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German Pages 120 Year 2012
Bildwelten des Wissens Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik. Band 9,1
Präparate
Akademie Verlag
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11 1: Titelseite des Ausstellungskatalogs „Taxidermie zwischen Kunst & Natur“, Museum für Naturkunde Magdeburg, 1994. 2: Anatomisches Schema eines Vogels. 3: Darstellung der Drahteinlagen für ein Vogelpräparat, 1921. 4: Lucas Cranach d. J.: Toter Fasan, um 1530. 5: Eine über den Schnabel vom Balg gestülpte Vogelhaut, 1884. 6: Zur platzsparenden Aufbewahrung verschnürtes Vogelskelett, 1961. 7: Durch Mottenfraß geschädigte Saatkrähen-Bälge, 1961. 8: Injektion bei einem sezierten Frosch, 1886. 9: Körpermaßschablonen verschiedener Vogelarten, 1925. 10: Trockenes Sprengpräparat eines Flusskrebses. 11: Schnittlinien zur Häutung eines Löwen, 1921. 12: Position von Grundkörper und Beinstangen in der Dermoplastik eines Löwen, 1884. 13: Durchschnittliche Körpermaße eines Löwen, 1921. 14: Wim Delvoye: Sebastian, tätowierte Schweinehaut, 2002–2003. 15: Feuchtpräparat eines Kinderarms, 17./18. Jh. 16: Gabriel von Max: Toter Kapuzineraffe mit Schädel eines Artgenossen, um
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1870. 17: Michael Brendel: Die Elfe aus der Mark, organisches Material in Konservierungslösung, 2001. 18: Frederik Ruysch: Anatomisches Tableau aus Feuchtpräparatgläsern mit Trockenpräparataufsätzen, 1710. 19: In Kochsalzlösung eingelegte Soleier. 20: Feuchtpräparat eines skelettierten Embryos, 18. Jh. 21: Autoikone Jeremy Benthams, zu Füßen der originale Kopf, 19. Jh. 22: Trockenpräparat eines Medusenhauptes, 1821–1836. 23: Bernstein mit Tausendfüßlerinkluse. 24: Medianschnitt durch einen menschlichen Kopf, Feuchtpräparat, 20. Jh. 25: Deformiertes Skelett einer rachitischen Frau, 1885. 26: Ein von Jíbaro-Indianern angefertigter Faultier-Schrumpfkopf, o. J. 27: Pferd des Königs Gustav II. Adolf von Schweden, frühe Dermoplastik aus dem ersten Drittel des 17. Jh. 28: Langschwanzperücke für Pferde, Ende 19. Jh. 29: Präparierter Maulwurf als Geldbörse, 1926. 30: Die einbalsamierte Leiche Lenins, 1924.
Inhaltsverzeichnis
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Editorial
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Petra Gördüren Die Taxonomie des Bildes. Präparate im Werk von Mark Dion
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Thomas Schnalke und Isabel Atzl Magenschluchten und Darmrosetten. Zur Bildwerdung und Wirkmacht pathologischer Präparate
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Gemma Angel The Tattoo Collectors. Inscribing Criminality in Nineteenth Century France
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Johannes Grave Grenzfälle zwischen Naturpräparat und Landschaftsbild. Bonavita Blanks „Musivgemälde“
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„Ein Präparator muss dieses Formfeeling haben.“ Ein Gespräch der Bildwelten des Wissens mit Jürgen Fiebig
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Faksimile: Robert Kochs mikroskopische Präparate Matthias Burba
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Farbtafeln
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Bildbesprechung: Alpentiere in Gefahr Li Töppe
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Sandra Mühlenberend Wachsmoulagen. Orte ihrer Etablierung
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Philippe Cordez Materielle Metonymie. Thomas von Cantimpré und das erste Horn des Einhorns
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Bücherschau: Wiedergelesen / Rezension Eve-Marie Engels, Bruno Latour, Dorothea Heinz, Hans Ulrich Reck, Hanns Zischler, Rachel Mader
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Projektvorstellung: Das German-Mummy-Project Wilfried Rosendahl
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Bildnachweis
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Die AutorInnen
Editorial
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Der Gänsegeier hat seine mächtigen Schwingen zum Segelflug ausgebreitet – in einer Werkstatt des Museums für Naturkunde zu Berlin. Dass sich in seinem Inneren ein künstlicher Körper befindet, dessen Form dem entnommenen Fleischkern des Tieres bis ins kleinste Detail und unter Beachtung anatomischer Exaktheit nachempfunden wurde, und dass seine Beine und Flügel verdrahtet sind, um die größtmögliche Stabilität zu erreichen, wird dem Museumsbesucher verborgen bleiben. Auch wenn einige Präparationsvorgänge noch deutlich sichtbar sind, lässt sich dieser Effekt schon im jetzigen Zustand erahnen. Dazu trägt vor allem die Körperkontur des Kunstkörpers bei, da anatomische Besonderheiten den Leibern verschiedener Vogelarten unterschiedliche Rumpfpositionen verleihen. Eine falsch geformte Rückenlinie, würde beispielsweise sichtbar hervortreten. Die als Bandagierung dienenden Pappstreifen, die von Nadeln zwischen den Federn gehalten werden und das Gefieder während des Trockenvorgangs in die gewünschte Position bringen, werden nach Abschluss der Präparation verschwunden sein. Nur die wenigen Nadeln im Nacken des Tieres, welche die Strecksehne fixieren, verbleiben bei einem Vogel dieser Größe im Präparat und werden vom Gefieder verdeckt. Die gespreizten Flügelenden, die den Segelfliegern einen Langsamflug in großer Höhe ermöglichen, wird der Präparator durch heißes Föhnen und vorsichtige Biegung in Position bringen, und um leichte Farbverluste vor allem im Kopfbereich auszugleichen, wird er außerdem von innen mittels Airbrush eine feine Farbschicht auftragen, so dass die Farbe durch die Haut scheint. Allein diese Vorgänge verdeutlichen bereits, mit welcher Finesse der Präparator vorgehen muss, um dem Präparat die höchstmögliche Natürlichkeit und Lebendigkeit zu verleihen. Das handwerkliche und künstlerische Geschick des Präparators besteht dabei paradoxerweise darin, dass seine Arbeit für den Betrachter unsichtbar bleibt. In dieser künstlichen Vitalität der Präparate zeigt sich die bleibende Spannung von
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Editorial
Konservierung und Verfall, von Natürlichkeit und Tod; sie bildet den Ausgangspunkt für eine besondere Verbindung von Kunst und Wissenschaft. Die Illusion von Lebendigkeit wird nicht ohne Eindruck auf viele Museumsbesucher bleiben, welche die Vorstufen der Präparation meist nicht zu Gesicht bekommen. Mit etwas Glück werden sie für eine weitere Beschäftigung mit der Tierwelt gewonnen werden. Für die wissenschaftliche Sammlung hingegen müsste der Gänsegeier platzsparender hergerichtet werden: ohne jegliche Körperspannung und ohne die ausgebreiteten Schwingen, die ihm sein dynamisches und imposantes Aussehen verleihen. Je nach Verwendungszweck des Präparats werden also unterschiedliche Techniken und Inszenierungen angewendet. Dies lässt sich mit der medizinisch-anatomischen Präparation vergleichen, die als Lehrmittel darauf zielt, Organe oder Körperteile so lebensnah wie möglich zu gestalten und dort, wo der Präparation Grenzen gesetzt sind, durch andere Mittel, etwa durch Abformung von erkrankten Körperpartien mittels Wachsmoulage, eine konservierbare und detailgetreue Nachbildung zu erhalten. Die Präparation von Körpern und Körperteilen stellt jedoch nur eine Variante dessen dar, was das Wörterbuch gemeinhin unter „Präparat“ versteht, nämlich einen technisch zugerichteten Organismus oder ein Teil davon, der als Demonstrationsgegenstand für Forschung und Lehre dient. Zu derselben Gruppe von Objekten gehören auch die diversen botanischen oder geologischen Proben und Objekte. Auch hier geht es um die Visualisierung und Erzeugung von Erkenntnissen und Wissen, und auch hier kommen weitere Beweggründe für die Herstellung von Präparaten hinzu. In jedem Falle gilt, dass die gezielte Intervention der Hersteller – das Schneiden, Färben, Einfrieren, Aufkleben von Naturdingen, aber auch deren Herrichtung und Ausstellung – auf eine Naturnähe und Lebendigkeit vertraut, welche in höchstem Maße künstlich ist. In diesem Sinne hat auch die zeitgenössische Kunst die Verwendung von Präparationstechniken, die Arbeit an Tierkörpern, Pflanzen, Mikroorganismen wieder für sich entdeckt, da sie an den Begriff des Künstlichen und des Natürlichen selbst rührt. Dabei kann die künstlerische Arbeit sich die Freiheit nehmen das zu tun, was der Wissenschaft scheinbar versagt bleibt, nämlich die Interpretation des Präparats. Die vorliegenden Beiträge stellen die Frage, inwieweit auch die Wissenschaft im Prozess des Darstellens ebenfalls konstruiert und gestaltet, um Wesentliches hervorzuheben. In diesem Wechselspiel liegt die Faszination des Präparats. Jutta Helbig und die Herausgeber
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Die Taxonomie des Bildes. Präparate im Werk von Mark Dion Im Lexicon of Relevant Terms, das Mark Dion 1997 verfasst hat, findet sich unter dem Stichwort „Specimen“ folgender lapidarer Eintrag: „An element, or individual, or part taken as representative of the entire set or whole; sample, example.“1 Angesichts der weit gefassten Bedeutung des Begriffs im Englischen liest sich diese Definition vergleichsweise banal, doch ist die Verwendung von „specimens“ im künstlerischen Werk von Mark Dion komplex und alles andere als einfach zu erfassen.2 Seit den späten achtziger Jahren prägen wissenschaftliche Schaustücke und deren Nachahmungen sowie andere Requisiten der Wissenschaftskultur Dions Werk sowohl formal-ästhetisch als auch inhaltlich. Im Folgenden soll daher die ikonografische Bedeutung von Präparaten im Kontext einer Auseinandersetzung mit naturgeschichtlichen und wissenschaftshistorischen Fragestellungen exemplarisch geklärt werden. Zudem sollen Fragen der visuellen Repräsentation von Natur betrachtet werden. Darüber hinaus ist der hybride Status wissenschaftlicher Exponate zwischen originalem, also der Natur entnommenem Objekt und modellhafter Darstellung näher zu beleuchten, den Dion in seinem Werk reflektiert. Präparate als künstlerisches Material
Mark Dion stellt seine Präparate entweder in performativen Werkprozessen selbst her oder überführt sie als (historische) Fundstücke aus dem Kontext wissenschaftlicher Sammlungen in seine Arbeiten.3 Er verwendet dabei Versatzstücke konventioneller Wissenschaftlichkeit wie ausgestopfte Tiere, konservierte Organe, Pflanzen und Pflanzenteile, Skelette, Schädel und Knochen, Muscheln, Steine, Erdproben und andere naturkundlich relevante Fundstücke. Zudem zeigt der Einsatz von Stofftieren anstelle taxidermischer Präparate sowie von sorgfältig gesammelten Zivilisationsresten einen ironisch-subversiven Umgang mit der Autorität des wissenschaftlichen Schau- und Studienobjekts.4 Gegenwärtig ist Dion vor allem für die Verwendung von naturwissenschaftlichen Präparaten bekannt, doch ist er nicht der erste, der Lehr1 Mark Dion: Lexicon of Relevant Terms compiled on the Occasion of the Exhibition: Natural History and Other Fictions. In: Ders.: Natural History and Other Fictions, Ausst.kat., Ikon Gallery, Birmingham u. a. 1997, S. 53–77, s. v. „Specimen“. 2 „Specimen“ umfasst im Englischen auch anatomische, zoologische und botanische Präparate, für die sich im Deutschen ein eigenständiger Begriff etabliert hat. „Specimen geht auf das lateinische „specere“ (sehen) zurück und betont die visuelle Argumentationskraft des Objekts. „Präparat“ leitet sich von „praeparare“ (bereiten, zubereiten) ab und weist damit auf seine Herstellung hin. 3 Vgl. Christine Heidemann: Dilettantismus als Methode. Mark Dions Recherchen zur Phänomenologie der Naturwissenschaften, Phil. Diss., Justus-Liebig-Universität, Gießen 2006. 4 Gerhard Theewen: „Erwartungen“. Gespräch mit Mark Dion. In: Ders. (Hg.): Covergirls! Strategien der Künstler, Köln 2000, S. 76–89, S. 76ff.
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und Schaustücke dieser Art als künstlerisches Material nutzt.5 Das immer schon hochartifizielle Nebeneinander von artificilia und naturalia in den Kunstkammern seit der Renaissance verstärkte sich im 19. Jahrhundert im Austausch zwischen Kunst und naturwissenschaftlichen Präparationstechniken.6 Insbesondere interessierten sich veristische Tierplastiker für zoologische Sektionen, Naturabgüsse sowie lebensechte Präparate, die in den neu gegründeten naturhistorischen Museen zu sehen waren. Umgekehrt bemühten sich Taxidermisten um eine naturwahre, mitunter auch dramatische Inszenierung ihrer immer perfekteren Schöpfungen und strebten die Anerkennung ihrer Arbeit als künstlerische Leistung an.7 Dennoch blieben Bildhauerei und Präparierkunst voneinander geschieden, da das der Natur entnommene Lebewesen trotz seiner ästhetischen Herrichtung nicht als Kunstwerk akzeptiert wurde: Die Erweiterung des bildkünstlerischen Materialkanons stand noch bevor.8 Im Surrealismus wurden erstmals wissenschaftlichen Präparate in die bildende Kunst übernommen und dabei in einen neuen, oft nur temporären Kontext überführt. Die Surrealisten setzten sich vielfach mit Natur, Naturgeschichte und wissenschaftlichem Weltverständnis auseinander und schätzten Präparate als kunstferne Objekte vor allem aufgrund eines intendierten symbolischen Bedeutungszuwachses, der neue Ikonografien etablieren konnte.9 Als künstlerisches Material erfuhren Präparate eine Ästhetisierung, die über ihre Bearbeitung als wissenschaftliches Schaustück hinauswies. Dem Kontext des jeweiligen Werkkonzepts untergeordnet, verloren sie gleichwohl ihre Eigenständigkeit; ihr Bildstatus wurde nicht explizit überprüft. Wie die Forschung herausgestellt hat, setzte in den siebziger Jahren ein neuer künstlerischer Umgang mit wissenschaftlichen Präparaten ein. Vor dem Hintergrund einer kritischen Auseinandersetzung mit der Institution des Museums erwei5 Vgl. Petra Lange-Berndt: Animal Art. Präparierte Tiere in der Kunst 1850–2000, München 2009. 6 Vgl. Horst Bredekamp: Antikensehnsucht und Maschinenglauben. Die Geschichte der Kunstkammer und die Zukunft der Kunstgeschichte, Berlin 1993; vgl. Weltenharmonie. Die Kunstkammer und die Ordnung des Wissens, Ausst.kat., Herzog-Anton-Ulrich Museum, Braunschweig 2000; vgl. Lorraine Daston, Katharine Park: Wunder und die Ordnung der Natur 1150–1750, Frankfurt a. M. 2002; vgl. Helmar Schramm (Hg.): Kunstkammer, Laboratorium, Bühne. Schauplätze des Wissens im 17. Jahrhundert, Berlin 2003. 7 Lange-Berndt: Animal Art (s. Anm. 5), S. 15ff.; Julie V. Hansen: Anatomical Art in the Cabinet of Dr. Frederik Ruysch. In: Art Bulletin 78, 1996, S. 663–679; vgl. Christophe Degueurce: Honoré Fragonard et ses écorchés. Un anatomiste au Siècle des lumières, Paris 2010. 8 Vgl. Monika Wagner: Das Material in der Kunst. Eine andere Geschichte der Moderne, München 2001. 9 Lange-Berndt: Animal Art (s. Anm. 5), S. 33ff.; vgl. Die Erfindung der Natur. Max Ernst, Paul Klee, Wols und das surreale Universum, Ausst.kat., Sprengel-Museum, Hannover 1994.
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terten beispielsweise Annette Messager und Nancy Graves ihr Tätigkeitsgebiet um die Rolle des Präparators und eigneten sich dazu notwendiges Fachwissen an.10 Ihre Tierplastiken aus natürlichem Material erwiesen sich jedoch oft als fehlerhaft oder gar als künstlerische Fakes: Annette Messager bastelte beispielsweise aus Federn und Draht kleine Vögel, die ihren ausgestopften „originalen“ Artgenossen äußerlich sehr nahe kommen.11 Nancy Graves verwendete Nutztierpelze, um daraus das Fell anatomisch ohnehin nicht korrekter Kamelplastiken zusammenzustückeln, und auch Mark Dion benutzte 1991 in der Installation Ursus maritimus Ziegenfell für die Figur eines ausgestopften Eisbären.12 Die Analogisierung von Künstler und Präparator zielt darauf, die Fiktionalität präparatorischer Tätigkeit hervorzuheben und das Präparat auf seine funktionalen Qualitäten als Element visueller Repräsentation von Natur zu befragen. Dabei gerät auch die Autorität des Museums, in dem Wissen vermittelt und konstituiert wird, in den Blick. Seit den neunziger Jahren reflektieren zahlreiche Ausstellungen und Publikationen einen Anstieg künstlerischer Beschäftigung mit naturwissenschaftlichen Themen, die mit einem verstärkten Auftreten präparierter Tiere in der Kunst einhergeht.13 Die Debatte um Genforschung und experimentelle Manipulationen des natürlichen Körpers sind beispielsweise der Hintergrund für Thomas Grünfelds Werkgruppe der Misfits, bei denen Mischwesen aus unterschiedlichen Tierfragmenten zusammengesetzt wurden.14 Eine vom Minimalismus inspirierte Ästhetisierung des Feuchtpräparats unternahm Damien Hirst.15 In seiner Werkgruppe Natural History werden die aufwendigen Konservierungsprozesse jedoch nicht explizit 10 Lange-Berndt: Animal Art (s. Anm. 5), S. 91ff. Zur Institutionskritik vgl. u. a. James Meyer: Was geschah mit der institutionellen Kritik? In: Kontext Kunst. Kunst der 90er Jahre, Ausst.kat., Neue Galerie am Landesmuseum Joanneum, Graz 1993, S. 239–256; vgl. Christian Kravagna: Das Museum als Arena. Institutionskritische Texte von KünstlerInnen, Köln 2001. 11 Vgl. in der Installation „Les pensionnaires“ (1971–1972, Paris, Centre Georges Pompidou) die Vitrine „Les repos des pensionnaires“. 12 Lange-Berndt: Animal Art (s. Anm. 5), S. 121ff. 13 Monika Wagner et al. (Hg.): Lexikon des künstlerischen Materials. Werkstoffe der Modernen Kunst von Abfall bis Zink, München 2002, S. 205–209, s. v. „Präparate“ (Petra Lange-Berndt); Susanne Witzgall: Kunst nach der Wissenschaft. Zeitgenössische Kunst im Diskurs mit den Naturwissenschaften, Nürnberg 2004, S. 11ff. 14 Tanja Pol: Thomas Grünfeld. Taxidermix. In: Animal. Anima. Animus, Ausst.kat., Pori Art Museum, Pori 1998, S. 59–61; Lange-Berndt: Animal Art (s. Anm. 5), S. 153ff. 15 Vgl. Konstanze Thümmel: „Shark wanted“. Untersuchungen zum Umgang zeitgenössischer Künstler mit lebenden und toten Tieren am Beispiel der Arbeiten von Damien Hirst, Marburg 1998; Petra Lange-Berndt: Unheimliche(s) Gestalten. Damien Hirsts „Naturgeschichte“ und das historische Verfahren der Nasspräparation. In: Andreas Haus et al.: Material im Prozeß. Strategien ästhetischer Produktivität, Berlin 2000, S. 165–178, S. 166; Lange-Berndt: Animal Art (s. Anm. 5), S. 196ff.
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thematisiert, sieht man einmal von den zerteilten Körpern ab, die immerhin die Zurichtung des Tieres anzeigen. Viele von Hirsts Präparaten täuschen vielmehr – wissenschaftlichen Schaustücken vergleichbar – Unversehrtheit vor.16 Dion hingegen offenbart immer wieder seine eigenen Arbeitsprozesse und definiert damit sein (dilettantisches) wissenschaftliches Handeln als integralen Bestandteil des Kunstwerks. Ausgehend von ökologischen Fragestellungen sowie einer institutionskritischen Haltung gegenüber dem Museum, beschäftigt er sich vor allem mit Naturgeschichte und naturhistorischen Sammlungen.17 Das wissenschaftliche Präparat dient dabei als wichtiges Requisit für die Ausbildung einer pseudo-wissenschaftlichen Bildsprache, es ist aber auch zentraler Dreh- und Angelpunkt einer werkimmanenten Diskussion zu Fragestellungen der visuellen Repräsentation von Natur in einem kulturell codierten Zusammenhang. Wissenschaftsmimikry
Eine für sein Werk typische Ausstellung zeigte Mark Dion 1992 in einer New Yorker Galerie.18 Die in drei Teile gegliederte Schau war performativ angelegt, und Mark Dion arbeitete täglich in seinen temporär eingerichteten Forschungslaboratorien, wobei er unterschiedliche Präparations- und Präsentationsmethoden sowie Ordnungssysteme vorführte. Im ersten Raum, dem New York State Bureau of Tropical Conservation, untersuchte er in Kisten angelieferte Fundstücke aus dem mittelamerikanischen Regenwald. ◊ Abb. 1 Er ordnete das Material nach Größe und Beschaffenheit, verpackte es in Papier, Folie oder Plastikbehälter und verstaute es schließlich, nummeriert und etikettiert, in einem Holzregal. Am Ende waren die Kisten leer und die Präparate dem direkten Zugriff entzogen. Für Upper West Side Plant Project kaufte Dion Viktualien an Markständen auf dem Broadway. Einige Pflanzen wurden gepresst und auf Herbariumsblätter aufgeklebt, andere getrocknet und in Plastikbehältern verwahrt. Im Departement of Animal Identification of the City of New York (Chinatown Division) schließlich wurden in Chinatown erworbene 16 Lange-Berndt: Animal Art (s. Anm. 5), S. 203ff. 17 ����������������������������������������������������������������������������������������������� Mark Dion: Unbetiteltes Statement. In: Kravagna (s. Anm. 10), S. 111–113; Miwon Kwon in conversation with Mark Dion [Interview]. In: Lisa Graziose Corrin et al.: Mark Dion, London 1997, S. 8–33, S. 8ff.; Dieter Buchhart: Mark Dion. Meine Werke sind nicht über Natur sondern über die Idee von Natur [Interview]. In: Kunstforum international 157, 2001, S. 185–199, S. 186ff.; Heidemann (s. Anm. 3), S. 20. 18 Vgl. Lisa Graziose Corrin: A Natural History of Wonder and a Wonderful History of Nature. In: Corrin: Mark Dion (s. Anm. 17), S. 38–87, S. 65ff.; Witzgall (s. Anm. 13), S. 83ff.; Heidemann (s. Anm. 3), S. 100ff.
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1: Mark Dion: The New York State Bureau of Tropical Conservation, 1992, Pflanzen aus dem Orinoco Tiefland in Venezuela, Transportkisten, Laborausrüstung, Tisch, Hocker, Holzregale, Plastikbehälter, weißer Kittel, Maße variabel.
Meerestiere klassifiziert, in Alkohol konserviert und die beschrifteten Gläser in einem verschließbaren Schrank aufbewahrt. Nicht das Schaustück an sich, sondern die Arbeitsprozesse, die normalerweise hinter den Kulissen stattfinden, standen im Zentrum von Dions Unternehmung. Er selbst spielte die Rolle des Wissenschaftlers, doch blieb sein Tun einigermaßen absurd. So war die Auswahl der Objekte vom Zufall bestimmt, unabhängig davon, ob es sich um in tropischer Natur gesammelte oder je nach Tagesangebot gekaufte Pflanzen und Tiere handelte. Ein systematisierendes Forschungsvorhaben ließ sich darin ebenso wenig erkennen wie in den laienhaft anmutenden Ordnungskriterien. Den reisenden Natur- und Feldforscher und den enthusiastischen Amateurwissenschaftler als Vorbild im Blick, stellte Mark Dion mit seiner Wissenschaftsmimikry das Etablieren von vermeintlich objektiven Setzungen in Frage und thematisierte ihre von zufälligen Entdeckungen und subjektiven Interessen bestimmten Aspekte.19 Die im Werkprozess gewonnenen Präparate erschienen als Relikte eines ursprünglich intakten Zusammenhangs, der im Zuge seiner Erforschung zerstört beziehungsweise durch einen neuen, abstrakten Kontext ersetzt wurde. Ihre Isolierung ebenso wie die Reduzierung ihrer Anschaulichkeit, die sich im Trocknen, Einlegen, Verpacken und Wegschließen manifestierte, bezeugte den fragmentarischen 19 Mark Dion, Miwon Kwon et al.: Confessions of an Amateur Naturalist. Interview with Mark Dion. In: Documents 1(1/2), 1992, S. 36–46 (in deutscher Übersetzung zitiert nach Meyer (s. Anm. 10), S. 247): „Der Prozeß des Aufbaus einer Sammlung bleibt an subjektive Bedingungen gebunden. Wenn es an einem Tag, als Charles Darwins Schiff The Beagle auf einer bestimmten Insel landete, geregnet hätte, dann hätte dies seine Sammlungen […] beeinflußt.“
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Charakter der Präparate als Bestandteile eines aufgehobenen Ganzen, für das sie nur noch beispielhaft standen. Die Präparate dem Blick des Betrachters zu entziehen, bedeutete zudem, dass dessen Sicht auf die Dinge nicht mehr gefragt ist, sobald sie dem System einer wissenschaftlichen Klassifizierung – und sei es nur eine pseudo-wissenschaftliche – erst einmal unterworfen und zu Bildern ihrer selbst geworden sind. Episteme der Klassifizierung
Bei Mark Dion ist das Herstellen von Präparaten eine Methode, um den Werkprozess als Bestandteil des Kunst2: Mark Dion: Curiosity Cabinet for the Wexner Center for the werks zu definieren. Oft benutzt der Arts, 1996, Tusche, Aquarell auf Papier, Drucksachen, 61 x 48 cm. Künstler aber auch vorgefundene (historische) Schaustücke und arrangiert sie in Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern oder Sammlungskuratoren neu, wobei museale Systematisierung sowie wissenschaftshistorische Klassifizierungsmodelle verarbeitet werden. Aufgezeigt werden dabei die epistemischen Qualitäten, die sich an Präparate als Zeugnisse wissenschaftlicher Erkenntnis und Theoriebildung knüpfen. Beispiele sind die oft groß angelegten Neuordnungen universitärer Sammlungen, die in Anlehnung an neuzeitliche Kunst- und Wunderkammern gestaltet wurden.20 Das zeichnerisch genau geplante, stilllebenhafte Arrangement von Präparaten und anderen naturalia gewinnt dabei eine zentrale Rolle, und obwohl das einzelne Objekt in der Menge der Exponate aufzugehen scheint, wird doch seine visuelle Qualität betont. ◊ Abb.2, Tafel 1 Die ästhetische Wirkung des Einzelstücks fasziniert umso mehr, sobald eine historische Distanz zwischen Objekt und gegenwärtiger Bildwelt erfahrbar wird. Diese Wirkung wird oftmals durch nostalgisch anmutendes Mobiliar gesteigert, das eigens für den jeweiligen Ausstellungskontext entworfen wird. 20 Colleen J. Sheeny (Hg.): Cabinet of Curiosities. Mark Dion and the University as Installation, Ausst. kat., Weisman Art Museum, Minneapolis 2001; Heidemann (s. Anm. 3), S. 233f. u. 245ff.
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Doch Dion übernimmt nur vorgeblich die Rolle des Wissensvermittlers. In aller Regel verzichtet er auf Benennung der Schaustücke oder gestaltet Beschriftungen schwer lesbar. Als der Künstler beispielsweise 1998 im Deutschen Museum in Bonn die Installation Adventures in Comparative Neuroanatomy einrichtete, zeigte er in einem Regalschrank etwa achtzig 3: Mark Dion: Adventures in Comparative Neuroanatomy, 1998, Holzschrank, Gehirnpräparate in Gläsern, Teppich, medizinische Hirnfeuchtpräparate, die er vom Lehrtafeln, Gall’sche Schädel, braune und gelbe Wandfarbe, Fischhirn bis zum menschlichen Raummaß ca. 11 qm. Gehirn anordnete.21 ◊ Abb. 3 Auf der gegenüberliegenden Wand notierte Dion spiegelverkehrt die deutschen Namen der Lebewesen, deren Gehirne zu sehen waren, und verlangte dem Ausstellungsbesucher mithin selbst neuronale Anstrengungen beim Entziffern ab. Obwohl die Zusammenstellung der museum works in Auseinandersetzung mit aktuellen und historischen Formen wissenschaftlicher Theoriebildung erfolgt, scheint in der pittoresken, assoziationsreichen Inszenierung von wissenschaftlichen Proben ein geradezu surrealistischer Geist nachzuwirken.22 Darüber hinaus stellt die inszenierte Hervorhebung und zumindest partielle Isolierung des Einzelobjekts explizit den Bildstatus des Präparats auf die Probe. Wie im Zuge einer historisch geprägten Beschäftigung mit den visuellen Medien der Naturwissenschaften herausgestellt wurde, kann das Präparat gewissermaßen als „Bild seiner selbst“ bezeichnet werden.23 Diese Definition ist keineswegs unproblematisch, denn Darstellung und 21 Witzgall (s. Anm. 13), S. 254ff.; Heidemann (s. Anm. 3), S. 251ff. 22 Petra Lange-Berndt: Sammeln wie besessen: Mark Dions „Bureau of the Centre for the Study of Surrealism an its Legacy“. In: Karen Buttler, Felix Krämer (Hg.): Jacobs-Weg. Auf den Spuren eines Kunsthistorikers, Weimar 2007, S. 331–347. 23 Hans-Jörg Rheinberger: Präparate – „Bilder“ ihrer selbst. Eine bildtheoretische Glosse. In: Bildwelten des Wissens, Band 1,2 (Oberflächen der Theorie), Berlin 2003, S. 9–19., S. 10; Ders.: Epistemologica: Präparate, In: Anke te Heesen, Petra Lutz (Hg.): Dingwelten. Das Museum als Erkenntnisort, Köln/ Weimar/Wien 2005 (Schriften des Deutschen Hygiene-Museums Dresden, Bd. 4), S. 65–75; Johannes Grave: Selbst-Darstellung. Das Präparat als Bild. In: kritische berichte, Heft 4 (Nicht-künstlerische Bilder), 2009, S. 25–34; Angela Matyssek: Rudolf Virchow. Das Pathologische Museum. Geschichte einer wissenschaftlichen Sammlung um 1900, Darmstadt 2002 (Schriften aus dem Berliner Medizinhistorischen Museum, Bd. 1), S. 47ff.
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Identität sind voneinander zu trennen; auch ist mit dem Erschaffen eines Bildes notwendigerweise ein Material- und/oder Medienwechsel verbunden, der zwar Forderungen der Naturnachahmung erfüllen kann, das Artefakt jedoch materiell von seinem Vorbild trennt.24 Die Beurteilung eines Präparats fällt vor diesen, keineswegs auf die Kunst beschränkten Anforderungen an das Bild nicht ganz leicht: Einerseits handelt es sich um den „natürlichen“ Gegenstand selbst, andererseits wurde das einzelne Objekt aus einer Gruppe indivi4: Mark Dion: Sea Life, 2010, Raumteiler, Aquarelle, Sockel mit Feuchtpräparaten aus dem Zoologischen Museum, Kiel, dueller Objekte ausgewählt, die es bildhaft Ausstellungsansicht Kunsthalle zu Kiel (Detail: Eingang). vertreten soll und sich daher nur graduell von einer wissenschaftlich-repräsentativen Illustration unterscheidet. Wie diese legt das Präparat visuelles Zeugnis von einem bestimmten Sachverhalt ab, dient als beispielhaftes Studien- und Forschungsobjekt und wurde zudem, sofern es sich um ein vergängliches Objekt handelt, einer konservierenden und bestimmte Merkmale verstärkenden Manipulation unterzogen, nach der es sich von seinem ursprünglichen Zustand qualitativ unterscheidet.25 Das Präparat wird Bild
Mark Dion hat mehrfach die Bildhaftigkeit wissenschaftlicher Schaustücke auf die Probe gestellt und ihr Verhältnis zum realen Vorbild untersucht. Für die Ausstellung Dopplereffekt in der Kunsthalle zu Kiel realisierte der Künstler 2010 mit Sea Life eine Arbeit, die sich mit bildlichen Transformationsprozessen auseinandersetzte. ◊ Abb. 4, ◊ Abb. 5, Tafel 2 Hier behinderte ein vierteiliger Paravent den Zugang zu einem dunklen Kabinett. Im oberen Teil dieses Raumteilers waren Glasfenster eingelassen, die während der Ausstellung mit aquarellierten Postkarten gefüllt wurden. Ging der 24 Rheinberger: Präparate (s. Anm. 23), S. 9; Lambert Wiesing: Artifizielle Präsenz. Studien zur Philosophie des Bildes, Frankfurt a. M. 2005, S. 59; Grave: Selbst-Darstellung (s. Anm. 23), S. 25ff. 25 Obwohl Präparate von Wissenschaftlern zwar oft als „Bilder“ bezeichnet werden, ist damit nicht zwingend ein künstlerischer Anspruch verbunden; vgl. Angela Matyssek: Konservierungsversuche. Über Ästhetisierung in der medizinischen Präparation Rudolf Virchows. In: kritische berichte, Heft 2, 2001, S. 30–42, S. 31ff.; Matyssek: Virchow (s. Anm. 23), S. 59ff.; Rheinberger: Epistemologica (s. Anm. 23), S. 67ff.; Grave: Selbst-Darstellung (s. Anm. 23), S. 29f.
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5: Mark Dion: Sea Life, 2010, Raumteiler, Aquarelle, Sockel mit Feuchtpräparaten aus dem Zoologischen Museum, Kiel, Ausstellungsansicht Kunsthalle zu Kiel (Detail: Feuchtpräparate).
Besucher seitlich am Paravent vorbei, so erreichte er die einzige Lichtquelle der engen Kammer. Auf einem schwarzen Sockel standen, von unten angestrahlt, Meerestierpräparate in Gläsern. Die Installation, die sich in ihrer Dramatik von üblichen musealen Präsentationsformen unterschied, verbesserte keineswegs die Sichtbarkeit der Objekte, sondern hob ihre fremdartige Schönheit hervor: Nicht ihr wissenschaftlicher Aussagegehalt wurde mitgeteilt, sondern ihre individuelle Erscheinung wirkungsmächtig inszeniert. Entsprechend verzichtete der Künstler auf jegliche Beschriftung oder Erläuterung der in keiner erkennbaren Ordnung dargebotenen Präparate. Nur mit entsprechendem Vorwissen war zu erkennen, dass ausschließlich Lebewesen aus der Tiefsee präsentiert wurden, die aus der Zoologischen Sammlung der Kieler Universität entliehen waren. Während der Betrachter hier auf ausgebleichte Organismen traf, die er außerhalb eines Museums vermutlich nie selbst gesehen hätte, zeigten die Aquarelle zahlreiche wohlbekannte Lebewesen. Mark Dion und von ihm beauftragte Zeichner schickten aus aller Welt Skizzen von Meerestieren oder -pflanzen, die rückseitig nicht nur adressiert waren, sondern das gezeichnete Motiv – meist in englischer Sprache und lateinischer Terminologie – sowie Fundumstände, Zeichner und Datum nannten. ◊ Abb. 6 Die zufällige und willkürlich-subjektive Auswahl der Bildmotive widersetzte sich auch hier klassischen Kategorisierungen, beispielsweise einer taxonomischen, zoogeografischen oder evolutionstheoretischen Systematisierung. Darüber hinaus erwies sich das Werk als „ökologisch korrekt“, da
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kein Lebewesen dem Projekt zum Opfer gefallen war. Die Vorbilder wurden – wie auf den Karten sorgfältig notiert – gefunden, gekauft sowie in der Natur oder in Aquarien beobachtet. Dieses Vorgehen erinnerte zum einen an das Vorbild des Entdeckungsreisenden, der überall in der Welt auf interessante Proben stößt, wenngleich Dion nicht im Rahmen einer Forschung, sondern seiner Ausstellungstätigkeit unterwegs war. Zum anderen verwies es auf frühe Formen der Erkundung von Flora und Fauna: Forscher wie der Schweizer Botaniker und Anatom Conrad Gessner beispielsweise ließen im 16. Jahrhundert nicht nur unterschiedliche Zeichner für sich arbeiten, sie pfleg6: Mark Dion: Mermaid’s purse, 2010, Aquarell auf Papier, ten auch weitverzeigte Netzwerke unter 10 x 15 cm (Postkarte aus Sea Life, 2010, Vorder- und Rückseite). Kollegen und tauschten Fundstücke oder deren Abbildungen aus.26 In der Installation waren somit unterschiedliche Verfahren der visuellen Naturaneignung in ihrer historischen Verankerung einander gegenübergestellt, wobei die Anordnung der einzelnen Bestandteile im Raum durchaus ambivalent inszeniert war. So verstellten die im Dunkeln kaum erkennbaren Zeichnungen den Blick auf die Präparate und definierten die mediale Verarbeitung ganz wörtlich als eine Realitätsebene, die sich zwischen den Betrachter und das natürliche Objekt schiebt. Zudem offenbarte die Gegenüberstellung von „lebendiger“ Darstellung in den Aquarellen und dem totem Getier die fiktionalen Qualitäten des Zeichnens nach der Natur, das historisch betrachtet meist nach dem leblosen Objekt erfolgte. Die in Gläsern mit Alkohol schwimmenden Tiefseebewohner schließlich gehörten einer anderen Sphäre der Bildhaftigkeit an, die ohne weitere Nomenklatur ihr Geheimnis bewahrte. Obwohl Natur hier im Original anschaulich wurde, konnten die einzelnen Individuen von einem Laien nicht identifiziert werden; in hohem Maße ästheti26 Heinrich Zoller: Conrad Gessner als Botaniker. In: Conrad Gessner 1516–1565, Universalgelehrter, Naturforscher, Arzt, Zürich 1967, S. 57–70.
