vielfach wurde im Kontext der späteren Forschung auf den „spektakulären Gemäldevergleich“ 9 im Rahmen der Holbein-Ausstellung von 1871 als Höhepunkt und gleichzeitiger Endpunkt im Holbein-Streit verwiesen. Inwiefern das vergleichende Sehen selbst zum Streitpunkt wurde, blieb dabei jedoch unberücksichtigt. Dagegen wurde die Debatte im Sinne der drei genannten Perspektiven, das heißt unter Ausblendung der Bilderfrage, rezipiert und auf einen kennerschaftlichen Streit um zwei Kunstwerke reduziert. Die Bedeutung des Holbein-Streits als umfassender Bilderstreit wurde kaum wahrgenommen.10 Nur so lässt sich erklären, dass in der späteren Forschung die Frage der Fotografie (auf Kosten der älteren Bildmedien) und die Bestimmung des Originals (nicht aber die Frage der Reproduktion) so stark in den Vordergrund rücken konnten. Doch anders als die Fokussierung auf neue Medien und originale Kunstwerke vermuten lässt, fand der Holbein-Streit mit Ausstellung und Vergleich der zwei Gemälde im Original sowie entsprechenden Presseerklärungen bezeichnenderweise kein Ende; vielmehr trat er in diesem Moment in seine vielleicht spannendste Phase. Ein daraufhin entfachender Disput zwischen Julius Hübner, dem Direktor der Dresdener Gemäldegalerie, und Albert von Zahn, dem Initiator der kunsthistorischen Erklärung,11 gibt davon einen prägnanten Eindruck.
8 Für einen Überblick vgl. u.a. den Ausstellungskatalog: Der Bürgermeister, sein Maler und seine Familie: Hans Holbeins Madonna im Städel, Städelsches Kunstinstitut und Städtische Galerie, Petersberg 2004. Die wissenschaftshistorischen und bildkritischen Implikationen der Debatte stehen insbesondere im Zentrum meiner Dissertation: Bild-Prozesse im 19. Jahrhundert. Der Holbein-Streit und die Anfänge der Kunstgeschichte (Arbeitstitel). 9 Udo Kultermann: Geschichte der Kunstgeschichte. Der Weg einer Wissenschaft, München 1990, S. 136. 10 Vgl. ausführlicher dazu Lena Bader: Kopie und Reproduktion im Holbein-Streit. Eine wissenschaftshistorische Retrospektive aus bildkritischer Perspektive. In: Wojciech Balus, Joanna Wolanska (Hg.): Die Etablierung und Entwicklung des Faches Kunstgeschichte in Deutschland, Polen und Mitteleuropa, Krakau 2009.
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Hübner äußert nicht nur Zweifel an der Inszenierung des Vergleichs und an der Art der Schlussfolgerung, er negiert grundsätzlich den Erkenntniswert vergleichenden Sehens. Seine Kritik speist sich aus einem tiefen Misstrauen gegenüber den Möglichkeiten anschaulicher Erkenntnis: „Weil jeder anders sieht und anders vergleicht“,12 sei das Verfahren diskreditiert. Zu subjektiv und suggestiv sei die Wahrnehmung, als dass anschauliche Befunde Tatsachen oder Ergebnisse hervorbringen könnten: „Die Vergleichung“, so Hübner, könne „immer nur von einem subjectiven Standpunkte ausgehen“; allein „historische Beweismittel“ böten ein sicheres Fundament.13 Im radikalen Widerspruch dazu sollte sich Zahn wiederholt für die Bedeutung des vergleichenden Sehens aussprechen und bewusst von Ergebnissen der Vergleichung sprechen – so bereits 1865, als er eine erste Gegenüberstellung der zwei Madonnenbilder publizierte14 und verstärkt nochmals 1871, im Anschluss an die Dresdener Ausstellung, die er als Möglichkeit begriff, „statt der ästhetischen und subjectiven Betrachtung den Weg der objectiven Vergleichung“ zu wählen.15 Anders als die programmatische Formulierung jedoch suggeriert, unterstellt Zahn keine einfache Unterscheidung. Vielmehr problematisiert er die Polarisierung in objektiv und subjektiv, um sich ihr zu entziehen: Solange „der Augenschein die Begründung der ausgesprochenen Ansicht in diesem Fall als zweifellos darstellen“16 müsse, sei die Perspektive des Wahren oder des Wahrhaftigen zugunsten der Frage der Wahrnehmung aufzugeben. Wenn auch Zahn sich entschieden gegen das Vorurteil ausspricht, „es lasse sich in derartigen Fragen überhaupt keine wissenschaftlich begründete Entscheidung treffen, und das Urtheil über Kunstwerke sei Nichts als der Ausdruck subjectiver Meinungen“,17 11 Das Communiqué attestiert Holbein als Autor der neu aufgetauchten Darmstädter Madonna und wird in einer Serie von Presseerklärungen bekannt gegeben. Vgl. dazu u.a. die Version vom 22.9.1871: Erklärung. In: Zeitschrift für bildende Kunst, Jg. 6, 1871, S. 355. 12 Julius Hübner: Der Holbein’sche Madonnenstreit. In: Illustrirte Zeitung, 30.12.1871, Nr. 1487, S. 507–508, hier: S. 507, Sp. 3. 13 Julius Hübner: Ein letztes Wort zur Holbeinfrage. In: Dresdner Journal, 25./ 26.10.1871, Nr. 247/ 248, hier: Nr. 247, S. 1902, Sp. 1. 14 Albert von Zahn: Das Darmstädter Exemplar der Holbein’schen Madonna. Mit zwei Photolithographien. In: Archiv der zeichnenden Künste mit besonderer Beziehung auf Kupferstecherund Holzschneidekunst und ihre Geschichte, 1865, Nr. 11, S. 42–56. 15 Albert von Zahn: Zur Holbein-Frage. Separat-Abdruck aus dem Dresdner Journal, Dresden 1871, S. 10. 16 Zahn: Das Darmstädter Exemplar (s. Anm. 14), S. 51. 17 Zahn: Zur Holbein-Frage (s. Anm. 15), S. 4.
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bedeutet das Ergebnis der „kritischen Vergleichung“ – anders als spätere Interpretationen der Debatte suggerieren (möchten) – weder Stillstellung noch Verurteilung der Bilder (als Bilder). Das erstaunliche Fazit beinhaltet zwar die Anerkennung der Darmstädter Madonna als Original, impliziert aber keineswegs die Degradierung des Dresdener Bildes zu einer bloßen Kopie, Reproduktion oder gar Illustration eines früheren Zustands. Auch diesbezüglich ist Zahns Position keine Ausnahme: Markant und aus heutiger Sicht frappant würdigt er das Bild ganz im Sinne seines Basler Kollegen Eduard His als „Wunder einer Abb. 3: Julius Hübners Beitrag „Der Holbein’sche Madonnenstreit“ Copie“18 und fordert eine Fortsetaus der Illustrirten Zeitung (30.12.1871), erste Seite. zung im vergleichenden Sehen: Für das Darmstädter Bild würde „erst bei der dauernden Nebeneinanderstellung mit dem Dresdener Exemplar der ganze Genuss des Werkes an einer Stelle überhaupt zu gewinnen sein“.19 Selbst im zugespitzten Fall der Attribution als Extrembeispiel kunsthistorischer Praxis ist das vergleichende Sehen mehr als bloß Mittel zum Zweck und entfaltet sich in produktiver Autonomie darüber hinaus. Vergleichendes Sehen – Anschauliches Denken
Nachdem Hübner im Herbst eine erste Replik auf Zahns Thesen publiziert hatte, erschien noch 1871, am 30. Dezember, ein zweiter Gegenentwurf, der die Debatte mit radikalisierten Argumenten aus dem Dresdner Journal in die Illus 18 Eduard His, zit. nach Gustav Theodor Fechner: Bericht über das auf der Dresdener HolbeinAusstellung ausgelegte Album, Leipzig 1872, S. 22. 19 Albert von Zahn: Die Ergebnisse der Holbein-Ausstellung zu Dresden. In: Jahrbücher für Kunstwissenschaft, 1873, Band 5, Heft 2, S. 161.
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Abb. 4: Julius Hübners Beitrag „Der Holbein’sche Madonnenstreit“ aus der Illustrirten Zeitung (30.12.1871), zweite Seite.
trirte Zeitung trägt.20 In schriftlich unbewusster Form, aber optisch evident, liefert Hübner darin einen bemerkenswerten Beitrag für das vergleichende Sehen (Abb. 3 und 4). Der Aufsatz erstreckt sich über zwei Seiten. Er changiert dabei vom Hochformat ins Querformat, um zwei große Umrisszeichnungen nach den Gemälden präsentieren zu können. Die Montage der letzten Seite ist in vielerlei Hinsicht bemerkenswert und divergiert von überlieferten Gegenüberstellungen, indem sich der Text – statt ober- oder unterhalb der Bilder zu verlaufen – als enge Spalte zwischen die zwei Reproduktionen drängt. Auch materiell ist die Besonderheit der Inszenierung erfahrbar – zur Betrachtung und Lektüre muss der Leser das imposante Blatt zwischendurch drehen (Abb. 4). Die Bilder setzen einen starken Akzent, sie sind – wie Anton Springer zuvor grundsätzlich über kunsthistorische Illustrationen erklärt hatte – nicht „als äusserlicher Schmuck angefügt; sie gehören zu ihrem wesentlichen Inhalte“.21 Jeweils knapp dreimal so breit wie die Textkolumne, stechen sie umso prägnanter hervor; sie geraten markant in den Blick, wenn dieser sich entlang der kurzen Zeilen bewegt. Es ist nicht möglich, dem Text zu folgen, ohne bei jedem Zeilensprung auch vergleichend zu sehen. Lektüre und vergleichendes Sehen werden aufeinander bezogen, indem sie ineinander übergehen. 20 Hübner: Der Holbein’sche Madonnenstreit (s. Anm. 12). 21 Anton Springer: Die Arundel-Gesellschaft zur Förderung höherer Kunstkenntnisse, Bonn 1860, S. 3.
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Die visuelle Argumentation der zwischen zwei Bildpolen oszillierenden Komposition durchkreuzt Hübners apodiktische Thesen, seine Einwände gegen den Erkenntniswert des vergleichenden Sehens scheinen durch das spannungsvolle Arrangement der Seite und die anschauliche Akzentuierung ihrer didaktischen Wirksamkeit geradezu visuell überboten. Die Evidenzkraft der Anschauung, die Hübner zugunsten der Faktizität des historischen Materials zu negieren vorgibt, findet zum Schluss selbst in seinem Text einen leisen, aber markanten Niederschlag. In einer wechselseitigen Erhellung der Bilder erkennt Hübner die Wirkungskraft des vergleichenden Sehens (an), um daraus abzuleiten, dass die „Streitobjecte nicht ohne eine gewisse Läuterung, welche beiden Theilen zu Gute kommt“ aus dem Vergleich hervorgekommen seien. Das beeindruckende Schlusswort konstatiert, der Holbein-Streit sei ein „Proceß über Bilder“.22 Auf je unterschiedliche Art und Weise unterstreichen Zahn und Hübner die Bedeutung des vergleichenden Sehens als eine Methode, die nicht nur Bildern entspricht, sondern auch Bilder selbst hervorbringt. Durch die markante Pointierung der „doppelten Bedeutung des Vergleichs als Analyse- und Argumentationsmittel“ wird zugleich deutlich,23 inwiefern die Bestimmung des vergleichenden Sehens entsprechend ihrer Emphase auf das Bild changiert – als bloß subjektive Erfahrung bei Hübner, als wesentlicher Inhalt bei Zahn (und als sprachlich uneinholbares Wunder bei Clouzot). Zahns Plädoyer für das vergleichende Sehen als Modus anschaulicher Erkenntnis und Instrument visueller Argumentation folgt einer bildkritischen Prämisse und impliziert Dimensionen der Bilderfahrung, die erst und ausschließlich in dieser Form, sehend und vergleichend, zugänglich sind. Einen Eindruck dieser den Bildern unterstellten Erkenntnisleistung geben nicht zuletzt Hübners Bilderkomposition und Zahns Plädoyer für eine dauerhafte Vergleichung. Beide Kontrahenten verweisen mit der immanenten Dynamik im Dialog der Bilder auf die geradezu unaufhaltsame Produktivität, die das vergleichende Sehen daraus entfalten kann.
22 Hübner: Der Holbein’sche Madonnenstreit (s. Anm. 12), S. 508. 23 Horst Bredekamp, Birgit Schneider, Vera Dünkel (Hg.): Das Technische Bild. Kompendium zu einer Stilgeschichte wissenschaftlicher Bilder, Berlin 2008, S. 24.
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Wilde Bilder
Der Kladderadatsch hat dieser Dynamik auf amüsante Art eine besondere Pointe verliehen, indem er den Dialog der Bilder – in der imaginären Szene eines nächtlichen Tête-à-Tête der beiden Gemälde – buchstäblich vor Augen führt: „Zu Dresden im Zwinger-Pavillon hört nächtlich man ein Rauschen, Zur Mitternacht um die Geisterstund’ Ein Zanken, Schwatzen und Plauschen. Zur Mitternacht um die Geisterstund’ Entsteigen dem güldenen Rahmen Ein Jed ihr Knäblein an der Hand, Zwei jungfräuliche Damen […] Bei Tage hängen sie nebeneinand Ganz friedlich vor allen Leuten; Doch in der einsamen Stille der Nacht Beginnt ein heftig Streiten […]“24 Das pikante Gedicht berührt wichtige Aspekte im Holbein-Streit und bringt diese in scharfen Pointen zum Ausdruck. Dreimal treten die Madonnen, zweimal die Christuskinder gegeneinander an, um – gegen den „Verstand der Verständigen“ – die Streitfrage untereinander auszuhandeln. Die Verlebendigung der zwei „Streitobjecte“ (Hübner) ist eine subtile Antwort auf die Erfahrung des vergleichenden Sehens, dass sie zur „Geisterstund’“ erfolgt – wenn die Gelehrten (in der Regel) schlafen – eine weitere Pointe. Angesichts der eingangs genannten Festschreibungen des vergleichenden Sehens sei der Bewegung aus „dem güldenen Rahmen“ für den Moment eines Gedankenexperiments gefolgt, um in Hinblick auf einen möglichen Rahmenwechsel 24 In Sachen Dresden contra Darmstadt. In: Kladderadatsch, Jg. 24, 17.9.1871, Nr. 43, S. 170.
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die Frage aufzuwerfen, ob vielleicht erst ein „wildes Denken“25 das vergleichende Sehen in seiner ungebändigten, kreativen Produktivität freizusetzen vermag. Vielleicht müsste man hier ansetzen, um das vergleichende Sehen als Begriffs, Vermittlungs- und Erkenntnisinstrument zu würdigen: als eine ‚intellektuelle Bastelei‘, die ihre pädagogisch-didaktische Wirkungsmächtigkeit aus einem kreativ-produktiven Impuls schöpft. Nicht einengend, sondern produktiv wäre vor diesem Hintergrund die oszillierende Agitation der Blicke als „schwebende Aufmerksamkeit“ zu imaginieren: „[…] ein längeres Hinausschieben des Augenblicks, da Schlüsse gezogen werden, damit die Interpretation Zeit genug hätte, um sich über mehrere Dimensionen zu erstrecken, zwischen einem erfassten Sichtbaren und der auferlegten Prüfung einer Verzichtleistung.“26 Hier läge die Faszination des vergleichenden Sehens – wo Formen und Blicke anfangen zu spielen, und sich, wie bei Clouzot und Picasso, ein geradezu mysteriös anziehender und in Bewegung versetzender Raum der Bilderfahrung, nicht der schieren Information, auftut. Hineinzutreten hieße, sich vom vergleichenden Sehen in seiner Dynamik ergreifen zu lassen. 25 Nicht nur als Prinzip und Konzept, sondern auch konkret bietet diesbezüglich einen fruchtbaren Ausgangspunkt: Claude Lévi-Strauss: Das wilde Denken, Frankfurt 1973. Von hier aus ließen sich ausgewählte Beiträge zum vergleichenden Sehen einer vielversprechenden, vergleichenden (Neu-)Lektüre unterziehen: vgl. z.B. den Vorschlag einer Verbindung „zwischen dem kunsthistorischen und dem psychologischen Déjà-vu“ (Christoph Danelzik-Brüggemann, Rolf Reichardt: Das Déjà-vu der Bilder. Visuelle Mnemotechniken und satirische Vergegenwärtigungen in der europäischen Druckgraphik des 18. Jahrhunderts. In: Günter Oesterle (Hg.): Déjà-vu in Literatur und bildender Kunst, München 2003, S. 327–350, hier: S. 330) oder Niehrs Verweis auf den Moment anarchischer Überraschung im vergleichenden Sehen: Klaus Niehr: Vom Traum zur Inszenierung. Materialien zu einer Archäologie des kunstgeschichtlichen Vergleichs. In: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft, 2000, Band 45, Heft 2, S. 273–292. 26 Georges Didi-Huberman: Vor einem Bild, Wien 2000, S. 23. Vgl. dazu auch seine Unterscheidung zwischen sichtbarer Information (visible) und phänomenologischem Ereignis (visuel) im Rahmen einer „Phänomenologie der ‚zweifachen Ordnung‘“. In: Ders.: Bilder trotz allem, München 2007, S. 100–131.
Steffen-Peter Ballstaedt
Text und Bild: ein didaktisches Traumpaar
Text und Bild haben in der Wissensvermittlung unterschiedliche Funktionen, sie sind nie äquivalent.1 Mit einem Bild lässt sich nicht alles verständlich zeigen, was sich mit einem Text sagen lässt, beispielsweise bereiten abstrakte Begriffe und Zusammenhänge, Begründungen und Argumente Schwierigkeiten. Umgekehrt kann keine sprachliche Beschreibung die anschaulichen Merkmale eines Bildes wie Formen, Farben, Texturen und räumliche Zuordnungen vollständig erfassen. Aus didaktischer Sicht bilden Text und Bild ein Traumpaar, denn sie ergänzen sich in ihren kognitiven und kommunikativen Funktionen in kodaler Komplementarität.2 Dabei haben sich in der kulturellen Evolution Text-Bild-Kombinationen herausgebildet, bei denen Abb. 1: Armaturenbrett des Magirus-Fahrgestells bestimmte Bilder und bestimmte Texte Typ O 145, etwa 1940. zu einer funktionalen kommunikativen Einheit verknüpft sind. Ein Beispiel ist die Kombination, mit der anhand einer Abbildung als Stellvertreter der Wirklichkeit Benennungen eingeführt und Komponenten eines Bildes identifiziert werden (Abb. 1). Diese Kombination verwendet Comenius in seinem Lateinlehrbuch Orbis Sensualium Pictus; sie findet sich heute noch in den Bildlexika oder in jeder Bedienungsanleitung.3 Ein zweites in der Wissenschaft verbreitetes Beispiel ist die Kombination einer sprachlichen Behauptung mit
1 Hartmut Stöckl: Die Sprache im Bild – Das Bild in der Sprache. Zur Verknüpfung von Sprache und Bild im massenmedialen Text. Konzepte – Theorien – Analysemethoden, Berlin 2004, S. 246f. 2 Steffen-Peter Ballstaedt, Sylvie Molitor, Heinz Mandl: Wissen aus Text und Bild. In: Jo Groebel, Peter Winterhoff-Spurk (Hg.): Empirische Medienpsychologie, München 1989, S. 105–133; Winfried Nöth: Zur Komplementarität von Sprache und Bild aus semiotischer Sicht, Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes, Jg. 51, 2004, S. 8–22. 3 Johann Amos Comenius: Orbis Sensualium Pictus, Nürnberg 1658.
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einem visuellen Argument.4 Bilder können eine sprachliche Behauptung begründen oder bestreiten. In einigen Wissenschaften haben Bilder keine illustrative, sondern epistemische und beweisende FunkAbb. 2: Eine Text-Bild-Kombination aus den 20er Jahren aus dem Umfeld der Bildpädagogik von Otto Neurath, mit der durch einen tion, beispielsweise in der Astrosprachlichen Befehl zum Schutz aufgefordert und in zwei Bildern nomie, der Klimatologie und der gezeigt wird, wovor und wie man sich schützen kann. Neuropsychologie. Andere TextBild-Kombinationen in der technischen Kommunikation dienen der Anleitung oder der Warnung (Abb. 2).5 Die beiden Codes – Schriftzeichen und ikonische Zeichen – werden als semiotisches Kompaktangebot über eine Sinnesmodalität aufgenommen, sie befinden sich auf einer Sehfläche, die durch Lesen und Betrachten verarbeitet wird.6 Dabei ist es wichtig, dass beide Zeichensysteme auch begrifflich auseinandergehalten werden. Ein erweiterter Textbegriff, der auch die Bilder vereinnahmt, ist kognitiv nicht akzeptabel. Ausdrücke wie „Sprache der Bilder“, „Bildgrammatik“ oder „das Lesen von Bildern“ mögen als Metapher durchgehen, aber oft führen sie zu linguistischen Scheuklappen, welche die Besonderheiten der bildlichen Kommunikation ausblenden. Texte werden gelesen, Bilder werden betrachtet, und beide werden im Gehirn unterschiedlich verarbeitet. Der Sprachverarbeitung können eigene Gehirnareale zugeordnet werden, während Bilder in denselben Arealen verarbeitet werden wie die Wahrnehmung wirklicher Personen, Objekte und Szenen. Auch die visuellen Vorstellungen – die mentalen Bilder – werden dort generiert. Diese unterschiedliche Verarbeitung belegt eine dop pelte Dissoziation: Bei posteriorer Aphasie ist das Sprachverstehen gestört, aber nicht das Verstehen von Bildern; bei visueller Agnosie ist es genau andersherum.
4 Uwe Oestermeier, Petra Reinhard-Hauck, Steffen-Peter Ballstaedt: Gelten die GRICEschen Maximen auch für visuelle Argumente? In: Klaus Sachs-Hombach (Hg.): Bildhandeln. Interdisziplinäre Forschungen zur Pragmatik bildhafter Darstellungsformen, Magdeburg 2001, S.207–221. 5 Karl H. Müller: Symbole, Statistik, Computer, Design. Otto Neuraths Bildpädagogik im Computerzeitalter, Wien, 1991, S. 75. 6 Sabine Gross: Lese-Zeichen. Kognition, Medium und Materialität im Leseprozeß, Darmstadt 1994. Zur Multikodalität: Bernd Weidenmann: Multicodierung und Multimodalität im Lernprozeß. In: Ludwig J. Issing, Paul Klimsa (Hg.): Information und Lernen mit Multimedia, Weinheim 1997, S. 65–84.
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Abb. 3: Einteilung der Bilder nach kognitiv-rezeptiven Kriterien: Jeder Bildtyp hat spezifische Verstehensvoraussetzungen.
Außerdem gibt es übergeordnete begriffliche Störungen, die sowohl das Verstehen von Sprache als auch das Verstehen von Bildern beeinträchtigen.7 Sprachliche Anteile innerhalb einer Text-Bild-Kombination sind Kommentare, Beschreibungen, Überschriften, Beschriftungen, Legenden. Die nichtsprachlichen Anteile können verschiedene Formen annehmen, die in den verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen und selbst innerhalb einer Disziplin oft unterschiedlich benannt werden. Kognitionspsychologen bemühen sich um eine Taxonomie von externen Bildern, die sich an der Bildrezeption und nicht an der Bildproduktion orientiert. Bilder werden einem Typ zugeordnet, wenn sie zum Verstehen gleiche mentale Ressourcen und Prozesse erfordern (Abb. 3).8
7 Martha Farah: Knowledge from text and pictures: A neuropsychological perspective. In: Heinz Mandl, Joel R. Levin (eds.): Knowledge acquisition from text and pictures, Amsterdam 1998, S. 59–72. 8 Steffen-Peter Ballstaedt: Technische Kommunikation mit Bildern. In: Jörg Hennig, Marita Tjarks-Sobhani (Hg.): Visualisierung in der technischen Kommunikation, Lübeck 2003, S. 11–31.
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Eine Untergruppe der externen Bilder sind die nicht-repräsentationalen Bilder, zu denen abstrakte und ornamentale visuelle Vorlagen zählen. Sie fordern den „effort after meaning“ heraus und dienen als Fläche für Sinnprojektionen, zum Beispiel im Rorschach-Test. Ein Abbild ist eine behandelte Oberfläche, deren reflektierte oder emittierte Lichtstrahlen ähnlich strukturiert sind wie die Lichtstrahlen, die von wirklichen Objekten, Personen und Szenen ausgehen.9 Ein Abbild konserviert optische Invarianten, die das Erkennen ermöglichen, Abbilder können deshalb als Stellvertreter von Realien dienen, wie die Fotos in einem Reiseführer oder die Strichbilder in einer technischen Dokumentation. Abbilder lassen sich in einer Abfolge abnehmender Konkretheit oder zunehmender Abstraktheit anordnen: vom detailreichen Farbfoto über das texturierte Bild und das Strichbild bis zum Schemabild. Ganz andere kognitive Anforderungen sind bei den Visualisierungen oder analytischen Bildern gegeben, die Strukturen hinter der sichtbaren Realität veranschaulichen. In der amerikanischen Instruktionspsychologie werden sie in Charts und Diagramme eingeteilt.10 Charts bestehen aus Einheiten und Relationen zwischen den Einheiten und visualisieren qualitative beziehungsweise begriffliche Zusammenhänge. Zum Verstehen verlangen sie die Umsetzung topologischer Relationen in begriffliche Beziehungen. Diagramme visualisieren quantitative Zusammenhänge nach bestimmten kulturellen Konventionen. Kognitiv verlangen Diagramme die Kenntnis dieser Konventionen, um konkrete Ableseprozesse zu ermöglichen. Piktogramme haben die Funktion, auf einen Blick einen Begriff aufzurufen oder eine Handlung auszulösen. Die Karten bilden eine eigene taxonomische Gruppe, weil sie durch Prozesse der räumlichen Orientierung verstanden werden. Multikodale kognitive Verarbeitung
Welche mentalen Prozesse laufen nun in unseren Köpfen beziehungsweise Gehirnen ab, wenn die Augen mit einer Sehfläche aus Text und Bild konfrontiert sind? Vor allem: Wie werden Informationen aus den verschiedenen Codes miteinander verarbeitet? Wie kommt im Kopf zusammen, was auf dem Papier oder dem Monitor getrennt ist? Was bleibt im Gedächtnis aus einer Text-BildKombination zurück? Dies sind die Fragen, auf die Psychologen empirische
9 James J. Gibson: Wahrnehmung und Umwelt. Der ökologische Ansatz in der visuellen Wahrnehmung, München 1982. 10 Stephen M. Kosslyn: Graph design for eye and mind, Oxford 2006. Auch in der angloamerikanischen Instruktionspsychologie werden die Bezeichnungen nicht konsistent verwendet, aber zwischen Charts und Diagrammen wird meist unterschieden.
