Bildwelten des Wissens: BAND 2,1 Bildtechniken des Ausnahmezustands 9783110546866, 9783050040585

Die Ausnahme denken zu können, heißt zu bestimmen, was die Regel ist, wodurch sie zu ihrer konstanten Gefährtin wird. Al

206 65 17MB

German Pages 128 Year 2004

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Editorial
Das Bild als Ausnahmezustand . Nancy und Agamben
Körper ohne Worte . Gegen die biopolitische Tätowierung
Die zeitgeschichtliche Bilderfrage
Bildlichkeit und politische Legitimation im Vorfeld des Irakkriegs 2003
"These papers had too many memories. So I burned them" Genealogisches Eingedenken in Art Spiegelmans Comic MAUS
Der gefährliche Augenblick - Ernst Jüngers Fotobücher
Farbtafeln
Bildbesprechung: Selbstverwischung. Die RAF im Polizeibild
Vsevolod Pudovkins Mechanik des Gehirns - Film als psychophysiologisches Experiment
Inszenierung der Erdgeschichte . Vesuvausbrüche im späten 1 8 . Jahrhundert
Grabkultur und Krisenmanagement
Bücherschau: Wiedergelesen I Rezensionen
Projektvorstellung: Spurensuche . Magnetfeldanomalien im Chicxulub- Krater und das Artensterben vor 65 Millionen Jahren
Bildnachweis
Die Autorinnen
Recommend Papers

Bildwelten des Wissens: BAND 2,1 Bildtechniken des Ausnahmezustands
 9783110546866, 9783050040585

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

Bildwelten des Wissens Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik

3

"

4

5

6

7

8

9

10

11

12

I

I

1: Mat Collishaw: Kopfschuß, 1 988-93. 2 : Luis Bui\uel, Salvator Dali: Un Chien Andalou, 1 928. 3: Cerith Wyn Evans: Inserve Reverse Per­

verse, 1 996. 4: Hans von Gersdorf f: Feldtbuch der Wundartzney, 1 51 7. 5: Sergej Eisenstein: Panzerkreuzer Potemkin, 1 92 5.

6: Gerardin/Gaimard: Cholera-Patientin vor und nach dem Krankheitsbefall, 1 832 . 7: Heinrich Curschmann: Morbus Basedowii, 1 894. 8: Essener Madonna, um 1 000. 9: Frederik Ruysch: Thesaurus Anatomicus Tafel 3 (Wasserkopf-Patient in Spiralzeichentechnik), 1 739.

1 0: Guillaume-Benjamin Duchenne de Boulogne: Die Mechanik des menschlichen Gesichtsausdrucks, 1 862. 11: Franz Xaver Messer­ schmidt: .. Schalksnarr" aus der Serie .. Charakterköpfe", nach 1 770. 1 2 : Arnulf Rainer: o.T., 1 969-73.

14

13

16

17

18

19

20

21

22

23

13: Gaudemont: Zylinderanamorphose (Pierrot), um 1 750. 14: Zerstörtes Denkmal des KGB Gründers Feliks Dserschinskij, 1 991 .

15: Zylinderanamorphose von Charles 1., nach 1 660. 16: Längenanamorphose von Charles 1., um 1 650. 17: Die Reste des zerstörten Buddhas von Bamiyan, 2 001 . 18: Srilankische Demonstranten verbrennen eine Chris Patten-Puppe, 2 003.19: Zerstörung einer Man­ darom-Statue in Castellane (Frankreich), 2 001 . 20: "Teufelsfratze" in den Rauchwolken des WTC. 21: Societe du Petit Parisien, Dupuy et Cie: Soldat, 1 916.22: Titelblatt der Zeitschrift "Le Miroir" vom 29. Dezember 1 918. 23: "Daily Mirror" Titelseite vom 1 0. April 2003.

Herausgegeben von

Horst Bredekamp und Gabriele Werner Redaktion

Angela Fischel und Birgit Schneider

Bildwelten des Wissens Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik. Band 2, 1

Bildtechniken des Ausnahme­ zustandes

Inhaltsverzeichnis

Editorial

7

Michael F.Zimmermann:

Das Bild als Ausnahmezustand . Nancy und

9

Agamben Giorgio Agamben:

Körper ohne Worte . Gegen die biopolitische

19

Die zeitgeschichtliche Bilderfrage

21

Tätowierung Otto Karl Werckmeister:

Stefan Schweizer und Hanna Vorholt:

Bildlichkeit und

29

politische Legitimation im Vorfeld des Irakkriegs 2003 Oie Frahm:

"These papers had too many memories. So I burned

41

them" Genealogisches Eingedenken in Art Spiegelmans Comic MAUS Reinhart Meyer-Kalkus:

Der gefährliche Augenblick -

54

Ernst Jüngers Fotobücher 71

Farbtafeln Bildbesprechung:

Selbstverwischung. Die RAF im Polizeibild

Margarete Vöhringer und Michael Hagner: V sevolod

Mechanik des Gehirns Jörg Trempler:

-

Pudovkins

78 82

Film als psychophysiologisches Experiment

Inszenierung der Erdgeschichte . Vesuvausbrüche im

93

späten 1 8 . Jahrhundert Carolin Behrmann, Arne Karsten und Philipp Zitzlsperger:

1 06

Grabkultur und Krisenmanagement Bücherschau: Wiedergelesen Projektvorstellung:

I Rezensionen

Spurensuche . Magnetfeldanomalien im

1 17 121

Chicxulub- Krater und das Artensterben vor 65 Millionen Jahren Bildnachweis

1 23

Die Autorinnen

1 25

7

Editorial

Für die bürgerkriegsartigen Szenen seines Films Gangs if NewYork hat sich Mar­ tin Scorsese von Gemälden wie Albrecht Altdorfers Alexanderschlacht inspirieren lassen . Diese Ü bertragung beförderte die Bedrohlichkeit des Films, weil die Bil­ der zeitgenössischer Kriege und Bürgerkriege den Eindruck erwecken , von ähn­ lichen kulturellen Zeitsprüngen und Antagonismen erfüllt zu sein . Scorseses Parabel vom Ü bergang des Hordenwesens in eine Zivilgesellschaft ist ein Bei­ spiel dafür, dass Krieg und Bürgerkrieg j ene Ausnahmesituationen sind , in denen eine gewöhnliche Ordnung dispensiert und geltendes Recht außer Kraft gesetzt wird . Dem Aspekt , wie der Ausnahmezustand in der Geschichte der Kunst und der Bildpropaganda affirmativ, subversiv oder anklagend verwendet wurde, geht der vorliegende Band mit Beispielen bis in die j üngste Vergangenheit nach . Hierzu gehört allerdings auch die Erinnerung an eine Definition , die in einem kriegerischen Ereignisrahmen nicht aufgeht . Mit Maurice Blanchot lässt sich ein Ausnahmezustand beschreiben , der nicht militärisch konnotiert ist und dennoch von einer gewaltigen Zäsur zeugt . Um die "Tyrannei eines langen , zusammen­ hängenden und anhaltenden Sprechens" zu beenden , heiße es sich zu unterbre­ chen und Fragen zu stellen . Blanchot fordert den Bruch mit der scheinbar wie automatisch sich ergebenden Folge-Richtigkeit des Redeflusses, um einen "Aus­ nahmezustand" zu erzeugen , der als Zwischenzeit ein Kontinuum durchschnei­ det . In der Zeichnung von Steve Skroce aus dem Storyboard zum Film The Matrix zerreißt sich ein Bild selbst, indem es, zerteilt durch die zupackende Faust, eine Hand aus dem Panelrahmen treten und eine Handschelle aus dem Bild fliegen lässt . Auch wenn sich das Bild seiner Ordnung nach selbst auflöst, bleibt sein Bild­ riss dauerhaftes Bild, und damit ist die Spannung, wie sie der Ausnahmezustand in den verschiedensten Varianten aufweist, metaphorisch als Bildtechnik erfasst . Die Ausnahme ist nicht ohne eine Definition der Regel zu bestimmen , beide ste­ hen in einem Zusammenhang von Riss und Bindung, von Ein- und Ausschluss , von Normalität und Abweichung. Diese Wechselspannung haben maßgebliche Theoretiker des Ausnahmezustands , Walter Benj amin , Carl Schmitt und Giorgio Agamben , in ihren Entgegensetzungen von Recht und Nicht-Recht betont . Ebensolche dichotomen Konstellationen finden sich in den normalisierenden Bildeffekten der Laboratorien oder in den ästhetisch bannenden , wenn das Motiv prognostizierte oder stattgefundene und als Ausnahme erfahrene Kat­ astrophen sind . Weil Bilder, wie etwa j ene des Totenkultes , die einen

8

Editorial

genealogischen Machtanspruch fortschreiben, in der Zeit sind , vermögen sie Zwischenzeiten ästhe­ tisch zu überspielen . Bildpraktiken des Ausnahme­ zustands sind daher nicht notwendig auch außergewöhnliche Techniken . Die Aktualisierung tradierter Bildmittel und -motive kann , wie in einem Comic zur Geschichte des Holocaust , Abb. 1 : Steve Skroce: Aus dem Storybord zu · ", 1997. "The Matnx

schockhafter wirken als die erneuerte Novität der Darstellungsmodi . In all diesen Motiven wirkt ein internalisierter Zeitbruch , den auch die Maskera-

de eines RAF-Mitgliedes als Harlekin Antoine Watteaus offenbart. Die Zeitlich­ keit "des Bildes" wird indes aufgehoben , wenn es in seiner bloßen Existenz , quasi als imago sacer, aus der Wirklichkeit, im Sinne der empirischen Erfahrung und Zugänglichkeit, herausgenommen und magisch aufgeladen wird . Einen prekären Höhepunkt des Prinzips einer bildliehen Zeitlichkeit und eines motivischen Zeitrisses bildet gegenwärtig Mel Gibbsons The Passion c!fThe Christ , der von der Kluft zwischen den verwendeten atavistischen Sprachen und der aktuellen Bildsprache lebt, die ihrerseits auf die von den Pestkreuzen des vier­ zehnten Jahrhunderts bis hin zu der von Grünwald entwickelten Marter-Ikono­ graphie zurückgeht . Durch ihre in der Zeit eingelagerte Existenz vermögen Bilder die beiden Aspekte des Ausnahmezustands zu repräsentieren : den Riss des Zeitflusses als auch das Ü berspielen der Zäsur. Horst Bredekamp, Gabriele Werner

Michael F.Zimmermann

Das Bild als Ausnahmezustand. Nancy und Agamben

DerTitel verspricht Mehrdeutiges : Aujond de l'image.1 Sucht Jean-Luc Nancy "im Grunde des Bildes" einen letzten Hintergrund , der hinter all dem , was im Bild erscheint, sich öffnet und zugleich schließt? Oder geht es ihm darum , was dem Status des Bildes als Bild zu "Grunde" liegt? Nancy versucht in seinem im Früh­ jahr 2003 erschienenen Buch , den Abstand des Bildes von allem Anderen auszu­ loten , ohne ihn durch übergeordnete Zeichentheorien zu überbrücken . Dies allein ist eine Provokation . Doch ist Nancys Philosophie des Bildes schlechthin , nicht der Bilder, zwar höchst aktuell , aber nicht historisch . Sie bedenkt nicht , dass sich die andere Welt der Bilder - im Wettlauf von Kunst und Medien beschleunigt - stets neu konstituiert, und dabei über sich hinausweist, also auch in der einen Welt Realitäten schafft . Giorgio Agambens Gedanken über den jeglicher konstituierten Normalität vorausgehenden und diese zunehmend auch begleitenden Ausnahmezustand können Nancys Philosophie des Bildes (freilich durch Revision) um die historisch-politische Perspektive bereichern . Es geht um die Veifasstheit des Bildes als Ausnahme von allem Anderen . Bilder als Zeichen?

Die Kunstgeschichte wie auch die visual studies betrachten Bilder als Zeichen , die sich einerseits auf Gegenstände als deren Abbilder beziehen, andererseits auf visuelle Sprachen , in denen ihre kulturelle Bedeutung kodiert ist . Die Geschichte der kulturellen Lexika solcher Bildzeichen - kodierter Metaphern , Bild gewordener Texte - ist der Forschungsgegenstand der Ikonographie . Die Semiologie teilt seit Charles Sanders Peirce die Menge aller Zeichen in Symbole , also konventionelle Zeichen wie Wörter der Sprachen , indexikalische Zeichen , deren Bezug zum Bezeichneten physischer Art ist (Abdrücke , Spuren , Hinweis­ pfeile) , und ikonischen Zeichen , die Peirce lediglich ex negativo definiert : "Ein Bild [icon] ist ein Zeichen, dem der Charakterzug, durch das es signifikant wird , auch dann zukommt, wenn sein Objekt nicht existierte ."2 Nancy verwei­ gert eine solche Reduzierung des Bildes auf Merkmale einer bestimmten Zeichenklasse. Stattdessen durchdenkt er die Unauslotbarkeit des Bezugs von Wort und Bild als konstitutiv für das Bild . Im vorletzten Kapitel seines Buches, "L' oscillation Jean-Luc Nancy : Au fond de l'image , Paris 200 3 . Alle Ü bersetzungen im Folgenden von M. F. Zimmermann . 2 Charles Sanders Peirce : The lcon , Index , and Symbol. In: Collected Papers of Charles Sanders Peirce, Cambridge MA, Bd. 2, S. 143--44, 156-173, hier Nr. 2 . 304-.

10

Michael F. Zimmermann

distincte" , gewöhnt er dem Leser die Selbst­ verständlichkeiten des zeichentheoretischen Denkens ab. Natürlich beziehen Bilder sich als Zeichen auf irgendein Bezeichnetes, und inso­ fern "ist" das Bild eines T isches ebenso ein T isch wie das Wort, das ihn bezeichnet . In einem mehrstimmigen Dialog inszeniert Nancy das Oszillieren von Wort und Bild als Modi dessen , was das j eweils andere nicht ist . In Wort und Bild sind die Dinge nicht , was sie dennoch "sind" : zugleich gegeben und abwe­ send , nicht hier, vielleicht nicht einmal Abb. 1 : Zoran M usic, Selbstporträt, 1 989, Öl auf Leinwand.

existierend , gar ohne Sinn ("ab-sens"). Als Ver­ gegenwärtigung eines ihnen j eweils Jenseiti­

gen bleiben Wort und Bild auch einander jenseitig. Das Wort oszilliert zum Bild , das Bild zum Wort, und beide zu dem , was in ihnen gegeben ist . Die Moderne hat diese Oszillation ins Bild selbst hineingeholt , und sie dort als Ambiguität inszeniert .3 Statt den "fond" des Bildes zu erklären, stellt Nancy ihn als das heraus, was ein Bild ausmacht . Es geht ihm um die rätselhafte Konstitution des Bildes , das sich als "le distinct" präsentiert. Die abgründige Unterschiedlichkeit umkreist Nancy, indem er sie mit anderen unüberbrückbaren Verschiedenheiten konfron­ tiert. Das "sacre'' ist vom Normalen getrennt - in einem Abstand , der Furcht wie Liebe, das Heilige wie das Gebannte meint. Auch die Gewalt trennen Welten von wohlbegründetem und akzeptablem Handeln . Das "sacre'', die Gewalt, beider Abstand vom Normalen hat etwas mit der Macht der Bilder zu tun , sich zu ent­ ziehen , indem sie sich aufdrängen . Auf dem Grunde des Bildes und der Sprache

Was aber verbindet das "Distinkte" des Bildes mit dem "sacre", oder mit der Gewalt, was trennt es davon? Eine methodische Vorbemerkung sei vorausge­ schickt . Dem Leser, der seine geistige Heimat nicht in der Phänomenologie oder der französischen Heidegger- Rezeption von Jacques Ricceur bis zu Emanuel Levinas und seiner Schule hat, wird der Denkstil Schwierigkeiten bereiten. In 3 Dario Gamboni : Potential images: ambiguity and indeterminacy in modern art, London 200 2 .

Das Bild a l s Ausnahmezusta nd. N a ncy und Agamben

11

Worte, Begriffe und Bilder dringt N ancy immer wieder in beschwörenden Defi­ nitionen , sogar in rückwärts gewandter Prophetie. Andere philosophische Posi­ tionen , so die von Georges Bataille , integriert er seinem Denken , ohne sie differenzierend zu aktualisieren . Dadurch vermag Nancy auch verborgene Aspekte der Sache zum Vorschein zu bringen - und zwar mit gewaltsamer Direktheit. Die Ö konomie seines Zugriffs ist Schwindel erregend - auch dann , wenn er den Fehlgriff streift, Entlegenes in grotesker Ü bertreibung hervorformuliert . Der Gewaltsamkeit des Eindringens entspricht die Entrückuns des solchermaßen Durchdachten . Beide sind zur Methode erhobene Eigen­ schaften des Gegenstandes : des Bildes. Eingemischt in die gegenwärtige Bilderflut, gewinnt Nancy die Möglichkeit der Distanznahme aus der Tiefe der Sprach-Entstehung. Wie Heidegger immer wie­ der mit der Restitution der ursprünglichen Bedeutungsfülle des Griechischen , zugleich des Germanisch-Deutschen argumentiert hat, so schöpft Nancy in historisch verborgener Bedeutung: allerdings in der lateinisch-französischen Tradition , die Heidegger als rationalistisch beiseite geschoben hatte . 4 Der gegen­ wärtigen Sprache tut sich der Sinn als der scheinbar verlorene , tatsächlich nur verdrängte auf. Entsprechend ist auch der Sinn der neuen Bilder die Magie der alten - ihre Entrücktheit, ihre Gewalt . Nancy konfrontiert heutige Erfahrung mit einer in der Tiefe der Sprache (und der Bilder?) noch fassbaren Tradition . Dieses Vorgehen markiert den Gegenpol zu Benjamins These vom Aura-Verlust durch Reproduktion! Vielsagend ist eine Nebenbemerkung zu Orlan und der Body-Art. Nancy geht es nicht um die "ästhetische oder anästhetische" Wertung des Künstlers, der, seine Weiblichkeit zugleich exhibierend und verleugnend , im Zuge auch entstellender Schönheitsoperationen sein eigenes Werk geworden ist . Einzig der Wunsch des Künstlers der Body-Art, "ihr Blut zu vergießen" ("repandre" : es zugleich zu verbreiten) , interessiert ihn : Wie Orlan beschwört Nancy das Bild eher in seiner geheimnisvollen Kraft, als es zu analysieren . sacer

-

das Distinkte

"L' image est touj ours sacree" - so Nancy zu Anfang des ersten Kapitels , das sogleich klarstellt, dass die Bedeutungsfülle von "sacre" nicht mit Religion , oder mit Glauben erschöpft werden kann . Wenn die Religion ein Band herstellt, so meint "sacre" gerade die "mise a I' ecart" - das Abgetrennte, dem die Religion 4 Martin Heidegger: Holzwege, Frankfurt a . M . 1 95 0 , S . 1 3 .

12

Michael F. Zim merma n n

sich erst in einem zweiten Schritt verbindet . Sacer ist, was nur durch Abtrennung und die Verbindung zum Abgeschiedenen existiert. Religio ist eine Verbindung durch Trennung. Allein das Opfer, die Selbstaufgabe, kann die Verbindung schaf­ fen . Das Bild definiertsich aus dem Unterschied zum Opfer : während dieses als "mise a I' ecart" zum Anderen Zugang verschafft, stellt das Bild als "distinction" eine Verbindung zu etwas "dort" Vorhandenem her. Das Bild ist also nicht "sacre" , es ist "le distinct" . Was das Bild offenlegt, interessiert N ancy weniger als was sich im Bild von der Evidenz der Dinge entzieht, wodurch das Bild sich als solches deklariert. Nicht um Form geht es ihm , sondern um das , was die Form distinkt hält. Bilder sind "weder die Sache noch die Nachahmung der Sache" . Sie "sind" die Sache selbst, oder genauer, "das Zeigen der Sache in ihrer Selbstheit" ("meme­ te") . Aber: "In seiner Ä hnlichkeit ist die Sache von sich selbst abgelöst ." So las­ sen sich die Bilder der Dinge denn auch nicht in die Verkettungen der Dinge einfügen . Sie bleiben "le dechalne - l ' inenchalnable" . Das Beispiel des Porträts verdeutlicht, dass sie dennoch in die Intimität der ganz nahen Dinge wie auch des Betrachters eindringen . Wollte man diese Einsicht methodisch konkretisieren , dürfte man die von Gerard Genette zu Mieke Bai geführte Diskussion über das Einrahmen und das Fokussieren ("focalisation") hier einbeziehen . 5 Die Fokussierung, gleich ob in visuellen oder literarischen Bildern, sondert mit dem realen oder fiktiven Rah­ men nicht nur das Beachtete aus , sondern sie markiert die ästhetische Grenze . Der Rahmen ist dem Bild niemals nur äußerlich, er ist Teil des Bildes - in der Terminologie Genettes, intra- und meta-diegetisch . Freilich betrachtet die Narratologie den oder das Rahmen oft zu eng als Verfahren allein der (Bild-) Erzählung, der Steuerung der Aufmerksamkeit . Mehr ist im Spiel : im Rahmen , vielfach verdoppelt durch das Bild im Bild , thematisiert sich das Bild als Bild . Victor Stoichita hat die ästhetische Geschichte des Tafelbildes als Prozess zugleich der Selbstreflexion und der Selbstfindung des Gemäldes nachgezeich­ net . Die ästhetische Grenze wird im Zuge dieser Entwicklung durch Ü ber­ schreitung immer wieder neu ausgehandelt . 6

5

Gerard Genette : Figures, III, Paris 1 972 , S. 67-2 8 2 , 1 8 3-224; Mieke Bai : Narratologie. Essais sur Ia signification narrative dans quatre romans modernes , Paris 1 977, S . 3 1 -3 9 .

6 Victor Stoichita : L' lnstauration d u tableau . Metapeinture a l ' aube des temps modernes , Paris 1 997, S. 1 3-27.

Das Bild a l s Ausna hmezusta nd. Nancy und Agamben

13

Die Grundlosigkeit der Gewalt- und der Bilder

Wie die Gewalt sich in ihrer bloßen Faktizität aufzwingt, so drängt auch das Bild sich aus dem Nichts auf. Doch wiederum stellt Nancy die Nähe von Unter­ schiedlichem nur zum Zwecke einer nachfolgenden Differenzierung heraus . Von der Gewalt zum Bild führt Nancy seine Leser, indem er über beider Wahrheit nachdenkt . Definiert man die Gewalt als "Anwendung einer Kraft, die dem dynamischen oder energetischen System , in das sie interveniert, fremd bleibt" , so erscheint sie als "Figur selbst, als Bild des Draußen"- und daher "zutiefst blöde" ("bete") . Sie genügt sich selbst, "erschöpft sich in ihrer Verausgabung" . Auch "steht sie nicht im Dienst irgendeiner Wahrheit . Sie will selbst die Wahrheit sein" . Wahr­ heit der Gewalt? "Die Wahrheit der Gewalt vernichtet und vernichtet sich selbst . " Provozierender als die These von der Wahrheit der Gewalt ist die von der Gewalt der Wahrheit : Dass nämlich die Wahrheit, wo sie geschichtlich auftritt, stets gewaltsam ist . "Ganz anders ist die Gewalt der Wahrheit : sie ist Gewalt, die sich in ihrem Hereinbrechen selbst zurückzieht- und weil dieses Hereinbrechen selbst ein Rückzug ist , der einen Raum öffnet, ihn freistellt für die handgreif­ liche Vergegenwärtigung des Wahren . " So auch das Bild . Wie die Gewalt muss es "durch und für sich selbst gelten" . Die Dinge im Bild sind in gesteigerter Weise "in praes-entia, im Sein-vor-sich-selbst, dem Außen zugekehrt" , oder, wie Nancy unter Heranziehung deutscher Ausdrücke betont, sie treten aus der Vorhandenheit heraus in die Gegenwärtigkeit. "Im Bild, oder als Bild , und nur als solches, wird das Ding - ob es sich um eine tote Sache oder eine Person handelt - als Subj ekt vorgestellt : es vergegenwärtigt sich" ("eile se presente") . "So ist das Bild seinem Wesen nach monstrativ oder zeigend" ("monstrante") . Als solches gehört das Bild auch der Ordnung des Monstrums zu , wenn man darunter ein mahnendes Vorzeichen ("moneo , monestrum") versteht . Das Bild ist also nicht Schein ("apparence") , sondern Ausstellung ("exhibition") . Was es ausstellt, ist nicht allein sein Aussehen ("aspect") , sondern "seine Einheit und seine Kraft" . "Ein Maler malt keine Formen , wenn er nicht zuvor eine Kraft malt, die sich der Formen bemächtigt und sie in eine Gegenwart mitreißt ." Daher geht das Bild auch immer über das Aussehen , die Form hinaus! "La monstration jaillit en mon­ struation" - seit der kubistischen Deformation des Bildgegenstands als Flächen­ form ist die "monstruation" zum Gegenstand des Bildes selbst geworden . Im Opfer, das die Zeichen der Gewalt trägt, erschöpft sich die Kraft des

14

M ichael F. Zimmerma n n

Wünschens nur, im Bild hält sie sich als vereinheitlichende Bemächtigung manifest. Die Selbstaffirmation des Bildes ist insofern analog zu jener der Wahrheit. Beiden liegt eine Gewalt zugrunde , die sich , indem sie wirkt, zurück­ zieht . Bild und Gewalt trennt die "dünne Klinge der Unterscheidung" . Ohne "Eintau­ chen in einen blinden Grund" keine Bilder. Der blinde Grund verhält sich zur Gewalt wie die Haut zum darunter fließenden Blut . Kronzeugen sind Orlan und die Body-Art. Wieder hilft die Tiefe der Sprache : das französische cruaute kommt von cruor, dem lateinischen Wort für das vergossene Blut im Unterschied zu san­

guis, dem Blut, das unter der Haut zirkuliert. Der Grausame will draußen sehen , was drinnen fließt . Vergossenes Blut füllt Kirchen und Pinakotheken , ist Zeichen und Spur der Gewalt, die im Werk am Werk ist. Cruor als Verausgabung im Opfer - die Grausamkeit als Gegenstand des Bildes bedeutet das Opfer. Die Rede ist nicht von blutenden Ikonen , auch nicht davon , dass cruor in den Bildern oft wirkt, als sei es Blut, nicht Pigment. Dieses Blut ist für Nancy Symptom des Bil­ des : es ist "weder Zeichen von etwas noch bedeutet es etwas . Es geht über alle Zeichen hinaus, ohne dadurch etwas Anderes zu offenbaren als dieses Hinausge­ hen" ("cet exces") . Cruor steht bei Nancy für die Verausgabung des Bildes, seine Doppelexistenz im Drinnen und Draußen seiner selbst und der Dinge . Die Schlussfolgerung überlässt er Jorge Luis Borges : "Das unmittelbare Bevorstehen einer Offenbarung, die dann doch nicht eintritt, ist vielleicht die ästhetische Tat­ sache ." Die lmminenz einer zeichenhaften Bedeutung betrifft auch die "Gewalt ohne Gewalt" im Bilde . Zu den Bildern nach Auschwitz , die er im folgenden Kapitel erörtert, greift Nancy die Frage auf, ob man den bürokratisch organisierten Massenmord mit künstlerischem Sinn überziehen kann . Adornos Interdikt einer Dichtung nach Auschwitz ist für Nancy nicht die Frage an Bilder, sondern an das Bild. Das Bild bricht immer ein Tabu , sieht sich hier aber vor seine grundsätzliche "Unmög­ lichkeit" gestellt . In den Lagern war der Arier zum Repräsentanten der Repräsentation geworden , der rassisch diffamierte Insasse zum Nicht- Repräsen­ tierbaren , zum gesichtslosen "Muselmann" , zum - so der Philosoph Giorgio Agamben - "homo sacer" . Nancy fordert geradezu die Darstellung des Massenmordes : nichts drücke die Unmöglichkeit des Bildes besser aus als Bilder. Wie für Agamben das Lager das Paradigma der sich zur Bio- Politik über­ schreitenden Politik ist, wird es für Nancy zum Paradigma der Darstellung. 7

Das Bild als Ausna hmezu sta nd. Na ncy und Agamben

15

Ohnehin blickt im Bild , wie er im letzten Kapitel ausführt, der Tod auf das Leben zurück . sacer- Konstitution durch Ausnahmezustand

Das "Distinkte" als Schlüsselbegriff des "Grundes" ("fond") des Bildes hat Nancy in seiner Differenz vom sacrum entwickelt . Agamben hat 1 99 5 eine Studie ver­ öffentlicht : Homo sacer.

Il

potere sovrano e Ja nuda vita. 8 Der Begriff sacer meint in

der Auslegung des Tribunizischen Gesetzes durch Sextus Pompeius Festus sowohl das Geweihte als auch das Verfluchte . Agamben knüpft an die in der Eth­ nologie und Psychologie des frühen 2 0 . Jahrhunderts entfaltete Dop­ peldeutigkeit des sacrum an , des zugleich als Erhaben und als Erniedrigt Tabuisierten , und verfolgt die Begriffsgeschichte von dem amerikanischen Eth­ nologen Robertson- Smith zu Henri Hubert und Marcel Mauss , Freud und Dur­ kheim . 9 Die pauschalisierende Verwendung von sacer als Oxymoron bis hin zu Bataille verwirft er, um den Begriff aus seiner ursprünglichen, rechts­ geschichtlichen Perspektive heraus zu präzisieren : Im Anschluss an Carl Schmitt 1 0 definiert er den homo sacer als denj enigen , der außerhalb der Sphäre des Rechts gestellt wird ("messo a bando" , "abandonato") , doch nur, um im Gegenzug durch die Scheidung des Rechtsbereichs von dem des Unrechts die Sphäre des Rechts erst zu konstituieren . Laut Festus wurde derj enige , der den durch Plebiszit als sacer erklärten Menschen umbringt , nicht als Mörder betrach­ tet . Sacer ist der Krieg aller gegen alle, der bei T homas Hobbes der Rechtsetzung durch den Souverän vorausgeht. Sacer ist auch der Souverän selbst, der gerade dadurch die Fähigkeit zur Rechtsetzung hat, dass für ihn kein Recht gilt. Sacer ist auch der abtreibbare Embryo oder der Hirntote , vor allem aber der aus dem normalen Rechtsraum ausgelagerte Mensch - nicht ins Gefangnis, das Foucault 7 Giorgio Agamben : Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge , lital., Turin 1 998)

Frankfurt a.M. 200 3 . 8 Giorgio Agamben: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben , (Ital . , Turin 1 995] Frankfurt a . M . 2002 . 9 William Robertson- Smith : Lecture on the Religion of the Semites [ 1 8 8 9 , 1 894] , Freiburg i . B . , Leipzig und Tübingen 1 899; Henri Hubert und Marcel Mauss : Essai sur Ia nature et Ia fonction du sacrifice [ 1 899] . In: M. Mauss : CEuvres, Bd . I, Paris 1 96 8 , S. 1 9 3-354; Sigmund Freud: Ü ber den Gegensinn der Urworte [ 1 9 1 0] . In : S. Freud : Gesammelte Werke, Bd. 8, Frankfurt a . M . 1 999, S. 2 1 3-2 2 1 ; Emile Durkheim : Elementare Formen des religiösen Bewußtseins ( 1 9 1 2 ) , Frankfurt a . M . 1 98 1 . 1 0 Carl Schmitt : Politische Theologie [ 1 922), Berlin 1 993.

16

Michael F. Zimmerma n n

als Raum der Ausgrenzung studiert hat 1 1, sondern ins Lager, dem Paradigma moderner Biopolitik : im Gefängnis gilt das konstituierte Recht, im Lager Willkür. Während Recht und Politik in der griechischen Republik den Oikos, den priva­ ten Raum , aussparten, ist im 2 0 . Jahrhundert im Gegenteil das intimste , das "nackte" Leben der eigentliche Gegenstand von Biopolitik. Benjamin hatte vom "bloßen" Leben gesprochen. 1 2 Für ihn wird staatliches Recht fragwürdig, wenn es die Gewalt verdrängt , die hinter dem konstitutiven Akt stand . Allein die histo­ rische Gewalt der revolutionären Konstitution vermag die institutionelle Gewalt des Staates zu rechtfertigen . Auch für Agamben , der an Carl Schmitt anschließt, definiert sich Recht durch Nicht-Recht, durch den vorausgehenden , dann latenten Ausnahmezustand. Wird dieser konstitutive Akt verdrängt, wie heute, im "Zeitalter der zunehmenden Ununterscheidbarkeit von Demokratie und Totalitarismus" , so integriert sich das Nicht- Recht dem Recht . Es wird - als Umkippen des Rechts ins Gegenteil - zu dessen pervertierter Normalität : wo die Polizei zum Souverän wird , im Lager, in der Death-Row amerikanischer Gefängnisse, oder in den medialen Räumen der Herstellung von Vogelfreiheit . Der homo sacer, der gesichtslose, seiner Individualität verlustig gegangene "Muselmann" der Lager, ist insofern Gegenstück des Bürgers als Rechtssubjekt. Immer mehr kippt j edoch auch die Bürger- Identität in ihr Gegenteil um . Wenn nämlich die Politik , ursprünglich in einer vom Privaten , vom intimen Leben abgeschiedenen Ö ffentlichkeit beheimatet, nur noch dieses intime Leben - von den Bedürfnissen der bloßen Subsistenz bis zum persönlichen Wünschen - zu ihrem Gegenstand macht : als Biopolitik . Nancy entwickelt den Begriff des Bildes aus dem des sacer in eben dem von Agamben entfalteten Sinne . Dennoch erwähnt er ihn nicht. Mag sein , dass er dessen Definition von sacer in Abgrenzung zur Tradition von Freud bis Bataille ablehnt. Dass Nancy sich diese Diskussion erspart hat, ist umso bedauerlicher, als es auch in A ujond de l'imaee um eine konstitutive Distanz geht: Auch das Bild definiert sich dadurch , dass es die Sache von sich selbst ablöst. Die Frage drängt sich auf, ob die Interpretation des Bildes als beruhend auf Distinktion , wie Nancy sie vorschlägt, nicht eine Biopolitik des Bildes voraussetzt : Die 1 1 Michel Foucault : Surveiller et punir, Paris 1 975. 12

Walter Benjamin: Zur Kritik der Gewalt [ 1920-21] . In: W Benjamin: Gesammelte Schriften ,

Bd . II , I, Frankfurt a.M. 1980, S. 1 79-203.

Das Bild als Ausna hmezusta nd. N a ncy und Agamben

17

Aushandlung des "bloßen" Lebens durch Bilder, in denen das Sein dem Schein geweiht, durch diesen "geheiligt" wird , um umgekehrt als "bloße" , geschichtlich gewordene , konkrete , aber gesichtslose Existenz aus dem Kreis der Bilder ver­ bannt zu werden. Die colonial studies und die Kunst der dekaionisierten Gebiete machen gerade diese Rolle der etablierten Bildwelt immer wieder deutlich, wie es die Documenta XI im Jahre 2002 und , in bereits normalisierter Form , die 5 0 . Biennale 2003 vorgeführt haben . Das Bild als sacer bannt das "bloße" Leben der ausgebeuteten Welt auf den Müllplatz, in das Leichenschauhaus der Bilder, auf die Kehrseite dessen , was sich der Bildwelt konform macht . Das Porträt insze­ niert in seinem Zusammenbruch die Gesichtslosigkeit nicht nur der KZ-Häft­ linge im Werk eines Zoran Music. Die Magie der Bilder als politisch-historische Macht

Nancy geht es um die Distinktheit des Bildes . Die Bilder handeln diesen Abstand j eweils neu aus - j a, wir kennen ihn nur in der Kette der Bilder, als immer wie­ der neu gespieltes Spiel, mit immer neuen Regeln. Mit der Nähe dessen , was sie zeigen , konstruieren die Bilder auch die Ferne immer wieder neu . Befragen wir konkrete Bilder darauf, auf welche Weise sie die "Distinktheit" , die ihnen grund­

sätzlich eignet (eher als anthropologische Konstante denn als ihr "Wesen") , kon­ kret aushandeln und inszenieren! Als Verfremdung, als ein aktives Fremd-Machen des Vertrauten , wird die "Distinktion" des Bildes seit Anfang des 2 0 . Jahrhun­ derts diskutiert . 1 3 In j edem einzelnen Bild ist sie j eweils als Verfahren der Ver­ fremdungen (auch ihrer Aufhebung , ihrer Rekonstruktion mit anderen Mitteln) neu wirksam . Die Fremdheit des Bildes , die es in j eder kulturellen Situ­ ation neu konstituiert, macht seine Macht (oder auch nur seinen Charme) aus , seine Wirkung, die ihm zugleich rituell zugeschrieben wird . Die konkrete Konsti­

tution des Bildes ist in j edem einzelnen Bild - dies hat Agamben erkannt, Nancy verdrängt - ein politisch-performativer Akt . Das Bild wird dadurch zum Souve­ rän. Wie dieser - gleich ob als Leviathan oder als assemblee constituante - als außerhalb der Rechtswirklichkeit stehend diese begründet, so begründet das Bild , als außerhalb der Wirklichkeit stehend , deren visuelle Konstitution . 1 4 Das Bild ist in diesem zweischneidigen Sinne der Ausnahmezustand der visuellen Realität. Seine Distinktheit, Ergebnis eines stets verfremdenden Bildens, ist 1 3 Aage A. Hansen- Löve : Der russische Formalismus. Methodologische Rekonstruktion seiner Entwicklung aus dem Prinzip der Verfremdung, Wien 1 978, S. 1 9-99 .

Michael F. Z immerma n n

18

nicht nur ein künstlerisches, sondern damit auch ein politisches Schaffen - ein Akt der Einbeziehung durch Entrückung, wenn nicht Ausschluss (oder besser: "abandono") . In den Bildern erscheint uns die Welt anders als in der Wirklich­ keit. Gerade dadurch kann die Ordnung der Bilder unsere gemeinsame Wirk­ lichkeit visuell konstituieren . 1 4 Beispiele für Bilder, die im doppelten Sinne rechtliche und bildliehe Souveränität ausüben : Horst Bredekamp: Thomas Hobbes. Der Leviathan . Das Urbild des modernen Staates und seine Gegenbilder. 1 65 1 -200 1 , Berlin (2 . Auflage) 200 3 ; Jacques-Louis Davids "Schwur der Horatier" ( 1 784-- 8 5 ) und sein Ballhausschwur ( 1 79 1 ) markieren bildlich Recht konstituieren­ de Akte . Aufschlussreich ist die Deutung von Ernst Kantorowicz, die U lrich Raulff in einem Vor­ trag "Die Souveränität des Künstlers" am 1 2 . 1 0 . 2 003 im Rahmen des Colloqiums "Die Wissenschaft vom Künstler" im Berliner Max- Planck- Institut für Wissenschaftsgeschichte vortrug.

Giorgio Agamben

Körper ohne Worte Gegen die biopolitische Tätowierung*

Ich habe den Zeitungen entnommen , dass ausländische Staatsbürger, welche die Vereinigten Staaten mit einem Visum besuchen möchten , bei der Einreise ins Land datenmäßig erfasst und dass von ihnen Fingerabdrücke genommen wer­ den . Weil ich mich einer solchen Prozedur nicht unterziehen möchte, habe ich sofort die Lehrveranstaltungen abgesagt, die ich im März an der NewYork Uni­ versity halten sollte . Ich möchte hier erläutern , warum ich diese Entscheidung trotz meiner Sympathie für die amerikanischen Studenten und Professoren , mit denen ich mich seit Jahren in Freundschaft und in der Arbeit verbunden fühle , für notwendig und unvermeidlich halte - und warum ich mir wünschen würde, dass andere europäische Intellektuelle und Lehrkräfte sie teilten . Es handelt sich nämlich nicht allein um die Empfindlichkeit eines Einzelnen anlässlich einer Prozedur, der sich in der Vergangenheit in vielen Ländern all die­ jenigen unterziehen mussten , die einer kriminellen Handlung verdächtigt oder politisch verfolgt wurden . Wenn es allein darum ginge, könnte man sich sogar vorstellen , aus Solidarität die entwürdigenden Bedingungen auf sich zu nehmen , denen andere Menschen ausgesetzt sind . Aber das Problem übersteigt bei wei­ tem die Grenzen der persönlichen Empfindlichkeit . Es betrifft den normalen juristisch-politischen (besser : biopolitischen) Status von Staatsbürgern der so genannten demokratischen Länder, in denen wir leben . Seit Jahren bereits , anfangs zufällig und unterschwellig, dann immer offener und beharrlicher, versucht man die Bürger an angeblich normale und menschliche Vorrichtungen und Praktiken zu gewöhnen , die immer als außergewöhnlich und unmenschlich galten . Die Kontrollmöglichkeiten , die die Staaten heute mit elektronischen Vorrichtungen wie Kreditkarten oder Mobiltelefonen über die Individuen ausüben können , wären früher undenkbar gewesen . Aber es gibt eine Stufe in der Kontrolle und der Manipulierung der Körper, deren Ü berschrei­ tung einen neuen globalen biopolitischen Zustand bedeuten würde , ein weite­ rer Schritt zu dem , was Foucault als eine Art progressive Vertierung des Menschen durch äußerst verfeinerte Techniken beschrieben hat . Die elektroni­ sche Erfassung der Fingerabdrücke und der Netzhaut, die Unterhauttätowie­ rung und andere Praktiken dieser Art gehören zu dieser Stufe . *

Anmerkung der Redaktion : Nach Einsendung des Artikels von Michael F. Zimmermann er­ schien der Artikel von Giorgio Agamben , den wir als Dokument einer Diskussion , die über die philosophische Dimension hinausgeht, mit freundlicher G enehmigung des Autoren und der Süddeutschen Zeitung abdrucken . (Ursprünglich veröffentlicht als Beitrag in der Süddeutschen Zeitung, 1 0 . Januar 2004. Deutsche Ü bersetzung: Henning Klüver. )

20

Giorgio Agamben

Die Sicherheitsgründe, die zu ihrer Rechtfertigung angeführt werden , dürfen uns nicht verwirren . Die Erfah­ rung lehrt, dass Praktiken, die anfangs Abb. 1 : Erfassung der Fingera bd rücke eines Passagiers, der gerade am John F. Kennedy I nternational Ai rport in N ew York angekommen ist.

nur den Ausländern galten , allmählich auf alle übertragen wurden . Die Frage , um die es geht , ist das neue

"normale" biopolitische Verhältnis zwischen Bürger und Staat . Es geht nicht mehr um die freie und aktive Teilhabe an der politischen Ebene, sondern um die Aufnahme und Erfassung des privatesten und unmittelbaren Elements : das bio­ logische Leben der Körper. Medieneinrichtungen , die die öffentliche Rede kon­ trollieren und manipulieren , entsprechen den technologischen Einrichtungen, die das nackte Leben identifizieren und erfassen . Zwischen diesen beiden Extremen - ein Wort ohne Körper und ein Körper ohne Wort - wird der Raum dessen , was man früher einmal Politik nannte , immer knapper und enger. Auf diese Art wird der Staatsbürger paradoxerweise zum Verdächtigen schlechthin , dem man mit Techniken und Vorrichtungen begegnen muss , die für die gefahrliebsten Individuen erdacht worden waren . Die Menschheit ist heute per definitionem zur gefahrliehen Klasse geworden . Vor ein paar Jahren habe ich einmal geschrieben , dass das politische Urbild des Westens nicht mehr die Stadt , sondern das Konzentrationslager ist, nicht Athen, sondern Auschwitz . Das war natürlich eine philosophische , keine historische These. Es geht nicht darum , Phänomene zu vermischen , die getrennt werden müssen . Ich möchte nur daran erinnern , dass die Tätowierung in Auschwitz möglicherweise als "normale" und wirtschaftliche Art erschien , um die Aufnah­ me der Deportierten ins Lager zu regeln . Die biopolitische Tätowierung, zu der wir heute gezwungen werden , um in die Vereinigten Staaten einzureisen , ist das Staffelholz dessen , was wir morgen als normale Erfassung in die Mechanismen und das Getriebe des Staates akzeptieren könnten , wenn wir als gute Bürger identifiziert werden wollen .

Otto Karl Werckmeister

Die zeitgeschichtliche Bilderfrage

Die Polarisierung der Bildersphären

Die Ausbreitung elektronischer Bildtechnologien hat heute zur Polarisierung zwischen einer operativen und einer informativen Bildersphäre geführt . Eine nichtöffentliche Bildproduktion und Bildvermittlung mit funktionalem und daher fraglosem Wirklichkeitsbezug steht einem öffentlichen Bildbewusstsein gegenüber, das seinen Wirklichkeitsbezug ständig zur Disposition stellt . Ist die informative Bildersphäre für menschliche Augen bestimmt, so erzeugt die ope­ rative Bildersphäre eine Datenbasis von Abbildungen , Bildkonstruktionen , For­ meln und Texten , die ihrerseits wiederum zur Programmierung elektronischer Apparate dient , ohne dass Menschen sie je zu Gesicht bekämen . Die elektroni­ sche Videoüberwachung der Ö ffentlichkeit verwandelt die Menschen aus Sub­ j ekten in Obj ekte des Sehens, ohne dass sich die Instanzen der Beobachtung als Subjekte identifizieren ließen , so dass man hier von subjektlosem Sehen spre­ chen kann . Sowohl die Unterscheidung als auch die Wechselbeziehung zwischen informati­ ver und operativer Bildersphäre lassen sich in erster Linie durch eine Beurtei­ lung ihrer funktionalen , das heißt politischen Determinanten fassen . Diese wirken in Bildtechnologie, Bildkultur und Bildpolitik als Teilbereichen der visuellen Kultur zusammen . Unter Bildtechnologie verstehe ich die digitale Potenzierung der Fotografie in der Herstellung, Ü bermittlung und Verwendung von Bildern, deren funktionale Anwendung in der Lebenswirklichkeit den Bedingungen des Wirtschafts- und Gesellschaftsprozesses folgt und dessen Ziel­ setzungen dient. Unter Bildkultur verstehe ich den ästhetischen Gesamtzusam­ menhang von Reklame, Unterhaltung, technisch produzierter Massenkunst und institutionalisierter Hochkunst, die umso vielfaltiger in die politische Kultur hineinwirken , je mehr sich diese über Bilder herstellt. Wie sich Bildtechnologie und Bildkultur zueinander verhalten , ist eine Frage der Bildpolitik, das heißt der politischen Verfügung über die visuellen Parameter des Gesellschaftsprozesses und über deren Darstellung, Reflexion oder Kritik in der Ö ffentlichkeit der kapitalistischen Demokratie. Die ausgedehnte und vertiefte Sichtbarkeit der Lebenswirklichkeit, die die elektronische Bildtechnologie zu gewähren und in den visuell gelenkten Gesell­ schaftsprozess zu überführen verspricht, wird vielfach einer epistemologischen Kritik unterzogen , die zwischen visueller und nichtvisueller Konstitution digi­ taler Bilder differenziert, um deren Authentizität in Frage zu stellen . Dagegen

22

Otto Karl Werckmeister

setzt ihre politische Kritik an dem Begriff der , Sicherheit ' ein , nach dem die Instanzen , die über Bildtechnologie verfügen , zwischen Sichtbarkeit und Geheimhaltung von Bildern entscheiden können . Die Macht der Abwägung zwi­ schen dem , was gezeigt werden darf, und dem , was verborgen bleiben soll , unterwirft den Anspruch der politischen Demokratie auf visuelle Information einem ständigen Prozess von Versagungen und Verhandlungen, Kontroversen und Kompromissen , dem mit ästhetischen Kriterien nicht beizukommen ist. Rückblick aufWalter Benjamin

,Jeder heuti9e Mensch hat einen Anspruch aifilmt zu werden", schrieb Walter Benj amin 1 9 3 5 in seinem Essay Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbar­ keit. Er meinte die Darstellung der Massen durch den Film als Grenzwert einer modernen Bildkunst, die den Menschen eine visuelle Selbsterfahrung in ihrer Lebenswirklichkeit als gesellschaftliche Selbstvergewisserung verschaffen soll . Benj amin hielt den sowj etischen Film der zwanziger Jahre für die Erfüllung sei­ nes Ideals, weil dieser die Menschen in ihrer selbstbestimmten Arbeitswelt umfassend zur Erscheinung bringe . Die kommunistische Perspektive der Dar­ stellung setzte er als realitätsgerecht voraus und polarisierte sie dialektisch mit einer ästhetischen Fiktionalisierung der Massen im "Faschismus" . Wie immer man diese ideologischen Voraussetzungen beurteilt, funktional beruht Benja­ mins Bestimmung des "Anspruchs gefilmt zu werden" darauf, dass die Menschen sich in öffentlich vorgeführten Filmen wiedererkennen . Heute erfüllt die digitale Bildtechnologie Benjamins Ideal einer universalen Abbildung der Lebenswirklichkeit in einer Weise, deren er sich nicht versehen konnte . Sie stellt den demokratischen Industriegesellschaften eine Apparatur zur Aufnahme potenziell aller Menschen bereit . Die Selbstabbildung, die sie den Subj ekten liefert, ist allerdings das Gegenteil von deren politischer Selbsterfah­ rung. Digitale Kameras ermöglichen es ihnen , ihr Leben als Film am selben Fernsehbildschirm zu betrachten wie die öffentliche Bildinformation und Bild­ kultur. Doch diese millionenfachen videoelektronischen Spiegelungen gehen nicht in die öffentliche Bildersphäre ein , wo die Subjekte sie mit anderen teilen müssten . Im öffentlichen Raum dagegen wird die digitale Bildtechnologie in erster Linie dazu eingesetzt, die Menschen ohne deren Anspruch, ohne deren Wissen, ja gegen deren Willen aufzunehmen . Die Menschen bekommen die Bil­ der, die von ihnen hergestellt werden , nicht zu Gesicht . Diese Bilder fügen sich

Die zeitgeschichtliche Bilderfrage

23

zu keiner Darstellung ihrer gesellschaftlichen Formation zusammen, sondern zielen auf die Atomisierung der Massen zu identifizierbaren Individuen , über die man verfügen kann . Die operative Bildersphäre

Die Techniken der Biometrie, die zur unverwechselbaren Identifizierung der Individuen entwickelt wurden , sind auf das Gesicht fixiert. Und zwar nicht des­ halb, weil das Gesicht in der europäischen Kultur zum Index der Individualität geworden ist, sondern deshalb, weil es sich am leichtesten mit der Kamera kon­ frontieren lässt, sei es im Geheimen , sei es unter Zwang. Bei der Gesichtserken­ nung (Facial Recoonition) tasten infrarote Strahlen die Physiognomie ab und werden auf vermessende Sensoren zurückgeworfen . Ein digitales Programm verarbeitet die relationalen Abmessungen der Gesichtszüge, archiviert sie numerisch und macht sie dergestalt mit anderen Visierungen vergleichbar. Bei der Iriserkennung (Iris Recoonition) liefert die videoelektronische Erfassung der farbig modulierten Regenbogenhaut eine einmalige Farbverteilung, die sich gleichfalls quantifizieren und zur Abgleichung mit anderen Irismustern archivie­ ren lässt . In der Gesichtserkennung vermitteln wenige rechteckige Parameter in drei oder vier T iefenebenen genügend visuelle Daten für die zweifelsfreie Iden­ tifikation . In der Iriserkennung setzt die Kreisgeometrie die Wellenlängen des Farbenspektrums in eine zweidimensionale Beziehung zueinander. Derart vereinfachte Ü bersetzungen visueller in numerische Daten ermöglichen es, elektronische Bilder in einen digitalen Informationsfluss einzufügen, der zu Kontrollprogrammen aller Art verarbeitet werden kann . Das menschliche Auge mit seiner angeschlossenen physiologischen und psycho­ logischen Apparatur für die Wahrnehmung und Erinnerung kann keine zweifels­ freie visuelle Identifizierung leisten . Umgekehrt zielt die elektronische Potenzierung des technischen Sehens ohne visuelles Subj ekt auf keine mimeti­ sche Angleichung von Person und Bild, sondern auf die Gewinnung funktiona­ ler Daten . Der Anschluss an die technischen Apparaturen der archivierenden Kontrolle und der operativen Abgleichung ist eine kategorische Alternative zur Bestimmung von Bildern für das Auge . Deshalb tut die mimetische lnadäquatheit operativer Bildverfahren deren Geltungsanspruch keinen Abbruch . Die operative Bildersphäre muss ihren Wirklichkeitsbezug in ihrer Effizienz und nicht in ihrer Wahrnehmung bewähren . Für sie kann es keine Zweifel an der

24

Otto Karl Werckmeister

Authentizität der Abbildung, sondern lediglich funktionale Diskrepanzen zwi­ schen Zielsetzung und Leistung geben. Die informative Bildersphäre

Die stetig zunehmende gesellschaftliche Funktion der operativen Bildersphäre wird heute umso aufdringlicher vorgeführt, je mehr ihr Wirken der Ö ffentlich­ keit entzogen bleibt. Das zieht die Verunsicherung des Sehens nach sich, die in der informativen Bildersphäre um sich greift. Die Authentizität j eder techni­ schen Vermittlung visueller Erfahrung, die dem Subjekt noch zugänglich ist, wird zweifelhaft. Einerseits fürchtet man die Anfälligkeit des visuellen Bewusst­ sein für die verfälschende Einwirkung technisch reproduzierter Bilder, als han­ dele es sich um Bildmagie . Andererseits stellt man technisch reproduzierte Bilder unter den Generalverdacht der Instrumentalisierung, gegen die es das Bewusstsein unter allen Umständen zu schützen gilt . Der obligatorische Zwei­ fel an der Fotografie , sei sie analog, sei sie digital , richtet sich nicht so sehr gegen ihre mimetische Unzulänglichkeit als Medium vermittelter Erfahrung als viel­ mehr gegen den unvermeidlich subj ektiven Standpunkt der Fotografen , und zwar um so unerbittlicher, je erfahrungsgetreuer deren Bilder aussehen . Ein Misstrauen , das sich gegenüber Propaganda und Zensur verhärtet hat und zu immunisieren strebt, schlägt zurück auf die Subj ektivität der Bildproduktion als solche . In der demokratischen Informationsgesellschaft unterliegen Bilder nicht dersel­ ben Debattenform unablässiger Infragestellung wie gesprochene und gedruckt Worte . Ihre Kritik besteht nicht darin , ihren möglichen Wirklichkeitsgehalt durch genaue Betrachtung zu ermessen oder wirklichkeitsgerechtere Bilder ein­ zufordern , sondern beschränkt sich auf eine instinktive Relativierung jedweder Bildinformation . Politische Bildkritik beschränkt sich auf summarische Kontro­ versen darüber, wie weit man in der Bilddarstellung gehen kann , was oder was nicht gezeigt werden darf. Reproduktionen der Bildinformation über die kritischen Ereignisse der Zeitgeschichte sind symbolisch, das heißt suggestiv und selektiv zugleich . Sie thematisieren die Vermeidung der Schocks , den umstandslose Fotografie vermitteln würde, setzen selber ihre Distanz zur Wirk­ lichkeit und befestigen damit die Vorbehalte der Betrachter gegen alle Bildinfor­ mation. Im alljährlichen Wettbewerb der internationalen Vereinigung "World Press

Die zeitgesch ichtl iche Bilderfrage

25

Abb. 1 : Antoine Serra, Die Leiche des 23-j ä h rigen Carlo Giuliani l iegt i n Genua auf der Stra ße nach Zusammenstö­ ßen zwischen der italienischen Polizei und Antigloba listen.

Photo" des Jahres 2002 ging der zweite Preis für Einzelfotos an den französischen Fotografen Antoine Serra für ein Bild von den Zusammenstößen zwischen Antiglobalisten und italienischer Bereitschaftspolizei auf dem Gipfel­ treffen der acht führenden Industriestaaten, das im Juli 2 00 1 in Genua abgehal­ ten wurde . Es zeigt den 2 3 -jährigen Demonstranten Carlo Giuliani , der von der Polizei erschossen wurde. Der Tote liegt auf dem Straßenasphalt, schon entklei­ det, mit einer Lederbinde um den Arm , die den Blutfluss aufhalten sollte . Ein Polizist hockt vor ihm mit einer weiteren Binde in der Hand. Der Rettungsver­ such ist fehlgeschlagen . Eine dichte Kette weiterer Polizisten mit Panzerglas­ schilden verdeckt die Sicht . Der Fotograf hat sie, scheint es, dazu bewegt, an einer Stelle auseinanderzurücken, so dass er den aufrecht hockenden Polizisten und den Oberkörper des Toten in der Ferne vor das Objektiv bekommt. Doch das Zoom hat er nicht betätigt, denn sein Thema ist nicht der Tote, sondern die Polizei , die sich seiner bemächtigt und ihn dem Blick entrückt . Serra stilisiert ihre spiegelnden Panzerglasschilde zu Emblemen der visuellen Konfrontation . Die schwarzbehandschuhten Arme der Polizisten legen sich darüber, dahinter zeichnen sich die Silhouetten ihrer Beine ab, und die vorgewölbte Klarglasflä­ che, die ihnen im Schutz des Schildes das Blickfeld eröffnet, wenn sie ihn vor den

26

Otto Karl Werckmeister

Kopf halten , spiegelt die offene Straße, in die sie den Fotografen abgedrängt haben . Das Bild wird zum Zeugnis seiner Herstellung unter den heutigen Bedin­ gungen kontrollierter Erfahrung. Solche Abbildungen von Toten in Kriegen und Katastrophen sind extreme Bei­ spiele der restriktiven Bildpolitik, die heute gang und gäbe ist. Sie fallen nicht allein hinter die technischen Möglichkeiten der zeitgeschichtlichen Bildinfor­ mation zurück , sondern widersprechen auch den Sehgewohnheiten einer fort­ schreitend brutalisierten Bildkultur, die vor keiner Darstel lung blutiger Verletzung mehr zurückschreckt . Die medienpolitischen Instanzen setzen vor­ aus , dass dasselbe Publikum , das in die Kriegs- und Horrorfilme drängt, bereit ist, auf schonungslose Bildinformation zu verzichten , ja gewillt ist, sich dagegen abzudichten . Umso krasser kehren die Schrecken der Zeitgeschichte als Fiktio­ nen in der Bildkultur zurück . Die intermediale Bildkultur

Visuelle Desorientierung der zeitgeschichtlichen Erfahrung und videoelektroni­ sche Kontrolle der Gesellschaft schreiten heute Hand in Hand voran . Je weniger die Menschen die politische Funktionalität ihrer Lebensbedingungen zu Gesicht bekommen , desto sichtbarer werden sie für die visuelle Technik ihrer politischen Kontrolle. Eine ebenso diffuse wie unabweisbare Empfindung dieses Wider­ spruchs durchdringt die Bildkultur der Gegenwart auf allen gesellschaftlichen Ebenen , von der Hochkunst bis zur Massenkunst . Das Bewusstsein einer vide­ oelektronischen Manipulation der Gesellschaft, ja der Wirklichkeit , hat ihren charakteristischen Modus intermedialer Reflexion hervorgebracht . Elektroni­ sche Bildtechniken verarbeiten j ede Bildinformation oder Bildimagination zur hypothetischen Setzung. Im reflexiven Automatismus der Bildrelativierung ver­ flüchtigt sich die Beurteilung der Angemessenheit des Bildes an seinen Gegen­ stand . In der künstlerischen Kultur ist die intermediale Reflexion vermittels der Erscheinungsformen operativer Bildtechnologie obligatorisch geworden . In den Installationen der institutionell approbierten Hochkunst, wie sie in Museen und Ausstellungen inszeniert wird , thematisieren Videokameras und Bildschirme die Sehbedingungen der Exponate . Die fantastischen Szenarien der Massenkunst von Film und Comic Strip dämonisieren die videoelektronische Kontrolle der Lebenswirklichkeit als utopisches Extrem universaler Verfügung. Um

Die zeitgesch ichtliche Bilderfrage

27

authentisch zu wirken , sieht sich die Massenkunst zur Anpassung ihrer Darstellungsformen an die Seh­ konventionen der elektronischen Bildproduktion und Bildübermittlung gezwungen . Dabei werden die videoelektronischen Sehformen einerseits ästhetisch rückgebildet, andererseits funktional übertrieben . Je mehr allerdings die informative Bildersphäre

Abb. 2: Deta i l aus Abbildu ng 1 .

ihren Realitätsbezug in Frage stellt, j e schwieriger sich der Zusammenhang von Sehen und Urteilen in ihr darstellt, je tiefer sich schließlich die Hochkunst in folgenlose Reflexionen über die technische Relati­ vierung allen Sehens verliert , um so stärker tendiert die Massenkunst dazu , sich an traditionellen Formen einer realistischen Bildkultur rückzuversichern . Sie verbindet Obsession mit technischem Fortschritt und Traditionalität der Bild­ vorstel lung. Während sie die videoelektronische Erscheinungsform der zeitge­ nössischen

Lebenswirklichkeit, j a der zeitgeschichtlichen Verhältnisse

ästhetisiert, fasst sie deren Substanz in die vorgeprägten Handlungsmuster einer altvertrauten Bildertopik, die bis in die Antike zurückreicht . Auf diese Weise stellt sich kein politisches Verständnis her. Visuelle Urteilsf