Die Taxonomie des Bildes
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siert dargeboten und losgelöst von jeglichen Klassifizierungsversuchen, waren diese Exponate allein auf ihre visuelle Erscheinung reduziert: Das Studienobjekt wurde als Schauobjekt inszeniert und damit als eigenständiges Bild seiner selbst definiert.27 Mark Dion beschäftigt sich mit Fragen der Wissenschaftsgeschichte, mit naturkundlichen Modellen und ökologischen Problemen, aber ausdrücklich auch mit dem Bild als prekärem Medium der Naturwissenschaften. Er nutzt die Kontextverschiebung von der wissenschaftlichen Sammlung in das Kunstmuseum, um einen Perspektivwechsel beim Betrachter herauszufordern: Die dergestalt deplatzierten Objekte werden als Bestandteile eines Kunstwerks zweifellos anders wahrgenommen und anders befragt als im Naturkundemuseum, wo sie als visuelle und materielle Zeugnisse wissenschaftlicher Erkenntnis dienen sollen. Dion interessieren an naturkundlichen Präparaten und Exponaten mehrere Aspekte. Zum einen untersucht er den wissenschaftlichen Umgang mit diesen Objekten visueller Repräsentation von Naturvorstellungen, spielt ihn häufig sogar selbst nach, um den zerstörerischen Eingriff in einen lebendigen Kontext ebenso wie die fragwürdige Objektivität wissenschaftlicher Kategorisierung und Modellbildung nachvollziehbar zu machen. Zum anderen fasziniert ihn der Gegenstand selbst, den er als eine „Stufe der Repräsentation“ definiert, die „eine Stufe näher am eigentlichen Objekt ist“ als das sonstige wissenschaftliche oder künstlerische Bild.28 Werden in den performativen Arbeiten des Künstlers Präparate hergestellt, so soll dabei der Prozess der Bildwerdung eines natürlichen Gegenstands anschaulich werden. Andere Werke hingegen, die aus vorgefundenen Schaustücken arrangiert werden, inszenieren eben jene bildhafte Wirkung, die über die reine wissenschaftliche Verweiskraft hinausweist. Zudem entfalten die Objekte oft eine emotionale Wirkung auf den Betrachter, der entweder von ihrer Schönheit angezogen, von ihrer Erscheinung überrascht oder von ihrer sichtbaren Leblosigkeit abgestoßen werden kann. Diese subjektive Wahrnehmungserfahrung lässt den Anspruch des wissenschaftlichen Schaustücks auf Objektivität in subtiler Weise fragwürdig erscheinen. Die sichtbare Ästhetisierung des Forschungsgegenstands definiert den Blick auf die Natur als einen gestaltenden Blick, der wandelbaren, oft zweifelhaften Vorstellungen unterworfen ist und danach strebt, die Individualität des natürlichen Gegenstands in der Allgemeingültigkeit wissenschaftlicher Modelle und Theorien aufgehen zu lassen.
27 Obwohl es prinzipiell möglich sein sollte, Präparate zu Studienzwecken aus ihren Gläsern zu entnehmen, war dies nur selten gestattet; vgl. Matyssek: Konservierungsversuche (s. Anm. 25), S. 151ff. 28 Buchhart (s. Anm. 17), S. 190.
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Magenschluchten und Darmrosetten. Zur Bildwerdung und Wirkmacht pathologischer Präparate Pathologische Präparate entfalten Macht. Sie beeindrucken zum einen, weil sie offenkundig echte Dinge, also aus einem menschlichen Körper geschöpfte, krankhaft veränderte Organe sind. Zum anderen erzielen sie ihre Wirkung, weil sie überdies und ganz ausdrücklich zu spezifischen „‚Bilder[n]‘ ihrer selbst“1 – zu Anschauungsobjekten also, in denen Urstück und Abbild ineinander aufgehen, aufund ausgearbeitet2 und schließlich als innerliche Körperporträts, über die Vitrinen des Ausstellungsraums hinweg, in eigens konzipierten Installationen zu regelrechten Bilderlandschaften arrangiert und dadurch, mit Blick auf den von Krankheit gezeichneten Organismus, als verräumlichtes Körperinventar begehbar gemacht worden sind.3 Der vorliegende Beitrag handelt von humanpathologischen Feuchtpräparaten (oder: Nasspräparaten), die in einschlägigen Sammlungen weit verbreitet und makroskopisch gefertigt worden sind. Anhand der einzelnen Fertigungsschritte soll ihre Bildwerdung nachgezeichnet werden. Es geht dabei um eine genauere Bestimmung ihres Bildcharakters, eine daraus abgeleitete Interpretation der Interaktion zwischen Objekt und Betrachter sowie um die ethische Dimension der Präsentation dieser Gegenstände speziell im öffentlich zugänglichen Ausstellungsraum.4 Die vermehrte Herstellung pathologischer Feuchtpräparate setzte im 19. Jahrhundert im Wesentlichen die Praktik des anatomisch-makroskopischen Präparierens fort, die mit der frühmodernen, Vesal’schen Begründung einer sinnlichen Anatomie Mitte des 16. Jahrhunderts einen ersten Ansatzpunkt gefunden hatte.5 Als etwa Rudolf Virchow (1821–1902) 1856 aus Würzburg an die Berliner Universität berufen wurde, um neben einer Professur für Pathologie ein eigens für ihn errichtetes Pathologisches Institut auf dem Gelände der Charité zu leiten, nahm er sich 1 Hans-Jörg Rheinberger: Präparate – „Bilder“ ihrer selbst. Eine bildtheoretische Skizze. In: Bildwelten des Wissens, Band 1,2 (Oberflächen der Theorie), Berlin 2003, S. 9–19. 2 Zur Material- und Prozesshaftigkeit der Bildwerdung von Präparaten vgl. Johannes Grave: SelbstDarstellung. Das Präparat als Bild. In: kritische berichte, Heft 4 (Nicht-künstlerische Bilder), 2009, S. 25–34. 3 Die Verräumlichung des menschlichen Körpers in rein anatomischen Präparatesammlungen bedarf einer eigenen Betrachtung, da sie naturgemäß auf eine Veranschaulichung gesunder Strukturen zielt. Dennoch möchte auch sie dem Betrachter eine Wanderung durch den expandierten, in den Ausstellungsraum hinein aufgeklappten Körper ermöglichen; vgl. Thomas Schnalke: Der expandierte Mensch. Zur Konstitution von Körperbildern in anatomischen Sammlungen des 18. Jahrhunderts. In: Frank Stahnisch, Florian Steger (Hg.): Medizin, Geschichte und Geschlecht. Körperhistorische Rekonstruktionen von Identitäten und Differenzen, Stuttgart 2005. S. 63–82. 4 Vgl. Thomas Schnalke: Veröffentlichte Körperwelten. Möglichkeiten und Grenzen einer Medizin im Museum. In: Zeitschrift für medizinische Ethik 45, 1999, S. 15–26. 5 Andreas Vesal: De humani corporis fabrica libri septem, Brüssel 1543.
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in seiner zusätzlichen Funktion als Charité-Prosektor auch einer Präparatesammlung an, die er nach eigenem Bekunden in einem reichlich ungeordneten Zustand vorgefunden hatte. Rund 1.500 pathologische Präparate bildeten den Grundstock für seine Sammlung.6 Er erweiterte sie bis in den Sommer 1899 hinein auf einen Gesamtbestand von über 23.000 Objekten, um damit sein im gleichen Jahr eröffnetes Pathologisches Museum zu bestücken. Dieses sollte Studenten und Ärzten als Lehr- und Studiensammlung dienen, zugleich waren aber auch zwei von fünf Schauebenen für das allgemeine, interessierte Publikum geöffnet. Virchow wollte damit sein wissenschaftliches Credo, Krankheiten in ihrer körperinneren „Genesis“, in ihrer spezifischen „Entwickelungsgeschichte“ und in ihrem prozesshaften „Verlauf“ zu ergründen, vor den Augen der Betrachter nachvollziehbar machen.7 Obgleich sich Virchow hierzu nie explizit geäußert hat, machen Einträge in zahllosen Sektionsprotokollen und Laborbüchern sowie der Hang des Pathologen zur Standardisierung – exemplarisch sei hier nur auf seine Sections-Technik von 1876 verwiesen8 – ein festgelegtes Procedere in der Präparatefertigung seines Instituts hoch wahrscheinlich. Das Verfahren darf als beispielhaft für die Herstellung derartiger Objekte auch an anderen Orten angesehen werden. Demnach sucht der wissenschaftlich reflektierte, die Belange einer Sammlung bedenkende Blick des Pathologen, der in den Tiefen des Körpers eines Verstorbenen nach Zeichen einer Krankheit fahndet, in jedem Moment der Sektion immer auch nach einem Objekt für das Museum. Idealiter hat er den schon existierenden Sammlungsbestand mit seinen Schwerpunkten und Lücken im Kopf, registriert an den Organen des neuen Leichnams das, was in der Sammlung noch fehlt. Hierbei kann es sich um das Typisch-Eindrückliche eines Krankheitsbefundes handeln, um eine seltene Ausprägung oder ein wichtiges Entwicklungsstadium im Krankheitsprozess. Ihre unbedingte Meisterschaft erreicht diese Aufmerksamkeit in der Offenheit für das irritierende Unerwartete, das dem eigenen Wissen bislang Unbekannte oder dem6 Rudolf Virchow: Die Eröffnung des Pathologischen Museums der König[lichen] Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, Berlin 1899, S. 16. 7 Diese Stichworte fallen in einem frühen programmatischen Text von Rudolf Virchow: Ein alter Bericht über die Gestaltung der pathologischen Anatomie in Deutschland, wie sie ist und wie sie werden muss [1846]. In: Archiv für pathologische Anatomie und Physiologie für klinische Medicin 159, 1900, S. 24–39; vgl. hierzu auch Virchows Rede zur Eröffnung des Pathologischen Museums von 1899 (s. Anm. 6). Zur umfassenderen Bedeutung des Präparats und seiner großen Präparatesammlung für Rudolf Virchow vgl. Angela Matyssek: Rudolf Virchow. Das Pathologische Museum. Geschichte einer wissenschaftlichen Sammlung um 1900, Darmstadt 2002. 8 Rudolf Virchow: Die Sections-Technik im Leichenhause des Charité-Krankenhauses […], Berlin 1876.
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jenigen Aspekt, der selbst einer größeren scientific community in dieser Weise noch nie vor Augen gestanden hat. Ein derart aufgefundenes und ausgewiesenes Organ wird in einem zweiten Schritt aus dem Ges amtz us ammenh ang des Körpers gelöst und geborgen. 1: Herstellung eines Dünndarmpräparats, 2010 (Im vorliegenden Fall ◊ Abb. 1–6 Während letzterer nach wurde ein gesundes Organ verwendet.): Bestimmung eines Organ abschnitts und Bergung des Gewebes aus dem Zusammenhang der der Sektion wieder verschlosKörperstrukturen. sen, zur Bestattung freigegeben und dem natürlichen Prozess der Auflösung des Organischen anheimgestellt oder kremiert wird, stehen mit Blick auf das separierte Körperteil zwei Forderungen im Raum: Zum einen soll es den Aspekt des im Augenblick der Sektion als bedeutsam erkannten Sachverhalts möglichst unverfälscht so festhalten, wie ihn der Pathologe während der Autopsie vorgefunden oder im Zuge der weiteren Nachforschungen 2: Erstes Zuschneiden und Arrangieren des unfixierten Organs. am gerade entnommenen Organ festgestellt hat. Zum anderen sollte das Organ durch einen technischen Akt der Fixierung aus dem Kontinuum biologischer Vergänglichkeit herausgenommen und dauerhaft haltbar gemacht werden. Mit der Fixierung ist die Bildwerdung des Präparats bereits eingeleitet. Die sich daran anschließenden Verfahrensschritte der Konservierung und Versiegelung halten eine bestimmte Ansicht als Bildergebnis fest, für deren Dauerhaftigkeit sich vor allem die Wahl der zum Einsatz kommenden Substanzen und Substanzmischungen als entscheidend erweist. Diesbezüglich ereignete sich an Rudolf Virchows Institut für Pathologie 1896 nahezu unbemerkt eine präparationstechnische Revolution. Virchows wissenschaftlicher Mitarbeiter Carl Kaiserling (1869–1942) hatte ein
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Verfahren entwickelt, das Präparate hervorbrachte, die nicht mehr durch die früher übliche Verwendung hochprozentigen Alkohols ausblichen und ihre ursprüngliche Gestalt verloren, sondern die sich nun als form- und farbkon stant erwiesen.9 Drei Jahre später ließ denn auch Virchow seinem 3: Einbringen der mit Positionsnadeln in seiner späteren Bildform auf Enthusiasmus freien Lauf. Zur einer Unterlage befestigten Darmschlinge in ein Gefäß mit Fixierlösung. Eröffnung des Pathologischen Museums pries er die neu gefertigten Präparate als „wirkliche Bilder“, die dem Betrachter eine „unmittelbare Anschauung“ böten.10 Die weiteren technischen Ausführungen in diesem Beitrag nehmen auf das Kaiserling’sche Verfahren sowie auf die ähnlich gelagerten Techniken nach dem Pathologen Leonhard Jores (1866–1935) Bezug, die im 20. Jahrhundert den maßgeblichen Standard in der Fertigung pathologischer Präparate bilden sollten und beispielsweise heute noch die Grundlage für die konservatorische Betreuung der Präparate im Berliner Medizinhistorischen Museum der Charité bilden. Als anschauliche Form zielt das Präparat im medizinisch-didaktischen Kontext darauf, Krankheitszeichen in ihrem umgebenden, in Mitleidenschaft gezogenen, aber auch bis zu jener Grenze gesunden Gewebe, in dem ein organischer Gesamtzusammenhang noch erkennbar ist, so klar, deutlich und eindeutig wie möglich vorzustellen. Als ein solches Bild wird das Präparat in seinen Grundzügen in aller Regel bereits vor der Fixierung des Organs konzipiert. So stellen sich erste Bildideen bei oberflächlich gelegenen Befunden schon mit der ursprünglichen Wahrnehmung der Krankheitszeichen am eröffneten Leichnam ein. Häufig sind jedoch die für eine Krankheit typischen Symptome in der Tiefe der Strukturen verborgen. Diese müssen zunächst aufgesucht und durch eine geschickte Schnittführung freigelegt werden. Überdies erfordern die Säuberung und die Anforderung, alle Gewebeabschnitte mit der Fixierlösung zu erreichen, oftmals das Anlegen weiterer vorbereitender Schnitte.
9 Vgl. Carl Kaiserling: Ueber die Conservirung von Sammlungspräparaten mit Erhaltung der natürlichen Farben. In: Berliner Klinische Wochenschrift 35, 1896, S. 775–777. 10 Virchow: Eröffnung (s. Anm. 6), S. 6 u. 9.
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Somit enthält bereits das erste Zurechtschneiden des Organs vor der eigentlichen Fixierung Überlegungen zur später sichtbaren Bildgestalt. Neben didaktischen Erwägungen ad hoc und im Einzelfall aus dem konkreten Befund abgeleiteten Notwendigkeiten spielen für die Anlage eines solchen pathologischen „Präparatebilds“ insbesondere tradierte Sehgewohnheiten eine zentrale Rolle, die es berechtigt erscheinen lassen, eine eigene Ikonografie der Präparate zu postulieren. Diese manifestiert sich unter anderem darin, dass sich in verschiedenen einschlägigen Sammlungen oft sehr ähnliche und doch immer wieder auch modifizierte, bildhaft gefasste Präparatetypen finden, wie etwa ins Kreisrunde ausgelegte Dünndarmrosetten, der Länge nach gespaltete, die Schleimhaut als Gebirgslandschaften 4: Positionierung der fixierten, gewässerten und auf einer Plexiglasscheibe in seiner endgültigen Gestalt befestigten freigebende Mägen, gesprengte Schädel, horiDarmrosette im Präparateglas. zontal und vertikal geschnittene Hirnscheiben oder mehrfach aufgeklappte Herzen. Häufig leiten sich die zugrunde liegenden Gestaltungsideen mehr oder weniger unmittelbar aus den anatomischen Strukturen, physiologischen Verhältnissen und pathologischen Gewebsveränderungen ab. Allerdings eröffnet sich hier auch ein gestalterischer Freiraum. Die als Schaustück gedachte Form – abgeleitet aus ersten Ideen und Nachforschungen des Pathologen am Seziertisch, den vorbereitenden technischen Zurichtungen des Präparators und der nicht zu unterschätzenden Abstimmung zwischen dem Pathologen und dem Präparator über den ins Bild zu setzenden Sachverhalt – bedingt jedes weitere Vorgehen. Das hinsichtlich seiner Bildaussage immer schon bis zu einem gewissen Grade arrangierte Organ wird in einem nächsten, dritten Arbeitsschritt fixiert. Dazu arretiert der Präparator beispielsweise manche Organe mit Nadeln auf einem Untergrund, etwa aus Kork, und beschickt es für festgesetzte Zeiten mit einer Fixierlösung. Der Fixiervorgang kann Tage bis Wochen dauern, wobei die Fixierlösung in etlichen Fällen mehrfach gewechselt werden muss. Zum Ende der Fixierphase wird das Präparat im Verfahren nach Jores für 24 Stunden
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unter fließendem Wasser gespült, in der Technik nach Kaiserling für die gleiche Zeit in ein Alkoholbad gelegt. Dadurch werden nicht nur die Fixiersubstanzen ausgeschwemmt, sondern auch die während des Fixiervorganges etwa durch die Einwirkung von Salzen kaschierten Gewe5: Abdichtung des vollständig mit Konservierungslösung aufgefüllten befarben wieder zum Vorschein Präparateglases. gebracht und das Fixierergebnis stabilisiert. Im vierten Arbeitsgang wird das durchfixierte Organ in ein Präparateglas eingebracht und darin in seiner endgültigen Position festgelegt. Manche Weichteilgewebe wie Lungen und Darm sind nach einer Fixierung mit klassischen Substanzmischungen nicht gehärtet und damit hinsichtlich ihrer räumlichen Gestalt instabil. Im Glas würden sie regelrecht in sich zusammensinken. Daher müssen sie auf einer Unterlage aufgespannt oder in einen Rahmen eingehängt werden. Bisweilen sind diese Stützvorrichtungen sichtbar, häufiger bleiben sie aber auch – etwa durch ihre Fertigung in Kunstharzen oder auch Plexiglas – nahezu unsichtbar und verstärken damit in der Wahrnehmung den Eindruck eines schwerelos schwebenden Präparates im Glas. Manche Organstrukturen erhalten ihre ursprüngliche Form durch das Einbringen von Füllstoffen wie etwa Watte oder Gelatine zurück. Gegebenenfalls werden vor der avisierten Platzierung an den Organen vorgenommene Sektionsschnitte wieder sorgfältig vernäht, um dem Präparat einen unversehrten Eindruck zu erhalten. Durch die Ausrichtung im Glas erhält das Präparat seine definitive Position und damit seine endgültige Bildgestalt. Jetzt erst zeigt sich, ob und in wieweit sich die vorgängigen Bildideen umsetzen lassen oder ob Modifikationen oder eine grundsätzliche Revision des Bildkonzepts vorgenommen werden müssen. Neben einer rein didaktisch motivierten Darbietung des Organs gibt es, so unsere These, ein durchaus differenziertes Geflecht expliziter und impliziter, historisch abgeleiteter oder in jeweiligen Gegenwarten aus anderen Sphären einer wissenschaftlichen oder künstlerischen Bildgebung übernommener Gestaltungsimpulse, die im Prozess der endgültigen Ausformung des Präparatebilds im Präparateglas zum Tragen kommen. Sie sind es, welche die Bilddimensionen des Präparats eigentlich bedingen
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und in ihrer Anlage, Verknüpfung, Realisation, Präsentation, Repräsentation und Performation einer intensiven Erforschung harren. Im fünften Fertigungsschritt wird das Präparateglas mit einer Konservierungslösung soweit aufgefüllt, dass das darin 6: Abschließende Etikettierung des Präparats. eingestellte Objekt komplett bedeckt ist. Der sorgfältige Verschluss des Glases mit einem passgenau gearbeiteten Deckel, insbesondere jedoch eine gelungene Abdichtung der Verschlusszonen, sind hierbei entscheidend für die Haltbarkeit des Präparats. Treten aus dem erfolgreich fixierten Präparat keine Gewebepigmente oder organische Substanzen wie etwa Fette in die umgebende Konservierungslösung aus, kann es durchaus vorkommen, dass bei einer hundertprozentig geglückten Versiegelung die Flüssigkeit vollständig und klar und das Präparatebild über Jahrzehnte (bisweilen Jahrhunderte) unverändert bleibt. Im sechsten und letzten Fertigungsschritt erhält das Präparat seinen Namen, sprich: einen Text, der das Objekt auf einer ersten Stufe lesbar und bis zu einem gewissen Grade erklärlich macht, zumindest aber für weitere Deutungen und Verwendungen erschließt. Diesen Text vermittelt etwa eine kleine Ziffernfolge, die, als Sammlungs- oder Inventarnummer unmittelbar ins Glas eingeritzt, auf eine im Archivhintergrund angelegte Katalogisierung sowie auf eine dieser zugrunde liegende Dokumentation des Falles (etwa in Gestalt eines Sektionsprotokolls) verweist. Alternativ kann es sich auch um ein vollgültiges Etikett handeln, das neben einer Inventarnummer einige zentrale Informationen über das vorgestellte Krankheitsbild (meist bezüglich Diagnose und betroffener Körperregion) und den Träger der Krankheit (etwa hinsichtlich Alter, Beruf und Geschlecht) enthält. Das Vorhandensein einer Beschriftung am Präparat oder in einer Ablage hinter dem Objekt ist nicht nur entscheidend für die Bildaussage des Präparats im Einzelfall, sondern es erweist sich auch in ethischer Hinsicht von fundamentaler Bedeutung, denn Präparate ohne entsprechende Auszeichnung sind in einschlägigen deutschen Sammlungen schlichtweg nicht öffentlich präsentabel, bedingt durch den Umstand, dass zwischen 1933 und 1945 in der Zeit des Nationalsozialismus im Rahmen von Menschenversuchen und Krankenmorden auch Präparate menschlicher Organe
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zu Forschungszwecken gefertigt wurden. Präparate unbekannter Herkunft stehen damit grundsätzlich unter Verdacht. Inzwischen gilt für entsprechende Sammlungen die weitgehend anerkannte Empfehlung, derartige Präparate aus den Schauvitrinen in ein Depot für weitergehende Provenienzforschungen zu überführen. Gelingt es nicht, die Herkunft eines Präparates zu klären, muss es (ebenso wie die eindeutig aus Unrechtskontexten 7: Das fertig aufgestellte Präparat im Glas. Dünndarmrosette mit stammenden Objekte) würdevoll teilweise eröffneter Darmschlinge und Blick auf die Darmschleimhaut im oberen Bereich. Fast vollständige Farbwiederherstellung nach bestattet werden.11 abgeschlossener Fixierung. Navena Widulin, Berliner Medizinhistorisches Für sich alleine wirkt das Museum der Charité, 2010. Präparat stets durch seine doppelte Präsenz: durch eine realiter begründete oder zugeschriebene Echtheit als Naturobjekt und seine Aufladung als artifizielles Bild seiner selbst. ◊ Abb. 7, Tafel 3 Eine dritte, hiermit untrennbar verknüpfte Wirkkomponente ergibt sich aus der Empfindsamkeit und nur teilweise steuerbaren Reflexion des individuellen Betrachters, der in der Struktur des vorgestellten Organbildes nicht nur ein Ding außer sich, sondern stets auch ein Stück von sich erkennen kann. Dieses ist im Fall eines pathologischen Präparats von einer Krankheit gezeichnet, die einem anderen Individuum – hierbei handelt es sich, medizinisch gesprochen, um einen einst realen, mit der Qualität einer vollgültig ausgebildeten Person ausgestatteten Patienten – womöglich das Leben kostete. In der Rückprojektion der im Präparat vorgefundenen Sachverhalte auf den eigenen Körper und, weiter gedacht und weiter empfunden, auf die eigene Existenz, entwickelt sich so eine wechselseitige Kommunikation mit dem stummen Präparat. Typischerweise ist diese Interaktion durch eine anfängliche kurze Auszeit gekennzeichnet, die sich der Betrachter in den ersten Momenten vor den Präparaten nimmt, um in 11 Vgl. hierzu die „Empfehlungen zum Umgang mit Präparaten aus menschlichem Gewebe in Sammlungen, Museen und öffentlichen Räumen“ im Deutschen Ärzteblatt 100, Heft 28–29, 2003, S. 378–383.
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Erfahrung zu bringen, ob er sich der Zumutung einer permanenten Befragung der eigenen Physis, Psyche und Person, als gefährdetes und sterbliches Individuum wirklich aussetzen will. In aller Regel wird diese Herausforderung angenommen. Der Betrachter wendet sich mit all seinen Sinnen wieder dem Präparat und dem darin aufgehobenen Gegenüber, dem historischen Patienten, zu, um nun alles in Erfahrung zu bringen, was ihm das Objekt vermitteln kann. Damit stellt sich der Betrachter bewusst in den Bann des vor ihm aufgestellten Gegenstandes und nimmt diesen hinsichtlich aller visuell wahrnehmbarer Poren, Fasern, Farben und Strukturen in sich auf. Das Präparatebild macht in ihm Eindruck, deutlich und nachhaltig, und wird damit in einem umfassenderen Sinne bildmächtig. Die Bildmacht der Präparate resultiert dabei grundsätzlich aus der Reaktion des Betrachters auf die Präsenz eines Objektes, das als Einzelstück isoliert und ausgestaltet worden ist. Potenziert wird die Wirkung durch das Auftreten von pathologischen Präparaten in großer Zahl, etwa in einem reich bestückten Ausstellungsraum, in welchem der Betrachterblick durch die gesamte menschliche Anatomie wandern kann. In seiner selbstreflexiven Wahrnehmungshaltung scannt der Rezipient dabei auch seinen eigenen Körper, stellt zuweilen sogar eine Schwäche oder Zeichen einer Krankheit fest, zumindest aber die Möglichkeit, selbst zu erkranken. Die vorgefundenen eindringlichen Präparatebilder umfassen ihn im Ausstellungsraum ringsum und lassen ihm zunächst keine Freiheit, den Bilderwelten zu entfliehen oder diese einfach abzuschalten. Das Einzige, was ihm bleibt, sich zu wehren, wäre es, die Augen zu schließen.12 Die regelmäßige Konfrontation mit der eigenen gefährdeten Leiblichkeit verlangt dem Arrangement und damit den Arrangeuren derartiger Präparatelandschaften eine ethisch grundierte Haltung ab, die auch nachhaltige Auswirkungen auf die Ausstellungsgestaltung hat. Ebenso fordert die Präsentation originaler menschlicher Krankheitsbilder eine besondere Rücksichtnahme und Sensibilität gegenüber den Verstorbenen, sind es doch keine Zeichnungen oder Fotografien und damit indirekte Reproduktionen, sondern – wie Virchow es formulierte – eben „wirkliche Bilder“13 der Krankheit. Diese Direktheit des Mediums bedeutet, dass bei der Präsentation, insbesondere auch für die allgemeine Öffentlichkeit, Richtlinien eingehalten werden sollten, 12 Vgl. Thomas Schnalke: Ausstellen, Forschen, Lehren. Das medizinhistorische Museum zwischen universitärer Medizin und Öffentlichkeit. In: N.T.M. Zeitschrift für Geschichte der Wissenschaften, Technik und Medizin 18, 2010, S. 61–67. 13 Virchow: Eröffnung (s. Anm. 6), S. 9.
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die der Originalität und Einmaligkeit des jeweils präsentierten Menschen (wenn auch nur eines seiner Teile) gerecht werden. In den Empfehlungen zum Umgang mit Präparaten aus menschlichem Gewebe in Sammlungen, Museen und öffentlichen Räumen von 2003 heißt es dazu: „Die Würde des Menschen ist bei allen Maßnahmen der Präparateherstellung, Aufbewahrung und Präsentation zu wahren. Die Präparate sind achtungsvoll zu behandeln.“14 Zu den ethischen Gesichtspunkten wird unter anderem ausgeführt, dass neben der Klärung der Herkunft der Präparate und deren einwandfreiem Präsentationszustand auch die Form der Präsentation entscheidend für einen ethisch vertretbaren Umgang mit diesen Objekten ist. Eine ästhetische Präsentation, deren Ziel die Vermittlung des in dem Stück aufgehobenen Informationsgehalts ist, welches nicht zu einer beliebigen Sache degradiert werden darf, ist für die Bildergalerie einer Präparatesammlung eine unerlässliche Vorgabe. Nüchtern, orientiert am fachlichen Inhalt, ohne Verfremdung, in gutem Zustand – nur so gelingt es, die Interaktion zwischen Besucher und pathologisch-anatomischem Präparatebild auf den didaktischen Gehalt, der der jeweiligen wissenschaftlichen Sammlung zugrunde liegt, zu konzentrieren und die ursprünglich erdachte Bild idee wiederzugeben. Die Präsentation im Berliner Medizinhistorischen Museum der Charité orientiert sich an den historischen Wurzeln ihrer Sammlung, der von Virchow verfolgten Idee einer Lehr- und Schausammlung, die einen Gang durch den Körper ermöglichen und dabei die Krankheiten in ihrem Verlauf sichtbar machen soll. Der Umfang der Präparatesammlung wurde allerdings im Zweiten Weltkrieg erheblich dezimiert, auch die in den Folgejahrzehnten aufgebaute Sammlung erreichte nicht annähernd die Vollständigkeit der Virchow’schen. Überdies erschien es sinnvoll, dass das Medizinhistorische Museum heute nicht ausschließlich Präparate ausstellt, sondern diese eingebettet in einen Gang durch die Geschichte der Medizin der vergangenen drei Jahrhunderte zeigt – mit dem Schwerpunkt auf den Blick unter die Haut und die Verfahren der Medizin, den Körper in verschiedener Hinsicht zu erschließen.15 Die Ausstellung der Krankheitsbilder am ursprünglich historischen Ort des Pathologischen Museums lässt es jedoch auch gerechtfertigt erscheinen, sie in einem Schwerpunktraum der Ausstellung in größerer Zahl zu zeigen, wobei für die Präsentation der wissenschaftliche Charakter einer Art Lehrbuch gewählt wor-
14 Vgl. Empfehlungen (s. Anm. 11), S. 378. 15 Vgl. Thomas Schnalke, Isabel Atzl (Hg.): Dem Leben auf der Spur im Berliner Medizinhistorischen Museum der Charité, München 2010.
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den ist: Organe und Organsysteme werden in den einzelnen historischen Vitrinen aufgerufen, anatomische Präparate (unterstützt durch Zeichnungen und Modelle) präsentiert und pathologische Präparate ausgestellt, die individuelle Ausprägungen ein und derselben Krankheit sowie Krankheitsverläufe zeigen. Virchows Entscheidung, gerade der Öffentlichkeit Fehlbildungen in großer Zahl und Reihung als erstes vor Augen zu führen, um diesbezüglich dem Aberglauben eine naturwissenschaftlich fundierte Genesistheorie entgegenzusetzen, wurde dabei aus pietätischen Gründen nicht wieder aufgegriffen. Objekte aus diesem Sammlungsbereich finden sich zwar in der öffentlichen Präsentation, jedoch ganz am Ende des Präparatesaals, um die Konfrontation des Betrachters mit den häufig als schwierig empfundenen Bildern durch zahlreiche andere, zuvor gezeigte Körperporträts vorzubereiten, um bewusst auf einen schockierenden oder effekt heischenden Moment zu verzichten und um den Objekten ihren Platz in der Sammlung heute vor dem Hintergrund einer intensiven Forschung zu angeborenen oder erworbenen Entwicklungsstörungen zuzuweisen. Der didaktische Zeigefinger Virchows ist durch eine dem heutigen Wissenstand angemessene Präsentation ersetzt worden, deren Ziel es ist, krankhafte Veränderungen des Körpers nachvollziehbar zu zeigen, bei der aber gleichzeitig die Würde der im Raum versammelten verstorbenen Patienten, respektive ihrer körperlichen Repräsentanten, gewahrt bleibt. Keine Demonstration von dem Leben nachgestellten Situationen toter Körper, kein Räkeln einer toten Schwangeren mit eröffnetem Bauch auf einem roten Plüsch sofa. Derartige Inszenierungen, deren didaktischer Effekt grundsätzlich bestritten werden darf, erscheinen in Anbetracht des jedem einzelnen, präsentierten Körperteil eingeschriebenen Schicksals eines Individuums als ethisch unangebracht. Im Medizinhistorischen Museum beginnt der Rundgang durch den Bildersaal daher mit einem Text zum Gedenken an die in diesem Raum in Gestalt der Präparate versammelten Menschen, denen in Würde und Respekt begegnet werden soll und denen letztlich auch dafür gedankt wird, dass sie auf diese sehr ungewöhnliche Art und Weise ein Stück von sich zur Unterrichtung der Nachwelt hinterlassen haben.16 Für wertvolle technische Angaben danken wir der Präparatorin des Berliner Medizinhistorischen Museums der Charité, Navena Widulin.
16 Vgl. Schnalke, Atzl (s. Anm. 15), S. 150.
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The Tattoo Collectors. Inscribing Criminality in Nineteenth Century France In June 1929, an itinerant English purchasing agent named Peter Johnson-Saint met with one of his contacts in Paris, a Dr. La Valette, to finalise the sale of a collection of curious objects. Where exactly this meeting took place is not clear; the only reference to an address is recorded on an accession slip and simply reads “Rue Ecole de Medecine”.1 Of course, this particular street is significant since it is at the historic heart of Parisian medical studies, home to the Université Paris Descartes and the Musée Dupuytren. But whether or not Johnston-Saint was visiting a member of the medical faculty that day, or a man who occupied himself in private practice, is not (yet) certain. Johnston-Saint did however keep a record of his purchasing activities for his employer, including a brief description of the objects he acquired, given in his journal entry for Saturday June 15th: “I then went to see Lavalette in the rue Ecole de Medecine. This is the man who had the collection of over 300 tattooed human skins. These skins date from the first quarter of last century down to the present time; many of them are very curious and extremely interesting, consisting of skins of sailors, soldiers, murderers and criminals of all nationalities. He also has the very unique mummified head of an Arab, mummified in such a manner as to preserve the features in a most lifelike condition. He says that this was a special process of his own and is unique in mummification. There was also a galvanised human brain, the only example of its kind in the world, prepared in the laboratory of the Musee Dupuytren in Paris […] Lavalette told me that the skins are unique, that no more could now be got under any circumstances and that each skin had taken him a long time and cost him a certain amount to cure and prepare for his permanent collection.”2
The details of La Valette’s mysterious and “unique” preservation methods, and how exactly he came to possess such a large quantity of fragments of tattooed human skin, is not revealed in Johnston-Saint’s notes. One thing however, is clear: Henry Wellcome – Victorian entrepreneur, prolific collector and Johnston-Saint’s 1 As is frequently the case with the Wellcome Collection archives, there are many inconsistencies and mistakes in the records – the correct spelling in this instance should be “Rue de l’Ecole de Medecine”. Indeed, there is some question as to the correct spelling of the name of Johnston-Saint’s contact; his handwritten journal entries read “Lavalette”, but are frequently typed in subsequent records as “La Valette”. 2 Peter Johnston-Saint: Johnston-Saint Reports Jan–Nov 1929. In: The Wellcome Collection Archives, London, Saturday June 15th, p. 9.
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e mployer – was keen to get the particular objects La Valette had on offer for his “historic medical museum”.3 His notes, scrawled in the margins of Johnston-Saint’s typed reports, emphatically state: “these of great interest to us for certain section”.4 What exactly were 1: Tattoo on human skin (12,5 x 9,1 cm), dated 1830–1900. Wellcome’s intentions for this motley collection of human remains? Nearly eighty years later, they remain in storage at the Science Museum’s archives at Blythe House in London, and aside from the inclusion of a few tattooed skins in a small number of recent exhibitions on diverse themes, most of the collection has never been on display to the public.5 Henry Wellcome’s interest in the history of human health and medicine spurred his prolific collecting of a wide range of artefacts from human bones, tissue and skin, to medicine chests, x-ray machines and iron lungs, to birthing chairs and prosthetic limbs – over a million objects by the time of his death in 1936. This paper is concerned with a small fraction of this vast collection – a mere 300 individual items housed in a single storage cupboard. These items are not objects in the commonplace sense, though like books, paper or ink they are both visible and palpable, and can be stored in physical repositories; they are traces of the lives of others, memories made flesh, inscriptions of individual identity and of institutional domination. Writing on dissection in the nineteenth century, Helen MacDonald makes the observation that “the human body, in whole or in parts, is never just an object like any other 3 For more on this subject, see chapter 5 in Frances Larson’s engaging account of Henry Wellcome’s life and work: France Larson: An Infinity of Things, Oxford 2009. 4 Johnston-Saint: Reports (as cited in footnote 2), p. 9. 5 Two of the Wellcome Collection’s preserved tattooed human skins are on display as part of their permanent exhibition Medicine Man: http://www.wellcomecollection.org/whats-on/exhibitions/ medicine-man.aspx; seven of the skins were also recently displayed in the exhibition Skin, also at the Wellcome Collection: http://www.wellcomecollection.org/whats-on/exhibitions/skin.aspx. As I write two more are installed at the Science Museum exhibition Psychoanalysis: The Unconscious in Everyday Life: http://www.sciencemuseum.org.uk/visitmuseum/galleries/psychoanalysis.aspx. These various mobilisations of the objects within museum exhibition contexts demonstrate perfectly the ways in which inscriptions (in this case a collection of artefacts) are “reshuffled and recombined” within the wider array of museum objects, thereby generating new interpretations and meanings.
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[…] it slips between subject and object.”6 These “objects”, whilst possessing the defining characteristics required of object-hood, are also endowed with a latent subjectivity still visible in the tattooed trace etched indelibly into the skin – and in fact their fabrication into objects conjures another subject, that of the col- 2: Tattoos on human skin (26,7 x 18,1 cm), dated 1850–1920. lector who selected, excised and prepared the tattoos for the display cabinet. Hence they are far more than merely “objects” in the simple material sense; their very existence in medical collections disrupts and dissolves these taken-for-granted categories and confronts us with the hybrid. Where to begin then when analysing such peculiar hybrid entities? Materially, we are dealing with dry-prepared human skins,7 varying in size from a few centimetres square, to entire sheets of skin removed from the chests of a number of men, nipples and hair still intact. ◊ Fig. 2 The frilled and punctured edges indicative of the drying process are common features in the collection, though some have had these edges trimmed away carefully, apparently to better present the skin as a neat parchment-like surface. Such manipulations suggest both a careful attention to visual display and a striking correspondence between skin surface and writing surface. There are interesting incongruities, too; whilst a large proportion have clearly been cut into shapes that frame the tattoos in the most economic manner possible (as can be seen in Figure 1), others are crudely hewn through the tattoo-marks themselves, and so do not present perfectly intact specimens. ◊ Fig. 3 One might speculate a number of reasons for this; the body surface and tattoos may have been damaged due to injury prior to death, a distinct possibility given that the majority of specimens are presumed to have come from sailors and soldiers,8 or the tattoos 6 Helen MacDonald: Human Remains. Dissection and its Histories, Yale 2005, p. 3. 7 At the time of writing, work is underway to establish exactly what substances have been used in the preservation of the collection, though it is speculated at present that either mercuric chloride or arsenic trioxide may be present in the skins, limiting their handling. 8 Though the only definitive evidence of this we have so far are comments in Johnston-Saints’ journals, it is reasonable to assume that the skins would indeed have come from populations under institutional purview (in barracks, military hospitals, prisons etc.), especially since it was these very populations who were the subject of late nineteenth century criminological investigations into tattooing.
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may have been harvested in haste, possibly by non-medical professionals seeking to earn some money from their blackmarket sale to collectors. The varying degree of skill by which the skins have been removed from the body and prepared may lend some support to the latter theory – in fact, it seems more than likely that La Valette did not prepare all of the skins himself, as he claimed. ◊ Fig. 1 A material analysis of the collection raises many questions, and even suggests a few possible answers, but for clarification of the key question – why and for what purpose were the tattoos collected? – other methods must be sought. 3: Tattoos on human skin (20,9 x 15,9 cm), dated 1900–1920. It is necessary first to locate the Wellcome tattooed skins within the broader context of collecting cultures of the eighteenth and nineteenth centuries. In what follows, I will aim to demonstrate how the tattoos of the Wellcome Collection were collected in multiple senses and in more than one instance, in each case enacting a different conception of the tattoo and the collection. Initially, the itinerant tattooee, classically the sailor or soldier, acquires on their travels various tattoo marks as souvenirs. Further down the line, following the death of the tattooed, another collector selects, excises, prepares and collates the tattoos for a private collection, ostensibly for academic study.9 Time passes, academic interests shift and change – some schools of thought fall out of favour or are discredited, and tattooing ceases to be an active study concern. The collection is sold, and absorbed into yet another collection, that of the museum – the repository for curious relics of past human endeavour. Thus with each shift in location – living body, scientific cabinet of curiosity, public institution – it is possible to see that the meanings ascribed to these objects metamorphoses also, thereby complicating the question of why and for what purpose they were assembled. 9 It seems more than likely that there was an element of fetishisation at play behind the collection of tattooed human skin; this is an aspect of the research that I am currently exploring in my thesis.
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No doubt it is impossible to ever know with absolute surety details of the lives of tattooed European sailors and soldiers, since they left behind no written personal histories – save for the words and images they inscribed into their flesh.10 Nevertheless, it is with these historically obscured individuals that we must begin. The sailor’s (and to a lesser extent soldier’s) tattoo can now be regarded as iconic, both in broad cultural terms and within tattoo art practice – indeed, this category of images could now be said to represent a genre within the corpus of Western tattoo art. Collections of tattooed images bound up with seafaring life (such as those shown in Figure 2) are emblematic of early sailor’s tattoos – a fouled anchor, possibly indicative of rank; a pierced heart symbolising betrayal in love; creatures of the sea; and the bearer’s name inscribed to provide an identifying mark in the event of death. ◊ Fig. 2 Commenting on the acquisition of tattoo marks by European sailors visiting Polynesia in the eighteenth century, Nicholas Thomas makes the following observation: “Whereas objects gathered might be lost, broken or sold, and could only ever be tenuously connected with one’s person and uncertain in their significance, your tattoo is not only ineradicable and inalienable, it is unambiguously part of you.”11
Thomas explicitly likens the act of becoming tattooed to a form of collecting; specifically, he views the tattoo in this context as a bodily inscription which records the trace of an encounter. It is useful here to conceptualise the tattoo with reference to Bruno Latour and Simon Schaffer as a kind of “immutable mobile”.12 It is mobile insofar as the tattooed body travels, in this case the body of the sailor who brings home proof of an ethnographic encounter; and it is immutable by its very nature as a permanent mark. The emergence of “a novel tattoo fashion” amongst the ordinary seamen who made up the crew of Cook’s Endeavour in 1769 can be contextualised within a broader shipboard collecting culture, in which all crew were encouraged to participate in the gathering of cartographic and navigational
10 The notion of tattooing as a form of body-writing or personal memoire is explored by Philppe Artières: A Fleur de Peau. Médecins, Tatouages, et Tatoués 1880–1910, Paris 2004. 11 Nicholas Thomas: Introduction. In: Nicholas Thomas et al (Eds.): Tattoo. Bodies, Art and Exchange in the Pacific and the West, Durham 2005, p. 20. 12 Bruno Latour: Visualisation and Cognition: Drawing Things Together, Cambridge 1990, p. 1–32.
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data.13 Simon Schaffer has shown how the European tendency during this period of exploration and information-gathering was to interpret Polynesian tattooing as a form of writing.14 Given the scientific remit of voyages such as Cook’s it is thus easy to imagine how, for the common sailor who may not possess much literacy skill, “tattooing became a form of peculiarly apt collection, an inventory of signs both mobile and exquisitely immutable”.15 The tattooed skin shown in Figure 3 is an exceptional example of such a “collection” of tattoos; twenty individual designs, grouped tightly together and arranged to balance the relative scale of each image, jostle over what was one half of the chest in a space almost twenty-one centimetres by sixteen. In contrast to the traditional Japanese body-suit tattoo, which was designed both thematically and ergonomically and applied over a number of sessions to create one seamless work of art, the European individual tended to be tattooed with a number of different, isolated designs which were not necessarily thematically linked and could be added to over time. In this way, it is possible to view nineteenth-century European tattooing as a process of curio collecting – the more tattooed souvenirs one possessed, the more the body came be viewed as “exotic” and strange. This is most evident in the case of those who took their collecting to the extreme of acquiring a full body suit. The bodies of the tattooed man or lady thus became living, breathing “cabinets of curiosities”, from which they could make as living as performers at fairs, side-shows and circuses. Thus the tattooee is the first collector in a series – selecting both a design and section of skin on which to have it inscribed, and building up a unique set of images which allude to their travels and experiences. In some cases, this reference is made so explicit as to almost render itself redundant; “Souvenir du Sahara” speaks quite literally of the tattoo-as-souvenir, and is not an isolated example in the Wellcome collection. ◊ Fig. 1 Whilst many of the tattooed designs of the sailor or soldier are repetitious and very similar stylistically, the individuality of the tattoo emerges from a combination of the context of it’s acquisition, the unique placement on the body, 13 Thomas (as cited in footnote 11), p. 19. 14 Simon Schaffer: On Seeing Me Write. Inscription Devices in the South Seas. In: Representations, No. 97, Winter 2007, p. 90–122. Likewise Schaffer offers evidence that some Polynesians regarded European writing as a form of tattooing: Schaffer’s article refers to an instance during the 1792 voyage of the Daedalus to the Marquesas Islands in which young British astronomer William Gooch was apparently invited to tattoo a Marquesan chief. Misinterpreting the astronomer’s pen and ink, the Marquesan lay down to be tattooed. Gooch later recorded this in his diary: “On seeing me write, deem’d it tattooing” (p. 91). This episode reveals interestingly symmetrical affinities between European inscription devices and those of the South Seas Islanders. 15 Schaffer (as cited in footnote 14), p. 100.
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the skill (or lack of) in it’s application, and it’s relation to other tattoos which are added to the collection over time. The surge in popularity of tattooing amongst the male European working classes caught the attention of a second group of collectors during the late nineteenth century. Who exactly these men were is still something of a mystery – but it seems clear that whilst there was certainly a strong interest in the tattoo amongst prominent criminologists of the time, there appears to be no reference to or discussion of the harvesting and preparation of tattooed skin in their work.16 ◊ Fig.3, Tafel 4 In France, the most prominent criminologist writing on tattoos during the late nineteenth century was Alexandre Lacassagne (1843–1924), carrying out detailed research into the incidence of tattooing amongst prison populations. This work involved the gathering of a considerable amount of data, which he then set about systematizing. “By 1881 he had collected copies of 1,600 tattoo images, traced from life, mounted on specially prepared paper and carefully catalogued according to seven categories of image, ten specifications of location on the body, and so on.”17
As well as drawings traced directly from the skin of the tattooed criminal, photographs – and in some cases even the tattooed skins themselves – were collected as raw data by prison wardens, army doctors and criminologists. The criminological and medical interest in the tattoo during the last two decades of the nineteenth century derived in part from theories of dégénéresence and atavism which became 16 I may yet discover something which disproves this assumption, since my research in this area is ongoing. Jane Caplan makes the assertion in the endnotes to her essay National Tattooing: Traditions of Tattooing in Nineteenth Century Europe that “Pathology clinics might preserve a few examples of tattooed skin, but this was not the standard recording method”, citing one German source which describes such a preservation technique; Jane Caplan (Ed.): Written on the Body. The Tattoo in European and American History, London 2000, p. 289. However, the 300 individual skins in the Wellcome Collection alone amount to much more than a “few” examples – and there are many more in comparable collections across Europe. The question then, is who – if not the major criminological theorists of the time – were collecting tattooed human skins? It is reasonable to assume that they had medical training as well as access to cadavers; I would put forward the suggestion that it was perhaps the surgeons and pathologists who were employed in prisons, barracks and on the battlefield who gathered this “raw data”. This supposition would follow Caplan’s observation that much of the original research which the academic studies drew upon was actually collected by “the ordinary prison or army medical officers” who were “practitioners not academics” (p. 161). 17 Caplan (as cited in footnote 16), p. 161.
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popular in the French and Italian schools of criminology respectively.18 Tattooing as practiced amongst particular groups and classes of European society was considered by many scholars to represent a worrying sign of decline in the collective moral character of the populace. Already associated with “savages” in Polynesia and elsewhere, it was easy to transpose the “primitive morals” of one group onto another. Re-coded and re-inscribed, the tattoo in the European context came to be associated with criminality. However, unlike other physical features which could be scrutinised for abnormality, the tattoo presented a unique challenge, since it was not an inherited but a socially acquired characteristic. The ambiguity of the mark, and its inherently cultural nature did not escape Lacassagne, whose theories placed emphasis on the social etiology of crime: “The social milieu is the breeding ground of criminality; the germ is the criminal, an element which has no importance until the day where it finds the broth which makes it ferment.”19 The tattoo is a kind of boundary phenomenon, both physiologically and socioculturally; it appears at the body surface, but is suspended indelibly within the flesh. Thus, it may be argued that it was the liminality of the tattoo which made it such an irresistible subject of medico-legal research. Moreover, tattoos were a highly visible sign, and viewed as such, they were invested with a kind of loquaciousness which seemed to invite interpretation; prompting Lacassagne’s elegant characterisation of tattoos as “speaking scars”.20 This pithy phrase indicates a conception of tattoo-as-writing in the work of Lacassagne, a view shared by his contemporaries in the field. The first step in this classificatory project was to reify the mark into sign, by placing the tattoo into a schema alongside other “primitive” forms of writing such as hieroglyphs, pictograms, professional emblems, graffiti etc.21 However, whilst tattoos at first appeared to present a legible message to the outside world, their cryptic “criminal” code proved frustratingly opaque. The visual data gathered did not “speak for itself”, but required further rationalisation through, for example, the re-presentation of images as part of schematic diagrams indicating the incidence and location of tattoos on the body, 18 Caplan (as cited in footnote 16), p. 156. 19 “Le milieu social est le bouillon de culture de la criminalité; le microbe, c’est le criminel, un élément qui n’a d’importance que le jour où il trouve le bouillon qui le fait fermenter.” Alexandre Lacassagne: Les transformations du droit pénal et les progrès de la médecine légale, de 1810 à 1912. In: Archives d’anthropologie criminelle, 1913, p. 364. 20 As cited in Jane Caplan: Speaking Scars. The Tattoo in Popular Practice and Medico-Legal Debate in Nineteenth-Century Europe. In: History Workshop Journal, No. 44, Autumn, 1997, p. 129. 21 Alexandre Lacassange, cited in Caplan: Written on the Body (as cited in footnote 16), p. 161.
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accompanied by annotations, charts and tables, as well as descriptive and analytical texts. As Jane Caplan has pointed out, the raw data itself often revealed little more than the fact that tattooing was commonly practiced amongst the male working classes in general.22 The bringing into being of the tattooed criminal “other” in the nineteenth century was accomplished by means of these processes of inscription. Through the amassing of visual material and theoretical speculation in accompanying texts, a “criminal class”, whose physical and behavioural characteristics could be mapped and catalogued by criminologists, gradually emerged from the effusion of data in “archetypal” form. Writing on inscription processes and power, Bruno Latour argues that “a ‘state’, a ‘corporation’, a ‘culture’, an ‘economy’ are the result of a punctualization process that obtains a few indicators out of many traces. In order to exist these entities have to be summed up somewhere”.23 Similarly, the criminal is “summed up” in the work of criminologists by a few physical indicators, of which the tattoo seemed to be one of the most compelling. Thus the complex, unpredictable, “deviant” human being is re-shaped into a more manageable object of knowledge in a transformative process which operates to distil essences into two-dimensional inscriptions; in this case preserving only the trace, the tattoo itself. Whilst the tattoo may be an “inalienable and unambiguous” part of an individual human being during life, this ceases to be the case in death. Regarded as a text, it can be removed from the body upon death and preserved in the manner of pages in book. In the case of the Wellcome Collection we are confronted with just that: the assemblage of tattoos into skin-texts post mortem. Extracted from the context of the life that gave it meaning, the tattoo may be preserved, sold, re-coded and re-mobilised to the ends of others. According to Latour and others, the process of mobilisation often begins with the gathering of objects: “Collections of rocks, stuffed animals, samples, fossils, artifacts, gene banks, are the first to be moved around”.24 The collection is then the first “essential” inscription, and in the case of the Wellcome Collection tattooed skins, it is also their final resting place. The nineteenth-century criminological project which devoted such energy to the collection and analysis of data on European tattooing ultimately failed to (entirely) re-code the tattooed individual as deviant, precisely because the poly
22 Caplan: Written on the Body (as cited in footnote 16), p. 158. 23 Latour (as cited in footnote 12), p. 26 (my emphasis). 24 Latour (as cited in footnote 12), p. 16.
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semous nature of the images themselves. Tattoos, once removed from the body – like all traces – turned out to be no more than “fragile inscriptions which are immensely less than the things from which they are extracted”.25 For the tattooee and the collector of tattooed skins alike, the trace – whether a remembered experience or hand-traced drawing – was simply not enough; compulsion seems to have dictated that experience and knowledge must be etched into flesh and reified into material object respectively. Thus the tattooed and the criminologist are ironically bound by their mutual engagement with the inscription itself.
25 Latour (as cited in footnote 12), p. 29.
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Grenzfälle zwischen Naturpräparat und Landschaftsbild. Bonavita Blanks Musivgemälde
„Hier sind die Moose vergöttert.“ (Georg Franz Hoffmann)1
Kleists verstörende Begegnungen mit Bildern
„Verzeihe mir diese Umständlichkeit. Ich denke einst diese Papiere für mich zu nützen.“2 Mit diesem entschuldigenden Hinweis eröffnete Heinrich von Kleist gegenüber Wilhelmine von Zenge, dass er in seinem Brief vom 11. und 12. September 1800 ungewöhnlich ausführlich über seinen Aufenthalt in Würzburg und seinen Besuch eines Naturalienkabinetts schreiben werde. Kleist war auf Merkwürdigkeiten gestoßen, die ihn länger beschäftigen sollten und mehr als einen flüchtigen Reisebericht verlangten. Sein Brief hebt zwar mit vergleichsweise konventionellen Beobachtungen zur Erscheinung der Stadt und der Residenz an, konzentriert sich aber bald auf den omnipräsenten Katholizismus und spiegelt eine tiefe Verwunderung des Dichters über eine für ihn unverständliche Religiosität. Die Vielzahl an Gotteshäusern, deren reiche Ausstattung mit Bildwerken sowie die beinahe ununterbrochenen Stundengebete und Messen beeindruckten Kleist nachdrücklich. In diesem Sinne schwankt sein Bericht zwischen Verstörung und ironischer Distanzierung: „Wenn die wunderthätigen Marienbilder einigermaßen ihre Schuldigkeit thun, so muß in Kurzem kein Franzose mehr leben. Wirksam sind sie, das merkt man an den wächsernen Kindern, Beinen, Armen, Fingern & &, die um das Bild gehängt sind; die Zeichen der Wünsche, welche die heilige Mutter Gottes erfüllt hat. – In Kurzem wird hier eine Procession sein, zur Niederschlagung der Feinde, und, wie es heißt, ‚zur Ausrottung aller Ketzer.‘ Also auch zu Deiner u. meiner Ausrottung.“3 Totes Bild und lebendige Wirklichkeit geraten in eine fragwürdige Nähe. Auch wenn Kleist dem Bilderkult höchst skeptisch gegenübertritt, ist er von der „Macht“ des Bildes doch unmittelbar betroffen – als einer jener Protestanten, die dieser Bildwirkung unterworfen werden sollen, gerade weil sie ihr keinen Glauben schenken.
1 Joseph Bonavita Blank’s Beschreibung seiner Musivgemälde. Nebst kurzer Nachricht von dem Kunstsaale und einigen Zuwächsen des Naturalien-Kabinets, hg. v. Franz Georg Benkert, Würzburg (2. Aufl.) 1820, S. 234. 2 Heinrich von Kleist: Brandenburger Ausgabe. Kritische Edition sämtlicher Texte, Bd. IV/1: Briefe 1 (März 1793–April 1801), hg. v. Roland Reuß und Peter Staengle, Basel 1996, S. 271–281, hier S. 278. 3 Kleist (s. Anm. 2), S. 277f.
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Das Naturalienkabinett des Minoritenpaters Josef Bonavita Blank (1740–1827), von dem Kleist in den abschließenden Absätzen seines Briefes berichtet, führt nur auf den ersten Blick von diesem irritierenden Umgang mit Bildern fort. Kleist würdigt sachlich, ja wohlwollend die „sehenswürdige Gallerie von Vögeln u. Moosen“, die Blank im Schloss habe aufstellen können, und wirft einen Blick in die Werkstatt des Paters: „Schon der bloße Apparat ist sehenswürdig u. erfordert einen fast beispiellosen Fleiß. Da sind in vielen Gläsern, in besondern Fächern und Schränken, Gefieder aller Art, Häute, Holzspäne, Blätter, Moose, Saamenstaub, Spinngewebe, Schilfe, Wolle, Schmetterlingsflügel & & in der größten Ordnung aufgestellt.“4 Doch auch hier, an einem Ort der systematischen Ordnung und des wissenschaftlichen Studiums der Natur, begegnet er merkwürdigen Bildformen: „Aber dieser Vorrath von bunten Materialien hat den Mann auf eine Spielerei geführt. Er ist weiter gegangen, als bloß seine nützliche Gallerie von Vögeln u. Mosen zu vervollkommnen. Er hat mit allen diesen Materialien, ohne weiter irgend eine Farbe zu gebrauchen, gemahlt, Landschaften, Blumenbouquets, Menschen & & oft täuschend ähnlich, das Wasser mit Wolle, das Laub mit Moose, die Erde mit Saamenstaub, den Himmel mit Spinngewebe, u. immer mit der genausten Abwechselung des Lichtes u. des Schattens.“5 Täuschend echte Bilder, geschaffen allein aus Materialien der Natur, unter Verzicht auf herkömmliche Pigmente und Farben: Ohne dass Kleist explizit auf seine Verwunderung über die katholischen Kultbilder verweist, zeichnete diese ungewöhnlichen Gemälde offenbar eine beunruhigende Nähe zu jenen Marienbildern aus, denen die Gläubigen scheinbar ohne jedes Bildbewusstsein eine besondere Wirkmacht zuschrieben. Doch Kleist war diesen Naturbildern im Kabinett eines ernstzunehmenden Naturforschers begegnet. Handelte es sich bei den aus Wolle, Moosen, Samen und Spinnweben geschaffenen Bildern, den sogenannten Musivgemälden, wirklich nur um „Spielereien“? Ließ sich ihre verstörende Erscheinung rasch bändigen, indem man sie aus dem Naturalienkabinett im engeren Sinne ausgrenzte und als Grille eines schrulligen Paters verstand?
4 Kleist (s. Anm. 2), S. 278. 5 Kleist (s. Anm. 2), S. 278. Vgl. Helmut Pfotenhauer: Kleists Rede über Bilder und in Bildern. Briefe, Bildkommentare, erste literarische Werke. In: Ders.: Sprachbilder. Untersuchungen zur Literatur seit dem achtzehnten Jahrhundert, Würzburg 2000, S. 85–108, bes. S. 88–90; Gernot Müller: „Man müsste auf dem Gemälde selbst stehen“. Kleist und die bildende Kunst, Tübingen 1995, S. 88; Monika Ehlers: Grenzwahrnehmung. Poetiken des Übergangs in der Literatur des 19. Jahrhunderts. Kleist – Stifter – Poe, Bielefeld 2007, S. 102.
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Die Natur durch die Natur selbst darstellen
Blanks Musivgemälde scheinen einer intensiven Beschäftigung mit der Natur entsprungen zu sein, die wissenschaftliche Interessen mit einem ästhetischen Blick6 und einer religiösen Naturverehrung verband. Die Schriften, die Franz Georg Benkert offenbar auf der Grundlage von Vorarbeiten Blanks redigiert hat, betonen immer wieder dessen ernsthaftes, wissenschaftlichen Ansprüchen genügendes Studium der Natur; zugleich finden sich in ihnen Spuren einer Religiosität, die an die Physikotheologie des 18. Jahrhunderts erinnert.7 Am Beginn der Musivarbeiten, in denen wissenschaftliche, ästhetische und religiöse Interessen auf ungewöhnliche Weise zusammentraten, standen unscheinbare Moose.8 Bei Wanderungen in der Schweiz hatte Blank in jungen Jahren „mehrere tausend Moose“ gesammelt, so dass er über einen „großen Vorrath von Stoffen zur natürlichen Malerei“ verfügte. Glaubt man seinem Biografen Benkert, so stellte der „Anblick einer so reichen und mannigfaltigen Sammlung […] an sich schon ein natürliches Gemälde dar“.9 Es scheint, als hätte die Natur selbst dazu aufgefordert, die ihr innewohnenden Bilder zur Entfaltung zu bringen: „Er zeichnete nun eine Landschaft auf das Papier hin, und trug mit Beobachtung der malerischen Grundsätze in Vertheilung des Schattens und Lichtes lauter Natur-Produkte auf, – und es entstand unter seinen Händen eine ländliche malerische Gegend.“10 Die zum Teil mit erheblichem Aufwand zusammengetragenen Moose dienten einer neuen Form von Landschaftsmalerei; mit ihrer Hilfe ließen sich „Bäume, waldige Gegenden, Lustwäldchen, Ruinen, durchbrochene Felsen, verwitterte Gebäude, zerrüttete Pyramiden, Säulenstämme usw. malerisch“11 darstellen. Es lag nahe, für derartige Bilder auch auf andere natürliche Materialien zurückzugreifen. Nach und nach erweiterte Blank seine Palette daher um weitere Malmittel: von Rinden, Hölzern und Samen über Tierhaare oder Federn bis hin zum „feinsten Federstaube der Schmetterlinge“.12 Von den 488 Musivgemälden, die das Verzeichnis von 6 Blanks Neigung, die Natur bildhaft zu erfassen, äußert sich mehrfach in seiner Biografie; vgl. [Franz Georg Benkert]: Joseph Bonavita Blank’s kurze Lebens-Beschreibung, Würzburg 1819, S. 40 u. S. 48. 7 Vgl. insbes. Blank (s. Anm. 1), S. 238f. – Jean Paul hat die physikotheologischen Grundlagen von Blanks Musivgemälden vielleicht am deutlichsten erkannt; vgl. Jean Paul: Jean Paul’s biographische Belustigungen unter der Gehirnschale einer Riesin. In: Jean Paul: Sämtliche Werke. Historischkritische Ausgabe, Teil 1, Bd. 5, Weimar 1927, S. 257. 8 Vgl. Blank (S. Anm. 1), S. 230. 9 Benkert (s. Anm. 6), S. 41. 10 Benkert (s. Anm. 6), S. 41. 11 Blank (s. Anm. 1), S. 232. 12 Blank (s. Anm. 1), S. 8.
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1820 nennt, scheint sich allerdings keines erhalten zu haben. Allein ein aus Federn gefertigtes Por trät des bayerischen Königs Maximilian I. Joseph, das Blank und seine Mitarbeiterin Barbara Thein geschaffen haben,13 ◊ Abb. 1 sowie die nach dem Vorbild von Blanks Musivgemälden gearbeiteten Landschaftsmosaike von Johann Heinrich Zang14 ◊ Abb. 2 vermitteln einen Eindruck von den außergewöhnlichen Musivarbeiten, die begründet zu haben Blank für sich in Anspruch nahm. Bonavita Blank hatte sich keineswegs einer abseitigen „Spielerei“ hingegeben und einfach seiner Fantasie freien Lauf gelassen, als er die „Musivge1: Barbara Thein und Bonavita Blank: Maximilian I. mälde“ erfand.15 Vielmehr war es der Wunsch, sich Joseph von Bayern, Vogelfedern auf Karton, 73 x 55 cm. auch in der Malerei möglichst kaum von der Natur zu entfernen, der den Minoritenpater zu anderen Materialien hatte greifen lassen: „In der Schweiz war es […], wo er an dem Entwurfe eines Gemäldes mit dem Malerpinsel in der Hand dasaß, und ihm sein guter Genius den Gedanken zuflüsterte: ob nicht die Kunst der Natur noch gleichförmiger arbeiten, und sich enger an dieselbe anschließen könnte, wenn man, anstatt der Malerfarben andere natürliche Körper wählen, und so die Natur durch die Natur selbst darstellen würde. Er warf den Malerpinsel hinweg, und versuchte mit natürlichen Farben zu malen.“16 Folgerichtig spricht Benkert von „Naturmalerei“ oder „natürliche[r] Malerei“,17 um die einzigartig enge Verbindung von Natur und Bild in Blanks Musivgemälden oder Moos-Mosaiken anzuzeigen.18 Ein namenloser 13 Vgl. Volker Hoffmann und Konrad Koppe: Martin von Wagner Museum der Universität Würzburg. Gemäldekatalog, Würzburg 1986, S. 27f.; ferner Benkert (s. Anm. 6), S. 51. – Blank wird ein weiteres, eher ungewöhnliches Bild aus Federn, ein Pfalz-Bayerisches Wappen, im Bayerischen Nationalmuseum, zugeschrieben; vgl. Hubert Glaser (Hg.): Krone und Verfassung. König Max I. Joseph und der neue Staat, Bd. 2: Ausst.kat., Völkerkundemuseum München, München 1980, S. 211. Nr. 418. 14 Vgl. [Max Hermann von Freeden]: Die Neuerwerbungen des Mainfränkischen Museums 1956–1965 (II. Teil). In: Mainfränkisches Jahrbuch für Geschichte und Kunst, Jg. 21, 1969, S. 395–459, hier S. 431. Dass Zangs Arbeiten durch einen Besuch in Blanks Kabinett angeregt worden waren, berichtet bereits Johann Georg Meusel: Teutsches Künstlerlexikon, 3 Bde., Lemgo (2. Aufl.) 1808–1814, Bd. 3, S. 575f. 15 Blank (s. Anm. 1), S. 5. 16 Benkert (s. Anm. 6), S. 40f. (Hervorhebung im Original). 17 Benkert (s. Anm. 6), S. 41. 18 Benkert (s. Anm. 6), S. 42.
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zeitgenössischer Besucher fasste Blanks Leistung, das Bild nahezu vollkommen der Natur angenähert zu haben, gar in unfreiwillig komische Verse: „Du einziger Maler der Natur! / Die andern Maler malen nur / Mit Farben; und du malst zur Schande / Der armen Farben auch mit Sande […].“19 Blanks Anspruch auf eine Bildkunst, in der sich „die 2: Johann Heinrich Zang: Der Monat Oktober (aus einem Zyklus von Natur durch die Natur selbst“ Monatsdarstellungen), 1799, Baumrinden, Moose, Blätter, Gräser und Papier auf Pappe, 47 x 62 cm. darstelle, ist nicht völlig singulär in der Zeit um 1800. Vor allem Theorien der Gartenkunst hatten die Idee zum Programm erhoben, dass die Natur im englischen Landschaftsgarten bildhafte Qualität annehme. Das gezielt auf den Blick ausgerichtete Arrangement von Gelände, Gewässern, Pflanzungen und Felsen, das sich an kompositorischen Prinzipien des Landschaftsbildes orientierte, 20 hatte Christian Cay Lorenz Hirschfeld zu dem Schluss veranlasst: „Keine der nachahmenden Künste ist in die Natur selbst mehr verwebt, oder gleichsam mehr Natur, als die Kunst der Gärten. Alles geht hier in eine würkliche Darstellung über.“21 Und bei Carl Heinrich Heydenreich heißt es gleichfalls, dass im Garten „die Schönheiten der landschaftlichen Natur durch sich selbst nachgeahmt“ würden.22 In der Gartenliteratur wie in den zeitgenössischen Stimmen zu Blanks ungewöhnlichen Bildern findet sich gleichermaßen die Idee, Bilder zu schaffen, die den klassischen Unterschied zwischen dem Dargestellten und dem Darstellungsmittel nicht mehr aufweisen. Die Bildkultur des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts ist nicht unwesentlich durch das Phantasma einer „wirklichen“ oder „natürlichen“ Darstellung geprägt.
19 Benkert (s. Anm. 6), S. 53f. 20 Vgl. etwa Günter Herzog: Hubert Robert und das Bild im Garten, Worms 1989; und Adrian von Buttlar: Gedanken zur Bildproblematik und zum Realitätscharakter des Landschaftsgartens. In: Die Gartenkunst, Jg. 2, 1990, Heft 1, S. 7–19. 21 Christian Cay Lorenz Hirschfeld: Über die Verwandtschaft der Gartenkunst und der Malerei. In: Gothaisches Magazin der Künste und Wissenschaften, Jg. 1, 1776, S. 41–58, hier S. 57. 22 Carl Heinrich Heydenreich: System der Ästhetik, Leipzig 1790, S. 176.
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Doch so sehr Blank und seine Zeitgenossen die Leistung der Musivgemälde betonten, die Natur „durch sich selbst“ zur Darstellung zu bringen, wiesen die meisten seiner Moos-Mosaike einen entscheidenden Unterschied zum Landschaftsgarten auf: Blank beschränkte sich zwar ganz auf die Arbeit mit Naturmaterialien; die einzelnen der Natur entnommenen Stoffe stellten aber in der Regel nicht sich selbst dar, so dass die darstellungstheoretische Differenz nicht überwunden wurde. Schon Kleists knappe Bemerkung zeigt an, dass die Wolle nicht der Wiedergabe von Wolle, sondern von Wasser diente, und Moose nicht sich selbst, sondern Laub darstellen sollten. Helmut Pfotenhauer hat daher treffend von einem „semiotische[n] Trick“23 gesprochen, der Blanks Bildern zugrunde liege: Durch die Wahl von Naturstoffen werde die gewünschte „Differenzlosigkeit künstlich simuliert“: „Die Materialien scheinen als Natur Natur zu repräsentieren, sie können das aber nur, weil sie künstlich als Zeichen eingesetzt werden […].“24 Anders als Pfotenhauer vermutet, könnte dem Minoritenpater diese Besonderheit seiner Musivgemälde durchaus bewusst gewesen sein.25 Auf Reflexionen über das Verhältnis von Natur und Bildkunst lässt zumindest der Umstand schließen, dass Blank in Einzelfällen danach trachtete, das klassische Verhältnis von (natürlichem) Bildgegenstand und (künstlichem) Darstellungsmittel umzukehren. Denn mit seinen natürlichen Materialien schuf Blank nicht nur täuschend ähnliche Darstellungen der Natur, vielmehr hat er „aus den feinsten weißen und schwarzen Steinmoosen“ auch einige „kupferstichartige Stücke“26 gefertigt. In diesen Fällen war es die Natur, die sich auf paradoxe Weise dem Erscheinungsbild der Kunst annäherte. Hält man sich vor Augen, dass auch Blanks Musivgemälde in der Regel eine materielle Differenz zwischen Dargestelltem und Darstellungsmittel aufwiesen, so scheint jene Grenzziehung zwischen Naturstudium und Malerei wieder ins Recht gesetzt, die Kleist in seinem Brief angedeutet hatte. So ungewöhnlich Blanks Materialwahl auch anmuten musste, handelte es sich doch – so scheint es – um Bilder, und nicht um Naturalia, wie sie sich in gewöhnlichen wissenschaftlichen Kabinetten fanden. Ließen sich Blanks Moos-Mosaike daher als Malerei mit anderen Mitteln, als eine Sonderform von Kunst, verstehen?
23 Helmut Pfotenhauer: Bonavita Blank – der fränkische Arcimboldo. In: Jahrbuch der Jean-PaulGesellschaft, Jg. 39, 2004, S. 207–214, hier S. 209. 24 Pfotenhauer (s. Anm. 23), S. 209f. 25 Pfotenhauer (s. Anm. 23), S. 210. 26 Benkert (s. Anm. 6), S. 43.
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Blanks implizite Provokation
Blank hätte den Schluss, seine Musivgemälde vom eigentlichen Naturalienkabinett abzugrenzen, vehement als voreilig zurückgewiesen. Kaum zufällig hatte er die ungewöhnlichen Bilder in jenen Saal aufgenommen, der auch den in Vitrinen präsentierten mineralogischen, botanischen und zoologischen Sammlungen gewidmet war. Der Pater betont verschiedentlich, dass er bewusst „das Naturalien-Kabinet mit dem mosaischen Kunstkabinete vereinigt“ habe.27 Wenngleich seine Sammlungen nicht zuletzt aufgrund der Integration der einzigartigen Moos-Mosaike zu einer weithin bekannten Sehenswürdigkeit wurden und zahlreiche Besucher anzogen, 28 trug ihm diese Präsentationsform offenkundig auch Kritik ein. Die von Franz Georg Benkert redigierte, ausführliche Beschreibung der Musivgemälde greift diese kritischen Stimmen auf, um den Anspruch zu untermauern, dass die Moos-Mosaike als integraler Bestandteil von Blanks Kryptogamen-Sammlungen und als genuiner Gegenstand eines ernsthaften Naturstudiums zu werten seien. Dem Einwand, dass „die Moose durch meine Darstellungsart das Natürliche verlören, indem sie doch nicht so in der Natur wüchsen“, begegnete Blank mit dem Hinweis, erst durch das mühevolle Entfalten der gewöhnlich „in der größten Verworrenheit unter einander verwickelt[en]“ Exemplare ließen sie sich angemessen studieren.29 Auch die Einbindung der so präparierten Moose in bildhafte Arrangements könne ihre natürliche Erscheinung nicht in Frage stellen, da doch „auch in Naturalien-Kabineten die Stein- und Metallarten in verschiedenen Figuren künstlich zusammengefügt“ und in Zeughäusern die Waffen auf dekorative Weise geordnet würden.30 Kritik hatte Blank aber auch auf sich gezogen, weil er die Moose für seine Musivgemälde hatte aufkleben müssen, so dass das Studium und vor allem die exakte Bestimmung der einzelnen Exemplare erschwert war. Der Minoritenpater begegnete diesem Einwand mit dem Hinweis, dass die Fixierung der Moose unverzichtbar sei, um sie vor Zerstörung zu schützen: „Um also die seltensten und vorzüglichsten Exemplare vor Zernichtung zu retten, wurden sie angeklebt, und hinter Gläsern verwahrt.“31 Dass damit der Anspruch auf wissenschaftliche Nutzbarkeit keinesfalls eingeschränkt 27 Blank (s. Anm. 1), S. 16. 28 Blanks Biograf Benkert schreibt 1819, dass das Kabinett seit 1790 von „bis zu dreißig tausend Menschen“ besucht worden sei; über mehrere Seiten führt er in einer ausführlichen Liste eine Vielzahl von Fürsten und Gelehrten auf, die Blanks Sammlungen gesehen hätten; Benkert (s. Anm. 6), S. 84 bzw. 85–88. 29 Blank (s. Anm. 1), S. 233. 30 Blank (s. Anm. 1), S. 234. 31 Blank (s. Anm. 1), S. 235.
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werden sollte, führt die von Benkert redigierte Beschreibung des Kabinetts vor Augen, in der mit demonstrativer Ausführlichkeit von der engen Zusammenarbeit mit führenden Kryptogamenkennern berichtet wird: Blanks Sammlung von „Seemoosen“ habe Eugen Johann Christoph Esper bei der Vorbereitung seiner Icones fucorum zur Verfügung gestanden;32 Georg Franz Hoffmann, Professor der Universität Göttingen, habe den Minoritenpater vielfach bei der Bestimmung seiner Kryptogamen unterstützt,33 und führende wissenschaftliche Gesellschaften hätten den Würzburger Gelehrten zum auswärtigen Mitglied ernannt.34 Blank verstand seine Moos-Mosaike und Musivgemälde mithin gleichermaßen als Landschaftsbilder wie als wissenschaftliche Studienobjekte; für ihn erschienen „Kunst und Wissenschaft an jedem Stücke gepaart“.35 Es ist dieses Insistieren auf dem wissenschaftlichen Wert der Moos-Mosaike, das den scheinbar abseitigen „Spielereien“ Blanks ein nachhaltig provokatives Potenzial verleiht. Mit der begründeten Integration der Musivgemälde in Naturalienkabinett und Naturstudium werden vermeintlich unproblematische Grenzziehungen zwischen Natur und Kunst, aber auch zwischen der Sache selbst und einem Bild, fraglich. Nicht zuletzt erweist sich der Status jener Naturalia als zweifelhaft, deren Bedeutung für die Naturkunde nie zur Diskussion stand. Denn die Überlegungen, mit denen Blank die Verarbeitung der Moose zu Bildern rechtfertigt, zielen darauf, die Differenz zwischen den Moos-Mosaiken und gewöhnlichen Präparaten als rein graduellen Unterschied auszuweisen. Jede Pflanze und jedes Tier, das Eingang in ein Kabinett finden und als Präparat gesichert werden soll, macht Eingriffe erforderlich, die – ob gewollt oder nicht – stets ästhetische Entscheidungen implizieren. Auch das Moos, das allein der wissenschaftlichen Bestimmung und Untersuchung dienen soll, muss präpariert und geschützt werden. Und auch die der Natur entnommenen Exponate einer naturkundlichen Sammlung bedürfen eines Arrangements. Dass Blank die Moose in Bilder einband und dennoch ihren Wert als wissenschaftliche Belege wahren wollte, lässt auf ein Bewusstsein für die Artifizialität schließen, die jedem Objekt der Natur eigen ist, wenn es in den Kontext eines Naturalienkabinetts eintritt. 32 Blank (s. Anm. 1), S. 237. Tatsächlich verweist Esper mehrfach auf Exemplare aus der Sammlung Blanks; vgl. Eugen Johann Christoph Esper: Icones fucorum cum characteribus systematicis. Abbildungen der Tange mit beygefügten systematischen Kennzeichen, Bd. 1, Nürnberg 1800, S. 58, S. 68, S. 72, S. 81 und öfter. 33 Blank (s. Anm. 1), S. 237. 34 Benkert (s. Anm. 6), S. 70f. 35 Benkert (s. Anm. 6), S. 70.
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Eine strenge Abgrenzung der Musivgemälde von klassischen Präparaten wird spätestens dort unmöglich, wo sich der Unterschied zwischen dem Gegenstand und dem Material der Darstellung kaum mehr aufrechterhalten lässt. Blanks Kabinett enthielt vor allem mit jenen Musivgemälden, in deren Zentrum Vögel standen, eine Reihe derartiger Exponate.36 In diesem Fall dienten etwa die Federn eines Kolibris der Darstellung desselben Vogels; Dargestelltes und Darstellungsmittel fielen hier ununterscheidbar zusammen. Zwischen Blanks aus Federn gefertigten Bildern von Vögeln und den zeitgenössischen Habituspräparaten, die den jeweiligen Vogel oftmals in einem kleinen Landschaftsausschnitt situierten, lässt sich kein kategorischer Unterschied ausmachen. So wie der Würzburger Minoritenpater darauf bestand, dass auch seine Musivgemälde ein ernstes Studium der in ihnen präparierten Pflanzen und Tiere zuließen, deutet sich im Umkehrschluss an, dass das klassische naturkundliche Präparat immer schon in ästhetische Entscheidungen und Eingriffe verstrickt ist. Präparat und Bild
Wenn das Präparat Eingriffe erforderlich macht, die ganz unvermeidlich Entscheidungen über das Erscheinungsbild des jeweiligen Objekts zur Folge haben, und wenn es zugleich dazu dient, einen Gegenstand, etwa eine Pflanze oder ein Tier, zur Anschauung zu bringen, dann weist es Grundzüge bildlicher Darstellungsformen auf. Hans-Jörg Rheinberger hat Präparate daher als „Bilder ihrer selbst“ bezeichnet, dabei jedoch nicht explizit problematisiert, ob sich überhaupt Bilder denken lassen, die keine Differenz zwischen Dargestelltem und Darstellungsmittel aufweisen.37 Tatsächlich setzen die gängigen Bildtheorien – seien sie semiotischer oder phänomenologischer Provenienz – stillschweigend oder gar explizit voraus, dass das Bild immer Bild von etwas ist, mit dem es selbst nicht gänzlich übereinstimmt. Muss es daher nicht sinnlos erscheinen, von Bildern zu sprechen, wenn sich doch nur die Sache selbst zeigt? Wäre es nicht konsequenter, Präparate und Bilder scharf voneinander abzugrenzen, um zu vermeiden, dass der Bildbegriff entgrenzt und zugleich ausgehöhlt wird, weil er nahezu alle sinnlich erfahrbaren Gegenstände zu umfassen droht?38 36 Vgl. die Abteilung „Landschaften mit aus ihren Federn aufgelegten Vögeln“; Blank (s. Anm. 1), S. 127–229; sowie bereits Bonavita Blank: Naturalien-Cabinett in dem Minoriten- sogenannten Franciscaner-Kloster zu Würzburg, Würzburg 1795, S. 183. 37 Hans-Jörg Rheinberger: Präparate – „Bilder“ ihrer selbst. Eine bildtheoretische Skizze. In: Bildwelten des Wissens, Band 1,2 (Oberflächen der Theorie), Berlin 2003, S. 9–19, S. 10. 38 Zu diesem Problem vgl. Birgit Sandkaulen: „Bilder sind“. Zur Ontologie des Bildes im Diskurs um 1800. In: Johannes Grave und Arno Schubbach (Hg.): Denken mit dem Bild. Philosophische Einsätze des Bildbegriffs von Platon bis Hegel, München 2010, S. 131–151, bes. S. 148f.