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und theoretische Antworten suchen. Die Methodik ist dabei analytisch und reduktiv: Die Verarbeitung wird zunächst in Teilprozesse auf verschiedenen Ebenen unterteilt, um dann einzelne Variablen zu isolieren 4: Experimentelle Vorlagen, mit denen der mentale und deren Abhängigkeiten in Experimenten Abb. Aufwand beim Verstehen verschiedener Text-Bildzu untersuchen. Dabei werden Probanden Kombinationen untersucht wird. Die Hypothese lautet, im psychologischen Labor mit möglichst dass das Verstehen der Sätze zunehmend mehr Zeit in Anspruch nimmt: 1. Text und Bild sind kodal kompleschlichten visuellen Vorlagen konfrontiert, mentär und aktivieren dieselben Begriffe. 2. Text und um Störvariablen auszuschalten oder wenig- Bild aktivieren verschiedene Begriffe, die sich aber in einem Wissensschema ergänzen. 3. Text und Bild sind stens zu kontrollieren (Abb. 4). Wegen der nur über Schlussfolgerungen integrierbar. prinzipiellen „Uneinsichtigkeit“ der mentalen Prozesse und Strukturen wird dieser Ansatz zunehmend durch neuropsychologische Befunde ergänzt. Über die kognitive Verarbeitung von Texten gibt es in Kooperation mit der Linguistik unzählige Untersuchungen und integrative Theorien, die kognitive Verarbeitung von Bildern hat hingegen erst in den letzten Jahren breiteres Interesse in der Psychologie gefunden. Nach dem derzeitigen Stand zu Wahrnehmung und Verstehen von Text-Bild-Kombinationen laufen Prozesse gleichzeitig auf mehreren Ebenen der Verarbeitung ab:11 spontane visuelle Organisation, Detailauswertung mittels Blickbewegungen, begriffliche Integration, multiple mentale Repräsentation. Bevor aus Text oder Bild begriffliche Informationen entnommen werden, offenbart der erste Blick eine ganzheitliche visuelle Organisation: das Zueinander von Text- und Bildarealen. Diesen ersten visuellen Eindruck bewirken Gestaltgesetze und andere visuelle Konstruktionsregeln, die als biologische Ausstattung in unseren Gehirnen angelegt sind.12 Es ist ein vorsemantisches Gewahrwerden wie beim Betrachten von dekorativen Ornamenten oder abstrakten Gemälden, das über Typografie, Layout und Bildgestaltung (etwa Farbe) bereits ästhetische Empfindungen wie Ausgewogenheit, Symmetrie, Ordnung, Übersichtlichkeit, Gefälligkeit und deren Gegenteile vermittelt. Die experimentelle Ästhetik hat dazu interessante Belege geliefert. 11 Steffen-Peter Ballstaedt: Kognitive Verarbeitung von multikodaler Information. In: Maximilian Eibl, Harald Reiterer, Peter Friedrich Stephan, Frank Thissen (Hg.): Knowledge Media Design. Theorie, Methodik, Praxis, München 2006, S. 115–130. 12 Wolfgang Metzger: Gesetze des Sehens, Eschborn 2007; Donald D. Hoffman: Visuelle Intelligenz. Wie die Welt im Kopf entsteht, Stuttgart 2000.
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Mit dem ersten Blick startet eine Detailauswertung in einer Abfolge aus Fixationen und Sprüngen (Sakkaden). Da das Auge nur im Bereich der Fovea eine scharfe Wahrnehmung liefert, sind die Blickbewegungen notwendig, um eine Sehfläche auszuwerten. Es gibt im Gehirn zwei Steuerungszentralen für die unwillkürlichen und willkürlichen Blickbewegungen. Die Augen werden entweder automatisch durch visuelle Merkmale der Vorlage oder willentlich durch die Interessen der Betrachtenden gesteuert.13 Das Muster der Fixationen offenbart die Aufmerksamkeitsverteilung in einer Text-Bild-Kombination. Da man die Augenbewegungen mit komplizierten Apparaturen aufzeichnen kann, liegen über die erste Fixation und den nachfolgenden Blickpfad zahlreiche Untersuchungen vor.14 Wohin fällt der erste Blick, was ist der Eye Catcher? Dazu wird gern die These von der Dominanz des Bildes angeführt: Bei einer Kombination von Text und Bild falle der Blick immer zuerst auf das Bild. Eyetracking-Untersuchungen am Poynter-Institut in Florida zur Verarbeitung von Text-Bild-Kombinationen im Online-Journalismus belegen aber, dass der erste Blick tatsächlich immer auf das Bild fällt, dieses allerdings nicht detailliert ausgewertet wird, sondern der oder die Lesende sofort weiter auf Überschriften und Leads springt. Von den ersten drei Fixationen liegen 78 Prozent auf sprachlichen Informationen. Erst in einer zweiten Phase rücken die Bilder – jetzt unter dem Einfluss des Gelesenen – ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Später bekommen auch längere Texte eine Chance. Es lässt sich also eine Phase der Orientierung von einer Phase der vertiefenden Verarbeitung unterscheiden.15 Parallel zu den Blickbewegungen verläuft die integrative begriffliche Verarbeitung, denn nur während der Fixationen werden Informationen aufgenommen. Wörter rufen Begriffe auf, Bildkomponenten aktivieren ebenfalls Begriffe, aber symbolische und ikonische Zeichen unterscheiden sich dabei in zwei wichtigen Punkten. Wörter sind Stellvertreter für Begriffe, das Lesen eines Wortes 13 Burkhart Fischer: Blickpunkte. Neurobiologische Prinzipien des Sehens und der Blicksteuerung, Bern 1999. 14 Gary Bente: Erfassung und Analyse des Blickverhaltens. In: Roland Mangold, Peter Vorderer, Gary Bente (Hg.): Lehrbuch der Medienpsychologie, Göttingen 2004, S. 297–324; Rainer Höger: Zur Aufmerksamkeitsverteilung bei der Betrachtung von Bildern. In: Klaus Sachs-Hombach (Hg.): Bildwissenschaft zwischen Reflexion und Anwendung, Köln 2005, S. 331–341; Raphael Rosenberg, Juliane Betz, Christoph Klein: Augensprünge. In: Bildwelten des Wissens, Horst Bredekamp, Matthias Bruhn, Gabriele Werner (Hg.), Bd. 6,1: Ikonografie des Gehirns, Berlin 2008, S. 127ff. 15 http://www.poynterextra.org/et/i.htm (Stand: 1/2009).
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aktiviert einen damit assoziierten Begriff. Bei einer Bildkomponente ist der aktivierte Begriff aber nicht eindeutig festgelegt: Das Abbild eines Apfels kann OBST, APFEL, BOSKOP oder gar MACINTOSH aktivieren.16 Dieser Unterschied lässt sich freilich nicht verabsolutieren: In natürlichen Sprachen gibt es die Mehrdeutigkeit bei Homonymie, in der visuellen Kommunikation die Eindeutigkeit, die bei Piktogrammen angestrebt wird. Hinzu kommt, dass beim Lesen von Sätzen die Syntax eine Anleitung zur inhaltlichen Verknüpfung der Begriffe zu Wissensstrukturen gibt; bei Bildern hingegen fehlt eine Syntax, welche die Verknüpfung der Konzepte anleitet. Beim kognitiven Verarbeiten von Bildern kann also ein größerer Freiheitsgrad als beim Verarbeiten von Texten konstatiert werden. Die Text-Bild-Kombination beansprucht mehr oder weniger kognitive Ressourcen, je nachdem ob die aktivierten Begriffe sich problemlos oder nur über Schlussfolgerungen zu einer kohärenten Struktur verbinden (Abb. 4).17 Text und Bild können sogar widersprüchliche Begriffe aktivieren, die eine Herausforderung an das Denken darstellen. Bei der audiovisuellen Verarbeitung spricht man in diesem Fall von einer Text-Bild-Schere. Je nach Abfolge der Verarbeitung beeinflusst das Bild die Textverarbeitung oder der Text die Bildverarbeitung. Dies hat zwei Forschungsrichtungen angeregt. Das Bild als Kontext zum Text führt zu Untersuchungen über die Wirkungen von Bildern auf die Textverarbeitung. Es liegen Sammelreferate und Metaanalysen vor, die Befunde vorwiegend für Lernmaterialien zusammenfassen. So konnten Wirkungen nachgewiesen werden wie Beschleunigung der Verarbeitung, Vertiefung des Verstehens, Verbesserung des Behaltens und Aktivierung von Emotionen.18 Der Text als Kontext zum Bild führt zu Untersuchungen über die Wirkungen von Sprache auf die Bildwahrnehmung. Dazu gibt es deutlich weniger Befunde, was wohl damit zusammenhängt, dass das Bildverstehen methodisch schwerer zu fassen ist als das Textverstehen.19 Sprache kann Bilder in einen inhaltlichen 16 In der Kognitionspsychologie gilt die Konvention: Wenn der Begriff und nicht das Wort gemeint ist, dann wird in Großbuchstaben geschrieben. 17 Steffen-Peter Ballstaedt: Wenn Hören und Sehen vergeht: Grenzen der audiovisuellen Integration. In: Dietrich Meutsch, Bärbel Freund (Hg.): Fernsehjournalismus und die Wissenschaften, Opladen, S. 29–46. 18 Joan Peeck: Wissenserwerb mit darstellenden Bildern. In: Bernd Weidenmann (Hg.): Wissenserwerb mit Bildern. Instruktionale Bilder in Printmedien, Film/Video und Computerprogrammen, Bern 1994, S. 59–94. 19 Hubert D. Zimmer: Sprache und Bildwahrnehmung: Die Präsentation sprachlicher und visueller Informationen und deren Interaktion in der Wahrnehmung, Frankfurt a.M. 1983.
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Steffen-Peter Ballstaedt
Abb. 5: Visuelle Vorlage eines Experiments: Werden die Objekte konkret benannt (Die Scholle liegt neben dem Brotmesser), so wird das Bild intensiver ausgewertet als bei abstrakten Benennungen (Der Fisch liegt neben dem Messer).
Bezugsrahmen stellen, die Aufmerksamkeit auf bestimmte Komponenten ausrichten und die begriffliche Kategorisierung bestimmen. Texte können so als Sehanleitung wirken. Psycholinguistische Experimente haben beispielsweise ergeben, dass schon die Wortwahl im Text und damit die begriffliche Kategorisierung die Auswertung eines Bildes beeinflusst. Wird ein Bildobjekt konkret benannt, so wird es länger und intensiver im Bild betrachtet, als bei einer allgemeinen Benennung. Nenne ich ein Bildobjekt „Fisch“ bleibt das Betrachten oberflächlich, nenne ich es hingegen „Scholle“, so wird genauer hingeschaut, um anhand visueller Merkmale zu verifizieren, ob es sich tatsächlich um eine Scholle handelt (Abb. 5).20 Derart subtile Wirkungen konnten auch für syntaktische Formulierungsvarianten nachgewiesen werden. Eine Integration von Text und Bild ist nur auf der begrifflichen Ebene möglich. Begriffe stellen ein mentales Format dar, das visuelle und verbale Informationen vereinigen kann.21 Das Ergebnis einer kognitiven Verarbeitung einer Text-Bild-Kombination besteht aus mehreren Bestandteilen: Begriffliches Wissen, aus dem man eine sprachliche Beschreibung generieren kann, aber auch visuelles Wissen, das sich als Vorstellung abrufen lässt. Wie sich letztendlich eine mentale Repräsentation zusammensetzt, hängt vom investierten Verarbeitungsaufwand und dem Interesse und dem Vorwissen des jeweiligen Rezipienten ab. 20 Sabine Jörg: Der Einfluß sprachlicher Bezeichnungen auf das Wiedererkennen von Bildern, Bern 1978, S. 87. 21 Werner Wippich: Untersuchungen zur Integration bildlicher und sprachlicher Informationen, Sprache & Kognition, Jg. 1, 1987, S. 23–35; Steffen-Peter Ballstaedt: Bildverstehen und Sprache. In: Bernd Spillner (Hg.): Sprache: Verstehen und Verständlichkeit, Forum Angewandte Linguistik, Frankfurt a.M. 1995, S. 63–70; Wolfgang Schnotz: Informationsintegration mit Sprache und Bild. In: Gert Rickheit, Theo Herrmann, Werner Deutsch (Hg.): Psycholinguistik. Ein internationales Handbuch, Berlin 2003, S. 577–587.
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Richtiges Sehen und Visual Literacy
Lehrbücher mit vielen, möglichst bunten Bildern sind beliebt, aber für den Wissenserwerb nicht unbedingt effektiv. Schuld daran sind einerseits Tendenzen zur oberflächlichen Verarbeitung von Bildern, andererseits aber auch didaktische Mängel in der Bebilderung. Dementsprechend kann das Lehren und Lernen mit Text und Bild von zwei Seiten in die Zange genommen werden. Ein Ansatz setzt bei den Adressaten an und versucht ihnen Techniken für ein vertiefendes Sehen beizubringen. Der andere Ansatz setzt bei den Bildproduzenten an und gibt ihnen wissenschaftlich fundierte Richtlinien für eine effektive Bildgestaltung vor. Pädagogen haben immer wieder den flüchtigen Blick auf Bilder beklagt. Ein Blick – das entspricht einer Fixation von etwa 100 Millisekunden – reicht aus, um ein Bild grob zu klassifizieren,22 und viele Betrachtende lassen es mit ein paar wenigen Fixationen bewenden. Der investierte mentale Aufwand bleibt oft gering, weil man prima vista schon verstanden zu haben glaubt.23 Für den instruktionalen Einsatz von Bildern ist das fatal, da das Bild seine kommunikativen und kognitiven Potenzen so nicht entfalten kann, es bleibt ein folgenloser Augenkitzel. Die oberflächliche Bildverarbeitung wird schon von Comenius beklagt, der für den didaktischen Einsatz von Bildern auch eine Anleitung zum sorgfältigen Betrachten gibt.24 Angesichts der Mengen von Bildern in allen Medien dürfte die Tendenz zum flüchtigen Blick eher zunehmen, denn die Bilder verlieren damit das Einmalige und Besondere, das sie in bildarmen Zeiten hatten. Als moderne Ausprägung steckt das oberflächliche Wahrnehmen in den Klagen über mangelnde Visual Literacy, über fehlende Fähigkeiten zur Verarbeitung von Bildern. In einer sprachlich dominierten Kultur wird zwar das Lesen, Schreiben und Interpretieren von Texten gelehrt, aber der Umgang mit Bildern bleibt in der Bildung ein marginales Thema. Es gibt eine Stiftung Lesen, aber keine Stiftung Sehen. Dass man Wahrnehmen lernen kann, das beweist ein Studium der Kunstgeschichte, bei dem die Fähigkeit zur Diskrimination 22 Irving Biedermann: On the semantics of a glance at a scene. In: Michael Kubovy, James R. Pomerantz (Eds.): Perceptual organization, Hillsdale 1981, S. 213–253. 23 Bernd Weidenmann: Psychische Prozesse beim Verstehen von Bildern, Bern 1988; Gavriel Salomon: Televison is „easy“ and print is „tough“: The differential investment of mental effort in learning as a function of perceptions and attributions, Journal of Educational Psychology, Jg. 76, 1984, S. 647–658. 24 Johann Amos Comenius: Große Didaktik. Die vollständige Kunst, alle Menschen alles zu lehren, 10. Aufl. (Orig. 1657), übers. und hrsg. v. Andreas Flitner, Stuttgart 1994, S. 139.
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Steffen-Peter Ballstaedt
von Bilddetails zunimmt. Messaris nennt vier Aspekte der Visual Literacy als Ziele einer visuellen Erziehung: 1. Vertrautheit mit den visuellen Konventionen, 2. kognitive Kompetenzen zum Bildverstehen, 3. die Sensibilität für visuelle Manipulationen, 4. die Fähigkeit zur ästhetischen Bewertung.25 Die Techniken, um diese Ziele zu erreichen, regen zum aktiven Umgang mit Bildern durch Beschreiben, Interpretieren, Nachzeichnen, Umgestalten, Vergleichen usw. an; sie sind aus der ästhetischen Erziehung und dem Unterricht zur visuellen Kommunikation bekannt. Didaktische Gestaltung von Sehflächen
Text-Bild-Kombinationen verlangen eine sukzessive Aufteilung der Aufmerksamkeit auf beide Zeichensysteme. Richtlinien zu deren Gestaltung haben zum Ziel, die mentalen Anforderungen dabei möglichst gering zu halten und sie auf die erwünschten Lernprozesse auszurichten. Ein Engpass ist das Arbeitsgedächt nis. Wenn auch die Angaben zu seiner Kapazität je nach Material, Modalität, Individuum usw. unterschiedlich ausfallen, sicher bleibt, dass sein Fassungsvermögen deutlich begrenzt ist. Begriffe, die über den Text aktiviert wurden, müssen im Arbeitsgedächtnis noch vorhanden sein, um sich mit Begriffen, die über das Bild aktiviert wurden, zu einer Wissensstruktur zu verbinden. Jeder unnötige Verarbeitungsprozess führt zu einem überflüssigen Cognitive Load, bei großen Anforderungen sogar zum Overload.26 So sollten Text und zugehöriges Bild nahe beieinander angeordnet sein, um die Blicksprünge möglich kurz zu halten (Prinzip der räumlichen Kontiguität). Typografische und bildliche Hervorhebungen müssen dafür sorgen, dass die Augen in Text oder Bild nicht unnötig herumsuchen müssen. Das Bild wird im Sinne der didaktischen Reduktion auf die lernrelevanten Komponenten beschränkt. Oft hat eine Strichzeichnung als „Diät für die Augen“ Vorteile gegenüber einem üppigen detailreichen Farbfoto. Zur Steuerung der Blickbewegungen und damit der Aufmerksamkeit werden visuelle Konventionen eingesetzt: Einzelzeichen wie Pfeile oder Bezugslinien, grafische Hervorhebungen wie Fettung oder Einfärbung, kompositorische Mittel wie die Explosionsdarstellung in der Technik oder visuelle Vergleiche (vorher – nachher; richtig – falsch). Mit 25 Paul Messaris: Visual Literacy. Image, mind and reality, Boulder 1994. 26 John Sweller: Instructional design in technical areas, Melbourne 1999; Maike Tibus: Cognitive Load. Theorie (CLT). In: Nicole Krämer, Stephan Schwan, Dagmar Unz, Monika Suckfüll (Hg.): Medienpsychologie. Schlüsselbegriffe und Konzepte, Stuttgart 2008, S.85–90.
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visuellen Leitplanken – Scanpaths – versucht der Didaktiker als Manipulator der Wahrnehmung, die Blickbewegungen zu lenken. Zusätzlich gibt es Möglichkeiten, eine semantische Integration über die inhaltliche Gestaltung anzuregen. So kann zum Beispiel der Text eine Leerstelle oder semantische Unbestimmtheit enthalten, die ein Blick in das Bild ausgefüllt. Umgekehrt können auch Bilder unbestimmte Komponenten enthalten, die erst der Text eindeutig interpretiert. Richtlinien zur effektiven Gestaltung von Text und Bild sind in zahlreichen Büchern zum Instruktionsdesign zusammengefasst.27 Der skizzierte kognitive Ansatz ist streng auf eine effiziente Verarbeitung von Text und Bild ausgerichtet. Ästhetische und emotionale Aspekte bleiben zunächst unberücksichtigt. Konsequent werden Richtlinien der Gestaltung, etwa in der technischen Kommunikation, umgesetzt. Auch in Fachbüchern – vor allem im angelsächsischen Raum – ist eine zunehmende Didaktisierung auf der Grundlage von Kenntnissen über die kognitive Verarbeitung zu beobachten. 27 Steffen-Peter Ballstaedt: Wissensvermittlung. Die Gestaltung von Lernmaterial, Weinheim 1997; Richard E. Mayer: Multimedia learning, Cambridge 2001; Roland Mangold: Informationspsychologie. Wahrnehmen und Gestalten in der Medienwelt, Heidelberg 2007; Kerstin Alexander: Kompendium der visuellen Information und Kommunikation, Berlin 2007.
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Tafel 1: Jacques Barbeu-Dubourg: Chronographie universelle & détails qui en dépendent pour la Chronologie & les Généalogies (kurz: „Carte chronographique“).
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Tafel 2: Charles und Ray Eames, Shannons Kommunikationsmodell aus „A Mathematical Theory of Communication“ von 1948, Filmstill aus dem Film „A Communications Primer“, 1953.
Tafel 3: Alexander Baumgart: Leitfaden für den Zeichenunterricht in preussischen Volksschulen. 1. Teil: Die Unterstufe, 11. Aufl., Hannover 1906, Blatt 18.
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Faksimile Ein neues Bild des Lebens
Die Bilderwelt der experimentellen Physio logie ist oft mit der „grafischen Methode“ gleichgesetzt worden. Sigfried Giedions suggestive Nebeneinanderstellung von physiologischen und künstlerischen Bewegungsstudien – hier die Gebrüder Weber und Etienne-Jules Marey, dort Marcel Duchamp und Wassily Kandinsky – hat dafür Signalwirkung gehabt.1 Seither haben sich Wissenschafts- und Kunsth is toriker immer wieder mit jenen Spuren, Kurven und Grafien auseinandergesetzt, die in den physiologischen Laboratorien des 19. Jahrhunderts hervorgebracht wurden, um die Lebensfunktionen organischer Individuen genauer untersuchen, vermessen und analysieren zu können. Während die Notationen à la Marey dadurch einen festen Platz in der Geschichte der sozialen und kulturellen Moderne gefunden haben, sind andere Elemente der physiologischen Bilderwelt nicht in vergleichbarer Weise betrachtet und verortet worden. Dies gilt zum einen für die visuellen Praktiken der Physiologie „post Marey“, die durch das Aufkommen der Kinematografie und deren Gebrauch für wissenschaftliche Zwecke nachhaltig verändert wurden. Zum anderen trifft es auf jene vielfältigen Bilder zu, die vor und nach Marey für die Vermittlung physiologischen Wissens im Hörsaal produziert wurden. Ernst Baeges Mitschrift der Vorlesungen, die der Berliner Physiologe Emil du Bois-Reymond in den Jahren 1881 und 1882 gehalten hat, eröffnen einen einzigartigen Blick auf diese Schaubühnen des physiologischen Unterrichts.2 Noch bevor Ende der 1860er Jahre die ersten großen Institute für Physiologie gegründet wurden, benutzten Physiologen wie Purkinje und Czermak Phenakistiskope, Spiegel, Wunderlampen und andere optische Medien, um dem akademischen und allgemeinen Publikum ein neues Bild des Lebens zu zeigen. Das schlagende Merkmal dieses Bildes war es, ein Bewegungsbild zu sein, das sich selbst in Bewegung befand – keine Fixierung orga-
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nischer Kinematik durch stabile Punkte und Linien (wie bei der grafischen Methode), sondern eine dynamische Darstellung ebenso dynamischer Funktionen des lebenden Körpers. Durch die Animation von Zeichnungen, vor allem aber durch epis kopische Projektionen von präparierten Organen und Organismen, sollten die Grundtatsachen der experimentellen Physiologie als einer neuartigen anatomia ani mata „anschaulich“ gemacht werden, um der aufstrebenden Wissenschaft auch auf diesem Wege zu Ansehen und Geltung zu verhelfen. Es überrascht daher kaum, dass in den 1870er Jahren, als in zunehmender Zahl Laboratorien für Physiologie eingerichtet wurden, der Architektur der Hörsäle und den dort verfügbaren Technologien für den „Anschauungsunterricht“ besondere Aufmerksamkeit gewidmet wurde. Mit Hilfe von Wandtafeln und Vorrichtungen zum Aufhängen großer Zeichnungen, über bewegliche Leinwände und leistungsstarke Projektoren, durch kleine Fähnchen, rollende Tische und eine Reihe spezieller Demonstrationsvorrichtungen – beispielsweise Czermaks Kardioskop – wurde in den Unterrichtsräumen der Physiologie eine verzeitlichte Darstellung von Lebensfunktionen bewerkstelligt, die geradezu immersive Qualitäten hatte. 1879 war es für den jungen Stanley Hall in Berlin jedenfalls offenkundig, dass der physiologische Hörsaal sich durch diese Projektionen und Demonstrationen „in eine Art von Theater“ verwandelt hatte.3 Vorreiter dieser „performativen Wende“ war Czermaks Privat-Laboratorium, das zwei Jahre zuvor in Leipzig eröffnet worden war. Vom Auditorium zum Spektatorium: Das war die Devise, die für die Gestaltung der Unterrichtsräume dieses aus eigenen Mitteln finanzierten Labors ausgegeben worden war. Czermaks „Sehsaal“ diente dem Zweck, die „unzugänglichen und fremdartigen Vorgänge“, welche die physiologische Wissenschaft zu erkennen und zu erklären versucht, „der unmittelbaren Anschauung der Zuhörer im Detail“ darzubieten.4 Der Weg zur experimentellen Physiologie führte damit nicht mehr, wie
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Abb. 1: Ernst Baege, Mitschrift einer Vorlesung von Emil du Bois-Reymond: Kreislaufschema.
Claude Bernard es noch formuliert hatte, durch eine „lange, abscheuliche Küche“, sondern über einen großen, abgedunkelten Hörsaal, in dem der riesige Schattenriss eines sich noch bewegenden Froschherzens auf eine Gipswand projiziert wurde. Für viele Physiologen war die Abwendung von einem buchstäblich auf Vorlesungen beruhenden Unterricht und die im Gegenzug stattfindende Hinwendung zu sorgfältig arrangierten Spektakeln des
Lebendigen der zwangsläufige Schritt in einer disziplinären Entwicklung, die bevorzugt am Vorbild der Chemie und Physik ausgerichtet wurde. So erklärte Emil du Bois-Reymond 1877 anlässlich der Eröffnung seines Berliner Instituts für Physiologie: „Der physiologische Hörsaal musste eine Schaubühne für Naturerscheinungen werden, wie der physikalische und chemische es schon waren, und der Physio loge bedurfte fortan eines seinen besonde-
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Abb. 2: Aus Ernst Baeges Mitschrift: Spirometer.
ren Zwecken angepassten, für Unterricht und Forschung eingerichteten Laboratoriums.“5 Ähnlich wie Czermak betonte auch du Bois-Reymond die Rolle der visuellen Wahrnehmung im physiologischen Unterricht: „[S]elber zu sehen und selber sich zu überzeugen“, sei die wichtigste Aufgabe des Novizen der Physiologie, auch wenn dies „anfangs einige Überwindung“ koste. Eben deswegen sei es wünschenswert, so erklärte er weiter, während der Vorle-
sungen „in möglichst sinnfälliger Weise die Erscheinungen selber vorzuführen“. Ohne physiologische Demonstrationen bleibe jeder mündliche Vortrag „unfruchtbar“.6 Die Vorlesungsmitschrift von Ernst Baege zeigt das wissenschaftliche Theater du BoisReymonds aus der Zuschauerperspektive – von einem der über zweihundert nummerierten Sitzplätze in dem noch heute existierenden Auditorium an der Kreuzung von Wilhelm- und Dorotheenstraße. Über den
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Abb. 3: Aus Ernst Baeges Mitschrift: Helmholtz-Experiment.
Mitschreiber ist allerdings ebenso wenig bekannt wie über die genaueren Umstände, in denen seine Aufzeichnungen entstanden. 1860 geboren, schloss Baege sein Medizinstudium in Berlin mit einer Arbeit ab, die 1884 als Beitrag zur Lehre von der Haemophi lie und der Leuchämie veröffentlicht wurde. Weitere Veröffentlichungen, etwa im Archiv für Physiologie, blieben aus. Dass der Inhalt der physiologischen Hauptvorlesung von du Bois-Reymond „in Form
sorgfältig nachgeschriebener Kolleghefte kursierte“, ist schon lange bekannt.7 Die neuere historische Forschung hat diese Ressourcen aber bislang weder identifiziert noch genutzt. Obwohl nicht auszuschließen ist, dass Baege nicht nur eigene Beobachtungen notierte, sondern sich auch auf andere Kolleghefte stützte, beeindruckt den heutigen Leser das mitreißende Element der Notate. Beide Teile der Mitschrift enthalten keine Datierung
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Abb. 4: Aus Ernst Baeges Mitschrift: Zuckungstelegraph.
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der einzelnen Vorlesungen, sondern bieten einen weitgehend synthetisierten Text, der allein thematisch untergliedert ist. In Buch II spannt sich der Bogen etwa von „Stoffwechsel und Atmung“ (Abb. 1 und 2), der „Lehre von der thierischen Wärme“, der „Lehre von der Ernährung“ über die Trias „Nervensystem“ – „Rückenmark“ – „Gehirn“ bis hin zur „Physiologie der Bewegung“ und der „Lehre von den Sinnen“, um mit der „Zeugung“ einen bemerkenswerten Schlusspunkt zu finden. So fließend nun der Inhalt dieser Notizen scheint, durch ihre Form wird Baeges Mitschrift selbst zu einer Schaubühne des Wissens. Tatsächlich sieht sich der Fortgang der Schrift immer wieder durch Auftritte und Abgänge visueller Elemente unterbrochen: Tabellen, Diagramme und Schemata, vor allem aber kolorierte Zeichnungen. Besonders bemerkenswert sind dabei die Zeichnungen der instrumentellen Akteure, etwa jener Demonstrationsgeräte, die du Bois-Reymond planmäßig für den physiologischen Unterricht zu entwickeln begann, seit er in den 1850er Jahren erstmals populäre Vorlesungen an der Royal Institution in London gehalten hatte. Neben dem „Froschunterbrecher“ und dem von Helmholtz entwickelten Versuch zur Messung der Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Reizung in den Nerven (Abb. 3) taucht gleich zweimal der „Zuckungstelegraph“ (Abb. 4) auf, eine aus Zangen, Stativen, Rollen und Gewichten bestehende Vorrichtung, mit der die durch elektrische Reizung bewirkte Kontraktion eines Muskel-Nerven-Präparats vom Frosch derart sichtbar gemacht werden konnte, dass der „Zeiger“ oder die „Fahne“ (eine rote, kreisförmige Scheibe) sich kurzzeitig aus der waagerechten Position in eine senkrechte bewegte. Du Bois-Reymond hatte diese Vorrichtung allen denjenigen ans Herz gelegt, die „über allgemeine Physik der Nerven und Muskeln vor einer größeren Versammlung“ vortragen. Mit ihrer Hilfe lasse sich die Schwierigkeit bewältigen, Zuckungen eines Froschmuskels „auf einige Entfernung hin sichtbar zu machen“ – in diesem Fall mit einem an den Zeigertelegrafen von Cooke und Wheatstone erin-
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nernden Gefüge. Mit seiner Hilfe sendete der Physiologe unbekannte Botschaften an ein Auditorium, für das die Sendung selbst schon Botschaft genug war.8 Die Kolorierung von Baeges Zeichnungen ist keine naturalistische. Sie folgt einer Codierung, die sich schnell erschließt: Rot steht für die organischen Komponenten der Versuchsanordnungen (etwa die Muskel-Nerven-Präparate), Gelb markiert die Messingteile des Instruments, Braun stellt Holzelemente dar, während Grün die Farbe der elektrischen Komponenten ist. Durch ihre Farbigkeit heben sich diese Zeichnungen deutlich von den gedruckten Abbildungen ab, wie sie sich in den Abhandlungen von du Bois-Reymond oder etwa in Cyons Atlas finden. Zugleich reihen sie sich dadurch in die Serie der ebenfalls kolorierten Vorlesungstafeln ein, die von du Bois-Reymond als „mächtiges Hilfsmittel des Unterrichtes“ geschätzt wurden.9 Bei Baege erscheinen die Instrumente allerdings als stärker kontextualisiert. Während sich die Vorlesungstafeln (ähnlich wie die Publikationen von du Bois-Reymond) auf den gleichsam in der Luft schwebenden technisch-organischen Kern der Instrumente beschränken, ergänzt Baege Energiequellen und im Einzelfall auch menschliche Akteure. Beim Spirometer (einem Gerät zur Messung des ein- beziehungsweise ausgeatmeten Luftvolumens) klebt er beispielsweise eine kleine, ausgeschnittene Herrenfigur als Versuchsperson ein – als ob die Vorgänge auf der Vorderbühne des physiologischen Unterrichts mit denen auf der Hinterbühne des wissenschaftlichen Alltags verbunden werden sollten (Abb. 2). Man kann dies anekdotisch auffassen, aber auch als feinen Bruch mit der Berliner Ästhetik des physiologischen Versuchs. Denn die Vorlesungen du Bois-Reymonds verstanden sich vor allem als die Fortsetzung der alltäglichen Laborpraxis mit anderen Mitteln. Prägend für das Experimentieren wie für das Unterrichten du Bois-Reymonds war ein kunstvoll reflektiertes Vorgehen, das von Maschinenglauben ebenso wie von Antikensehnsucht geprägt war. Die epis temische Programmatik der Organischen Physik ist von Physiologen und Physiolo-
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giehistorikern zwar oft als „reduktionistisch“ verstanden worden. Wie die neueren Studien von Norton Wise und Sven Dierig aber zeigen, war diese Programmatik in eine ästhetische Welt- und Wertsicht eingebettet, in der gymnastische Übung, zeichnerisches Können und konstruktiver Wille ein harmonisches Ganzes bildeten.10 Bei du Bois-Reymond hat diese Ästhetik auch dazu geführt, dass er, anders als Helmholtz, Donders oder etwa Ludwig, nie ein Lehrbuch der Physiologie veröffentlicht hat. Stattdessen publizierte er noch in den 1880er Jahren die Fort- und Weiterführung seiner 1848 begonnenen Untersuchungen zur thierischen Elektricität. Umso aufschlussreicher ist die Vorlesungsmitschrift von Baege, auch wenn sie mit dem Paradox konfrontiert, dass das neue, dynamische Bild des Lebens, das im Hörsaal des Berliner Instituts für Physiologie hervorgebracht wurde, wiederum durch eine grafische Methode überliefert wird: das Schreiben und Zeichnen mit bloßer Hand. Henning Schmidgen
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1 Sigfried Giedion: Mechanization Takes Command. A Contribution to Anonymous History, New York 1948. 2 Ernst Baege: Physiologie, Prof. Du Bois-Reymond, II. Theil W.S. 1881/82 [405 Seiten], und Physiologie, Prof. Du Bois-Reymond, I. Theil, S.S. 1882 [115 Seiten], Zentralbibliothek der Humboldt-Universität zu Berlin, Hdschr. Koll. 310:1/2. Mit Dank an Karsten Heck, der meine Aufmerksamkeit auf diese Mitschriften gelenkt hat. 3 Stanley Hall: The Graphic Method, The Nation, Nr. 745, 9. Oktober 1879, S. 238. 4 Johann Nepomuk Czermak: Die Physiologie als allgemeines Bildungs-Element [1870]. In: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 2, Leipzig 1879, S. 116 (Hervorh. im Orig.). 5 Emil du Bois-Reymond: Der physiologische Unterricht sonst und jetzt [1877]. In: Estelle du Bois-Reymond (Hg.): Reden von Emil du Bois-Reymond in zwei Bänden, Bd. 1, Leipzig 1912, S. 637 (Hervorh. H.S.). 6 Du Bois-Reymond: Unterricht (s. Anm. 5), S. 651. 7 Heinrich Boruttau: Emil du Bois-Reymond, Wien/Leipzig/München 1922, S. 58. 8 Emil du Bois-Reymond: Beschreibung einiger Vorrichtungen und Versuchsweisen zu elektrophysiologischen Zwecken [1862/63]. In: Ders.: Gesammelte Abhandlungen zur allgemeinen Muskelund Nervenphysik, Bd. 1, Leipzig 1875, S. 145–227. 9 Du Bois-Reymond: Unterricht (s. Anm. 5), S. 634. Die Vorlesungstafeln sind im Nachlass von du Bois-Reymond erhalten (Staatsbibliothek zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz, Sammlung Darmstädter, Kasten 1, Mappe 4). 10 Norton Wise: Bourgeois Berlin and Laboratory Science (in Vorb.); Sven Dierig: Wissenschaft in der Maschinenstadt: Emil du Bois-Reymond und seine Laboratorien in Berlin, Göttingen 2006; Sven Dierig und Thomas Schnalke (Hg.): Apoll im Labor: Bildung, Experiment, mechanische Schönheit, Berlin 2005.
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Bildbesprechung
Abb. 1: Realschüler, 6. Klasse: „Stuhl“, Arbeitszeit 30 Minuten, Bleistift, Tinte, Filzstift., ca. 21 x 21 cm, 2007.
Bildbesprechung
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Bildbesprechung Verstehendes Sehen und übersetzendes Zeichnen. Kunstpädagogische Praxis in der Sekundarstufe I
„Je gebildeter ein Mensch ist, desto mehr lebt er nicht in der unmittelbaren Anschauung, sondern … zugleich in Erinnerungen … Ebenso begnügt sich ein gebildeter Mensch vornehmlich mit sei nen Bildern und fühlt selten das Bedürfnis der unmittelbaren Anschauung.“ (G.W.F. Hegel) 1
Das vorliegende Blatt mit vier Zeichnungen (Abb. 1) entstand von der Hand eines elfjährigen Realschülers im Rahmen einer 45-minütigen Unterrichtsstunde im Fach Bildende Kunst. Ausgangspunkt war die Projektion einer Fotografie, die einen einfachen Holzstuhl aus leicht schräger und erhöhter Perspektive zeigt (Abb. 2).2 Im Klassengespräch wurde zunächst thematisiert, dass Arbeitsprozesse in vielen Berufen (Schreiner, Architekt, Schlosser etc.) mit Zeichnungen beginnen. Die Aufgabe lautete nun, eine technisch-konstruktive Darstellung in Form von Planzeichnungen aus drei verschiedenen Richtungen anzufertigen: als Seiten- und Vorderansicht sowie als Draufsicht. Dabei sollte sichtbar gemacht werden, aus welchen Teilen der Stuhl zusammengesetzt ist, so dass ein Schreiner ihn nachbauen könnte. Zusätzlich sollten die Schüler versuchen, eine perspektivische Ansicht aus einer anderen als der im Foto gezeigten zu zeichnen, Nach Vorbesprechung der Aufgabe blieb noch eine halbe Stunde Zeichenzeit. Die Schüler, die weder im Kunstunterricht noch in technischen Fächern oder Geometriestunden zuvor eine derartige Aufgabe bearbeitet hatten, zeichneten mit äußerster Anstrengung und Konzentration. Viele Radierspuren auf den Blättern lassen Fehlversuche und Korrekturen im Zeichenprozess bei der Abschätzung von Größen- und Richtungsverhältnissen erkennen. Im vorliegenden Beispiel sind, unter einer monumentalen und etwas ungelenken Überschrift, die drei beschrifteten Planzeichnungen in einer Reihe nebeneinander angeordnet. Die Bleistiftstriche sind sehr
Abb. 2: Die fotografische Vorlage.
entschieden und klar ausgeführt, wenn auch nicht exakt orthogonal orientiert. Die darunter gezeichnete perspektivische Ansicht lässt dagegen schon am zaghaften Gebrauch des Stiftes erkennen, wie unsicher der Zeichner bei dieser für ihn neuen und extrem fordernden räumlichen Darstellung war, wie leise und vorsichtig – fast ungläubig zusehend – er sich mit seinen Linien im Feld perspektivischer Darstellung bewegt. Vorstellungsbildung – Imagination, Schema, Darstellungsformel
Bilder aus der kunstpädagogischen Praxis haben den Vorzug, dass die Kontexte und Prozesse ihres Entstehens oft sehr genau bekannt sind.3 So ist nicht nur das Alter des Kindes bekannt, sondern auch der Grad seiner Darstellungs- und Gestaltungskompetenz, die der Lehrer bezüglich der figürlichen Darstellung, der Kompositionsschemata, der Raumschemata im Verlauf der bildnerischen Arbeiten über das Schuljahr beobachten, aber auch im Vergleich mit allen Schülern der Klasse taxieren kann. In die Beurteilung des Verhältnisses zwischen den Intentionen der Aufgabenstellung und der gestalterischen
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Leistung des Schülers müssen alle Prozessbeobachtungen eingehen, so zum Beispiel die im Einzelfall vom Lehrer gegebenen Hinweise und dessen Gespräche mit dem Schüler.4 Das beschriebene didaktische Szenario basiert auf einer kunstpädagogischen Auffassung, der zufolge die Darstellungs- und Gestaltungskompetenzen von Kindern und Jugendlichen im Unterricht methodisch zu entwickeln und fortzubilden sind und die sich deutlich von pädagogischen Konzepten eines vorrangig prozessualen Erlebens und Erfahrens der rein künstlerisch motivierten Ausdrucks-, Experimentier- und Selbstentwicklungspraxis absetzt.5 Die gestalterische Aufgabe ist im Spannungsfeld einerseits der entwicklungspsychologisch beschreibbaren Denk-, Vorstellungs-, Wahrnehmungs- und Darstellungskompetenzen des Kindes angesiedelt, bezieht andererseits auch dessen subjektive Ausdrucks- und Darstellungsbedürfnisse und schließlich die Sehgewohnheiten europäischer Bildkultur mit ein.6 Dabei geht es nicht nur um ausdrucks- und fantasiebezogenes Gestalten, sondern auch um klar sachbezogene Darstellungsweisen, mit dem Anspruch, die Pädagogik auf die Perspektive einer allgemeinen Bildung hin zu orientieren.7 Die bildliche Darstellung der körperlichräumlichen Wahrnehmungswirklichkeit wird von Kindern – entsprechend ihrer in Deutungsmustern strukturierten Wahrnehmung – ab dem 3./4. Lebensjahr mit Hilfe von sogenannten Darstellungsformeln gelöst.8 In ihnen werden auffällige und signifikante Gestaltmerkmale von Dingen in prägnante bildhafte Flächenformen gefasst. Diese Formen sind flexibel und lassen sich in begrenztem Maß an modifizierte Erfahrungen anpassen. Im Übergang zum Jugendalter suchen Kinder ihre Darstellungsformeln zu erweitern, zu korrigieren und zum Teil neu zu entwickeln. Vorbilder sind dabei kulturell begegnende Bilder. Mit dem sukzessiven Aufbau des Bildgedächtnisses geht eine permanente Modifikation der eigenen Gestaltungsintentionen einher. Aber auch die eigene Anschauung der Sachen, Sachverhalte und Sachzusammenhänge selbst ist ein Korrektiv, das im Streben nach „Realismus“ zunehmend als anschauliche Richtschnur dient. Im Resonanzraum zwischen der Dingwahrneh-
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mung, inneren Bildern und den kulturellen Bildwelten entwickelt und bildet sich das Darstellungsvermögen fort.9 Kunstpädagogische Arbeit in dieser Altersstufe muss sich einerseits grundsätzlich offen gegenüber allen möglichen Darstellungsformen, -bedürfnissen und -systemen verhalten, andererseits aber muss sie die schrittweise Entwicklung einer elaborierten und kommunikationstauglichen Darstellungskompetenz fördern, im Sinne einer Vermittlung etablierter und berufsrelevanter Darstellungskonventionen. Die reformpädagogisch inspirierte musische Bildung der 1950er Jahre verfolgte eine programmatische Präferenz der inneren, der Fantasie entspringenden Bilder. Im Kunstunterricht der 1960er Jahre galten die Darstellungssysteme der zeitgenössischen Kunst und ihre spontan-subjektiven Ausdrucksformen als bevorzugter Maßstab der Bildungsarbeit, während objektiv-sachliche Darstellungssysteme geradezu aus dem Bildungsprozess ausgeschlossen wurden. In der aktuellen Kunstpädagogik wird – wenigstens in gestaltungszentrierten Konzepten – ein balanciertes Wechselverhältnis zwischen „inneren“ und „äußeren“ Bildern zur pädagogischen Richtschnur genommen.10 Die technische Planzeichnung ist nach dem Muster der darstellenden Geometrie in hohem Maße kulturell akzeptiert und relevant. Sie klärt und erklärt Vorstellungen und dient somit als Grundlage für handwerklichkonstruktive Planungs- und Produktionsprozesse sowie für deren Vermittlung. Die Auseinandersetzung mit dieser Bildform schult und fördert das Vorstellungs- und Darstellungsvermögen. Die Unterrichtsstunde dient in diesem Kontext als Propädeutikum komplexerer Lerneinheiten zur Ding- und Raumdarstellung in der Sekundarstufe I. Übersetzungsverhältnisse und Vorstellungskonflikte
Die besprochene Schülerzeichnung entstand nicht nach der räumlich-leibhaftigen Anschauung, aber auch nicht aus der rein introspektiven Vorstellung. Es ist vielmehr Resultat vielschichtiger Übersetzungsprozesse zwischen verschiedenen Bildtypen und Vorstellungskomplexen. Die verstehende Dekodierung eines perspektivischen Fotos
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als Darstellung einer Raumsituation gehört zu den kognitiven Kernkompetenzen abendländischer Kultur, aber nicht unbedingt zu den entwicklungspsychologischen Standards des frühen Jugendalters. Einem ausgebildeten Schreiner, der im Stande wäre, den fraglichen Stuhl direkt nach dem Foto zu bauen, gelänge es – gleichsam in Analogie zu Platons Höhlengleichnis – den Überstieg vom bildhaften Schein zur vollen Wirklichkeit zu leisten. Die Schüler dagegen sollten eine Bildübersetzung leisten – aus einer fotografischen Abbildung in eine flächige Planzeichnung. Diese Übersetzungsleistung ist ein signifikanter Teil des handwerklichen Produktionsprozesses. Sie erfordert zuerst eine differenzierende und klärende Wahrnehmung des abgebildeten Sachverhaltes, sodann ein interpretierendes Überführen in die innere Vorstellung und schließlich eine Rückübersetzung in eine neue – streng objektivierende – Bildform. Jeder dieser komplexen Schritte kann in seinen Teilleistungen sprachlich erschlossen und damit didaktisch begleitet sowie im bildnerischen Vollzug überprüft werden. Werden die Schritte vollständig geleistet und wird schließlich auch noch nachgemessen und richtig abgeschätzt, dann kann eine Planzeichnung als überprüfbares Endresultat entstehen. Ausgangspunkt der Übung im konstruktiven Zeichen ist im vorliegenden Fall notabene nicht die Sachanschauung, sondern die Bildanschauung. Der didaktische Weg zum Lernziel führt von der Bildwahrnehmung über das Verstehen der Darstellung zum inneren Vorstellungsbild und von dort zurück zum planimetrisch konstruierten Bild. Dieser Prozess ergebnisorientierter visueller Wahrnehmung und grafischer Gestaltung fördert gezielt die Erarbeitung und Präzisierung kulturell konventionalisierter Darstellungsformeln, die für die Schüler größtenteils neu oder nur aus der Anschauung von Plänen bekannt sind, die sie aber selbst noch nie praktisch angewendet haben. Die halbstündige Zeichenübung involviert die Jugendlichen in einen rezeptiven und produktiven Prozess, dessen Dreh- und Angelpunkt in der Imagination eines dynamisierten Modells des bildlich dargestellten Gegenstandes liegt. Aus dem Foto muss ein allseitiges Vorstellungs-
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Abb. 3: Realschülerin, 6. Klasse: „Stuhl“, Arbeitszeit 30 Minuten, Bleistift, Filzstift., ca. 21 x 21 cm, 2007.
bild gewonnen werden, ein distinktes und operational verfügbares, inneres Bildmodell des Stuhls, das in der Imagination allseitig gedreht werden kann, um als Quelle derivater Bildansichten zu dienen. Diese introspektiven Vorstellungsbilder müssen in permanentem visuellem Abgleich mit der Fotovorlage im Arbeitsgedächtnis rekonfiguriert werden, um als internalisierte Vorlagen für die handwerkliche Ausführung der Zeichnungen dienen zu können. Wie nachhaltig konkrete Vorstellungsbilder aus dem Gedächtnis heraus operationalisierbar bleiben ist unklar, doch sicher ist, dass der Prozess der imaginativen Modellbildung erlernt und geübt werden muss.11 Gedrehtes Vorstellungsbild, verstandener Stuhl, dynamisches Bildsystem
Besonders aufschlussreich für diese höchst komplexe Verschränkung von Imagination
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Abb. 4: Paul Cézanne: Stillleben mit Ingwer topf und Korb, um 1890, Öl auf Leinwand, 65 x 81 cm, Musée d’Orsay, Paris.
und Gestaltung ist die abschließende Aufgabe. Nachdem sich die Schüler ihres innerlichen Verstehens des Fotos durch das Anfertigen der Planzeichnungen ganz versichert hatten, sollten sie eine gedrehte Perspektivansicht des Stuhls zu zeichnen versuchen. Die Aufgabenstellung markiert die Grenze dessen, was in dieser Altersstufe zu leisten ist. In der Klasse 7 sähen die Versuche – in individueller Stufung – schon ganz anders aus. Das Schrägbild soll gerade nicht durch ein allein vom visuellen Nachbild gestütztes, mimetisches Abzeichnen des Fotos gewonnen werden, sondern aus der individuell erarbeiteten Vorstellung. Nur die Planzeichnungen können dabei als Basis dienen. Eine andere Schülerin derselben Lerngruppe betitelt ihren Versuch mit den Worten „mein 3D Bild“ (Abb. 3). Der konzentrierte Kampf der Kinder mit der Performanz dieser Vorstellungsleistung und den Tücken isometrischer Darstellungskonventionen ist in den abgebildeten Zeichnungen klar zu erkennen. Sie kennen diese zwar aus der Bildkultur, haben sie aber noch nicht innerlich verstanden und können auch noch nicht praktisch darüber verfügen. Das zu erwarten oder gar zu fordern, wäre entwicklungspsychologisch verfrüht. Indem sich Kinder aber an solchen Aufgaben abarbeiten, wächst ihr Anspruch und auch ihr Vermögen, komplexe dinglich-räumliche Vorstellungen zu erzeugen. Die in den collageartig zusammengefügten Teilformeln sichtbaren Konflikte zwischen den verschiedenen mentalen Anläufen zu einer gelingenden integrierten
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Gesamtvorstellung sind besonders erhellend. Die Imagination arbeitet sich Schritt für Schritt vor, sucht Anhalt an schon Gezeichnetem, versucht räumliche Unterschiede durch zeichnerische Richtungswechsel zu artikulieren und kommt doch zu keiner vollständigen bildhaften Homogenität. Dieses vermeintliche Scheitern der jugendlichen Zeichner an den Darstellungskonventionen des perspektivisch-konstruktiven Zeichnens weist auch einen didaktischen Weg zurück in die Auseinandersetzung mit kulturell begegnenden Bildwelten. Dem Schüler mag der in seiner Zeichnung deutlich sichtbare Bruch mit perspektivgeschulten Sehgewohnheiten zunächst als Makel an der eigenen Arbeit erscheinen. Das Streben der Kinder am Ende der Kindheit hin zu konventionellen Bildlösungen ist in der Literatur häufig beschrieben und erklärt worden.12 Doch löst man sich von der normativen Vorstellung einer perspektivischen Bildlogik und versteht auch unkonventionelle Raumdarstellungen als Abbildungen des wirklichen Wahrnehmungs-, Imaginations- und Darstellungsprozesses, so fallen gewisse Ähnlichkeiten solcher konflikthafter Kinderzeichnungen mit dem Ringen der Künstler um 1900 mit neuen „postperspektivischen“ Bildformen auf. So löst sich etwa in Paul Cézannes späten Bildern (Abb. 4) der einheitliche Bildraum zugunsten einer performativen und sich sukzessive bildenden Realisation aus einzelnen energetischen Wahrnehmungs- und Vorstellungsakten auf. Das Sehen wird hier als „Erdenken“ (concevoir) und „Komponieren“ (composer) von Bildern verstanden.13 Das ist ein Darstellungsweg, den dann Picasso und Braque nach 1907 im analytischen Kubismus weiter beschritten. So betrachtet ist die Darstellungsarbeit des Schülers ein wunderbar klares Beispiel für die Mühe des Erdenkens eines schlüssigen, der Wahrnehmung analogen Bildes. Die Schülerzeichnung erlaubt gleichsam einen Blick über die Schulter des Zeichners auf den Prozess der sukzessiven Imagination und der Bildwerdung. Darin liegt ihr Erkenntniswert im Rahmen einer Hermeneutik der Bildung des Bildes. Hubert Sowa
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1 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, Philosophie des Geistes, § 454, Zusatz, Hegel, Werke, Bd. 10, Frankfurt a.M. 1970, S. 262. 2 Vgl. Alexander Glas, Fritz Seydel, Hubert Sowa, Bettina Uhlig (Hg.): Kunst Arbeitsbuch, Bd. 1, Stuttgart/ Leipzig/Velber 2008, S. 102f. 3 Vgl. Hubert Sowa, Bettina Uhlig: Bildhandlungen und ihr Sinn. Methodenfragen einer kunstpädagogischen Bildhermeneutik. In: Winfried Marotzky, Horst Niesyto (Hg.): Bildinterpretation und Bildverstehen. Methodische Ansätze aus sozialwissenschaftlicher, kunst- und medienpädagogischer Perspektive, Ludwigsburg 2007, S. 77–106. 4 Vgl. hierzu ausführlich: Georg Peez (Hg.): Beurteilen und Bewerten im Kunstunterricht. Modelle und Unterrichtsbeispiele zur Leistungsmessung und Selbstbewertung, Stuttgart/Velber 2008. 5 Vgl. Carl-Peter Buschkühle (Hg.): Perspektiven künstlerischer Bildung, Köln 2005; Joachim Kettel: SelbstFREMDheit. Elemente einer anderen Kunstpädagogik, Oberhausen 2001. 6 Vgl. Constanze Kirchner (Hg.): K inderund Jugendzeichnung, Sammelband Kunst + Unterricht, Velber 2003; Alexander Glas: Die Bedeutung der Darstellungsformel am Beginn des Jugendalters. Frankfurt a.M.1999; Max Kläger: Phänomen Kinderzeichnung. Manifestation bildnerischen Denkens, Baltmannsweiler 1989; Hans Günther Richter: Die Kinderzeichnung. Entwicklung, Interpretation, Ästhetik, Düsseldorf 1987; zur Didaktik vgl.: Alexander Glas, Hubert Sowa: Gestaltungskompetenz. Begriffsklärung und Beispielfelder. In: Johannes Kirschenmann, Frank Schulz, Hubert Sowa (Hg.): Kunstpädagogik im Projekt der allgemeinen Bildung, München 2006, S. 249–262. 7 Gustav Britsch: Theorie der Bildenden Kunst, München 1926; Hans Dieter Huber: Das Gedächtnis der Hand. In: Schulz, Kirschenmann, Sowa (s.
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Anm. 6), S. 39–51; Peter Schubert (Hg.): Zeichnen: Sachen klären und verstehen. Kunst + Unterricht Nr. 302/303, Velber 2006. Dass unsere Wahrnehmung schematisierend vorgeht und Einzelheiten summarisch in integrativen Mustern zusammenschließt (Wahrnehmungsschema), ist eine Erkenntnis der Gestaltpsychologie (vgl. z.B. Wolfgang Metzger: Gesetze des Sehens, Frankfurt a.M. 1975; Magdalen D. Vernon: Wahrnehmung und Erfahrung, Köln 1974. Aus kunstpädagogischer Sicht ist laut Glas (s. Anm. 6) eine Darstellungsformel ein körperliches Handlungsskript, eine medienspezifisch-handwerkliche Ausführungsform, die das innere Wahrnehmungsschema zum sichtbaren Ausdruck zu bringen versucht. Sie wird im Abgleich mit den Beobachtungen und Erinnerungen erarbeitet, bis sie als gelungen akzeptiert und als habituelles Gestaltungshandeln repetiert wird. Nach diesem Muster lassen sich zeichnerische Prozesse als kombinierende und rekombinierende Anwendungen erworbener Darstellungsformeln interpretieren. Vgl. Richter (s. Anm. 6). Vgl. besonders Glas (s. Anm. 6). Vgl. Hubert Sowa, Patrycja Przybilla: Der Spielraum der kreativen Imagination; hermeneutische Untersuchungen zur bildnerischen Arbeit von Realschülern. In: Kunst + Unterricht Nr. 331/332, Velber 2009; Gerhard Hüther: Die Macht der inneren Bilder, Göttingen 2004; Ingo Rentschler, Eva Madelung, Peter Fauser (Hg.): Bilder im Kopf. Texte zum imaginativen Lernen, SeelzeVelber 2003. Vgl. exemplarisch Richter (s. Anm. 6), S. 67ff. Cézanne: „Für den Künstler bedeutet Sehen Erdenken, und Erdenken bedeutet Komponieren.“ In: Michael Doran: Conversations avec Cézanne, Paris 1978, S. 15; Ders.: Gespräche mit Cézanne, Zürich 1982; hier zitiert nach: Friederike Kitschen: Paul Cézanne – Stilleben, Ostfildern-Ruit 1995, S. 132f.
Barbara Wittmann
Ohne Vorbild. Kinderzeichnungen machen Schule
Zwei Schulklassen, zwei Methoden des Zeichenunterrichts (Abb. 1 und 2) – sie könnten u nterschiedlicher nicht sein und doch haben sie beide Teil am Projekt der Reformpädagogik. Die Situation in der ersten Klasse (Abb. 1) nimmt sich einigermaßen surreal aus: Mehr als zwei Dutzend gleichaltriger und gleich gekleideter Knaben zeichnen in unwahrscheinlicher SynAbb. 1: Unterricht im „Freearm drawing“ in einer Glasgower oder chronisation ein schematisches Londoner Schulklasse um 1900. Laubblatt. Das Vorbild für diese Zeichnungen wurde klein und unscheinbar in der linken oberen Ecke der Tafel angebracht, während ein viel größeres gezeichnetes Blatt in der Mitte der Tafel die Autorität des Vorbilds beansprucht und das Gesetz des abwesenden Lehrers verkörpert. Was hat die Absenz des Lehrers zu bedeuten? Befindet sich der Schulmeister etwa hinter den Kindern und schlägt mit seinem Stock den Takt zum Zeichnen?1 Oder hat der Fotograf verstanden, dass der Lehrer schließlich überflüssig geworden sein wird, wenn die Schüler wie gut kalibrierte Apparate agieren? Der Londoner Superintendent of Drawing and Manual Instruction Joseph Vaughan, aus dessen Zeichenkurs von 1903 diese Abbildung stammt, bestimmt die Übung des koordinierten Zusammenspiels von Auge, Hand und Gehirn als eigentliches Lernziel des Unterrichts. Noch bevor die Schüler mit dem Zeichnen nach Vorlagen beginnen, trainieren sie das freihändige Ziehen von Kreisen, Ovalen und vor allem Kurven, um die Motorik und Koordination der Hände und Arme zu fördern. Schon bald versuchen sich Vaughans Schüler auch in der Wiedergabe gesehener Dinge, wobei die Nachahmung der zweidimensionalen Vorlage aber wesentlich durch das motorische Gedächtnis angeleitet werden
1 Das synchrone Zeichnen im Takt und nach Diktat war eine im 19. Jahrhundert durchaus verbreitete Praxis; vgl. Wolfgang Kemp: „…einen wahrhaft bildenden Zeichenunterricht überall einzuführen“. Zeichnen und Zeichenunterricht der Laien 1500–1870. Ein Handbuch, Frankfurt a.M. 1979, S. 302–304.
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soll.2 Nun wird auch verständlich, warum keiner der Schüler Vaughans auf das grafische Vorbild auf der Tafel blickt. Nicht an der Form des Modells richten sich die Bewegungen der kleinen Zeichner aus, sondern an einem verinnerlichten Bewegungsablauf – an der „inneren Ordnung“ einer eurythmisierten Motorik. In der Hamburger Volksschule der 1920er Jahre herrscht Abb. 2: „Die Kleinen an der Lauftafel“, 5. Mädchenschule-Volksschule, weder das Regime des Vor- Hamburg Ottensen, undatiert (späte 1920er/ frühe 1930er Jahre). bildes noch des internalisierten Zeichenrhythmus (Abb. 2). Der Fotograf blickt bezeichnenderweise nicht mehr über die Köpfe der Kinder hinweg auf die Schultafel und den Ort des abwesenden Lehrers, sondern hat sich quer zur Schulklasse positioniert. Die Mädchen arbeiten teils sitzend, teils stehend an einer langen Lauftafel, welche die gesamte Längswand des Klassenraums begleitet. Alle Kinder wurden offensichtlich vor dieselbe Aufgabe gestellt – sie zeichnen einen Weihnachtsbaum – und alle Projekte sind ungefähr gleich weit fortgeschritten. Was dabei entsteht, unterscheidet sich nicht wesentlich von Kinderzeichnungen, wie sie auch außerhalb der Schule angefertigt wurden und immer noch werden. Manche der Kinder – insbesondere das Mädchen ganz links außen – haben bereits konventionelle grafische Formeln assimiliert, manche entwickeln recht individuelle Strukturen. Abgesehen davon zeichnen sie ohne Vorbild, ja sogar ohne sichtbaren pädagogischen Eingriff. Was also unterscheidet dieses Zeichnen von jener Aktivität, der das Kind in seiner Freizeit nachgeht? Was bedeutet es, den Unterricht auf der Kinderzeichnung zu begründen? Und welche Folgen hat das allmähliche Schwinden des Vorbilds für die Vermittlung des Zeichnens?
2 Joseph Vaughan: Nelson’s New Drawing Course, Edinburgh 1903, S. 12; vgl. dazu Barbara Wittmann: Zeichnen, im Dunkeln. Psychophysiologie einer Kulturtechnik um 1900, in: Werner Busch, Oliver Jehle, Carolin Meister (Hg.): Randgänge der Zeichnung, München 2007, S. 165–186.
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Schon der Gründungsvater der modernen Pädagogik Jean-Jacques Rousseau möchte die gezeichneten und lithografierten Vorlagen aus der Erziehung der Kinder verbannt sehen: „Ich will keinen anderen Lehrer für ihn als die Natur und keine anderen Modelle als wirkliche Gegenstände. Ich will, daß er das Original vor Augen hat und nicht das Papier auf dem es dargestellt ist. Er soll ein Haus nach einem richtigen Haus zeichnen, einen Abb. 3: Vorlagenblatt aus dem „Muster-Zeichen-Buch Baum nach einem Baum und einen Menschen für Schulen und zum Selbstunterricht“ mit einer Nachnach einem Menschen, damit er sich daran zeichnung des Schülers Chr. Seemann, Hamburg 1865. gewöhnt, alles richtig nach seinen Erscheinungsformen zu beobachten und nicht daran, falsche und konventionelle Nachbildungen für wirkliche zu halten.“3 Obwohl diese programmatischen Sätze sich das gesamte 19. Jahrhundert hindurch paraphrasiert in vielen Zeichenlehrbüchern und theoretischen Reflexionen zum Thema finden, blieben sie doch einstweilen nur Absichtserklärung ohne konkrete Vorschläge zu ihrer Umsetzung. Der schulische Zeichenunterricht orientierte sich in Deutschland, Frankreich und England noch mindestens bis 1870 – zumindest theoretisch, denn praktisch wurde er ohnehin vernachlässigt – an den Anfangsgründen der Künstlerausbildung. Die Prinzipien der grafischen Repräsentation wurden weitgehend am Vorbild erlernt, also durch Abzeichnen von Ornamenten, Idealköpfen und Landschaften sowie von geometrischen Figuren (Abb. 3 und 4).4 Die zentrale Aufgabe des schulischen Zeichenunterrichts bestand – auch darin der akademischen Ausbildung verwandt – in der möglichst kunstfertigen Aneignung des Zeichnens als einer Sprache des Anderen. Als erfolgreich galt ein Zeichenschüler, wenn er seine persönliche Handschrift hinter dem kollektiven Vokabular von akademischen und geometrischen Bildformeln zum Verschwinden zu bringen vermochte; wenn er erst nachdem er das Repertoir
3 Jean-Jacques Rousseau: Emile oder Über die Erziehung, Stuttgart 1963, S. 311–312; vgl. dazu Kemp (s. Anm. 1), S. 309. 4 Vgl. Kemp (s. Anm. 1); Clive Ashwin: Drawing and Education in German-Speaking Europe, 1800–1900, Ann Arbor 1981; siehe auch der Beitrag von Kerrin Klinger in diesem Band.
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der Vorbilder virtuos zu beherrschen verstand, einen Stil oder eine spezifische Weise seines Ausdrucks zu entwickeln versuchte. Die Adaption des akademischen Prinzips im Curriculum der Volksschule funktionierte allerdings nur, solange die Pädagogen es sich nicht zum Problem werden Abb. 4: Geometrische Vorzeichnungen des Lehrers Joh. Poppe Zeichnungen im Netz), Privatschule, Hamburg, ließen, dass die meisten Kinder schon (sogenannte undatiert (Ende 1860er Jahre). zeichneten, bevor sie zur Schule kamen, und dass dieses Zeichnen sich wesentlich von dem unterschied, was im Zeichenunterricht gelehrt wurde. Für diese Weise des Zeichnens, das nicht Kulturtechnik oder künstlerische Praxis, sondern anthropologische Funktion (in der Diktion der Zeit: ein „natürlicher, künstlerischer Trieb“) ist, prägten Reformpädagogen den Begriff der „freien Kinderzeichnung“, worunter sie „eine große Fülle von freien, d.h. auf keine Weise von Erwachsenen beeinflussten Kinderzeichnungen“ verstanden.5 Im späten 19. Jahrhundert herrschte also die Vorstellung, dass Kinder die elementaren Grundsätze des Zeichnens nicht zu erlernen brauchen, weil sich das Zeichnen als eine Art natürliche Sprache gemäß der biologischen Entwicklung des Kindes autopoietisch entfalte. Seit der ersten selbstständigen Publikation zur Kinderzeichnung durch den italienischen Kunsthistoriker Corrado Ricci galt die „Kunst des Kindes“ als „Niederschrift dessen, was das Kind von dem Gegenstande zu sagen hat“.6 Das Kind zeichnet nicht, was es sieht, sondern was es weiß – so der in der Literatur zur Kinderzeichnung stetig wiederholte Aphorismus Riccis.7 Die grafische Aktivität des Nachwuchses gleicht damit in radikalisierter Form jener Konzeption des Zeichnens als einer dienenden Funktion des Geistes, die in der italienischen Kunsttheorie der Frühen Neuzeit unter dem Begriff des „disegno“ gefasst worden war.
5 Alle Zitate aus: Das Kind als Künstler (Ausstellung freier Kinderzeichnungen in der Kunsthalle). In: Neue Hamburger Zeitung, 3. Jg., Nr. 475, Morgen-Ausgabe, 11. Oktober 1898, S. 1–2, S. 1 (Autorenkürzel R.S.); vgl. dazu allgemein: Reiner Hespe: Der Begriff der Freien Kinderzeichnung in der Geschichte des Zeichen- und Kunstunterrichts von ca. 1890–1920: Eine problemgeschichtliche Untersuchung, Bern 1985. 6 Hermann Grosser: Das freie Zeichnen der Kinder in seiner pädagogischen Bedeutung. In: Frauenbildung, Jg. 5, 1906, Heft 11, S. 548–558, S. 553. 7 Corrado Ricci: L’arte dei bambini, Bologna 1887, S. 11.
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II
Die Reformpädagogik beschrieb die Kinderzeichnung als selbstgenügsame Praxis, die kein äußeres Vorbild nötig hat; aber nicht nur deshalb stand die spontane Kunst der Kinder dem Zeichnen als einer Kulturtechnik, wie sie die Schule vermitteln will, antinomisch gegenüber. Trotz der pädagogischen Anerkennung, die das „freie“ Zeichnen der Kinder um 1900 erfuhr, galten die Produkte dieser Beschäftigung weiterhin als bloßer „kindlich-kindische[r] Zeitvertreib“ und „wertloses Schreibgekritzel“, das man „in den Ofen zu werfen pflegt“.8 Als pädagogisch wertvoll interessierten allein die Gestaltungsprinzipien dieses Zeitvertreibs; ihre Erkenntnis sollte den Zeichenunterricht auf eine neue methodische Basis stellen. Progressive Lehrer gingen nun davon aus, dass das Kind bereits alle Anlagen zum Zeichnen mit in die Schule bringe und der Unterricht diese nur auf „psychologischer Grundlage planmäßig zu entwickeln“ habe.9 Im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts machten sich die ersten Zeichenpädagogen an die Einlösung dieser Forderung. 1898 organisierte der Hamburger Volksschullehrer Carl Götze, der schon ein Jahr zuvor zur Entwicklung einer „naturgemässe[n] Zeichenmethode“ aufgerufen hatte, unter dem Titel Das Kind als Künstler in der Hamburger Kunsthalle die erste Ausstellung „freier Kinderzeichnungen“ außerhalb eines Schulgebäudes.10 Im Gegensatz zum kunsthistorischen Ort und Rahmen – die Zeichnungen wurden im Vorraum des Kupferstichkabinetts in der Alten Hamburger Kunsthalle präsentiert, der sonst den Handzeichnungen und der Druckgrafik alter Meister vorbehalten blieb – stand die Ausstellung im Dienst eines explizit pädagogischen Projekts. Wie der von Götze verfasste Katalog deutlich macht, sollte sich der interessierte Besucher mit dem „gesetzmäßige[n] Fortschritt“ der Kinderzeichnung vom einfachen Gekritzel zur komplexen Bilderzählung vertraut machen und daraus Konsequenzen für die Erziehung des Kindes ableiten.11 Die Reformideen für einen Zeichenunterricht des Seminaroberlehrers Georg Stiehler von 1906 beginnen daran anschließend mit dem Leitsatz:
8 Das Kind als Künstler (s. Anm. 5), S. 1. 9 Alexander Baumgart: Leitfaden für den Zeichenunterricht in preussischen Volksschulen. 1. Teil: Die Unterstufe, 11. Aufl., Hannover 1906, S. 11. 10 Carl Götze: Was offenbart das Kind durch eine Zeichnung? In: Pädagogische Reform, Jg. 21, 1897, Heft 10, S. 78. 11 Lehrervereinigung für die Pflege der künstlerischen Bildung (Hg.): Das Kind als Künstler. Ausstellung von Freien Kinderzeichnungen in der Kunsthalle zu Hamburg, Hamburg 1898.
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„Der planmäßige Zeichenunterricht hat Rücksicht zu nehmen auf die kindlichen Zeichnungen des vorschulpflichtigen Alters und die zeichnerischen Übungen in den Grundklassen, weil in diesen Zeichnungen die psychologische und physiologische Seite des kindlichen Schaffens am reinsten sich offenbart.“12 Ihre wichtigsten Quellen fand diese Art von Kunsterziehung in der im Anschluss an William Preyer neu begründeten Kinderpsychologie und in der frühen psychophysiologischen Untersuchung des Schreibens und Zeichnens.13 Kinderpsychologen wie James Sully hatten seit den 1890er Jahren an der systematischen Unterscheidung verschiedener Stufen der zeichnerischen Entwicklung gearbeitet.14 Und experimentelle Psychologen wie James Mark Baldwin und Ernst Meumann konnten nachweisen, dass der versierte Zeichner nicht nur über eine gute visuelle Auffassung und eine sichere Hand verfügen muss, sondern dass er, um überhaupt zeichnen zu lernen, einen Automatismus auszubilden hat, der die verschiedenen optischen und motorischen Bewegungsempfindungen mit der Wahrnehmung und Erinnerung der Form verknüpft und koordiniert.15 Die neuen Befunde der Psychologen wurden aus der Beobachtung und Experimentalisierung der Kinderzeichnung gewonnen, und diese Befunde fanden wiederum ihre direkte Anwendung bei der Reformierung des Zeichenunterrichts. Die Gestaltungsprinzipien der Kinderzeichnung und ihre Psychogenese sollten nun die Grundlage des schulischen Curriculums schaffen. Der pädagogische Kunstgriff bestand dabei im Schaffen von niedrigschwelligen Übergängen zwischen dem genuinen grafischen Ausdruck des Kindes und der zu erlernenden Kulturtechnik: So etwa sollte der Unterricht systematisch vom Gedächtniszeichnen zum Naturstudium überleiten, vom Zeichnerischen zum Malerischen, vom Flächigen zum Dreidimensionalen, vom Einfachen zum Vielgestaltigen, von den „freieren Formen“ zu den regelmäßigen und geometrischen.16 Diese Übergänge 12 Georg Stiehler: Neuland – Kraftbildendes Zeichnen. Reformideen für einen Zeichenunterricht auf physiologischer und psychologischer Grundlage, Leipzig 1906, S. 3. 13 William Preyer: Die Seele des Kindes. Beobachtungen über die geistige Entwicklung des Menschen in den ersten Lebensjahren, Leipzig 1882. 14 James Sully: Studies of Childhood, London 1896. 15 James Mark Baldwin: Mental Development in the Child and the Race, London 1895; Ernst Meumann: Die Analyse des Zeichnens und des Modellierens und die Methodik des darstellenden Unterrichts. In: Ders.: Vorlesungen zur Einführung in die Experimentelle Pädagogik und ihre psychologischen Grundlagen, Leipzig/Berlin, 1914, 2. Aufl., Bd. 3, S. 693–775. Vgl. dazu Wittmann (s. Anm. 2). 16 Stiehler (s. Anm. 12), S. 4.
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sollten es dem Kind erlauben, aus der Kenntnis seiner grafischen ‚Muttersprache‘ heraus die Kulturtechnik des Zeichnens zu erlernen. Die Herausforderung, die dieses Vorgehen für das Kind darstellte, darf nicht unterschätzt werden. Im Unterschied zu der eher passiven Rolle, die das herkömmliche Abzeichnen von Vorlagen dem Schüler zuwies, verlangten die reformierten Zeichenmethoden vom kleinen Zeichner, dass er die Gesetzmäßigkeiten und Kunstgriffe der Repräsentation mehr oder weniger eigenständig erforschte und entdeckte. III
Wie Niklas Luhmann herausgearbeitet hat, wird das Erziehungssystem seit dem späten 18. Jahrhundert durch operative Schließung und Selbstorganisation gekennzeichnet.17 Pädagogische Einrichtungen entwickelten sich methodisch und administrativ zunehmend autonom und definieren ihre Ziele und Pflichten schließlich überwiegend selbst. Allerdings beobachtet das Erziehungssystem beständig die eigenen Operationen und wird deshalb weitgehend durch Selbstreferenz bestimmt. Das Zusammenspiel von operativer Schließung und Selbstreferenz erzeugt einen „immensen Überfluss an Möglichkeiten für weitere Operationen, der für das System selbst unkalkulierbar ist. Das System ist daher für sich selbst intransparent. Es operiert in einem Raum selbst erzeugter Ungewissheit“.18 Das moderne Erziehungssystem hat – laut Luhmann – eine „doppelte Kontingenz“ zu bewältigen: zum einen die unsichere Entwicklung des wachsenden Kindes und zum anderen die keineswegs weniger unsicheren Effekte neuer pädagogischer Institutionen, Methoden und Praktiken.19 Die Ausrichtung der Zeichenpädagogik an der Kinderzeichnung kann als Instrument der Bewältigung dieser „doppelten Kontingenz“ verstanden werden: einerseits, weil die Kinderzeichnung als natürlicher Index für die Entwicklung des individuellen Kindes begriffen wird und sich sein Fortschritt visuell überwachen lässt; andererseits, weil die Orientierung an der „freien Kinderzeichnung“ die Willkür des pädagogischen Eingriffs – zumindest scheinbar – abschwächt, da das Curriculum des Zeichenunterrichts sich direkt an den gleichsam natürlichen Zeichen der psychischen und physiologischen Entwicklung der Schüler ausrichtet. Die Kinderzeichnung wurde also paradoxerweise als Korrektiv 17 Niklas Luhmann: Das Erziehungsystem der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 2002. 18 Luhmann (s. Anm. 17), S. 14. 19 Luhmann (s. Anm. 17), S. 31–33.
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gegen die Unwägbarkeiten der Erziehung eingeführt, das Verhältnis von Schule und Kinderzeichnung erfuhr dadurch eine grundsätzliche Veränderung. IV
Zwei Jahrzehnte bevor Kunsterziehungsbewegungen ihre Zuständigkeit für die zeichnerische Bildung des Nachwuchses reklamierten, erfand Wilhelm Busch die Geschichte eines jungen Zeichners, der sein Talent bereits in jungen Jahren zeigt und damit bald schon mit Herrn Bötel, einer Inkarnation des strengen Preußischen Schulmeisters ohne jeden Sinn für Humor, in Konflikt gerät (Abb. 5): „Einst an dem schwarzen Tafelbrett / Malt Kuno Böteln sein Portrett. / Herr Bötel, der es nicht bestellt, / Auch nicht für sprechend ähnlich hält, / Schleicht sich herzu in Zornerregung; / Und unter heftiger Bewegung / Wird das Gemälde ausgeputzt. / Der Künstler wird als Schwamm benutzt.“ 20 Kuno dürfte sich an den Prinzipien der Schule im Zeitalter des vor-psychologischen Unterrichts in doppelter Weise versündigt haben: zum einen an der Logik des Fortschritts, die keinen regellosen Primitivismus duldet; zum anderen an der Autorität des Lehrers, dessen karikierendes Porträt er zeichnet und dessen Hoheitszeichen er sich aneignet – jene vertikal aufgerichtete, erratisch schwarze Tafel, auf der das Gesetz des Lehrers zu erscheinen pflegt. Die Kinderzeichnung markiert bei Wilhelm Busch die Abwesenheit der Prinzipien der Erziehung; sie wird zum Medium der karnevalistischen Auflehnung gegen die Ideale der Erwachsenen, gerade weil das Kind immer schon ihre Zeicheninstrumente benutzt und ihre Gesten nachahmt. Zwanzig Jahre danach fügte der Hannoveraner Zeichenlehrer Alexander Baumgart seinem Leitfaden für den Zeichenunterricht in preussischen Volksschulen eine Mappe mit vierundzwanzig Vorlageblättern bei, die das „bewusste Sehen“ des Kindes anleiten sollen, nachdem es das jeweilige Sujet aus dem Kopf gezeichnet, 20 Wilhelm Busch: Maler Klecksel, München 1908.
Abb. 5: Wilhelm Busch: Maler Klecksel, München 1908.
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seine Konturen in der Luft nachvollzogen und ausgiebig mit Lehrer und Mitschülern diskutiert hat.21 Blatt 18 dieser Vorzeichnungen nimmt sich besonders eigenartig aus (Abb. 6, Tafel 3): Es zeigt links ein stark abstrahiertes Schreibheft mit Schild und daneben eine kleine Schreibtafel Abb. 6: Alexander Baumgart: Leitfaden für den Zeichenunterricht in preussischen Volksschulen. 1. Teil: Die Unterstufe, 11. mit Schwamm, wie sie die Kinder im Aufl., Hannover 1906, Blatt 18. Unterricht zu verwenden pflegten. Die Schüler sollen hier nicht nur die materiellen Träger zeichnen, die im Moment nicht zum Einsatz kommen (alle Zeichnungen sollen auf größeren Bögen Packpapier angefertigt werden); sie werden dazu aufgefordert, auch das nachzuahmen, was sie im Zeichenunterricht notwendig verlernen müssen: ein kindliches Segelboot und ein Strichmännchen. Das Strichmännchen als hilfloses Angebot einer Pädagogik vom Kinde aus weist auf das zentrale Problem eines Zeichenunterrichts hin, der sich nicht mit der Vorgabe bestimmter Elemente einer zu erlernenden visuellen Sprache begnügen will, sondern das Kind zur eigenständigen Entwicklung dieser Elemente provozieren möchte. Die reformierten Zeichenkurse unterbewerten oder maskieren jenen Bruch zwischen der (freilich immer schon bis zu einem gewissen Grad kulturell geprägten) Natursprache Kinderzeichnung und dem grafischen Repräsentationssystem, das in der Schule gelehrt wird und das auf teils jahrhundertealten Bildfindungen Tausender von Zeichnern beruht. Obgleich sich dieser Bruch notwendigerweise ereignen muss, damit sich die Vergesellschaftung des Zeichnens vollziehen und vollenden kann, konstatierten die Anhänger der Kunsterziehungsbewegung einen schwellenlosen Übergang zwischen einer Kunst ohne Vorbild und einer Kunst der Aneignung. Alexander Baumgart, der Autor des Leitfaden für den Zeichenunterricht in preussischen Volksschulen, kann deshalb nicht gesehen haben, dass das Vorlagenblatt 18 nicht nur den sanften Befehl zum Nachzeichnen erteilt, sondern auch eine Art von Trauerarbeit darüber leistet, dass die Kinderzeichnung notwendigerweise an ihr Ende kommen muss, damit das Kind zeichnen lernen kann. 21 Baumgart (s. Anm. 9).
Kerrin Klinger
Zum ABC des geometrischen Zeichnens um 1800
1786 wurde vom Gründungsdirektor der Weimarer Fürstlichen Freyen Zeichenschule Georg Melchior Kraus (1737–1806) das A.B.C. des Zeichners herausgegeben. Es entwickelte sich mit zahlreichen Neuauflagen zu einem beliebten und viel genutzten Zeichenlehrbuch.1 Einige Zeit später, im Jahre 1808, legte Johann Heinrich Pestalozzi (1746–1827) sein ABC der mathematischen Anschau ung für Mütter vor, das die Zeichnung als anschaulich vermittelndes Medium im Prozess der Welterkenntnis und Begriffsbildung des Kindes ansiedelte und Müttern als Leitfaden zur häuslichen Erziehung ihrer Sprösslinge dienen sollte.2 Beide, der Künstler Kraus und der Pädagoge Pestalozzi, operieren im Titel ihrer Werke mit dem Kürzel ABC, das im Deutschen für das Alphabet steht und sich im Zeitraum von 1770 bis 1830 in zahllosen Buchtiteln vor allem von Lehrbüchern für den Elementarunterricht im Lesen und Schreiben findet. Die Autoren charakterisieren damit ihre Bücher als elementare Einführungswerke, so dass sich die frühkindliche Erziehung und die künstlerische Schulung des Dilettanten als didaktisch bemerkenswerte Äquivalente begegnen. Darüber hinaus nehmen beide Publikationen Bezug auf das alphabetische Notationssystem und suggerieren schon in ihren Titeln die Definierbarkeit eines Systems in der Zeichentechnik, das dem Code der Schriftsprache analog ist und dadurch die weitere zeichnerische oder mathematische Betätigung fundiert. Bürgerlicher Zeichenunterricht
In seinem A.B.C. des Zeichners kombiniert und komprimiert Kraus zentrale Elemente der im 18. Jahrhundert gängigen Zeichenlehren.3 Dabei entspricht das Erscheinungsbild dieses schmalen Heftchens ganz den von Dickel für die Zeichenbücher des Barock dargelegten Charakteristika: „die Aufteilung der menschlichen Figur (Elementarisierung)“, „die Strukturierung natürlicher Erscheinungsformen durch geometrische Diagramme (Schematisierung)“ und
1 Georg Melchior M. Kraus: A.B.C. des Zeichners, vierte vermehrte Auflage (1. Aufl. Leipzig 1786), Weimar 1803, faksimiliert in: Kerrin Klinger (Hg.): Kunst und Handwerk in Weimar, Köln 2009, S. 169–198. 2 Johann H. Pestalozzi: ABC der mathematischen Anschauung für Mütter […] (1808). In: Artur Buchenau, Eduard Spranger, Hans Stettbacher (Hg.): Pestalozzi. Sämtliche Werke, 21. Bd., Zürich 1964, S. 89–99. 3 Vgl. Birgit Knorr: Georg Melchior Kraus (1737–1806). Maler – Pädagoge – Unternehmer. Biographie und Werkverzeichnis, Jena 2003, S. 131f.
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„die Normierung des Strichbildes, begleitet von Anweisungen zur Strichführung“.4 In insgesamt elf Lektionen zielt Kraus darauf, Anfängern einen „leichten und richtigen Maasstab“ und damit ein „Gerüst, an dem sie ihren Menschen aufbauen können[,]“5 zu vermitteln. Die erste Lektion ist – wie bei Lairesse und Preissler, den gebräuchlichsten Zeichenlehren des 18. Jahrhunderts – der Linie gewidmet, derer fünf Arten unterschieden werden. Im Text erklärt Kraus mit Verweis auf die erste Kupfertafel (Abb. 1), jeder Zeichner müsse „die PerpendicularLinie“ (senkrechte Linie, Fig. 1), „die Horizontal-Linie“ (Fig. 2), „die Diagonal- oder Schräg-Linie“ (Fig. 3), „die Bogen-Linie“ (Fig. 4) und „die Schlangen- oder WellenAbb. 1: Georg Melchior Kraus: A.B.C. des Zeichners, Linie (Fig. 5), theils ihrer Benennung nach Weimar 1803, I. Lection: Die einfachen Linien. kennen, theils sich auch fleißig üben, sie ohne Hülfe eines Zirkels und Lineals, aus freyer Hand richtig zu ziehen“.6 Hier sind Fingerfertigkeit und Augenmaß zu üben, und zugleich werden grundlegende lineare Elemente im Sinne einer Fachsprache der Zeichnung vorgestellt. Nach einer Lektion zur Darstellung des Auges wird in der dritten Lerneinheit das klassische modulare Proportionsschema auf der Grundlage der mathematischen Verhältnisse der Nase zum Gesicht in einer Umrisszeichnung demonstriert. 4 Vgl. Hans Dickel: Deutsche Zeichenbücher des Barock. Eine Studie zur Geschichte der Künstlerausbildung, Hildesheim [u.a.] 1987, S. 245; desweiteren Wolfgang Kemp: „… einen wahrhaft bildenden Zeichenunterricht überall einzuführen“. Zeichnen und Zeichenunterricht der Laien 1500–1870. Ein Handbuch, Frankfurt a.M. 1979; Nikolaus Pevsner: Die Geschichte der Kunstakademien, München 1986; Angelika Plank: Akademischer und schulischer Elementarzeichenunterricht im 18. Jahrhundert, Frankfurt a.M. [u.a.] 1999; Gerlind Werner (Bearb.): Nützliche Anweisung zur Zeichenkunst. Illustrierte Lehr- und Vorlagenbücher aus den Beständen des Germanischen Nationalmuseums, Nürnberg 1980. 5 Kraus (s. Anm. 1), S. 4. 6 Kraus (s. Anm. 1), S. 5.
