Bildwelten des Wissens: BAND 5,1 Systemische Räume 9783110547429, 9783050043548

Räume haben ihr System, sie werden systematisiert und in ihnen entfalten sich Systeme. Sie gehen aus den Ordnungs- und O

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German Pages 100 Year 2007

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Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Editorial
Gesellschaftsbilder – die Grafik des Sozialen
Die Macht der Datenmacher in der fragmentierten Wissensgesellschaft
Aufteilen der Räume. Perspektiven auf und mit einem Dokumentarvideo in der Kunst
Über die Kunst, an Land zu navigieren. Zu Maya Derens At Land
Farbtafel
Faksimile
Bildbesprechung
Im „No man’s land“ der Cybernetics
Räume und Paradies zwischen Insel, Schiff und Garten – Pflanzentransportbehälter im Bild
Interview
Bücherschau: Wiedergelesen
Projektvorstellung
Bildnachweis
Die AutorInnen
Bildwelten des Wissens
Recommend Papers

Bildwelten des Wissens: BAND 5,1 Systemische Räume
 9783110547429, 9783050043548

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Bildwelten des Wissens Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik

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1: Berliner Reichstag, Blick aus Kuppel in Plenarsaal, 2003. 2: Lluís Domènech i Montaner (zus. mit Joan Martorell und Cristóbal

Cascante): Ehemaliges Gebäude des Priesterseminars der päpstlichen Universität Comillas, Kantabrien, Spanien, 1883–1892. I. Kahn: Salk Institute for Biological Studies, La Jolla, Californien, 1959–65. 4: Rhizom von Triticum repens. Aus: Gilles Deleuze, Félix Guattari: Rhizom, 1977. 5: Das neuronale Nervensystem nach Santiago Ramón y Cajal. Aus: Humberto R. Maturana, Francisco J. Varela: Der Baum der Erkenntnis, 1987. 6: Karte mit Straßennetz von New York und Umgebung, 1928. 7: Andy Warhol: Schuhsammlung aus dem Magazin des RISD Museum, Installation, Providence, Rhode Island, 1970. 8: Türsturz im Eingang der 1926 eingeweihten Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg in Hamburg. 9: Fluchttunnel von Bankräubern in Berlin-Zehlendorf, 1995. 10: Giovanni Battista Piranesi: Carceri d’Invenzione, Blatt 7, Radierung, 1761. 11: Philippe Rekacewicz: Weltkarte mit Grenzen gegen Wirtschaftsmigranten und Asylsuchende (Detail), 2006. 3: Louis

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12: O. M. Ungers: Regalsysteme, 1956. 13: Giotto: Verkündigung an Anna, Fresko, Arenakapelle, Padua, 1302–1312. 14: Ein Militär­

bau­ingenieur überwacht beim Abpfählen einer Bastionärfestung die Übertragung der Grundmaße vom Bauplan in die Land­ schaft. Aus Mallets „Les Traveaux de Mars ov la Fortification novvelle“ von 1672. 15: Heimo Zobernig: Booth A1D1, Galerie Anselm Dreher auf der ART COLOGNE 1992. 16: Daniel Libeskind: Jüdisches Museum Berlin, Grundriss des ersten Stockwerks. 17: Johannes Schütz: Bühnenbild zu Edward Albees „Wer hat Angst vor Virginia Woolf“, Regie Jürgen Gosch, Deutsches Theater Berlin, Premiere 18.11.2004. 18: Francis Bacon: Untitled (Marching Figures), Öl auf Leinwand, 198 x 137 cm, um 1950. 19: Fred Sandback: Untitled (from ten vertical constructions), Installation mit farbigem Acrylgarn, 1977. 20: Abel Blouet: Plan für ein Zellengefängnis, 1843. 21: Büro Foster + Partners: Grundriss des umgebauten Berliner Reichstages mit Plenarsaal. 22: Hans Schwippert: Grundriss des Bonner Bundeshauses mit Plenarsaal, Germanisches Nationalmuseum Nürnberg.

Herausgegeben von

Horst Bredekamp, Matthias Bruhn und Gabriele Werner Verantwortlich für diesen Band

Gabriele Werner Redaktion

Das Technische Bild

Bildwelten des Wissens Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik. Band 5,1

Systemische Räume

Akademie Verlag

Inhaltsverzeichnis

Editorial

7

Eva Barlösius: Gesellschaftsbilder – die Grafik des Sozialen

9

Werner Rammert: Die Macht der Datenmacher in der fragmentierten Wissensgesellschaft

18

Angelika Bartl: Aufteilen der Räume. Perspektiven auf und mit einem Dokumentarvideo in der Kunst

28

Ute Holl: Über die Kunst, an Land zu navigieren. Zu Maya Derens At Land

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Farbtafel

50

Faksimile: Who Shall Survive? Die sozialen Netzwerke des Jakob L. Moreno 51 Bildbesprechung: Ein Bild und seine Geschichte – Containerisierung: Die Syntax der Systeme

55

Ulrike Bergermann: Im „No man’s land“ der Cybernetics

58

Marianne Klemun: Räume und Paradies zwischen Insel, Schiff und Garten – Pflanzentransportbehälter im Bild

67

Interview: Kunst und Kybernetik. Ein Gespräch der Bildwelten des Wissens mit Claus Pias

77

Bücherschau: Wiedergelesen / Rezensionen

87

Projektvorstellung: Mit dem Auge denken. Social Network Analysis (SNA) – Die Wissenschaft von der Messung und Visualisierung von Beziehungen

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Bildnachweis Die AutorInnen

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Editorial

In seiner 1679/80 verfassten Schrift Zur Characteristica, die in die Sammlung Schöpferische Vernunft (1955) eingegangen ist, verräumlicht Gottfried Wilhelm Leibniz die Wissenschaft zu einem Körper. Einem Ozean gleich, stetig, ohne Unterbrechung und Einteilung, sei der Raum des Wissens als eine unerschlossene Sphäre der Entdeckung, der Risiken und der Kontingenzen zu begreifen. In diesem Raum dienen die „Charaktere“ den Gedanken, die Leibniz im Bild des Schiffes fasst, als Navigationsmittel. In einem physikalischen Bild, in dem die Materialität der Praxisformen, aber auch unanschauliche Begriffe gemeinsam sinnfällig werden, begreift Leibniz die Wissenschaft Abb. 1: Henning Wagenbreth, o.T., um 1998 in ihrem Doppelaspekt als Raumfeld und Tätigkeit. Mit diesem Bild verdeutlicht Leibniz, dass die Raummetaphern leer bleiben, wenn nicht das Augenmerk auf die in ihnen stattfindenden Handlungen gelegt wird. Raum, dies ist von der Soziologie bekräftigt worden, hat nicht unabhängig vom Sozialen seine Funktion. Soziale Verhaltensweisen sind daher auch jenseits der Wissenschaft immer zugleich von territorialer Art. Bilder, in denen die politischen und gesellschaftlichen Sphären und Handlungen von der Wissenschaft räumlich transformiert werden, sind in diesem Band unter dem Titel Systemische Räume zusammengestellt. Gerade weil, wie in der Illustration von Henning Wagenbreth (Abb. 1), die Anmutung so überwältigend ist, dass Daten wie in einem Irgendwo des Niemandslandes entstehen, erscheint der Hinweis notwendig, dass Daten Produkte ihrer eigenen Auswertung sind. Damit die Aussage der Illustration über den

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Editorial

(nicht mehr zu bewältigenden) Kreislauf von empfangenen Signalen und deren Verarbeitung zu Daten bildhaft funktioniert, musste die mittlere der Figuren kurzerhand zur Linkshänderin mit entsprechender Spiegelung in der Konsole umgestaltet werden. Hier zeigen sich Stärken und Schwächen der Totalität von Daten. Schon in Leibniz’ Staatstafeln hat sich die Vorstellung von einem kontrollierbaren ­Ganzen, in dem die Teile systematisch geordnet und miteinander verbunden sind, welches durch eine zentralistische Instanz verwaltet werden kann, als Utopie offenbart. Dies gilt umso mehr heute, insofern die Errichtung von Steuerungsmechanismen in sich die Aussage über die bedrohte Ordnung des Systems birgt. Gerade in der Unschärfe „harter“ Datenmengen liegt ihre angemessene Abbildungsfunktion. Um diese Problematik kreisen die Selbstentwürfe des Kybernetikers Norbert Wiener, der sich intensiv mit Leibniz auseinandergesetzt hat. Auch er hat seine Wissenschaft, die sich zwischen disziplinären Räumen situiert, als Va­gie­ren in geografischen Orten zur Methode gemacht. Die unter dem Titel des Bandes Systemische Räume versammelten Beiträge vermeiden insgesamt die mit dem Systembegriff verbundenen bildsprachlichen Wendungen vom „Ganzen“, von „Totalität“, von „Einheit“, aber auch von „Ordnung“ und selbst „Geflecht“, um durchweg gegen den auf dem Gebiet der Kybernetik vorherrschenden Eindruck von voraussetzungsloser Geschlossenheit zu argumentieren. So ist es eine hoffentlich produktive Ent-Täuschung, wenn die Verbindung von Kunst und Kybernetik keinen neuen Kunststil hervorgebracht hat, sondern neue Formen der Kunstproduktion, der Arbeitsorganisation und von Arbeitsgemeinschaften. Die Herausgeber

Eva Barlösius

Gesellschaftsbilder – die Grafik des Sozialen

Theorien über die Gesellschaft anschaulich darzulegen ist diffizil. Trotzdem verzichtet die gegenwärtige Soziologie weitgehend auf verdeutlichende Bilder. Setzten die soziologischen Gründerväter noch auf wortgewaltige Bilder: „Alles Ständische verdampft, alles Heilige wird entweiht“, beobachtete Marx und komplettierte Weber das Bild um das „stahlharte Gehäuse“, das an die Stelle des Heiligen tritt, enthalten sich die Kinder und Enkel fast aller ausdrucksvollen Bilder – sprachlichen wie auch darstellenden. Sie billigen ihnen keine eigenständige Erklärungskraft zu. Eine nüchterne und sachliche Ausdruckweise gehört heute zur soziologischen Programmatik. Nicht wenige kritisieren dies als Bilderfeindlichkeit der Soziologie, denn Grafiken, Zeichnungen, Fotografien und dergleichen werden einzig zu „didaktischen Zwecken“ benutzt. Letzteres erklärt, weshalb viele soziologische Lehrbücher reich an Abbildungen jeglicher Art sind, auch an bildlichen Veranschaulichungen jener Theorien über die Gesellschaft, deren Urheber sich ganz auf eine sachliche und abstrakte Sprache beschränken. In den Lehrbüchern werden Theorien über die Gesellschaft in Gesellschaftsbilder übersetzt, was mit einer Interpretation der theoretischen Vorlagen verbunden ist. Diese transportiert oftmals eine eigene Sicht der gesellschaftlichen Verhältnisse und liefert damit mehr als eine bildliche Darstellung der Theorien. Allerdings gibt es ein soziologisches Thema, bei dem die Umsetzung der Ergebnisse in ein Bild als unentbehrlich gilt und diesem eine gesonderte Erklärungskraft zukommt: Sozialstrukturanalyse – die Erforschung sozialer Ungleichheiten. Gewiss hängt dies damit zusammen, dass es sich die Sozialstrukturanalyse zur Gewohnheit gemacht hat, die soziale Position jedes Einzelnen wie auch von Gruppen im Gesamtgefüge der Gesellschaft zu bestimmen, sie beispielsweise oben, in der Mitte oder unten zu platzieren. Die Platzierung setzt voraus, sich die Gesellschaft als Raum vorzustellen, der seine Figürlichkeit aus der sozialstrukturellen Anordnung der verschiedenen Positionen erhält. Diese Vorstellung bildlich darzustellen – Sozialstrukturbilder zu entwerfen – ist naheliegend, beinhaltet aber einen eigenständigen Schritt. Die theoretischen Grundannahmen über die Genese sozialer Ungleichheiten lassen sich nicht einfach in Grafiken übersetzen, weil bei der Schaffung von Sozialstrukturbildern gestalterische Erfordernisse und Routinen ins Spiel kommen, die einer eigenen Regelhaftigkeit folgen.1 Und nicht nur das: Die Visualisierung ihrer Forschungsergebnisse bedeutet für

1 Eva Barlösius: Die Macht der Repräsentation: Common Sense über soziale Ungleichheiten, Opladen 2005, insbesondere Kap. 5.

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Eva Barlösius

eine Disziplin, die üblicherweise dieses Ausdrucksmittel nicht nutzt, dass sie ihre Mitteilungen bewusst veranschaulicht, um allgemeinverständliche Repräsentationen zu produzieren, konkret: Repräsentationen sozialer Ungleichheit. Im Folgenden werden fünf Sozial­ strukturbilder für die Bun­des­re­pu­ blik Deutschland vor­ge­stellt, von denen drei aus den 1960er Jahren Abb. 1: Karl Martin Boltes „Zwiebel“-Modell des Prestige-Statusaufbaus (1960er Jahre). stammen, eines in den 1980er Jahren und das fünfte in den späten 1990er Jahren entstand. An dieser Stelle interessiert nicht, ob die Ergebnisse der Sozialstrukturanalysen „realistisch“, ob die zugrunde gelegten Ungleichheitstheorien schlüssig sind. Vielmehr liegt das Augenmerk einzig auf dem Schritt der Übertragung der Sozialstrukturanalyse in ein Sozialstrukturbild sowie auf der Frage, ob über die bloße Veranschaulichung hinaus die grafische Darstellung der Sozialstruktur eine eigene Botschaft transportiert.2 Als frühe Sozialstrukturbilder wurden die „Bolte-Zwiebel“ (Abb. 1), Dahrendorfs Darstellung der sozialen Schichtung (Abb. 2) und Scheuchs Modell der Prestige-Schichtung (Abb. 3) ausgewählt, die zwar drei miteinander konkurrierende Ungleichheitstheorien vertreten, aber in ihrer empirischen Analyse der Sozialstruktur zu ähnlichen Ergebnissen gelangen.3 So unterscheiden sie sich in der groben Gliederung der Sozialstruktur, also der Einteilung in Schichten, kaum, auch nicht bei der quantitativen Bestimmung der Schichtgrößen. Trotz dieses hohen Maßes an Übereinstimmung in der Empirie sehen ihre Sozialstrukturbilder allerdings sehr verschieden aus, und diese Verschiedenheit lässt sich nicht auf ihre theoretische Dissonanz zurückführen.

2 Bei der Beantwortung der Frage handelt es sich – was nicht unproblematisch ist – um eine Art von Rezeption. Vgl. Michael Lynch: Pictures of Nothing? Visual Construals in Social Theory. In: Sociological Theory, Jg. 9, 1991, Heft 1, S. 1–21. 3 Karl Martin Bolte: Deutsche Gesellschaft im Wandel, Opladen 1966; Ralf Dahrendorf: Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, München 1971; Erwin K. Scheuch (unter Mitarbeit von Hans Jürgen Daheim): Sozialprestige und soziale Schichtung. In: David V. Glass, René König (Hg.): Soziale Schichtung und soziale Mobilität (Sonderheft 5 der KZfSS), Opladen 1961, S. 65–103.

Gesellschaftsbilder – die Grafik des Sozialen

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Zunächst fällt auf, dass die drei Sozio­ logen sehr unterschiedliche Grundfiguren verwendet haben, um die Sozialstruktur zu verbildlichen: Bolte eine Zwiebel, Dahrendorf ein Haus und Scheuch ein vereinfachendes Stapelmodell. Bolte und Dahrendorf haben sich für Modelle entschieden, die aus dem Alltag stammen, aber dem Phänomen der Ungleichheit doch fern sind. Mit ihrer Wahl, die Abb. 2: Ralf Dahrendorfs Modell der sozialen Schichtung Sozialstruktur als Zwiebel oder Haus (1960er Jahre). zu präsentieren, haben sie jeweils ein ganzes Assoziationsfeld angesprochen. Scheuch hat dies vermieden. Bolte erläuterte seine Entscheidung folgendermaßen: „Der Prestigeaufbau der deutschen Bevölkerung der Bundesrepublik hat eine Form, die etwa einer Zwiebel ähnlich sieht.“4 Den Aufbau der Gesellschaft mit einer Zwiebel zu veranschaulichen böte zudem den Vorzug, dass „keine ‚künstlichen‘ Schichtgrenzen“ einzuzeichnen sind und sich die Anordnung in „ein Oben und Unten“, bei „dem Überlappungen von Gruppierungen und unscharfe Zonen des individuellen Status vorherrschen“, darstellen lässt.5 Plausibel ist dies nicht. Schließlich ist unter botanischen Gesichtspunkten an der Zwiebel markant, dass sie aus einzelnen, getrennten Schalen besteht, eine Eigenschaft, welche die gestalterische Absicht, im Sozial­ strukturbild die Überlappungen zwischen den sozialen Gruppen zu betonen, beinahe konterkariert. Neben gestalterischen Unstimmigkeiten – obwohl die Zwiebel dreidimensional ist, wurde die Sozialstruktur zweidimensional eingetragen – gibt es auch solche zwischen den theoretischen Grundannahmen über soziale Ungleichheiten und der grafischen Repräsentation der Sozialstruktur als Zwiebel. Gemüse gehört zur natürlichen Welt: Seine Form, sein Aufbau, sein Geschmack – alles ist naturgegeben und ohne Eingriffe der Pflanzenzüchtung nicht veränderbar. Die Ungleichheitssoziologie basiert dagegen auf der theoretischen Grundüberzeugung, dass die Sozialstruktur ein Ergebnis gesellschaftlichen Wirkens, wandelbar

4 Zitiert nach Stefan Hradil: Soziale Ungleichheit in Deutschland, 7. Auflage, Opladen 1999. 5 Hradil (s. Anm. 4), S. 352.

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Eva Barlösius

und bis zu einem gewissen Grad sogar steuerbar ist. Genau dies will Bolte nach eigenem Bekunden mit den Überlappungen der sozialen Schichten darstellen, die soziale Auf- und Abstiege – also sozialstrukturelle Dynamik – symbolisieren solAbb. 3: Erwin Scheuchs Modell der PrestigeSchichtung (1960er Jahre). len. Ob ein Naturprodukt überhaupt geeignet ist, die Ungleichheitsverhältnisse zu visualisieren, ist fraglich, schließlich naturalisiert es soziale Verhältnisse und widerspricht damit den ungleichheitstheoretischen Grundlagen. Anders das Dahrendorf’sche Haus: Es ist von Menschen entworfen und konstruiert. Jedem Teil des Hauses, dem Dach, den Wänden, der Bodenplatte, ist eine bestimmte Funktion zugewiesen, die nicht von einem anderen Bestandteil übernommen werden kann. Dahrendorf selbst hat es als das „Gehäuse sozialer Schichtung“ der „deutschen Gesellschaft“ tituliert.6 In diesem Haus gibt es ein Oben und Unten, aber um die Gesamtfunktion – eine Gesellschaft zu konstituieren – zu erfüllen, sind alle Teile gleichermaßen erforderlich. In das Haus hat Dahrendorf sieben Schichten eingezeichnet, wobei beinahe jede Schicht einen Bestandteil des Hauses repräsentiert: die „Eliten“ das Dach, die „Dienstklasse“ eine Dachschräge, der „Mittelstand“ den Dachraum, die „Arbeiterelite“ eine Dachluke, die „Arbeiterschicht“ und der „falsche Mittelstand“ zwei Wände und die „Bodenplatte“ die Unterschicht.7 Dahrendorf hat seine Hausaufteilung folgendermaßen kommentiert: „Das Gebäude der sozialen Schichtung hat mehr als die sieben […] beschriebenen Zimmer. Zumindest kennt jedes der Zimmer Ecken und Nischen, die für sich beschrieben werden können, weil sie eigene Mentalitätszüge haben. Auch die Wände zwischen den Zimmern sind nicht nur verstellbar, sondern zum Teil durchlässig.“ Für eine soziale Gruppe konnte Dahrendorf keinen passenden Platz finden: die Intellektuellen. Sie lassen sich „nur mühsam im Haus der sozialen Schichtung unterbringen“, notierte er.8 Wie kann die grafische Präsentation der Sozialstruktur als „Gehäuse“ interpretiert werden? Da jeder Teil des Hauses eine bestimmte Funktion erfüllt, evoziert diese Darstellung ein Gesellschaftsbild, bei dem sich jede soziale Schicht durch eine spezielle gesellschaftliche Bestimmung von den anderen abhebt und die

6 Dahrendorf (s. Anm. 3), S. 106. 7 Dahrendorf (s. Anm. 3), S. 97. 8 Dahrendorf (s. Anm. 3), S. 106. Eine Einsicht, die dem intellektuellen Architekten des sozialstrukturellen Hauses gewiss auch mehr behagte, als seine Wohnung mit anderen teilen zu müssen.

Gesellschaftsbilder – die Grafik des Sozialen

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Sozialstruktur insgesamt eine gemeinsame Funktion erfüllt, durch welche die Gesellschaft als Ganzes zusammengehalten wird. Das Haus der Sozialstruktur würde somit mehr eine Form der funktionalen denn der sozialen Differenzierung symbolisieren. Dies widerspricht allerdings grundsätzlich der Dahrendorf’schen Theorie über die Gesellschaft. Die Triebfeder der gesellschaftlichen Dynamik sah er in den grundlegenden gesellschaftlichen Konflikten, insbesondere in Klassenkonflikten, begründet, „die parallel zu den sozialen Schichten verlaufen“. 9 Sein „Gehäuse sozialer Schichtung“ repräsentiert jedoch ein anderes Bild der deutschen Sozialstruktur: Die sozialen Schichten sind funktional so angeordnet, dass sie gemeinsam das „deutsche Haus“ erbauen. Zugegeben, dies ist eine zugespitzte Deutung, freilich eine augenscheinliche. Auch wenn sie nicht geteilt wird: Dass das Dahrendorf’sche Sozialstrukturbild in einem Widerspruch zu seiner Ungleichheitstheorie steht, ist offenkundig. Im Unterschied zur „Bolte-Zwiebel“ und zum Dahrendorf’schen Gehäuse präsentiert Scheuch ein abstraktes Sozialstrukturbild, das keinen Gegenstand zitiert – weder einen natürlichen noch einen von Menschen geschaffenen. Es gibt auch kein zeichnerisches Element, welches die Sozialstruktur als zusammenhängendes gesellschaftliches Gefüge veranschaulicht. Die Balken, die die sozialen Schichten darstellen sollen, sind ohne Überlappung oder eine andere Verknüpfungsart aufeinandergestapelt. Durch diese bildliche Darstellung wird weder deutlich, ob eine gesellschaftliche Klammer existiert, noch, ob es soziale Mobilität gibt. Es ist eine sehr abstrakte Illustration der Sozialstrukturanalyse – ein einfaches Balkendiagramm. Auf den ersten Blick transportiert es keine eigenständige zeichnerische Botschaft. Aber ein solches Sozialstrukturbild betont die soziologisch konstruktiven Anteile an der theoretisch hergeleiteten Sozialstrukturanalyse und macht damit deutlich, dass auch eine andere Sozialstrukturanalyse durchgeführt und dementsprechend ein anderes Sozialstrukturbild zu zeichnen wäre. So liegt dem Modell ein Schichtbegriff mit einer nominalen Grenzziehung zugrunde, der nicht „real vorhandene“ Grenzen zwischen den Schichten identifizieren will. Vielmehr legt „der Forscher nach Gutdünken Ordnungslinien im Statusgefüge“10 fest und gibt damit zu, dass es sich um wissenschaftlich hergeleitete Ordnungsgrenzen handelt, die Menschen aber die sozialen Grenzen wohlmöglich ganz

9 Ralf Dahrendorf: Gibt es noch Klassen? Die Begriffe der „sozialen Schicht“ und „sozialen Klasse“ in der Sozialanalyse der Gegenwart. In: Bruno Seidel, Siegfried Jenkner (Hg.): Klassenbildung und Sozialschichtung, Darmstadt 1958, S. 279–296. 10 Hradil (s. Anm. 4), S. 351.

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anders wahrnehmen. Würden strukturanalytisch andere Grenzen bestimmt, entstünde ein divergentes Strukturbild und somit ein anders aufgeschichtetes Balkendiagramm. Im Gegensatz zur Bolte-Zwiebel und dem Dahrendorf’schen Haus, deren Figürlichkeit feststeht, zeichnet sich das Stapelmodell von Scheuch durch große Anpassungsfähigkeit aus und signalisiert damit, dass jede Theorie über die Gesellschaft wie jedes Sozialstrukturbild Ergebnis von Repräsentationsarbeit ist. Während Bolte und Dahrendorf mit gegenständlichen Analogien arbeiten, und zwar mit solchen, die eine Brücke zur Alltagswelt schlagen und auf ein spontanes Verständnis treffen sollen, verlässt das Balkendiagramm von Scheuch nicht die abstrahierende und distanzierende Darstellungsweise der Soziologie. Aber auch bezüglich der Gesellschaftsbilder, die Zeichnungen vermitteln, tun sich Unterschiede auf. Die Zwiebel wie das Gehäuse versinnbildlichen Gebilde, die aus mehr als nur der Zusammenfügung der einzelnen sozialen Schichten bestehen. Sie repräsentieren ein gesellschaftliches Ganzes und symbolisieren für den Einzelnen eine soziale Zugehörigkeit, die mehr umfasst als die sozialstrukturelle Positionierung. Insofern verbildlichen sie den klassischen Satz von Émile Durk­ heim, dass die Gesellschaft mehr als die Summe der Individuen ist, die zu ihr gehören und was die Gesellschaft zusammenhält. Dagegen ist aus dem Balken­dia­ gramm kein gesellschaftlicher Zusammenhang abzulesen, und es erzeugt damit auch kein Gesellschaftsbild, sondern verharrt auf der Ebene eines Sozialstrukturbildes, weil es nur die sozialstrukturellen Positionen dokumentiert. In den 1980er Jahren entdeckte die bundesdeutsche Sozialstrukturanalyse allenthalben Prozesse der Entkopplung von Schichtzugehörigkeit und praktiziertem Lebensstil, der auf kulturellen Werten und Orientierungen basiert. In den Sozial­ strukturbildern sollten diese Entkopplungsprozesse wahrnehmbar gemacht werden. Die dafür typische Darstellungsweise war es, die Sozialstruktur angelegt an das mathematische Koordinatensystem darzustellen, um mittels der vertikalen und horizontalen Achse das Auseinanderfallen von Schichtzugehörigkeit und Lebensstil bildlich zu verdeutlichen. Auf der vertikalen Achse wurden die sozialen Schichten und auf der horizontalen die Lebensstile eingetragen. Es gibt eine Vielzahl von Sozialstrukturbildern, die diesem Grundschema folgen, die sich zwar in der Anzahl der identifizierten sozialen Gruppenzusammenhänge – Milieus und Lebensstilgruppen –, deren Größe und Benennung unterscheiden, die aber prinzipiell gleich aussehen.

Gesellschaftsbilder – die Grafik des Sozialen

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Abb. 4: Soziale Schicht und Grundorientierung von Milieus in der Bundesrepublik (Sinus Milieus).

Die mit Abstand bekannteste grafische Darstellung ist die des Sinus-Instituts von 1982 (Abb. 4).11 Im Vergleich mit diesem locker gesponnenen Entwurf wirken die drei Sozialstrukturbilder aus den 1960er Jahren starr und zementiert. Genau diesen Eindruck einer grobmaschig gewebten Sozialstruktur sollen die Milieu- und Lebensstilbilder vermitteln. Die Sozialstruktur sieht wie ein loses und luftiges Etwas aus, in dem sich die Menschen scheinbar nach Belieben von unten nach oben und von rechts nach links bewegen können: eine Sozialstruktur, die ihre strukturierenden Eigenschaften weitgehend abgestreift hat und deshalb eigentlich kaum mehr existiert. Entsprechend werden die sozialen Milieus nicht mit scharfen Linien klar voneinander geschieden, sondern als kreisförmige Körper dargestellt, die ineinander übergehen.Wer gestern noch im „Hedonistischen Milieu“ weilte, kann morgen ins „Alternative Milieu“ auf- oder ins „Traditionslose Arbeitermilieu“ absteigen oder sich ins „Aufstiegsorientierte Milieu“ begeben, von dem aus ihm beinahe alle anderen Milieus offenstehen.Während in den 1960er Jahren – trotz mancher Überlappung – letztlich jedem ein fester Platz in der Sozialstruktur zugewiesen wurde, sind nun Überschneidungen zum Prinzip geworden. Diese Phänomene charakterisierte die Sozialstrukturanalyse als Individualisierung und Pluralisierung. Zudem scheinen die meisten Menschen in der Sozialstruktur aufgestiegen zu sein, was Ulrich Beck als „Fahrstuhleffekt“ beschrieb. Dabei hatte Beck, der die These 11 H. Nowak, U. Becker: „Es kommt der neue Konsument.“ Werte im Wandel. In: Form. Zeitschrift für Gestaltung 1985, Heft 111, S. 13–17.

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Eva Barlösius

der Individualisierung in die Ungleichheitssoziologie eingeführt hat, darauf aufmerksam gemacht, dass sich keineswegs die Ungleichheitsrelationen verändert haben. Einzig die Ungleichheitsfragen hätten sich „sozusagen ‚verkrümelt‘“, weil die Menschen ihre sozialstrukturelle Position „lebensweltlich“ immer weniger vertikal und stattdessen stärker horizontal beschreiben. Genau dies stellten die Karten der sozialen Milieus und Lebensstile bildlich dar, die wiederum als Zeugnis der „neuen sozialen Unübersichtlichkeit“ verwendet wurden. Ende der 1990er Jahre – veranlasst durch die Wiedervereinigung und die sich verstärkende ökonomische Krise – wurden die Ungleichheitsverhältnisse wieder mit einem nüchterneren Blick angeschaut. Eine Kehrtwende der Sozialstrukturanalyse setzte ein. Sie wurde theoretisch und empirisch, aber auch bezüglich der grafischen Darstellung wesentlich von Pierre Bourdieu beeinflusst. Bourdieu sah die Aufgabe der Soziologie darin, eine Sozialtopologie anzufertigen, welche die Gesellschaft als „mehrdimensionalen sozialen Raum“ darstellt.12 Während die räumliche Positionierung bis dahin von der Ungleichheitssoziologie als Instrument genutzt worden war, die Sozialstruktur zu veranschaulichen, schlug Bourdieu vor, alle gesellschaftlichen Verhältnisse räumlich zu veranschaulichen, nicht nur die Sozialstruktur. Diesen weit reichenden Vorschlag nahmen nur wenige auf, aber die Sozialstruktur als „sozialen Raum“ zu begreifen und topografische Sozialstrukturbilder zu entwerfen, begeisterte viele. Eng an Bourdieu orientierte Darstellungen hat die Forschergruppe um Michael Vester entworfen. Ihre Zeichnung Die Milieus der alltäglichen Lebensführung im sozialen Raum Westdeutschlands 1995 (Abb. 5) soll hier kurz vorgestellt werden. Vester et al. nennen ihre Zeichnungen „Raumbilder“ oder „Landkarten“, welche die empirisch „gefundenen Raumstrukturen“ in „stilisierter Form“ wiedergeben.13 Sie präsentieren die Sozialstruktur auf zweifache Weise: Das kleine Bild gibt die räumliche Anordnung der Milieus zueinander wieder, stellt sie als gesellschaftlichen Zusammenhang dar und geht damit über in ein Gesellschaftsbild. Das größere Bild erhält seinen Aufbau durch eine Ausrichtung entlang von zwei Achsen und nimmt damit die Unterscheidung in eine vertikale und eine horizontale Dimension auf. Es präsentiert die Sozialstruktur, wobei durch die Art der Darstellung die soziologisch konstruktiven Anteile betont werden. 12 Pierre Bourdieu: Sozialer Raum und „Klassen“. Leçon sur la leçon, Frankfurt a.M. 1985, S. 9. 13 Michael Vester, Peter von Oertzen, Heiko Geiling, Thomas Hermann, Dagmar Müller: Soziale Milieus im gesellschaftlichen Strukturwandel, Frankfurt a.M. 2001, S. 43.

Gesellschaftsbilder – die Grafik des Sozialen

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Die fünf exemplarisch vorgestellten Sozialstrukturbilder reichen in der Mehrzahl über eine bloße Veranschaulichung der Ergebnisse der Sozialstrukturanalyse hinaus. Sie transportieren eigene Botschaften, die sich aus der Art der grafischen Darstellung ergibt. Die „Bolte-Zwiebel“ und das Dahrendorf’sche Gehäuse stehen in einem Spannungsverhältnis zu den theoretischen Grundannahmen der Autoren. Für das Balkendiagramm von Scheuch gilt, dass es sich assoziativer Veranschaulichung weitgehend enthalten sollte. Bei den zwei Milieubildern hingegen Abb. 5: Die Milieus der alltäglichen Lebensführung im sozialen Raum wurde eine Präsentationswei- Westdeutschlands 1995. se ausgebildet, die für sich in Anspruch nehmen kann, qualifizierende und nicht lediglich quantifizierende Sozialstrukturbilder entworfen zu haben. Die Sozialstrukturbilder insgesamt haben zweifellos einen großen Anteil daran, dass eine topografische Auffassung der Gesellschaft entstanden ist und die Gesellschaft zunehmend als sozialer Raum gedacht und wahrgenommen wird. Sie – mitsamt der in ihnen enthaltenen impliziten Annahmen – haben fraglos viel zur gesellschaftlichen Selbstbeschreibung beigesteuert und die räumliche Vergegenwärtigung sozialer Beziehungen popularisiert. Dass die räumlichen „Gesellschaftsbilder“ auf eine so hohe Alltagsplausibilität treffen, hängt gewiss damit zusammen, dass die meisten sozialen Prozesse und Verhältnisse eine räumliche Qualität besitzen: Denn Menschen können sich „nicht einander nahe oder fern sein, ohne dass der Raum seine Form dazu hergibt“.14 14 Georg Simmel: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Bd. II, Frankfurt a.M. 1992, S. 687.

Werner Rammert

Die Macht der Datenmacher in der fragmentierten Wissensgesellschaft1 Die Macht der Daten und die Daten der Macht

Eine wunderbare Vermehrung der Daten findet in der gegenwärtigen Gesellschaft statt. Überall entstehen Daten, vielerorts werden sie gesichtet, gesammelt und sortiert, manche nur kurzfristig, manche für lange Zeit, immer mehr Daten ungewusst, einige offen und bewusst. Wenn Kunden, Klienten, Passanten oder Passagiere von den Daten wissen oder gar nur ihre Existenz ahnen, dann können Daten Macht über ihr Verhalten, Denken und Empfinden gewinnen. Warum wachsen die Sammlungen von Daten an? Welche Arten von Daten im privaten und öffentlichen Raum lassen sich finden? Zunächst haben diejenigen Aspekte zugenommen, welche die staatlichen Kontrollinstanzen interessieren, zum Beispiel jemanden eindeutig als Person zu identifizieren oder als Verdachtskategorie zu observieren. Nicht mehr nur das Gesicht, der Geburtsort, das Geburtsdatum, die Haarfarbe und die Körpergröße sind dem Passamt einen Eintrag wert, sondern es kommen – wie seit den jüngsten Erfahrungen mit US-amerikanischen Einwanderungsbehörden bekannt – Fingerabdrücke, digitalisierte Gesichtsvermessungen (Abb. 1) und weitere kodifizierbare Angaben hinzu. Eine Ausweitung solcher biometrischer Identifizierungsverfahren ist auch für den Zugang zu privaten Räumen, wie Firmen, Wohnanlagen oder gar Kraftfahrzeugen, und auch zu öffentlichen Räumen, wie Flughäfen, Bahnhöfen oder belebten Plätzen und Einkaufsstraßen, zu erwarten. Ein weiterer Grund für die Zunahme ist das Vordringen der wissenschaftlichen Daten in allen Bereichen des Lebens, nicht nur etwa in der medizinischen Praxis und im Krankenhaus, sondern auch im wachsenden Fitness- und Wellness-Sektor, wo das Wissen um, das Messen und Vergleichen von Blutfettwerten, Verbrennungswerten oder Kalorien alltäglich geworden ist. Hinzu kommt noch die rasante Entwicklung der Datentechnologien, sowohl der Erfassung,Verarbeitung und Übertragung als auch der Speicherung von Daten. Ein vierter Grund kann in der zunehmenden Freiheit des Einzelnen in modernen Gesellschaften und urbanisierten Räumen gesehen werden. Dort kann abweichendes und riskantes Verhalten kaum mehr durch die soziale Kontrolle der Nachbarn, der Kollegen und der Alltagsbegegnungen gesichert werden. Der erhöhte Grad an Unsicherheit,

1 Der Text basiert auf einer stark gekürzten Version des Vortrags „Die Macht der Datenmacher in der fragmentierten Wissensgesellschaft“, der auf Einladung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und ihrem Institut für Technikfolgenabschätzung auf der Jahreskonferenz „Vermessen, codiert, entschlüsselt? Potentiale und Risiken der zunehmenden Datenverfügbarkeit“ am 29. Mai 2006 in Wien gehalten wurde.

Die Macht der Datenmacher in der fragmentierten Wissensgesellschaft

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ob jeweils gewalttätiges Verhalten, kriminelle Handlungen oder gar Terrorakte und Amokläufe zu erwarten sind, steigert das Interesse an Sicherheits- und Überwachungstechnologien. Dies führt wiederum dazu, dass im Übermaß und nicht nur bei Verdacht, sondern in bloßer Vorsorglichkeit massenhaft Bilder und Daten vom Bewegungsverhalten viel zu vieler Personen und PKW aufgezeichnet werden. Ökonomische Zwänge, wie der gesteigerte Wettbewerb und das Abb. 1: Digitale Gesichtvermessung. beschleunigte Innovationstempo, fördern zusätzlich die vermehrte Erzeugung und Verwertung von Daten, zum Beispiel des Kaufverhaltens der Kundinnen über Kundenkarten oder des Bewegungs- und Lagerverhaltens von Kaufobjekten, die mit Funketiketten (RFID-Chips) bald besser kontrolliert werden können. Schließlich sorgt auch die zunehmende Individualisierung der Lebensläufe, dass die Einzelnen immer mehr persönliche Verantwortung für ihre Beschäftigung, ihre Weiterbildung, ihre Gesundheitssicherung und ihre Altersvorsorge tragen, also zu immer mehr Entscheidungen gezwungen sind, für die sie selber vermehrt Daten sammeln müssen. Im Gegenzug dazu wissen die Unternehmen, Kreditgeber und Versicherer sich ebenfalls immer mehr Daten von und über die Klienten und Kundinnen zu beschaffen. Sicherte in frühen Stammesgesellschaften das Totem die Identität im Familienverband (Abb. 2) und kamen die ersten Hochzivilisationen noch mit Kerbhölzern und Kugelschalen zum Sammeln von Daten aus, so ist in der heutigen Wissensgesellschaft eine Explosion von Dateien, Datenbanken und Bildarchiven zu registrieren. Es ist wohl offensichtlich, dass in modernen Gesellschaften viel mehr Daten als Dinge und Menschen existieren, da jedes Ding und jeder Mensch eine Vielfalt von Daten erzeugt und angeheftet bekommt. Was ist ein Datum? Um das zu verstehen, muss zurückgegangen werden zu deren Prozess und Funk­tion, um zu vergegenwärtigen wie Ereignisse und Eigenschaften in Daten verwandelt werden. Der vorliegende Text wurde zunächst als mündlicher Vortrag gegeben, war damals noch kein Datum, sondern begann im Präsenz von „dare“ (lat. geben). Die schriftliche Ankündigung mit Zeit- und Ortsangabe hat daraus ein Datum gemacht. Jetzt ist der Text schon Teil einer Sammlung von Daten, nämlich einer Datei für eine Zeitschrift.Weiter zurück in der Etymologie und Geschichte der Wort­ver­wendung, taucht das Wort Datum als etwas Gegebenes im Zusammenhang mit Schriften auf: Eine Schrift wird durch die Zugabe

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Abb. 2: Totempfahl mit figürlichen Darstellungen, in Miniatur, Herkunft Nordwestküste Nordamerikas, Makah (Nootka), H: 98 cm, ca. 1870, Privatsammlung Dr. Dietmar Müller.



des Tags der Ausstellung zu einem Datum.2 Damit wird sie Dokument, Zeugnis oder Urkunde. Der Kern des Datenmachens besteht darin, etwas Flüchtiges zu fixieren. Wenn heute von Daten gesprochen wird, dann sind damit die Informationen gemeint, die einem Merkmalsträger zugeordnet sind, beispielsweise einem Individuum (Passdaten), Organisationen (Personaldaten, Performance-Indikatoren) oder räumlichen Einheiten (Wirtschaftsdaten). Sie sind der Stoff der empirischen Forschung, sowohl der sozialwissenschaftlichen Datenanalyse als auch der naturwissenschaftlichen Labor- und Feldforschung. Wer macht die Daten zu welchen Zwecken? Nachdem geklärt worden ist, dass Daten nicht einfach gegeben sind, sondern dass Daten immer gemacht werden, taucht die Frage nach den Zwecken auf. Daten als fixierte Informationen stehen immer schon in einem Deutungs- und Verwendungskontext. Grundsätzlich werden Daten gemacht, um Kontrolle über etwas zu gewinnen, um etwa Dinge, Ereignisse oder Akteure in ihrem Verhalten zu beobachten und zu beeinflussen. Zwei wichtige institutionelle Kontexte sind dabei hervorzuheben, der Staat und die Wissenschaft. Es besteht nicht nur vom Wort her eine Verwandtschaft zwischen Staat und Statistik. Der moderne Nationalstaat entstand Ende des 18. Jahrhunderts als eine neue Form des Regierens über eine territorial abgegrenzte Bevölkerung, über die er im Unterschied zu vorherigen feudalen Lehensund aristokratischen Klientelformen der Herrschaft mehr Wissen besitzen musste. Das Volk und das Land wurden zu Merkmalsträgern, die nicht nur gezählt (Volkszählung), sondern auch nach anderen Merkmalen erfasst, registriert und vermessen werden mussten (Alter, Geschlecht, Wanderung, Reproduktion, Tauglichkeit, Religionszugehörigkeit, Erwerb, Einkommen usw.). Das Volk wird zur statistischen Population. Staaten benötigen immer mehr Daten, anfangs

2 Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch.

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mit Hilfe der Polizey-Wissenschaft und Statistik,3 jetzt mit Mitteln der Demografie, des sozioökonomischen Panels (Mikrozensus) und anderen Methoden der Sozialwissenschaften erzeugt, um Menschen und Dinge registrieren und regieren zu können. Die modernen Wissenschaften sind eine wesentliche Quelle und ein wichtiger Verwerter von Daten. Es geht ihnen um das Fixieren vielfältiger Dinge und flüchtiger Phänomene, die durch Beobachten, Beschreiben, Sammeln und Klassifizieren in wissenschaftliche Daten und methodisch kontrollierte Fakten verwandelt werden.4 Neuerdings rückt das gezielte Erzeugen von Daten im Labor, im Forschungsfeld oder in der Computersimulation in den Vordergrund. Wissenschaften bestehen aus allen drei Momenten, den theoretischen Diskursen der Deutung von Daten, den empirischen und experimentellen Methoden der Datenerzeugung und den wachsenden geordneten Archiven mit Daten, seien es gesammelte Gegenstände, Bilder, Zahlen oder Tonaufzeichnungen.5 Moderne Wissenschaften benötigen Daten, um die Gegenstände ihrer jeweiligen Disziplin zu konstituieren und zu kontrollieren. Nach diesen allgemeinen Bemerkungen zu Herkunft und Funktion von Daten rückt die Frage in den Mittelpunkt, ob in der gegenwärtigen Situation ein signifikanter Wandel der Datenproduktion und der dazugehörigen Kontrollmacht festzustellen ist. Drei wichtige Veränderungen, die auf einen qualitativen Wandel hindeuten, sind hervorzuheben: Sie betreffen die Datenmacher, die Datentechnologie und die Art des Kontrollregimes. Die Vermehrung der Daten war als ein offensichtlicher Trend schon erkannt worden. Er kann aber nicht allein für einen qualitativen Wandel verantwortlich gemacht werden. Es ist die Vervielfältigung der Datenmacher, welche die Situation radikal verändert. Waren es früher im Wesentlichen der Staat

3 Siehe ausführlich Michel Foucault: Geschichte der Gouvernementalität I: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung, Frankfurt a.M. 2004; zu den Staatstabellen auch: Barbara Segelken: Staatsordnung im Bild der Tabelle am Beispiel von Friedrich Anton von Heinitz, in: Bildwelten 3.1: Diagramme und bildtextile Ordnungen, Berlin 2005, S. 34–47. 4 Zur Verwandlung von Wunderdingen in wissenschaftliche Fakten siehe Lorraine Daston: Hard Facts. In: Bruno Latour und Peter Weibel (Hg.): Making Things Public. Atmospheres of Democracy, Cambridge, MA 2005, S. 680–83, zur Kunstkammer siehe Horst Bredekamp: Antikensehnsucht und Maschinenglauben. Die Geschichte der Kunstkammer und die Zukunft der Kunstgeschichte. 2. Aufl., Berlin 2000. 5 Ein medieninnovatives Beispiel für die auf Sammlung und Präsentation von Ton- und Bild­dateien im Internet beruhende Wissenschaftsgeschichtsschreibung ist Timothy Lenoirs Projekt „How They Got Game“ zur Geschichte der Simulation und interaktiven Medien. http://htgg.stanford.edu/ (Stand 6/2007).

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und seine Behörden und dann in Nachahmung der Bürokratie auch die Großunternehmen, die Daten sammelten und verwerteten, so scheint sich das Erzeugen und Doku­men­tieren von Daten gegenwärtig auf alle Bereiche und sozialen Kreise auszuweiten. Einkaufsläden, Versicherer, Wachschutzdienste, Weight-Watchers, Data Miners, Internetnutzer, Fernsehsender, Evaluations­agenturen und zahllose andere haben sich hinzugesellt. Das weitgehende staatliche Datenmonopol wird dadurch vielfältig aufgebrochen und vielerorts unterlaufen. Die These von der „Macht des Computers“ als Symbol für die avancierte Datentechnologie und der Ohnmacht der Menschen und der menschlichen Vernunft, auf die Joseph Weizenbaum mit seinem Buchtitel anspielt,6 ist in dieser Einfachheit nicht mehr aufrechtzuerhalten. Die Wirkungen immens gesteigerter Potenziale von Datentechnologie sind falsch verstanden, wenn von einer geradlinigen, einseitigen und konzentrierten Steigerung der Macht durch Technikapparate und intelligente Softwareprogramme ausgegangen würde. Vielmehr scheint sich mit den neuen Technologien ein Wandel zu verzweigten, interaktiven und verteilten Aktivitäten von Maschinen, Medien und Programmen zu ergeben. Eine instrumentelle Sicht auf Technik und Großtechnik trifft angesichts dieser neuen Qualitäten nicht mehr den Kern der Sache. Sie hat dann der feineren Technografie von auf Menschen, Maschinen und Programme verteilten Aktivitäten und Interaktivitäten zu weichen.7 Dieser veränderten Konstellation entspricht auch ein dritter fundamentaler Wandel: Eine Zentralisierung und Monopolisierung der Kontrollmacht, wie sie immer wieder vorausgesagt und befürchtet wurde – beispielsweise in George Orwells Buch 1984 und anderen negativen Utopien einer totalen Manipulation oder eines allgegenwärtigen Überwachungsstaats –, ist nicht eingetreten; vielmehr haben sich vielfältige, voneinander abgegrenzte, sich teilweise überschneidende Kontrollregimes nebeneinander im gesellschaftlichen Raum herausgebildet. Der Wandel der Datenproduktion: Spezialisierung und Fragmentierung

Auf die wesentlichen Merkmale zugespitzt, lassen sich die Veränderungen der Datenproduktion von der Industrie- zur Wissensgesellschaft folgendermaßen

6 Siehe Joseph Weizenbaum: Die Macht der Computer und die Ohnmacht der Vernunft, Frankfurt a.M. 1977. 7 Siehe dazu Werner Rammert: Technik in Aktion: Verteiltes Handeln in soziotechnischen Konstellationen. In: Ders., Cornelius Schubert (Hg.): Technografie. Zur Mikrosoziologie der Technik, Frankfurt a.M. 2006, S. 163–195.

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zusammenfassen. Die industrielle Gesellschaft benötigte aufgrund ihrer Massenproduktion und der damit einhergehenden funktionalen Spezialisierung der Arbeiten, der organisatorischen Einheiten und der Kompetenzen ebenfalls zur Steuerung und Kontrolle zuneh- Abb. 3: Masse der Daten: Technisierung (EDV) und Datenbanken. mend eine größere Menge von Daten: Lohndaten, Personaldaten, Produktionsdaten, Materialdaten, Warendaten, Marktdaten usw. Die industrielle Bürokratie bildete sich um diese jeweiligen Spezialdaten herum heraus. Die erste Reaktion auf diese beginnende Massenproduktion von Daten war in Analogie zur Warenproduktion eine starke Technisierung der betrieblichen Datenverarbeitung. Die elektronische Datenverarbeitung (EDV) und später dann die Datenbanken (Abb. 3), in denen immer mehr Daten und Bilder archiviert wurden, hielten ihren Einzug in die Betriebe. Neben dieser Tendenz zur Massen­daten­ver­arbeitung kenn­zeich­net eine fortschreitende Spezialisierung der Daten die anfängliche Situation. Mit der Verwissenschaftlichung vieler Bereiche hält die Differenzierung der wissenschaftlichen Disziplinen und der Fachexpertenkulturen ihren Einzug. Mit der darauf folgenden Informatisierung der Datenverarbeitung wird diese Spezialisierung noch gesteigert. Aber die unbeabsichtigten Folgen dieser beschleunigten Spezialisierung lassen diese Tendenz schnell an Grenzen effektiver Datennutzung stoßen, die sich in Krisen der EDV, der Kompatibilität der Systeme bis hin zu Grenzen künstlicher Intelligenz bei Expertensystemen zeigten.8 Das Modell räumlich konzentrierter und spezialisierter Datenverarbeitung wird durch neue Modelle abgelöst. Drei Aspekte verdienen, hervorgehoben zu werden: Erstens, die Mobilisierung der Daten durch das Netz bricht mit der räumlichen Zentralität und erlaubt dezentrale Datenverarbeitung. Die „Datenautobahn“ des Internet, die Kabelnetze, die Mobilfunknetze und das Satellitenfunknetz (GPS) ermöglichen Datenbewegungen an vielen Orten und parallele Verarbeitungen verschiedener Datenformate. Zweitens, die Aktivierung der Daten ist die wohl ungewöhnlichs

8 Siehe Werner Rammert, Michael Schlese, Gerald Wagner, Josef Wehner und Rüdiger Weingarten: Wissensmaschinen. Soziale Konstruktion eines technischen Mediums, Frankfurt a.M. 1998.

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te Veränderung. Durch die agenten-orientierte Programmiertechnik werden Daten nicht nur Informationen in Interpretations- und Verrechnungskontexten, sondern sie werden zu Agenten, die im Auftrag handeln können und etwas auslösen und bewirken. Solche Software-Programme können wie „Heinzel­männchen“ Abb. 4: Fragmentierung der Daten: Ubiquitious Computing. im Hintergrund fleißig und arbeitsteilig Aufgaben erledigen, zum Beispiel selbst wiederum Daten pro­du­zie­ren, diese und andere Daten verarbeiten und sie dann dem menschlichen Nutzer – wie ein beauftragter Assistent – übermitteln.9 Sie können die Daten des menschlichen Nutzers dabei auch sammeln und auswerten und damit selbst auch einen gewissen Einfluss und Druck auf ihn und sein Verhalten ausüben. Daten können also zu wirkungsvollen Agenten werden, und diese Agenten können selbst wiederum zu Datenmachern mutieren, wenn sie denn so programmiert werden und ihr relativ autonomes Agieren auch so akzeptiert wird. Drittens ist eine zunehmende Fragmentierung der Datenwelt zu beobachten (Abb. 4). Texte, Bücher, Bilderwelten oder Nachrichten, Zeitungen und Archive können immer noch einmal in Teilstücke zerlegt und neu zusammengefügt werden. Das Zappen zwischen Bildern und Programmen, das Montieren von Sätzen und Texten, das Mischen von Objekten und Daten setzt sich als eine neue Form der Datenproduktion, Datenpräsentation oder Datenverwertung durch, obgleich diese Techniken im Film, in der Musik und in der Malerei schon vorher experimentell erprobt worden sind. Digitalisierung und Virtualisierung der Daten erlauben jetzt eine ungeahnte Steigerung des neuen Umgangs mit Datenfragmenten. In den Wissenschaften zeigt sich diese fragmentale Differenzierung zugleich in einer regeren Vermischung der zu Lehrmodulen gestückelten und zu gemischten Forschungsclustern zusammengefügten vorher fein spezialisierten Disziplinen. Hybride Systeme nehmen zunehmend Gestalt an, als Objekte aus Ding und Datum (smart objects) und als Systeme aus menschlichen Akteuren und Softwareagenten (Sozionik). Die Tendenzen der Mobilisierung, Akti

9 Siehe dazu meinen Beitrag „Giddens und die Gesellschaft der Heinzelmännchen. Zur Soziologie technischer Agenten und Verteilter künstlicher Intelligenz. In: Thomas Malsch (Hg.): Sozionik. Soziologische Ansichten über künstliche Sozialität, Berlin 1998, S. 91–128.

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vierung, Fragmentierung und Vermischung lassen sich besonders gut auf den Technologiefeldern der eingebetteten Computersysteme (Embedded Systems), des allgegenwärtigen Computereinsatzes (Ubiquitious Computing) oder der intelligenten Umwelt (Ambient Intelligence) beobachten, die auf den Feldern der Gesundheits-, Verkehrs- und Verkaufskontrolle gegenwärtig mächtig vorangetrieben werden. Der Wandel der Kontrolle: Von zentraler Verfügungsmacht zum verteilten Kontrollregime

Von den vielen Formen, wie Macht über andere ausgeübt werden kann, seien nur zwei herausgegriffen: die Daten setzende Macht und die autoritative Macht.10 In welchem Zusammenhang stehen sie mit den Veränderungen der Datenproduktion? Wer Daten setzen kann in Form von Objekten, nicht nur mit physischen Objekten wie Schranken, Architekturen oder Verkehrsverbindungen, sondern auch mit Zeichenobjekten wie Warnhinweisen, Werbebildern oder Computerprogrammen, der verändert damit die Situation der Betroffenen durch die Artefakte.11 Es handelt sich um eine durch Objekte vermittelte Macht. Wer Daten über andere erhebt, sammelt und aufzeichnet, baut ein Archiv auf. Die Produktion von Daten und vor allem die Verfügung über die Archive von Daten schaffen eine der Produktion und Verfügung über Waren analoge Machtressource. Ein Beispiel für die Daten setzende Macht durch Architektur ist der panoptische Gefängnisentwurf von Jeremy Bentham: Eine Person kann von zentraler Position aus alle Insassen sehen, ohne selbst gesehen werden zu können (Abb. 5). Mit diesem Modell des Panoptikums wird in vielen kritischen Schriften die Zentralmacht des Daten setzenden Staates und die allgegenwärtige Kontrolle durch den Überwachungsstaat verglichen, wo auch die Bürger durch Erheben, Observieren, heimliches Abhören, Fotografieren, Videokameras und die Rasterfahndung einseitig beobachtet werden, ohne dass sie selbst das beobachten können. Bei aller Kritik an einzelnen, über­zo­ge­nen Überwachungspolitiken kann nicht mehr behauptet werden, dass dieses Modell des panoptischen Blicks für die meisten der gegenwärtigen 10 Siehe Heinz Popitz: Phänomene der Macht, 2. erw. Aufl., Tübingen 1992. 11 Siehe auch die Macht der Dinge und Zeichen als Aktanten am Beispiel einer Bodenschwelle („schlafender Polizist“) oder eines Warnschildes mit einem Polizisten bei Bruno Latour: Über technische Vermittlung: Philosophie, Soziologie, Genealogie. In: Werner Rammert (Hg.): Technik und Sozialtheorie, Frankfurt a.M. 1998, S. 42ff.

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Gesellschaften noch Geltung hat. Ein zentrales Archiv besteht nicht, sondern die Dateien haben sich vervielfacht, sind auf viele staatliche und auch private Datenakteure verteilt und sind zum größten Teil auch nicht problemlos zusammenzuführen. Statt von einer zentralisierten VerfügungsAbb. 5: Jeremy Bentham: Entwurf eines Panoptikums für ein macht kann von einer fragmentierGefängnis, 1791. ten Kontrolle der Datenproduktion gesprochen werden (Abb. 6). Daten haben ohne Deutung keine Bedeutung. Erst durch diese werden sie zu wissenschaftlichen Tatsachen oder juristischen Tatbeständen. Die autoritative Macht der Daten besteht also darin, dass sie durch die freiwillige Anerkennung der wissenschaftlichen oder juristischen Maßstäbe eine Veränderung des Verhaltens der Betroffenen bewirken. Die Konformität mit den Normen aus Einsicht oder auch Gewöhnung ist eine normierende Macht. Das Zählen, Indizieren, Sortieren, Auswerten oder Rastern von Daten verändert heute die Dispositive der Deutung: Die Legitimität funktionaler Felder, wie wissenschaftlicher Forschung, juristischer Rechtsprechung, wirtschaftlicher Produktion, journalistischer Information, verliert ihre einfache Anerkennung. Mit zunehmender Datenproduktion und verfeinerter fragmentierter Datenauswertung gewinnen gemischte Indikatoren statt klarer Maßstäbe und gemischte Konstellationen von institutionellen Akteuren an Deutungs- und Bewertungsmacht. Dank der Datentechnologie und der Fragmentierung gewinnen Dutzende von Evaluationsindikatoren, Daten der Performanz und Quoten Einfluss auf die Qualitätsbestimmung von Wissenschaft, Wirtschaft und Medien. Statt der begründeten Normen gewinnt häufig die „Normalität“12 des über Daten vermittelten Normalverhaltens die Deutungshoheit. In der Zusammenfassung der Überlegungen zeigt sich ein markanter Wandel weg von einer zentralen Datenmacht hin zu vermischten Konstellationen. Nicht mehr der Staat allein kann als legitimer und zentraler Datenmacher firmieren; eine Vielzahl anderer Instanzen hat sich etabliert, und die Domänen der Datenproduktion haben sich fragmentiert. Die disziplinären Wissenschaften gelten nicht 12 Siehe Jürgen Link: Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird, 2. erw. Aufl., Wiesbaden 1998.

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Abb. 6: Verteilte Perspektiven bei Videokontrolle.

mehr als einzige kompetente Datenmacher und Datendeuter, sondern gemischte Expertenkulturen und kombinierte Forschungscluster gewinnen an Gewicht. Wenn es je ein zentrales Kontrollregime für längere Zeit gegeben haben sollte, jetzt ist auf jeden Fall ein Regime verteilter Kontrolle zu diagnostizieren. Statt einer Makrosicht auf die panoptische Kontrolle und die Überwachungsgesellschaft ist daher vielmehr eine differenzielle Mikrosoziologie der Datenmacht nötig. Als Folgerung für die politische Gestaltung gilt es daher, auf den verschiedenen Anwendungsdomänen der Datentechnologie die „Beobachterordnungen“13 nicht zu asymmetrisch sich entwickeln zu lassen und vor allen Dingen für eine Balance in den Machtkonstellationen zu kämpfen, die über den einfachen, passiven Datenschutz hinausgeht, sondern die Produktion, das Design und die Deutung von Daten zum Gegenstand hat. 13 Siehe dazu meinen Beitrag „Gestörter Blickwechsel durch Videoüberwachung? Ambivalenzen und Asymmetrien soziotechnischer Beobachterordnungen“. In: Leon Hempel und Jörg Metelmann (Hg.): Bild – Raum – Kontrolle. Videoüberwachung als Zeichen gesellschaftlichen Wandels, Frankfurt a.M. 2005, S. 342–59.

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Aufteilen der Räume. Perspektiven auf und mit einem Dokumentarvideo in der Kunst Künstlerische und dokumentarische Darstellungsmodi klar voneinander zu trennen, ist ein wenig Erfolg versprechendes Unterfangen. Dies macht nicht nur die neuere Filmtheorie deutlich, sondern auch ein Blick auf die Kunstpraxis der letzten Jahrzehnte.1 Dass dem Dokumentarischen dennoch Objektivität zugeschrieben wird und der Kunst Ästhetik und Fiktion, liegt nicht in ihrem ‚Wesen‘ begründet, sondern ist das überaus hartnäckige Resultat historischer, kulturpolitischer Übereinkünfte.2 Selbst jene Praxis, die auf den ersten Blick dieses Vorurteil zu überwinden scheint – der sogenannte documentary turn der Gegenwartskunst –, basiert häufig auf der Vorstellung von zwei gegensätzlichen Bereichen. Dies zeigt sich etwa in der Rhetorik, dass erst das bewusst inszenierte Zusammentreffen der vermeintlich streng getrennten Darstellungsmodi beide „repräsentativen Regime“3 aufzubrechen vermag. Aus dieser Perspektive stellt sich die ‚politische Wirksamkeit‘ dokumentarischer Kunst auf doppelte Weise dar: sowohl im Sinn des Öffnens der elitären Grenzen der Kunst durch die unmittelbare Verbindung zum sozialen ‚Außen‘, als auch im Sinn des Überwindens des dokumentarischen Determinismus und Voyeurismus durch künstlerische Formexperimente. Solche avancierten Ansätze übersehen jedoch, dass sich Dokumentarismus und Kunst auch auf eine affirmative Weise überlagern und bestehende hegemoniale Ordnungen reproduzieren können.4 Dies gilt insbesondere für die Präsentation im white cube, in welchem auch dokumentarische Arbeiten konventionelle werkästhetische Diskurse potenziell aktualisieren.5 Von den symbolischen und ökonomischen Werten der künstlerisch-dokumentarischen ‚Werke‘ profitieren dabei erneut nur die traditionellen Machtinstanzen der Kunstinstitution (KünstlerInnen, Kunstpublikum, KuratorInnen, etc.), wäh





1 Vgl. Heinz-B. Heller: Dokumentarfilm als transitorisches Genre. In: Ursula von Keitz, Kay Hoffmann (Hg.): Die Einübung des dokumentarischen Blicks, Marburg 2001, 15–26. Im Kunstbereich zeigen dies Arbeiten von Walker Evans, Marta Rosler, Nan Goldin sowie die Vielzahl dokumentarischer Positionen bei der Documenta 11 (Kassel 2002). 2 Vgl. Gerhard Plumpe: Der tote Blick, München 1990. 3 Vgl. Jacques Rancière: Die Aufteilung des Sinnlichen, Berlin 2006, S. 37 sowie die Begriffserläuterung in der Einleitung des Buches von Maria Muhle, S. 10. 4 Vgl. etwa die Ausführungen in den Sammelbänden Vit Havránek, Sabine Schaschl-Cooper, Bettina Steinbrügge (Hg.): The Need to Document, Zürich 2005; Frits Gierstberg u. a. (Hg.): Documentary Now! Contemporary strategies in photography, film and the visual arts, Rotterdam 2005; sowie Ursula Biemann (Hg.): Stuff it! The video essay in the digital age, Zürich/ Wien/New York 2003. 5 Vgl. Boris Groys: Kunst im Zeitalter der Demokratie. In: Bice Curiger (Hg.): Public Affaires. Von Beuys bis Zittel – Das Öffentliche in der Kunst, Ausst. Kat., Zürich 2002, S. 5–11.

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Abb. 1: Installationsansicht des Projekts „Un problème non résolu “ in der Ausstellung „Work on Strike“, Barcelona 2004/05.

rend der sozial-politische Inhalt der Arbeiten, zu dem auch die repräsentierten Personen zählen, als ‚körperliches, echtes Leben‘ festgeschrieben wird. In einem durchaus zynischen Sinn legitimieren folglich genau diejenigen die wertsteigernde, politische Anmutung der Arbeiten, die als ‚authentisches Außen‘ von einer aktiven Teilhabe am Kunstsystem ausgeschlossen sind. Diese Schein-Integration verschleiert nicht nur die tatsächlichen Gewaltstrukturen der Kunstinstitu­tion, sondern verhindert außerdem eine selbst-kritische Reflexion des ethischen Regimes der Kunst. Um diesem Dilemma zu entgehen, ohne erneut einer ‚reinen Kunst‘ das Wort zu reden, ist es notwendig, den Fokus auf die pragmatische Wahrnehmungssituation im Kunstfeld zu richten und die spezifischen Hegemonien anhand konkreter Arbeiten zu untersuchen. Der folgende Text spürt dementsprechend den komplexen Beziehungen zwischen ProduzentInnen, BetrachterInnen und Repräsentierten nach, die in den symbolischen und realen Räumen sowohl der ‚Kunst‘ als auch des ‚Dokumentarischen‘ stattfinden. Das Politische ist aus dieser Perspektive kaum mehr als eine intentionale Entscheidung der KünstlerIn zu verstehen, als eine bewusst inszenierte, avancierte Form, welche durch die BetrachterInnen vollständig erfasst werden kann, sondern es wird selbst zu einer möglichen, relativen Perspektive innerhalb der repräsentationalen Gemeinschaft.

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Dieser Ansatz wird im Folgenden anhand einer mehrstufigen Analyse des Dokumentarvideos HotWater – de l´eau chaude6 anschaulich gemacht. Die feministische Wahrheit von Hot Water

Das Video Hot Water der Künstlerin Alejandra Riera ist Teil ihres unabgeschlossenen Projekts Un problème non résolu und wird als solches ausschließlich in Kombination mit einer Vielzahl an fotografischen und videografischen Materialien sowie diversen Textsorten präsentiert (Abb. 1).7 In diesem heterogenen Zusammenhang zeigt Hot Water eine Protestaktion für bessere Wohnbedingungen in einem Kohle-Abbau-Gebiet in Nordfrankreich. Der Ablauf wirkt dabei wie ein wohl überlegter, narrativer Spannungsbogen: Während zahlreiche DemonstrantInnen die Wohnungsvergabestelle des Sozialamts besetzen, verhandeln VertreterInnen einer NGO mit dem Direktor der Behörde. Da sie jedoch keine unmittelbaren Resultate erzielen, beschließt eine der demonstrierenden Frauen, Nathalie, selbst den Direktor mit ihrem Anliegen zu konfrontieren. Sie wird dabei von den restlichen DemonstrantInnen unterstützt, scheitert aber ebenso. Im Epilog erfahren die ZuschauerInnen schließlich, dass sie – im Gegensatz zu den anderen – doch eine neue Wohnung bekommen hat. Trotz der fiktional anmutenden Dramaturgie, die am Ende sogar eine Heldinnenfigur einführt, besteht während des gesamten Videos niemals Zweifel an seinem dokumentarischen Charakter. Ausschlaggebend dafür ist der Einsatz von Authentisierungsstrategien des direct,8 wie etwa einer wackeligen Kamera­führung, unge





6 Alejandra Riera: „Hot Water – de l´eau chaude“, vidéo d´intervention, 32 min.,Video, Schwarzweiß, Frankreich 2001. Fragmentarische Auszüge der 3. maquette-sans-qualité: Un problème non résolu, vue partielles, (diskontinuierliche Gebrauchsanordnungen von Fotografien, Bildlegenden, Texten, Videodokumenten und praktischen Erzählungen) initiiert 1995 durch Alejandra Riera. Eine vergleichbare Besprechung des Videos findet sich in Angelika Bartl: Politische Subjektivität. Feministische Perspektiven im Dokumentarischen am Beispiel von „Hot Water – de l´eau chaude“. In: Graduiertenkolleg ‚Identität und Differenz‘ (Hg.): Ethnizität und Geschlecht. (Post-)Koloniale Verhandlungen in Geschichte, Kunst und Medien, Köln/Weimar/ Wien 2005, S. 352–370. 7 Die modellhaften Präsentationsdisplays nennt Riera „maquettes-sans-qualité“. Sie waren zuletzt in der Ausstellung „Travail en Grève – Work on Strike“ in der Fundació Antoni Tàpies, Barcelona (2004/05) zu sehen. Alejandra Riera, Fundació Antoni Tàpies (Hg.): maquetas-sin-cualidad. Ausst. Kat., Barcelona 2006. 8 Entwickelt wurden diese im „Direct Cinema“ und „Cinéma Vérité“ Anfang der 1960er Jahre. Vgl. Charles Musser: Grenzverschiebungen. In: Geoffry Nowell-Smith (Hg.): Geschichte des Internationalen Films. Stuttgart/Weimar 1998, S. 481.

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wöhnlich langen Ein­stellungen und einer streng chro­n o­l o­g i­ schen Narration.9 Darüber hinaus naturalisiert auch Nathalies emotionsgeladenes Aktiv­werden den ‚Übergang vom Besonderen zum Allgemeinen‘ und verstärkt auf diesem fiktionalisierenden Umweg ebenfalls die ‚Wahrheit‘ Abb. 2: Monitoransicht mit einem Still des ersten Teils von „Hot Water, – de l’eau chaude“, Alejandra Riera, 2001. des Films. 10 Doch was ist die ‚Wahrheit‘ von HotWater? Eine mögliche Antwort bietet die Ähnlichkeit des Videos zu linken Dokumentarfilmen der 1960er und 1970er Jahre.11 Diese Ähnlichkeit entsteht nicht nur durch die Schwarz-Weiß-Ästhetik und das ‚Protest‘-Thema, sondern sie basiert wesentlich auch auf der spezifischen Inszenierung von Kollektivität im Sinn der 68er-Bewegung im ersten Teil von HotWater. So sind nach einem kurzen Blick in die aufgebrachte Menge während der gesamten ersten 17 Minuten Nahaufnahmen der DemonstrantInnen zu sehen, wobei vor allem zwei Frauen, Aïcha und Fatima, selbstbewusst und frontal in die Kamera sprechen, das aktuelle Wohnungsproblem erläutern und bessere Unterkünfte einfordern (Abb. 2). Immer wieder ergreifen sie das Wort für Abwesende oder bestärken sich gegenseitig. Die Kamera folgt dabei stets den jeweils Sprechenden, wodurch der Eindruck von Zusammengehörigkeit und Einheit auch auf die filmende Künstlerin übergeht. Dieser Eindruck wird zusätzlich durch mehrere emphatische Zwischenrufe von Riera unterstützt. Durch die Rhetorik des ‚unmittelbaren Realitätserlebens‘ überträgt Hot Water darüber hinaus auch die Kollektivität im Video auf die Rezeption vor dem Video, wobei die BetrachterInnen insbesondere aufgrund der Nahaufnahmen in ein identifikatorisches Verhältnis mit dem dokumentierten Kollektiv gebracht werden.12

9 Vgl. Mo Beyerle: Authentisierungsstrategien im Dokumentarfilm: das amerikanische direct cinema der 60er Jahre, Trier 1997. 10 Jean-Louis Comolli: Der Umweg über das direct. [1969] in: Eva Hohenberger (Hg.): Bilder des Wirklichen, Berlin 1998, S. 244–246. 11 Ein Beispiel dafür ist die „Newsreel“-Bewegung in den USA. Vgl. Musser (s. Anm. 8), S. 484f; sowie Wilhelm Roth: Der Dokumentarfilm seit 1960, München/Luzern 1982, S. 91–95. 12 Vgl. Elizabeth Cowie: The Spectacle of Actuality. In: Jane M. Gaines, Michael Renov (Hg.): Collecting Visible Evidence, Minneapolis/London 1999, S. 31.

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Bis auf wenige Ausnahmen besteht dieses umfassende Protestkollektiv aus Frauen. Das Video greift damit die „political aesthetics“ des feministischen Dokumentarfilms der 1970er Jahre auf, welcher die sexistischen Weiblichkeitsstereotype der Medien und des Hollywoodkinos durch ‚wahre‘ Frauenbilder ersetzt und ein kollektives feministisches Bewusstsein konstituieren wollte. Die Filmtheoretikerin Julia Lesage beschreibt dies prägnant als Widerspiegelung der politischen Gruppenstruktur in den Filmen: „The structure of the consciousness-raising group becomes the deep structure repeated over and over again.“13 Die ‚Wahrheit‘ von HotWater scheint folglich die feministische Gruppenidentität des SecondWave-Feminism zu sein. Die Vorstellung, dokumentarische Filme könnten die ‚wahre Weiblichkeit‘ wie durch ein Fenster sichtbar machen, wurde allerdings bereits Mitte der 1970er Jahre in Frage gestellt. Vor allem poststrukturalistisch inspirierte, feministische Filmtheoretikerinnen formulierten eine scharfe Kritik an dieser Annahme. So stellt etwa Claire Johnston fest: „It is idealist mystification to believe that ‘truth’ can be captured by the camera or that the conditions of a film’s production (e.g. a film made collectively by women) can of itself reflect the conditions of its production. […] What the camera in fact grasps is the ‘natural’ world of the dominant ideology.“14 Neben dieser medienkritischen Perspektive steht seit den 1980er Jahren auch die geschlechterdichotome Logik des Second-Wave-Feminism im Fokus feministischer Kritik. Insbesondere die sogenannten Feminists of Color wiesen darauf hin, dass der Idee der ‚global sisterhood‘ eine westliche, heterosexuelle, bürgerliche Norm zugrunde liegt, welche gewaltvolle ethnische, sexuelle und soziale Ausschlüsse reproduziert.15 Darüber hinaus wurde deutlich, dass eine derart essenzialisierte ‚Weiblichkeit‘ immer einer hegemonialen ‚Männlichkeit‘ untergeordnet bleibt und damit die binäre Geschlechterordnung affirmiert.16 Die dokumentarische Repräsentation einer ‚feministischen Wahrheit‘, wie sie in Hot Water inszeniert wird, ist folglich sowohl aus repräsentationskritischer als 13 Julia Lesage: The Political Aesthetics of the Feminist Documentary Film [1978]. In: Patricia Erens: Issues in Feminist Film Criticism, Bloomington/Indianapolis 1990, S. 235. 14 Claire Johnston: Women’s Cinema as Counter Cinema [1973]. In: Sue Thornham (Hg.): Feminist Film Theory, Edinburgh 1999, S. 36f. 15 Für den filmwissenschaftlichen Bereich vgl. bell hooks: Black Looks: Race and Representation, London 1992. 16 Zugespitzt artikulierte dies Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a.M. 1991.

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auch aus identitätskritischer Sicht problematisch. Während aber die Frauen im Video noch zumindest eine momentane und lokale Interessensgruppe formieren, sind die BetrachterInnen selbst weit von dieser ‚Realität‘ entfernt und – genauso wie die Filmemacherin – keineswegs von der gemeinsamen Wohnungsproblematik betroffen. Der übergreifende Kollektivraum von Hot Water wird daher selbst auf einer strategischen Ebene nicht eingelöst. Die fragwürdige identitätspolitische Nützlichkeit einer intendierten Vorführung des Videodokuments in Frauengruppen wird zudem verfehlt, sobald das Video im Kunstkontext gezeigt wird. In diesem Fall (re)produziert es vielmehr die romantische Vorstellung einer organischen Verbindung von Kunst und sozialer Lebenswirklichkeit, 17 welche die tatsächlichen kulturellen und ökonomischen Verhältnisse des Kunstbetriebs verschleiert, in welchem die repräsentierten Frauen kaum über Machtpositionen verfügen. Trennen des Kunstraums

Diese Feststellung muss jedoch ein Zwischenergebnis bleiben, denn bereits im ersten Teil erzeugen einige formale Elemente auch eine Differenzierung der repräsentatorischen Räume. So erscheinen während der gesamten 17 Minuten immer wieder die gleichen Frauen, die in gleichbleibend offensiver Weise die Behörde anklagen. Der repetitive Charakter dieser Sequenz wird durch mehrere schwarze Blenden verstärkt, welche die Reden der Frauen unterbrechen und damit einen narrativen Fortschritt ankündigen, der jedoch stets enttäuscht wird. Es scheint daher, als reproduziere das Video einen Film-Loop, welcher das illusionistische Vergnügen, zu sehen und zu wissen,18 weitgehend unterbindet. Darüber hinaus werden die Reden der Frauen im Laufe des Videos zunehmend aggressiv, sodass schließlich der Eindruck entsteht, als richte sich ihre Wut direkt gegen das Publikum. Während die Filmemacherin in dieser Situation noch entschuldigend ihre Solidarität beteuern kann („il faut de l´eau chaude, moi ça ne me fait pas rire“19), ist eine solche Reaktion für das Kunstpublikum weder möglich noch wahrscheinlich. Da die RezipientInnen allein durch das zunehmend sperrige Medium Film mit dem Geschehen verbunden sind, liegt vielmehr nahe, dass sie die Identifika­ tions­ebene verlassen und zum filmischen Geschehen in Distanz treten. 17 Hito Steyerl: Politik der Wahrheit. In: springerin 3 (2003), S. 19. 18 Dazu exemplarisch Bill Nichols: Representing Reality, Bloomington 1991, S. 31, 178ff; sowie Cowie (s. Anm. 12).

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Im Sinn der Apparatuskritik der 1970er Jahre sind diese Maßnahmen als Brecht’sche Verfremdungseffekte zu verstehen, welche die ZuschauerInnen auf ihre passive Rezeptionshaltung aufmerksam machen und jenseits des illusioAbb. 3: Teilansicht der 3. maquette-sans-qualité in der Ausstellung „Work on Strike“, Barcelona 2004/05. Die Projektion von „Hot Water“ nären Verhaftetseins im filmischen befindet sich rechts im Bild. Realismus ein konkretes politisches Bewusstsein bewirken sollen.20 Für Hot Water würde dies gleichsam eine ‚Befreiung‘ des Publikums aus der Identifikation mit dem feministischen Kollektiv bedeuten sowie zugleich die bewusste Kritik an der medialen und sozialen Herstellung der Frauen als ‚Opfer‘. Eine solche Übertragung vernachlässigt allerdings die Tatsache, dass der eigentliche Bezugspunkt der Apparatuskritik das Dispositiv Kino ist, wo derartige Verfremdungseffekte tatsächlich die passive Immobilität des Publikums verdeutlichen. Im Ausstellungsraum bewegen sich jedoch die BesucherInnen zumeist frei von einer künstlerischen Arbeit zur anderen, und es ist gerade die Materia­ li­tät und Medien-Reflexivität der Werke, die einen lustvollen Kunst-Konsum ermöglicht. In diesem Sinn vollzieht die repräsentationskritische Dimension von Hot Water weniger eine erhellende Distanzierung, als vielmehr eine unüberwindbare Trennung zwischen dem objektifizierten Realitätsraum der repräsentierten Frauen und dem Macht- und Wissensraum der Kunstrezeption, welcher allein dem Publikum und der Produzentin vorbehalten ist. Differenzierende Gegen-Narrationen

Ein genauer Blick relativiert jedoch auch diese Darstellung, denn die Frauen in HotWater sind keineswegs gänzlich in einem passiven Objektstatus gefangen. Die Künstlerin selbst fordert einen solchen präzisen Blick vor allem durch die sorgfältige Kontextualisierung desVideos im Projekt Un problème non résolu . Die hohe inhaltliche Dichte dieses komplexen Bezugs- und Verweissystems macht nämlich eine intensive Sichtung und Lektüre der einzelnen Objekte not 19 Dieser Einwurf wurde nicht in die englischen Untertitel aufgenommen. Dt. „Man braucht heißes Wasser, ich finde das nicht lächerlich.“ (Übers. A. B.) 20 Teresa de Lauretis, Stephen Heath (Hg.): The Cinematic Apparatus, New York 1980.

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wendig sowie eine eigenständige Kombinationsarbeit mit den anderen Arbeiten, deren Thematik in erster Linie um kulturelle Differenz und ihre Repräsentation kreist21 (Abb. 3). In diesem Zusammenhang macht ein genaues Lesen von Hot Water deutlich, dass die wiederholten Anklagen der Frauen im ersten Teil des Videos keineswegs einen inhaltsleeren Loop produzieren, sondern Stück für Stück differenzierte Schilderungen aus ihrem Leben preisgeben. So thematisieren Aïcha und Fatima etwa ihren migrativen familiären Hintergrund und problematisieren die rassistische Benachteiligung durch die französische Behörde: Fatima: „On est des citoyennes … On vote, on est de nationalité française, on vote. On est des citoyens comme tout le monde.“ […] Aïcha: „Nos parents quand ils travaillaient à la mine, ils se lavaient dans les bassines. […] Moi, mes parents, ça fait quarante ans qu’ils sont en France, et quarante dans une bassine, et ça continue là, ça continue.“22 Mit diesen bruchstückhaften Informationen insistieren sie auf den je spezifischen Bedingungen sozialer Benachteiligung, die in ihrem Fall strukturell mit Ethnizität verbunden sind; das heißt, sie brechen selbst mit der Vorstellung einer einheitlichen, universell-weiblichen Gemeinschaft. Dieser Tiefenzug in die filmischen Charaktere intensiviert allerdings auch die Authentisierungseffekte des Videos, welche es dem Kunstpublikum wiederum ermöglichen, das differenzierte Wissen um Alterität und Rassismus in einer intellektuellen Distanz gegenüber den emotional und chaotisch vorgebrachten Informationen der Frauen zu genießen. Das Betonen der Differenzen forciert also auch die oben beschriebene Trennung der repräsentatorischen Räume. Zunehmend schwieriger wird eine solche Trennung jedoch, sobald die filmische Narration im zweiten und dritten Teil des Videos weiter fortschreitet. Nach dem Scheitern der Verhandlungen der NGO-VertreterInnen macht sich Nathalie nämlich selbstständig auf die Suche nach dem Direktor. Dabei lässt sie sich weder abweisen noch beruhigen und insistiert auf ihrem Recht, angehört zu werden (Abb. 4). Ihr selbstbestimmter und trotziger Gang durch die bürokratischen Strukturen macht sie zur handlungsleitenden ‚Heldin‘ der Narration und das 21 Mit Bezug auf die Ausstellung „Work on Strike“ vgl. Angelika Bartl: maquettes-sans-qualité. Travail en Grève/Work on Strike. In: springerin 1 (2005), S. 58f. Vgl. auch die Dokumentation des Projekts im Ausst. Kat. Riera (s. Anm. 7). 22 Englische Untertitel: Fatima: „We vote, we´re French, we’re citizens like everybody else. “ […] Aïcha: „Our parents washed in basins when they worked in the mines. […] My parents have been in France for fourty years. Fourty years washing in basins and it’s still going on.“ […]

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Video wird zu einem mitreißenden Lehrstück weiblicher Handlungsfähigkeit.23 Sicherlich, Nathalies Aktivwerden kann im Sinn der Kollektiv-Ästhetik durchaus als stellvertretender feministischer Kampf gelesen werden. Angesichts der AlteritätsAbb. 4: Monitoransicht mit einem Still des dritten Teils von „Hot Water“. erzählungen von Aïcha und Fatima wird aber eine solche Bedeutung zunehmend unwahrscheinlich. Denn im Kontrast zu den beiden Frauen wird Nathalie nun als weiße Mehrheitsfranzösin sichtbar. Diese Differenzierung innerhalb des Kollektivs scheint auch strukturell mit dem Filmgeschehen verbunden, da nur Nathalie die Präsenz der Kamera dazu nutzen kann, um aus der Warteposition auszubrechen und für ihr individuelles Recht zu kämpfen. Aïcha und Fatima verbleiben hingegen im organisierten Kollektiv und können ihren wütenden Forderungen nur vor der emphatischen Kamera Ausdruck verleihen. Ethnizität wird folglich als ein bestimmender Faktor für das Recht auf feministische Handlungsfähigkeit erkenntlich. Wie im ersten Teil unterwandert das Erkennen dieser rassistischen Mechanismen die Vorstellung feministischer Universalität. Darüber hinaus wird nun jedoch auch deutlich, dass die Differenzierungen nicht in einem ideologischen ‚Außerhalb‘ produziert werden und das Kollektiv gewissermaßen stören, sondern dass sie in der Gruppe selbst hergestellt werden. Dies bezieht sich nicht nur auf die Situation im Video, sondern überträgt sich durch die filmische Narration auch auf die RezipientInnen. Denn auf der narrativen Ebene ist eine Identifikation sowohl mit der privilegierten Heldinnenfigur als auch mit der privilegierenden Kamera wahrscheinlich, wodurch die BetrachterInnen direkt in den Prozess der rassistischen Differenzierung verwickelt werden. Eine sichere ideologische BetrachterInnen-Position, wie sie im ersten Teil noch möglich schien, wird damit zunehmend destabilisiert. Dies wird am Ende des ­Videos noch einmal durch formale Interventionen bekräftigt. Als die gescheiterte Nathalie weinend zusammenbricht, richtet Riera die ansonsten sehr nahe 23 Vgl. dazu kontrastiv die Kritik an der Rollenverteilung im Hollywoodkino bei Laura Mulvey: Visual Pleasure and Narrative Cinema [1975]. In: Dies.:Visual and Other Pleasures, Basingstoke 1989, S. 14–26.

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Kamera mehrmals auf den Boden. Damit verweist sie auf die voyeuristischen, medial gewaltvollen Aspekte des Videos und erschwert mit formal-ästhetischen Mitteln die Herstellung einer feministischen Video-Gemeinschaft. Auch dies fordert die RezipientInnen auf, sich der eigenen medialen und sozialen Gewaltposition gegenüber den repräsentierten Frauen bewusst zu werden. Teilen des feministischen Raums

Die identifikatorische Verbindung zu den Frauen wird allerdings nicht gänzlich zugunsten einer negativen Reflexivität und Differenzierung aufgegeben. Hot Water beharrt vielmehr weiterhin auf einer feministischen Bedeutung. So kann beispielsweise die auf den Boden gerichtete Kamera auch als Impuls der Filmemacherin interpretiert werden, Nathalie unmittelbar zu helfen. Aber auch im filmischen Geschehen wird dies deutlich, etwa indem die DemonstrantInnen Nathalie trotz ihres individuellen Ausbruchs aus dem Kollektiv weiterhin unterstützen. Diese Momente der Solidarität basieren jedoch kaum noch auf der Vorstellung einer universellen geschlechterdichotomen Norm. Nach all den differenzierenden und distanzierenden Brüchen ist der feministische Raum kein glatter, egalitärer Kollektiv-Raum mehr. Feminismus erscheint vielmehr im Modus des Dennoch, etwa im Sinn von Chantal Mouffe, die ihn aus einer „Vielfalt gesellschaftlicher Beziehungen“ denkt, „in denen die sexuelle Differenz immer in sehr verschiedener Weise konstruiert wird, [weshalb] der Kampf gegen Unterdrückung in sehr spezifischer und differenzierter Weise aufgenommen werden muss“.24 Ohne auf eine essenzielle Gruppenidentität zu rekurrieren, kann Feminismus aus dieser Perspektive als ein strategisches Bündnis verstanden werden, dessen Bedeutung stets relativiert und aktualisiert werden muss, und das die vielschichtigen Machtstrukturen, die sich darin kreuzen, anerkennt.25 Diese differenzierte Bündnispolitik führt Hot Water jedoch nicht aus der Distanz vor, sondern die vielen Schichten des Videos involvieren die BetrachterInnen selbst in die Politik der Repräsentation. Im Sinn von Jacques Rancières Begriff der „Aufteilung des Sinnlichen“ wird das Video als ein „System sinnlicher Evidenzen [begreifbar, welches] zugleich die Existenz eines Gemeinsamen aufzeigt wie auch die Unterteilungen, durch die innerhalb des Gemeinsamen die jeweiligen 24 Chantal Mouffe: Feministische kulturelle Praxis aus anti-essentialistischer Sicht. In: Dies. und Jürgen Trinks (Hg.): Feministische Perspektiven, Wien 2000, S. 19. 25 Mouffe (s. Anm. 24).

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Orte und Anteile bestimmt werden“.26 Das ‚Sinnliche‘ beschreibt an dieser Stelle nicht mehr eine unmittelbare Authentizität, sondern jenes mediale Vermögen des Videos, welches die formalen und narrativen Räume im Video mit dem Raum vor dem Video, der Rezeption, verbindet. Eine Aufteilung der Räume in HotWater bedeutet damit einerseits eine Unterteilung in die verschiedenen Positionen und Machtbereiche, welche die Künstlerin, die BetrachterInnen und die repräsentierten Frauen einnehmen; andererseits beschreibt dies aber auch ein Teilen des gemeinsamen Raumes der Repräsentation im konkreten, pragmatischen Umgang mit dem Video. HotWater bietet folglich keine privilegierte und politisch korrekte Position des Feminismus an, die sich die ZuschauerInnen durch Bildobjekte mit protestierenden Frauen bewusst und aus der Distanz aneignen können. Das Feministische erscheint im Video vielmehr als eine „Form der Erfahrung“27, in der die ‚feministische Wahrheit‘ selbst ins Wanken gerät und die BetrachterInnen in den widersprüchlichen Räumen des Videos in eine durchaus problematische und zum Teil auch enttäuschende Interaktion mit den verschiedenen Frauen treten müssen. Genau darin formiert sich jedoch eine situierte, sinnliche Perspektive, die eine feministische Gemeinschaft möglich werden lässt. 26 Rancière (s. Anm. 3), S. 25. 27 Rancière (s. Anm. 3), S. 26.

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Über die Kunst, an Land zu navigieren. Zu Maya Derens At Land Zufall und Rauschen

In Maya Derens Film At Land aus dem Jahr 1944 gehört das Schachspiel zu den Raum und Zeit strukturierenden Grundordnungen, aus denen sich die Bewegungen des Films ergeben. Die schwarzweißen Felder auf dem Brett signalisieren einen Pol der Bewegung: ein Höchstmaß an Konvention und Codierung. Die Koordinaten des Systems regeln alle Bewegungen der Figuren im Feld. Die Schönheit einer Partie zeigt sich in der Formation der Möglichkeiten, deren Bedingung das einfache Schwarz-Weiß des Brettes ist. Genauso ließe sich auch At Land als Film-Partie beschreiben: eine Variation von Kombinationen, die sich der Verschränkung von Raum, Zeit und Körpern im Schwarz-Weiß des Kinos verdanken. Maya Deren, die, laut Legende, vom Schachmeister Marcel Duchamp das Spiel gelernt haben soll, erweist sich in At Land ganz dem Kalkül des Kinos verpflichtet, wenn sie Emotionen macht.1 Aber auch die Filmpartie ist, wie jede Schachpartie, ein Machtspiel: es geht darum, wer wen bewegt (Abb. 1 und 2). Ist das eine Extrem der filmischen Ästhetik von At Land die strikte Konventionalisierung, so zeigen seine Anfangsbilder den dieser planimetrischen Ordnung entgegengesetzten Raum: das unkalkulierbare Rauschen des Ozeans, dessen schäumende Wellenkämme sich im Teleobjektiv der Kamera zu allen Schattierungen von Weiß auf der Leinwand verdichten. Das Rauschen der Natur und das technische Rauschen des Kinos – Bilder des Meeres und Effekte der Überstrahlung des Filmmaterials – vermischen sich in den Augen der Zuschauer. Das Unberechenbare, das Erhabene, das „schlechthin Große“ und das „schlechthin Mächtige“, welches, nach Kant, das Unendliche und die Ohnmacht der Einbildungskraft zu denken gibt, ist im „sturmbewegten Ozean“ festgehalten, den Maya Deren noch während des Krieges am Strand von Long Island filmte.2 Strikte Koordinatensysteme einerseits, wie sie unvorhergesehene Kontingenzen erst ermöglichen, und die scheinbar unberechenbaren Turbulenzen der See andererseits sind nicht zufällig die paradigmatischen Bilder, denen Deren ihren Film At Land unterstellt: Zufall und Rauschen, mathematisch und dynamisch Erhabenes, sind die beiden systembedingten Größen, die im Laufe des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in der Thermodynamik und später in der Informationstheorie, berechenbar gemacht wurden. Die Wissenschaften bilden

1 VèVè Clark, Millicent Hodson, Catrina Neiman: The Legend of Maya Deren. A Documentary Biography and Collected Works. Volume I, Part 1 and 2. Anthology Film Archives/Film Culture, New York 1984, S. 142 (Im Folgenden: The Legend). 2 Jean-François Lyotard: Das Inhumane, Wien 1988, S. 174.

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Abb. 1: Maya Deren „At Land“ (USA, 1944).

die mathematische Grundlage der Kybernetik, wenn diese zirkulärkausale Rückkopplungs-, Regelungs- und Steuersysteme in Lebewesen und in Maschinen untersucht und die Fusion und Konfusion von beiden zum Emblem einer Epoche werden lässt. Derens Filme gehen von der Frage aus, inwiefern die neuen Wissenschaften und die Interferenzen von Apparaten und Maschine ein neues Konzept des Subjekts herausfordern, eines, dass sich einem Regelsystem des Sozialen verdankt und nicht mehr dem selbstbewussten Cogito eines cartesianischen Raumes: „Today the airplane and the radio have created in fact a relativistic reality of time and space. They have introduced into our immediate reality a dimension, which functions not as an added spacial location but […] relates to all the other dimensions with which we are familiar. There is not an object which does not require relocation in terms of this new frame of reference, and not least among these is the individual.“3

3 Maya Deren: „Cinema as an Art Form“. In: New Directions, No. 9, Fall 1946, S. 110–120. Wiederveröffentlicht in: Legend, I.2 (s. Anm. 1), S. 313–321, S.319.

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Das Kino gehört zu den Künsten, die diese „relocation“ des Individuums hervorrufen. Seine Implementierung einer postNewton’schen Wahrnehmung gilt Deren als politische Intervention. Dass der Film den Unterschied zwischen Newton’scher und thermodynamisch erfassbarer Zeit sichtbar machen kann, nutzte schon Norbert Wiener zur Erläuterung kybernetischer Zeitformen: „Wenn wir also die Planeten filmen Abb. 2: Maya Deren „At Land“ (USA, 1944). würden, um ein wahrnehmbares Bild ihrer Bewegung zu zeigen, und den Film rückwärts ablaufen ließen, so ergäbe sich noch, übereinstimmend mit der newtonschen Mechanik, ein mögliches Bild der Planeten. Wenn wir dagegen die Turbulenzen der Wolken in einem Gewitter filmten und den Film rückwärts laufen ließen, erschiene er gänzlich verkehrt: Wo wir Aufwinde erwarteten, würden wir Abwinde sehen, die Turbulenzen würden an Intensität abnehmen, das Blitzen ginge den Veränderungen der Wolke, die ihm gewöhnlich vorausgehen, voran, und so beliebig weiter.“4 Maya Deren konfrontiert und fusioniert in ihren Filmen diese Zeitrelationen. Sie setzt das Schachspiel mit seinen geometrisierten Bewegungen von Bauern, Läufer oder Damen in turbulente Umgebungen von Zigarettenrauch, Lichteffekten, Wind, Sand und Meeresrauschen. Sie konfrontiert anatomische Bewegungen mit chaotischen. Was dabei entsteht, sind paradoxale Prozesse, Bewegungen, die nicht einfach vorwärts oder rückwärts laufen, sondern ein Werden aus der Dauer der Wahrnehmung zeigen. Kybernetische Zeiterfahrung unterscheidet sich, laut Wiener, von der New­ ton’schen nicht durch eine Komplexität ihrer Regeln, sondern durch die Un­mög­lichkeit, unendlich viele Partikel und partikulare Prozesse gleichzeitig

4 Norbert Wiener: Kybernetik, Regelung und Nachrichtenübertragung in Lebewesen und Ma­schi­ ne, Rowohlts deutsche Enzyklopädie, Hamburg 1968, S. 54.

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zu beobachten, zumal deren genaue Anfangspositionen und Geschwindigkeiten unmöglich zu beschreiben sind. Kino ist ein Hybrid: Es hat einen mechanischen, Newton’schen, leicht reversiblen Uhrwerks-Kern, der die Wahrnehmung durch eine 16-mm-Bolex-Kamera, wie Deren sie verwendete, in beliebigen Zehntelsekundenbereichen steuerbar macht. Kino produziert andererseits irreversible Zeiterfahrungen des Werdens und der Dauer, insofern es im Schäumen der Wellen, im Zittern der Blätter im Wind oder im Rieseln des Sandes in den Dünen – alles Motive aus At Land – chaotische Zustände aufnehmen und diese nur als fundamentale Verfälschungen invers wiedergeben kann. Diese Fälschung allerdings ist Ausgangspunkt und Ziel von Derens Theorie einer realitätsproduzierenden Filmform. Maya Derens Kunst in den Kontext der Kybernetik zu stellen erscheint nur auf den ersten Blick kurios. Zwar werden ihre konkreten Affären mit kybernetischem Wissen erst nach Ende des Zweiten Weltkrieges virulent: So datieren zum Beispiel die Begegnung und der berühmte Briefwechsel mit Gregory Bateson über kybernetische Fragen zur visuellen, filmischen Anthropologie und zu Prozessen eines Persönlichkeitswandels unter veränderten Medienbedingungen zum Beispiel erst auf Februar 1947.5 Aber sie war durch ihren Vater, einen Psychiater aus Odessa, sehr früh mit Prinzipien homöostatischer und systemischer Prozesse vertraut und formulierte ihre Überlegungen zum Tanz und zum Kino in Begriffen psychophysiologischer Modelle.6 Zwar ist das Prinzip der Rückkopplung, das im Herzen kybernetischer Prozesse anzusiedeln wäre, in ihren Texten nie explizit genannt, eine Kopplung von Wahrnehmung und Apparatur hingegen, von Sensorischem und Motorischem zur Erschaffung einer eigenen Realität, ist die Grundlage ihrer Filmtheorien. In ihrem Essay An Anagram of Ideas on Art, Form and Film, der 1946 in New York erschien, formuliert Deren dies als systematische Verschränkung von Kulturtechniken, Wahrnehmung und künstlerischen Instrumentarien: „Art ist the dynamic result of the relationship of three elements: the reality, to which a man has access – directly and through the researches of all other men; the crucible of his own imagination and intellect; and the art instrument by which he realizes, through skillful exercize and control, his imaginative mani

5 Maya Deren and Gregory Bateson: An Exchange of Letters. In: October, Nr. 14, Fall 1980, S. 16–19. 6 Ute Holl: Kino, Trance und Kybernetik, Berlin 2002, S. 80ff.

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pulations. […] The reality from which man draws is knowledge and the elements of his manipulation has been amplified not only by the development of analytical instruments; it has, increasingly, become itself a reality created by the manipulation of instruments. The reality which we must today extend […] is the relativism which the airplane, the radio and the new physics has made a reality of our Abb. 3: Maya Deren „At Land“ (USA, 1944). lives.“7 Die Herstellung von dezentralen und dezentrierenden Beziehungen, die auch den Beobachter mit in den Strudel und, wie in At Land, in Turbulenzen brechender Wellen ziehen, gehört zu den Zielen, die Deren in ihrer Filmarbeit verfolgt. Dabei sind die spezifischen Effekte des Filmischen entscheidend in der Herstellung unvorhersagbarer künstlerischer Erfahrung. Zu ihrem ersten Film, Meshes of the Afternoon, heißt es, „first, that a ‚creative‘ work of art implied the creation of an imaginative experience or reality rather than a reproduction of one already existent; and second, that that experience would be created out of the nature of the art instrument by which it was, in fact, realized“.8 Wege und Kreuzungen

Die Wellen am Anfang von At Land laufen nach einigen Einstellungen fast unmerklich für den Zuschauer rückwärts und zeigen damit eine Bewegung, die es 1944 nur im Kino zu sehen gab: Eine unbekannte Kraft zieht das Meer gegen alle Gesetze der Gravitation und der Gezeiten aus dem Bild. Am Strand bleibt der Körper einer Frau liegen. Sie schaut in den Himmel, sie beobachtet den Flug der Vögel (Abb. 3). Unter diesen Auspizien werden entropische Prozesse in Wind und Wolken sichtbar, während das Hin und Her der Augenbewegungen der Beob­

7 Maya Deren: An Anagram of Ideas on Art, Form and Film. Wiederveröffentlicht in: The Legend I.2. (s. Anm. 1), Anhang, S. 17. 8 Maya Deren: Film in Progress. Thematic Statement. (1945–1947). In: Film Culture, Nr. 39, Winter 1965, S. 11–17, S. 11.

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achterin keinen Schluss darüber zulassen, ob sich ihre Zeit vorwärts oder rückwärts bewegt. Die BeobachterInnen im Kino wiederum sehen und beobachten, während die Zeit dauert und – vorwärts oder rückwärts – vergangen sein wird. Wenn die Frau aus dem Meer später die Räume an Land erkundet, folgt sie dem Weg der Königin, die im Laufe des Films vom Schachbrett geraubt wird, und wie die Königin muss sie neue Bewegungen generieren, die sich den jeweiligen Umgebungen oder Feldern verdanken, die sie durchquert. Neben dem schäumenden Reich des Ozeans sind das: eine Dünenlandschaft am Strand, eine Abendgesellschaft, deren Bewegungen in hohem Maß durch Konventionen geregelt sind, Felsenformationen, eine Landschaft mit Feldweg und ein weißverhängtes Zimmer, in dem ein Sterbender liegt. Hier weist ein Detail auf die Logik der Wege und Bewegungen in Derens Bildern hin: Im weißen Zimmer modulieren Lichtreflexe wie von Wasseroberflächen das Gesicht der Protagonistin. Den Zuschauern öffnet sich der Raum vom Glitzernden her. Maya Deren, die, wie stets in ihren Filmen, die Hauptrolle spielt, zeigt sich angezogen, angeschaut und gesteuert durch Lichteffekte, die sie treffen, die sie ‚angehen‘ und die sie steuern im Raum – genauso wie die Schachdame durch die Felder und Kräfteverhältnisse ihrer Umgebung gelenkt ist, und so wie die ZuschauerInnen vom Licht des Kinos durch die Realität ihrer Wahrnehmung navigiert werden. Zirkuläre Kausalität verknotet diese Kreisläufe. Regeln und Steuern

Der Begriff der Kybernetik, vom griechischen Wort für Steuermann, kybernétes, hergeleitet, bezeichnet vor allem einen korrektiven Prozess, der bestimmte Zustände in einem System ansteuert. Der Weg der Kybernetik wird durch sensomotorische Rückkopplung geleitet: „Sie mögen sich erinnern, daß die durch die Kybernetik initiierte geistige Revolution darin bestand, einer ‚Maschine‘, bei der es sich im wesentlichen um ein motorisches Energiesystem handelt, einen ‚Sensor‘ hinzuzufügen, der die Aktivitäten der Maschine (oder des Organismus) ‚registrieren‘ kann und – nötigenfalls – bei auftretenden Abweichungen von einem ‚Sollwert‘ (goal) Korrekturen dieser Aktivität einleitet.“9 At Land ist der Landgang der Navigation, Odysseus, anverwandelt den Sirenen. An Land und mit festem Boden unter den Füßen unterzieht sich das System

9 Heinz von Foerster: KybernEthik. Berlin 1993, S. 99.

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Transformationen, die von den Umgebungen und ihren Regelsystemen initiiert sind. Nicht die Geschichte der Subjektwerdung, sondern die ihrer Veränderbarkeit wird vorgeführt, nicht Herrschaftswissen, sondern Systembasteln wird gezeigt: Kamerafrauwerden, Kinomädchenwerden sind Prozesse, die nicht nur den Status von Subjektivierungen in einem sozialen System hinterfragen, sondern am Schaltkreis selbst drehen, den Algorithmus des Werdens manipulieren. Homer und das Vokalalphabet, nicht Odysseus und die Seefahrt sind das Modell für At Land. Allerdings sind es oft fast unmerkliche Transformationen, die als Halluzinationen des Kinosehens inszeniert sind. Das wird deutlich in einer Szene, die als filmisch produzierte „multiple Persönlichkeit beim Mann“ – wie es in einer psy­ cho­ana­ly­tischen Fallstudie hieße – gelten könnte: Die Protagonistin wandert einen Feldweg entlang, während ihr Begleiter, der durch verschiedene Kamera- und Schnittverbindungen in der immer gleichen Position neben ihr her geht, sein Aussehen verändert, zuerst unmerklich, dann immer deutlicher. Der Trick, durch den seine Identität entsichert wird, ist im Kino ein ganz einfacher: Während die räumliche Relation zwischen Mann und Frau stabil bleibt, wechselt die Besetzung des Mannes in den Phasen, in denen er im Off vermutet wird. Aber seine Physiognomien unterscheiden sich in der fotografischen Erkennung. Zuerst wechseln sich ähnliche Typen ab, zum Schluss geht ein wirklich fremder Mann, gespielt von Sasha Hammid,10 neben Maya Deren her.11 Eine irritierende, irrende Identität des Mannes erscheint, gerade weil sie nicht gegen weibliche Identität, sondern gegen filmische Identitätskonstruktionen gesetzt ist. Maya Deren konstruiert im Navigationssystem Kino eben keine Psychologien, sondern legt das Sensorielle des Kinos auf Korrekturprozesse im Denken und Wahrnehmen der Zuschauer und Zuschauerinnen an. Dass die visuelle Logik des Kinos diese alle regiert, hat schon Rudolf Arnheim dazu verleitet, am Beispiel alter Kreuzwegstationen die Identität des Herrn überhaupt aufzulösen: „Hier ist aus dem zeitlichen Nacheinander ein räumliches Nebeneinander gemacht, das Kontinuum des Vorgangs ist zu Teilphasen zerstü 10 Sasha Hammid, wie der tschechische Experimentalfilmer Alexander Hackenschmied im Exil hieß, war Maya Derens Ehemann, Koautor und -regisseur bei „Meshes of the Afternoon“ ge­we­ sen und zur Zeit der Dreharbeiten von „At Land“ mit der Kamerafrau dieses Films, Hella ­Hammid, verheiratet. 11 Maya Deren: Creating Movies with a New Dimension: Time. In: Popular Photography, December 1946. Wiederveröffentlicht in: The Legend I.2. (s. Anm. 1), S. 612–616, S. 614.

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ckelt und die gleiche Figur kehrt in mehreren Darstellungen wieder, spaltet also ihre Identität auf.“12 Identität kann im Kino – ebenso wie ihre Spaltung – nur im Zusammenhang eines kinematografisch produzierten Zeit-Raum-Kontinuums erscheinen und entsprechend irritiert oder aufgelöst werden. Derens Herren-Film-Trick erweist Identität im Film immer als intersubjektive, inter-relationale und kulturtechnisch konstruierte. Im Kino sind Subjekte – Mann und Frau im Film genauso wie die Zuschauer im Kino – einander in spezifisch filmischen Verhältnissen unterworfen. Im Kino sind es nicht mehr Damen, Offiziere oder Könige, die sich und andere in Schach halten, sondern Bilder von physiologischen, von Licht- und Bewegungsillusionen modulierten Körper, die andere Körperbilder identifizieren. Dass Medien, ob als Transport- oder Übertragungsmedien – „the airplane, the telephone, the radio“13 –, ihre Effekte in der Bildung und Entstellung von Subjektivität zeitigen, verlangt eine neue Kritik der ästhetischen Theorie. Nicht allein ein Bild oder eine Vorstellung, sondern der gesamte Prozess, in dem ein Bild historisch und medial produziert wird, der Prozess der Vorstellungsrepräsentanz mithin, wäre Gegenstand einer künstlerischen Transformation der Welt. In ihren auf den ersten Blick vor allem tänzerisch traumhaften Filmen wird Derens Kulturkritik politisch. Das zeigen auch ihre strengen konzeptuellen Texte zur eigenen Kunst. Mensch und Maschine

1946, ein Jahr nach dem Ende des zweiten Weltkrieges, verfasst Deren mit ihrem Essay An Anagram of Ideas on Art, Form and Film ein Manifest ästhetischer Beziehung zur Welt als politischen Kommentar ihrer Kunstproduktion. Der Text beginnt emphatisch mit dem Verweis auf die Atombombe und der Virulenz globaler Zerstörung. Allerdings weist Deren in diesem Kontext sofort auf die prinzipielle Prozesshaftigkeit im Reich der Natur hin, in die sich technische Interventionen der Menschen integrieren: „Man himself is a natural phenomenon and his activities may be either an extension and exploitation of himself as a natural phenomenon, or he can dedicate 12 Rudolf Arnheim: Kritiken und Aufsätze zum Film, hg. v. Helmut H. Diederichs, Frankfurt a.M. 1979, S. 30. 13 Deren: Anagram (s. Anm. 7), S. 16.

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himself to the creative manipulations and transfigurations of all nature, including himself, through the exercise of his conscious rational powers.“14 Der Essay richtet sich unter anderem vehement gegen den Surrealismus und dessen Verfahren einer automatischen Generierung von unbewussten Prozessen, die Deren als lediglich „compulsive“ und damit als im besten Fall als Ausdruck und Wiederholung laufender zerstörerischer Prozesse begreift, nicht als deren Veränderung: „That which the surrealists labor and sweat to achieve, and end by only simulating, can be accomplished in full reality, by the atom bomb.“15 Die Stärke des Anagram-Essays liegt darin, gegen politische, soziale oder ökologische Risiken eine notwendige Intervention künstlerischer Form und Formation und Transformation zu setzen – und nicht etwa künstlerische Abstinenz. Formgebung definiert Deren als Intervention, die künstlerische Instrumente und menschliches Denken verbindet, eine Fusion, in der weder das eine noch das andere determinierend wäre. Eine solche Kopplung von Bewusstsein und Apparatur begründet einen künstlerischen Prozess als kontinuierlichen homöostatischen Austausch zwischen Wahrnehmung und Welt. Diesen nennt Deren ritualistisch. Das Rituelle in ihren Filmen dekonstruiert das Subjekt westlicher Gesellschaften, analysiert die kultur- und medientechnischen Bedingungen seiner Kohärenz, um es, ganz im Sinne Arnheimscher Gestalttheorie der Kunst,16 als Teil eines größeren Ganzen wiederkehren zu lassen: „The ritualistic form treats the human being not as the source of the dramatic action, but as a somewhat depersonalized element in a dramatic whole. The intent of such a depersonalition is not the destruction of the individual; on the contrary, it enlarges him beyond the personal dimensions and frees him from the specializations and confines of personality.“17 Die Unterwerfung des Subjekts unter die historischen Bedingungen der Umwelt ist in At Land selbst als technischer Eingriff thematisiert und bearbeitet: „In my At Land it has been the technique by which the dynamics of the Odyssey is reversed and the protagonist, instead of undertaking the long voyage of 14 Deren: Anagram (s. Anm. 7), S. 9. 15 Deren: Anagram (s. Anm. 7), S. 10. 16 An dieser Stelle böte sich ein Vergleich von Derens Text und Arnheims Essay „Entropie und Kunst“ an. Beide unterrichteten gemeinsam an der New School of Social Research und waren bis zu Derens Tod 1961 befreundet. Zu Rudolf Arnheims Essay „Entropie und Kunst“ siehe die Rubrik „Wiedergelesen“ im vorliegenden Band. 17 Deren: Anagram (s. Anm. 7), S. 20.

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search for adventure, finds instead that the universe itself has usurped the dynamic action which was once prerogative of human will …“18 So stellt Derens Essay noch einmal den Versuch dar, Mensch und Maschine in einem nicht agonalen Abb. 4: Maya Deren „At Land“ (USA, 1944). Verhältnis zu sehen, sondern Kulturtechniken als Mittel zu begreifen, künstliche Welten in ihren Homöostasen auszubalancieren und gegen die unkünstlerischen Kriegsmaschinen ihrer Zeit zu setzen. Aus diesem Konzept entstanden, folgerichtig, poetische Filme, aber auch im weitesten Sinne politische. Die modernen Naturwissenschaften und vor allen anderen die Kyber­ netik haben anstelle von Modellen der Repräsentation performatiAbb. 5: Maya Deren „At Land“ (USA, 1944). ve oder algorithmische Prozesse gesetzt, die Realität nicht abbilden, sondern vielmehr herstellen. Damit haben sie über ein subjektzentriertes Denken hinaus das Problem der Dauer und des Werdens aufgeworfen. Die filmische Form der Zeit, auf der Kino als Medium ‚basiert‘, wird in Derens Filmen und ihren paradoxen Zeitachsenmanipulationen virulent. Zum Beispiel inszeniert Deren in At Land ein Kopfschütteln, dessen Geschwindigkeit normal zu sein scheint, und nur die merkwürdig verlangsamten Bewegungen der fliegenden Haare des Meermädchens weisen daraufhin, das die Zeitlupe eingesetzt ist und zwei Zeiterfahrungen das Bild und die Figur spalten. Kameratricks wie dieser verzögern und beschleunigen, verwalten und verschalten die Wahrnehmung der Zuschauenden im Hinblick auf die Prozeduren, denen sie sich im Kino aussetzen (Abb. 4). 18 Maya Deren: Cinematography – the Creative Use of Reality. In: Daedalus. Journal of the American Academy of Arts and Sciences, Winter 1960, S. 169.

Über die Kunst, an Land zu navigieren

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Das Konzept des Kybernetischen für das Kino lässt sich mithin nur denken, wenn nicht ein einzelner Film sondern eine Transformation der Wahrnehmung überhaupt angesteuert ist. Hier wird auch das Kinospiel zum Machtspiel wie das Schach. Es verteidigt jedoch kein Territorium, sondern eine Topologie der Beziehungen, in der sich Königinnen und Meermädchen jenseits jeder Identitätslogik bewegen können (Abb. 5).

Farbtafel

Johann Ellis: Fass, Holzbox und Vitrine, Kupferstich, in: Anweisung wie man Saamen und Pflanzen aus Ostindien und andern entlegenen Ländern frisch und grünend über See bringen kann, Leipzig 1778.

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Faksimile Who Shall Survive? Die sozialen Netzwerke des Jakob L. Moreno

Der in Rumänien geborene Arzt und Psychiater Jakob L. Moreno (1889–1974) emigrierte 1925 von Österreich nach Amerika, in seinem Gepäck Methoden der Gruppentherapie, wie Rollenspiele und Stegreiftheater. Er richtete bald seine sozialpsychologischen Mess- und Darstellungstechniken – etwa die Konstruktion von Situationsmatrizen und Interaktionsdiagrammen – auch auf die Forschungsfragen der amerikanischen Sozio­ lo­g ie zu „Sozialen Gruppen“ aus. Moreno nannte seine Methode „Soziometrie“ und verband sie mit einem politischen Ziel: Die „soziometrische Revolution“ sollte zur Gleichberechtigung der Menschen führen, indem sie die Versuchspersonen zu „Experten“ machte, die selbst an „sozialen Experimenten“ mitarbeiteten und damit ihre Situation umzugestalten vermochten. In Beobachtungen, Befragungen und Rollenspielen wurden „Anziehung und Abstoßung“ von Individuen erhoben und in Form von Matrizen notiert. Nach Definition der Gruppe und des Beziehungstypus konnte so die „soziale Kohäsion“ gemessen werden. Ferner führte Moreno als wichtiges methodisches Werkzeug das „Soziogramm“ (Abb. 1) ein, ein Diagramm, das die Struktur der Gruppe und die Muster der Verbindungen zwischen den Individuen darstellte. Punkte repräsentierten Individuen, Linien zeigten die Verbindungen an. Das Soziogramm war für Moreno weit mehr als eine schematische Datendarstellung. Er verglich es mit einer „geometrischen Raumkonstruktion“, welche eine präzise „Exploration“ des komplexen Datenfeldes erst möglich machen würde. Über diese Art der grafischen Darstellung gelangen sogar neuartige Entdeckungen, wie das „soziale Atom“ (Abb. 2) oder das „soziodynamische Gesetz“ der tendenziellen Verteilung des Wahlverhaltens in einer Gruppe. Noch unberührt von der mathematischen Graphentheorie zeichneten die Soziometri­ kerInnen bereits Mitte der 1930er Jahre Graphen. Sie verfeinerten laufend die Tech-

Abb. 1: J. Moreno: Grundlagen der Soziometrie, 1967. Darstellung einer Gruppe, „in der zwei dominierende Individuen direkt und indirekt durch andere Individuen mehrfach verbunden werden“.

nik der von Hand gefertigten Soziogramme. Verbindungen konnten auch gerichtet, weitere Bedeutungsebenen durch Farben, Größe, Stärke und Positionierungen der Punkte und Linien dargestellt werden. Im Rahmen dieser „Sozialkartografie“ wurden immer weitere Muster und Formen entwickelt, etwa die „Kette“, der „Star“ (Abb. 3), „Netzwerke“ (Abb. 4) oder die Abbildung von Geodaten (Abb. 5). Die Forschungspraxis der Soziometrie umfasste den analytischen Vergleich aller Diagramme einer Studie sowie die Konfrontation der Versuchspersonen mit den Visualisierungen. Moreno forderte wiederholt die grafische Optimierung der Soziogramme. Soziogramme sollten im Hinblick auf ihre Lesbarkeit mit minimaler Überlappung der Linien gestaltet werden. Sogenannte Reduktionssoziogramme (Abb. 6) ermöglichten die Ausweitung der Sozio­ metrie als „soziale Mikroskopie“ auch für die Untersuchung von großen Gruppen. Die Soziogramme fungierten damals wie heute als Modell, Werkzeug und Argument. Sie wirken als Nachkommen der Darstellungsweisen der Astronomie, Geografie oder Chemie und als Vorläufer der Diagramme der (Sozialen) Netzwerkanalyse heute bereits selbstverständlich. Katja Mayer

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Abb. 2: J. Moreno: Grundlagen der Soziometrie, 1967. „Das soziale Atom des Individuums WL. Vom Individuum aus gesehen. Kriterium: Zusammenleben.“ Messung: Wahlentscheidungen.

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Abb. 3: J. Moreno: Grundlagen der Soziometrie, 1967. Formen der Anziehung (rot), Abstoßung (schwarz) und Gleichgültigkeit (gestrichelt): 1. Paar, 2. Kette, 3. Dreieck, 4. Viereck, 5. Kreis, 6. bis 8. Star.

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Abb.3a: J. Moreno: Grundlagen der Soziometrie, 1967. „Entwicklungen von Gruppen“, idealtypische Formationen, wie z. B. „Isolation“.

Abb. 4: J. Moreno: Grundlagen der Soziometrie, 1967. „Psychologische Geographie“ – Netzwerke. Diese Karte zeigt die Hauptkommunikationslinien der Individuen der Hudson-Gemeinschaft und wurde aus vertiefenden Messungen von Abb. 6 produziert.

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Abb. 5: J. Moreno: Grundlagen der Soziometrie, 1967. „Dampfwäscherei, Struktur vor der Neugestaltung“. Sieben Arbeiterinnen und eine Arbeitsleiterin (FM).

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Abb. 5a: J. Moreno: Grundlagen der Soziometrie, 1967. „Struktur einer Arbeitsgruppe. Die Dampfwäscherei nach der Umgestaltung“.

Abb. 6: J. Moreno: Grundlagen der Soziometrie, 1967. „Psychologische Geographie-Reduktionssozio­ gramm“. Diese Karte zeigt 435 Personen der Hudson-Gemeinschaft vom 20. August 1932 nach Haus­ gruppen geordnet. Jedes Pluszeichen steht für zehn Anziehungen, jedes Minuszeichen für zehn Abstoßungen. Rote Linien repräsentieren fünf Anziehungen, schwarze Linien fünf Abstoßungen zwischen den Häusern. Das Gesamt-Soziogramm beinhaltet 4127 Linien. Durch die Reduktion auf ein Zehntel der Linien bleibt das Soziogramm leserlich.

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Abb. 1: Container im Hamburger Hafen.

Bildbesprechung Ein Bild und seine Geschichte – Containerisierung: Die Syntax der Systeme

Über 200 Millionen Container, so wird geschätzt, befinden sich heute kontinuierlich in Bewegung, um 90 Prozent des Welthandels abzuwickeln. 9.580 Container befördert allein das derzeit größte Containerschiff der Welt, die Emma Maersk, über die Meere. Sie stellt damit den vorläufigen Höhepunkt einer Entwicklung dar, die mit dem ersten Containerschiff Ideal X 1956 ihren Anfang nahm und auf einer Idee des US-amerikanischen Truckers Malcolm McLean basierte. „Malcolm McLean invented the shipping container in the 1930s in New Jersey, while sitting at a dock waiting all day for cargo he had carried there in his truck to be reloaded onto a ship. He figured out a better way to pack goods and transport them by sea – which was to secure them in large steel boxes that could be easily loaded onto ships. And in so doing he came up with an idea that changed the face of global trade.”1 Die Legende erzählt, dass McLean zu Beginn ganze Lastwägen auf Schiffe verlud, s­ päter

deren Anhänger samt Behältnissen und schließlich nur noch die Behältnisse selbst. Er ließ den Frachter Ideal X für das Stapeln normierter Boxen umbauen und startete 1956 den ersten Containertransport von Newark nach Houston. Seither verdoppelt sich der Containerverkehr alle sieben bis acht Jahre. Heute werden in Singapur jährlich 23 Millionen Container umgeschlagen, in Rotterdam acht und in Los Angeles sieben Millionen. Ohne Container wäre das heutige Verständnis von Globalisierung kaum denkbar. Entscheidend für den Erfolg der Container war deren weltweite Normierung durch die ISO International Organization for Standardization in Genf. Nachdem die US-amerikanischen Container nicht auf europäische und asiatische Straßen passten, wurden in den 1960er Jahren einheitliche ISO-Maße von 10, 20 und 40 Fuß Länge und 8 Fuß Breite festgelegt. Diese Standardisierung ermöglichte die Entwicklung und weltweite Installation normierter Logistiksysteme zu Wasser und Land: Containerschiffe, Zugmaschinen mit Trailern, Eisenbahnsysteme, Terminals zum Ent- und Beladen sowie ein notationelles System zur Identifizierung jedes Einzelnen der 200 Millionen ­Container.

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Bildbesprechung

Abb. 2: Containerstaupläne.

Datenpakete: Es ist kein Zufall, dass auch die Technologie des Internets auf der Idee des Containers basiert. Inhalte werden in Paketen versandt und, beim Adressaten angekommen, wieder zusammengesetzt. „The internet protocol provides for transmitting blocks of data called datagrams from sources to destinations, where sources and destinations are hosts identified by fixed length addresses.“2 Diese Datenpakete sind maximal 65535 Bytes lang. Eine entsprechende Infrastruktur erlaubt ihre Distribution rund um den Globus.3 Datenblöcke können im Gewirr des Internets auch mal verloren gehen, ebenso wie Überseecontainer. Allerdings ist unklar, an welchen Stränden verlorene Datenpakete antreiben. Im Unterschied zu ihren realen Pendants liefern sie Kopien der bestellten Ware, also Kopien von Daten, die auf Servern lagern. Distribution im Virtuellen kreiert eine wundersame Vermehrung, die als Datenflut hinreichend diskutiert wird. Auch hier sind die Wachstumspotenziale erheblich. Über eine Milliarde Internetnutzer gibt es heute weltweit.

Die Syntax der Systeme: Die Logik der Containerisierung liegt auf der Hand. Die Syntax der Systeme stülpt sich über die Variationen ihrer Semantik. Ob Bananen, Plastikweihnachtsbäume oder Argentinische Hüftsteaks, die bunte Vielfalt der Formen und Materialien verschwinden in 20/40 mal 8 Fuß großen Kisten. Auf weiten Strecken werden die Inhalte gegenstandslos, während die Normierung ihrer Umhüllung, ob Überseecontainer oder Datenblock, die Systeme berechenbar und automatisierbar macht. In modernen Containerterminals be- und entladen Kranroboter die bereitstehenden LKW, Züge und Schiffe, choreo­ grafiert von Computerprogrammen. Die normierte Simplizität dieser Syntax erzeugt eine Ontologie ähnlich den Legowelten in den Zimmern unserer Kinder. Diese Ontologie transformiert in direkter Weise Häfen, Schiffe, Fahrzeuge und Arbeitspraktiken, in indirekter Weise Märkte und Gesellschaften. Radikaler kann sich die Technisierung der Welt nicht gestalten. Normierung, Automatisierung und die mühelose Transformation ins Virtuelle

Bildbesprechung

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Abb. 3: Containerhafen Hamburg.

ermöglichen es, Hafenanlagen und Frachtbahnhöfe von Monitoren aus mit digitalen Containerstauplänen und Transportroutenplanungen zu steuern. Doch das System entwickelt sich weiter. Forscher arbeiten an selbststeuernden, logistischen Prozessen mithilfe von Softwareagenten.4 Die Identifikation der Container nach ISO 63465, bisher direkt auf die Containern geschrieben, verschwindet zunehmend in RFID Chips. RFID (Radio Frequency Identification) stattet Objekte mit eigener Datenidentität aus, die via Funknetze abgerufen werden kann. Container kommunizieren auf diese Weise mit den RFID Readern der Hafenarbeiter und Computerprogramme. Der Schritt von kommunizierenden zu intelligenten Containern, die sich selbst verwalten, automatisiert die ins Digitale transformierten Logistikprozesse selbst. Die Berechenbarkeit normierter Systeme, die dem Globus eingeschrieben werden, ihre Formalisierung, Automatisierung und schließlich Selbststeuerung bedarf keiner zentralen Verwaltung mehr. Intelligente Container werden in Zukunft ihren eigenen Transportweg bestimmen. Gabriele Gramelsberger



1 Michael Bohlmann: Tribute to Malcolm McLean. Founding Father of the Freight Container. In: International Organization for Standardization, 25.7.2003, http:// www.iso.ch/en/commcentre/news/ archives/2002/malcolmmclean.html (Stand: 5/2007). 2 RFC 760: DoD Standard Internet Protocol, Jan. 1980, http://tools.ietf.org/ html/rfc760 (Stand: 5/2007). 3 IP Internet Protocol: TCP Transmission Control Protocol, UDP User Datagram Protocol. Server, Clients, Router, Hubs/ Switches etc. 4 Sonderforschungsbereich 637 „Selbststeuernde logistische Prozesse – Ein Para­dig­menwechsel und seine Grenzen“ der Universität Bremen, http://www. sfb637.uni-bremen.de (Stand: 5/2007). 5 Ein notationelles System nach ISO 6346 ermöglicht die Identifizierung jedes einzelnen Containers anhand von Eigentümer- und Produktgruppenschlüssel, Registriernummer und Prüfziffer. Wer einen Container auf Reise schicken möchte, benötigt eine Eigentümer-Identifikation vom Internationalen Büro für Container, Paris, http://www.bic-code. org (Stand: 5/2007).

Ulrike Bergermann

Im „No man’s land“ der Cybernetics

Vier Orte markieren das 1948 neu abzusteckende Land des Wissens namens Kybernetik, entworfen in Norbert Wieners Buch Cybernetics. Seine Geschichte startet an einem Tisch in Harvard, wo sich eine Arbeitsgruppe zur Kritik wissenschaftlicher Methodik traf.1 Die Gruppe blieb bis 1944 zusammen, bis der Beginn des Zweiten Weltkriegs das akademische Gefüge neu sortierte und Gruppenmitglied Arturo Rosenblueth eine Professur in Mexiko antrat.2 Mit Mexiko verbindet Wiener eine besondere Geschichte – im Originalmanuskript heißt es auf der ersten Seite über die Gruppe sogar „not all the participants were medicos“, aber das spanische Wort wurde durchgestrichen und durch „physicians or medical scientists“ ersetzt3 – und mit Rosenblueth eine exklusive. 1. Ort: Mexiko I. Das Forscherpaar

Vielbeschworen in Wieners Schriften, tritt Rosenblueth selbst doch in gewisser Weise kaum in Erscheinung. Aber nachdem Wiener 1945 zehn Wochen in Mexiko verbracht und mit Rosenblueth gemeinsame Forschungsergebnisse auf mehreren Konferenzen vorgetragen hatte,4 wird ihr Antrag auf die Finanzierung ihrer Zusammenarbeit bewilligt, und so arbeiten fünf Jahre lang entweder Wiener in jedem Jahr sechs Wochen in Mexiko oder Rosenblueth am M.I.T. in Cambridge (Abb. 1 und 2).5 Das Buchmanuskript von Cybernetics wird im Sommer 1947 in Mexiko verfasst (morgens, weil Arturo ein Langschläfer ist).6 Und wenn nicht räumlich, so sind die beiden sich in Gedanken nahe: „For many years Dr. Rosenblueth and I had shared the conviction that the most fruitful areas for the growth of the sciences were those which had been neglected as a no-man’s land bet





1 Norbert Wiener: Kybernetik. Regelung und Nachrichtenübertragung im Lebewesen und in der Maschine. Düsseldorf/Wien 1963 (2. rev. Aufl.), übers. v. E.H. Serr mit Dr. E. Henze, S. 25; ders.: Cybernetics, or Control and Communication in the Animal and the Machine, Cambridge, Mass. 1967 (1. Aufl. 1948), S. 1f. 2 Genauer gesagt, musste er die USA verlassen, nachem die USA bei Kriegseintritt 1941 die Aufenthaltsgesetze für Ausländer verschärften, vgl. Susana Quintanilla: Arturo Rosenblueth and Norbert Wiener: Two Scientists in the Historiography of Contemporary Education. In: Mexican Journal of Educational Research, Bd. 7, Nr. 15, Mai-Aug. 2002, S. 303–329, hier S. 308f. 3 Norbert Wiener: Cybernetics, original manuscript, preface, 1948. In: Norbert Wiener Papers. MC 22. Institute Archives and Special Collections, MIT Libraries, Cambridge, Mass., BOX 28 A, folder 577, S. 1. 4 Norbert Wiener: Mathematik – mein Leben. Düsseldorf/Wien 1962 (amerik. Originalausgabe: Ex-Prodigy und I Am a Mathematician, 1956), übers. v. Walther Schwerdtfeger, S. 246. 5 Wiener: Kybernetik (s. Anm. 1), S. 53, Ders.: Mathematik (s. Anm. 4), S. 247. 6 Wiener: Mathematik (s. Anm. 4), S. 278.

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ween the various established fields“7, heißt es am Anfang von Cybernetics, und dieses Land ist sicherlich das der beiden Männer, die aus verschiedenen Fächern und Nationalitäten Ideen für gemeinsame Projekte entwickeln oder in einem gemeinsamen Text über die Rolle der Modelle in den Wissenschaften sowohl die Übersetzungsleistungen von Modellen diskutieren als auch deren Grenzen. Wiener verstand sich selbst im mehrfachem Sinne als Außenseiter und er pflegte jahrelange Arbeitsbeziehungen mit Forschern, die nicht aus den USA oder Europa kamen, lebte mehrere Monate in China, verfolgte auch die wissenschaftlichen Entwicklungen in der Sowjetunion, verbrachte später mehrere Monate in Indien. So entstand Cybernetics vor dem Hintergrund eines Netzwerks, das verschiedene Länder, Fächer und Personen umfasste. Arturo Rosenblueth ist in dieser Zeit ein Gegenüber, mit dem ein neues Terrain gebildet wird, das Niemandsland, entstanden nicht nur aus dem Übertreten von Grenzen, sondern auch im Akt des Adressierens selbst. Cybernetics sagt dagegen nichts über die Zusammenarbeit mit John von Neumann oder darüber, wie es kam, dass die beiden zusammen 1943/1944 ein Treffen in Princeton organisierten, das immerhin als Schulungsstätte für Macy-TeilnehmerInnen und mathematische Grundlagenvermittlung dargestellt wird; dasselbe gilt für McCulloch als Initiator der Macy-Konferenzen. Kurz, aber heftig wird ein anderer Mexikaner zum Protagonisten der Kybernetik-Geschichte: Es ist wieder ein mexikanischer Kollege und Freund, Giorgio de Santillana vom M.I.T., der Wiener dem Verleger Freymann vorstellt.

7 Wiener: Cybernetics (s. Anm. 1), S. 2.

Abb. 1: Norbert Wiener, 1945.

Abb. 2: Arturo Rosenblueth, 1945.

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2. Ort: Mexiko II. Kakao

Freymann leitet den Pariser Verlag Hermann & Cie. und „bittet“ Wiener nach einem gemeinsamen Gespräch in Paris, doch „das vorliegende Buch“ zu schreiben (Abb. 3).8 „Ich bin besonders glücklich über seine Einladung, da M. Freymann Mexikaner ist und das Niederschreiben des vorliegenden Buches zu einem großen Teil – vom Untersuchungsstadium bis zu seiner jetzigen Form – in Mexiko ausgeführt worden ist.“9 Im Manuskript stand vorher sogar „glad to give it to him, as he is a Mexican“.10 Weniger in solchen Geo-Bio-Metaphern als in Figuren der Hybridität spricht die Abb. 3: Erstausgabe von Cybernetics 1948 bei Hermann & Cie, Paris. Autobiografie von Freymann, dem Mexikaner. „Freymann, der leider inzwischen gestorben ist, war Mexikaner und als Kulturattaché im mexikanischen diplomatischen Dienst nach Paris gekommen. Einer seiner Großväter, ein deutscher Kapitän, hatte sich nach seiner Pensionierung in der Gegend von Tepic an der Westküste Mexikos niedergelassen. Der andere Großvater war ein Häuptling der Huichol-Indianer aus derselben Gegend gewesen. Beide Großmütter meines Freundes waren spanischer Herkunft. Freymann betrieb einen unscheinbaren kleinen Buchladen gegenüber der Sorbonne, in dem dann und wann eine Größe aus dem Reiche des Geistes und der Wissenschaft erschien. Schmunzelnd erzählte er mir, wie seine beiden Großväter wechselseitig versucht hätten, ihn dem Einfluss des andern zu entziehen, indem der eine ihm immer wieder sagte, er sei ein Europäer, während der andere ihn daran erinnerte, dass er Indianer sei.“11 Wieners Wunsch nach zwei Ursprungsmarkierungen der Schrift geht jedoch zugunsten der prominenten hegemonialen verloren. Freymann, „einer der interessantesten Menschen“, die Wiener je kennengelernt habe, ist nicht inte 8 Wiener: Cybernetics (s. Anm. 1), S. 35. 9 Wiener: Kybernetik (s. Anm. 1), S. 54. 10 „I am particularly glad to receive his invitation, as M. Freymann is a Mexican, and the writing of the present book, as well as a good deal of the research leading up to it, has been done in Mexico.“ Wiener: Cybernetics (s. Anm. 1), S. 24.Vorige Version im Typoskript: „ … glad to give it to him, as he is a Mexican.“ Wiener: Cybernetics, original manuscript (S. 3), S. 35. 11 Wiener: Mathematik (s. Anm. 4), S. 272.

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Abb. 4: Der „Café Grill-Room A. Capoulade“ am Boulevard Saint-Michel war Treffpunkt von Künstlern, Studenten, Professoren und den Begründern der Bourbaki-Gruppe in der unmittelbaren Umgebung der Sorbonne, um 1934.

ressant genug, um in den weiteren Texten Wieners wieder aufzutauchen, und läge nicht ein ausnehmend herzlicher Brief Freymanns an Wiener im Archiv, so läge es durchaus nahe, die Beteuerungen Wieners für aus der Luft gegriffen zu halten. Auch der ‚Ort‘ Mexiko verschwindet zunehmend aus der Publikation; im Manuskript ist noch vorgesehen, auf dem Schmutztitel, der Titelseite im Inneren des Buchs, unter den Autornamen Norbert Wiener zwei Orte zu setzen: Massachusetts Institute of Technology, Cambridge MA., und Instituto Nacional de Cardiología, Ciudad de Mexico. In der Ankündigung des amerikanischen Verlags Wiley noch enthalten, bleibt bereits nach der 1948er-Auflage nur noch das M.I.T als Ort übrig. Freymann, ebenfalls Diplomat, steht nicht nur für die Übersetzung zwischen Kulturen, sollte er doch zunächst die mexikanische in Paris repräsentieren, sondern in Wieners Geschichte auch für eine doppelte Abstammung: Der fahrende deutsche Kapitän, der indianische Häuptling, beide an der mexikanischen Westküste niedergelassen, reklamieren den Enkel jeweils für die Fortführung der eigenen Linie, die „spanischen Großmütter“ sind weder

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ganz fremd deutsch noch Ureinwohner, sondern im unscheinbareren Mittelfeld der kulturellen Übersetzung der Kolonialkultur verortet und verbinden symbolisch die europäische mit der indigenen Kultur, ohne eigenes Feld, für das der Nachwuchs beansprucht würde. Wieners Topografie bewegt sich von der Grenzüberschreitung zum Dazwischenland und zurück. „Den Vertrag besiegelten wir in einer nahen Patisserie bei einer Tasse Kakao“,12 beschließt Wiener die Schilderung des Zusammenkommens des Mexikaners, der keiner ist und der selbst der Aufgabe des Übersetzers als Kulturattaché auf das Feld des Verlegens ausgewichen ist, mit dem Autoren, der zu allen möglichen Themen ein Buch schreiben will. Das Getränk, eingenommen in einer französischen Patisserie13, besiegelt die juristische Formalität: die Bohne der Azteken, immer in der Nähe der herrschenden Institutionen („gegenüber der Sorbonne“), aber nicht so recht in ihnen zu Hause (Abb. 4). Für die Zeit des Parisbesuchs macht Wiener auch den Einfluss einer Gruppe avancierter Mathematiker geltend, die unter dem fiktiven Autornamen Bourbaki auftrat und sich die Universität Nancago als Herkunftsort erfand, welche die existierenden mathematischen Schulen aus Chicago und Nancy zusammenschrieb: Zwei Orte machen einen fiktiven Ursprung. 3. Ort: Das Niemandsland

Ein „no-man’s land between the various well-cultivated fields“14 sah ein Rezensent in Cybernetics eröffnet, so wie Wiener selbst es charakterisiert hatte: Leibniz, der letzte Universalgelehrte, die Fächer so spezialisiert, wie schon die universitären Gebäude zeigen. „Viele Jahre hatten Dr. Rosenblueth und ich die Überzeugung geteilt, dass die für das Gedeihen der Wissenschaft fruchtbarsten Gebiete jene waren, die als Niemandsland zwischen den verschiedenen Gebieten vernachlässigt wurden. Seit Leibniz hat es vielleicht keinen Menschen mehr gegeben, der die volle Übersicht über die gesamte geistige Tätigkeit seiner Zeit gehabt hat. Seit jener Zeit ist die Wissenschaft in zunehmendem Maß die Aufgabe von Spezialisten geworden; auf Gebieten, die die Tendenz zeigen, immer schmaler zu werden. Vor einem Jahr 12 Wiener: Mathematik (s. Anm. 4), S. 274. 13 Wiener: Mathematik (s. Anm. 4), S. 274. 14 Anonym: ohne Titel. In: Engineering, 14.10.1949, 384. In: Norbert Wiener Papers. MC 22. Institute Archives and Special Collections, MIT Libraries, Cambridge, Mass.; Cybernetics, reviews and announcements, BOX 28 C, folder 597.

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hundert mag es keinen Leibniz gegeben haben, aber da waren ein Gauß, ein Faraday und ein Darwin. Heute gibt es wenige Gelehrte, die sich ohne Einschränkung Mathematiker, Physiker oder Biologen nennen können. Ein Mann kann Topologe, Akustiker oder Fachmann für Ringflügelflugzeuge sein. Er wird angefüllt sein mit den Spezialausdrücken seines Faches und wird dessen gesamte Literatur und alle Feinheiten kennen, aber sehr häufig wird er das nächste Sachgebiet als irgend etwas betrachten, das einen Kollegen drei Türen weiter im Korridor angeht, und sein eigenes Interesse daran als einen unverantwortlichen Bruch der Zurückgezogenheit ansehen.“15 Ein Niemandsland existiert, es erhebt nur niemand Anspruch darauf. Im Haus der Wissenschaften allerdings gibt es keine Tür, die zu Niemandens Terrain führt, nur Türen für getrennte Fächer – und eben den Korridor … während Spezialisierung stattfindet, „in fields which show a tendency to grow progressively narrower“: sie werden enger – und sie kommen sich näher. Gleichzeitig mit der Ausdifferenzierung, räumlich gesprochen: Ausdehnung der Fächer, nimmt deren „privacy“, ihre Abgeschlossenheit zu. „Diese spezialisierten Gebiete wachsen ständig und nehmen neue Territorien ein. Das Ereignis ist ähnlich dem, das sich ereignete, als das Oregongebiet gleichzeitig von den Siedlern aus den Vereinigten Staaten, den Briten, den Mexikanern und den Russen in Besitz genommen wurde – ein unentwirrbares Knäuel von Erforschung, Namengebung und Gesetzen. Da gibt es wissenschaftliche Arbeitsgebiete, wie wir im Hauptteil des Buches sehen werden, die von den verschiedenen Seiten erforscht worden sind, der reinen Mathematik, der Statistik, der Elektrotechnik und der Neurophysiologie; in denen jeder einzelne Begriff von jeder Disziplin einen speziellen Namen bekommt und in denen bedeutende Arbeiten verdreiund vervierfacht werden, während andere wichtige Arbeit durch den Mangel an Mitteln in einem Gebiet verzögert wird, Mittel, die im nächsten Gebiet schon klassisch geworden sein können.“16 „Invading new territory“, werden die wachsenden Fächer zu Besatzern, Eroberern, Kolonisatoren. Wie Briten, Mexikaner und Russen, die gleichzeitig ein Land besetzten, können Mathematik, Elektrotechnik und Neurophysiologie gleichzeitig ein Thema bearbeiten; beides hat ein Wirrwarr von Bezeichnungen 15 Wiener: Kybernetik (s. Anm. 1), S. 26; Wiener: Cybernetics (s. Anm. 1), S. 2. 16 Wiener: Kybernetik (s. Anm. 1), S. 26f.; Wiener: Cybernetics (s. Anm. 1), S. 2.

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Abb. 5: Norbert Wiener auf einem Kongress in der UdSSR, 1960. Wiederholt überschritt Wiener nicht nur die Grenzen der Disziplinen, sondern auch der politischen Räume.

und Gesetzen zur Folge, und dabei könnte mit dem Überschuss doch schon das nächste „Gebiet“ erobert werden. Der Anspruch, die disziplinären Grenzen sowie die Grenzen zwischen theoretischen und praktischen Feldern zu überschreiten, ist von einer Natur-KulturDifferenz geprägt, die bei der Herausbildung der einzelnen Disziplinen immer wieder Pate gestanden hat. Diese Differenz ist in vielerlei Weise und in historisch verschieden neuen Auflagen immer wieder eine gegenderte gewesen. Das Überschreiten von (Fach-)Grenzen ist ebenso wie das Besetzen von „Raum zwischen den Fächern“ eine männlich-militärisch charakterisierte Expansionsbewegung. Widerstand ist nicht von ‚den Wilden‘ und nicht vom Unbeschriebenen zu erwarten; es sind eher selbstgemachte Probleme, die das Fortkommen behindern (Abb. 5). „Es sind die Grenzgebiete der Wissenschaft, die dem qualifizierten Forscher die reichsten Gelegenheiten bieten. Sie sind aber gleichzeitig die wider­spenstigsten gegen die eingefahrenen Techniken der Breitenarbeit und der Arbeitsteilung. Wenn die Schwierigkeit eines physiologischen Problems im Wesentlichen mathematisch ist, werden zehn Physiologen, die sich nicht in der Mathematik auskennen, genauso weit kommen wie ein Physiologe, der sich nicht in Mathematik auskennt, und nicht weiter. Wenn ein Physiologe, der mathematische Arbeitsweisen nicht kennt, mit einem Mathematiker zusammenarbeitet, der nichts von

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Physiologie versteht, kann der eine sein Problem nicht in Ausdrücke bringen, mit denen der andere arbeiten kann, und der zweite wird nicht in der Lage sein, die Antworten in eine Form zu bringen, die der erste verstehen kann.“17 Typisch, dass im Beispiel gerade die Mathematik fehlt und die anderen Forscher nicht weiterkommen. „Grenzgebiete“ sind nun weder ganz die der anderen noch ganz die eigenen, nicht vollkommen neues Land, sondern eher der Korridor, auf dem sich die einzelnen Raumbewohner nur auf eine Sprache einigen müssen, auf Teamwork und Methoden der Verständigung. „Dr. Rosenblueth hat immer die Meinung vertreten, dass eine entsprechende Erforschung dieser weißen Felder auf der Karte der Wissenschaften nur von einem Team von Wissenschaftlern gemacht werden kann, bei dem zwar jeder ein Spezialist auf seinem Gebiet ist, aber auch jeder einen vortrefflichen Spürsinn besitzt und Übung im Umgang mit den Gebieten seines Nachbarn hat. Alle müssen gewohnt sein, zusammenzuarbeiten, die geistigen Gewohnheiten [intellectual customs] des anderen kennen, und die Bedeutung eines neuen Vorschlages eines Kollegen erkennen, bevor er vollkommen formuliert ist. Der Mathematiker muß nicht über die Geschicklichkeit verfügen, ein physiologisches Experiment durchzuführen, aber er muß die Fähigkeit besitzen, es zu verstehen. Der Physiologe muß nicht in der Lage sein, einen bestimmten mathematischen Satz zu beweisen, aber er muß in der Lage sein, seine physiologische Bedeutung zu begreifen und dem Mathematiker zu sagen, wonach er suchen soll.“18 Wer vorher um ein Land Krieg führte, kann sich jetzt ergänzen. Das Eindringen in die „privacy“ der Nachbarn ist zur Kooperation geworden, alle wenden sich denselben weißen Feldern, „blank spaces“, zu. Nicht aus dem engen Korridor, sondern aus luftiger Höhe als „Karte der Wissenschaften“ betrachtet, ermöglicht diese Topografie des Wissens sogar ein Verstehen noch vor der Formulierung, vor Worten, vorausgesetzt es existiert eine Gewohnheit, „a habit of working together“, in einer Formulierung, die die erste, „trained to work together“, ersetzen musste, da es so ein „training“ nicht gibt, nicht geben kann. Kybernetik ist, was hier entsteht, in zeitlichen und räumlichen Paradoxa, einer Gewohnheit ohne Geschichte, einem unbeschriebenen Gebiet, durch das Grenzen verlaufen. Und als wären das noch nicht genug widersprüchliche Konfigurationen, tritt zum Niemandsland zuletzt noch das Hinterland dazu, sozusagen die abgelegenen 17 Wiener: Kybernetik (s. Anm. 1), S. 27; Wiener: Cybernetics (s. Anm. 1), S. 2f. 18 Wiener: Kybernetik (s. Anm. 1), S. 27f.; Wiener: Cybernetics (s. Anm. 1), S. 3.

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Wälder, die ‚eigenen Wilden‘. Denn die Karten und Korridore sollen zu einem selbstständigen Ort werden. „Wir haben jahrelang von einem Institut mit unabhängigen Wissenschaftlern geträumt, die gemeinsam in diesem Niemandsland der Wissenschaft arbeiten würden; nicht als Untergeordnete irgendeines hohen Exekutivbeamten, sondern vereint durch den Wunsch – ja durch die geistige Notwendigkeit –, das Teilgebiet als Ganzes zu verstehen und einander zu diesem Verstehen zu verhelfen.“19 Das „Niemandsland“ des Übersetzers ist allerdings nicht mehr das erwähnte „no man’s land“, sondern es sind „these backwoods of science“, in denen die Autonomie der Forschung möglich werden soll, ohne überkommene Verwaltungen und ihre Gesetze: „to understand the region as a whole“, um das Gebiet als ganzes zu verstehen, oder auch: um das Gebiet als Ganzes zu verstehen. Ganz wie in der gemeinsamen Vision mit Arturo Rosenblueth. Denn die Zusammenarbeit mit ihm konnte „nur das Aufstellen eines Programmes für einen großen Komplex experimenteller Arbeit sein, und wir beschlossen, wenn wir je in den Besitz eines alle Wissenschaften umfassenden Institutes kommen sollten, würde dieses Thema ein beinahe idealer Schwerpunkt unserer Tätigkeit sein“.20 Das ganze Buch Cybernetics ist „dieses Thema“, „this topic“, hat aber ab sofort zumindest einen Namen, und der könnte ja auch der des „interscientific institute“ werden, das weniger „besessen“ als „verwirklicht“ werden soll. Es bräuchte mindestens vier Dimensionen, um mit diesen unbetretenen Tabulae rasae und „virgin territories“, dem zu Entdeckenden und zu Erfindenden, den spanischen Invasoren, Besetzern und Unterworfenen, Generälen und Phantasien, Hybriden und Vertriebenen, in ausgedachten Ländern, mit den Kapitänen, Häuptlingen und Steuermännern zu einer kohärenten Raumordnung zu kommen. Denkbar wäre, dass jegliches Feld des Wissens in Zukunft einheitlich begangen werden sollte – mathematisch – und die genannten Unterschiede dann keine Rolle mehr spielten. „Discursive“, weitschweifig, war ein häufig benutzter Kommentar zu Cybernetics, aber die Auseinandersetzung zwischen „Interdisziplinarität“ und einer mathematischen Metawissenschaft wird nicht zugunsten größerer Überschaubarkeit entschieden. Die epistemologische Kartografie, die aus Kybernetik in einem Zug sowohl das prototypische Grenzgebiet, ein neues Land als auch alle Länder in einem machen soll, verdankt sich keiner Orientierungslosigkeit, sondern besetzt gleichzeitig: alle Raumvorstellungen und keine. 19 Wiener: Kybernetik (s. Anm. 1), S. 28; Wiener: Cybernetics (s. Anm. 1), S. 3. 20 Wiener: Kybernetik (s. Anm. 1), S. 5; Wiener: Cybernetics (s. Anm. 1), S. 8.

Marianne Klemun

Räume und Paradies zwischen Insel, Schiff und Garten – Pflanzentransportbehälter im Bild Die Verbringung von Pflanzen aus einer Weltregion in die andere und über die Weltmeere hinweg rückte Mitte des 18. Jahrhunderts in ein neues, organisiertes Stadium, zumal sie innerhalb der Kooperation von Wissenschaft, Staat und Kolonialismus erfolgte.1 Die Zusammenführung von Ökonomie, Staatsinteressen und wissenschaftlicher Neugier bedingte ein „planetarisches Bewusstsein“2 und ein neuartiges systematisches Vorgehen, das neue Formen, etwa die staatlich finanzierten Expeditionen, hervorbrachte. Diese Zusammenarbeit verursachte auch die Verlagerung europäischer Institutionen wie die der botanischen Gärten auf tropische Inseln3 (die Isle de France, dann nach Ceylon und St. Vincent, um nur die ersten zu nennen). Nutzpflanzen, wie zum Beispiel das aus Ostasien stammende Teegewächs oder der Nelkenbaum, stellten eine zentrale Herausforderung dar,4 zumal beide als Produkte den europäischen Konsum dominierten, aber ihre Kultivierung in europäischen Gärten von Experten noch nicht beherrscht wurde. In dieser Phase des ökonomisch und machtpolitisch bedingten Pflanzentransfers ging es nicht mehr ausschließlich um die Verbringung von Samen, sondern auch von Lebendexemplaren. Die Konstruktionsart tauglicher Behälter war umstritten, weil immer wieder die Pflanzenindividuen den langen Weg über die Meere auf den Schiffen nicht überlebten. Bei dem zunehmend forcierten Transfer von Asien nach Europa dauerten die Schiffsfahrten zudem erheblich länger, somit war auch der Misserfolg häufiger zu gewärtigen. Wenn Samen transferiert wurden, sollten sie so verbracht werden, dass sie während der langen Dauer einer Fahrt keimen und wachsen konnten. Der in der Notwendigkeit begründete Wunsch,





1 David Mackay: Agents of Empire: the Banksian Collectors and Evaluation of New Lands. In: David Philip Miller, Peter Hanns Reill (Hg.): Visions of Empire, Cambridge 1996, S. 38–57; zuletzt besonders dazu: Londa Schiebinger and Claudia Swan (Hg.): Colonial Botany. Science, Commerce, and Politics in the Early Modern World, Philadelphia 2005. 2 Der Begriff „Planetary consciousness“ geht auf Pratt zurück; vgl. Marie Louise Pratt: Imperial Eyes. Travel Writing and Transculturation, London/New York 1992, bes. S. 15. 3 Lucile H. Brockway: Science and Colonial Expansion. The Role of the British Royal Botanic Gardens, New York/London/u.a. 1979; Donald P. McCracken: Gardens of Empire. Botanical Institutions of the Victorian British Empire, London/Washington 1997; Richard H. Grove: Green Imperalism. Colonial Expansion, Tropical Island Eden and the Origins of Enviromentalism 1600–1860, Cambridge 1995, bes. S. 180–222. 4 Zuletzt: Norbert Ortmayr: Kulturpflanzen: Transfers und Ausbreitungsprozesse im 18. Jahrhundert. In: Margarete Grandner, Andrea Komlosy (Hg.): Vom Weltgeist beseelt. Globalgeschichte 1700–1815, Edition Weltregionen 7, Wien 2004, S. 73–99 und Norbert Ortmayr: Kulturpflanzentransfers 1492–1900. In: Beiträge zur historischen Sozialkunde 32, 2002, S. 22–30.

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über ein ideales Transportgefäß zu verfügen, wurde erst im Jahre 1828 durch die ‚Erfindung‘ des Ward’schen Kastens erfüllt. Die Innovation bestand in der Konstruktion einer Art Terrariums, in dem die Pflanzen wie in einem Mikroklima monatelang völlig isoliert von der äußeren Umgebung gedeihen konnten.5 Die einzelnen Etappen der Transportgebarungspraxis bis hin zur Erfindung des Ward’schen Kastens sollen hier nicht nachgezeichnet werden. Der Fokus richtet sich vielmehr auf den ersten visualisierten Hinweis – die Varianten der Transportbehälter betreffend – zu einem Zeitpunkt, als die europäische Wissenschaft in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts keine neue spezifische Theorie der Pflanzenakklimatisierung entwickelt hatte, viele Erklärungen nebeneinander bestanden und gleichzeitig unterschiedliche Behälterformen ausprobiert wurden. Die Protagonisten hegten wahrlich utopische Erwartungen auf Erfolge, die an die Vorstellung geknüpft waren, tropische Pflanzen von einer Weltregion in die andere zu verfrachten und sie noch mehr nachhaltig verpflanzen zu können. So ist vom Botaniker Carl von Linné bekannt, dass er die Teepflanzen im kühlen Schweden heimisch zu machen gedachte und sein dichtes und weitreichendes Netzwerk an Botanikern dafür mobilisierte.6 In diesem vitalen Prozess der Pflanzenverschiebung bildete das Phänomen Akklimatisierung die große Unbekannte. In seiner Naturgeschichte der Teepflanze (1772)7 empfahl der Sammler und Arzt John Coakley Lettsom den Weltreisenden, Interessierten, Botanikern und Händlern verschiedene für den Pflanzentransport auf Reisen über die Weltmeere nach Europa einsetzbare Behälter. Kurz zuvor hatte der Naturforscher John Ellis8 erstmals öffentlich instruktive Richtlinien für diese Aktivitäten entworfen. Seinen Erläuterungen war ein Kupferstich beigegeben, der den zeitgenössischen BetrachterInnen wohl sehr unspektakuläre Gegenstände bildlich vorführte: ein Fass, eine Holzbox und eine Vitrine (Farbtafel S. 50). Dieser Kupferstich steht im Mittelpunkt der

5 Vgl. Ray Desmond: The Europaen Discovery of the Indian Flora, New York 1992, bes. S. 316– 322; Nigel Rigby: The Politics and Pragmatics of seaborne Plant Transportation, 1769–1805. In: Margarette Lincoln (Hg.): Science and Exploration in the Pacific, Suffolk 1998, S. 81–100. 6 Lisbeth Körner: Carl Linnaeus in his time and place. In: Nicholas Jardine, James A. Secord, Emma Spary (Hg.): Cultures of Natural History, Cambridge 1996, S. 145–162. 7 John Coakly Lettsom: The Natural History of the Tea-tree, London 1772. 8 John Ellis: Directions for Bringing over Seeds and Plants, London 1770. Hier wird die deutsche Übersetzung herangezogen: Johann Ellis: Anweisung wie man Saamen und Pflanzen aus Ostindien und andern entlegenen Ländern frisch und grünend über See bringen kann, Leipzig 1778.

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folgenden Überlegungen. Die bei Ellis praktizierte Visualisierung9 ‚allbekannter‘ Gegenstände wie die eines Fasses, einer Kiste und einer Vitrine rückte sie durch die beigegebene Legende in den Status wissenschaftlich begründeter, sinnvoller Werkzeuge.10 Mit dem bildlich gelösten Hinweis auf den Inhalt in diesen Behältern, die Lebendpflanzen, wurde die eindeutige Bestimmung der Gefäße spezifiziert und damit die Transformation von einem Alltagsgegenstand zu einem wissenschaftlich und ökonomisch bedeutsamen Objekt, einer wissenschaftlichen Gerätschaft, vollzogen. Die Illustrationen11 belegten die Methodisierung des Transfers, wie sie in diesem Stadium Abb. 1: Ausschnitt aus Johann Ellis: Fass, Holzbox und Vitrine, siehe auch Farbtafel (S. 50). der Zusammenarbeit zwischen Kolonialismus und Wissenschaft gefordert war. Die Darstellungen könnten simpel als Modelle für die von Menschenhand gefertigten Gegenstände verstanden werden, die zum Nachbau oder zur Nachahmung anregen sollten. Aber das hätten die LeserInnen des Ellis’schen Werkes auch ohne Visualisierung infolge der beigegebenen, durchaus ausführlichen verbalen Beschreibung nachvollziehen können. Dass die bunte Palette an Möglichkeiten (Abb. 1–4) dreier verschiedener Behälterformen den Betrachtern in einem Zusammenhang und in einer Kupfertafel zusammengestellt zugänglich gemacht wird, markiert zwar eine Visualisierungsfunktion der Schautafel, aber sie reicht

9 Zur Frage der Visualisierung sei hier nur selektiv genannt: David Topper: Towards an epistemology of scientific illustration. In: Brian S. Baigrie (Hg.): Picturing Knowledge: Historical and Philosophical Problems Concerning the Use of Art in Science, Toronto 1996, S. 215–249; Caroline A. Jones, Peter Galison (Hg.): Picturing Science. Producing Art, New York/London 1998; Bettina Heintz, Jörg Huber (Hg.): Mit dem Auge denken. Strategien der Sichtbarmachung in wissenschaftlichen und virtuellen Welten, Institut für Theorie der Gestaltung und Kunst, Zürich/New York 2003; Wolfgang Lefèvre, Jürgen Renn und Urs Schoepflin (Hg.): The Power of Images in Early Modern Science, Basel/Boston/Berlin 2003; Luc Pauwels (Hg.): Visual Cultures of Science. Rethinking Representational Practices in Knowledge Building and Science Communication, Hanover, N.H. 2006. 10 Zur Frage der Praxis für die Naturgeschichte besonders Cultures of Natural History (s. Anm. 6), S. 3–13. 11 Zur Frage der Bildfunktionen in den Wissenschaften: Veronika Hofer und Marianne Klemun (Hg.): Bildfunktionen in den Wissenschaften (= Wiener Zeitschrift zur Geschichte der Neuzeit, Heft 1, 2007), S. 3–7.

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Abb. 2: Ausschnitt aus Johann Ellis: Fass, Holzbox und Vitrine, siehe auch Farbtafel (S. 50).

nicht aus, um dem Bedeutung generierenden Vermögen der konkreten Bilder gerecht zu werden. Pflanzentransfers mutierten in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts durch den Wettbewerb der europäischen Staaten zu einem vitalen Zeichen der Weltmächte. Dieser Transfer spielte sich zwischen drei Wissensräumen global ab: zwischen einem Schiff, einer Insel und einem botanischen Garten. Sie charakterisierten sich nicht nur durch ihre spezifischen Bedingungen, sondern erwiesen sich auch als die entscheidenden Instanzen des Transfers. Vor allem aber durch den metaphorischen Konnex dieser Räume konnte sich der qualitative Wandel des Transfers von einem zufälligen zu einem systematisch geleiteten, dynamisierten Prozess vollziehen. Alle drei – Schiff, Insel und botanischer Garten – stellten klar voneinander unterscheidbare Räume dar, die ein konnektives System für die ‚reisenden Vegetabilien‘ bildeten. Insel, Schiff und botanischer Garten hatten jedenfalls systemisch gesehen eines gemeinsam: Sie waren kulturell reglementiert und grenzten sich gegenüber der sie unmittelbar umgebenden Natur kognitiv ab. Ebenso wie die Instanzen des Transfers (Schiff, Insel, Garten)12 markierten die drei unterschiedlich gestalteten Pflanzentransportbehälter trotz großer Varianz die Abgeschlossenheit gegenüber der Umwelt. Im Bild wurde dies bei Ellis paradigmatisch vorgeführt, indem es mit der Erklärungsstrategie der Analogie arbei 12 Zum Begriff des Transfers siehe Marianne Klemun: Globaler Pflanzentransfer und seine Transferinstanzen als Kultur-, Wissens- und Wissenschaftstransfer der frühen Neuzeit. In: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte. Organ der Deutschen Gesellschaft für Wissenschaftsgeschichte 29, 2006, S. 205–223.

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tete. Die Deckel der drei Behälter (Fass, Holzbox und Vitrine) sind alle beweglich bzw. geöffnet dargestellt, womit eine der jeweiligen Situation entsprechende Handhabung der Gefäße betont und die Funktion des Öffnens und Schließens in den Blick gesetzt wurde. Mit dem Mechanismus der Öffnung und Schließung war zwar ein variabler situationsspezifischer Umgang mit den unstetig und unmäßig auftretenden Imponderabilien auf hoher See – Wind, Sonne, Salz und Wasser – gegeben. Neben der flexiblen Ermöglichung von Durchlässigkeit aufgrund der Bedienung der Deckel, bestand aber ein solches Prinzip auch generell, entweder bedingt durch das Glas (Licht) oder durch das Fenster im Fass (Luft). Und selbst im Falle der dichten Holzbox (Abb. 2) bestimmte Ellis, dass sofern der Deckel auf hoher See „immer auf dem Kasten seyn“ musste, an den Seiten des Kastens „nach oben zu Oeffnungen gebohrt werden [sollte, um] die rohen Dünste herausgehen zu lassen“13. Nur die aus festem Material bestehende Kiste jedoch wird im Unterschied zum Fass und zur Vitrine, die beide ohnehin infolge ihrer Materialität entweder Luft- oder Lichtdurchlässigkeit gewährleisteten, in zwei Ansichtsvarianten (frontal als geschlossener Behälter sowie in der Draufsicht als geöffnet) vorgeführt. Damit rekurrierten alle drei Figuren gleichzeitig auch auf die unterschiedliche Gestaltung des Innenlebens: Hinter dem aus Draht gefertigten Fenster im Fass waren die darin befindlichen Pflänzchen sichtbar, wegen der geöffneten Holzbox die Fächer erkennbar und die Durchsichtigkeit des Glases lenkte den Blick auf die Konstruktion der Stabilisierung der Pflanzen. Dieses Durchlässigkeitsphänomen herrschte, verbal und visuell argumentiert, als unhinterfragtes Prinzip, welches jedoch eine innovative Lösung nicht gefördert, sondern im Gegenteil eine Erfindung in der Qualität des Ward’schen Kastens trotz der großen Experimentierfreudigkeit gehemmt und verzögert hatte. Den Kern der Innovation beim Ward’schen Kasten stellte der Verzicht auf den Rekurs der Herstellung von variabler Durchlässigkeit während der Schiffsfahrt dar: Der Ward’sche Kasten funktionierte nur deshalb, weil mit ihm die Praxis der Handhabung des Öffnens und Schließens der Deckel während der Fahrt ausgeschlossen wurde. Er glich in der Gestaltung der bereits bei Ellis dargestellten Vitrine, aber er unterschied sich durch die mit ihr verknüpfte Praxis. Ellis hatte dem Inneren des Glaskastens nicht die Bedeutung eines eigenen natürlichen Mikrokosmos zugedacht, sondern verstand diesen als künstlich bedingt, dem die Beziehung zum Makrokosmos, die Verbindung zur ‚Natur‘, künstlich ermöglicht werden 13 Ellis (s. Anm.8), S. 11.

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musste, weshalb die Vitrine auch als geöffneter Behälter ins Bild kam. Garten, Schiff und Insel – wie auch die Behälter – wurden in ihrer Vermittlungsfunktion und als Experimentierfelder für die Mobilisierung der Pflanzen geschätzt. Und noch eines hatten alle drei gemeinsam: Sie standen jeweils für ein Ideal in derWelt, sei es das Schiff als das Modell der Christenheit Europas, die Insel als Chiffre für einen ewigen Aufenthalt der Seligen wie im griechischen Mythos und der botanische Garten als Ort, an dem sich der Garten Eden14 verwirklichAbb. 3: Ausschnitt aus Johann Ellis: Fass, Holzte. Diese Konnotationen banden alle box und Vitrine, siehe auch Farbtafel (S. 50). drei Räume an Paradiesvorstellungen. In dieser Imaginationsfähigkeit wirkten sie produktiv auf die Aktivitäten des Pflanzentransfers. Die Räume Schiff, Insel und Garten waren miteinander vernetzt und gleichsam mehrfach mit einer Bedeutung, die sie aufeinander bezogen, positiv aufgeladen. Aus dieser spezifisch positiven Inselauffassung erwuchs die Sicherheit der Kolonialmächte, mit Nutzpflanzen zu jonglieren wie mit Handelsgut. Im Falle des Kaffees, der von dem niederländischen Seefahrer Nikolaus Witten aus Mokka nach Java geschmuggelt worden war, spielten der Amsterdamer botanische Garten und auch der Pariser eine zentrale Rolle, von wo aus die Kaffeepflanze in die neue Welt, nach Südamerika und in die Karibik, gebracht wurde. Seit der Errichtung erster botanischer Universitätsgärten (wie 1543 in Pisa, 1545 in Padua etc.) verdichtete sich an diesem Wissensraum wie auf einem Schiff oder auf einer Insel die Erfahrung und verwies auf Fragen, die nur hier gestellt und gelöst werden konnten. Gärten bildeten die einzige Möglichkeit, die sonst verstreuten vegetabilischen Schätze an einem Ort zu versammeln. Die konnotative Gleichsetzung des Gartens mit dem Paradies, die Idee des Gartens als 14 John Prest: The Garden of Eden: the Botanic Garden and the Re-creation of Paradise, New Haven 1981.

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Abb. 4: Ausschnitt aus Johann Ellis: Fass, Holzbox und Vitrine, siehe auch Farbtafel (S. 50).

Rekreation des Paradieses,15 war eine jedem Garten grundsätzlich immanente und sehr verbreitete. Sie stellte ein Spektrum dar, das unterschiedliche Deutungen erlaubte: unendliche Fruchtbarkeit und Naturreichtum oder auch ein konzentriertes Areal der Vollkommenheit. Auf einem Schiff existierten ebenfalls geballte Bedingungen, die jedoch im Unterschied zu einem Garten ein Klima für Pflanzen darstellte, das nicht nur alle möglichen Varianten und Extreme des Globus betraf, sondern sich zugleich auch durch seine Andersartigkeit infolge der salzigen Luft vom Festland unterschied. Keine Gefäßkonstruktion konnte für sich beanspruchen, eine ideale Realisierung aller für die Lebensbedingungen der Pflanze unabdingbaren Faktoren zu verbürgen. Die Zufuhr von guter Luft und die Vermeidung von ‚fauler‘ Luft waren beispielsweise nicht gleichzeitig und in einem einzigen Gefäßtyp verwirklichbar. Diese Ambivalenz wurde in Ellis Kommentar deutlich, denn obwohl er die Notwendigkeit permanenter Zufuhr von frischer Luft immer wieder diskutierte, empfahl er im gleichen Atemzug aus anderen Gründen die Verriegelung der Kiste: „Der Deckel der Küste muß ent 15 Prest (s. Anm 14).

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weder unterwärts fest vernagelt werden, oder muß Angeln und Vorlegeschloß haben, damit es nicht anders kann aufgemacht werden, als wenn es nöthig ist, […] vermittelst es weniger Gefahr zu besorgen hat, dass die Pflanzen verunruhiget werden.“16 Die auf einem Schiff unerlässlichen Sicherheitsmaßnahmen gegen Beeinträchtigungen der Pflanzen und die Ermöglichung idealer Lebensbedingungen standen sich in Ellis’ Argumentation oft im Wege. Die zentrale Frage, die sich für den Transport stellte, war die nach einer geeigneten Vorrichtung, um die Pflanzen gegen heftige Stürme zu schützen, damit sie „desto besser und fester in ihren Plätzen erhalten werden“17. Für diese Aussage wirkte die im Bild auf das Innere der Gefäße ausgerichtete Blickführung sinnunterstützend. Die Fächer der Kiste standen für diese stabilisierende Funktion: „Die jungen Bäume müssen drey Zoll hoch von dem feuchten Mooß auf dem Boden der Küste in Reihen gesetzt werden, aufrecht, dichte eine an die andere; in die leeren Plätze zwischen einer jeden und auf der Oberfläche wird feucht Mooß eingedrückt […] hierauf Latten, welche man kreuzweise befestiget; oder man zieht Bindfaden kreuzweise darüber, damit alles gerade stehet.“18 Im Rahmen des alle drei Varianten vorführenden Kupferstiches enthielt die Darstellung der Vitrine die eindeutige Fokussierung auf das Innere eines Gefäßes (Abb. 4), indem sie die Befestigung der Pflanzen mit ihrer erkennbaren Bodenhaftung deutlich machte. Ellis bezog sich in der Beschreibung dezidiert auf Stephen Hales, und auch die Darstellung der Pflanzen erinnerte an die in Hales Werk publizierten Kupferstiche, die unzählige Anordnungen visualisierten. Stephen Hales’ physiologische Experimente, welche die Quantität der Wasseraufnahme von Pflanzen zum Gegenstand hatten, Vegetable Staticks, wie seine Publikation des Jahres 1727 betitelt war19 und die er in der Newton’schen Physik begründet hatte, erwiesen die innere Regulierung des Wasserhaushaltes. Wichtig schien das Faktum, dass dieser Wasserfluss und die Statik der Pflanze nicht durchbrochen wurden. Danach orientierte sich die Praxis – wie sie in einem Fall bei Ellis demonstriert wurde – an einer Behälterform, welche die Pflanze fest verankerte, damit die Stabilität gewahrt blieb und sogar die Wurzeln der Pflanze in Moos mit Draht gesichert wurden. Informierte Expeditionsplaner

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Ellis (s. Anm. 8), S. 15. Ellis (s. Anm. 8), S. 14. Ellis (s. Anm. 8), S. 15. Stephan Hales: Statick der Gewächse oder angestellte Versuche mit dem Saft in Pflanzen und ihrem Wachsthum, nebst Proben von der in Körpern befindlichen Luft, Leipzig 1748.

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hatten hier in Assoziation zu Hales ein Argument vor ‚Augen‘, dieser Form des Behälters den Vorzug zu geben. Das Nachdenken über das Transportgebaren erforderte vielfältiges praktisches Wissen, aber es integrierte auch Theorien, die sonst – wie im Falle Hales – beim Anbau der Pflanzen keine Rolle spielten. Bei der Auswahl der Behälter musste somit differenten praktischen Überlegungen Rechnung getragen werden. Da aber Ellis keiner einzelnen praktischen Erfahrung in seinen Argumentationen eindeutig und generell den Vorzug zu geben wusste, und er sich zudem mit seinen Ratschlägen mehrfach in Widersprüche verfing, leiteten die Bilder bei der Auswahl eines geeigneten Gefäßes die Entscheidung, weil sie mit ihrer Anbindungsmöglichkeit an einen bestimmten theoretischen Überbau, der je nach des Betrachters Bezugnahme mobilisiert werden konnte, der Eindeutigkeit zum Durchbruch verhalfen. Die aus Hales’ Theorie abgeleitete Überzeugung, dass die Vitalität der Pflanze vom Aufstieg des Saftes in ihr abhängig war und diese einen Effekt der Sonnenwärme darstellte, sprach für sonnendurchlässige Behälter aus Glas. Der traditionellen Säftelehre zufolge sollten jedoch die Pflanzen nicht während der heißen Jahreszeit in einen solchen Behälter versetzt werden, da sie zu viele Säfte entwickeln und damit verfaulen würden.20 Für die Bewegung der Säfte bedürfe es aber eben der frischen Luft, weshalb Behälter mit Öffnungen versehen sein müssten (Abb. 1). Vor Johann Ingenhousz’ Erkenntnissen (Fotosynthese) ging die Forschung davon aus, dass ein Gewächs faule Luft erzeuge, weshalb die Belüftung für die Pflanzen so wichtig sei; dafür war wohl ebenfalls das bei Ellis abgebildete Fass am besten geeignet. Vom Physiokratismus beeinflusste Botaniker hatten die bevorzugte Rolle des Bodens der Pflanze, die Güte der Erde, als Dringlichstes im Kopf, dem sie alle anderen Maßnahmen nachreihten. Dafür passte die Kiste, in die Moos auf Erde eingebracht war (Abb. 2 und 3) und bei der Licht als Kriterium nicht von Belang war. Der Kupferstich mit den drei Varianten brachte diesen Auswahlmodus ins Spiel, das Bild funktionierte durch sein konnektives Potenzial wissensdifferenzierend. Die Konstruktion jedes einzelnen Behälters stellte eine Referenz zu einem universell geltenden Wissensbestand her. Je nachdem aber, welcher allgemeinen Erklärung der Betrachter den Vorzug gab, dem Physiokratismus, der Theorie Stephen Hales’, der aus der bewährten, aus medizinischem Diskurs stammenden 20 Siehe Alain Corbin: Le Miasme et la Jonquille. L’odorat et l’imaginaire social XVIIe –XIXe siècles, Paris 1982; deutsch: Pesthauch und Blütenduft. Eine Geschichte des Geruchs, Berlin 1984, S. 35 f.

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Miasmentheorie, der traditionellen Säftelehre oder der von Johann Ingenhousz postulierten Fähigkeit der Pflanzen, Luft zu verbessern, konnte er eine der vorgeschlagenen Varianten einer Behälterform präferieren. Die Unsicherheit war groß, und selbst der Leiter des Botanischen Gartens in Wien, Nikolaus von Jacquin, vermochte trotz seiner Reiseerfahrungen in der Karibik, vom Wiener Hof wegen des anstehenden Transports der vom Kap der Guten Hoffnung kommenden Pflanzen 1791 befragt, kein Erfordernis zu benennen, außer der Unverzichtbarkeit des Sonnenlichts.21 Die Visualisierung der Typen bei Ellis ermöglichten je nach kognitiver Verwurzelung des Betrachters in einer der universell formulierten Theorien oder Metaebenen die Entscheidung für eine bestimmte Form, sie wirkten als Assoziationsbrücke bei der Auswahl aus einem theoretisch wie praktisch durchaus reichen Angebot. Wie Insel, Schiff und Garten fungierten auch die Behälter als Experimentierfelder im Pflanzentransfer. Während Ellis mit seinen Argumenten die Versuchsfreudigkeit und die Sammlung von Erfahrungen für diesen Prozess evozieren wollte, erwies sich die Visualisierung im Vorfeld des Transfergeschehens vor der Abfahrt auf hoher See als Entscheidungshilfe innerhalb einer Experimentieraufgabe, welche die Protagonisten professionalisieren wollten. 21 HHStA [Österreichisches Haus-Hof- und Staatsarchiv] Wien, OMeA Sr 176, fol. 1–3.

Interview

Kunst und Kybernetik. Ein Gespräch der Bildwelten des Wissens mit Claus Pias Bildwelten: Herr Pias, was haben Kybernetik und Kunst miteinander zu tun? Claus Pias: Ich würde die Frage zunächst gern in die Vergangenheitsform verle-

gen und fragen:Was hatten Kunst und Kybernetik einmal miteinander zu tun? Die aktuellen Debatten um das Verhältnis von Kunst und Technologie fanden in der Kybernetik der 60er Jahre schon einmal statt, wenngleich unter ganz anderen historischen Bedingungen. Bildwelten: Heißt das, Kybernetik auf Technologie zu reduzieren? Oder gibt es, weitergefasst, theoretische Konzepte von Kybernetik, mit denen sich die Kunst verbindet? Claus Pias: Ich glaube, man kann die Sache von zwei Seiten angehen. Einerseits ist es bemerkenswert, dass die Kybernetik eine Wissenschaft ist, die Artefakte produziert, die nicht unbedingt im Sinne gebrauchsfertiger Technologien zu verstehen sind, sondern eher im Sinne gebauter Theorien. „Experimentelle Epistemologie“, wie das bei Warren McCulloch heißt. Es entstehen kleine Maschinchen, die auch in Kunstausstellungen zu sehen sind, wie etwa 1968 in der Londoner Ausstellung Cybernetic Serendipity. Objekte, die zwar zum Beispiel von Elektrotechnikern gebaut werden, aber plötzlich im Kunstkontext auftauchen. Die andere Seite des Zusammenspiels ist, dass Künstler zwar dieses Wort „Kybernetik“ gebrauchen, man sich aber fragen darf, inwieweit sie eigentlich die zugehörige Wissenschaft brauchen, um Kunstwerke zu machen. Kybernetik braucht materielle Anschauungsobjekte, die ihre Theorien verkörpern und lauffähig machen, aber die umgekehrte Frage lautet: Brauchte die Kunst, die sich damals auf Kybernetik berief, wirklich die kybernetischen Theorien, um Kunst zu machen? Bildwelten: Worauf genau bezog sich denn die Kunst, wenn sie sich auf Kybernetik berufen hat? Claus Pias: Auch das ist unterschiedlich. Die Videokunst zum Beispiel hat den Begriff des Feedback stark gemacht, da man erstmals mitten im Bild, in Echtzeit, Feedback bekam: Man konnte die Kamera auf den Monitor zurückrichten, sich selbst in Echtzeit beobachten, man konnte Feedbackschleifen installieren und so weiter. Andere Künstler haben eher auf den Begriff der Information und den neuen Apparat des Computers gesetzt, haben Computergrafik gemacht und damit eine Kritik von Autorschaft formuliert. Die Bezüge sind also sehr unterschiedlich; man kann sich mehrere Dinge aus der Kybernetik herauspicken. Bildwelten: In Ihrem Beitrag im zweiten Band der Macy-Konferenzen beziehen Sie sich auf die Idee des Steuermanns, die der Kybernetik das Potenzial gegeben

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Interview

hat, für verschiedenste Disziplinen Modellwirkung zu entfalten.1 Widerspricht aber nicht das künstlerische Prinzip diesem Steuermannprinzip? Claus Pias: Nur teilweise. Die Steuerung, also die politische Funktion der Kybernetik, ist sicherlich die älteste, die bis in die Antike zurückdatiert und im 19. Jahr­ hundert von Ampère wieder stark gemacht wird, der die Kybernetik ja unter die politischen Wissenschaften zählt. Auch in der Theologie spielt sie natürlich eine Rolle, denn die „kybernesis“ ist die Gnadengabe der Gemeindeleitung. Die Wende in der Wiederbelebung des Begriffs „Kybernetik“ durch moderne Technologien und konkret den Computer, die nach 1945 passiert, ist die Vorstellung, dass Regulierungsprozesse objektivierbar seien, und zwar in einem Maß, das einen Qualitätssprung bedeutet. Die Ansicht, die mehrere Autoren der Zeit – Pierre Bertaux, Stafford Beer, Jay Forrester und andere – teilen, ist, dass eigentlich nur noch Rechenmaschinen in der Lage seien, die Regierungskrise nach dem Zweiten Weltkrieg und die Komplexität der Welt, ihre ökonomischen, politischen und sozialen Probleme, zu bewältigen. Etwas Ähnliches wie diese Objektivierung des Politischen, spielt auch bei den frühen Computerkünstlern im Zusammenhang mit der Informationsästhetik eine Rolle. Jemand wie Max Bense behauptet, Kunstwissenschaft sei eine objektive Wissenschaft, sie sei ideologiefrei, sie habe exakte messtechnische Grundlagen, eine formale Sprache und so weiter. Und die Leute, die daraus Computergrafik machen (und zwar etwa so, wie Hacker in den USA zur gleichen Zeit Computerspiele machten), objektivieren in der Maschine nun einen Schöpfungsprozess. Sie operationalisieren Zufallszahlen, sie objektivieren die Hand, indem sie einen Plotter benutzen, und so weiter. Auch dort findet der „Tod des Autors“ statt. Und ich glaube, dass diese Frage der Ideologiefreiheit und des Technikvertrauens nicht zuletzt auch den Umständen des Kalten Krieges geschuldet ist. Aber ich bin abgeschweift. Steuerung – das war ja der Ausgangspunkt – hieße, einen Prozess in Gang zu setzen, für den man nicht mehr unmittelbar verantwortlich ist.Wenn und sofern sich der Künstler als Programmierer versteht, was er nach Max Bense und Abraham Moles tun sollte, ist er vielmehr verantwortlich für das Aufsetzen eines Systems, welches dann ohne ihn läuft. Er verabschiedet sich sozusagen, indem er Automatisierungsprozesse oder „Metakreationen“ (wie Moles sagt) ins Werk setzt. Und Automatisierung wurde damals ja noch nicht

1 Claus Pias: Zeit der Kybernetik. Eine Einstimmung. In: Ders. (Hg.): Cybernetics – Kybernetik. Die Macy-Konferenzen 1946–1953, Bd. 2: Essays und Dokumente, Zürich 2004, S. 9–42.

Kunst und Kybernetik

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so sehr als Jobkiller verstanden, sondern auch als Möglichkeit, vom Reich der Notwendigkeit ins Reich der Freiheit zu gelangen. Bildwelten: Was macht den Ansatz so attraktiv, Information ohne Inhalt und von Verantwortung befreite Prozessgenerierung für die künstlerische Arbeit zugrunde zu legen? Claus Pias: Vielleicht zum Begriff der Information: Bei Leuten wie Abraham Moles oder Max Bense spielt der Informationsbegriff dahingehend eine Rolle, dass er ein Maß für die Wahrscheinlichkeit oder Unwahrscheinlichkeit für das Auftreten von ästhetischen Ereignissen ist. Die Reformulierung, die dort stattfindet, begründet sich gar nicht mehr so sehr auf die verlustfreie Übertragung von Symbolen oder Nachrichten, sondern es wird eher eine Avantgarde-Theorie formuliert: Information, sprich unwahrscheinliche Ereignisse, übersetzt Bense mit „Originalität“; wahrscheinliche Ereignisse oder Redundanz übersetzt er mit „Stil“. Das heißt für ihn also, dass über den Informationsbegriff eine objektive Avantgarde-Theorie möglich ist, die ihn in ein ganz seltsames Verhältnis zur Frankfurter Schule setzt. Man könnte sagen, dass die Bense-Schule durch die Technik hindurchgeht, statt sich ihr zu verweigern. Ein Begriff wie „Kulturindustrie“ zum Beispiel hieße im Cyberspeak der Informationstheorie „Redundanz“ oder „Banalität“. Nun hat man also ein Maß, das Originalität und Banalität, Stil und Innovation messbar und sogar maschinisierbar werden lässt. Was nun das Verlangen betrifft, das dahinter steht: Dies ist, zumindest bei Max Bense, durch die NS-Vorgeschichte bedingt und lässt sich gut beschreiben als der Wunsch einer Vertreibung des Raunens und der Ideologie aus dem Bereich der Ästhetik, einer Annäherung an die exakten Wissenschaften unter dem Zeichen der Objektivität. Die Kybernetik und ihre Technologien unterlaufen gewissermaßen die Grenze zwischen den Two Cultures. Max Benses informationstheoretische Untersuchungen zu Stil und Banalität erlauben die Untersuchung bestehender Kunstwerke ebenso wie die Generierung neuer Kunstwerke, wenn man nur deren informationstheoretische Gesetzmäßigkeiten erkannt hat. Analyse und Synthese, Verstehen und Machen gehen Hand in Hand.Wenn man den Zusammenhang eines Ökosystems erkannt hat (so ein anderes Beispiel dieser Zeit), kann man in dieses Ökosystem eingreifen und es kontrollieren und reparieren. Bildwelten: Kommt in dieser Theorie Stil als Kultur- oder Epochenphänomen vor?

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Interview

Claus Pias: Eigentlich nicht, es ist eher eine Enthistorisierung der Arbeit, eine

reine Formanalyse, die höchstens statistisch quantifizieren kann, was den Stil der Epoche ausmacht, indem sie viele Werke einer bestimmten Epoche durchmustert, aber eigentlich keine historische, sondern nur formale Argumente zulässt. Dass auch Sinn ein statistisches Phänomen ist, ist zwar angelegt, aber kaum ausgeführt. Bildwelten: Was für eine visuelle Kultur, mehr noch: welche Theorien liegen dieser visuellen Kultur zugrunde, die zwischen Stil als Synonym für Redundanz und Originalität als die Unwahrscheinlichkeit von Ereignissen differenziert? Claus Pias: Zu sehen gibt es meist zweidimensionale Formen, und es herrscht ein ganz klassischer Tafelbild-Begriff. Formen, die auf der anderen Seite des Ozeans auch mit Kybernetik zusammengebracht wurden, also etwa Happenings, Videokunst, Drogenexperimente, und die als alternative Formen von Kybernetik begriffen wurden, finden in Europa in dieser Phase kaum statt. Hier sind es allein Formen in der Fläche. Insofern gibt es tatsächlich so etwas wie einen ‚Stil‘ der Informationsästhetik, der aber eher daraus resultiert, dass mit bestimmten Methoden eben nur bestimmte Werke überhaupt analysierbar sind. Eine Voraussetzung ist etwa, dass man ein diskretes, visuelles Zeichenrepertoire hat. Wahrscheinlichkeitsverteilungen sind nur vernünftig rechenbar, wenn man ein solches Repertoire hat, das sich in unterschiedlichen Kombinationen mit unterschiedlichen Wahrscheinlichkeiten verwirklicht. Deswegen wird wohl Vasarely so gerne auf den Buchcovern der Informationsästhetiker abgebildet. Vasarely fasste ja selbst irgendwann den Plan, einen Computer für die Generierung seiner Werke zu benutzen. Das lag auch nahe, weil er mit einer Proto-Computertechnik, mit einem Kalkül gearbeitet hat, indem er Formen in bestimmten Farben vorbereitete – ausgestanzte Papierformen in genormten Grundfarben – und damit Muster gelegt hat, die er dann als Werke ausführen ließ. Die Konsequenz dieses maschinellen Prinzips, überlegt Vasarely folgerichtig, wäre eine computergesteuerte Maschine zu bauen, die diese Sachen auch gleich noch malt. Insofern sind jedenfalls nur Dinge beschreibbar, die auf einen endlichen Vorrat von Elementen rückführbar sind, wie er im Rahmen der damaligen Rechenleistung überhaupt beherrschbar war – und das sind eben kleine Repertoires von geometrischen Grundformen. Das zweite, fundamentalere Hindernis ist, dass die Elementarisierung von visuellen Formen viel schwieriger ist als etwa der Umgang mit Text, da dieser per se aus Elementen, nämlich Buchstaben, Silben oder Wör-

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tern, besteht. Die Informationsästhetik hat also ein leichteres Spiel im textlichen Bereich als im Visuellen, und dabei ist es bis heute mehr oder minder geblieben. Bildwelten: Haben wir es hier mit einer Technologisierung des deutschen Nachkriegsphänomens, der Konstruktion oder Konstituierung der Stunde Null nach 1945 und der Rede von der „Reinen Form“ zu tun? Hat die neue Möglichkeit der Computerisierung, der Berechenbarkeit diesen Gedanken der „Reinen Form“ im Grunde genommen nur technologisiert? Ist dies hier nicht, mit Bense gesprochen, immer noch ein Nachkriegsphänomen? Claus Pias: Das würde ich auch so sehen. Diese Phase ist ein Nachkriegsphänomen, das im Bezug auf seine Mathematisierung tatsächlich tauglich ist, mit ideo­ logisch stark aufgeladenen Epochen umzugehen. Zum Beispiel ist auch in der Sowjetunion nach Stalins Tod die Kybernetik ein Vehikel der Entstalinisierung: Der Umstieg von der materialistischen Dialektik des Stalin’schen „New Speak“ wird durch die Kybernetik bewältigt, indem man sagt: Jetzt kommt die Sprache der Wahrheit, die Sprache der Objektivität. Und dies war die Sprache der Kybernetik, des Rechnerbaus, der Mathematik und der Programmierung. Bildwelten: Mit der Überführung der Informationstheorie durch Max Bense auf eine Kunsttheorie stellt sich somit die Frage, ob es bei „Kunst und Kybernetik“ möglicherweise gar nicht so sehr um eine Übertragung eines informationstheoretischen oder mathematisierten Formfindungssystems auf die Kunst ging, sondern dass sich dahinter ein weitaus politischerer Ansatz festmachen lässt: Eröffnete die Kybernetik einerseits dem Künstler die Möglichkeit, sich, im deutschsprachigen Raum zumindest, von einer Inanspruchnahme der Kunst durch die Politik zu befreien und gleichzeitig, mit der Etablierung der Rede von der „Reinen Form“ in der Kunsttheorie zeitgleich zur Konstituierung der Stunde Null, an einer neuen nationalen Identität mitzuwirken? Claus Pias: Auch das hat, glaube ich, zwei Seiten. Einerseits kann man sagen, dass die Überlegungen, die hier stattfinden, tatsächlich einen nationalgeschichtlichen Hintergrund haben. Zugleich aber ist der Impetus einer Verwissenschaftlichung von Ästhetik und Kunstproduktion, die damit einhergeht, eher ein Internationalisierungseffekt. Trotz gewisser Unternehmungen in diese Richtung kann man ja letztlich auch nicht sagen, dass es eine sowjetische und eine westliche Physik gegeben habe. Die Sprache der Mathematik scheint so universal wie die „reinen“ Formen, mit denen ein Vasarely den Globus überziehen wollte. Und in diesem Sinne ging es darum, eine abstrakte, gemeinsame Sprache zu finden,

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die zwischen Technik, Naturwissenschaft, Kunst und Ästhetik vermittelt. Der Literaturwissenschaftler, sagt Bense, solle sich irgendwann mit dem Chemiker in den gleichen Formeln verständigen können, und ein Werk von Joyce solle mit einem Formelapparat beschreibbar sein, mit dem ein Physiker auch ein Gas beschreibt. Das wäre die Seite der Internationalisierung, wobei der Ästhetik die Rolle der Naturwissenschaft zukommt, der Kunst aber die Rolle der Technik, die nicht reduzierbar ist auf eine Trivialisierung oder Anwendung von Grundlagenforschung, sondern die einen autonomen Diskursbereich bildet. Was dabei die Staatskunst betrifft: Es würde mir sehr einleuchten, dass Künstler aus dieser Rolle des Staatstragenden herauskommen wollten. Man sollte dabei jedoch auch sehen, dass die damaligen Experimentatoren mit Computern, die diese Theorien tatsächlich in Kunstwerken verkörpert haben, keine Künstler waren, sondern erst aus unserer heutigen Perspektive, mit 40 Jahren Abstand, als solche rekrutiert werden. Ihre Kunst fand in Rechenzentren statt, und es waren Mathematik- oder Elektrotechnikstudenten, Philosophen teilweise, deren Sachen erst jetzt zu Vorläufern einer selbst in die Jahre gekommenen „Medienkunst“ werden. Ich sehe sie eher als Hacker, die – wie ihre Kollegen in den USA – mit dem Computer experimentieren, es aber versäumen, ihn nach 1968 als „Medium“ stark zu machen und zu politisieren. Frieder Nake hat, glaube ich, nach wenigen Jahren aufgehört, Kunst zu machen und sein Leben erst mal als Informatikprofessor fortgesetzt. Bildwelten: Ich möchte noch einmal auf Ihre Aussage zurückkommen, der Ästhetik komme die Seite der Naturwissenschaften, der Kunst die Seite der Technik zu. Bedeutet das nicht, dass wir heute mit diesen Produkten eine „Verkunstung“ betreiben, die ihrer Intention nach aber zunächst gar nicht als Kunst produziert wurde, sondern als: Was eigentlich? Claus Pias: Das trifft, glaube ich, einen interessanten Umstand. Wenn man sich zum Beispiel die erste große und wohl berühmteste Ausstellung kybernetischer Kunst ansieht, die schon angesprochene Londoner Ausstellung Cybernetic Serendipity, so trat dort ja eine sehr seltsame Mischung auf. Es fuhren kleine Roboter herum, elektronische Mobiles hingen von der Decke, die von KybernetikerKünstlern wie Gordon Pask gebaut wurden, an den Wänden hingen permutationelle Grafiken und vieles mehr. Daneben standen aber Firmenpräsentationen, und es stellten Unternehmen wie Boeing, IBM oder AT&T ihre Produkte aus.

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Neben einem Flugbuchungssystem konnten Computergrafiken von Frieder Nake hängen, und beides zusammen bildete die Allegorie einer neuen Epoche. Es war eine seltsame Mischung, die eher etwas von einer Technologiemesse oder Weltausstellung im Kleinen hatte. Und tatsächlich findet für die Kunstproduktion eine Ausrichtung an der Forschungspraxis der Natur- und Ingenieurswissenschaften statt. In der Vorstellung von Abraham Moles zum Beispiel werden die Kunstakademien aufgelöst und stattdessen Kunstzentren gebaut, in deren Mitte ein vernetzter Großrechner steht, auf den die verschiedenen Abteilungen – Bild,Ton, Bewegtbild – zugreifen können. Daneben gibt es ein experimentalpsychologisches Labor, das an Testpersonen die Wirkung der Werke misst. Ein arbeitsteiliger Prozess also, in dem sich Research und Development koppeln, wie man es aus der Wissenschaftsorganisation im Zweiten Weltkrieg gelernt hatte: interdisziplinär, flexibel und anwendungsorientiert. Bildwelten: Heißt das, was man dort als kulturelles Phänomen dieser Zeit dingfest machen könnte, lässt sich mit einem Stilbegriff nicht fassen, sondern viel eher über die Gemeinsamkeit der Produktionsbedingungen, über die Gemeinsamkeiten der Arbeitsorganisation und der angewandten Technologie? Claus Pias: Dem würde ich unbedingt beipflichten. Wenn man beispielsweise die Arbeitsbedingungen betrachtet, war wahrscheinlich der abstrakte Expressionismus, wenn wir noch einmal die Kontinente wechseln, das letzte Modell des großen einsamen Subjekts in seinem Loft oder Atelier. Die Wissenschaftsarchitekturen während des Zweiten Weltkrieges sind offene Hallen, Mehrzweckhallen, in denen Teamwork stattfindet, in denen man nach Bedarf Zwischenwände einziehen kann, in denen Steckdosen und Versorgungsleitungen im Boden liegen und verschieden konfiguriert werden können. Das Nachfolgemodell auf der anderen Seite des Ozeans, die Warhol’sche Factory, holt dabei insofern auf, als dass sie immerhin ein Fabrikmodell installiert: Es gibt eine Leitungs- oder Entwicklungsabteilung, die Prototypen festlegt, welche dann seriell gefertigt werden. Und vielleicht gerade weil Europa in der Rechnerausstattung etwas zurückgeblieben war, sind hier die Fantasien solcher Labors avancierter als das, was bei Warhol passierte. Die Abraham Moles’sche Vorstellung ist tatsächlich die einer dezentralen Netzwerkstruktur. Das heißt, die Kunstwerke entstehen nicht als serialisierte Produkte wie Kühlschränke, sondern mehrere Leute schreiben an einem Programm, und die Computer sind in der Lage mit Zufallszahlen zu

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o­ perieren, so dass jedes Multiple einer Serie anders aussieht, algorithmisch generiert und automatisch produziert wird. Das ist die Fantasie einer Kunstproduktion, die über die Factory hinausgeht und sich mit dem deckt, was irgendwann in den harten Wissenschaften zur Wirklichkeit wurde, das heißt, verteilte Computersimulations-Labs, die keinen räumlichen, sondern nur einen informationstechnischen Zusammenhang haben. Für den postindustriellen Stand der Produktionsmittel steht hier der Computer, der steuernd mit Zufall, Variationen und Rückkopplungen umgehen kann und Produkte individualisiert statt serialisiert. Es geht also eher um die Maschinisierung von Differenz. Bildwelten: Welche aktuellen Erkenntnisse lassen sich aus einer Beschäftigung mit der Kybernetik ziehen? Claus Pias: Ich glaube, das wäre eine doppelte Wendung. Einerseits ist diese Epoche, nämlich die Nachkriegsgeschichte der Kybernetik und ihre Hoffnungen zwischen 45 und 67/68, eine vergangene. Sie ist eine zeit- und wissenschaftshistorische Angelegenheit. Was andererseits aber nicht heißt, dass die Fragen, die die Kybernetik aufgeworfen hat, deswegen verschwunden sind. Man kann vielleicht umgekehrt sagen: Die Kybernetik ist verschwunden, weil sie so erfolgreich war. Das heißt, was untergegangen ist, ist zwar der Anspruch einer neuen universalwissenschaftlichen Begründung der Aufhebung der Disziplinengrenzen, einer Neuformulierung der Wissenschaften auf einer gemeinsamen Sprache, die Hoffnung einer Regierbarkeit der Welt auf der Basis universeller Rationalität – also die „große Erzählung“ der Kybernetik. Was aber nach dem Ende solcher Ansprüche geblieben ist, sind natürlich Applikationen, Anwendungen, Denkmodelle, die nach wie vor höchst virulent sind. Das macht die Beschäftigung mit Kybernetik zu einer Archäologie der Gegenwart. Bildwelten: Liegt also die Attraktivität dieser Zeit in der Annahme, mit Hilfe eines Universalmodells Kunst, Kultur, Naturwissenschaften und Ingenieurwissenschaften in einer Transdisziplinarität zu vereinen? Claus Pias: Ja, die Kybernetik ist einer der ganz großen Versuche, die verschiedenen Kulturen, die ja genau zu dieser Zeit heftig diskutiert wurden, unter anderem durch eine gemeinsame Sprache zusammenzubringen. Und dazu gehört auch die Behauptung, dass es eine gemeinsame Hardware gibt, auf der diese verschiedenen Wissenschaften nun basieren (eben den Digitalrechner), und dass es ein gemeinsames Set von Modellen gibt, zu denen Information, Feedback und

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desgleichen zählen. Dadurch sollte es möglich sein, dass verschiedene Disziplinen sich wieder verständigen und neu anordnen. Und natürlich gehört dazu auch so etwas wie ein Legitimitätsaustausch: Ein Neurologe, der auf einen Elektrotechniker zur Legitimierung seiner neurologischen Modelle verweisen kann und umgekehrt ein Elektrotechniker, der beim Computerbau auf den Neurologen verweisen kann, bilden ein dynamisches Duo. Der Legitimitätshandel gehört zur Interdisziplinarität. Bildwelten: Welcher kulturanalytische Oberbegriff wäre heute denkbar, der die unterschiedlichen aktuellen Denkmodelle vereinheitlicht? Claus Pias: Eine etwas vermessene Antwort könnte vielleicht lauten, es sind die Medien. Und zwar in dem Sinne, dass die Frage nach den Medien keine geistes- oder sozialwissenschaftliche Angelegenheit mehr ist, sondern ein ganz eigenständiges Diskursprogramm, das genau solche Selbstverständnisse problematisiert. Ähnlich wie bei dem Verhältnis von Technik und Naturwissenschaft, wo die Systemtheorie, die selbst ein Produkt der Kybernetik ist, sich gerne duckt und behauptet, die Technik sei eine Trivialisierung von Naturwissenschaft. Ich glaube, die Technik ist ein eigenständiges Diskursprogramm, das die Two Cultures unterläuft oder dekonstruiert. Der Clou an der Kybernetik ist ja, dass sie weniger ein Fach als vielmehr eine Epistemologie ist. Sie ist also weder selbst eine klassische „Disziplin“ noch steht sie wirklich außerhalb der Disziplinen. Stattdessen wird sie in ihnen wirksam. Sprich: Über Konzepte wie „Information, „Feedback“ oder „Cyborg“ bringt sie ganz unterschiedliche Disziplinen – und zwar aus sich heraus – dazu, ihr Wissen zu reformulieren, zu rekonzeptualisieren oder ihre grundlegenden Konzepte zu revidieren. Das heißt, heideggerisch gesagt, sie bringt die Wissenschaften dazu, wieder mal zu denken. So eine Rolle könnte heute der Medien-Frage zukommen, wenn sie sich nicht voreilig auf bestimmte Gegenstände einschießt und abschließt. Die Bildwissenschaft zum Beispiel verkörpert die Medienfrage an der Grenze der Kunstgeschichte. Und so etwas könnte sich in verschiedenen Wissenschaften ereignen: eine medizinische Medienwissenschaft, die aus der Medizin – und bitte nicht auch noch aus der Germanistik – heraus kommt, eine physikalische Medienfrage, die aus der Physik kommt, eine informatische Medienfrage, die aus der Informatik kommt und so weiter. Wenn wir dann auf den Anfang unseres Gesprächs zurückkommen, kann man wahrscheinlich sagen, dass Kybernetik es nicht geschafft hat, sich mit dem Ver-

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such zu institutionalisieren, systematische Verkehrswege zwischen Disziplinen zu bahnen. Trotz der Benennung einiger Lehrstühle noch in den 70er Jahren, die das Wort Kybernetik führten, ist dieser Sprung in die Institutionalisierung nicht gelungen. Das spricht aber überhaupt nicht gegen ihre enorme Wirksamkeit. Angesichts des beispiellosen institutionellen Erfolgs der Medienwissenschaft in den letzten 15 Jahren kommen mir dagegen langsam Zweifel, ob es im Dazwischen wirklich so bequem sein kann. Bildwelten: Herr Pias, ich danke Ihnen sehr für dieses Gespräch. Das Gespräch führte GabrieleWerner Transkription Hanna Felski und Florian Horsthemke

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Bücherschau: Wiedergelesen Rudolf Arnheim: Entropie und Kunst. Ein Versuch über Ordnung und Unordnung. Köln 1979 (unveränderter Nachdruck 1996; amerikan. Original: Entropy and Art. An Essay on Order and Disorder, University of California Press 1971).

„10. Januar 1978, Hörsaal 3075 in der Humboldt-Universität Berlin […]: Gastvorlesung Prof. Dr. Rudolf Arnheim aus Ann Arbor, Michigan, USA: sein Thema ‚Ordnung und Unordnung in der Kunst.‘“ (Madrasch-Groschopp, Vorwort, in: Rudolf Arnheim: Zwischenrufe, 1985, S. 5) Im Alter von 73 Jahren kehrte der emeritierte Kunsthistoriker an seinen Geburtsort Berlin zurück. Ein halbes Jahrhundert erhöhter Entropie hatte ihn über die Stationen Rom, London und Harvard in den mittleren Westen der Vereinigten Staaten verschlagen. Zum Thema seines Vortrags hatte Arnheim sieben Jahre zuvor den Essay Art and Entropy veröffentlicht, als eine Art von Nachtrag zu Art andVisual Perception (1953) und Visual Thinking (1969). „Dass Kunst nicht dazu da ist, den Strom des Lebens zu dämmen“ (S. 79), hält Arnheim auf der letzten Seite des schmalen Büchleins fest. Gleichgewicht und ästhetische Ordnung in der Kunst gelten ihm als etwas Endgültiges. Dem steht ein nach dem 2. Weltkrieg popularisierter Begriff von Entropie gegenüber, der synonym mit Unordnung und Verfall verstanden wird als „thermodynamischer Weltzweifel“ (Pynchon, Spätzünder, 1985, S. 22). Arnheim unternimmt nun den Versuch, zwischen der heillosen Tendenz zur Unordnung und dem künstlerischen Ordnungswillen zu versöhnen. Den Begriff „Entropie“ hat der Physiker Rudolf Clausius 1865 zu dem Zweck neu gebildet, den 2. Hauptsatz der Thermodynamik, ausgehend von den Thesen William Thomsons, einfacher zu formulieren: „Die Entropie der Welt strebt einem Maximum zu.“ (Clausius, Über verschiedene für die Anwendung bequeme Formen der Hauptgleichungen der mechanischen Wärmetheorie, 1865, S. 353). Dieses Axiom unterscheidet sich in einem ganz wesentli-

chen Punkt von allen anderen Gesetzen der Physik. Als einziges legt es auf der Achse der Zeit eine Richtung fest. Alle anderen Vorgänge sind reversibel, nur dieser eine nicht: In einem energetisch geschlossenen System kann die Entropie nicht sinken. Seither kursieren unzählige Weltuntergangsszenarien, die Entropie mit Unordnung gleichsetzen und die Erde am Ende ins Chaos stürzen sehen. In der Regel ignorieren ihre Prognosen die Voraussetzung, dass der Satz nur für Systeme gilt, denen keine Energie zugeführt wird. Arnheims Thesen zur Entropie gehören, was den Übertritt des Begriffs in den Bereich der Kultur angeht, zur zweiten Generation der Aneignung. Die Informationstheorien der 40er Jahre bringen, unter Rückgriff auf Boltzmanns mechanische Wärmetheorie, die Begriffe Entropie, Wahrscheinlichkeit, Information und Ordnung miteinander in Verbindung. Dabei geht es um Signale, also um zeitliche Folgen (vgl. Shannon, Mathematische Theorie der Kommunikation). Bedeutung spielt dabei keine Rolle, und so kommt das Paradox zustande, „dass vollkommene Unordnung ein Höchstmaß an Information übermittelt; und da man Ordnung durch Information misst, so kommt also höchste Ordnung durch höchste Unordnung zustande“ (S. 26). Diesen Widerspruch will Arnheim lösen, indem er die „Struktur“ als einen Modus künstlerischer Ordnung hinzuzieht. Jede Struktur besitzt verschiedene Niveaus, auf denen sie mehr oder weniger geordnet ist. So kann im einzelnen Werk auf unterschiedlicher Stufe gleichzeitig Ordnung und Unordnung herrschen, womit das Paradox der scheinbaren Gleichheit von Information und Unordnung sich aufklärt. Damit wäre bewiesen, dass sich die Verfallsrichtung der Entropie mit dem klassischen Topos des ästhetischen Gleichgewichts versöhnen lässt. Im Rückblick lässt sich fragen, was Arnheim dazu bewogen hat, sich dem verzwickten und aufschlusslosen Problem der Entropie zu widmen. Hier tritt der Aspekt der Zeit gleich von mehreren Seiten hervor. Einerseits hatten naturwissenschaftlich motivierte Ästhetiken das Begriffsfeld um Information und Entropie in den 50er und

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60er Jahren popularisiert. Andererseits zeichnete sich ab, dass Arnheims gestaltpsychologisch motivierte Schriften zwar zu beliebten Handbüchern für Gebrauchsgrafiker avancierten, aber nicht dazu taugten, die Tendenzen der zeitgenössischen Kunst zu erklären. Im Entropie-Essay versucht er mit Hinweisen auf Werke und Aussagen von Jackson Pollock, John Cage, Hans Arp und sogar Robert Smithson neue Brücken zu schlagen. Doch gerade am Problem der Zeit versagt sein ent-zeitlichter Begriff der Entropie. Arnheim sieht sehr wohl, dass der positivistische Versuch, naturwissenschaftliches und künstlerisches Denken zu vereinen, gegenüber dem Fortschrittsdrang der Moderne hilflos bleibt. „Da aber Vollkommenheit ein Stillstand ist, hat sie von jeher auch Unbehagen erzeugt, und die unwandelbare Ordnung der Utopien und des Himmelreichs hat etwas von Langeweile.“ (S. 78f.) Denn die Kunst der Moderne untersteht einem Regime der Zeit, das jeder statischen Theoriebildung und jedem noch so wissenschaftlich begründeten Strukturgesetz immer wieder entkommen muss. Stefan Heidenreich

Bücherschau: Wiedergelesen / Rezensionen

Bücherschau: Rezensionen Entziehung und Rückstellung von Kunstwerken – eine Literaturübersicht

Eine Hauptursache für die Aktualität von Rückgabe-, Rückstellungs- und Entschädigungsforderungen sind die veränderten politischen Verhältnisse in den ehemals kommunistischen Ländern Europas. Rund 40 Historikerkommissionen und Provenienzforschungskommissionen wurden von zunächst west-, dann auch osteuropäischen Regierungen, Unternehmen, ­Museen und Bibliotheken eingesetzt, um vor allem die Geschichte von Vermögensentzug, Rückstellung und Entschädigung im Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus zu untersuchen.Viel diskutiert und mit großer, internationaler Medien-Aufmerksamkeit verfolgt, werden dabei Fragen der Arisierung, des Entzugs und der Rückstellung von Kunst- und Kulturgütern. Auf der Washing­ toner Konferenz über „Vermögenswerte aus der Zeit des Holocaust“ (Conference on Holocaust-Era Assets) im Dezember 1998 bemühte man sich um die Entwicklung einer gemeinsamen Vorgehensweise und internationaler Standards für den Umgang mit diesen Kunst- und Kulturgütern. Die 44 Teilnehmerstaaten, darunter auch Deutschland, Österreich und die Schweiz, einigten sich auf die Verabschiedung von elf Richtlinien, die seither sowohl Provenienzrecherche, Erbensuche als auch Rückgabe von Kunstund Kulturgütern maßgeblich beeinflussen. Seit Ende der 90er Jahre sind zahlreiche Arbeiten zur Thematik erschienen, die hier nur erwähnt werden können. Während in Österreich die erschienenen Arbeiten vor allem die arisierte Kunst („Raubkunst“) zwischen 1938 und 1945 und die Rückstellung nach 1945 in den Blick nehmen, wird die Diskussion in Deutschland stärker über die durch die Alliierten beschlagnahmte „Beutekunst“ bestimmt. Die Veröffentlichungen lassen sich grob in zwei Gruppen teilen. Da sind zunächst nationale Überblicksdarstellungen und Ana­ly­sen, die vor allem in Zusammenhang mit der Einsetzung von staatlichen (His­to­ ri­ker-)Kommissionen mit wissenschaftli-

Bücherschau: Rezensionen

chem Auftrag stehen, wie etwa der Band von Esther Tisa Francini Fluchtgut – Raubgut. Der Transfer von Kulturgütern in und über die Schweiz 1933–1945 und die Frage der Restitution oder der Band der Liechtensteinschen Historikerkommission, ebenfalls von Francini herausgegeben, Liechtenstein und der internationale Kunstmarkt 1933–1945. Sammlungen und ihre Provenienzen im Spannungsfeld von Flucht, Raub und Restitution. Die österreichische Historikerkommission hat mit dem Verweis auf die Kommission für Provenienzforschung im Zuge des Kunstrückgabegesetzes (BGB1. I 1998/181) und anderen Provenienzforschungen in den Ländern keine eigenen Forschungen zur Thematik beauftragt. Sie hat aber immer wieder drauf verwiesen, dass auch staatliche oder private Institutionen Forschungen – im Sinne einer Komplementärforschung zur Historikerkommission – durchführen sollten. Das Dorotheum, bis 2001 im Eigentum der Republik Österreich, hat die Ergebnisse der Forschungen im Band von Stephan A. Lütgenau, Alexander Schröck und Sonja Niederacher Zwischen Staat und Wirtschaft. Das Dorotheum im Nationalsozialismus (2006) veröffentlicht. Hier wird die Darstellung einer Institution des Kunstmarkts während des Nationalsozialismus und nach 1945 versucht. „Einzelfälle“, also Fälle, in denen es um Entziehung durch Versteigerungen oder um Einbringer einzelner Kunstwerke oder Käufer geht, werden kaum dargestellt. Einerseits, weil die dazu notwendigen Quellen fehlen, und andererseits, weil hier keine – in der nunmehr durchaus verengten begrifflichen Bedeutung – Provenienzforschung angestrebt war. Eine zweite Gruppe der Veröffentlichungen fokussiert nicht zufällig stark auf Einzelfälle, denn die zentralen Fragen bezogen sich und beziehen sich auch weiterhin auf die Möglichkeiten, Vermögenswerte rückzustellen. Ende des Jahres 1998 begann der mittlerweile verstorbene Publizist und Verleger Hubertus Czernin mit der Herausgabe der Bibliothek des Raubes, in der mittlerweile zehn Bände erschienen sind. Unter diesen findet sich das Handbuch der enteigneten Kunstsammlungen Wiens (2003) von Sophie Lillie, in dem sie ausgehend von unterschiedlichen

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Quellen Kunstsammlungen bis 1938, deren Eigentümer nach den Nürnberger Gesetzen Juden und Jüdinnen waren, rekonstruiert. 2006 sind zwei Sammelbände mit Österreichbezug – Enteignete Kunst, herausgegeben von Verena Pawlowsky und Harald Wendelin, 2006 und NS-Kunstraub in Österreich und die Folgen, herausgegeben von Gabriele Anderl und Alexandra Caruso, 2005 – erschienen, in denen neben den Einzelfällen bereits Darstellungen zu den seit Ende der 90er Jahre entwickelten rechtlichen Materien und die Erfahrungen mit deren praktischen Anwendung und Durchführung veröffentlicht sind. In den meisten Artikeln der zwei in Österreich publizierten Bände werden Fallbeispiele erörtert, die entweder Gegenstand der Kunstrückstellung aufgrund des Kunstrückgabegesetzes des Bundes oder der Kunstrückstellung der Gemeinde Wien sind. In manchen Fällen, wie etwa Munchs Sommernacht am Strand oder dem Torahmantel der Familie B. wurden die Objekte auch tatsächlich in der Folge an die ursprünglichen Eigentümer beziehungsweise deren Erben rückgestellt. In Kunst im Konflikt. Kriegsfolgen und Kooperationsfelder in Europa (Nr. 56, 1–2, 2006), erschienen als Band in der in Berlin herausgegebenen Zeitschrift osteuropa, werden sowohl Artikel zu Einzelfällen hier zu „Raub“- und „Beutekunst“, wie auch Länderberichte und Rechtsfragen publiziert. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass keine systematische historische Untersuchung des – um es möglichst allgemein zu formulieren – Transfers von Kunst- und Kulturgütern aus und nach Österreich im 20. Jahrhundert existiert. Dazu wären auch umfassende wissenschaftliche Arbeiten zum Kunstmarkt erforderlich, die ebenso fehlen. In den vorgestellten Publikationen dominieren die anlassbezogenen Fälle, die selbstverständlich für die Frage der möglichen Rückgabe entscheidend sind, eine eingehende, von umfassenderen Fragestellung bestimmte Forschung fehlt derzeit leider. Eva Blimlinger

90 Hans-Christian von Herrmann und Christoph Hoffmann (Hg.): Georg Nees: Generative Computergraphik, , Kaleidoskopien Bd. 6, Berlin 2006. Barbara Büscher, Christoph Hoffmann und Hans-Christian von Herrmann (Hg.): Ästhetik als Programm. Max Bense / Daten und Steuerungen, Kaleidoskopien Bd. 5, Berlin 2004.

Hans-Christian von Herrmann und Christoph Hoffmann haben die weltweit erste Promotion zum Thema Computergrafik von Georg Nees (1969 bei Siemens) erneut herausgegeben. Die Schrift ist 2006 in der Reihe Kaleidoskopien erschienen und in der Form eines Reprints gedruckt. Vorausgestellt sind ein Vorwort von Hans-Christian von Herrmann und eine neue Einführung von Georg Nees. Mit der Neuauflage dieser Dissertation wird eine wichtige Lücke in der Buchlandschaft geschlossen. Seit langem war dieses Buch vergriffen. In der gleichen Reihe wurde schon 2004 von den genannten Herausgebern zusammen mit Barbara Büscher der Band Ästhetik als Programm: Max Bense. Daten und Streuungen herausgegeben. Dieser Band besteht aus einigen Schriften von Bense, vor allem aber aus auf diese Schriften sich beziehenden Texten aus seinem Unfeld, der Stuttgarter Schule sowie Interviews neueren Datums mit Zeitzeugen. Der Band erschien anlässlich des internationalen Symposiums Stuttgart 1960. Computer in Theorie und Kunst, das 2004 an der Akademie Schloss Solitude stattfand. Ästhetik als Programm: Max Bense. Daten und Streu­u ngen widmet sich der Stuttgarter Schule. Bekannt ist die Stuttgarter Schule vor allem durch die konkrete Poesie. Seit einigen Jahren jedoch konzentriert sich das Augenmerk zunehmend auf die grafischen Leistungen aus dem Feld der Informationsästhetik. Zentraler Gedanke der Informationsästhetik ist, dass die Beurteilung von künstlerischen Werken objektiv möglich sein solle. Die angestrebte Objektivität soll dabei vor allem durch die starke Anlehnung an die empirischen und formalen Wissenschaften gewährleistet werden. So sind zentrale Elemente der Informationsästhetik die Informationstheorie Claude Shannons, eine mathematische Beschreibung ästhetischer Objekte, wie sie von David Birkhoff um

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1930 vorschlagen wurde, und Methoden der Wahrnehmungspsychologie. Die von Bense vor allem als deskriptive Ästhetik formulierte Informationsästhetik wurde Mitte der 60er Jahre von Georg Nees und Frieder Nake unter Einsatz des Computers in eine generative Ästhetik transformiert. Anschlusspunkte fanden sich bei Bense zahlreiche, und so nahm dieser jene Impulse gerne auf. In der Studiengallerie der damals Technischen Hochschule stellte Max Bense im Februar 1965 Arbeiten von Georg Nees aus. Heute gilt diese Ausstellung als die erste Computerkunstausstellung weltweit. Die Aufteilung des Bandes in die fünf Segmente Metatechnik, Informationsästhetik, Recheninstitut, Programmierung des Schönen und schließlich ComputerArt stellen einen ambitionierten Versuch dar, die Stuttgarter Ereignisse einzufangen. Zahlreiche Dokumente aus der Zeit sind hier zusammengetragen: Wichtige Artikel wie z.B. der Text von Theo Lutz Stochastische Texte von 1958, der kleine Ausstellungskatalog rot 19 computer-grafik, anlässlich der schon erwähnten Schau Nees’scher Werke, sowie zahlreiche kleine Texte Max Benses sind wieder abgedruckt und so leichter zugänglich. Texte zu den wichtigen Ausstellungen Cybernetic Serendipity (1968 kuratiert von Jasia Reichardt) und dem Kolloquium Computers and Visual Research in Zagreb im selben Jahr sind hier zu finden sowie ein Interview mit Benses Lebensgefährtin Elisabeth Walther, dem damaligen Leiter des Rechenzentrums Walther Knödel und dem Benseschüler Rul Gunzenhäuser. Es finden sich aber auch kleine Bonbons, wie z.B. der Experimentelle Lehrplan für Information an der Hochschule für Gestaltung in Ulm, an der Bense Information lehrte. Insgesamt bietet der Band einen sehr kompakten Einstieg in die Stuttgarter Schule. Der Folgeband in den Kaleidoskopien schließt hier an. Mit Georg Nees Generative Computergraphik ist nun die – von Max Bense betreute – weltweit erste Dissertation zur Computergrafik wieder im Buchhandel. Diesem Buch kommt nicht nur eine historisch wichtige Rolle in der Entwicklung der Computergrafik zu, er ist theoretisch auch heute noch für die Kunstgeschichte und die

Bücherschau: Rezensionen

Bildwissenschaften herausfordernd. Das Buch von Nees ist in 3 Kapitel unterteilt: der erste Teil besteht aus einer ausführlichen Einleitung, die eine allgemeine Diskussion der Bense’schen Ästhetik beinhaltet (ca. 40 Seiten). Der zweite Teil führt in die Programmiersprachen G1 und ALGOL ein und stellt die zentralen Prozeduren vor, die in Nees ästhetischem Labor zum Einsatz kommen (ca. 80 Seiten). Der dritte Teil widmet sich dem Verhältnis zwischen Programm und Ästhetik (ca. 140 Seiten). Nach Bense findet eine Kunstkritik auf zwei Ebenen statt – der Mikro- und Makro­ästhe­ tik. Die Mikroästhetik widmet sich der Analyse der Zeichenverteilung – z.B. auf einem Blatt Papier oder einer Leinwand – , die Makroästhetik dem Gesamterscheinungsbild und schließt vor allem Probleme der Gestaltpsychologie ein. Ihre jeweiligen Gesetzmäßigkeiten herauszufinden, ist Aufgabe der Informationsästhetik. Wird die Bense’sche deskriptive Ästhetik in eine generative transformiert, so müssen Regeln für die Verteilung der Elemente angegeben werden. Die Verteilung der Elemente, im Falle der Grafik auf einer Fläche, geschieht dann innerhalb des Programmablaufs durch verschiedene Pseudozufallsgeneratoren.Wie das genau aussehen kann, soll hier an einigen Beispielen kurz beschrieben werden. Die durch Pseudozufallszahlengeneratoren verteilten Elemente bestimmen die Mikroästhetik, ihr kommt – sie überlagernd – die Makroästhetik, d.h. eine ‚Mit-Realität‘, zu. Punkt, Punkt, Nase, Stricht fertig ist das Mondgesicht ist vielleicht die einfachste Variante. Im Fall der Nees’schen generativen Ästhetik entstehen im ästhetischen Labor durch die zufällige mikroästhetische Überlagerung von Kreiselementen makroästhetische ‚Gewölle‘, entsprechend durch die Aneinanderreihung von Linien ‚Irrwege‘, durch die systematische Anordnung geometrischer Elemente ‚Ornamente‘, und durch die flächige Verteilung von Elementen ‚Texturen‘. Richard Paul Lohse lieferte seit den 1940er Jahren mit seinen Quadraten ein ähnlich formales Konstruktionsprinzip: die Elemente Quadrat und Farbe werden durch Variation auf ihre ästhetische Kraft hin untersucht. Die Prinzipien der konkre-

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ten Kunst waren Vorbild für die generative Ästhetik, letztere geht jedoch über eine Regelbeschreibung hinaus, indem sie die Anwendung von Regeln auf ein autonomes System – den Computer – überträgt. Eine formale Beschreibung, wie sie bei Nees zu finden ist, formalisiert zentrale Komposi­ tions­elemente der konkreten Kunst in einer Art, die eine Übertragung auf den Computer nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch vorschlägt. Es könnte von einem vergessenen Schatz für neue Theoriebildungen im Spannungsfeld zwischen Bild und Algorithmus gesprochen werden. Dabei ist das Faszinierende an dem Bense-Nees’schen Ansatz seine Grundsätzlichkeit. Heute werden wir regelrecht mit Bildwelten überschwemmt, die einem konstruktivistischen Prinzip entspringen: der algorithmischen Beschreibung der ‚realen‘ Welt. Gerade die Rückbesinnung auf die kognitiven und wahrnehmungspsychologischen Zusammenhänge in der Erschaffung abstrakter Bildwelten durch den Computer findet heute jedoch meist zunehmend im Spannungsfeld Kunst und Wissenschaft statt. Christoph Klütsch

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Projektvorstellung Mit dem Auge denken. Social Network Analysis (SNA) – Die Wissenschaft von der Messung und Visualisierung von Beziehungen

Wer forscht mit wem? Welche Wissen­ schafts­dis­ziplin beeinflusst welche andere Wissen­schaftsdisziplin? Wer sitzt mit wem gemeinsam im Aufsichtsrat einer Firma? Wer ist mit wem Mitglied im selben Verband? Wer ist Sponsor/Kollege/Konkurrent/Juror/Kurator von wem? Diese Fragen sind nur einige Beispiele für soziale Beziehungen, wie sie die Soziale Netzwerkanalyse mit ihrem umfangreichen Methodenset untersucht. Aber nicht nur soziale Beziehungen/Relationen sind Forschungsgegenstand der SNA, auch technische (Stromleitungen, Pipelines, (Ab-)Wasserkanäle, Straßen- und Bahnnetze) und biologische Netzwerke (Foodwebs, Protein-Interaktionsnetzwerke). Jedes relationale Datenmaterial ist für eine netzwerkanalytische Betrachtung geeignet. Die Wurzeln der modernen Netzwerk­ana­ lyse reichen zurück bis in die struktur­alis­ tische („relationale“) Revolution in den Naturwissenschaften und insbesondere der Mathematik im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, die von Ernst Cassirer umfassend dargestellt wurde (Cassirer, Substanzbegriff und Funktionsbegriff, 1910). Die sich damals entwickelnde moderne Zahlentheorie, Relationenlogik, Bool’sche Algebra und Gruppentheorie waren der Ausgangspunkt für die Formulierung der Graphentheorie, die heute den zentrale Bezugspunkt der Social Network Analysis bildet (siehe auch International Network for Social Network Analysis, www.insna.org). Daten über soziale (oder technische, biologische, etc.) Beziehungen werden in Graphen transformiert und auf unterschiedlichen analytischen Ebenen (Akteur, Dyade, Triade, Cluster, Netzwerk) ausgewertet (Zu den methodischen Konzepten siehe de Nooy, Mrvar, Batagelj, Exploratory Social Network Analysis with Pajek, 2005). Mathematisch sind Netzwerke definiert als ein Set von Elementen, die über eine oder mehrere spezifische Relation(en) (uni-

oder multiplexe Netzwerke) miteinander verbunden sind. Der Einsatz von Visualisierungstechniken transformiert relationale Daten in einen multivariaten Bedeutungsraum. So werden nicht nur Eigenschaften von Beziehungen, sondern auch die Eigenschaften von Akteuren (Personen, Organisationen, Teams, etc.) abgebildet. Eines der größten Potenziale der wissenschaftlichen Methode der Netzwerkanalyse ist demnach die Visualisierung. Visualisierungen sind untrennbar mit der Untersuchung des Netzwerks verbunden, sie ermöglichen die Exploration eines Feldes, das Erkennen von Strukturen und damit das Formulieren weiterer Fragestellungen im Forschungsprozess. Netzwerkanalyse-Tools, wie Pajek, MAGE, NetMiner, UCINET etc., sind daher zugleich immer auch Visualisierungstools. Visualisierungen sind auch ein unverzichtbares Mittel zur Darstellung und zur Kommunikation der Ergebnisse. Die entstehenden Bilder sind in einem hohem Ausmaß von Signifikanz durchdrungen: Die Lage der Nodes und Cluster im Raum kommuniziert deren strukturelle Ähnlichkeit; die Größe der Nodes ist Ausdruck ihrer lokalen oder globalen Zentralität; die Dicke der Linien zeigt die Intensität und Stärke der Beziehungen, Pfeile geben der Beziehung eine Richtung; Farbe schließlich übermittelt zusätzliche Eigenschaftsmerkmale (strukturelle Eigenschaften wie Rollen, Zugehörigkeit zu bestimmten Gruppen oder Klassenattribute wie Gender, Branchen, Nationalitäten) von Akteuren und Beziehungen (Vgl. Krempel: Visualisierung komplexer Strukturen, 2005). Anordnungen und Verteilungen im Raum und die Skalierung der Nodes sind dabei nicht beliebig, sondern mathematisch-algorithmisch ermittelt. Generell können nur auf diese Art Beziehungen und Attribute jeder Art – so Daten vorliegen – dargestellt werden. Ein Bestandteil des Methodenrepertoires der Sozialen Netzwerkanalyse ist die Keyplayer-Analyse (Abb. 1), die vor allem hinsichtlich der Skalierung der Nodes zum Tragen kommt. Die relative Bedeutung der einzelnen Akteure zueinander wird auf Basis ihrer Beziehungen berechnet und mit Hilfe von Spring Embedder-Algorithmen

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Abb 1: Keyplayer embedded in trustfull relationships. Analysis and Visualization: FAS.research 2006.

nach einem Zentrum-Peripherie-Modell organisiert, wobei Nodes/Akteure, die dieselben Beziehungen haben, benachbart angeordnet werden. Größe und Zentralität der Nodes geben über Macht und Einfluss einzelner Akteure Auskunft. Mit dem Fokus auf solche Keyplayer-Analysen, die für einzelne Fragestellungen durchaus ihre Berechtigung haben, werden die Möglichkeiten der strukturellen Betrachtung von Netzwerken aber bei weitem nicht ausgeschöpft und die Ergebnisse führen wieder zurück zu personalisierten und substanzialisierten Aussagen (Rankings der Mächtigen und Einflussreichen). Da soziale Einheiten, wie zum Beispiel Eliten, sich nicht als Individuen, sondern als Strukturen reproduzieren, sind die wichtigsten und dringendsten Forschungsfragen jene nach den Eigenschaften von Strukturen, die Netzwerke nachhaltig robust und lernfähig machen. Ist die Landschaft der Netzwerke so modelliert, dass für alle Akteure optimale Bedingungen herrschen, um voneinander lernen zu können? Dies ist dann der Fall, wenn das Netzwerk im Wandel (z.B. verursacht durch interne und/

oder externe Krisen, Schocks) kohärent bleiben kann. Kurzum: Die gesamte Struktur des Netzwerks bestimmt, inwiefern der einzelne Akteur nachhaltig entwicklungsfähig bleibt. Im realen Leben passiert es oft genug, dass sogenannte Keyplayer, also die einflussreichsten Akteure eines Netzwerkes, diese Position in einem Netzwerk innehaben, das aufgrund seiner mangel- und fehlerhaften Struktur (zu geringe Diversität, zu geringe Konnektivität, zu geringe Robustheit) nicht optimal funktioniert (Captain of a Ship­wreck-Syndrom). Erst durch verschiedene Visualisierungstechniken können die morphologischen Eigenschaften in Zusammenhang mit Robustheit, Konnektivität und Diversität und Modularität sichtbar gemacht werden. Das Beispiel der Interaktionen der Wissenschaftsdisziplinen (Abb. 2) zeigt die unterschiedlichen morphologischen Dimensionen eines Netzwerkes sehr schön: Zonen höherer und geringerer Dichte, Cluster, Module, Farbcodierungen, unterschiedliche Größen- und Interaktionsverhältnisse, etc.

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Abb 2: Co-occurrence of assigned scientific classification codes in 5217 projects funded by the Austrian Science Fund, 1994–2004.

Das Bild als synchroner Raum ist in gewisser Hinsicht für ein Denken in Relationen besser geeignet als die Schrift und der gesprochene Diskurs mit deren notgedrungener Nähe zum Diachronen. „Mit dem Auge denken“ könnte somit eine Art pointierte Beschreibung der Tätigkeit einer Netzwerkanalytikerin/eines Netzwerkanalytikers sein, etwas das diese hochmathematische

und strenge Wissenschaft zum Beispiel mit GeografInnen, ArchitektInnen, KunstwissenschaftlerInnen und KünstlerInnen verbindet. Ruth Pfosser / Harald Katzmair FAS.research Wien & San Francisco www.fas.at www.fas-research.com

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Bildnachweis

Titelbild: Lucio Costa: Stadtplanung Brasilia. In: brasilien baut brasilia. Ausstellung interbau 1957 berlin, Berlin 1957, o. S. Innentitel: Philipp Galle nach Marten van Heemskerck: Collage nach ‚Natura‘, 1572. In: Ger Luijten, Roosendaal (Hg.): The New Hollstein Dutch & Flemish Etchings, Engravings and Woodcuts 1450–1700, 1994, S. 183. Editorial: Abb. 1: Mit freundlicher Genehmigung von Henning Wagenbreth. © Henning Wagenbreth. Eva Barlösius: Abb. 1–3: Eva Barlösius: Die Macht der Repräsentation: Common Sense über soziale Ungleichheiten, Opladen 2005, S. 82, 83 (oben), 83 (unten). Abb. 4: Stefan Hradil: Soziale Ungleichheit in Deutschland, 8. Auflage, Opladen 2001, S. 428. Abb. 5: Michael Vester, Peter von Oertzen, Heiko Geiling, Thomas Hermann und Dagmar Müller: Soziale Milieus im gesellschaftlichen Strukturwandel, Frankfurt a. M. 2001, S. 49. Werner Rammert: Abb. 1: http://www.indymedia.ch/itmix/2005/05/32727.shtml (Stand: 5/2007). Abb. 2: Totempfahl und Potlatch. Die Indianer der kanadischen Norzpazifik-Küste, Ausst.Kat., Staatliches Museum für Völkerkunde München/Zweigmuseum Oettingen, Oettingen 2004, S. 59. Abb. 3: http://www.wobogt.de/images/Datenbank.gif (Stand: 5/2007). Abb. 4: http://www. ntt.com/release_e/letters/BK_is/03_apr/i1a.html (Stand: 5/2007). Abb. 5: The works of Jeremy Bentham, hg. v. John Bowring, Nachdruck der Originalausgabe von 1843, Band IV, Bristol 1995, o. S. Abb. 6: http://www.covidec.ch/dvs.htm (Stand: 5/2007). Angelika Bartl: Abb. 1: Installationsansicht der Ausstellung Work on Strike (Fundació Antoni Tàpies, Barcelona 2004/05), Archiv Fundació Antoni Tàpies, Foto: Marc Coramina. Abb. 2: Still des Videos „Hot Water – de l´eau chaude“, Alejandra Riera, 2001. Abb. 3: Installationsansicht der Ausstellung „Work on Strike“ (Fundació Antoni Tàpies, Barcelona 2004/05), Archiv Fundació Antoni Tàpies, Foto: Llouis Bover. Abb. 4: Still des Videos „Hot Water – de l´eau chaude“, Alejandra Riera, 2001. Ute Holl: Abb. 1–5: Jutta Hercher u.a. (Hg.): Maya Deren. Choreographie für eine Kamera, Hamburg, 1995, S. 71–76. Faksimile: Abb. 1: Jakob L. Moreno: Grundlagen der Soziometrie, Köln 1967, S. 69. Abb. 2: ebda., S. 164. Abb. 3: ebda., S. 70. Abb. 4: ebda., S. 258. Abb. 5: ebda., S. 148. Abb. 6: ebda., S. 256. Bildbesprechung: Abb. 1: Foto: G. Gramelsberger. Abb. 2: http://www.containerhandbuch.de Abb. 3: Foto: G. Gramelsberger. Ulrike Bergermann: Abb. 1: Pesi R. Masani: Norbert Wiener. 1894–1964 (= Vita Mathematica, Bd. 5, hg. v. Emil A. Fellmann), Basel / Boston / Berlin 1990, S. 2. Abb. 2: ebda., S. 199. Abb. 3: Norbert Wiener: Cybernetics. Or Control and Communication in the Animal and the Machine (= Actualités scientifiques et industrielles, Bd. 1053), Paris 1948, Cover. Abb. 4: Maurice Mashaal: Bourbaki. Une société secrète de Mathématiciens (= Pour la Science. Les Génies de la Science, Bd. 1), Paris 2002, S. 10. Abb. 5: wie Abb. 1, S. 364. Marianne Klemun: Abb. 1–4 und Farbtafel: Johann Ellis: Anweisung wie man Saamen und Pflanzen aus Ostindien und andern entlegenen Ländern frisch und grünend über See bringen kann, Leipzig 1778. Projektvorstellung: Abb. 1–2: © FAS.research. Bildtableau 1: 1: http://www.masch-news.de/schuelerwettbewerb/berlin_03/bundestag.html (Stand: 5/2007). 2: http://www. upcomillas.es/presentacion/pres_hist.aspx?nivel=3&id=90 (Stand: 5/2007). 3: http://www.sandiegohistory.org/timeline/ images/18139.jpg (Stand: 5/2007). 4: Gilles Deleuze, Félix Guattari: Rhizom, Berlin 1977, Umschlagseite 2. 5: Humberto R. Maturana, Francisco J. Varela: Der Baum der Erkenntnis. Die biologischen Wurzeln des menschlichen Erkennens, Bern/München 1987, S. 155, Abb. 38. 6: Archiv Das Technische Bild. 7: Ausst.Kat. Deep Storage. Arsenale der Erinnerung. Sammeln, Speichern, Archivieren in der Kunst, München/New York, 1997, S. 26. 8: Tilmann von Stockhausen: Die Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg, Hamburg 1992, S. 60. 9: Dietmar Arnold, Ingmar Arnold, Frieder Salm: Dunkle Welten. Bunker, Tunnel und Gewölbe unter Berlin, Berlin (3. Auflage) 1997, o. S. 10: Ausst.Kat. Giovanni Battista Piranesi. Bilder von Orten und Räumen, Stuttgart 1994, S. 53. 11: Le Monde diplomatique, Berlin: Atlas der Globalisierung, Berlin 2006, S. 50. 12: © O. M. Ungers 2007. 13: Archiv Das Tech­ni­sche Bild. 14: Archiv Das Technische Bild. 15: © VG Bild-Kunst, Bonn 2007. 16: © Daniel Libeskind 2007. 17: © Arwed Messmer 2007. 18: © The Estate of Francis Bacon/VG Bild-Kunst, Bonn 2007. 19: © VG Bild-Kunst, Bonn 2007. 20: Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a.M. 1994, Abb. 22. 21: © Foster + Partners 2007. 22: © Horst Peter 2007. Bildtableau 2: 1: http://zelos.zeit.de/bilder/2006/28/politik/gaza-mauer-410.jpg (Stand: 5/2007). 2: http://www.kochundkesslau.de/daten/de/bum.html (Stand: 5/2007). 3: © Department für öffentliche Erscheinungen 2007. 4: London’s Transport Museum © Transport for London. 5: Ausst.Kat. Oscar Niemeyer. Eine Legende der Moderne, Basel 2003, S. 41. 6: Felix von Cube: Technik des Lebendigen. Methoden der Kybernetik, Stuttgart 1970, S. 74f. 7: Jürgen Raap: Prinzip Eigenheim. Baukonvention und Lebensideal. In: Kunstforum, Bd. 184, März-April 2007, S. 89. 8: Michael Hagner: Geniale Gehirne. Zur Geschichte der Elitegehirnforschung, Göttingen 2004, Abb. 30. 9: Viktor Pekelis: Kleine Enzyklopädie von der großen Kybernetik, Berlin 1977, S. 82. 10: © VG Bild-Kunst, Bonn 2007. 11: INTERFOTO/NG Collection. 12: © Rolf Konow 2007. 13: © IBM Corporate Archives 2007. 14: Bodo Rolka, Volker Spiess (Hg.): Berliner Laubenpieper. Kleingärten in der Großstadt, Berlin 1987, S. 55. 15: Dietmar Arnold, Ingmar Arnold, Frieder Salm: Dunkle Welten. Bunker, Tunnel und Gewölbe unter Berlin, Berlin (3. Auflage) 1997, o. S. 16: Ausst.Kat. Theater der Natur und Kunst – Wunderkammern des Wissens. Essays, Berlin 2000, S. 233. 17: © Touring TCS 2007. 18: http://en.wikipedia.org/wiki/North_American_Aerospace_Defense_Command (Stand: 5/2007). 19: © Cristian Contini 2007. 20: © Zentralbibliothek Zürich 2007 (ZBZ Arch. St. 24). 21: Peter Galison, Emily Thompson (Hg.): The Architecture of Science, Cambridge/Massachusetts u.a. 1999, S. 215. 22: © Andreas Gursky/VG Bild-Kunst, Bonn 2007. Courtesy: Monika Sprüth/Philomene Magers. 23: © AMO/Rem Koolhaas 2007. 24: http://www.elpais.com/graficos/internacional/operaciones/Fidel/Castro/elpgra/20070117elpepuint_1/Ges/ (Stand: 5/2007).

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Die AutorInnen

Prof. Dr. Eva Barlösius Fachbereich Bildungswissenschaften, Lehrstuhl für Soziologie, Universität Duisburg-Essen Mag. Art. Angelika Bartl Fachbereich Kunst und Medien, Carl von Ossietzky Universität Oldenburg Dr. Ulrike Bergermann SFB / FK „Medien und kulturelle Kommunikation“, Universität zu Köln Mag. Eva Blimlinger Projektkoordination Kunst- und Forschungsförderung, Universität für angewandte Kunst Wien Dr. Gabriele Gramelsberger Institut für Philosophie, Freie Universität Berlin Stefan Heidenreich Kulturwissenschaftler, Berlin Dr. Ute Holl Institut für Deutsche Literatur, Humboldt-Universität zu Berlin Dr. Harald Katzmair FAS.research – Network Analysis for Science and Business, Wien und San Francisco Prof. Dr. Marianne Klemun Institut für Geschichte, Professur für neuere Geschichte, Universität Wien Dr. Christoph Klütsch Zentrum für Informatik und Medientechnologie ZIMT, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Projekt Mobiler Rundgang in europäischen Textilindustrie-Zentren, Hochschule Bremen Mag. Katja Mayer Institut für Philosophie, Universität Wien Prof. Dr. Claus Pias Institut für Philosophie, Lehrstuhl für Erkenntnistheorie und Philosophie der Digitalen Medien, Universität Wien Ruth Pfosser FAS.research – Network Analysis for Science and Business, Wien und San Francisco Prof. Dr. Werner Rammert Institut für Soziologie, Lehrstuhl für Techniksoziologie, Technische Universität Berlin

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1: Mauer im Teil des Palästinensischen Autonomiegebietes Gazastreifen, 2006. 2: June Bum Park: III crossing, Videostill, 2000. 3: Department für öffentliche Erscheinungen: MOBILINE, „psycodelic“ im Rahmen des Projekts MSE (Middle-South-East), Galerjia Skuc/Ljubljana, 20.7.-22.8.2000. 4: Harry Beck: Karte der Londoner Untergrundbahn, 1933. 5: Oscar Niemeyer: Negev-Plan, Modell, um 1964. 6: Verkehrsleit- und Kontrollzentrale der Stadt München mit Leuchtschaltbild aller Ampelanlagen, 1960er. 7: Fertighaus, Modell „Zwerg“, Isartal/Bayern, um 1950. 8: Gustav Scheve: Phrenologische Reisebilder, 1863 mit Umrisszeichnung des Schädels Arthur Schopenhauers. 9: Boris Below: Populärwissenschaftliche Darstellung des Systems „Mensch und Maschine“ als Regelkreis, 1977. 10: Joseph Beuys: Der soziale Organismus – ein Kunstwerk, Tafelzeichnung (erste Fassung eines Schemas für d 6-Tafel), Bochum, 2.3.1974. 11: Florian Henckel von Donnersmarck: Das Leben der Anderen, Deutschland 2005, Setfoto. 12: Lars von Trier: Dogville, Dänemark u.a. 2003, Setfoto.

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13: ENIAC (Electronic Numerical Integrator and Calculator), erster digitaler Universalrechner als U-förmige Anlage. 14: Kleingartenanlage in Berlin-Waidmannslust, 1974. 15: Lufthansa-Bunker im Flughafen Berlin-Tempelhof. 16: Ludwig Hoffmann: Grundriss des zweiten Obergeschosses des Gebäudes der Friedrich-Wilhelms-Universität (heute Humboldt-Universität) Berlin, Foto um 1920. 17: Bild einer Überwachungskamera in einem U-Bahnhof. 18: Fiktionales NORAD-Kontrollzentrum im Film „WarGames“, Regie John Badham, USA 1983. 19: Internet-Plakat zum Web 2.0. 20: Johann Jakob Scheuchzer: Musei Tigurini sciagraphia, Ordnungsschema für die Züricher Kunstkammer, um 1700. 21: Menschlicher Blutkreislauf aus Larousses „Grand Dictionnaire Universel du XIXme Siècle“ von 1869. 22: Andreas Gursky: 99 Cent, Fotografie, 207 x 336 cm, 1999. 23: AMO/Rem Koolhaas: Weltkarte mit 31.295 McDonalds-Restaurants in 119 Ländern, 2004. 24: Still aus animierter Grafik zu einer der drei Darmoperationen Fidel Castros, 2007.

Bildwelten des Wissens Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik. Band 5,1 Systemische Räume Herausgeber

Prof. Dr. Horst Bredekamp, Dr. Matthias Bruhn, Prof. Dr. Gabriele Werner Verantwortlich für diesen Band

Gabriele Werner Redaktion

Das Technische Bild Mitarbeiter

Jana August, Violeta Sánchez, Hanna Felski, Florian Horsthemke Lektorat

Rainer Hörmann Layout

Dr. des. Birgit Schneider Satz: aroma, Berlin Adresse der Redaktion

Humboldt-Universität zu Berlin Hermann von Helmholtz-Zentrum für Kulturtechnik Das Technische Bild Unter den Linden 6 D – 10099 Berlin [email protected] Fon: +49 (0) 30 2093 2731 Fax:  +49 (0) 30 2093 1961 ISSN 1611-2512 ISBN 978-3-05-004354-8 © Akademie Verlag, Berlin 2007 Das Jahrbuch „Bildwelten des Wissens“ erscheint jährlich in 2 Teilbänden. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung anderer Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Jahrbuches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form – durch Fotokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren – reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen und übersetzt werden. Druck: Medienhaus Berlin Printed in Federal Republic of Germany