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Bonavita Blanks vermeintlich randständige Musivgemälde können dafür sensibilisieren, dass eine saubere Trennung von Bild und Präparat begriffliche Klarheit vortäuschen würde, wo sich diese in der Praxis kaum bewähren dürfte. Die Übergänge vom Präparat, das allein die Sache selbst dauerhaft verfügbar machen soll, über die Musivarbeiten, die ausschließlich natürliche Materialien zur Darstellung verwenden, hin zu gewohnten Formen der Malerei erweisen sich als fließend. Dies gilt umso mehr, als Blanks Musivgemälde teils, wie in der Ölmalerei, den Unterschied zwischen dem Gegenstand und dem Material der Darstellung wahren, teils aber diese Differenz nicht mehr aufweisen, weil sie beispielsweise ein Tier zur Darstellung bringen, das auch als Darstellungsmittel dient. Als Grenzfälle zwischen gewöhnlichen Präparaten und konventionellen Gemälden fordern die Musivgemälde dazu auf, das Bild nicht voreilig vom Präparat abzugrenzen, sondern die Differenz zwischen Dargestelltem und Darstellungsmittel, ohne die sich eine sinnvolle Semantik des Bildbegriffs kaum denken lässt, auf neue Weise zu bestimmen. Vielleicht muss sich dieser Unterschied nicht zwangsläufig als materielle Differenz ausweisen lassen, sondern kann auch relational, als Differenzierung zweier Aspekte einer Sache, verstanden werden.39 Die Würzburger Musivgemälde, aber auch Präparate im Allgemeinen, könnten sich daher als produktive Herausforderung der Bildtheorie erweisen. Kleists Irritation angesichts von Blanks „Spielereien“ folgt vielleicht nicht zufällig unmittelbar auf seine verstörende Begegnung mit katholischen Kultbildern. So wie die wundertätigen Marienbilder die Grenze zwischen stummen Artefakten und eigenständig handelnden Akteuren in Frage stellen, scheint auch der Status der Musivgemälde zwischen Präparat und Gemälde, zwischen Natur und Kunst, zu schwanken. Einem solchen Changieren lässt sich aber kaum mit begrifflicher Eindeutigkeit beikommen. Die Entscheidung Kleists, diese Phänomene zunächst in aller Ausführlichkeit zu beschreiben, könnte auch heutigen „bildwissenschaftlichen“ Studien als Leitfaden dienen. Einsichten in das durchaus wechselhafte Verhältnis zwischen Bild und Wirklichkeit lassen sich vermutlich weniger durch trennscharfe theoretische Abgrenzungen gewinnen als durch die aufmerksame Beobachtung konkreter Bildpraktiken und scheinbar abseitiger Grenzfälle.
39 Johannes Grave: Selbst-Darstellung. Das Präparat als Bild. In: kritische berichte, Heft 4 (Nichtkünstlerische Bilder), 2009, S. 25–34.
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„Ein Präparator muss dieses Formfeeling haben.“ Ein Gespräch der Bildwelten des Wissens mit Jürgen Fiebig
Jürgen Fiebig ist Präparator am Berliner Museum für Naturkunde und für die ornithologische Sammlung zuständig. Die Bildwelten des Wissens trafen ihn in den Ausstellungs- und Sammlungsräumen des Museums. Bildwelten:
Jürgen Fiebig:
Wir stehen hier vor Vitrinen mit Dermoplastiken, das sind präparierte Tiere, in deren Inneren sich ein Kunstkörper befindet. Es entsteht der Eindruck in die Gesichter individueller Tiere zu blicken, die trotz aller Regungslosigkeit den Blick besonders lebendig zu erwidern scheinen. Welche Rolle spielen die Augen in diesem Zusammenhang? Die Augen sind das A und O bei der Tierpräparation. Heutzutage hat man höchste Ansprüche daran, denn wie auch beim Menschen guckt man den Tieren erst mal ins Gesicht und damit in die Augen. Wir nutzen speziell nach unseren Wünschen angefertigte Glasaugen, denn die Originalaugen zu erhalten ist unmöglich. Die Augen müssen der jeweiligen Art entsprechen, dem Geschlecht und dem Alter. Sie unterscheiden sich zum Beispiel bei Vogelmännchen, -weibchen und Jungtieren; je nach Alter haben sie mitunter drei bis vier verschiedene Augenfarben. Ein Glasauge sollte eine hochglatte, reflektierende Oberfläche haben, deren Wölbung ebenfalls entscheidend für die naturgetreue Reflexion des Lichts ist. Gleiches gilt für den inneren Aufbau, die Tiefe des Abstands zwischen Glaskörper (Hornhaut) und farbiger Iris. ◊ Abb. 1 Früher gab es minderwertige Augen, weil die Glastechnik nicht so fortgeschritten war. Da verwendete man ein dickes Glasauge, eine viertel Kugel, die auf einer Fläche gefärbt wurde. Der Effekt war dann ein starres Glotzen, wie bei den Augen eines Teddys. Mit den heutigen Möglichkeiten ist das nicht mehr vergleichbar. Inzwischen fertigt man auch Kunststoffaugen aus Acryl an. Die sind zwar empfindlicher, aber von der Farbigkeit her perfekt. Wir, die Vogelpräparate herstellen, finden, dass diese die Qualität der Glasaugen noch übertreffen, da Farbverläufe besser dargestellt werden können. In der Natur sind die Farben nur selten hart abgegrenzt, es gibt vielmehr leichte Nuancen im Farbverlauf, zum Beispiel von der Iris in die Pupille hinein. Diese Verläufe können mit den Acrylaugen sehr gut
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Interview
1: Milchuhu, Bubo lacteus.
nachempfunden werden und kommen der Natur besonders nahe, so dass eine unglaubliche Lebendigkeit erzielt wird. Gerade bei einem sehr komplizierten Farbaufbau muss alles stimmen, sonst ist das Präparat nicht gelungen. Bildwelten:
Und was verbirgt sich jenseits des sichtbaren, lebendig wirkenden Scheins im Inneren einer Dermoplastik?
Jürgen Fiebig:
Die Dermoplastik ist ein reiner Kunstkörper, meist ein solider Körper aus Polyurethanschaum oder ein Hohlkörper aus Gips beziehungsweise Kunstharz, um eine Gewichtsersparnis zu haben. Für Museumsausstellungen werden vorwiegend individuell angefertigte Plastiken hergestellt, die von Grund auf modelliert und bis ins letzte Detail ein Unikat sind. Kunstkörper werden traditionell auch gewickelt, mit ganz feiner Holzwolle oder ähnlichem Material, indem man Schicht für Schicht aufwickelt und dann einen festen, aber von der Form her doch sehr stimmigen Körper erhält. Das ist bei kleineren Objekten durchaus möglich und hat im Endergebnis keinen schlechteren Effekt. Damit freie Präparatoren im Auftrag
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2: Kaiserpinguinküken, Aptenodytes forsteri.
von Museen oder Privatkunden aber effektiver arbeiten können, gibt es heutzutage einen großen Markt an fertigen Kunstbodys, die für manche Tierarten in artspezifischen Posen als Standardware gefertigt werden. Man kann ganze Löwen aus PU-Schaum kaufen und muss „nur“ noch das konservierte bzw. gegerbte Fell drüberziehen. An einer solchen Schaumplastik lässt sich vieles ändern und individuell anpassen, beispielsweise können die Füße oder der Kopf abgetrennt werden, um dem Tier einen anderen Schritt oder eine andere Blickrichtung zu geben. Der Schaum wird dann wieder zusammengefügt, verklebt, verspachtelt und geschliffen. Hier im Museum verwenden wir PU-Schaum aufgrund seiner Leichtigkeit und Stabilität auch für die Fertigung von Vogelpräparaten. Nachdem wir einen Vogel abgehäutet haben, messen wir den Körper exakt aus, machen eine Skizze und versuchen den Muskelkörper eins zu eins in einen Schaumbody umzusetzen. Dann fügen wir die Haut mit Teilen der Extremitäten und einigen verbliebenen Knochen zusammen und verankern diese mit Hilfe von Drähten am PU-Schaumkörper.
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Interview
Bildwelten:
Welche Methode wenden Sie an, um die Präparate haltbar zu machen?
Jürgen Fiebig:
Damit ein Tier die gewünschte Haltung annimmt, muss man etwas nachhelfen. Parallel zum Hauptskelett können bei kleineren Tieren stabilisierende Drähte, bei einem sehr großen Tier eine Edelstahlstaffage eingebaut werden. Diese wird dann verschweißt und an den einzelnen Extremitäten sowie längs der Wirbelsäule bis in den Kopf hinein verpunktet, so dass das frischtote Tier in fertiger Pose steht. Die Leibeshöhle wird mit Schaum gefüllt, die Pose noch leicht korrigiert und dann die gesamte Muskulatur mit Formalin injiziert. Das Tier muss je nach Größe meist über mehrere Wochen in einer solchen Fixierungsflüssigkeit liegen, wodurch eine komplette Härtung der Muskulatur erreicht wird. Um Schrumpfungen insbesondere der sichtbaren Hautpartien zu vermeiden, wenden wir eine Imprägnierungstechnik an, bei der ein wassermischbares Wachs in die Zellen eindringt und weitestgehend eine Schrumpfung verhindert. Das noch feuchte Tier wird in eine Vakuumtruhe gebracht und dort vom Wachs durchdrungen. Über mehrere Wochen legt sich das Wachs an den Zellwandungen an und ersetzt die Feuchtigkeit in den Zellen, beim Trocknen härtet es aus und stabilisiert diese. Einzelne Körperpartien, wie zum Beispiel die Füße der Vögel können auch durch Unterspritzung mit einer Fixierungsflüssigkeit in Form gehalten werden. Damit die Haut nicht am Knochen antrocknet, unterspritzt man diese außerdem noch mit einer Acrylpaste. ◊ Abb. 2
Bildwelten:
Haut, Fell oder Gefieder der Präparate weisen meist eine beeindruckende Farbigkeit auf. Wie lässt sich diese erhalten oder bei Verblassen wieder herstellen?
Jürgen Fiebig:
Abgesehen vom Gefieder der Vögel gibt es kein Tier, bei dem die Farbe der Haut erhalten bleibt. Das gilt auch für die Füße und Schnäbel der Vögel. Die müssen immer nachkoloriert werden. Der Glanz der Schlangenhaut beispielsweise entsteht durch Lacke. Mit Airbrushfarben werden hauchdünn Farbpigmente aufgetragen, so dass wunderbare Übergänge und Muster gestaltet werden können. Man kann mit diesem Verfahren auch zwischen Haare oder Federn sprühen. Bei Vögeln lassen sich Stellen, an denen Haut oder der nackte Hals zum Vorschein kommen, auf diese Weise kolorieren. Dazu braucht man ein Händchen, denn der Luftdruck muss gerade
„Ein Präparator muss dieses Formfeeling haben“
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3: Bechsteinara, Ara ambigua.
so stark gewählt werden, dass er das Gefieder auseinander bläst, die Pigmentpartikel aber trotzdem die Haut treffen. Mit viel Power färbt man so die Haut, ohne Gefieder oder Haare zu färben. Das Schöne ist, dass die Originalhaut nicht ganz bleich ist, Farben und Musterungen sind in ihren Anlagen noch da und können nachkoloriert werden. Die Vogelfeder hingegen ist bereits am lebenden Vogel eine Hornsubstanz, in die sich während der Wachstumsphase ein Pigment eingelagert hat, oder sie besitzt eine Strukturfarbe der Oberfläche. Wenn man das Vogelpräparat UV-geschützt aufbewahrt, lässt sich die Farbe ohne Konservierung erhalten und die Brillanz und Farbigkeit der Federn verändert sich dann nicht. Wir haben Tiere, die über 200 Jahre alt sind und aussehen, als sein sie gestern gesammelt worden.
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Interview
Bildwelten:
Frühere Präparatoren müssen also raffinierte Techniker gewesen sein. Die Lagerung war aber dennoch ein Problem, denn gerade ältere Präparate sind nach langer Lagerung häufig verschmutzt. Wie gehen Sie in solchen Fällen vor?
Jürgen Fiebig:
Gereinigt werden auch Gefieder und Häute von frischen Tieren, um sie von Fett und Schmutz zu befreien. Sie werden ähnlich wie ein Wäschestück behandelt, komplett gewaschen und geföhnt. Wenn die Federn geföhnt werden, wirkt es fast wie Zauberei. Vorher sieht so ein nasser Vogel wie ein alter Wischlappen aus, aber durch das Föhnen passiert das, was die Vögel auch im lebenden Zustand machen: Durch das Schütteln des Vogels wird das aus feinen Häkchen bestehende Gefieder mechanisch gegeneinander gerieben, so dass die Häkchen wie bei einem Reißverschluss wieder ineinander haken. Der Vogel zieht außerdem die Federn durch den Schnabel, bis diese wieder eine glatte Fläche ergeben. Wir machen das, indem wir die Flügel- und Körperfedern föhnen und den Vogel dabei bewegen, dadurch wird ein enormes Volumen aufgebaut. Durch die veränderte Lichtbrechung scheint das nasse Gefieder bunter Vögel oft bräunlich, aber nach dem Trocknen ist dann alles wieder bunt. Der nasse Scheuerlappen wird zu einem flauschigen, wuscheligen, volumenreichen, schönen Gebilde, bei dem auch die Farbigkeit wieder zum Vorschein kommt. Für uns ist das immer wieder schön, wenn alles sauber und geföhnt ist. Das ist der letzte Schritt, bevor man den Vogel wieder zusammenmontiert. ◊ Abb. 3
Bildwelten:
Im Museum für Naturkunde befinden sich neben den Präparaten auch Abformungen von Tierkörpern. Was hat es damit auf sich?
Jürgen Fiebig:
Insbesondere von Fischen werden häufig Abformungen gefertigt, denn sie sind aufgrund ihrer Schuppen und der darüber liegenden Schleimschicht höchst kompliziert zu präparieren und zu konservieren. Fische haben zudem eine Dynamik in der Flossenbewegung, so dass diese meist separat abgeformt werden. Wenn die Flosse mit Kunstharz ausgegossen ist, kann sie durch Erwärmen mit der Heißluftpistole gebogen werden. So bekommt man die Körperspannung und die anatomisch exakte Haltung der Extremitäten rein, die bei einem toten Tier nicht mehr da ist. Bei Abformungen handelt es sich nicht um Präparate, man bezeichnet sie vielmehr als Dokumentarplastiken. Wie auch in der Kunst handelt es sich ohne
„Ein Präparator muss dieses Formfeeling haben“
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Zweifel bei einem abgeformten Objekt um eine Plastik. Da es keine künstlerische Freiheit beinhaltet, sondern eins zu eins von einem frisch toten Tier abgeformt wurde, ist es, wenn man so will, eine Dokumentation. Diese zwei Aspekte hat ein Kollege im Begriff der Dokumentarplastik zusammengeführt. Bildwelten:
Wo genau liegt der Unterschied zwischen Modell und Präparat? Könnte man auch sagen, dass eine Dermoplastik ein mit präparierter Haut überzogenes „Modell“ ist?
Jürgen Fiebig:
Eigentlich ist es so. Eine Dermoplastik ist eine als Modell eines Muskelkörpers geschaffene Plastik und darüber ist die originale Haut gespannt. Aufgrund der alleinigen Sichtbarkeit des präparierten Materials bezeichnen wir aber das Ganze als Präparat. Ein Modell ist für mich immer eine Dokumentarplastik, eine Rekonstruktion, bei der keine organischen Materialien verwendet wurden, oder ein aus Kunststoff gefertigtes Ausstellungstier.
Bildwelten:
Wie bereiten Sie sich auf die gestalterische Aufgabe der Herstellung einer Dermoplastik vor?
Jürgen Fiebig:
Die Basis dafür sind immer viele Naturstudien an der entsprechenden Tierart. Wenn sie im Zoo vorhanden sind, kann man dort relativ einfach fotografische Lebendstudien machen. Heutzutage profitieren wir sehr von den Vorteilen der Digitalfotografie, bei der Dokumentation aller Arbeitsschritte der Präparation, aber auch bei den Vorstudien. Besonders wichtig sind Porträts, um ganz genau Details anzuschauen, wie ein Auge oder bestimmte Nasenpartien. Insbesondere bei Exoten wie tropischen Vögeln greifen wir oft auch auf Fotos aus dem Internet zurück. In der Fülle der Suchergebnisse sind immer ein, zwei Bilder dabei, auf denen sich beispielsweise die Augenfarbe ermitteln lässt. Die Vielzahl an professionellen Tierfotografien und Videos im Internet ist auch ein Fundus für interessante arttypische Körperhaltungen und Verhaltensweisen.
Bildwelten:
Ist das Zeichnen auch Bestandteil Ihrer gestalterischen Arbeit, sei es nach der Natur oder im Zuge der Konzeption einer Plastik?
Jürgen Fiebig:
Angesichts der tollen Möglichkeiten der Digitalfotografie wird deutlich weniger gezeichnet. Es ist ja auch nicht so, das alle Leute talen-
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Interview
tierte und geübte Zeichner sind, wie man sich das vielleicht wünscht. Entsprechend entscheidet jeder nach Neigung und Können. Grundsätzlich sollte das Zeichnen aber zu unserer Arbeit gehören, denn es erlaubt bestimmte Details deutlicher als bei der Fotografie herauszuarbeiten.Viel entscheidender als die Fähigkeit, Zeichnungen mit hohem Anspruch machen zu können, ist aber, dass das Zeichnen besonders geeignet ist, sehen und richtig hinschauen zu lernen: Wie sitzt ein Muskelstrang am Kopf? Welche Zugrichtung hat er? Wie sind die Proportionen? Das erfasst zu haben ist wichtig, um eine Plastik fertigen zu können. Schon eine grobe Skizze dient als Denkanstoß und nur ein zeichnerisch geschulter Blick ist auch in der Lage, aus der Fülle von Digitalfotos das arttypische Bild herauszufiltern. Bildwelten:
Der Beruf des Präparators ist ein klassischer Ausbildungsberuf, in dem Wissen und technische Fertigkeiten an eine Schülerschaft weitergegeben wird, vergleichbar den Künstlerwerkstätten. Kann man sagen, dass sich auf diese Weise bestimmte Stile der Präparation ausbilden und fortpflanzen?
Jürgen Fiebig:
Ein Auszubildender, Volontär oder Praktikant muss mit jemandem zusammen lernen, bei dem er im täglichen Umgang die Handgriffe sieht, tausende Kleinigkeiten gezeigt bekommt, die als Erfahrungsschatz nirgendwo – wie in einem Kochbuch – niedergeschrieben sind, und der ihn in der eigenen Arbeit ständig korrigiert. Von individuellen Präparationsstilen spricht man in diesem Zusammenhang oft. Bei der Vogelpräparation zum Beispiel gibt es zunächst grundsätzliche Techniken des Abhäutens, die schon immer so waren, denn die Vögel selbst verändern sich ja nicht. Aber es gibt natürlich viele individuelle Abwandlungen, die die Arbeit erleichtern oder zu besseren Ergebnissen führen.
Bildwelten:
Nehmen wir an, jemand bringt Ihnen eine alte, unbeschriftete Dermoplastik, einen typischen Dachbodenfund. Wären Sie in der Lage, nur ausgehend vom Objekt selbst, Aussagen über dessen Alter, Herkunft oder Hersteller zu machen? Und was wären die Anhaltspunkte und Kriterien für eine solche Datierung und Zuschreibung?
Jürgen Fiebig:
Es ist schwierig, solche Aussagen zu machen, grundsätzlich aber möglich. Fragen nach der Zeitepoche tauchen tatsächlich häufig auf,
„Ein Präparator muss dieses Formfeeling haben“
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wenn alte Sammlungen aufgelöst werden und es keine Beschriftungen gibt. Viele Anhaltspunkte stecken im Material, zum Beispiel in der Qualität der Glasaugen oder der im Inneren verwendeten Materialien. Auch die Postamente wurden früher anders hergestellt und lassen sich daher zeitlich zuordnen. Schwierig wird es nur, wenn jemand alte Materialien wiederverwendet hat. Große Unterschiede liegen in der Gestaltung des Objekts, je nach Fähigkeit und Talent des Präparators. Es werden allerdings noch heute im Jagdbereich Präparate hergestellt, die technisch und qualitativ mit Objekten vom Anfang des 20. Jahrhunderts gleichzustellen sind. Zwischen einem alten Sammlungsstück und einem neuen Exponat sieht man dann auf den ersten Blick in der Gesamterscheinung keinen wirklichen Unterschied. Um ganz individuell ein Präparat einem Präparator zuzuordnen, muss dieser eine ganz ausgereifte Gestaltung an seinen Präparaten praktiziert haben. Im Bereich der Säugetier-Dermoplastiken, aber nur in der High-class-Kategorie, ließe sich zum Beispiel vom Gesichtsausdruck bestimmter Katzen her sagen, dass sie von einem bestimmten Kollegen stammen, der sein ganzes Herzblut hinein legte. Wenn er von der Basis des Arttypischen noch einen Schritt weiter geht, indem er seiner Plastik eine besondere Dynamik und Lebendigkeit verleiht, den Körper in der Drehung zeigt oder das statische Kunststück vollbringt, eine Katze im Sprung mit nur einem Fuß auf dem Untergrund darzustellen. Ganz oben wird die Luft dünner und es sind nur wenige, die dort mitspielen können. Bildwelten:
Könnte man sagen, dass je natürlicher und lebendiger das Präparat aussieht, desto mehr künstlerisch-technischer Aufwand in der Herstellung betrieben wurde? Beim Technischen Bild, der Redaktion der Bildwelten, sprechen wir dabei vom Disjunktionsprinzip.
Jürgen Fiebig:
Durchaus, denn modellierte, künstlerisch ausgearbeitete Plastiken erzielen schon einen ganz anderen Effekt als beispielsweise eine aus Holzwolle gewickelte Körperform. Eine Plastik zu modellieren ist weit von der landläufigen Vorstellung des Ausstopfens eines Tiers entfernt. Als Präparatoren kämpfen wir immer noch gegen dieses Image an. Es gibt historische Beispiele, bei denen Material in die Leibeshülle oder die Haut gestopft wurde und eine unförmige, nicht den anatomischen Verhältnissen entsprechende Gestalt vorliegt. Diese befriedigen aber gerade nicht das Bedürfnis
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Interview
der Betrachter nach einer möglichst originalen Wirkung. Häufig kommt insbesondere von Kindern die Frage: „Ist das echt?“ Das liegt gerade daran, dass moderne Präparate so dynamisch und lebensnah wirken können, dass sich dies nicht mehr mit der Vorstellung des ausgestopften Tiers vereinbaren lässt. Es ist wie in der Kunst: Die Leute wollen keine Repliken, Kopien oder Modelle sehen, sondern den originalen Dürer. In einem Naturkundemuseum wird das in zunehmendem Maße hinterfragt. Bildwelten:
Der Verband Deutscher Präparatoren nannte sich bei seiner Gründung Künstlervereinigung der Museumsdermoplastiker. Verstehen Sie sich heute mehr als Künstler oder als Handwerker?
Jürgen Fiebig:
Das ist im doppelten Sinne eine Definitionsfrage. Einerseits wäre zu fragen, ob und wie man Kunst im Unterschied zum Handwerk definieren könnte. Meines Erachtens ist die Präparation eine auf handwerklichen Fähigkeiten basierende Gestaltungstätigkeit, die mit einem starken ästhetischen Interesse an den Naturerscheinungen selbst und deren Wirkung als Präparat einher geht. Vielleicht trifft die Bezeichnung Kunsthandwerker am besten zu. Andererseits entscheidet sich die Frage danach, ob ein Präparator sich selbst als Künstler oder Handwerker bezeichnen möchte. Die Museumsdermoplastiker des 19. Jahrhunderts wollten sich mit diesem Titel mit gutem Recht von der Masse der Leute absetzen, die damals Tiere ausgestopft haben. Und ebenso grenzten sie sich von den Kollegen im Museum ab, die sich auch Präparatoren nannten, aber nur Fische in Alkoholgläser legten, darauf achteten, dass der prozentuale Inhalt des Alkohols in Ordnung war und den Deckel drauf machten, sich also nur um die Konservierung kümmerten. Dabei ging es auch um die Anerkennung des Berufs in den Museen und nicht zuletzt auch um die entsprechende Bezahlung. Zwischen künstlerischer und naturkundlicher Plastik besteht aber grundsätzlich eine große Ähnlichkeit, denn wenn jemand in der Lage ist, ein großes Säugetier auf dem Skelett so zu modellieren, dass die Körperproportionen und die Struktur der Muskulatur genau stimmen, dann ist das genauso, wie wenn ein Künstler die Basis für eine Bronzeplastik modelliert. Es ist immer eine gestalterische, modellierende Tätigkeit die Grundlage, ohne die es nicht geht. Ein Präparator muss dieses Formfeeling haben und ein ausgeprägtes Proportionsverständnis, er muss genau hingucken, die entscheidenden Dinge
„Ein Präparator muss dieses Formfeeling haben“
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aus den Naturobjekten herauslesen und diese in Skizzen erfassen können. Bei uns geht es stark um die Faszination für die Ästhetik eines Tieres. Es geht nicht bloß darum zu verhindern, dass das Ding wegfault oder am nächsten Tag stinkt, sondern darum, das Tier zu gestalten und zwar so lebensnah wie irgend möglich, um den Besucher in der Ausstellung ästhetisch und emotional anzusprechen. Wenn wir mit hochqualitativen Präparaten Begeisterung und Wissensdurst wecken, so dass die Texte in den Vitrinen gelesen werden und gerade auch die jungen Leute zu Hause ein Buch aufschlagen oder im Netz weiterlesen, dann haben wir es geschafft. Das Ideal einer möglichst lebensnahen Gestaltung von Dermoplastiken schließt eine künstlerische Freiheit jedoch nahezu aus. Die Tierplastik eines Bildhauers muss gerade nicht bis ins letzte Detail dem lebenden Tier entsprechen. Bei der Gestaltung eines Präparats gibt es zwar gestalterische Freiheiten, aber diese werden schon durch die anatomischen Möglichkeiten eingeengt, die eine bestimmte Art in ihrem Leben vollführt. Insofern sind wir nicht künstlerisch frei. Wir sind nur frei bei der Auswahl und Variation einer der vielen möglichen Bewegungen, die ein Tier typisch machen kann. Die Naturtreue als höchstes Ziel der Präparation führt letztlich dazu, dass die handwerklichen Techniken des Präparators dazu dienen, dessen Eingreifen in das Objekt unsichtbar zu machen, um die Sache selbst, also nur das Tier vor Augen zu stellen. Der Betrachter soll sagen: „Wow, das ist ja so echt wie gestern im Zoo.“ Und er vergisst dabei, dass es jemand geschaffen hat, während bei der Kunstbetrachtung oftmals gerade der Künstler und dessen Ideen, Stil und Fertigkeiten im Mittelpunkt des Interesses stehen. Bildwelten:
Lieber Herr Fiebig, wir danken Ihnen für das Gespräch.
Das Gespräch führten Jutta Helbig und Karsten Heck.
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Faksimile Robert Kochs mikroskopische Präparate – unscheinbare Belege systematischer Forschung
Robert Koch (1843–1910), Nobelpreisträger für Medizin von 1905, war einer der Begründer der Bakteriologie und damit der modernen Medizin. Grundlage seiner Arbeit waren vor allem mikroskopische Präparate. Diese enthielten Blut, Gewebe oder anderes, von erkrankten Patienten gewonnenes Material, das für die Beobachtung mit einem Mikroskop aufbereitet werden musste. Im Robert-Koch-Institut (RKI) in Berlin hat sich eine größere Anzahl dieser mikroskopischen Präparate erhalten. Sie umfassen den Zeitraum von 1877, den Anfängen Robert Kochs als Kreisphysikus in Wollstein (heute Wolsztyn, Westpolen), und reichen bis zu den letzten Jahren um 1905 in Berlin. Koch gilt als der Begründer der modernen Bakteriologie. Dabei war er weder der Erste, der versuchte, Krankheitsursachen mit Hilfe des Mikroskops aufzuklären, noch der Erste, der Krankheitserreger im Mikroskop beobachtete und fotografierte. Was ihn neben der Aufklärung der Ursache einzelner Infektionskrankheiten wie Tuberkulose, Milzbrand oder Cholera so herausragend machte, war die Entwicklung und Beschreibung des wissenschaftlichen Verfahrens, um Krankheitserregern nachvollziehbar auf die Spur zu kommen. Hierzu kombinierte er bekannte Methoden mit von ihm neu entwickelten Techniken, um zu einem präzise beschriebenen, stets einzuhaltenden Arbeitsablauf für die mikroskopische Untersuchung zu kommen. Die Beschreibung umfasste Vorschriften über die Gewinnung des Materials und seiner Aufbereitung sowie die Färbung, Isolierung und Züchtung der beobachteten Bakterien. Hinzu traten Vorschriften über die Art und Weise, wie der
1: Mappe geschlossen.
Nachweis, dass die gezüchteten Bakterien die Krankheit auszulösen vermögen, zu führen sei (Henle-Koch-Postulat). Um sich mit anderen Wissenschaftlern über die Ergebnisse auf einer objektivierten Grundlage austauschen zu können, entwickelte er die bis dahin nur rudimentär entwickelte Mikrofotografie zu einem ausgereiften Verfahren weiter, um seine Ergebnisse diskussionsfähig zu dokumentieren. Als Ideengeber für das gesamte Vorhaben Kochs dürfte dabei der Professor für Anatomie, Henle, fungiert haben, bei dem Koch in Göttingen studierte, bei dem er die perfekte Beherrschung der mikroskopisch relevanten Techniken erlernte und den er bis an sein Lebensende hoch schätzte. Henle hatte bereits 1840 in einer theoretischen Schrift die Existenz von vermehrungsfähigen Krankheitserregern postuliert. Die Herangehensweise, um Krankheitserregern konkret auf die Spur zu kommen, ver-
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2: Mappe 1 offen.
öffentlichte Robert Koch in zwei Aufsätzen: 1877 in einer eher technischen Beschreibung Verfahren zur Untersuchung, zum Konservieren und Photographieren der Bakterien1 und 1881 in Zur Untersuchung pathogener Organismen, in der sogenannten „Bibel der Bakteriologie“. 2 Die Präparate, die in der Zeit zwischen diesen beiden zentralen Veröffentlichungen entstanden sind, erlauben noch heute einen spannenden Einblick in das „Entwicklungslabor“ Robert Kochs. Die exemplarisch ausgewählten Präparate ◊ Abb. 1–3, die der Suche nach dem Erreger der Febris Recurrens, des Rückfallfiebers, dienten, geben einen Einblick in seine Vorgehensweise. Zusammen mit den weiteren Veröffentlichungen zu diesem Erreger aus dieser Zeit ergibt sich ein tiefer Einblick in Kochs Forschungsmethodik.3 Der Erreger des Rückfallfiebers, Borrelia Recurrentis, wird, wie wir heute wissen, von Läusen übertragen, und zwar nicht beim Stich selbst,
sondern erst dann, wenn die Läuse durch Kratzen oder ähnliche Einwirkung während des Stiches zerquetscht werden. Die Krankheit äußert sich in bis zu vier schweren Fieberschüben, die im Abstand von etwa 5–7 Tagen auftreten. Sie endet unbehandelt in bis zu 70% der Fälle mit dem Tod.4 Die Vielzahl der Präparate Robert Kochs aus Wollstein, die einen Hinweis auf den Tod von Patienten mit Rückfallfieber enthalten, dokumentieren diesen Verlauf eindrucksvoll. Der Erreger, ein spiralförmiges Bakterium (Spirochäten), war erstmals schon 1866 von Otto Obermeier (1843–1873) im Blut von an Rückfallfieber Erkrankten beobachtet worden. Dabei war Obermeier mit der Zuschreibung der Eigenschaft, dass diese Spirochäten die Auslöser der Erkrankung seien, sehr vorsichtig. Krankheiten wurden zu dieser Zeit nach noch vorherrschender Meinung vor allem durch Miasmen, also Ausdünstungen, ausgelöst. Obermeier setzte
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3: Mappe 2 offen.
seine Beobachtungen über mehrere Jahre hinweg als Arzt an der Berliner Charité fort und fand heraus, dass diese spiralförmigen Bakterien stets während der Fieberschübe im Blut festzustellen waren. Über diese Beobachtungen berichtete er in der Sitzung der Berliner medicinischen Gesellschaft am 26. Februar 1873.5 Seine Forschungen konnte Obermeier aber selbst nicht mehr fortsetzen, da er sich offenbar wenige Monate nach dem Bericht bei Versuchen im Labor an Cholera infizierte und verstarb. In Kenntnis dieses Berichtes Obermeiers unternahm der in Odessa praktizierende russische Arzt Münch bereits am 7. Mai 1874 einen Selbstversuch. Er wollte den Nachweis führen, dass die beobachteten Spirochäten das Rückfallfieber auslösen. Dazu verunreinigte er Glassplitter mit dem Blut von Erkrankten und übertrug die Erreger, indem er sich mit den Splittern Schnitte zufügte. Zuvor hatte er sich davon
überzeugt, dass das Blut auf den Splittern mindestens zehn zu beobachtende Erreger enthielt. Er erkrankte schwer, überlebte aber den Versuch und äußerte später in einem Brief, indem er über den Selbstversuch berichtete, die Überzeugung, dass die Übertragung durch Läuse erfolge. Sein Vorschlag, zum Beweis der Krankheitsübertragung einen weiteren Versuch mit Läusen zu unternehmen, fand keine Beachtung. Diese Ergebnisse und Überlegungen waren Koch und der damaligen wissenschaftlichen Öffentlichkeit offenbar nicht bekannt. Soweit ersichtlich, wurden diese erst 1922 publiziert.6 Robert Koch war demnach lediglich einer der Wissenschaftler, die versuchten, dem Erreger und dem Infektionsweg auf die Spur zu kommen. In Wollstein grassierte offenbar zwischen 1877 und 1879 das Rückfallfieber. Robert Koch war dort zu dieser Zeit als Kreisphysikus tätig, eine Aufgabe, die man heute am ehesten mit der
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4: Robert Kochs Präparate.
eines Amtsarztes vergleichen kann. Er zog aus dem Blut oder von Geweben der Erkrankten Proben und erarbeitete u. a. an und mit ihnen die Vorgehensweise, um von den Proben zum mikroskopischen Präparat zu kommen. Die Präparate sind äußerlich betrachtet außerordentlich unscheinbar; sie scheinen z.T. geradezu nachlässig angefertigt zu sein. ◊ Abb. 2, 3 Allerdings offenbart eine Betrachtung der Präparate mit Hilfe des Mikroskops ihre herausragende Qualität. Die Präparate wurden technisch perfekt hergestellt; insbesondere die Schnitte auch durch heikle Gewebe, wie das Gehirn, sind mit einer bestechenden Präzision angefertigt. In einer Reihe von Präparaten lassen sich noch heute, 130 Jahre später, die konservierten Erreger beobachten. Allerdings ist der Alterungsprozess an diesen Präparaten auch nicht spurlos vorübergegangen; das verwendete Einschlussmittel ist häufig eingetrübt oder hat Kristalle gebildet. Die Objektträger selbst sind kurz und präzise beschriftet mit Datum und Ort der Anfertigung, der Krankheit, häufig auch mit dem Namen des Patienten und gegebenenfalls mit dessen Tod sowie der Gewebeart und der Färbetechnik. Am ausgewählten Präparat, einem Blutausstrich, lässt sich eine der Vorgehensweise Robert Kochs gut nachvollziehen. ◊ Abb. 4 Um Blut
untersuchen zu können, muss es in einer hauchdünnen Schicht auf die Unterseite des Deckglases aufgetragen werden. Ist diese Schicht zu dick, kann man nur wenig erkennen, weil sich die Blutkörperchen im mikroskopischen Bild überlagern. Ist sie zu dünn, muss man (zu) lange nach Erregern suchen. Zur Herstellung eines für die mikroskopische Betrachtung geeigneten Präparates wird ein Tropfen Blut zunächst mit einer genau zu bemessenden Menge eines Farbstoffs versehen, dann in einer Hin- und Herbewegung auf dem Deckglas rasch und gleichmäßig verteilt (Blutausstrich). Diese Hin- und Herbewegung kann man an dem Präparat deutlich erkennen. Danach lässt man das Blut auf dem Deckglas eintrocknen. Das angetrocknete Blut wird dann mit einem Tropfen Kanadabalsam versehen auf einem Objektträger dauerhaft eingeschlossen. Die mikroskopische Untersuchung des abgebildeten Präparates offenbart auch nach mehr als 130 Jahren den Erreger; wie im Übrigen die meisten der in den abgebildeten Mappen enthaltenen Präparate. ◊ Abb. 5, 6 Die Präparate dokumentieren auch Kochs Versuch, durch Vergleich des Materials von Erkrankten von anderen Orten dem Erreger auf die Spur zu kommen. So enthält die Sammlung zum Beispiel in Wollstein hergestellte Präparate aus dem Material eines Kollegen (Carter) aus Indien, über das er in einer Veröffentlichung berichtete.7 ◊ Abb. 1, unten links
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5: Robert Kochs Präparate, Mappe 2, Präparat 18, Ausschnitt 1.
Die Präparatesammlung zu diesem Erreger lässt auch Rückschlüsse auf Infektionsversuche zu, die Robert Koch zum Nachweis der Eigenschaft als Krankheitserreger an einem Affen unternahm. Auch die Präparate mit den Schnitten durch ein Affenhirn lassen eine Beobachtung des Erregers heute noch zu. Über diese Versuche berichtete Koch gleichfalls in einer Veröffentlichung.8 Die Ergebnisse seiner Untersuchungen hat Robert Koch auch fotografisch auf Glasplattennegativen dokumentiert. ◊ Abb. 7 Er benutzte dazu die bereits für die Fotografie von Diatomeen entwickelte Technik. Er passte sie an die Erfordernisse der Fotografie von Bakterien
Bücherschau: Rezensionen
6: Robert Kochs Präparate, Mappe 2, Präparat 18, Ausschnitt 2.
an und gab ihr den Vorzug gegenüber der bis dahin üblichen wissenschaftlichen Zeichnung zur Dokumentation von Beobachtungen. Der Zeichnung hafte – so Kochs Auffassung – zu viel Subjektives und Willkürliches an, so dass sie für eine Dokumentation wenig geeignet sei. Zwar sah er es als den Vorzug der Fotografie an, dass sie ein objektives, weil rein technisch entstandenes Abbild des Gesehenen vermittle. Die Anleitung zur korrekten Herstellung von Mikrofotografien verrät aber, dass sich Robert Koch der Bedeutung des Fotografen, seinem handwerklichen Können und seiner Sicht und Auswahl deutlich bewusst war. Abbildung 7 zeigt einen
Bücherschau: Rezensionen
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Münch in einem Brief 1874 geradezu seherisch geäußerte Vermutung, dass die Spirochäten die Erreger und die Läuse die Überträger dieser Krankheit sind.11 Auch heute noch ist die Krankheit in Regionen mit hygienisch schwierigen Verhältnissen präsent und wird gelegentlich auch nach Deutschland eingeschleppt. Sie kann aber mit Antibiotika erfolgreich behandelt werden. 7: Abzug eines Glasplattennegativs des Erregers, fotografiert von Robert Koch.
Ausschnitt aus einer von Robert Koch angefertigten Mikrofotografie von 1877 mit dem Erreger des Rückfallfiebers. Die Sammlung des RKI enthält insgesamt etwa 5–7.000 Glasplattennegative von Robert Koch und seinen späteren Mitarbeitern, allerdings ohne dass diese bisher in einem Katalog oder Verzeichnis erfasst worden wären. Koch gelang es überdies, den Erreger des Febris Recurrens zu züchten. Damit hatte er fast alle Elemente zur Aufklärung der Krankheitsursache greifbar vor sich. Die intensive Beschäftigung mit dieser Krankheit endet aber ziemlich abrupt. Über die Ursache kann nur spekuliert werden. Möglicherweise ebbte die Epidemie in Wollstein ab, so dass Koch weiteres Material fehlte, um sich abschließend mit der Krankheitsursache auseinanderzusetzen. Der Zeitraum war aber auch von einschneidenden persönlichen Veränderungen gekennzeichnet, die vielleicht die weitere Beschäftigung mit dem Erreger unterbrachen. Später hat sich Koch immer wieder einmal – dies lässt sich in Präparaten und Vorträgen dokumentieren – mit dem Wechselfieber auseinandergesetzt, allerdings ohne dass er seine Arbeiten mit einer abschließenden Veröffentlichung über die Ursache und den Infektionsweg abgeschlossen hätte.9 Die endgültige Klärung des Infektionsweges gelang erst Mackie 1907,10 mehr als 30 Jahre nach der intensiven Beschäftigung mit der Krankheitsursache durch Obermeier, Münch und Koch. Dabei bestätigte sich die schon von
Matthias Burba
Der Verfasser dankt dem Robert Koch-Institut für die großzügig eingeräumten Arbeitsmöglichkeiten und die kollegiale Betreuung und Hilfestellung bei der Recherche. 1 Robert Koch: Verfahren zur Untersuchung, zum Konservieren und Photographieren der Bakterien, Cohns Beiträge zur Biologie der Pflanzen, Band II, Heft 3, Breslau 1877, S. 399ff. 2 Robert Koch: Zur Untersuchung von pathogenen Organismen, aus: Mitteilungen aus dem Kaiserlichen Gesundheitsamt, Band. I, 1881, S. 112–163. In: Gesammelte Werke von Robert Koch, Band 1. Leipzig 1912 (1884). 3 Robert Koch: Zur weiteren Kenntnis der Febr. Recurrens und der Spirochäten. In: Deutsche Medizinische Wochenschrift, Nr. 16, 1879. Vgl. auch Robert Koch: Die Übertragung der RecurrensSpirochäte auf Affen. In: Deutsche Medizinische Wochenschrift, Nr. 25, 1879, o. S. 4 Wikipedia, Stichwort Rückfallfieber (Stand: 03/2011). 5 Vgl. Otto Obermeier: Die Entdeckung von fadenförmigen Gebilden im Blut von Rückfallfieberkranken, 1873. In: Heinz Zeiss (Hg.): Klassiker der Medizin, Leipzig 1926, S. 26–36. 6 P. P. Podjapolsky: Zwei Worte über den Rückfalltyphus und den Flecktyphus. In: Westnik mikrobiologie i epidemiologii, Band 1, Heft 2, 1922, S. 160–168; Zusammenfassung in deutscher Sprache S. 181–188. 7 Koch: Zur weiteren Kenntnis (s. Anm. 3). 8 Koch: Übertragung der Recurrens-Spirochäte (s. Anm. 3). 9 Robert Koch: Über bakteriologische Forschung. Abdruck in Verhandlungen des X. Internationalen Medizinischen Kongresses Berlin, 1890. 10 Wilhelm Kolle (Hg.): Handbuch der pathogenen Mikroorganismen, 2. Abt, Band VII, Jena 1913, S. 881. 11 Podjapolsky (s. Anm. 6), S. 186.
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Farbtafeln
Tafel 1: Mark Dion: Curiosity Cabinet for the Wexner Center for the Arts, 1996, Tusche, Aquarell auf Papier, Drucksachen, 61 x 48 cm.
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Farbtafeln
Tafel 2: Mark Dion: Sea Life, 2010, Raumteiler, Aquarelle, Sockel mit Feuchtpräparaten aus dem Zoologischen Museum, Kiel, Ausstellungsansicht Kunsthalle zu Kiel (Detail: Feuchtpräparate).
Tafel 3: Dünndarmrosette mit teilweise eröffneter Darmschlinge und Blick auf die Darmschleimhaut im oberen Bereich. Fast vollständige Farbwiederherstellung nach abgeschlossener Fixierung. Navena Widulin, Berliner Medizinhistorisches Museum der Charité, 2010.
Tafel 4: Tattoos on human skin 20,9 x 15,9 cm, dated 1900–1920.
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Tafel 5: Egisto Tortori: Scrofulide tuberculare verrusa im Gesicht einer Frau, um 1850.
Farbtafeln
Tafel 6: Entartete Hornhaut an Brust, Hals und Gesicht, um 1850.
Tafel 7: E. F. Dufour: Baretta in seinem Atelier im l‘Hôpital Saint-Louis, Öl auf Leinwand (Ausschnitt), undatiert.
Farbtafeln
Tafel 8: Einhornjagd, Bestiarium, Südengland, erste Hälfte des 13. Jahrhunderts.
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Farbtafeln
Tafel 9: Ganzkörperansicht der Mumie M2.
Tafel 10: CT-Röntgenbild mit Darstellung der beiden kleinen Objekte in den Händen der Mumie M2.
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1: Gefährdete Tiere der Alpen, Diorama von 1918–1925 im Museum für Naturkunde zu Berlin.
Bildbesprechung Felsen sind mit grünem Moos, Gras und Blumen bewachsen – es ist ein Frühlingstag. Der Betrachter der Landschaft steht vor Tierpräparaten im Diorama Anfang des 20. Jh. im Museum für Naturkunde zu Berlin dem Diorama Alpentiere in Gefahr, einem von drei Dioramen, die im Museum für NaturkunWir betrachten den Ausschnitt einer Alpen- de in Berlin ausgestellt und zwischen 1918 und landschaft. Links im Vordergrund schaut ein 1925 entstanden sind.1 Zum ausführenden Team Braunbär aus seiner Höhle. Zu beiden Seiten gehörten der Kunstmaler Stoetzner-Lund, der ragen Felsenwände auf, in der Mitte geben für die Hintergrundmalerei beauftragt worden sie die Sicht auf eine dahinter liegende Berg- war, sowie die Dermoplastiker Gerhard Schrölandschaft frei. Der Blick geht nach oben: der und Karl Kaestner, welche die Tierpräparate Rechts in einer Felsnische ist das Nest eines herstellten. Die drei historischen Dioramen sind Bartgeiers zu sehen, in dem ein Junges sitzt, die ältesten des Museums und bildeten seinerzeit welches gerade von einem Elternteil gefüttert einen der Höhepunkte eines Ausstellungskonwird. Links oben überblickt ein Steinbock zeptes, welches dort schrittweise seit Ende des die Szenerie, darunter ein Waldrapp. Die 19. Jahrhunderts umgesetzt wurde. Alpentiere in Gefahr – Zur Ausstellung von
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Wie Kustos Dr. Willy Ramme in seinem 1925 erschienenen Artikel Tierschau im Museum betonte, zeichnete die kurz zuvor mit den Dioramen neu eröffnete Dauerausstellung eine „besondere, neue Note“ aus: eine „biologischökologische Darstellungsweise […] [sollte] das Tier nicht als Einzelobjekt, sondern in seiner natürlichen Umgebung zeigen“. 2 Damit knüpften die Ausstellungsmacher von 1925 an ein Verständnis von Museumsarbeit an, welches sich im 19. Jahrhundert entwickelt hatte und zur Trennung zwischen einer gering bestückten, auf das Vermitteln von Zusammenhängen konzentrierten Schausammlung für die Öffentlichkeit und einer systematisch aufgebauten, auf Vollständigkeit ausgelegten Sammlung für Wissenschaftler geführt hatte.3 Im neu entstandenen Kontext einer Schau sammlung wurden die gezeigten Objekte zu Exponaten, welche für das Publikum aufbereitet und in einen Zusammenhang gestellt wurden. Das Berliner Naturkundemuseum beherbergt seit seiner Eröffnung in der Invalidenstrasse 1889 im Erdgeschoss eine solche Schausammlung, die von Direktor Karl Möbius (ab 1887 im Amt) eingerichtet wurde.4 Obwohl zunächst umstritten, stellte sie hier den Beginn eines Umdenkens über Sammlungspräsentation dar, welches von den Nachfolgern Möbius‘ weiter verfolgt und immer pointierter umgesetzt wurde. Einer der Höhepunkte dieser Umsetzungen waren die unter dem Direktor Willy Kükenthal (ab 1918 im Amt) realisierten Dioramen. Tierpräparate wurden hier nicht mehr, wie ehemals üblich, einzeln als wissenschaftliche Sammlungsobjekte präsentiert, sondern sowohl zuein ander als auch zu ihrer natürlichen Umgebung und zum Menschen in Beziehung gesetzt. Im Diorama dienten sie vordergründig der Verbildlichung von Kontexten und wurden zur Publikumsattraktion. Inhaltliches Ziel des hier vorgestellten Dioramas war es, das ökologische Verständ-
Bildbesprechung
nis des Betrachters zu schärfen, indem es die vor hundert Jahren bedrohten Tiere der Alpen ausstellte.5 Im Zuge der Industrialisierung und Kultivierung neuer Landstriche keimte das Bewusstsein davon auf, dass der Mensch entscheidend in die Natur eingriff und die noch vorzufindenden Zustände konserviert werden mussten. Darüber hinaus sollten vor allem die Großstädter von einem Naturerlebnis profitieren, welches ihnen sonst selten zuteil wurde.6 Angesprochen wurde der Betrachter dabei vor allem auf emotionaler Ebene. Ramme hebt dies in seinem bereits erwähnten Artikel hervor, indem er das Fazit zieht: „Jedem wahren Naturfreund aber muss bei deren Betrachtung [der Dioramen] das Herz aufgehen!“7 Um diese Anteilnahme beim Publikum zu erreichen, war bei der Herstellung der Dioramen die Erschaffung einer in sich stimmigen Illusion von Realität vorrangiges Ziel. In diesem Fall wurde die Illusion einer Alpenlandschaft auf einer Fläche von nur wenigen Quadratmetern mit den für Dioramen typischen Mitteln geschaffen. Dazu gehören vor allem ein gewölbter Raum mit halbkreisförmigem Grundriss, die Blickführung, die Gestaltung des Übergangs zwischen Vorder- und Hintergrund, sowie die Herstellung möglichst natürlich aussehender Präparate. Mit ihrer Hilfe sollten perspektivische Brüche und Verzerrungen vermieden und eine effektvolle, natürliche Inszenierung der Tierpräparate gewährleistet werden. Die Wölbung des Raumes ahmt zudem das Himmelsgewölbe in der Natur nach. Der Grundriss des Dioramas gleicht einem Viereck, welches im hinteren Bereich mit einem Halbkreis abschließt. In Folge dessen ergibt sich eine im Vergleich zu anderen Grundrissen große Ausstellungsfläche. Der Betrachter von Alpentiere in Gefahr blickt von unten nach oben auf die Landschaft. Dies gewährleistet eine gewisse Distanz zu den Tieren, so dass Details der Herstellung
Bildbesprechung
der Präparate in den Hintergrund treten und diese natürlicher wirken. Bei der Herstellung der Tierpräparate wurde großer Wert auf einen realistischen Eindruck gelegt. Die Alpentiere wurden nach der damals neuen, aus Amerika stammenden und von E. K. Akeley erfundenen Methode der Dermoplastik hergestellt. Vorteil des Verfahrens war die Möglichkeit, das Tier in einer natürlichen Position darzustellen, die sich im Laufe der Zeit nicht verformte. Gleichzeitig wird der Museumsbesucher in die Rolle des Betrachters einer Berglandschaft versetzt – gleichsam von unten kommend und nach oben schauend eröffnet sich die Szenerie vor ihm. Um den Blick des Betrachters derartig zu lenken, wurde das Einsichtsfenster ungefähr einen Meter über dem Boden angebracht. Darüber hinaus füllen die Felsen ein Drittel des unteren Bereiches aus, so dass sich die dargestellte Szenerie hauptsächlich in den oberen zwei Dritteln entfaltet. Die Gestaltung des Übergangs zwischen Vorder- und Hintergrund stellt in jedem Diorama eine Herausforderung dar, da dieser von der Dreidimensionalität zur Zweidimensionalität stattfindet. Diese Herausforderung wurde mit Hilfe des V-förmigen Aufbaus der Felsen gelöst: Es entsteht eine Schneise, die die Sicht auf den Hintergrund freigibt und gleichzeitig den kritischen Bereich verdeckt, so dass perspektivische Brüche vermieden werden. Auf die gekrümmte Hinterwand trug StoetznerLund die Berglandschaft dergestalt auf, dass für den Betrachter keine Verzerrung entsteht. Der Übergang zur Zweidimensionalität wird hier abgerundet, indem sich die dreidimensionale Felswand bis zur Hinterwand erstreckt, dort flacher wird und allmählich in die gemalte Landschaft übergeht. Die Faszination der Illusion, der sich der Besucher gegenübergestellt sieht, die Nähe zu den Tieren, die lebendig aussehen und sich dennoch niemals bewegen, sowie der vermeintliche Blick in die Weite der Natur inmitten der
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Großstadt vermögen das Publikum offenkundig zu berühren, den ideologischen Ansatz zu reflektieren und zum Umdenken und Handeln anzuregen; so die Hoffnung. Im Sinne der Zielsetzung einer Schausammlung, die für den Besucher konzipiert ist, wird dieser mit Hilfe des Dioramas in das Ausstellungskonzept einbezogen. Er wird explizit vom Exponat angesprochen, in die Rolle des Betrachters der spezifischen Szenerie versetzt und reagiert unmittelbar. Das Diorama bildet eine in sich geschlossene Ausstellung, eine Bühne, auf der die gefährdeten Tiere der Alpen auftreten und den Zuschauer in eine virtuelle Realität versetzen, den Höhepunkt der Schausammlung im Naturkundemuseum Anfang des 20. Jahrhunderts.8 Auf dieser Bühne wird das Tierpräparat gezielt in einen Kontext eingebettet – die Abkehr vom Präparat als neutrales, wissenschaftliches Sammlungsobjekt ist endgültig vollzogen. Doch die Diskussionen um die Einbindung des Publikums in die Ausstellung waren damit nicht an ihrem Endpunkt angelangt. Auch in den folgenden Jahrzehnten wurde die Schausammlung des Berliner Naturkundemuseums immer wieder neuen Entwicklungen und Ideen angepasst. Das Diorama blieb Teil dieses Prozesses: Die Widersprüchlichkeit seiner Zielsetzung zwischen dem Anspruch auf Wissenschaftlichkeit und emotionaler Rührung sowie die Tatsache, dass es kurz nach seiner Entstehung mit neuen Medien wie Fotografie, Film und Computer in Konkurrenz trat, veränderten seine Rolle im Ausstellungswesen der Naturkundemuseen grundlegend. Heute ist es selbst zur Musealie geworden.9 Gleichzeitig bildet es jedoch einen Ausgangspunkt für die Entwicklung neuer Präsentationsformen von Tierpräparaten, bei deren Betrachtung bis heute Anklänge an seine szenische Darstellungsweise zu finden sind. Li Töppe
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1 Die anderen beiden Dioramen stellen Tiere der Alpen und Vogelfelsen auf Island aus. 2 Dr. Willy Ramme: Tierschau im Museum. Die neuen Tierdioramen des Berliner Zoologischen Museums. In: Die Woche, 18. Mai 1925, S. 424–426. 3 Die „New Museum Idea“ entstand im Kontext von Naturkundemuseen Mitte des 19. Jahrhunderts in England und verbreitete sich von dort aus auf dem europäischen Festland und in den USA. Kuratoren und Wissenschaftler forderten, dass Naturkundemuseen nicht nur sammeln und forschen, sondern darüber hinaus „breite Bevölkerungsschichten, insbesondere die Arbeiterklasse belehren und erziehen“ sollten. Vgl. Susanne Köstering: Eine „Musteranstalt naturkundlicher Belehrung“ – Museumsreform im Berliner Naturkundemuseum 1810 bis 1910. In: Ferdinand Damaschun, Sabine Hackethal, Hannelore Landsberg, Reinhold Leinfelder (Hg.): Klasse, Ordnung, Art – 200 Jahre Museum für Naturkunde Berlin, Berlin 2010, S. 37–45, S. 39. 4 Vgl. Köstering (s. Anm. 3), S. 42. 5 Dieser Ansatz stand in direkter Tradition zu den ältesten Tierpräparate ausstellenden Dioramen, welche in Amerika und Schweden Ende des 19. Jahrhunderts entstanden. Die Dioramen wurden als „Naturdenkmäler“ für bedrohte Tierarten und Landschaften in Museen errichtet. Vgl. Karen Wonders: Habitat Dioramas. Illusions of Wilderness in Museums of Natural History, Uppsala 1993. 6 Vgl. Ramme (s. Anm. 2), S. 426. 7 Ramme (s. Anm. 2), S. 426. 8 Steve Quinn, Autor des Buches „Windows on Nature. The Great Habitat Dioramas of the American Museum of Natural History” definiert in einem Interview mit Michele Ammon für das American Museum of Natural History Dioramen als „a very early form of virtual reality“. Steve Quinn: Windows on Nature. Interview, http:// www.amnh.org/exhibitions/dioramas/videos.php (Stand: 03/2011). 9 Zur Definition des Begriffes Musealie vgl. Friedrich Waidacher: Vom redlichen Umgang mit Dingen. Sammlungsmanagement im System musealer Aufgaben und Ziele. Vortrag zum Workshop zum Sammlungsmanagement, Institut für Museumskunde, Berlin, 29.10.1996.
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Sandra Mühlenberend
Wachsmoulagen. Orte ihrer Etablierung
Die Medizin verwendet für die didaktische Darstellung und Demonstration des Körpers und von Krankheiten unterschiedlichste Visualisierungsstrategien, die dem jeweiligen medizinischen Sachgebiet in Technik, Material und Ausführung entgegenkommen.1 Ursprünglich war es die Zeichnung, deren skizzenhaftes Wesen dem noch unerforschten Körperinneren entsprach.2 Im 16. Jahrhundert, dem „Jahrhundert der Anatomie“, entstanden erste Miniaturmodelle zur Visualisierung des anatomischen Körpers im Gestus künstlerischer Bilder. Sogenannte Écorchés referierten, gleichwohl vereinfacht, Schichten des Muskelaufbaus und dienten beiden Disziplinen – der Kunst und Wissenschaft.3 Mit der endgültigen Erkenntnis im 17. Jahrhundert über die sichtbaren Teile, den Aufbau des menschlichen Körpers findet nach und nach eine erste Ausdifferenzierung der Medizin statt, die weitere anatomische Modelle als Transferobjekte zwischen Wissen, Unterrichtung und Erprobung hervorbringt. In vielerlei Hinsicht ging es dabei um die optische Nachahmung von mit bloßem Auge wie auch mit dem Lichtmikroskop Gesehenem. So wurden nun beispielsweise im Bereich der Hautkrankheiten auffallende äußere Merkmale registriert und geordnet. Das zugehörige „Alphabet der dermatologischen Fachsprache“ entwickelte der Wiener Professor Joseph Jakob Plenck, das auf einem Benennungssystem äußerlicher Merkmale beruhte: Flecken, Pusteln, Bläschen, Blasen, Papeln, Schorf, Schuppen, Schwielen, Gewächse, Geschwüre, Wunden, Hautinsekten, Krankheiten der Nägel.4 Mit diesem System beginnt im ausgehenden 18. Jahrhundert die moderne Dermatologie, deren Forschungszentren sich ausgehend von Wien, Paris und London in ganz Europa verbreiteten und die heute zu den professionell geführten medizinischen Fachgebieten gehört.5 In den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts wurden für die Darstellung der Krankheiten und für die Kommunikation der Mediziner untereinander gezeichnete, gestochene, lithografische, gemalte und kolorierte Abbildungen angefertigt und verwendet. Sie sollten vor allem die Erstbeschreibungen fixieren und mögliche Orien1 Markus Buschhaus: Über den Körper im Bilde sein. Eine Medienarchäologie anatomischen Wissens, Bielefeld 2005. 2 Marielene Putscher, Robert Herrlinger: Geschichte der medizinischen Abbildung, 2 Bände, München 1967–1972. 3 Sandra Mühlenberend: Künstleranatomie als Wissenschaft und Reglement. In: Gotha geht unter die Haut, Ausst.kat., Schlossmuseum Gotha, Berlin/München 2010, S. 37–53; Spectacular Bodies. The Art and Science of the Human Body from Leonardo to Now, Ausst.kat., Hayward gallery London, London 2000. 4 Joseph Jakob Plenck: Doctrina de morbis cutaneis, Wien 1776. 5 André Basset, René Burgun: Geschichte der Dermatologie. In: Illustrierte Geschichte der Medizin, Band 3, Erlangen 1998, S. 1513–1539, hier S. 1522.
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tierungsmarken geben. Heute werden in Lehrbüchern und Vorlesungen Farbfotografien bzw. Computerbilder für die Simulation einer Dreidimensionalität verwendet, die in dermatologischen Fachkreisen als „praktisch vollkommen“ erscheinen.6 Zwischen den einst angefertigten Zeichnungen und den heutigen Technologien manifestierte sich Ende des 19. Jahrhunderts für die Dermatologie ein Demonstrationsobjekt, das die medizinischen Befunde eindringlich plastisch wiedergab: die Wachsmoulage.7 ◊ Abb. 1 1: Anton Elfinger: Moulage, Lupus faciei, 1852. Eine medizinische Moulage ist ein aus einem Gipsnegativ in Wachs gegossenes Objekt, das die Form eines mit dem Gips abgenommenen Krankheitsbildes eines Patienten aufgenommen und durch Bemalung bzw. Einfärbungen des Wachses das gesamte Erscheinungsbild des pathologischen Tatbestandes erhalten hat. Zugleich ist in vielen Fällen das Wachsbild durch Einsatz von Echthaar und Glasaugen effektvoll gesteigert. Des Weiteren ist die Moulage auf einem Grundbrett fixiert, mit einer Textileinfassung und einem Diagnoseschild versehen. All diese Komponenten gehören zu einer Originalmoulage, die schließlich vom Moulageur signiert ist. Diejenigen, denen das Signet fehlt, sind Kopien. Sie können das Original täuschend echt imitieren, aber auch soweit vereinfacht sein, dass nur noch ein Ausschnitt des Originals moulagiert ist und Echthaar sowie Glasaugen durch Bemalung ersetzt sind. In einigen Fällen wird auf die Textileinfassung ganz verzichtet, d. h., die Auflageflächen der Moulagen sind plan modelliert. Hinzu kommt der Einsatz in einen transportablen Schaukasten, der die Moulage aus dem ursprünglichen Ensemble eines klinischen Gesamtprogramms separiert und in der Einzelbetrachtung, außerhalb dieses Programms, etwa in Ausstellungen, gelesen werden kann.8 6 Basset, Burgun (s. Anm. 5), S. 1539. 7 Franz Heinrich Martens (1778–1805) gilt als einer der ersten Moulageure, wobei seine Moulagen nicht mehr erhalten sind. Als erster professioneller Moulagenbildner wird Joseph Towne (1806–1879) angegeben, der in London über 1.000 Wachsmoulagen für den Chirurgen Astley Cooper (1768–1841) am Guy’s Hospital hergestellt hat. Parallel formte der Illustrator Anton Elfinger (1821–1864) Krankheitsbilder für Dermatologen, Pathologen, Anatomen und Neurologen in Wien ab. Vgl. Thomas Schnalke: Diseases in Wax, Berlin 1995 (als Dissertation schon 1986 vorgelegt). 8 Sandra Mühlenberend: Dresdner Moulagen. Eine Stilgeschichte. In: Sandra Mühlenberend, Johanna Lang, Susanne Roeßiger (Hg.): Körper in Wachs. Moulagen in Forschung und Restaurierung, Dresden 2010, S. 30–39.
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Bilder zwischen Kunst und Körperbefund
Die medizinische Wachsmoulage ist weit mehr als ihr französischer Wortursprung mouler für „abformen“ oder „abdrucken“, der auf die Anfertigungstechnik des Wachskörpers zielt. Wachsmoulagen bündeln ein ganzes Ensembles an Materialien, die zu einer angemessenen Wiedergabe und Präsentation krankhaft veränderter Körperteile, die beispielsweise gerade bei Gesichtsabformungen Identifikationsmerkmale des Patienten preisgeben, beitragen. Der ursprüngliche Einsatzort von Moulagen war die Klinik bzw. die medizinische Fakultät, vorzugsweise im Bereich der Dermatologie und der Venerologie, wo sie bis ca. 1940 als Befunddokumentation und zur Lehre eingesetzt wurden. Gleichzeitig fanden sie auch ab ca. 1910 in der populärwissenschaftlichen Aufklärungsarbeit Verwendung.9 In vielerlei Hinsicht erinnern Wachsmoulagen in ihrer Materialität und Ausführung an Zeugnisse anderer Gattungen. Bedeutungszusammenhänge ergeben sich im Vergleich mit historischen Totenmasken, Objekten aus dem Votivwesen und letztlich mit anatomischen Modellen. Auch sie insistieren auf die Wiedergabe des Originals: den menschlichen Körper. Als erste Schnittstelle gilt selbstverständlich das Material Wachs, das sich leicht formen und färben lässt. Die besonderen physikalischen Eigenschaften unterstützten das Anliegen der einzelnen Wachsbildnereien, den Körper zu imitieren und mit der relativen Alterungsbeständigkeit des Wachses diesen überdauern zu lassen. So ist schon das Erbe der imitazione im antiken Totenkult verwurzelt, d.h. im Kult um genealogische Abbilder, die mit der Abformung von Gesichtern aristokratisch römischer Familienmitgliedern in Wachs entstanden.10 Ihre Fertigung unterscheidet sich kaum von der von Moulagen: Über dem Gesicht des Verstorbenen wurde ein Gipsnegativ abgeformt und in ein Wachspositiv, das eine Bemalung und Echthaare erhielt, übertragen. Die Totenmaske gehört später auch zur Gedächniskultur des christlichen Abendlandes. Im Votivwesen, seit dem 2. Jahrtausend v. Chr. bekannt und im Mittelalter umfänglich gesteigert, offenbart sich bezüglich der medizinischen Wachsmoulage ein weiterer Aspekt: Votive sind plastische Zeichen, die ein Gläubiger als dingliches Zeugnis seiner selbst in einer Kirche hinterließ, um Heilung und Befreiung von körperlichen und seelischen Leid zu erhalten oder dafür zu danken. Als Stellvertreter 9 Schnalke (s. Anm. 7); Susanne Hahn, Dimitrios Ambatielos (Hg.): Wachs – Moulagen und Modelle. Internationales Kolloquium, 26.-27. Februar 1993, Dresden 1994. 10 Georges Didi-Huberman: Ähnlichkeit und Berührung. Archäologie, Anachronismus und Modernität des Abdrucks, Köln 1999, S. 71.
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wurden vielerorts in realistischer Form menschliche Gliedmaße, Organe und ganze Körper, vorzugsweise in Wachs, eingebracht, die an die körperlichen Gebrechen erinnern sollten. Jene Votivgaben sind kaum noch erhalten, dennoch kann anhand schriftlicher Quellen nachvollzogen werden, dass die in Wachs geformten Körperteile ein Arsenal an Gebrechen vorstellten.11 Als direkter Vorläufer der medizinischen Wachsmoulage gilt jedoch die anatomische Plastik. Das Zentrum dieser ganzkörperlichen Übersichtsmodelle und Detailarbeiten entwickelte sich im 18. Jahrhundert in Florenz, wo Mediziner, Wachsbildner und Modellbauer eine umfangreiche Kollektion entwickelten, die noch heute im Museo La Specola zu besichtigen ist.12 Kopien dieser Arbeiten gingen u. a. nach Wien. Die wächsernen Modelle sind mit großer anatomischer Genauigkeit dargestellt, die durch verschiedene Herstellungstechniken erreicht wurde: Einige Teile schälten die Mitarbeiter aus einem kalten Wachsblock, andere wurden aus erwärmtem Wachs freihändig modelliert und bestimmte Details im Abdruckverfahren hergestellt.13 Die anatomischen Wachsmodelle im Museo La Specola zeigen den Körper in einem perfekten und gesunden Zustand. Unweit von ihnen befindet sich im Museo dell’Instituto Fiorentino di Anatomia Patologica Gegenteiliges: schockierende Darstellungen von Krankheiten in Wachs, die ab 1800 in der medizinischen Akademie behandelt wurden.14 Das Museum gründete sich 1824 im Krankenhaus von Santa Maria Nuova, nicht für die Öffentlichkeit, sondern für Mediziner als Speicherort für Krankheitsbilder und die Methoden ihrer medizinisch-chirurgischen Behandlung. Ursprünglich sammelte das Museum pathologische Präparate Verstorbener bzw. durch Operation entferntes Gewebematerial von Patienten. Für die Dokumentation waren die Ärzte verpflichtet, jedem Krankheitsbild einen Bericht zum Patienten, zum Verlauf der Krankheit und zur post-operativen Betreuung beizulegen. Die korrekte Erhaltung des pathologischen Materials stellte sich mit der Zeit jedoch als schwierig heraus, und so fertigte man von ihnen Duplikate in Wachs an. In direkter Verbindungslinie orientierten sich die Moulageure, die vormals als Modelleure arbeiteten, an den Herstellungstechniken der anatomischen Wachsarbeiten
11 Walter und Elisabeth Paatz: Die Kirchen von Florenz. Ein kunstgeschichtliches Handbuch, Band 1, Frankfurt a. M. 1955, S. 121. 12 Heike Kleindienst: Ästhetisierte Anatomie in Wachs. Ursprung, Genese, Integration, Marburg 1989. 13 Kleindienst (s. Anm. 12), S. 57–71. 14 Le Cere del Museo dell’ Instituto Fiorentino di Anatomia Patologica, hg. v. Arnaud Editore, Florenz 1983.
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im Museo La Specola und, wie die Wachsarbeiten bezeugen, an künstlerisch plastischen Arbeiten. ◊ Abb. 2, Tafel 5, ◊ Abb. 3, Tafel 6 Luigi Calmai (1800–1851) und Egisto Tortori (1829–1893) kombinierten ihre Erfahrungen aus dem anatomischen Modellbau mit den an die medizinische Moulage gekoppelten Bedingungen: Abdruck, lebensechtes Kolorit und zur Handreichung praktikable Konfektionierungen. Letztlich betonten sie aber auch künstlerische Komponenten mit der Gesamtdarstellung des Körperabschnittes, mit der zusätzlichen Ausformulierung von Körpermerkmalen des Patienten, mit dem Einsatz der Stoffeinfassung, die zu einem Kleidungsaccessoire drapiert wurde, und direkten Zitaten von Kleidung, die zusätzlich den sozialen Stand des Patienten markierten. Der gesteigerte Naturalismus entsprach den Aufgaben der Moulage, die im Gegensatz zum Modell weder idealisiert noch anonym, sondern realitätstreu und identifizierbar war, wenngleich die frühen pathologischen Wachsarbeiten aus Florenz noch zwischen Modell und Moulage oszillieren. Ihre Ausdrucksstärke rührt von der ästhetisch skulpturalen Umsetzung her, in die die Darstellungen des eigentlichen Krankheitsbildes eingepasst sind. Dies sollte sich mit dem geänderten Personal, das die Moulagen anfertigte, während der endgültigen Etablierung der Moulage als Dokumentations- und Lehrmittel gegen Ende des 19. Jahrhundert wandeln. Inklusive ihres Ausbildungshintergrundes, der kaum noch künstlerisch geprägt war, änderten sich auch die Prioritäten und die Absichten, was im Artefakt darzustellen sei. Die Bereiche, die nicht eindeutig der Krankheitsindikation dienten, wurden in ihrer Bedeu-
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2: Egisto Tortori: Scrofulide tuberculare verrusa im Gesicht einer Frau, um 1850.
3: Entartete Hornhaut an Brust, Hals und Gesicht, um 1850.
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tung reduziert, statt gemäß den Ansprüchen eines Künstlers einen Rahmen zu bieten. Besonders deutlich wird es an den Arbeiten von Jules Pierre François Baretta (1843–1923), einem der Hauptprotagonisten der Moulagengeschichte,15 dessen Wachsarbeiten mit Konzentration auf das Krankheitsbild das zukünftige Erscheinungsbild einer ganzen Moulagengeneration prägten. ◊ Abb. 4 4: Jules Pierre Baretta: Moulage, Ichthyosis im Gesicht, Baretta begründete in Paris für das am rechten Ohr und an der linken Hand, 1892. 19. Jahrhundert das Zentrum der „Mou lagenkunst“. Vormals bekannt geworden durch die Imitation von Früchten in Wachs, holte ihn der Dermatologe Charles Laillier (1828–1898) ans Hospital Saint Louis nach Paris, wo er eigene Arbeitsräume und später für seine Moulagen ein eigenes Sammlungsgebäude erhielt.16 In großem Umfang schuf Baretta Moulagen für mehrere Disziplinen. Seine Arbeit wurde nach seinem Tod von Moulageuren fortgeführt und um 1900 umfasste die Sammlung ca. 4.000 Moulagen, wovon ca. 2.000 von Baretta selbst stammten. Er fertigte nicht nur Moulagen für die Pariser Lehrsammlung, auch viele europäische Hautkliniken erwarben seine sehr genauen Wachsobjekte. Dass Baretta sich und seine Moulagen noch im Künstlerischen verortete, belegt ein zeitgenössisches Gemälde, das Baretta in seinem Atelier zwischen Staffelei mit Gemälden und Moulagen zeigt. ◊ Abb. 5, Tafel 7 Mit dem 1889 in Paris ausgetragenen 1. Internationalen Kongress für Dermatologie und Syphilografie erlangte die Moulage für die nächsten Jahrzehnte als didaktisches Hilfsmittel ihre hohe Popularität, nachdem etliche Teilnehmer nach Sicht und Vorstellung von Barettas Arbeit im Tagungsraum vielerorts an europäischen medizinischen Instituten Moulagensammlungen einrichteten.17 Dies geschah auch im Zusammenhang mit der Etablierung der Dermatologie zu einer eigenständigen klinischen Disziplin, die neben den neuen Instituten gleich eine Ausstattung
15 Suzanne Ostini: Les Moulages Dermatologiques de Jules Baretta (Fin XIXe Siècle). In: Revue Medicale de la Suisse Romande, 113, 1993. S. 751f. 16 Georges Solente: Le Musée de l’Hôpital Saint-Louis. In: The American Journal of Dermatopathology, 5, 1983, S. 483–487. 17 Moritz Kaposi: Bericht über den 1. Internationalen Congress für Dermatologie und Syphilographie zu Paris. In: Archiv für Dermatologie und Syphilis, 22, 1890, S. 190–204.
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mit Moulagen und an einigen Orten eigene Werkstätten vorsah.18 Die Anleihen der Moulage und die verschiedenen Techniken, die in sie eingegangen sind, machen deutlich, welch komplexer Gegenstand sich zur Dokumentation, Demonstration und Lehre dermatologischer und venerologischer Krankheiten im 19. Jahrhundert herausgebildet hat. Im Vergleich der Moulagen aus 5: E. F. Dufour: Baretta in seinem Atelier im l‘Hôpital Saint-Louis, Öl auf Leinwand (Ausschnitt), undatiert. den verschiedenen Einrichtungen werden die einzelnen Handschriften der Moulageure erkennbar, die sich auch im Erscheinungsbild des Wachses zeigen. Jeder Moulageur entwickelte seine eigene Wachsmischung und spezielle Techniken der Bemalung, deren Rezepte und Umsetzungen sie, wenn überhaupt, nur an ausgewählte Personen / Schüler weitergaben, beispielsweise Paul Berliner an seinen Nachfolger Alfons Kröner oder Carl Henning an seinen Sohn Theodor. Heinrich Kasten war einer der wenigen Moulageure, der – auf Anweisungen des Mediziners Oskar Lassar – offensiv in einmonatigen Moulagenkursen für Ärzte sein Handwerk vorstellte.19 Innerhalb der Blütezeit der Wachsmoulagen können zwei aufeinanderfolgende Generationen von Moulageuren ausgemacht werden, die in Zusammenarbeit mit leitenden Medizinern Sammlungen gründeten und ausbauten.20 Der von Baretta ausgehende und von den Medizinern gewünschte funktionale Schnitt, mit der die anfängliche künstlerische Implikation in der Moulagendarstellung beendet wurde, wurde kurzzeitig durch die Werke von Fritz Kolbow (1892– 1946) und Adolf Richard Fleischmann (1892–1968) noch einmal in Frage gestellt. Dies äußerte sich in einer für die Darstellung der rein medizinischen Indikation 18 Die bekanntesten Moulageure jener Zeit um 1900 waren Carl Henning (1860–1917) in Wien, Paul Berliner (keine genauen Lebensdaten) in Breslau, Heinrich Kasten (1843–1921) in Berlin, Otto Vogelbacher (1869–1943) in Freiburg i. B. und Luise Volger (1883–1956) in Zürich. Fritz Kolbow arbeitete in dieser ersten Riege von Moulageuren als Einziger mit einer freien Werkstatt in Berlin, die in den Anfangsjahren vor allen Rudolf Virchow belieferte. 19 G. Th. Phontinos: Die Herstellung und Bedeutung von Moulagen (farbige Wachsabdrücke). In: Dermatologische Zeitschrift, 14, 1907, S. 131–157. 20 An einigen Einrichtungen bildete sich noch eine dritte Generation heraus, deren Wirken im europäischen Vergleich der Institutionen eher Einzelphänomene darstellen.
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6: Adolf Fleischmann: Moulage, Struma recidivans, um 1920.
unerheblichen Haltungsänderung und durch expressive Aufsockelungen von Körperteilen. Beide Moulageure, Kolbow in Berlin bzw. Dresden und Fleischmann in Zürich, suchten aufgrund ihrer vormals künstlerischen Ausbildung, Kolbow war Bildhauer und Fleischmann Maler, in vielen Arbeiten noch einmal die unmittelbare Nähe zur künstlerischen Plastik.21 ◊ Abb. 6
Bedeutungsverlust und Neuanfang
Der Zeitraum, in dem die Moulage als medizinisches Lehrmittel eine Rolle spielte, ist vom Pariser Kongress ausgehend über ca. 50 Jahre fassbar. Ihre Dominanz gegenüber Zeichnungen und nachkolorierten Fotografien innerhalb von Vorlesungen, Seminaren, Expertengesprächen und Buchpublikationen büßte sie mit dem Vormarsch neuer Medien ein. Die Diaprojektion brachte das direkte Abbild in die Säle und die verbesserte Farbfotografie den bis dato fehlenden Farbabgleich. Nach 1950 begann vielerorts die Auflösung von Sammlungen, zum Teil auch ihre Zerstörung oder ein bewusstes Ignorieren ihrer Existenz, was letztlich für viele Sammlungen trotz mangelnder Pflege die Rettung war. „Lebenserhaltend“ für die Moulagen sollte wohl ihr medienwirksamer Einsatz in populärwissenschaftlichen Ausstellungen sein – ausgehend von der 1. Internationalen Hygieneausstellung 1911 in Dresden. Impulsgeber waren Ärzte, die im Zusammenhang mit den großen Gesundheitsdefiziten Anfang des 20. Jahrhunderts ihr eigenes Lehrmaterial für die Aufklärung, beispielsweise über Geschlechtskrankheiten, nutzten und zur Verfügung stellten. Die mahnende Wirkung der Moulagen auf den ungeschulten Betrachter verfehlte ihr Ziel nicht, jedoch wurden im Zuge des Bedeutungsverlustes an medizinischen Einrichtungen und mit der Perfektionierung eines didaktischen Systems in der Aufklärungsarbeit die nun gezeigten Moulagen modifiziert und in ihrem Erscheinungsbild vereinfacht.22 Das Deutsche Hygiene-Museum in Dresden spezialisierte sich mit einer eigenen Moulagenwerkstatt, die anfangs der Moulageur Fritz Kolbow leitete, auf für ein breites Publikum vorgesehene Demonstrationsobjekte, die nicht 21 Mühlenberend: Dresdner Moulagen (s. Anm. 8), S. 30–39. 22 Ebd. (s. Anm. 8), S. 34–39.
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nur in den hauseigenen Ausstellungen gezeigt, sondern auch an verschiedenste Institutionen weltweit geliefert worden sind. Als um 1950 der Niedergang der Moulage an europäischen medizinischen Einrichtung endgültig besiegelt war, erlebte die Moulage als populärwissenschaftliches Anschauungsmittel, wiederum ausgehend vom Deutschen Hygiene-Museum in Dresden, noch einmal einen intensiven Höhepunkt: Man findet Dresdner Moulagen aus jener Zeit nicht nur in den Gesundheitszentren und -behörden Deutschlands, sondern auch in Indien, einigen Afrikanischen Staaten oder in Russland. Wirklich verschwunden war die Moulage nie, an einigen klinischen Stellen wurde auf ihren Einsatz und auf Neuabformungen nicht verzichtet. Sie sind mit dem Blick auf die noch vor 1950 aktiv geführten Sammlungen, insgesamt wahrscheinlich weit über 80 in Europa, zwar marginal, jedoch haben Institutionen wie das Deutsche Hygiene-Museum dazu beigetragen, dass das Wissen um die Moulagen und um die Techniken der Anfertigung nicht vollends verlorengegangen ist. Bedeutend war hier ebenfalls die Moulagensammlung am Universitätsspital in Zürich, die von der Moulageurin Elsbeth Stoiber geleitet wurde.23 Stoiber gehört, wie Elfriede Walther-Hecker ehemals am Deutschen Hygiene-Museum, zur dritten Generation von Moulageuren. Ihr Erfahrungsschatz speiste sich aus dem Wissen ihrer Vorgänger. Sie formten Krankheitsbilder ab und experimentierten ebenfalls mit neuen Wachsmischungen – Elfriede Walther-Hecker beispielsweise wegen des Mangels an Bienen- und Canaubawachs in der DDR mit Montanwachs verstärkt. Der Umstand, dass in Zürich wie in Dresden Moulagen bis heute eine wichtige Rolle spielen und ihre Bedeutung, sei es als Lehr- oder Museumsstück, in Anerkennung blieb, zeigt sich auch an den Aktivitäten der Institutionen nach den Pensionierungen der beiden Moulageurinnen nach den 1980er-Jahren: In Zürich wurde ein Moulagenmuseum für die Lehre und Öffentlichkeit geführt und in Dresden fand 1994 das Signal gebende Kolloquium Wachs – Moulagen und Modelle statt.24 Von hieraus konnte ein erstes Netzwerk zwischen den Sammlungen geschaffen werden, das 2009 in der internationalen Fachtagung Moulagen als Kulturgut am Deutschen Hygiene-Museum Dresden gefestigt und ausgebaut wurde. Seit 2010 bietet das Medizinhistorische Museum der Charité Berlin mit seinem virtuellen Archiv für medizinische Wachsbilder eine Internetplattform zur Registrierung
23 Elsbeth Stoiber: Chronik der Moulagensammlung und der angegliederten Epithesenabteilung am Universitäts-Spital Zürich von 1956 bis 2000, o.O. 2005. 24 Hahn, Ambatielos (s. Anm. 9).
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von Moulagensammlungen, zum Erfahrungsaustausch und zur Geschichte der Wachsmoulage.25 All jene Maßnahmen tragen dazu bei, dass dieses faszinierende, aber auch sensible Kulturgut erhalten bleibt. Konservatorische und restauratorische Begutachtungen, Schritte und Empfehlungen begleiten diese Sicherung.26 Ehemals beredt für außergewöhnliche Krankheiten und Hilfsmittel für deren Identifizierung ist die Wachsmoulage heute weit mehr als ihre ursprüngliche Bestimmung. Sie speichert den Blick ihrer Zeit auf den Körper, die Handschrift der Moulageure und die zeitgenössischen Technologien. Letztlich spiegelt sie auch die Entwicklung, Professionalisierung und Öffentlichkeitsarbeit des medizinischen Faches der Dermatologie, aus dem sie hervorging, wider. Durch ihre Dreidimensionalität beinhaltet die Wachsmoulage nicht nur die abbildende, sondern auch die bildnerische Komponente, die Krankheit nicht nur auf das Bild beschränkt, sondern als Teil eines physisch vorhandenen Körpers definiert. Die Wachsmoulage nimmt modellhaft die tatsächliche Begegnung mit dem Patienten vorweg – in Vergangenheit wie Gegenwart.
25 www.moulagen.de 26 www.dhmd.de/wachsmoulagen
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Materielle Metonymie. Thomas von Cantimpré und das erste Horn des Einhorns „Präparate bilden nichts ab, sie sind, wenn man so will, ‚Bilder‘ ihrer selbst: materielle Metonymien.“ So führte Hans-Jörg Rheinberger in der zweiten Ausgabe der Bildwelten des Wissens eine Dinggattung ein, die in den Naturwissenschaften eine entscheidende Rolle spielt.1 Der lateinischen Etymologie nach ist ein Präparat (praeparatum) etwas Zu- bzw. Vor-Bereitetes oder auch Vor-Gestelltes: Etwas, dessen Status dadurch bestimmt ist, dass es aus einem anderen materiellen Zusammenhang als seinem aktuellen stammt, in dem es sich selbst repräsentiert. Dieses Prinzip ist das einer Metonymie: Ein Ereignis der Sprache, in dem ein Objekt mit einem Wort genannt wird, das eigentlich ein anderes Objekt bezeichnet, welches aber mit dem ersten durch eine konstante sachliche Beziehung verbunden ist. Das Wort rutscht sozusagen entlang dieser Verbindung. So kann zum Beispiel ein Tier, dessen Anatomie sich dadurch auszeichnet, dass sein Kopf ein Horn trägt, mit dem Ausdruck „ein Horn“ bezeichnet werden – das Einhorn. Das Horn ist die Metonymie des Einhorns, und wer dem Horn eines Einhorns begegnet, was viele im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit erlebt haben, hat eine materielle Metonymie vor sich – also ein Präparat. Dieser Befund stellt freilich die Frage nach Geschichte und Funktionen des Präparats. Der Duden (2007) nennt „Forschung u. Lehre“ als seine Zwecke. Petra Lange-Berndt hat gezeigt, wie präparierte Tiere ihren Einzug in der Kunstwelt gehalten und dort, besonders in den 1990er-Jahren, einer Kritik an den Behauptungen der Naturwissenschaft zur Authentizität und Natürlichkeit physischer Körper gedient haben.2 Wird nun das Forschungsfeld auf die breite Vielfalt der menschlichen Gesellschaften und Techniken erweitert, können Präparate in reicher Vielfalt erkannt werden: die Beuteattrappen eines Jägers, das Federarrangement am Hut einer Eleganten, das Bärenkostüm eines Schamanen, ein Jaguarzahn als Amulett, der Schädel eines Heiligen in seinem Reliquiar usw. All diese Objekte stellen das, was sie waren und in präparierter Form noch sind, in einem neuen Zusammenhang dar und erfüllen hiermit unterschiedliche Funktionen. Präparate ergeben sich aus der materiellen und intellektuellen bzw. technischen und zugleich kulturellen Verarbeitung der Natur durch den Mensch. Sie sind in diesem Sinne Produkte und Zeugen einer humanen Sozialisierung der Tier- bzw. Menschenleichen oder auch der Pflanzen, der Steine, ihrer einzelnen Moleküle usw. Im Folgenden soll
1 Hans-Jörg Rheinberger: Präparate – „Bilder“ ihrer selbst. Eine bildtheoretische Skizze. In: Bildwelten des Wissens, Band 1,2 (Oberflächen der Theorie), Berlin 2003, S. 9–19. 2 Petra Lange-Berndt: Animal Art. Präparierte Tiere in der Kunst 1850–2000, München 2009.
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die Genese eines solchen Objekttyps untersucht werden, der mit einem Höhepunkt im 16. Jahrhundert ein besonders hohes Prestige genoss, bis er nach heftiger wissenschaftlicher Debatte für nichtig erklärt wurde. Einhörner existieren natürlich nicht, aber das Einhorn-Horn war trotzdem ein Präparat. Wie wurde es präpariert? War es ein Horn von Nichts, wie ein Anonymus 1583 fragte – „une corne de néant“?3 Wovon war es das „‚Bild‘ seiner selbst“? Und was erfährt man anhand dieses paradox anmutenden Falls über Präparate im Allgemeinen? Der Historiker trifft zum ersten Mal auf das Einhorn-Horn im „Buch der Bienen“, das Thomas von Cantim1: Einhornjagd, Bestiarium, Südengland, erste Hälfte des 13. Jahrhunderts. pré (ca. 1201–ca. 1270/1272) um 1260 verfasste: Es ist „sieben Fuß lang, wie wir es in der Kirche von Brügge in Flandern sehen […]“.4 Was war dieses Objekt? Seine Länge, umgerechnet etwa zwei bis zweieinhalb Meter, deutet schon auf den großen Zahn des Narwals, der in den folgenden Jahrhunderten oft als Horn des Einhorns vorgestellt wurde. Er ist mit seiner langen, weißen, aufrechten und spiralartigen Form zum Beispiel auch in zwei Miniaturen eines südenglischen Tierbuches aus der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts zu erkennen.5 ◊ Abb. 1, Tafel 8, ◊ Abb. 2 Solche Bilder ersetzen frühere Darstellungen von Einhörnern mit verschiedenen Hornarten, mitunter auch kurzen und krummen. Sie erscheinen zunächst in England, verbreiten sich am Anfang des 14. Jahrhunderts bis auf den Kontinent und sind Indikatoren für die Erfolgsgeschichte der Identifikation des Narwalzahns mit dem Einhorn3 Anonymus: Response au Discours d’Ambroise Paré, touchant l’usage de la licorne […], Paris 1583, S. 9. 4 Thomas Cantimpratensis: Bonum universale de apibus, l. 2, c. 29, 32, Douai 1605, S. 313. Diese Fallstudie beruht auf meiner Dissertation „Trésor, mémoire, merveilles. Les objets des églises au Moyen Âge“, Paris/Berlin 2010, dort S. 168–251 zu Tierobjekten in mittelalterlichen Kirchen. 5 British Library, London, Harley 4751, fol. 6v. u. 15r.
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Horn.6 Der Narwal an sich ist ein vier bis fünf Meter großer Wal aus der Arktis. Den männlichen Walen ragt dieser riesige Zahn üblicherweise links durch die obere Lippe. Gelegentlich wachsen einem Narwal zwei solcher Zähne. Es kommt ebenfalls vor, dass auch ein weiblicher Narwal damit versehen ist. Die Zähne der nahe der Eisbank harpunierten Narwale haben die Inuits bis ins 20. Jahrhundert, wie auch vieles sonst von diesem Tier, für vielfältige Zwecke benutzt.7 Doch zurück zum mittelalterlichen Exemplar in Brügge. Die Stadt hatte einen florierenden Hafen an der Nordsee. Daher ist es gut denkbar, dass Seeleute den Zahn eines Narwals in eine der dortigen Kirchen gebracht hatten. Man musste nicht in Grönland gewesen sein: Händler 2: Einhorn, Bestiarium, Südengland, konnten vermittelt haben, außerdem kam erste Hälfte des 13. Jahrhunderts. damals das Tier wohl öfter und weiter nach Süden als es das heute tut, nachdem die Jagd es über Jahrhunderte verdrängt hat. Drei frühere Narwalzahnobjekte sind aus Kirchen bekannt.8 Zwei davon bilden offensichtlich ein Paar. Sie wurden möglicherweise um 1120–1140 in England mit Metallapplikationen und Schnitzereien, die von Menschen und Tieren bewohnte Ranken zeigen, verziert, und könnten als Kerzenträger gedient haben.9 ◊ Abb. 3, 4 6 Guido Schönberger: Narwal-Einhorn. Studien über einen seltenen Werkstoff. In: Städel-Jahrbuch, 9, 1935–1936, S. 168–247, hier 196, situiert die Wende um 1200. Vgl. auch Jürgen Werinhard Einhorn: Spiritalis unicornis. Das Einhorn als Bedeutungsträger in Literatur und Kunst des Mittelalters (1976), München 1998. 7 Jean Malaurie: Die letzten Könige von Thule. Leben mit den Eskimos (frz. Orig. 1955), Frankfurt a. M. 1979. 8 Aleksander Pluskowski: Narwhals or unicorns? Exotic animals as material culture in medieval Europe. In: European Journal of Archaeology, 7, 2004, S. 291–313, hier S. 302f. (dort auch weiterführende Literatur zum Handel). 9 Das eine wird in den National Museums in Liverpool aufbewahrt. Zum anderen im Victoria & Albert Museum in London. Paul Williamson: Medieval Ivory Carvings. Early Christian to Romanesque, London 2010, S. 382–387.
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3: Geschnitzter Narwalzahn, England, ca. 1120–1140.
Das dritte bildet den Schaft eines Krummstabes aus dem Salzburger Dom in Österreich und wird auf das Ende des 12. Jahrhunderts datiert. Diese drei Zähne wurden offenbar als Rohmaterial verwendet, wie ein Elfenbein besonders ansprechender Form, ohne eindeutigen Verweis auf ihren tierischen Ursprung. Der Brügger Zahn dagegen, so wie Thomas von Cantimpré ihn erwähnt, hatte wohl als deklariertes Einhorn-Horn eine ganz andere Funktion. Wie war es dazu gekommen? Die Interessen unseres Hauptzeugen liefern dazu manche Informationen. Thomas war zunächst ein Gelehrter, der in den dominikanischen Schulen von Köln und Paris studiert hatte und gegen 1244, nach etwa fünfzehnjähriger Materialsammlung, ein „Buch über die Natur der Dinge“ vorlegte. Dieses Liber de natura rerum fasste die damaligen Kenntnisse über den Mensch und die Tieren, die Pflanzen und die Steine, die Sterne und das Wetter zusammen. Es war eine belehrende und unterhaltsame naturwissenschaftliche Einleitung zur Wissenschaft des Göttlichen, aus der die Prediger schöpfen sollten. Thomas erklärt dort nach einer Tradition, die auf den im 2. Jahrhundert verfassten Physiologus zurückgeht, dass das Einhorn ein mächtiges und wildes Tier mit einem einzigen Horn sei, das symbolisch für Christus stehe und nur durch eine Jungfrau gezähmt werden könne, wie seine Mutter Maria eine war, bis Jäger es fangen würden, in einem die Inkarnation figurierenden Moment.10 Nachdem Thomas 1246 in das Dominikanerkloster zu Löwen zurückgekehrt war, wandte er sich von der Wissenschaft ab und verstärkt der Seelsorge zu. Zwischen 1256 und 1263 kompilierte er das „Buch der Bienen“ (Liber der apibus), ein Kompendium rhetorisch geschickter Geschichten, welche zur Erbauung der als Bienenstock aufgefassten Gesellschaft der Christen gedacht waren. Das im Mittelalter wichtige Thema der Jungfräulichkeit erklärte er am Beispiel der Einhornjagd, wobei er auf sein Liber de natura rerum verwies. Thomas fügte aber in dem neuen Kontext noch hinzu, dass die sich als Köder anbietende junge Frau das in ihrem Schoß Zuflucht suchende wilde Tier an seinem prächtigen Attribut packen würde und dass ein solches, sieben Fuß langes Horn in einer Kirche zu Brügge, also etwa
10 Thomas Cantimpratensis: Liber de natura rerum, l. 4, c. 104, hg. v. Helmut Boese, Band 1, Text, Berlin/New York 1973, S. 168.
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hundert Kilometer entfernt von dem Löwener Kloster, von jeder und jedem bestaunt werden könne. Die Vorteile eines materialisierten und ausgestellten Einhorn-Horns liegen für einen Prediger auf der Hand. Vor einem solchen Objekt und mithilfe des narrativen Details des Anfassens des Horns, das bald auch viele Bilder veranschaulichen würden,11 konnte er die Imagination seiner Zuhörer auf effizientere Weise anfeuern, um die Freuden der Jungfräulichkeit begreifbar werden zu lassen. Das exemplum wurde beeindruckend plastisch vom Exemplar gestärkt. Möglicherweise hatte bereits etwas früher die Vermittlung ehemals gelehrten, klerikalen Wissens zur Erfindung des Einhorn-Horns geführt. Diese mag nach dem Zeugnis der Einhornbilder in England stattgefunden haben. Es wäre dann wohl kein Zufall, dass Philippe de Thaon, der wahrscheinlich 4: Detail aus Abb. 3. dem dortigen königlichen Hof nahe stand, bereits in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts das erste moralisierte Tierbuch (bzw. Bestiarium) in einer Volkssprache verfasst hatte.12 Jedenfalls ist der Ausdruck eines abstrakten Inhalts durch eine konkrete Erfahrung ein typisches didaktisches Verfahren der neuen Predigtkunst des 13. Jahrhunderts, die Thomas von Cantimpré bestens vertrat.13 In diesem Fall sollte eine neue Rhetorik des Bewunderns der Natur in die Wunder Gottes einführen.14 Die Fokussierung auf das Horn wirkte so gut, dass ab dem 14. Jahrhundert die italienische und die französische Volkssprache das Tier nicht mehr „Ein Horn“ nannten, sondern mit licorno und licorne „Das Horn“ par excellence.15 Was war nun echt oder unecht, richtig oder falsch am Einhorn-Horn-Präparat? Echt war das Ding an sich mit seinen Eigenschaften: Das glatte und sanfte, weißlich durchscheinende, bei Kontakt warme Elfenbein, dass schon im biblischen „Hohelied“ Vorstellungen begehrter Haut hervorrief,16 seine Härte, seine Spira11 Vgl. Einhorn (s. Anm. 6), S. 204. 12 Shannon Hogan Cottin-Bizonne: Une nouvelle édition du „Bestiaire“ de Philippe de Thaon, Chapel Hill 2003. 13 Jacques Le Goff, Jean-Claude Schmitt: Au 13e siècle. Une Parole nouvelle. In: Jean Delumeau (Hg.): Histoire vécue du peuple chrétien, Toulouse 1979, S. 257–278; Nicole Bériou: L’avènement des maîtres de la Parole. La prédication à Paris au XIIIe siècle, Paris 1998. 14 Caroline Walker Bynum: Wonder. In: American Historical Review, 102/1, 1997, S. 1–26. 15 Odell Shepard: The Lore of the Unicorn (1930), New York 1993, S. 141f. 16 „Sein Leib ist wie reines Elfenbein“, „Dein Hals ist wie ein Turm von Elfenbein“: Hld 5,14 und 7,5.
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len und die schwindelerregende Größe, als ob es unendlich wachsen und sich in die Luft bohren wollte. Dauerhaft in die Kirche versetzt und mit dem nötigen Kommentar versehen, konnte dieses Ding der Tugendlehre dienen. Bald wurde es auch zum Gegenstand naturwissenschaftlicher Erkenntnis bzw. der neu 5: Narwale, Paul Nicklen, National Geographic Magazine, 2007. aufkommenden philosophia naturalis. So berichtet bereits Albertus Magnus (ca. 1200–1280), in seinem um 1270 fertiggestellten Buch „Über die Tiere“ (De Animalibus), ein über zehn Fuß langes Einhorn-Horn persönlich gemessen zu haben.17 Albertus war in Köln der Lehrer von Thomas gewesen, von dem er wiederum vieles übernahm.18 Er hatte aber auch selbst Walfänger der Nordsee befragt.19 „Falsch“ dagegen war die Zuschreibung des Dinges an das Einhorn – ein seit Plinius schriftlich bezeugter Vierfüßler aus Indien, ursprünglich wohl ein ungenau beschriebenes Nashorn – statt an den Wal aus dem Norden. Nicht, dass dieser völlig unbekannt gewesen wäre: Thomas von Cantimpré übernimmt aus einem wenig älteren Buch die Beschreibung eines einhörnigen Seemonstrums, das Schiffe hätte durchbohren können, wäre es nur nicht so langsam gewesen.20 Die Verbindung zwischen diesem entfernten Ungeheuer und dem schönen Gegenstand war manchem Seemann sicher klar – und zwar so, dass einer nach überwundener Furcht das Objekt als Ex-voto bis nach Brügge oder Lincoln gebracht haben mag. Die gelehrten Klerikern sahen jedoch diesen Bezug nicht mehr, wohl weil die beiden Informationen sie getrennt erreichten, und wohl auch, weil dies damals nur wenig Sinn ergeben hätte. 17 Albertus Magnus: De Animalibus, l. 12, tract. 3, c. 7, hg. v. Hermann Stadler, 2 Bände, Münster 1916–1920, Band 1, S. 890. 18 John Block Friedman: Albert the Great’s Topoi of Direct Observation and his Debt to Thomas of Cantimpré. In: Peter Binkley (Hg.): Pre-Modern Encyclopaedic Texts, Leyden 1997, S. 379–392. 19 Laurence Moulinier: Les baleines d’Albert le Grand. In: Médiévales, 22–23, 1992, S. 117–128. 20 Thomas Cantimpratensis: Liber de natura rerum (s. Anm. 10), l. 6, c. 35, S. 243. Vgl. S. 4 zum anonymen „Liber rerum“. Albertus übernimmt die Information: De Animalibus (S. Anm. 17), Band 2, S. 1540.
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Das Einhorn-Horn war kein Horn von Nichts, auch wenn es keine Einhörner gibt, denn es war etwas anderes, nur vielen etwas Unbekanntes – so zumindest aus unserer Perspektive. Doch was erfahren wir noch, wenn wir heute auf das Mittelalter blicken? Johannes Grave hat im Bezug auf Präparate an die theoretische 6: Narwaljagd, Paul Nicklen, National Geographic Magazine, 2007. Erkenntnis erinnert, dass Bilder sich durch eine Differenz zwischen Darstellendem und Dargestelltem auszeichnen. Im Falle der Präparate jedoch, dieser „‚Bilder‘ ihrer selbst“, schiene zunächst keine Differenz gegeben zu sein – jedenfalls in der naturwissenschaftlichen Auffassung des Präparats, welche die Präparierung als möglichst neutralen Akt darstellt. Bildtheoretisch müsste demnach gefragt werden, „ob die Differenz des Bildes zu dem in der bildlichen Darstellung Gemeinten materiell realisiert sein muss oder auch rein relational gedacht werden kann“.21 Der Fall des zum Einhorn-Horn präparierten Narwalzahns macht geradezu evident, dass die Versetzung eines Objektes von einem Kontext in einen anderen freilich ein technischer, aber zugleich und notwendigerweise auch ein kultureller Akt ist, der bei aller Bewahrung der materiellen Identität zwangsläufig eine Differenz produziert. So ist jede Präparation ein Bildgebungsprozess. Als bewusster Transfer eines Dinges von einem Punkt zum anderem, im Raum oder in der Zeit, ist die Präparation eigentlich eine ziemlich banale Operation, die jede Sachkultur mitgestaltet: Die Dinge um uns kommen fast immer von woanders, was ihren jeweiligen Status prägt. Es könnte daher sein, dass der Präparat-Begriff im Bereich der Ding- bzw. Bildwissenschaft eine produktive Karriere vor sich hat. Ein Sonderstatus des wissenschaftlichen Präparats ist aber nicht begründet. Wissenschafts-, Bild- und Kulturgeschichte mögen in ihrer Beschäftigung mit dem Präparat einen Relativierungskeil in einer ungenügend reflektierten Praxis der
21 Johannes Grave: Nur die Sache selbst? Das Präparat als Grenzfall des Bildes. In: Gottfried Böhm, Sebastian Egenhofer, Christian Spies (Hg.): Zeigen. Die Rhetorik des Sichtbaren, München 2010, S. 141–156, hier S. 152.
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Naturwissenschaften geschlagen haben. Ist das aber die Frage? Entscheidender ist jedoch, welche gesellschaftlichen und ökologischen Situationen konfrontiert werden müssen und wie dabei Antworten konzipiert werden können. Kehren wir zu unserer Fallstudie zurück. Die Narwale werden heute mit Jagdwaffen abgeschossen. Die Inuits verkaufen die erhaltenen Zähne im internationalen Handel, um eine moderne Lebensweise zu finanzieren. Der studierte Biologe, Wildlife-Fotograf und Journalist Paul Nicklen, der sich auf die Visualisierung der Konsequenzen der globalen Erwärmung in der Arktis spezialisiert hat, veröffentlichte die bisher eindrucksvollsten Bilder dieser Massenjagd und des Narwals überhaupt.22 ◊ Abb. 5, 6 Den Naturwissenschaftlern bleibt das Tier jedoch schwer zugänglich. Es ist bis jetzt unklar, welche Funktion dieser seltsame Zahn eigentlich hat. Er könnte als sexuelles Ornament, aber auch als feinfühliges Organ dienen.23 Noch ist keine quantitative Einschätzung der Narwalbevölkerung gelungen, die zur Bestimmung wissenschaftlich fundierter Fangquoten dienen könnte. Deren Durchsetzung erweist sich als politisch schwierig. Fest steht jedoch, dass auf der Seite der Kunden das alte Phantasma des Einhorns nach wie vor als Antrieb fungiert. Angesichts der Komplexität der Bedrohung für das Tier und für die Gesellschaft erscheinen also Untersuchungen, Aufklärung und Überzeugung an allen Fronten, sowohl zum Narwal als auch über das menschliche Verhalten, gleichermaßen angebracht. Obwohl das Einhorn-Horn schon im 17. Jahrhundert zum Narwalzahn zurückerklärt worden ist, wurde die Frage nach der Genese dieser Assoziation nie gestellt, wahrscheinlich weil die Faszination des Unbekannten doch noch nachwirkte. Eine Antwort darauf gegeben zu haben, dürfte ein bescheidener Beitrag in einer Angelegenheit sein, die schließlich als exemplum zu veranschaulichen vermag, dass die Präparation von Tieren und sonstigen natürlichen Dingen ein weitreichender und keineswegs neutraler Akt ist.
22 Paul Nicklen: Arctic Ivory. Hunting the Narwhal. In: National Geographic Magazine, 212/2, August 2007, S. 110–129. 23 William J. Broad: It’s Sensitive. Really. In: New York Times, 13. Dezember 2005.
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Bücherschau: Wiedergelesen I Thomas Henry Huxley: Evidence as to Man’s Place in Nature, (Reprint) New York 2009 (zuerst London 1863).
Eine der größten Befürchtungen, die mit Darwins neuer Abstammungstheorie verbunden wurde, war der Verlust der Sonderstellung des Menschen in der Natur als Krone der Schöpfung. Die Schmähung drohte von „oben“ und von „unten“, durch radikale Veränderungen in der Betrachtung des Übernatürlichen und der nichtmenschlichen lebendigen Natur. Die Entstehung von Arten und alles Zweckmäßigen in der Natur ließ sich nun ohne die Annahme eines göttlichen intelligenten Designers erklären. Darwin hatte 1859 gegen Ende von Origin of Species schon einen Hinweis gegeben: „In the distant future I see open fields for far more important researches. Psychology will be based on a new foundation, that of the necessary acquirement of each mental power and capacity by gradation. Light will be thrown on the origin of man and his history.“1 Damit sollten nichtmenschliche Tiere die wesentliche Rolle für die Entstehung des Menschen übernehmen, und die Details konnte man sich ausmalen: Der Mensch stammt von Tieren ab, und am ähnlichsten sind ihm die Affen. Nach der Deszendenztheorie lässt sich dies am besten erklären, indem für Affen und Menschen gemeinsame Vorfahren angenommen werden. Aus Angst vor weiteren Vorurteilen gegen seine „Affentheorie“, wie Darwins Theorie oft abschätzig genannt wurde, plante er zunächst keine Veröffentlichung über die Abstammung des Menschen, obwohl er schon seit 1837 Notizen dazu verfasst hatte. Daher war es ihm höchst willkommen, dass seine Kollegen schon bald nach dem Erscheinen von Origin of Species diese heikle Öffentlichkeitsarbeit leisteten, so dass er 1871 sein Werk Descent of Man2 publizierte.
Für die Förderung der jungen Deszendenztheorie war 1863 ein bedeutendes Jahr. Charles Lyell, der mit seinem Aktualismus bereits die Geologie revolutioniert und die geologischen Zeiträume um Jahrmillionen gestreckt hatte,3 wies in seinen Geological Evidences of the Antiquity of Man nach, dass die menschliche Spezies weitaus älter als die gemeinhin angenommenen 6.000 Jahre sein müsse.4 Obwohl sich Lyell zu Darwins großer Enttäuschung damit nicht für dessen Abstammungstheorie einsetzte und schon gar nicht für deren Anwendung auf den Menschen, erwies er ihr einen großen Dienst. Durch die Eröffnung ganz neuer Zeitdimensionen schuf er die theoretische Voraussetzung für die Möglichkeit einer allmählichen Evolution des Menschen aus nichtmenschlichen Vorfahren. Thomas Henry Huxley veröffentlichte Evidence as to Man’s Place in Nature,5 Carl Vogt seine Vorlesungen über den Menschen seine Stellung in der Schöpfung und in der Geschichte der Erde,6 und der junge Ernst Haeckel hielt auf der 38. Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte zu Stettin eine enthusiastische Rede Über die Entwicklungstheorie Darwins.7 Huxleys Evidence as to Man’s Place in Nature erschien im Februar 1863 und war schnell vergriffen, eine 2. Auflage folgte bereits im März. Wie Lyells Geological Evidences of the Antiquity of Man wurde das Buch 1863 auch im Athenaeum besprochen.8 Darwin fasste die Pointe der Rezension in einem Brief an Lyell in seinen eigenen Worten zusammen: „Your object to make man old, & Huxley’s object to degrade him.“9 Es gehörte also einiger Mut dazu, ein solches Werk zu veröffentlichen. Darwin reagierte begeistert, als Huxleys „Monkey Book“ bei ihm eintraf, obwohl er sich darin noch Ergänzungen gewünscht hätte.10 Das Buch war bald in zahlreichen Sprachen erhältlich. Ludwig Büchner wollte es ins Deutsche übertragen, doch Darwins Übersetzer J. Victor Carus kam ihm zuvor. Bereits 1863 erschien seine Übersetzung Zeugnisse für die Stellung des Menschen in der Natur.11
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1: Skelette verschiedener Affenarten zum Vergleich mit dem des Menschen (Fotografische Verkleinerungen von Diagrammen der natürlichen Größe außer beim Gibbon, der in zweifacher Größe dargestellt ist).
Dies sicherte dem Buch nicht nur in Deutschland, sondern in allen Ländern, in denen man eher des Deutschen als des Englischen mächtig war, wie z. B. in Finnland und Polen, eine Verbreitung. Huxleys Buch war das Erste, in dem Darwins Theorie auf den Menschen angewandt wurde, wie auch Haeckel anerkennend hervorhob.12 ◊ Abb. 1 Das erste Kapitel On the Natural History of the Man-Like Apes behandelt anhand zahlreicher Reisebeschreibungen die Entdeckungsgeschichte der menschenähnlichen Affen. Das dritte Kapitel On Some Fossil Remains of Man präsentiert und diskutiert Fossilfunde des Menschen, wie etwa den Neandertaler. Der zweite, zentrale Teil On the Relations of Man to the Lower Animals beinhaltet die eigentliche Herausforderung. Hier geht es um „the question of questions for mankind – the problem which underlies all others, and is more deeply interesting than any other – is the ascertainment of the place which Man occupies in nature and of his relations to the universe of things. Whence our
race has come; what are the limits of our power over nature, and of nature’s power over us; to what goal we are tending […]“. (57) Dieses Buch stellt also naturwissenschaftliche und philosophische Fragen. Es ist eine Ironie der Wissenschaftsgeschichte, dass Huxleys Evidence eher gegen Owen als für Darwin geschrieben ist.13 Der renommierte Zoologe Richard Owen (1804– 1892) verfocht eine Kluft zwischen dem Menschen und den Affen und erfand für die Gattung Homo sogar eine eigene Unterklasse der Säugetiere in der zoologischen Systematik. Huxleys Ziel ist dagegen der Nachweis, dass der Mensch mit den Affen in eine Ordnung, die der Primaten, gehört. Damit will er auch dem Vater der modernen Taxonomie, Carl von Linné (1707–1778), zu seinem Recht verhelfen. Während Linné aber noch von der Konstanz der Arten überzeugt war, ging es Huxley um den Nachweis der realen Verwandtschaft zwischen dem Menschen und den Affen, die auf gemeinsamer Abstammung beruhe. Huxley
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2: Embryonalstadien von Hund und Mensch.
stellt Vergleiche zwischen Skeletten, Zähnen und Gehirnen von Menschen und Affen sowie zwischen den frühen Embryonalstadien des Menschen mit anderen Wirbeltieren an. ◊ Abb. 2 Welche Organe in ihren verschiedenen Ausprägungen in der Affenreihe auch immer verglichen werden, es führt zu dem gleichen Ergebnis, „dass die strukturellen Unterschiede, die den Menschen vom Gorilla und vom Schimpansen trennen, nicht so groß sind wie diejenigen, welche den Gorilla von den niederen Affen trennen“.14 (103) Da sich der Mensch von den menschenähnlichen Affen aber weniger unterscheide als diese von anderen Affenfamilien derselben Ordnung, gebe es keine Berechtigung, ihn in eine separate Ordnung zu platzieren. Der Unterschied zwischen den Gehirnen des Schimpansen und des Menschen sei fast bedeutungslos, wenn man ihn mit dem Unterschied zwischen dem Gehirn des Schimpansen und dem eines Lemurs vergleiche. (102) Während Owen in der „Hippocampus minorKontroverse“ bestimmte Hirnstrukturen für den Menschen reservieren wollte, konnte Huxley darauf verweisen, dass der Hippocampus minor auch bei höheren Affen nachzuweisen ist. Im Folgenden kann nur auf einige wenige Aspekte dieses Buches eingegangen werden, das freilich eine gründlichere Lektüre und Diskussion verdient:
1. Huxley ist auf der Höhe der Wissenschaftsphilosophie seiner Zeit. Im Hintergrund steht die Tradition des englischen Empirismus (Bacon, Hume, Herschel, Whewell u. a.). Huxley bemüht sich um die Aufdeckung der vera causa, der wahren natürlichen Ursache („true physical cause“) der Phänomene und lässt nur „Zweitursachen“ („secondary causes“), d.h. natürliche Ursachen, zu, was eine Absage an die göttliche Erstursache in der Wissenschaft ist. Später prägt er den Begriff „agnosticism“. Es wird Huxley nicht gerecht, ihn nur als „Darwin’s Bulldog“15 zu sehen, da er ein eigenständiger Wissenschaftler mit Format ist. Er würde nicht als Darwins „Advokat“ auftreten, schreibt er selbst, wenn dessen Aufgabe im Überreden bestünde, wo Überzeugung nicht möglich ist. Für Darwin engagiert er sich, weil dessen „Hypothese“ es verdient. Trotz ihres vorerst noch „provisorischen“ Charakters überzeugt sie durch ihre Erklärungskraft. Sie ist mit „keiner bekannten biologischen Tatsache unvereinbar“, vielmehr wird in ihrem Licht zwischen den Einzelfakten der verschiedenen Disziplinen und Wissenschaften erst ein Zusammenhang hergestellt, durch die diese ihre Bedeutung erlangen. Zu Huxleys wissenschaftsphilosophischen Maximen gehört auch eine möglichst vorurteilsfreie Betrachtung der Natur und des Menschen. Er lädt uns ein, uns
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3: Zeichnungen der Gehirnhälften eines Menschen und eines Schimpansen mit Hippocampus minor.
an die Stelle wissenschaftlich gebildeter Bewohner des Saturns zu versetzen, die mit den jetzt die Erde bewohnenden Tieren vertraut sind. Ein Reisender bringt ihnen, „vielleicht in einem Fass Rum“, einen gut konservierten, eigentümlichen „aufrechten und federlosen Zweifüßer“ mit. (69) Wir alle würden dieses Exemplar wohl bei den Wirbeltieren, den Säugetieren und hier wiederum bei den Affen einordnen. 2. Huxley verbindet seine biologische Anthropologie mit philosophischen Überlegungen über die Stellung des Menschen in der Natur. Die Furcht vor einer Verrohung
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und Degradierung des Menschen durch die Annahme eines einheitlichen Ursprungs von Tieren und Menschen weist er als unbegründet zurück. Zwar sei der Mensch durch die graduelle Modifikation eines menschenähnlichen Affen oder durch eine Verzweigung aus demselben Ursprungsstamm wie der Affe entstanden. Weder die menschliche Anatomie noch seine Ausstattung mit Gefühlen und Verstand berechtigten uns, eine „absolute Trennungslinie“ zu ziehen. Doch gebe es in der Natur einen Fortschritt, „Nature’s great progression“, von „blinder Kraft zu bewusstem Verstand und Willen“. Gerade die Abstammungstheorie, wonach wir uns aus niederen Vorfahren entwickelt und einen langen Fortschrittsprozess hinter uns haben, biete die Grundlage für die vernünftige Hoffnung auf eine noch edlere Zukunft. Die Abstammungstheorie erweist sich somit als janusköpfig: Vielleicht gibt es keine andere Säugetierordnung als die der Primaten, in der die Abstufungen zwischen der Krone, dem Gipfel der Schöpfung, bis hinunter zu den kleinsten und niedrigsten Tieren in so unmerklich kleinen Schritten erfolgt wie hier. Als ob die Natur die „menschliche Arroganz“ vorhergesehen hätte, erinnert sie uns damit an unsere niedere Herkunft. (105) Ungeachtet dieser Einheit des Ursprungs ist Huxley von der Sonderstellung des Menschen in der Natur und einer „tiefen Kluft“ zwischen dem „zivilisierten Menschen und den Tieren“ überzeugt. Auch wenn der Mensch von den Tieren abstamme, sei er nicht eins von ihnen („whether from them or not, he is assuredly not of them.“). (110) Der Mensch sei der einzige bewusst intelligente Bewohner dieser Welt, er besitze „Würde“ („dignity“) und berechtige zu Hoffnungen für die Zukunft. Die Trennungs-
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linie zwischen ihm und den Tieren ist für Huxley die artikulierte Sprache, seine wunderbare Ausstattung mit verständlicher und vernünftiger Rede. Sie ermögliche es uns, Erfahrung langsam anzusammeln und zu organisieren, während beim Tier mit dem Tod der Individuen auch die Erfahrung verloren gehe. Sprache ist für Huxley also die Bedingung der Möglichkeit von Traditionsbildung und Kultur. Daher beinhaltet die Abstammung des Menschen von den Tieren für ihn auch keine Bedrohung oder Verletzung der Menschenwürde, denn sie hänge nicht von unserer „großen Zehe“ ab und werde nicht durch den Hippocampus minor beim Affen bedroht. Nur „seichte Rhetoriker“ wollten uns weismachen, dass die Abstammungstheorie den Menschen degradiere. (110) ◊ Abb. 3 3. Huxley bleibt uns eine ausführlichere Diskussion dieses entscheidenden Punktes schuldig. Warum sind Menschen nicht auch Tiere? Er hat ähnlich zentrale Fragen wie die der Beziehung zwischen Gehirn und Denken, Struktur und Funktion kurz in einer Fußnote angeschnitten, so dass vor allem Kritiker diese Fußnote als das wichtigste Argument im Buch bezeichneten.16 Die von ihm formulierten Fragen sind heute aktueller denn je. Es empfiehlt sich, Huxley im Lichte des gegenwärtigen Kenntnisstandes der verschiedenen biologischen Disziplinen wieder zu lesen, insbesondere der Beiträge zur enormen Leistungsbreite der kognitiven und emotionalen Fähigkeiten unserer nächsten Verwandten, der Menschenaffen, und anderer Tiere. Dies sind vor allem die kognitiven, sozialen und kommunikativen Fähigkeiten von Tieren einschließlich ihrer nicht genetischen Tradierung von Erfahrung und erlerntem Wissen, also ihre Kulturfähigkeit. Was bedeutet dies für die Stellung des
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Menschen in der Natur, für dessen Verhältnis zu nichtmenschlichen Tieren, und welche ethischen Fragen und Verpflichtungen erwachsen daraus?17 Doch auch weitere Schriften sind lesenswert, wie Huxleys Überlegungen zum Thema Evolution and Ethics, in denen er im Unterschied zu Spencer die Anwendung des Prinzips „survival of the fittest“ auf die menschliche Gesellschaft ablehnt.18 Huxley setzt sich in seinen Vorlesungen über Evolution and Ethics (1893, 1894) kritisch mit der „Evolutionsethik“ („ethics of evolution“) und ihrem Trugschluss („fallacy“) auseinander. Darunter versteht er die Annahme, dass sich der Mensch als moralisches und gesellschaftliches Wesen zu seiner Vervollkommnung an denselben Naturmechanismen zu orientieren habe, nach denen der evolutionäre Fortschritt von Pflanzen und Tieren erfolgt sei, am „struggle for existence“ und dem daraus resultierenden „survival of the fittest“. Wie viele Andere legt Huxley diese Metaphern im Sinne von Maximen zur rücksichtslosen Durchsetzung der Stärkeren auf Kosten der Schwachen aus. Moral besteht für ihn jedoch gerade in der Bekämpfung dieser „mitleidslosen Selbstbehauptung“ durch die Unterstützung der Schwachen. „Its influence is directed, not so much to the survival of the fittest, as to the fitting of as many as possible to survive.“ 19 Dass der „struggle for life“ in der Evolution der Organismen gerade auch durch wechselseitige Hilfe bewältigt wurde, hat Charles Darwin in Descent of Man vielfach hervorgehoben. Eve-Marie Engels
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1 Charles Darwin: On the Origin of Species by Means of Natural Selection, or the Preservation of Favoured Races in the Struggle for Life. London 1859, Reprint Cambridge, Mass./London 1964, S. 488. 2 Charles Darwin: The Descent of Man, and Selection in Relation to Sex. London 1871. 3 Charles Lyell: Principles of Geology, being an Attempt to explain the Former Changes of the Earth’s Surface by Reference to Causes now in Operation, 3 Volumes, London 1830–1833. 4 Charles Lyell: The Geological Evidences of the Antiquity of Man with Remarks on Theories of the Origin of Species by Variation, London 1863. 5 Thomas Henry Huxley: Evidence as to Man’s Place in Nature, London 1863, Reprint New York 2009. 6 Carl Vogt: Vorlesungen über den Menschen seine Stellung in der Schöpfung und in der Geschichte der Erde, Gießen 1863. 7 Ernst Haeckel: Über die Entwicklungstheorie Darwins (1863). In: Ders.: Gemeinverständliche Werke. Band V., Leipzig/Berlin 1924, S. 3–32. 8 The Athenaeum war ein viel beachtetes, wöchentlich erscheinendes „Journal of Literature, Science, and the Fine Arts“, „sold by all Booksellers and Newsmen in Town and Country“, wie es auf dem Titelblatt heißt. 9 Frederick Burkhardt et al. (Hg.): The Correspondence of Charles Darwin, Vol. 11, Cambridge 1999, S. 223; vgl. auch Leonard Huxley: Life and Letters of Thomas Henry Huxley, 2 Volumes. New York 1900, Reprint 1979, Vol. I, S. 217. Der Satz in der Rezension lautet: „As Sir C. Lyell’s chief object is to remove man remotely back in the scale of geological time, so Prof. Huxley’s aim is to degrade man deeply in the scale of animal existence.” (Anon. [John R. Leifchild] Rez.: „Evidence as to Man’s Place in Nature. By Thomas Henry Huxley.“ The Athenaeum, No. 1844, 28. Februar 1863, S. 287f. 10 Burkhardt (s. Anm. 9), S. 148, 180–182. 11 Thomas Henry Huxley: Zeugnisse für die Stellung des Menschen in der Natur. Aus dem Englischen übersetzt von J. Victor Carus, Braunschweig 1863. Vgl. auch Thomas Henry Huxley: Zeugnisse für die Stellung des Menschen in der Natur. Eingeleitet und in Anlehnung an Victor Carus übersetzt von Gerhard Heberer, Stuttgart 1963. 12 Ernst Haeckel: Thomas Henry Huxley. In: Nature, IX, No 223, London 1874, S. 258. Zur Bedeutung von J. Victor Carus’ deutscher Übersetzung als Medium der Rezeption und Verbreitung von Darwins Origin in Europa siehe insbesondere die Einleitung der Herausgeber und die Beiträge von Dirk Backenköhler, Anto Leikola und Daniel Schümann in Eve-Marie Engels, Thomas F. Glick (Hg.): The Reception of Charles Darwin in Europe, 2 Volumes. London, New York 2008. Wie Daniel
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Schümann ausführt, wurde Huxleys Evidence mit Hilfe von Carus’ deutscher Übersetzung ins Polnische übersetzt. 13 Mario A. Di Gregorio: T. H. Huxley’s Place in Natural Science, New Haven/London 1984, S. 134ff. u. 156; Paul White: Thomas Huxley. Making the “Man of Science”, Cambridge 2003. Über die Owen-Huxley-Kontroverse und die vielschichtigen Hintergründe der Rivalität zwischen Owen und Huxley siehe ausführlich Nicolaas A. Rupke: Richard Owen, Victorian Naturalist, New Haven/London 1994. 14 Die Übersetzungen wurden von der Verfasserin angefertigt. 15 Huxleys engagierter Einsatz für Darwins Abstammungstheorie trug ihm den Spitznamen „Darwin’s Bulldog” ein. Zum Hintergrund vgl. White (s. Anm. 13), vor allem Kapitel 2. 16 Di Gregorio (s. Anm. 13), S. 156. 17 Vgl. Judith Benz-Schwarzburg, Andrew Knight: Cognitive Relatives yet Moral Strangers? In: Journal of Animal Ethics, 1, 1, 2011, S. 9–36 sowie Miriam Noël Haidle: Darwin, Lucy und das Missing Link – Evolutionäre Anthropologie im 21. Jahrhundert. In: Eve-Marie Engels, Oliver Betz, Heinz-R. Köhler, Thomas Potthast (Hg.): Charles Darwin und seine Bedeutung für die Wissenschaften, Tübingen 2011, S. 203–224. 18 James Paradis, George C. Williams: Evolution and Ethics. T. H. Huxley’s Evolution and Ethics. With New Essays on Its Victorian and Sociobiological Context, Princeton 1989. 19 Huxley (siehe Anm. 18) S. 138–140.
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Bücherschau: Wiedergelesen II Michel Foucault: Les Mots et les choses, Paris 1966 (Deutsch: Die Ordnung der Dinge, Frankfurt a. M. 1974). Philippe Descola: Par delà nature et culture, Paris 2005 (Deutsch: Jenseits von Natur und Kultur, Frankfurt a. M. 2011).
In seinem Werk Die Ordnung der Dinge von 1966 hat Michel Foucault die „große Erzählung“ eines linearen und kumulativen Fortschritts der Vernunft kritisiert, um an ihre Stelle die heute wohl bekannte Geschichte der Episteme zu setzen. Dieser Perspektivwechsel ermöglichte ihm, jener Vorstellung zu entgehen, wonach die Menschen des 16. Jahrhunderts, einer Zeit der „Prosa der Welt“, in der Irrationalität gefangen gewesen seien: Ihr wissenschaftliches Denken war nicht weniger fundiert als dasjenige späterer Generationen, unterlag jedoch einem anderen Episteme. Obwohl die Menschen der Renaissance also folgerichtig dachten, waren ihre Gedanken für die Menschen des 17. Jahrhunderts nicht mehr nachzuvollziehen. Sie waren undenkbar geworden. Ein solcher Graben trennt Descartes von Rabelais und verbietet es, sie in direkte Beziehung zueinander zu setzen. Durch eine neue Denkweise, die Foucault „das klassische Zeitalter“ nennt, wird dieser Graben immer weiter vertieft. In diesem Beitrag soll die Frage erörtert werden, ob durch den Wechsel von der großen Erzählung einer im Laufe der Geschichte fortschreitenden Vernunft zu jener anderen großen Erzählung der Episteme tatsächlich so viel gewonnen wurde. Letztere ist ohne Zweifel großzügiger, doch führt sie zu inkommensurablen Versionen der Vernunft. Aber ist der Bruch zwischen der Epoche der „Prosa der Welt“ und dem klassischen Zeitalter überhaupt so glatt und vollständig wie Foucault behauptet?
In Verbindung mit einer anderen, jüngeren Arbeit, nicht weniger bedeutend als jene von Foucault, nämlich Philippe Descolas Buch Par delà nature et culture,1 löst die scharfe epistemische Zäsur höchste Beunruhigung aus. Descola ordnet darin die menschlichen Kollektive vier großen Gruppen zu, die er „animistisch“, „totemistisch“, „analogistisch“ und „naturalistisch“ nennt. Dass hier ausschließlich die letzte Gruppe interessieren soll, ist einem recht mysteriösen Detail in Descolas großartigem Panorama zu verdanken: Im 16. Jahrhundert waren die Europäer in Descolas Modell noch „Analogisten“, ebenso wie die Inder, die Chinesen, die Mehrheit der Afrikaner; ein Jahrhundert später jedoch finden sich dieselben Europäer in Naturalisten verwandelt wieder. Während Descolas vorgeschlagene Vierteilung anthropologischer Natur ist – und hervorragend argumentiert –, erfordert das unvermittelte Auftreten des Naturalismus, das seinerseits für einen anscheinend sehr kurzen historischen Moment steht, eine umfangreichere Historisierung. Es ist dieser kurze Zeitraum des Umbruchs, den Foucault in Die Ordnung der Dinge als den Moment bestimmt hat, welcher angeblich die analogistische Gruppe der „Interpretation“ und die naturalistische Gruppe der „Ordnung“ voneinander getrennt hat.2 Das plötzliche Auftreten des Themas der Ordnung an jener Stelle, an der Foucault zuvor nur „das Spiel der Analogien“ sah, legt es nahe, an seiner Einteilung zu zweifeln. Auch erhält das Thema der Ordnung durch Stephen Toulmins Buch Cosmopolis eine unendlich viel dunklere Prägung. 3 In diesem zu Unrecht kaum bekannten Werk, das sich auch mit dem Übergang von Rabelais zu Descartes, von der „Prosa der Welt“ zum „klassischen Zeitalter“ beschäftigt, wird die wissenschaftliche Revolution unter Toulmins Feder neu periodisiert und in eine Gegenrevolution umgemünzt: Eine Gegenrevolution, die ausgerechnet im Namen der „Ordnung“ geführt wird. Nach den blutigen Kriegen
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des Zeitalters der Glaubensspaltung erscheint diese als die einzige Möglichkeit, den Wirren der Religionskonflikte ein Ende zu setzen. Folglich kann sich die Ordnung, die Foucault unter dem Begriff der „Mathesis“ beweihräuchert hat, nicht mehr als Ergebnis einer Geschichte der Vernunft ausgeben, sondern ist deren Gegenstück. Als solches verweist sie auf eine schwere und grausame Geschichte der politischen Epistemologie, die ein Ende setzt: nämlich dem Lebendigen, dem Offenen, dem Erfindungsreichen der tatsächlichen wissenschaftlichen Revolution, die sich eben nicht im 17. Jahrhundert, sondern bereits ein Jahrhundert früher, mitten in der Renaissance vollzogen hat. Diese Periodisierung der wissenschaftlichen Revolution charakterisiert die Originalität der Arbeit Toulmins. Foucault dagegen verwehrt der Renaissance, dem Zeitalter der „Prosa der Welt“, im gleichen Sinne wie das klassische Zeitalter „rational“ zu sein. In beiden Fällen existiert sehr wohl eine Zäsur. Aber während Foucault meinte, die Ausgeburten des analogistischen Un- oder Wahnsinns seien von keinerlei Interesse mehr für diejenigen gewesen, die im klassischen Zeitalter lebten, ist Toulmin ganz im Gegenteil der Auffassung, alles aus der „Prosa der Welt“ sei wieder aufzugreifen. So habe die Ordnung des klassischen Zeitalters bedauerlicherweise all das unterdrückt, erschlagen und zerschmettert, was dem Geiste der Renaissance als sinnvoll erschien. Hierzu gehörte insbesondere jenes wesentliche Merkmal, dass die Vernunft sich noch nicht anmaßte, überall hin auszugreifen und dazu zu dienen, die Ordnung aufrecht zu erhalten. Die res extensa befand sich noch innerhalb ihrer winzigen Netzwerke und innerhalb einer Sprache, die an konkrete Situationen gebunden war, wie Lucien Febvre es so treffend in Bezug auf Rabelais dargestellt hat.4 Toulmin geht sogar so weit, aus den Menschen des 16. Jahrhunderts unsere Zeitgenossen zu machen: So beobachtet er in der letzten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Wiederaufnahme all jener Merkmale, die das 17.
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Jahrhundert zu Unrecht in der „Prosa der Welt“ verachtet hatte – eine Welt, die wie die unsere heute von ökologischen Krisen erschüttert wurde. Von COSMOPOLIS zur Kosmopolitik ist es nur ein Katzensprung. Aus diesem Grund drängt sich die Frage auf – auch wenn sie aufgrund des zeitlichen Abstands von vierzig Jahren ein wenig ungerecht erscheinen mag –, ob Foucault nicht vorschnell für einen radikalen Unterschied zwischen zwei Denkweisen, zwei Epistemen, gehalten hat, was viel eher ein hauchfeiner Unterschied zwischen dem Kräfteverhältnis von Wissenschaft und Politik gewesen ist. Anders formuliert, hat er nicht lediglich das epistemologische Vorurteil der „großen Erzählung“ von einer Vernunft, die nach und nach die Welt erhellt, verjüngt, aufgefrischt und wiederbelebt, indem er von einer „epistemologischen Zäsur“, die das „klassische Zeitalter“ von der „Prosa der Welt“ trennen soll, gesprochen hat? Alles fußt auf dieser Geschichte des Analogismus, die Descola ins Zentrum seiner Periodisierung (und der strukturellen Veränderungsprozesse) setzt. Der Analogismus als anthropologische Form besteht in seinem System darin, die Unterschiede, die kleinen Abweichungen sowohl in den „Innerlichkeiten“ (intériorités) als auch in den „physischen Gestalten“ (physicalités) zu erkennen. Dagegen kennzeichnet den Naturalismus, dass er eine global gültige Verteilung zwischen den voneinander verschiedenen Innerlichkeiten einerseits und den kontinuierlichen und einander ähnlichen physischen Gestalten andererseits vornimmt.5 Diese Darstellung entspricht ziemlich genau Foucaults Beschreibung der Verbindungen zwischen Mikrokosmos und Makrokosmos: Der Analogist versucht mit Hilfe einer geradezu manischen Einordnung in Tabellen, Klassen und Serien so weit wie möglich die Vermehrung der kleinen Unterschiede zu verringern. Und der Naturalist? Er etabliert dank einer überwältigenden physischen Kontinuität – der univer-
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sellen Ausbreitung der res extensa – eine erste Ordnungsebene, von der sich anschließend die mannigfachen „Innerlichkeiten“ abheben können. Es klafft in der Tat ein gähnender Abgrund zwischen beiden. Oder handelt es sich doch lediglich um eine kleine Abweichung? Man erinnere sich an das kurze, aber entscheidende Nachwort, das Horst Bredekamp seinem Buch Antikensehnsucht und Maschinenglauben beigefügt hat: Es zieht den epistemologischen Bruch, den Foucault postuliert, in ernsthaften Zweifel. Dieser werde dadurch geschürt, dass Foucault, besessen von Sprache und Grammatik, dem „visuellen Erlebnis“ keinen Platz eingeräumt habe, diesem „Medium (…), in das die Sprache historisch und anthropologisch eingebettet ist“.6 Die These Bredekamps trägt nun ihre Früchte, da Descola, der übrigens Foucault mit Anerkennung zitiert,7 in der Ausstellung La fabrique des images im Musée du Quai Branly in Paris aus seiner anthropologischen Vierteilung den Schlüssel des „visuellen Erlebnisses“ zu machen versucht hat.8 Descola geht es selbstverständlich nicht darum, durch diese Erfahrung die „Grammatik“ der strukturellen Veränderungen der Menschheit zu erklären, sondern er versucht, ganz im Gegenteil, diese „Grammatik“ für die Erklärung zu verwenden, welche Visualisierungen für jedes Kollektiv, man könnte fast sagen für jedes Epistem, möglich sind. Dabei fällt ins Auge, dass sich ausschließlich die Naturalisten, nur sie, nur sie ganz allein, durch eine gewisse visuelle Obsession auszeichnen. Für sie scheint sich die Erklärungsrichtung umzuwenden. Der Katalog zur Pariser Ausstellung 9 vermittelt den Eindruck, dass ihre Gemälde, ihre Kupfer- und Holzstiche und ihr Buchdruck, die durch ein gewisses Etwas geprägt sind, die Europäer zu Naturalisten werden ließen. Die Malerei wie auch die Kunst- und Wunderkammern dienen als Matrix für eine Form der Vernunft, die niemals mehr als eine
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bloße Abstraktion in der Welt der „Worte“ einer bestimmten Art und Weise der Repräsentation der „Dinge“ sein wird. Dabei ist sie so erfolgreich, dass Descola durch eine überraschende Umkehr Bredekamps’ These bestärkt und so dazu beiträgt, die berühmte, von Foucault (und auch von Descola) gepriesene „epistemologische Zäsur“ wegzuwischen, so als wäre sie nicht mehr als ein in den Sand gezeichnetes Gesicht. Die wichtigste Frage wartet noch auf ihre Antwort: Wie konnte ein bestimmter Typ der Visualisierung, der physischen und grafischen Repräsentation der Wesen der Welt, zu der Vorstellung führen, dass der Analogismus der Vergangenheit angehöre, obwohl er sich lediglich anders in der Einrahmung und Anordnung einer gewissen Art von Tableaus ausdrückt? Es soll hier die These aufgestellt werden, dass der Schlüssel zum Verständnis dieses anscheinend so grundlegenden Wandels in der Doppeldeutigkeit des Wortes Tableau zu finden ist – in der Spannung zwischen dem Tableau als Schaubild und dem Tableau als Gemälde. Die langsame Erfindung der Zentralperspektive scheint nicht, wie man so oft sagt, zur Entdeckung des Raums geführt zu haben, sondern sie ermöglichte vielmehr und zu aller erst ein kohärentes Ordnen und „Aufräumen“ der Analogien, die während der Zeit der „Prosa der Welt“ zusammengetragen worden sind.10 Da sich durch die Regeln der Perspektive die unzähligen erzählerischen, visuellen und symbolischen Diskontinuitäten, so auffällig in den vorhergehenden Darstellungsweisen, nach und nach auflösen, vermag das Tableau als Gemälde das Ordnen innerhalb eines Tableaus als Tabelle oder Übersichtstafel mit einer unschlagbaren Effizienz zu gewährleisten.11 Der sogenannte euklidische Raum erweist sich als Artefakt, das unter anderem durch das Anordnen der Analogien innerhalb eines Tableaus entsteht. Die Verbindungen und Kupplungen verlieren an Sichtbarkeit. Was für den plötzlichen und fest-
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lichen Einzug der Rationalität gehalten wurde, gründet auf der Effizienz von Ordnungstechniken, die im Laufe der Zeit den Anschein einer Kontinuität von „Materie“ „innerhalb“ eines undifferenzierten Raums erweckt haben. Kurz gefasst: Dank der Malerei haben wir den Übergang von einem 3-D-Analogismus zu einem 2-D-Analogismus vollzogen, und diesen 2-D Analogismus haben wir fälschlicherweise als „Naturalismus“ angesehen. Wenn diese These zutreffend ist, dann setzt sich die „Prosa der Welt“ in der Malerei und im wissenschaftlichen Bild fort – aber in einer Form, die aufgrund der Erfindung der Perspektive und ihrer Techniken die Diskontinuitäten zunehmend vernachlässigen kann. Die Epistemologie konnte diese Metamorphose des Analogismus nicht verstehen, weil sie Ursache und Folge vertauschte: Sie glaubte, dass das klassische Zeitalter den Raum entdeckt habe, ohne jedoch zu bemerken, dass die Menschen dieses Episteme nach und nach gelernt hatten, die res extensa von den Tableaus ausgehend auf die Welt auszuweiten. Forscher wie Horst Bredekamp, Lorraine Daston, Philipe Descola oder Peter Galison haben erkannt, dass es daher die Aufgabe einer Geschichte der Darstellungsformen bleibt, den klaffenden Abgrund zwischen wissenschaftlicher Revolution und Gegenrevolution zu überwinden. Diese Aufgabe ist umso dringender, als die ökologischen Krisen uns heute tatsächlich in Zeitgenossen von Rabelais und von Descartes verwandeln. Dorothea Heinz und Bruno Latour
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1 Philippe Descola: Par delà nature et culture, Paris 2005, Tableau S. 323. 2 Michel Foucault: Les Mots et les choses, Paris 1966, S. 71. 3 Stephen Toulmin: Cosmopolis. The Hidden Agenda of Modernity, Chicago 1990. 4 Lucien Febvre: Das Problem des Unglaubens im 16. Jahrhundert. Die Religion des Rabelais, Stuttgart 2002. 5 Descola (s. Anm. 1). 6 Horst Bredekamp: Antikensehnsucht und Maschinenglauben: Die Geschichte der Kunstkammer und die Zukunft der Kunstgeschichte, Berlin 1993, S. 99. 7 Descola (s. Anm. 1), S. 303 8 Philippe Descola (Hg.): La Fabrique des images: Visions du monde et formes de la représentation, Paris 2010. 9 Vgl. auch den Beitrag von Hans Ulrich Reck in diesem Band. 10 Erwin Panofsky: La perspective comme forme symbolique et autres essais, Paris 1975. 11 Vgl. hierzu auch: Bildwelten des Wissens, Band 3,1 (Diagramme und bildtextile Ordnungen), Berlin 2005.
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Rezension I Ausstellung: La Fabrique des images (Die Fabrik der Bilder), Musée du quai Branly, Paris, 16. Februar – 17. Juli 2011. Katalog: La Fabrique des images. Visions du Monde et Formes de la Représentation, sous la direction de Philippe Descola, Paris 2011.
La Fabrique des images – so hieß die Ausstellung, die vom 16. Februar bis 17. Juli 2011 im Musée du quai Branly, dem neuen Gebäude des früheren ethnologischen Museums zu sehen war. Der von Jean Nouvel gegen außen markant und gelungen eingerichtete Bau, der im Inneren die bekannten, kontrovers diskutierten, schwierigen Raumverhältnisse bietet, nannte sich zwischenzeitlich Musée des arts premiers und trägt im Untertitel die werbewirksame Formulierung „da, wo der Dialog der Kulturen stattfindet“. Die Ausstellung war in der obersten Etage situiert und wartete mit einem durch Stellwände untergliederten Rundgang auf, dessen thematische Felder durch farbige Führungslinien und grafisch sprechende Bezeichnungen unterscheidbar waren. Es ergaben sich – nicht zuletzt bedingt durch die begrenzten Raumvolumina – eindrucksvolle Konstellationen von Bildern in den diversen Abteilungen, die man in solcher Weise selten aufeinander bezogen sieht. Die Ausstellung war und bleibt bedeutsam, naturgemäß auch in Anbetracht der Tatsache, dass sie wegen ihrer anspruchsvollen Thematisierung, ihren nüchternen Räumen und der nach oben versetzten, als entlegen empfundenen Lage im Unterschied zur gleichzeitigen, spektakulär vom Modemacher Christian Lacroix auf der östlichen Hauptachse im ersten Stock inszenierten Prachtschau L’Orient des femmes spärlich besucht war. Das Unternehmen verdankt sich der Gelehrsamkeit und Umsicht des Ethnologen Philippe Descola, Schüler und dann Nachfolger von Claude Lévi-Strauss am Collège de France, der ein eminenter Feldforscher der indianischen
Kulturen des Amazonas ist, der sich hier aber weit über das Kunstinteresse seines Lehrers hinaus einem von diesem offen gelassenen Projekt widmet. Lévi-Strauss beschäftigte sich mit der Mythologie der Bildartefakte nur im Rahmen seiner Erzähltheorie von den erfahrungsleitenden Weltmythen der diversen Kulturen und, zumal in seiner letzten Lebensphase, als persönlicher oder privater Liebhaber der europäischen Hochkulturen, besonders der Malerei Poussins und der Musik seit dem 18. Jahrhundert. Descola entfaltet demgegenüber ein Interesse an der bildhaften wie bildenden Figuration im Rahmen seiner beruflichen Tätigkeit. Vier Bereiche wurden konzeptuell unterschieden und an grandiosen Beispielen verdeutlicht. Viele Verwandlungsfiguren finden sich darunter, Masken von Totemtieren, die Gesichter ver- und entbergen. Bilder und dreidimensionale Artefakte, überaus genau gefertigt: Vogel-Menschen-Köpfe (Patolik, Alaska, 19. Jahrhundert). Eine Fisch-Rabe-Mensch-Verwandlungs-Maske (Kwakiutl, Alaska, 19. Jahrhundert) bietet eine doppelte Transformation zum Zwecke totemistischer Rückversicherung in drei Schritten: Tier-Tier-Mensch. Schimären, Menschen mit Fischköpfen wechseln mit veritabel entfalteten Weltbildern. Dazu gehören die niederländische Landschaft des 17. Jahrhunderts, die Erfindung des individuellen Porträts der Renaissance, aber auch die Vision des Tatutsi Xuweri Timaiweme des mexikanischen Malers José Benito Sánchez, der in den 1980er-Jahren an den alten Peyotl-Kult anschließt, um Initiierungsriten mit einer Kartografie des Universums zu verbinden, das sich weiterhin nur Eingeweihten entschlüsselt. Aber gerade auch die scheinbar einfacheren Objekte, die nahe an Ideen stehen, überzeugen und bewegen: Eine Kette mit Affenzähnen und Porzellanperlen vom Rio Juruá aus dem Amazonasgebiet (Brasilien). Eine kleine Elfenbein-Skulpturengruppe der Inuit (Kanada) zeigt gar die Beobachtung einer Beobachtung: dargestellt ist ein Tänzer
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mit Trommel, der die Welt sieht und – dies das eigentliche Thema des Werks – den ehrfürchtigen Betrachter das Sehen der Welt durch den Tänzer mit Trommel sehen lässt. Der Untertitel des Katalogs verweist auf „Formen der Repräsentation“ – in Wirklichkeit ging es nicht um Referenzmodelle statischer Art, also gesetzte Bezugnahmen, sondern um dynamische Figurationen. Es ergeben sich daraus unterscheidende Typologien, markant differenzierte Geografien. Die „animistische Welt“ bot Werke aus Nordamerika, besonders den Inuit und Alaska, Südamerika, Malaysia, die „objektive Welt“ des Naturalismus Porträts und Landschaften von der Renaissance bis zur niederländischen Malerei, deren scheinbar distanzierende „Bildniskunst“ in diesen Zusammenhängen immer auch animistisch und voller hermetischer Versprechungen wirkten. Die „unterteilte Welt“ der Aborigines stand mit den Tiersymbolen, aber auch den Kartografien der mythenintensiven heiligen Orte auf dem Hintergrund einer exklusiv numinosen Weltschöpfung für das totemistische Modell. Die „in sich verschlungene Welt“ entfaltete den Analogismus als weiteres Figurationsmodell an Werken aus Kamerun, Benin, Sri Lanka und Mexiko. Diese vier Kategorien, zugleich Weltkonzepte, stehen für Möglichkeiten bildgenerativer Aussageformen, die aber, wie gesagt, nicht ontologisch starr getrennt erscheinen, sondern ganz im Gegenteil als an zahlreichen Rändern jeweils ineinander übergehen könnende, dynamische Referenzbildungen, Aussagemöglichkeiten ritueller und / oder reflexiver Selbstvergewisserungen im universalgeschichtlichen Prozess der Figuration. „Figuration“ ist sowohl Schlüsselbegriff wie Leitmotiv des Unternehmens. Figurieren heißt hierbei: Anschaulichkeiten entwerfen für das Wesentliche, das je nach Weltbild als je Besonderes erscheint. Die singuläre Referenzbildung ist daher in eine typenschaffende, sich vergegenständlichende Imagination eingebunden, die dank ihrer Objektivierung und Mate-
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rialisierung von Denkzusammenhängen in Bildern und Artefakten als eine welterschaffende erfahren und zugleich als solche weitergegeben werden kann. Lebendige Visualisierung im „Universum der Figurationen“
Die Fabrik der Bilder darf man sich als ein kooperatives Unternehmen von diversifizierten Bildherstellungen im Prozess einer flexiblen Modellierung menschlichen Bilderhandelns vorstellen, das sich mit allen Möglichkeiten der Referenzbildung beschäftigt. Hierzu gehören Ausdruckspotenziale der religiösen Spannung, magische Beschwörungen, vermessende Kartografien, besonders aber die in Assoziationen mündende Ausdrucksformen, deren ornamentierende Fassungen mythische und mythologische Bezüge ermöglichen. Der Akzent von Ausstellung und gleichnamigem Katalog liegt auf einer offenen „Figuration“, die als lebendiger und nicht linear verlaufender Prozess zu verstehen ist. Seine Aufgabe und Leistung: bildhaften Ausdruck zu finden für die Anschaulichkeit der Imagination und zugleich Formfindung der in die Einbildungskraft hinein wirkenden Bedürfnisse nach Gegenständlichkeiten, die im Bezug des Bildlichen ausgedrückt, beschworen, plastisch gefasst werden sollen. Der weite Raum der spannungsreichen Einbildungskräfte findet ein Entfaltungsfeld, das sich den handelnden Bezügen verschreibt. So erscheinen in den naturalistischen Darstellungen von der Renaissance bis zum goldenen Zeitalter der Weltlandschafts-, Tier- und Objektdarstellungen in den Niederlanden des 17. Jahrhunderts dieselben, „Welt“ als Umraum in und zu Erfahrungen verdichtenden Gesten wie in den rituellen Einbildungen von Verwandlungsmasken, Kartografien und Tiergottheitsdarstellungen im Prozess des animistischen Totemismus. Diese durch verschiedene Vielgliedrigkeit aufeinander bezogenen Bildfindungen oder Figurationen ermöglichen die Ausfal-
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tung von „Darstellung“ auf eine durchgehende Welt von Artefakten, seien sie nun zwei- oder dreidimensional. Ein heuristisches Modell
Descola entwirft – sowohl aus Gründen der Analyse wie der Ausstellungs-Organisation – ein heuristisches Modell, das in seiner Elastizität für ein lebendiges Verstehen der bildnerischen Artefakte überaus geeignet ist. Es geht ihm weder um starre Designationen noch um Ontologie oder Klassifikation. Er zielt in der heuristischen Anordnung auf lebendige Verflechtungen mit jeweiligen Grenzübertrittsmöglichkeiten. Descola entfaltet für die formale Bestimmung von vier Feldern eine duale Begriffskonstellation, indem er moralische und physische Modalitäten der Identität oder Differenz jeweils auf vier große Figurationsleistungen menschheitsgeschichtlicher Bildentfaltung anwendet: auf Analogismus, Animismus, Totemismus und Naturalismus. Diese vier Bereiche operieren mit einem je eigenen Weltbegriff, der das Reale wie das Imaginäre, das Wirkliche wie das Bildhafte umfasst. In der animierten, also beseelten Welt ergibt sich, wie Descolas Schema das ausdrückt, moralische Ähnlichkeit bei physischen Differenzen; in der totemistischen Welt herrschen moralische Ähnlichkeiten bei physischer Kontinuität. Für die „in sich verschlungene Welt“ der Analogiebildungen ist sowohl die moralische wie die physische Differenz kennzeichnend; für die objektive Welt schließlich ist die physische Ähnlichkeit bei gleichzeitiger Differenz im moralischen Bezug konstitutiv. „Moralisch“ und „physisch“ beziehen sich dabei sowohl auf das Dargestellte, also das Bild, wie auf die darstellende Figuration, die im Bild als Bildliches zum Ausdruck kommt (was das Lebendige gegenüber dem ontologischen Status des fixierten Bildes herausstreicht). Es ergeben sich unterschiedliche Konstellationen. Zum Beispiel überträgt das naturalistische Porträt die physische Identität auf eine Dar-
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stellung, die solche stoffliche Identität nicht in moralischer Hinsicht verlangt – vielmehr ist die dargestellte Welt der Natur von Werten bestimmt, die gerade nicht mittels einer visuellen Identifikation zugänglich gemacht werden können. Es stellt sich bei näherer Betrachtung eine Irritation an der vorgeblichen Bändigung des Totemismus und der bildhaft in sich verschlungenen Weltbezüge im Referenzsystem des Naturalismus ein, der eben nicht nur eine Technik, und auch nicht nur ein symbolischer Raum der Distanzgewinnung ist, sondern in dem unausgesprochene und hermetische Verwandlungskräfte schlummern, die jederzeit wieder in Rückerinnerung des Totemismus den archaischen, subkutan wirksam gebliebenen Kräften Bahn zu verschaffen vermögen – punktuell, verdichtend, auf Zeit, im Modus der Plötzlichkeit. Es ist überhaupt das Kennzeichen der Modernität, eine durch Schock und Irritation wirkende Erfahrung in der Plötzlichkeit einer ebenso vereinzelten wie machtvollen Rückkehr des Arachaischen zuzulassen. Die vier Weisen der bildlichen Bezugnahme und Fassung von welterzählenden Mythen und Mythologien sind, das muss stets unterstrichen werden, nicht ontologisch festgeschriebene, sondern flexibel agierende Figurationen. Katalog und Ausstellung: eine interessante Asymmetrie
Der bleibende Katalog und die mittlerweile wieder in Einzelsammlungen, Archiven und Beständen in Wissenschaften und Künsten verschwundene, natürlich im Prinzip jederzeit rekonstruier- und auch erweiterbare Ausstellung sind in ihrer Diversität zu reflektieren. Dies lässt Bezüge und Unterscheidungen anschaulich werden, „betrachtet“ man doch den Katalog ebenso wie in der Ausstellung gedankliche Montagen hergestellt werden. Dabei wäre keine Metapher unangemessener als das übliche Diktum, demzufolge vor dem Hintergrund einer bildanthropologischen und eth-
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nologischen These Bilder als Ausdrucksbelege eines reflexiven Verfahrens „gelesen“ werden. Im Gegenteil: Das Betrachten der Bilder bleibt immer ein konkretes – und im Akt stets als ein solches erlebbares – Erkennen, das durch die mental aktivierenden wie aktivierten Schemata immer neue Konstellationen herbeizuführen erlaubt. In der Ausstellung wird dies durch die kurzen Wege im Vor und Zurück, Hin und Her gefördert. Es ist das Gütesiegel der Ausstellung, in einer überschaubaren Zahl von Exponaten ausschließlich grandiose Beispiele versammelt zu haben, die ein solches Sich-Verdeutlichen im lebendigen Prozess ermöglichen. Das vollzieht sich in genau der Weise, die als wirkende Kraft in der Herstellung der Bilder und Artefakte, als lebendig operierende Ermöglichung angesehen werden kann. Damit tritt der Betrachter seinerseits als schaffende Kraft in die „Fabrik“ der Bilder ein. Genussvoll lädt die Ausstellung ein, tätig zu werden, und mitzuwirken. Der Katalog ist ebenso sorgfältig gestaltet wie die Ausstellung. Die Werke sind ausgezeichnet reproduziert, und in einer Reihe gelehrter Abhandlungen ist über die Diversität der Kulturen je Besonderes aus der Innensicht von Feldforschern, Kennern und Spezialisten zu erfahren. In der Ausstellung ist dies zunächst in nicht erschöpfend kommentierten, primär visuellen Anklängen von Formen und Nachklängen der rezeptiven Bezugnahmen zu erleben. Sie verhilft zu wirklichen epiphanatischen Erhellungen im Bilderschaffen. In ihr sind direkte, lebendige und, paradox gesprochen, „unmittelbare Bezüge“ möglich, auch solche, die mit wenigen Schritten in die eine oder andere Richtung als Rückversicherung einer rezeptiven Vermutung dienen können. Im Katalog fehlen leider über weite Strecken die – gewiss extrem anspruchsvollen – komparatistischen Ausweitungen und Erörterungen, welche die Universalität der Bildfiguration vertiefen und verdichten würden. Es herrschen die gelehrten Einzelabhandlungen, also etwas Traditionelles
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vor. Davon ausgenommen sind die vier brillanten Expositionen des Kurators, deutenden Bildanthropologen und Organisators der Ausstellung, Philippe Descola. Komparatistisch anstoßend und mit großer Übertragungskraft entfaltet der Sozialanthropologe Dimitri Karamidas im Katalog eine komplexe Argumentation. Anhand der Komposit-Bildungen von Emblem, Arabeske, Heraldik, Tiersymbol und Hybridbildung zwischen Figurations- und Namenstechnik eröffnet er zahlreiche Bezüge im Bildschaffen Europas und anderer Territorien in unterschiedlichen Epochen und Bereichen. Die weiteren Beiträge bleiben ebenso wertvoll wie traditionell auf eine fachspezifische Darstellung, weniger eine Argumentation, ausgerichtet. Es stellt sich also das Paradoxon ein, dass sich im ephemeren Medium der Ausstellung bleibende Einsichten schlagartig ergeben, verfestigen und entfalten, wohingegen im an sich bleibenden und beharrlicheren Medium der Buchpublikation die doch entscheidenden Bezugnahmen zwischen den Gebieten, Gattungen, Figurationen, Ontologien und Referenzbildungen gerade wieder verflüchtigt und in Einzeldisziplinen aufgelöst werden. Hans Ulrich Reck
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Rezension II Ausstellung: Gabriel von Max. Malerstar, Darwinist, Spiritist, Lenbachhaus, München, 23. Oktober 2010–13. Februar 2011. Katalog: Gabriel von Max. Malerstar, Darwinist, Spiritist, hg. v. Karin Althaus und Helmut Friedel, München 2010.
Es scheint kein leichtes Unterfangen, die vielgestaltigen Aktivitäten des Malers, Spiritisten und natur- und völkerkundlichen Sammlers Gabriel von Max (1840–1915) unter ein „Werk“ zu subsumieren. In der in umfangreichen, von Karin Althaus, Susanne Böller und Helena Perena kuratierten Werkschau im Münchener Lenbachhaus1 wurde der beherzte Versuch gewagt, das mitunter chaotische, von einem drangvollen Vollständigkeitswahn heimgesuchte Schaffen dieses Künstlers nicht nur zu bannen, zu ordnen und zu analysieren, sondern dem lange Jahre Vergessenen zu einem späten Nachruhm zu verhelfen. In Anbetracht eines zunehmenden Interesses an der Historizität naturkundlicher Sammlungen und der anhaltenden Dynamik der von Darwin aufgeworfenen Fragen und vor allem aufgrund der neu erwachten Auseinandersetzung mit der Ästhetik von Naturerscheinungen verdient die Arbeit eines Malers und Sammlers, der sich in genau diesem Fragenkreis bewegt hat, besondere Aufmerksamkeit. In dem umfangreichen Münchner Katalog werden die einzelnen, scheinbar weit auseinander liegenden Interessensgebiete deutlich voneinander getrennt behandelt und rubriziert. Der Leser begegnet dem handwerklich virtuosen Genremaler, der mit sentimental-religiöser, bis zur Schmerzgrenze kitschiger Bejahung grundierter Motiven aufwartet.2 Dabei fällt auf – doch ist dies womöglich der Strategie konservativer Reanimationsabsicht zu verdanken oder schlicht verpönt –, dass von den Autoren kein einziges kritisches Urteil zu Maxens Malerei aus heutiger Sicht formuliert wird.3
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Von Max erweist sich als ein begeisterter Anhänger fotografischer Reproduktionstechniken, der zwar mit Ölbildern zu prunken weiß, doch die mechanische Vervielfältigung und Minimierung derselben Motive unter keinen Umständen missen will. Was seine Verleger Bruckmann und Hanfstaengl als veredelte Bilderware ausstoßen, ist nichts anderes als die Crème vom Sud der inflationär und rasant um sich greifenden Ansichtskartenindustrie.4 Max war einer der ersten konsequenten und enorm erfolgreichen Bilderwirtschafter. Gabriel von Max’ Neigung zu spiritistischen Experimenten – und der damit unabdingbar verknüpften, vorgeblich beweishaltigen bzw. „wissenschaftlichen“ Fotografie von Seancen wird anhand des Künstlers eigenen Intentionen als Entwurf und Fühlungnahme einer „Wissenschaft der Zukunft“ deutlich herausgearbeitet. Zwar wird Max’ Spiritismus immer wieder durchkreuzt von kurzen Diätphasen sarkastischer Ernüchterung, doch erlangt er nie jene souveräne Abstinenz Wilhelm von Humboldts, der mit dem Satz „Der Klügere gibt nach“ das „Problem“ des Tischerückens ebenso elegant wie bündig gelöst hat. Das wahrhaft Behexende am fotografischen Spiritismus (und einen anderen als einen foto- oder kinematografischen Spiritismus gibt es im Grunde nicht bzw. ist dieser eine Spielart der frühen Foto- und Kinematografie) ist der verzweifelte Versuch, eine ähnlich erhellende Schlüssigkeit beim Aufspüren von „missing links“ zu erreichen wie es durch Darwins Evolutionstheorie für die dunkle Zeit der Vorgeschichte möglich geworden schien. Der Topos des „missing link“ ist Darwin und Huxley zu verdanken, welcher weit über seine unmittelbare wissenschaftliche Bedeutung hinaus – die Suche nach dem fehlenden Bindeglied zwischen Affen und Hominiden – das Denken vieler naturkundlich interessierter Zeitgenossen bis heute in Bann hält. Gabriel von Max ebenso rastloses wie kenntnisreiches, mitunter wahnhaftes Sammeln von prähistorischem
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Material jeglicher Art ist von der Fata morgana eines „missing link“ bestimmt. Dies konnte sich in solcher Heftigkeit aber nur einer Epoche geltend machen, die von dem bestimmt wird, was ich den „zoological turn“ (nach dem „botanical turn“ Linnés) nennen möchte.5 Von da ist es nur ein Schritt, wie Haeckel und Virchow dies belegen – beide waren mit Gabriel von Max in Kontakt und haben seine Sammlungen nach anfänglichem Zögern durchaus zu würdigen gewusst –, zur überragenden Bedeutung und Beweiskraft des paläoanthropologischen und des ethnologischen Materials. Die Fotografien aus dem Beinhaus von Gabriel von Max’ riesiger kranologischer Sammlung erzählen nicht nur von der Besessenheit eines Sammlers von Prähistorica und Ethnographica, sondern belegen eine Tendenz, die in jüngster Zeit vor dem eurozentrischen Horizont des „missing link“ interpretiert wurde: der Wilde als der rezente Primitive, als das lebende Bindeglied (und in gewissem Sinn auch: Bild) der Vorgeschichte.6 Unter diesem Gesichtspunkt aber ist die Sammelleidenschaft des Gabriel von Max für beide Felder ein Beleg für den Wunsch nach einer – wie die Spiritisten sagen – „Materialisation“ des vorgeschichtlichen Menschen „im“ Wilden einerseits und „im“ Affen andererseits. In seiner kindlich-sentimentalen, von Menschenscheu geprägten Zuneigung zu den Affen, die er in Scharen in seinem Haus hielt, die er als ein Partisan Ernst Haeckels studierte und malte, die er, wenn sie mangels richtiger Haltung starben, sezierte und wie ein Pathologe zeichnete, in dieser Haltung korrigierte er einen älteren Topos der Kunstgeschichte, der mit Chardins betrachterkritischem Bild Le singe comme peintre (1740) begonnen hatte, über Decamps Les Experts(1837) und Grandvilles anthropomorphen Äffereien karikaturhafte Züge annahm, um schließlich in dem berühmten Tableau seiner Affen als Kunstrichter/Kränzchen (1889) jeglichen pejorativen Dekors entkleidet und als Wesen mit
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ungetrübten und untrüglichen Naturinstinkten dargestellt zu werden – eine Allegorie auf den verloren gegangenen, sicheren „Instinkt“ der zeitgenössischen Kunstrichter.7 In dem Künstler Gabriel von Max vereinigen sich auf exemplarische Weise ein enzyklopädischer, sich selbst verzehrender Eifer und der unstillbare Drang, die Spuren gewesenen (und künftigen!) Lebens im Medium der Malerei sichtbar und gegenwärtig zu machen. Von der Fülle des von ihm angehäuften Materials überwältigt, tendiert dieser Künstler immer wieder dazu, den Betrachter zu überwältigen. Zu den ungewöhnlichsten und wohl auch bleibenden Exponaten seiner Kunst gehören neben den meisterhaften Affenporträts und etlichen berückend „hautnah“ gemalten Frauenbildern auch die gespenstischen Rußabdrücke (von Händen, Köpfen, Tierspuren) – kunstlose Kunststücke in surrealistischer Manier, Chimären eines Negativs, das die Materialisation einer unvermutet aus dem Dunkel der Zeit auftauchenden Spur überliefert. Hanns Zischler
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1 Gabriel von Max. Malerstar, Darwinist, Spiritist, München 2010. Der reichhaltig illustrierte, kundig kommentierende Katalog ist in typografischer Hinsicht etwas verunglückt: Die Kolumnen des Fließtextes werden, anders als der Begriff dies nahelegt, ständig in ihrem Fluss unterbrochen und gegeneinander versetzt; die Paginierung der jeweiligen Doppelseite wird nur recto und rechtsbündig gesetzt und mit **/ ** gezeichnet. 2 Andererseits erscheinen im Licht der Fotografien von Julia Margarete Cameron, Madame Yevonde und Eleanor Antin bestimmte Bilder Gabriel von Max’ geradezu als beispielgebende Vorläufer von „Tableaux vivants“. 3 Ein prominenter historischer Verriss – im Standardwerk von Clarence Cooke „Arts and Artists of Our Time“ aus dem Jahr 1888 wird lediglich erwähnt, aber nicht zitiert, während die lobenden und hagiografischen Auslassungen anderer Zeitgenossen über Gebühr zu Wort kommen. 4 Vgl. Susan Toby Evans (Hg.): Delivering Views – Views of Distant Cultures in Early Postcards, Washington 1998. 5 Die Forschungen von Darwin und Wallace haben Mitte des 19. Jahrhunderts einen quantitativ auffälligen Wechsel von botanischen zum zoologischen Material erfahren, denn nur an diesem ließ sich über lange Zeit in großen Linien die Evolutionsgeschichte als eine phantomatische und unumkehrbare „Lücken“-Geschichte begreifen und beschreiben. Phantomatisch, weil mit jedem neu gefundenen „Bindeglied“ die Evolutionsgeschichte umgeschrieben werden muss; d.h., es ist ihr Wesenszug, fortwährend umgeschrieben- und überschrieben zu werden. 6 Marylène Patou-Mathis: Le Sauvage et le Préhistorique, miroir de l’Homme occidental, Paris 2011. 7 Es war vielleicht erst der große Tiermaler Gilles Aillaud (1928–2005), der den gegenläufigen Topos zum kunstaffinen Affen – er beginnt mit Brueghels „Zwei Affen“ (1562) – konsequent aufgegriffen hat, indem die Tiere in ihrer Würde und ihrer von Menschen verursachten Demütigung malte.
Rezension III Petra Lange-Berndt: Animal Art. Präparierte Tiere in der Kunst 1850–2000, München 2009.
Es ist ein ambitiöses Vorhaben, dem sich Petra Lange-Berndt mit ihrer Untersuchung zum Vorkommen präparierter Tiere in der Kunst der letzten 150 Jahre verschrieben hat. Beachtlich denn auch die Fülle nicht nur an exemplarischen Kunstwerken, die vereinzelt bis ins 18. Jahrhundert zurückreichen, sondern auch der Dokumentationsmaterialien aus u. a. naturwissenschaftlichen Kontexten, einem der dominantesten Referenzdiskurse der Autorin. Damit verbunden ist denn auch eine ihrer These, die davon ausgeht dass die Kunstschaffenden sich sehr viel mehr auf die wissenschaftliche Herkunft der Tierpräparierung beziehen, als damit die romantisierende Mimesis authentischer Natürlichkeit angestrebt wird und dass in diesen Arbeiten entsprechend eine kritische Position gegenüber diesen Verfahren und den damit verbundenen Vorstellungen von Natur zu finden ist. Mit ihrem Fokus auf präparierte Tiere, einem materialikonografischen Ansatz verpflichtet, ist es ihr mit einer ausgreifenden Analyse aber darum zu tun, diesen mit historischen, kulturellen und kunstwissenschaftlichen Debatten zu ergänzen und fundieren. So umfasst ihr methodisches und theoretisches Rüstzeug eine Vielzahl unterschiedlicher Perspektiven wie unter anderem die Gender Studies, Wissenschaftsgeschichte und -kritik oder auch den Sozialwissenschaften verpflichteten Überlegungen zur gesellschaftlichen Funktion der Künstlerrolle. Um diese umfassende und ausgreifende Analyse leserfreundlich zu strukturieren hat sich die Autorin für eine chronologische Darstellung entschieden, innerhalb der – dem methodischen Apparat verpflichtet – einzelne materielle Aspekte (wie etwa Treibgut – Joseph Cornell, Der
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geschminkte Hahn oder Fellpatchwork als Soft Art), naturwissenschaftliche Referenzen (Konkursmasse Taxidermie oder Ein Hai in Formaldehyd) oder relevante kunstwissenschaftliche Diskurse (Die Abkehr von surrealistischen Traumwelten oder Video als flexible Schicht – Tony Oursler) die Unterkapitel bilden. Diese Gliederung ist auch deshalb gelungen und sinnvoll, weil Petra Lange-Berndt damit sozusagen en passant zeigen kann, wie fest selbst die jüngsten künstlerischen Produktionen mit Tierpräparaten in unterschiedlichster Manier an die Praxis der Taxidermie – eine der ältesten Methoden der Tierpräparation – und die damit verbundenen Konzeptionen von Natur und Gesellschaft anschließen. Durch konzise und ausführliche Einzelstudien (etwa zu Robert Rauschenberg, Annette Messager, Nancy Graves oder auch Mark Dion und Damien Hirst) kann die Autorin gerade auf die gesellschaftlich und kulturell bedingten Unterschiede in der Behandlung und Inszenierung des pseudohaft wiederbelebten Tieres äußerst prägnant eingehen und legt damit dar, wie zentral eine breite und profunde Kontextualisierung jeglicher künstlerischer Produktion ist. Dennoch scheint auch diese, den materialikonografischen Ansatz stark erweiternde Studie just erneut auch dessen Grenzen und Probleme offen zu legen. Obwohl die Autorin zu Recht erneut auf den häufigen Mangel an Materialkompetenz in der Analyse zeitgenössischer Kunst hinweist, erliegt sie in ihrer eigenen Studie mitunter der materialspezifischen Fokussierung. So wird die Thematik der Tierpräparation in einer Weise in den Vordergrund gestellt, dass die Autorin einigen Werken, in denen Taxidermie lediglich eine zudienende Rolle spielt, nicht mehr gerecht werden kann. Am augenscheinlichsten wird dies an den Arbeiten von Annette Messager, bei denen die Autorin zum Schluss kommt, dass sie den toten Tieren „jegliche Liebe verweigert“. (115f) Betrachtet man aber etwa die auf der Titelseite abgebildete Arbeit Les pensi-
Bücherschau: Rezensionen
onnaires (1971/1972) von Messager, so scheinen die eigens für die einzelnen Tiere gestrickten Kleidchen gerade von der emotionalen Ambivalenz zu zeugen, mit der die Künstlerin diesen erlegten Geschöpfen begegnet. Die Stärke der Untersuchung liegt in der kenntnisreichen und umfassenden Kontextualisierung des angepeilten Fokus. Manche der Interpretationen fallen im Einzelfall überspitzt aus; dennoch gelingt es der Arbeit sowohl methodisch wie auch thematisch eine Lücke zu füllen. Rachel Mader
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1: Die Mumie M2 im CT im Theresienkrankenhaus in Mannheim.
Projektvorstellung Das German-Mummy-Project – ein internationales Mumienforschungsprojekt an den Reiss-Engelhorn-Museen in Mannheim
Von September 2007 bis Mai 2008 präsentierten die Reiss-Engelhorn-Museen in Mannheim (rem) mit großem Erfolg die Sonderausstellung Mumien – Der Traum vom ewigen Leben.1 Nach den Präsentationen in Schleswig, Braunschweig und Bozen hatten bis Frühjahr 2010 mehr als 500.000 Besucher die Gelegenheit genutzt, die weltweit größte Ausstellung zum Thema Mumien und Mumifizierung zu besuchen. Seit Juli 2010 befindet sich die leicht veränderte Ausstellung unter dem Titel Mummies of the World auf einer dreijährigen USA-Tournee.2 Den Anstoß für die Ausstellung sowie für ein Mumienforschungsprojekt gab eine sensationelle Entdeckung. Im Jahre 2004 wurden bei Umstrukturierungen in den Depots der ReissEngelhorn-Museen 20 Mumienobjekte unter-
schiedlicher Provenienz „wiederentdeckt“. Die Inventarbücher enthielten nur wenige Informationen zu den Objekten, teilweise war dort sogar der Vermerk „Kriegsverlust“ zu lesen. Der Fund gab den Sammlungsleitern und Restauratoren einige Rätsel auf. Woher stammen die Mumien? Welches Geschlecht haben sie? Woran sind die Menschen gestorben? Schon bei der ersten Begutachtung wurde klar, dass die Mumien eine den ethischen Richtlinien des ICOM (International Council of Museums) entsprechende Aufbewahrung und Behandlung bekommen sollten. Um die Objekte zu schonen und nicht zu einem späteren Zeitpunkt wieder bewegen zu müssen, beschlossen die Verantwortlichen, ein mit der Restaurierung und der modernen Aufbewahrung einhergehendes wissenschaftliches Untersuchungsprogramm durchzuführen. Dies sollte es nicht nur erleichtern, die optimale Aufbewahrungsmöglichkeit für die einzelnen Mumien zu finden, sondern auch die Informationslücken zu schließen.
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2: Ganzkörperansicht der Mumie M2.
Durch die Untersuchungen konnte z. B. nachgewiesen werden, dass die „wiederentdeckten“ Mumien aus Afrika, Asien, Ozeanien und Südamerika stammen. Das groß angelegte Mumienforschungsprojekt war eine wichtige Basis für die Ausstellung. Es wurde im Frühjahr 2004 als rem-Mumienprojekt begonnen und seit 2008 als GermanMummy-Project fortgeführt. Es handelt sich um eines der derzeit größten interdisziplinären Forschungsprojekte zum Thema Mumien weltweit. Das German-Mummy-Project ist eine Forschungsstelle im Curt-Engelhorn-Zentrum für Kunst- und Kulturgeschichte an den ReissEngelhorn-Museen in Mannheim und wird von der Curt-Engelhorn-Stiftung für die ReissEngelhorn-Museen getragen. Enge Kooperati-
Projektvorstellung
onen bestehen mit anderen großen Forschungseinrichtungen, z. B. mit der Europäischen Akademie in Bozen, Institut for the Iceman and Mummies (PD Dr. Albert Zink). Mannheim hat sich somit seit 2004 als bedeutender internationaler Mumienforschungsstandort etabliert. Zusammen mit einem internationalen Expertenteam aus unterschiedlichsten Fachgebieten, z. B. Anthropologen, Anatomen, Mediziner, Chemiker, Physiker, Biologen, Genetiker, und mithilfe modernster Methoden, z. B. Computertomografie, radiometrischer Datierung, DNA-, Drogen- und Kollagenisotopen-Analyse, werden die Untersuchungen durchgeführt. Notwendige Probenentnahmen bleiben auf ein Minimum beschränkt und erfolgen nur, wenn die Objekte dadurch keine sichtbaren Veränderungen erfahren. Zahlreiche interessante und überraschende Ergebnisse konnten bereits gewonnen werden.3 Zum Beispiel konnte erstmals sicher nachgewiesen werden, dass die Ägypter nicht, wie lange Zeit angenommen, die einzige Hochkultur waren, die Mumifizierung durch Einbalsamierung mit Naturharzen betrieben, sondern dass diese Methode auch in Altamerika angewandt wurde. Auf der Körperoberfläche der Mumie M3, einer peruanischen Kindermumie aus den Beständen der rem, wurden im UVLicht orange leuchtende Oberflächenbeläge sichtbar, welche sich in der Infrarot-Spektroskopie als pflanzliche Naturharzrückstände (Kopal) erwiesen. Besondere Einblicke und Erkenntnisse ergaben sich über die bildgebenden Verfahren bzw. die Auswertung der CT-Daten. Sehr interessant sind diesbezüglich die Analyseergebnisse zu einer präkolumbischen Frauenmumie (Mumie M2) aus den rem, welche mit der 14C-Methode in die Zeit von 1415 plus/minus 16 Jahre A.D. datiert wurde. ◊ Abb. 1 Die Mumie – sie entstand durch natürliche Konservierung unter trockenen Klimabedingungen – ist schon in ihrer äußerlichen Erschei-
Projektvorstellung
nung einzigartig. Ihre Unterarme und Hände sind über dem Bauch zusammengelegt. ◊ Abb. 2, Tafel 9 Die Unterschenkel sind so gekreuzt, dass die Fußsohlen jeweils seitlich unter dem Oberschenkel der Gegenseite liegen. Die Frau verstarb im Alter zwischen 30–50 Jahren und war etwa 156 Zentimeter groß. Sie hat einen typischen Turmschädel, der durch künstliche Bandagierung im Kindesalter entstanden sein muss. Innerhalb des Schädels befinden sich eingetrocknete Gehirnreste. Zu Lebzeiten sind einzelne Zähne ausgefallen, andere zeigen Spuren von Karies und Parodontose sowie einen deutlichen Abrieb. Letzteres spricht z. B. für einen hohen Maiskonsum, was sich auch mit den Ergebnissen der biochemischen Ernährungsanalyse (Kollagenisotopie) deckt.4 Die Analyse des Knochenbefundes zeigt außerdem, dass die Frau an einer Tuberkulose der Wirbelsäule erkrankt war. Entzündungen führten zu einer Zerstörung von Wirbelkörpern im Übergang vom Brust- zum Lendenwirbelbereich ◊ Abb. 3 und in weiterer Folge vermutlich zu einer Querschnittslähmung, welche auch die Todesursache gewesen sein könnte. Eine große Überraschung stellten Objekte in den geschlossenen Händen der Mumie dar, welche erst im CT sichtbar wurden. Es handelt sich um zwei gleichförmige, kaum ein Zentimeter große Gegenstände ◊ Abb. 4, Tafel 10. Anfänglich wurde vermutet, dass es sich um „Glücksbringer“ aus weicherem Metall (Gold/ Kupfer?) handeln könnte. Mit Hilfe des RapidPrototyping war es möglich, über die CT-Daten 1:1 Repliken der Objekte herzustellen, ohne die Hände der Frau öffnen zu müssen. ◊ Abb. 5 Die genaue Analyse der beiden Objekte ergab, dass es sich um Milchzähne eines oder zweier Kinder handelt. Warum die Frau mit den Zähnen in den Händen bestattet wurde, kann nicht gesagt werden. Auch wird wohl für immer verborgen bleiben, ob es sich um Zähne der leiblichen Kinder der Frau, die ihrer Enkel oder vielleicht anderer Kinder handelt.
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3: CT-Röntgenbild der Auflösung des elften Brustwirbels bei im Mumie M2, wahrscheinlich in Folge einer Tuberkuloseerkrankung.
4: CT-Röntgenbild mit Darstellung der beiden kleinen Objekte in den Händen der Mumie M2.
5: Über das Rapid-Prototyping erstellte Repliken der Kinderzähne aus den Händen der Mumie M2.
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Das German-Mummy-Project und seine Kooperationspartner untersuchen derzeit 40 Mumienfunde (Menschen und Tiere) aus Sammlungen verschiedener europäischer Museen und Universitätsinstitute und von unterschiedlicher geografischer Herkunft. Für die Zukunft sind weitere spannende und auch überraschende Erkenntnisse zu erwarten. Wilfried Rosendahl
Projektvorstellung
1 Alfried Wieczorek, Michael Tellenbach, Wilfried Rosendahl (Hg.): Mumien – der Traum vom ewigen Leben, Mainz 2007. 2 Alfried Wieczorek, Michael Tellenbach, Wilfried Rosendahl (Hg.): Mummies of the World, München 2010. 3 Frank Musshoff, Wilfried Rosendahl, Burkhard Madea: Determination of nicotine in hair samples of pre-Columbian mummies. In: Forensic Science International, Amsterdam 2009. S. 84–88; Christina Rütze, Joachim Burger: Phylogeographic identification of the origin of mummies. In: Abstract Volume. 1st Bolzano Mummy Congress, Mummies and Life Sciences, Bolzano 2009, S. 47f. 4 Hervé Bocheres: Keratinisotopie – Antworten zu Lebensraum und Ernährung. In: Wieczorek, Tellenbach, Rosendahl (s. Anm. 1), S. 235–238.
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Bildnachweis
Titelbild: Innentitel: Philipp Galle nach Marten van Heemskerck: Collage nach „Natura“, 1572 (The New Holstein Dutch & Flemish Etchings, Engravings and Woodcuts 1450–1700, Roosendaal 1994, S. 183). Editorial: © Hwa Ja Götz, MfN. Gördüren: 1, 2: Lisa Graziose Corrin, Mivon Kwon u. Norman Bryson: Mark Dion, London 1997, S. 67, S. 81. 3: Christiane Fricke: Fenster im Gehirn. Interventionen im musealen Kontext. In: Kunstforum International 144, 199, Seite 73f. 4, 5: Aufnahme Martin Frommhagen, Kiel. 6: Dirk Luckow, Petra Gördüren (Hg.): Dopplereffekt. Bilder in Kunst und Wissenschaft, Ausst.-Kat., Kunsthalle Kiel, Köln 2010. Schnalke, Atzl: 1, 2, 3, 4, 5, 6: Patrik Budenz, Berlin. 7: Christoph Weber, Berlin. Angel: 1, 2, 3: Wellcome Collection object number A784, A585, A629. Photographs author’s own, reproduced by permission of the Science Museum, London. Grave: 1: Martin von Wagner Museum der Universität Würzburg (Leihgabe des zoologischen Instituts der Julius-Maximilians-Universität Würzburg). 2:Würzburg, Mainfränkisches Museum, Foto: Photo Verlag Gundermann, Würzburg. Interview: 1: © Carola Radtke, MfN 2: © Hwa Ja Götz, MfN 3: © Carola Radtke, MfN. Faksimile: 1, 2, 3, 7: Robert Koch-Institut, Berlin. 4, 5, 6: Matthias Burba, 2011. Töppe: 1: Museum für Naturkunde der Humboldt-Universität zu Berlin (Hg.): Museum für Naturkunde. Die Ausstellungen, Berlin 2008, S. 95. Mühlenberend: 1: Thomas Schnalke: Diseases in Wax, München 1995, S. 81. 2: Le Cere del Museo dell’ Istituto Fiorentino di Anatomia Patologica, hg. v. Arnaud Editore, Florenz 1983, S. 45. 3: Le Cere del Museo dell‘ Istituto Fiorentino di Anatomia Patologica, hg. v. Arnaud Editore, Florenz 1983, S. 50. 4: Thomas Schnalke: Diseases in Wax, München 1995, S. 86. 5: Musée de l‘Hôpital Saint-Louis APHP. 6: Moulagenmuseum Universitätsspital und Universität Zürich. Cordez: 1: Bestiarium, Südengland, erste Hälfte des 13. Jahrhunderts, fol. 6v.. London, British Library, Harley 4751. ©The British Library Board. 2: Wie Abb. 1, fol. 15r. ©The British Library Board. 3: London, Victoria & Albert Museum. Aus Paul Williamson: Medieval Ivory Carvings. Early Christian to Romanesque, London 2010, S. 382. 4: wie Abb. 3, S. 384. 5: Paul Nicklen: Arctic Ivory: Hunting the Narwhal. In: National Geographic Magazine, 212/2, August 2007, S. 110–111. 6: wie Abb. 5, S. 124–125. Wiedergelesen I: 1: Thomas Henry Huxley: Evidence as to Man’s Place in Nature London 1863, Reprint New York 2009, Titelbild. 2: wie 1, Seiten 63 u. 66. 3: wie 1, Seite 101. Projektvorstellung: 1: W. Rosendahl, rem. 2: J. Christen, rem. 3, 4, 5: W. Rosendahl, rem. Bildtableau I: 1: Taxidermie zwischen Kunst & Natur. Tierpräparation im Museum, Museum für Naturkunde, Ausst.-Kat., Magdeburg 1994. 2: P. Hasluck: Manuel Pratique du NaturalisteEmpailleur. La Taxidermie à la portée de tous, Paris 1926, S. 13, Abb. 16. 3: R. Didier, A. Boudarel: L’Art de Taxidermie au XXe siècle. Recueil de Technique Pratique de Taxidermie pour Naturalistes Professionnels, Amateurs et Voyageurs, Paris 1921, Tafel XVI. 4: Cranach. Meisterwerke auf Vorrat – die Erlanger Handzeichnungen der Universitätsbibliothek. Bestands- und Ausstellungskatalog, Universitätsbibliothek Erlangen-Nürnberg u. a., hg. v. A. Tacke, Ausst.-Kat. Erlangen 1994, S. 359. 5: M. Browne: Practical Taxidermy. A Manual of Instruction to the Amateur in Collecting, Preserving, and Setting up Natural History Specimens of All Kinds, London 1884, S. 98, Abb. 23. 6: R. Piechocki, H.-J. Altner: Makroskopische Präparationstechnik. Leitfaden für das Sammeln, Präparieren und Konservieren, Teil I: Wirbeltiere, 5. Aufl., Jena 1998, S. 138, Abb. 72. 7: wie Abb. 6, S. 195, Abb. 88. 8: H. Dewitz: Anleitung zur Anfertigung und Aufbewahrung zootomischer Präparate für Studierende und Lehrer, Berlin 1886, Tafel IX. 9: M. Selmons (Hg.): Das Ausstopfen von Tieren und die Herstellung von Bälgen (Taxidermie und Dermoplastik), Handbuch für Naturaliensammler. Praktische Anleitung zum Fangen, Züchten, Konservieren und Präparieren von Naturkörpern sowie zur Einrichtung von Sammlungen, Bd. 1, 3. Aufl., Berlin 1925, S. 84f. 10: Zoologische Lehrsammlung, Institut für Biologie, Humboldt-Universität zu Berlin, Inv.-Nr. 21.5.15.0-2. 11: wie Abb. 3, Tafel XXXII. 12: wie Abb. 5, S. 169, Tafel IV. 13: wie Abb. 3, S. 42, Abb. 52. 14: © Wim Delvoye, 2011. 15: Kunstkammer St. Petersburg,
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Bildnachweis
Inv.-Nr. 4070-2. 16: Deutsches Kunstarchiv im Germanischen Nationalmuseum, Nürnberg, Nachlass Gabriel von Max, I, B-45, und Städtische Galerie im Lenbachhaus, München, Inv.-Nr. 18402/424. 17: © VG Bildkunst, Bonn 2011. 18: Frederik Ruysch: Thesaurus Animalium Primus, Amsterdam 1710, Tafel VII. 19: http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Datei:Soleier-RZ1.jpg&filetimesta mp=20110122162407 (Stand: 01/2012), Foto: Rainer Zenz. 20: Foto: Felix Jäger. 21: © UCL Learning & Media Services, All Rights Reserved. 22: Museum für Naturkunde, Leibniz-Institut für Evolutionsund Biodiversitätsforschung an der Humboldt-Universität zu Berlin, Sammlung Marine Wirbellose, Katalognummer: ZMB Ech 1021. 23: C. Woodward, R. Harding: Edelsteine, München/Wien/Zürich 1994, S. 44, Abb. 108. 24: Charité-Universitätsmedizin Berlin, CCM, Centrum für Anatomie, Inv.-Nr. ANA2007/513, Foto: Eberle & Eisfeld Berlin. 25: Pathologisch-anatomisches Bundesmuseum, Foto: E. Reinberger. 26: M. Münzel, Museum für Völkerkunde, Frankfurt a. M. (Hg.): Schrumpfkopf-Macher? Jíbaro-Indianer in Südamerika, Frankfurt a. M. 1977, S. 236, Abb. 275, Foto: C. Bianchi. 27: Archiv Livrustkammaren Stockholm. 28: Albert Fürst von Thurn und Taxis, Fürstliche Museen Regensburg, Foto: Clemens Mayer. 29: wie Abb. 2, S. 53, Abb. 43. Bildtableau II: 1: Tschechische Nationalbibliothek, MS XIV A 17, fol. 3v. 2: Institut für Geschichte der Medizin der Universität Erlangen-Nürnberg, Foto: Thomas Schnalke. 3: wie Tableau I, Abb. 3, S. 13, Abb. 1–15. 4: G. Klein (Hg.): Das Buch der Chirurgia des Hieronymus Brunschwig (Alte Meister der Medizin und Naturkunde in Facsimile-Ausgaben und Neudrucken nach Werken des 15.–18. Jahrhunderts, Bd. 3), München 1911. 5: http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/0/06/Anubis_attending_ the_mummy_of_Sennedjem.jpg (Stand: 01/2012). 6: P. G. Peabody: Dr. Peabody’s Bericht über Treiben und Ausdehnung der Vivisektion in verschiedenen Ländern, gegründet auf Selbsterlebtes, übersetzt von F. Hummel, Reutlingen 1896, S. 29. 7: wie Tableau I, Abb. 6, S. 151, Abb. 78. 8: wie Tableau I, Abb. 6, S. 81, Abb. 33. 9: © Universal Pictures. 10: Städtische Galerie im Lenbachhaus, München (unbefristete Leihgabe der Ernst von Siemens Kunststiftung), Inv.-Nr. FH 551. 11: Archiv des Naturkunde-Museums Leipzig. 12: wie Tableau I, Abb. 26, S. 231, Abb. 266. 13: H. Bretschneider: Der Streit um die Vivisektion im 19. Jahrhundert. Verlauf – Argumente – Ergebnisse, Stuttgart 1962, S. 32–33, Abb. 8. 14: R. Didier, R., A. Boudarel: L’Art de la Taxidermie au XXe Siècle, Ausgabe Paris 1948, Frontispiz. 15: Germanisches Museum Nürnberg. 16: Lorraine Daston, Katharine Park: Wunder und die Ordnung der Natur, Frankfurt a. M. 2002, S. 99. 17: wie Tableau I, Abb. 6, S. 285, Abb. 124. 18: Herzog Anton Ulrich-Museum Braunschweig, Inv.-Nr. W. Hogarth AB 3.72, Foto: Jutta Streitfellner. 19: E. Bade: Naturwissenschaftliche Sammlungen. Das Sammeln, Pflegen und Präparieren von Naturkörpern, Berlin 1899, S. 139, Abb. 48. 20: P. L. Martin: Die Praxis der Naturgeschichte. Zweiter Theil. Dermoplastik und Museologie, Weimar 1870, o. S., Tafel VI. 21: Biblioteca Ambrosiana. 22: Deutsches Bundesarchiv, Bild 102-01060. Foto: Georg Pahl. 23: wie Tableau I, Abb. 6, S. 74, Abb. 36. 24: wie Abb. 19, S. 97. 25: Das Vaterland. Wochenblatt für das sächsische Volk. Organ des konservativen Landesvereins und sämtlicher Vereine im Königreich Sachsen, 15. (21.) Jg., Nr. 51, 19. Dezember 1903, S. 814. 26: A. Ortleb, G. Ortleb: Der Naturaliensammler. Illustrierte Anleitung zum Sammeln, Präparieren und Aufbewahren von Eiern, Käfern, Schmetterlinge, Raupen, Conchylien, Pflanzen, Samen, Hölzern, Mineralien u. Petrefakten, Berlin 1901, S. 117, Abb. 67. 27: Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Gemäldegalerie, Inv.-Nr. 1724. 28: wie Tableau I, Abb. 6, S. 34, Abb. 4. 29: © Universal Pictures. 30: wie Tableau I, Abb. 6), S. 385, Abb. 143.
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Die AutorInnen
Gemma Angel PhD University College London Isabel Atzl M.A. Historikerin und freischaffende Ausstellungskuratorin Matthias Burba Freischaffender Kurator und Mikroskopiker Dr. Philippe Cordez Kunsthistorisches Institut in Florenz Prof. Dr. Eve-Marie Engels Eberhard Karls Universität Tübingen Jürgen Fiebig Museum für Naturkunde zu Berlin Petra Gördüren Freischaffende Kunsthistorikerin und Kuratorin, Berlin Dr. Johannes Grave Deutsches Forum für Kunstgeschichte, Paris Dorothea Heinz Institut d‘études politiques de Paris, Sciences Po, Paris Prof. Dr. Bruno Latour Institut d‘études politiques de Paris, Sciences Po, Paris Dr. Rachel Mader Züricher Hochschule der Künste Dr. Sandra Mühlenberend Stiftung Deutsches Hygiene-Museum, Dresden Prof. Dr. Hans Ulrich Reck Kunsthochschule für Medien, Köln Dr. Wilfried Rosendahl Reiss-Engelhorn-Museen Mannheim Prof. Dr. Thomas Schnalke Berliner Medizinhistorisches Museum der Charité Li Töppe M.A. Institut der Geschichte der Medizin, Charité und ZfL, Berlin Hanns Zischler Independent scholar, Berlin
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1: Arma Christi, aus der Passion der Äbtissin Kunigunde, 1320–1330. 2: Antike chirurgische Instrumente. 3: Werkzeuge zur Häutung und Leerung von Eiern, 1921. 4: Frühneuzeitliche chirurgische Instrumente, aus Hieronymus Brunschwigs Buch der Chirurgia, Straßburg 1497. 5: Der ägyptische Gott Anubis als himmlischer Balsamierer, um 1200 v. Chr. 6: Die Aufhängung eines Pferdes zur Vivisektion, Ecole Vétérinaire Alfort, 1895. 7: Handhabung der Knochensäge beim Öffnen eines Schildkrötenpanzers. 8: Einlagen für Schwanzhüllen von Kleinsäugern und Vögeln für Dermoplastiken. 9: Alfred Hitchcock: Psycho, Setfoto, USA 1960. 10: Gabriel von Max: Der Vivisektor, 1883. 11: Präparator Hermann ter Meer mit Walrosspräparat, o. J. 12: Jíbaro-Indianer bei der Herstellung eines Schrumpfkopfes, o. J. 13: Vivisektion eines Menschen durch Tiere, Karikatur aus „Fliegende Blätter“, 19. Jh. 14: Präparierter Elefant als Attraktion, 1817. 15: Apothekenraum mit präpariertem Krokodil, 16. Jh. 16: Präpariertes Krokodil
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über dem Beichtstuhl einer Kapelle in Oiron, 16. Jh. 17: Vergleich von Raubtier-Skelettteilen in einem Knochenalphabet. 18: William Hogarth: The Five Orders of Perriwigs, 1761. 19: Schematische Darstellung eines Apparats zur Pflanzentrocknung, 1899. 20: Schrankentwurf für eine zoologische Sammlung, 1870. 21: Haarlocke der Lucrezia Borgia, montiert von Alfredo Ravasco, 1928. 22: Eröffnung der 3. deutschen Jagdausstellung im Museum für Naturkunde zu Berlin, 1925. 23: Menschenbandwurm, montiertes Exemplar mit 832 Gliedern. 24: Anleitung zum Bau eines Schmetterlingskastens, 1899. 25: Zeitschriftenannonce für präparierte Palmen, 1903. 26: Befestigung eines präparierten Pflanzenzweiges. 27: Pieter de Ring: Stillleben mit Fasan, 1652. 28: Aufbewahrung von fixiertem, anatomischem Material in einem Kunststoffbeutel. 29: Mary Harron: American Psycho, Standbild, USA 2000. 30: Korrosionspräparat der arteriellen Blutgefäße einer Antilopen-Niere.
Bildwelten des Wissens Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik. Band 9,1
Präparate Herausgeber Prof. Dr. Horst Bredekamp, Dr. Matthias Bruhn, Prof. Dr. Gabriele Werner Verantwortlich für diesen Band Jutta Helbig M.A. Redaktion Das Technische Bild Tableaus Judith Berganski, Felix Jäger, Dennis Jelonnek, Rahel Schrohe, Theresa Stoß, Jane Beran Lektorat Rainer Hörmann Layout Dr. Birgit Schneider, Andreas Eberlein Satz Judith Berganski, Dennis Jelonnek & aroma, Berlin Druck MB Medienhaus Berlin Adresse der Redaktion Humboldt-Universität zu Berlin Hermann von Helmholtz-Zentrum für Kulturtechnik Das Technische Bild Unter den Linden 6 10099 Berlin [email protected] Fon: +49 (0) 30 2093-2731, Fax: -1961 ISSN 1611-2512 ISBN 978-3-05-005088-1 © Akademie Verlag, Berlin 2012 www.akademie-verlag.de Das Jahrbuch „Bildwelten des Wissens“ erscheint jährlich in 2 Teilbänden. Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen.