Bildwelten des Wissens: BAND 9,2 Morphologien 9783110548853, 9783050060262

Die (sichtbare) Welt ist geprägt von einer unermesslichen Vielfalt von Formen, Mustern und Strukturen. Deren Betrachtung

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German Pages 152 Year 2013

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Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Editorial
Doppelte Monster, infizierte Körper. William Bateson, D’Arcy Thompson und die computerbasierte Architektur
Gestalt denken oder in Gestalten denken?
Versuch einer analytischen Morphologie
Morphologische Erkundungen. Zeichnen am Mikroskop
Bildbesprechung: Sprachbilder
Faksimile: „Mit eben so viel Kunst als Wahrheit“. Johann Moritz David Herolds Bildungsgeschichte der Wirbellosen
Was sind biologische Formen? Zehn Thesen
Objekte der Morphologie
Sparrowness – or inspiration from nature
Griechenlands und Preußens Blüte. Goethes Morphologie als Grundlage des Schinkelschen Klassizismus
„Der Computer ist ein Instrument, das uns beim Denken hilft“. Ein Gespräch der Bildwelten des Wissens mit Herbert W. Franke
Projektvorstellung. Am Rande der Stereoskopie: Die Oakes Twins
Bildnachweis
Die AutorInnen
Bildwelten des Wissens
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Bildwelten des Wissens: BAND 9,2 Morphologien
 9783110548853, 9783050060262

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Bildwelten des Wissens Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik. Band 9,2

Morphologien

Akademie Verlag

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1: Alfred Hitchcock: Vertigo, Filmstill, 1958. 2: Jean-Léon Gérôme: Pygmalion und Galatea, Öl auf Leinwand, 1890/92. 3: Verwandlung der Piraten in Delphine, Trinkschale aus Ostionien, Mitte 6. Jh. v. Chr. 4: Oswald Mathias Ungers: Morphologie. City Metaphors, 2011. 5: Michael Heizer: Circular Planar Displacement, 1970. 6: Herzog und de Meuron: Allianz-Arena München, Detail Außenansicht, 2005. 7: Fischli & Weiss: Im Teppichladen (Wurstserie), 1979. 8: Étienne-Jules Marey: Turner am Barren, 1883. 9: Coiled Whisker of Rutile in Cabochon-cut Quartz. 10: Michel Blazy: Sculpture, 2002, Ausstellungsansicht. 11: Ernst May: Frankfurt – Schema der bisherigen (l.) und der zukünftigen Stadtentwicklung mit Trabantensiedlungen, 1930. 12: Johann Wolfgang Goethe: Das Felsenlabyrinth von Luisenburg, 1785, Stich nach einer Zeichnung aus dem Artikel „Die Luisenburg bei Alexanders-Bad.“ 13: Carl Gustav Carus: Urpflanze, 1861. 14: Pierre J. F. Turpin, Darstellung der Urpflanze nach Vorstellungen Johann Wolfgang von Goethes, Holzschnitt, 1837. 15: Antennengalaxie. 16: Charles Darwin: The Power of Movement in Plants, 1880. 17: Marcel Duchamp: Akt, eine Treppe hinabsteigend Nr. 2, Öl auf Leinwand, 1912. 18: Gianlorenzo Bernini: Apoll und Daphne,

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Marmor, 1622–1625. 19: Konsolstein mit Blattmaske (Abguss), Marienkirche Gelnhausen, um 1240–1250. 20: Erich Mendelsohn: Einsteinturm Potsdam, 1919–1922. 21: Darstellung des Signifikanten und des Signifikats nach Ferdinand de Saussure. 22: Johann Heinrich Wilhelm Tischbein: Zur Physiognomik der Bäume, Tuschzeichnung, 1781. 23: Demografischer Wandel: Altersaufbau der Bevölkerung in Deutschland, 2009. 24: Gerhard Richter: Übersicht, Offset Print in 3 Farben,1998. 25: Meister E.S., Der Buchstabe „H“ aus dem Figurenalphabet, Kupferstich, Inv.-Nr. 358-1, 1465. 26: Philibert de L’Orme: Entwicklungsstadien der „Colonne Française“ aus dem Premier Tome de l’Architecture, 1567. 27: Ernst Haeckel: Monophyletischer Stammbaum der Organismen, 1866. 28: Kolorierter Kupferstich aus: Metamorphosis insectorum Surinamensium, Bildtafel XXIII, „Solanum mammosum“,1705. 29: Hans Holbein d. Jüngere: Die Gesandten, Öl auf Holz, 1533. 30: Jan Gossaert: Hermaphroditus und Salmacis, Tafelmalerei, 1505. 31: Friedrich Balthasar Leizel: Un basilic, une torpille, un pipal, une grenouille aquatique avec sa métamorphose et un crapaud commun, Kupferstich,1786. 32: Guido Zingerl: Die Verwandlung, Feder und Tusche, 1961.

Inhaltsverzeichnis

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Editorial

7

Carolin Höfler Doppelte Monster, infizierte Körper. William Bateson, D’Arcy Thompson und die computerbasierte Architektur

18

Olaf Breidbach Gestalt denken oder in Gestalten denken?

30

Gerhard Scholtz Versuch einer analytischen Morphologie

45

Barbara Wittmann Morphologische Erkundungen. Zeichnen am Mikroskop

55

Bildbesprechung: Sprachbilder Lars Erik Zeige

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Faksimile: „Mit eben so viel Kunst als Wahrheit“. Johann Moritz David Herolds Bildungs­geschichte der Wirbellosen Janina Wellmann

67

Georg Toepfer Was sind biologische Formen? Zehn Thesen

83

Stefan Richter und Christian S. Wirkner Objekte der Morphologie

97

Mark Kessell Sparrowness – or inspiration from nature

106

Michael Niedermeier Griechenlands und Preußens Blüte. Goethes Morphologie als Grundlage des Schinkelschen Klassizismus

124

„Der Computer ist ein Instrument, das uns beim Denken hilft.“ Herbert W. Franke im Interview mit den Bildwelten des Wissens

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Projektvorstellung: Am Rande der Stereoskopie: Die Oakes Twins Dina Münzfeld

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Bildnachweis

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Die AutorInnen

Editorial

1: Trockenpräparat einer männlichen Wollhandkrabbe (Eriocheir sinensis) aus der Havel. Ansicht von dorsal und ventral. Aufnahmen mit Flachbettscanner vor schwarzem Hintergrund, 2007.

Jede Fotografie, Präparation oder Zeichnung führt eine Transformation ihres Gegenstandes durch, und es ist nur ein scheinbares Paradox, wenn sie gerade dadurch zu wissenschaftlichen Aussagen führen kann. So erscheint in der obigen Abbildung das Exemplar einer Wollhandkrabbe in zwei Ansichten, welche die Umrisse des Panzers und des Abdomens, die Lage und Form der Beine und Scheren deutlich hervortreten lassen. ◊ Abb. 1 Der schwarze Grund verleiht dem Tier einen strengen Ausdruck, der durch die leichte Asymmetrie der Beinstellung wieder durchbrochen und verlebendigt wird. Je nach Kontext kann die Abbildung damit Merkmale einer naturgegenständlichen Form, ihre systematische Zuordnung, vielleicht sogar ihren biologischen Zweck oder ihre evolutionsgeschichtliche Entstehung sichtbar machen. Zugleich kann mit ihrer Hilfe die Ausgewogenheit von Proportionen bewertet werden, wie dies etwa der Zoologe Karl Möbius 1908 in seinem Buch Ästhetik der Tierwelt versucht hat. Damit wird auch die Abbildung selbst zum Gegenstand einer Untersuchung von Formen, Gestalten, Strukturen und Mustern, die in Gebieten wie der Biologie, der Medizin, in Mathematik, Astronomie und Mineralogie, in Architekturtheorie und -praxis als Morphologie bezeichnet wird. Der Begriff der Morphologie, wie er erstmals um 1800 von Goethe oder Burdach verwendet worden ist, umfasst nicht nur die unmittelbar sichtbare Form, sondern auch deren Wandel und Veränderung, versteht Form also nicht als festen Zustand, sondern als dynamische Erscheinung, als Prozess. Zu dieser natürlichen Form gehören historisch-genealogische Bedingungen, physikalische Gesetze und Umweltfaktoren in demselben Maße, wie zur kulturellen Form historisch eingeübte Sehweisen oder Techniken und Medien gehören. Morphologie ist also immer auch eine Bildfrage. Begriffe wie Leben oder Entwicklung können gar für Probleme stehen, denen ohne die Grenzen und Eigenschaften des Bildmediums die Richtung

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Editorial

fehlte oder die überhaupt erst von ihnen hervorgetrieben werden. Es geht dabei nicht nur um Bilder, die eine gegebene Form räumlich und zeitlich einzufangen versuchen, sondern insbesondere um die Rolle jener Darstellungsmittel, die einen Sachverhalt zur wissenschaftlichen Frage werden lassen. Dies gilt selbst in Bereichen wie der Linguistik, in der phonetische oder etymologische Zusammenhänge ins Bild gebracht werden, um ihrer Komplexität Herr zu werden. In einer positivistischen Wissenschaftsdoktrin wurde Morphologie zeitweilig der Esoterik zugeschlagen und in der sogenannten „Kulturmorphologie“ dazu verbogen, biologisch-ökologische Prozesse auf Nationalcharaktere und Volksgemeinschaften zu übertragen. Morphologie ist dementsprechend immer noch schlecht beleumundet, gilt oft als ideologie- und vergangenheitsbelastet. In den heutigen Lebenswissenschaften fristet sie angesichts der Erfolge der molekularen Disziplinen eher ein Randdasein, obwohl die Bedeutung des Anschaulichen für die wissenschaftliche Erkenntnis und der Anteil, den Betrachtung und Formanalyse daran haben, unverändert ist. Optische Instrumente, Aufzeichnungsverfahren und Werkzeuge der visuellen Kommunikation sind an dieser Anschauung nicht nur beteiligt, sondern haben seit Langem auch leitende Funktion: Dringt das menschliche Auge tiefer in den submikroskopischen Bereich jenseits des natürlichen Lichts vor, erfordern auch die bildgebenden Verfahren Darstellungsweisen, um den Gegenstand auf signifikante Phänomene hin mustern und studieren zu können; im Makrobereich sind es fotografische, filmische, diagrammatische und modellhafte Formen, welche die vergleichende Analyse gestatten und Funktionen und Zusammenhänge freilegen. Welche Rolle kommt damit der Aufmerksamkeit, dem Blick derjenigen zu, die mit jeder Beschreibung eine Setzung vornehmen, aus dem Detail ein Merkmal machen, aus einem Satz von Merkmalen die Zugehörigkeit zu einer Einheit ableiten? In welcher Weise spielt die Auseinandersetzung mit den Werkzeugen der Beobachtung und Vermittlung hinein? Morphologie meint nicht nur die Einsicht, dass Konzepte, Methoden und Techniken der Beschreibung den Gegenstand mitkonstruieren; sie führt womöglich auch zu der Einsicht, dass sich diese Beschreibung selbst nie vollständig verbegrifflichen lässt, ja dass vielmehr die Formen und Mittel der Anschauung selber zu einem System von Begriffen werden können. Matthias Bruhn, Gerhard Scholtz und die Herausgeber

Carolin Höfler

Doppelte Monster, infizierte Körper. William Bateson, D’Arcy Thompson und die computerbasierte Architektur Architekten und Theoretiker beschreiben die digitale Formerzeugung und ihre Ergebnisse oft mit blumigen, teilweise bizarren Natur- und Technikbildern. Da „wächst“ das Computergebilde „ähnlich wie eine Pflanze oder ein Embryo auf der Festplatte und nimmt seine Form unabhängig von den bis dato üblichen Kriterien für Raumgestaltung an“.1 Die offensichtliche Unmöglichkeit, die computererzeugten Raumformen architektonisch zu deuten, beweisen auch die mitunter hilflosen Versuche ihrer historischen Einordnung. So gerät die digitale Architekturform gleichsam zu „einer Variante des Retrodesigns, allerdings in einer neuen Spielart, die noch vor die Historie zurückgreift, in die Blasen und Verschlingungen der organischen Biomasse“.2 Da die digitalen Formen scheinbar nicht mehr den architektonischen Codes gehorchen, tragen sie in den Augen ihrer Kritiker zur Auflösung des historischen Bewusstseins und der Demontage der Architektur vergangener Epochen bei.3 Es gehört zu den erfolgreichen Bekämpfungsstrategien von ArchitekturEssenzialisten und Verfechtern einer überzeitlich lesbaren Tektonik, sämtliche Formen, die sich den herrschenden Sehgewohnheiten widersetzen, zu ent-architektonisieren und zu ent-historisieren, um ihnen dann unverzüglich jede Legitimation abzusprechen. Dabei wird übersehen, dass die Architektur selbst den Schlüssel für die digitale Formverzerrung bereitstellt. So gibt es keine Verformung ohne einen Bezug auf die moderne Box und ihr gleichmäßiges Raster, keine Verschmelzung ohne Verweis auf die fragmentierten Formen der dekonstruktivistischen Architektur der 1980er-Jahre. Für Peter Eisenman, Greg Lynn und andere Protagonisten des computerbasierten Entwerfens sind die digital erzeugten Bauten und Projekte immer auch Transformationen der Architektur der Moderne, die nach wie vor als Basis und Prüfstein gilt. In diesem Prozess, zwischen Fortführung und Aufhebung der Moderne, operieren Architekten und Architekturtheoretiker bevorzugt mit Naturanalogien, wobei es weniger um äußerliche Ähnlichkeiten als vielmehr um innere Korrespondenzen zwischen natürlicher und architektonischer Formentstehung geht. So hat sich in den 1990er-Jahren vor allem der amerikanische Architekt und Autor Greg Lynn mit den durch das Medium des Computers veränderten Bedingungen und Möglichkeiten für die architektonische Formfindung befasst und seine dort 1 Roland Schöny: Die Architektur von Morgen. In: oe1.ORF.at, 18.7.2000, www.nextroom.at/article. php?id=5103 (Stand: 08/2012). 2 Jan Pieper: Baugeschichte und Architekturlehre. Anmerkungen zu einer schwierigen Beziehung. In: Bauwelt 40/41, 28.10.2005, S. 18. 3 Jan Pieper (s. Anm. 2), S. 16 ff.

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Carolin Höfler

g­ ewonnenen Erkenntnisse vor dem Hintergrund einer biologisch verstandenen „Morphologie“ gespiegelt. Dabei gewannen jene Erklärungsansätze an Bedeutung, die sich gegen Optimierungsideen wandten und Gestaltvariationen anders als durch ihre Abweichung von der Norm definierten, wohingegen typologische Konzepte von „Ideen“ oder festen „Bauplänen“ der Natur bewusst ausgeblendet wurden. Symmetrie und Variation

In Anbetracht neuer Computeranwendungen, die eine so mathematisch-präzise wie dynamisch-bewegte Darstellung ermöglichten, forderte Lynn eine Revision der formalen Systeme und kompositorischen Prinzipien einer Architektur, die bis dahin als rational verstanden und bezeichnet worden war. Seine Kritik galt vor allem dem statischen Verständnis von Geometrie, Symmetrie und Typus, das die Vorstellung feststehender Grund- und Urformen der Architektur bestimmt und zur Ausgrenzung abweichender Formen geführt hatte. Um die digital erzeugten Oberflächen und Figuren, die in der Simulation auf Krafteinfluss mit Verformung reagieren, nicht als Normverstöße zu werten, bedurfte es flexibler Maß-, Ordnungs- und Klassi­fi­kationsschemata, die Lynn in den Naturwissenschaften zu finden glaubte. Entgegen der traditionellen Architekturtheorie definierte Lynn den Begriff der Symmetrie als eine Ordnungskategorie von Verzweigungsstrukturen. Ausgangspunkt seiner Überlegungen bildete hierbei eine Theorie des britischen Genetikers William Bateson (1861–1926), der darin die Regelmäßigkeit natürlicher Formen zu erklären versucht hatte. Gegen die darwinistische Theorie der evolutionären Optimierung und zufälligen Mutation ging Bateson von der Diversität der Formen aus, die in ihrer diskontinuierlichen Variationsvielfalt einer eigenen Organisation unterliegen. So zeigte er in seinem (zu Beginn der 1990er-Jahre wieder aufgelegten) Hauptwerk Materials for the Study of Variation von 1894, dass organische Mutationsformen einen höheren Grad an Symmetrie aufweisen als Normalformen.4 Zu seinen bekanntesten Beispielen zählen die Darstellungen von bilateralsymmetrisch aufgebauten Fingermutationen, von denen Lynn zwei Illustrationen in seinem Aufsatz The Renewed Novelty of Symmetry von 1995 aufgenommen hat.5 ◊ Abb. 1

4 William Bateson: Materials for the Study of Variation. Treated with Especial Regard to Discontinuity in the Origin of Species, Baltimore 1992 [Reprint der Ausg. v. 1894]; Online-Faksimile: www.esp. org/books/bateson/materials/facsimile (Stand 08/2012). 5 Greg Lynn: The Renewed Novelty of Symmetry (1995). In: Ders.: Folds, Bodies & Blobs. Collected Essays, Brüssel 1998, S. 64f (dt.: Das erneuerte Neue der Symmetrie, übersetzt von Meinhard Büning. In: Archplus 128, September 1995, S. 49f).

Doppelte Monster, infizierte Körper

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In der ersten Abbildung ist die normal asymmetrische Hand mit vier Fingern und einem Daumen durch eine symmetrische Hand mit zwei spiegelbildlichen Gruppen von vier Fingern ersetzt. In der zweiten Abbildung befindet sich neben dem normalen Daumen ein zusätzlicher Daumen, der zum ersten spiegelbildlich angeordnet ist. Bateson hatte diese Symmetrie der auf abnorme Weise verdoppelten Finger mit dem Mangel an Informationen erklärt. Differenzierung zwischen zwei Hälften, so seine These, ergebe sich aus der Aufnahme zusätzlicher Informationen 1: William Bateson, Symmetrisch ausgebildete Muta­tio­nen von benachbartem Gewebe und Organen. von Fingern und Daumen. Aus: Materials for the Study of Variation, 1894. Diese von außen wirkenden Informationen würden in einem Zustand der Symmetrie entfallen oder unterdrückt. Im Unterschied zur geläufigen Vorstellung, wonach zusätzliche Informationen für den Zuwachs an Symmetrie und Homogenität sorgen, vermutete Bateson, dass die Abnahme an Asymmetrie Ergebnis eines Informationsverlustes sei: Wo Informationen verloren gehen oder mutieren, kehrt das Wachstum zur einfachen Symmetrie zurück – so lautete die Formel, die dann auch von Lynn auf die Architektur bezogen wurde. Aus Batesons Mutationsanalysen folgerte er, dass Symmetrie „kein zugrunde liegendes Prinzip der wesenhaften Ordnung des gesamten Organismus“ sei, sondern „etwas Minderwertiges“,6 das „auf ein Fehlen der Interaktion mit stärkeren externen Kräften und Umgebungen zurückzuführen ist“.7 Lynn benutzte die Ausführungen Batesons, um gegen den normativ verstandenen Begriff architektonischer Symmetrie als ideales, übergeordnetes und feststehendes Ordnungsprinzip zu opponieren. Gegen die traditionelle Auffassung der Architektur als harmonischer, natürlich proportionierter Organismus entwarf er auf „abnorme“ Weise vervielfältigte Formgebilde. Als eine „Antiarchitektur“ der Symmetriebrüche, die Batesons Theorie von der Diversität der Erscheinungen als fundamentale Welterkenntnis veranschau­ 6 Greg Lynn (s. Anm. 5), S. 69; Übers.: S. 49. 7 Greg Lynn (s. Anm. 5), S. 70; Übers.: S. 50.

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Carolin Höfler

lichen sollte, empfahl Lynn sein 1994 entworfenes Opernhaus für Cardiff. ◊  Abb.  2 Ausgehend von der axialsymmetrischen Grundform einer Ellipse entwickelte er ein asymmetrisches Muster ovaler Figuren, die im Zuge der Anpassung an Standort und Raumprogramm vervielfältigt, in Teilsymmetrien angeordnet und schließlich deformiert wurden. Absichtsvoll schuf Lynn bildliche Analogien zwischen Batesons Mutationsdarstellungen und 2: Greg Lynn, Cardiff Bay Opera House, Cardiff/ Wales, 1994. Grundriss Rang. seiner imaginierten Architektur, die er explizit als „Monstrum“ bezeichnete.8 Offensichtlich nahm er Anleihen bei den Zeichnungen zweiköpfiger Wasserschildkröten, die Bateson unter der Kapitelüberschrift „Double Monsters“ versammelt hatte.9 ◊ Abb. 3 Mit der Mutationsmetaphorik wiederholte Lynn auf bildlicher Ebene seine sprachlich formulierte Kritik an der Idee der wohlgebildeten, unveränderlichen und nach stabilen Ordnungsmustern gefügten Architekturform. Sein Entwurf einer 3: William Bateson, Zweiköpfige Wasser­ architektonischen Abnormität litt allerdings unter schild­kröten. Aus: Materials for the Study of Variation,1894. einer gedanklichen Unschärfe. Denn die biologische Mutation sollte Bateson zufolge auf einen Mangel an Information und Organisation hinweisen, während Lynn seine architektonische Mutation gerade als eine komplexe Struktur verstanden wissen wollte, deren Erscheinung aus dem wechselseitigen Wirkverhältnis mit äußeren Bedingungen und Kräften hervorgegangen sei. Lynn verwendete das Bild der Mutation also in plakativer Weise, um die Abweichung seiner Architektur von der geltenden Norm zu verdeutlichen. Die semantische und symbolische Aufladung der digitalen Formen zielte auf die Herstellung einer Architektur, die nicht länger auf statischen, festgelegten Entwurfstypen beruht, sondern auf dynamischen, anpassungsfähigen Designmodellen, die auf unterschiedliche Bedingungen flexibel reagieren.10 8 Greg Lynn (s. Anm. 5), S. 65. 9 William Bateson (s. Anm. 4), S. 559–566. 10 Vgl. Ben van Berkel und Caroline Bos: UN Studio – Designmodelle. Architektur, Urbanismus, Infrastruktur, übersetzt von Ute Spengler, Sulgen/Zürich 2006.

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Mathematik der idealen Form

Die zur Konvention geratene Vorstellung, wonach sich der organische Baukörper durch ideale Proportionen und symmetrische Ordnung auszeichne, wird den amerikanischen Architekturschaffenden bis heute vor allem über die Schriften dreier Autoren nahe gebracht: Vitruv, Rudolf Wittkower und Colin Rowe.11 Ausgehend vom antiken Autor Vitruv, der „Sym­me­trie“ und „Proportion“ zu Voraussetzungen einer vernünftigen Formgebung erklärt hatte, ermittelten Wittkower und Rowe anhand von Villengrundrissen (nämlich des Renaissance-Architekten Palladio und seines modernen Nachfolgers Le Corbusier) einen allgemeinen, symmetrischen Organisationstyp – das Neun-Feld-Raster.12 ◊ Abb. 4 4: Rudolf Wittkower, Schematische Grundrisse von In jeder einzelnen Villa verfolgten sie die geometri- elf Palladio-Villen, 1949. sche Konstruktion dieses Typs, die zu einem ständigen Bezugspunkt für eine Serie sich verändernder Anordnungen wurde. Ihre zeichnerischen Interpretationen hatten zum Ziel, den Entwurfsvorgang zu rationalisieren und Architektur auf wissenschaftlich-mathematisch gerechtfertigte Grundsätze festzulegen. Lynns Beziehung zu den formalen Systemen seiner intellektuellen Lehrer oszillierte zwischen Fortschreibung und Verweigerung. Folgte er einerseits ihrem Wunsch nach formal-logischen Gestaltungsprinzipien, die der individuellen Willkür entzogen bleiben, machte er andererseits ihr Konzept geometrischer Idealkonstruktionen für die dogmatische Erstarrung der modernen Architektur verantwortlich.13 11 Vitruv: De architectura libri decem, um 30 v. Chr.; Rudolf Wittkower: Architectural Principles in the Age of Humanism, London 1949; Colin Rowe: The Mathematics of the Ideal Villa and Other Essays, Cambridge, Mass./London 1976. 12 Die Gleichsetzung von Symmetrie und Spiegelbildlichkeit, die auch Lynn in seinen Texten vornimmt, gehört zu den tradierten Fehlinterpretationen der Vitruv’schen Definitionen. Mit „symmetria“ bezeichnete Vitruv nicht die geometrische Achsensymmetrie, sondern den Einklang der Teile eines Gebäudes mit dem Bauwerk als Ganzem. Vgl. Vitruv: De architectura libri decem, um 30. v. Chr. (Auszug), übersetzt von Curt Fensterbusch. In: Fritz Neumeyer: Quellentexte zur Architekturtheorie, München/Berlin/London/New York 2002, S. 86 ff. 13 Greg Lynn: Multiplicitous and Inorganic Bodies (1992). In: Ders., Folds, Bodies & Blobs. Collected Essays, Brüssel 1998, S. 39 (dt.: Multiplizitäre und inorganische Körper. In: Archplus 119/120, Dezember 1993, S. 109).

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Carolin Höfler

Anstelle der Idee einer reinen, absoluten Architektur, die auf einen idealen Organisationstypus festgelegt ist und jede Veränderung als Normverletzung interpretiert, verlangte er „eine alternative Mathematik der Form“ und propagierte schließlich „einen Formalismus, der sich nicht auf ideale Villen oder andere fixe Typen reduzieren lässt“.14 Als Gegenstrategie empfahl er die buchstäbliche Deformation der unnachgiebigen Rasterstrukturen – eine Entwurfs- und Bautechnik, die als „generativ“ bezeichnet werden kann. Kartesische Transformation

Anregungen für dieses regelgesteuerte Entwurfsverfahren, welches das beständige Abweichen vom Basistyp systematisiert und das Typische im Atypischen festhält, erhielten die digital experimentierenden Architekten von Batesons unkonventionellem Zeitgenossen D’Arcy Wentworth Thompson (1860–1948). Der Mathematiker und Biologe hatte in seinem 1917 erstmals veröffentlichten Werk über biologische Morphologie, On Growth and Form, gezeigt, wie durch einfache geometrische Operationen die Formen verwandter, aber verschieden aussehender Arten passgenau ineinander überführt werden können. Dazu wurde der Umriss einer bestimmten Figur in ein rechtwinkliges Koordinatennetz eingetragen und deren Veränderung durch Umwandlung der Koordinaten und Verformung des Rasters dargestellt. ◊ Abb. 5 Auf diese Weise konnte das Rastersystem durch eine einzige, umfassende Transformation die anscheinend isoliert auftretenden, deutlichen Unterschiede zwischen den verschiedenen Formen vereinheitlichen. Thompsons Geometrie der Natur erfuhr in der experimentellen Architektur der 1990er-Jahre eine breite Popularisierung. Ausschlaggebend hierfür war nicht allein die Ähnlichkeit der Rasterfiguren mit den in Variationsserien auftretenden, digitalen Wire-Frame-Modellen, bei denen die Körper lediglich durch ihre Kanten und Gliederungslinien dargestellt werden, sondern auch die strukturelle Parallele von natürlicher und architektonischer Formbildung. Die Transformationen bezogen sich bei Thompson zwar auf biologische oder physikalische Sachverhalte, doch war seine Methode für jegliche Umwandlung gleichförmiger Figuren oder Körper von morphologischer Variabilität geeignet.15 Derartige Koordinatentransforma­ tionen, besser bekannt als morphing, sind zentrale Bestandteile der neuen digitalen 14 Greg Lynn, zit. nach: Ole Bouman: Amor(f)al Architecture or Architectural Multiples in the PostHumanist Age. In: Greg Lynn: Folds, Bodies & Blobs. Collected Essays, Brüssel 1998, S. 11. 15 Vgl. Roland Knauer: Entwerfen und Darstellen. Die Zeichnung als Mittel des architektonischen Entwurfs, Berlin 2002, S. 69.

Doppelte Monster, infizierte Körper

3D-Modellierungs- und Animationsverfahren, die seit den neunziger Jahren in der Architektur zur Formbildung eingesetzt werden. Ein weiterer Anknüpfungspunkt bot die Behauptung Thompsons, dass physikalische Kräfte die Organismen direkt formen, wobei „innere“ oder genetische Kräfte nur das Rohmaterial hervorbringen, aus dem dann nach physikalischen Prinzipien gebaut werde.16 Wie ein offenkundiges Zitat Thompsons mutete Greg Lynns Begriff der Animate Form an, der die architektonische wie die natürliche Gestalt als offenes System in Wechselwirkung mit äußeren Kräften beschreibt („animation implies the evolution of a form and its shaping forces“ 17). Dieser Formbegriff, der in der Geschichte der organischen Architektur eine lange Tradition hat, erhielt mit der Instrumentalisierung des Computers zur Gestaltbildung eine neue Konkretheit. Mit den avancierten 3D-Modellierungs- und Animationsprogrammen standen den Architekten zu Beginn der 1990er-Jahre Entwurfsmedien zur Verfügung, durch die sich dynamische Verformungen von Oberflächen und Figuren infolge einwirkender physikalischer Kräfte nachbilden ließen. Vor diesem Hintergrund verwarf Lynn die traditionelle, anthroposophisch geprägte Organismusvorstellung in der Architektur, die eine Analogie zwischen den Maßverhältnissen eines Bauwerkes und den Proportionen eines menschlichen Körpers beschreibt. Stattdessen skizzierte

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5: D’Arcy W. Thompson, Rückenschilde verschiedener Krabben. Aus: On Growth and Form, 1917/42.

6: Frédéric Auguste Bartholdi und Gustave Eiffel, Statue of Liberty, New York, 1870–1886. Digital-fo­to­ gram­me­trisch erfasste Ansichten der Flamme, 1986.

16 Vgl. Stephen Jay Gould: Das war ein Mann! Vorwort. In: D’Arcy Wentworth Thompson: Über Wachstum und Form. Vorgestellt von Anita Albus nach der von John Tyler Bonner besorgten Ausgabe, übersetzt von Ella M. Fountain und Magdalena Neff, Frankfurt a. M. 2006 [engl. 1917/42], S. 12. 17 Greg Lynn: Animate Form, New York 1999, S. 9.

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Carolin Höfler

7: Frédéric Auguste Bartholdi und Gustave Eiffel, Statue of Liberty, New York, 1870–1886. Blick in das Innere des Monuments, Fotografie von Dan Cornish.

er ein biologistisch bestimmtes Konzept, wonach architektonische Formen als organisch erachtet werden können, wenn diese fähig sind, sich an veränderte Bedingungen der Umwelt anzupassen. Dabei boten ihm Thompsons kartesianische Deformationen eine Alternative zu den reduktionistisch geprägten Transformationen autonomer Architekturtypen („Wie Rowe war auch Thompson an der Entwicklung einer Mathematik der Artenkategorien interessiert, aber sein System war auf ein dynamisches und fließendes Arsenal geometrischer Beziehungen angewiesen“ 18). Lynn forderte den Paradigmenwechsel von einem geschlossenen, einheitlichen Körper hin zu einem offenen, reagierenden „Gefüge von disparaten Morphologien“, das eine „neue Allianz von Geometrie und Körper“ begründet:19

„In der Architektur werden die vielfältigen Verbindungen von Gebäuden mit den Besonderheiten des Kontexts in der Regel durch die Proportionen exakter, einheitlicher, organischer Raumtypen unterdrückt. […] Geht man von Körpern aus disproportionierter Materie anstelle von Raumtypen aus, dann entsteht eine geschmeidigere Beziehung […] zwischen der Geometrie und dem von ihr beschriebenen Gegenstand.“ 20

18 Greg Lynn: Architectural Curvilinearity: The Folded, the Pliant and the Supple (1993). In: Ders.: Folds, Bodies & Blobs. Collected Essays, Brüssel 1998, S. 122 (dt: Das Gefaltete, das ­Biegsame und das Geschmeidige, übersetzt von Meinhard Büning. In: Archplus 131, April 1996, S. 64). 19 Greg Lynn (s. Anm. 13), S. 43 f.; Übers.: S. 111. 20 Greg Lynn (s. Anm. 13), S. 45 und 49; Übers.: S. 111 ff.

Doppelte Monster, infizierte Körper

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Strukturelle Deformation

Zu einem architektonischen Leitbild des offenen und vielfältigen Körpers im Sinne Thompsons avancierte die New Yorker Statue of Liberty, die 1886 nach den Plänen des französischen Bildhauers Frédéric Auguste Bartholdi und des Ingenieurs Gustave Eiffel errichtet worden war. Im Zuge der Sanierung der Statue von 1984 bis 1986 entstanden zahlreiche fotogrammetrisch erzeugte Computermodelle, die erstmals die geometrisch komplexe Struktur des kolossalen Kunstkörpers veranschaulichten und großen Eindruck bei den digital experimentierenden Architekten hinterließen.21 ◊ Abb. 6 Die dem Blick entzogene Fachwerkkonstruktion der Statue galt als eine beispielhafte Verschränkung von Körper und Geometrie, Haut und Struktur, weshalb sie Lynn als Synthese der formalen Systeme von Wittkower, Rowe und Thompson interpretierte.22 ◊ Abb. 7 Die Konstruktion der Statue setzt sich aus einem zentralen, seriell gefertigten Grundgerüst und einem daran angeschlossenen Geflecht individueller Fachwerkträger und Eisenbügel zusammen, das die äußere Hülle aus Kupferplatten trägt ◊ Abb. 8 und 9. Die Horizontalschnitte durch den Körper der Statue zeigen die Überlagerung von zwei geometrischen Systemen.23 ◊ Abb. 10 Das Proportionssystem eines Wittkower und Rowe trifft in diesen Bildern auf das Transformationssystem eines Thompson. Das innere, formal strenge Grundgerüst verformt sich sukzessive zu den Rändern hin und passt sich an den Körperumriss an. Darüber hinaus drückt sich die orthogonale Struktur

8: Frédéric Auguste Bartholdi und Gustave Eiffel, Statue of Liberty, New York, 1870–1886, Längsschnitt von 1986.

21 Vgl. Richard Seth Hayden und Thierry W. Despont: Restoring the Statue of Liberty. Sculpture, Structure, Symbol, New York 1986. 22 Vgl. Greg Lynn (s. Anm. 13), S. 48–52. Der Vergleich der formalen Systeme von Thompson und Eiffel bot sich schon deshalb an, weil Thompson selbst bauliche Konstruktionen wie Eisenfachwerkbrücken oder den Eiffelturm von Paris studiert hatte, um natürliche Skelettkonstruktionen und Knochenstrukturen nachzuvollziehen. Vgl. D’Arcy Wentworth Thompson (s. Anm. 16), S. 317–375. 23 Vgl. Peter Mörtenbeck: Die virtuelle Dimension. Architektur, Subjektivität und Cyberspace, Wien/ Köln/Weimar 2001, S. 111.

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Carolin Höfer

9: Frédéric Auguste Bartholdi und Gustave Eiffel, Statue of Liberty, New York, 1870–1886. Typische Verankerung der Kupferplatten am Grundgerüst (links), typische Formen der Flachstäbe (Mitte und rechts), Axonometrien, 1986.

nach außen als Liniennetz der viereckigen Kupferplatten durch, das sich unter dem Einfluss der plastischen Hülle verformt und den Körper mit einer „topologischen Rasterung“ überzieht.24 Um dieses wechselseitige Eindringen und Austauschen von Ordnungen angemessen beschreiben zu können, bediente sich Lynn des medizinischen Vokabulars. So bezeichnete er die verzogenen Rasterlinien der Hülle als „Fissuren“ und die dergestalt markierte Figur als von einem Virus „infizierten Körper“.25 Die Krankheitsmetaphorik betonte die symbiotisch-schmerzhafte Verbindung des konstruktiven und figürlichen Systems, der „unbelebten“ Struktur und der „belebten“ Haut. In der Abwesenheit eines dominanten inneren Skeletts stellte die Freiheitsstatue dadurch zugleich ein Gegenmodell zur klassischen Architektur der Moderne dar. Ihre Erscheinung wurde weniger von einem geometrisch determinierten, inneren Organisationstyp als von einem flexiblen, äußeren Umrisssystem formiert. Das Gerüst verlagerte sich in die Oberfläche, die Haut wurde zur Struktur. In dieser Hinsicht nahm die Statue die computergenerierten Freiformen in der zeitgenössischen Architektur konzeptionell vorweg, die als geometrisch gegliederte Oberflächen eine unabhängige Struktur als tragendes Skelett überflüssig machen und stattdessen deren Funktion in die Hülle integrieren.26 Die Verschränkung von Konstruktion und Körper, sozusagen von Wittkower und Thompson, zielte auf die strukturelle Zusammenführung von Architektur und 24 Greg Lynn (s. Anm. 13), S. 50; Übers.: S. 113. 25 Greg Lynn (s. Anm. 13), S. 50. 26 Vgl. Javier Mozas: Wenn die Haut Struktur wird. Tragwerksentwurf des Guggenheim-Museums. Eine Großskulptur. In: Bauwelt 13, 4.4.1997, S. 693. Im Internet abrufbar unter: www.mozasaguirre. com/javiermozas/en/fichaarticulo2.php?ficha=188 (Stand: 08/2012).

Doppelte Monster, infizierte Körper

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Natur. Als Gegenentwurf zur isolierten Betrachtung von Einzelphänomenen führte Lynn den Begriff der Animate Form ein, mit dem er die Vorstellung vom organisch schaffenden Prinzip der Natur auf die Architektur übertrug. Unter dem Oberbegriff der Struktur sollten strikte Unterscheidungen von rationaler und freier Form, technischer und natürlicher Konstruktion aufgehoben und das Hybride oder Mutierte betont werden. Die Konzeption der Form als integratives und anpassungsfähiges System lässt sich als Fortführung einer Traditionslinie verstehen, innerhalb 10: Frédéric Auguste Bartholdi und Gustave Eiffel, derer Theoretiker, Architekten und Ingenieure Statue of Liberty, New York, 1870–1886. Grundrisse verschiedener Ebenen, 1986. nach einer Befreiung der Architektur von ästhetischen Vorgaben gestrebt haben.27 Die Polemik der Avantgarde des 20. Jahrhunderts gegen vorherrschende Stile oder gestalterische Systeme in Kunst und Architektur war Teil eines Paradigmenwechsels – von der vorherbestimmten, transzendenten zur selbstgenerierten, immanenten Form –, der von den Computerarchitekten der 1990er-Jahre weiter vorangetrieben wurde. In diesem paradigmatischen Sinne beschwor auch Greg Lynn ein biologisches Konzept der Selbstorganisation, in dem der Architekt zum menschlichen Entwurfsmedium wird, und zwar in der Überzeugung, dass die digitalen Form­ erscheinungen durch ein ebenso plausibles Prinzip wie Batesons Mutation oder Thompsons Transformation zu begründen seien. In Wort und Bild präsentierte sich der Architekt als Naturwissenschaftler, der die Prozesse des Lebens an sich selbst erzeugenden Formen studierte. Auf den ersten Blick schien es, als gäbe er dabei die traditionelle Rolle des Architekten als Gestaltschöpfer auf, da sich die Ergebnisse digitaler Automatismen und Prozesse nur schwer vorhersehen ließen. Doch blieb auch er am Ende die ordnende Kraft, nach deren Wirken die Formentwicklung abzulaufen hat. In seiner Rolle als Lenker des Geschehens inszenierte sich der Architekt so erneut als ein Vertreter der Naturwissenschaften, der nicht zufällig eine ihrer jüngsten Ausprägungen, die synthetische Biologie, favorisiert, da diese sich die Erschaffung künstlicher Organismen zum erklärten Ziel gemacht hat. 27 Vgl. Detlef Mertins: Biokonstruktivismus. In: Lars Spuybroek: NOX. Machining Architecture. Bauten und Projekte, übersetzt von Hildegard Rudolph, München 2004, S. 360.

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Olaf Breidbach

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Problemansatz

Was heißt Gestalt? In der angloamerikanischen Wissenschaft spricht man von pattern, bestenfalls von form und meint so etwas wie ein Muster, etwas, das auf eine Formel zu bringen ist, und das man zumindest mittels eines genetischen Algorithmus beschreiben kann. Bekannt ist das Spiel mit zellulären Automaten, die bestimmte Algorithmen, wie die der Linsenmeiersysteme nutzen, um Avatare in Haare einzukleiden oder virtuell erzeugte Gebirgsformationen natürlich erscheinen zu lassen. All dies wären Gestaltungen, aber all dies sind noch keine Gestalten.1 Auch die Einsicht in eine Formierung ist noch keine Gestaltlehre. Ebenso kann die Formenkunde der Topologie genutzt werden, Gestalten zu beschreiben, ist aber selbst noch keine Gestaltlehre. Um 1900 zog die Gestaltpsychologie daraus Konsequenzen und beschrieb die Gestalt als eine angenommene Kategorie, eine Allerweltsschublade, in der das ungefähr Passende einander zugeordnet werden kann. Gestalten waren demnach Effekte einer psychologisch zu beschreibenden Wahrnehmungsdisposition. In der Tat richten derartige Dispositionen Erfahrungen aus, ohne doch selbst bereits auf den Begriff gebracht sein zu müssen; was dann auch direkt die Aufgabe einer Gestaltpsychologie wurde. Allerdings gibt es im Anschauen immer wieder etwas, das neu zu entdecken ist. Es erscheint etwas, von dem noch kein Begriff existiert, das aber in den Blick gerät. Wird dieses ausgeschlossen, so würden Gestalten nur nach dem Muster der uns schon einsichtigen Wissensbestände erfahren und geordnet. ◊ Abb. 1 So wäre zu fragen, ob es etwas gibt, in und an dem sich das Anschauen in sich selbst ausrichtet, etwas, das vor dem Begriff zu fassen ist, etwas, das noch gar nicht beschrieben werden konnte, das aber vielleicht das Was und das Wie, in dem es dann beschrieben wird, ausrichtet. So wäre zu fragen, ob in der Einsicht in das, was Gestalt genannt wird, greifbar ist, was vor die bloß diskursive Entfaltung einer Idee tritt. Ermutigt wird dieses Vorhaben durch Goethe, der mehr als nur den Begriff einer Morphologie, nämlich eine Anschauung von dem, was Morphologie sein könnte, gefunden und beschrieben hat. Er suchte dabei etwas diskursiv zu fassen, was seiner Auffassung nach vor dem Diskursiven liegt, dieses eingrenzt, es gleichsam selbst an die Hand nimmt, und so in der Unmittelbarkeit einer noch nicht diskursiv vermittelten Einsicht etwas in Geltung setzt, das dann, erfahrungsmäßig vergewissert und in einen begrifflichen Apparat gebracht, ausbuchstabiert werden kann. 1 Vgl. Olaf Breidbach, Federico Vercellone (Hg.): Concepts of Morphology. Mailand/Udine 2008.

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Was soll nun aber der Biologe mit solch einer Morphologie anfangen? Wird er damit nicht in ein Denken eingebunden, das den Anschauungen z. B. einer molekularen Entwicklungsgenetik widerspricht? Er muss doch danach suchen, die einfachen Ursachenreihen, die ein Gen in eine Landschaft kompartimentierter Reaktionsfolgen – sogenannter Gewebe – umsetzt, aufzudecken und somit die Gestalt im Diskursiven (in den Explikationen des Genoms) aufzulösen. Vielleicht aber könnte man ihm auch zeigen, dass nur dann, wenn er Gestalt denkt und so die Engführungen einer bloßen Mechanik der Entwickelung – im Sinne von Roux2 – verlässt, er zu thematisieren vermag, was Organik und Regulation des Organischen ist. Vielleicht ist ihm dann sogar deutlich zu machen, dass schon der Begriff des Gens bestenfalls noch als Gestalt – im weiter zu explizierenden Sinne – für seine Wissenschaft zu retten ist.3

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1: Ernst Haeckel: Kunstformen der Natur, Tafel 76, 1904.

Historik

Goethes Morphologie ist eine Erfahrungslehre, die das Objekt noch nicht in der Objektivierung verloren hat, sondern welche die eigentliche Dimension des Objektiven, Inhalt einer Erfahrung zu sein, aufnimmt. Hierin schwamm Goethe in einer entscheidenden Phase der Wissenschaftsentwicklung gegen jenen Strom an, dessen Bahnen er mit seinem Konzept doch massiv bestimmt hat.4 Er bleibt damit auch in systematischer Hinsicht, d. h. für eine Analyse der konzeptionell weiterführenden Perspektiven eines morphologischen Ansatzes interessant, da seine Morphologie ein Erfahrungskonzept diskutiert, das einerseits explizit gegen das rationale Kalkül der vormaligen philosophischen Ordnungssysteme gewandt ist, andererseits Erfahrung aber auch nicht auf die in einem vorgegebenen methodischen Raster möglichen Datenerhebungsprozesse eingrenzt, sondern aus der Totalität des menschlichen Welt2 Wilhelm Roux: Über Kausale und Konditionale Weltanschauung und deren Stellung zur Entwicklungsmechanik, Leipzig 1913. 3 Vgl. Klaus Scherrer, Jürgen Jost: Gene and genon concept: Coding versus regulation. In: Theory in Biosciences 126, 2007, S. 65–113. 4 Olaf Breidbach: Goethes Naturverständnis, München 2011.

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Olaf Breidbach

Erfahrens zu bestimmen sucht. Dies zu sehen und dabei auch kritisch zu verstehen, ist wichtig, um zu ermessen, ob einer Morphologie als wissenschaftlicher Denkform auch heute noch ein systematischer Gehalt zukommen kann. Wobei es sich allerdings schlicht verbietet, unter der Fahne der Morphologie die Wissenschaftsentwicklungen und damit auch die zweifelsfrei vorhandenen Segnungen einer disziplinär organisierten Wissenschaft einfach zurückzudrehen. Vielmehr muss der vormalige Ansatz einer Gestaltlehre, die auf das Ganze zielte und die Gestalt als Moment eines Naturprozesses begriff, nunmehr unter einer evolutionsbiologischen Perspektive umgeschrieben werden. Dies geht nun nicht so, dass das Goethe’sche Prozessdenken einfach darwinistisch übersetzt wird.5 Schließlich meinte die Idee Goethes, einen Naturprozess anzunehmen, in dem dann die Gestalten als Momente einer sich kontinuierlich entfaltenden Natureigenheit begriffen sind, nicht die sich in eine offene Zukunft entwickelnde Vielfalt des darwinistischen Denkens. Der Prozess war bei Goethe als eine Selbstexplikation der Natur gedacht, in der die Gestalt als Moment einer an sich bestehenden Strukturiertheit anzunehmen war. Dieser Grundansatz ist in einem darwinistisch geprägten Denken aufzugeben. Dort ist die Gestalt als Resultat eines nunmehr historisch nachzuzeichnenden Prozesses zu begreifen: Das Problem liegt dabei darin, dass der solch eine Entwicklung rekonstruierende Morphologe selbst einen Gestaltbegriff benötigt, um die Momente zu strukturieren, an und in denen er den historischen Prozess darstellt. Er muss also dessen Gestaltung über eine Darstellung von Gestalten erschließen. Wobei Gestalt dabei im weiteren Sinne auch auf die Strukturbeziehungen auf molekularer Ebene zu beziehen wäre.6 Die vormalige Gestaltpsychologie, die diese Problematik dadurch zu umgehen suchte, dass sie die Zuordnungsmuster, nach denen ein Wahrnehmungsumfeld strukturiert wird, gestalttheoretisch auflöste, greift hier nicht.7 Schließlich ist darzustellen, inwieweit Gestalt eine eben auch die Natur kennzeichnende Größe charakterisiert. Was ist dann Morphologie? Gestalten werden immer nur in der Anschauung, das heißt in der fragmentarischen In-Blick-Nahme durch einen Erfahrenden registriert. Das in dessen Erfahrung gewonnene Fragment steht in einer methodisch geführten, disziplinären Wahrnehmung nun aber nicht einfach für das Ganze. Dies

5 Vgl. Dorothea Kuhn, Empirische und ideelle Wirklichkeit. Studien über Goethes Kritik des französischen Akademiestreites, Graz/Wien/Köln 1967. 6 Vgl.: Klaus Scherrer, Jürgen Jost. The gene and the genon concept: A functional and informationtheoretic analysis. Molecular Systems Biology 3, 2007, S. 87–93. 7 Mitchell Ash, Gestalt Psychology in German Culture 1890–1967. Holism and the Quest for Objectivity. Cambridge/New York 1995.

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zu erreichen bedeutet vielmehr, unter dem Konzept der Morphologie eine Vielfalt von Perspektiven nicht nur einfach zuzulassen, sondern ineinander zu integrieren. Es wäre zu klären, ob es in den Disziplinen nicht nur Anschauungen, sondern jeweils für sie grundlegende Anschauungsformen gibt, die im Vergleich miteinander so etwas wie eine Grundbedingung des Anschauens darstellbar lassen würden. Resultat wäre dann eine Gestaltlehre, welche die Gestalt als Resultat einer Gestaltung begreift. Die würde weiter zu einer Denkform führen, in der nicht einfach Kategorien vorgegeben sind, sondern welche die Bestimmungsgefüge des Bestimmens selber zum Maßstab desselben nehmen. Das heißt technisch – im Denkmuster der internen Repräsentation8 –, dass ein Zustand des wahrnehmenden Systems immer in Bezug auf die anderen Zustände des Systems zu bestimmen ist. Es wäre also eine immer im Fluss befindliche Matrix von Bestimmungsverhältnissen zu beschreiben, die sich durch die Erfahrung von Neuem fortlaufend erweitert und gegebenenfalls auch strukturell umschichtet.9 Es gibt also keine festen Größen, keine auf Karteikarten notierten Kenndaten zu Identifikation und Zuordnung der Ausformungen, die sich in diesem System abbilden lassen. Die Größen, mit denen operiert wird, sind Bezugsbestimmungen, relationale Kennungen – und das sind Gestalten. Es gibt keinen Katalog, anhand dessen Gestalten nach vorgegebenen Rastern zu klassifizieren sind. Spezifikum der Gestalt ist ihre relationale Bestimmung. Es sind solch relativ aufeinander bezogene Konstellationen von Parametern und die darin bestimmten Größen, in denen sich Gestalt fassen lässt. Das ist dann nicht mehr Goethe (oder nur bedingt auf Goethe zurückzubeziehen), es erlaubt aber, Morphologie zu denken, ohne den Anspruch Goethes, die Natur als Ganzes zu erfassen, aufzugeben. Es ist in der Tat diese Operation einer Grenzziehung – nicht über vorgegebene Raster, sondern in der relationalen Positionierung der Elemente –, über die im Rahmen einer Morphologie zu verhandelt ist. In deren wechselseitiger Bestimmtheit lassen sich die kategorialen Muster gewinnen, anhand derer Gestalten zu differenzieren sind. Morphologia interna

Die Einbindung in einen derart nur indirekt außenweltbezogenen Eigenraum des erfahrenden Systems definiert Ordnungskategorien. Dabei sind diese Zuordnungs-

8 Olaf Breidbach: Deutungen, Weilerswist 2001. 9 Vgl. generell: Olaf Breidbach, Federico Vercellone: Anschauungen denken – Zum Ansatz einer Morphologie des Unmittelbaren, München 2011.

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muster erfahrungsabhängig. Sie sind dies aber nicht in dem einfachen Sinne einer außenweltbezogenen Impression. Insoweit sind denn auch Gestalten nicht einfach als Konturen einer wahrnehmbaren Objektivität zu zeichnen. Erfahrungen werden vielmehr nach den Modi verarbeitet, in denen unser internes Referenzsystem vorstrukturiert ist. Dabei ist diese Vorstrukturierung nicht einfach a priori vorgegeben. Sie wird vielmehr in einer immer neuen Ausrichtung auf die erfahrene Welt fortlaufend rekonturiert. Auch Erinnerungen sind derart erfahrungsmoduliert und werden in einer individuellen Lebensgeschichte immer wieder neu in dem sich verändernden Referenzsystem der kontinuierlich anwachsenden Erinnerungen positioniert. Dennoch aber ist es möglich, Erfahrungen aus der Kindheit mit späteren, vielleicht sehr viel differenzierteren Erfahrungsmustern abzugleichen. Hier sind Erinnerungen also nicht einfach in Form von festen Bildern abgelagert, vielmehr werden sie in ein sich in seiner internen Referenz fortlaufend modifizierendes Referenzsystem eingelesen, bleiben in diesem aber dennoch in ihrer Identität kenntlich. Abgespeichert werden also nicht feste Außenkoordinaten, sondern relational bestimmte, in ihrer jeweiligen Referenz zu den internen Vorgaben neu abzustimmende Repräsentationen.10 Entsprechend dieser Vorgabe erarbeitete Computerprogramme zeigen, dass schon einfache, nach diesem Vorbild konstruierte Maschinen fähig sind, Gestalt zu erkennen. Gestalterkennung lässt sich derart in einem rela­tional operierenden System beschreiben.11 Da sich in dieser Gestalterkennung Gestalt abbildet und damit ein Algorithmus zu definieren ist, der Gestalt als eine wahrzunehmende Größe bestimmt, erlaubt es diese Darstellung der Gestalterkennung, Aussagen darüber zu gewinnen, was Gestalt als zu erfahrende Größe sein könnte. Dabei werden Merkmale zu Elementen einer Konturierung, in der nicht feste Größen, sondern relationale Kennungen zu beschreiben sind. Bedeutung bekommen die in einem derartigen System realisierten Einzelheiten dabei nicht in Bezug auf eine Außenreferenz, sondern allein in Bezug zu den Entitäten der Innenwelt, d. h. die Verrechnungseigenheiten des entsprechend operierenden Systems. Die Wahrheit einer Aussage A innerhalb des Systems definiert sich entsprechend nicht in Bezug auf ein internalisiertes Expertensystem, sondern in Referenz auf die eigenkonstituierte Welt interner Relationsbeziehungen. Diese sind jedoch fortwährend im Fluss, aus deren Beschreibung ergibt sich kein Katalog fester Größenbeziehungen, 10 Vgl. hierzu im Detail: Olaf Breidbach: Das Anschauliche oder über die Anschauung von Welt, Wien/ New York 2000. 11 Vgl.: Klaus Holthausen: Evolution of internal representations generated by unsupervised self-referential networks. In: Theory in Biosciences 117, 1998, S. 18–31.

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vielmehr sind diese nur in der Ausdeutung der dem System eigenen, dynamischen Strukturierungsfunktionen zu definieren. Insoweit ist das, was als Außenreferenz bestimmt wird, nun auch entsprechend dieser internen Kennung einer referenziellen Bestimmung von Größen abzubilden. Derart sind die Strukturen einer Welt dann auch in ihren (internen) Repräsentationen darzustellen. Im Subjekt ist die Welt nach Maßgabe des Subjektes abgebildet. Ihre innere Bestimmtheit ist aus den subjektkonstituierten Bedingungen erwachsen. Allerdings gewinnt sie einen immer höheren Detaillierungsgrad. Damit wird die Gestalt dessen, was sich im Subjekt findet, immer dichter bezeichnet. Es finden sich Relationen, in denen sich Einheiten gegeneinander abgrenzen, die nun in sich allerdings auch Variationen erlauben. Bezeichnet werden Zustandsräume, in denen bestimmte Konfigurationen dargestellt sind, die sich gegenüber der Kombination anderer Konfigurationen absetzen. So gewinnen sich Einheiten in einem Bestimmungsraum interner Kennungen, die sich voneinander absetzen, aber in sich verschiedene Zustandsformen erlauben. Derart sind Systemeinheiten definiert, in denen nunmehr Untereinheiten ausgewiesen sind. Im Gegensatz zu einer klassischen Systemtheorie sind diese Einheiten aus der Abgrenzung der Relationen der sie konstituierenden Elemente und nicht durch externe Vorgaben bestimmt. Im Resultat erwächst so aus der Bestimmung der Relationsgruppen eine Hierarchisierung von Zuordnungsgruppierungen, in denen sich die Klassifikation von System und Systemunterteilungen aus der relationalen Kennung der Gesamtheit der in Blick zunehmenden Relationen ableitet. So gewinnen sich qualitative Bestimmungen – wie die Trennung der Hierarchieebenen von Bestimmungsgefügen und die Zuordnung einzelner Relationen –, in denen sich die relationale Bestimmung der betrachteten Einheiten in sich – und damit unabhängig vom Subjekt – beschreiben lässt. Insoweit ist das sich im Subjekt Abbildende nun in der Tat für sich, als eine im Subjekt gefasste Welt bestimmt.12 Rein aus der internen Analytik seiner Repräsentationen erwachsen, findet sich dieser Raum einer Relationsschichtung als das Destillat eines nicht einfach mehr dem Subjekt Eigenen. Insoweit ist dies eben nicht Gestaltpsychologie. Und insoweit wird es sich seiner Anschauung auch sicher.

12 Vielleicht kann man mir diesen transzendentalphilosophisch motivierten Exkurs nachsehen, zeigt er doch, dass sich in einer entsprechenden, letztlich technischen Bestimmung der internen Repräsentation von Erfahrungszuordnungen – und eine andere ist uns ja nicht verfügbar – eben keine Gestaltlehre im Sinne der Gestaltpsychologie des beginnenden 20. Jahrhunderts, sondern in der Tat eine Erfahrungslehre im Sinne einer induktiv operierenden Wissenschaft ableiten lässt.

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Was ist damit dann aber Gestalt? Sie ist zunächst ein Bestimmungsbegriff. Gestalt bezeichnet das einer Menge von Mustern Gemeinsame und Charakteristische, das ist aber durchaus auch noch pattern. In dieser Charakteristik können diese Muster auf Grund von Ähnlichkeitskriterien einander zugeordnet werden. Schon zwei Individuen einer Art zeigen nun aber auffällige Variationen in ihrer Gestalt – denken wir nur an die verschiedenen Katzenrassen. Dabei lassen sich aber systematische Raster finden, die es zweifelsfrei erlauben, katzenartige und hundeartige Raubtiere als zwei nach morphologischen Kriterien distinkte Organismengruppen voneinander abzugrenzen. Aussagekräftig für solch eine Abgrenzung sind nicht einzelne charakte2: Carl Gustav Carus: Cyprinus ­dobula. ristische Merkmale, sondern Zustandsräume, in denen die Aus: Erläuterungstafeln zur ver­glei­chen­ Zuordnungen zueinander dargestellt sind.13 Es sind dies den Anatomie, Tafel V. Leipzig 1828. die relationalen Bestimmungen, in denen die vormalige Typologie ihre Klassifikationsmuster erarbeitete. Referenz war hier eine nach einem Grundmuster organisierte Natur, auf die die Vielfalt der Dinge zu beziehen war. So war denn auch die Idee einer Segmentierung des Schädels, um die Oken und Goethe stritten, begründbar. Es war eine Natur, die sich in den verschiedenen Formen – hier des Tierreiches – nach einem Grundschema explizierte. Hieraus erwuchs eine eigene Diskussion über die Typik des Tierkörpers, in der das begriffliche Instrumentarium der modernen Morphologie, die Definition von homolog und analog erarbeitet wurde. Oken vermittelt sein Denken an Carus.14 In Paris hört dann Richard Owen Oken, meint, er versteht damit Geoffroy de St. Hilaires Teratologie und liest dann auch noch Carus, von dem er das Muster seiner zentralen Abbildung entlehnt und so für sein methodischen Konzept verfügbar machte.15 ◊ Abb. 2–5 Diese externe Referenz einer nach einem Prinzip strukturierten Natur, die in der Art und Weise ihrer Explikation ein vorgegebenes Grundschema variierte, lässt sich heute nicht mehr annehmen. Es gibt eine Vielfalt, die zwar zuei13 Günther P. Wagner, Manfred D. Laubichler: Character identification: The role of the organism. In: Theory in Biosciences 119, 2000, S. 20–40. 14 Olaf Breidbach: Carus’ Beitrag zur vergleichenden Anatomie und Zootomie. In: Carl Gustav Carus. Wahrnehmung und Konstruktion, Berlin/München 2009, S. 241–252. 15 Niklas A. Rupke: Richard Owen. Victorian Naturalist, New Haven/London 1994; Giovanni Camardi: Richard Owen, Morphology and Evolution. In: Journal of the History of Biology 34, 2001, S. 481–515.

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3: Carl Gustav Carus: Rekonstruktion des Urwirbeltiers. Aus: Erläuterungstafeln zur vergleichenden Anatomie, Tafel IV, Fig.1, Leipzig 1828.

4: Richard Owen: Archetyp. Aus: On the Nature of Limbs, London 1849.

nander in einem historischen Bezug steht, hierbei aber nur sehr bedingt ein vorgegebenes Schema zu differenzieren vermag. Die evolutionsbiologische Analyse hat also nicht nur aufzuzeigen, in welcher Hinsicht bestimmte Linien nachzuzeichnen sind, die es erlauben bestimmte Strukturen zu vergleichen. Sie hat zugleich auch zu zeigen, wo die Grenzen einer entsprechenden Analyse liegen, wo also etwa eine vergleichbar erscheinende Struktur doch in einer zu unterschiedenen historischen Linie erwachsen ist.16 Die Vielfalt der Organismen – das zeigten Oken und Carus – führt nur die Brechungen vor, in denen der im Menschen in seiner höchsten Ausprägung zu fassende Grundtyp des Lebens erscheinen kann. Explizit wird die Ordnung von einfacheren zu komplizierter gebauten Formen nun nicht allein in der vergleichenden Systematik der ausgewachsenen Formen, sondern auch in der Entwicklungsgeschichte der Organismen, die in ihrem Durchlauf von einfachen zu komplizierten Formen in den einzelnen Individuen aufzeigt, wie die Vielfalt der Formen einander zuzuordnen ist. Dabei gab Okens Verständnis eines Urtyps der Wirbeltierorganisation auch für Carus den Ansatz, die verschiedenen Körpersegmente als Variationen eines einfachen segmental organisierten Grundbauplanes zu begreifen. Die daraus erwachsene Vorstellung einer seriellen Homologie steht bis heute in der Diskussion. Dies gilt auch für die molekularbiologische Darstellung von ontogenetischen Varia16 Vgl. Gerhard Scholtz: Differenzieren und Synthetisieren: Zwei Formen des Vergleichens in der Biologie. In: Bildwelten des Wissens. Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik 6,2, 2009, S. 70–78.

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tionen in der segmentalen Organisation des tierischen Körpers.17 Hier bleibt allerdings wiederum eine analytische Klärung der relativen Struktureigenheiten offen. Ebenso blieb der Versuch D’Arcy Wentworth Thompsons (1860–1948),18 die entsprechenden Gestalteigentümlichkeiten 5: Frontispiz zu Richard Owen: On the Nature of Limbs, mathematisch zu fassen, seinerseits in London 1849. dem entscheidenden Schritt der Argumentation rein anschaulich. ◊  Abb.  5 D’Arcy Thompson demonstrierte, wie durch einfache Verformung die Körpergestalt des Organismus X in die Körpergestalt des Organismus Y überführt werden konnte. Sein Beispiel ist dabei die einfache äußere Form eines Fischkörpers, die er durch Stauchung und Verzerrung in jeweils verschiedene Formtypen überführte.19 In diesem entscheidenden Schritt seiner Argumentation bleibt Thompson dem Bild verhaftet. Gestalt ist in dieser für die anglo-amerikanische Tradition der Analyse von form and pattern zentralen Schrift somit ein letztlich an die Anschauung verwiesenes Phänomen.20 Diese Tradition wurde ebenso im europäischen Kontext bestimmend.21 Für die sogenannten morphologischen Wissenschaften geriet eine solche Situation letztlich desaströs, da die für die vergleichende Betrachtung zentralen Ähnlichkeitsbezüge so analytisch nicht greifbar sind. Morphologie des Prozesses

Die Konsequenzen dieser Situation zeigen sich derzeit etwa in einer biologischen Morphologie, die Gestalt nunmehr als Resultat eines Entwicklungsprozesses fasst und entsprechend Gestalt über die Mechanismen zu definieren sucht, die diesen Bildungsprozess charakterisieren. Dabei sind die Formierungsprozesse nicht als mathematische Gesetzmäßigkeiten, sondern als reale Bestimmungen von Ontoge17 Vgl. die Diskussion um die so genannten Parasegmente und ihr Verhältnis zu den morphologischen Segmenten, etwa in Peter A. Lawrence: The present status of the parasegment. In: Development 104 Suppl., 1988, S. 61–65. 18 D’Arcy Wentworth Thompson: On Growth and Form, Cambridge 1942. 19 Ebd., Bd. 2, S. 1056–1073. 20 John Tyler Bonner: On Development. The Biology of Form, Cambridge, Mass./London 1974. 21 Zum Nachwirken der Tradition vgl. exemplarisch John C. McLachlan, Mark A. J. Chaplain, D. G. Singh (Hg.), On Growth and Form: Spatio-temporal Pattern Formation in Biology, New York 2000.

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neseprozessen verstanden, die sich nur mehr mittels molekulargenetischer Methoden analytisch fassen lassen.22 Insoweit reduziert sich die Morphologie auf eine Entwicklungsgenetik, die ihrerseits aber – und hier wird die Zirkularität des entsprechenden Ansatzes deutlich – wieder einen Strukturbegriff voraussetzt. Insofern lässt sich auch unter diesen Voraussetzungen der Gestaltbegriff nicht einfach durch eine Darstellung des Gestaltbildungsprozesses ersetzen. 6: D’Arcy W. Thompson: On Growth and Form, Insoweit ergibt sich auch in der modernen Bd.2, Cambridge 1942. Situation ein Problem, denn der bestenfalls wahrnehmungspsychologisch begründete Gestaltbegriff zeigt sich nicht nur einer analytischen Darstellung verschlossen, er ist zudem eng mit dem prä-darwinistischen typologischen Konzept einer idealistischen Morphologie verknüpft.23 Ein alternatives, analytisch gefasstes Gestaltkonzept ist aber derzeit noch nicht formuliert. Der grundsätzliche Ansatz, den der französische Mathematiker René Thom formulierte, 24 ist für eine Klassifikation realer Datensätze zu abstrakt. Der Anspruch an ein solches Konzept besteht allerdings – und hier formulierte Thom einen weiterreichenden Ansatz – nicht allein in einer Klassifikation von statischen Mustern, sondern in der Klassifikation von sich dynamisch verändernden und nicht mehr nur in Formabstufungen zu begreifenden Typen.25 Für eine Weiterentwicklung des Gestaltbegriffes müssen diese Engführungen klar werden. Goethe ist in dieser reduktiven Fassung der Gestalt, die diese aus seinem umfassenden Konzept einer Metamorphose der Natur ausblendet, nicht gerecht zu werden. Unter der Idee der Metamorphose wird die Gestalt dann auch nicht einfach zu einem Komplex von Ontogenesestadien, die im Vergleich erschlossen werden. Die Metamorphose, d. h. die Möglichkeit dieses Transformierens selbst ist der Ansatz, eine Morphologie der Natur beschreiben zu können. Damit – so die These – wird die Metamorphose zu einem umfassenden, erst im Rahmen einer Theorie des Wahrnehmens adäquat zu fassenden Begriff. 22 Vgl. Klaus Sander, Urs Schmidt-Ott: Evo-Devo aspects of classical and molecular data in a historical perspective. In: Journal of Experimental Zoology Part B: Molecular and Delepomental Evolution. 302B, 1, 2004, S. 69–91. 23 Michael T. Ghiselin: The founders of morphology as alchemists. In: Michael T. Ghiselin, Alain. E. Leviton (Hg.): Cultures and Institutions of Natural History, San Francisco 2000, S. 39–49. 24 René Thom: Structural Stability and Morphogenesis, Reading, Mass. 1975. 25 René Thom: Modèles Mathématiques de la Morphogénèse, Pisa 1971.

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Ausgehend von diesen historischen Bestimmungen ist die Morphologie – als Gestaltlehre – eingehender zu fassen. Zunächst ist von den Konkretionen der Naturgeschichte zu abstrahieren: Mathematisch gesehen definiert eine Gestalt eine Äquivalenzklasse von Mustern unter einer vorgegebenen Transformationsgruppe. Transformationen sind Operationen, die Muster verändern und in andere Muster überführen. Dabei kommt es nun darauf an, dass die Transformationen zwischen Mustern, die zur gleichen Gestalt gehören, durch feste strukturelle Regeln eingeschränkt sind. Es gibt nun mathematisch fassbare Gesetze, die spezifizieren, auf welche Weise die jeweiligen Muster verändert werden dürfen. Das heißt, es lässt sich eine Matrix der in der Gestaltsicht erarbeiteten Relationen bestimmen. Morphologie wäre demnach die Wissenschaft, welche die Kriterien solch einer Bestimmung und damit die Kriterien für jedweden Vergleich im Bereich des Biotischen an die Hand gibt. Mathematisch lässt sich diese relationale Kennung so darstellen, dass solch ein System mit einfachen Operationen in sich zu überführen, zu drehen und zu wenden ist. In einer Analyse der erlaubten Transformationen ist darzustellen, welchen Eigenschaften, d. h. was an einem Muster für die die Transformationsgruppe erzeugende Gestalt unwesentlich ist – und welchen formalen Regeln diese Veränderungen genügen müssen.26 Dabei bestimmt sich in solch einer operativen Bestimmung von Transformationseigenheiten und der aus diesen abgeleiteten Systematik von Mustern aber nicht nur, welche Muster zu einer vorgegebenen Gestalt gehören, sondern auch, welche nicht zu ihr gehören, nämlich gerade diejenigen, die sich nicht mittels Transformationen dieser Gruppe in einen Repräsentanten der Gestalt überführen lassen. Die Gruppe setzt die zu ein und derselben Gestalt gehörenden Muster zueinander in Relation und schließt die nicht zugehörigen aus, und zwar durch den Nachweis der Unmöglichkeit einer Transformation des geforderten Typs. Dabei sind Transformationen hier zunächst als mathematische Operationen definiert, die es erlauben, eine Klasse von Elementen, die in einer entsprechenden Relation zueinander stehen, in diesen ihnen möglichen Relationen zu begreifen. Damit ist man noch fern einer expliziten funktionellen Analyse von biologisch relevanten Transformationsprozessen, schafft aber ein Vokabular, mit dem entsprechende Prozesse nicht in ihrer funktionalen Organisation, aber in den zu bestimmenden Größenbeziehungen darzustellen sind. Auf diese Weise wird die Unterscheidung von Gestalten ermöglicht, also Äquivalenzklassen von Mustern, die durch derart verschiedene, im gewählten Rahmen nicht ineinander überführbare Reihen repräsentiert sind. So lassen sich 26 Olaf Breidbach, Jürgen Jost: On the gestalt concept. In: Theory in Biosciences. 125, 2006, S. 19–36.

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Ähnlichkeitsgruppen klassifizieren und dann in diesen Gruppen eine mathematische Struktur finden. Solch eine Darstellung wird beschrieben in einem Modell, das einzelne der Eigenschaften eines Relationensystems darzustellen erlaubt, die hier nicht nur im Postulat einer bloß anschaulichen Transformation bestimmt sind, sondern sich vielmehr auch analytisch beschreiben lassen. Dabei werden nach diesem Ansatz nicht einfach nur Transformationen im Sinne einer einfachen und eindeutigen, alle Elemente bestimmenden Veränderung begriffen, wie sie Thompson in seinem Werk beschrieben hat. Dort wird das einzelne Element in seiner Zuordnung durch die Systembedingungen eingestellt. Im vorliegenden Ansatz bestimmen die Elemente in ihren Zuordnungen das System. In dem Moment, wo dieses Modell in seinem Design explizit gemacht wird, rationalisiert es die Aussage über mögliche Strukturbeziehungen und lässt demzufolge das bloß Anschauliche in der Vielfalt der für es möglichen Explikationen erfahrbar werden. Das ist dann schon so etwas wie eine „gehobene“ Gestaltsicht. Damit fänden sich erste Konturen für das hier in den Blick genommene morphologische Denken. Es ist ein Denken, das Gestalten als Dynamiken begreift. Es ist ein Denken, das sich klar ist, dass es in der Analyse von Wechselwirkungsprozessen an Grenzen seiner Rationalisierung stößt, dass sich Bildern überlässt und sich klar machen muss, wo und wie diese Bilder es leiten. Nicht dass damit eine rein bildliche Betrachtung einfacher Transformationsfunktionen – wie sie Thompson zu Beginn des 20. Jahrhunderts offerierte – zum Modell entsprechender Darstellungen wird. In seiner Monografie zur Symmetrie hatte schon Weyl demonstriert, wo solche Illustrationen didaktisch zu nutzen sind, und wo sie gegebenenfalls auch zu Vorstellungsverengungen führen.27 Die Bilder, in denen hier zu argumentieren wäre, sind die Darstellungen, die aus derartigen Vorstellungsverengungen herausführen. Kritisch zu vermerken sind damit Illustrationen – und Modelle –, die in der klassischen Form der bloßen Vernetzung letztlich ja nunmehr die Dynamik vorgegebener Systemgrößen demonstrieren. Zu erarbeiten sind Darstellungen, die aus solchen Bildern herausführen und die Anschauung anleiten, derart tradierte Vorstellungsformen zu verlassen, um die relationale Bestimmtheit aus der Interaktion der Elemente und nicht aus den Vorgaben der Systemgrößen zu denken.

27 Hermann Weyl: Symmetry, Princeton 1952.

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Gerhard Scholtz

Versuch einer analytischen Morphologie1 Die Lage der Morphologie

Die Morphologie als Teildisziplin der Biologie gilt vielen als etwas angestaubtes und verzichtbares Fach.2 An den Universitäten werden freiwerdende morphologische Professuren in Zoologie und Botanik zugunsten „modernerer“ Fachgebiete umgewidmet oder gestrichen. Eigentlich ist dies verwunderlich, denn die Vielfalt organismischer Formen und Strukturen trägt nach wie vor zu unserem Verständnis der Ordnung der Natur bei und stellt eine bleibende intellektuelle Herausforderung dar. Sicherlich gibt es kein Zurück zu Zeiten, in denen Form und Gestalt als die wesentlichen Charakteristika von Organismen galten und in denen die biologische Morphologie Teilaspekt einer übergreifenden morphologischen Weltsicht war, die natürliche wie kulturelle Phänomene zu erfassen trachtete. Zu Recht wurde ein derartiger Essenzialismus in der Biologie kritisiert und mit dem Siegeszug der Evolutionstheorie durch eine Sichtweise abgelöst, welche die Form nicht mehr als das stabile und stabilisierende Element in der belebten Natur ansieht. Es ist offensichtlich, dass Evolutionstheorie und Genetik die Rolle der Morphologie zurückgedrängt oder, optimistischer formuliert, verändert haben. Im Rahmen der Evolutionstheorie bilden nun die genealogischen Beziehungen die, wenn man so möchte, Essenz einer Organismengruppe. So werden z. B. die Tetrapoda (Landwirbeltiere) nicht etwa als Gruppe vereinigt, weil sie die namensgebenden vier Füße aufweisen oder an Land leben (was sie im Falle von Schlangen und Wale nicht tun), sondern weil sie eine genealogische Einheit mit einem nur ihnen gemeinsamen Ursprung bilden. Allerdings ist zu fragen, welche Rechtfertigung auf der anderen Seite der moderne genetische Essenzialismus besitzt, demzufolge die Erscheinungsformen der Organismen zu Akzidenzien von geringem Erkenntniswert werden und aussagekräftige Beziehungen sich allein auf der genetisch-molekularen Ebene ergeben sollen. Warum haben molekulare Sequenzen einen höheren Wert für phylogenetische Verwandtschaftsforschung als anatomische Strukturen und Muster? Sind Formen nur ein eigentlich überflüssiges Epiphänomen „egoistischer“ Gene, nur der 1

Mein Dank gilt Thomas Stach und Matthias Bruhn für kritische Durchsicht des Manuskripts. 2 Rupert Riedl: Der Verlust der Morphologie, Wien 2006.

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materielle Ausdruck genetischer Information, nur das Werkzeug von Funktionen wie Stoffwechsel und Reproduktion, die das Lebendige ausmachen? Kann eine veränderte Morphologie ihren Beitrag auch in einem molekularen Zeitalter leisten? Diese Frage ist sicher mit „Ja“ zu beantworten. Organismen haben Formen und Strukturen, die eine entscheidende Rolle für sie selbst und dementsprechend für das Verständnis ihrer Evolution spielen. Das Narrativ der Geschichte und Beziehungen der Organismen kommt ohne die Berücksichtigung von Formen und ihren Abänderungen nicht aus – sei es der Wandel von der marinen Wurmgestalt zur Organisation eines fliegenden segmentierten Gliederfüßers, die strukturell-funktionelle Abwandlung eines meeresbewohnenden sackförmigen sessilen Strudlers zu einem Landwirbeltier wie dem Menschen oder die manchmal hochgradigen Formübereinstimmungen nicht näher verwandter Organismen. Erst wenn diese Vorgänge nachvollzogen und verstanden werden, stellt sich eine intellektuelle und nicht zuletzt ästhetische Befriedigung ein. Dieses Narrativ ist im besten Sinne Morphologie. Die biologische Morphologie verfolgt traditionellerweise ein zweifaches Ziel. Sie möchte die Vielfalt organismischer Formen und Strukturen beschreiben, um diese Formen und damit auch die diese Formen tragenden Organismen zu Gruppen zusammenzufassen.3 Darüber hinaus aber erhebt die Morphologie auch den Anspruch, aus dieser Analyse eine Erklärung für die Entstehung und Transformation organismischer Strukturen abzuleiten. Auf der Basis morphologischer Untersuchungen kann die Beziehung von Form und Funktion und letztlich der Organismen zur Umwelt bestimmt werden. Dies gilt auch in einem modernen evolutiven Kontext. In der Tat hat Darwins Evolutionstheorie zunächst zu einer Blüte vergleichender und morphologischer Forschung geführt.4

3 Georg Toepfer: Historisches Wörterbuch der Biologie. Geschichte und Theorie der biologischen Grundbegriffe, Stuttgart 2011; Gerhard Scholtz: Deconstructing Morphology. In: Acta Zoologica 91, 2010, S. 44–63. 4 In ihrer Geschichte der Morphologie an deutschen Universitäten im 19. Jahrhundert hat Lynn Nyhart die Fragen der Morphologie zu dieser Zeit folgendermaßen charakterisiert: „More than just the study of anatomical structures, it [morphology] engaged some of the central philosophical mysteries of biology. In what ways did organization capture the essence of an animal’s life? What was the relationship between the animal as a unified whole and its parts? Between the body’s structures and its mode of life? Was there one or a small number of basic plans to which all animals conformed, and were these distinct from one another or did they merge? What was the relationship between an organism’s adult form and its earlier stages? In what sense can one say the earlier stages ‘caused’ the adult to come about?“ Diese zentralen philosophischen Mysterien der Biologie sind immer noch ungelöst und aktuell (Lynn K. Nyhart: Biology Takes Form, Chicago 1995, S. 2).

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1: Genealogische Beziehungen (Kladogramm) der bilateral-symmetrischen Tiere (Bilateria). Von links nach rechts ist je ein Vertreter der Säugetiere, der Stachelhäuter, der Gliederfüßer und der Plattwürmer dargestellt. Vermutlich ist die Körperorganisation des Plattwurms derjenigen der Stammart der Bilateria am ähnlichsten. Zu beachten sind die dramatischen Abweichungen der anderen Formen, insbesondere die der Stachelhäuter mit ihrer radiären Körper-Symmetrie.

Einheit in der Vielfalt

Die überbordende Formenvielfalt der Organismen ist zugleich durch erstaunliche Übereinstimmungen in der Körperorganisation charakterisiert. Dies ist in vielen Fällen offensichtlich, wenn man an den Skelettbau verschiedener Säugetiere oder die Körpergliederung der Insekten denkt. Die einheitliche strukturelle Organisation erschließt sich häufig aber erst durch detaillierte Formanalysen. Die Gemeinsamkeit des Aufbaus von Würmern, Krebsen und Menschen spiegelt sich in der Bilateralsymmetrie des Körpers, einem vorderen Gehirn und einem mittleren Keimblatt zwischen Darm und Außenhaut wider. Entsprechende bauliche Übereinstimmungen treten in einigen Fällen sogar ausschließlich während der frühen Ontogenese auf, während die Struktur der erwachsenen Tiere große Abwandlung erfahren hat. ◊ Abb. 1 Diese Einheit in der Vielfalt ermöglicht einerseits eine Systematisierung biologischer Objekte (anders als etwa im Falle von Schönwetterwolken, die in ständiger Umformung begriffen sind), zugleich bedarf dieser Widerspruch zwischen organismischer Diversität und Übereinstimmung aber einer Auflösung. Frühere Erklärungen beruhen auf der Annahme eines zugrundeliegenden (göttlichen) Plans, einer Idee oder eines Typus.5 Seit Darwin liegt die Erklärung und damit die Auf5 Toepfer (s. Anm. 3).

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lösung des Widerspruchs in der Evolution der Organismen – überzeugend einfach formuliert als „descent with modification“.6 Form versus Funktion

Biologische Form ist offensichtlich mit Funktionen korreliert: Beine erlauben Fortbewegung, Hummerscheren können zupacken, Fühler dienen der Wahrnehmung von Gerüchen sowie als Tastorgane, Farben helfen bei der Tarnung. Darüber hinaus unterscheiden manche Forscher Funktion und Biologische Rolle,7 wenn es um die Frage geht, in welchem Kontext der Organismus sich mit Beinen fortbewegt (z. B. bei der Jagd), wie und was die Hummerscheren greifen (Knacken von Muschelschalen) oder die Fühler wahrnehmen (Pheromone für die sexuelle Fortpflanzung). Die Auseinandersetzung darüber, ob nun die Form die Funktion/Rolle bedingt oder die Funktion die Form prägt, hat eine lange Tradition in der Biologie und kulminierte im berühmten Pariser Akademiestreit von Cuvier und Geoffroy Saint-Hilaire – eine funktionsbasierte Einteilung des Tierreichs in vier Gruppen gegen eine vorausgesetzte „Einheit des Plans“.8 Viele Biologen würden sicherlich das berühmte Diktum des Architekten Louis Sullivan unterschreiben: „Form follows function.“ 9 Wenn der Satz von Sullivan zutrifft, muss er allerdings auch in seiner Umkehrung richtig sein: Die Funktion sollte aus der Form erkennbar werden. Eine genaue Betrachtung zeigt aber, dass es in der Biologie keine eindeutige Verknüpfung von spezifischer Form und Funktion gibt. Eine Struktur wie z. B. die menschliche Hand kann sehr verschiedene Funktionen/Rollen wahrnehmen. Andererseits führen völlig disparate Strukturen die gleiche Funktion aus. Lokomotion an Land wird beispielsweise über gelenkige Anhänge wie bei Wirbeltieren und Gliederfüßern, über einen schleimbewehrten Kriechfuß wie bei Schnecken oder Körperperistaltik wie bei Regenwürmern ausgeübt. Es ist also in vielen Fällen nur sehr bedingt möglich oder gänzlich ausgeschlossen, aus der Form auf eine Funktion oder gar Biologische Rolle zu schließen.

6 Charles Darwin: On the Origin of Species by Means of Natural Selection- or, the Preservation of Favoured Races in the Struggle for Life, London 1859. 7 Walter J. Bock und Gerd von Wahlert: Adaptation and the form-function complex. In: Evolution 19, 1965, S. 269–299. 8 Toby A. Appel: The Cuvier-Geoffroy Debate – French Biology in the Decades before Darwin, New York 1987. 9 Louis H. Sullivan: The Tall Office Building Artistically Considered. In: Lippincott’s Magazine, March 1896.

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Wie das Problem Einheit versus Vielfalt, so wird auch der Form-Funktionskonflikt durch die darwin’sche Evolutionstheorie aufgelöst. Trotz ihres gegenseitigen Freiheitsgrades bedingen sich Form und Funktion vor dem Hintergrund der evolutiven Geschichte. Selektion auf bestimmte Funktionen setzt bei den Variationen ererbter Formen an, die entsprechende Funktionen ermöglichen. Im Prozess der evolutiven Anpassung werden die Formen verändert und dienen wiederum als Substrat für Funktionen und eine neue Runde der Formveränderung. Dies erklärt auch die unterschiedlichen strukturellen Lösungen für gleiche Funktionen, wie das Beispiel der Lokomotion zeigt. Sie sind bedingt durch unterschiedliche Ausgangssituationen; bei Landwirbeltieren wurden die zwei Paar Flossen der fischartigen Vorfahren zu Beinen, die Landschnecken haben den Kriechfuß von ihren aquatischen Vorfahren übernommen. Analytische Morphologie

Drei konzeptionell-methodische Aspekte bilden die wesentliche Voraussetzung für eine analytische Morphologie. Zunächst ist das Primat der Struktur bei morphologischen Analysen zu betonen. Weiterhin führt nur ein konsequentes Genealogisches Denken zu sinnvollen morphologisch-evolutiven Aussagen. Drittens ist eine detaillierte Musteranalyse die Voraussetzung für eine hochauflösende Rekonstruktion der Transformation organismischer Strukturen. Das Primat der Struktur und das Problem der Mischkonzepte

Morphologie ist primär eine Strukturwissenschaft, d. h., sie befasst sich mit organismischen Strukturen und ihrer Transformation in Ontogenese und Evolution. Form wird hier als System von Strukturen gesehen. Struktur ist damit das zentrale Element von Organismen und ihrer Form. Eine Funktion ohne Struktur ist nicht denkbar, ebenso wenig eine Ontogenese, wenn sie zu keiner resultierenden Struktur führen würde. Umgekehrt gilt dies nicht. Jede organismische Struktur weist prinzipiell über sich selbst hinaus. Sie entsteht in der Ontogenese, sie hat (mindestens) eine Funktion und spielt (mindestens) eine biologisch/ökologische Rolle. Dazu ist sie das historische Resultat einer evolutiven Transformation von Vorläuferstrukturen. Morphologische Analysen organismischer Strukturen beruhen auf Beschreibung und Vergleich. Darin liegt bereits ein erstes Problem: Morphologie hängt in großem Maße und alternativlos von Sprache und damit von Konzepten ab. Eine verbale Beschreibung selbst einfacher morphologischer Strukturen ist bereits höchst komplex und notwendigerweise konzeptbelastet. Die

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theo­retische Aufladung beschreibender Begriffe in der Biologie betrifft ontogenetische, funktionelle, ökologische oder evolutive Aspekte bzw. ein Gemisch davon. Wenn in der Zoologie beispielsweise von einem Segment gesprochen wird, dann handelt es sich per definitionem um eine 2: „Segmentierte“ Organismen: Von links nach rechts entlang der Körperlängsachse repetitive Struk- Ringel­würmer (Annelida) und Gliederfüßler (Anthropoda) tureinheit, die einen bestimmten Satz strukturel- jeweils mit Segmenten, Hakenrüssler (Kinorhyncha) mit Zoniten sowie Bandwürmer (Cestoda) mit Proglottiden. ler Kom­po­nen­ten enthält und die sich auf eine bestimmte Weise in der Onto­ge­nese von Ringelwürmern und Gliederfüßern differenziert. Dementsprechend bildet der Begriff Segment ein Mischkonzept aus strukturellen, ontogenetischen und evolutiven Aspekten ab. Die Abgrenzung zu Nicht-Segmenten erfolgt durch das Fehlen einer oder mehrerer dieser Eigenschaften. Eine andere Bildungsweise, eine andere strukturelle Zusammensetzung, das Fehlen der wiederholten Anordnung sowie das Auftreten in anderen Tiergruppen führen dann zu anderen Konzepten und folglich anderer Benennung, z. B. Proglottide bei Bandwürmern oder Zonit bei Hakenrüsslern. ◊ Abb. 2 Andere Namen verhindern damit eine Gleichsetzung, d. h. eine Homologisierung mit Segmenten. Offenbar unterliegen aber sowohl die verschiedenen strukturellen Komponenten als auch die Bildungsweise von Segmenten einer Evolution, d. h. sie wurden abgewandelt, reduziert oder gingen verloren. Das betrifft Tiergruppen, aber auch einzelne Segmente oder Segmentgruppen innerhalb segmentierter Organismen. Bezogen auf Tiergruppen gibt es vor einer phylogenetischen Analyse keine Sicherheit, ob es sich um primär fehlende oder verlorengegangene Strukturen handelt. Es kommt vor, dass die Struktur des fertigen Segments übereinstimmt, aber die Bildungsweise nicht mit der für Segmente charakteristischen; ebenso wie in manchen Fällen die Entwicklung gleich ist, der resultierende Körperabschnitt aber strukturell nicht der Segmentdefinition entspricht. Daraus entsteht das Dilemma, was nun für die Segment-Definition entscheidender ist: die Entwicklung, die Struktur oder der evolutive Kontext? Dieses Dilemma kann nur aufgelöst werden, wenn die Struktur in das Zentrum morphologischer Analysen gestellt wird.10 Selbst unter Berücksichtigung der oft notwendigen, unter10 Dies gilt ebenfalls für Untersuchungen der Ontogenese, da der Entwicklungsprozess als der Evolution unterliegende Sequenz von Strukturen konzeptualisiert werden kann. Vgl. Gerhard Scholtz: Homology and ontogeny: pattern and process in comparative developmental biology. In: Theory in Biosciences 124, 2005, S. 121–143.

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schiedlichen mikroskopischen Hilfsmittel ist Struktur der unmittelbarste empirische Aspekt der Beobachtung. Das damit postulierte Primat der Struktur bedeutet nun keineswegs, dass Form, Funktion, Rolle und Entwicklung nicht eng miteinander verzahnt sind und sich in einem evolutiven Kontext wechselseitig bedingen. Ebenso eindeutig ist, dass Untersuchungen zu diesen Themenkomplexen großen Wert besitzen. Dennoch erscheint es für eine analytische Morphologie wesentlich, diese Ebenen methodisch auseinander zu halten. Zunächst sollte nur die strukturelle Ebene in der vergleichenden Analyse morphologischer Transformationen berücksichtigt werden. Eine solche Analyse schafft den Rahmen für weitergehende Interpretationen auf der funktionellen Ebene, zur biologischen Rolle und zur Adaptation. Genealogie versus Typologie

Der von Ernst Mayr konstruierte Gegensatz zwischen statisch-nichtevolutionärem Typologischem Denken und dynamisch-evolutionärem Populationsdenken11 bedarf einer Neuformulierung, wenn die großen phylogenetisch-evolutionären Linien Berücksichtigung finden sollen. In diesem Falle bildet Genealogisches Denken den Gegensatz zum Typologischen Denken.12 Genealogisches Denken spielt eine entscheidende Rolle bei der Gruppierung und Systematisierung der Organismen auf der Basis organismischer Strukturen und für die Beschäftigung mit und der Transformation dieser organismischen Strukturen in Ontogenese und Phylogenese. Ein solches Denken betont die Einmaligkeit der Geschichte der Lebewesen und die dabei auftretende Kontingenz. Es geht dementsprechend nicht um statistische Häufigkeit, typisches Auftreten oder die Wahrscheinlichkeit von Formen und Strukturen, sondern um ihre genealogische Verknüpfung und die damit verbundenen Bedingungen. Für die klassische vorevolutionäre Morphologie ist der Bauplan (= Typus oder Archetypus) das zentrale Konzept.13 Es basiert auf der für typisch erachteten Kombination morphologischer Strukturen einer Organismengruppe. ◊ Abb. 7 Diese Strukturkombination bildet die Essenz dieser Gruppe und zugleich das Kriterium ihrer Definition, während durch den (nicht genauer gefassten) Grad von Unterschieden ein Bauplan von anderen Bauplänen separiert wird. Zugleich liegt die 11 Ernst Mayr: The Growth of Biological Thought, Cambridge, Mass., 1982. 12 Scholtz: Deconstructing Morphology (s. Anm. 3). 13 Lendeert van der Hammen: Type-concept, higher classification and evolution. In: Acta Biotheoretica 30, 1981, S. 3–48.; Toepfer (s. Anm. 3); Adolf Meyer-Abich: Die Vollendung der Morphologie Goethes durch Alexander von Humboldt, Göttingen 1970.

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Erklärung für Übereinstimmungen im Bauplan selbst begründet, dem damit ein gewisser Gesetzes­charakter zukommt. Abweichungen in einem gewissen Rahmen werden dabei als Variationen eines Themas interpretiert. Im fundamentalen Gegensatz zum Bauplankonzept geht Genealogisches Denken von der Überlegung aus, dass ein raum-zeitlich bestimmbarer gemeinsamer Vorfahre einer genealogischen Linie existiert haben muss, die sogenannte Stammart.14 Form, Struktur und Ontogenese der Stammart bilden das Grundmuster einer Abstammungsgemeinschaft. Von diesem Grundmuster haben alle evolutiven Formwandel innerhalb der genealogischen Linie ihren Ausgang genommen.15 Genealogisches Denken und Systematisierung

Genalogisches Denken heißt, eine Systematisierung von Organismen auf der Basis ihrer Genealogie durchzuführen, wie es bereits von Darwin gefordert wurde.16 Die systematischen Gruppen werden nicht wie bei einer morphologisch- (typo)logischen Systematisierung durch das Vorhandensein eines Satzes struktureller Eigenschaften über einen Typus oder Bauplan definiert, sondern allein durch die genealogische Zusammengehörigkeit. Ebenfalls im Gegensatz zum Typologischen Denken werden zwei systematische Gruppen nicht über einen undefinierten und letztlich undefinierbaren Grad von Formdifferenzen separiert, sondern nur durch die Trennung der genealogischen Linien. Das zentrale Problem für diese Art der Gruppenbildung liegt darin, dass die in der Vergangenheit liegenden Linien und Aufspaltungsereignisse nicht einer direkten Beobachtung zugänglich sind; sie müssen vielmehr rekonstruiert werden.17 Dies geschieht auf der Basis von morphologisch ähnlichen Struk14 Vgl. Michael T. Ghiselin: Der Bauplan ist ein Aberglaube. In: Ilse Jahn und Andreas Wessel: Für eine Philosophie der Biologie, München 2010, S. 37–40. Vgl. Gerhard Scholtz: Baupläne versus ground patterns, phyla versus monophyla: aspects of patterns and processes in evolutionary developmental biology. In: Gerhard Scholtz: Evolutionary Developmental Biology of Crustacea. Lisse 2004, S. 3–16. 15 Selbst ausgewiesene Evolutionsbiologen fallen von Zeit zu Zeit ins Typologische Denken zurück und sprechen von einer bestimmten Anzahl von Bauplänen und diskutieren die Frage, ob es früher mehr davon gegeben habe als heute und warum dies so gewesen sei. Vgl. Stephen J. Gould: Zufall Mensch – Das Wunder des Lebens als Spiel der Natur, München 1991; Jiankui He und Michael W. Deem: Hierarchical evolution of body plans. In: Developmental Biology 337, 2010, S. 157–161. 16 Darwin (s. Anm. 6). 17 Vgl. Carol K. Yoon: Naming Nature – The Clash between Instinct and Science, New York 2009. Eine genealogische Gruppenbildung ist offensichtlich kontraintuitiv. Unter allen den Menschen umgebenden Dingen funktioniert sie nur bei der Teilgruppe der historisch bedingten Objekte, setzt Kenntnisse voraus (zumindest die Existenz einer Geschichte) und argumentiert mit nicht unmittelbar beobachtbaren Prozessen. Eine typologische Gruppenbildung dagegen ist scheinbar voraussetzungslos; sie funktioniert immer, ob Artefakte oder Naturgegenstände Mineralien oder Tiere klassifiziert werden. Bereits Kinder operieren damit, wenn sie einige Tiere als „WauWau“

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turen, deren Übereinstimmungen einerseits als historisch bedingt (Homologien),18 andererseits als relative evolutive Neuerungen (Apomorphien)19 interpretiert werden. Durch dieses Verfahren wird eine Zeitachse, d. h. die Abstufung der Verwandtschaftsgrade, in die Analyse miteinbezogen und es können genealogisch zusammengehörige Gruppen begründet werden. Die bildliche Repräsentation der abgestuften Verwandtschaftsverhältnisse ist das Kladogramm. ◊ Abb. 1 Die Bedeutung der Morphologie ist bei diesem Vorgehen nach wie vor sehr groß, aber ihre Rolle hat sich entscheidend geändert. Die morphologischen Strukturen definieren nicht mehr die systematischen Gruppen und bilden nicht deren Essenz, sondern Morphologie dient als Mittel, die genealogischen Verhältnisse aufzuschlüsseln. Es sind auch nicht mehr notwendigerweise die großen strukturellen Übereinstimmungen der Form – denn diese können in einem bestimmten Kontext ja ursprünglich sein –, sondern teilweise unscheinbare Strukturen, welche die gemeinsam abgeleiteten Merkmale bilden. Nur dieser Logik folgend, lässt sich zeigen, dass trotz der großen strukturellen Übereinstimmungen zwischen Eidechsen, Schlangen, Schildkröten und Krokodilen Letztere näher mit einem morphologisch so andersartigen Sperling verwandt sind.20 Die herkömmliche typologisch-klassifikatorische Nebeneinanderstellung von Reptilien und Vögeln wird dabei aufgelöst. Strenggenommen gibt es damit die Gruppe Reptilia nicht mehr, da sie keine genealogische Einheit bildet. Dieses Verfahren setzt eine hoch analytisch operierende Morphologie voraus. Dies betrifft die empirische Erfassung und Behandlung der Strukturen und die theoretische Durchdringung und Konzeptualisierung der daraus gewonnenen Merkmale. Wie das Vogelbeispiel verdeutlicht, müssen die Organismen apostrophieren. Die Ursachen dafür mögen tatsächlich in der frühen Evolution des Menschen liegen. Es ist für das Überleben wichtiger, Löwen, Hyänen, Wölfe oder Bären aufgrund gemeinsamer struktureller Merkmale wie dem charakteristischen Gebiss in der Gruppe gefährlicher Raubtiere zu vereinen, als nach den genealogischen Beziehungen dieser Tiere zu fragen. Aus dem Gesagten lassen sich Gründe für den Rückfall in die Typologie folgern. 18 Das ist die Unterscheidung zwischen Analogien (Konvergenzen) und Homologien. Nur Homologien können genutzt werden, Verwandtschaft zu rekonstruieren. Vgl. Scholtz: Homology and Ontogeny (s. Anm. 10). 19 Trotz des Postulates von Darwin, Organismen auf der Basis von genealogischen Zusammenhängen zu klassifizieren, dauerte es fast ein Jahrhundert, bis Willi Hennig eine Methodik dafür entwickelte. Erst durch seine Unterscheidung von relativ ursprünglichen Merkmalen (Plesiomorphien) und relativ abgeleiteten Merkmalen (Apomorphien) kommt eine Zeitachse in die vergleichende morphologische Analyse. Willi Hennig: Grundzüge einer Theorie der Phylogenetischen Systematik, Berlin 1950. Ders.: Aufgaben und Probleme stammesgeschichtlicher Forschung, Berlin 1984. 20 Unter anderem handelt es sich um ein Fenster im Unterkiefer, die komplette Trennung der Herzkammern oder die Rückbildung der fünften Zehe. Vgl. Gerhard Mickoleit: Phylogenetische Systematik der Wirbeltiere, München 2004, S. 333–334.

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der genealogisch begründeten Einheiten nicht notwendigerweise eine einheitliche Form und Struktur aufweisen. Innerhalb einer Verwandtschaftsgruppe kann Form dramatisch abweichen. Genealogisches Denken und Formwandel

Die darwin’schen Evolutionsmechanismen Variabilität und Selektion werden in modifizierter Weise als 3: Spiralige (Neverita didyma) und sekun­där nichtspiralige (Scutus antipodes) Schnecken­schalen hauptsächliche Erklärung für den evolutiven Form- sowie Graphik von Thompson, 1917. wandel und die daraus resultierende Formenvielfalt gesehen.21 Im Gegensatz dazu gibt es für die Fragen der Formkonstanz und der Begrenzung der Formenvielfalt Erklärungsansätze, die über Darwin hinausgehen. Für das Auftreten von über Jahrmillionen konservativ gebliebenen Strukturmustern wird die Notwendigkeit stabilisierender Faktoren diskutiert, die zusätzlich zu Selektion und Anpassung als eigenständige evolutive Mechanismen wirken sollen. Diese 4: Knochenmuster der „Hände“ von Tetrapoden. werden allgemein als Constraints bezeichnet, als evo- Von links nach rechts: Mensch, Vogel, Fischsaurier. lutive Zwänge oder Einschränkungen der evolutiven Möglichkeiten.22 Constraints werden in mathematisch-physiko-chemischen Naturgesetzen, in Konstruktionsprinzipen und Materialeigenschaften, in der Stammesgeschichte, als Bedingungen eines Bauplans oder in der ontogenetischen Entwicklung gesehen. Beispiele sind entwicklungsbiologische Konzepte wie phylotypic stage und genregulatorische Netzwerke, 23 Thompsons mathematisch-physikalischen Ansätze,24 ◊ Abb. 3 Seilachers Konstruktions-Morphologie 25 oder die Sicht der Strukturalisten.26 21 Eine Ausnahme bilden Ansätze der evolutionären Entwicklungsbiologie, die eine größere Rolle der Ontogenese für den evolutiven Formwandel postulieren. Vgl. Brian K. Hall: Evolutionary Developmental Biology, 2nd edition, Dordrecht 1999. 22 Timothy Shanahan: Why don’t zebras have machine guns? Adaptation, selection, and constraints in evolutionary theory. In: Studies in History and Philosophy of Biological and Biomedical Sciences 39, 2008, S. 135–146. 23 He, Deem (s. Anm. 15). 24 D’Arcy W. Thompson: On Growth and Form, Cambridge 1917. Vgl. Philip Ball: Shapes, Oxford 2009. 25 Adolf Seilacher: Arbeitskonzepte zur Konstruktions-Morphologie. In: Lethaia 3, 1970, S. 393–396. 26 „The central task of structuralism is to develop a theory of biological organization and to predict from that theory a finite set of possible forms that organismal systems can produce“ David B. Wake und Allan Larson: Multidimensional analysis of an evolving lineage. In: Science 238, 1987, S. 42–48.

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5: Extrem abgewandelte Formen innerhalb genealogischer Linien. Auf der Abbildung sind tatsächlich vier Krebstiere zu sehen. Rechts eine Krabbe und (von links nach rechts) drei Vertreter der Rankenfußkrebse (Cirripedia): eine Entenmuschel, eine Seepocke und ein Wurzelmundkrebs, dessen äußerer Teil als blasiger Anhang am Hinterleib der Krabbe sitzt.

Mit der Annahme universal geltender formstabilisierender und formeinschränkender Faktoren knüpfen diese Konzepte in gewisser Weise an ältere Vorstellungen von Formgesetzen an, wie sie im Kontext mit Ideen von Typus und Bauplan bereits vor Darwin existierten. Genealogisches Denken führt daher zu einer kritischen Bewertung dieser Denkansätze. Es ist offensichtlich, dass zahlreiche organismische Strukturen über Hunderte von Jahrmillionen erhalten geblieben sind. Die Formkonstanz wird in vielen Fällen aber möglicherweise überschätzt. Anhand des klassischen Beispiels für konservierte Muster, der Vorderextremität der tetrapoden Wirbeltiere, 27 wird dies deutlich. Ein Vergleich des Knochenmusters der „Hand“ eines Ichthyosauriers, eines Vogels und eines Menschen offenbart eigentlich wenig strukturelle Übereinstimmungen. ◊ Abb. 4 Offensichtlich werden Vorkenntnisse und hypothetische evolutive Verbindungen in die vergleichende Formanalyse mit einbezogen, d. h., es steckt ein hoher Grad von Abstraktion in Aussagen über Musterstabilität. Die Hypothese formstabilisierender Constraints wird jedoch vor allem durch jeden einzelnen Fall radikalen Form- und Strukturwandels innerhalb genealogischer Linien in Frage gestellt und letztlich falsifiziert. In der Tat gibt es zahlreiche Beispiele für dieses Phänomen: u.a. die oben erwähnten Vögel, die Bandwürmer 27 Vgl. J. Richard Hinchliffe: Evolutionary developmental biology of the tetrapod limb. Development Suppl. 1994, S. 163–168.

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innerhalb der Plattwürmer, die Wurzelmundkrebse innerhalb der Gliederfüßer, Manteltiere innerhalb der Chordatiere, Steinkrabben innerhalb der Einsiedlerkrebse und Tintenfische innerhalb der Weichtiere. ◊ Abb. 5 Damit stellt sich die prinzipielle Frage, ob überhaupt eine Notwendigkeit für die Annahme 6: Formdiversität von Strukturen auf der Basis von Kalzium­verbindungen. formstabilisierender Mechanismen über genealogische Bedingtheit und historische Kontingenz hinaus existiert. Ein „Nicht“ für Formänderung in einer Organismengruppe kann schlicht ein „Noch nicht“ bedeuten. Unbestreitbar gelten physiko-chemische Naturgesetze und Materialbedingungen. Manche Formen, z. B. solche jenseits bestimmter Größenordnungen, sind damit unmöglich. Doch bevor Naturgesetze prägend auf die Formen wirken, müssen die spezifisch entwicklungsbiologischen und strukturellen Voraussetzungen im Verlauf der Evolution entstanden sein: Erst muss ein Flügelvorläufer existieren, ehe Auftrieb für die Evolution der entsprechenden Struktur ein Thema werden kann. Um die von Thompson als mathematische Notwendigkeit postulierten spiralisierten Hörner von Widdern und Schneckenschalen28 zu erzeugen, muss eine Wachstumsregion aus sich unterschiedlich schnell teilenden Zellen evolviert werden, die ein Horn oder eine Schale bildet. Damit kann die resultierende Form der Hörner und der Schneckenschalen schließlich doch als Anpassung interpretiert werden und nicht nur als mechanische Notwendigkeit. ◊ Abb. 3 Die Form ist dementsprechend prinzipiell offen für evolutive Abwandlungen. Auch die zahlreichen Formen, die das so zentrale Element Kalzium in verschiedene Verbindungen im Tierreich angenommen hat, ◊ Abb. 6 sprechen gegen Versuche, Materialeigenschaften als prägenden limitierenden Faktor für Formvarianz in der Natur zu sehen.29

28 Thompson (s. Anm. 24). 29 Interessanterweise hängt diese Sicht auch von der Definition biologischer Form ab. Manche Autoren schließen Material in die Definition mit ein. Aus dieser Perspektive schränkt natürlich ein bestimmtes Material automatisch die Formenvielfalt ein. Vgl. die Beiträge von Toepfer sowie Richter und Wirkner in diesem Band.

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7: „Bauplan“ der Insekten. Oben: Schematische Dar­ stellung eines „typischen“ Insekts mit einer Kombination von Strukturen, wie es sie wahrscheinlich nie gegeben hat. Unten: Halbschematische Repräsentation eines Vertreters der primär flügellosen Protura (Beintaster).

Genealogisches Denken zeigt, dass der evolutive Formwandel einen offenen Prozess darstellt. Dass dabei keine anarchische Freiheit herrscht, wird aus dem Gesagten deutlich. Dennoch, selbst ein zeitreisender Anhänger des Constraints-Gedankens wäre mit der Aufgabe überfordert, auf Basis der Morphologie und Ontogenese der Bilateria-Stammart vor über 600 Millionen Jahren die Formendiversität der davon abstammenden heutigen Arten vorherzusagen. ◊ Abb. 1 Es wäre unmöglich für ihn, an einen Landgang zu denken, geschweige denn an die Eroberung der Lüfte oder an ein Wesen, das sich über derartige Dinge Gedanken macht.

Evolutive Unabhängigkeit bedeutet nicht funktio­nelle oder ontogenetische Unabhängigkeit

Ein Organismus bildet ein integriertes strukturell-funktionelles Ganzes. Teile können nur bedingt verändert oder entfernt werden, ohne die Gesamtheit zu stören oder gar funktionsuntüchtig zu machen. Das heißt aber nicht, dass die einzelnen Teile auf alle Zeiten unverbrüchlich miteinander verknüpft sind. Werden einem sechsbeinigen Insekt die beiden Antennen und die vorderen Laufbeine entfernt, bekommt es Schwierigkeiten, sich zu bewegen und taktil und olfaktorisch zu orientieren. Sehr wahrscheinlich wird damit auch die individuelle Fitness verringert. Daraus zu schließen, dass derartige Strukturen auch in einem historischen Kontext unverzichtbar seien, ist aber nicht möglich, denn genau dies ist in der Evolution der Insekten passiert. Die Beintaster (Protura) haben im Laufe der Evolution ihre Antennen am Kopf verloren. Die sensorische Funktion der Antennen wird nun von dem ersten Laufbeinpaar übernommen. Nur die restlichen vier Beine dienen noch der Lokomotion. ◊ Abb. 7 Eine strukturell-funktionelle Integration bedingt nicht zwingend historischen Determinismus. Wäre dies der Fall, gäbe es die beobachtete Vielfalt der Formen und Strukturen der Lebewesen nicht. Im Laufe der Evolution können offensichtlich einzelne strukturelle Einheiten verloren gehen, dazukommen oder dramatisch verändert werden, ohne dass andere Elemente des Gesamtgefüges davon betroffen werden.30 30 Dies gilt auch für die Ontogenese. Vgl. Scholtz: Homology and Ontogeny (s. Anm. 10).

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Es muss folglich deutlich zwischen der strukturell-funktionellen Interdependenz der Teile eines Organismus und der Möglichkeit der evolutiven Veränderung dieser Teile unterschieden werden. Eine funktionelle oder ontogenetische Abhängigkeit der Teile von der Gesamtorganisation kann dementsprechend nicht als Argument gegen die Möglichkeit einer unabhängigen Abwandlung von Teilen in der Evolution aufgeführt werden.31 Das mag trivial erscheinen, aber viele Ansätze über Einschränkungen evolutiver Möglichkeiten basieren zumindest partiell auf der Extrapolation des Gedankens des nicht-teilbaren integrierten Ganzen, das naturgemäß im Konflikt zu der Möglichkeit evolutiver Veränderungen steht. Das Vorkommen von Elementen des integrierten Ganzen erstreckt sich teilweise über große Organismengruppen und damit wird der Eindruck noch verstärkt, dass gerade diese funktionell-strukturelle Konstellation notwendig sei.32 Musteranalyse

Die Unterscheidung zwischen der strukturell-funktionellen Interdependenz der Teile eines Organismus und der Möglichkeit der evolutiven Veränderung dieser Teile resultiert notwendigerweise in einem analytisch-zergliedernden Blick auf biologische Formen.33 Mittels Musteranalyse werden die zu vergleichenden Strukturen mehrerer Organismen in Unterstrukturen zerlegt. Die Strukturen bilden folglich den Rahmen, die Unterstrukturen dagegen die Elemente der Analyse. Dabei werden die einzelnen Unterstrukturen im Hinblick auf Änderung und Konstanz verglichen und mittels Ausschlussverfahren auf ihre evolutive Unabhängigkeit hin getestet. Mit dieser Methodik werden für die Strukturen einerseits Homologiehypothesen aufgestellt, wenn trotz der potenziellen Abwandlung der Unterstrukturen die Gesamtstruktur bei verschiedenen Organismen ähnlich ist. Andererseits erlaubt die Musteranalyse die Möglichkeit, die schrittweisen Transformationen der Gesamtstruktur anhand der kleinen Änderungen der Unterstrukturen zu verfolgen. Der genaue morphologische Vergleich zeigt dann schließlich auch, wann die evolutiven Änderungen eine Schwelle erreichen, auf der Strukturen einen Transformationsgrad erreicht haben, bei welchem sie als etwas anderes bezeichnet und damit als evolutiv neu interpretiert werden.

31 Shanahan (s. Anm. 22). 32 Vgl. Thompsons kartesische Transformationen (siehe die Beiträge von Höfler sowie Richter und Wirkner im vorliegenden Band). 33 Shanahan (s. Anm. 22).

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Auf einer weiteren Ebene erlaubt die Musteranalyse eine Erklärung für Strukturen. Durch Freilegen der verschiedenen historischen Schichten, aus denen die heutigen organismischen Strukturen zusammengesetzt werden, können die jeweiligen, schrittweise entstandenen strukturellen Voraussetzungen für die darauffolgenden Änderungen aufgeklärt werden. An der menschlichen Hand lässt sich dies exemplarisch verdeutlichen. So eindeutig die Hand des Menschen mit ihrem vollopponierbaren Daumen in der Linie der Menschenevolution und im Zusammenhang mit dem aufrechten Gang entstanden ist, so offensichtlich ist die gesamte Handstruktur als Greifhand auf die arboreale Lebensweise unserer affenartigen Vorfahren zurückzuführen. Die Fünffingrigkeit aber sowie der Aufbau aus Elementen der Handwurzel, der Mittelhand und den Fingergliedern weisen sogar auf die frühen vierfüßigen Landwirbeltiere der Devonzeit zurück. Dies bedeutet, dass die Antwort auf die Frage, warum der Mensch fünf Finger hat, nur genealogisch formuliert werden kann – sie lautet, weil er auf einen Vorfahren zurückgeht, der fünf Finger hatte. Die Fünfzahl der Finger des Menschen ist somit weder funktionell noch als aktuelle Anpassung erklärbar. Quo vadis, Morphologie?

Generell scheint es notwendig, die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit organismischen Formen analytischer zu führen. Morphologie sollte vor dem Hintergrund Genealogischen Denkens und mit dem Primat der Strukturanalyse unter Vermeidung von Mischkonzepten betrieben werden. Als erster Schritt muss die Art der Beschreibung von Strukturen überdacht und konzeptionell entrümpelt werden. Dann sind die Merkmale einer vergleichenden Musteranalyse zu unterziehen. Die Rekonstruktion der evolutiven Transformationen bildet die Grundlage für das Verständnis der Genese und Genealogie von Form unter ontogenetischen, funktionellen, ökologischen und evolutiven Aspekten. Zugleich muss ein neues Bewusstsein für die Rolle des beschreibenden und analysierenden Subjekts und sein Verhältnis zum Objekt geschaffen werden. Wieso werden gewisse Strukturen für wesentlicher gehalten als andere, wie werden überhaupt Muster verglichen, wo liegt die Schwelle für eine Unterscheidung, wie werden Kategorien gebildet? Die Frage nach der Natur der organismischen Form bleibt bestehen.

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Morphologische Erkundungen. Zeichnen am Mikroskop1 Die Form der Organismen in ihrer Partikularität ist für den Morphologen nicht schlichtweg gegeben, sie muss mühsam geborgen, gesichert, ja mehr noch: artikuliert werden, bevor sich Wissen über ihre Struktur und Funktion ableiten lässt. Das, was herkömmlicherweise wissenschaftliche Bildproduktion oder Visualisierung genannt wird, arbeitet im Falle des Zeichnens am Mikroskop wesentlich an der Formfindung mit; d. h., es unterstützt die Exploration der morphologischen Eigenschaften eines Lebewesens, indem es eine Auswahl und Konkretisierung der interessierenden Phänomene ermöglicht, die über die alltägliche Wahrnehmung weit hinausgeht. Die Verfahren der Bildgebung befördern sowohl eine Rekonfiguration der Wahrnehmung, als auch eine kontinuierliche Neubestimmung der Objekte des Wissens. Und sie treiben eine Wechselwirkung zwischen beiden Prozessen voran, die die eigentliche Handlungsmacht des grafischen Entwurfs in der Forschung ausmachen dürfte. Am Beispiel des Zeichnens am Mikroskop soll im Folgenden gezeigt werden, dass die grafische Aufzeichnung einer bestimmten Form in der Biologie stets an eine bestimmte Form der Anschauung gebunden ist und das diese Anschauung wiederum als Realisierung eines medialen Gefüge verstanden werden muss.1 Im Unterschied zur künstlerischen Zeichnung werden an die naturkundliche Illustration in der Regel sehr hohe Anforderungen an Lesbarkeit, Vergleichbarkeit und Reproduzierbarkeit gestellt.2 In der Geschichte der wissenschaftlichen Zeichnung der letzten 200 Jahre ist deshalb eine Konventionalisierung der grafischen Mittel zu beobachten, die zumindest in Europa kaum durch äußere institutionelle Kontrolle von Hochschulen und Fachverbänden gewährleistet wird. Mit der Ausnahme eines Studiengangs für Scientific Illustration an der Zürcher Hochschule der Künste wird im gesamten deutschsprachigen Raum keine für wissenschaftliche Zeichner spezialisierte Ausbildung angeboten. Studenten der Biologie werden in den propädeutischen Kursen zwar durchaus zum Zeichnen ermuntert (wenn nicht genötigt), aber einen formalen Unterricht erhalten sie in der Regel nicht. Sowohl die Biologen als auch die professionellen Illustratoren im deutschsprachigen Raum haben also in den seltensten Fällen eine gründliche Ausbildung im naturkundlichen Zeichnen erhalten. Beim Zeichnen am Mikroskop handelt es sich um den paradoxen Fall einer autodidaktischen, aber gleichwohl hoch spezialisierten Zeichen­praxis. Durch die sehr ähnlichen 1 Gedankt sei Karl Wittmann (Universität Wien), Gerhard Scholtz (Humboldt-Universität zu Berlin) und Johannes Frisch (Museum für Naturkunde, Berlin) für ihre Zeit, ihre Anmerkungen und ihre Kritik. 2 Vgl. dazu Barbara Wittmann: Das Porträt der Spezies. Zeichnen im Naturkundemuseum. In: Christoph Hoffmann (Hg.): Daten sichern. Schreiben und Zeichnen als Verfahren der Aufzeichnung (Wissen im Entwurf, Bd. 1), Zürich/Berlin 2008, S. 47–72, hier S. 54.

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Bedingungen und Zwänge des Zeichnens von Präparaten am Mikroskop geht eine gewisse stilistische Homogenisierung einher, obwohl die Verfahren der Herstellung dieser Zeichnungen hoch individualisiert sind, da sie ja mehr oder weniger selbstständig angeeignet oder ausgebildet wurden. Um ein Beispiel zu geben: Der Wiener Meeresbiologe Karl Wittmann und sein neapolitanischer Kollege Antonio Ariani kooperieren seit mehr als zwei Jahrzehnten bei der Bestimmung sowie der morphologischen und ökologischen Erforschung von Krebstieren (Crustacea), insbesondere der Ordnung der 0,3 bis 2,5 Zentime1: Antonio Ariani & Karl Wittmann: ter kleinen, zumeist durchsichtigen Schwebegarnelen (Mysida). Publikation von Ca­me­­ra lucidaZeichnungen nach dem weib­li­chen Die gemeinsamen Publikationen werden durch Zeichnungen Paratypus einer Schwebe­gar­nele beider Zoologen illustriert ◊ Abb. 1 und 3 und obwohl beide ForDiamysis camassai, in: Crustaceana 74 (11), 2002. scher 1.300 Eisenbahnkilometer voneinander entfernt an ihren Mikroskopen sitzen, obwohl sie beide in unterschiedlichen Ländern studiert haben und beide keine formale Zeichenausbildung erhielten, fällt es selbst Ariani und Wittmann schwer, die Grafiken in ihrer publizierten Form auseinanderzuhalten. Beide arbeiten mit einer in das Mikroskop integrierten Camera lucida, einem Apparat, der schon 1807 patentiert wurde, um Laien das Zeichnen zu erleichtern. Die so gewonnene Rohzeichnung verarbeiteten die beiden Biologen dann (zumindest bis vor kurzem) in sehr verschiedener Weise: Ariani legte bis 2001 noch ganz altmodisch Transparentpapier über die ursprüngliche Bleistiftzeichnung und pauste die Linien mit Tinte durch. ◊ Abb. 2 Wittmann scannt die Rohzeichnung ◊ Abb. 4 und zeichnet mit dem Pinsel-Tool eines gängigen Bildbearbeitungsprogramms jene Partien nach, die im Druck erscheinen sollen; manchmal 2: Antonio Ariani: Camera lucidapaust er die Linien mithilfe desselben Programms auch direkt Zeich­­nungen nach Diamysis camassai, von einer digitalen Mikrofotografie am Bildschirm ab. Trotz De­tails der Endopoden des Thorax, dieser sehr unterschiedlichen Verfahrensweisen lassen sich die 2001. Zeichnungen von Ariani und Wittmann am Ende stilistisch kaum unterscheiden. ◊ Abb. 1 und 3 Diese formale Homogenität ist auf einen immanenten Prozess der Standardisierung durch ähnliche Rahmenbedingungen zurückzuführen, durch die apparative Einbettung des Zeichnens und einen Mechanismus der intermedialen Antizipation.

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Gefüge des Zeichnens

In der kennerschaftlich geprägten Handzeichnungsforschung finden sich schon seit langem Ansätze zu einer Analyse, die die materiellen, medialen und körperlichen Umstände des Zeichenaktes mitbedenkt. Im letzten Jahrzehnt wurde die Infrastruktur des Zeichnens zunehmend systematisch auf seine Bedeutung befragt.3 Die Bedingungen bleiben dem Akt des Zeichnens ja keineswegs äußerlich, da sich der zeichnende Körper fortwährend ins Verhältnis zu Papier, Stiften, Apparaten, ja Möbeln und Räumen setzen muss. Der Körper des Zeichners geht eine temporäre Verbindung mit den materiellen Umständen ein, er wird Teil eines Gefüges. Diese These sei kurz am Beispiel des Zeichnens am Mikroskop ausgeführt, wie es seit der Entwicklung dieses Instruments in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts und – beispielsweise im Rahmen der morphologischen Erforschung von kleinen Lebewesen – bis heute zum Einsatz kommt. Generell ist beim Zeichnen am Mikroskop eine dramatische Einschränkung der Möglichkeiten des Mediums Zeichnung zu beobachten – allerdings bei gleichzeitiger Annäherung des Forschungsobjekts an die Logik des Zeichnens. Gezeichnet wurde und wird in der Biologie mit mittelweichem Bleistift auf möglichst glattem, weißen, industriell erzeugten Papier; der Wahl der recht simplen Materialien entspricht die Beschränkung der grafischen Mittel auf das Zeichnen von Umrissen und Punkten, wobei die meisten der herkömmlichen Kunstgriffe wie beispielsweise Schattierung und Modellierung durch dynamische Schraffuren vermieden werden.

3: Druckvorlage unter Ver­ wen­dung von Camera lucidaZeichnungen nach Hetero­my­ sis wirtzi von Karl Witt­mann für Crustaceana 81 (3), 2007.

4: Karl Wittmann: Camera lucida-Zeichnungen nach Hete­ro­mysis wirtzi, Details des dritten Thora­ko­poden von männlichen und weiblichen Paratypen, 2007.

3 Carolin Meister: Picassos Carnets. Das Skizzenbuch als graphisches Dispositiv. In: Werner Busch, Oliver Jehle, Carolin Meister (Hg.): Randgänge der Zeichnung, München 2007, S. 257–282; Wolfram Pichler, Ralph Ubl: Vor dem ersten Strich: Dispositive der Zeichnung in der modernen und vormodernen Kunst. In: Werner Busch, Oliver Jehle, Carolin Meister (Hg.): Randgänge der Zeichnung, München 2007, S. 231–255; Wittmann (s. Anm. 2); Ralph Ubl: „Misch- und Trennkunst“. Dieter Roth als Zeichner. In: Friedrich Teja Bach, Wolfram Pichler (Hg.): Öffnungen. Zur Theorie und Geschichte der Zeichnung, München 2009, S. 215–237. Zu den literaturwissenschaftlichen Grundlagen der Erforschung von Zeichenszenen: Rüdiger Campe: Die Schreibszene. Schreiben. In: Hans Ulrich Gumbrecht, K. Ludwig Pfeiffer (Hg.): Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrüche. Situationen offener Epistemologie, Frankfurt a.M. 1991, S. 759–772; Vilém Flusser: Die Geste des Schreibens. In: Ders.: Gesten. Versuch einer Phänomenologie, Düsseldorf 1991, S. 39–49; Martin Stingelin: „Schrei­ ben.“ Einleitung. In: Martin Stingelin (Hg.): „Mir ekelt vor diesem tintenklecksenden Säkulum“. Schreibszenen im Zeitalter der Manuskripte, München 2004, S. 7–21.

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Die absichtsvolle Einschränkung der grafischen Konventionen wird maßgeblich durch den Umstand befördert, dass die zeichnerische Datenaufnahme am Mikroskop bis heute – man erinnere sich an die beiden Meeresbiologen Ariani und Wittmann – zumeist durch eine Camera lucida unterstützt wird. Die Camera lucida kam schon bald nach ihrer Erfindung durch 5: Der Entomologe Johannes Frisch zeichnend am William Hyde Wollaston (1807) zur mikroskoMikroskop mit einer integrierten Camera lucida, 2008. pischen Datensicherung zum Einsatz,4 heute können die Biologen auf Mikroskope mit fest integrierten Zeichenspiegeln zurückgreifen. ◊ Abb. 5 Das optische Instrument besteht in der einfachsten Wollaston’schen Bauweise aus einem viereckigen Prisma mit deltoidischem Querschnitt, das mithilfe einer Halterung auf einer Zeichenunterlage befestigt oder – wie in unserem Fall – in ein Mikroskop eingebaut werden kann. Die verschiedenen Bauweisen dieser integrierten Zeichenspiegel unterscheiden sich sowohl aktuell als auch historisch beträchtlich.5 Typischerweise wird zwischen Okular und Objektiv ein halb versilbertes Prisma angebracht, sodass der Betrachter einerseits ganz herkömmlich das Präparat durch die optische Achse des Mikroskops wahrnimmt; andererseits aber projiziert ein seitlich angebrachter Vollspiegel (oder ein verspiegeltes Prisma) die Ebene von Zeichenpapier und Stift über das halbverspiegelte Prisma in den Strahlengang des Mikroskops und damit ins Auge des Zeichners. In der Wahrnehmung des Zeichners wird so das zu zeichnende Objekt mit der entstehenden Zeichnung zu einem virtuellen Bild überblendet. Vor der Erfindung dieses Instruments musste man entweder mit einem Auge das Präparat und mit dem anderen die Zeichnung fokussieren oder aber den Blick ­zwischen Spezimen 4 Zur Geschichte der Camera lucida als Instrument der Mikroskopie vgl. John H. Hammond, Jill Austin: The Camera Lucida in Art and Science, Bristol 1987; Erna Fiorentini: Subjective Objective: The Camera Lucida and Protomodern Observers. In: Bildwelten des Wissens. Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik 2,2, 2004, S. 58–66; Erna Fiorentini: Optical Instruments and Modes of Vision in Early Nineteenth Century. In: Werner Busch (Hg.): Verfeinertes Sehen. Optik und Farbe im 18. und frühen 19. Jahrhundert, München 2008, S. 201–221; Stefan Ditzen: Zeichnen mit der Camera lucida. Von instrumenteller Wahrhaftigkeit und riesenhaften Bleistiften. In: Horst Bredekamp, Birgit Schneider, Vera Dünkel (Hg.): Das Technische Bild. Kompendium zu einer Stilgeschichte wissenschaftlicher Bilder, Berlin 2008, S. 168–177. 5 Vgl. Ditzen (s. Anm. 4) sowie das umfangreiche Material zum Thema in der digitalen Bibliothek und Bilddatenbank des Projekts „Drawing with Optical Instruments“ am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte: http://vision.mpiwg-berlin.mpg.de/home (Stand: 08/2012).

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und dem Blatt Papier pendeln lassen.6 In beiden Fällen erforderte das Zeichnen am Mikroskop großes mnemotechnisches und/oder sensomotorisches Geschick. Erna Fiorentini hat darauf hingewiesen, dass die Arbeit mit dem Zeichenprisma die technische Anforderung zurücktreten lässt und es dem Zeichner erlaubt, sich ganz auf die Analyse und das Urteil des Gesehenen zu konzentrieren.7 Die so modifizierte Zeichenpraxis unterscheidet sich generell durch zwei besondere Eigenschaften von der Freihandzeichnung: Erstens bewirken Mikroskop und Camera lucida eine relative Stillstellung des Auges sowie des Körpers des Zeichners, da im Unterschied zum herkömmlichen Zeichnen sich der Blick nicht mehr zwischen Objekt und Bild hin‑ und herbewegen muss. Zudem droht bei jeder unbedachten Bewegung das Präparat unter dem Mikroskop oder das Papier (das deshalb auf dem Arbeitstisch fixiert wird) zu verrutschen. Die optischen Instrumente haben also eine Einschränkung des dynamischen Handlungsspielraums des Zeichnens zur Folge. Zweitens geht mit dem Zeichenspiegel eine Blendung besonderer Art einher, denn die Zeichnung entsteht nicht mehr im voraussetzungslosen Weiß des Blatt Papiers, sondern von Anfang an im Bild, d. h., sie steht in ständiger Konkurrenz mit dem optischen Bild des Präparats und der Fülle seiner Information. Indem die Camera lucida das wahrgenommene Präparat und die entstehende Zeichnung zusammenfallen lässt, suspendiert sie – bis zu einem gewissen Grad – eine zentrale Frage der Repräsentation: jene nach der Angemessenheit bestimmter grafischer Mittel für die Darstellung bestimmter Eigenschaften des Gesehenen. Die Datensicherung mithilfe eines Zeichenprismas funktioniert ja nur, wenn das Gezeichnete direkt aus dem optischen Bild heraus entwickelt wird; es handelt sich strenggenommen nicht um eine Zeichnung nach einem bestimmten Objekt, sondern um eine Zeichnung im wahrgenommenen Bild dieses Objekts. Das Zeichnen mithilfe einer Camera lucida weist eine strukturelle Ähnlichkeit mit dem Durchpausen auf: Es ermöglicht die beständige Kontrolle der gezeichneten Linien, da diese – wenn sie richtig gesetzt wurden – stets mit der Kontur des nachgezeichneten Objektes zusammenfallen müssen. Allerdings lassen sich nur lineare Strukturen und Objektgrenzen direkt grafisch übersetzen (amorphe Strukturen können schwerlich nachgezeichnet werden) und diese Stärkung des Umrisses hat eine charakteristische Verflachung der Zeichnung zur Folge. Diese Verflachung ist frei6 Ditzen (s. Anm. 4), S. 169. 7 Erna Fiorentini: Instrument des Urteils. Zeichnen mit der Camera lucida als Komposit. In: Inge Hinterwaldner, Markus Buschhaus (Hg.): The Picture’s Image. Wissenschaftliche Visualisierung als Komposit, München 2006, S. 44–58.

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lich auch der geringen Schärfen­tiefe des mikroskopischen Bildes geschuldet. Um einzelne Partien oder ganze Präparate in ihrer dreidimensionalen Erscheinung zu visualisieren, müssen einerseits die einzelnen Elemente nacheinander fokussiert und grafisch festgehalten werden; andererseits müssen bestimmte grafische Konventionen eingeführt werden, um die räumliche Anordnung von Körperteilen 6: Johannes Frisch: Camera lucida-Zeichnungen des Begattungs­ oder sogar durchsichtige Membranen organs (Aedeagus) eines männ­lichen Scopaeus kurdistanicoides (Holotypus) in lateraler, ventraler und dorsaler Ansicht, 2005. darstellen zu können. Zumeist wird in der zeitgenössischen Biologie mit (durchbrochenen) Linien oder Punkten gearbeitet, um verschiedene Raumebenen anzudeuten. Dieser Kunstgriff kann relativ einförmig eingesetzt werden wie in den Zeichnungen von Ariani und Wittmann. ◊ Abb. 2 und 4 Das Prinzip kann aber auch – wie in den Zeichnungen des Berliner Käferforschers Johannes Frisch – ins Virtuose weiterentwickelt werden, wenn nun die Streuung, Dichte und Größe der Punkte dazu dienen, um sowohl die Modellierung gewölbter Partien als auch die unzähligen Schichten sich umhüllender Gewebe kenntlich zu machen. ◊ Abb. 6 Bildlichkeit des Präparats

Während also die Zeichnung am Mikroskop eine Einschränkung auf ihre einfachsten formalen Mittel erfährt, verwandelt sich das untersuchte Objekt durch die Präparation in eine Art Proto-Zeichnung. Hans-Jörg Rheinberger hat Präparate ganz allgemein als „‚Bilder‘ ihrer selbst“ bezeichnet und damit auf das Problem hingewiesen, dass es sich bei diesen wissenschaftlichen Objekten um keine Repräsentationen im klassischen Sinn handelt, da die Organismen, Organe oder Proben nicht durch ein Abbildungsverfahren in ein Medium „übersetzt“ werden, sondern metonymisch auf sich selbst verweisen. Allerdings können Präparate auch nicht einfach als Zurichtung von Tieren oder Pflanzen angesprochen werden, da die Objekte mit ihrer Herstellung „gewissermaßen selbst zur Darstellung gebracht“ werden.8 Mikroskopische Präparate binden das jeweilige Spezimen nicht nur in eine Oberfläche ein, sie 8 Hans-Jörg Rheinberger: Präparate – „Bilder“ ihrer selbst. Eine bildtheoretische Glosse. In: Bildwelten des Wissens. Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik 1,2, 2003, S. 10.

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versetzen „die in ihnen fixierten Objekte virtuell in die Zweidimensionalität“ 9 und fixieren das Objekt auch in einer Ansicht. Seine Herstellung kann deshalb als ein Bildhaft-werden des Spezimen begriffen werden. In Forschungsfeldern wie der Histologie oder der Neurobiologie verwandeln die Wissenschaftler das drei­dimen­sio­ na­le Objekt durch einen schlichten Schnitt in eine dünne Schicht, die sich zwischen Objektträger und Deckglas einbetten und konservieren lässt. Durch Methoden der Zurichtung und der Optimierung des mikroskopischen Bildes wird sodann der Kontrast der untersuchten Textur gesteigert und dort ein stabiles Figur-GrundVerhältnis hergestellt, wo sich ohne diese Eingriffe das interessierende Phänomen oft nur mit Schwierigkeiten oder gar nicht von seinem Hintergrund unterscheiden lassen würde. Die wichtigsten Agenten dieser Kontraststeigerung sind verschiedene Bleich- und Färbemethoden sowie die Abbildungsverfahren der Lichtmikroskopie. Taxonomen müssen auf invasive Techniken weitgehend verzichten, da die Funktion der Typuszeichnung respektive der taxonomischen Beschreibung in der Deskription der morphologischen – also äußerlichen – Erscheinung eines Organismus besteht und insbesondere Holotypen qua definitionem substanziell nicht verändert werden dürfen.10 Allerdings bedienen sich auch die oben besprochenen Biologen subtilen Maßnahmen zur Verflachung; nicht nur werden die Spezimen vorsichtig gepresst, sondern besonders gewölbte oder vorkragende Körperteile – wie beispielsweise der Rückenschild (Carapax) von Krebsen – werden mit einer Nadel wie ein Mantel vom Körper gelöst, in das Einbettungsmittel gelegt, flach gedrückt und mit dem Deckglas fixiert. Auch bezüglich der Färbung von Präparaten sind den Taxonomen enge Grenzen gesetzt, aber auch hier wird gebleicht, um besonders feine Strukturen sichtbar zu machen, und lichtmikroskopische Abbildungstechniken wie das Phasenkontrast-Verfahren kommen zum Einsatz; sie lassen die Konturen deutlicher hervortreten und erlauben die Sichtbarmachung der unterschiedlichen Dichte von Strukturen. Die Zurichtung der Präparate arbeitet also durch die Herstellung einer Ansicht, durch die Einbindung des Objekts in eine Fläche sowie durch optische Abbildungsverfahren ihrer Repräsentation in einer Zeichnung zu. Die interessierenden Texturen werden dazu gebracht, sich selbst deutlicher abzuzeichnen, sich also durch die Verstärkung des Figur-Grund-Verhältnisses in eine grafische Struktur zu 9 Rheinberger (s. Anm. 8), S. 14. Selbst Totalpräparationen, wie sie in der Taxonomie vorrangig angefertigt werden, erreichen aufgrund der optischen Bedingungen des Mikroskops nur im Ausnahmefall eine Dicke von mehr als einem Millimeter. 10 Zu den praktischen Konventionen und Regeln der Taxonomie vgl. Judith E. Winston: Describing Species: Practical Taxonomic Procedure for Biologists, New York 1999.

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verwandeln.11 Schon Michael Lynch hat in seiner grundlegenden Analyse der Logik wissenschaftlicher Bilder darauf hingewiesen, dass das Gelingen der Visualisierung wesentlich von der Konstitution eines „graphic space“ abhängig ist – einem Schwellenraum, der die Grenzen zwischen Objekt und Repräsentation überspielt.12 Es lassen sich – aus der Perspektive der Zeichnung – medienexterne und medieninterne Kunstgriffe unterscheiden, die zwischen der recht amorphen und in ihrer Komplexität mitunter verwirrenden Struktur eines Spezimen und der starken Definitionsmacht der grafischen Linie vermitteln.13 Gemeinsam lassen sie einen Schwellenraum entstehen, der einerseits durch die Antizipation der Zeichnung durch das Präparat, andererseits durch die absichtsvolle Regression des antizipierten Mediums charakterisiert wird. Die Einbindung des Objekts in eine Fläche, die Kontraststeigerung und grafische Artikulation des Präparats finden ihr Äquivalent in der Beschränkung der zeichnerischen Mittel auf Linien und Punkte. Als universale Eigenschaften des grafischen Raums, der aus diesem Wechselspiel von Vorwegnahme und Reduzierung der Mittel hervorgeht, können die Herstellung und Stabilisierung einer Ansicht, die Flachheit der zweidimensionalen Träger (des mikroskopischen Präparats, des Blatt Papiers) und die Herstellung respektive Verstärkung eines Figur-Grund-Verhältnisses benannt werden. Morphologische Anschauung

Das hier beschriebene Gefüge des Zeichnens am Mikroskop dient aber nicht nur der grafischen Formfindung und – damit unmittelbar verknüpft – der Herstellung eines Forschungsobjekts. Als reine Tätigkeit, gewissermaßen als Sonderfall der Beobachtung, vollzieht das Zeichnen auch eine Erziehung der Wahrnehmung, eine Professionalisierung des Blicks.14 Mit dieser zweiten Funktion wird eine rein selbstreflexive 11 Auch im makroskopischen Bereich beginnt der eigentliche Vorgang des Zeichnens nicht erst, wenn der wissenschaftliche Illustrator nach Papier und Stift greift. Zu den Eingriffen, die auch das makroskopische Präparat in ein prä-grafisches Objekt verwandeln und dadurch seine Visualisierung ermöglichen vgl. Wittmann (s. Anm. 2), S. 60–63. 12 Michael Lynch: Discipline and the Material Form of Images: An Analysis of Scientific Visibility. In: Social Studies of Science, Jg. 15, 1985, S. 37–66, hier S. 54–55. 13 Wittmann (s. Anm. 2), S. 60–63. 14 In jüngster Zeit wurde das Zeichnen – im impliziten oder expliziten Rückgriff auf Ludwik Fleck – als ein Forschungsinstrument beschrieben, das über die Datensicherung hinaus der Formierung und Modellierung der Wahrnehmung zuarbeitet und den Stil der wissenschaftlichen Beobachtung wesentlich mitprägt. Vgl. Soraya de Chadarevian: Instruments, Illustrations, Skills, and Laboratories in Nineteenth-Century German Botany. In: Renato G. Mazzolini (Hg.): Non-Verbal Communication in Science Prior to 1900, Florenz 1993, S. 529–562; Horst Bredekamp: Gazing Hands and Blind Spots: Galileo as Draftsman. In: Science in Context, Jg. 13, 2000, S. 423–62; Jutta Schickore:

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Instrumentalität des Zeichnens adressiert. Das wissenschaftliche Zeichnen teilt diese Funktion mit dem künstlerischen Entwurfsprozess, dennoch besteht ein wesentlicher Unterschied zwischen beiden Praktiken: Im Bereich der bildenden Kunst tritt die Bedeutung dieser selbstreflexiven Funktion des Zeichnens nach Abschluss der Ausbildung zum Zeichner zumeist in charakteristischer Weise zurück. Sicherlich zeichnen auch der Kunsthochschule entwachsene Künstler bisweilen noch, um das Auge zu schärfen und die Geläufigkeit der Hand zu trainieren, aber seinen eigentlichen Zweck wird das Zeichnen nicht oder nur selten in dieser Funktion finden. Im Unterschied dazu dient die grafische Datensicherung im Bereich naturwissenschaftlicher Forschung in vielen Fällen primär der Unterstützung der Beobachtung (und damit unmittelbar verbunden der Beschreibung). Das Zeichnen im Dienste der Beobachtung leistet eine Verlangsamung des Forschungsakts, eine Dissoziation von Detail und Ganzem (da das Präparat nur Linie für Linie, Punkt für Punkt gezeichnet werden kann) und eine (Über-)Artikulation des Objekts durch die Übersetzung des Gesehenen in eine Struktur von Linien und Punkten.15 Das Zeichnen setzt einen Austauschprozess in Gang zwischen dem gezeichneten Objekt und der Vorstellung, dem Modell, das sich der Zeichner eventuell schon vom Gegenstand der Untersuchung gemacht hatte und das er im Laufe der zeichnerischen Aufnahme laufend revidiert. Der Fall des Zeichnens am Mikroskop sollte aufzeigen, dass die Exploration von Formen in der Biologie unausweichlich in einer bestimmten Form der Anschauung gründet. Damit sind nun aber nicht die reinen, apriorischen Anschauungen im Sinne Kants angesprochen, sondern eine durch das Gefüge der Zeichnung orientierte oder stilisierte Wahrnehmung. Sicherlich spielen für die Einübung in diese stilgemäße Wahrnehmung auch Konventionen des Zeichnens und Abbildens eine Rolle. Blickt man allerdings auf die Geschichte der mikroskopischen Zeichnung, Fixierung mikroskopischer Beobachtungen: Zeichnung, Dauerpräparat, Mikrofotografie. In: Peter Geimer (Hg.): Ordnungen der Sichtbarkeit: Fotografie in Wissenschaft, Kunst und Technologie, Frankfurt a.M. 2002, S. 285–310; Elke Schulze: „Einführung in die Kunst des Zeichnens zum Zweck bewussten Sehens“. Das Lektorat Akademisches Zeichnen an der Friedrich-Wilhelms-Universität. In: Jahrbuch für Universitätsgeschichte, Jg. 5, 2002, S. 51–67; Olaf Breidbach: Bilder des Wissens: Zur Kulturgeschichte der wissenschaftlichen Wahrnehmung, München/Paderborn 2005; Sarah De Rijcke: Drawing into Abstraction: Practices of Observation and Visualisation in the Work of Santiago Ramón y Cajal. In: Interdisciplinary Science Reviews, Jg. 33, 2008, Heft 4, S. 287–311; Omar W. Nasim: Beobachtungen mit der Hand: Astronomische Nebelskizzen im 19. Jahrhundert. In: Christoph Hoffmann (Hg.): Daten sichern: Schreiben und Zeichnen als Verfahren der Aufzeichnung, Zürich/Berlin 2008, S. 21–46; Wittmann (s. Anm. 2), S. 67–71. Eine systematische Analyse dieser medial spezifischen Aufmerksamkeits- und Blicklenkung steht bislang aus. 15 Vgl. dazu ausführlich Barbara Wittmann: Outlining Species: Drawing as a Research Technique in Contemporary Biology. In: Science in Context, Jg. 26, 2013, Heft 1 (in Vorbereitung).

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fällt auf, dass mit der Erfindung der Camera lucida sich eine deutliche Reduktion der grafischen Mittel bemerkbar machte. Es sei hier nur kurz auf eines der berühmtesten Illustrationsprojekte am Mikroskop vor dem 19. Jahrhundert verwiesen: Ein Blick in Robert Hookes Micrographia macht deutlich, dass die frühe mikroskopische Zeichnung noch selbstverständlich über das ganze kunstvolle Repertoire der europäischen Handzeichnung und Druckgrafik verfügte.16 Die ersten reproduzierten Camera lucida-Zeichnungen in Carl Nägelis, S. Schwendeners und Richard Becks Handbüchern über das Mikroskopieren aus den 1860er-Jahren lassen das reiche Spektrum von Halbtönen durch verschiedene Modi der Strukturierung und Modellierung gänzlich vermissen; sie weisen bereits die charakteristische Beschränkung auf Linien und Punkte auf.17 Diese sehr einfachen Elemente des Zeichnens werden von der Camera lucida keineswegs vorgegeben, aber die Zeichenpraxis richtet sich an bestimmten Bedingungen des optischen Instruments aus – insbesondere auf die Verflächigung des durch den Zeichenspiegel wahrgenommenen Bildes und auf die Möglichkeit „im Bild“ Konturen nachzuziehen. Der Stil der modernen mikroskopischen Zeichnung lässt sich als Realisierung der Möglichkeiten und Grenzen dieses Zeichenapparats verstehen. Der Spielraum des Instruments wird dabei keineswegs vom Apparat alleine vorgegeben, sondern entsteht durch die Einbettung des Zeichenspiegels in ein Gefüge von Mikroskop, Präparationstechniken, Zeichenmaterial, Körperhaltung, zeichnerischen Konventionen und Gesten. Die Einrichtung, Einübung und der kundige Gebrauch des Gefüges prägen die Anschauung des Morphologen. Die Wirkungen dieser Anschauungsform können von der eigentlichen Wissensproduktion nicht geschieden werden, da sich mit dem (fachmännischen) Gebrauch der Camera lucida unausweichlich Prozesse der Verlangsamung der Beobachtung, der Datenauswahl, der Schematisierung (durch das Nachziehen von Konturen) und der Rekonstruktion (durch die Synthese von mehreren Bildebenen in einer Darstellung) verbinden. In diesem Sinn leistet das Zeichnen eine virtuelle Analyse des Gesehenen, die nicht notwendigerweise neue Erkenntnisse befördert, aber stets der Begriffsbildung Vorschub leisten wird.18 16 Vgl. Michael Aaron Dennis: Graphic Understanding: Instruments and Interpretation in Robert Hooke’s Micrographia. In: Science in Context, Jg. 3, 1989, Heft 2, S. 309–364. 17 Richard Beck: A Treatise on the Construction, Proper Use and Capabilities of Smith, Beck & Beck’s Achromatic Microscopes, London 1865; Carl Nägeli, S. Schwendener: Das Mikroskop: Theorie und Anwendung desselben, Leipzig 1867. 18 Einen interessanten Versuch, diese Mitarbeit des Zeichners an der Begriffsbildung genauer zu fassen, hat jüngst Dominic McIver Lopes (Drawing in a Social Science: Lithic Illustration. In: Perspectives on Science, Jg. 17, 2009, S. 5–25) unternommen.

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1: August Schleicher: Sprachstammbaum, 1861.

Bildbesprechung Sprachbilder

Auch wenn die Gleichsetzung von Sprachenentwicklung und biologischer Phylogenese von Anfang an herausgefordert wurde, so ist doch bis heute das dominierende Bild sprachlicher Differenzierung dasjenige der Sprachstämme und Sprachfamilien. Diese Auffassung ist untrennbar verbunden mit dem Modell des Stammbaums ◊ Abb. 1, für das die Darstellung aus August Schleichers (1821–1868) Compendium der vergleichenden Grammatik der indogermanischen Sprachen von 1861 heute ikonisch geworden ist.1 Die materielle Seite des Gegenstands Sprache ist auf die lautlich oder grafisch aktualisierte Sprache beschränkt. Abgesehen von den Teildis1 August Schleicher: Compendium der vergleichenden Grammatik der indogermanischen Sprachen, Bd. 1, Weimar 1861, S. 7. Zur naturhistorischen Verwendung des Stammbaum-Modells siehe grundlegend Giulio Bersanti: La scala, la mappa, l’albero: Immagini e classificazioni della natura fra Sei e Ottocento, Firenze 1992; vgl. auch Bildwelten des Wissens 3,2, Berlin 2005, S. 93–95.

ziplinen Phonetik und Grafetik, die sich dieser Seite des Gegenstandes unmittelbar annehmen, hat die Sprachbetrachtung jedoch immer schon die Abstraktionen der Grammatik ins Zentrum gestellt, woraus ein tiefgreifendes ontologisches Problem entstanden ist. Die Antwort auf die Frage nach dem Wesen des Gegenstandes wurde und wird seither in einer Position zwischen zwei Extremen gesucht: Ist Sprache Naturgegenstand oder Artefakt? Die nicht-gegenständliche Natur des Objektbereichs, in Verbindung mit einer vielfältig bestimmbaren Position zwischen Natur und Kultur, haben dabei letztlich einen besonderen Bedarf an gegenständlichen und somit bildlichen Analogien befördert. Während die Sprachbetrachtung zu allen Zeiten erfolgreich genuine Erkenntnisse über ihren Kerngegenstand Grammatik erarbeitet hat, lassen sich die herangezogenen Analogien als Serie wiederholter Anlehnungen an vorbildhafte Disziplinen lesen. Diese Anlehnungen sind bisher vor allem unter dem Gesichtspunkt von Theorie und Methode betrachtet worden, betreffen aber auf eine viel intuitivere Weise die Leerstelle, die der Gegenstand Sprache zwangsweise

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Bildbesprechung

2: Conrad Hal Waddington: Epigenetische Landschaft, 1957.

in der ontologischen Frage hinterlässt. In dem Moment, in dem die Sprachbetrachtung aus den Artes liberales heraustrat und sich auf den Weg zu einer selbstständigen akademischen Disziplin begab, musste auch die Frage nach dem Wesen des Gegenstandes beantwortet werden, wofür aus gegenständlichen Analogien die sogenannte „Sprachbilder“ entstanden: in Anlehnung an die Biologie des 19. Jahrhunderts zuerst das Sprachbild „Sprache als Naturorganismus“, das unter dem Einfluss der Thermodynamik und dem allgemeinen Systemdenken mit der Wende zum 20. Jahrhundert in das Sprachbild des Strukturalismus („Sprache als System“) überging; im 20. Jahrhundert selbst folgten dann funktionalistische und anthropologisch-genetische Sprachbilder, an der Wende zum 21. Jahrhundert traten schließlich mathematisch, stochastisch und informationstechnisch geprägte Formen hinzu. Betrachten wir die Rolle der Sprachbilder am Anfang dieser Entwicklung und in der gegenwärtigen Diskussion. Parallel zu Botanik und Zoologie entwickelte die entstehende Sprachwissenschaft bis zum 19. Jahrhundert zunächst einzelsprachli-

che, zunehmend vergleichend-klassifizierende und letztlich evolutionäre Gestaltbeschreibungen. Die einzelsprachliche Grammatikschreibung zum Deutschen (ab dem 16. Jahrhundert) schließt nahtlos an die antike Grammatiktradition an, von der sie auch drei Gestaltbegriffe übernimmt: Bei Donatus (4. Jahrhundert) finden sich forma und figura als die Flexions- und Derivationsformen von Verb und Substantiv. Priscian (6. Jahrhundert) unterscheidet davon abweichend species als die Derivationsformen jeder Wortart und hält die Flexion getrennt. Die Unterscheidung von species und forma/figura, eingedeutscht zu Art und Gestalt, bildet mit gelegentlichen Umdeutungen bis zu Adelung (1732–1806) den Gegenstand der Etymologia oder Wortforschung. Ihr werden die Flexion und die Komposition beigestellt. Seit der Antike ist damit eine Grammatikschreibung etabliert, deren Angelpunkt das Wort ist, auf Grundlage einer Wortbildungs- und Formenlehre. Art und Gestalt als Beschreibungsebenen der Sprache betreffen so von Anfang an nicht die gegenständliche Welt der lautlichen und grafischen Formen der Sprache, sondern

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die grammatische Struktur. Die hohe Komplexität und Flexibilität, mit der sprachliche Elemente zu Äußerungen verbunden werden, hat entgegen der aufklärerischen Vorstellung einer mechanischen und logisch dekonstruierbaren τέχνη γραμματική zum 19. Jahrhundert hin die Vorstellung des organischen Zusammenhängens und unbewusst-genialischen Funktionierens des Sprachinneren genährt und das Sprachbild des Naturorganismus entstehen lassen. Im Verbund mit der positivistischen Wissenschaftsauffassung der Zeit ergab sich hieraus, dass dieser Naturgegenstand auch mit den Mitteln der Naturbeschreibung zu erfassen sei. Heute trägt diese Teildisziplin der einzelsprachlichen Gestaltbeschreibung von Flexion, Derivation und Komposition den Namen „Morphologie“. Wie in der Biologie begnügt sich diese Teildisziplin nicht mit dem Beschreiben der äußeren Form von Elementen, sondern beschreibt damit auch immer deren Beziehungen und somit letztlich den komplexen Organismus über die Funktion seiner Teile (heute freilich als System verstanden). August Schleicher führte genau in diesem Sinn den Begriff „Morphologie“ in die Sprachwissenschaft ein: „Für die lere von der wortform wäle ich das wort ‚morphologie‘, nach dem vorgange der naturwißenschaften, weil ‚formlere‘ für specielle morphologie verbunden mit functionslere der beziehungslaute bereits im gebrauche ist“ 2. Neben der Grammatik als einzelsprachlicher Gestaltbeschreibung tritt jedoch seit dem 16. Jahrhundert die vergleichende Grammatik in den Vordergrund, da, stärker als in der Biologie, in der Sprachbetrachtung bereits vor dem 19. Jahrhundert ein intuitives Verständnis davon herrschte, dass strukturelle Ähnlichkeiten der Sprachen auf Verwandtschaft hindeuten. Es bedurfte jedoch der theoretischen und metho2 August Schleicher: Zur Morphologie der Sprache. (Mémoires de l’academie imperial des sciences de St.-Pétersbourg, VIIe série, I, 7), St. Petersburg u. a. 1859, S. 35.

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dischen Entwicklungen in der Biologie, um in der Sprachwissenschaft von etymologischer Spekulation zu systematischer Analyse überzugehen. Schlegels programmatische Schrift Ueber die Sprache und Weisheit der Indier von 1808 stellt explizit die methodische Orientierung auf die Vergleichende Anatomie her, um so die Artenentwicklung der Sprachen durch die Betrachtung des Sprachbaus offenzulegen.3 Auf dieser Grundlage wird in der Folge nicht nur die wissenschaftliche Begründung der Verwandtschaft geführt, sondern auch der Übergang von der Gestaltbeschreibung und Klassifikation zu einer historisch-vergleichenden Grammatik der gesamten indogermanischen Sprachfamilie vollzogen. Die Systematik, die durch die Vergleichung offenbar wird, lässt dabei schnell vermuten, dass die Entwicklung eines Naturorganismus namens „Sprache“ auch mit naturgeschichtlichen Gesetzen erklärbar sein müsse (so etwa Becker 1827),4 was Schleicher weiter zu der Annahme führt, eine von Grund auf neue Naturwissenschaft der Sprache etablieren zu können, die er „Glottik“ nennen will: „Dise selbst ist ein teil der naturgeschichte des menschen. Ire methode ist im wesentlichen die der naturwißenschaften überhaupt; […] Eine der hauptaufgaben der glottik ist die ermittelung und beschreibung der sprachlichen sippen oder sprachstämme […]“ 5. Nach der Lektüre von Darwins On the origin of species pflanzt Schleicher schließlich 1863 dem sprachgeschichtlichen Denken nachhaltig die Idee eines evolutionären Mechanismus ein.6 In Schleichers Darstellung der indoger3 Friedrich Schlegel: Über die Sprache und Weisheit der Indier. Ein Beitrag zur Begründung der Alterthumskunde, Heidelberg 1808. 4 Karl Ferdinand Becker: Organism der Sprache als Einleitung zur deutschen Grammatik, Frankfurt a. M. 1827. 5 Schleicher (s. Anm. 2), S. 1. 6 August Schleicher: Die Darwinsche Theorie und die Sprachwissenschaft. Offenes Sendschreiben an Herrn Dr. Ernst Haeckel, Weimar 1863.

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manischen Sprachfamilie als genealogischem Baum kulminieren somit etablierte Traditionen und länger bestehende Ausdrucksbedürfnisse. Klassifikatorische Sprachdarstellungen im Stil eines Système figuré kannten bereits die Frühen Grammatiker.7 Schlegel (1808) begann die taxonomischen Baumdarstellungen der vergleichenden Anatomie im Sinn seiner Programmatik genealogisch umzudeuten. Auch Schleicher zeichnete bereits 1853 erste Baumdarstellungen, die auf einer noch lose von der vergleichenden Klassifikation geschiedenen Vorstellung von Abstammung beruhten.8 Aber erst mit dem Übertrag des evolutionären Mechanismus entstanden daraus erkenntnisfördernde grafische Darstellungen sprachlicher Geschichte und Verwandtschaft, die sich wie Darwins Bäume einer historisch-genealogischen Bildform bedienten, aber wiederum erst durch die ihnen neu eingeschriebene Evolutionslehre mit einer weitergehenden Erklärungskraft aufgeladen wurden. Als Hauptleistung sprachlicher Strukturbildung wird heute die Überführung komplexer Gedanken in lineare lautliche und grafische Äußerungen gesehen, wodurch die Sprachstruktur von der Syntax „abwärts“ analysiert wird und eher der Satz im Zentrum der grammatischen Analyse steht als das Wort. Gleichzeitig hat die Forschung zu Sprachdifferenzierung, -wandel und -verwandtschaft neben der Grammatik ein breites Feld weiterer beteiligter Mechanismen nachgewiesen: auch an kommunikativer Funktion, sozialer Gliederung, Spracherwerb, menschlicher Kognition und anderem kann nicht mehr vorbeigesehen werden, ohne dass die Theoriearbeit dafür bisher ein kohärentes Ganzes bereitgestellt hätte.

7 Vgl. Justus Georg Schottel: Ausführliche Arbeit von der Teutschen HaubtSprache (1663), 1. Teil, Nachdruck Tübingen 1967, S. 153. 8 August Schleicher: Die ersten Spaltungen des indogermanischen Urvolkes. In: Allgemeine Zeitung für Wissenschaft und Literatur, August 1853.

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Neuansätze in der Sprachwandelforschung beginnen deshalb stets mit der Kritik dieses Zustandes, reagieren jedoch auf sehr unterschiedliche Weise: mit theoretischer Integration, aber auch mit Entontologisierung. Bei den integrativen Modellen dominieren Wiederauflagen der Idee, dem Gegenstandsbereich mit evolutionstheoretischer Modellbildung beizukommen.9 Die Integration wird etwa dadurch erreicht, die sprachliche Variation als mutationsähnliche Prozesse dem abstrakt bleibenden Sprachsystem zuzusprechen, während Mechanismen der sozialen Interaktion als Selektionsprozesse entworfen werden. Ohne in die Organismusauffassung des 19. Jahrhunderts zurückzufallen, werfen diese Modelle jedoch die Frage auf, was es ontologisch bedeuten soll, dass Sprachen evolieren können. Aus derselben Kritik ist jedoch auch eine andere Art der Betrachtung entstanden, welche die Gefahren falscher Analogien umgehen will, indem sie Ontologien bewusst vermeidet. Die Verfügbarkeit mathematischer Modellierungen und entsprechender Rechenleistungen hat auch in der Linguistik die Hoffnung genährt, dass eine umfängliche informationstechnische Behandlung sprachlichen Materials auf der Grundlage geeigneter mathematischer und wahrscheinlichkeitstheoretischer Verfahren den Gegenstand aus sich selbst heraus sprechen lassen könnte. Mit der jungen Teildisziplin der Korpuslinguistik entwickelt sich hierfür gerade die entsprechende Grundlagenforschung und Forschungspraxis. Sprachwandeltheoretisch hat vor allem Roger Lass (geb. 1937) daraus abgeleitet, welche Erwartungen an diese Richtung der entonotologisierten Sprachwandelmodelle gerichtet werden: Ließe man eine statistisch valide Menge sprachlicher Merkmale als Zustände 9 So etwa bei William Croft: Explaining language change. An evolutionary approach, Harlow 2000; oder Nikolaus Ritt: Selfish sounds and linguistic evolution. A Darwinian approach to language change, Cambridge 2004.

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dynamischer Systeme über ausreichend viele Reproduktionszyklen berechnen, um anschließend die Merkmale als Zustände in Phasenräumen abzutragen, würden sich im Ergebnis und gleichsam wie von selbst mit den sogenannten „Attraktoren“ Teilräume mit charakteristischen Eigenschaften zeigen. Einige dieser Attraktoren würden den Verallgemeinerungen der bisherigen Sprachwandelforschung entsprechen und ihnen eine neue Interpretation zugrunde legen. Andere würden neue Prozesse erst sichtbar werden lassen. Gemeinsam wäre jedoch allen, dass sie ohne Annahmen über das Wesen der Sprache auskämen und in sich selbst als Erklärung hinreichend wären. Dieses Sprachwandelmodell ist, in Lass’ Worten, „a modest ontological proposal“.10 Doch schon Lass’ Entwurf zeigt, dass diese entontologisierte Auffassung in einer Disziplin kaum durchsetzbar ist, die ihren Gegenstand immer durch Analogien betrachtet hat. Deshalb wird wieder eine plakative, bildliche Analogie eingeführt: diejenige der epigenetischen Landschaft. ◊ Abb. 2 Publiziert wurde diese in Conrad Hal Waddingtons Strategy of the genes aus dem Jahre 1957.11 Waddington (1905–1975) suchte darin nach Visualisierungen für die Entwicklungswege omnipotenter Zellen in der Individualentwicklung. Zu spezifischen Zeitpunkten der Teilung schlagen Zellen aus einer Anzahl möglicher, aber vorab unbestimmbarer Entwicklungsschritte ihren Weg zu den letztlichen Zelltypen ein. Waddington stellte nun die Gesamtheit der sich verzweigenden Wege zunächst als zweidimensionale Baumstrukturen dar (so auch in seiner früheren Arbeit Organisers and Genes),12

10 Roger Lass: Historical linguistics and language change (Cambridge studies in linguistics, 81), Cambridge 1997, S. 370. 11 Conrad H. Waddington: The strategy of the genes, London 1957. 12 Conrad H. Waddington: Organisers and genes, Cambridge 1940.

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ging später jedoch zu einer Darstellung als „epigenetische Landschaft“ über. In dieser sind diagrammatische Verallgemeinerung und plastisch modellierte Ansicht elegant miteinander verbunden. Die Zelle, als eine Kugel im Raum vorgestellt, durchrollt dabei die Täler und Senken einer abstrakten Landschaft. Ein solches Bild zur Veranschaulichung der beschränkten Möglichkeiten bei gleichzeitiger Nichtvorhersagbarkeit gibt ein bedeutungsreiches Modell auch für den sprachlichen Wandel ab. Allerdings ergeben sich aus dem Bild selbst neue Probleme, die Attraktoren dynamischer Systeme mit der Topografie einer epigenetischen Landschaft gleichzusetzen. Waddingtons Landschaften repräsentieren die biochemischen Bedingungen in den Zellen, die entstehen, wenn auf Grundlage der DNA Aminosäuren und Gewebe synthetisiert werden. Die Topografie der epigenetischen Landschaften ist somit vorgeprägt, eben „epigenetisch“ determiniert, was ganz und gar nicht Lass’ entontologisiertem Ansatz entspricht. Lass, der die Herkunft der Attraktoren nicht motiveren will, könnte auch über die Topografie der Landschaft nichts sagen. Epigenetische Landschaften visualisieren zudem ontogenetische, dynamische Systeme phylogenetische Entwicklungen. Außerdem widersprechen in die Zukunft weisende, vorgefertigte Kanäle der Idee der Attraktoren, die Strukturen darstellen, die entstehen, wenn zum Zweck der Analyse die Entwicklung eines Merkmals berechnet, also nachgezeichnet, wird. Die Analogie der epigenetischen Landschaft führt somit wieder ein, was in der Theorie durch eine mühsam begründete Entontologisierung beseitigt wurde. Die Diskussion dieses Modells ist derzeit im Gang, und es ist schwer vorherzusagen, ob sie sich von der bildlichen Analogie wird lösen können. Kann die Sprachwissenschaft ihren Gegenstand vielleicht gar nicht ohne bildliche Analogien konstituieren? Die Organismusauffassung des 19. Jahrhunderts und die mit ihr durch Schlei-

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cher verbundene Vorstellung der evolutionären Entwicklung haben entscheidenden Anteil an der Etablierung der Disziplin genommen. Die methodische Strenge, in der Folge bis zum ausnahmslosen Gesetzesdeterminismus gesteigert, hat wesentlich zur Reputation als akademischer Disziplin beigetragen. Gleichzeitig jedoch war durch die Orientierung auf die Naturgegenstände und die Exaktheit ihrer Beschreibung eine Entscheidung gefällt, welche die Sprachwissenschaft bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts von den sozialen und kulturellen Aspekten der Sprache entfernt und, als Reaktion darauf, die Sprachwissenschaft des 20. Jahrhunderts in die Lager „Struktur“ und „Funktion“ geteilt hat. Diese Trennung wird erst jetzt durch integrative oder entontologisierte Modelle wieder überwunden. Interessant dabei ist, dass die gegenständlichen Analogien in der Regel als analytisches Instrument und Verstehenshilfe entworfen wurden, sich dabei aber stets, auch in anderen Perioden, verselbstständigt haben. Nachhaltig wirkt etwa das Lebenszyklusmodell der Organismusauffassung, vor allem in der öffentlichen Diskussion, im bis heute nicht zu überwindenden Verfallstopos. Auf akademischer Ebene ist es vor allem die Systemauffassung des Strukturalismus, die unbemerkt ein Eigenleben entwickelt hat: Oft ist von Systemen die Rede, die etwas tun, etwas leisten, ausgleichen, korrigieren oder kompensieren, so als führte die Sprache als losgelöste Entität ein Eigenleben. Wer die zu Denkstrukturen gewordenen Bilder ersetzen oder durchbrechen will, sieht sich mit dem grundsätzlichen gestalterischen Problem konfrontiert, dass Phasenräume nur in maximal drei Dimensionen grafisch darstellbar sind – auch die Linguistik kann sich so, in sehr konkreter Form, als bildliches Problem erweisen. Lars Erik Zeige

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Faksimile „Mit eben so viel Kunst als Wahrheit“. Johann Moritz David Herolds ­Bildungs­geschichte der Wirbellosen

Im Jahre 1815 wurde Johann Moritz David Herold (1790–1862) mit seiner Entwickelungsgeschichte der Schmetterlinge schlagartig bekannt. Seine Untersuchung zur Metamorphose der Raupe des Kohlschmetterlings (Papilio brassica) fand großen Zuspruch und Anerkennung nicht zuletzt wegen der 33 großformatigen, kolorierten Tafeln, auf denen die Entwicklung der Sexualorgane der Raupe in einer Bildserie dargelegt war.1 Aufgrund dieses Erfolges plante Herold eine umfassende, auf Fortsetzung angelegte Bildungsgeschichte der Wirbellosen, womit er sich auf ein noch weitgehend unerforschtes Gebiet begab. Die Serie begann 1824 mit Untersuchungen zur Entwicklungsgeschichte der Spinnen.2 Die erste Fortsetzung erschien nicht vor 1835, die zweite 1838, die letzte schließlich wurde erst nach Herolds Tod 1876 von dem Berliner Zoologen Carl Eduard Adolph Gerstaecker (1828–1895) herausgegeben.3 1 Johann Moritz David Herold: Entwickelungsgeschichte der Schmetterlinge, anatomisch und physiologisch bearbeitet von Dr. Herold, mit dreyunddreyssig illuminirten und schwarzen Kupfertafeln, Kassel/Marburg 1815. Vgl. Janina Wellmann: Die Metamorphose der Bilder. Die Verwandlung der Insekten und ihre Darstellung vom Ende des 17. bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts. In: NTM 16, 2008 (2), S. 183–211 sowie Dies.: Die Form des Werdens. Eine Kulturgeschichte der Embryologie, 1760–1830, Göttingen 2010. 2 Johann Moritz David Herold: Untersuchungen über die Bildungsgeschichte der wirbellosen Thiere im Ei. Erster Theil. Von der Erzeugung der Spinnen im Eie. Mit 4 Kupfertafeln, Marburg 1824. 3 Johann Moritz David Herold, Carl Eduard Adolph Gerstaecker (Hg.): Untersuchungen über die Bildungsgeschichte der wirbellosen Thiere im Eie. Drei Lieferungen, Frankfurt a. M. 1835/1838 und (posthum hg v. A. ­Gerstaecker) Berlin 1876

Über Jahre hinweg wiederholte Herold seine Untersuchungen, setzte immer wieder neue Beobachtungen an, fertigte Zeichnungen und verfolgte ihre Umsetzung in Kupfer mit größter Sorgfalt. Nur das in immer neuen Untersuchungsreihen Wiedergesehene und damit Bestätigte fand seinen Weg, oftmals erst nach Jahren, in Herolds illustrierte Publikationen. Herold verzichtete zudem darauf, die Fachliteratur zu zitieren, und verwies den Leser anstelle von Seitenzahlen auf Tafelnummern. Daß er sich eine solche „Hinwendung zur reinen Beschreibung“ erlaubte, insbesondere die im 19. Jahrhundert rapide wachsende ontogenetische Forschung nicht zu rezipieren schien (namentlich die Theorie der Keimblätter und die Zelltheorie), erschien Wissenschaftshistorikern wie Zeitgenossen gleichermaßen methodisch untragbar.4 Schon nach Erscheinen des zweiten Bandes 1836 erntete Herold dafür vernichtende Kritik: „Der wichtigste Grund, warum das Werk so geringen wissenschaftlichen Gehalt hat, ist unstreitig der, daß entweder dem Verf. alle neueren Erfahrungen über Entwicklungsgeschichte fremd geblieben sind, oder daß er sie absichtlich ignoriert hat.“ Herold, so der Rezensent Rudolph Wagner weiter, habe die Forschung seiner Zeit, etwa die Arbeiten „von Burdach, Baer, Rathke, Valentin“ gar nicht zur Kenntnis genommen.5 Auch Ludwig Bischoff tat Herolds Beobachtungen im Werk von 1838 ab; sie seien zwar „mit eisernem Fleisse und Beharrlichkeit“ ausgeführt, gleichzeitig aber mit dem Makel versehen, dass Herold „von deren Unfehlbarkeit und Wichtig(darin I. Die Feuer­wanze, II. Die Schmeissfliege, III. Das Abendpfauenauge). 4 Zitat nach Uwe Runge: Johann Moritz David Herold (1790–1862), Frankfurt a. M./Bern/New York 1983, S. 232. 5 Rudolph Wagner: Mauritii Heroldii, Jenensis disquisitiones de animalium vertebris carentium in ovo formatione. De generatione insectorum in ovo. Primus Fasciculus. In: Gelehrte Anzeigen 2, 1836, 66, S. 546.

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1: Johann Moritz David Herold: Untersuchungen über die Bildungsgeschichte der wirbellosen Thiere im Eie, 1876, Tab. XVIII. Die Inschrift „Auctor delin. et pinx“ weist Herold selbst als den Urheber der Zeichnung des Bildes aus, gestochen wurde die Tafel von Carl Ermer.

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keit“ durchdrungen sei.6 Das Verdikt galt erst recht 1876, als mit gut vierzig Jahren Verspätung Herolds Untersuchungen zur Schmeißfliege, die er acht Sommer lang zwischen 1828 und 1847 betrieben hatte, veröffentlicht wurden. Zwar kommt Gerstaecker, der postume Herausgeber, zu dem Schluss, die Lieferung zu veröffentlichen, weil „auch die Embryologen der Neuzeit [sich] kaum der Ansicht verschließen können, dass die von Herold gegebene Darstellung als ein wahres Muster von Treue und Gewissenhaftigkeit der Beobachtung zu gelten hat“; auch transportiere Herolds „Schreibweise“ unter allen Umständen „den Eindruck einer unglaublichen Mühseligkeit in der Untersuchung und des Bestrebens, das Gesehene mit möglichster Genauigkeit und Treue wiederzugeben“.7 Andere Rezensenten teilten diese Ansicht mitnichten.8 Die fehlende Brauchbarkeit von Herolds Untersuchungen konnte also ihre Ursachen kaum in der unzureichenden Qualität der Beobachtungen selbst haben. Vielmehr war gerade diese das eigentliche Problem: Es war die Fülle des Bildes, der Grad des Details, das Ziel einer vollkommenen Kopie, die das Bild in der zeitgenössischen Kritik als undifferenziertes und wertloses Abbild erscheinen ließ. Gegen Herolds bloße Beobachtung führten die Kritiker die Theorie ins Feld: Sie verlangten nach Erklärung statt reiner Deskription, da Erkenntnis nun einmal nicht aus Akribie allein erwachse. Um so häufiger wurden Herolds Bilder in die Sphäre der Kunst verrückt, womit ihnen zwar eine gewisse Anerkennung gezollt, sie aber gleichzeitig in ihre Schranken verwiesen wurden. So nennt 1835 eine Rezension in der 6 Theodor Ludwig Wilhelm Bischoff: Bericht über die Fortschritte der Physiologie im Jahre 1838. In: Archiv für Anatomie, Physiologie und wissenschaftliche Medicin, 1839, S. CLXXXII. 7 Herold, Gerstaecker (s. Anm. 3), Vorwort. 8 Vgl. Paul Mayer: Mor. Herold, Untersuchungen über die Bildungsgeschichte der wirbellosen Thiere im Ei. In: Jenaer Literaturzeitung, 12, 1877, S. 181–182.

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2: In der Umrisszeichnung fehlen die schwarzen Rechtecke der Tafel. Die Tafel wurde nach Vorlage aus Herolds Nachlass für die Publikation von Richard Herzner nachgestochen.

London Medical Gazette die Tafel der Raupe der Bombyx quercus – das Werk zweier Arbeitsjahre – ein Kunstwerk: „we never saw anything equal“.9 Ähnlich sprach Johannes Müller über „Herold’s prachtvolles Werk“, wollte gleichzeitig aber dessen wissenschaftliche Resultate nicht beurteilen.10

9 [Anonym]: Disquisitiones de animalium vertebris carentium in ovo formatione: De generatione insectorum in ovo. Auctore Maur. Heroldio, Jenensi, M.D. &c. Frankf. am Main, 1835. In: London Medical Gazette, 17, 1835, S. 57. 10 Johannes Müller: Jahresbericht über die Fortschritte der anatomisch-physiologischen Wissenschaften im Jahre 1835. In: Archiv für Anatomie, Physiologie und wissenschaftliche Medicin, 1836, S. CLXXIII.

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Ein Bewegungsbild

Was zeigt Herolds Tafel? Welches Verständnis der Metamorphose offenbart sie? Und präsentiert sie eine „reine Beobachtung“? Schon aufgrund ihrer Herstellungsweise kann die Abbildung als eine verdichtete Beobachtungsreihe gelten, als Destillat eines seriellen, geprüften und korrigierten Sehens. Mehr noch, sie konstruiert die kontinuierliche Veränderung während der Metamorphose auf besondere Weise, und zwar als Bewegungsbild. Zu sehen ist die Larve der Schmeißfliege (Musca vomitoria). Genauer zeigt die Tafel laut Bildinschrift die „mutationes […] inde a duodecima ab ovi partu hora“, also die Veränderungen im Ei der Fliege ab der zwölften Stunde nach Eiablage. Das Problem, mit dem sich Herold konfrontiert sah, war allerdings, dass im Ei streng genommen nichts zu sehen ist: „Denn die undeutliche, durch die Gleichheit der Farbe bedingte Begrenzung der in der Bildung begriffenen Theile macht es durchaus unmöglich, genügende Beobachtungen anzustellen.“ Formund Farblosigkeit der undifferenzierten Masse des jungen Eies schließen also die Unterscheidung von Strukturen nahezu aus. Unter diesen Umständen ist es ein „glücklicher Zufall“, wenn nicht „ein der Beobachtung günstiges Bildungsgesetz, dass der Magenschlauch sogleich bei seinem ersten Auftreten eine farbige Dottermasse in sich fasste, wodurch wie durch eine farbige Injection alle die Umbildung desselben in den Magen begleitenden Gestaltungsveränderungen sichtbar gemacht werden“.11 Goldgelbe Linien stellen mithin den Magen dar, der aufgrund seiner Farbigkeit die einzige Struktur ist, die sich von Anbeginn im Ei erkennen lässt, und welcher diese Farbigkeit über die gesamte Entwicklung beibehält. Erst mit der achtzehnten Stunde lassen sich aufgrund ihrer Färbung auch die Veräs11 Herold, Gerstaecker (s. Anm. 3), S. 41. Die Angabe der Seitenzahlen erfolgt hier und nachstehend nach Zählung der Verfasserin.

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telungen der Luftwege ausmachen: Mit Eintritt der Luft färben sie sich silbrig.12 Die Entwicklung des Magens machte Herold „die grösste Mühe“, vor allem „die richtige Erkenntnis des gegenseitigen Ueberganges der verschiedenen, durch Nummern bezeichneten Abschnitte des Magens und des durch die Richtung der kleinen Pfeile angedeuteten Ueberganges ihrer Windungen in einander bei Betrachtung des Eies von seinen vier verschiedenen Gegenden her“. Diese Beobachtungen sind deshalb so schwierig, da während der Entwicklung „wie die Abbildungen auf der achtzehnten Tafel hinlänglich darthun, die Lage, die Gestalt, die Länge und die Richtung der Abschnitte des Magens und ihrer Windungen so sehr grosse Abänderungen erleidet“.13 Was Herold auf der achtzehnten Tafel in 33 dicht aufeinanderfolgenden Figuren, in strenge Zeilen und Reihen geordnet, zu zeigen versucht, ist die „Art und Weise der Entstehung des Magens aus seinem blasen- und schlauchartigen Urgebilde“.14 Diese Metamorphose ist eine mehrfache, in unterschiedliche Richtungen des Raumes gehende und zu verschiedenen Zeiten erfolgende Bewegung. Diese Bewegung ist so komplex, dass es Herold kaum gelang, sie zu erfassen: Die Entwicklungen in der Schmeißfliegenlarve gingen „ineinander über“, vollzogen „sich bei einer Temperatur von 23 bis 24° Réaum. ungefähr innerhalb acht Stunden“ und damit so schnell, dass der Beobachter sich die Veränderungen nicht mehr in „durch Stundenzahlen ausgedrückten Zeiträumen“ vorstellen konnte, sondern nur nach den „Verhältnissen der Form, der Lage und der Tätigkeit anderer bereits vorhandener Theile“.15 Herold suchte daher nach piktoralen Mitteln, um Bildung als Bewegung zu konstruieren, wobei Beobachtung und Darstellung stets einhergehen. Zum einen öffnete er die Ansicht des Eies 12 13 14 15

Ebd., S. 25. Ebd., S. 41. Ebd. Ebd., S. 25.

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in vier Einzelansichten (Vorder-, Rücken-, rechte und Spalten angeordnetes Muster. Die von I bis und linke Seitenansicht), so dass der Blick gleich- XXII nummerierten Figuren entsprechen dabei sam das Ei der Larve räumlich umwandern kann. den 22 „Hauptphasen“ der Veränderungen. Die Auch bei dieser Rekonstruktion verlangt er größte äußere, geordnete Struktur, die der organischen Präzision.16 Die dadurch ermöglichte imaginäre Form unterlegt ist, steht in auffälligem Kontrast Wanderbewegung des Auges erhält außerdem zu dem quirligen Geschehen, der pulsierenden weitere Richtungen: So nimmt der Magen wäh- Bewegung im Innern des Eies. Verstärkt wird rend der gesamten Bildung an Länge zu und seine dies durch die Farbgebung. Vor dem schwarzen Windungen werden zahlreicher. Diese Streckung Hintergrund hebt sich die goldgelbe Färbung der geht mit einer Verschmälerung der gewundenen gewundenen Struktur im Inneren sowie die SilForm in der Breite einher. Hinzu kommt eine berfärbung der verzweigten Atemröhren ab. Die „wurmförmige“ Bewegung, durch die sich der bewegten, organischen Rundungen kontrastieren obere Teil des Magens zusammenzieht, schließ- mit der rechtwinkligen Komposition der Bildauslich eine Seitenbiegung im unteren Abschnitt schnitte, in die sie gefasst sind. des Magens, von der rechten hin zur linken SeiHerold versucht in dieser Tafel, mit aller tengegend.17 Weil sich somit die verschiedenen ihm möglichen Präzision und in schmerzhafBereiche der langgestreckten, schlauchförmigen tem Ringen um eine vollständige und richtige Struktur räumlich unterschiedlich sowie zu Beobachtung, Bewegung sehend und zeichnend verschiedenen Zeitpunkten bewegen, unterteilt zu begreifen. Eben jene Spannung des Bildes Herold den Magen in vier Abschnitte, für die er zwischen einer gleichgeordneten Wiederhoin minutiösem Detail versucht, alle Bewegungen lung der Gesamtkomposition, dominiert von der festzuhalten. Pfeile dienen ihm dazu, das Aus- Farbe Schwarz und der Geometrie des Rechteinanderstreben der einzelnen Strukturen in die ecks, und einer Variation des Details, bestimmt von der gekrümmten Linie des Organischen, verschiedenen Richtungen zu kennzeichnen. der leuchtenden Farbe der sich entwickelnden Der Rhythmus der Veränderung Struktur, die einen spielerischen Gegenpol zur harten Form des Rechtecks gibt, dient ihm Während im Inneren der Formen eine kaum noch dazu, die Metamorphose der Entwicklung als zu überschauende Bewegungsvielfalt herrscht, ein beständige Formveränderung festzuhalten, bei Drehen und Wenden, Strecken und Verdicken, der Variation und Wiederholung zusammenPumpen und Umschlagen im Raum, ist die äuße- spielen. Entwicklung wird hier zur Verschmelre Form der Bildes als Gesamtkomposition streng zung von „sameness and novelty; so that the gefasst. Insgesamt 22 schwarze Rechtecke glei- whole never loses the essential unity of the patchen Formats bilden ein schematisches, in Zeilen tern, while the parts exhibit the contrast arising from the novelty of their detail“.18 In An ­enquiry 16 Ebd., S. 26: „Die Grössen- und Lagenverhältnisse der inneren Theile zu einander sind auf das Genaueste beobachtet und sowohl durch den Bleistift, als den Pinsel möglichst naturgetreu wiedergegeben worden.“ 17 Ebd., S. 25.

18 Alfred North Whitehead: An enquiry concerning the principles of natural knowledge, New York / Dover 1982, S. 198. Zum Rhythmus als Episteme in Wissenschaft und Kultur um 1800 siehe auch Wellmann: Form des Werdens (s. Anm. 1).

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­concerning the principles of natural knowledge hatte Alfred North Whitehead so Rhythmus definiert. Herold lieferte also gleichsam eine Darlegung der Metamorphose der Wirbellosen als Bildrhythmus: In der Raum-Zeit-Figur des Rhythmus ist die Bewegung der Entwicklung nicht allein ein zeitliches Fortschreiten, ein übergangsloses Fließen, sondern im Gegenteil eine Ordnung unter der Bedingung ihrer zeitlichen Veränderung. Sie fügt sich in den Rahmen der Wiederholung, sie schöpft aus der Perpetuierung des bereits Vorhandenen, ohne sich dabei identisch zu reproduzieren, und schält mit jeder Abweichung, akkumuliert über die Zeit, eine neue Form heraus. Der Schein der Wirklichkeit

An anderer Stelle in demselben Band schreibt Herold, dass seine Abbildungen der Metamorphose „nach Maassgabe dessen, was bei den anzustellenden Beobachtungen theils nur scheinbar, theils wirklich in die Sinne fällt und wie es der Gebrauch der Lupen bei der Untersuchung von Gegenständen so ausserordentlicher Kleinheit mit sich bringt, entworfen worden sind“. Dann fügt er klärend hinzu: „In wie fern also beides – Scheinbares und Wirkliches – in den Abbildungen vereinigt ausgedrückt ist, darf man dieselben auch als mit eben so viel Kunst als Wahrheit ausgeführt ansehen und werden sie daher in jeder Hinsicht den Anforderungen entsprechen. Denn auch der Schein, als der ursprünglichste und zunächst in die Augen fallende Ausdruck des Ganzen und des Einzelnen, der freilich nicht mit Täuschung oder Einbildung verwechselt werden darf, gehört eben so gewiss zum Gegenstande, wie in einem Gemälde der Schatten zum Lichte, da er erst aus dessen Wesen als eine für sich bestehende Notwendigkeit hervorgeht“.19

19 Herold, Gerstaecker (s. Anm. 3), S. 2.

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Scheinbares und Wirkliches, Kunst und Wahrheit, Beschreibung und Erklärung sind bei Herold untrennbar verbunden. Nur zusammen konstituieren sie einen Gegenstand – so wie Licht und Schatten nicht Antipoden sind, sondern sich aufgrund des jeweils anderen gegenseitig bedingen. Genau darin liegt die Leistung des Gemäldes. Es ist nicht, wie Herolds Kritiker es beschrieben, das prachtvolle Gegenstück, das Andere der Erkenntnis, sondern es ist eine Erkenntnisform, als Verbindung des Ganzen und des Einzelnen. Janina Wellmann

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Georg Toepfer

Was sind biologische Formen? Zehn Thesen1 Verbreitung und Definition des Formbegriffs1

Form ist eines der häufigsten Wörter der biologischen Sprache. Von den im weiteren Sinne terminologisch verwendeten Ausdrücken erscheint im Englischen nur das Wort für Art (species) häufiger in biologischen Fachaufsätzen. Form ist aber um etwa 50% häufiger als Leben, Zelle oder Funktion, doppelt so häufig wie Evolution, dreimal so häufig wie Gen und etwa viermal so häufig wie Fortpflanzung – dies das Ergebnis einer kleinen Datenerhebung auf der Grundlage des Volltexts von 223 biologischen Zeitschriftentiteln, die meisten davon aus dem 20. Jahrhundert. ◊ Abb. 1 Einwenden lässt sich gegen diese quantitative Bestimmung, dass Form deswegen ein so häufiger Ausdruck der biologischen Sprache ist, weil er überhaupt kein biologischer Terminus ist, sondern vielmehr ein allgemeinsprachliches Wort. Dies gilt allerdings auch für andere Wörter dieser Liste, etwa für Entwicklung, Information, Umwelt oder Organisation. Im Vergleich zu diesen sowohl biologisch als auch außerbiologisch weit verbreiteten Wörtern ist Form sehr viel häufiger. Der biologische Formbegriff unterscheidet sich außerdem durchaus vom alltäglichen Verständnis des Ausdrucks, wie zu zeigen sein wird. Form ist daher insgesamt nicht weniger als ein Terminus der Biologie anzusehen als Entwicklung, Funktion oder Umwelt. Trotz seiner Häufigkeit wird der Formbegriff in der Biologie meist nicht definiert. Die Handbücher und Lexika der Biologie verzeichnen diesen Ausdruck in der Regel überhaupt nicht und wenn doch, dann meist mit der speziellen botanischen Bedeutung nach der eine Form eine systematische Rangstufe bezeichnet, ein Taxon unterhalb der Ebene der Art. Es existieren aber auch in der Biologie Definitionsvorschläge für das Konzept. Die Definitionen sind in der Regel sehr allgemein. In einer eigenen Abhandlung zum Thema der organischen Formen versteht Hans Driesch unter Form 1919 die „Gesamtheit aller Beziehungen an einem zusammengesetzten Gegenstande“.2 Für Willi Hennig ist 1966 die vollständige Form, die Holomorphe, eines Organismus ein vieldimensionales Konstrukt, nämlich die Gesamtheit aller morphologischen, physiologischen und ethologischen Eigenschaften eines Merkmalsträgers (Semaphoronten).3 Walter Bock und Gerd von Wahlert begrenzen 1965 die Bedeutung des Ausdrucks dagegen im 1 Ich danke Gerhard Scholtz für äußerst hilfreiche Kommentare zum Manuskript und ein Gespräch, das sehr zur Klärung meiner Auffassungen beitrug. 2 Hans Driesch: Der Begriff der organischen Form, Berlin 1919, S. 1. 3 „[T]he total form [Gesamtgestalt] (or the holomorphy) of the semaphoront […] is to be regarded as a multidimensional construct. [… Its] properties encompass the totality of its physiological, morphological, and psychological (ethological) characters“ (Willi Hennig: Phylogenetic Systematics, Urbana, Ill. 1966, S. 7).

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Georg Toepfer

Art (species)

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Form (form)

Umwelt (environment)

85 Selektion (selection)

39 32

Entwicklung (development) 74 Organisation (organiz(s)ation) 28 Information (information)

70 Biotop (biotope & habitat)

27

Wachstum (growth)

65 Gen (gene)

27

Individuum (individual)

63 Biozönose (community)

24

Leben (life)

58 Krankheit (disease & illness) 24

Funktion (function)

57 Regulation (regulation)

24

Zelle (cell)

54 Diversität (diversity)

22

Verhalten (behavio(u)r)

51 Fortpflanzung (reproduction) 22

Population (population)

49 Kommunikation (communication) 40

Evolution (evolution)

22

1: Häufigkeit von Grundbegriffen der Biologie, ermittelt aus dem Datensatz der Datenbank JSTOR, der Zeitschriften­auf­sätze der biologischen Wissenschaften („Biological Sciences“) umfasst (zusammen 223 Zeitschriftentitel, die meisten davon aus dem 20. Jahrhundert). Angegeben ist die relative Häufig­keit jedes Ausdrucks im Verhältnis zur Häufigkeit des häufigsten Ausdrucks (in Prozent). Der häufigste Ausdruck „Species“ hat in dem Datensatz eine absolute Häufigkeit von 564.770 Vorkommen.

Wesentlichen auf die äußere Erscheinung und innere Konfiguration eines Gegenstandes.4 In diesem Sinne ist der Formbegriff auch einfach bestimmt worden als Aspekt des Phänotyps eines Organismus: „some aspect of the phenotype of the organism“, wie es 1988 Carl Gans formuliert.5 Es spricht insgesamt aber wenig für die Eingrenzung des Formbegriffs auf das äußerlich Sichtbare; auch das Genom eines Organismus kann also zu seiner Form gerechnet werden. Mein Vorschlag für eine Definition des Formbegriffs lautet:

Die Form einer biologischen Entität (z. B. eines Organismus) ist die Kombination ihrer Eigenschaften, insbesondere die räumliche Anordnung der Teile (die Struktur) zu einem bestimmten Zeitpunkt, aber auch nichträumliche Eigenschaften wie Farben oder sich in der Zeit entfaltende Eigenschaften (wie die Zeitgestalten der charakteristischen Verhaltensweisen eines Organismus oder die Stadien in der Entfaltung seiner Fortpflanzungsfähigkeit in der Ontogenese) gehören dazu. Bevorzugt werden als Formen solche Eigenschaftsaggregate angesehen, die eine Entität einem bestimmten Typ zuweisen und sie von anderen unterscheiden, z. B. die Summe der arttypischen Merkmale eines Organismus.

Auch die Materie eines biologischen Systems kann nach dieser Definition zu seiner Form gerechnet werden, denn sie bildet auch eine seiner Eigenschaften – unter Umständen auch seiner sichtbaren Eigenschaften. Der für die Biologie ­zentrale 4 „The form of a feature is simply its appearance, configuration, and so forth. It may be defined formally as: In any sentence describing a feature of an organism, its form would be the class of predicates of material composition and the arrangement, shape or appearance of these materials, provided that theses predicates do not mention any reference to the normal environment of the organism. In morphology, the form would be the shape of the structure. In behavior, it would be the configuration of the display, including the involved structures, their movements, intensity, and so forth“ (Walter Bock, Gerd von Wahlert: Adaptation and the Form-Function Complex. In: Evolution 19, 1965, S. 269–299, hier: S. 272f). 5 Carl Gans: Adaptation and the Form-Function Relation. In: American Zoologist 28, 1988, S. 681–697, hier: S. 684.

Was sind biologische Formen? Zehn Thesen.

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Gegenbegriff zu Form kann also nicht Materie oder Stoff sein, sondern lautet vielmehr Funktion. Mit der in der Biologie verbreiteten Polarisierung von Form und Funktion hängt es auch zusammen, dass der Formbegriff besonders für den deskriptiven Teil der Biologie zentral ist, der Funktionsbegriff dagegen für den explanativen. Biologen erklären Formen in der Regel entweder durch andere (phylogenetische Vorläufer-) Formen oder ihre Funktionen, nur in Ausnahmefällen aber umgekehrt Funktionen durch Formen. Denn eine Form kann eine für sich stehende Eigenschaft eines Organismus sein, über eine Funktionsanalyse erfolgt dagegen die Integration einer Form in das Wirkungsgefüge der Prozesse eines Organismus. Ein historischer Grund für die Häufigkeit des Ausdrucks Form in der Biologie liegt darin, dass die beiden häufigsten Wörter der Liste in Tabelle 1, Form und Spezies, sachlich und sprachlich zusammenhängen. Im klassischen Griechisch sind sie nicht getrennt: Aristoteles verwendet den gleichen Terminus für beides, für die Form und die Art eines Organismus. Die Form oder Art (eidos) ist bei Aristoteles das, was einen Gegenstand zu dem macht, der er ist. Sie bildet den einen Gegenstand charakterisierenden oder als Gegenstand eines Typs – z. B. eben einer Art – identifizierenden Aspekt. Dieser sachliche Zusammenhang zwischen Form und Art besteht teilweise bis in die Gegenwart. Andererseits ist wohl nichts so sehr kennzeichnend für die moderne Biologie wie die Aufgabe dieses Zusammenhang zwischen Form und Art oder Form und Wesensbestimmung eines Gegenstandes: Es ist in der modernen Biologie in der Regel gerade nicht die Form, sondern entweder die Genealogie – in der Systematik – oder die Funktion – in der Physiologie –, die einen Gegenstand identifiziert, die ihn als Element einer biologischen Klasse ausweist. Insofern die langfristige Genealogie nicht direkt zu beobachten ist und auch Funktionsverhältnisse häufig nicht direkt nachweisbar sind, kann den organischen Formen zwar eine indirekte Indikatorfunktion für Deszendenz- oder Funktionsverhältnisse zukommen. Doch dienen die Formen in diesem Zusammenhang nicht direkt als Kriterien der biologischen Klassifikation, sondern nur vermittelt über ihre Rolle als Indiz für gemeinsame Abstammung oder Funktionalität. Im Allgemeinen gelten die organischen Formen also nicht qua ihres Formaspekts, sondern lediglich aufgrund des Ergebnisses ihrer gemeinsamen Abstammung oder gleichen Funktion als Element natürlicher biologischer Klassen (natural kinds). Dass Biologen Klassifikationen ihrer Gegenstände, die auf genealogischen Verhältnissen oder auf funktionalen Bezügen aufbauen, gegenüber solchen, die reinen Formaspekten folgen, als grundlegender ansehen und daher bevorzugen, hat zwei

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Symmetrieform

Lebensform

Beispiele

Anaxonia (­Achsenlose)

sessile oder ­langsam ­bewegliche Tiere

Stachel­häuter, ­Medusen, ­Schnecken

Homaxonia (Kugel)

kleine im Wasser schwebende Tiere

Algen, ­Radiolarien

Haplopola (­Zylinder)

durch Lücken­ Schlangen, systeme schlängelnde Fadenund Tiere, z.B. im Boden ­Ringelwürmer Bohrende

Heterostaura (­Pyramide)

sessile oder wenig bewegliche Tiere

Medusen, Seesterne

Amphipleura (­Spindel)

unter Wasser ­schwimmende Tiere

Wale, Fische, ­Fischsaurier

Zygopleura (­Bilateralsymmetrie)

auf dem Land ­laufende und ­fliegende Tiere

Krebse, Insekten, Wirbeltiere

2: Korrelation der Haupttypen der Symmetrieformen von Organismen mit deren Lebensform (Bezeichnungen der Symmetrieformen nach Ernst Haeckel: Generelle Morphologie der Organismen, 1866). Die Symmetrieformen können als Anpassung an ihre Lebensform interpretiert werden; sie sind in verschiedenen taxonomischen Gruppen mit ähnlicher Lebensweise entstanden (Abbildungen zusammengestellt aus Hans-Wilhelm Koepcke: Die Lebensformen. Grundlagen zu einer universell gültigen biologischen Theorie, 1971–1974, Bd. 1).

einfache Gründe: Genealogische Klassifikationen werden bevorzugt, weil biologische Gegenstände in einer natürlichen Genealogie entstanden sind und diese eine eindeutige hierarchische Ordnung ermöglicht. Funktionale Klassifikationen werden geschätzt, weil sich die Biologie als eine Systemwissenschaft versteht, in der es um die Aufdeckung der kausalen Mechanismen geht, mit deren Hilfe komplexe organische Funktionen realisiert werden. Klassifikationen nach Formähnlichkeiten führen im Unterschied dazu nicht zu einer eindeutigen Ordnung und sind nicht direkt aufschlussreich im Hinblick auf die Arbeitsweise eines Organismus. Trotzdem können in der Biologie selbstverständlich Ähnlichkeitsklassen auf rein morphologischer Grundlage gebildet werden, z. B. das vierkammerige Säugetierherz (eine genealogisch bedingte Homologie) oder die Körpergestalt der Wrickschwimmer (eine funktional bedingte Analogie). ◊ Abb. 2

Was sind biologische Formen? Zehn Thesen.

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Zur Geschichte des Formbegriffs

Das alte Verständnis des Formbegriffs als Wesensbestimmung war nicht ohne Einfluss auf die Entwicklung des biologischen Begriffs. Daher soll hier kurz auf den historischen Wandel vom antiken Verständnis des Formbegriffs zu seiner neuzeitlichen Eingrenzung auf die Gestalt und Konfiguration eines Gegenstandes eingegangen werden. In seiner Metaphysik nennt Aristoteles Form „das Sosein eines jeden Dinges und sein erstes Wesen“.6 Der grundlegende Charakter und die ganze Tragweite des Konzepts werden besonders bei Thomas von Aquin deutlich. In seiner Schrift über die Prinzipien der Natur, heißt es: „Alles, von dem etwas seine Existenz hat, sei es substanziell oder akzidentell, kann seine Form genannt werden. […] Und weil jede Definition und jedes Erkennen über die Form erfolgt, kann die Materie als solche weder erkannt noch definiert werden.“ 7 Die Form ist also der Grund der Existenz eines Dinges, dasjenige, was einen bestimmten Gegenstand zu dem macht, der er ist. Noch 1781 bei Immanuel Kant findet sich dieses Verständnis des Formbegriffs, wenn er festlegt, Materie bedeute „das Bestimmbare überhaupt“, Form aber „dessen Bestimmung“.8 Dieser Formbegriff der philosophischen Tradition erfährt in der Frühen Neuzeit aufgrund der Entwicklung in den Naturwissenschaften eine Reinterpretation, wie dies Norma Emerton in einer materialreichen Arbeit von 1984 gezeigt hat.9 Wesentlich geleitet durch mineralogische Untersuchungen, vollzieht sich seit dem 16. Jahrhundert eine Festlegung des Formbegriffs auf die innere Struktur und äußere Gestalt eines Gegenstandes. Eine frühe Interpretation des Formbegriffs in diesem Sinne findet sich 1518 bei Agostino Nifo: „Wenn bei einem Messingwürfel Messing und seine Winkel unterschieden werden, dann wird er in Materie und Form geteilt, weil der Winkel die Form bedeutet“ – so Nifo in seiner Auseinandersetzung mit der aristotelischen Metaphysik.10 Deutlich formuliert wird dieser Formbegriff noch einmal rund 150 Jahre später von Robert Boyle: 6 Aristoteles: Metaphysik, übersetzt von Hermann Bonitz, bearbeitet von Horst Seidl, Hamburg 1995, 1032b f. 7 „omne a quo aliquid habet esse, quodcumque esse sit sive substantiale, sive accidentale, potest dici forma. […] Et quia omnis definitio et omnis cognitio est per formam, ideo materia prima per se nonpotest cognosci vel definiri“ (Thomas von Aquin: De principiis naturae, hg. von Richard Heinzmann, Stuttgart 1999, S. 50 (I, 3) und 56 (II, 7)). 8 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft (1781/1787). In: Kant’s gesammelte Schriften, Bd. III, hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1904, A266 (B322). 9 Norma E. Emerton: The Scientific Reinterpretation of Form, Ithaca, NY 1984. 10 „si in æs, & angulum secetur, in materia, & formam diuiditur, angulus enim formam significat“ (Agostino Nifo: Expositiones in Aristotelis libros Metaphysices (1518), Venedig 1547, S. 300.

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„That which is commonly called the form of a concrete, which gives it its being and denomination […] may be in some bodies but a modification of the matter they consist of; whose parts, by being so and so disposed in relation to each other, constitute such a determinate kind of body, endowed with such and such properties.“ 11

Es ist hier also die Strukturierung der Materie, von der aus der Formbegriff entwickelt wird, bezeichnet wird mit ihm die Disposition, Konfiguration, Anordnung der Teile eines Körpers. Der Begriff der Form wird auf diese Weise in atomistische Korpuskulartheorien integriert. Eine gewisse Kontinuität zum klassischen Konzept der Form als Wesensbestimmung einer Sache besteht insofern, als die chemischen Eigenschaften eines Stoffes, die dessen Natur ausmachen, auf die geometrische Gestalt seiner Bestandteile zurückgeführt werden.12 Die Gestalt kann also zur Form werden, weil nach den atomistischen Lehren sie es ist, die die wesentlichen Eigenschaften eines Dings bestimmt. Für die frühe Kristallografie, Mineralogie und Chemie erweist sich dieser Ansatz als fruchtbar, so dass sich das räumliche Verständnis des Formbegriffs – „the spatial understanding of form“, wie Norma Emerton es nennt,13 – im 17. Jahrhundert allmählich durchsetzt. Der Formbegriff bezieht sich damit nicht mehr notwendig auf das Wesen einer Sache, sondern nur noch auf seine räumliche, geometrische Konfiguration. Auch die frühen Biologen des 17. Jahrhunderts übernehmen das räumlichgeometrische Verständnis des Formbegriffs. In einem der Gründungswerke der neuzeitlichen Botanik, der Anatomie der Pflanzen von Nehemiah Grew, heißt es 1682, Größe und Gestalt (size and figure) seien die einzigen eigentlichen Qualitäten von Atomen und zusammen würden sie die Form eines Körpers ausmachen.14 Mehr oder weniger schließt sich dem auch Carl von Linné an: Er unterscheidet in seinen standardisierten Pflanzenbeschreibungen seit den 1730er-Jahren die von ihm so genannten „vier Verschiedenheiten“, nämlich Anzahl, Gestalt, relative Größe und Lage der Blütenorgane (Numero, Figura, Proportione & Situ). Diese definieren die kennzeichnenden Merkmale (nota characteristica) einer Pflanze.15 11 Robert Boyle: A Physico-Chemical Essay. Containing an Experiment, with some Considerations touching the Differing Parts and Reintegration of Salt-petre (1661). In: Ders.: Works, Bd. 2, gf. von Michael Hunter und Edward Bradford Davis, London 1999, S. 93-113, hier: S. 108. 12 Insbesondere von Daniel Sennert: Hypomnemata physica (1636). In: Opera omnia 1, Lyon 1650, S. 145f und 167; vgl. Norma E. Emerton (wie Anm. 8), S. 120f. 13 Norma E. Emerton (wie Anm. 8), S. 51. 14 Nehemiah Grew: The Anatomy of Plants, London 1682, S. 224 15 Carl von Linné: Philosophia botanica, Stockholm 1751, S. 196, §167. Vgl. Ders.: Critica botanica, Leiden 1737, S. 202, §283; Arthur J. Cain: Numerus, figura, proportio, situs. Linnaeus‘s definitory attributes. In: Archives of Natural History 21, 1994, S. 17-36.

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Ausgehend von einem morphologischen Artbegriff, der Morphospezies, also dem Verständnis von Arten als Gruppen von Individuen, die über gemeinsame morphologische Merkmale gekennzeichnet sind, ist die Angabe der morphologischen Merkmale, d. h. der Form eines Organismus, gleichzeitig eine Wesensbestimmung, weil eben die Artzugehörigkeit über die Form definiert ist. Mit der Etablierung des Biospezieskonzepts seit Ende des 18. Jahrhunderts schwindet aber diese Verbindung, so dass die Form den Status einer substanziellen Eigenschaft von Organismen verliert: Die Artzugehörigkeit eines Organismus wird nicht durch seine Form, sondern fortpflanzungsbiologische Verhältnisse festgelegt, d. h., nicht durch die Relation der Ähnlichkeit, sondern eine genealogische, also eine besondere Form der kausalen Beziehung zu anderen Organismen. Formen und Funktionen: Homomorphie und Heteromorphie als Selektionsergebnis

An den Formen der Organismen sind zwei Eigenschaften besonders bemerkenswert: ihre Vielfalt und ihre Wiederholung, insbesondere bei Organismen einer Art. Für eine Erklärung der Vielfalt der Formen, etwa der Artendiversität, gibt es keine befriedigende Theorie: Kein Biologe kann erklären, warum die geschätzte Anzahl der Organismenarten auf der Erde zwischen 107 und 109 liegt, und nicht bei 104 oder 1012.16 Zur Erklärung der Wiederholung von Formen haben Biologen zwei Theorien, die im Prinzip unabhängig voneinander sind, aber meist zusammengefasst werden: die Deszendenz- und die Selektionstheorie. Die Deszendenztheorie erklärt die abgestufte Ähnlichkeit von miteinander verwandten Organismen und die Selektionstheorie erklärt die Ähnlichkeit von nicht oder nur wenig miteinander verwandten Organismen. Biologen nennen das eine Homologie, das andere Analogie. Ein augenfälliges Beispiel für Analogien betrifft die Möglichkeit der Zuordnung von Organismen sehr unterschiedlicher Verwandtschaftskreise zu Symmetrieformen, die wiederum in Korrelation zu ihrer Lebensweise stehen: Irreguläre Formen ◊ Abb. 2 bei wenig beweglichen oder passiv bewegten Tieren wie schalentragenden Landschnecken, Kugelsymmetrie bei unter Wasser schwebenden kleinen Organismen wie einzelligen Algen oder Radiolarien, Zylinderform bei durch Lückensysteme kriechenden Tieren wie Ringelwürmern, Radiärsymmetrie bei sessilen, nur langsam beweglichen oder großen schwebenden Tieren wie Seesternen oder Medusen, Spindelform bei

16 George E. Hutchinson: Homage to Santa Rosalia or why are there so many kinds of animals? In: American Naturalist 93, 1959, S. 145-159, hier: S. 146. Vgl. auch Robert May: How many species are there on earth? In: Science 241, 1988, S. 1441-1449, hier: S. 1441.

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unter Wasser schwimmenden Tieren wie Walen oder Fischen und Bilateralsymmetrie bei auf dem Land laufenden und fliegenden Tieren wie Insekten oder Wirbeltieren. Die Selektion für eine Funktion führt andererseits aber nicht stets zu einheitlichen Formen. Viele Funktionen können vielmehr durch sehr unterschiedliche Formen ausgeübt werden. Ein Beispiel ist mit den Typen von Herzen bei wirbellosen Tieren gegeben. Eine Herzform haben diese alle nicht – und doch werden sie von Biologen selbstverständlich als Herzen identifiziert.17 Biologisch muss ein Organ als Blutpumpe fungieren, nicht aber herzförmig sein, um als Herz zu gelten. In diesem wie in vielen Fällen werden die Komponenten eines Organismus über ihre Funktionen identifiziert, nicht über ihre Form. Gegenüber dem klassischen Verständnis, nach dem die Form die Wesensbestimmung eines Gegenstandes betrifft, hat der Formbegriff in der Biologie also eine Depotenzierung erfahren: Er dient meist nicht mehr der Identifizierung und Klassifizierung biologischer Gegenstände. Vorgezeichnet ist diese Entwicklung schon bei Aristoteles, insofern er feststellt, die Formursache falle im Bereich des Organischen häufig mit der Zweckursache zusammen: „das Wesen und der Zweck sind eines und dasselbe“ – so formuliert er in der Physik.18 Auf Aristoteles, den „Vater der Biologie“, 19 lässt sich somit die verbreitete biologische Praxis der Ausgliederung und Identifizierung von Teilen aufgrund ihrer Funktionen zurückführen. Ausgehend von diesen Vorbemerkungen lassen sich zehn Thesen zum biologischen Formbegriff formulieren. 1. Formen sind Typen. Formen sind Eigenschaften oder Eigenschaftsbündel eines Individuums, die dieses mit anderen Individuen teilt. Diese Eigenschaften können ein Individuum als Vertre­ ter einer bestimmten taxonomischen Gruppe ausweisen (auch wenn die Zugehörig­ keit zu dem Taxon nicht über diese Eigenschaften definiert ist). Unter der Beschrei­ bung als Formen werden Individuen typisiert. Die Formprädikate selbst sind daher typisierende Eigenschaften, die mehreren Individuen gemeinsam zukommen.

17 Vgl. Klaus Richter: Struktur und Funktion der Herzen wirbelloser Tiere. In: Zoologische Jahrbücher, Abteilung allgemeine Zoologie und Physiologie der Tiere 77, 1973, S. 477-668. 18 Aristoteles: Physica, dt. Physikvorlesung, übers. v. Hans Wagner, Berlin 1967, S. 198a. 19 Thomas Henry Huxley: Review. The Cell Theory. In: The British and Foreign Medico-Chirurgical Review 12, 1853, S. 288; August Rauber: Die Lehren von Victor Hugo, Leo Tolstoj und Emile Zola über die Aufgaben des Lebens vom biologischen Standpunkte aus betrachtet, Leipzig 1896, S. 12.

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Auch dieses Verständnis des Formbegriffs findet sich bereits bei Aristoteles. Von zwei Individuen sagt Aristoteles ausdrücklich: „verschieden sind sie durch die Materie, denn diese ist verschieden, identisch sind sie aber in ihrer Form“.20 Die Form ist demnach etwas, das verschiedene Individuen miteinander gemeinsam haben. Zur Erläuterung dieser These ließe sich mit Francis Bacon auch sagen: „Formen sind Gesetze.“ 21 Durch seine Beschreibung als eine Form ist ein Organismus in eine Menge von Naturkörpern eingegliedert, für die sich Gemeinsamkeiten und gesetzmäßige, d. h. arttypische, Zusammenhänge von Eigenschaften formulieren lassen. Im Grunde stellt in morphologischer Hinsicht jede Artbildung die Entstehung neuer bereichsspezifischer Gesetze dar: Mit der Entstehung einer neuen Art ist daher auch die Revision der artspezifischen Gesetze der Stammart verbunden. „Alle Artbildung ist zugleich Gesetzesbildung“, wie es 1950 bei Nicolai Hartmann heißt.22 Formen sind also relationale Eigenschaften: Eine Form kommt einem Organismus relativ zu der Verteilung der Merkmale bei anderen Organismen zu. Nicht jede Eigenschaft eines Organismus ist demnach Element seiner Form, sondern nur eine solche, die ein Organismus mit anderen des gleichen Typs gemeinsam hat und die ihn von Organismen anderer Typen unterscheidet.23 Seine Form hat also ein Organismus als Mitglied einer Art oder einer anderen taxonomischen Einheit, nicht bereits für sich als Individuum. Von Bedeutung ist diese Bestimmung von Formen als typisierende Eigenschaften vor dem Hintergrund der biologischen Theorie, die im Allgemeinen zur Erklärung der Veränderung von Formen herangezogen wird: der Evolutionstheorie. Denn den Erklärungen der Evolutionstheorie liegt ein Denken in Populationen zugrunde: Die Ausbreitung eines Typs von Organismen in einer Population wird relativ zu einem Kontext anderer Typen erklärt. Es ist also die evolutionstheoretische Fundierung der Biologie, die ein Denken in Typen notwendig macht und die damit auch das Verständnis des Formbegriffs als Typenkonzept nahelegt. Mit diesem Verständnis von Formen als Typen muss aber selbstverständlich kein Essenzialismus im Sinne von Formen als unwandelbaren platonischen Ideen 20 Aristoteles (wie Anm. 5), 1034a. 21 „[W]hen I speak of Forms, I mean nothing more than those laws and determinations of absolute actuality, which govern and constitute any simple nature, as heat, light, weight […]. Thus the Form of Heat or the Form of Light is the same as the Law of Heat or the Law of Light“ (Francis Bacon: Novum organum (1620). In: Ders.: Works, Bd. 4, London 1870, S. 146). 22 Nicolai Hartmann: Philosophie der Natur, Berlin 1950, S. 709. 23 Vgl. Olivier Rieppel, Maureen Kearney: Similarity. In: Biological Journal of the Linnean Society of London 75, 2002, S. 59-82, S. 61.

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verbunden sein. Die in den letzten Jahren neu auflebende Debatte um den biologischen Typusbegriff hat vielmehr gezeigt, dass ein Typologisches Denken nicht mit einem Fixismus, also der Annahme von unwandelbaren Arten verbunden sein muss.24 Es kommt sogar gerade die Evolutionstheorie nicht ohne einen Typusbegriff aus, weil die Transformation von Organismen im Laufe der Evolution überhaupt nur vor dem Hintergrund eines Denkens in Typen als Veränderung beschreibbar wird. Dieser Typologismus ohne Fixismus besteht also nicht darauf, dass Formgrenzen nicht oder auch nur schwer zu überwinden wären. Er weist vielmehr lediglich auf die logische Voraussetzung eines typisierenden Referenzsystems für jede Transformationstheorie hin. Aber nicht nur im Transformationsdenken der Evolutionstheorie sind typologische Elemente enthalten, auch die evolutionäre Entwicklungsbiologie („EvoDevo“) hat zu einer gewissen Wiederbelebung der Typologie geführt. Es gibt offensichtlich über Hunderte von Jahrmillionen stabile Entwicklungsmuster, die solchen Entitäten wie der Tetrapoden-Extremität zugrundeliegen. Bei diesen konservierten Strukturen handelt es sich um Formen, um Entwicklungs- und Gestalttypen. Ihre langfristige Konservierung als spezifische Gestalten schließt aber nicht aus, dass sie bei einzelnen Gruppen eines Verwandtschaftskreises verloren sind (die Extremitäten der Tetrapoden z. B. bei den Schlangen). 2. Formen sind bloße Mittel. Formen sind Mittel zur Realisierung biologischer Funktionen. Sie sind in einen teleologischen Kontext eingebunden und spielen eine primär dienende Rolle. Der die Gestalt und Abläufe von Organismen wesentlich prägende Mechanismus, die natürliche Selektion, ist auf eine Steigerung der Effizienz der Funktionen gerichtet, demgegenüber die Formen bloßes Material darstellen.

Dieses Primat der Funktionen gegenüber den Formen, ihre Einordnung in die Rolle von Mitteln oder Medien, in gewisser Weise also ihre Mediatisierung, wird von Biologen seit Mitte des 19. Jahrhunderts betont. Seit dieser Zeit verliert die Morphologie ihre Eigenständigkeit und wird zunehmend in die Physiologie integriert; sie wird zu einer Hilfswissenschaft. Für die Zoologen Carl Bergmann und Rudolf Leuckart bildet es 1852 ein Programm für die Zukunft, die Morphologie 24 Mary P. Winsor: Non-essentialist methods in pre-Darwinian taxonomy. In: Biology and Philosophy 18, 2003, S. 387-400; John S. Wilkins: Species. A History of the Idea, Berkeley 2009, S. 5.

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„zu einem Theile der Physiologie“ werden zu lassen; Ziel sei es, eine „Physiologie der Plastik“ zu entwickeln.25 Gut zehn Jahre später ist der Physiologe Claude Bernard der Auffassung, die Physiologie sei gegenüber der Morphologie oder Anatomie die tiefere Wissenschaft;26 Anatomie und Morphologie stellten eigentlich nur das Material bereit, das dann in der Physiologie eine Erklärung erfahre. Der Anatom könne nichts durch die Anatomie allein interpretieren – so lautet ein berühmtes Diktum Bernards: „l’anatomiste ne sait rien interpréter par l’anatomie seule“. 27 Zwar kommt es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einer erneuten Blüte der Morphologie, die u. a. durch Carl Gegenbaur und Ernst Haeckel getragen und durch die phylogenetisch gestützte Homologienforschung geprägt ist, 28 die langfristige Entwicklung ist aber doch darauf gerichtet, die morphologischen Fragen systematisch der Physiologie unterzuordnen. Die Morphologen geraten gegenüber dem Selbstbewusstsein der Physiologie derart in die Defensive, dass es Hermann Weber 1955 als ein „Wagnis“ erscheint, überhaupt noch von der Morphologie als isoliertem Gegenstand zu sprechen: Sie sei in den Augen der meisten Zoologen „günstigenfalls ein Mann auf verlorenem Posten – bemitleidenswert und ein wenig lächerlich“, weniger wohlwollend betrachtet aber „eine Pseudowissenschaft ohne die Möglichkeit exakter Problemlösungen“.29 Nach verbreiteter Auffassung sei „die Morphologie eine Sache der Anschauung oder gar der Intuition, die Physiologie eine der Kausalanalyse“, so Weber 1955.30 Berechtigt ist diese Unterordnung der Morphologie unter die Physiologie, insofern die organischen Formen im Rahmen der Biologie im Wesentlichen als Mittel begriffen werden, um Funktionen zu realisieren. Biologisch verstanden werden organische Formen, wenn sie physiologisch erklärt und evolutionstheoretisch gedeutet werden (wobei die evolutionstheoretische Deutung auch bei Fehlen funktionaler Erklärungen vorliegen kann und mit der genealogisch-historischen Einordnung eine Erklärung auf anderer Ebene liefert).

25 Carl Bergmann, Rudolf Leuckart: Anatomisch-physiologische Uebersicht des Thierreichs. Vergleichende Anatomie und Physiologie, Stuttgart 1852, S. 36. 26 Claude Bernard: Introduction à l‘étude de la médicine expérimentale, Paris 1865, S. 160. 27 a. a. O. 28 Vgl. Lynn K. Nyhart: Biology Takes Form. Animal Morphology and the German Universities 1800–1900, Chicago 1995. 29 Hermann Weber: Stellung und Aufgaben der Morphologie in der Zoologie der Gegenwart. In: Verhandlungen der Deutschen Zoologischen Gesellschaft 18, 1955, S. 137–159, hier: S. 137f. 30 Hermann Weber 1955 (wie Anm. 28), S. 139.

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3. Formen sind biologische Variable. Im Laufe der Evolution des Lebens wandeln sich die Formen beständig. Für den Einsatz zu bestimmten Funktionen werden die Formen verändert, im Dienste der Funktionen werden sie an ihre Rolle angepasst.

Diese These hängt mit der vorhergehenden zusammen: Die Konstanten des organischen Geschehens auf der Erde sind die Funktionen: Seit der Entstehung des Lebens auf der Erde vor einigen Milliarden Jahren sind es die immer gleichen Funktionen der Ernährung, des Schutzes, der Homöostase und der Reproduktion, die sich durch alle Variationen der Formen erhalten. Im Dienste dieser immer gleichen Funktionen, der Grundfunktionen der Lebewesen, variieren die Formen. 4. Formen sind vielfältig. Formen unterliegen in der Biologie keiner hierarchischen Ordnung, ausgehend von bestimmten Grundformen – analog zu den seit Beginn des Lebens konstan­ ten Grundfunktionen, wie Ernährung, Schutz und Fortpflanzung. Es besteht vielmehr eine offene Mannigfaltigkeit eines in der Evolution sich immer weiter bereichernden Inventars an Formen. Der Grund für die Vielfalt der organischen Formen ist die weitgehende Blindheit der Selektion für Formen: Selektiert ­werden nicht Formen als solche, sondern die mit den Formen verbundenen Effekte, die unmittelbar einen Selektionswert aufweisen.

Der Wert von Formen für die biologische Selektion bemisst sich an ihrer Funktionalität. Für die Formen als solche ist die Selektion blind. Sie sind damit quasi freigestellt – und dies ist ein wichtiger Grund für ihre Vielfalt, für die hohe Diversität der Formen trotz der beschränkten Anzahl der Funktionen. Aber auch unabhängig von der Blindheit der Selektion für Formen als solche gibt es biologisch gute Gründe für die Vielfalt der Formen. Charles Darwin hat mit seinem Divergenzprinzip einen formuliert, der auf dem Vorteil der Spezialisierung beruht: Diejenigen Organismen, die sich von anderen unterscheiden, sei es morphologisch, physiologisch oder ethologisch, genießen nach Darwins Argument einen Vorteil, weil mit verschiedenen Formen und Funktionen unterschiedliche Umweltbedürfnisse verbunden sind, so dass mit der bloßen Verschiedenheit die Konkurrenz gemindert wird.31 31 Charles Darwin: On the Origin of Species, London 1859, S. 112.

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5. Formen sind Akzidenzen. Die Form eines Individuums kann sich im Laufe seines Lebens grundlegend wan­ deln (in einer Metamorphose). Die spezifische Form definiert also nicht die Iden­ tität eines Individuums. Kriterium für die diachrone Identität eines Individuums ist nicht die Kontinuität einer Form, sondern eines Funktionsgefüges.

Das Phänomen der Metamorphose, also des radikalen Gestaltwandels eines Individuums im Laufe seiner Existenz, verhindert es, ein Individuum über seine Gestalt oder Form charakterisieren oder identifizieren zu können. Die Form zu einem Zeitpunkt ist also keine substanzielle, sondern eine akzidentelle Eigenschaft eines Individuums; das Individuum kann diese Eigenschaft verlieren und bleibt doch das gleiche Individuum. Festgelegt wird die Identität eines biologischen Individuums als die Einheit eines Funktionsgefüges von Prozessen, die erstens, als Prozesse eines jeweiligen Typs (z. B. als Nahrungsaufnahme- oder Lokomotionsverhalten), wechselseitig voneinander abhängen, die zweitens die materiellen Teile des Systems erzeugt haben, die drittens diese umformen und damit neue Formen des gleichen Lebewesens erzeugen können und die viertens im Rahmen dieser Transformationen selbst Änderungen unterliegen, so dass sie zu Prozessen neuen Typs werden können, die aber wiederum, bis zum Ende der Existenz des Individuums, in einem Verhältnis der wechselseitigen Abhängigkeit voneinander stehen. 6. Formen sind nicht nur statisch. Nicht allein statische Raumgefüge stellen Formen dar, auch die dynamische Ver­ änderung von räumlichen Konfigurationen kann als Form gelten. Zeitgestalten, wie Entwicklungsprozesse oder Verhaltensweisen, können als Formen verstanden werden.

Diese These dürfte wenig strittig sein. Es ist sinnvoll und vielfach Praxis in der Biologie, auch zeitlich sich erstreckende Eigenschaften von Organismen als „Formen“ zu beschreiben. Eine Klassifikation des Verhaltens nach Formen kann zu einer Verhaltensmorphologie führen. Hermann Weber spricht 1955 von einer „Morphologie der Verhaltensformen“.32 Dieser Zweig der Morphologie enthält eine bloße Beschreibung der Formen von Verhaltensweisen, etwa der arttypischen Form eines Ernährungsver32 Hermann Weber 1955 (wie Anm. 28), S. 140.

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haltens, einer Fluchtreaktion oder einer Balzbewegung. Eine derartige Verhaltensmorphologie könnte aber ebenso wenig wissenschaftliche Eigenständigkeit beanspruchen wie die an statischen Verhältnissen orientierte anatomische Körpermorphologie. 7. Formen sind Systemeigenschaften. Formen ergeben sich aus der Interaktion vieler Komponenten innerhalb eines Organismus. Sie lassen sich meist nicht nur einer Einflussgröße zuschreiben. In ihrer Veränderung unterliegen sie daher komplexen Einschränkungen („con­ straints“) und können oft nicht einfach als „Anpassung“ für eine spezifische Funktion gedeutet werden.

Auch dies ist eine wenig strittige These. Weil Formen Eigenschaften komplexer Systeme aus wechselseitig voneinander abhängigen Teilen darstellen, lassen sie sich nicht auf einzelne isolierte Komponenten dieser Systeme zurückführen. 8. Formen bilden kein System. Die Veränderung der Formen in der Evolution erfolgt häufig kontinuierlich und folgt keinem starren Schema und keiner intrinsischen Ordnung (analog zum Periodensystem der chemischen Elemente). Auch besteht nur eine grobe ­Korrelation zwischen der Lebensweise und Form von Lebewesen.

Über eine grobe Schematisierung und vereinfachende Symmetriebetrachtungen kommt eine an den Formen der Organismen orientierte Systematik kaum hinaus. ◊ Abb. 2 Das fehlende System der organischen Formen ist auch ein Grund dafür, dass Biologen davon abgerückt sind, die Taxonomie der Lebewesen auf Formgesichtspunkten aufzubauen. Die heutige Taxonomie der Biologie hat sich das Ziel gesetzt, die phylogenetischen Beziehungen, also die Genealogie des Lebens abzubilden. Sie bedient sich dazu zwar auch morphologischen Wissens – die Morphologie rückt dabei aber, ebenso wie für die Physiologie, in den Rang einer Hilfswissenschaft: Es sind nicht die Formen als solche, die die Grundlage der Einteilung bilden, sondern die Formen nur insofern, als sie Indizien für die Verwandtschaft der Organismen sind. Das Programm einer Systematik der organischen Formen nach dem Modell des Periodensystems der Elemente ist damit weitgehend aufgegeben.

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9. Formen werden beschrieben. Formen sind kontinuierlich variierende, analoge (nicht digitale) Strukturen, die aus keiner allgemeinen Theorie deduziert werden können. Sie werden in der Bio­ logie in erster Linie beschrieben und rücken selten an die Stelle einer (ultimaten) Erklärung. Die kaum überschaubare Vielfalt organischer Formen bedingt die ausgeprägte deskriptive Tradition der Biologie.

Mit dem bescheidenen Anspruch einer bloßen Beschreibungswissenschaft führt schon Johann Wolfgang von Goethe, auf den der Terminus Morphologie zurückgeht, das Wort ein: Die Morphologie wolle „nur darstellen und nicht erklären“, so schreibt Goethe in seinem Fragment Betrachtung über Morphologie aus der Mitte der 1790er-Jahre.33 Explizit weist Goethe der Morphologie auch die Stellung einer „Hülfswissenschaft der Physiologie“ zu.34 Die Grenze von Beschreibung und Erklärung lässt sich aber nicht in allen Fällen scharf ziehen. In manchen Fällen hängt es vom Kontext ab, ob etwas als Beschreibung oder Erklärung zu werten ist. So kann die spezifische Form eines Makromoleküls einem Chemiker als Beschreibung erscheinen, einem Immunologen aber als Erklärung, weil sie die Wirksamkeit dieses Moleküls als Rezeptor erklärt. Der Verweis auf eine Form kann also auch Teil einer biologischen Erklärung sein. Dies gilt besonders für die in der Biologie verbreitete Form der Erklärung mittels der Angabe eines „Mechanismus“: Die Form eines Herzens ist z. B. Teil der Erklärung für den Mechanismus seiner Wirkungsweise als Blutpumpe; die Form eines Moleküls liefert eine Erklärung für seine Wirkung als Membrantunnel. Die Beschreibungen von Formen können somit unmittelbar Elemente von Erklärungen sein. Primär sind die Formen aber doch Phänomene, Erscheinungen, die einer direkten Beobachtung zugänglich sind, die das betreffen, von dem Hans Driesch behauptet, von ihm könne nur ausgesagt werden, „so ist es“.35 Anders als Funktionen sind Formen in der Biologie in der Regel nicht in inferenzielle Aussagensysteme integriert: Funktionen werden in Hierarchien, Bäumen und Argumentationsketten geordnet, Formen dagegen im Wesentlichen nur nebeneinander gestellt. Daraus folgt unmittelbar: 33 Johann Wolfgang von Goethe: Betrachtung über Morphologie (ca. 1796). In: Die Schriften zur Naturwissenschaft, Bd. I, 10: Aufsätze, Fragmente, Studien zur Morphologie, hg. von Dorothea Kuhn / Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina, Weimar 1964, S. 137-144, hier: S. 140. 34 a. a. O. 35 Hans Driesch 1919 (wie Anm. 1), S. 1.

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Georg Toepfer

10. Formen sind Explananda. Als beschriebene, meist nicht selbst erklärende Elemente biologischer Systeme sind Formen selbst erklärungsbedürftig. Sie können in verschiedenen zeitlichen und sachlichen Dimensionen erklärt werden: entweder proximat (1) als Mittel im Dienste bestimmter physiologischer Funktionen oder (2) als Ergebnis von entwicklungsbiologischen Prozessen oder ultimat (3) als Anpassungen, die in der Vergangenheit selektiert wurden oder (4) als „constraints“, die sich als ­Konsequenz eines Bauplans ergeben.

Schluss: Form als biologischer Terminus?

Aus einer biologischen Perspektive sind diese zehn Thesen nicht sehr gewagt. Sie artikulieren ein systematisches Interesse an dem Zusammenhalt der biologischen Teildisziplinen und betonen dabei die fundamentale Rolle einerseits der Physiologie, oder allgemeiner der Systemtheorie von Organismen, und andererseits der Evolutionstheorie, insbesondere der Selektionstheorie. Die Lehre der organischen Formen hat sich im Verhältnis zu diesen zwei Teildisziplinen zu positionieren. Als Ergebnis dieser Thesen steht ein spezifisch biologischer Begriff der Form. Unterschieden ist dieser Begriff von dem alltäglichen Formbegriff, dem zufolge eine Form die äußere Gestalt eines Gegenstandes darstellt. Biologische Formen sind Systemeigenschaften, die sich aus der Interaktion der Komponenten eines Systems ergeben; sie dienen der Typisierung von Individuen, auch wenn sie für ein Individuum lediglich eine akzidentelle Eigenschaft sein können; sie sind stabile Strukturen, die häufig über sehr lange Zeiträume erhalten bleiben; trotzdem sind sie biologische Variable und bloße Mittel zur Realisierung von Funktionen, an denen die Selektion eigentlich erst angreift; daher sind die organischen Formen unermesslich vielfältig und lassen sich in kein System bringen; sie können also nur beschrieben und nicht ausgehend von einer Theorie in ihrer Vielfalt erklärt werden. Allgemeine konstruktionsmorphologische oder adaptationistische Theorien haben daher ein nur begrenztes Erklärungspotenzial; verständlich werden die organischen Formen nicht durch deduktive, axiomatische Theorien, sondern durch den sukzessiven Nachvollzug des Wegs der Evolution in der Umgestaltung der Organismen.

Stefan Richter und Christian S. Wirkner

Objekte der Morphologie Einführung1

Für viele Biologen ist die Morphologie auf das Beschreiben von Organen, Organsystemen und Organismen beschränkt. Der Begriff Morphologie wird sogar häufig synonym zu den Eigenschaften, die sie als Disziplin untersucht, gesetzt. Wenn die Morphologie auch vom Beschreibenden ihren Ausgang genommen hat, so ist sie doch keineswegs darauf beschränkt. Riedl definiert Morphologie als „die Wissenschaft von den Gestalten, genauer: deren Entschlüsselung. Sie hat damit erkenntnistheoretischen Charakter und schließt den Wechsel analytisch-synthetischer Prozesse ein.“ 2 Der Begriff der Gestalt, wie Riedl ihn gebraucht, geht dabei über das, was im Allgemeinen als Form bezeichnet wird, hinaus, da Gestalt den menschlichen Erkenntnisapparat (d. h. die Fähigkeit der Gestaltwahrnehmung) miteinbezieht. Anders formuliert: Morphologie ist die Wissenschaft von der Form, die fragt, warum Organismen so aussehen, wie sie aussehen, warum Organe und ihre Teile bestimmte Eigenschaften besitzen und auch, warum eine beliebige Kombination von Organen und Körperteilen (wie z. B. in den Kreaturen des Hieronymus Bosch) eben nicht möglich ist. Morphologie ist damit die Disziplin, die nach den Ursachen der Disparität des Lebens fragt, und wird somit zur Erklärungswissenschaft (im Gegensatz zur sehr restriktiven Definition von Ghiselin).3 Dabei ist auch klar, dass Morphologie in der Zeit nach Darwin immer eine Evolutionäre Morphologie darstellt, auch wenn in einigen konkreten Fragestellungen, wie z. B. in der Funktionsmorphologie und Biomechanik der evolutionäre Aspekt eine eher untergeordnete Rolle spielen mag. Wesentliche Elemente der Disziplin lassen sich auf Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832) zurückführen, der nicht nur den Begriff Morphologie prägte, sondern mit seinem frühen Werk zum Zwischenkiefer des Menschen von 1784 ein hervorragendes Beispiel einer vergleichend-morphologischen Arbeit geliefert hat.4 In seinem

1 Wir danken allen Mitgliedern der AG Evolutionäre Morphologie der Abt. A&S Zoologie der Universität Rostock sowie H.-J. Wendel, O. Engler (Zentrum für Logik, Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsgeschichte Uni Rostock), N.U. Szucsich (Universität Wien) und G. Scholtz (HU Berlin) für kritische Diskussion des Manuskripts. 2 Rupert Riedl: Strukturen der Komplexität: eine Morphologie des Erkennens und Erklärens, Berlin/ Heidelberg 2000. 3 Michael T. Ghiselin: The failure of morphology to assimilate Darwinism. In: Ernst Mayr und William B. Provine: The evolutionary synthesis: perspectives on the unification of biology, Cambridge, Mass. 1980, S. 180–193. Ders.: The failure of morphology to contribute to the modern synthesis. In: Theory in Biosciences 124, 2006, 3–4, S. 309–316. 4 Johann Wolfgang Goethe: Beschreibung des Zwischenkieferknochens mehrerer Tiere bezüglich auf die beliebte Einteilung und Terminologie (1784). In: Dorothea Kuhn: Johann Wolfgang Goethe, Schriften zur Morphologie, Frankfurt a. M. S. 25–42.

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1: Aufgaben und Sub-Disziplinen einer umfassend verstandenen Morphologie.

Ersten Entwurf einer allgemeinen Einleitung in die vergleichende Anatomie, ausgehend von der Osteologie beschreibt er 1795 die Vorgehensweise der Morphologie: „Die Erfahrung muss uns vorerst die Teile lehren, die allen Tieren gemein sind, und worin diese Teile verschieden sind. Die Idee muss über dem Ganzen walten und auf eine genetische [wohl im Sinne von ursächliche] Weise das allgemeine Bild abziehen. […] Indem wir jenen Typus aufstellen und als eine allgemeine Norm, wonach wir die Knochen der sämtlichen Säugetiere zu beschreiben und zu beurteilen ­denken, setzen wir in der Natur eine gewisse Konsequenz voraus, wir trauen ihr zu, dass sie in allen einzelnen Fällen nach einer gewissen Regel verfahren werde.“ 5

5 Johann Wolfgang Goethe: Erster Entwurf einer allgemeinen Einleitung in die vergleichende Anatomie, ausgehend von der Osteologie (1795). In: Dorothea Kuhn: Johann Wolfgang Goethe, Schriften zur Morphologie, Frankfurt a.M. S. 227–262, hier: S. 230, S. 244.

Objekte der Morphologie

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Vier Begriffe sind bei dem Verständnis von Goethes Text entscheidend. Erfahrung, Idee, Typus und Regel. Der Begriff der Erfahrung ist am einfachsten zu interpretieren. Morphologie ist eine empirische Wissenschaft, die von der genauen Untersuchung von Objekten lebt. Organe und ihre Teile sind dabei nach zwischen den Arten übereinstimmenden und nicht übereinstimmenden Elementen zu unterscheiden. Idee und Typus haben als Begriffe bis heute überdauert, allerdings im evolutionsbiologischen Kontext in der Regel mit negativer Konnotation (insbesondere im Zusammenhang einer Idealistischen Morphologie). Dabei macht der Begriff der Regel deutlich, dass Goethe die Begriffe nicht in einem transzendenten Sinne, etwa als Platonische Idee, gebraucht, sondern Idee eher im Sinne eines Naturgesetzes verstand. Goethe war an einer naturgesetzlichen Erklärung der Gleichheit interessiert, die er mit dem Begriff der Metamorphose umschrieb.6 Einige Jahrzehnte nach Goethe ist es dann das Verdienst Charles Darwins, der Gleichheit von Organen (als Homologie im Sinne Owens)7 dann ein das für viele entscheidende, erklärende Element zugefügt zu haben: Descent with modification.8 Diese Erklärungsebene ist aber eine ganz andere als die, die Goethe in einem Naturgesetz gesucht hat. Eine Naturgesetzlichkeit, wie sie Goethe suchte, findet heute am ehesten ihre Entsprechung in den Mechanismen der Entwicklungsgenetik, die eben neben der Darwinschen Evolutionstheorie, auf ganz anderer Ebene, eine Erklärung für Übereinstimmung und Unterschiede von lebenden Organismen liefert.9 Im Folgenden wird Morphologie als Disziplin mit folgenden Hauptaufgaben gefasst: Beschreibung, Vergleich und Erklärung der Eigenschaften von Objekten des Phänotyps, d. h. von Organsystemen, Organen und ihren Teilen. ◊ Abb. 1 Die Deskriptive Morphologie stellt dabei das Fundament für weitere Betrachtungen dar. Ihre Objekte sollen als Morpheme bezeichnet werden (ein Begriff, der mit dieser Arbeit eingeführt werden soll). Wechsel der Perspektive, weg von der reinen Beschreibung, finden sowohl in der Funktionellen Morphologie statt, in der Funktionseinheiten konzeptualisiert werden, als auch in der Vergleichenden Morphologie und Kohären6 Olaf Breidbach: Goethes Naturverständnis,. München 2011. 7 Richard Owen und William W. Cooper: Lectures on the comparative anatomy and physiology of the invertebrate animals: delivered at the Royal college of surgeons, in 1843, London 1843. 8 Charles Darwin: On the Origin of Species by Means of Natural Selection: or, The Preservation of Favoured Races in the Struggle for Life, London 1859. 9 Sean B. Carroll: Endless Forms Most Beautiful: The New Science of Evo devo and the Making of the Animal Kingdom, New York/London 2005; Marc W. Kirschner, John C. Gerhart und Monika Niehaus: Die Lösung von Darwins Dilemma: Wie die Evolution komplexes Leben schafft, Reinbek bei Hamburg 2007.

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zmorphologie mit ihrem Fokus auf Evolutionseinheiten. Obwohl sich alle Begriffe auf empirisch erfassbare, teilweise deckungsgleiche Objekte beziehen, unterscheiden sie sich doch durch die Perspektive. In der praktischen Arbeit des Morphologen mögen die unterschiedlichen Perspektiven nicht getrennt wahrgenommen werden. Ihre Trennung erscheint uns aber hier, für die Konzeption einer Evolutionären Morphologie, notwendig. Das soll im Folgenden ausgeführt werden. Deskriptive Morphologie

Beschreibungen der Morphologie beziehen sich zunächst auf einen einzelnen Organismus; im Sinne eine Prüfung der Möglichkeit einer Verallgemeinerung (vorrangig auf der Ebene der Art) werden auch mehrere Organismen untersucht. Damit wird die Feststellung von Variabilität nicht ausgeschlossen. Im Gegenteil, diese erweist sich ja erst im Vergleich von Beschreibungen unterschiedlicher Organismen. Grundsätzlich stellen nun alle Organismen Einheiten dar, deren Unterteilung (zumindest teilweise) auch mehr oder weniger willkürlich geschieht.10 So werden Organsysteme bzw. Organe und deren Teile unterschieden und in vielen Fällen stellen diese tatsächlich klar abgegliederte Einheiten dar (z. B. die einzelnen Knochen eines Wirbeltierskeletts). In anderen Fällen werden die Grenzen zunächst vom Betrachter gesetzt, man denke z. B. an das Wirbeltierherz, das ja Bestandteil eines eigentlich zusammenhängenden Kreislaufsystems darstellt, direkt verbunden mit Arterien und Venen; eine phänotypische Abgrenzung gelingt vielleicht am ehesten durch die Herzklappen. Gerade beim Herzen scheint auch eine funktionelle Abgrenzung als Pumporgan (im Sinne von Toepfer) auf der Hand zu liegen.11 Ebenso denkbar ist eine evolutionäre Abgrenzung (z. B. im Vergleich zum fehlenden Herzen beim Lanzettfischchen; dann aber wohl nur der Bereich vor dem Sinus venosus). Deutlich wird aber, dass die beiden letztgenannten möglichen Abgrenzungen – Funktion und Evolution – deutlich über das, was eine reine Beschreibung leisten kann, hinausgehen. Vielfach sind diese Ebenen auch noch gar nicht erschlossen. Es bleibt also einzig die phänotypische Abgrenzung von Elementen (Gegenständen) des Organismus, auch, und das sei hier nochmal betont, ohne Bezug auf die Funktion.12 10 Pieter Dullemeijer: Concepts and approaches in animal morphology, Assen 1974; Bruce A. Young: On the necessity of an archetypal concept in morphology – with special reference to the concepts of structure and homology. In: Biology & Philosophy 8, 1993, 2, S. 225–248. 11 Georg Toepfer: Teleologie. In: Ulrich Krohs und Georg Toepfer: Philosophie der Biologie: Eine Einführung, Frankfurt a. M. 2005, S. 36–52. 12 Siehe auch Dullemeijer (s. Anm. 10), Young (s. Anm. 10) sowie Gerhard Scholtz: Deconstructing morphology. In: Acta Zoologica 91, 2010, 1, S. 44–63.

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Young beschreibt vier verschiedene Formen der Abgrenzung von solchen Elementen, die für eine erste Ordnung sinnvoll erscheinen: 1) voneinander getrennte Elemente, die sich zudem inhärent, z. B. durch die zelluläre Struktur, von anderen Elementen unterscheiden, also etwa Leber, Milz, Galle, Bauchspeicheldrüse der Säugetiere; 2) bei übereinstimmender struktureller Zusammensetzung, deutlich voneinander getrennte Elemente, z. B. die Knochen der Hand eines Wirbeltieres; 3) in im Grunde einheitlichen Organen, aufgrund ihrer zellulären Struktur getrennte, also inhärent zu unterscheidende, Elemente, z. B. die Grenzen zwischen ektodermalem Enddarm und mesodermalem Mitteldarm bei Insekten; 4) Elemente einheitlicher Organe/Organsysteme ohne Abgrenzungen auf zellulärem Niveau, die ausschließlich aufgrund ihrer Lagebeziehung zueinander identifiziert werden können, also ausschließlich durch den Betrachter, z. B. die meisten Elemente des Kreislauf- oder Nervensystems der Arthropoden.13 Bei der letzten Kategorie ist die Abgrenzung solcher Elemente natürlich besonders schwierig. Wie werden nun solche Objekte der Beschreibung benannt? Der Begriff Merkmal ist umgangssprachlich sicherlich treffend, da solche Einheiten ja „bemerkt“ werden,14 die Begriffsbedeutung ist aber sehr vielfältig15 und im Rahmen der Phylogenetik immer als Evolutionseinheit gekennzeichnet. Er sollte also bei der reinen Beschreibung vermieden werden. Ein eingängiger Begriff wäre Struktur, wobei bedacht werden muss, dass der Begriff Struktur auch einen anderen Aspekt, den der Komposition (insbesondere bei den Begriffen Fein- oder Ultrastruktur), beinhaltet, Strukturen also Struktur besitzen; aufgrund der Doppeldeutigkeit sollte der Begriff daher (nach Dullemeijer und Young) ebenfalls vermieden werden. Ein relativ neutraler Begriff für diese Einheiten wäre morphologisches Element (morphological element),16 welches dann aber besser phänotypisches Element genannt werden sollte. Da es hier um eine eindeutige Begriffsklärung und Abgrenzung geht, wird ein neuer Begriff für diese Einheiten vorgeschlagen, nämlich Morphem in Anlehnung an dessen Gebrauch in der Linguistik. Während dort Morpheme aber klar als kleinste, Bedeutung tragende Einheiten bezeichnet werden,17 sollen Beschreibungen in 13 Young (s. Anm. 10). 14 Walter Sudhaus, Klaus Rehfeld: Einführung in die Phylogenetik und Systematik, Jena 1992. 15 Günter P. Wagner: The Character Concept in Evolutionary Biology, New Haven 2001, sowie darin der Beitrag von Olivier C. Rieppel: Preformationist and epigenetic biases in the history of the morphological character concept, S. 57–75. 16 Im Sinne von Dullemeijer (s. Anm. 10) und Young (s. Anm. 10). 17 Siehe dazu etwa Christine Römer: Morphologie der deutschen Sprache, Tübingen 2006. Vgl. auch den Beitrag von Zeige im vorliegenden Band.

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der Morphologie ja zunächst theorieneutral erfolgen – also insbesondere ohne Bezug auf Funktion oder Evolution (also einer Bedeutung im weiteren Sinne). Dennoch handelt es sich bei den von Young charakterisierten Elementen um kleinste erkennbare oder trennbare Einheiten, die sich allerdings in Abhängigkeit von der Betrachtungsebene (eigentlich 2: Verschiedene Bedeutungsebenen des Begriffs Form. Abbildung verändert nach Ax (1999) und Whitenack (2008). die Ebene der Fragestellung der Deskriptiven Morphologie) meist, aber nicht zwingend aus den Untersuchungsmethoden (z. B. Lichtmikroskopie vs. Elektronenmikroskopie) ergeben. So kann die Beschreibung eines bestimmten Knochens auf makroskopischer Ebene erfolgen, aber auch auf zellulärer mit der Identifizierung von Knochenbälkchen. Dass damit die Einheiten der Beschreibung (d. h. die Morpheme) in Abhängigkeit von der Betrachtungsebene unterschiedliche sind, ist unvermeidbar und hat der Beschreibung von Gegenständen in der Biologie in den letzten Jahrhunderten nicht im Wege gestanden. Eine Beschreibung ohne weitergehende Fragestellung ist durchaus denkbar, dürfte aber kaum vorkommen, so werden in der Funktionsmorphologie Funktionseinheiten (nach Dullemeijer) und in der Vergleichenden Morphologie Evolutionseinheiten konzeptualisiert. Die Ebene der Morpheme, d. h. der Beschreibung, sollte jedoch von den verschiedenen Interpretationsebenen, d. h. insbesondere funktionellen und evolutiven, getrennt bleiben. Das, was an den Morphemen beschrieben werden kann, soll hier allgemein als Form ◊ Abb. 2 bezeichnet werden.18 Form beinhaltet dabei nicht nur den äußeren Umriss (shape, z. B. rund, dreieckig bzw. ballförmig, pyramidenartig, also all das, was in der Morphometrie untersucht wird),19 sondern auch die Komposition (Struktur i.e.S.), also die spezifische Zusammensetzung, z. B. auf der Ebene der Gewebe oder der Zellen. Hierzu gehört dann konsequenterweise auch die Art des Materials (z. B. bei Kalkschalen von Mollusken oder Foraminiferen, Knorpel oder Knochen etc.). Schlussendlich gehören alle nicht-prozessualen Eigenschaften, die ein Morphem kennzeichnen, zu seiner Form.

18 Walter J. Bock, Gerd von Wahlert: Adaptation and the Form-Function Complex. In: Evolution 19, 1965, S. 269–299. Vgl. auch Dullemeijer (s. Anm. 10) und Scholtz (s. Anm. 12). 19 Miriam L. Zelditch, Donald L. Swiderski, H. David Sheets und William L. Fink: Geometric Morphometrics for Biologists: A Primer, London/San Diego, Cal. 2004.

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Funktionsmorphologie

An dieser Stelle ist es nun nötig, auf die Beziehung von Form und Funktion einzugehen. Dabei sind insbesondere drei von Bock und von Wahlert etablierte und definierte Begriffe immer noch von besonderem Interesse: Funktion, Vermögen (faculty) und Biolo- 3: Zwei verschiedene Scherenformen bei Skorpionen. Verändert gische Rolle.20 Die Trennung dieser nach Snodgrass (1952). Links: Schlanke Scheren eines buthiden Skorpions; rechts: Massive Schere eines scorpionoiden Skorpions. Begrifflichkeiten erscheint auch für ein Verständnis von evolutiven Merkmals­ transformationen sehr hilfreich.21 Als Funktion werden all diejenigen Prozesse bezeichnet, die sich direkt aus der Form ableiten lassen, also z. B. aus Materialeigenschaften und Anordnung von Elementen,22 ohne Bezug zur Umwelt des Organismus zu nehmen. Das Vermögen eines Morphems stellt dann die Kombination von Form und Funktion dar. Mit Bock und von Wahlert lässt sich feststellen, dass es damit keine funktionslosen Morpheme geben kann. Unterschiedliche Form (die immer die Summe aller Eigenschaften umfasst, s. o.) bedingt dann natürlich unterschiedliche Funktionen, und damit ergeben sich natürlich auch unterschiedliche Kombinationen, also unterschiedliches Vermögen eines Morphems. Als Biologische Rolle wird die tatsächliche Anwendung des Vermögens (ihr Gebrauch) in der natürlichen Umwelt bezeichnet; hier zeigt es sich aber, dass eine Biologische Rolle oft nur in Kombination verschiedener Morpheme verwirklicht werden kann. Ein Beispiel soll dieses erläutern: Die Schere an der Spitze des Pedipalpus eines Skorpions wird aus zwei Morphemen gebildet, aus der Tibia, die den unbeweglichen Finger formt, und dem Tarsus, dem beweglichen Finger. Man mag dem beweglichen Endglied auch eine Art von Funktion zuordnen (so das Gegen-denfixen-Finger-bewegt-Werden), aber erst die Kombination beider Teile erlaubt das Festhalten, die „Funktion im eigentlichen Sinne“. Erst diese Morpheme gemeinsam können dann als Funktionseinheit auch eine Biologische Rolle übernehmen 20 Siehe auch Walter Verraes: Theoretical discussion on some functional-morphological terms and some general reflexions on Explanations in Biology. In: Acta Biotheoretica 30, 1981, 4, S. 255–273. 21 Gegen Peter McLaughlin: Funktion. In: Ulrich Krohs und Georg Toepfer: Philosophie der Biologie: Eine Einführung, Frankfurt a. M. 2005, S. 19–35; vgl. Scholtz (s. Anm. 12). 22 Bock, von Wahlert (s. Anm. 18).

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(genaugenommen gehören hierzu auch die Muskulatur und die Innervierung der Scheren). Die Schere hat bei den verschiedenen Arten ein ganz unterschiedliches Vermögen (Form-Funktion), so als „schlanke Schere als Greifwerkzeug optimiert für Geschwindigkeit“ oder „robuste Schere zum Zermalmen optimiert für maximale Kraft“.23 ◊ Abb. 3 Als Biologische Rolle sind zunächst Fang und Manipulation von ganz unterschiedlichen Beuteorganismen zu nennen, die die jeweils unterschiedlichen Biologischen Rollen bedingen. Die Scheren haben interessanterweise auch noch eine weitere Biologische Rolle, das Dirigieren des Weibchens beim Paarungstanz, der Proménade à deux.24 Bei einigen Skorpionen gibt es sogar einen Sexualdimorphismus der Scheren, der den Männchen das Festhalten der Weibchen besser ermöglicht. Der Selektionsvorteil kommt nun beim Zusammenspiel zwischen Biologischer Rolle und Umwelt ins Spiel. Das Entscheidende ist, dass die Biologische Rolle nur in einer bestimmten Umwelt ausgefüllt werden kann. Anders formuliert, in einer Population mögen diejenigen Organismen eine größere Fitness besitzen, die eine bestimmte Biologische Rolle besser erfüllen (der Einfachheit halber gehen wir hier von Einzelstrukturen und nicht dem gesamten Organismus aus). Das Beispiel der Pedipalpenschere der Skorpione zeigt, dass sowohl natürliche Selektion wie auch sexuelle Selektion eine Rolle spielen können, da wie erwähnt zwei Biologische Rollen ausgefüllt werden. Vergleicht man die Scheren untereinander, erscheint es aber wahrscheinlich, dass die Manipulation der Beute hier die entscheidende (Biologische) Rolle spielt.25 Damit wird deutlich, dass beim Prozess der Anpassung die Biologische Rolle in einer bestimmten Umwelt (die hier durch die unterschiedlichen Beuteorganismen definiert wird) optimiert wird, dieses kann aber nur durch Veränderungen des Vermögens, also des Form-Funktion-Komplexes geschehen. Während also das Vermögen eines Morphems damit explizit keinen Bezug zur Umwelt des Tieres aufweist, muss diese zum Erkennen der Biologischen Rolle unbedingt einbezogen werden.26 Dieses fällt natürlich bei nur fossil überlieferten Arten besonders schwer. Die biomechanischen Untersuchungen zur offenbar beachtlichen Beißkraft des Tyrannosaurus erlauben zwar relativ gute Aussagen über die

23 Arie van der Meijden, Anthony Herrel, Adam Summers: Comparison of chela size and pincer force in scorpions; getting a first grip. In: Journal of Zoology 280, 2010, 4, S. 319–325. 24 Gary A. Polis, W. David Sissom: Life history. In: Gary A. Polis: The Biology of Scorpions, Stanford, Cal. 1990. 25 Van der Meijden u.a. (s. Anm. 23). 26 Bock, von Wahlert (s. Anm. 18).

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Funktion des Tyrannosaurus-Gebisses, 27 die Biologische Rolle kann dennoch nur erschlossen oder plausibel gemacht werden. So ist es weiterhin gut möglich, dass Tyrannosaurus ein Aasfresser war, dessen Gebiss lediglich das Aufbrechen toter Tiere als Biologische Rolle besaß (wie dies auch vorrangig bei Streifen- und SchabrackenHyänen der Fall ist).28 Die Kenntnis der Form ist, wie oben angeführt, die Aufgabe einer Deskriptiven Morphologie. Alle Überlegungen und experimentellen Untersuchungen, die aus der Form die Funktion ableiten, wären dann dem Gebiet der Funktionsmorphologie zuzuordnen.29 Da Form und Funktion nun aber auch für das Verständnis der Biologischen Rolle notwendig sind (wenn auch nicht hinreichend), wird auch die Funktionsmorphologie zum notwendigen Bestandteil einer Evolutionären Morphologie. Mit abnehmendem Fokus der Fragestellung auf die Biologische Rolle, die durch ein bestimmtes Vermögen ermöglicht wird, und mit zunehmendem Interesse an dem Vermögen an sich, geht die Funktionsmorphologie in die Physiologie mit erweiterten Fragestellungen über. Ein direkt aus der Funktionsmorphologie abgeleitetes und sehr erfolgreiches Gebiet ist das der Bionik. Durch Kenntnis organismischer Form und Funktion werden Vermögen imitiert, die gerade dadurch gekennzeichnet sind, dass sie keinen Bezug zu einer Biologischen Rolle zeigen. Natürlich können Maschinen (Artefakte) ohnehin keine Biologische Rolle ausfüllen, aber auch die „Rollen“, die spezifische Artefakte übernehmen sollen, weichen – trotz vergleichbarer Funktion – von den Biologischen Rollen ihrer Vorbilder ab. Beispiele sind der Lotuseffekt30 und die Verwendung von Kletterrobotern, z. B. zur Rohreinigung.31

27 Gregory M. Erickson, Samuel D. Van Kirk, Jinntung Su, Marc E. Levenston, William E. Caler und Dennis A. Carter: Bite-force estimation for Tyrannosaurus rex from tooth-marked bones. In: Nature 382, 1996, S. 706–708. Mason B. Meers: Maximum bite force and prey size of Tyrannosaurus rex and their relationships to the inference of feeding behaviour. In: Historical Biology 16, 2002, S. 1–12. 28 Wie Graeme D. Ruxton, David C. Houston: Could Tyrannosaurus rex have been a scavenger rather than a predator? An energetics approach. In: Proceedings of the Royal Society of London.Series B: Biological Sciences 270, 1516, 2003, S. 731–733) aus einer Rekonstruktion des Ökosystems, in dem Tyrannosaurus rex lebte, schließen. 29 Dullemeijer (s. Anm. 10). 30 Wilhelm Barthlott, Christoph Neinhuis: Purity of the sacred lotus, or escape from contamination in biological surfaces. In: Planta 202, 1997, 1, S. 1–8. 31 Vgl. Manuela Schmidt, Karin E. Lilje, Martin S. Fischer: Walking and climbing on small branches: convergent solutions in chameleons, marsupials, and primates. In: American Journal of Physical Anthropology 135, 2008, S. 186, und Jörg Mämpel u. a.: InspiRat – Technical Biology: How to analyse vertebrate climbing. In: Proceedings of the 53rd Internationales Wissenschaftliches Kolloquium – Prospects in mechanical engineering, 2008, S. 45–46.

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Vergleichende Morphologie

Die Vergleichende Morphologie hat ihre Zielsetzung im Vergleich zwischen Organismen verschiedener Arten (die endlose Debatte um den Artbegriff soll an dieser Stelle außer Acht gelassen werden). Damit kommt ein evolutiver Aspekt automatisch mit ins Spiel, sind doch alle Arten durch das „unsichtbare Band gemeinsamer Abstammung“ 32 miteinander verbunden. Ein entscheidender Aspekt ist daher der der „Homologie“, wenn auch das Vergleichen über die Homologiefrage hinausgehen mag (wie weiter unten anhand der Analogienforschung ausgeführt werden wird). Homologie, also Gleichheit (sameness) letztlich beruhend auf gemeinsamer Abstammung, besteht zwischen Organen oder deren Teilen, damit also auch zwischen Morphemen? Hier ergibt sich eine Schwierigkeit. Obwohl eventuell tatsächlich dieselben Gegenstände betrachtet werden, müssen unterschiedliche theoretische Perspektiven berücksichtigt werden. Wie ausgeführt, stellen Morpheme die Einheiten der Beschreibung dar, und zwar gerade ohne Bezug auf die Evolution. Für diese Evolutionseinheiten wird vielfach der Begriff Merkmal (character)33 verwendet (im Rahmen der phylogenetischen Systematik oft auch Merk­mals­ zustand).34 Lewontin sieht in den Merkmalen die „quasi independent units of evolution“.35 Nach Hennig werden einzelne Merkmale einer (evolutiven) Transformationserie zugeordnet.36 Diese Transformationsserien sind aber an einem Individuum gar nicht zu beobachten, sondern stellen historische (d. h. evolutive) Ereignisse dar, die zu erschließen sind. Die Existenz von Merkmalen als Evolutionseinheiten in Abgrenzung zum Begriff Morphem, unabhängig von der Frage unseres Erkennens, folgt bereits aus der Evolutionstheorie. Ein Merkmal kann dabei einem Morphem entsprechen (d. h., dasselbe Objekt kann als Morphem beschrieben und als Merkmal erkannt werden), aber auch einer Gruppe von Morphemen (z. B., wenn diese eine Funktionseinheit bilden, wie bei der Schere der Skorpione) entsprechen oder auch nur Teil eines Morphems sein. Evolutionseinheiten müssen also als solche „erkannt“, d. h. konzeptualisiert, werden.37 Eine Konzeptualisierung von Evolutionseinheiten kann aber eigentlich nur ein mehrstufiger Prozess sein, da eine Konzeptualisierung ja eigentlich die Kenntnis des Evolutionsgeschehens (d. h. der spezifischen Transfor32 33 34 35 36 37

Darwin (s. Anm. 8). Siehe z. B. die Beiträge in Wagner (s. Anm. 15). Olivier Rieppel: Einführung in die computergestützte Kladistik, München 1999. Richard C. Lewontin: Adaptation. In: Scientific American 239, 1978, 3, S. 156–169. Willi Hennig: Phylogenetic systematics, Urbana, Ill. 1966. Christian S. Wirkner, Stefan Richter: Evolutionary morphology of the circulatory system in Peracarida (Malacostraca; Crustacea). In: Cladistics 26, 2010, 2, S. 143–167.

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mationsreihen) schon voraussetzen würde. Eine Evolutionseinheit ist damit zunächst eine Hypothese. In einigen Fällen erscheint es offensichtlich, dass Morpheme keine Evolutionseinheiten darstellen, z. B. bei Fällen phänotypischer Plastizität (also fehlender genetischer Fixierung) von Morphemen. Für das Kreislaufsystem des Marmorkrebses (ein ausschließlich sich parthenogenetisch fortpflanzender Flusskrebs, dessen Individuen allesamt genetisch identisch sind)38 lassen sich eine Reihe von arteriellen Verzweigungen beschreiben, die offensichtlich nicht genetisch fixiert sind und damit keine Evolutionseinheiten darstellen können, obwohl es ohne Zweifel möglich ist, sie als einzelne Morpheme zu identifizieren. Hier muss sich die Konzeptualisierung auf die für den Marmorkrebs konstanten Muster beschränken. Ein etwas anders gelagertes Beispiel kann am Schlammfisch Amia calva geschildert werden. Hier nehmen bei verschiedenen Individuen die Deckknochen Nasenbein (Nasale) und Stirnbein (Frontale) eine vergleichbare Fläche ein, die genauen Umrisse der Einzelknochen unterscheiden sich aber.39 Die Umrisse der einzelnen Deckknochen dürften daher keinesfalls als eigenständige Merkmale identifiziert werden, sondern die Gesamtanordnung mag ein einziges Merkmal darstellen. Ein Blick auf die Vielfalt phylogenetischer Analysen zeigt zudem, dass im Falle von Bilateralsymmetrie Merkmale stets für die rechte und linke Seite gemeinsam konzeptualisiert werden, z. B. bei den Vorderextremitäten der Säugetiere, obwohl rechte und linke Hand sich sicherlich als zwei, nicht einmal identische, da spiegelsymmetrische, Morpheme beschreiben lassen. Ausnahmen bilden die Analysen, wo offensichtliche Asymmetrien eine Rolle spielen. In den Fällen, wo solche vorab Entscheidungen nicht eindeutig erscheinen, schlagen wir vor, für die phylogenetische Analyse Evolutionseinheiten zu fassen, die den Morphemen der Beschreibung entsprechen. Erscheinen bestimmte Merkmale unterschiedlicher Trans­for­ma­tions­serien stets in einem übereinstimmenden Muster (gemeinsames Auftreten an bestimmten Knotenpunkten, also evolutiven Verzweigungen), so kann ihre evolutive Unabhängigkeit (also die getrennte Konzeptualisierung) in Frage gestellt werden. ◊ Abb. 4

38 Peer Martin, Klaus Kohlmann, Gerhard Scholtz: The parthenogenetic Marmorkrebs (marbled crayfish) produces genetically uniform offspring. In: Naturwissenschaften 94, 2007, S. 843–846. 39 Lance Grande, William E. Bemis: A comprehensive phylogenetic study of amid fishes (Amiidae) based on comparative skeletae anatomy: an empirical search for interconnected patterns of natural history. In: Society of Vertebrate Paleontology 1998, S. 1–700; siehe auch Kurt Schwenk: Functional units and their evolution. In: Wagner (s. Anm. 15), S. 165–198.

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Kohärenzmorphologie

Die Untersuchung von Kohärenz, die zwischen den Elementen des strukturellen und/oder funktionellen Netzwerks eines Organismus bestehen und die entweder genetisch (und epigenetisch) verankert oder 4: Merkmalskohärenz. Wenn für drei Merkmale a, b und c historisch bzw. architektonisch bedingt sein Transformationen am selben Knotenpunkt im Stammbaum kann, wurde von uns als Kohärenzmoran­ge­nommen werden müssen, ist dies ein Indiz für kohärente phologie bezeichnet.40 Kohärenz bezeichEvolution. net damit das nicht-zufällige gemeinsame Auftreten bestimmter Morpheme, welches aber durch ganz unterschiedliche Mechanismen bedingt sein kann. Die Fragestellungen sind bekannt und z. T. auch bereits detailliert ausgeführt worden.41 Einen Ausgangspunkt für unsere Überlegungen liefern Gould und Lewontin mit ihrer Kritik an einer rein auf Anpassung von Einzelstrukturen gerichteten Zielsetzung der Evolutionsbiologie.42 Ihr berühmtes Beispiel, aus der Architektur übernommen, sind die Gewölbezwickel zwischen den Bögen des Markusdoms. ◊ Abb. 5 Obwohl man den Eindruck haben könnte, dass diese extra vom Architekten geplant wurden, um entsprechend verziert werden zu können, stellt jeder Gewölbezwickel lediglich die notwendige Verbindung zweier Rundbögen dar. Hier besteht also eine Kohärenz in der Ausbildung der beiden benachbarten Bögen und des Zwickels. Nach unseren bisherigen Ausführungen dürfte die Existenz des Gewölbezwickels (wäre er denn ein biologisches Objekt) gar nicht als eigenständiges Merkmal konzeptualisiert werden, da sein Umriss durch die der benachbarten Bögen bedingt ist. Das Merkmal (neomorphic character)43 stellt die Gesamtheit von zwei Bögen und einem Zwickel

40 Stefan Richter: Aufgaben einer Evolutionären Morphologie im 21. Jahrhundert. In: Johann W. Wägele: Höhepunkte der zoologischen Forschung im deutschen Sprachraum. Festschrift zur 100. Jahresversammlung der Deutschen Zoologischen Gesellschaft in Köln vom 21. bis 24. September 2007, Marburg 2007, S. 49–57. 41 Z. B. bei Dullemeijer (s. Anm. 10), Riedl (s. Anm. 2), George V. Lauder: Form and Function – Structural Analysis in Evolutionary Morphology. Paleobiology 7, 1981, 4, S. 430–442; Functional morphology and systematics – Studying functional patterns in a historical context. Annual Review of Ecology and Systematics 21, 1990, S. 317–340) und Schwenk (s. Anm. 39). 42 Stephen Jay Gould, Richard C. Lewontin: Spandrels of San-Marco and the Panglossian paradigm – A critique of the adaptationist programme. Proceedings of the Royal Society of London Series B – Biological Sciences 205, 1161, 1979, S. 581–598. 43 Im Sinne von Paul C. Sereno: Logical basis for morphological characters in phylogenetics. In: Cladistics 23, 2007, S. 565–587.

Objekte der Morphologie

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dar. Die Kohärenz besteht in diesem Fall also nicht zwischen Merkmalen (mit zumindest potenziell eigenem Anpassungswert), sondern zwischen Morphemen! Das bereits beschriebene Beispiel der Schädelknochen von Amia calva fällt in diese Kategorie. Eine solche Kohärenzanalyse müsste allerdings eigentlich schon in den Prozess der Merkmalskonzeptalisierung eingehen. Dieses Dilemma kann nur dadurch aufgelöst werden, dass morphologische Analysen als Zyklen angesehen werden. Merkmale stellen bereits Hypothesen dar! Die Aufklärung solcher Kohärenz zwischen 5: Gewölbezwickel in der Basilika San Marco in Venedig. Morphemen ist damit eine wichtige Aufgabe der Morphologie. Nach Gould und Lewontin besteht ein Organismus nun auch nicht nur aus Einzelmerkmalen (jedes mit einem isolierten Anpassungswert, wie bei der Besprechung der Evolutionseinheiten diskutiert), sondern stellt eine Einheit dar. Neben der Kohärenz von Morphemen gibt es also durchaus auch eine Kohärenz von Merkmalen, d. h. trotz grundsätzlicher unabhängiger Evolvierbarkeit bestehen Abhängigkeiten. Die Kenntnis dieser Einschränkungen ist für ein Verständnis von Merkmalstransformationen wichtig, da sie eben nicht allein durch Anpassung, phylogenetische Bürde oder Materialzwänge erklärt werden können.44 Hier ist zunächst an die Korrelationen zwischen Organsystemen zu denken. Dullemeijer nennt z. B. bei Vögeln die Augengröße, die sicherlich auch einen Einfluss auf die Ausbildung der Orbita, aber teilweise auch auf Gehirngröße und Schnabelform hat. Gerade im Bereich der Wirbeltiere gibt es hier eine Vielzahl von Beispielen, und die Identifikation solcher evolutionary stable configurations (ESCs)45 ist das Ziel vieler funktionsmorphologischer Untersuchungen gewesen. Dass diese Merkmalskomplexe keine 44 Adolf Seilacher: Arbeitskonzept zur Konstruktions-Morphologie. In: Lethaia 3, 1970, 4, S. 393–396. 45 Günter P. Wagner, Kurt Schwenk: Evolutionary stabile configurations: Functional integration and the evolution of phenotypic stability. In: Max K. Hecht, Ross J. MacIntyre, Michael T. Clegg: Evolutionary Biology, New York 2000, S. 155–217. Vgl. Schwenk (s. Anm. 39) für weitere Zitate.

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Merkmale (als Evolutionseinheiten) darstellen, ist 2001 von Schwenk ausführlich ausgeführt worden. Merkmale in Merkmalskomplexen sind grundsätzlich voneinander unabhängig evolvierbar, aber eben nicht nach Belieben. Merkmalskohärenz tritt auch auf, wenn gleichgerichtete Selektionskräfte auf verschiedene Merkmale gleichermaßen wirken, die z. B. zu Anpassungen an spezifische Lebensräume, wie das Sandlückensystem (Interstitial) der Meeresstrände, führen. Gleichgerichtete Anpassungen bringen hier spezifische Lebensformtypen hervor, die auch in spezifischen Details übereinstimmen mögen.46 Die Analogienforschung – Analogien sind Übereinstimmungen von Merkmalen, die nicht auf gemeinsamer Abstammung beruhen – kann hier Beiträge liefern, da die übereinstimmende Kombination von verschiedenen Merkmalen bei verschiedenen Arten (häufig ganz unterschiedlicher Taxa) auf die Kohärenz (bedingt durch vergleichbare Selektionsdrücke) dieser Merkmale schließen lässt. Das Auftreten analoger Merkmale ist insbesondere für eine Kausale Morphologie von Interesse, da sich plausiblerweise gleiche oder ähnliche Erklärungen (auf den unterschiedlichen Ebenen) für die analogen Strukturen annehmen lassen, also ein Analogieschluss (!) vorgenommen werden kann.

46 Reinhard Rieger, Seth Tyler: Das Homologietheorem in der Ultrastrukturforschung. In: Jörg A.Ott, Günter P. Wagner, Franz M. Wuketits: Evolution, Ordnung und Erkenntnis, Hamburg/Berlin 1985, S. 21–36.

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Raking fallen leaves in the tiny rectangle that qualifies as a garden in New York City, I found a dead sparrow. Bending to look closer, and following the same impulse as any three year old, I picked it up. It was still warm and its head flopped and nodded with the slightest movement. When I touched the trace of blood near its head my finger came away wet. With the little body cradled in my palm, I spread its wings to observe the delicate feathers. I examined its perfect claws, gently opened its beak, and took it indoors where, under a bright light and a magnifying glass, I continued turning it about. Then I photographed and scanned it at high resolution, shrouded it in plastic wrap and put it in my freezer. One never knows when a dead sparrow will come in handy. ◊ Fig. 1 During the approximately two hours all this activity required, it didn’t occur to me to ask myself why I was doing it. It seemed–pardon the pun–natural. I am an artist. Also a physician. Biological material features prominently in my work, sometimes as images of plants or animals, sometimes of human beings, and occasionally, in the biomorphic forms of surgical instruments. The sparrow’s perfection melted me, and what I wanted to communicate with my photographs was that tenderness, sadness and delight. Yet even as I recorded its morphology, I knew its exquisite “sparrow-ness”, which my eyes and hands recognized as the tiny creature lay in my palm, eluded the camera. Nature holds an almost hypnotic fascination for me, as it has for artists of every culture since art began. The creators of cave paintings and petroglyphs made images of animals and people because that is what held meaning for them. Twenty or thirty thousand years (or more) later, I am doing the same, as are countless other artists in almost every country and culture. Perhaps our susceptibility to nature, like creativity itself, is an intrinsic characteristic of our species. Do I need to define nature? I think not. This essay is neither scientific nor philosophical. To avoid making a more or less endless list of objects and phenomena comprising this very broad category, I will resort to a widely used quotation: “I know it when I see it.” You probably do too. The important question is not what we do or don’t include in the category of nature. The question I’m trying to answer for myself is: Why is nature so powerful and moving to me? Let me see if I can dissect the factors that constitute my fascination. Beauty, for me, is the least of nature’s attractions, so let’s dispense with it first. I don’t just want to look–I want to understand, to know. Postcard sunsets may be beautiful, but they don’t inspire me–my curiosity also needs to be aroused. Nevertheless, the beauty of nature does offer rewards. Inside a cell, an entire landscape

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of organelles, each a masterpiece of design, labors to sustain a single organism. The cell-membrane alone is enough to catch my breath. Every cell is a distillation of nature more stirring to me than any sunset. Or consider your own eyes–the sweep of the cornea, curved and clear as layers of ice one cell thick; the lens, a fluid-filled diamond inside your orbit; the retina, its rivers of blood glowing 1: Sparrow. against an amber background. There’s a complete universe there. Maybe it’s my medical background, or perhaps it’s as arbitrary and capricious as personal taste, but the moment I find something in nature that makes me want to know more, I’m hooked. If it will hold still long enough, there’s a good chance it will turn up in my art. Art about nature is, for me, divided into two overlapping categories. The first comprises nonhuman forms–a cell, a sunflower, a snake, a seascape. This group uses the beauty and “otherness” of its non-human subjects to ignite our curiosity. The second category portrays the human form and trades on that human-ness to interest and excite viewers. Nature includes the human form, of course, but to us that is a very special component. Human bodies and body parts, particularly elements such as faces, hands and genitalia, are overwhelmingly familiar and have the potential 2: Perfect Specimens, The Original We. to resonate erotically or emotionally in a way that is rarely applicable to the shapes of other species. We can readily imagine ourselves as either the subject or the creator of art about the human form because it touches both our narcissism and our sexuality. We might be staring into a mirror. That, certainly, is an element of my interest in the human form, but it’s not the sole explanation. I try to remove the familiarity and predictability of human bodies, to view them with a dispassionate eye so that the narcissistic element is separated from their appeal as natural phenomena. When the human form is included in my

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work, presented just as I might present a fish, a leaf, or an amoeba, I offer the perspective of a biologist or a physician. ◊ Fig. 2 The work is not about me (at least not directly) nor about any individual, but about our entire species. No single image can meet this impossible demand, so I solve the dilemma by making series of images that, viewed together, offer a composite view of Homo sapiens. It’s my own idiosyncratic view, but how else can I make art? In the end, all art is personal. When I make art about nature, ideas and questions that never occurred to me before sprout like weeds. Sometimes I plan a series around a theme then realize, as the work progresses, that it is 3: To Be Determined, Closely Attended By Time. about something else, or more, than I initially intended. When I began making a series about blind children I wondered how strange it must be to grow up without so much of the information available to sighted people. We evolved as highly visual animals, so surely, I thought, the absence of vision must affect essential elements of identity and behavior. I spent two of the most inspiring weeks of my life at the Johann-Peter-Schäfer-Schule, Germany’s largest school for the blind, with children who had never seen their mother’s face or their own. I expected to find children who moved timidly, cautiously, for fear of a collision or fall and instead found them chasing one another, roller-blading, swimming, catching balls with bells inside them and practicing gymnastics astride a cantering horse. ◊ Fig. 3 I observed social hierarchies of dominance and popularity and watched sexuality blossom between adolescents. I sat silently at the back of the class while students learned mathematics, biology and literature. I watched entirely normal people behaving in entirely normal ways and in the process learned things about being human that I didn’t even know I didn’t know. From this experience grew the series titled To Be Determined. It hangs on the studio walls around me as I write these words, to remind me not of the children’s blindness but my own. Nature teaches me and surprises me, and helps me make art that surprises myself.

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On my quiet Brooklyn street, not long ago, a child, perhaps eighteen months old, ran toward me as fast as she could. Her movements were clumsy and inefficient, and might have provoked a smile had they not been such a magnificent demonstration of the coordination and volitional control this child had acquired in her very brief life. Her gait, however, was not what drew my atten4: To Be Determined, The Strangeness of Gravity. tion or what keeps her in my memory. As the child ran past me she squealed “Daddy, daddy, daddy!” (another magnificent demonstration), presumably to someone behind me and ahead of her. Her face was incandescent with joy. I have seen that joy elsewhere, too. A horse released from a stable into an open field is seven hundred kilograms of pure energy, weightless with joy. Dogs, cats and chimpanzees have their own versions and presumably other animals do too. For most of us the ability to experience and unselfconsciously express joy seems to evaporate as we grow older. How delicious the world would be if we could retain that gift. Nature releases my own reservoir of joy so I can experience it and learn from it. ◊ Fig. 4 What could be more inspiring? Humans, as part of nature, have their own tiny but important role in keeping the entire system evolving, dynamic and yet stable. Every species from bacteria to blue whales can claim the same. We are almost certainly no more significant than any other creature. Knowing that my entire species is just a fragment of an unimaginably complex system suggests that the teacup storms of my life are of no account. I find that strangely reassuring. From a relatively early age we are aware that our lives will not continue indefinitely. Most of the time that awareness lies just beneath consciousness, but sometimes it percolates to the surface, perhaps because we’ve been confronted by the demise of some other creature or even another person. If we choose to notice it, death, like life, is all around us. The world around us prefigures our own inevitable passing, and that realization sometimes causes anxiety. What does that have to do with art and inspiration? Every now and again, usually from contemplating some aspect of nature, my own mortality becomes temporarily acceptable. It is a humbling and calming experience. Through my art, I do my best to share these quiet little epiphanies.

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For much of human history nature has been prescribed, almost like a drug, for those in emotional turmoil. It has been a salve for me since childhood. As an antidote to almost anything that troubles you, an hour sitting alone in the nearest conveniently situated desert is hard to beat. I can especially 5: Blaschka model. recommend any of the major Australian deserts. Take plenty of sunscreen, a wide-brimmed hat, lots of water, and perhaps a good pair of binoculars. Also bring a means of signaling to attract attention and of contacting the flying doctor service in case of snake bite, dehydration, heat stroke or just getting lost. Then go and sit somewhere, anywhere will do–it doesn’t need to be more than a couple of hundred kilometers from the nearest human–and be still. At first, you will see only empty space but that vast emptiness and stillness will soothe you. After a while, tiny movements at the periphery of your visual field will make you turn, suddenly, trying to catch whatever it is by surprise. There will be nothing, but sit a little longer. Keep as still as possible. Slowly the creatures of the desert, mostly insects and arachnids or an occasional reptile or bird, will forget you and go about their business. The sounds of the desert will become noticeable–the shivering of windblown scrub, sand grains gusted against the toe of your boot, the stridulation of grasshoppers, the song of a zebra finch, the scramble of a lizard as it ascends a rust-red dune, swinging its hips like a model. By the time you hear the sounds of the desert, your troubles will seem less serious. Trust me … I’m a doctor. I became familiar with one historical instance of the solace nature offers because I fell in love with the result. In 1850 a recently married twenty-four-yearold woman in the town of Böhmisch Aicha (then in Bohemia, now Český Dub in the Czech Republic) became ill during a cholera epidemic. Three days later, she was dead. Her young husband was devastated. Soon afterward, his father died. The son, Leopold Blaschka, scion of a family that had passed down their glass-making skills since at least the fifteenth century, was struck by “melancholia”. Today we call it depression. So persistent and severe was his condition that he could no longer make the incredibly convincing glass eyes for which he was already widely known. His doctor advised Leopold to surround himself with nature, sending him first on expe-

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ditions to sketch the local woodland flora and then on a long sea voyage. In the middle of the Atlantic Ocean, while the great sailing ship was becalmed, Leopold began to draw the creatures netted by sailors. There were fish, of course, but also animals that Leopold had never seen: strange marine invertebrates of astounding complexity and incredible colors. By the time the wind picked up, Leopold was enthralled. When he returned home, months after, he tried to capture the extraordinary beauty of these tiny animals in his chosen medium: glass. 6: Unmet Friends, No. 1561. At Humboldt University’s Department of Comparative Zoology one hundred and fifty years later, I came across some of his models, lifelike evidence that nature had dissipated his melancholia. His delight in the tiny creatures of the sea endured, and drove him and later his son Rudolf Blaschka to invent new techniques, new pigments, even new types of glass, to capture the beauty of mollusks, anemones, nudibranchs, radiolarians and more. His passion communicated itself to me; his art inspired mine. Thank you nature. ◊ Fig. 5 Many of us, especially in Western cultures, see ourselves as separate from nature, existing side by side but not actually part of it. We are laughably successful at convincing ourselves that nature exists to serve us–to be controlled, exploited. Our species, as I see it, has a small number of specialized skills that we use very effectively for our own benefit, just like most organisms. Biologists increasingly recognize that we share most of those qualities with at least some other creatures. Tool making, culture, long and short-term memory, emotion, empathy, planning for the future, political alliances, complex communication, numerical thinking, rational reasoning and a sense of humor have all been noted in various combinations in animals such as chimpanzees, bonobos, whales, dolphins and elephants. The qualities themselves are widely distributed in the animal world. ◊ Fig. 6 What makes humans so dominant (for the moment) is only the degree to which our attributes have allowed us to take advantage. Our species’ tendency to overestimate itself within the biological world influences our attitude and behavior towards other creatures and the environment we share. As far as I can discern, we are subject to the same instincts, drives and exigencies as every other creature while the abilities on which we pride ourselves are nowhere near as unique as we often imagine.

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This realization inspired an installation I call Specimen Box for which, with the help of many scientific institutions, in particular the zoological teaching collection of Humboldt-University, I made almost one thousand images of various creatures and pinned them to the walls, floor and ceiling of 7: Specimen Box, Installation. a small room. Anyone entering the Specimen Box found himself or herself surrounded by animals, all dead, that nevertheless appeared to gaze directly at the viewer. Only Homo sapiens, the species that considers itself above all others, was missing from the display. Embedded in the walls, floor and ceiling, were hidden video cameras that projected images from inside the Specimen Box onto large screens outside. ◊  Fig. 7, 8 Those entering the gallery saw on the screens only a single species, peering into the cameras as it moved like a caged animal inside. Animals inform us about more than animal behavior. Our own species is frequently mirrored in other creatures. For minimal reward and absolutely no recognition, I provide food, shelter, and housekeeping services for a pair of manipulative little monsters who frequently make me question 8: Specimen Box, No. 20020. which of us is the sapiens. At times, they behave in ways that make me blush–but not only for them. However unintentional, the humor in nature makes ideal provender for art, often because it highlights some aspect of human-ness that we might prefer remained unilluminated. Nature offers an artist a special advantage. Most humans are acquainted with it to some degree. The experience of nature is so universal that I need offer only a little information, some key fragment or evidence, even something vague or obscure, and the viewer will fill in the blanks according to his or her own understanding. Our species is good at recognizing patterns. Long ago, when we were wild, seeing a camouflaged face in a bush might have been lifesaving. If I display an animal face with sufficient ambiguity, it will easily be misconstrued as human, or vice versa. If I present surgical instruments in a particular way, many viewers will perceive them as botanical

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specimens. ◊ Fig. 9 Nature is fuel for the imagination, which seems ideal for both artist and audience. Do not presume that I’m trying to hoodwink viewers: I make my intentions plain in advance. In my artist statements, I warn viewers that what they see in my work may not be as it seems. Life is like that. We need to look carefully, to keep our index of suspicion high. But most of us are like my cats– domesticated. We see what we want to see. By using nature as source material and making the images suggestive rather than literal, I can use the viewer’s own imagination to play with his assumptions. 9: Florilegium, No. 1400. I don’t do that by, say, altering an image digitally (except perhaps to remove dust spots or correct color), but by using the context of the work to do the job for me. In Specimen Box I warned that not everything that seemed to be an animal was, in fact, an animal, and sent my viewers on a hunt to find the tricksters. That just made them peer even harder into the hidden video cameras. In To Be Determined, the series about blind children, I advised that most but not all the children in the images were blind, no matter how blind or sighted they appeared. In a series on the life cycle of the human species, Perfect Specimens, some of the images showed living people, while others showed cadavers or museum specimens. I made it difficult to determine which was which. These games are not the goal of my art but, since I am candid about them in my artist statement, and no one likes to think they fell for a trick, they encourage the viewer to think carefully about the work. I rely on the familiarity of nature. Making art about nature has another beneficial side effect for artists. It crosses cultures and historical periods, and communicates meaning in a way that, for example, a religious painting made five hundred years ago in Europe might not immediately touch a viewer who grew up in, say, Chinese or Aboriginal culture, or who might see the work 500 years from now. An image of a tree, an animal or a person is more likely to transcend the barriers of place and time as culturally specific work cannot. What artist doesn’t hope that the future will remember him or her? Whether consciously or not, that is one way artists try to circumvent mortality. That leads me to Egbert, the cadaver I dissected as a medical student. I recall my anatomy teacher only vaguely, but Egbert, with whom he shared certain characteristics–the odor of formaldehyde, the face frozen in perpetual astonishment–is

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as vivid as yesterday. It is Egbert’s hands I remember best, for these, in my opinion, are one of our species’ most perfect adaptations. ◊  Fig. 10 Every species is remarkable, of course, but being unavoidably anthropocentric, I find human morphology particularly absorbing. Exploring for the first time the relationship of structure to function, encompassed all that I found wondrous in nature. A long, long line of artists, all the way back to the beginning of art, have experienced that wonder. Among them are some of the best known names in the history of art: the Lascaux cave painters, Leonardo da Vinci, Albrecht Dürer, Jan Van Kessel, John James Audubon, Ernst 10: Perfect Specimens, Continuing To Act. Haeckel. Some didn’t even intend to make art–their purpose was spiritual or scientific–but their work was inspired by nature and posterity remembered them as artists. It still surprises me, although it shouldn’t, that the morphology of an organism does not encompass its essence–that “sparrow-ness” I referred to earlier. Its unique character is not to be found in a specific body plan, or in any tangible part, yet somehow it exists. The sea isn’t the sea solely because of its composition, although that’s part of it, and a cat isn’t a cat just because of its arrangement of muscles, bones and claws. What make us human should, in theory, fit comfortably inside a hat, but brain structure doesn’t even begin to communicate who we are. It’s not exactly behavior or even personality, that I mean. The problem is that I can’t put it into words and often not into my art either. But every now and then, some artwork, mine or another artist’s, nails that “sparrow-ness” precisely, and how exciting and fulfilling that instant of recognition is! From an artist’s perspective nature is irresistible. Its beguiling simplicity and familiarity tap my emotions. It’s unfathomable complexity, by contrast, engages the rational part of me. The limitless variation in morphology among species and individuals is awe-inspiring, while the merciless extinction of any less-than-perfect creature provokes a horrified fascination. Nature is both transient and eternal–a timeless process in which death and life are perfect equals. To paraphrase a famously arrogant comment about the science of physics, “nature is the only real art–everything else is just stamp-collecting”. If there is another source of artistic inspiration as compelling as nature, I have yet to find it.

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Griechenlands und Preußens Blüte. Goethes Morphologie als Grundlage des Schinkelschen Klassizismus Vor etwa dreißig Jahren haben Peter Weber und seine Arbeitsgruppe am Zentralinstitut für Literaturgeschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR in Berlin vorgeschlagen, anstelle der Epochenbezeichnung „Klassik/Romantik“ oder „Goethe­zeit“ den von Heinrich Heine um 1830 geprägten Begriff der „Kunst­ periode“ 1 einzuführen. Diese Epochencharakteristik scheint passend auch für den im Folgenden behandelten Kontext. Denn er vermag treffend ein Zeitalter zu beschreiben, das in der Vorstellung gelebt hatte, dass die schöne, sich an der Antike orientierende Kunstauffassung in der Lage sei, eine neue, umfassende Blüte der Kultur hervorzubringen. Aus dieser Phase stammt auch Karl Friedrich Schinkels Gemälde „Blick in Griechenlands Blüte“, auch unter dem kurzen Titel „Die Blüte Griechenlands“ bekannt, das vor 1825 entstanden ist und das als Programmbild einer neuen Kunst­epoche gelesen werden kann. ◊ Abb. 1 Viele Interpreten haben das Bild mit Schinkels erneutem Italienerlebnis in Verbindung gebracht. Der Künstler hatte sich von Juni bis Dezember 1824 dienstlich in Italien aufgehalten und dort die antiken Stätten und Bauwerke studiert. Wiederholt wurde vermutet, dass auch der auf der Rückreise unternommene Besuch bei Goethe in Weimar am 1. Dezember 1824 auf das Weltbild, das auch dem Gemälde zugrunde liege, für Schinkel einen entscheidenden Einfluss gewonnen habe. Unbestritten dürfte sein, dass Goethe mit seiner Sicht auf die Antike, auf Griechenland insbesondere, prägend für Schinkel wurde, prägender sogar, so ließe sich gegenüber Adolf Vogt behaupten, als Wilhelm von Humboldt mit seiner eher statischen Idealisierung des Griechentums. Goethe und Schinkel hatten sich schon 1816 in Weimar getroffen und waren einander 1820 näher gekommen, als der junge Künstler in Begleitung der beiden Bildhauer Christian Daniel Rauch und Friedrich Tieck sowie des Antike-Kenners und preußischen Staatsrats Christoph Friedrich Ludwig Schultz dem Dichter in Jena und Weimar einen mehrtägigen Besuch abstattete.2 „Eine lebhafte, ja leidenschaftliche Kunstunterhaltung ergab sich dabei, und ich durfte“, so Goethe in den „Tag- und Jahresheften“, „diese Tage unter die schönsten des Jahres rechnen.“ 3 Goethe ließ sich von den drei Künstlern und dem Staatsbeamten über die „Berlinischen Kunstzustände“ unterrichten, informierte sich 1 Vgl. Heinrich Heine: Werke und Briefe in zehn Bänden. Hg. v. Hans Kaufmann, Bd. 4, Berlin/ Weimar 1980, S. 343f (vgl. Bd. 5, S. 13, 50 und 377); Peter Weber u. a: Kunstperiode. Studien zur deutschen Literatur des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Berlin 1982. 2 Vgl. Adolph Doebber: Schinkel in Weimar. In: Jahrbuch der Goethe-Gesellschaft, Bd. 10. Weimar 1924, 103–130, hier S. 107ff. 3 Goethes Werke. Hg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. Weimar 1887–1919. Ergänzt durch 3 Bde. zur 4. Abt., hg. von Paul Raabe. München 1990 (= WA I. Abt., Bd. 36, S. 166f).

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1: August Wilhelm Julius Ahlbom nach K. F. Schinkel: Die Blüte Griechenlands, nach 1820.

über die staatlichen und privaten Unternehmungen in Bezug auf die Entwicklung und Verbesserung von Kunst, Kunsthandwerk und Gewerbefleiß, und blickte auch sonst mit außerordentlichem Interesse auf die kulturellen Entwicklungen in Berlin/ Preußen. Aus demselben Grunde versuchte er auf den, sich vielversprechend heranbildenden Schinkel, der ihm eine Schlüsselfigur für die Preußischen Kunstzustände zu werden schien, in seinem Sinne einzuwirken. Schinkels Freund Waagen schrieb über das erneute Zusammentreffen 1820 und die enorme Wirkung, die Goethes Denken spätestens seit dieser Zeit auf Schinkel besaß: „Die ganze Reise in Gesellschaft so ausgezeichneter und naher Freunde, auf welcher das liebenswürdige Bezeigen des großen Dichters, dessen Werke auf Schinkels Bildung einen mächtigen Einfluß ausgeübt, den Glanzpunkt bildete, gehörte zu den angenehmsten Erinnerungen seines Lebens, worauf er oft und gern zurückkam.“ 4

Insbesondere die Pläne zum Berliner Schauspielhaus waren ein sich weiter fortsetzendes Thema gemeinsamer Unterhaltungen und Überlegungen. Insgesamt hatte Schinkel Goethe zwar nur viermal besucht, der Kontakt war aber über direkte oder indirekte Kanäle, etwa über Schultz oder Goethes Berliner Freund, den Maurermeister und Musiker Karl Friedrich Zelter, durchaus prägend. Wie intensiv und 4 Gustav Friedrich Waagen: Karl Friedrich Schinkel als Mensch und als Künstler. Die erste Biographie Schinkels im Berliner Kalender von 1844 als Reprint hg v. Werner Gabler. Düsseldorf 1980, S. 362f.

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worauf er sich besonders konzentrierte, mag der Brief von Zelter an Goethe vom 26.8.1817 belegen, in dem dieser den Einfluss von Goethes gerade erschienenem ersten Heft Zur Morphologie auf Schinkel und sich selbst erläuterte: „Zu den angenehmsten Erscheinungen der letzten Tage muß ich voran Deines Morphologischen Heftes gedenken, daß ich verschlungen, genossen und, nach meiner Art, durch und durch erkannt habe. Eine solche Art die ungeheuren Tiefen der Natur wie auf stiller Wasserfläche ruhig zu durchschwimmen, als ob man den Weg dahin selber gefunden; ohne Sorge der Verirrung und Verwirrung sich selbst in der Natur und die Natur in sich selbst zu erkennen – das war meine Freude daran. Wie mir Bücher sonst eine Last und schwere Arbeit sind, ehe ich ihr Ende absehen, und das unleserliche Wortwesen davon absondern kann, so muß ich Deine Schreibereyen viele Male lesen und wiederholen um mir in langen Fäden auszuspinnen was Auge, Verstand und Sinn gleich erkannten. Auf einer kleinen Reise, von der ich mit Geh. Rath Schinkel so eben zurückkomme, haben wir uns das Heft wechselweise vorgelesen, vorgesprochen, auseinander und sauber wieder eingewickelt, und hatten sechzehn Meilen zurückgelegt ohne den Weg zu bemerken.“ 5

Jochen Meyer hat in seiner Analyse von Schinkels Bild „Blick in Griechenlands Blüte“ mit Recht auf ein signifikantes Desiderat der Schinkel-Forschung hingewiesen, nämlich auf das Fehlen von Untersuchungen auf die Frage, inwieweit „Schinkels Wachstums- und Entfaltungsideen von der Metamorphosenlehre Goethes angeregt wurden. Schließlich überträgt Schinkel das von Goethe als Naturprinzip beschriebene, evolutionäre Herausbilden immer höherer Daseinstufen bei Pflanzen und Tieren allgemein auf den Menschen, aber auch auf Kultur und Kunst.“ 6 Zwar gibt es die insgesamt instruktive Studie von Christa Lichtenstern „Zur Wirkungsgeschichte der Metamorphoselehre Goethe“, in der sie auch den Einfluss auf Schinkel darstellt.7 Allerdings verharrt sie im Wesentlichen bei der Beschreibung von Einzelmotiven. Zu betonen ist demgegenüber vor allem die bisher übersehene

5 Briefwechsel Zelter und Goethe. Hg v. Friedrich Wilhelm Riemer. Bd. 2, Berlin 1833, S. S. 410. – meine Hervorhebung. 6 Jochen Meyer: Die Welt als Garten. Karl Friedrich Schinkels „Blick in Griechenlands Blüte“ – Vision einer Kulturlandschaft. In: kritische berichte 2/2000, S. 54. 7 Christa Lichtenstern, Die Wirkungsgeschichte der Metamorphosenlehre Goethes. Von Philipp Otto Runge bis Joseph Beuys, Weinheim 1990, hier S. 56ff.

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Tatsache: Nicht erst Schinkel hat Goethes Morphologie auf Mensch, Kultur und Kunst übertragen, sondern Goethe tat dies bereits selbst, wobei es Schinkel war, der diesen Übertragungsvorgang aufmerksam registrierte. Für Goethe ist der morphologische Entwicklungsprozess in der Natur, und – hierzu äußert er sich nur selten und meist nur metaphorisch – auch in der Kultur grundsätzlich an die Prozesse von Diastole und Systole, Ausdehnung und Zusammenziehung, gebunden. Nicht nur biologische Vorgänge (wie die Atmung, die Kontraktionen des Herzens, die Entwicklungsstufen des Pflanzenwachstums vom Keim bis zur samenbildenden Pflanze) bestehen danach aus einem ständigen Wechsel von Enge und Weite, Bedrängung und Freiheit, sondern ebenso die kulturellen Pro­zesse. Auch seine eigene Lebensbeschreibung, „Dichtung und Wahrheit“, ist in diesem Sinne ein Versuch, sich selbst als Proband und Akteur einer Entwicklung kenntlich zu machen, dessen Jugend in eine Phase der allgemeinen kulturellen und gesellschaftlichen Entgrenzung gefallen ist, in welcher die starren Regeln der Vätergeneration in Kunst, Kultur, Politik und Ökonomie einer unbedingten Freiheitssehnsucht der jungen Sturm-und-Drang-Generation geopfert wurden. Goethe beobachtete und notierte Anzeichen eines solchen historischen Phasenwechsels, der seiner Beobachtung nach etwa alle 50 Jahre stattfinde, der also, vereinfacht ausgedrückt, generationenweise, mal schwächer und mal gewaltsamer auftrete und registriert werden könnte. Im Anschluss an Schinkels Bild „Ein Blick in Griechenlands Blüte“ – eine Morgengabe des Berliner Magistrats an das niederländisch-preußische Hochzeitspaar des Prinzen Frederik der Niederlande und Luise von Preußen, das ja (wie Andreas Haus8 gezeigt hat), als paradigmatisches Hoffnungs- und Ermutigungsbild für eine programmatisch anzustrebende Blüte Preußens gedacht war, soll im folgenden der darin manifestierte „morphologische“ Übertragungsvorgang diskutiert werden. Dabei wird insbesondere der Frage nachgegangen werden, warum die griechische Klassik mit ihren Kunst- und Architekturformen für Preußen zum kulturellen Orientierungspunkt werden konnte, zu einem Zeitpunkt, da doch das Kunst- und Handwerkszeitalter der alten Griechen von der modernen Naturwissenschaft und der maschinellen Produktionsweise so offensichtlich auf immer getrennt zu sein schien. Das anbrechende Zeitalter der Dampfmaschinen und Eisenbahnen, der maschinellen Serienproduktion und der kapitalistischen Marktmechanismen mit ihrem immer schnelleren modisch-moralischen Verschleiß aller Gebrauchsge8 Andreas Haus: Karl Friedrich Schinkel als Künstler. München, Berlin 2001, S. 243–253.

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genstände, unterschied sich doch so gründlich vom Zeitalter der Griechen und ihrer Produktionsweise. Schinkel beobachtete den epochalen Prozess der Ablösung der Handarbeit durch die Maschinen auf seiner Englandreise Mitte der 1820er Jahre. Der trostlose Anblick der uniformen, schmutzigen und bevölkerungsreichen englischen Fabrikstädte machte ihm deutlich, dass dieser Weg der Modernisierung für Deutschland bzw. Preußen nicht das prägende Vorbild darstellen und die alleinige Orientierung bieten könne.9 Anhand von einigen ausgewählten Exzerpten, die Schinkel aus Goethes Schriften angefertigt und aufgehoben hat, lässt sich sein spezifisches Interesse an Goethes Auffassung von der Kunst der Griechen zeigen. Zudem soll gezeigt werden, wo Schinkel in Goethes Naturauffassung produktive Anknüpfungspunkte erblickte, die ein mögliche Übertragbarkeit des morphologischen Modells von Geburt, Wachstum, Blüte und Verfall auf Völker und nationale kulturelle Zeitabläufe, insbesondere auf Preußen, plausibel erscheinen lassen konnten. ◊ Abb. 210 Unter Schinkels handschriftlichen Exzerpten aus Goethes Werken, auf die erstmals Goerd Peschken verwiesen hat, findet sich etwa neben einer eher hastig hingeschriebenen Blütenlese aus der Lektüre des Gesellschafts-, Naturwissenschaftsund Kunstromans „Die Wahlverwandtschaften“ (erschienen 1809) eine saubere Abschrift eines Goethe-Textes über die Bibel als Weltspiegel, der Lesarten Luthers und des Katholizismus (im Hinblick auf die preußischen Rhein-Main-Gegenden). Aus dem letzten Heft der Morphologie von 1824 hat Schinkel zudem einen längeren Abschnitt von Goethes Besprechung von Ernst Stiedenroths Psychologie exzerpiert. Aus den „Morphologischen Heften“ hat er auch sonst sehr gezielt Aphorismen herausgeschrieben, zum Teil mehrmals die gleichen. So hat Schinkel auch Goethes Gedicht „Eins und Alles“, das 1823 im 1. Heft des 2. Bandes der „Morphologischen Hefte“ erschienen war,11 säuberlich abgeschrieben und mit Goethe-Aphorismen zusammengestellt.12 ◊ Abb. 3

9 Erik Forsmann: Karl Friedrich Schinkel. Bauwerke und Baugedanken. München 1981, S. 143. 10 Vgl. Goerd Peschken: Das Architektonische Lehrbuch. Karl Friedrich Schinkel. Lebenswerk, München/Berlin 2001, S. 84, Abb. 78. 11 Anders als es Goerd Peschken (wie Anm 10., S. 39). datiert. 12 SMPK, Zentralarchiv; NL Schinkel 4. Theoretisches (Mappe 081), fol. 16–19.

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Goethe Eins und Alles. Im Gränzenlosen sich zu finden Wird gern der Einzelne verschwinden, Da lös’t sich aller Überdruß Statt heißem Wünschen, wildem Wollen, Statt läst’gem Fordern, strengem Sollen, Sich aufzugeben ist Genuß. Weltseele komm uns zu durchdringen! Dann mit dem Weltgeist selbst zu ringen Wird unsrer Kräfte Hochberuf. Theilnehmend führen gute Geister, Gelinde leitend, höchste Meister, Zu dem der alles schafft und schuf.

2: Schinkels Morphologie der künstlerisch vertretbaren Pflanzenformen.

Und umzuschaffen das Geschaffne, Damit sich’s nicht zum Starren waffne, Wirkt ewiges, lebendiges Thun. Und was nicht war nun will es werden, Zu reinen Sonnen, farbigen Erden, In keinem Falle darf es ruhn. Es soll sich regen, schaffend handeln, Erst sich gestalten, dann verwandeln; Nur scheinbar steht’s Momente still. Das Ewige regt sich fort in allen: Denn alles muß in Nichts zerfallen, Wenn es im Sein beharren will. 3: Schinkels Abschrift (Ausschnitt) des GoetheGedichtes „Ein und Alles“ (Aufschrift unten rechts, von fremder Hand: Goethes Maximen und Reflexionen)

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In diesem Gedicht hatte Goethe seine morphologische Anschauung, die von einem fortwährenden Umgestaltungsprozess ausgeht, bei dem sich wechselseitig bedingende Epochen der Entgrenzung und Zusammenziehung sowie jeweils dominierende Perioden äußeren Sollens und inneren Wollens einander ablösen, als allgemeine Grundprinzipien des Lebens überhaupt sichtbar werden lassen. Es findet sich im Schinkel-Nachlass weiterhin ein Blatt, auf dem 28 sorgsam nach bestimmten Kriterien zusammengestellte „Maximen und Reflexionen“ aufgelistet sind und nach unterschiedlicher Wertigkeit mit Querstrichen, Dreiecken, Kreiszeichen und Kreuzen gekennzeichnet sind. Aus dem Roman „Wilhelm Meisters Wanderjahre“ 13, in dem Goethe ja seine Grundansichten über die Entwicklung von Handwerk und Arbeit in Zeiten des aufkommenden Maschinenwesens in einer morphologischen Geschichtsdarstellung narrativ verzeitlicht hat und dadurch als einen Prozess versinnbildlichen konnte, hat Schinkel ebenfalls „Maximen und Reflexionen“ exzerpiert.14 Die literarische Form der Goetheschen Maximen hatte auf Schinkel nachhaltige Wirkung, denkt man beispielsweise an die vielen Aphorismen, Gedanken und Bemerkungen, die Schinkel niedergeschrieben hat, sie wurde charakteristisch für seine Art des Sammelns und Festhaltens jenseits einer systematischen Gesamtdarstellung seiner Auffassungen:15 2 – Wer sich von nun an nicht auf eine Kunst oder Handwerk legt, der wird übel dran sein. Das Wissen fördert nicht mehr bei dem schnellen Umtriebe der Welt; bis man von allem Notiz genommen hat, verliert man sich selbst. [(WA I 42/2, 202) (Wilhelm Meisters Wanderjahre, aus Markariens Archiv, Ausgabe letzter Hand, 1829)] […] X 5– Δ Allen andern Künsten muß man etwas vorgeben, der griechischen allein bleibt man ewig Schuldner. [(WA I 48, 183) (Kunst und Alterthum, 1, 1816)]16

13 Vgl. Safia Azzouni: Kunst als praktische Wissenschaft. Goethes „Wilhelm Meisters Wanderjahre“ und die Hefte „Zur Morphologie“. Köln, Weimar, Wien 2005; Olaf Breidbach: Goethes Metamorphosenlehre. München 2006. 14 SMPK, Zentralarchiv; NL Schinkel 4. Theoretisches I.2 Exzerpte Goethe. (Mappe 082), fol. 8.; Veröffentlicht wurden die „Maximen und Reflexionen“ bereits in der Ausgabe letzter Hand, Bd. 22, Tübingen und Stuttgart 1829, nicht erst aus dem Band 49 der Ausgabe letzter Hand, 1833. 15 Vgl. Goerd Peschken (wie Anm. 10), S. 39; vgl. auch: Aus Schinkels Nachlaß. Reisetagebücher, Briefe und Aphorismen. Hg. v. Alfred Freih. von Wolzogen, Bd. 3, Berlin 1863, S. 345ff. 16 Wie Anm. 14.

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Für diesen Zusammenhang ist insbesondere ein sorgfältig auf feinem Papier notiertes Exzerpt Schinkels mit der Aufschrift „Aus Göthes Farbelehre“ beachtenswert, das sich mit dem Verhältnis von Kunst und Wissenschaft bei den Griechen beschäftigt und die Art und Weise der Übertragbarkeit des hier niedergeschriebenen morphologischen Models auf die Deutschen andeutet. Goethes Farbenlehre war 1810 erschienen, der Zeitpunkt, an dem Schinkel das Exzerpt aus der Abhandlung „Betrachtung über Farbenlehre und Farbenbehandlung der Alten“ aus dem dritten, dem „Historischen“ Teil ausführte, ist nicht bekannt. Schinkel setzte mit seiner Abschrift genau an der Stelle ein, an der es um das Verhältnis von Wissenschaft und Kunst bei den Griechen geht, wobei er den Goetheschen Text bereits so abänderte und hervorhebt, dass er gleichsam als selbständige Grundthese herausgeschält erscheint: „Überhaupt aber entsprang die Wissenschaft für die Griechen aus dem Leben.“ 17 Dieser erste niedergeschriebene Satz wird in der Textdarstellung von Schinkel gleichsam programmatisch herausgehoben. Goethe erklärt hier anschließend, dass seine eigene Anschauungsweise und seine Methodik der Farbenlehre nicht auf dem modernen Experiment, das die Griechen auch noch nicht gekannt hätten, sondern auf der lebendigen Anschauung fußt. Schinkel lässt diesen Satz in seinem Exzerpt aus, denn ihn interessiert offenbar vor allem das Prinzipielle an der Aussage. Mehrfach markiert Schinkel dann die folgende Passage: „Den Alten fehlte die Kunst, Versuche anzustellen, sogar der Sinn dazu […]“. Der Nachteil der Griechen, keine Versuche und Experimente anzustellen, schälte sich aber nach Goethes Ansicht auch als unbedingter Vorteil heraus. Dadurch, dass sie immer wieder auf die empirische Anschauung zurückverwiesen waren, gingen sie vom abstrahierenden Begriff wieder auf die Kunst zurück, die ihrerseits der begrifflichen, allgemein wissenschaftlichen Betrachtungsweise in diesem Punkte überlegen sei: „Wenn wir die Kunst der Griechen betrachten, so treffen wir nunmehr, wenn wir ihre Kunst betrachten, auf einen vollendeten Kreis, der, indem er sich in sich selbst abschließt, doch auch zugleich als Glied in jene Bemühungen eingreift und, wo das Wissen nicht Genüge leistete, uns durch die That befriedigt.“ 18

17 Die Änderungen zur Goetheschen Vorlage sind gekennzeichnet. 18 SMPK, Zentralarchiv; NL Schinkel 4. Theoretisches I.2 Exzerpte Goethe. (Mappe 082), Blatt 3, fol. 3 (=WA II. Abt., Bd. 3, S. 119f).

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Danach folgt im Exzerpt ein Satz, der Schinkel sehr eingeleuchtet haben wird, weil er die hervorragende Rolle der Kunst bei den Alten und ihre spezifische Bedeutung für die Aufnahme durch den modernen Menschen aufzeigt. Die Kunst zeige sich hier der Wissenschaft eindeutig überlegen: „Die Menschen sind überhaupt der Kunst mehr gewachsen als der Wissenschaft. Jene gehört zur großen Hälfte ihnen selbst, diese zur großen Hälfte der Welt an. Bei jener läßt sich eine Entwickelung in reiner Folge, diese kaum ohne ein unendliches Zusammenhäufen denken. Was aber den Unterschied vorzüglich bestimmt: die Kunst schließt sich in ihren einzelnen Werken ab; die Wissenschaft erscheint uns gränzenlos.“ 19

Hier nun kommt für Schinkel deutlich Goethes produktiv übernommene und auf alle Lebensformen übertragene Begriffspaar von Systole (Zusammenziehung) und Diastole (Ausdehnung) bzw. von Innen und Außen, Enge und Grenzenlosigkeit zum Tragen, ein Prinzip, das für ihn Grundlage aller Lebensprozesse und aller morphologischen, „ruhigen Bildung“ schlechthin ist. „Zu dem gepriesenen Glück der Griechen muß vorzüglich gerechnet werden, daß sie durch keine äußre Einwirkung irre gemacht worden: ein günstiges Geschick, das in der neuern Zeit den Individuen selten, den Nationen nie zu Theil wird; denn selbst vollkommene Vorbilder machen irre, indem sie uns veranlassen, nothwendige Bildungsstufen zu überspringen, wodurch wir denn meistens am Ziel vorbei in einen gränzenlosen Irrthum geführt werden.“ 20

Auch hier bezieht Goethe das zyklisch-periodische Wechselverhältnis von Zusammenziehung und Ausdehnung direkt auf kulturelle Phänomene. War bei den Griechen noch aufgrund ihrer Lebensverhältnisse eine „ruhige Bildung“ möglich, welche die Voraussetzung für eine vollendete, auf der Natur basierenden Kunst gewesen sei, so erscheint dies in der Gegenwart, in der Herausbildung und Bildung der Nationen seiner Zeit kaum noch möglich, da die vorherrschenden Zeitphänomene ins Grenzenlose führten. Goethe schließt hierauf mit einer „Vergleichung der Kunst und

19 Ebd. 20 SMPK, Zentralarchiv; NL Schinkel 4. Theoretisches I.2 Exzerpte Goethe. (Mappe 082), Blatt 3, fol. 3f (=WA II. Abt., Bd. 3, S. 120f).