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Diese Darstellungsform setzt sich analog auf den Tafeln der folgenden Lektionen zu den Themen „Das Untergesicht“, „Die Ohren“ und „Das Gesicht von vorn“ fort. Das haarlose Gesicht der Kupfertafel zur sechsten Lektion (Abb. 2) zeigt das Antlitz eines jugendlichen Mannes mit androgynen Zügen. In der Abbildung werden ähnlich wie in Geometrielehrbüchern Kleinbuchstaben für die indexikalische Bezeichnung der im Text erwähnten Strecken verwendet, um Text und Bild aufeinander zu beziehen. Die horizontalen Grundverhältnisse sind durch Ziffern gekennzeichnet, wobei kein standardisiertes Längenmaß zugrunde gelegt wird, sondern nur Relationen zum Ganzen des Gesichts bezeichnet werden. Zusätzlich wird eine vertikale Ordinate neben die figürliche Abb. 2: Georg Melchior Kraus: A.B.C. des Zeichners, Zeichnung gesetzt, um so zu zeigen, dass Weimar 1803, VI. Lection: Das Gesicht von vorn. sich in der Vertikalen die Proportionen auch in der Profilansicht, die in der folgenden Lektion behandelt wird, nicht ändern. In den Abbildungen von der siebten bis neunten Lektion werden „Der Kopf ganz von der Seite oder im Profil“, „Die Hand“ sowie „Der Fuß“ überdies durch Rechtecke umrandet, um die inhärenten Maßverhältnisse zu verdeutlichen. Durch den Text wird der Schüler angeleitet, sich zunächst das mathematisch kodifizierte Grundschema der Längen- und Breitenverhältnisse aufzuzeichnen und hernach die Zeichnung des Gesichts in dieses Raster einzufügen. Kraus steht mit seiner Proportionslehre in der Tradition akademischer Künstlerausbildung, die in der italienischen Renaissance kanonisiert wurde, wobei mathematische Verhältnisse und geometrische Konstruktionen eine fundierende Funktion innehatten. Besonders deutlich wird dies in der zehnten Lektion, in der schließlich „Der ganze Körper“ behandelt wird, wobei ein dem Apoll von Belvedere nachempfundener, junger Mann in klassischer Kontrapoststellung abgebildet und wieder mit Ordinate und Zahlwerten versehen wird (Abb. 3). In seiner letz-
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ten Lektion (ohne Abbildungstafel) macht Kraus auf mögliche Abweichungen von diesem Idealmaßstab aufmerksam, die dem menschlichen Körper in der Erfahrungswelt zu eigen sein könnten; er nennt Alter, Geschlecht und gesellschaftlichen Stand als mögliche Ursachen dieser Differenzen. Hier ist an Dürers statistische Untersuchungen in seinen Vier Büchern von menschlicher Pro portion (1528) zu denken, worin er ein seit der Antike rational fundiertes Ideal und eigene empirische Beobachtungen aufeinander bezog und Abweichungen methodisch zu fassen versuchte. Kraus ist der Ansicht: „Selbst ein unregelmäßig gebildeter Körper weicht von diesen allgemeinen, fest bestimmten Regeln nie ganz ab.“ Sein Ideal Abb. 3: Georg Melchior Kraus: A.B.C. des Zeichners, orientiert sich nach wie vor an der Antike. Weimar 1803, X. Lection: Der ganze Körper. Er nennt „farnesischen Herkules, Meleager, Vatikanischen Apollo, […] mediceische[…] Venus“ demgemäß als ideale Vorbilder, um das Zeichnen des menschlichen Körpers zu üben: „Diese unabläßig zu zeichnen und zu studieren, ist ihm [dem Zeichenschüler] unstreitig die beste Uebung und Hülfe, wodurch er sein Auge bilden, und zu wahren, schönen Proportionen gelangen kann.“ 7 Das von Kraus kompilierte ABC des künstlerischen Ausdrucks erweist sich als eine auf die Bedürfnisse des dilettierenden Laien abgestimmte, reduzierte Form des akademischen Linearzeichnens. Die vorgestellten modularen Gesetze im Konflikt mit der Empirie sowie die Wahl der kanonischen Vorlagen antiker Skulptur für das anatomische Studium lassen sich bis zu Dürer, da Vinci und Pacioli zurückverfolgen. Dies gilt auch für die Darstellungsform schematisierter Umrisszeichnungen, die Ableitung komplexer Formen aus linearen Grundformen der Geometrie und für die indexikalische Aufschlüsselung der Figuren. Vermittels des Zeichnens nach schematischen und antiken Vorlagen sollten sich um 1800 – im Kontext einer allgemeinen Wertschätzung des Zeichnens – auch 7 Kraus (s. Anm. 1) S. 16.
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die heterogene Schülerschaft der Weimarer Zeichenschule, der Gymnasien, Bürger- und Mädchenschulen sowie die zahllosen Autodidakten in bürgerlichen Kreisen ein klassisches Formen- und Themenrepertoire aneignen.8 Die didaktische Wende der Zeichnung
„Kinder ahmen von Natur aus nach. Alle versuchen zu zeichnen. Mir wäre lieb, wenn mein Zögling diese Kunst pflegte, nicht um ihrer selbst willen, sondern um einen sicheren Blick und eine geschickte Hand zu bekommen.“ 9 1762 kam Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) in seiner für die gesamte folgende Pädagogik wegweisenden Schrift Émile ou de l’éducation auf das Zeichnen zu sprechen, wobei er nicht die künstlerische Profession, sondern Beobachtungsgabe und Fingerfertigkeit ins Zentrum stellte. Er zielte auf eine allgemeine Schulung, die sich keinesfalls im Kopieren von Vorlagen erschöpfen solle.10 Das Sehen und Fühlen von Entfernungen müsse im Prozess der Wahrnehmung in Einklang gebracht werden, um so die wahren Proportionen der Gegenstände erfassen zu können.11 In diesem Sinne fasste Rousseau die Geometrie als Raumlehre, mittels derer schon das Kind lerne, optische Phänomene zu kalkulieren. In dieser Tradition stand auch der Schweizer Pädagoge Johann Heinrich Pestalozzi. Er sah im Linearzeichnen die alleinige Möglichkeit, die Anschauung „als Grundlage begrifflichen Denkens“12 zu schulen. Die geometrischen Grund 8 Vgl. Werner Busch: Die Akademie zwischen autonomer Zeichnung und Handwerkerdesign – Zur Auffassung der Linie und der Zeichen im 18. Jahrhundert. In: Herbert Beck et al. (Hg.): Ideal und Wirklichkeit der bildenden Kunst im späten 18. Jahrhundert, Berlin 1984, S. 177–192; Erik Forssman: Goethezeit. Über die Entstehung des bürgerlichen Kunstverständnisses, München u.a. 1999; Christoph Helm: Bildung und Ausbildung im 18. Jahrhundert. In: Kunst und Aufklärung im 18. Jahrhundert. Kunstausbildung der Akademien, Kunstvermittlung der Fürsten, Ruhpolding 2005, S. 13–22; Wolfgang Kemp: Die Geschichte des Zeichenunterrichts vor 1870 als Geschichte seiner Methoden. In: Kind und Kunst. Eine Ausstellung zur Geschichte des Zeichen- und Kunstunterrichts, Bd. 1, Berlin 1976, S. 12–27; Diethart Kerbs: Historische Kunstpädagogik. Quellenlage, Forschungsstand, Dokumentation, Köln 1976; Elke Schulze: Nulla dies sine linea. Universitärer Zeichenunterricht – eine problemgeschichtliche Studie, Stuttgart 2004; Theodor Wunderlich: Geschichte der Methodik des Freihandzeichenunterrichts an den allgemein wissenschaftlichen Lehranstalten, Bernburg 1886. 9 Zitiert nach Hans-Günther Richter: Eine Geschichte der ästhetischen Erziehung, Niebüll 2003, S. 27. 10 Vgl. Wunderlich (s. Anm. 8), S. 20ff. 11 Vgl. Richter (s. Anm. 9), S. 27f. 12 Ingeborg Cleve: Geschmack, Kunst und Konsum. Kulturpolitik als Wirtschaftspolitik in Frankreich und Württemberg (1805–1845), Göttingen 1996, S. 74.
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formen, aber auch der menschliche Körper stellen für Pestalozzi Grundformen der „reinen“ Anschauung dar, über die der Geist a priori verfüge.13 In diesem Punkt steht er seinem Zeitgenossen Immanuel Kant (1724–1804) nahe, der in seiner Kritik der reinen Vernunft (1781) Entsprechendes vorformuliert und in seiner Kritik der Urteilskraft (1790) weiter vertieft hatte. In einer kleinen Denkschrift gleichen Titels erläuterte Pestalozzi 1800 Die Methode seines Unterrichtsprogramms. Demnach würden durch die Einwirkung der Natur auf die menschlichen Sinne Anschauungen erzeugt, die durch eine stufenweise fortschreitende Abstraktionsleistung des Verstandes zu propositionalem Wissen führten, mittels dessen sich der menschliche Geist von der sinnlichen Anschauung zu den deutlichen Begriffen erhebe.14 Folglich müsse die Anschauung der Natur Fundament des Unterrichts sein.15 Als Mittel der Bildung nennt er einen Kanon grundlegender Kulturtechniken: Sprache, Zeichenkunst, Schreibkunst, Rechenkunst und Messkunst,16 deren Fundament das Linearzeichnen bilde. So formuliert er etwa zur Schreibkunst: „Der ganze Erfolg ruht auf dem höchst einfachen Grundsatz, daß, wer Winkel richtig abtheilen und einen Bogen richtig über den Winkel ziehen kann, die Fundamente der Richtigkeit aller Buchstaben in seiner Hand hat.“ Zu der dem Text beigefügten Abbildung (Abb.4) eines unterteilten Quadrats fährt er fort: „Winkel, Paralelen und Bogen umfaßt die ganze Zeichnungskunst. Alles mögliche, das zu zeichnen ist, ist nur stufenweise Bestimmung dieser Grundformen.“17 Das gezeigte Quadrat ist durch fünf horizontale und vertikale Strecken zu einem Gitter von sechs mal sechs gleichgroßen Einzelquadraten gerastert. Die geometrische Konstruktion lässt sich durch das Halbieren der Seitenlinie und messende beziehungsweise schätzende Dreiteilung der halben Seitenline realisieren. Neben diesen Linien sind die Diagonalen des Quadrats eingezeichnet. Doch nicht nur gerade Linien bestimmen dessen Binnenstruktur: zusätzlich sind ein Kreis, dessen Durchmesser mit der Länge einer Seite übereinstimmt, und vier über den Ecken geschlagene Kreissegmente gleichen Radius’ dem Quadrat eingeschrieben. 13 Richter (s. Anm. 9), S. 96. Pestalozzi knüpft in diesem Punkt ebenso wie Kraus an die Tradition der Proportionslehren an. 14 Johann H. Pestalozzi: Die Methode. Eine Denkschrift Pestalozzi’s. 27. Juni 1800. In: Sämtliche Werke (s. Anm. 2), Bd. 13, Berlin/Leipzig 1932, S. 104. 15 Pestalozzi: Methode (s. Anm. 14). 16 Pestalozzi: Methode (s. Anm. 14). 17 Pestalozzi: Methode (s. Anm. 14), S. 113.
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Die Fläche der geometrischen Grundform des Quadrats ist demnach in unterschiedliche regelmäßige Formen wie kleinere Quadrate, Dreiecke und Kreissegmente untergliedert, wobei die einzelnen Maße entsprechend den gängigen Proportionslehren aufeinander und auf das Ganze bezogen sind. Eine exakte Nachzeichnung der Figur macht die Abb. 4: Johann Heinrich Pestalozzi, Darstellung intensive Beschäftigung mit der Vorlagengrafik und des Grundschemas aus der Denkschrift „Die den geübten Einsatz von Lineal und Zirkel erfor- Methode“, 1800. derlich, um die einzelnen Konstruktionselemente gedanklich zu separieren und sie in eine Abfolge entsprechender Arbeitsschritte aufzugliedern. Pestalozzi orientierte sich bei seinen Vorgaben zum Zeichnen vor allem an der Geometrie und an Vorlagen zum Schreibenlernen, wobei er weniger auf das künstlerische Zeichnen als auf die Ausbildung von Sensomotorik und Augenmaß zielte. 1803 gab er in der Neubearbeitung seiner Schrift Wie Gertrud ihre Kinder lehrt Auskunft darüber, wie er sich ein ABC der Anschauung vorstellte: „Es ward mir […], es gebe keine Formen und köne keine geben, die nicht, inert bestimmten Ausmessungslinien eingeschlossen, in diesen Linien die Fundamente ihrer selbst anerkennen müssen. Jez dachte ich mir bald eine Reyenfolge solcher Ausmessungsabtheilungen möglich, inert welchen jede mögliche Formen nach ihrer Höhe und Breite bestimt und alle Abweichungen ihrer selbst von diesen Grundlinien leicht in die Augen fallend gemacht werden konten. Ich gab diesen Formen, die ich mir also dachte, den Namen ‚ABC der Anschauung‘ und träumte es dahmals mir möglich, wenn ihre Benennung den Kindern geläufig genug gemacht worden, dieselben nicht nur mit unbedingter Leichtigkeit den Zusammenhang jeder Figur mit der ihr bestimt ihr eigenen Ausmessungsform und jeder bestimten Ausmessungsform mit den ihren Creis anpassenden Figuren mit unbedingter Leichtigkeit zu erkenen.“18 Einen kurzen Überblick zu Konzeption und Vermittlung eines solchen Alphabets gab Pestalozzi 1808 in einem Artikel in der von ihm herausgegebenen Wochenschrift für Menschenbildung, dessen voller Titel lautet: ABC der mathematischen Anschauung für Mütter oder Anweisung, die Geistesthätigkeit der Kinder an Form, Größe und durch damit 18 Zitiert nach Elmar-Bussen Wagemann: Quadrat – Dreieck – Kugel. Die Elementarmathematik und ihre Bedeutung für die Pädagogik bei Pestalozzi, Herbart und Fröbel, Weinheim/Bergstrasse 1957, S. 6.
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verbundene Zeichnungsübungen anzuregen und sie auf bildende Weise zu beschäftigen.19 Darin entwirft Pestalozzi einen Vorkurs für den schulischen Unterricht nach seiner Lehrauffassung. Er beruft sich dabei auf die jedem Kind gleichermaßen eigene Neigung, sich mit Formen, Figuren und dem Zeichnen zu beschäftigen.20 Die Mutter solle diese Neigung des Kindes fördern und lenken, denn vor allem Übungen im Linearzeichnen „schärfen sein Auge, bilden seine Hand, üben seine Aufmerksamkeit, geben ihm Sprache, machen es thätig und froh, führen es in die Natur und ihre Erscheinungen hinein, werden ein neues Band seiner Anhänglichkeit an die Mutter und an die Lehrer“.21 Das Kind solle spielerisch einfache geometrische Grundformen wie „den Punkt, die gerade und krumme Linie, das Dreieck, Viereck, das Rund, das krumlinige Viereck u.s.w. kennen und benennen lernen“.22 Durch die Beschäftigung mit den Eigenschaften der es umgebenden Dinge solle das Kind in der Aneignung elementarer Kompetenzen angeleitet werden, um so auch „die Zahl, die Größe, die Lage, die Eigenschaften der Linien und Figuren bemerken, ausdrücken und vergleichen [zu] lernen, um sich die Anschauungen, Fertigkeiten und Kenntnisse zu sammeln, durch die es fähig wird, ihr Wesen von dem anderer Dinge zu unterscheiden, und einen zusammenhängenden Unterricht darüber zu erfassen“.23 Auf diese Weise werde das Kind auch befähigt, das als grundlegend betrachtete Quadratschema kognitiv nachzuvollziehen. Pestalozzi wendet sich mit seinem Artikel nicht direkt an Lernende, sondern sein ABC ist – anders als Kraus’ Lehrbüchlein – ein Erziehungsleitfaden für Lehrende, für die Mütter von Kindern im Vorschulalter. Einen Eindruck von der konkreten Gestaltung des häuslichen Elementarunterrichts vermitteln die dem Aufsatz beigefügten Übungsaufgaben. Diese Aufgaben wurden von Joseph Schmid (1781–1851), einem Mitarbeiter Pestalozzis, verfasst.24 Die 19 Eine ausführliche Darstellung des Lehrgangs bot Pestalozzi bereits mit der 1803 in Tübingen erschienenen Heftreihe „ABC der Anschauung, oder Anschauungslehre der Maßverhältnisse“. 20 Pestalozzi: ABC (s. Anm. 2), S. 96. 21 Pestalozzi: ABC (s. Anm. 2). 22 Pestalozzi: ABC (s. Anm. 2), S. 96f. 23 Pestalozzi: ABC (s. Anm. 2), S. 97. 24 Pestalozzi: ABC (s. Anm. 2), S. 337ff. Joseph Schmidt (1781–1851) war zunächst ein Schüler Pestalozzis, bevor er Lehrer für Mathematik und Zeichnen sowie dessen Mitarbeiter wurde. Schmidt arbeitete eine Zahlen- und Formenlehre aus, die er in den Lehrwerken „Die Elemente der Form und Größe (gewöhnlich Geometrie genannt) nach Pestalozzi’s Grundsätzen“ (Bern 1809–1811) und „Die Elemente des Zeichnens. Nach Pestalozzi’schen Grundsätzen bearbeitet“ (Bern 1809) publizierte.
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Mutter wird darin angeleitet, ihrem Kind Punkte, verschiedene Linien typen, Winkel, Dreiecke, Vierecke in unterschiedlicher Größe und Anzahl auf eine Tafel zu zeichnen und im Zwiegespräch deren Benennung, Unterscheidung und Auszählung zu trainieren (Abb. 5). Im Übungstext werden der Mutter dazu sowohl konkrete Handlungsanweisungen als auch die Definitionen zu den geometrischen Grundformen, die sie dem Kind nennen, sowie die Fragen und Aufgaben, die sie dem Kind stellen soll, vorformuliert. So soll die Mutter etwa eine gerade und eine gebogene Linie – die im Text als ikonische Zeichen eingefügt sind – auf eine Tafel zeichnen und dem Kind mit einem Fingerzeig auf die Tafelzeichnung die entsprechenden Abb. 5: Joseph Schmid: Übungsaufgabe zu J. H. Pestalozzis Begriffe nennen. Anschließend soll „ABC der mathematischen Anschauung für Mütter“, Ausschnitt aus der ersten Übung, 1808. sie das Kind zur eigenständigen Unterscheidung und zur richtigen Benennung der beiden Linientypen anhalten. Ist dies erfolgreich absolviert, soll das Kind selbst gerade oder krumme Linien zeichnen. Hier wird deutlich, dass für Pestalozzi Kinder nur durch Demonstration und Anschauung zu propositionalem Wissen geführt werden können; didaktisch bleiben Anschauung, Begriff und zeichnerischer Nachvollzug stets aufeinander bezogen. Diese Kopplung von Zeichen und Begriff wird durch das wiederholt abwechselnde Zeichnen und Benennen eingeübt. Pestalozzi gibt auf einer Metaebene so methodische Anleitung zur Anleitung, die in konkrete Vorlagen zur Begriffsbildung und zum zeichnerischen Nachvollzug in der Interaktion von Mutter und Kind umgesetzt sind.
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Kerrin Klinger
Das Alphabet anschaulicher Erkenntnis
Sowohl Kraus als auch Pestalozzi überschreiben ihre Lehrwerke mit ABC. Bei Kraus sind es fünf verschiedene Linientypen als Grundelemente der Zeichnung, mittels derer beispielsweise die Umrisszeichnung eines Menschen angelegt und in ein Raster bestimmter Maßverhältnisse eingebettet werden kann. Ein solches Alphabet des Zeichners soll in akademischer Tradition auch für den Laien ein sicheres Gerüst für das Naturstudium bilden. Die Linien fungieren hier als diskrete Zeichen, die mit Hilfe von Proportionsregeln entsprechend einer sprachlichen Syntax zu visuellen Sinneinheiten kombiniert werden können. Auch Pestalozzi bestimmt Grundelemente: Winkel, Parallele und Bogen, die in Form eines unterteilten Quadrates kombiniert werden. Er tut dies jedoch nicht, um in dieses Raster später Buchstaben oder Ähnliches eintragen zu lassen, sondern es geht ihm darum, bei Kindern prinzipielle Fertigkeiten wie die Benennung (Begriffsbildung) und die Unterscheidung (Zählen, Messen, Augenmaß) auszubilden, aber auch um die Sensomotorik generell zu schulen. Linien und Maßverhältnisse sind dabei ebenfalls elementar, um mittels der Formbeschreibung und des Linearzeichnens den Grundstein für Sprechen, Schreiben, Zählen, Messen und Rechnen zu legen. Das ABC der mathematischen Anschauung für Mütter kann zwar als ein geometrisiertes Alphabet des Zeichners betrachtet werden, das auf Grundformen beruht, aber es mündet nicht in die Codierung von Sinneinheiten aus diesen diskreten Einheiten, sondern ist als ein Schema zu verstehen, um die kognitiven Voraussetzungen für den späteren Zugang zur Mathematik beim Kind anzulegen. In diesem Sinne betont Pestalozzi: „Die Matematic des Vier ekks ist die Kindermatematic; die Matematic des Dreiekks ist die Matematic des Jünglings und des Mans.“25, wobei das Dreieck auf die Euklidische Geometrie verweist, deren Lehre den höheren Schulen vorbehalten bleiben soll. Weder Pestalozzi noch Kraus vermitteln in ihren Lehrwerken für Anfänger mathematisch strenge Geometrie, denn die zugrunde liegenden Axiome und Konstruktionsschritte werden nicht erwähnt, sondern es wird vor allem die Übung von Fingerfertigkeit und Augenmaß durch Nachahmung angestrebt. Beide Lehrwerke rufen mit ihrem Titel den Kontext der Alphabetisierung und damit den der allgemeinen Volksbildung im Sinne der Aufklärung auf, wobei sie jeweils auf die Schulung elementarer Fähigkeiten und Kenntnisse zielen. Pestalozzis Anschauungspädagogik weist im Schematismus und in der Berufung 25 Zitiert nach Wagemann (s. Anm. 18), S. 76.
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auf elementare Grundformen Parallelen zum modularisierten Vorlagenkanon künstlerischen Zeichenunterrichts auf, für den um 1800 Kraus’ ABC des Zeich ners paradigmatisch stehen kann. Das Konzept seiner frühkindlichen Pädagogik öffnet sich der zeitgenössischen Kunstpädagogik, um die Anschauung mit der Begriffsbildung im Erkenntnisprozess schon von Kindesbeinen an zu verbinden und in die zeichnerische Praxis zu wenden. Dem schon von Rousseau beschriebenen kindlichen Trieb zur zeichnerischen Mimesis der Formen der Welt weist er mit seinem ABC des mathematischen Zeichnens für Mütter aber einen klar definierten und methodisch fundamentierten Weg, der durch Text- und Bildvorlagen gewiesen wird.
Kelly J. Whitmer
Unmittelbare Erkenntnis. Das Modell des Salomonischen Tempels im Waisenhaus zu Halle als Anschauungsobjekt der frühen Aufklärung
„Anschauung (Intuition) ist die unmittelbare (nicht durch Begriffe und Schlüsse vermittelte) Erfassung eines konkret gegebenen Objektes in dessen (räumlich-zeitlicher) Bestimmtheit. Das ‚Anschauen‘ besteht in der ruhigen Betrachtung des Objekts, in der Umspannung der Merkmale des Objekts durch die Einheit der Apperzeption. Von der ‚sinnlichen‘ unterscheidet man oft die ‚geistige‘ Anschauung (‚Schauung‘) als eine auf Erinnerungsbilder, Phantasiegestalten oder aber auf das eigene psychische Erleben gerichtete Bewußtseinsfunktion (‚innere‘ Anschauung).“1 „Anschauung im philosophischen Sinne erhebt einerseits den Anspruch, nicht Bestimmtes an der Sache, sondern sie selbst und im Ganzen zu sehen; anderseits will sie die Art und Weise sein, wie uns die Sachen erscheinen.“2 Mindestens zwei Jahrhunderte lang diente das Wort Anschauung als philosophischer Begriff, der sich mit der kantischen Philosophie und einer Reihe verwandter Ideen verbindet. Wie die oben zitierten Definitionen zeigen, schließt der Begriff aber gleichwohl mehrere Formen von Aktivität ein: Anschauung kann die Erfassung und Beobachtung konkreter Objekte meinen, aber auch jenen Prozess intuitiver ‚Kalibrierung‘, welcher der Sinne und Affekte, der Aufmerksamkeit und des Gedächtnisses bedarf.3 Um 1700 galt es in der Universitätsstadt Halle als pädagogischer Imperativ, auf eine verbesserte Auffassung von Dingen und ihren Beziehungen hinzuarbeiten; die Studierenden sollten sich darin üben, diese durch Betrachtung und Kontemplation besser sehen und verstehen zu lernen. Ein Netzwerk von Gelehrten um die Pietistische Anstalt der Franckeschen Stiftungen herum diskutierte die Möglichkeiten, ausgewählte Objekte zur gezielten Schulung der Anschauung
1 Rudolph Eisler (Hg.): Wörterbuch der Philosophischen Begriffe, Berlin 1910, S. 50. 2 Joachim Ritter (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 1, Stuttgart 1968, S. 340. 3 Vgl. die Behandlung der Aufmerksamkeit in Lorraine Daston: Attention and Values of Nature in the Enlightenment. In: Dies. und Fernando Vidal (Hg.): The Moral Authority of Nature, Chicago 2004, S. 100–126.
Unmittelbare Erkenntnis
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einzusetzen. Eines der in diesem Kontext prominentesten Objekte war ein großes Holzmodell des Salomonischen Tempels, das ab 1718 in den Stiftungen gezeigt wurde. Das nicht erhaltene Tempelmodell war das ideale Objekt, um den Betrachter darin zu schulen, „Bestimmtes an der Sache“ und zugleich dessen Position als Teil eines größeAbb. 1: Szenografie des Tempel-Modells, Kupferstich aus Semler: ren Ganzen zu sehen. Es war Tempel Salomonis (1718). das perfekte Werkzeug zur Kultivierung unmittelbarer Einsicht. Welchen Status es als Anschauungsobjekt genoss, lässt sich an einem Handbuch der Modellbetrachtung ersehen, welches eigens anlässlich seiner Vorführung herausgegeben wurde.4 Darin wird die Hoffnung geäußert, dass ein solches plastisches Modell den Wissenserwerb erleichtern, unmittelbare Einsicht generieren und dadurch neue Formen des Verstehens begründen könnte, und zwar in einer Einrichtung, die sich als universelles Seminar, als „Prophetenschule“ und „Haus der Einheit“ verstand. Das Objekt
Das Hallesche Holzmodell des Tempel Salomos war das größte und bekannteste seiner Zeit (Abb. 1). Es wurde angefertigt von einem „Hällische[n] Prediger und Mathematicus, Herr Semler“, der „nach Anleitung der Bibel und vieler bewährten Scribenten, 4 nach dem verjüngten Maas-Stabe eingerichtete, und im Hällischen Waysen-Hause anzutreffende Modele verfertiget [hat], so die Stiffts-Hütte Mosis, den Tempel Salomonis, die Stadt Jerusalem und das gelobte
4 Christoph Semler: Der Tempel Salomonis: Nach allen seinen Vorhöfen, Mauren, Thoren, Hallen, Heiligen Gefässen, … nebst allen und jeden in folgender Beschreibung und beygefügten Kupferstücken enthaltenen Theilen desselben, in einem eigentlichen Modell und materiellen Fürstellung, in dem Wäysen-Hause zu Glaucha an Halle, zu Erläuterung sehr vieler Örter der Heiligen Schrift , Halle 1718.
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Land vorstellen …“.5 Semlers Tempel war auf einer fünf Ellen im Quadrat messenden Tafel montiert, um gemeinsam mit den anderen in der Kunst- und Naturalienkammer des Waisenhauses betrachtet werden zu können.6 Seine schiere Größe und die Präzision von Semlers Verarbeitung verliehen dem Modell Einzigartigkeit. Allein das von Gerhard Schott handgefertigte Tempelmodell, das im Rahmen der AufAbb. 2 (wie Abb. 1): Innenansicht des zentralen Gebäudes. führung Die Zerstörung Jerusalems 1692 im Hamburger Opernhaus zu sehen war, konnte sich qualitativ mit ihm messen.7 Anders als Schott baute Semler seine Modelle sämtlich für den pädagogischen Gebrauch im Halleschen Waisenhaus und verfasste zudem eine Art Handbuch, um ihre Präsentation zu erleichtern (Abb. 2 und 3).8 In diesem Text weist er darauf hin, dass das Objekt eigens zur Präsentation in den Franckeschen Stiftungen angefertigt worden sei und einen so großen Erfolg
5 Fortgesetzt Sammlung von Alten und Neuen Theologischen Sachen, Büchern, Uhrkunden, Controversien, Veränderungen, Anmerckungen, Vorschlägen u. d. g., Leipzig 1726, S. 1143. Eine Biografie Semlers findet sich bei Johann Christoph Dreyhaupt: Ausführliche diplomatisch-historische Beschreibung des zumehemaligen Primat und Erz-Stifft nunmehr aber durch den westphälischen Friedens-Schluss secularisirten Herzogthum Magdeburg gehörigen Saal-Kreyses […], Halle 1750, S. 719; Thomas Müller-Bahlke: Der Realienunterricht in den Schulen August Hermann Francke. In: Carmela Keller (Hg.): Schulen Machen Geschichte: 300 Jahre Erziehung in den Franckeschen Stiftungen zu Halle, Halle 1997, S. 43–65. 6 Eine Beschreibung der Wunderkammer findet sich bei Dreyhaupt (s. Anm. 5), S. 225; Thomas Müller-Bahlke: Die Wunderkammer: die Kunst- und Naturalienkammer der Franckeschen Stiftungen zu Halle, Halle 1998; Ders.: Die Einzigartigkeit der Kunst- und Naturalienkammer in den Franckeschen Stiftungen. In: Ulrich Troitzsch (Hg.): „Nützliche Künste“. Kultur und Sozialgeschichte der Technik im 18. Jahrhundert, Münster 1999 (=Cottbusser Studien zur Geschichte von Technik, Arbeit und Umwelt 13), S. 219–238; Eva Dolezel: Inszenierte Objekte. Der Indienschrank in der Kunst- und Naturalienkammer der Franckeschen Stiftungen zu Halle. In: Michael C. Frank, Bettina Gockel, Thomas Hauschild et al. (Hg.): Fremde Dinge, Bielefeld 2007 (=ZfK – Zeitschrift für Kulturwissenschaft I/2007), S. 29–38. Eine Hallenser Elle maß fast 60,22 cm.
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gehabt habe, dass es ihm nun geboten schien, noch ein weiteres anzufertigen: „Gleichwie nun dieses kleine Gebäude sonderlich auch dazu destiniret ist, daß es der gesamten Jugend in denen Schulen bey dem Wäysenhause demonstriret werden soll, damit sie in der Heil. Schrift, zu welcher sonderlich sie täglich mit allem Fleiß angeführet wird, vieles um desto deutlicher verstehen Abb. 3 (wie Abb. 1): Außenansicht des zentralen Gebäudes. lernet, so ist für rathsam befunden worden, eben dergleichen Modell auch für das König. Pädagogium in Glaucha anzulegen.“ 9 Im weiteren Verlauf schildert der Autor, wie er die einzelnen Elemente seines Modells arrangiert habe, um dem Betrachter dienlich zu sein, gefolgt von kurzen Beschreibungen eines jeden Bauteils.10 Seine Hoffnungen sind darauf gerichtet, dass die „angenehme Varietät so vieler kleine[r] Gebäude, die sich auf einmal in so grosser Menge dem Auge des Spectatoris offeriren, wo nicht mit grössern, doch mit eben demselben Nutz, Erbauung und Vergnügen, werde betrachtet werden“.11
7 Johann Georg Conradi und Christian Heinrich Postel: Der Verstöhrung Jerusalem: In einem Sing-Spiel. vorgestellet, Hamburg 1692; Schotts Tempelmodell wurde zunächst mit sensationellem Erfolg in London gezeigt, bevor es Anfang 1733 nach Dresden überführt und im Zwinger präsentiert wurde, vgl. Bernd Vogelsang: Archaische Utopien. Materialien zu Gerhard Schotts Hamburger Bühnenmodell des Templum Salomonis, Köln 1981, S. 25–27; Zacharias Conrad Uffenbach: Merkwüridge Reisen durch Niedersachsen, Holland und Engelland 1709, Zweyter Theil, Ulm 1753, S. 115–117. Ich danke Michael Korey für Informationen zum Hamburger Modell. 8 Semler (s. Anm. 4). 9 Semler (s. Anm. 4), S. 10. 10 Semler (s. Anm. 4), S. 9: „XXXII. Was die gegenwärtige Recension derer Stücke des Tempels anbetrifft, so hat man dieselbe vorjetzo nur kurz gefasset und bey der Serie und Rungirung derselben eine solche Ordnung observieret, welche auf den grössern Nutz des Spectatoris ihr Absehen hat.“ 11 Semler (s. Anm. 4), S. 10.
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Die 367 Teile von Semlers Tempelmodell sind derart eng miteinander verwoben, dass sie dem Betrachter das Universelle – in all seiner Partikularität – auf einen Blick zugänglich machen,12 wobei der Lehrer ihm dabei helfen solle, indem er das Modells heranziehe, um „bald anfangs eine general idee von dem gantzen Werck“ zu gewinnen.13 Dies beinhalte erstens das Aufzeigen der „auf allen 4 Seiten […] äussern Gebäude rund herum“ und zweitens gezielte Hinweise auf „die penetralia, der innere Vorhof, auch der Tempel selbst, und in demselben das heilige und Allerheiligste“.14 Auf diese Weise diente das Modell als eine Art dreidimensionale Enzyklopädie, deren Elemente räumlich arrangiert waren. Vor dem Modell konnte der Besucher knappe Beschreibungen von den Gliedern des Ganzen lesen, so etwa: „1) Der Berg Morija, welcher 500 Ellen lang und breit, darauf der Tempel erbauet war.[…] 29) Der Altar in der Heyden Vorhofe auf der Mittags-Seite, auf welchem die Opfer, so durch einen Zufall um inner Vorhofe unrein geworden, verbrannt wurden. […] 41) Das Lehr-Haus oder Synagoge im Tempel, allwo das Gesetz am Sabbath und hohen Festen erkläret ward. […] 72) Die Schaubrod Cammer, in welcher die Schaubrod in eisernen Formen wöchentlich, den Tag vor dem Sabbath, gebacken wurden. […] 103) Die grossern güldnen Leuchter im äussern Vorhofe, deren jeder vier güldene Lampen hatte, welche Abends bey der Freude des Lauber Hütten Festes, so bis in die tiefe Nacht währete, angezündet wurden. […]“15 Nicht alle diese Teile waren im korrekten proportionalen Verhältnis zur Größe der Bauten ausgeführt; so gab es Elemente, „die man sonst in ihrer kleinen proportion gegen die andern Theile nicht distincte hätte praesentiren können; als den Hohenpriester in seinem völligen Ornat, […] ein Schaubrodt Tisch und ein güldner leuchter“.16 Die Maßstabsgerechtigkeit muss für Semler zwar von hoher Bedeutung gewesen sein, dennoch schien es ihm in diesem Punkt offenkundig
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Lorraine Daston: On Scientific Observation. In: Isis 99, 2008, S. 97–110. Semler (s. Anm. 4), S. 9. Semler (s. Anm. 4). Semler (s. Anm. 4), S. 1–44. Semler (s. Anm. 4), S. 9.
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Abb. 4: Kultobjekte und Kleriker, Kupferstich aus Semler: Tempel Salomonis (1718).
legitim, Schlüsselmotive im Einzelfall auch zu vergrößern, wenn sie anderweitig nicht sichtbar gewesen wären. Um deren Bedeutung noch zu unterstreichen, fügte Semler dem Handbuch zahlreiche Kupferstiche hinzu, welche die Kultobjekte und die sie handhabenden Kleriker zeigen (Abb. 4).17 Besucher, die im Besitz eines Handbuchs waren, konnten somit Blick und Aufmerksamkeit zwischen diesen Bildern, den kurzen Beschreibungen und den Teilen des Modells selbst wandern lassen.18 Das Handbuch erlaubte es zudem denjenigen, die das Modell im Halleschen Waisenhaus besucht hatten, es sich noch lange nach diesem Seherlebnis virtuell vor Augen zu führen.19 In Semlers Worten haben die Kupferstiche „den Nutz, dass diejenigen, so das Modell des Tempels einmal gesehen, sich alle Theile 17 Einige der Stiche wurden entnommen aus Johannes Lundius: Die Alte Jüdischen Heiligthümer, Gottesdienste und Gewohnheiten für Augen gestellet, in einer ausführlichen Beschreibung des gantzen Levitischen Priesterthums, Hamburg 1701; weitere Auflagen 1704, 1711, 1722. 18 Dies kann als Beispiel einer Triangulation „between word, image and thing“ angesehen werden, worin „reading and observing are so tightly integrated so as to form a single practice“. Zitat: Lorraine Daston: Taking Note(s). In: Isis 95, 2004, S. 444; vgl. auch Michael Camille: Seeing and Reading. Some Visual Implications of Medieval Literacy and Illiteracy. In: Art History 8, 1985, S. 26–49; Adrian Johns: The Nature of the Book. Print and Knowledge in the Making, Chicago 1998, S. 380–443. 19 Zur Bedeutung des „virtual witnessing“ für die Konstitution der Experimentalwissenschaften vgl. Steven Shapin and Simon Schaffer: Leviathan and the Air Pump. Hobbes, Boyle and the Experimental Life, Princeton 1985.
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desselben, und ihre Situation, so oft es ihnen beliebet, in solchen Rissen wieder vor Augen stellen können, und sich auch derer übrigen Stücke, welche das Kupfer Stück denen Farben und andern Umständen noch nicht praesentiren kan, dennoch dabey wieder erinnern werden“.20 Während die Stiche nicht in der Lage seien, die tatsächlichen Farben und „anderen Umstände“ des Modells zu repräsentieren, könnten sie dem Betrachter zumindest als Erinnerung des Gesehenen dienen. Semler hoffte nicht zuletzt, dass die beigefügten Stiche auch jene Menschen, die noch nicht persönlich den Weg vor das Modell gefunden hatten, zu einem Besuch der Kunst- und Naturalienkammer der Franckeschen Stiftungen inspirieren und wiederum deren besseres Verständnis der Heiligen Schrift befördern würden.21 Denn durch die Betrachtung des Modells könnten auch diejenigen, welche „nur einen duncklen Concept“ des Tempels und seiner Geschichte hätten, ein „helle[s] und klar[es]“ Bild empfangen; die Lebendigkeit und Anschaulichkeit der modellhaften Darstellung „drucken sich dem Gemüth dermassen tief ein“, dass der Betrachter zweifellos von der Wahrheit der Schrift überzeugt werde.22 Die Kraft des Modells lag in seinem dinglichen Status begründet, der diejenigen inspirierte und vervollkommnete, die es betrachteten. Auch Zedlers Lexikon verband die „Natur der Dinge“ mit dem Besitz einer „würkenden Krafft“, einer Form von „agens“, die in allen Objekten am Werk sei. Durch die Qualität der Dinge in der Welt, so heißt es im Lexikoneintrag, schaffe Gott eine Ordnung, „indem er diese und nicht andere Dinge hervorgebracht, damit diese und nicht andere Begebenheiten erfolgen. Derowegen da hierinnen der Grund enthalen ist, warum Gott seine Absichten erreichet, so sind das Wesen und die Natur der 20 Semler (s. Anm. 4), S. 9. 21 Semler (s. Anm. 4), S. 9: „Auch ist zu vermuthen, daß solche Kupfer stuck denenjenigen, so die kleine Gebäude nicht gesehen, doch aber die Bemühung anwenden wollen, diese wenigen Risse zu perlustriren, einigen Anlass geben werden, viele Stellen heiliger Schrift, da des Tempels Meldung geschicht, klärlicher einzusehen und desto deutlicher zu verstehen.“ 22 Semler (s. Anm. 4), S. 1.: „IV. Da werden nicht nur so viele Sprüche, die des Tempels erwehnen, und von denen man nur einen dunckeln Concept hatte, helle und klar, sondern auch die Umstände derer Geschichte, die sich im Tempel zugetragen, ingeriren, und drucken sich dem Gemüth dermassen tief ein, daß man, tanquam praesens spectator derselben, desto völliger de veritaete rerum ibi peractarum convinciret wird.“ 23 Johann Heinrich Zedler: Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste, Bd. 23, Halle 1740, S. 549: „Natur der Dinge, Rerum natura, ist die würckende Krafft, in so weit sie durch das Wesen eines Dinges in ihrer Art determiniret wird. Durch das Wesen der Dinge in der Welt und ihre Natur führet Gott seinen Absicht aus.“
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Dinge das Mittel, welches Gott brauchet seine Absichten in der Welt zu erreichen“.23 Als Ding, als materielles Objekt, konfrontierte das Tempelmodell das Auge des Betrachters zugleich mit einer Entität und einer media res, als „Umstand oder Sache, so darzwischen kommt“.24 Das Modell, ein aus vielen Einzelstücken komponiertes Ganzes, sollte so für eine ‚Kalibrierung‘ des betrachtenden Individuums sorgen, dessen Sehen und Verstehen sich auf einen größeren, göttlichen Plan richtete. Das Modell sollte die Inspirationsquelle sein, um das Zusammenspiel von Einzelnem und Ganzem, eine im Gefüge wirksame Gesamtidee, zu erfassen. Das Innere Auge im Haus der Einheit
In der Pietistischen Anstalt, wo Semlers Tempelmodell ausgestellt war, konnotierte das Wort Anschauung bereits eine Form intuitiven Verstehens, die auf dem inneren Auge des Glaubens und frommen Verlangens beruht. Der Begründer des deutschen Pietismus, Philip Jakob Spener, war insbesondere von den Grundsätzen der Anschauung beeinflusst. Dies wird bereits in seiner Abhandlung Pia Desideria deutlich.25 Spener war nicht der erste, der einen solchen Titel für ein Andachtsbuch wählte und darin die Bedeutung der Anschauung behandelte. 1624 hatte der Jesuit Hermann Hugo in seiner Pia Desideria drei bereits weithin akzeptierte Grundschritte der Meditation popularisiert, nämlich sehen, betrachten und anschauen.26 Tatsächlich war es Augustinus, der in seinen Confessiones bekanntermaßen erklärt hatte, dass Augen haben und betrachten nicht die gleiche Sache seien, ebenso wie ein Unterschied zwischen betrachten und anschauen bestehe. Demnach müsse die Seele drei Qualitäten besitzen: sie müsse Augen haben, sie müsse nachsinnen, und sie müsse beobachten. 24 Zedler (s. Anm. 23). 25 Philipp Jakob Spener: Pia Desideria. Oder Hertzliches Verlangen nach Gottgefälliger Besserung der wahren Evangelischen Kirchen, Frankfurt a.M. 1676. 26 Die im Folgenden verwendete Ausgabe von Hugos „Pia Desideria“ wurden in Gotha 1707 publiziert: Hermanni Hugonis: Pia Desideria, Gotha 1707. Der Traktat wurde als „Pia Desideria“ zuerst in Antwerpen 1624 herausgegeben; Übersetzungen: Spanisch 1626, Deutsch, Französisch und Englisch 1627, Holländisch 1629 und Italienisch 1633. Mindestens 42 lateinische Ausgaben von Hugos „Pia Desideria“ wurden gedruckt, jeweils in drei Teile gegliedert: „1. Stossseufzer der reuigen Seele; 2. Gelöbnisse der frommen Seele; 3. Verlangen der liebenden Seele“ sowie mit 15 Kupferstichen ausgestattet, vgl. Ernst Thomas Reimbold: Pia Desideria Gottselige Begierden, Olten/Freiburg i. Br. 1980, S. 8f.
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Speners Entscheidung, die Formulierung Pia Desideria im Vorwort einer Postille von Johann Arndt zu verwenden, ist ein klarer Indikator für das Interesse, seine spirituelle Reformbewegung mit einer bestimmten Form der Meditation zu verknüpfen, die vom Auge ausgehe.27 Er nahm direkten Bezug auf Johann Amos Comenius’ Betonung des Schauens des Göttlichen in Una Neccessarum28 sowie auf Ignatius Loyolas Exerzitien29 und dessen Interesse für die visuelle Seite der Meditation (composito locis), welche zum Beispiel den Augen selbst jenes Maß an Reflexion zugestand, das zum geistvollen Schauen, zum visuellen Erfassen der Dinge nötig ist. Speners Texte schlagen auch indirekte Brücken zu Jakob Böhme, der das Wort Anschauung prominent verwendete. Böhme, dessen Leben und mystische Schriften bekanntlich in Verbindung mit den pietistischen Gemeinschaften des 17. Jahrhunderts stehen, hatte einen Abschnitt seines Bandes Der Weg zu Christo 1682 mit dem Titel überschrieben: Wie die Seele möge zu Göttlicher Anschauung und Gehör kommen. Als Speners Schützling August Hermann Francke 1692 nach Halle kam und das Waisenhaus gründete, erkannten die örtlichen Behörden bald, dass sein Ansatz spiritueller Schulung ein höchst eigentümlicher war. Mit Wachsamkeit wurde Franckes Methode wahrgenommen, im Unterricht das Auge über das Wort zu stellen. In einem Bericht an den Preußischen König Friedrich I. über aufgekommene Differenzen zwischen den evangelisch-lutherischen Magistern der Universität und der Hallenser Stadtregierung gaben mehrere Beamte bezüglich der Lehre Franckes zu Protokoll, dass beide Seiten darin vereint seien, vielmehr sei es die Methodik dieser zur „Erbauung“ neigenden Schulungen, aus der sich Differenzen entwickelt hätten.30 Konsens bestand darin, dass „zu Halle neue Lehren getrieben [würden], und die Liebri Ecclesia Lutheranae Symbolici negligiret; da sie denn sich auf den Augen schein beziehen“.31 Trotz Franckes zahlreichen Kommentaren zur „Gewissheit des Wort Gottes“ waren 27 Udo Sträter: Meditation und Kirchenreform in der lutherischen Kirche des 17. Jahrhunderts, Tübingen 1995; Ders.: Wie bringen wir den Kopff in den Herz? In: Gerhard Kurz (Hg.): Meditation und Erinnerung in der Frühen Neuzeit, Göttingen 2000, S. 11–35. 28 Vgl. Johannes Wallmann: Philipp Jakob Spener und die Anfänge des Pietismus, Tübingen 1986, S. 283f. 29 Reimbold (s. Anm. 26), S. 45. 30 Bericht dessen was wegen der zwischen den Evangelisch-Lutherischen Geistlichen von der Universität und Stadt Ministerio in Halle, eine zeithero geschwebten Differentien, durch von seiner Churf. Durchl. zu Brandenburg Gnädigst verordnete Commission abgehandelt und zu dero Beruhigung in Göttlichem Segen ausgerichte worden, Colln an der Spree 1701.
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viele seiner orthodox lutherischen Zeitgenossen besorgt, dass sein Interesse am „Augenschein“ von der intensiven Lektüre der Heiligen Schriften ablenke. Spener und jenen anderen verpflichtet, welche die Anschauung ins Zentrum der spirituellen Übung platziert hatten (Augustinus, Arndt, Böhme, Loyola, Hugo, Comenius), betonte auch Francke die Notwendigkeit des Gebrauchs der Augen, um zu einem intuitiven Verständnis des Göttlichen zu gelangen.32 Francke interessierte das Auge als ein versöhnendes Medium, befähigt, das Verhältnis von Sinn und Geist zur Passung zu bringen. So verglich er die Kraft des inneren Auges eines Menschen mit einer Form von Klugheit, die auf den Säulen der Erfahrung und Erkenntnis ruhe.33 Diese Einschätzung ähnelt auf frappierende Weise Comenius’ Beschreibung eines inneren Sehens als Verstandesform, bei der induktive und deduktive Methoden der Wissensproduktion zusammenkommen.34 Für Comenius führte dieses innerliche Schauen zu immer tieferen und größeren Fähigkeiten der Seele, die sowohl durch sinnliche Demonstrationen als auch die Kultivierung einer gebührenden Aufmerksamkeit geweckt werden könnten.35 Um eine Sache zu sehen, „so wie sie ist“, bestand Comenius auf der Notwendigkeit eines Anschauungsunterrichts im Einklang mit „einer bestimmten Methode, nach der die Dinge dem Geist so dargeboten werden, dass er sie sicher und rasch erfasst und durch dringt“.36 Zu der Zeit, als Francke in Gotha eingeschult wurde, hatten Fürst Ernst der Fromme und sein Berater Andreas Reyher eine neue Schulmethode eingeführt, die weitgehend den Vor 31 Bericht dessen … (s. Anm. 30). 32 August Hermann Francke: Das Auge des Glaubens, Halle 1716; Ders.: Die Klugheit der Kinder des Lichts [Lukas 16:1–9], Halle 1714, S. 23; dem Text liegt eine Predigt Franckes vom 13. August 1713 zugrunde. Reprint in: August Hermann Francke: Predigten und Tractätlein, Bd. 3, Halle 1723 und August Hermann Francke: Sonn und Fest-Tags Predigten, Halle 1724; Ders.: Die Lehre von der Erleuchtung (6. März 1698). In: Erhard Peschke: August Hermann Francke: Predigten I, Berlin 1987, S. 380–399. 33 Vgl.: August Hermann Francke: Kurzer und Einfältiger Unterricht, Halle 1702; Reprint in: D. G. Krämer: A. H. Francke’s Pädagogische Schriften, Osnabrück 1966, S. 55. 34 Johann Amos Comenius: Die Methode für die Wissenschaften. In: Hans Ahrbeck (Hg.): Grosse Didaktik, Berlin 1957, S. 194 und Johannes Kühnel: Comenius und der Anschauungsunterricht, Leipzig 1911, S. 22. 35 Comenius (s. Anm. 34); vgl. Erwin Schadel: Sehendes Herz (cor oculatum), Zu einem Emblem des späten Comenius, Frankfurt a.M. 2003. 36 Comenius (s. Anm. 34); in der Einleitung seiner „Janua linguarum reserata“ (1631) erklärte der Böhmische Theologe, dass er stark beeinflusst war von einem vergleichbar betitelten Lateinlehrbuch, das vom Jesuitenkolleg in Salamanca publiziert worden war. Comenius schrieb den „Orbis sensualium Pictus“ schließlich in den 1650er Jahren als Einführung zur „Janua linguarum reserata“.
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Abb. 5: Innensicht der Franckeschen Stiftungen, Kupferstich von Gottfried August Gründler, 1750.
schlägen Comenius’ folgte.37 In der Beschreibung seines eigenen erzieherischen Reformprojekts schrieb Francke, dass er in Halle auch ein aus Gotha stammendes „Büchlein“ verwende.38 Francke zog auch einen Vergleich zwischen seiner Anstalt, dem Tempel von Jerusalem und der „Prophetenschule gegründet vom Propheten Samuel“, die – wie er sagte – Gottes beste Intention kommunizierte und Individuen half, die heilenden Kräfte ihrer Seele zu kultivieren.39 Mit dem Gebrauch dieser Terminologie nahm er unmittelbar Bezug auf zeitgenössische Beschreibungen der Prophetenschule, die den Status der Propheten als Lehrer und Übersetzer betonten, welche als Mittler zwischen Gott und den Menschen fungieren 37 Vgl.: Veronika Albrecht-Birkner: Reformation des Lebens. Die Reformen Herzog Ernst des Frommen von Sachsen-Gotha und ihre Auswirkungen auf Frömmigkeit, Schule und Alltag im ländlichen Raum (1640–1675), Leipzig 2002, S. 439; Gerhard Michael: Die Welt als Schule. Ratke, Comenius und die didaktische Bewegung, Berlin 1978. 38 August Hermann Francke: Ordnung und Lehrart […] Waysenhaus gehörigen Schulen […], Halle 1702; vgl.: Erhard Peschke: Die Reformideen des Comenius und ihr Verhältnis zu A.H. Franckes Plan einer realen Verbesserung in der ganzen Welt. In: Heinrich Bornkamm, Friedrich Heyer, Alfred Schindler (Hg.): Der Pietismus in Gestalten und Wirkungen, Bielefeld 1975. Francke beschaffte mehrere Texte des Comenius für seine Anstalt, inklusive einiger Originalmanuskripte, und der Verlag des Waisenhauses fertigte von mindestens zwei dieser Texte Neuausgaben: „De Rerum Humanarum Emendatione Consultatio Catholica“ und „Historia Fratrum Bohemorum“, Halle 1702. 39 August Hermann Francke’s Project zu einem Seminario Universali oder Anlegung eines PflanzGartens […] (1701), Halle 1881, S. 21.
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würden.40 Als Zeichen ihrer Verpflichtung gegenüber beiden Seiten hätten sie Schulen gegründet. Dilherr erklärte dazu, „es ist wissens wohl werth, dass in den Alten Testament, die Priester und öffentliche Lehrer der Kirchen Gottes auch Professores gewesen“. Ein Tempel war nicht nur ein öffentliches Haus der Andacht, in dem man betete und Predigten hörte; vielmehr war es ein Ort, an dem Kleriker „die Jugend in der Gottesfurcht und freien Künsten unterrichteten“.41 Als ein „universelles Seminar“ (oder Tempel) bestanden die Franckeschen Stiftungen aus zahlreichen Elementen, die vom gesamten Gebäudekomplex bis zum einzelnen Ziegel reichten (Abb. 5). Alle diese Teile – Säulen, Wände, Räume – waren zu einem kompositen Ganzen arrangiert. Johann Bessler (Orfyrreus) beschrieb dieses Kompositum als ein „Haus der Einigkeit“, in dem begnadete Knaben Weisheit durch die Künste und Wissenschaften erlangten: „Die Weissheit baut ein Haus der Einigkeit, hört zu; Die von dem grossen bau was wollen gerne wissen: […] In solcher Weissheits-Schul nimmt man nur Knaben ein, So gleichsam von Natur nach Wissenschafft gelüsten, Die Eltern mögen nun auch Juden, Turcken, seyn Doch Protestanten gehn zuvor mit den Papisten, Die Kinder hören nicht den g’ringsten Glaubens-Streit, Wohl aber Tugend Lehr und Kunst auf allen Seiten, Damit sie wachsen auch an Alter und Weissheit, So müssen selber sie viel hundert Ding arbeiten. Es wird dergleichen Werck nicht wo gesehen seyn, Man findet vielmal mehr als man davon wil sprechen, Das Wäysenhauss zu Hall’ ist warlich gut und fein, Doch aber gegen den ist es wie nichts zu rechen.“42 40 David Knibbe: Histori der Propheten in 4 Bücher abgetheilt, Bern 1709, S. 203; Johann Michael Dilherr: Propheten Schul. Das ist Christliche Anweisung zu Gottseliger Betrachtung des Lebens und der Lehre heiliger Propheten Altes Testaments; derer Bildnussen, in schönen Kupferstichen mit sind beygefüget. Allerlei Stands Personen erbaulich zu lesen, Nürnberg 1662, S. 2f.; vgl. Ferdinan van Ingen: Johann Michael Dilherr (1604–1669). In: Udo Sträter (Hg.): Orthodoxie und Poesie, Leipzig 2004, S. 47f. 41 Dilherr (s. Anm. 40), S. 2f. 42 Johann Ernst Elias Bessler: Der Recht-glaubige Orffyreer. Oder Die Einige Vereinigung der uneinigen Christen in Glaubens-Sachen. Sie nennen sich gleich: Evangelisch-Lutherisch, Evangelisch-Reformirt, Römisch-Catholisch, oder Papistisch, Kassel 1723, S. 8f.
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Abb. 6: Das Hallesche Waisenhaus als Anschauungsobjekt, Kupferstich von David Ulrich Boecklin, 1730.
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Wie das in seinem Inneren bewahrte Modell des Salomonischen Tempels wirkte auch das Hallesche Waisenhaus auf diejenigen ein, welche Zeugen seiner dinglichen Gestalt wurden. Die Architektur selbst half ihnen zu lernen, zwischen individuellen Elementen und deren Position zu unterscheiden, durch ein aus Teilen vereintes Ganzes zu manövrieren. Die Anstalt insgesamt diente damit ebenso als ein Anschauungsobjekt, das unmittelbare Einsicht zu generieren, das innere Auge zu schulen vermochte (Abb. 6).
Sehende Auffassungsgabe
Mit dem Hallenser Waisenhaus, seiner Bauform als auch seiner Erziehungspraxis, wurde eine höhere Idee, in Form von sichtbaren Relationen, umgesetzt. In der Kunst- und Naturalienkammer des Hauptgebäudes und seinen Kabinetten, umgeben von Hunderten ausgestellter naturalia, artificialia und Modelle, wurde jeder Betrachter in der Kunst der intuitiven Auffassung und des Manövrierens zwischen Einzelnem und Ganzem geschult. Semlers Modell des Salomonischen Tempels musste in einer solchen Anordnung wie ein Kraftzentrum erscheinen, das den Betrachter zugleich anzog und forderte, indem es den Bau der Welt in eine anschauliche und sinnhafte Modellform brachte, die sich zugleich aus unzähligen Einzelteilen zusammensetzte. Die Anschauungsobjekte der Hallenser Sammlung waren schon durch ihren Ort, ihre Auf- und Ausstellung mit einer Kraft ausgestattet, die sich folglich auch über die Augen vermitteln lassen musste. Indem sie die sichtbare Erkenntnis als eine gleichermaßen unmittelbare wie denkende Form verstanden, sollte es durch sie möglich werden, auch des Verhältnisses von groß und klein, Gott und Mensch, Realität und Perfektion mit eigenen Augen und eigenen Sinnen gewahr zu werden.
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Bücherschau: Wiedergelesen Nelson Goodman: Languages of Art: An Approach to a Theory of Symbols. Indianapolis 1968. Deutsch: Sprachen der Kunst. Entwurf einer Symboltheorie, Suhrkamp Verlag: Frankfurt a.M. 1973 (Übers. v. Jürgen Schlaeger), 1995 (Übers. v. Bernd Philippi).
Die gegenwärtige Diskussion zum bildnerischen Denken und zur Notation in den Künsten1 legt eine Re-Lektüre von Nelson Goodmans ästhetischem Hauptwerk Sprachen der Kunst. Entwurf einer Sym boltheorie nahe. Das Bild als Symbol ist Teil seines Systems und die Übertragung der strukturalen Linguistik auf die Erforschung nichtverbaler Symbolsysteme ein wichtiger methodischer Zugriff seiner Darlegung. Als das Buch 1968 in den USA erschien, löste es erbitterte Diskussionen aus.2 Dazu trug seine Interpretation des an das Bildnerische gebundenen Begriffs der Repräsentation bei. Dennoch sind für Goodman die „Probleme aus dem Bereich der Künste […] eher Ausgangs- als Zielpunkte“. Die Beispiele, an denen er seine Theorie entwickelt, spannen den Bogen von Buchstaben, Worten, Texten, Bildern, Diagrammen, Karten bis hin zu Modellen (S. 9). Offensichtlich interessieren ihn Kriterien für ästhetische Wertungen nicht. Sein Fokus liegt in der Frage nach den Symbol- und Erkenntnisfunktionen von Kunst und Wissenschaft. Er widerspricht der Auffassung, dass die Kunst in einem diametralen Gegensatz zur Wissenschaft stehe und sieht deren Unterschied in der „Dominanz gewisser Merkmale von Symbolen“ (S. 265), kurz gesagt geht es ihm um symbolische Bezugssysteme. Die Erkenntnismöglichkeit von bildlichem Sehen wird als eine gleichwertige Wahrnehmungsweise neben der Sprache, der Musik oder dem Tanz hervorgehoben. Objekte und Ereignisse, visuelle und nichtvisuelle, „können sowohl von visuellen als auch von nichtvisuellen Symbolen repräsentiert werden“ (S. 232). Sein System bleibt dennoch von einem linguistischen Ansatz geprägt, wie sich schon im Titel des Buches, aber auch in seiner Einteilung der Künste in allografische und autografische zeigt. Mit Blick
auf die Malerei ist für ihn die Kunst autografisch, wenn der Unterschied zwischen einem Original und einer Fälschung bedeutsam und eine Notation angemessen ist. Demgegenüber zeichnet sich die Symbolsprache der Musik als allografischer Kunst durch die älteste Form der Standardnotation aus. Damit fällt das bildliche Sehen aus dem Kanon seiner Definition von Notation heraus. Sie muss im strengen Sinne die Eigenschaften der „Unzweideutigkeit, syntaktische[n] und semantische[n] Disjunktivität und Differenzierung“ (S. 162) besitzen. Am Ausgangspunkt seiner Theorie stehen zwei Kernbegriffe der traditionellen Kunstphilosophie: die bildhafte Darstellung und der Ausdruck. Seine kritische Analyse des Begriffs Repräsentation basiert auf dem Grundgedanken, dass weder die Ähnlichkeit noch die Perspektive passive Abbildungen, sondern symbolische Beziehungen sind. Wie bei der musikalischen Notation und der verbalen Beschreibung handele es sich im Gegensatz zur Exemplifikation um eine extensionale Bezugnahme. Von einer psychologisierenden Interpretationen abweichend, ist für ihn die Exemplifikation eine Bezugnahme, die auf gewisse eigene Charakteristika verweist, zugespitzt formuliert: „Besitz plus Bezugnahme“. Diese Analysen führen über Fragen des Werkstatus und der Reproduzierbarkeit und den damit im Zusammenhang stehenden Unterscheidungen der Künste zum systematischen Herzstück seines Buches, zur Theorie der Notation, die er für künstlerische und außerkünstlerische Systeme entwickelt. Sein methodischer Zugriff, davon auszugehen, dass Bilder nicht durch ihren Abbildcharakter zu bestimmen, sondern als Teil eines komplexen Zeichensystems zu verstehen sind, bleibt fundamental für bildwissenschaftliche Fragestellungen. Der Eindeutigkeit einer gesamtheitlichen Theorie stehen jedoch Tendenzen der damaligen Kunstentwicklung entgegen, für die die Arbeit des Zeitgenossen und Grenzgängers John Cage symptomatisch ist. Für ihn hat sich der Glaube an einen geschlossenen Werkbegriff aufgelöst. Obwohl Goodman selbst lange Jahre eine Kunstgalerie geleitet und choreografische Werke mit Tanz und
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Musik konzipiert hatte, stand er der Arbeit von Cage fremd gegenüber. Cage, der 1967 mit Allison Knowlson neben grafischen Partituren auch Handlungsanweisungen für Performances in seinen Ausstellungskatalog notations einbezog, schuf für Goodman „autographische Diagramme“ (S. 195). „Es gibt nur Kopien nach und Aufführungen nach diesem einzigartigen Objekt, genauso wie es nur Zeichnungen und Gemälde nach einer Skizze gibt.“ So wertet Goodman die zeitgenössische „Rebellion“ der neuen Musik als Bestätigung der Autorität der musikalischen Standardnotation.3 Pointiert könnte man die Entwicklung seines theoretischen Instrumentariums als Abwehr avancierter zeitgenössischer Kunst werten. Es verwundert daher nicht, im Vergleich „autographischer Diagramme“ von Cage mit frühmittelalterlichen musikalischen Neumen zu lesen: „Manchmal ist Revolution Rückschritt.“ (S. 195) Für Goodmans Umgang mit nichtverbalen Symbolsystemen sprechen seine den Kapiteln vorangestellten Abbildungen. Sie beziehen künstlerische Arbeiten der klassischen Moderne ein, schließen jedoch zeitgenössische Werke aus. Das erste Kapitel, in dem es um die Analyse der Perspektive als „naturgetreuer Repräsentation“ (S. 24) geht, beginnt mit einer perspektivischen Skizze aus Paul Klees Pädagogischem Skiz zenbuch (1925), die evident machen soll, dass der Künstler entgegen allgemeiner Annahmen den Gesetzen der Geometrie die Stirn bieten muss. Wassily Kandinsky wird zum „Klang der Bilder“ im zweiten Kapitel zitiert, um zu belegen, dass eine Passage oder ein Bild etwas ausdrücken kann, ohne zu beschreiben oder zu repräsentieren (S. 101). In den folgenden Kapiteln, die sich um die Entwicklung eines Begriffsapparats bemühen, ist dem Thema der Authentizität ein Diagramm zum Farbspektrum und dem der Notation eine Tanznotation von Rudolf von Laban zugeordnet. Im Text über Partitur, Skizze und Skriptum erscheint eine frühmittelalterliche musikalische Neumenschrift. Das zusammenfassende Kapitel zu Kunst und Erkenntnis wird mit einer Karte von Bewohnern der Marshall-Inseln eingeleitet, die auf nichtperspektivische
Bücherschau: Wiedergelesen
kartografische Bilder jenseits des traditionellen Repräsentationssystems der westlichen Welt verweist. Er untermauert damit seine Forderung einer drastischen Reform, der es um eine „vollständige Relativität der Repräsentation und für Repräsentation durch anderes als Bilder“ geht. Die im Text verwendeten Beispiele aus den Künsten reichen bis ins 17. Jahrhundert zurück, berühren jedoch nur in der Musik die aktuellen Debatten. Das führt zu Wertungen, denen Goodman aus dem Weg gehen wollte. Anfang der neunziger Jahre lässt sich eine Renaissance der Goodman-Lektüre beob achten (1990 Ehrendoktorwürde TU Berlin, 1992 Symposium zu „Sprachen der Kunst“, Centre Pompidou, Paris). Er wurde als Vertreter der analytischen Philosophie wahrgenommen, dessen Schule des Denkens im Vergleich zu den aktuellen Theorien französischer Provenienz in die Defensive geraten sei. Dabei wurde sein Streben nach Klarheit und Ökonomie gegen seine Freude an eleganten Formulierungen und überraschenden Einfällen ausgespielt.4 Goodman bezeichnete sich selbst als Systematiker mit Interesse an „Konstruktionen von Weltversionen“. Er kritisierte die französische Philosophie als Obskurantismus. Auf den Vorwurf, dass die analytische Philosophie sich ihrem Gegenstand nicht anverwandele, entgegnete er: „Das wäre ebenso unsinnig, wie wenn man einer Beschreibung von Gras vorwerfen wollte, dass sie nicht grün ist.“5 Seine Ambivalenz und Faszination macht aus, dass er einen universalen Systematisierungsversuch unternimmt und sich gegenüber der französischen Philosophie abgrenzt. Bei der heutigen Lektüre von Goodmans Buch ist nicht nur zu konstatieren, dass der Glaube an allgemeingültige und geschlossene Theorien zerbrochen, sondern seine zentrale Kategorie der Notation anders zu fassen ist. Die Grenzverwischung in der radikalen Neubestimmung des Verhältnisses zwischen Entwurf, Aufzeichnung, Wiederholung und Werk ist zum Ausgangspunkt ästhetischer Reflexion geworden. Notationen gewinnen im 20. Jahrhundert eine Autonomie, die nicht nur für die Musik, sondern für alle Künste festzustellen ist. Sie verhalte sich zur Improvisation wie das Porträt zum leben-
Bücherschau: Rezensionen
digen Modell, schrieb Ferruccio Busoni 1916 in seinem Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst. „Der Vortragende hat die Starrheit der Zeichen wieder aufzulösen und in Bewegung zu bringen.“ Gerade im Bildnerischen wird die Auflösung der Grenzen zwischen Notation und Werk symptomatisch. Das klingt bei Goodman an, wenn er erklärt, dass eine Partitur ein Zeichen in einem Notationssystem (S. 183), aber kein Werk ist, hingegen das Bild oder die Skizze kein solches Zeichen, aber ein Werk ist ( S. 214). Das Papierne der Architektur wie das literarische Skriptum sind daher für ihn „seltsame Mischungen“ (S. 221). Da das Notationssystem für Goodman in einem Übersetzungs- und Abstraktionsverhältnis zum Dargestellten steht, ist die Wiederholbarkeit des Notierten eine notwendige Funktionsweise. Das ist der bildenden Kunst im Gegensatz zu Musik oder Tanz nicht immanent. Ergänzend zu zeichentheoretischen Systemen oder einer diskursund mediengeschichtlichen Analyse mit technologischem Fokus6 erscheint heute der Blick auf die Bildlichkeit von Notation aufschlussreich, wobei Bildlichkeit als visuelle Spur eines Formfindungsprozesses verstanden wird. Obwohl Goodman die Erkenntnisform von Kunst betont, übersieht er die der Notation innewohnenden Möglichkeiten des Formfindungsprozesses. Es erscheint jedoch folgerichtig, Notation nicht als Zeichensystem, sondern als ein für das 20. Jahrhundert spezifisches künstlerisches Verfahren zu fassen, dass das veränderte Verhältnis von Idee und Werk beschreibt. Angela Lammert
1 Dieter Appelt, Hubertus von Amelunxen, Peter Weibel, Angela Lammert (Hg.): Notation. Kalkül und Form in den Künsten, Berlin 2007. 2 Gewissheit ist etwas ganz anderes und Absurdes. Karlheinz Lüdeking sprach mit Nelson Goodman. In: Kunstforum 1995, Bd. 131, S. 343. 3 Notation (s. Anm. 1), S. 185. 4 Gewissheit (s. Anm. 2), S. 342ff. 5 Gewissheit (s. Anm. 2), S. 345. 6 Friedrich Kittler: Aufschreibesysteme 1800–1900, München 1995.
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Bücherschau: Rezension Bruno Girveau, Guy Cogeval, Roger Diederen (Hg.): Walt Disneys wunderbare Welt und ihre Wurzeln in der europäischen Kunst, Hirmer Verlag: München 2008.
Wenige Monate vor seinem Tod sprach Walt Disney davon, dass ihn immer derselbe Albtraum verfolge: Er träume, dass einer seiner Filme in einem Filmkunstkino landen könne. Disneys vorgeblichem Unbehagen an der Hochkultur zum Trotz, zeigte die Hypo-Kunsthalle München im Winter 2008/09 seine Bildwelten nicht im Kinosaal, sondern im Kontext der europäischen Kunst. Das Vorhaben, Disney in den Rang eines ernstzunehmenden Künstlers des 20. Jahrhunderts zu erheben, ist nicht neu. Sergej Eisenstein begeisterte sich schon früh für Disneys Schaffen und widmete ihm eine lesenswerte Monografie, Erwin Panofsky lobte ihn in seinem berühmten Vortrag On Movies von 1936, und das Museum of Modern Art zeigte ein Jahr später einige seiner Studioarbeiten im Zusammenhang einer großen Surrealismusausstellung. Mit der für das Pariser Grand Palais konzipierten und auch in Montreal bereits gezeigten Schau machte es sich die Kunsthalle zur Aufgabe, Disney „in die Reihe der großen Künstler der europäischen Kunstgeschichte“ aufzunehmen, so Bruno Girveau gleich zu Beginn des zur Ausstellung erschienenen Katalogbandes. Sie vereint dazu Werke von der Gotik bis zum Surrealismus, die den Zeichnungen und Filmausschnitten des frühen Disney-Studios gegenübergestellt werden, um dem Einfluss der europäischen Kunst auf Disneys „wunderbare Welt“ nachzugehen. Die aufwendig in Szene gesetzte Bilderschau konzentriert sich dabei auf die abendfüllenden Zeichentrickfilme, die zu Lebzeiten Disneys entstanden sind, von Schneewittchen und die sieben Zwerge bis zum Dschungelbuch. Die gläsernen Ausstellungsvitrinen mit goldenem Unterbau erinnern deshalb nicht von ungefähr an den Sarg Dornröschens, und die in schwarz gehaltenen Wände sowie der eigens ausgelegte rote Teppich
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rufen die Zeit der frühen Filmtheater auf. Der Gang durch die Ausstellung illustriert die Fülle des Materials, dessen sich Disney in seinen Filmen bediente, um Figuren, Architekturen und Dekors zu schaffen. Disney selbst ist mit keiner einzigen Zeichnung in der Ausstellung vertreten. Zu besichtigen ist die Meisterschaft seiner Werkstatt, sind die künstlerischen Handschriften seiner Mitarbeiter. Noch ehe er zu Weltruhm gelangte, hatte Disney mit dem Zeichnen aufgehört und es Talentierteren überlassen. Die von ihm engagierten Zeichner wie Ferdinand Horvath, Albert Hurter, Kay Nielsen oder Gustaf Tenggren stammten vielfach aus Europa oder hatten dort zumindest studiert. Sie brachten nicht nur ihr handwerkliches Können aus der Alten Welt mit in die Neue, sondern auch ihr Bildgedächtnis. Es mag schon deshalb weit weniger überraschen, als es die Ausstellung ihren Besuchern suggerieren möchte, dass Disneys Klassiker, für viele der Inbegriff amerikanischer Populärkultur, von europäischen Bildern, Themen und Motiven durchdrungen sind. Ihre Schöpfer finden hier zwar die namentliche Erwähnung, die ihnen Disney zu Lebzeiten oft verwehrt hat, dennoch geraten sie neben ihm zu Statisten. Es hätte der Schau gut getan, den Produktionsweisen mehr Raum zu geben, statt das Genie Walt Disneys zu überhöhen. Leider ist es den Kuratoren nur bedingt gelungen, die Verwandtschaften und Einflüsse auch zu vergegenwärtigen, die sie als Kunsthistoriker ermittelt haben. Der Vergleich mit den Werken, die Disney als Vorlage gedient haben sollen, wirkt selten schlagend, meist assoziativ, in etlichen Fällen willkürlich. Die Gemeinsamkeiten werden kaum herausgearbeitet, sondern dürftig erläutert an die Wand gehängt: Den von Gustaf Tenggren für Pinocchio gemalten Aquarellen wird ein Tafelbild Gaspar Dughets zur Seite gestellt, das ein Seestück mit Jonas und dem Wal zeigt, aber über die motivische Entsprechung hinaus keinerlei ikonografische oder formale Ähnlichkeit aufweist oder etwas über die Auseinandersetzung Tenggrens mit dem Schwager Poussins verrät. Für
Bücherschau: Rezensionen
Disneys Schneewittchen wird eine Vielzahl von Quellen bemüht, die von Janet Gaynor, der Hauptdarstellerin aus Murnaus Sunrise, über Shirley Temple bis zu den Frauenbildern Ludwig Richters, Eugene Grassets und der Präraffaeliten reicht. Die Figur der Königin gerät in der Sichtweise der Kuratoren zu einer Mischung aus Joan Crawford, den Theatermasken des seinerzeit berühmten Art-Deco-Künstlers W.T. Benda sowie der Figur der sogenannten Uta aus dem Naumburger Dom. Das Ungefähre solcher Analogien spiegelt sich in den Ausstellungstexten wieder. Wo der Einfluss des vermeintlichen Vorbildes nicht sogleich sichtbar wird, finden sich vage Formulierungen: ein Bild „weckt Assoziationen“, ein anderes „kann in Verbindung gebracht werden“. Das Diffuse der Argumentation scheint sich einem anachronistischen Nobilitierungsversuch der Populärkultur zu verdanken, die doch längst selbst zum Referenzsystem globaler Bildfindungen geworden ist. Die Ausstellung führt weder die Spielarten visueller Zitation vor, noch unterscheidet sie zwischen direktem Zitat und Pastiche, zwischen Transformation und Nachahmung. Ganz außer Acht bleibt die Frage nach der Funktion der Bezüge. Alles hat hier scheinbar mit allem zu tun oder erinnert wenigstens daran. Wenn Dürers Apokalyptische Reiter und Hans Baldungs Hexensabbat als Belege der Bildfindung zu Mussorgskis Nacht auf dem Kahlen Berge aus Fantasia herangezogen werden, daneben aber gleichzeitig Ausschnitte aus Murnaus Faust und Christensens Häxan zu sehen sind, die in der Disney-Produktion offensichtlich direkt zitiert werden, gerät die fehlende Reflexion über die Vermittlung von Bildtraditionen zum spürbaren Mangel. So wunderbar spielerisch das bisweilen ist, ihrem hohen Anspruch kann die Ausstellung damit nicht genügen. Ihre Macher scheinen eine seltsame Scheu vor jeder Art von Fragen zu haben, die dem bereits im Titel der Ausstellung angezeigten Einfluss auf den Grund gehen könnten: Warum lehnte Disney die stilistische Gestaltung ganzer Filme an so anerkannte Vorbilder aus der europäischen
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Abb. 1: Heinrich Kley: Schlittschuh laufende Elefanten / skating elephants, Detail aus einem Skizzenbuch, München um 1910.
Kunst an? Gibt es Kriterien für die Übernahme und geschah die Einverleibung nach beschreibbaren Regeln? Worin besteht der allen Disney-Produktionen gemeinsame Stil und wie wird er appliziert? Gibt es grundsätzlich beschreibbare Gemeinsamkeiten in der Rezeption „europäischer Kunst“ (unter die in der Ausstellung großzügig auch Shen Zhous Reise nach Wu aus der Epoche der chinesischen Ming-Dynastie gerechnet wird)? Der Funke der Evidenz springt in der Ausstellung nur gelegentlich über; zumeist dann, wenn die gezeigten Vorlagen romantischen oder historistischen, also selbst eklektizistischen Ursprungs waren, vor allem aber, wenn es sich um direkte Übernahmen aus Filmen oder Anverwandlungen aus Buchillustrationen handelt. Als sein Weg ihn 1935 anlässlich einer Preisverleihung nach Europa führte, erwarb Disney dort rund 350 Bücher, die zur Bibliothek und Inspiration für ihn und seine Mitarbeiter wurden. Die Zeichnungen Honoré Daumiers, Gustav Dorés, Granvilles, Arthur Rackhams und
insbesondere jene fabelhaften Arbeiten Heinrich Kleys (Abb.1) weisen eine augenfällige und durch die in der Ausstellung in Auszügen gezeigte Bibliothek auch sinnfällige Verwandtschaft zu den DisneyProduktionen auf. Die anlässlich der Ausstellung erschienene Publikation ist eng an deren Aufbau angelehnt. Der Katalogteil wird u.a. durch kurze Beiträge der Kuratoren Bruno Girveau und Pierre Lambert ergänzt, in denen sie zu begründen suchen, weshalb Disneys Werk nicht nur im Kino, sondern auch im Museum gezeigt wird. Allen Essays gemein ist ein tastendes Moment, die Suche nach Zusammenhang. Der Katalog kann die Leerstellen, welche die Ausstellung hinterlässt, darum nur bedingt füllen. Dennoch ist den Machern mit ihm ein ansprechend gestalteter Streifzug durch Disneys „wunderbare Welt“ gelungen, der auch auf jene kritischen Bemerkungen zu Disneys Umgang mit der Tradition nicht verzichtet, die in der Ausstellung leider zu kurz gekommen sind. Udo Andraschke und Stefan Remler
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Verfeinertes Sehen. Optik und Farbe im 18. und frühen 19. Jahrhundert. Herausgegeben von Werner Busch unter Mitarbeit von Elisabeth Müller-Luckner, R. Oldenburg Verlag: München 2008 (=Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien, Band 67).
Hartnäckig hält sich eine populäre Ansicht, dass die bildenden Künste zu den Naturwissenschaften ein spannungsvolles und oft unbedarftes Verhältnis pflegen: Auf der einen Seite findet sich die (gerne im Singular ausgeschriebene) „Wissenschaft“, auf der anderen die oft etwas begriffsstutzige Kunst, die – wiederum in den Kollektivsingular gesetzt – brav aufgreift, was an rationalisierter Welterschließung außerhalb ihrer geschieht. Mit diesem Spannungsfeld befassen sich, allerdings unter geänderten, weniger populären Vorannahmen, die Beiträge des Bandes Verfeinertes Sehen, wobei sie sich mehr oder weniger intensiv einlassen auf eine Leitfrage, die Werner Busch in der Einleitung formuliert: „Welchen Einfluss hatte Newtons ‚experimentum crucis‘ auf die Kunst, direkt oder indirekt? “ Der Band liefert als Antwort ein knappes Vorwort, eine Einleitung von zwei Druckseiten und zwölf Aufsätze unterschiedlicher Länge, von denen der größere Teil empfehlenswerten Lese- und Reflexionsstoff liefert, wenn auch mit einigen kleineren Mängeln. Die Zeit, in der sich der besagte Einfluss Newtons auf die Bildkünste hat bemerkbar machen können, beginnt mit dem Erscheinen seiner Opticks im Jahre 1704. Sie erstreckt sich allerdings bis zu einem nicht näher spezifizierten Zeitpunkt. Da zwischen den Buchdeckeln auch die neoimpressionistische Malschrift Georges Seurats und Paul Signacs Erwähnung findet, das newtonsche Zeitalter nach 1870 aber schon längst zum Abschluss gekommen war, müsste der Leser über die chronologischen Verhältnisse oder über die Gründe für diese Auswahl noch Genaueres erfahren. Dies umso mehr, als Newtons Opticks nicht nur direkt, sondern – und sehr viel häufiger – mittelbar über Denkschriften, Abhandlungen, philosophische Traktate und Popularisierungen rezipiert wurde.
Bücherschau: Rezensionen
Entscheidend allerdings ist der Umstand gewesen, dass, beginnend mit 1704, das Farbverständnis revolutioniert wurde und mit ihm teils die Mal- und Druckpraktiken (siehe dazu den Beitrag von Annik Pietsch), teils die Praktiken der Bildwahrnehmung. So geht es eigentlich (was allerdings nur in einigen Essays angedeutet wird) nicht um die Wissenschaft, sondern um ein eklektisch sich zusammenfügendes und fortwährend erneuerndes Ensemble von Wissensbeständen im Verhältnis zu den bildenden Künsten. Kein Wunder, dass es unter diesen Bedingungen zu Verhältnisverkehrungen kam, wie Ulrike Boskamp in ihrem Beitrag über Prismatische Augen, gemischte Sensationen. Farbensehen und Farbendruck in Frankreich überzeugend darlegt: Eine künstlerische Technik wurde „zum Erklärungsmodell für die Vorgänge im Auge“. Wer hier auf der Seite der Gelehrten und wer auf derjenigen der Künstler sich befand, steht a priori keineswegs fest, denn die savants bewegten sich flink und zumeist fröhlich über alles hinweg, was später an akademischer Grenzbefestigung errichtet wurde. Auch die Verschiedenheit der Beiträge dieses Bandes, die von künstlerischen Zeichnungs- und Maltechniken (siehe die Artikel von Monika Wagner, Bettina Gockel, Marc Wellmann und John Gage) bis zu optischen Experimenten unter Künstlern und Forschern (siehe die Artikel von Ursula Klein, Carolin Meister und H. Otto Sibum) reichen, legen in gewisser Weise Zeugnis von der Komplexität der Diskussion ab. Als ebenso bezeichnend für die Konstellation eines eklektischen Nebeneinanders von Wissensbeständen ist der Umstand zu werten, dass begeisterte Vertreter des Newtonianismus die von Newton aufgestellten Lehrsätze im Namen der neuen experimental philosophy übertraten. Für Newton war die Wahrnehmung von Licht, ob farblos oder prismatischgebrochen-farbig, auf eine Reizung durch einen physischen Agenten zurückzuführen: Lichtwahrnehmung im Finstern sei eigentlich undenkbar. Und doch wurden mit den akzidentellen Farben, den Nach-
Projektvorstellung
bildern und den von der Lebensökonomie des menschlichen Auges bedingten Komplementärfarben Phänomene beobachtet und newtonianisch zerlegt, die im engeren Rahmen des physikalisch-optischen Wissensbestands keinen festen Platz erhalten hatten. Newtonianisch wurde assimiliert, was an neuen Wissensfragmenten zirkulierte, und eben dies führte auch dazu, dass die Optik dieses und jenes oder ein Drittes und unbändig ganz Anderes sein konnte. Plötzlich wurde das menschliche Auge mit seinen Eigengesetzlichkeiten selbst zum optischen Instrument. Kein anderes Instrument als das Auge des Menschen ist der „subjektiven Empirie“ oder der „Heautognosie“ des Visuellen fähig, auf die Jutta Müller-Tamm in ihrem Essay Augen gespenster, Lügengeschichten und Gesichtswahr heiten. Zur Theorie des Sehens zwischen 1780 und 1830 eingeht. Das hatte zur Folge, dass die Kunst des visuellen (Selbst-)Beobachtens als Erfahrungswissensbestand die inzwischen traditionell gewordenen Wissensbestände der (physikalischen) Optik durcheinanderwirbelte. Damit kommt wiederum die Frage auf, wo historisch die Grenzen des Newtonianismus zu ziehen sind – nun aber nicht mehr chronologisch, sondern unter dem Blickwinkel der Experimental- und Beob achtungstechniken, der theoretischen Grundbegriffe und der bildästhetischen, genauer: der farbästhetischen Auffassungen. So behandelt etwa der Aufsatz von Erna Fiorentini zum Thema der Opti cal Instruments and Modes of Vision in Early Nineteenth Century jene optischen Dispositive, also Hilfsmittel zur Produktion von Bildern, die sich ganz im Sinne von Newtons relativ enger Lesart der Optik bewegen. Später erschöpfte der Newtonianismus sich aber auch darin, sich selbst zu übertreiben und – damit durchaus entgegen der Ansicht Newtons – das Auge selber als ein Instrument des Sehens von Objekten zu begreifen. Diese Wandlung stellt unausdrücklich eine weitere Leitfrage des Sammelbandes dar, die allerdings noch eingehender beantwortet werden kann. Alexandre Métraux
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Projektvorstellung denCity – Vom QR-Code zum Blick auf die Stadt
Es ist ein Paradigma urbanistischer Forschung, dass der Stadtraum als eine hybride Struktur aus bebauter Umgebung, Information, Kommunikation und Gemeinschaften betrachtet werden kann. Das 2005 durch deutsche Architekten initiierte Projekt denCity lotet die durch das Internet und mobile Kommunikationstechnologien erwachsenen Möglichkeiten urbaner Raumwahrnehmung aus. Dabei kommen Aufkleber mit sogenannten QRCodes (quick response codes) (Abb. 1) als materielle Links zu Einsatz, mittels derer Orte und Objekte in der Stadt mit Informationen aus dem Netz verknüpft werden können. Diese visuellen Tags werden auf der Internetseite www.dencity.net erfasst und stehen als Datenmaterial für individuelle Kartierungen der Stadt zur Verfügung. DenCity kann emblematisch für aktuelle Kartografieverfahren stehen, die das Bild des dynamischen Stadtlebens sowohl materiell auf Straßenebene, als auch virtuell aus der Vogelperspektive umgestalten. Das Drucken und Anbringen der Aufkleber ist in Anbetracht der Dynamik urbanen Lebens als signifikanter Mehraufwand gegenüber GPS-Verortung oder modernster Sensortechnologie1 anzusehen. DenCity ist aufgrund der etwas langsameren Reaktionszeiten also eher als ein zeitgenössisches Archiv ortsbezogener Information aufzufassen. Dessen Mehrwert liegt aber darin, dass auch Visualisierungen von dynamischen Strukturen der hybriden Stadt kommunizierbar werden. QR-Code im Kontext
Während eines Spazierganges durch die Straßen einer Großstadt lässt sich oft aus kleinsten Hinweisen darauf schließen, welche Menschen in der jeweiligen Gegend wohnen, welche Aktivitäten die Nachbarschaft beherbergt. Ladenöffnungszeiten können zu solchen Hinweisen gezählt werden, aber auch visuelle Spuren wie Graffiti an Gebäuden. Unter diesen heterogenen Zeichenvorrat haben sich in jüngster Zeit
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Abb. 1: QR-Code von denCity im Stadtraum.
auch Links zu Informationen im Internet gemischt, wie zum Beispiel GrafediaGraffitis oder Yellow-Arrow-Aufkleber.2 Die sich am schnellsten verbreitende und technisch anspruchsvollere Ausführung jener Links sind 2D-Strichcodes wie QRCodes, Semacode oder BeeTag, in denen sich unter anderem Webadressen speichern und in Form von Aufklebern an Orten und Objekten anbringen lassen. Der mittels der Kamera eines internetfähigen Mobiltelefons erfasste Code wird durch eine Bilderkennungssoftware ausgelesen, in der Regel als Weblink entschlüsselt und daraufhin im Browser geladen. Der Stadtraum wird somit durch ortsspezifische und aktualisierbare Information angereichert. Vice versa bildet der konkrete Ort den Kontext der durch QR-Codes verlinkten Information. Das Projekt denCity
Die in der Stadt applizierten Tags verweisen auf Einträge auf der Website www.dencity. net. Die Einträge bestehen in der Regel aus Identifikationsnummer, Titel, Geokoordinaten, Kategorien, Beschreibung, Entstehungsdatum und dem Benutzernamen des Autors. Die denCity-Datenbank beinhaltet Informationen sehr unterschiedlichen Charakters, typischerweise jedoch Empfehlungen zu Gastronomie und Einkauf, aber auch Ausflugsziele, Einladungen zum Cam-
Projektvorstellung
ping im öffentlichen Stadtraum, temporär zu vermietende Räume oder beispielsweise die Information, dass es in einem Gemüseladen in Aachen am 11. August 2005 nach 19 Uhr keine Tomaten mehr gab. Die in Echtzeit aus dem Datenbestand des Projekts generierbaren Karten funktionieren laut Projektkonzept als visuelle Interfaces (visual frontend) für die Einträge.3 Ein explizites Ziel von denCity ist es, eine individuelle Perzeption der mit Nachrichten, Stimmen und Information angereicherten Stadt zu ermöglichen. Als Instrumentarium zur Visualisierung des entstehenden hybriden Stadtraumes steht in der Kartenanwendung eine Vielzahl an Einstellungsmöglichkeiten zur Verfügung. Wie die meisten digitalen Karten und Globen, verfügt die denCity-Karte über eine stufenlose Zoomfunktion. Die Wahl des Maßstabes ist ein grundlegendes Prinzip der Erkenntnisgewinnung aus Karten; etwaige „part-whole relations“ sowie strukturelle Zusammenhänge zwischen den kartierten Elementen geben sich dem Beobachter nur in einem bestimmten Maßstab zu erkennen.4 Über die Zoomfunktion hinaus verfügt die denCity-Kartenanwendung über eine Vielzahl von weiteren Einstellungsmöglichkeiten. Zum Beispiel können Einträge nach Kategorien und Unterkategorien gefiltert angezeigt und Einträge derselben Kategorie untereinander verbunden werden. Bei Ausblendung der im Hintergrund liegende Straßenkarte reduziert sich die Ansicht so auf ein topologisch angelegtes Netzwerk von Informationen zu einem Thema (Abb. 2). Einzelnen Kategorien können zudem Relevanzradien zugeordnet werden, um Einträge dieser Kategorien auf der Karte mit konzentrischen Feldern zu umgeben. Dadurch lässt sich eine kartografische Repräsentation der Relevanz oder Beliebtheit bestimmter Aktivitäten in Relation zu ihrer topografischen Lage generieren. Werden mehrere Kategorien in dieser Darstellungsform auf einer Karte zusammengeführt, lassen sich auf diese Weise auch Schnittmengen mehrerer Relevanzradien auf den Stadtraum projizieren (Abb. 3).
Projektvorstellung
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Abb. 2: denCity, Ansicht von Aachen, ‚link sample‘. Kartografie reloaded
Kartierung im Sinne des englischen ‚Plotting‘ beinhaltet eine Reihe von strategischen Entscheidungen bezüglich der Art und Weise, wie Kartenzeichen – sowohl bildliche als auch textliche – eingezeichnet werden. Sie bestimmen wesentlich mit, welche latenten Zusammenhänge zwischen den bis dahin disparaten Kartenzeichen sichtbar gemacht werden, welche neuen Erkenntnisse die Karte liefern kann.5 Diese Zusammenhänge werden jedoch nur teilweise willentlich vom Kartografen veranschaulicht; oft werden sie erst von den Nutzern entlang individueller Interessen aus der Karte herausgelesen. DenCity versetzt seine User nun in die Rolle des Kartografen. Das Bild der Stadt wird in doppelter Hinsicht vom Benutzer aktiv interpretiert: einerseits durch die subjektiven Interessen und Absichten, die seinem Handeln beim Anbringen von Tags in der Stadt und deren Kontextualisierung in der Webanwendung innewohnen, andererseits durch die individuelle Wahl der Karteneinstellungen, durch die verschiedene Aspekte der Stadt sichtbar gemacht werden. Konnte eine für die eigenen Zwecke besonders
geeignete Stadtansicht generiert werden, lässt sie sich in einer Galerie speichern und mit anderen Benutzern teilen. Das Projekt weist in eine Richtung, in die sich die Kartografie im partizipatorischen Internet der ‚zweiten Generation‘ entwickeln kann: gleichberechtigte Anwender setzen sich gegenseitig ins Bild ihrer jeweiligen Wahrnehmung der Strukturen und Relationen urbanen Lebens. Jane Jacobs beschrieb die Stadt als komplexes, selbstorganisierendes System, dessen Prozesse und Zusammenhänge sich statistisch nur begrenzt erfassen lassen, da einzelne aufschlussreiche Hinweise den Methoden der Statistik oft zum Opfer fielen.6 Auf stadtteilweite Prozesse lasse sich – so schrieb Jacobs bereits 1964 – induktiv aus kleinen Zeichen und Hinweisen schließen, die nur durch den „mikroskopischen“ Blick erfasst werden könnten. Der Handlungs- und Wahrnehmungsraum von ortssensitiven Internetanwendungen wie denCity umspannt heute die Maßstäbe des mikroskopischen Blicks auf der Straßenebene bis hin zum Blick aus der Vogelperspektive. Das mobile Auslesen von Informationen tragenden Etiketten in
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Projektvorstellung
Abb. 3: denCity, Ansicht von Aachen, ‚culture and studios‘.
der Stadt oder die Betrachtung einer stark vergrößerten denCity-Karte bietet diese mikroskopische Perspektive auf kleinste Spuren urbaner Aktivitäten. Zoomt der Betrachter jedoch heraus, wandelt sich dieses Bild ins Makroskopische: Einzelne Details gehen verloren und das Kartenbild vollzieht eine Metamorphose hin zur Visualisierung von Strukturen dynamischen Stadtlebens, Zusammenhängen, Zonen, oder auch dem, was die Berliner Kiez nennen. DenCity-Benutzer sind in mindestens zwei Arten von Bildgebrauch involviert. Erstens hinterlässt der Akt des Kommentierens der Orte und Objekte visuelle Spuren in der Stadt: Die ‚codierten‘ Aufkleber sind visuelle Indizes für das Vorhandensein von Einträgen in der denCity-Datenbank und dienen gleichzeitig als Weblink zu diesen Einträgen. Zweitens visualisieren denCityBenutzer – als Kartografen und Kartenleser in einer Person – durch individuell gewählte Karteneinstellungen strukturelle Eigenschaften der Stadt, und nutzen die Kraft des Bildes, um räumliche und zeitliche Zusammenhänge zu kommunizieren. Viktor Bedö
1 Vgl.: http://senseable.mit.edu (Stand: 3/2009); http://www.biomapping.net (Stand: 3/2009); http://reality.media. mit.edu (Stand: 3/2009). 2 http://www.grafedia.net (Stand: 3/2009); http://www.yellowarrow.org (Stand: 3/2009). 3 http://dencity.konzeptrezept.de/conc ept/?dvr=2&loginopen=1&language= en& (Stand: 3/2009). 4 Arthur H. Robinson und Barbara Bartz Petchenik: The Nature of Maps, Chicago/London 1976. S. 121f. 5 Vgl. James Corner: The Agency of Mapping. In: Denis Cosgrove (Hg.): Mappings, London 1999, S. 213–252, hier S. 230. 6 Jane Jacobs: The Death and Life of Great American Cities, Harmondsworth 1964, S. 453–456.
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Bildnachweis
Titelbild: Innentitel: Philipp Galle nach Marten van Heemskerck: Collage nach ‚Natura‘, 1572 (The New Hollstein Dutch & Flemish Etchings, Engravings and Woodcuts 1450 –1700, Roosendaal 1994, S. 183). Editorial: Staatliche Museen zu Berlin, Kunstbibliothek Astrit Schmidt-Burkhardt: Abb. 1, 2 u. 5: Princeton University Library, Princeton, N.C. By permission of The Princeton University Library. Abb. 3: Aus: Jacques Barbeu-Dubourg: Chronographie, ou Description des tems; Contenant toute la suite des Souverains de l‘Univers, & des principaux événemens de chaque Siécle, depuis la Création du Monde jusqu‘à présent; En trente-cinq Planches gravées en Taille-douce, & réunies en une Machine d‘un usage facile & commode, Paris 1753. Abb. 4: Aus: Atlas Historique, ou Nouvelle Introduction à l‘Histoire, à la Chronologie & à la Géographie Ancienne & Moderne, Bd. 2, Amsterdam 1708, Taf. 15. Abb. 6: Aus: Denis Pétau: Table chronologique de l‘Histoire universelle. Contenant tous les principaux faits & évenemens de l‘une & de l‘autre Histoire, rapportez aux années où ils sont arrivez, Bd. 4, Paris 1715, S. 1. Margarete Pratschke: Abb. 1–5: Neuhart u.a.: Eames Design. The Work of the Office of Charles and Ray Eames, New York 1989, S. 366, S. 255, S. 182, S.176. Abb. 6: G. Nelson: Art X = The Georgia Experiment. In: George Nelson: Problems of Design, 2. Aufl., N.Y. 1965, S. 14–26, hier: S. 22/23. Abb. 7: A. te Heesen: Verbundene Bilder: Das Tableau in den Erziehungsvorstellungen des 18. Jahrhunderts. In: H. Schmitt u.a.: Bilder als Quellen der Erziehungsgeschichte, Bad Heilbronn 1997, S. 77–90, hier: S. 84, Abb. 3. Abb. 8: George Nelson: How to see, hg. v. U.S. Department of Health, Education, and Welfare. Social Security Administration. DHEW Publications No. (SSA) 73-10063, (o.O.) May 1973. Abb. 9: A. Goldberg (Hg.): A History of Personal Workstations, N. Y. 1988, S. 317, Fig. 1. Lena Bader: Abb. 1 u. 2 : Screenshots aus „Le Mystère Picasso“, Regie: Henri-Georges Clouzot, 1955. Abb. 3: J. Hübner: Der Holbein’sche Madonnenstreit. In: Illustrirte Zeitung, 30.12.1871, Nr. 1487, S. 507. Abb. 4: Wie Abb. 3, S. 508. Steffen-Peter Ballstaedt: Abb. 1: Klöckner-Humboldt-Deutz AG: Beschreibung und Bedienungsvorschrift für MagirusFahrgestell Typ O 145, etwa 1940, S. 50. Abb. 2: Karl H. Müller: Symbole, Statistik, Computer, Design. Otto Neuraths Bildpädagogik im Computerzeitalter, Wien, 1991, S. 75. Abb. 3: Steffen-Peter Ballstaedt: Einführung in die visuelle Kommunikation. Unveröffentlichtes Vorlesungsmanuskript, 2008, S. 9. Abb. 4: Text/Montage: Autor. Ähnliche Vorlage: Steffen-Peter Ballstaedt: Wenn Hören und Sehen vergeht: Grenzen der audiovisuellen Integration. In: Dietrich Meutsch, Bärbel Freund (Hg.): Fernsehjournalismus und die Wissenschaften, Opladen, S. 36. Abb. 5: Sabine Jörg: Der Einfluß sprachlicher Bezeichnungen auf das Wiedererkennen von Bildern, Bern 1978, S. 87. Faksimile: Abb. 1–4: HU Berlin, UB, Slg. Hist. Buchbestände (Hdschr. Koll. 310:1), S. 136., S. 41, S. 30f., S.13. Bildbesprechung: Abb. 1: Im Besitz des Kindes, Freiberg/Neckar. Abb. 2: Foto: H. Sowa. Abb. 3: Im Besitz des Kindes, Freiberg/Neckar. Abb. 4: Foto: DTB. Barbara Wittmann: Abb. 1: Aus: J. Vaughan: Nelson’s New Drawing Course, Edinburgh 1903, Fig. 26. Abb. 2: Staatsarchiv Hamburg, Plankammer 151-18, 6/291, Fotograf: Hans Kruse und Sohn. Abb. 3: Staatsarchiv Hamburg, Nachlass der Gesellschaft der Freunde des vaterländischen Schul- und Erziehungswesens (612-5/20 Gesellschaft der Freunde, Akte 497). Abb. 4: Wie Abb. 3, Akte 707). Abb. 5: Aus: Wilhelm Busch: Maler Klecksel, München 1908, S. 13/14. Abb. 6, Tafel 3: A. Baumgart: Leitfaden für den Zeichenunterricht in preussischen Volksschulen. 1.Teil: Die Unterstufe, 11. Aufl., Hannover 1906, Blatt 18. Kerrin Klinger: Abb. 1: G. M. Kraus: A.B.C. des Zeichners, von G. M. Kraus, Herzogl. S. W. Rath und Direktor der Fürstl. Freyen Zeichen-Schule in Weimar. Mit Zehn Kupfertafeln. 4. verm. Aufl., Weimar 1803, Tab. I. Lection. Abb. 2: Wie Abb. 1, Tab. VI. Lection. Abb. 3: Wie Abb. 1, Tab. X. Lection. Abb. 4: J. H. Pestalozzi: Die Methode. Eine Denkschrift Pestalozzi’s. 27.06.1800, in: A. Buchenau u.a.: Pestalozzi. Sämtliche Werke, 13. Bd., S. 8. Abb. 5: Wochenschrift für Menschenbildung von Heinrich Pestalozzi und seinen Freunden, II. Band, 1808, S. 71. Kelly J. Whitmer: Abb. 1–4: Christoph Semler: Der Tempel Salomonis: Nach allen seinen Vorhöfen, Mauren, Thoren, Hallen, Heiligen Gefässen (…), Halle: Waysenhaus, 1718. Abb. 5: Pictura Paedagogica Online, Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung (DIPF). Abb. 6: Halle Stadtarchiv, Signatur: II, 154. Rezension: 1: http://www.hypo-kunsthalle.de/presse/disney.html. Projektvorstellung: Abb. 1: Foto: Viktor Bedö. Abb. 2 u. 3: http://www.dencity.net.
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Bildnachweis
Bildtableau 1: 1: © Bodleian Library, University of Oxford, John Johnson Collection: Games 26 (5). 3: © Bibliothèque Sainte-Geneviève, Paris, 2009. 4: Horst Schiffler, Rolf Winkeler: Bildwelten der Erziehung. Die Schule im Bild des 19. Jahrhunderts, Weinheim/München 1991, S. 99, Abb. 93. 5: Foto: Klaus E. Göltz. 6: Mit freundlicher Genehmigung des Cornelsen Verlages, Berlin. 7: Foto: Anke te Heesen. 8: Foto: Legamaster. 9: © Inter IKEA Sytems B. V. 10: H. Schwochow: Die Schulbildpraxis. 1. Teil: Die äußere Schuleinrichtung, 3. Aufl., Leipzig/Berlin 1912, Tafel 9. 11: Mit freundlicher Genehmigung von Martin Warnke, 2009. 12: Mit freundlicher Genehmigung des Germanischen Nationalmuseums, Nürnberg. 13: Mit freundlicher Genehmigung von Prof. Dr. Peter Hubwieser, Fakultät für Informatik, Technische Universität München. 14: Institut für Buchgestaltung an der Hochschule für Grafik und Buchkunst (Hg.): Johann Neudörffer d. Ä. der große Schreibmeister der deutschen Renaissance, Leipzig 1956, S. 46. 16: © Wissen vor 8. 17: F. A. Willers: Zahlzeichen und Rechnen im Wandel der Zeit, Berlin u.a. 1948, Abb. 36b. 18: http://www.elmundodeportivo.es/web/gen/20090515/noticia_53703036151.html (erschienen am 15.5.2009), Foto: P. Puntí. 19: Mit freundlicher Genehmigung von Prof. Dr. Gerhard Scholtz, Humboldt-Universität zu Berlin, Institut für Biologie. 20: Theodor Meyer-Steineg, Karl Sudhoff: Geschichte der Medizin im Überblick mit Abb., 3. Aufl., Jena 1928, Abb. 120. 21: © Österreichisches Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum Wien, 2009. 22: Österreichische Nationalbibliothek, Wien. 23: Deutsches Historisches Museum, Berlin. Bildtableau 2: 1: Andrew White Tuer: History of the Horn-Book, Bd. 1, Amsterdam 1971 (Nachdruck der Originalausgabe von 1896), S. 208, Abb. 170. 2: Grundriss der Geschichte der wichtigsten Leselehrarten. Auf Grundlage der Schrift „Die Methoden des ersten Leseunterrichts“ bearbeitet von Prof. Heinrich Fechner, 2. verb. Aufl., Berlin 1900, Tafel 6. 3: Johann Amos Commenius: Orbis sensualium pictus, Nachdruck der Erstausgabe von 1658, Dortmund 1978, o.S. 5: © Landesmuseum Württemberg, 2009. 6: Les livres de l’enfance du XV au XIX siècle, Bd. 2, Paris 1932, S. 28, Tafel 29. 10: Mit freundlicher Genehmigung der Oldenbourg Schulbuchverlag GmbH. 11: Wie Abb. 10. 12: Mit freundlicher Genehmigung von Jürgen Wirth. 13: © Bildungshaus Schulbuchverlage Westermann Schroedel Diesterweg Schöningh Winklers GmbH www.schroedel.de. 14: © Ernst Klett Verlag GmbH. 15: © Mondadori Education 2009. 16: Mit freundlicher Genehmigung des Cornelsen Verlages, Berlin. 17: Mit freundlicher Genehmigung von Liber AB, Stockholm. 18: Wie Abb. 13. 19: Mit freundlicher Genehmigung von Matthias Balonier.
Leider war es nicht in allen Fällen möglich, die Inhaber der Rechte zu ermitteln. Es wird deshalb ggfls. um Mitteilung gebeten.
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Die AutorInnen
Udo Andraschke M.A. Humboldt-Universität zu Berlin, Jubiläumsausstellung 2010 Lena Bader M.A. Philipps-Universität Marburg, Bildarchiv Foto Marburg Prof. Dipl.-Psych. Steffen-Peter Ballstaedt Fachhochschule Gelsenkirchen, Institut für Journalismus und Public Relations Viktor Bedö M.A. Universität Pécs/Humboldt-Universität zu Berlin Dipl.-Künstlerin Kerrin Klinger M.A. Friedrich-Schiller-Universität Jena, Ernst-Haeckel-Haus, Institut für Geschichte der Naturwissenschaften, Medizin und Technik Dr. Angela Lammert Akademie der Künste, Berlin Dr. Alexandre Métraux Archives Poincaré, Université Nancy II Margarete Pratschke M.A. Humboldt-Universität zu Berlin, Hermann von Helmholtz-Zentrum für Kulturtechnik, Das Technische Bild Stefan Remler StR. Apian-Gymnasium Ingolstadt Dr. Henning Schmidgen Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, Berlin PD Dr. Astrit Schmidt-Burkhardt Freie Universität Berlin, Kunsthistorisches Institut Prof. Dr. Hubert Sowa Pädagogische Hochschule Ludwigsburg, Institut für Kunst, Musik und Sport, Abteilung Kunst Dr. Barbara Wittmann Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, Berlin Dr. Kelly J. Whitmer Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, Berlin
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Erstlesebücher seit dem 16. Jh.: 1: Erste Seite eines ABC-Buches, auf großes und kleines ABC folgt das Vaterunser, frühes 16. Jahrhundert. 2: Seite aus dem „Stimmen-Büchlein“ von Jakob Grüßbeutel, 1534. 3: Seite aus Johann Amos Comenius’ „Orbis Sensualium Pictus“, 1658. 4: Alphabetanfang aus einer Fibel in Anlehnung an Jacobus Publicus’ „Gedächtniskunst“, hier aus Johann Host von Romberchs „Congestorium Artificiose Memorie”, 1533. 5: „F wie Faulheit“, Leselernhilfe in ABC-Buch, Farblithografie, 6,8 x 9,8 cm, Esslingen o.J. (1878). 6: M. Engelbrechts „Alphabet Allemand“ mit Menschen, Tieren und Blumen zur Erhöhung der Merkfähigkeit, um 1700. 7: Doppelseite aus O. Zimmermanns „Hansa-Fibel“, Hamburg 1914. 8: Doppelseite aus H. Schulz’ „Mühlen-Fibel“, Braunschweig 1941. 9: Doppelseite aus der „CVK-Fibel 1 – Lesen, weil’s Spaß macht“, Berlin 1984, Grafik: Detlef Kersten. 10: Buchstabentabelle aus „Fips & Co. Mein Erstes Lesebuch“, München 2009, Grafik: Irma Ruifrok. 11: Buchseite aus: Fips & Co. Mein Erstes Lesebuch, München 2009, Grafik: Irma Ruifrok.
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18 19 Darstellungen zur Fotosynthese in zeitgenössischen Biologielehrbüchern: 12: Grafik von Jürgen Wirth aus „Natura 9|10. Biologie für Gymnasien“, Stuttgart 2007. 13: Seite aus „Erlebnis Biologie HS 2, 7./8. Schuljahr“, Braunschweig 2008. 14: Grafik aus „Einblicke 2, Biologie Niedersachsen“, Stuttgart 2007. 15: Seite aus „Il tempo dei Saperi. Sussidiario delle discipline classe 4a e 5a. Minerva Scuola“, Milano 2009. 16: Grafik aus „Biologie Oberstufe Gesamtband“, Berlin 2009. 17: Grafik aus „Spira Biologi B“, Stockholm 2008, Buch für die gymnasiale Oberstufe. 18: Grafik aus „wissen.biologie 2“, Braunschweig 2007. 19: Grafik von Matthias Balonier aus „Prisma Biologie 7–10“, Stuttgart 2007.
Bildwelten des Wissens Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik. Band 7,1 Bildendes Sehen
Herausgeber
Prof. Dr. Horst Bredekamp, Dr. Matthias Bruhn, Prof. Dr. Gabriele Werner Verantwortlich für diesen Band
Karsten Heck M.A. Redaktion
Das Technische Bild Mitarbeiter
Jana August, Hanna Felski, Florian Horsthemke, Violeta Sánchez Übersetzungen
Karsten Heck M.A., Dr. Matthias Bruhn Lektorat
Rainer Hörmann Layout
Dr. Birgit Schneider Satz: Hanna Felski & aroma, Berlin Adresse der Redaktion
Humboldt-Universität zu Berlin Hermann von Helmholtz-Zentrum für Kulturtechnik Das Technische Bild Unter den Linden 6 D – 10099 Berlin [email protected] Fon: +49 (0) 30 2093 2731 Fax: +49 (0) 30 2093 1961 ISSN 1611-2512 ISBN 978-3-05-004609-9 © Akademie Verlag, Berlin 2009 Das Jahrbuch „Bildwelten des Wissens“ erscheint jährlich in 2 Teilbänden. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung anderer Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Jahrbuches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form – durch Fotokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren – reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen und übersetzt werden. Druck: MB Medienhaus Berlin Printed in Federal Republic of Germany