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Wissenschaft“ an. Schinkel nimmt dies auf, aber die Art, wie und was er von Goethe abschreibt, zeigt deutlich seinen eigenen Ansatz. Ihn interessiert dabei nämlich in erster Linie nicht die Theorie von Goethes Farbenlehre, sondern das allgemeine, dahinterstehende morphologische Modell: „Da im Wissen sowohl als in der Reflexion kein Ganzes zusammengebracht werden kann, weil jenem das Innre, dieser das Äußere fehlt; so müssen wir uns die Wissenschaft nothwendig als Kunst denken, wenn wir von ihr irgend eine Art von Ganzheit erwarten. Und zwar haben wir diese nicht im Allgemeinen im Überschwänglichen zu suchen, sondern wie die Kunst sich immer ganz in jedem einzelnen Kunstwerk darstellt, so sollte die Wissenschaft sich auch jedesmal ganz in jedem einzelnen Behandelten erweisen.“ 21

Die Kunst besitze, so Goethe, Funktionen, die auch der Wissenschaft innewohnten. Sie sei der Wissenschaft aber insofern überlegen, als sie ohne Begriffe und fragwürdige Experimente auskomme. Sie repräsentiere aber gleichzeitig ein in sich abgeschlossenes Ganzes und sei zudem in der Lage auf die gesamte Öffentlichkeit und nicht nur eine wissenschaftliche Elite wirken zu können: „Wenn diese geforderten Elemente, wo nicht widersprechend, doch sich dergestalt gegenüberstehend erscheinen möchten, daß auch die vorzüglichsten Geister nicht hoffen dürften sie zu vereinigen; so liegen sie doch in der gesammten Menschheit offenbar da, und können jeden Augenblick hervortreten, wenn sie nicht durch Vorurtheile, durch Eigensinn einzelner Besitzenden, und wie sonst alle die verkennenden, zurückschreckenden und tödtenden Verneinungen heißen mögen, in dem Augenblick, wo sie allein wirksam sein können, zurückgedrängt werden und die Erscheinung im Entstehen vernichtet wird.“

Danach folgt die Erklärung, warum Goethe doch das Vorbild der Griechen und ihrer Kunst als Ansatz für den morphologischen Bildungsprozess, der in eine systolische Phase einmünden müsse, insbesondere für die Deutschen für adaptierbar hält:

21 SMPK, Zentralarchiv; NL Schinkel 4. Theoretisches I.2 Exzerpte Goethe. (Mappe 082), Blatt 3, fol. 4 (=WA II. Abt., Bd. 3, S. 121).

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„Vielleicht ist es kühn, aber wenigstens in dieser Zeit nöthig zu sagen: daß die Gesammt­heit jener Elemente vielleicht vor keiner Nation so bereit liegt als vor der dDeutschen. [Seitenumbruch] Denn ob wir gleich, was Wissenschaft und Kunst betrifft, in der seltsamsten Anarchie leben, die uns von jedem erwünschten Zweck immer mehr zu entfernen scheint; so ist es doch eben diese Anarchie, die uns nach und nach aus der Weite in’s Enge, aus der Zerstreuung zur Vereinigung drängen muß.“ 22

Das Vorbild der Kunst der Griechen sei also geeignet, in einer auf Vereinzelung, Individualismus und anarchischer Subjektivität beruhenden diastolischen Epoche, wie Goethe sie in der gegenwärtigen Zeit bei den Deutschen vorherrschend findet, einen neuen Prozess friedlicher Bildung und Kultur in Gang zu setzen und zu stärken. Die dominante kulturelle Diastole in allen Bereichen deutscher Kulturentwicklung, die gekennzeichnet sei durch allgemeine Entgrenzungstendenzen, durch unbedingten Freiheitssinn, Individualismus, Parteiensucht, Anarchie usw., bilde geradezu die notwendige Vorraussetzung für eine systolische, ins Enge treibende, vereinigende, auf Ganze zielende kontraktive Gegenbewegung, die durch das Vorbild der griechischen Kunst allmählich gefördert werden könne. Hier schließt sich im Exzerpt die entscheidende Stelle an, die den morphologischen Grundsatz auch an geschichtlichen und kulturellen Prozessen festmacht: „Es gibt zwei Momente der Weltgeschichte, die bald auf einander folgen, bald gleichzeitig, theils einzeln und abgesondert, theils höchst verschränkt, sich an Individuen und Völkern zeigen.[Zeilenumbruch] Der erste [d. h. der systolische] ist derjenige, in welchem sich die Einzelnen neben einander frei ausbilden; dieß ist die Epoche des Werdens, des Friedens, des Nährens, der Künste, der Wissenschaften, der Gemüthlichkeit, der Vernunft. Hier wirkt alles nach innen, und strebt in den besten Zeiten zu einem glücklichen häuslichen Auferbauen; doch lös’t sich dieser Zustand zuletzt in Parteisucht und Anarchie auf. [Zeilenumbruch] Die zweite Epoche ist die des Benutzens, des Krieges, des Verzehrens, der Technik, des Wissens, des Verstandes. Die Wirkungen sind nach außen gerichtet; im schönsten und höchsten Sinne gewährt dieser Zeitpunct Dauer und Genuß unter gewissen Bedingungen. Leicht artet jedoch ein 22 SMPK, Zentralarchiv; NL Schinkel 4. Theoretisches I.2 Exzerpte Goethe. (Mappe 082), Blatt 3, fol. 4f (=WA II. Abt., Bd. 3, S. 122).

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solcher Zustand in Selbstsucht und Tyrannei aus, wo man sich aber keinesweges den Tyrannen als eine einzelne Person zu denken nöthig hat; es gibt eine Tyrannei ganzer Massen, die höchst gewaltsam und unwiderstehlich ist.“ 23

Schinkel hat einen geradezu „Freudschen“ Verschreiber in seiner Notiz, der genau anzeigt, wie er den Text auf die Gegenwart übertragen hat. Denn während Goethe die diastolische Epoche als eine des „Benutzens, des Kriegens, des Verzehrens“ charakterisiert, assoziiert Schinkel beim Niederschreiben innerhalb des breiteren Bedeutungsspektrums von „Kriegen“ (das auch das Bekommen/Erhalten spiegelt) nur die Semantik des Krieges.24 Die von Goethe beschriebene zweite Epoche ist demnach genau auf die Zeit der Befreiungskriege und die Nachkriegszeit beziehbar, deren Auswüchse („Parteisucht und Anarchie“) durch die auf innere Befriedung, Wissenschaft und Gemüt wirkende systolisierende Kunst und Anschauung der Griechen wirksam begegnet werden könne. Goethe sah die Entwicklung der Kulturen und Nationen ebenso wie diejenige der Pflanzen und Tiere in einem ständigen Wandlungs- und Umbildungsprozess von Ausdehnung und Zusammenziehung. In seinen „Wahlverwandtschaften“, die Schinkel nachweislich stark beeindruckten,25 hat er diesen Vorgang der Ausdehnung am Phänomen der Gartenkunst, der Stadtarchitektur, der Naturwissenschaften und der Liebesbeziehungen deutlich gemacht. Hatte dort der Vater Eduards in Zeiten gelebt, „wo man Lust hatte, sich manches zuzueignen, dieses Eigentum zu sichern, zu beschränken, einzuengen und in Absonderung von der Welt seinen Genuß zu befestigen“ 26, so hatte er entsprechend regelmäßige, sicher umgrenzte, auf Nutzen und Nützlichkeit abzielende Obst-, Blumen- und Schlossgärten angelegt. Eduards Generation war demgegenüber in eine Zeit hineingeboren worden, wo man sich „ins Freie und Weite“ auszudehnen suchte, das „Verschlossene eröffnen“ wollte, eine Zeit der revolutionären Entgrenzung und Freiheitssehnsucht.27 Goethe sieht hier die aus der Naturwissenschaft abgeleiteten Begriffe Systole und Diastole oder die (von Platon 23 SMPK, Zentralarchiv; NL Schinkel 4. Theoretisches I.2 Exzerpte Goethe. (Mappe 082), Blatt 3, fol. 6 (=WA II. Abt., Bd. 3, S. 133). 24 Vgl. Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Heidelberger Akademie der Wissenschaften (Hg.): Goethe-Wörterbuch, Stuttgart 1978ff., Bd. 5, Lemma „kriegen“, Bedeutung A und B2. 25 Vgl. SMPK, Zentralarchiv; NL Schinkel 4. NL Schinkel 4. Theoretisches I.2 Exzerpte Goethe. (Mappe 082), Blatt 1 und 2. 26 WA I. Abt., Bd. 20, S. 295. 27 Ebenda. Vgl. hierzu: Michael Niedermeier: Das Ende der Idylle. Symbolik, Zeitbezug, „Gartenrevolution“ in Goethes Roman „Die Wahlverwandtschaften“. Berlin (u.a.) 1992, bes. S. 85ff.

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entliehenen, also Synkrisis und Diakrisis) in sozialen und kulturellen Entwicklungen bestätigt. Wenn im Falle des Vaters systolisch „das Gegenwärtige“ die Menschen „mit Gewalt an sich“ hielt, verleitete sie die diastolische Tendenz, die seit Eduards Jugend vorzuherrschen begonnen hatte, in eine die Gegenwart ignorierende, sentimentalische Sehnsucht zu verfallen. Der die gotische Baukunst wiederbelebende Gehülfe analysiert diese Zeittendenz: „Wir verlieren uns in der Vergangenheit und suchen das völlig Verlorene, wie es nur möglich sein will, wieder hervorzurufen und herzustellen.“ 28 Systole und Diastole folgen nach Goethes Ansicht bei gesellschaftlichen Prozessen zwar im Wesentlichen nacheinander. Nur bemerkte er besonders nach 1800 missfällig, dass dieser Wechsel nun, anders als in allen anderen Bereichen der Natur, nicht mehr wie in den von ihm selbst erlebten vorausgegangenen Zeitperioden regelmäßig und so einigermaßen vorausberechenbar erfolge. Die rückwärts gewandte idyllische Tendenz, in der sich die Diastole gegenwärtig präsentiere, schaffe den gesamten Wohn- und Lebensraum zu einem scheinbar idealen um. Auch Charlotte überträgt die vom Gehülfen beschriebene universale Entwicklung auf die hervorstechenden kulturellen Wandlungsprozesse der Gegenwart, indem sie ihm gegenüber feststellt: „Ganze Zeiträume […] gleichen diesem Vater und Sohn, den Sie schildern. Von jenen Zuständen, da jede kleine Stadt ihre Mauern und Gräben haben mußte, da man jeden Edelhof noch in einen Sumpf baute, und die geringsten Schlösser nur durch eine Zugbrücke zugänglich waren, davon können wir uns kaum einen Begriff machen. Sogar größere Städte tragen jetzt ihre Wälle ab, die Gräben selbst fürstlicher Schlösser werden ausgefüllt, die Städte bilden nur große Flecken, und wenn man so auf Reisen das ansieht, sollte man glauben: der allgemeine Friede sei befestigt und das goldne Zeitalter vor der Thür.“ 29

Goethe reflektiert hier einen Vorgang, den er allerorten lebhaft verfolgt hat, und so lässt er Charlotte diesen diastolischen Zeitgeist auch an der Gartenkunst nachweisen: „Niemand glaubt sich in einem Garten behaglich, der nicht einem freien Lande ähnlich sieht; an Kunst, an Zwang soll nichts erinnern, wir wollen ­völlig frei und unbedingt Athem schöpfen.“ 30

28 WA I. Abt., Bd. 20, S. 294. 29 WA I. Abt., Bd. 20, S. 295f. 30 WA I. Abt., Bd. 20, S. 296.

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Der Zustand diastolischer Befreiung setzt, wie der Gehülfe feststellt, „Überfluß voraus und führt zur Verschwendung“. Die Folge wäre ein Mangel an Nahrungsgütern und Geld, was den Besitzer daraufhin zwinge, zyklisch wieder in den einstigen Zustand der Vaterzeit zurückzukehren. Hinter dieser Aussage des Gehülfen wurde von den zeitgenössischen Lesern das „autoritäre Wort“ Goethes vermutet, vielmehr aber entsprang diese „Revolution“, diese Rückumkehr Goethes eigener beobachtenden Anschauung der Wirklichkeit. Die Vereinigung von Altem und Neuem sei durchaus denkbar: durch das organische Hineinwachsen der einen in die andere Generation. Jeder Zustand, so der Gehülfe, „hat seine Beschwerlichkeit, der beschränkte sowohl als der losgebundene. Der letztere setzt Überfluß voraus und führt zur Verschwendung. […] Menschen, die ihren Grund und Boden zu nutzen genöthigt sind, führen schon wieder Mauern um ihre Gärten auf, damit sie ihrer Erzeugnisse sicher seien. Daraus entsteht nach und nach eine neue Ansicht der Dinge. Das Nützliche erhält wieder die Oberhand, und selbst der Vielbesitzende meint zuletzt auch das alles nutzen zu müssen.“ 31

Ganz offensichtlich sind Goethe Anzeichen eines Periodenwechsels, Merkmale einer erneuten „Umwandlung“ sichtbar. Und er kommt 1825 zusammen mit dem Berliner Pückler-Freund Varnhagen von Ense zu der visionären Einschätzung, dass man bald wieder beginnen werde, die auf Freiheit und Entgrenzung ausgelegten empfindsamen Landschaftsgärten radikal wieder zu „Kartoffelfeldern“ umzupflügen.32 Es gibt also deutliche Hinweise darauf, dass Goethes morphologische Sicht kultureller Prozesse bei Schinkels Übertragungsvorgang von der Blüte Griechenlands auf eine zu erreichende Blüte Preußens (und Deutschlands) unmittelbar Pate gestanden hat. Auch Schinkel sah in der Beschwörung der Kulturblüte Griechenlands durch Kunst und Kunsthandwerk sehr wahrscheinlich die Möglichkeit, der notwendig gewordenen gesellschaftlichen Systole aufzuhelfen. In seinen Romanen Wilhelm Meisters Lehrjahre und Wilhelm Meisters Wanderjahre, aus denen Schinkel ebenfalls Exzerpte anfertigte, erscheinen die deutschen Länder von einem weiteren Übel der vorwaltenden Diastole verfolgt: der Technik, dem vordringenden Maschi31 WA I. Abt., Bd. 20, S. 296 – meine Hervorhebung. 32 Goethe mit Karl August Varnhagen von Ense, 8. Juli 1825. In: Goethes Gespräche. Auf Grund der Ausgabe und des Nachlasses von Flodoard Freiherrn von Biedermann ergänzt und hg v. Wolfgang Herwig. 5 Bde. Zürich/Stuttgart 1965–87, Bd. 3, S. 799.

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nenwesen, der drohenden Industrialisierung, die die Kunst und die auf ihr beruhende (kunst‑)handwerkliche Fertigkeit – die „mechanischen Künste“ – bedrohte.33 Die Tendenzen beliebiger technischer Reproduzierbarkeit hat Goethe vor dem zeithistorischen Hintergrund des aufkommenden Industrie- und Maschinenzeitalters als bedrohlich wahrgenommen, ja er machte die Mechanisierung sogar für den Niedergang der Kunst verantwortlich. Im Niedergang des Handwerks sah er dabei einen deutlichen Indikator für den Verlust funktionierender sozialer Strukturen. Die intensive Beherrschung des Handwerks in einem ganz ursprünglich individuell-sinnlich begreifbaren Verständnis sah er daher als Voraussetzung für eine über einfache Modetendenzen hinausgehende Kunstleistung an („Vom Handwerck kann man sich zur Kunst erheben. Vom Pfuschen nie“ 34). Goethe war somit überzeugt von einem unmittelbaren Hineinwirken der künstlerischen Tätigkeit in das Leben, wobei ihm Kunst und Handwerk als mögliche Mittel galten, den sozialen und kulturellen Gefährdungen der Zeit steuernd entgegenzuwirken. Ansätze von Arbeitslosigkeit gab es auch schon in den vormodernen Wirtschaftsgefügen der mitteldeutschen Kleinstaaten. Der Bau von Armenhäusern, etwa in Dessau und Gotha, oder das Falksche Institut in Weimar zeigten Versuche, wie man unter den kleinabsolutistischen Bedingungen das Elend der Unterschichten mildern, das Armenwesen mit aufklärerischen Mitteln in den Griff zu bekommen hoffte. Goethe hielt an der Glückseligkeitstheorie, wie sie auch noch von Adam Smith und Georg Sartorius vertreten wurde, fest, und hatte immer auch den Wohlstand des Werktätigen als wichtige ökonomische Triebkraft im Auge. Die allmähliche Mechanisierung, die Goethe in den Papier- und Walkmühlen, in Schleifmühlen, im Bergbau oder in der unter Bertuchs Leitung stehenden herzoglichen Porzellanfabrik in Ilmenau selbst sah, wurde für ihn erst in den 90er Jahren zum Ausdruck einer gewissen Tendenz, während die Dampfmaschine damals noch keine wesentliche Rolle spielte. In Kunst, Handwerkskunst und Gewerbefleiß, wie sie bei den Griechen geblüht haben, sehen Schinkel wie auch Goethe eine Alternative zum „aufkommenden Maschinenwesen“. Eine Ähnlichkeit zum Saint-Simonismus, zu Robert Owen,

33 Seit dem ersten Weimarer Jahrzehnt wuchs bei Goethe in bezug auf seine eigene Bildung und Ausbildung die Einsicht in die notwendige Beschränkung des einzelnen Menschen auf ein „Handwerk“ sowie die gleichnishafte Übertragung der handwerklichen (und freimaurerischen) Ausbildungsgrade (Lehrling, Geselle, Meister) auf Entwicklungsstufen des Lebensganges überhaupt. Die beiden Meister-Romane machen dies schon in ihren Titeln plastisch. 34 WA I. Abt., Bd. 47, S. 325.

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aber auch zu den aus Württemberg stammenden Rappisten, die nach Amerika auswanderten und dort Musterkolonien wie Economy oder Harmony errichteten, kommt nicht von ungefähr: sie ist in Goethes Prosa (Wilhelm Meisters Wanderjahre oder Die Entsagenden (1821/1829) selbst angelegt. Die deutschen Staaten, das erkannte Goethe in den 1820er Jahren zunehmend, mussten ein eigenes Konzept der Modernisierung entwickeln, wenn sie der Konkurrenz der effektiver agierenden Großfabrikationen Großbritanniens etwas zum Nutzen der eigenen Landesökonomie und -politik entgegenstellen wollten. Goethe setzte dabei auf das Handwerk, das mit Wissenschaft und Kunst verbunden werden müsse, um Produkte zu entwickeln, die wegen ihres hohen künstlerischen und praktischen Gebrauchswertes der Fabrikware überlegen wären. Durch diese Verschmelzung von Kunst und Wissenschaft mit dem Handwerk könne das Produkt den Modetendenzen und dem damit verbundenen moralischen Verschleiß entgehen. In dieser Frage wendete sich Goethe 1816 auch an den Oberpräsidenten der preußischen Rheinprovinzen Johann August Sack: „Und so fördern die verschiedenen Zweige der Wissenschaften einander, wie denn auch die verschiedenen Zweige der Kunst einander fördern. Mit dem Bildhauer sinkt der Medailleur, der Kupferstecher mit dem Zeichner. Ein Kenner und Liebhaber der Naturgeschichte kann das glücklich nachahmende Talent sorgfältiger Künstler nicht entbehren, und so geht es durch alles durch, bis Wissenschaft und Kunst endlich Technik und Handwerk zu Hülfe rufen und auch diese veredeln.“ 35

In denselben Zusammenhang gehören auch die Aphorismen, die Schinkel z. T. mehrfach aus u.a. Goethes Wanderjahre-Aphorismen herausgeschrieben hat: „[…]2 – Wer sich von nun an nicht auf eine Kunst oder Handwerk legt, der wird übel dran sein. Das Wissen fördert nicht mehr bei dem schnellen Umtriebe der Welt; bis man von allem Notiz genommen hat, verliert man sich selbst.36

35 WA IV. Abt., Bd. 26, S. 221. 36 SMPK, Zentralarchiv; NL Schinkel 4. Theoretisches I.2 Exzerpte Goethe. (Mappe 082), fol. 8. = WA I. Abt., Bd. 42/2, S. 202 (Ausgabe letzter Hand, 1829).

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[…] X5– Δ [über dem Strich] Allen andern Künsten muß man etwas vorgeben, der griechischen allein bleibt man ewig Schuldner.“ 37

4: K.F. Schinkel: Entwurf des Grabmals für S.F. Hermbstaedt,1833.

5: Grabmal Hermbstaedt, Dorotheenstädtischer Friedhof Berlin.

Goethe hoffte in den späten 1820er Jahren, dass nach einer Zeit des kriegsbedingten Niederganges, die Künste und Wissenschaften „endlich Technik und Handwerk zu Hülfe rufen und auch diese veredeln“ 38. Jeder Künstler müsse, so riet Goethe dem Berliner Bildhauer Christian Daniel Rauch für die Ausbildung seiner Schüler, lernen, „daß Technik und Handwerk dem höchsten Gedanken des Künstlers zuletzt erst die Wirklichkeit verleihen“ 39. Goethe engagierte sich aus eben den genannten Gründen für Bildungseinrichtungen, die die Verbindung von Handwerk und Kunst vorantreiben sollten. So nahm er, vermittelt durch Schinkel, Beuth und Schultz, lebhaft an den einschlägigen Berliner Unternehmungen zur Ausbildung der Kunsthandwerker teil. Doch beide, Goethe und Schinkel, haben sich geirrt. Zwar lassen sich die Grundphänomene Systole und Diastole auch in den kulturellen Prozessen wahrnehmen. Die Dampfmaschinen aber ließen sich nicht dämpfen, wie Goethe resigniert im Alter eingestehen musste, die Systole der auf Handwerk und Kunst basierenden Lebenswelt nur in den religiös-utopischen Kolonistendörfer Nordamerikas realisieren, wie er in den „Wanderjahren“ resümiert („Amerika du hast es besser!“). Den Beobachtungen Bernhards von Sachsen-Weimar, der 1826 nach England und Amerika gereist war, um Landkäufe und ökonomische Projekte für Sachsen-Weimar zu eruieren, wollte er nur zu gern glauben. So wie Thomas Jefferson und ein beträchtlicher Teil der US-Gründervätergeneration nahmen zu jener Zeit auch Goethe und Schinkel an, dass man auf den Weg der englischen Industrialisierung mit ihren Folgen für Städte, Kommunen, Umwelt und Sozialverhältnisse nicht werde einschwenken müssen. Mit Goethe und Schinkel ist damit tatsächlich eine „Kunstperiode“ zu Ende gegangen, in der man hoffen durfte, durch die Beschwörung der klassisch-griechischen Kunst und

37 SMPK, Zentralarchiv; NL Schinkel 4. Theoretisches I.2 Exzerpte Goethe. (Mappe 082), fol. 8; WA I. Abt., Bd. 42/2, S. 183. (Kunst und Alterthum, 1 1816) 38 15.1.1816; WA I. Abt., Bd. 26, S. 221. 39 11.3.1828; WA IV. Abt., Bd. 44, S. 22.

Griechenlands und Preußens Blüte

123

Kultur die Prozesse der Gegenwart in einem umfassenden Sinn beeinflussen zu können.40 Schinkel übernahm jedenfalls die Metapher von der morphologischen Eingebundenheit des Menschen in den Kreislauf der Natur, in dem er z. B. den Genius der Natur und des Gewerbefleißes in die antikisierende palmettenhafte Pflanzenform einkleidete, mit dem er das Grabmal des 1833 verstorbenen Naturforschers, Pflanzenkundlers, Apothekers, technischen Schriftstellers und Landwirtschafts- und Gewerbereformers Professor Sigismund Friedrich Hermbstaedt verzierte.41 ◊  Abb.  4 und  5 Hermb­staed war einer der eifrigsten Vertreter des Berliner Bürgertums, die sich der aufklärerischen bürgerschaftlichen Verbreitung der 6: Schinkel-Grab nach dem Entwurf von Gustav Stier, 1842, Dorotheenstädtischer Friedhof Berlin. Naturwissenschaften und ihrer gewerblichen Nutzung verpflichtet hatten. Alexander von Humboldt hatte ihn 1810 zum außerordentlichen Professor für Technologie der neu gegründeten Universität berufen. Es war sicher eine umsichtige Entscheidung der Schinkel-Erben und Freunde, die Schinkels Grabmal auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof errichteten, dass sie dieses Motiv auch auf Schinkels eigenes Grabmal setzten ließen. ◊ Abb. 6 Der große Baubeamte, der das äußere Antlitz des neuen Preußen wie kein anderer bestimmt hatte, war nach einem Schlaganfall Anfang Oktober 1841 mitten aus seinem Wirken für ein bürgerschaftliches, an der Blüte Griechenlands orientierten Preußen gerissen worden.

40 Vgl. Michael Niedermeier: „Amerika, Du hast es besser!“ Altes Europa und Neues Amerika. Kulturelle Imaginationen zwischen Stereotyp und Utopie. September 2005, http://www.inst.at/ trans/15Nr/01_4/niedermeier15.htm 41 Vgl. auch: Karl Friedrich Schinkel: Arabeske Schinkels Familie (bpk/Kupferstichkabinett, SMB/ Jörg P. Anders); Karl Friedrich Schinkel: Altes Museum, Bronzetür mit allegorischen Figuren der griechischen Mythologie, Kunst und Literatur (HUB; Institut für Kunst- und Bildgeschichte: Altbestand), vgl. weiter zum erzieherischen (morphologischen) Bildprogramm des Alten Museums: Jörg Trempler: Das Wandbildprogramm von Karl Friedrich Schinkel, Altes Museum Berlin, Berlin 2001, besonders S. 134–169.

„Der Computer ist ein Instrument, das uns beim Denken hilft.“ Ein Gespräch der Bildwelten des Wissens mit Herbert W. Franke

Bildwelten:

Herr Franke, unser Heft ist mit „Morphologien“ überschrieben, und es widmet sich damit einer zentralen programmatischen Frage, nämlich dem Problem der Beschreibung von Form. Es gibt keinen wissenschaftlichen oder künstlerischen Bereich, in dem Form keine Rolle spielen würde, doch scheinen wir weit entfernt von einer interdisziplinären Formbeschreibung zu sein. Könnte es daran liegen, dass Form je nach Fachgebiet vollkommen anders definiert ist?

Herbert W. Franke: Ich

bin Physiker und auf das Thema Form nur dadurch gekommen, dass wir in der Physik verschiedenste Methoden verwenden, um Prozesse oder Erscheinungen, die man nicht mit dem Auge sehen kann, sichtbar zu machen. Und da ich selbst Bücher publiziert und Vorträge gehalten hatte, war ich mitten in diesem Diskussionsfeld. Ich bin dann zum Computer übergegangen und habe mich um die Formproblematik zunächst nicht gekümmert, denn ich glaubte für mich erledigt zu haben, was man mit den damaligen Mitteln tun konnte. Stattdessen begann ich mich mit jenen Leuten zu befassen, die den Computer aus einer politischen Perspektive kritisieren. Auf einer Tagung in Berlin war Robert Jungk zugegen, den ich recht gut kannte und mit dem ich mich gut verstand; aber bei dieser Gelegenheit hat er die Studenten regelrecht beschworen, keine Computer zu verwenden und eine flammende Rede gegen die Computertechnik gehalten – sie sollte aus den Büros der Universitäten verschwinden. In der Diskussion hat sich eine junge Dame gemeldet und gesagt: „Ich spreche zum ersten Mal vor so vielen Leuten, aber Herr Jungk, ich muss gestehen, Sie haben mich so beindruckt, dass ich in meinem Leben sicher keine Computer verwenden werde.“ Das war die Schlussrede.

Bildwelten:

Wie hat er das begründet? Ging das gegen Technik im Allgemeinen? Oder, wie im Göttinger Manifest von 1957, gegen eine bestimmte Technologie wie die Atomkraft, die zur totalen Vernichtung benutzt werden kann?

„Der Computer ist ein Instrument, das uns beim Denken hilft.“

Franke:

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Es ging gegen die Maschine – der Mensch dürfe sich nicht einer Maschine überantworten! Dutzend Male bin ich mit ihm darüber in Diskussionen geraten. So hatten wir auch einmal eine Tagung in Salzburg, initiiert von Günther Schneider-Siemssen, dem früheren Chef-Bühnenbildner der Wiener Staatsoper. Er interessierte sich für neue Methoden der Szenografie, und daher auch für Computer. Dann hat Jungk in seinem Vortrag erneut dagegen opponiert. Ich war traurig darüber, denn die Leute waren gut gestimmt, doch nach Jungks Rede war es aus. Wir sind mit hängenden Köpfen abgereist. Das war eindrucksvoll, ein rhetorisches Meisterstück.

Bildwelten: Hat

die Kritik am Computer in Europa oder speziell in Deutschland eine andere Wendung genommen als z. B. in den USA?

Franke:

Sagen wir einmal so: Die teilweise rückwärtsgewandten Philosophien, die heute immer noch gelehrt werden, können in mancher Hinsicht belastend sein. Weil sie falsche Impulse geben, in falsche Richtungen. In den USA habe ich jedenfalls nie Diskussionen führen müssen, ob es legitim wäre, Computer einzusetzen. Ich weiß nicht, wie ein Philosoph, dem all diese Denkmöglichkeiten zur Verfügung stehen, trotzdem immer wieder zu religiös beeinflussten Erklärungen kommen kann.

Bildwelten: Sie haben den Computer als kreatives Medium dagegen gesetzt und ver-

folgen die Fragestellung schon seit dessen Frühzeit, das kündigt sich auch schon in Ihrem Buch Kunst und Konstruktion von 1957 an, in dem sie den neuen Formen elektronischer Bildgebungsverfahren nachgehen. Heute, da es überall Fernsehen, Internet, Smartphones gibt, scheinen die frühen Ansätze der Computerkunst nur Tastversuche zu sein. Franke:

Ich erinnere mich, wie ich ins Wiener Künstlerhaus gewählt wurde und dessen Präsidenten Hans Mayr kennenlernte, der Fotograf war. Das war eine Neuheit. Weil er nun meinte, der Fotoapparat sei eine Maschine, mit der man Kunst machen könne – das wurde der Fotografie durchaus noch abgesprochen! –, hatte er eben auch Interesse am Computer. Außerdem war ich zu jener Zeit befreundet mit dem stellvertretenden Präsidenten, einem österreichischen Vertreter der konkreten Kunst namens Ingerl, der mit geometrischen Formen gearbeitet und in einigen Fällen auch Computer verwendet hat. Da kamen wir drei also zusammen und wollten eine Initiative starten mit Namen Ars ex machina. Es schien ja zunächst, als würde mit dem Computer die Kunst noch einmal völlig von unten anfangen. Was aber Unsinn ist, denn wenn man der Sache historisch nachgeht, und genau das wollten wir tun, fanden sich eine eine Menge

126

Interview

1: Herbert W. Franke im Interview.

2: Frieder Nake: Klee No. 2, Sept. 13, 1965.

interessanter früherer Mechanismen, die in dieselbe Richtung weisen, die der Computer am Anfang nur in einer sehr schlichten Form leisten konnte, etwa Grafiken darzustellen. Wir wollten also eine Abteilung gründen, um historische Vorläufer und Techniken zusammenzutragen. Es sollte allerdings nicht nur eine Ausstellung sein, sondern eine Werkstatt für Computerkunst, indem wir die Archivräume im Untergeschoss als Unterrichtsstätte verwenden wollten. Doch das versprochene Geld kam nicht, und damit war das Projekt schnell erledigt. Ein paar Jahre später aber gab es dann doch noch eine kleine Entschädigung. Es meldete sich nämlich Hannes Leopoldseder, Intendant des ORF-Landesstudios Oberösterreich in Linz, und sagte, Salzburg hat seine großen Festwochen, die Grazer haben ihre Festtage, von Wien gar nicht zu reden, Linz hat noch nichts. So einfach war zunächst die Überlegung. Zunächst sind sie darauf gekommen, dass Bruckner aus der Nähe von Linz stammt und sich also Bruckner-Festspiele anböten. Tatsächlich wurden die ein paar Jahre lang betrieben, konnten aber nicht annähernd an die Salzburger Festspiele heranreichen. Und also hat Leopoldseder nach neuen Ideen gesucht und zufällig das Exposé für das Künstlerhaus gelesen. Er hat mich daraufhin besucht und angemerkt, dass das Fernsehen natürlich auch elektronisch interessant sei, ob man also das Bruckner-Fest nicht ergänzen könnte um elektronische Medien. So ist aus der Zusammenarbeit mit Persönlichkeiten wie ihm die Ars Electronica entstanden. Bildwelten: Die

heutige Generation wächst mit dem Medium Computer als einer Selbstverständlichkeit auf. Könnten aus dieser zeitlichen Distanz auch

„Der Computer ist ein Instrument, das uns beim Denken hilft.“

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neue Zusammenhänge sichtbar werden, vielleicht gerade wegen dieser Selbstverständlichkeit? Franke:

Das halte ich durchaus für möglich. Andererseits: Die jüngere Generation kann sich kaum die Kämpfe vorstellen, die bei Anlässen wie der Ars Electronica ausgefochten wurden. In der Anfangszeit musste man zum Beispiel programmieren lernen, um einen Computer gebrauchen zu können. Es hat nur Wenige gegeben, die sich die Mühe gemacht haben, Manfred Mohr etwa, der begriffen hatte, dass er mit seinen gestalterischen Ideen nur weiterkommt, wenn er einen Programmierkurs belegt. Er hat in Paris gelebt und in einem Recheninstitut nicht nur die Vorlesungen gehört, sondern auch die Gelegenheit bekommen, mit den Apparaten zu arbeiten. Das war der Beginn seiner Laufbahn, die ihn zu einem der profiliertesten Computerkünstler gemacht hat.

Bildwelten: Was konnte denn das Programm, was der Zeichenstift nicht konnte? Franke:

Es wäre heute sicher sinnvoll zu zeigen, dass es am Anfang gar nicht so sehr um Formen der Kreativität ging, sondern um Formen der Philosophie – auch um Philosophien, welche bestimmte Dinge zu denken verbieten. So weit ging es durchaus. Es war eine Art Protest. Der Computer ist ein Instrument, das uns tatsächlich beim Denken hilft, etwa wenn es um Probleme geht, die zu komplex werden. Einmal abgesehen von den kreativen Möglichkeiten. Ich habe in solchen Debatten immer darauf hingewiesen, dass zum Beispiel ohne physikalische Präzisionsmaschinen die ganze westliche Musikkultur nicht existieren würde. Und warum sollte das im visuellen Bereich nicht auch gelten? Wenn man es genauer überlegt, sind die Möglichkeiten im visuellen Bereich sogar noch viel größer, etwa wenn es um gestalterische, topologisch-geometrische Dinge geht, bei denen der Gesichtssinn das Wichtigste ist: Etwas, was man darstellt für jemanden, der es ansieht. Und während die Musik als lineares Phänomen ja immer noch auf der Basis der Schriftgelehrten steht, gibt es heute auch noch Leute, die sagen: „Um Gottes Willen, Bilder!“ Das ist trivial, das ist für Leute, die nicht lesen können. Das ist natürlich absoluter Unsinn.

Bildwelten: Wäre

es denkbar, dass dagegen andere progressive Richtungen eine besonders positive Wertung erfahren haben? Wir denken an die biomorphe Architektur oder die „Bionik“. Wenn die Architekten Frei Otto oder Richard Buckminster Fuller mit Flächentragwerken und Membranen natürliche Strukturen zu imitieren versucht haben, um damit Gebäuden eine besondere Leichtigkeit oder Festigkeit zu geben, so hat sich daran

128

Interview

doch kaum dieselbe Grundsatzkritik festgemacht, wie sie gegen Rechenmaschinen aufgekommen ist. Franke:

Das ist nur logisch. Wer gegen Maschinen argumentiert, zählt den Computer dazu. Jungk hat es vor allem damit begründet, dass der Computer für Kriegszwecke entwickelt worden sei. Und damit sind wir schon mitten im Aberglauben. Ich habe damals erwidert: „Wissen Sie nicht, dass Konrad Zuse schon lange vor dem Krieg mit diesen Fragen befasst war?“ Ich habe Zuse gut gekannt und bin heute überzeugt davon, dass es ihm allein darum ging, die Mühsamkeit des Rechnens zu erleichtern. Ich habe bei meiner eigenen Dissertation Tage verbracht, um siebenstellige Zahlen durch siebenstellige Zahlen zu dividieren. Da greift man dann die Idee, mit einer Maschine zu rechnen, sofort mit Freuden auf. Auch für Zuse hat sich erst später herausgestellt, in wie viele Bereiche er mit dem Computer noch hineingerät. So ist auch die Analogie mit dem Gehirn wohl begründet. In der Beherrschung von Komplexität hat das menschliche Gehirn eine bestimmte Zufluss- und Aufnahmekapazität, und wir sind heute mit einer Menge von Erscheinungen oder Informationen konfrontiert, denken wir nur an Wetterdaten, seismologische Messungen, an die Sozialforschung. Hier kann der Computer tatsächlich bestimmte Dinge, die das Gehirn einfach nicht mehr zusammenbringt.

Bildwelten: Wenn Friedrich Kittler oder Paul Virilio argumentiert haben, dass Krieg

der Antrieb neuer Technologien sei, ein „Vater aller Dinge“, würden sie also widersprechen? Franke:

Es gibt Aufgaben, bei denen wir es mit komplexen Problemen zu tun haben. Und die gibt es auch im Krieg, so wie die Ziele, die wir uns setzen, leider zu oft zu kriegerischen Maßnahmen führen. Wir lösen aber bestimmte Probleme für kriegerische Zwecke ebenso, wie wir sie für friedliche Zwecke lösen müssen. Sicher steht es nicht fest, dass ein Instrument, das für einen bestimmten Zweck entwickelt wird, auch für diesen Zweck verwendet wird. Wenn wir daraus aber folgern, Computer nicht mehr verwenden zu dürfen, erleben wir nur eine Zweiteilung der Bevölkerung in die Computernutzer und die Computer-Analphabeten.

Bildwelten: Das dürfte kaum das Ziel von Zukunftsforschung gewesen sein. Haben

wir in den Wissenschaften verlernt, in die Zukunft zu denken? Franke:

Wir haben in Amerika große Institute, die sich als Ziel gesetzt haben, vor allem über die Zukunft nachzudenken. Hier in Europa gibt es das weniger, aber es gibt doch Gruppen, die es konsequent machen. Ob der Name

„Der Computer ist ein Instrument, das uns beim Denken hilft.“

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3: Cover des Ausstellungskatalogs Cybernetic Serendipity, einer Ausstellung zu Computerkunst, die 1968 zunächst in London und dann in den USA gezeigt wurde.

„Zukunftsforschung“ nun verwendet wird oder nicht, das ist sekundär. Ich könnte mir denken, dass man den Ausdruck vermieden hat, weil zu viel Schindluder damit getrieben wurde. Einen Parallelfall haben wir in der Kybernetik. Bei mir hat sich einmal der Tennisspieler Ingo Buding gemeldet und gesagt: „Ich habe ein bisschen Kybernetik studiert, ich werde jetzt eine Tennisschule gründen und meine Methode die kybernetische nennen.“ Da habe ich erwidert: „Ja, was ist denn daran kybernetisch?“ – „Ich bringe den Leuten bei, dass sie nicht nur mit einer Hand schlagen sollen, sondern auch die andere Hand nehmen, und einen Beckenschlag mit zwei Armen machen.“ Da ist es kein Wunder, wenn die Leute begonnen haben zu sagen, dass Kybernetik Unsinn ist. Das ist schade. Denn wir betreiben die reinen Wissenschaften weiter. Erst aus deren Zusammenführung ergab sich später das, was allgemein Kybernetik genannt werden sollte, vor allem natürlich die Informationstheorie, außerdem Spezialgebiete wie die Kodierungstheorie. Die Kybernetik ist wirklich ein großartiger Versuch einer Wissenschaft, die eine Analogie zur Physik bildet und von der aus man auch in biologische Prozesse und in Denkprozesse hineinkommt. Meine Erwartung ist, dass das, was seinerzeit Kybernetik genannt wurde und heute vielleicht Informationstheorie heißt, mit der Zeit die Philosophie ersetzen wird. Bildwelten: Würden Sie von sich selbst sagen, dass Sie Zukunftsforscher sind?

130

Franke:

Interview

Ich würde mich eher Kybernetiker nennen oder besser noch: Physiker. Die Zukunft interessiert mich eigentlich nur, wenn sie negativ ist. Ich erinnere mich an ein Symposium, es waren ungefähr dreißig Leute zugegen, und jeder hat geklagt, dass sich die Dinge so schlecht entwickelt hätten. Ich war als Letzter an der Reihe und habe eingeräumt, dass die Menschheit vor gewaltigen Problemen stünde, aber vielleicht sei ich auch der einzige, der sich darüber freut; denn ich schreibe ja ScienceFiction-Geschichten über Konfliktsituationen und Gefahren, die auf die technische und wissenschaftliche Entwicklung zurückgehen. Und damit meine ich bestimmt nicht Konflikte, die irgendwo mit Lichtschwertern ausgetragen werden, sondern irdische Probleme, die sich längst andeuten oder mit denen man zumindest rechnen muss.

Bildwelten: Benutzen Sie darum auch Science Fiction, als Mittel zur Problemlösung?

Oder als eine Art vorausschauende Analyse? Franke:

Ich gebe in meinen Geschichten keine Lösungen an. Das widerspräche dem Ausdruck eines Forschers, der dann doch etwas konkreter werden müsste. Ich bleibe dort stehen, wo sich die Entwicklung andeutet. Ich habe dagegen ein Spezialgebiet, auf dem ich mich noch am ehesten als Zukunftsforscher bezeichnen würde, und das ist die bildende Kunst. Denn von dem Moment an, als ich mir überlegt hatte, was denn eigentlich der Einsatz einer Maschine in der Kunst bedeutet, musste ich auch zur Kenntnis nehmen, dass ich in einem Zeitalter lebe, in dem zum ersten Mal komplexere Maschinen für visuelle Zwecke eingesetzt werden – und zwar für produktiv-kreative. Also nicht in einem abbildenden, sondern in einem generativen Sinne. Die Frage war nun, wie es damit weitergeht. Bei diesen Überlegungen hat mir immer der Rückgriff auf das Musikinstrument geholfen. Da erkennt man zum Beispiel, was ein Instrument über die formalen Möglichkeiten der Stimme hinaus leisten kann; und etwas Analoges gilt ja für die Maschinen, die Bilder erzeugen. Wir haben daher auch gleich den Sprung zum Computer gemacht, was ein wenig schade war, denn es gab Phasen, in denen wir mit mechanischen und optischen Geräten noch sehr viel mehr hätten machen können – die Techniken waren noch nicht ausgereizt.

Bildwelten: Die Basistechnologie hat sich seither rasant weiterentwickelt. Selbst einfa-

che Spiele-Konsolen haben riesige Grafikkarten, mit denen sie in Echtzeit 3D-Darstellungen animieren. Wo befindet sich heute eher das Terrain für Computerkunst: im Bereich von Algorithmen, von komplexen Anwendungen, von sozialen Netzwerken?

„Der Computer ist ein Instrument, das uns beim Denken hilft.“

Franke:

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Das ist das Schöne an der Kunst, dass man in alle möglichen Richtungen gehen kann. Einiges verschwindet, einiges hält sich. Ich habe kürzlich jemanden getroffen, der auf Avatare in virtuellen Welten spezialisiert ist; er fotografiert Menschen und konstruiert daraus Avatare, die sie als Stellvertreter im Netz verwenden können und die ihnen so ähneln, dass sie sich tatsächlich damit zu identifizieren beginnen. Als wir über Interaktion nachgedacht haben, gab es diese Avatare noch nicht, und damit auch nicht diese Wirkung. Ich dachte mir: Was bringt es, einen Avatar in eine Lederhose zu stecken und herumhampeln zu lassen? Aber sobald Sie eine menschenähnliche Gestalt vor sich sehen, ist es merkwürdig, dass Sie sich doch damit identifizieren. Auf einmal wird auch die künstliche Umwelt realer, denn auch der eigene Standpunkt ist plötzlich besser dokumentiert. In Verbindung mit dem Netz haben sich dann ja weitere Möglichkeiten ergeben, etwa gemeinsame Musiksessions oder Tagungen, bei denen die physischen Grenzen wegfallen; auf diesem Gebiet wird es eindeutig noch viel mehr geben. Andererseits wurden später auch Künstler zur Ars Electronica eingeladen, die sich mit Japan oder Peru verbunden hatten und miteinander sprechen konnten. Das war zwar nützlich, aber ich fand es nicht sonderlich interessant. Wenn zum Beispiel zwei Tänzer ein Stück aufführen, in dem sie zusammenkommen, obwohl sie in Realität getrennt agieren, dann ist ja nicht nur die Zusammenkunft das Thema, sondern auch die Trennung. Genauso können Sie heute überall mit jedem reden, aber es bleiben Grenzen der Kommunikation. Und ich finde genau diese Erfahrung von Barrieren ebenfalls wichtig.

Bildwelten: Durch

das Internet ändert sich in gewisser Weise auch der Künstlerbegriff, wenn Dinge von Menschen geschaffen werden, die an verschiedenen Orten tätig sind und etwas erzeugen, was nur im Internet möglich ist. Aber was wäre das Ziel einer solchen Arbeit? Wenn wir in der Lage wären, über das Internet Roboter zu steuern, die einen abstrakten Tanz aufführen: Zeigen wir damit nicht bloß, was technisch gerade machbar ist?

Franke:

Es kommt auf jeden Fall mehr dazu. Es gibt in Paris eine Künstlergruppe mit Namen Ars Mathematica, der sich speziell der Skulptur annimmt. Bei der ersten Ausstellung sollte ich etwas einreichen. Es ging darum, Skulpturen zu errechnen, die dann aus Metall zusammengesetzt werden. Und ich fragte mich: Wozu soll ich das tun? Dann stehen später irgendwo ein paar Metallteile herum. Aber das muss ja eben nicht das Ergebnis sein. Denn wenn sie mit virtuellen Objekten arbeiten, können Sie ja auch im elektronischen Raum bleiben und Dinge auf einem Schauplatz präsentieren, auf dem die physikalischen Gesetze nicht gelten. Außerdem können

132

Interview

wir natürliche Formen oder Bewegungen – etwa eine Tanzbewegung – mit elektronischen Bildern rückkoppeln oder etwa verschiedene Bühnen oder Orchester virtuell verschmelzen. Das ist dann durchaus mehr als vernetztes Arbeiten. Bildwelten: Das

führt uns wieder zu einer früheren Frage zurück. Sie haben angedeutet, dass bildliche Darstellungen in den Wissenschaften weiterhin als eine illustrative Zutat angesehen würden, vielleicht spektakulär, aber von der Sache her erlässlich oder sogar störend. Im Gegensatz dazu ist es eine Aufgabe unseres Jahrbuches zu zeigen, ab wann es in den verschiedenen Disziplinen ohne visuelle Mittel nicht mehr weitergeht; etwa ab wann Bildstrukturen eine Komplexität bieten, die anders nicht mehr zu bewältigen ist – und damit kommt auch der Computer ins Spiel.

Franke:

Da sind Sie genau dort, wo es mir darum geht, etwas zu bewegen. In einer virtuellen Welt können Sie einen imaginären Blickpunkt errichten, von dem aus Sie zum Beispiel auf das Meer schauen und zugleich mit einem Steuerpult den Wind und den Wellenschlag regeln. Schon aus der Überlagerung von Wellen würden sich Muster ergeben, die sie nicht mehr rein verbal beschreiben können, aber das wäre noch kein besonders anspruchsvolles Ziel. Wenn Sie das Ganze hingegen so komplex programmieren und so viele Erkenntnisse einfließen lassen, dass Sie sogar simulieren können, wo sich Tsunamis bilden oder welche gewaltigen Folgen sie haben, geht es um eine ganz andere Qualität des bildhaften Begreifens. Umso wichtiger wäre es zu zeigen, dass solche Bilder oder Technologien nicht nur längst und überall in den Wissenschaften Verwendung finden, sondern dass sie meist von Wissenschaftlern hergestellt werden, die zwar ihre Darstellungen zu lesen verstehen, aber keine Ausbildung darin erhalten haben, sie in optimaler Qualität herzustellen. Daher wird es künftig einen spezielleren Designerberuf geben müssen, bei der ein Grafiker weiß, dass die Formen eines Flussdiagramms so logisch angeordnet werden müssen, dass die Grafik den richtigen Zugang zur Sache bietet. Das kann auch der normale Grafiker nicht ohne zusätzliche Fachkenntnisse.

Bildwelten: Denken

Sie an Kollegen aus der Visuellen Kommunikation, wie Felice Frankel oder Edward Tufte, die sich mit der konkreten Gestaltung solcher Grafiken beschäftigen?

Franke:

Ich denke vor allem an ein Design, das im Bereich des Computers auf allen Ebenen an- oder einsetzen muss. Sie wissen, dass der Computer auch ein wichtiges Instrument der wissenschaftlichen Fotografie gewor-

„Der Computer ist ein Instrument, das uns beim Denken hilft.“

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den ist. Ohne ihn können wir bestimmte Aufnahmen gar nicht mehr erzeugen, etwa bei den Mars-Missionen. Damit ist eine neue Stufe der Entwicklung erreicht, weil zu den klassischen Instrumenten noch ein Universalinstrument hinzukommt, das zwar sicher nicht alles kann, was diese klassischen Instrumente können, aber dafür in anderer Richtung erheblich weitergeht. Wenn Sie etwa einen dreidimensionalen Körper perspektivisch darstellen, haben Sie heute mit Stephen Wolframs System Mathematica längst auch eine einfache Möglichkeit, diesen im Raum zu drehen und zu animieren. Das ist wichtig, denn wenn es sich um kompliziertere Strukturen handelt, etwa Moleküle, dann braucht unsere Wahrnehmung auch diese Drehbewegung. Dann erkennen Sie plötzlich die Überlagerungen und Schnittflächen, die Symmetrieachsen und Muster. Das ist jedesmal ein Aha-Erlebnis. Darum habe ich auch einmal der Firma Siemens für eine Ausstellung vorgeschlagen zu zeigen, wie sich Elektronen in einem Halbleiter durch das Gitter bewegen, und habe berechnet, wie die Spiegelflächen liegen müssten, damit wir so einen Kaliumarsenit-Kristall auch sehen und in ihm frei herumgehen können. Ich lernte jedoch den neuen Abteilungsleiter kennen, der für so etwas gar keinen Sinn hatte und nur gesagt hat: „Was wollen Sie da mit Ihren Spiegelflächen? Die sehe ich doch in jeder Toilette!“

Aber um ernst zu bleiben: Ich glaube, dass dasjenige, was wir als ästhetisch oder im klassischen Sinne als schön bezeichnen, immer auch ein Optimum der Verständlichkeit beschreibt, und damit auch wissenschaftlich wichtig ist. Nehmen Sie zum etwa das Beispiel der Stetigkeit: Nur wer eine stetige Bewegung wahrnehmen kann, weiß auch, wo ein Stein landet, den jemand wirft. Stetigkeit ist eine mathematische Eigenschaft, ein Ordnungsprinzip, das der Mensch schon in den Anfängen verwendet hat. Und in Ornamenten können Sie wiederum viele Überlagerungen sehen, die von solchen stetigen Kurven herrühren. Dieser Gedanke lag schon der Informa­tions­ ästhe­tik zugrunde, denn Information ist ein Maß für Komplexität – und nicht für die Mitteilung von semantischen Inhalten. Wobei man natürlich nicht den „Bense’schen Weg“ gehen darf. Bense hatte angenommen, dass man über ein Bild ein Raster legen und es wie mit einem Scanner in seine Graustufen zerlegen könnte und auf diese Weise erfahren würde, worin die Komplexität des Bildes besteht oder wie es aufgenommen wird. Menschen zerlegen meines Ermessens nach aber Bilder nicht in Graustufen und zählen dann aus – sondern verarbeiten u. a. Profillinien, Bewegungen oder – was man in Ornamenten oft sieht – stetige Kurven. Es scheint also die Ordnungseigenschaft zu sein, welche die Menschen offenbar goutieren.

134

Interview

4 und 5: Herbert W. Franke im Interview. Bildwelten: Geht es denn bei Informationen darum, ob sie goutiert werden können? Franke:

Es könnte zumindest ein Grund dafür sein, wieso manche wissenschaftlichen Fotografien überraschend schön wirken. Natürlich gibt es dort Gesetzmäßigkeiten wie zum Beispiel Symmetrie, doch viel erstaunlicher ist, dass die Forscher bei einem Bild, das sie mit dem Elektronenmikroskop erzeugen, genau diejenige Ausschnitte suchen, die den Betrachter nicht überfordern, aber auch nicht monoton wirken. Sie werden also darauf ausgerichtet.

Bildwelten: Welche

Folgerungen ergeben sich daraus? In der Architekturtheorie wurde ja über Jahrhunderte gelehrt, dass die Gliederung eines Gebäudes oder seiner Fassade harmonischen Teilungsgesetzen unterliegen soll, die auch in der Natur vorkommen und daher das Auge erfreuen. Seit es neue Werkstoffe gibt, seit sich am Computer andere Formen entwerfen lassen, ist diese Ansicht nicht mehr selbstverständlich. Aber müssten Harmonieregeln nicht weiterhin gelten? Ist es eine Art positiver Überschuss des Computers, wenn mit ihm traditionelle Bauweisen, Ästhetiken oder auch physikalische Grenzen durchbrochen werden?

Franke:

Ich glaube, dass das Problem mit dem Computer nichts zu tun hat. Vielleicht als Anstoß, einmal darüber nachzudenken, das schon. Mir ist es natürlich auch aufgefallen: Harmonie in der Musik und Harmonie im visuellen Raum. In der Musik hat sie aber eine andere Bedeutung, denn das Ohr funktioniert tatsächlich im Sinne einer Vorher-Analyse und hält

„Der Computer ist ein Instrument, das uns beim Denken hilft.“

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die einzelnen Schwingungskomponenten auseinander. Das könnte dann im Gehirn dazu führen, dass sie sogenannte harmonische Musik besser aufgenommen wird als atonale Musik. Bildwelten: Was

aber ja nicht heißt, dass Musik nur dem Aufnahmevermögen zu genügen hat.

Franke:

Ja, aber man muss bei solchen Problemen immer auch bedenken: Die Fähigkeit, Ordnungen oder Muster zu sehen und zu erkennen, was hinter ihnen steckt, müsste in einer naturhaften Umgebung auch wirksam und nützlich sein. Stetigkeit ist ein schönes Beispiel dafür. Stetigen Kurven machen nicht nur bei einem geworfenen Stein einen Sinn, auch jede Bewegung läuft mit weniger Energie ab, etwa wenn ich mich auf einer stetigen Kurve bewege, wenn ich stetige Bewegungen beim Laufen mache undsoweiter. Diese Gesetzmäßigkeit ist dem Menschen klar, er sieht sofort, ob einer humpelt. Ein Sporttrainer kann unterscheiden, ob jemand falsche Bewegungen macht. Das meine ich mit der Frage: Hat eine bestimmte Form einen Sinn? Das Erkennen von Proportionen in den visuellen Künsten hat meines Erachtens wenig Sinn. Weil es mich gestört hat, dass immer dieser „goldene Schnitt“ als Beispiel herhalten muss, habe ich ein interaktives Computerprogramm geschrieben, bei dem die Leute ein nach ihren Ansichten ideales Rechteck einstellen können, damit anschließend die Proportion abgelesen werden. Mich hätte interessiert, ob es wirklich eine Häufung im Bereich des goldenen Schnitts gibt – es gäbe ja auch Alternativen wie etwa die Wurzel aus Zwei oder das ideale Rechteck, das Helmar Frank aus der Informationsästhetik heraus definiert hat. Komischerweise liegen die drei Proportionen, die da zur Diskussion stehen, recht nahe beisammen. Das heißt andererseits aber auch, dass man hier schon etwas genauer unterscheiden müsste. Schätzwerte genügen da nicht. Insofern gehe ich an solche Fragen weiterhin als Physiker heran und suche nicht in den Proportionen griechischer Ornamente nach Bestätigungen für meine Thesen, nur um sie dann wieder nur zur Norm zu erklären. Wissenschaft ist für mich ein Weg vom Ungewissen, Stufe zu Stufe, zu einer genaueren Kenntnis dessen, was man haben will. Wenn einer zum ersten Mal ein Ausgangsmodell findet, das weiterführend ist, dann bleibt es auch dann eine Leistung, wenn sich nachher herausstellt, dass es sich anders verhält.

Bildwelten: Wir

befassen uns auch mit Fällen, in denen wissenschaftliche Modelle plötzlich zu einer eigenen Realität werden. Nehmen wir das Diagramm der DNS-Doppelhelix, deren Aufbau 1953 von Watson und Crick in

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Interview

einer Grafik erläutert wurde, versehen mit dem Warnhinweis, die Darstellung sei „purely diagrammatic“. Heute ist die DNS eine regelrechte Ikone der Wissenschaft. Franke:

Es gibt aber auch Gründe dafür. So stecken in einer geometrischen Form wie der Doppelhelix – oder nehmen Sie den Benzolring, eine noch einfachere Formel – ja bestimmte geometrische Grundstrukturen oder Ordnungen, bei denen es sehr verwunderlich wäre, wenn sie nicht auch in der Natur vorkämen. Und Ordnung bedeutet immer ein Minimum an Energie, ob man nun eine Baugerüst nimmt oder einen tierischen Knochen, es bleibt zu vermuten, dass ihre einzelnen Elemente auf hohen Ordnungsgrad ausgerichtet sind. Auch bei der Helix macht die Form nicht nur Sinn für den Austausch von Information zwischen zwei Einheiten, sondern auch, weil diese Information auf einem langen Band aufgereiht werden kann und zugleich platzsparend eingerollt oder gefaltet ist. Ich meine, dass ein fantasiebegabter Mensch sich alle möglichen Formeln durch den Kopf gehen lässt, darunter eben auch die Doppelhelix, aber erst bei der Arbeit mit dem Zeichenstift, bei Überlegungen am Modell oder an konkreten Gegenständen auf einmal denkt: „Donnerwetter, das könnte passen.“

Bildwelten: Nun versuchen wir mit unserer Arbeit zu zeigen, wie unterschiedlich ein

und derselbe Gegenstand visualisiert werden kann, und zwar gerade in solchen Bereichen, also jenseits der natürlichen Sichtbarkeit: Da werden Schattierungen und Leuchteffekte, Farben und Hintergründe eingesetzt, um eine Plastizität zu erzeugen, die mit den Ausgangsbeobachtungen nicht mehr viel gemein hat. Sagen derartige Darstellungen nicht viel mehr über den Beobachter und seine Geräte als über den Gegenstand? Franke:

Im Gegensatz zu einer alltäglichen Fotografie, wo man einen Abgleich mit dem eigenen Auge hat, gibt es in den unsichtbaren Bereichen keinen Vergleich. Aber dafür hat man zuweilen eine größere Freiheit. Ich habe zwölf oder dreizehn Jahre gemeinsam mit einem Physiker des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt gearbeitet. Die Leute durften die dortigen Computer in der freien Zeit, etwa an Wochenenden, für eigene Zwecke verwenden. Bei dieser Gelegenheit habe ich die Fraktale kennengelernt, wollte aber nicht unbedingt damit arbeiten, sondern habe mir gedacht, wir könnten auch in anderen Gebieten der Mathematik Formen zum Vorschein bringen, indem wir Formeln visualisieren, etwa in der Statistik mit ihren Verteilungsfunktionen, oder indem wir mit komplexen Zahlen arbeiten.

„Der Computer ist ein Instrument, das uns beim Denken hilft.“

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6: Stiftung Warentest, Heimcomputer im Test, Ausgabe 10/1984. Bildwelten: Gibt

es Probleme der Mathematik, die wir nur durch Visualisierungen dieser Art begreifen oder lösen können?

Franke:

Nehmen Sie die Wurzel aus negativen Zahlen, die ist für uns nicht verständlich. Wir können sie symbolisch aufschreiben und damit rechnen, sicher. Es wird sogar etwas Vernünftiges dabei herauskommen, dann freut man sich – und wundert sich doch. Können wir uns diese Zahlen vorstellen? Zumindest gibt es ein Problem, das man mit diesen negativen Wurzeln auf visuellem Wege lösen kann, und zwar mithilfe von Strömungsbildern – also Strömungen, die ein Hindernis umgehen. Da erhalten Sie durch Rechnen mit negativen Wurzeln Bilder mit bestimmten Symmetrien, mit Kraft- und Bewegungslinien, die so angeordnet sind, dass sie die Linien sofort als Bewegung deuten – und so ist es ja auch in der Natur. Es ist im Grunde nichts anderes als die Anwendung der Vektormethode, die Sie in diese konformen Abbildungen übertragen. Sie haben zwei Koordinaten, zwei Richtungen, die nichts miteinander zu tun haben, die Sie aber im Bild zusammenbringen. Wirklich vorstellbar ist es aber immer noch nicht, so wie wir uns keine sechs- oder siebendimen­sionalen Räume vorstellen und trotzdem mit ihnen rechnen können.

Bildwelten: Gibt es andere Beispiele?

138

Franke:

Interview

Vielleicht sind Fourier-Transformationen noch näher an der Realität als das Beispiel mit den Strömungsbildern. Mit ihrer Hilfe können Sie den Frequenzgang analysieren und sichtbar machen, der vom Ohr wahrgenommen wird; ein grundsätzlicher Unterschied müsste schon deshalb zu finden sein, weil manche Tiere Infraschall erkennen, der Mensch dagegen nicht. Andererseits wird selbst ein Mathematiker bei einer computergenerierten Visualisierung nicht gleich erkennen, dass sie auf einer Fourier-Transformation beruht. Dass etwas Komplizierteres dahinter steckt, merkt man erst, wenn man diese Transformationen als Animation darstellen lassen will; in manchen Fällen muss man immer noch sekundenweise warten, bis das nächste Bild erzeugt ist. Das ist einer der Bereiche, bei denen man noch merkt, dass ein großer Rechenaufwand dahintersteckt.

Bildwelten: Hat

Sie dieses Arbeiten am Computer auch zu der Überlegung geleitet, dass wir mit Hilfe des Computers auch physikalische Prozesse selbst verstehen könnten? An einer Stelle schreiben Sie: Es komme nicht darauf an, die Weltformel zu finden, sondern zu verstehen, wie die Welt programmiert sei.

Franke:

Das ist richtig. Ich zeige Ihnen einmal ein einfaches Programm mit zellularen Automaten.

Bildwelten: Also

eine Simulation, bei der einfache Rechenvorgänge zusammengenommen einen dynamischen Prozess in Gang setzen …

Franke:

Stellen Sie sich einmal vor, die gesamte Welt wäre auf einer Zeile ausgeschrieben – eine Zeile, die ich beliebig unterteilen und die theoretisch endlos sein kann. Diese Welt entwickelt sich in der Zeit. Das wird ausgedrückt durch den Schritt von einer Zeile zur nächsten. Jetzt lege ich folgendes Programm an: Ich addiere, sagen wir, drei nebeneinander liegende Punkte und trage das Ergebnis in der nächsten Zeile ein. Mit der Zeit erscheinen oder verschwinden bestimmte Werte. Das Interessante daran ist, dass es in vielen Fällen keinerlei Rechenmethode gibt, mit der ich vorausberechnen könnte, wie zum Beispiel die tausendste Figuration aussieht. Denn um das wissen zu können, müsste ich ja dasselbe Rechensystem nutzen, das hier gerade arbeitet. Theoretisch können Sie das jederzeit auch mit Stift und Papier machen, doch hier sehen Sie den Effekt sofort.

Bildwelten: Um

die verschiedenen Werte anzuzeigen, haben Sie sich für eine Darstellung in Farben entschieden.

„Der Computer ist ein Instrument, das uns beim Denken hilft.“

Franke:

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Sie könnten anstelle der Farben auch Ziffern einsetzen. Jede Ziffer kennzeichnet den Zustand einer Welt an einer bestimmten Stelle – ob sie elektrisch geladen ist oder nicht, Gravitation besitzt oder nicht. In dieser Modellwelt gibt es nur fünf Zustände, aber die Überlegung, die damit demonstriert wird, gilt in jeder noch so komplizierten Welt in derselben Weise. Sie sehen ja, welche Vielfalt aus einem einfachen Regelsystem entspringt, das nichts anderes enthält als eine Zeile, in der die Zustände zwischen eins und fünf vorkommen können.

Bildwelten: Andererseits, wenn wir Diagramme oder Visualisierungen wie Ihr Pro-

gramm nehmen, bei denen Anschauung zu einem Verständnis von etwas führen soll: von was? Wenn wir in Farbmuster etwas hineinsehen, sagt das viel über unsere Wahrnehmung – was sagt es über den Gegenstand? Franke:

Sagen wir einmal so: Wenn Sie nicht mit fünf verschiedenen Zuständen arbeiten, sondern zum Beispiel mit neun, oder wenn Sie die Zellen ein wenig vergrößern, dann können Sie erstaunliche Dinge geschehen sehen. Da entstehen plötzlich Figurationen, die sich länger als andere erhalten und die sich gewissermaßen gegen Störungen von außen zu verteidigen scheinen oder die auf Fluktuationen dadurch reagieren, dass sie sich wieder in Stand setzen. Und dann kommt das Erstaunliche: Neben diesen, mit Selbsterhaltungsmöglichkeiten ausgestatteten Einheiten gibt es hier sogar noch welche, die sich die Energie dazu holen, indem sie andere Einheiten verzehren. Mit anderen Worten: Es sind Parasiten. Das Parasitäre steht also schon am Anfang der Entwicklungsgeschichte. Wie Sie sehen, geht es auch hier um Zukunft, aber ich betrachte sie nicht mit den üblichen Methoden der Zukunftsforscher.

Bildwelten: Ihr

Programm erinnert an die frühen Computerexperimente zum Durchspielen ökologischer Prozesse.

Franke:

Es ist natürlich stark vereinfacht, aber bei der Arbeit mit einem solchen Programm sehen Sie, dass Sie Anfangsbedingungen brauchen. Ein Computerprogramm kann nur dann eine Aufgabe abarbeiten, wenn Sie einen Anfang vorgeben. In der Mathematik, die wir für die physikalischen Prozesse verwenden, gibt es keine solchen Anfangs- und Nebenbedingungen, und es gibt mathematische Beweisverfahren, wo sich beim Zurückrechnen Mehrdeutigkeiten ergeben. Nur wenn sie mit Zufallsgeneratoren arbeiten, umgehen sie das. Daher nehme ich an – und ich habe gute Gründe dafür –, dass unsere Welt in einem wichtigen Teil durch den Zufall bestimmt ist, und zwar in diesen Mikrodimensionen, auf denen dann größere Ordnungen aufbauen, die wir für regelmäßig oder stabil halten. Das heißt auch,

140

Interview

wir sind nicht in einer deterministischen Welt, sondern in einer Welt, die nach Regeln verläuft und dennoch Überraschung bietet und Innovation hervorrufen kann. Das Programm kann also sichtbar machen, welche fundamentale Bedeutung der Zufall in der Physik hat. Der Zufall ist beteiligt an der Strukturbildung, er kann Wachstumsprozesse initiieren, und er ist nicht voraussagbar. Unser Universum kann im Prinzip durch eine Leere entstanden sein, auch was die Größe betrifft, es kann beliebig klein gewesen sein. Aber erst, wenn sich Materie bildet, kommt es zu Wechselwirkungen, und je komplizierter das Ding dann wird, umso komplizierter werden auch die Wechselwirkungen. In der Welt der Physik haben wir heute ein Ensemble von vielleicht zehn Grundgleichungen. Was ihnen fehlt, sind jedoch Wechselwirkungen oder kreisfunktionale Prozesse, bei denen die Zeit eine Rolle spielt und bei denen dasjenige, was einmal gerechnet wurde, auch wieder in den Kreislauf eingespeist wird. Bildwelten: Haben Sie eine bestimmte Anwendung im Kopf gehabt, als Sie das Pro-

gramm geschrieben haben? Franke:

Mit einem Programm kann ich in eine Dimension ausweichen, die zu vernünftigen Resultaten führt, die auch auf anderem Weg hätten gefunden werden können – doch ist es sicher anschaulicher, über diese Abbildungen zu gehen. Und um ein konkretes Beispiel zu nehmen: In der Schwachstromtechnik werden einige Probleme auf diese Weise gelöst. Aber mir geht es doch eher um eine Beweisführung. Das Programm kann zeigen, dass schließlich alles wieder zusammenläuft und leer wird. Es kann auch vorführen, dass es Materie gibt, die aus dem Nichts heraus entsteht. Es besteht die Möglichkeit, dass wir in einer Welt leben, die eines Tages vollständig verschwindet. Aber ich kann es eben nicht vorausberechnen. Sicher ist nur: Sie können es so lange laufen lassen, wie Sie wollen, es wiederholt sich nie.

Bildwelten: Läuft es bis zum Jüngsten Tag oder zumindest bis zum Ende des Rechners? Franke:

Bis zum Exit-Befehl – ich arbeite hier ja noch auf der DOS-Ebene. Zumindest emuliere ich sie mit einem Hilfsprogramm. Dabei sehen Sie auch, was das Programm ausmacht: Jemand muss es gestaltet haben und jemand muss den Knopf drücken. Darum beschreibt es kein Weltgesetz, nur eine Näherung, eben ein Programm, mit dem sich zeigen lässt, dass Sie genau dieselbe formale Rechenmethode auch ins Lineare übertragen könnten. Denn wir Menschen fangen beim Einfachen an.

Bildwelten: Damit

sind wir wieder bei gestalterischen Praktiken. Wenn Sie ein Programm schreiben, arbeiten Sie innerhalb bestimmter Möglichkeiten, so

„Der Computer ist ein Instrument, das uns beim Denken hilft.“

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wie wir auch an die Bedingungen gebunden sind, die uns durch Fotografie und Film, durch Modelle oder Bleichstiftzeichnungen geboten werden. Sollten wir uns dieser gestalterischen Bedingungen wieder stärker bewusst werden, gerade im Computerzeitalter? Und sollten Wissenschaftler auch wieder darin unterwiesen werden, zu zeichnen, zu modellieren, zu fotografieren, so wie wir rechnen oder schreiben können müssen? Franke:

Ja, dem würde ich zustimmen. Denn selbst wenn sich diese Fertigkeiten in der Wissenschaft nicht sofort als nützlich erweisen, so hat es für den Unterricht und für das Denken große Bedeutung. Wir haben ja noch gar nicht angesprochen, wie sehr die jungen Menschen mit Dingen gequält werden, die vielfach überflüssig sind. Ich finde zum Beispiel, dass man Mathematik in den ersten Jahren überhaupt nicht mithilfe von Formeln unterrichten sollte, sondern einen großen Teil der Logik, die in den Operationen steckt, mit Bildern verständlich machen kann, und zwar umso mehr, je komplizierter die Formeln sind. Ich gebe gelegentlich einem Verlag einige Grafiken von mir, für die Umschläge einer mathematischen Buchreihe. Einmal wurde mir mitgeteilt, dass ein Band zur Statistik in Planung sei. Da habe ich gesagt, das wäre die ideale Gelegenheit, um vielleicht auch im Buchinnern einige ansehnliche Darstellungen unterzubringen. Im Belegexemplar waren dann nur drei Karikaturen von Schülern, die mit dem Bleistift vor dem Papier sitzen und irgendwelche Formeln notieren. Und das ausgerechnet bei einem Thema wie der Statistik, wo Verteilungen so schwer zu beschreiben sind. Wenn sich zum Beispiel mehrere Symmetrien überlagern, wird man wahrscheinlich aus der Formel nicht sehr viel entnehmen können, man könnte es aber ausgezeichnet mit Bildern zeigen. Das wäre übrigens wieder so ein Punkt, wo sich der Eindruck der Schönheit und der Eindruck des Geordneten überschneiden.

Bildwelten: Das erinnert uns an das Argument des Biochemikers und Kybernetikers

Frederick Vester, der in seinem populärwissenschaftlichen Buch Denken, Lernen, Vergessen von 1975 für „mehrkanaliges Lernen“ geworben hatte, auch für den Einsatz anschaulicher Darstellungen aus dem Alltag. Damit hat er zwar auf alte pädagogische Modelle zurückgegriffen, aber sein Argument lag vor allem darin, dass Menschen ihr Wissen auf verschiedene Weise erlernen und daher auch eine Kombination von Lernmitteln am besten sei. Franke:

Es gehen in der Tat einige Punkte, die ich erwähnt habe, auf Vester zurück. Ich habe ihn gelesen, diese Punkte damals jedoch nicht im Auge gehabt, das kam erst mit dem Interesse an der Informationstheorie, wo

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Interview

es um die Ordnungen ging, die in der Kunst eine Rolle spielen könnten. Ich weiß nicht, was Vester damals schon beweisen konnte, aber vieles dürfte sich ja als richtig erwiesen haben. Bildwelten: Aber müsste es dann nicht umso mehr erstaunen, wenn bis heute ein Groß-

teil von Mathematiklehrbüchern keine einzige Abbildung verwenden? Franke:

Ich habe den Eindruck, dass hier Glaubensfragen eine Rolle spielen. Jemand, der ein einführendes Buch schreibt, überlegt sich vielleicht im Stillen, dies oder jenes könnte ich vielleicht mit einem Bild … aber nein, lieber nicht, dann gelte ich bei den Kollegen als populärwissenschaftlich. Das ist sicher ein Punkt. Ich hab vor Kurzem einen Chemiker gehört, der ein solches Werk geschrieben hatte und dann sagte: „Das ist mir gelungen, ohne ein einziges Bild in dem Buch zu verwenden.“

Bildwelten: Wäre der Computer nicht eine Möglichkeit, diese Glaubensfrage endlich

zu umgehen? Wenn Grafiken computererzeugt sind, sind sie so wahr, abstrakt, sachlich wie jede Formel. Franke:

Ich habe einmal versucht, die menschliche Verarbeitung von Sinnesreizen in einem Aufsatz in Leonardo zu erläutern, indem ich Flussdiagramme verwende. Da habe ich aber lange dafür kämpfen müssen, dass sie auch nur ein einziges Diagramm zeigen, und das wurde noch dazu so klein abgedruckt, dass ich es verbal beschreiben musste – was kaum machbar ist. Darum habe ich in dem Buch Kybernetische Ästhetik noch einmal versucht, dieselben Fragen so kurz wie irgend möglich zu beschreiben und den Text gezielt mit den Diagrammen zu verknüpfen, um die Leser damit zu drängen, sie endlich einmal genauer anzuschauen. Woher kommt diese Abneigung? Wenn an höchster Stelle jemand zu entscheiden hat, ob lieber mehr Bilder oder weniger Verwendung finden, werden wir offenbar seltener Mathematiker an dieser Stelle finden und auch keine Naturwissenschaftler, sondern viel wahrscheinlicher jemand, der sich für einen Philosophen hält und sagt: „Ja, ja, Bilder, natürlich, als Illustration, als kleinen Anreiz können wir die nehmen.“ Ich fürchte, dass die Regeln, die mit Glauben oder Philosophie zu tun haben, bei uns sehr tief eingegraben sind.

Bildwelten: Herr Franke, wir danken Ihnen für das Gespräch.



Das Gespräch führten Matthias Bruhn, Judith Berganski und Felix Jäger im Oktober 2011. Dank an Eva Mendgen (Stuttgart) für Hilfestellung bei der Vorbereitung.

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Projektvorstellung Am Rande der Stereoskopie: Die Oakes Twins

Stereoskopie wird eng mit den Erfindungen des fotografischen Zeitalters und den Fortschritten der Kamera- und Linsentechnik verknüpft, hat jedoch eine weit längere Vorgeschichte. So hat schon Leonardo da Vinci die monokulare Kon­ struk­tion durch eine doppelpolige zu korrigieren versucht, wie durch eine kleine Skizze Zeichnung von seiner Hand belegt ist.1 ◊ Abb. 1 Hier tasten zwei Augäpfel das Objekt ab, indem sie trichterförmige Blickstrahlen aussenden, die an ihrem Kreuzungspunkt ein mit „C“ benanntes Objekt treffen und an ihrem Endpunkt zwei Kreise werfen. Diese stehen für die beiden räumlich verschobenen Ansichten des Objektes, während „C“ für den plastischen Körper steht, an dem sich die beiden Kreisel überlappen und zu einem Blick werden. Ein Effekt des zweiäugigen Sehens zeigt sich auch darin, dass mit dem Schließen jeweils eines Auges das Objekt seine Ansicht ändert und nach links oder rechts zu springen scheint. Panoramatische und stereoskopische Experimente und Untersuchungen fanden vor dem Siegeszug der Fotografie ihren ersten Höhepunkt, bis durch die fotografische Aufnahmetechnik dann auch Mittel bereitstanden, die erforderliche geringfügige Verschiebung zweier Augenpunkte mit höherer Gleichförmigkeit zu simulieren.2 Sie motivierten zudem die physiologische Forschung, so etwa Hermann von Helmholtz’ Vermutung, wonach das plastische Sehen aus der Kombination zweier Netzhaut1 Für eine kurze Einführung in die Geschichte perspektivischer Darstellung siehe Martin Kemp: Visualizations. The Nature Book of Art and Science, Berkeley/Los Angeles 2000, S. 28. 2 Pioniere, die den Zusammenhang zwischen Tiefenwahrnehmung und Stereoskopie behandelten, waren u.a.: René Descartes (Le Monde, 1629–33 und Le Dioptrique, 1637) sowie Georges Berkeley (New Theory of Vision, 1709) sowie Hermann von Helmholtz (siehe Anm. 3).

1: Leonardo da Vinci: Schematische Darstellung des menschlichen binokularen Sehens. Detail einer Studie menschlicher Embryonen, ca. 1509–1514.

bilder bestehe, die im Gehirn zu einem dreidimensionalen Raumblick fusionieren.3 Ein Experiment vergegenwärtigt die Ambivalenz, die sich bei dieser Datenverarbeitung abspielt: „Wenn ich ein Blatt Papier so vor mich hinhalte, dass es in die verlängerte Mitteebene meines Kopfes fällt, so sehe ich mit dem rechten Auge die rechte Seite das Papiers, mit dem Linken die linke.“ 4 Beide Sichtstrahlen werden, einer doppelten Camera obscura gleich,5 durch die Linse des Auges separat aufgenommen, die retinalen Signale dann aber im Gehirn übereinandergelegt – es entsteht ein „doppelter“ Gegenstand. Eine ähnliche Beobachtung, jedoch bei etwas anderer Herangehensweise, notierte Ernst Mach in seiner Zeichnung mit dem Titel Selbstanschauung Ich, ◊ Abb. 2 in welcher er nur den Ausschnitt gezeichnet hat, der von dem linken 3 Hermann von Helmholtz: Handbuch der physiologischen Optik, Leipzig 1867, S. 622–766 („Wahrnehmung der Tiefendimension“ und „Das binoculare Doppelsehen“); zum stereoskopischen Bild besonders S. 638. 4 Ebd., S. 636. 5 Vgl. John H. Hammond: The Camera Obscura – A Chronicle, Bristol 1981, S. 3 und S. 24.

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Projektvorstellung

gehen und an dem Punkt ansetzen, an dem Ernst Machs Zeichnung endet: im Dunkelfeld der Sichtachsen, die im Gehirn zusammengefügt werden. Ihre Arbeit ist nicht nur eine Wiederbelebung der Diskussion plastischer Wahrnehmung im Sinne Gombrichs oder Gibsons,7 die im Zuge der neuerlichen Konjunktur von 3D-Bildern eine Konjunktur erfährt, sondern soll vielmehr historische Techniken für eine alternative Sicht der Welt zum Einsatz bringen.8 So arbeitet Trevor Oakes an einer dreibeinigen Staffelei, um das scheinbar simple Experiment von Ernst Mach für eine Zeichentechnik zu nutzen, bei der die Wahrnehmungen des einzelnen Auges mithilfe eines gekrümmten Visiers voneinander geschieden und auf eine gleichfalls 2: Ernst Mach: Selbstanschauung Ich. Aus: Beiträge gekrümmte Leinwand aufgebracht werden. zur Analyse der Empfindungen und das Verhältnis Ein Auge blickt auf das Papier, das andere am des Physischen zum Psychischen, 1886. Papier vorbei, zusammen blicken sie durch das Auge ausgeht. In einer unregelmäßigen Ellipse transluzente Papier hindurch,9 ◊ Abb 3 im lateiaus Schnurrbart, linker Nasenwand und Augen- nischen Wortsinn von perspicio. Die Teilung höhle wandert der Blick dabei rumpfabwärts beider Sichtstrahlen soll es ermöglichen, Tieüber gekreuzte Beine zu einer perspektivisch fenwahrnehmung zu rekonstruieren, ohne auf gestreckten Bücherwand. Die im Raum schwe- die Linearperspektive zurückgreifen zu müsbende Zeichenhand erscheint an unnatürlich sen. Dadurch, dass das Papier auf eine konkave hoher Position; das einzeln blickende Auge kann Metallkonstruktion gezogen wird, passt es sich die Distanz zum Körper nicht einschätzen und lässt den Arm seltsam abgetrennt erscheinen.6 7 Vgl. Ernst H. Gombrich („To Ruskin, as to Roger Die New Yorker Zwillinge Ryan und TreFry, it is our knowledge of the visible world that vor Oakes, gemeinsam aktiv unter dem Namen lies at the root of all the difficulties of art. If we The Oakes Twins, gehen nun an einen älteren could only manage to forget it all, the problem of painting would become easy – the problem that is, historischen Punkt zurück, indem sie mit den of rendering a three-dimensional world on a flat Mitteln der Handzeichnung den Prinzipien des canvas”), Gombrich 1961 [deutsches Zitat], S. 296. „binocularen Doppelsehens“ auf den Grund 8 Lawrence Weschler, Kurator einer Werkschau 6 Michael Scholl hat weitere Details, wie etwa das Fehlen der Zeichnung, die in Machs Schoß liegen müsste, festgestellt; demnach hat Mach den Zyklus des mise en abîme beendet, indem er das Gezeichnete des Zeichnenden ausspart (Michael Scholl, Imaginäre Räume, in: Medien, Theorien, Geschichte, 2, November 1996: http://www. ekphorie.de/museal/mtg/scholl.htm#t4 (Stand: 10/2011). Vgl. hierzu auch Karl Clausberg: Neuronale Kunstgeschichte. Selbstdarstellung als Gestaltungsprinzip, Wien 1999.

der Brüder Oakes in der CUE Art Foundation New York in 2011 berichtet, dass die Arbeit der beiden Künstler insbesondere durch eine starke Legasthenie angetrieben worden sei, die zur Suche nach alternativen Notationsformen geführt habe. Double Vision – the Art of Ryan and Trevor Oakes. In: Virginia Quarterly Review, 1. März 2009: http://oakesoakes.com/press/virginia-quarterly-review/, (Stand 09/2011). 9 Vgl. Deenah Vollmer: The Way We See It: The New Drawings of Ryan and Trevor Oakes. In: Ausst. Kat. The Oakes Twins, CUE Art Foundation, New York 2011, S. 26.

Projektvorstellung

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3: Trevor Oakes bei der Arbeit in Chicago, 2011.

an den Blickradius des Auges an und verhindert, dass die Szene an den peripheren Stellen verzerrt; jeder Punkt auf dem Papier ist gleichweit entfernt und steht lotrecht zur Pupille. Trevor Oakes wechselt nicht zwischen dem Fokus von Papier und Objekt, sondern blickt in der Breite von 5 cm durch das Papier hindurch; er zeichnet, was von einem Blickstrahl erfahren, vom anderen jedoch verdeckt wird. Unweigerlich wird der Stift mit dem Papierrand ebenfalls gedoppelt, was dazu führt, dass ein Stift im zu zeichnenden Hintergrund schwebt. ◊ Abb. 4 Um jedoch ein Bild zu erzeugen, wird die Version des Stiftes gewählt, die auf dem Papier verbleibt. Das Verfolgen des zur Hälfte unsichtbaren Objektes im Hintergrund wird von rechts nach links, Spalte für Spalte vollzogen, die nach Beendigung eines Streifens von hinten aus der Metallkonstruktion gelöst wird. Den Startpunkt bestimmt der Radius des Auges, alle weiteren Blickschneisen sind durch die Papiergrenzen bestimmt. Form und Farbe sollen so, im Sinne des innocent eye, soweit als möglich als primäre Eindrücke aufgezeichnet werden,10 auch wenn das

10 William Turners Farbkleckse leiteten John Ruskin zu der Beobachtung, der Mensch sehe keine

Auge selbst, im Unterschied zu einer passiven Camera obscura, durch seine stetige Bewegung und Fokussierung und die Mitwirkung der Netzhaut eine aktive Abtastung der sichtbaren Umwelt vornimmt. Die im Abstand von Millisekunden stattfindende Überlappung soll dabei durch (beinahe meditative) Konzentration auf Details überwunden werden. Darin ähnelt die Herangehensweise eher der Arbeit mit dem Prisma der Camera lucida, durch welche eine gespiegelte Ansicht mit einer unter dem durchsichtigen Spiegelbild liegenden Zeichnung verblendet ist. Während des Zeichenprozesses wird nicht nur stetig mit der Sicht beider Augen gespielt, sondern auch die Frage der Wahrnehmung von Farblichtern in der Sphäre grafisch artikuliert. 48 Farben stehen den Zwillingen in Form von Zeichenstiften zur Verfügung, um die zwischen Linse und Objekt zirkulierenden Lichtstrahlen der Sphäre darzustellen. Die Dynamik dieser dritte Dimension, sondern lediglich ein Durcheinander farbiger Flecken; die Wahrnehmung von Form sei dagegen eine Sache der Erfahrung: „The perception of solid Form is entirely a matter of experience […]. The whole technical power of painting depends on our recovery of what may be called the innocence of the eye“, John Ruskin, zit. n. Gombrich (s. Anm. 7), S. 296.

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Projektvorstellung

konditionierten Farbwahrnehmung wird von den Zwillingen durch ein Netz aus offenen, sich überlagernden Kreisen mit dünnem Filzstift nachvollzogen, wobei sich schnell eine formale Nähe zu Georges Seurats Pointillismus aufdrängt. ◊ Abb. 5 Ein Unterschied könnte allein darin liegen, dass Licht heute physikalisch anders definiert ist als zu Seurats Zeiten, wo der spezifische Einsatz von Licht und Farbe die Gemeinsamkeit künstlerischer Reflexion und physikalischer Forschung zum Ausdruck bringen sollte.11 Die Arbeit mit gekrümmten Bildtafeln hat die New Yorker Zwillinge dazu angeregt, auch komplexere Gegenstände in den Blick zu nehmen, etwa die Skulptur Cloud Gate des britischen Künstlers Anish Kapoor im Millenium Park von Chicago, deren zeichnerische Wieder4: Fotografische Rekonstruktion der Arbeit an gabe an eine interaktive, navigierbare Compu- Lawrence and Anthony’s View, Tinte auf konkavem tergrafik erinnert. ◊ Abb. 3 Auch eine Zeichnung Baumwollpapier, 2006. des Innenhofs im Palazzo Strozzi in Florenz zeigt das Ergebnis dieser zeichnenden Meditation. ◊ Abb. 5 Passanten und Architektur verschmelzen hier durch dünne, vibrierende Kreise aus schwarzer Tinte und geraten dabei in den Sog der konkaven Fläche. ◊ Abb. 6 Angesichts fehlender Fluchtpunkte oder Hilfslinien entsteht Lebendigkeit aus diesem Strom, der seine eindrücklichste Wirkung an dem Punkt entfaltet, wo das Auge des Betrachters den gleichen Punkt einnimmt, den Trevor Oakes während des Zeichnens innehatte, also im Mittelpunkt 5: East River Looking Towards Brooklyn der Leinwandwölbung. Dina Münzfeld 11 James J. Gibson argumentiert, dass ambientales Licht der Stimulus für das gesamte visuelle System eines Lebenwesens sei; die Kondition des okularen Systems wurde im Laufe der Evolution von Informationen des Lichts geformt: The Senses Considered as Perceptual Systems, Boston 1966, S. 155. In ähnlicher Weise reflektiert Patrick Beveridge die multidirektionale Verteilung der Lichtstrahlen in der Atmosphäre als Thema von Lichtkunst: Color Perception and the Art of James Turrell. In: Leonardo, 33, No. 4, 2000, S. 305–313, hier S. 309.

(Zwischenzustand), 53,3 x 50,8 x 25,4 cm, pigmentierte Filzstifte auf konkavem Baumwollpapier, 2011.

6: Zeichenarbeit am Bild Palazzo Strozzi, Italy, 2011.

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Bildnachweis

Titelbild: Gerhard Scholtz. Editorial: 1–2: Gerhard Scholtz, 2007. Höfler: 1 u. 3: William Bateson: Materials for the Study of Variation. Treated with Especial Regard to Discontinuity in the Origin of Species, London 1894, S. 335, Abb. 93, S.350, Abb. 101 u. S. 562, Abb. 207, III u. IV. 2: Mark Rappolt (Hg.): Greg Lynn FORM, New York 2008, S. 176, Abb. 01a. 4: Rudolf Wittkower: Architectural Principles in the Age of Humanism, London 1998, S. 69, Abb. 57. 5: D’Arcy Wentworth Thompson, Über Wachstum und Form. Vorgestellt von Anita Albus nach der von John Tyler Bonner besorgten Ausgabe (Vorw.: Stephen Jay Gould, Übers.: Ella M. Fountain und Magdalena Neff), Frankfurt/M. 2006, S. 410, Abb. 142. 6–10: Richard Seth Hayden und Thierry W. Despont: Restoring the Statue of Liberty. Sculpture, Structure, Symbol, New York 1986, Tafel XVIII, S.72, Tafel XII (Ausschnitt), Tafel XIII (Ausschnitt), S. 40 u. Tafel X. Breidbach: 1: Ernst Haeckel: Kunstformen der Natur, 1904, Tafel 76. 2, 3: A. Carus, Erläuterungstafeln zur vergleichenden Anatomie, Leipzig 1828. 4, 5: Richard Owen: On the Nature of Limbs, London 1849, 6: D’Arcy W. Thompson: On Growth and Form, Cambridge 1942. Scholtz: 1: Gerhard Scholtz, Berlin, Joachim Diether, Göppingen. 2: Gerhard Scholtz, Beate Witzel, Berlin. 3: Gerhard Scholtz, Berlin, Inset: D’Arcy W.Thompson: On Growth and Form, Cambridge 1917, Abb. 270. 4: Romer, Alfred S.; Parson, Thomas S.: Vergleichende Anatomie der Wirbeltiere, Hamburg 1991, Abb. 148. 5, 6: Gerhard Scholtz, Berlin. 7: Wandtafeln aus der Zoologischen Lehrsammlung, Humboldt-Universität zu Berlin, Institut für Biologie, Vergleichende Zoologie. Wittmann: 1: Antonio P. Ariani & Karl J. Wittmann: The transition from an epigean to a hypogean mode of life: morphological and bionomical characteristics of Diamysis camassai sp. nov. (Mysidacea, mysidae) from brackish-water dolinas in Apulia, SE-Italy, in: Crustaceana 74 (11), 2002, S. 1251. 2: Antonio Ariani: Camera lucida-Zeichnungen nach Diamysis camassai, 2001, Dipartimento di Zoologia, Università di Napoli. 3: Druckvorlage für: Karl J. Wittmann: Two new species of Heteromysini from the Island of Madeira (N.E.. Atlantic) with notes on sea anemone and hermit crab commensalisms in the genus Heteromysis S. I. Smith, 1873, in Crustaceana 81 (3), 2007, S. 363. 4: Karl J. Wittmann: Camera lucida-Zeichnungen nach Heteromysis wirtzi, 2007, Medizinische Universität Wien, Zentrum für Public Health, Abteilung für Ökotoxikologie. 5: Museum für Naturkunde Berlin, 2008. 6: Johannes Frisch: Camera lucida-Zeichnung, Museum für Naturkunde der Humboldt-Universität zu Berlin. Bildbesprechung: 1: August Schleicher: Sprachstammbaum, 1861, 7. 2: Conrad Hal Waddington: Epigenetische Landschaft, 1957. Faksimile: 1, 2: Johann Moritz David Herold u. Carl Eduard Adolph Gerstaecker (Hg): Untersuchungen über die Bildungsgeschichte der wirbellosen Thiere im Eie, Berlin 1876. Toepfer: 2: Nach Hans-Wilhelm Koepcke: Die Lebensformen. Grundlagen zu einer universellgültigen biologischen Theorie, 2 Bde., Krefeld 1971–1974. Richter, Wirkner: 1, 4: Stefan Richter, Christian Wirkner, Rostock. 2: L. B. Whitenack: The Biomechanics and Evolution of Shark Teeth. Dissertation, University of South Florida 2008, S. 354 / Peter Ax: Das System der Metazoa II. Ein Lehrbuch der phylogenetischen Systematik. Stuttgart 1999. Stefan Richter, Christian Wirkner, Rostock. 3: R. E. Snodgras: A textbook of arthropod anatomy. Ithaca, NY 1952. 5: Aus R. Toman, A. Bednorz (Hg.), Die Kunst der Romanik, Köln 1996, S. 396. Kessell: 1–9: © Mark Kessell. Niedermeier: 1: bpk/ Nationalgalerie, SMB/ Jörg P. Anders. 2: SMPK, Zentralarchiv; NL Schinkel, Heft 4, fol. 54. Vgl. Goerd Peschken: Das Architektonische Lehrbuch. Karl Friedrich Schinkel. Lebenswerk. München/Berlin 2001, S. 84, Abb. 78. 3: SMPK, Zentralarchiv; Nachlass Schinkel 4. Theoretisches (Mappe 081), fol. 16–19. 4: bpk/ Kupferstichkabinett, SMB/ Jörg P. Anders) 5, 6: Archiv Michael Niedermeier. Interview: 1, 4, 5: © Judith Berganski. 2, 3: . 6: © Stiftung Warentest. Projektvorstellung: 1: Windsor, Royal Library, RL 19101r. 2: Ernst Mach: Beiträge zur Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen, 1886. 3–6: Fotografien Ryan u. Trevor Oakes.

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Bildnachweis

Bildtableau I: 1: © Universal Pictures. 2: Ausst.-Kat. Pygmalions Werkstatt, hg. von Helmut Friedel, Köln 2001, S. 80. 3: Archäologisches Museum der Universität Münster, Inv. 855; Foto: Robert Dylka 4: Oswald Mathias Ungers: Morphologie. City Metaphors, 2011, S. 16. 5: Ausst.-Kat. Mythos und Ritual in der Kunst der 70er Jahre, Kunstverein Hamburg 1981/82, S.115. 6: art 11, 2005, S. 25. 7: © Peter Fischli und David Weiss; nach Robert Fleck, Beate Söntgen, Arthur C. Danto: Peter Fischli David Weiss, London 2005, S. 47. 8, 28: Archiv. 9: Ichiro Sunagawa: Crystals. Growth, Morphology and Perfection, Cambridge 2005, S. 16 © E. A. Jobbins. 10: © VG Bild-Kunst, Bonn 2013. 11: Städtebau im 19. und 20. Jahrhundert, Reinborn 1996, S. 102, Abb. 5.1. 12: Ausst.-Kat. Atlas. How to Carry the World on One‘s Back, 2011, S. 100, Abb. 37. 13: Carl Gustav Carus, Natur und Idee, Wien 1861. 14: Anita Albus, Die Kunst der Künste. Erinnerungen an die Malerei, Frankfurt am Main 1997, ISBN 3-8218-4461-2 S. 374. 15: © NASA, ESA und das Hubble Heritage Team. 16: Charles Darwin: The Power of Movement in Plants, London 1880. 17: © VG Bild-Kunst. 18: R. Tomann (Hg.), Die Kunst des Barock, Köln 1997, S. 281. 19: Ausst.-Kat. Der Naumburger Meister, 1, Petersberg 2011, S. 638. 20: © Judith Berganski, Berlin. 21: http://cf.hum.uva.nl/benaderingenlk/dui-struc-midden-3.htm. 23: © Statistisches Bundesamt, Wiesbaden, 2012. 24: © Gerhard Richter. 25: Kupferstichkabinett, Staatliche Museen zu Berlin, Inv.-Nr. 358-1, Provenienz: Sammlung Von Nagler. 26: Philibert de L‘Orme: Premier Tome de l‘Architecture, 1567. 27: Olaf Breidbach: Ernst Haeckel. Bilderwelten der Natur, München 2006. 29: Prometheus Bildarchiv. 30: Bildarchiv Foto Marburg. 31: © DIPF, nach Georg Christian Raff: Abrégé D‘Histoire Naturelle Pour L‘Instruction De La Jeunesse, 2. Bd., Strasbourg 1786, Taf. XII. 32: © VG Bild-Kunst. Bildtableau II: 1: © Eija-Liisa Ahtila / Galerie Marian Goodman, New York/Paris. 2: Olaf Breidbach: Ernst Haeckel. Bilderwelten der Natur, München 2006. 3: https://graphics.stanford.edu/wikis/cs14811-fall/The_Grand_Metamorphosis. 4: © 2003 Artists Rights Society (ARS), New York / ADAGP, Paris. Nach O‘Bryan, C. Jill: Carnal Art. Orlan‘s Refacing, Minnesota 2005, Plate 13-15. 5: K. Schefold (Hg.): Propyläen der Kunstgeschichte, Bd. 1, Die Griechen und ihre Nachbarn, Berlin 1967, Abb. 79. 6: © Leni Riefenstahl Produktion. 7: © Neil Leifer 2012. 8: http://img481.imageshack.us/img481/8058/ albumpicphp2wa.jpg. 9: © Roni Horn, New York. 10: © Johannes Post, Köln. 11: © Francis Alÿs, Mexico City. 12: G. Curdes: Stadtstruktur und Stadtgestaltung, Stuttgart 1993. 13: V.l.n.r.: Kunsthistorisches Institut Florenz / Gordon & Forge: Monet, Köln 1985, S. 174 / Daniel Wildenstein: Werkverzeichnis, Bd. 3, Köln 1996, S. 533; Gordon & Forge: Monet, Köln 1985, S. 175 / Daniel Wildenstein: Monet, Werkverzeichnis, Köln 1996, S. 290 / Ausst.-Kat. Monet in the 90’s. The Series Paintings, Museum of Fine Arts Boston, London/New Haven 1989, Kat.-Nr. 56.

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Die AutorInnen

Prof. Dr. Olaf Breidbach Institut für Geschichte der Medizin, Naturwissenschaft und Technik, Friedrich-Schiller-Universität Jena Prof. Dr. Herbert W. Franke Senior Fellow am Konrad-Zuse-Institut Berlin, Egling Dr. Carolin Höfler Institut für Mediales Entwerfen, Technische Universität Carolo-Wilhelmina zu Braunschweig Mark Kessell Künstler, New York Dina Münzfeld Kuratorin, New York PD Dr. Michael Niedermeier Arbeitsstellenleiter Goethe-Wörterbuch, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften Prof. Dr. Stefan Richter Institut für Biowissenschaften, Universität Rostock Prof. Dr. Gerhard Scholtz Institut für Biologie, Humboldt-Universität zu Berlin Dr. Georg Toepfer Zentrum für Literatur- und Kulturforschung Berlin Dr. Janina Wellmann Berlin Dr. Christian S. Wirkner Institut für Biowissenschaften, Universität Rostock Prof. Dr. Barbara Wittmann Medien des Entwerfens, Bauhaus-Universität Weimar Dr. Lars Erik Zeige Institut für Deutsche Sprache und Linguistik, Humboldt-Universität zu Berlin

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1: Eija-Liisa Ahtila: Anthropomorphic Exercises on Film: Special Effect, 2011. 2: Ernst Haeckel: Keime und Embryonen von vier Wirbeltieren (Hund, Mensch, Schildkröte, Huhn) aus „Natürliche Schöpfungsgeschichte“, 1868. 3: Michael Jackson: Black or White, Musikvideo, Regie: John Landis, 1991. 4: Orlan: Omnipresence, Seventh Surgical Performance, 21.November 1993 in New York, Cibachrome in Diasec-Halterung, Fotografien von Vladimir Sichov. 5: Myron: Diskobol, Römische Kopie, Rundplastik, um 450 v. Chr. (Original). 6: Leni Riefenstahl: Olympia, Filmstill, 1938. 7: Dan O’Brien, Olympiasieger und bester Zehnkämpfer der 1990er Jahre,1992 in Modesto, Fotografie von Neil Leifer. 8: Arnold Schwarzenegger, 1976. 9: Roni Horn: Bird, 1998–laufend,

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13 Serie von Fotografien von taxidermischen, isländischen Wildvögeln. 10: Johannes Post: Inform, 2010, hier: 4 aus insgesamt 36 Querschnitten, die die in Schichten zerlegte Kleidung des Künstlers zeigen. 11: Francis Alÿs: Fabiola, verschiedene Materialien, hier: 5 Werke aus einer Sammlung von Bildnissen der Heiligen Fabiola, die der Künstler seit 20 Jahren zumeist auf Flohmärkten und in Antiquitätengeschäften in Europa und Amerika erworben hat und seit 1994 ausstellt. 12: Gerhard Curdes: Kernstadt Köln, Entwicklung der Straßennetze von 1845–1987, aus: Die Entwicklung des Kölner Stadtraums, 1993. 13: Claude Monet: Die Kathedrale von Rouen, Öl auf Leinwand, 1892–1894, verschiedene Sonnenstände und Lichtverhältnisse.

Bildwelten des Wissens Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik. Band 9,2

Morphologien

Herausgeber Prof. Dr. Horst Bredekamp, Dr. Matthias Bruhn, Prof. Dr. Gabriele Werner Verantwortlich für diesen Band Dr. Matthias Bruhn und Prof. Dr. Gerhard Scholtz Redaktion Das Technische Bild Tableaus Jane Beran, Judith Berganski, Felix Jäger, Rahel Schrohe, Theresa Stooß Lektorat Rainer Hörmann Layout Dr. Birgit Schneider, Andreas Eberlein Satz Judith Berganski & aroma, Berlin Druck Medienhaus Berlin Adresse der Redaktion Humboldt-Universität zu Berlin Hermann von Helmholtz-Zentrum für Kulturtechnik Das Technische Bild Unter den Linden 6 10099 Berlin [email protected] Fon: +49 (0) 30 2093-2731, Fax:  -1961 ISSN 1611-2512 ISBN 978-3-05-006026-2 © Akademie Verlag, Berlin 2013 www.akademie-verlag.de Das Jahrbuch „Bildwelten des Wissens“ erscheint jährlich in 2 Teilbänden. Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen.