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German Pages 352 Year 2014
Florian von Rosenberg Bildung und Habitustransformation
Theorie Bilden | Band 21
Editorial Die Universität ist traditionell der hervorragende Ort für Theoriebildung. Ohne diese können weder Forschung noch Lehre ihre Funktionen und die in sie gesetzten gesellschaftlichen Erwartungen erfüllen. Zwischen Theorie, wissenschaftlicher Forschung und universitärer Bildung besteht ein unlösbares Band. Auf diesen Zusammenhang soll die Schriftenreihe Theorie Bilden wieder aufmerksam machen in einer Zeit, in der Effizienz- und Verwertungsimperative wissenschaftliche Bildung auf ein Bescheidwissen zu reduzieren drohen und in der theoretisch ausgerichtete Erkenntnis- und Forschungsinteressen durch praktische oder technische Nützlichkeitsforderungen zunehmend delegitimiert werden. Der Zusammenhang von Theorie und Bildung ist in besonderem Maße für die Erziehungswissenschaft von Bedeutung, da Bildung nicht nur einer ihrer zentralen theoretischen Gegenstände, sondern zugleich auch eine ihrer praktischen Aufgaben ist. In ihr verbindet sich daher die Bildung von Theorien mit der Aufgabe, die Studierenden zur Theoriebildung zu befähigen. Die Reihe Theorie Bilden ist ein Forum für theoretisch ausgerichtete Ergebnisse aus Forschung und Lehre, die das Profil des Faches Erziehungswissenschaft, seine bildungstheoretische Besonderheit im Schnittfeld zu den Fachdidaktiken, aber auch transdisziplinäre Ansätze dokumentieren. Die Reihe wird herausgegeben von Hannelore Faulstich-Wieland, HansChristoph Koller, Karl-Josef Pazzini und Michael Wimmer, im Auftrag des Fachbereichs Erziehungswissenschaft der Universität Hamburg.
Florian von Rosenberg
Bildung und Habitustransformation Empirische Rekonstruktionen und bildungstheoretische Reflexionen
Zugl. Dissertation, Helmut-Schmidt-Universität Hamburg
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Inhalt
1.
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11
2.
Der bildungstheoretische Referenzrahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17
2.1.
Das existenziell-phänomenologische Projekt: Der Entwurf einer strukturalen Bildungstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18
2.2.
Das habitustheoretische Projekt: Transitorische Bildungsprozesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24
2.3.
Das diskurstheoretische Projekt: Widerstreitende und ambivalente Bildungsprozesse . . . . . . . . . . . . . . . . . 32
2.4.
Das pragmatistisch-wissenssoziologisch orientierte Projekt: Bildung und Spontaneität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .44
2.5.
Bildungstheoretische Anschlusslinien: Die Vorgängigkeit der Sprache, die Orientierung an a-theoretischen Wissensmustern und der Anschluss an eine Theorie der Praxis. . . . . . . . 53
3.
Ausarbeitung einer praxeologischen Bildungstheorie . . . . . . . . . 57
3.1.
Zwischen Bildungstheorie und Bildungsforschung: Zum Unterschied zwischen Metatheorie und Gegenstandstheorie . . . . . 58
3.2.
Das bildungstheoretische Problem der Rekonstruktion von gesellschaftlichen Strukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .60
3.2.1. Der Begriff des Feldes als Anschluss an genuin gesellschaftstheoretische Fragestellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 3.3.
Der Habitus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70
3.3.1. Zur Möglichkeit von Habitustransformationen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 3.4.
Die ethische Dimension von Bildung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83
3.5.
Zwischenbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89
4.
Zum methodologischen Verhältnis von Bildungstheorie und empirischer Bildungsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91
4.1.
Der methodologische Rahmen der rekonstruktiven Sozialforschung . . . .94
4.2.
Habitusrekonstruktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95
4.3.
Dokumentarische Interpretation narrativer Interviews . . . . . . . . . . . . . . .99
4.4.
Feldrekonstruktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103
4.5.
Perspektiven für die dokumentarische Interpretation von Diskursen und Feldern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106
4.6.
Zur Rekonstruktion von Praktiken zwischen Habitus und Feld . . . . . . . . .115
5.
Empirische Rekonstruktionen von Bildungsprozessen als Wandlungen des Habitus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .117
5.1.
Die semantische Form der Interviews: Der modus operandi der Nonkonformität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118
5.2.
Der Fall Niklas Behrend . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125
5.3.
Der Fall Sebastian Christophsen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147
5.4.
Der Fall Pierre Walters. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160
5.5.
Phasentypik von Bildungsprozessen als Wandlungen des Habitus . . . . . 179
5.6.
Der Wandel des modus operandi der Nonkonformität vor dem Hintergrund der Semantischen Form der Interviews . . . . . . . . . . . . . . . . 188
6.
Feldrekonstruktion innerhalb der Praxisform der Nonkonformität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193
6.1.
18. und 19. Jahrhundert: Die Entwicklung von Praktiken der Normierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194
6.2.
Erste Hälfte des 20. Jahrhunderts: Die Durchsetzung von Normierungspraktiken Im Feld der fordistischen Arbeits- und Organisationspraktiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196
6.3.
Zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts: Die Kritikformen der Nonkonformität und das Entstehen von postbürokratischen Arbeits- und Organisationspraktiken . . . . . . . . . . . 201
6.4.
Bezüge zwischen Feld- und Habitusrekonstruktion . . . . . . . . . . . . . . . . . 205
6.5.
Die Ambivalenz von Bildungsprozessen im Horizont von Flexibilisierungsprozessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210
7.
Empirische Rekonstruktionen von Bildungsprozessen als Transformationen des Habitus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217
7.1.
Der Fall Svetlana Chruchot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218
7.2.
Der Fall Jan Bosch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243
7.3.
Der Fall Christiane Othmar. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264
7.4.
Phasentypik von Bildungsprozessen als Transformationen des Habitus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279
7.5.
Theoretische und empirische Differenzierungen von Wandlungs- und Transformationsprozessen des Habitus vor dem Hintergrund der empirischen Rekonstruktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285
8.
Feldrekonstruktionen innerhalb der Praxisformen der Technologien des Selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287
8.1.
18. Jahrhundert: Das Entstehen einer moralisch-souveränen Praxis im Feld der Technologien des Selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289
8.2.
19. Jahrhundert: Die kulturelle Gegenbewegung der Romantik und das Entstehen einer ästhetisch-expressiven Praktik im Feld der Technologien des Selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292
8.3.
Erste Hälfte des 20. Jahrhunderts: Organisierte Moderne und die Durchsetzung von visuellen und konsumtorischen Praktiken im Feld der Technologien des Selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294
8.4.
Zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts: Postmoderne und die Durchsetzung von individualästhetischen Praxisformen . . . . . . . . . 297
8.5.
Bezüge zwischen Feld- und Habitusrekonstruktion . . . . . . . . . . . . . . . . . 299
8.6.
Eine doppelte historische Verortung: Bildungsprozesse zu Beginn des 21. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . 302
9.
Bildung als Habitustransformation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305
10.
Appendix . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327
11.
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333
Danksagung
Für die Unterstützung meiner Arbeit möchte ich folgenden Personen danken: Hans-Christoph Koller, Ralf Bohnsack, Angelika & Helga von Rosenberg, Burkhard Müller, Sarah Thomsen, Marie Kaul, Lars Erbach sowie den Interviewten. Besonders bedanken möchte ich mich bei ArndMichael Nohl, der diese Arbeit von Beginn an unterstützt und begleitet hat.
1. Einleitung
Sicher auch vor dem Hintergrund der empirischen Wende (vgl. Roth 1961) in der Erziehungswissenschaft haben sich in den letzten zwei Jahrzehnten Versuche herausgebildet, einen philosophisch fundierten Bildungsbegri¤ empirisch anschlussfähig zu machen. Ziel war dabei der avancierte Versuch, Bildungsphilosophie und empirische Bildungsforschung in ein fruchtbares Wechselverhältnis zu stellen (vgl. Marotzki 1990; Koller 1999; Nohl 2006).1 Als ein Einsatzpunkt kann in diesem Zusammenhang die Habilitationsschrift von Winfried Marotzki (1990) gesehen werden. Bildung – und daran soll in der Folge angeschlossen werden – wird hier als die TransforDer Versuch, „komplexe Erziehungswissenschaft jenseits von empirieloser Theorie und theorieloser Empirie“ (Vogd 2005, S. 112; Bohnsack 2003b) zu betreiben, hat sich bezüglich des Bildungsgedankens als produktiv erwiesen. Verschiedene Autoren (vgl. Marotzki 1990, Koller 1999, Nohl 2006, Lüders 2007) versuchen und versuchten dabei, empirische und theoretische Arbeitstechniken zu relationieren, um Bildungstheorie und empirische Bildungsforschung in ein fruchtbares Wechselverhältnis zu bringen. Metatheoretische Ausgangsüberlegungen können in diesem Sinne als Leitunterscheidungen für Forschungsvorhaben gesehen werden, wohingegen aus einer Haltung der Sensibilität für die Widerständigkeit des empirischen Materials neue Anregungen für Theoriebildungen entstehen können. Theorien erscheinen so zunächst als leitende Kategorien der Rekonstruktion, welche in der empirischen Auseinandersetzung jedoch dann gleichermaßen dekonstruiert werden, wodurch aus einer kritischen Suchbewegung heraus sich eine Theorie neu konstituieren kann. In diesem Sinne sind metatheoretische Ausarbeitungen, Problem- und Fragestellungen ebenso wichtig wie methodische Einsicht, Forschungserfahrungen und ein sich entwickelnder Blick für empirische Materialien. Die empirische Arbeit wird in diesem Sinne als Möglichkeit der Theoriegenerierung (Glaser/Strauss 1998; Bohnsack 2003; Kelle 1994; Kaltho¤/Hirschhauer/Lindemann 2008) gesehen, und umgekehrt kann die theoretische Arbeit bei einer Empiriegenerierung helfen. Diese Gedanken werden nochmals im 4. Kapitel aufgenommen. 1
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BILDUNG UND HABITUSTRANSFORMATION
mation von Selbst- und Weltverhältnissen verstanden. Damit ergibt sich eine Di¤erenzierung zum Lernbegri¤. Während Lernen als ein Wissenszuwachs und damit als eine Veränderung innerhalb einer Orientierung gesehen wird, stellt Bildung die Transformation dieser Orientierung dar (vgl. Marotzki 1990, S. 32–54). Der so verstandene Bildungsbegri¤ ist, im Gegensatz zu anderen Ausarbeitungen, in doppelter Weise anschlussfähig. Einerseits ist ein sich auf die Transformation von Selbst- und Weltverhältnissen beziehender Bildungsbegri¤ bestimmt und gleichzeitig unbestimmt genug, um hieran empirische Ausarbeitungen anzuschließen, andererseits bietet er mannigfaltige Bearbeitungsmöglichkeiten für bildungstheoretische Problemstellungen. So zeigt sich auch bei den bisherigen Ausarbeitungen, welche sich um eine Relationierung von Bildungstheorie und empirischer Bildungsforschung bemühten, ein vielfältiges Spektrum bildungstheoretischer Einsatzpunkte. Von existenziell-phänomenologischen (Marotzki 1990), diskurstheoretischen (Koller 1999; Lüders 2007) über habitustheoretische (Alheit 1992; Herzberg 2004) und pragmatistisch-wissenssoziologische Ansätze (Nohl 2006) zeigt sich ein lebhafter Diskurs darüber, wie die Transformationen von Selbst- und Weltverhältnissen zu denken und empirisch zu erforschen sind. Diesen Diskurs darzustellen ist das Anliegen des zweiten Kapitels. Im ersten Teil des Kapitels sollen zunächst die Di¤erenzen der Bildungsbegri¤e anhand der unterschiedlichen Modellierung von Sinnproduktion, Sinnreproduktion und Sinntransformation untersucht werden. Im zweiten Teil des Kapitels werden dann stärker die Homologien der unterschiedlichen Ansätze in den Blick genommen. Vorgeschlagen wird, den Diskurs anhand von zwei sich teilweise überlappenden Linien zu rekonstruieren. Eine erste Linie bemüht sich, in unterschiedlicher Art und Weise von dem Gedanken einer Vorgängigkeit der Sprache ausgehend, um die Relationierung von Bildungstheorie und Bildungsforschung, während eine zweite Linie das gleiche Projekt stärker aus einer Orientierung auf a-theoretisch routinisiert verankerte Wissensmuster fo kussiert. Ein eigener bildungstheoretischer Ausgangspunkt wird dann im dritten Kapitel gesucht. Die Transformation von Selbst- und Weltverhältnissen soll hier aus der Perspektive einer Theorie der Praxis bearbeitet werden (vgl. Bourdieu 1979; Reckwitz 2000). Zentrale Referenz hierfür ist die Arbeit des französischen Soziologen Pierre Bourdieu.
EINLEITUNG
Mit seiner Theorie der Praxis startet Bourdieu (vgl. 1979) den Versuch, Subjektivismen und Objektivismen zu unterlaufen. Subjektivistische Erkenntnisformen, zu denen er vornehmlich die Phänomenologie und die Ethnomethodologie der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zählt, kritisiert er für ihren fehlenden Bruch gegenüber den primären Erfahrungen von sozialen Akteuren. Die subjektivistische Erkenntnisform nimmt so nur das „krud Gegebene“ (Bourdieu 1979, S. 150) in den Blick, die gesellschaftlichen Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis werden jedoch vernachlässigt. Anders Bourdieus Kritik an der objektivistischen Erkenntnisform, zu der er vor allem die Soziologie Durkheims und den Strukturalismus Lévi-Strauss’ zählt. Der Objektivismus vollzieht zwar den Bruch mit den primären Erfahrungen der Akteure, dabei werden jedoch die Konstruktionsarbeiten der Akteure derart vernachlässigt, dass Handlungen nur noch als determinierte Ableitungen aus gesellschaftlichen Strukturen erscheinen. Der subjektivistischen und der objektivistischen Erkenntnisform stellt Bourdieu eine praxeologische gegenüber, welche als maßgebend für eine Theorie der Praxis bestimmt wird. Die praxeologische Erkenntnisweise will die Defizite und Einseitigkeiten der phänomenologischen und objektivistischen Erkenntnisweise überwinden und trotzdem ihre Errungenschaften bewahren. Geschehen soll dies durch einen doppelten Bruch. Aus phänomenologischer Perspektive soll mit der primären Erfahrung gebrochen werden, um eine notwendige Distanz zum Objekt zu erhalten und der Illusion einer unmittelbaren Erkenntnis zu entgehen. Aus objektivistischer Perspektive soll die primäre Erfahrung wieder eingeführt werden, um damit die eigenständige Konstruktionsarbeit der Akteure berücksichtigen zu können. Für den Anschluss einer Bildungstheorie an eine Theorie der Praxis im oben genannten Sinne ergibt sich damit ein doppelter Anspruch: Einerseits geht es darum, einen Bildungsbegri¤ auszuarbeiten, der die ‚objektiven‘ gesellschaftlichen Bedingungen der Möglichkeit von Bildung in den Blick nimmt, ohne dabei andererseits die ‚subjektiven‘ Konstruktionsleistungen von Akteuren zu vernachlässigen. Ein gängiges Mittel, sich diesen Problemstellungen zu begegnen, besteht in der Nutzung des Habituskonzeptes (vgl. Alheit 1992; Herzberg 2004). Der Habitus wird gemeinhin als ein Vermittlungsprinzip zwischen gesellschaftlichen Strukturen und Konstruktionsleistungen von
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BILDUNG UND HABITUSTRANSFORMATION
Akteuren gesehen. Durch Inkorporierung gesellschaftlicher Strukturen entsteht ein Habitus, der als Generierungsprinzip für Denk-, Fühl-, Wahrnehmungs- und Handlungsleistungen gesehen werden kann. Bezogen auf die Transformation von Selbst- und Weltverhältnissen wird mit dem Habitus angezeigt, dass Selbst- und Weltverhältnisse immer schon gesellschaftlich vorstrukturiert sind und dass es in diesem Sinne keine Instanz außerhalb dieser geben kann. Bildung kann vor diesem Hintergrund, wie Alheit (1992, S. 48) ausführt, „nicht allein als Vorgang ‚interner‘ Verarbeitung der Subjekte“ begri¤en werden, sondern muss „auch als ‚Kommunikation‘ mit strukturellen Bedingungen“ gesehen werden. Die damit einhergehende Zurückweisung der autonomen Instanz eines (Bildungs-)Subjektes, welches sich gewissermaßen über die gesellschaftlichen Bedingungen erhebt, hat Bourdieu von Kritikern oft den Vorwurf eingebracht, mit dem Habitus ein bloß deterministisches Konzept entworfen zu haben. Bourdieu, so die Kritik, könne zwar äußerst plausibel die Reproduktion gesellschaftlicher Verhältnisse beschreiben, seine Theorie biete jedoch keine Kapazität, die Transformation von gesellschaftlichen Verhältnissen zu fassen (vgl. beispielhaft Reckwitz 2000, S. 341 f.). Für die Bemühung, die Transformation von Selbst- und Weltverhältnissen im Anschluss an Bourdieu aus der Perspektive einer Theorie der Praxis auszuarbeiten, ist dies ein fataler Befund. Legt er doch den Verdacht nahe, mit dem Habitus gar keine Transformations-, sondern nur Reproduktionsverhältnisse beschreiben zu können. Dass die Habitustheorie jedoch nicht auf diese deterministische (Fehl-)Lektüre festgelegt, sondern dass das Habituskonzept bildungstheoretisch anschlussfähig ist, möchte ich in diesem dritten Kapitel darlegen.2 Im Zentrum wird hier die Frage stehen, wie die Transformation eines Habitus denkbar ist. Dem eingangs formulierten Anspruch, im Sinne einer Theorie der Praxis eine praxeologische Bildungstheorie auszuarbeiten, bei der einerseits die gesellschaftlichen Bedingungen der Möglichkeit von Bildung in den Blick genommen und andererseits die Konstruktionsleistungen der Akteure nicht vernachlässigt werden, ist mit dem Habituskonzept allerdings noch nicht ganz entsprochen. Zwar können mit dem Habituskonzept gesellschaftliche Strukturen vermittelt in den Blick genommen wer2 Damit schließe ich an andere Versuche an, Bourdieus Theorie der Praxis in einem explizit bildungstheoretischen Sinne fruchtbar zu machen (vgl. Koller 2002; Rieger-Ladich 2005).
EINLEITUNG
den; die gesellschaftlichen Bedingungen der Möglichkeit von Bildung gelangen jedoch nur halb in den Blick, insofern der Habitus sich vor allem auf die Aneignungs- und Konstruktionsleistungen von Akteuren bezieht. Hier zeigt sich ein Problem, das ich bildungstheoretisch mit dem Begri¤ der Weltvergessenheit fassen möchte. In den bildungstheoretischen Überlegungen des dritten Kapitels wird deutlich werden, dass der Diskurs um eine empirisch informierte Bildungstheorie bisher die systematische Rekonstruktion von gesellschaftlichen Strukturen und damit von sozialer Welt weitestgehend vernachlässigt hat. Programmatisch wird dies deutlich an der gegenüber dem Habitusbegri¤ weitestgehend vernachlässigten Auseinandersetzung mit dem Feldbegri¤. Sind für Bourdieu Praktiken immer nur als ein Zusammenspiel von Habitus und Feld und damit als Relation von subjektiven und objektiven Strukturen denkbar (vgl. Bourdieu/Wacquant 1996, S. 24 ¤.), sind eigenständige Kategorien für objektive Strukturen im Diskurs um eine empirisch fundierte Bildungstheorie bisher auf den Ebenen der Theorie, der Methodologie und der Empirie wenig ausgearbeitet worden. Zwar wurde bisher das Verhältnis der Transformation von Selbst- und Weltverhältnissen theoretisch gefasst und empirisch untersucht, was jedoch fehlt, ist meiner Meinung nach ein Anschluss dieser Untersuchungen an eine empirisch gehaltvolle Gesellschaftstheorie. Um diesen Anschluss herzustellen, führe ich auf einer bildungstheoretischen Ebene im dritten Kapitel neben einem bildungstheoretisch gelesenen Habituskonzept den Feldbegri¤ ein, um so die Transformation von Selbstund Weltverhältnissen durch ein empirisch anschlussfähiges Konzept von sozialer Welt zu ergänzen. Ist mit einem Praxisbegri¤ aus der Kombination von Habitus und Feld ein bildungstheoretischer Anschluss gescha¤en, um die Transformation von Selbst- und Weltverhältnissen aus der Perspektive von gesellschaftlichen Strukturen sowie aus der Perspektive des Umgangs von Akteuren mit diesen gesellschaftlichen Strukturen zu fassen, fehlt für eine empirische Umsetzung dieses bildungstheoretischen Gedankenguts eine entsprechende methodologische Ausarbeitung. Im vierten Kapitel wird deshalb versucht, auf das methodologische Verhältnis von Bildungstheorie und empirischer Bildungsforschung einzugehen, um, hieran anschließend, eine Methodenkombination zwischen Habitus- und Diskursforschung vorzuschlagen, welche gleichermaßen die Aneignung von gesellschaftlichen Strukturen als auch die
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BILDUNG UND HABITUSTRANSFORMATION
Eigenlogik gesellschaftlicher Strukturen in den Blick nimmt. Dabei wird sich die praxeologische Wissenssoziologie (vgl. Bohnsack 2003) als Ausgangspunkt für die methodologischen Überlegungen zu einer praxeologischen Bildungstheorie herausstellen, von dem aus dann das Verhältnis von Habitusrekonstruktion und Diskursrekonstruktion gedacht wird. In den Kapiteln fünf bis acht folgen empirische Ausarbeitungen, welche das beschriebene Verhältnis von Bildung zwischen Habitus und Feld in den Blick zu nehmen versuchen. Dabei stehen die empirischen Fragen im Vordergrund, wie sich ein Habitus wandeln beziehungsweise transformieren kann und in welchem Verhältnis die gemachten Bildungsprozesse zu gesellschaftlichen Strukturierungen stehen. Empirisch kann hier herausgearbeitet werden, wie sich Bildungsprozesse als Wandlungen eines Habitus vornehmlich auf die Transformation einer Habitusdimension beziehen, während die Bildungsprozesse, die im Zusammenhang mit einer Transformation des Habitus stehen, konstitutiv mehrdimensional angelegt sind. Weiter zeigen die Feldrekonstruktionen, welche sich auf gesellschaftliche Eigenlogiken beziehen, die mit den rekonstruierten Biographien korrespondieren, dass die Bildungsprozesse immer unter dem Signum einer ästhetisch-ökonomischen Doublette zu interpretieren sind. Während einerseits die Bildungsprozesse mit ästhetischen Ausdrücken des Selbstausdrucks in Verbindung standen, erwiesen sich andererseits neben den damit angezeigten ästhetischen Strukturen immer auch ökonomische Strukturen der Flexibilisierung und Selbstmobilisierung als konstitutiv für die gemachten Bildungsprozesse. Gemäß dem Anspruch einer empirisch informierten praxeologischen Bildungstheorie zeigt sich damit in den Kapiteln fünf bis acht in den Bildungsprozessen ein Wechselspiel zwischen Habitus- und Feldstrukturen. Dieses Wechselspiel vor dem Hintergrund der empirischen Ausarbeitungen nochmals bildungstheoretisch zu reflektieren und, hieran anschließend, Perspektiven für weitere Ausarbeitungen einer empirisch fundierten praxeologischen Bildungstheorie anzuzeigen, ist das Ziel des abschließenden neunten Kapitels.
2. Der bildungstheoretische Referenzrahmen
Einleitend wurden in Bezug auf die Bearbeitung des Bildungsbegri¤es zwei Aspekte genannt, die für diese Arbeit wichtig sind: einerseits der Versuch, Bildungstheorie und empirische Bildungsforschung zu relationieren, andererseits die Di¤erenzierung von Lern- und Bildungsprozessen. Während Lernprozesse hier als Wissenszuwachs innerhalb eines Orientierungsrahmens gekennzeichnet wurden, verweisen Bildungsprozesse auf die Transformation eines Orientierungsrahmens, welche mit Marotzki auch als die Transformation von Selbst- und Weltverhältnissen gefasst werden kann. Die Engführung von Bildung als Transformationsprozess führt zu zentralen bildungstheoretischen Problemlagen. Es fragt sich nämlich, wie Selbst- und Weltverhältnisse einerseits metatheoretisch zu konzeptionalisieren und andererseits empirisch zu rekonstruieren sind. Trotz unterschiedlicher Herangehensweisen an das Problem kann im bildungstheoretischen Diskurs ein Konsens dahingehend festgestellt werden, dass von einer sinnhaften Konstitution der Welt ausgegangen werden kann. Dementsprechend sind bildungstheoretische Referenztheorien, egal ob hermeneutischer, phänomenologischer, pragmatistischer, konstruktivistischer, semiotischer, systemtheoretischer oder auch (post-) strukturalistischer Provenienz, immer auch Theorien, in denen es in unterschiedlicher Art und Weise um eine Sinn- oder Bedeutungskonstitution geht. Dabei wird davon ausgegangen, dass es einen grundlegenden Unterschied zu naturwissenschaftlichen Herangehensweisen gibt, welcher in der Bescha¤enheit des Untersuchungsgegenstandes begründet liegt. Während der Untersuchungsgegenstand der Geistes- und Sozialwissenschaft meist selbst Bedeutungen und Sinn produziert, befassen sich die Naturwissenschaften mit ihrem Untersuchungsgegenstand los-
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BILDUNG UND HABITUSTRANSFORMATION
gelöst von einer möglichen Sinnproduktion. Bei den Geistes- und Sozialwissenschaften kommt es im Unterschied zur Naturwissenschaft zu einer „doppelten Hermeneutik“ (Giddens 1997, S. 49), bei der es um ein Interpretieren von selbst interpretierenden Akteuren geht. Kann dies als ein geteilter methodologischer Referenzrahmen im Diskurs um einen modernen Bildungsbegri¤ zwischen Bildungstheorie und empirischer Bildungsforschung gesehen werden, ergeben sich konzeptionelle Unterschiede in der Wahl der metatheoretischen Referenztheorien. Vorgeschlagen wird, in diesem Kapitel in einem ersten Schritt die unterschiedlichen bildungstheoretischen Ansätze hinsichtlich ihrer divergenten Konzeptionalisierung der Produktion, Reproduktion und Transformation von Sinn zu untersuchen. Unterschieden werden können existenziell-phänomenologische (2.1), habitustheoretische (2.2), diskurstheoretische (2.3) und pragmatistische (2.4) Einsatzpunkte für Bildungstheorien. In einem zweiten Schritt (2.5) werden dann Konvergenzen innerhalb der unterschiedlichen Ansätze gesucht, indem zunächst eine sich auf die Vorgängigkeit der Sprache beziehende Linie von einer stärker an a-theoretischen und kollektiv verankerten Wissensbeständen fokussierenden Linie der Produktion, Reproduktion und Transformation von Sinn unterschieden wird.
2.1. Das existenziell-phänomenologische Projekt: Der Entwurf einer strukturalen Bildungstheorie Winfried Marotzki arbeitet Anfang der 1990er Jahre in seinem ‚Entwurf einer strukturalen Bildungstheorie‘ einen anspruchsvollen Versuch aus, Bildungstheorie und Bildungsforschung in ein fruchtbares Wechselverhältnis zu bringen. Ziel ist es, zu einer „empirisch gehaltvollen Bildungstheorie“ zu kommen (Marotzki 1990, S. 114). Neben der schon dargestellten Unterscheidung zwischen Lern- und Bildungsprozessen zeichnet sich die Arbeit von Marotzki vor allem durch einen stringenten Argumentationskontext zwischen Bildungstheorie, Methodologie und Gesellschaftsdiagnose aus. Dabei steht die Rekonstruktion der Transformation individueller Subjektivität unter den gesellschaftlichen Bedingungen der Moderne im Vordergrund. Mit Ulrich Beck argumentierend, sieht Marotzki die gegenwärtige Gesellschaftsform mit dem Übergang von einer Industtrie- zu einer In-
DER BILDUNGSTHEORETISCHE REFERENZRAHMEN
formationsgesellschaft konfrontiert. Dadurch ergeben sich für Marotzki spezifische Problemlagen in den Biographien von Subjekten, die mit den Schlagwörtern der Individualisierung sowie der Risiko- und Kontingenzsteigerung gekennzeichnet werden. Unter Bezugnahme auf die sozialisationstheoretisch ausgerichteten Arbeiten Martin Kohlis geht Marotzki (1990, S. 21) von einer „Individualisierung als (historisch neuer) Vergesellschaftungsform“ aus. Begründet sieht Marotzki die Kontingenzsteigerung und Individualisierung der Lebensläufe in der Erosion und Veränderung vormals tradierter Sozialstrukturierungen wie Klassenlage, Arbeitsbedingungen und Familienbeziehungen. Die Auflösung dieser bis dahin orientierenden Sozialstrukturierungen lässt die Biographieträger jedoch nicht in grenzenlose Kontingenz fallen, vielmehr führt sie zu einer neuen Form der biographischen Anbindung an Institutionen und Organisationen. Kohli (1985, 1986) findet hierfür die biographietheoretische Bezeichnung der „Institutionalisierung des Lebenslaufes“, welche zu einer Ausbildung von „Normalbiographien“ führt. Hieraus ergibt sich für Marotzki, bezogen auf Subjektivität, eine doppelte Bewegung. Einerseits führt die biographische Kontingenzsteigerung zur „Dauerreflexion“ und damit auch zu neuen Formen der „Dauerüberlastung“ (Marotzki 1990, S. 24), andererseits entstehen für die Subjekte durch das Einbüßen von „Orientierungsverbindlichkeiten“ neue Spektren von Entwicklungsund Freiheitsspielräumen. Der Einzelne wird so zum „Planungsbüro seiner eigenen Biographie“, was zur Folge hat, dass es zu einer „Pluralisierung von Sinnwelten“ kommt und sich „die Integrationskraft einer relativ geschlossenen gesellschaftlichen symbolischen Sinnwelt verringert“ (Marotzki 1990, S. 23, 27). Diese Ausführungen, ergänzt durch Hinweise auf die sozialphilosophischen Arbeiten von Adorno und Lyotard, geben für Marotzki (1990, S. 30, 62) aus bildungstheoretischer und methodologischer Warte die Vorlage ab, sich der für den Bildungsbegri¤ immer schon wichtigen „Konstitutionsproblematik von Subjektivität“ aus einer Perspektive zu nähern, die auf den „Anspruch auf Verallgemeinerbarkeit“ zugunsten der individuellen Fallspezifik verzichtet. Im bildungstheoretischen Zentrum steht so „die Frage nach dem Individuellen“, welche schon „die Frage nach Subjektivität“ beziehungsweise die Frage, wie „Subjekte die soziale Wirklichkeit konstruieren“, impliziert (Marotzki 1990, S. 62, 55, 69). Im Kern zielt dieser Fragenkomplex auf eine „spezifische Explikationsebene von Subjekt-Objektbeziehungen“ (Marotzki 1990, S. 32), die sich mit der Problematik beschäftigen, wie
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Subjekte Sinn- und damit Selbst- und Weltverhältnisse produzieren. Zur Beantwortung dieser Fragen spannt Marotzki einen spezifisch phänomenologischen Referenzrahmen auf, welcher durch kognitionstheoretische Annahmen ergänzt wird. Seine theoriegeschichtlichen Wurzeln findet Marotzki dabei überwiegend im phänomenologischen Diskurs, wobei vor allem die Existenzialphänomenologie Jean-Paul Sartres eine wichtige Rolle spielt. Bildungstheoretischer Ausgangspunkt ist für Marotzki (1990, S. 74), dass „Sinnherstellung die Grundlage für Erfahrungsverarbeitung“ ist und dass „die Sinnhaftigkeit des Lebens nur individuell“ hergestellt werden kann. An anderer Stelle heißt es: „Das Subjekt verleiht seinen Wahrnehmungen Bedeutung in Prozessen der immer schon ablaufenden Interpretation“ (Marotzki 1990, S. 83). Marotzki warnt vor „rationalistischen Verkürzungen“ (1990, S. 38), weshalb er in diesem Zusammenhang vor allem dem Freudschen Begri¤ des Unterbewussten einen größeren Stellenwert einräumt; an anderer Stelle führt er aus: „Die für ein Subjekt spezifischen Figuren der Sinnkonstitution können nur bedingt über Reflexion hergestellt werden“ (Marotzki 1990, S. 141). Das Subjekt erscheint für Marotzki – wenn auch sich selbst durch sein Unterbewusstsein nicht vollständig transparent – als eine in Bezug auf die Sinnproduktion vornehmlich mentale Instanz. Dies verdeutlicht sich auch, wenn Marotzki (1990, S. 144) seine bildungstheoretischen Kernthesen ausarbeitet, welche sich auf die „Modalisierung der Selbst- und Weltreferenz“ beziehen. Wie schon bei der Unterscheidung von Lern- und Bildungsprozessen beschrieben, zeichnen sich Bildungsprozesse durch die Transformation von Selbst- und Weltverhältnissen aus. Auf Fritz Schütze Bezug nehmend, kennzeichnet Marotzki (1990, S. 132 f.) die zusammenführende Beziehung zwischen Selbst- und Weltverhältnissen zunächst als „Modalitätsschema“ und dann, in Anlehnung an Sartre, als „existenzielle Sinnklammer“. Die existenzielle Sinnklammer, die dem Subjekt einen „Ort im Sein“ gibt (Marotzki 1990, S. 133), ist dabei als ein modus operandi zu verstehen, dessen Rekonstruktion die Beschreibung eines Wie im Sein darstellt. Dabei gibt die existenzielle Sinnklammer einen Rahmen für „Deutungsakte“ ab (Marotzki 1990, S. 133), wobei die Transformation dieses Rahmens im Sinne eines Bildungsprozesses von Marotzki (1990, S. 132 f.) als ein „dialektischer Sprung“ verstanden wird. Einerseits kommt es zu einem Bruch mit einem gegebenen Modalitätsschema, indem es durch eine Negierung zu einer Distanzierung gegen-
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über den bisherigen Selbst- und Weltverhältnissen kommt. Andererseits geht mit dem Bruch und der Negation die dialektische Bewegung einer Neukonstitution einher, welche zu einer Inaugurierung eines neuen Modalitätsschemas führt und damit zu einem neuen existenziellen Ort im Sein. Dass dieser Vorgang sich bei Marotzki (1990, S. 134) vornehmlich auf eine individuell-mental konzeptionierte Sinnproduktion bezieht, verdeutlicht sich bei der Ausarbeitung des die Transformation der Selbstund Weltverhältnisse betre¤enden „Modalisierungsproblems“. Sartre folgend, bestimmt Marotzki (1990, S. 136) zunächst das Subjekt von seiner „Möglichkeitsstruktur“ her, wodurch es als durch seine Zukunft bestimmt erscheint. Dies zeigt sich auch im gewählten Modell der existenziell-phänomenologischen Sinnproduktion. Marotzki (1990, S. 137) führt aus: „Die Zukunft konstituiert den Sinn meines gegenwärtigen Für-sich als Entwurf von Möglichkeiten […]. Die Zukunft […] [gibt (F. v. R.)] der Gegenwart ihren Sinn, nicht die Vergangenheit“. Damit wird, Sartre entsprechend, ein Modell entworfen, in dem die „Zukunft wirklicher als die Gegenwart“ gesetzt wird. Der Mensch wird nicht durch das, „was er ist, sondern was er nicht ist“ bestimmt (Marotzki 1990, S. 138). Damit bekommen die Gedanken um das Verhältnis von Bestimmtheit und Unbestimmtheit und Negation einen zentralen Stellenwert, was Marotzki anhand der Theoriepositionen von Rainer Kokemohr und Gotthard Günther konkretisiert. Mit Kokemohr bestimmt Marotzki (vgl. 1990, S. 148) den sich auf ein Modalitätsschema beziehenden Prozess der Modalisierung als eine vornehmlich sprachlich verfasste Negation von Geltungsansprüchen sozial validierter Erfahrungsverarbeitungsweisen. Dabei geht es um eine von dem Subjekt durch Distanzierung und damit durch Negation hervorgebrachte Lockerung sozial vorgegebener und eingespielter Konventionen (vgl. Marotzki 1990, S. 148). Dem Subjekt soll ein „Zugang zu anderen, bisher nicht im Bereich des kulturell geteilten Wissens liegenden Mustern der Erfahrungsverarbeitung“ verscha¤t werden (Marotzki 1990, S. 149). Bildung ist so die Herstellung von Bestimmtheit durch Unbestimmtheitspotenziale (vgl. Marotzki 1990, S. 153). Modularisierungsprozesse haben demnach die Aufgabe, den „Zugang zu Vieldeutigkeit, zu Polymorphien und Polyvalenzen, also auch zu Nicht-Identitäten o¤en zu halten“ (Marotzki 1990, S. 152). Die hiermit bis in die Begri¤ lichkeit der Nicht-Identität angedeuteten Bezüge zur Theorieposition Hegels werden
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von Marotzki mit Gotthard Günthers Ansätzen zu einer mehrwertigen Logikkonzeption konkretisiert. Mit Günther werden zwei Formen der Negation unterschieden: die Inhalts- und die Strukturnegation (vgl. Marotzki 1990, S. 214 f.). Im Zentrum beider Negationsprozesse stehen bei Günther die Begri¤e der Kontextur und des Strukturprinzips. Während Günthers Begri¤ der Kontextur für Marotzki mit Fritz Schützes Begri¤ des Orientierungssystems, mit Sartres Begri¤ der existenziellen Sinnklammer oder mit Kokemohrs Begri¤ rhetorisch-kognitiver Figuren korrespondiert, findet Marotzki Günthers Begri¤ des Strukturprinzips bei Schütze und Kokemohr als kognitiven Stil, bei Sartre als modus operandi gekennzeichnet. Eine Kontextur kann nun in zweifacher Hinsicht negiert werden. Es kann zu einer Negation innerhalb einer Kontextur kommen, bei der das gegebene Strukturprinzip erhalten bleibt. Bei dieser Inhaltsnegation kommt es nach Marotzki (1990, S. 215) zu einer Variation des alten, jedoch nicht zur Entstehung eines neuen Strukturprinzips. Es kann aber auch zu einer Negation der Kontextur selbst kommen. Im Gegensatz zu der erstgenannten Inhaltsnegation kommt es hier zu einer Strukturnegation und zu einer Transformation der Kontextur, wodurch ein neues Strukturprinzip entsteht (Marotzki 1990, S. 215). Zurückkommend auf eine schon oben von mir herausgearbeitete Di¤erenzierung kann die Inhaltsnegation als ein Lernprozess bezeichnet werden, während sich die Strukturnegation als ein Bildungsprozess darstellt. Marotzki geht davon aus, dass es bei einer Strukturnegation zu einem grundlegenden Wechsel des (mit Günther ontologischen, mit Sartre existenziellen) Ortes im Sein kommt, wodurch die Welt in der Folge grundlegend anders gesehen wird. In der so erstellten Konzeption von Bildungsprozessen wird das Hegelsche Gedankengut sehr deutlich.1 Die alte Kontextur und ihr Strukturprinzip werden negiert und durch eine neue Kontextur und ein neues Strukturprinzip ersetzt. Als Negationsfolie gilt die alte Kontextur als Bezugspunkt für die neue Kontextur. Auch wenn die neue Kontextur nicht deduktiv aus der alten hervorgeht, so ist doch die Signatur der alten Struktur als vorhergehende Geschichte sowohl vorhanden als auch durch die Steigerung von Komplexität in der neuen Kontextur aufgehoben. Das Alte erscheint im Neuen präsent, obwohl das Neue nicht auf das Alte zu reduzieren ist. Ne1 Vgl. hierzu auch die Dissertation von Winfried Marotzki (1984): Subjektivität und Negativität als Bildungsproblem. Weinheim.
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gation erscheint so als grundlegend für den Auf bau, die Tradierung und die Transformation von Subjektivität. Marotzki (1990, S. 193) spricht von Subjektivität als „Vermögen, negieren zu können“. Negation und damit auch Subjektivität setzt sich für Marotzki (vgl. 1990, S. 194), Günther folgend, aus zwei Teilen zusammen: Kognition und Entscheidung, welche, als Selektion verstanden, die Fähigkeit zur Negation darstellt. Marotzki (1990, S. 194) führt aus: „Kognition und Negativität sind in strukturtheoretischer Hinsicht die Grundqualitäten von Subjektivität“. Bildungsprozesse sind folglich zu bestimmen als die durch Negation erreichte existenzielle Transformation vornehmlich kognitiv-voluntativer Kontexturen von Subjektivität. Dabei sind diese Transformationsprozesse nur individuell bestimmbar, insofern sie sich auf eine singulär gedachte Zukünftigkeit beziehen. Der so gedachte Bildungsprozess stellt sich gegen ein kontinuierlich-linear funktionierendes Entwicklungsmodell, indem ein qualitativer Sprung angenommen wird, aus dem ein neues höheres Komplexitätsniveau entsteht. Ein Strukturprinzip reift so nicht durch Entwicklung, sondern stößt in einem Bildungsprozess schließlich an seine Grenzen und wird zugunsten eines neuen, komplexeren Strukturprinzips aufgegeben.2 In dem Entwurf einer durch Negationspotenziale bestimmten existenziell-individuell produzierten Sinngebung, deren Bildung durch eine doppelte Negation von Inhalt und Struktur eine Kontextur ergibt, findet Marotzki nun auch wieder Anschluss an die schon skizzierte Gesellschaftsdiagnose der Kontingenzsteigerung und Individualisierung. Gesellschaftsdiagnostisch ergibt sich für Marotzki (vgl. 1990, S. 138) durch die konstatierte Veränderung der Temporalitätsstruktur in der Moderne eine immer stärker werdende Notwendigkeit der Veränderung subjektiver Kontextur. Die Erosion bisheriger kollektiver Sozialstrukturierungen hat zur Folge, dass die individuellen Möglichkeiten für Zukunftsentwürfe transformiert werden. Dadurch, „dass der einzelne nicht mehr auf gesellschaftlich konsensuell etablierte, allgemein verbürgte Sinnressourcen zurückgreifen kann, erfüllt sich das Sartresche Diktum, dass der einzelne zum Freisein verdammt ist“ (Marotzki 1990, S. 140), wobei sich die Freiheit durch eine individuell zu gestaltende und nicht durch eine vorEine ähnliche Konzeption von Transformationsprozessen findet sich bei dem auch von Hegel beeinf lussten Entwicklungspsychologen Jean Piaget sowie dem an Piaget anschließenden Lawrence Kohlberg. 2
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herbestimmte Zukunft ergibt. Sinnproduktion sowie deren Entwicklung, Tradierung und Transformation erscheint so als vornehmlich voluntativkognitives Ereignis, welches durch seinen individuell-existenziellen Zukunftsbezug nur singulär zu bestimmen ist.3
2.2. Das habitustheoretische Projekt: Transitorische Bildungsprozesse Als eine erste Auseinandersetzung und kritische Absetzung von dem existenziell-phänomenologischen Ansatz Winfried Marotzkis kann die Arbeit von Peter Alheit (1992) gelesen werden. Die Arbeiten von Alheit und dem ihn umgebenden Forschungsverbund liefern wichtige Hinweise für die Ausarbeitung einer habitustheoretischen Bildungstheorie. 4 In seinem Buch ‚Leben lernen? Bildungspolitische und bildungstheoretische Perspektiven biographischer Ansätze‘ kritisiert Alheit (1992) die schon bei Marotzki skizzierte und für dessen Ansatz zentrale Individualisierungsthese. Alheit (1992, S. 23) rekonstruiert, dass sich neben den diagnostizierten Veränderungs- und Enttraditionalisierungsprozessen auch eine „Retraditionalisierung“ beobachten lässt, weshalb es innerhalb der sich pluralisierenden Lebensformen nicht nur zu „Labilisierungen“ und Zusammenbrüchen, sondern auch zu neuen Formen des Zusammenlebens kommt (vgl. Alheit 1992, S. 22).5 Anhand historischer Analysen, welche belegen, dass das von den Individualisierungstheoretikern zugrunde gelegte Konstrukt von ehemals homogenen Familien-, Geschlechts- oder
Wenngleich sie sich aus anderen theoretischen Referenzrahmen speisen und andere empirische Gegenstände fokussieren, zeigen die Arbeiten von Heide von Felden (2003) und Ulf Brüdigam (2001) dennoch in eine ähnliche bildungstheoretische Richtung. 3
Im folgenden Kapitel werden vor allem die habitustheoretischen Arbeiten von Alheit und Herzberg herangezogen, insofern diese – wie die anderen Autoren dieses Kapitels auch – ihre bildungstheoretischen Ausarbeitungen mit empirischen Ausarbeitungen kombinieren. Weitere Arbeiten (vgl. Koller 2002; Wigger 2007), die auch aus der Perspektive Bourdieus die Relationierung von Bildungstheorie und empirischer Bildungsforschung thematisieren, in diesem Kontext jedoch selbst keine empirischen Ausarbeitungen liefern, werden im dritten Kapitel diskutiert. 4
Zu einer in eine ähnliche Richtung zielenden Kritik der Individualisierungsthese aus einer habitustheoretischen Perspektive vgl. Jürgen Wittpoth 1994.
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Milieuzusammenhängen in der Frühmoderne nur bedingt zu rechtfertigen ist, stellt Alheit (1992, S. 19) daher „eine Überbewertung aktueller Veränderungen“ fest, deren Folgen er in einer „Hinwendung zum Subjekt“ sieht (Alheit 1992, S. 13). Das Subjekt bleibt seiner Meinung nach jedoch hier „seltsam abstrakt […]. Es verschwindet gleichsam hinter umstrittenen Zeitdiagnosen (wie der ‚Individualisierungsthese‘) oder geht in einer anfechtbaren Deutung der Moderne auf“ (Alheit 1992, S. 36). Alheit kritisiert weiter, dass es hierdurch zu einer Polarisierung zwischen einem Subjekt und seiner Umwelt kommt, nenne man diese nun Gesellschaft, Struktur, System oder Lebenswelt. Dies zielt, so Alheits (1992, S. 36) Argumentation weiter, „an der sozialen Realität des Biographischen vorbei und hat wohl auch bildungstheoretisch nur eine begrenzte Reichweite“. Alheit plädiert daher für eine überzeugendere Verbindung von Subjekt und Gesellschaft und findet diese im Konzept des biographischen Konstruktes (vgl. Alheit 1992, S. 36 ¤.). Dabei geht es ihm darum, alltägliche „Strukturen auf der Subjektebene“ in ihrer Verbindung zu strukturellen Rahmenbedingungen zu rekonstruieren, um so mögliche strukturelle Wandlungsprozesse zu identifizieren (Alheit 1992, S. 39 f.). Anders als der existenziell-phänomenologische Bildungsansatz zielt Alheit dabei nicht nur auf mikrosoziologische Problemstellungen ab, sondern sucht über die Verbindung zu Maurice Halbwachs’ Konzept des kollektiven Gedächtnisses Biographien als Ausdruck gesellschaftlicher Makrostrukturen zu betrachten (Alheit 1992, S. 41). Hier zeigt sich der habitustheoretische Versuch, nicht mehr den Dualismen von Mikro- und Makroebene, Subjekt und Gesellschaft oder Subjektivismus und Objektivismus zu folgen, sondern diese durch eine Relationierung zu unterlaufen. In Biographien und deren Erzählungen werden so „kollektive Wissensbestände erzeugt, reproduziert und zu Hintergrundüberzeugungen verdichtet“ (Alheit 1992, S. 44). So lassen sich anhand von Biographien oft Bildungsprozesse „durch die Subjekte hindurch“ rekonstruieren, in denen „neue kollektive Wissensbestände zu entdecken sind“ (Alheit 1992, S. 45). Bildung ist „eben nicht allein als Vorgang ‚interner‘ Verarbeitung der Subjekte“ zu begreifen, „sondern auch als ‚Kommunikation‘ mit strukturellen Bedingungen“ (Alheit 1992, S. 48). Alheit (vgl. 1992, S. 58–61) grenzt sich so explizit von einer existenziell-phänomenologisch verfassten Bildungstheorie ab, wie sie Marotzki vertritt. Dessen Zentrierung auf den Einzelfall, welche die Gesellschaft „als eine Variable unter den Bedingungen einer erst herzustellenden
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und stets neu zu entwerfenden Biographie“ sieht (Marotzki 1990, S. 354), bleibt für Alheit „unbefriedigend“ (1992, S. 59), insofern die Beziehung zwischen der Biographie und ihrer regelmäßig verlaufenden kollektiv-gesellschaftlichen Einbindung hier, wie schon ausgeführt, ungeklärt bleibt. Biographien sind, so verstanden, strikt als „Gesellschaftlichkeit und Subjektivität in einem“ zu konzeptionalisieren (Alheit 1992, S. 62). Das hier von Alheit skizzierte Projekt einer habitustheoretisch fundierten Bildungstheorie findet eine Ausarbeitung in der Dissertation von Heidrun Herzberg (2004): „Biographie und Lernhabitus. Eine Studie im Rostocker Werftarbeitermilieu“. Herzberg bezieht sich in ihren bildungstheoretischen und empirischen Rekonstruktionen explizit auf die habitustheoretischen Arbeiten Pierre Bourdieus. Neben dem Ablauf von intergenerationalen Bildungs- und Tradierungsprozessen steht im Fokus von Herzbergs Interesse (2004, S. 11) die habituelle „Verarbeitung von gesellschaftlichen Transformationsprozessen“. Herzberg (2004, S. 13) fragt, „wie bestimmte habituelle Muster, die die biographischen Lern- und Bildungsprozesse der Einzelnen prägen, tradiert werden und sich über die Generationenschwelle unter dem Einfluss des Rostocker Werftarbeitermilieus, aber auch im gesellschaftlichen Transformationsprozess verändern“. Thematisiert werden die „sozialen Konstitutionsprozesse von Bildungsbiographien“, wobei die „Perspektive des lernenden Subjekts im Mittelpunkt der Betrachtungen steht“ (Herzberg 2004, S. 15, 13). Herzberg konzeptionalisiert die Konstitutionsbedingungen des lernenden Subjekts durch ein zweiseitiges Modell von Habitus und Milieu, dessen Vermittlung sie im Biographiekonzept findet. Ausgehend von Émile Durkheim und anschließend an Karl Mannheim di¤erenziert Herzberg (2004, S. 23 ¤., 26 ¤.) zwei Achsen des Milieubegri¤s, welche sie einerseits als „äußere Gestalt“ und andererseits als „konjunktiven Erfahrungsraum“ bezeichnet. Während sie die äußere Gestalt eines Milieus mit Pierre Bourdieu als sozialen Raum kennzeichnet, in dem es um soziale Positionierungen durch die Akkumulation verschiedener Kapitalsorten geht, ist der konjunktive Erfahrungsraum als ein akteursgruppengebundener lebensweltlicher Wissensvorrat zu verstehen (vgl. Herzberg 2004, S. 21 ¤.). In der Annahme, dass nicht die Gesellschaft, sondern das nähere soziale Umfeld für die lernenden Subjekte beziehungsweise ihre Bildungsbiographien prägend ist, kennzeichnet Herzberg (2004, S. 19) die beiden
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Milieudimensionen von sozialem und konjunktivem Raum in Anlehnung an Alheit als eine „horizontbildende Sozialität“. Entsprechend Alheits Kritik an dem bildungstheoretischen Ansatz Marotzkis findet Herzberg (2004, S. 45) im Habituskonzept nun die Möglichkeit, zwischen „gesellschaftlichen Strukturen“, welche im oben genannten Sinne als doppelter Milieuzusammenhang aufgefasst werden, und „individuellem Handeln“ zu vermitteln. Bourdieu entsprechend, wird der Habitus als ein Prinzip inkorporierter sozialer Strukturen begri¤en, welches für die Handlungspraxis generierend wirkt. Durch ähnliche Entstehungsbedingungen, beispielsweise durch die gemeinsame Zugehörigkeit zu einem Milieu, einer Klassenlage, einer Generation oder einem Geschlecht, kann es zu der Ausbildung ähnlicher Dispositionsgefüge und damit auch ähnlicher Habituskonfigurationen kommen. Auf Bildungsprozesse bezogen geht Herzberg (2004, S. 46) davon aus, dass der Habitus als „Erzeugungsprinzip“ jeglicher sozialer Praxis demnach auch für Lern- und Bildungsprozesse relevant ist. Herzberg (2004, S. 47, 48) fragt deshalb nach den Entwicklungsmöglichkeiten des Habitus und kommt zu den sicherlich diskutierbaren Schlüssen, dass in Bourdieus Arbeit „die Frage nach der Genesis und Tradierung des Habitus […] weitestgehend ausgeblendet“ wurde und dass das Thema „Habitus-Wandel […] nicht im Fokus seiner Aufmerksamkeit“ steht. Eckhard Liebau zitierend, fügt Herzberg (2004, S. 47) weiter kritisch hinzu, dass der „Habitus nur im Hinblick auf die Gesellschaftlichkeit des Menschen entwickelt worden ist“. Dies nimmt Herzberg (2004, S. 49) zum Anlass, im Anschluss an Peter Alheit und Bettina Dausien den Habitus aus einer biographietheoretischen Perspektive zu verstehen, in der, anders als von Liebau an Bourdieu kritisiert, die „Perspektive des Subjekts berücksichtigt werden kann. Mit dem Zugang über die Biographie lässt sich der Habitus als Konstruktion zwischen den beiden Polen der Gesellschaft und Subjektivität au¤assen und in seinen Entwicklungsmöglichkeiten und Grenzen beschreiben“. Ohne hier diskutieren zu wollen, ob Herzberg an dieser Stelle dem Habituskonzept wirklich mehr hinzufügt als ein biographietheoretisches Begri¤sanhängsel, scheint das Habituskonzept aus bildungstheoretischer Perspektive Marotzkis Bildungsbegri¤ in zweifacher Weise zu ergänzen. Zum einen erscheinen die gesellschaftlichen Strukturen, anders als in Marotzkis Konzeption, dem zu bildenden Subjekt nicht äußerlich; vielmehr stellt Gesellschaft einen konstituierenden, inkorporierten Teil
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von Subjektivität dar, welcher über das Habituskonzept nicht nur theoretisch, sondern vor allem auch empirisch anschlussfähig gemacht wird. Zum anderen werden durch das Habituskonzept, ergänzend zu kognitiven und voluntativen Aspekten von Subjektivität, routinisierte und implizite Wissensbestände konstitutiv in den Bildungsprozess mit einbezogen. Zwar geht auch Marotzki (1990, S. 152) von einem „stummen Wissen“ aus, welches als Reservoir von Unbestimmtheit zu Formen von „neuen Bestimmtheitsbildungen“ führen kann und damit zu neuen Formen der Modularisierung von Selbst- und Weltreferenz; jedoch bleibt bei ihm dieses stumme Wissen bei der Konzeptionalisierung von Kontexturtransformationen insofern weitestgehend vernachlässigt, als Negation vornehmlich durch Kognition und voluntative Selektion bestimmt wird. Vielmehr erscheint ein gesellschaftlich stumm geteiltes Wissen in Marotzkis Bildungsmodell gerade als ein Aspekt, von dem man sich durch eine für Bildungsprozesse konstitutive Negation reflexiv distanzieren muss, um so, wie schon zitiert, einen „Zugang zu anderen, bisher nicht im Bereich des kulturell geteilten Wissens liegenden Mustern der Erfahrungsverarbeitung“ zu scha¤en (Marotzki 1990, S. 149). Die Annahme eines Strukturprinzips, das nicht auf der Grundlage von sozialen Strukturen funktioniert, sondern sich jenseits von Sozialität konstituiert, wird jedoch von einer habitustheoretischen Position aus fragwürdig. Mit dem habitustheoretischen Versuch, durch Relationierung aus dem Dualismus von Subjekt und Gesellschaft auszubrechen6, gibt es kein Subjekt mehr außerhalb der Gesellschaft und damit auch keine außergesellschaftliche Erfahrungsverarbeitung, welche sich in ihrem Strukturprinzip wieder auf die Gesellschaft beziehen würde. Weiter erscheint eine Rationalitätsannahme, die jenseits eines gesellschaftlichen Strukturprinzips funktioniert, indem sie das gesellschaftliche Strukturprinzip selbst gewissermaßen von außen negiert, gerade unter der von Marotzki ebenfalls (1990, S. 161) angenommenen „prinzipiellen Gegebenheit von Sprache“ problematisch. Ein Bildungsprozess, welcher sich konstitutiv in einer gesellschaftlichen Sprache ausdrücken müsste, käme nicht umhin, selbst in der Negation an die gesellschaftlichen Bedingungen der Möglichkeit Anschluss zu suchen. 6 Auf die Frage, wie mit dem Habituskonzept und – allgemeiner – mit dem Ansatz einer Theorie der Praxis ‚subjektivistische‘ und ‚objektivistische‘ Theoriemodelle unterlaufen werden sollen, werde ich in Kapitel 3 und 4 genauer eingehen.
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Jenseits des auch für diese Arbeit zentralen Problemkomplexes um Subjektivität und Gesellschaftlichkeit erscheint die von Herzberg fokussierte Frage nach den Entwicklungsmöglichkeiten des Habitus aus bildungstheoretischer Perspektive von hoher Relevanz. Leider verbaut sich Herzberg durch eine stark an Sozialisationskonzepten orientierte Argumentation und durch den im Folgenden zu erörternden Kategorienfehler in Bezug auf theoretische Legitimation durch empirische Rekonstruktion einen genuin bildungstheoretischen Zugang zum Thema der Habitustransformation: Durch die Ergebnisse von zwei empirischen Untersuchungen zu sozialen Aufstiegsprozessen lässt sich Herzberg (2004, S. 48) zu der theoretischen Aussage verleiten, dass es in Bezug auf die Wandlungsfähigkeit des Habitus „allenthalben zu Habitus-Metamorphosen“7 kommen kann. Abgesehen davon, dass hier von einem fragwürdigen Legitimationsverhältnis zwischen Theorie und Empirie ausgegangen wird, welches sich auch im Widerspruch zu dem von Herzberg (2004, S. 75 ¤.) selbst gewählten methodologischen Rahmen der Grounded Theory befindet, ebnet Herzberg hier gewollt oder ungewollt die von Marotzki für den Bildungsbegri¤ ausgearbeiteten Di¤erenzierungen zwischen Lern- und Bildungsprozessen ein. Indem Herzberg (2004, S. 50) „die Annahme zu Grunde legt“, dass der primär erworbene Habitus „über die Lebensspanne stabil bleibt“, wird, in Marotzkis Terminologie ausgedrückt, eine grundlegende Strukturnegation, welche in diesem Sinne konstitutiv für Bildungsprozesse ist, kategorisch ausgeschlossen. In Bezug auf den Habitus eine von Victor von Weizsäcker gebrauchte Metapher benutzend, kann es nach Herzberg (2004, S. 53) deshalb nur darum gehen, die im Habitus schon potenziell angelegten Ressourcen eines „ungelebten Lebens“ auszuschöpfen. Mit Alheit wird deshalb von einem „begrenzten Modularisierungspotenzial“ ausgegangen (Herzberg 2004, S. 53). Das Bourdieusche Diktum der Persistenz wird von Herzberg herangezogen, um dem Habitus die Möglichkeit einer generellen Transformation abzusprechen. Streng genommen kann es so aus Herz-
Auch Peter Büchner arbeitet in seinem DFG-Forschungsprojekt „Familiale Bildungsstrategien als Mehrgenerationenprojekt. Bildungs- und kulturbezogene Austauschprozesse zwischen Großeltern, Eltern und Enkeln in unterschiedlichen Familienkulturen“ mit dem Begri¤ der Habitismetamorphose. Vgl. z. B. Büchner/Brake 2007; Brake/Büchner 2009. 7
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bergs Argumentation nur zu Lernprozessen, das heißt, zu einer Variation eines Strukturprinzips kommen. Eine Transformation im Sinne der Entstehung eines zwar sozialisationsgeschichtlich hergestellten, jedoch nicht gänzlich aus seinen alten Wurzeln deduzierten Strukturprinzips scheint mehr rhetorisch als argumentativ ausgeschlossen. Eine Auseinandersetzung mit einem bildungstheoretisch gedachten Begri¤ der Transformation wird nicht geführt. Die Chance, ein gegenüber Marotzki neu gefasstes Verhältnis von Subjekt und Struktur auch in ein genuin bildungstheoretisch gedachtes und empirisch anschlussfähiges Konzept von Transformation zu überführen, wird an dieser Stelle vergeben. Dabei scheint Herzbergs Verständnis von Bildungsprozessen, bezogen auf die Struktur von altem und neuem Wissen, sich nicht gänzlich von Marotzkis Ausarbeitungen zu unterscheiden. Herzberg (2004, S. 69) führt aus: „Transitorische Bildungsprozesse beziehen neue Wissensbestände nicht nur auf bereits existierende strukturelle Zusammenhänge, sondern interpretieren sie als Teilaspekte neuer Kontexte. Neues Wissen wird dementsprechend nicht nur in ein bestehendes Gebäude biographisch angehäuften Wissens eingebaut, sondern verändert dieses Wissensgebilde zugleich.“
Dass aus dieser Argumentation nicht die Schlussfolgerung der Möglichkeit einer Habitustransformation gezogen wird, scheint an einer Vernachlässigung der Habitustheorie zu liegen, insofern ungeklärt bleibt, wie Teil und Ganzes eines Habitus funktionieren oder, anders, wie ein Wissen ein Wissensgebäude verändern kann. 8 Folgt man der eingeführten Di¤erenzierung zwischen Lern- und Bildungsprozessen, so beschreibt Herzberg streng genommen nur Lern- und keine Bildungsprozesse. So gesehen ist es nur konsequent, wenn Herzberg von einem Lern-Habitus spricht und einen möglichen Begri¤ des Bildungs-Habitus ausschlägt. Das scheint an dieser Stelle nicht nur ästhetische Vorteile zu besitzen, sondern auch begri¤stheoretisch stringent zu sein. Bildung erscheint hier, wie Herzberg (2004, S. 69) mit Bezug auf Alheit herausstellt, als „transitorischer Bildungsprozess“, das heißt als ein qualitativer Übergang, der, wie dargestellt, einen qualitativen Sprung verneint. Die Di¤erenz zwischen linear verlaufenden Entwicklungspro8 Vgl. hierzu meine Ausführungen zur Mehrdimensionalität des Habitus in Kapitel 3.3.1.
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zessen und möglichen diskontinuierlich verlaufenden Bildungsprozessen wird hier aufgehoben. Während sich bei Marotzki mit Sartre die Sinnproduktion vornehmlich durch die Möglichkeitsräume der Zukunft erklären lässt, scheint sich bei Herzberg und Alheit mit Bourdieu die Sinnproduktion vornehmlich aus Möglichkeitsräumen der Vergangenheit zu speisen. Ein nicht unbedeutender, französisch geprägter Konflikt zwischen zwei unterschiedlichen Theoriepositionen, welche namentlich mit Bourdieu und Sartre, in Variation auch mit Foucault und Sartre verbunden werden können, scheint sich so im deutschen Diskurs um einen modernen Bildungsbegri¤ zu reproduzieren. Die unterschiedlichen Konzeptionalisierungen von Subjektivität, welche einerseits an Individualität und Kognition anschließen und andererseits kollektive Aspekte einer implizit geteilten und meist routinisiert verfahrenden Sinnproduktion in den Vordergrund stellen, scheinen dazu zu verleiten, Bildungs- und Habitustheorie grundsätzlich zu dichotomisieren.9 Die Diskussion von Alheit und Herzberg zeigt einerseits eine unzureichend konzeptionalisierte gesellschaftstheoretische Einbindung von Marotzkis Bildungstheorie, die sich verbindet mit einer Kritik an einem zu stark auf mentale Prozesse ausgerichteten Konzept von Transformation. Andererseits zeigt sich, dass die bisherige habitustheoretische Rezeption Bourdieus stark von sozialisationstheoretischen Argumentationslinien geprägt ist und dass eine genuin bildungstheoretische Auslegung des Habituskonzeptes weitestgehend aussteht.10 Dass dieser Argumentationsgang – auch unter Rekurs auf die Arbeiten von Pierre Bourdieu – nicht zwingend notwendig erscheint, soll in einer späteren eigenständigen Diskussion weiter ausgeführt werden (vgl. Kapitel 3). Festzuhalten bleibt, dass der vor allem von Alheit, Dausien und Herzberg geprägte Diskurs um transitorische Bildungsprozesse gegenüber den Ausarbeitungen von Marotzkis Bildungsbegri¤ eine Sinnproduktion betont, welche jenseits individuell-mentaler Vorgänge vornehmlich auf kollektiv geteilte, gesellschaftliche und implizit-routinisiert verfahrende Sinnproduktionsbestände rekurriert. Während der habitustheoretische Ansatz vor allem auch in den empirisch-theoretischen Ausarbeitungen von Alheit und Herzberg als diame9 So auch Wigger 2007, der in seinem Aufsatz Bildungs- und Habitustheorie zu kontrastieren versucht. 10
Ausnahmen bilden die Aufsätze von Koller 2002 und Rieger-Ladich 2005.
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traler Gegenhorizont zu den existenziell-phänomenologisch geprägten Arbeiten Marotzkis gelesen werden kann, lässt sich noch eine dritte Linie im Diskurs um einen Relationierungsversuch zwischen Bildungstheorie und empirischer Bildungsforschung identifizieren, deren Zuordnung sich in die bisher rekonstruierten Dualisierungen von transformatorischen, individuell-mental verfassten und transitorischen, kollektiv-praktisch verfassten Bildungsprozessen nicht fügt. Dabei handelt es sich um die diskurstheoretischen Entwürfe von widerstreitenden beziehungsweise ambivalenten Bildungsprozessen.
2.3. Das diskurstheoretische Projekt: Widerstreitende und ambivalente Bildungsprozesse Das Projekt einer diskurstheoretisch fundierten Bildungstheorie und Bildungsforschung nimmt seinen Anfang zum Ende der 1990er Jahre, wobei als Initialzündung die Habilitationsschrift von Hans-Christoph Koller (1999) ‚Bildung und Widerstreit‘ gelten kann. In diesem ambitioniert angelegten Projekt versucht Koller, die Verbindung von Bildungstheorie und Bildungsforschung aus einer sprach- und diskurstheoretischen Perspektive voranzutreiben. Auch Koller (1999, S. 165) ist daran gelegen, „systematisch-theoretische Erörterung und empirische Forschung in ein fruchtbares Wechselverhältnis zu bringen“. Dabei geht er, wie schon Winfried Marotzki in seinem Entwurf einer strukturalen Bildungstheorie, von einer gesellschaftlichen Gegenwartsdiagnose aus. Die bei Marotzki beschriebene zunehmende Pluralisierung von Lebenswelten, Werthorizonten und Sinnwelten wird bei Koller (vgl. 1999, S. 164) im Anschluss an Jean-Francois Lyotard als Pluralisierung von Diskursarten begri¤en. Lyotards Gesellschaftsdiagnose nachzeichnend, sieht Koller in der (Post-)Moderne einen gesellschaftlichen Wandlungsprozess durch eine sich auf Wissensformen beziehende Legitimationsproblematik initiiert. Während in „vormoderner Zeit“ (Koller 1999, S. 24, kursiv im Original) Wissen durch Generationserzählungen tradiert und legitimiert wurde, wird mit dem Aufkommen der „Moderne“ (Koller 1999, S. 24, kursiv im Original) und dem damit verbundenen Beginn der neuzeitlichen Wissenschaft diese Legitimationsform zunehmend problematisch, weshalb der wissenschaftliche Diskurs eigene Legitimationsformen und -verfahren entwickelt (vgl. Koller 1999, S. 24). Lyotard stellt heraus, wie sich die
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wissenschaftlichen Legitimationsversuche in der Moderne vor allem auf zwei „narrative Darstellungsformen“ bezogen haben, deren verbindendes Merkmal die Einbettung in eine „Metaerzählung“ ist. Eine Metaerzählung wird dabei als Versuch gekennzeichnet, „unterschiedliche Arten des Wissens aus einem einheitlichen Prinzip“ heraus zu begründen (Koller 1999, S. 25). In seinem häufig rezipierten Buch „Das Postmoderne Wissen“ unterscheidet Lyotard (1986) in Bezug auf den wissenschaftlichen Diskurs zwei dominierende Formen von modernen Metaerzählungen, bei denen zwei unterschiedliche narrative Zentren im Vordergrund stehen, welche als „politische“ und „philosophische Variante“ einer großen Erzählung gekennzeichnet werden (Koller 1999, S. 25). Während die politische Variante als „Erzählung der Emanzipation“ (Lyotard 1979, zitiert nach Koller 1999, S. 25) „das wissenschaftliche Wissen (wie auch die politischen Institutionen) aus dem autonomen Willen“ (Koller 1999, S. 25) zu legitimieren versucht und damit das praktische Subjekt in den Vordergrund stellt, versucht die philosophische Variante als „spekulative Erzählung“ (Lyotard 1979, zitiert nach Koller 1999, S. 25) den „spekulativen Geist als Erkenntnissubjekt“ zu rechtfertigen, um so Wissen „aus dem umfassenden und einheitlichen Prozess der ‚Bildung‘ dieses Geistes“ zu legitimieren (Koller 1999, S. 25 ). In der „Postmoderne“ (Koller 1999, S. 25, kursiv im Original) sind nun die Legitimationsformen der Metaerzählung in der Wissenschaft in eine Krise geraten. Ausschlaggebend hierfür ist Lyotard zufolge vor allem die wissenschaftliche Grundlagenkrise des frühen 20. Jahrhunderts, in der die Hypothese von der Einheit und Geschlossenheit der wissenschaftlichen Erkenntnis, von der beide Metaerzählungen ausgehen, fragwürdig geworden ist (vgl. Koller 1999, S. 26). Die damit verbundene Aufgabe einer „objektiven“ Beobachterposition führt in der Wissenschaft zum Verlust eines universellen Geltungsanspruchs. Es bleiben selbstreferentielle, in sich geschlossene Wissenssysteme. Koller (1999, S. 26) führt dahingehend weiter aus: „Mit der Geschlossenheit des wissenschaftlichen Wissens ist aber auch jeder Metadiskurs obsolet geworden, der die Legitimation des Wissens von einer externen, dem Einzelwissen übergeordneten Position aus verbürgen könnte.“
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Die daraus folgende Konsequenz ist „die Anerkennung einer radikalen Pluralität formaler und axiomatischer Systeme“.11
Die von Koller mit Lyotard vertretene These einer radikalen Pluralisierung innerhalb des wissenschaftlichen Diskurses, die sich bei Lyotard (1986) in seinem Buch „Das Postmoderne Wissen“ vor allem noch auf die Legitimation wissenschaftlichen Wissens bezieht, erweitert Lyotard (1989) in seinem Buch „Der Widerstreit“ von dem wissenschaftlichen auf alle gesellschaftlichen Diskurse, so dass es zu der Gesellschaftsdiagnose einer radikalen Pluralisierung von Diskursen ohne einen zusammenführenden Metadiskurs kommt. Gleichzeitig arbeitet Lyotard hier ein sprachphilosophisches und diskurstheoretisches Begri¤sinstrumentarium aus, das es ihm erlaubt, sich neben erkenntnistheoretischen auch ethischen und politischen Problemlagen zuzuwenden. Im Zentrum steht dabei das Konzept des Widerstreits, welches davon ausgeht, dass „es beim Aufeinandertre¤en zweier unterschiedlicher Diskursarten unvermeidlich zu einem Widerstreit (di¤érend) kommt, d. h. zu einem Konflikt, der prinzipiell nicht zu schlichten ist, weil eine übergreifende Urteilsregel fehlt“ (Koller 1999, S. 36, kursiv im Original). Die sprachphilosophischen und diskurstheoretischen Grundlagen sowie das Konzept des Widerstreits werden von Koller nun genutzt, um auf unterschiedlichen Ebenen eine bildungstheoretische Rekonstruktion anzusetzen mit dem Ziel, „eine zeitgemäße Fassung des Bildungsbegri¤es“ herauszuarbeiten (Koller 1999, S. 17). Einerseits schließt Koller dabei mit dem Konzept des Widerstreits an die schon beschriebene Gesellschaftsdiagnose einer nicht mehr zu vereinheitlichenden radikalen Pluralität von Diskursen an, um so den zeitdiagnostischen Ausgangspunkt von Bildungsprozessen in (post-)modernen Gesellschaften zu kennzeichnen. Andererseits nutzt er die sprachphilosophischen und diskurstheoretischen Instrumentarien Lyotards, um das erkenntnistheoretische Fundament seines Bildungsbegri¤es näher zu bestimmen. Lyotard folgend, steht dabei nicht mehr das Bewusstsein eines Subjektes, sondern die
Eine Verfolgung der umfangreichen Frage, wie sich das postmoderne Wissen legitimiert, ob durch „Performativität“ (Luhmann), „Konsens“ (Habermas) oder „Paralogie“ (Lyotard), würde den Rahmen meiner Arbeit an dieser Stelle sprengen. Es erscheint mir nicht sinnvoll, eine von Koller (vgl. 1999, S. 26 ¤.) knapp skizzierte Diskussion hier weiter zu verknappen. 11
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Sprache im Zentrum der Rekonstruktion. In Anspielung auf Descartes zitiert Koller (1999, S. 33, Kursiv im Original) Lyotard: „Nicht das denkende oder reflexive Ich ( je) hält der Prüfung des alles umfassenden Zweifels stand […], sondern der Satz und die Zeit. Aus dem Satz: Ich zweifele folgt nicht, daß ich bin, es folgt vielmehr, daß es einen Satz gab.“
Der Satz wird zum alleinigen Ausgangspunkt der Analyse und radikalisiert sich in der Aussage, dass „keine Instanz außerhalb von Sätzen vorausgesetzt werden kann“ (Koller 1999, S. 33).12 Auch das Schweigen wird so zu einem, wenn auch negativ ausgedrückten, Satz (vgl. Koller 1999, S. 34). Indem Lyotard jeden Satz als ein eigenes Universum kennzeichnet, weshalb im Sinne des Konzeptes des Widerstreits kein Satz in einen anderen Satz überführt werden kann, entsteht auf der Ebene des Satzes eine radikale Heterogenität. Gleichzeitig geht Lyotard auf der gleichen Ebene jedoch auch von Ähnlichkeiten bei Sätzen aus, die sich in „SatzRegelsysteme(n)“, also in „Formationsregeln, nach denen Sätze gebildet werden“, ausdrücken (Koller 1999, S. 35, kursiv im Original). Im Zusammenspiel von Heterogenität und Homogenität bereitet Lyotard schon auf der Ebene von Sätzen sein Diskurskonzept vor. Die radikale Heterogenität von Sätzen reproduziert sich auch auf der Ebene von Satz-Regelsystemen, insofern unterschiedliche Satz-Regelsysteme nicht ineinander überführbar sind. Sätze eines Satz-Regelsystems legen eine bestimmte „Verkettung“ nahe. In Bezug auf Sätze gilt jedoch nur, „daß verkettet werden muß, aber nicht wie diese Verkettung zu erfolgen hat“ (Koller 1999, S. 35, kursiv im Original). Ein Diskurs ist nun ein Regelsystem, das bestimmte Verkettungen als „,passend‘ oder ‚triftig‘ erscheinen“ (Koller 1999, S. 35 f.) lässt, und zwar unter der Maßgabe spezifischer Zwecke, wie beispielsweise Wissen, Lehren, Verführen, Kontrollieren etc. Koller (1999, S. 36) führt aus: Daraus ergibt sich der selbstreferentielle Schluss, dass nicht festgelegt werden kann, was ein Satz ist, insofern jede Definition eines Satzes sich nur in Sätzen vollziehen könnte und man durch eine Definition, was ein Satz ist, nur Gefahr liefe, „sich in den Fallstricken der logischen Aporie zu verfangen“ (Koller 1999, S. 33). Erkenntnistheoretisch steht damit die Diskurstheorie nicht nur an dieser Stelle der Systemtheorie Niklas Luhmanns nahe. Anders als für Dieter Lenzen (1997) aus einer systemtheoretischen Perspektive, ist für Koller der Gedanke der Selbstreferentialität jedoch kein Grund, vom Bildungsbegri¤ Abstand zu nehmen. 12
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„Von Zwecken und Verkettungsmodi ausgehend lassen sich nun unterschiedliche Diskursarten unterscheiden; im Widerstreit beschreibt Lyotard u. a. die kognitive oder wissenschaftliche, die ökonomische, die philosophische und die narrative Diskursart. Auch hier handelt es sich nicht um eine geschlossene Taxonomie; die Sprache ist vielmehr grundsätzlich offen für neue Sätze und Diskursarten.“
Die von Koller hier angeführte Möglichkeit der unbegrenzten Neuschöpfung von Sätzen und Diskursen bietet ihm den Ausgangs- und Anknüpfungspunkt für die Formulierung seines diskurstheoretischen Bildungsbegri¤es. Geht man nämlich nicht mehr von einer der Sprache vorläufigen Instanz, beispielsweise einem bewusstseinszentrierten Subjekt, aus und hält man als einziges Faktum das Sich-Ereignen von Sätzen fest, so muss die Bildung, im Sinne eines Transformationsprozesses, an eine Transformation als Neuerfindung von Sätzen beziehungsweise Diskursen angebunden werden. Bezogen auf das Konzept des Widerstreits impliziert das Neuerfinden von Diskursen dabei gleichzeitig eine ethische Position, insofern es darum gehen soll, den Widerstreit durch eine O¤enhaltung anzuerkennen. Um dem Anspruch der Pluralität gerecht zu werden, sollen widerstreitende Positionen nicht durch ein Herrschaftsverhältnis gewaltsam ineinander überführt werden, sondern es soll möglichst darum gehen, „das bisher Nicht-Sagbare zum Ausdruck“ zu bringen (Koller 1999, S. 150). Das Nicht-Sagbare ist dabei als ein Anliegen zu verstehen, das im herrschenden Diskurs bisher nicht ausdrückbar ist. Um das NichtSagbare zum Ausdruck zu bringen und damit einen Widerstreit (wieder) o¤enzuhalten, muss es daher gegenüber den Regeln des herrschenden Diskurses zur Neubildung eines Diskurses kommen. Die Neubildung eines zuvor nicht Ausdrückbaren hält damit den Widerstreit o¤en. Unter Bildung sind in diesem Sinne dann nach Koller (1999, S. 150) „Prozesse zu verstehen, in denen neue Sätze, Satzfamilien und Diskursarten hervorgebracht werden, die den Widerstreit o¤en halten, indem sie einem bislang unartikulierbaren ‚Etwas‘ zum Ausdruck verhelfen“. Durch seine diskurstheoretische Wendung des Bildungsbegri¤es und durch den Einbezug des Konzeptes des Widerstreits gelingt es Koller, den bisher rekonstruierten Bildungsdiskurs zwischen Bildungstheorie und Bildungsforschung an zwei wichtigen Punkten zu vertiefen. Einerseits kann mit dem Begri¤ des Diskurses eine in den Konzepten des existenziellen
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Subjekts und des Habitus nicht gefasste Ebene von sozialer Sinnproduktion aufgeschlossen werden. Ausgangspunkt ist dabei die Vorgängigkeit von Sprache, welche die bewusstseinstheoretische Relation von Subjekt und Sprache umdreht. Nicht das Subjekt produziert Sprache, sondern das Subjekt wird von der Sprache produziert, jedoch nicht als eine Instanz außerhalb, sondern als eine Position innerhalb der Sprache. Sinn erscheint so als eine sprachlich-eigenlogisch funktionierende und nur sprachlich produzierbare Instanz, wobei von einem weiten Sprachbegri¤ ausgegangen wird, der durch die Berücksichtigung von ‚negativen Sätzen‘ auch die stummen Praktiken der Sprache und Diskurse mit einbezieht. Neben dieser gegenüber dem existenziellen Subjekt und dem Habitus neu eingeführten Sinnproduktionsebene des Diskurses geht Koller andererseits durch die Ausarbeitung des Prinzips des Widerstreits auf die in den Arbeiten von Marotzki, Alheit und Herzberg eher randständig behandelte Normativitätsproblematik von Bildungsprozessen ein. Durch das O¤enhalten des Widerstreits wird die Möglichkeit gescha¤en, idiomatischen Neuerfindungen von Diskursen Raum zu geben, um so dem bisher Unartikulierten eine Ausdrucksmöglichkeit zu verscha¤en. Um dies begri¤ lich zu kennzeichnen, di¤erenziert Koller (1999, S. 152) zwei Dimensionen in dem von ihm ausgearbeiteten Bildungsbegri¤, die er als die „skeptische“ und die „innovative“ Dimension bezeichnet. Während es bei der skeptischen Dimension darum geht, Bildung zu begreifen als „die Respektierung von Di¤erenzen zwischen den Diskursarten, die Beachtung ihrer Inkommensurabilität und die Zurückweisung aller totalisierenden und vereinheitlichenden Versuche einzelner Diskursarten, die Rolle eines Metadiskurses einzunehmen“ (Koller 1999, S. 152), geht es bei der innovativen Dimension des Bildungsbegri¤es darum, „über die Anerkennung des Widerstreits hinaus nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten für das zu suchen, was in den jeweils vorherrschenden Diskursarten nicht gesagt werden kann“ (Koller 1999, S. 153). Ziel ist es dabei, dem möglichen Verschwinden eines Diskurses zu begegnen, dessen Aussagen sich nur negativ in einem Schweigen ausdrücken (vgl. Koller 1999, S. 152). Bildung als die Erfindung neuer Diskursarten erscheint so in ihrem Transformationsverhältnis auch unter ethischen Gesichtspunkten rekonstruierbar, indem das „Nicht-Artikulierbare als ethisches Kriterium“ eingeführt wird (Koller 1999, S. 154). In eigener Weise knüpft Jenny Lüders (2007) in ihrer Dissertation ‚Ambivalente Selbstpraktiken. Eine Foucaultsche Perspektive auf Bil-
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dungsprozesse in Weblogs‘ an den von Koller entworfenen Rahmen einer diskurstheoretisch orientierten Bildungstheorie und Bildungsforschung an. Wie die bereits vorgestellten Ansätze versucht auch Lüders (2007, S. 147), zu einer „produktiven Verbindung von systematisch-theoretischen Erörterungen und empirischen Rekonstruktionen“ zu kommen. Lüders’ Ausgangspunkt bilden die Arbeiten von Michel Foucault, wobei sie versucht, dessen „implizite ‚Bildungstheorie‘“ herauszuarbeiten (Lüders 2007, S. 16). Wie Koller sieht auch Lüders (2007, S. 35) das (Bildungs-)Subjekt als „E¤ekt […] sprachlicher Prozeduren“. An Foucaults Diskurstheorie anschließend geht es ihr um „die strikte Absage an jede theoretische Konzeption, die dem Subjekt die Fähigkeit zuschreibt, als selbstbewusste und vorgängige Instanz Diskurse zu begründen und zu kontrollieren“ (Lüders 2007, S. 78). Wie für die diskurstheoretische Perspektive üblich, sind Subjekte als Positionen innerhalb, jedoch niemals außerhalb von Diskursen zu verstehen. Diskurse werden, Foucault folgend, als ausschließlich historische Produkte gekennzeichnet (vgl. Lüders 2007, S. 119), wobei sie genealogisch betrachtet als Produkte von strategischen Kämpfen und damit als Produkte von Machtbeziehungen beschrieben werden. Die hier angesprochenen Machtbeziehungen sind jedoch nicht mit intentional geführten Kämpfen um Macht zu verwechseln; vielmehr werden die Diskurse und die hiermit einhergehenden Machtkomplexe „als Produkte eines anonymen, aber regelhaften Geschehens“ begri¤en (Lüders 2007, S. 171). Mit der so angedeuteten, von Foucault inspirierten Perspektive fokussiert Lüders stärker als Koller die machttheoretischen Implikationen einer diskurstheoretischen Ausgangsthese. Dies verdeutlicht sich auch in der Kennzeichnung gegenwartsdiagnostischer Ausgangspunkte. Die von Koller und Marotzki angeführte Individualisierungs- und Pluralisierungsthese wird vor dem Hintergrund einer Analyse gouvermentaler Machtpraktiken kritisch hinterfragt. Lüders rekonstruiert, auf Elster (2006) Bezug nehmend, zwei zu unterscheidende Phasen der jüngsten Modernisierung des 20. Jahrhunderts, die als fordistische und postfordistische Gesellschaftsformen gekennzeichnet werden (vgl. Lüders 2007, S. 100 ¤.).13 Die fordistische Gesellschaftsform sei maßgeblich durch disziplinierende Praktiken geprägt. Durch den Anschluss einer diskurstheoretischen Perspektive an eine Gesellschaftsanalyseverfolgt Lüders ein ähnliches Projekt wie die vorliegende Arbeit.
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Lüders (2007, S. 100 f.) führt mit Bezug auf die für die fordistische Phase charakteristischen Arbeitsprinzipien von Henry Ford und Frederick W. Taylor aus: „Im ‚Taylorismus‘, dessen Höhepunkt in den 60er Jahren lag, galt als wichtigstes Ziel die totale unternehmerische Kontrolle des gesamten Arbeitsprozesses. Dem entsprechen vor allem Techniken der Normierung, der Standardisierung, der Optimierung und der zeitökonomischen Kontrolle des Produktionsprozesses.“
Lüders findet hier Anhaltspunkte, die fordistische Gesellschaftsform mit Foucaults Analysen zur ‚Disziplinargesellschaft‘ und dem damit verbundenen Machtbegri¤ der ‚Disziplinarmacht‘ gleichzusetzen. Die fordistische Gesellschaftsform gerät Lüders (2007, S. 101 f.) zufolge in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts in eine Krise:14 „Eine quantitative Steigerung der Produktion war nicht mehr möglich, da die Rationalisierung des fordistischen Modells an ihre Grenzen geriet. Außerdem entbrannte durch den internationalen Wettbewerb ein Konkurrenzkampf, dem die fordistischen Industrieländer nicht mehr mit einem weiter sinkenden Preisniveau begegnen konnten. Diesen Krisenerscheinungen wurde nun Rechnung getragen durch eine Umorientierung, die statt auf ein quantitatives auf ein qualitatives Wachstum zielte. Die Strategie bestand in der Ausweitung der Nachfrage in bestehenden Märkten durch eine verstärkte Kundenorientierung und eine Beschleunigung der Produktionszyklen. Dies erforderte allerdings einen Bruch mit der fordistischen Produktionsweise. Um besser auf spezifische Kundenwünsche und kurzfristige Bedürfnisse des Marktes reagieren zu können, war eine Flexibilisierung und Individualisierung der Produktion notwendig. Es konnten nicht mehr die einzelnen Arbeitsschritte festgelegt werden, sondern lediglich das Ergebnis als ‚Zielvereinbarung‘ (Elster 2006, S. 20), deren Erreichen immer stärker in die Verantwortung der einzelnen Arbeitskraft gelegt wurde. Für diese neuen Anforderungen war nun ‚der disziplinierte, normierte und austauschbare Arbeitende tayloristischer Arbeitskonzepte vollkommen ungeeignet. Es bedurfte vielmehr qualifizierter, flexibler und im Sinne des Unternehmerinteresses engagierter Mitarbeiter (Elster 2006, S. 16).‘“
Inwiefern diese Gesellschaftsanalyse zutre¤end ist und eine fordistische von einer postfordistischen Produktionsweise abgelöst wird oder ob es nicht vielmehr zu zu di¤erenzierenden Überlagerungsverhältnissen kommt, soll an dieser Stelle nicht diskutiert werden.
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Lüders (2007, S. 102) beschreibt nun Anforderungen der postfordistischen Gesellschaftsform und die damit einhergehende „Selbstorganisation der Arbeitskraft“ mit Foucaults machtanalytischem Begri¤ der Gouvernementalität. Foucault arbeitet an Analysen des 16. und 18. Jahrhunderts den Machtbegri¤ der Gouvernementalität heraus, bei der es, verkürzt formuliert, um eine Führung zur Selbstführung geht. Individualisierung, Flexibilisierung und Pluralisierung erscheinen nicht mehr nur als begrüßenswerte Freiheitsgewinne, sondern, kritisch gewendet, auch als „government of individualisation“ (Masschelein/Ricken 2003, S. 150). Die kritische Wendung der Individualisierungsthese hat für Lüders (2007, S. 13) auch bildungstheoretische Konsequenzen, die sich in einer „Ambivalenz im Konzept der Bildung“ aufzeigen lassen. Mit Bezug auf Masschelein und Ricken führt Lüders (2007, S. 13) aus: „Die in ihm [dem Bildungskonzept (F. v. R.)] aufgehobene Idee einer gegen die gesellschaftlichen Zwänge gerichteten individuellen Freiheit zur Selbstvervollkommnung ist zugleich der zentrale Ansatzpunkt für eine ‚Regierung durch Individualisierung‘.“ Durch die so eingegangene „Komplizenschaft von ‚Bildung‘ und ‚Macht‘“ (Lüders 2007, S. 13) erscheint eine Bildungstheorie fraglich, die im Sinne Dietrich Benners (2000) nicht nur ‚a¤irmativ‘, sondern ‚kritisch‘ verfahren möchte. Einen Einstieg zu einem nicht nur kritisch negierenden, sondern kritisch-produktiv verfahrenden Bildungsbegri¤ findet Lüders wiederum in der Machttheorie Michel Foucaults. Ausgangspunkt ist dabei Foucaults Beschreibung der konstitutiv relationalen Beziehung von Macht und Widerstandsmöglichkeit: „Denn die vorherrschenden Machtformen gehen nicht nur mit typischen Unterwerfungsweisen, sondern ebenso mit charakteristischen Widerstandsformen einher. […] Zwischen Macht und Widerstand besteht also eine Korrelation.“ (Lüders 2007, S. 131 f.) Ein Widerstandspotenzial gegenüber einer gouvernementalen Machttechnik der „Führung der Selbstführung“ sieht Lüders (2007, S. 125, 132) in der Praxis der „Entsubjektivierung“. Ohne dabei einen vollständigen Entzug im Sinne eines Ausstiegs aus Machtbeziehungen vor Augen zu haben, geht es Lüders (2007, S. 127) zufolge bei der Entsubjektivierung darum, „das eigene Sein aufs Spiel zu setzen, um sich aus den spezifischen Regierungsformen, die dieses Sein [durch Subjektivierungspraktiken (F. v. R.)] begrenzen und bedingen, zu entziehen und diese neu zu entwerfen“. Die Möglichkeit eines Neuentwurfs sieht Lüders, einem Vorschlag Judith Butlers folgend (welche wiederum mit Jacques Derridas
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Begri¤ der ‚Iterabilität‘ arbeitet), in der Notwendigkeit, dass sich Macht durch das Subjekt reproduzieren und damit wiederholen muss. In der Wiederholung liegt durch den Faktor der Zeitlichkeit eine Diskontinuität und damit eine nicht einzuholende Unbestimmtheit, welche die Möglichkeiten für ein Veränderungspotenzial bereitstellt. Lüders (2007, S. 130) führt, bezogen auf die machtförmige Reproduktion von Subjektivität, die sie nach Foucault als Subjektivierung kennzeichnet, dahingehend aus: „Im Handeln, Denken, Fühlen, Sprechen und Wahrnehmen wiederholt das Subjekt notwendig die es konstituierenden Bedingungen, ohne dass diese Akte vorab bestimmt wären. Es fehlt ein Ursprung oder ein übergreifender Bezugspunkt, der sie regulieren könnte. Die Mechanismen der Unterwerfung/ Subjektivierung sind demzufolge von einem Riss durchzogen, der weder vollständig kontrollierbar noch beherrschbar ist, und eben dies eröffnet nicht nur die Möglichkeit für Zufälle und ‚Ereignisse‘, sondern auch Handlungsspielräume für Widerstand.“
Lüders entwirft so ihre Bildungstheorie zwischen den ambivalenten Polen von Subjektivierung und Entsubjektivierung beziehungsweise zwischen Unterwerfung und Widerstand, womit sie die schon von Koller thematisierte Normativitätsproblematik in Bildungsprozessen aufnimmt. Kollers Model einer skeptischen und einer innovativen Dimension ähnlich, entwickelt auch Lüders eine zweigliedrige Bildungstheorie. Den Ausgangspunkt stellt eine Argumentation dar, in der Lüders (2007, S. 45) in Bezug auf die Normativitätsproblematik von einer „Umwendung von Normativität in Kritik“ ausgeht. Lüders grenzt eine kritische Praxis von einer normativen Position dahingehend ab, dass die kritische Praxis zunächst jeglichen Geltungsanspruch in Frage stellt, ohne dabei dem normativen Anspruch einen anderen normativen Anspruch entgegenzusetzen. Mit Benner kennzeichnet Lüders (2007, S. 46) die dabei entstehende „unhintergehbare ‚Negativität‘“ für Bildungstheorien als unbefriedigend, weshalb sie eine zweite Dimension anbringt, die wie bei Koller eine innovative Funktion fokussiert. Lüders (2007, S. 47 f.) führt aus: „Der Ist-Zustand wird kritisiert, ohne auf eine vorgegebene Norm zu rekurrieren, gleichzeitig beginnt mit der Kritik aber eine produktive Suchbewegung, die neue Möglichkeiten entwirft. So wird die normative Dimension zu einer relationalen, produktiven Kritik.“
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In den Begri¤en der Relation und der Produktivität, welche auf Kritik bezogen werden, deutet Lüders hier schon ein für ihre Bildungstheorie zentrales zweigliedriges Reflexionsmodell an, was sie im Folgenden, auf Foucaults Kritikverständnis rekurrierend, ausarbeitet. Die erste der beiden Achsen eines Kritikbegri¤s kennzeichnet Lüders mit Foucault als genealogisch. Ausgehend von der schon angeführten Prämisse, dass Diskurse nicht ontologisch, sondern ausschließlich historisch verfasst sind und dass mit ihnen immer ein Machtverhältnis einhergeht, verabschiedet sich Lüders (2007, S. 113 f.) mit Foucault von dem Anspruch einer Kritik als Legitimitätsprüfung: „Ihm [Foucault (F. v. R)] zufolge gibt es nämlich per se kein ‚wahres‘ und ‚unverfälschtes‘ Sein, das durch Fehldeutung oder Herrschaftsmechanismen unterdrückt und so zu einem ‚illegitimen‘ Sein verdorben würde. Wissen sei grundsätzlich gewaltsam und kontingent. […] Ob etwas ‚wahr‘ (und damit legitim) ist oder nicht, erscheine demnach nicht mehr als Frage der legitimen Erkenntnis, sondern als Effekt von Macht.“
Der nach Legitimität oder Wahrheit fragende Geltungscharakter wird deshalb in der genealogischen Analyse eingeklammert. Es geht in einem ersten Schritt also zunächst nur darum, die diskursiven Bedingungen der Möglichkeit einer ‚Seinsweise‘ o¤enzulegen.15 Damit erö¤net sich jedoch gleichzeitig eine kritische Perspektive, denn jeglicher Geltungscharakter wird durch die genealogische Rekonstruktion in seiner Historizität kritisch hinterfragt, wodurch die Kontingenz und entstandene Machtförmigkeit eines diskursiven Geschehens teilweise o¤engelegt wird. An dieser Stelle erö¤net sich nun der Einstiegsmoment für die zweite Achse von Kritik, die in der innovativen Funktion von Kritik gesucht wird. In und durch die historisch-genealogische Rekonstruktion erö¤net sich nämlich ein „Feld von möglichen Ö¤nungen und Unentschiedenheiten, von eventuellen Umwendungen und Verschiebungen“, was die gegebenen Akzeptabilitätsbedingungen „fragil und unbeständig macht“ (Foucault 1992, S. 40, zitiert nach Lüders 2007, S. 114).
Lüders geht davon aus, dass sich der Kritikbegri¤ von Foucault primär auf Formen moderner Subjektivität richtet (vgl. Lüders 2007, S. 123). Es geht laut Foucault (2005, S. 706) um eine „kritische Ontologie unserer Selbst“. 15
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Dabei ist festzuhalten, dass sich die so entstehende genealogische Rekonstruktion dadurch, dass sie selbst einen (historischen) Standpunkt einnimmt, nicht außerhalb, sondern innerhalb des diskursiven Geschehens befindet. Wie schon in der Relation von Macht und Widerstand angedeutet, gibt es keinen Standpunkt außerhalb der Macht, weshalb eine Kritik auch nicht als Negation im Sinne eines Ausstiegs, sondern vielmehr als Gegenmacht innerhalb einer Machtrelation zu verstehen ist (vgl. Lüders 2007, S. 115 ¤.). Die zweite von Lüders für einen produktiven Kritikbegri¤ gekennzeichnete Achse, die sich mit dem innovativen Moment von Kritik auseinandersetzt, muss deshalb konstitutiv innerhalb eines gegebenen Macht-Wissens-Komplexes ansetzen. Foucault folgend kennzeichnet Lüders daher den kritisch-innovativen Aspekt von Bildungsprozessen als „produktives Grenzexperiment“. Mit Foucault schlägt Lüders (2007, S. 118) eine „experimentelle Praxis“ vor, bei der es darum geht, die Grenzen des eigenen Seins experimentell zu verschieben: „Es handelt sich um die Annäherung an das eigene Sein in seiner ganzen Bedingtheit. Da ich diese Bedingungen aber in ihrer Totalität nicht erfassen kann, muss ich sie experimentell austesten, mich ihnen strategisch nähern, sie probehalber anders denken, um sie in diesem ‚Anders denken‘ probehalber erfahrbar zu machen. Und genau in diesem Versuch einer ‚kritischen‘ Erfassung der Grenzen und Bedingungen des eigenen Seins werden diese möglicherweise verschoben.“ (Lüders 2007, S. 118)
An anderer Stelle parallelisiert Lüders (2007, S. 165) die so entstehende Haltung mit der „Erfahrung einer Seinsungewissheit“. Der damit generierte Bildungsgedanke trägt eine ethische Komponente, insofern es nach Lüders (2007, S. 121) das Ziel eines produktiven Grenzexperiments ist, „innerhalb dieser unhintergehbaren Machtspiele ,mit dem geringsten Aufwand an Herrschaft zu spielen‘ (Foucault 1985, S. 25)“.16 Sich auf die Der so eingenommene ethische Standpunkt, der bei Koller als minimale Ethik gekennzeichnet wurde, wird von Lüders (2007, S. 123) nun als „relative Ethik“ begri¤en, womit darauf aufmerksam gemacht werden soll, dass dieser ethische Standpunkt selbst historisch und kulturell verfasst ist und damit in gewisser, jedoch nicht ausschließlicher Weise selbst als relativ und kontingent rekonstruiert werden kann. Lüders (2007, S. 115) spricht in diesem Zusammenhang von einer „Kritik als grund- und ortlose Praxis“, wobei die Metapher auch umkehrbar wäre, insofern jede Kritik einen (strategischen) Grund und Ort in ihrer Zeit und in ihrer soziokulturel16
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schon rekonstruierten Praktiken der Subjektivierung und Entsubjektivierung beziehend, ist für Lüders (2007, S. 257) Bildung ein Prozess, „in dem durch Selbstpraktiken die im Symbolischen gegebene Subjektivität irritiert und ein ‚Anders-Werden‘ als Verhalten zur eigenen Seinsungewissheit möglich wird“. Lüders entwirft wie Koller so einen in der Diskurstheorie verankerten Bildungsbegri¤. Zentral erscheint dabei zu sein, dass die eigene ‚Seinsgewissheit‘ aufs Spiel gesetzt wird. Bildungstheoretisch sind hierfür zwei Achsen relevant, eine genealogisch-kritische und eine innovativ-experimentelle Achse. Wie bei Koller übernimmt damit auch bei Lüders der Bildungsbegri¤ eine kritische Funktion, wobei Lüders’ Ausführungen stark auf die machttheoretischen Implikationen eines diskurstheoretisch orientierten Bildungsbegri¤es eingehen. Lüders ergänzt so die diskursive Sinnproduktion um den historisch-genealogischen Aspekt der Macht. Produktion, Reproduktion und Transformation von Sinn werden damit als historische Produkte symbolischer Kämpfe gekennzeichnet. Neben dem diskurstheoretischen, dem existenziell-phänomenologischen und dem habitustheoretischen Projekt arbeitet auch der pragmatistisch-wissenssoziologische Ansatz von Arnd-Michael Nohl an einer Verbindung von Bildungstheorie und empirischer Bildungsforschung. Wollte der existenziell-phänomenologische Ansatz das in die FreiheitGeworfen-Sein des Subjekts herausstellen, wohingegen der habitus- und der diskurstheoretische Ansatz in unterschiedlicher Art und Weise die Verankerung des Subjekts in gesellschaftliche Symbolordnungen anzeigten, fokussiert der pragmatistisch-wissenssoziologische Ansatz das Verhältnis von Spontaneität und Reflexion.
2.4. Das pragmatistisch-wissenssoziologisch orientierte Projekt: Bildung und Spontaneität In einem an Pragmatismus und praxeologischer Wissenssoziologie orientierten Projekt arbeitet Arnd-Michael Nohl (2006) in seiner Habilitationsschrift ‚Bildung und Spontaneität‘ eine an a-theoretischen Wissensbelen Verfasstheit besitzt, weshalb sie gerade keine grund- und ortlose oder, anders, zeitlos-universelle Praxis mehr ist.
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ständen orientierte Bildungstheorie und empirische Bildungsforschung heraus. Ausgangspunkt ist die These, dass Bildungsprozesse „plötzlich, ungeplant, ohne die Distanz der Reflexion“ beginnen und sich so aus einem „spontanen Handeln“ heraus entfalten können (Nohl 2006, S. 7). Ziel der Arbeit ist es demnach, einerseits aus einer bildungstheoretischen Perspektive spontane Handlungsverläufe handlungstheoretisch zu konzeptionalisieren, und andererseits die Prozessstruktur von spontanen Bildungsprozessen empirisch zu untersuchen. Im Fokus der Reflexionen von Nohl steht dabei das Wechselverhältnis von reflexiven und a-reflexiven Handlungsmomenten. In der pragmatistischen Theorietradition sieht Nohl geeignete theoriestrategische Möglichkeiten, dem Wechselverhältnis von reflexiven und a-reflexiven Handlungsabläufen in Bildungsprozessen näherzukommen, insofern der Pragmatismus sich von einem intentionalistischen Handlungsbegri¤ abgrenzt und dadurch Dichotomisierungen zwischen reflexiven und a-reflexiven Handlungsschemata vermieden werden (vgl. Nohl 2006, S. 15 f.). Anders als bei Marotzki, Koller und Lüders stehen bei Nohl nicht nur die biographischen Einzelfälle, sondern auch der kollektive Zusammenhang mehrerer Interviewgruppen im Fokus der Untersuchung. Von empirischen Rekonstruktionen biographischer Wandlungsprozesse in drei Lebensaltern ausgehend, zeigt Nohl, wie Bildungsprozesse zunächst in einem engen Zusammenhang mit dem Erlernen einer neuen Handlungspraxis stehen. Während beim Erlernen einer neuen Handlungspraxis allerdings die Selbst- und Weltverhältnisse nur in geringem Maße verändert werden, kommt es vor dem Hintergrund von Passungsschwierigkeiten zwischen Selbst und Welt bei Bildungsprozessen zu einer grundlegenden Transformation von Selbst- und Weltverhältnissen. Um das einem Bildungsprozess vorausgehende Erlernen einer neuen Handlungspraxis metatheoretisch zu reflektieren, stützt sich Nohl auf John Deweys Philosophie der education, während er für die Konzeptionalisierung der Transformation von Selbst- und Weltverhältnissen auf die kunst- und religionstheoretischen Arbeiten von Dewey zurückgreift. Grundlegender Ausgangspunkt für die Reflexionen, sowohl über das Erlernen einer neuen Handlungspraxis als auch für die Transformation von Selbst- und Weltverhältnissen, ist Deweys Experience-Modell (vgl. Nohl 2006, S. 82 ¤.). Deweys Experiencebegri¤ verweist auf die interaktive Beziehung von Organismus und Umwelt, auf den kontinuierlichen Zusammenhang von vergangener, gegenwärtiger und zukünftiger
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experience und auf den vorreflexiven Charakter jeder experience, in dem Organismus und Umwelt noch undi¤erenziert erscheinen (vgl. Nohl 2006, S. 112). Hiervon ausgehend rekonstruiert Nohl für die Erklärung des Entstehens einer neuen Handlungspraxis Deweys tripolaren Handlungsbegri¤, welcher ein gewohnheitsmäßiges, ein spontanes und ein reflektiertes Handeln einzuschließen sucht. Das gewohnheitsmäßige Handeln wird, Dewey entsprechend, von Nohl mit dem Habitbegri¤ gefasst. Habits stellen für Nohl (2006, S. 84) „vorreflexive, auf Situationen bezogene Handlungsrepertoires dar, die sich aus der Korrespondenz von Organismus und Umwelt bilden und die in ihrer Kontinuität transsituativ sind“. Habits tragen dabei immer auch einen kollektiven Aspekt mit sich, insofern sie immer in einen sozialen Kontext von Gruppen und Gesellschaft eingelassen sind, „selbst wenn sie sich als persönliche habits von diesem abheben“ (Nohl 2006, S. 84). Persönliche habits entstehen aus dieser Perspektive aus kollektiven habits (vgl. Nohl 2006, S. 112). Verschiedene habits konstituieren so ein pragmatistisch gefasstes dynamisches ‚Selbst‘. Gleichzeitig werden habits jedoch „auf einer Ebene unterhalb des ‚Charakters‘ bzw. des Selbst angesiedelt“ (Nohl 2006, S. 112), womit nach Nohl auch ihr a-reflexiver Charakter angezeigt wird. Für das Erlernen einer neuen Handlungspraxis, das nach Nohls empirischen Rekonstruktionen einer Transformation von Selbst- und Weltverhältnissen vorausgeht, ist die prozessual verfasste Di¤erenz von habit und Situation beziehungsweise zwischen Organismus und Umwelt von entscheidender Bedeutung. Aus der Di¤erenz von habit und Situation ergibt sich ein Handlungsmoment der Kontingenz, für das Nohl Deweys Begri¤ des Impulses benutzt (vgl. Nohl 2006, S. 86 ¤.) und das in einem engen Zusammenhang mit spontanen Handlungsformen steht. Der Impulsbegri¤ ist für das Erlernen einer neuen Handlungspraxis zentral, insofern im „spontanen Impuls“ ein „Irritations- und Abweichungspotential“ (Nohl 2006, S. 86) angelegt ist, welches die Möglichkeit für eine Veränderung von habits bereitstellt. Impulse können in einem routinisierten Handlungsablauf durch habits überformt werden. Kommen die Routinen eines habits jedoch ins Stocken, beispielsweise weil sie „ihre Fähigkeit verlieren, neue Situationen zu bewältigen“ (Nohl 2006, S. 88), kann der Impuls aus seiner Überformung vom habit heraustreten, wodurch es zu einem reflexiven Erkundungsprozess der „inquiry“ kommt.
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Inquiry kann mit Dewey so als eine reflexive „Vergegenwärtigung der Handlungssituation“ verstanden werden (Nohl 2006, S. 88). Neben routinisierten Handlungsaspekten (habits) und spontanen Handlungsaspekten (impulses) kann Nohl mit dem Inquirybegri¤ und dem damit verbundenen reflexiven Handeln auch die dritte handlungstheoretische Achse des Pragmatismus mit einbeziehem. Das Erlernen einer neuen Handlungspraxis ist nun durch ein spezifisches Zusammenspiel aller drei Handlungsaspekte gekennzeichnet. Wo die mit den habits in Verbindung stehenden Handlungsroutinen ins Stocken geraten, entsteht nach Nohl (2006, S. 88) „eine Lücke, eine ‚Verzögerung‘ (Dewey 1980, S. 132) zwischen alten habits und Handlungen, die den Impuls seiner Unmittelbarkeit beraubt und damit die Reflexion unterschiedlicher Handlungsalternativen ermöglicht“. Der Handelnde versucht nun, „auf der Basis von Impulsen neue Handlungen auszuformen, die später in Form von habits ins Vorreflexive sedimentieren“ (Nohl 2006, S. 89). Dabei entsteht ein experimentelles Handeln, in dem der Handelnde darum bemüht ist, „seinen (bedeutungslosen) Impulsen eine Bedeutung zu geben“, wodurch es immer auch zu einer „experimentellen Erkundung des zukünftigen Selbst und der zukünftigen Welt“ kommt (Nohl 2006, S. 89). Zurückgegri¤en wird in diesem Prozess auf „Anregungen“, welche aus „vorgängiger, nicht reflektierter experience“ entstehen (Nohl 2006, S. 90). Die a-reflexiv gefassten Anregungen, die sich ähnlich dem Impuls einer reflexiven Aneignung zunächst entziehen, stellen durch eine Vermittlungsleistung von ungeklärtem Ist-Zustand und projiziertem Zustand eine Möglichkeit zur Problembehandlung und damit auch eine Möglichkeit für das Erlernen einer neuen Handlungspraxis dar. Nohl (2006, S. 91) schreibt zum Prozess der Anregungen: „Dabei werden unterschiedliche, vorgängige Situationen gedanklich durchgespielt, die daraufhin überprüft werden, ob sie genauere Hinweise über die Verbindung zwischen derzeitiger und projizierter Situation geben.“
Ausgehend von dem so rekonstruierten tripolaren Handlungsbegri¤ kann Nohl das für ihn wichtige Verhältnis zwischen reflexiven und areflexiven Handlungsaspekten beim Erlernen einer neuen Handlungspraxis, das einem Bildungsprozess empirisch vorausgeht, deutlich machen. In der Inkongruenz zwischen Handlung und Situation ist eine nicht festzustellende Kontingenz angelegt. Kommt es zu einem Stocken
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des gewohnheitsmäßigen Handelns, beispielsweise weil ein habit eine Situation handlungspraktisch nicht mehr bewältigen kann, löst sich die Überformung von spontanen Handlungen durch gewohnheitsmäßige Handlungsaspekte. Es kommt zu einer inquiry, in der spontan a-reflexive und reflexive Handlungsaspekte in ein spezifisches Wechselverhältnis gelangen. Impulse lassen a-reflexive Wissensbestände und damit Teile eines „qualitativen Hintergrund(es) des Reflektierens“ (Nohl 2006, S. 92), die für die Bewältigung der Handlungssituation hilfreich sein könnten, intuitiv einer Reflexion zugänglich werden. Es kommt zu einem experimentellen Handlungsablauf, in dem zuvor bedeutungslosen oder anders bedeutsamen Handlungsaspekten eine neue Bedeutung gegeben wird. Sedimentieren sich die so gewonnenen neuen Handlungsmöglichkeiten wieder zu einem gewohnheitsmäßigen Handeln, kann man vom Entstehen eines neuen habit und in diesem Sinne vom Entstehen einer neuen Handlungspraxis sprechen. Die so gefasste Entstehung eines neuen habit und damit einer neuen Handlungspraxis führt jedoch nur zu geringen Veränderungen von Selbst- und Weltverhältnissen, insofern diese aus vielen unterschiedlichen habits zusammengesetzt sind. Nohl findet deshalb in Deweys Philosophie der education zwar eine Erklärungsmöglichkeit, um die empirischen Rekonstruktionen zu reflektieren, welche zu Beginn eines Bildungsprozesses das Entstehen einer neuen Handlungspraxis aufzeigen, jedoch können hieraus nicht die für eine Bildungstheorie wichtigen Prozesse einer grundlegenden Transformation von Selbst- und Weltverhältnissen erklärt werden. Ansatzpunkte für eine bildungstheoretische Reflexion der Transformation von Selbst- und Weltverhältnissen findet Nohl in den kunst- und religionstheoretischen Schriften Deweys. Fokussiert werden hier die Begri¤e der „impulsion“ und des „adjustment“. Anders als bei der Veränderung von habits kommt es bei einem bildungstheoretisch gedachten „adjustment“ zu einer Transformation von „Selbst“ und „Welt“. Während ein „Selbst“ als aus „Interpenetrationen unterschiedlicher, auch divergenter habits“ bestehend gedacht wird (Nohl 2006, S. 112), wird die Welt von Nohl (2006, S. 115) mit einem Zitat von Dewey als die „Totalität der Bedingungen, mit denen ein Selbst verbunden ist“, gefasst. Die Welt erscheint so als der schon angesprochene, meist vorreflexiv gedachte „qualitative Hintergrund“ von Handlungsprozessen (vgl. Nohl 2006, S. 106 f.). In diesem Zusammenhang kann Nohl (2006, S. 175 ¤.) Deweys Konzepte
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von Selbst und Welt durch einen interaktions- beziehungsweise kollektivitätstheoretischen Rahmen di¤erenzieren. Nohl rekurriert hierfür auf die Arbeiten von George Herbert Mead,17 Karl Mannheim und die Ausarbeitungen von Ralf Bohnsack zur praxeologischen Wissenssoziologie. Nach Mead fasst Nohl das Selbst interaktionstheoretisch als die Relation zwischen „I“ und „me“. Neben der sich damit erö¤nenden interaktionstheoretischen Perspektive auf Bildungsprozesse erschließt sich durch die Begri¤e des I und me die Möglichkeit, die an Dewey orientierten pragmatistischen Überlegungen an die kollektivitätstheoretischen Ausarbeitungen Karl Mannheims anzuschließen. Das I wird so, anders als bei Mead, von Nohl (2006, S. 191) im Anschluss an die ausgeführten Überlegungen zu Dewey „nicht als angeborene Funktion der Anpassung, sondern als Instanz der kreativen Neuadjustierung“ gefasst, wohingegen das me mit dem Milieubegri¤ und Mannheims Konzept des kollektiven Erfahrungsraumes kollektivitätstheoretisch ausdi¤erenziert wird. Ähnlich dem Habituskonzept ergibt sich ein konjunktiver Erfahrungsraum durch homologe Erfahrungszusammenhänge. Das Teilen eines konjunktiven Erfahrungsraumes setzt jedoch nicht zwangsläufig einen geteilten Lebensraum voraus, vielmehr kann er sich ortsungebunden ergeben, beispielsweise durch die Zugehörigkeit zu einer Generation oder einem Geschlecht. Unterschiedliche konjunktive Erfahrungsräume können dabei einen Milieuzusammenhang herstellen. Milieuzusammenhänge sind konstitutiv mehrdimensional strukturiert, insofern sich innerhalb eines Milieus mehrere konjunktive Erfahrungsräume, beispielsweise die einer Generation, eines Geschlecht oder eines Bildungsmilieus, überlagern. Hiervon ausgehend kann der qualitative Hintergrund (die Welt) als in kollektive Erfahrungsräume eingebettet gesehen werden, wo-
Durch den interaktionstheoretischen Rekurs auf die Arbeiten von Mead zeigen sich bei Nohl Parallelen zu der Arbeit von Krassimir Stojanov (2006). In diesem Zusammenhang geht Stojanov vor allem auf die Arbeit von Axel Honneth (2003) ein, welcher in Meads Konzept des I und me ein sozialpsychologisches Äquivalent zu Hegels Konzept der Kämpfe um Anerkennung findet. In einer interessanten Abhandlung gelingt es Stojanov, die Arbeiten der jüngeren kritischen Theorie bildungstheoretisch an die Transformationsprozesse von Selbst-und Weltverhältnissen anschlussfähig zu machen. Stojanov kann so aus einer interaktionistischen Perspektive, stärker als Nohl dies tut, Bildungsprozesse unter Aspekten von Normativität beleuchten 17
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bei die Relation zwischen Welt und Selbst interaktionstheoretisch mit den Begri¤ lichkeiten von I und me gefasst werden kann. Den Faden zu einer auszuarbeitenden Bildungstheorie im Anschluss an Deweys Überlegungen zur Kunst- und Religionstheorie aufgreifend, wird von Nohl der Ausgangspunkt für die Transformationen von Selbst und Welt nun nicht in einzelnen situationsbezogenen Passungsschwierigkeiten zwischen einem habit und einer Situation, sondern in einer Passungsschwierigkeit, die sich auf das gesamte Verhältnis zwischen Selbst und Welt bezieht, gesehen. Nohl (2006, S. 114) führt hierzu aus: „Wenn die Passung zwischen Selbst und Welt nicht mehr stimmt, ist mehr oder weniger jede Situation unklar.“ Als Anlass für eine mögliche Passungsschwierigkeit zwischen Selbst und Welt Mannheims Reflexionen zu Milieus und kollektiven Erfahrungsräumen nutzend, rekonstruiert Nohl empirisch, wie es im Vorfeld von Bildungsprozessen oft zu einer „Auflösung tradierter Wissensbestände und angestammter Milieus“ kommt (Nohl 2006, S. 266). Aus einer interaktionstheoretischen Perspektive wird das Selbst nicht mehr ungebrochen durch die sich aus kollektiven Rahmungen ergebenden Me‘s stabilisiert. Ist das Passungsverhältnis zwischen Selbst und Welt in der erwähnten Weise gestört, wird damit potenziell die Möglichkeit einer Transformation von Selbst und Welt angelegt. Zentral für Nohls pragmatistisch orientierte Bildungstheorie wird hier der Begri¤ des adjustment. Dewey zitierend ist adjustment für Nohl (2006, S. 102) ein Prozess, in dem es „zu einem ‚composing and harmonizing of the various elements of being‘ und zu einem Rearrangement der Welt“ kommt. Prozesse des adjustment zielen dabei sowohl auf eine dauerhafte als auch auf eine grundlegende Transformation des Selbst und seines qualitativen Hintergrundes (der Welt) ab. Nach Nohl (2006, S. 101) entspricht adjustment „insofern dem Konzept der ‚Wandlung‘, wie es in der qualitativen Bildungsforschung von Fritz Schütze entwickelt und von Winfried Marotzki bildungstheoretisch fruchtbar gemacht worden ist“. Dem Prozess einer Habitveränderung ähnlich, findet Nohl auch im adjustment eine Möglichkeit der Relationierung von reflexiven und areflexiven Handlungsaspekten. Für das erneute In-Passung-Stellen von Selbst und Welt ist nach Nohl (2006, S. 115) „die imaginative Projektion eines ‚ganzheitlichen‘ Selbst“ konstitutiv. Diese kann jedoch nicht allein aus dem Prozess einer reflexiven Erkundung erfolgen; hier setzt für Nohl ein Prozess des adjustment ein, welcher durch ein spezifisches Verhält-
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nis von reflexiven und a-reflexiv-spontanen Handlungsaspekten gekennzeichnet ist. Nohl (2006, S. 115) führt zum Prozess des adjustment aus: „Es geht hier um nichts weniger als die Verknüpfung des aktuellen, empirischen Selbst mit seinem präreflexiven Hintergrund zu einem idealisierten ganzheitlichen Selbst.“ Ähnlich dem Impuls bei der Habitveränderung spielt hierfür das spontane Handeln eine zentrale Rolle. Im Begri¤ der Impulsion findet Nohl eine Begri¤ lichkeit, welche sich, anders als der Begri¤ des „impulse“, auf die Transformation von Selbst- und Weltverhältnissen beziehen lässt. Impulsion bezieht sich dabei auf die „‚Hebung‘ der auf das ganze Selbst bezogenen vorreflexiven experience (d. h. des qualitativen Hintergrundes)“ (Nohl 2006, S. 109) und damit auf die Erschließung von bis dahin in konjunktiven Erfahrungsräumen ungenutzten Potenzialen (vgl. Nohl 2006, S. 276). Der mit den spontanen Handlungsaspekten in Zusammenhang stehende Begri¤ der Impulsion wird hiermit zur zentralen Stellschraube, um das Verhältnis von reflexiven und a-reflexiven Handlungsmomenten bei der Transformation von Selbst und Welt zu klären. Ausgelöst von einer Passungsschwierigkeit zwischen Selbst und Welt, kann es zum Prozess einer sich spontan vollziehenden Impulsion kommen. Die Impulsion „führt dabei den qualitativen Hintergrund der vorgängigen experience an das aktuale Selbst heran und ermöglicht dem/der Handelnden auf diese Weise die Idealisierung eines ganzheitlichen Selbst. Das Potential des qualitativen Hintergrundes wird also in der spontanen Handlungspraxis zur Entfaltung gebracht.“ Im Prozess der Impulsion tritt das Selbst damit in eine experimentelle Haltung zu sich selbst, die Impulsionen dienen „der Suche nach neuen Wegen des Selbst“ (Nohl 2006, S. 109). Die Welt und damit nach Nohl der weitestgehend a-reflexiv und kollektiv verfasste qualitative Hintergrund wird durch spontane Handlungsaspekte von Impulsion an das Selbst herangetragen, wodurch sich Transformationsmöglichkeiten ergeben. Dass aus spontanen Prozessen der Impulsion und den damit erö¤neten Transformationspotenzialen ein Prozess eines dauerhaften adjustment werden kann, hängt nun wieder mit reflexiven Handlungsaspekten zusammen. Bei diesen Reflexionen geht es um die Frage, „wie das Handeln fortgesetzt werden soll und wie die Wendung im Handlungsverlauf (und damit in der Lebensgeschichte und im Selbst) zu bewerten ist“ (Nohl 2006, S. 111). Durch diese „reflexive Stabilisierung“ (Nohl 2006, S. 111) bekommen die Impulsionen und die damit an das aktuelle Selbst herangetragenen a-reflexiven und kollektiven Wissens-
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bestände eine neue Bedeutungsgebung. Nohl (2006, S. 116) führt zum Prozess des adjustment aus: „Statt der Reflexion eines von seiner Welt abgegrenzten Ichs verschmelzen in diesem Moment […] der Organismus und seine Welt zu einer undifferenzierten Einheit. […] In jenem Moment, in dem Selbst und Welt im Zuge spontaner Impulsionen verschmelzen, erhalten die Impulsionen erst ihre Sinnhaftigkeit. Denn ebenso wie die Impulse sind auch die Impulsionen für sich ungeformt und sinnlos. Erst dort wo sie in einer empirischen Situation auftreten, erhalten sie durch die von ihnen angeregten Anschlusshandlungen einen (in der Handlungssequenz festgelegten) Sinn.“
So kommt es bei einem Bildungsprozess zu einem Zusammenspiel von einem in die Krise geratenen gewohnheitsmäßigen Handeln, einem hier ansetzenden spontanen Handeln, das in einem experimentellen Umgang a-reflexive und kollektiv gerahmte Wissensbestände an reflexive Wissensbestände heranträgt, und einem reflexiven Handeln, das die neuen Handlungspotenziale durch eine Bedeutungsgebung biographisch integriert, wodurch eine „Reformulierung der eigenen Lebensgeschichte“ (Nohl 2006, S. 120) entsteht. Aus der so gewonnenen Perspektive zwischen Pragmatismus, Interaktionismus und praxeologischer Wissenssoziologie erarbeitet Nohl eine empirisch fundierte Theorie spontaner Bildungsprozesse. Ebenso wie die habitustheoretischen Ausarbeitungen von Alheit und Herzberg bezieht auch Nohl die Einbindung von Bildungsprozessen in a-reflexive und kollektiv geteilte Wissensbestände konstitutiv mit ein. Anders als bei den bisher rekonstruierten habitustheoretischen Ausarbeitungen gelingt es Nohl dabei jedoch, im Anschluss an die kunst- und religionstheoretischen Überlegungen Deweys eine Bildungstheorie auszuarbeiten, welche eine Transformation von Selbst und Welt fassen kann, ohne dass es dabei zu einer aus der Position der Habitustheorie kritisch zu bewertenden „Loslösung von der Sozialisationsgeschichte“ kommt (Nohl 2006, S. 115). Durch das in spontanen Handlungsvollzügen geleistete „Heranführen“ und die damit reflexiv zusammenhängende „Hebung“ eines kollektiv gerahmten qualitativen Hintergrundes konzeptionalisiert Nohl eine Bildungstheorie zwischen reflexiven und a-reflexiven Handlungsmomenten. Sinn wird hier in einem Zusammenspiel zwischen gewohnheitsmäßigem, spontanem und reflexivem Handeln produziert und reproduziert beziehungsweise in Bildungsprozessen transformiert.
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2.5. Bildungstheoretische Anschlusslinien: Die Vorgängigkeit der Sprache, die Orientierung an a-theoretischen Wissensmustern und der Anschluss an eine Theorie der Praxis Untersucht man die unterschiedlichen Ansätze, die sich um die Relationierung von Bildungstheorie und empirischer Bildungsforschung bemühen, nicht hinsichtlich ihrer Divergenzen, sondern unter der Perspektive ihrer Homologien, können zwei sich teilweise überschneidende Diskurslinien rekonstruiert werden, welche in der Folge skizziert werden sollen. Zunächst wird eine bildungstheoretische Linie dargestellt, welche in unterschiedlicher Art und Weise die Vorgängigkeit der Sprache betont (a), um dann eine bildungstheoretische Linie zu benennen, welche stärker a-theoretisch und routinisiert verlaufende Wissensbestände betont (b); beide Linien finden meiner Meinung nach einen Anschluss in einer Theorie der Praxis (c). a) Die erste Linie, die sich aus dem Gedanken einer Vorgängigkeit der Sprache heraus entwickelt, findet erste Ansatzpunkte in der Arbeit von Rainer Kokemohr, der in den 1980er Jahren in Bezug auf die Transformation von Selbst- und Weltverhältnissen eine vornehmlich sprachlich verfasste Negation von Geltungsansprüchen sozial validierter Erfahrungsverarbeitungsweisen ins Zentrum seiner Bildungstheorie und empirischen Bildungsforschung stellt. Winfried Marotzki nimmt diesen Gedanken einer Vorgängigkeit der Sprache Ende der 1980er Jahre auf, um ihn dann, wie rekonstruiert, in Anlehnung an Sartre, Günther und mit den methodologischen Mitteln der Wissenssoziologie zu einer phänomenologisch inspirierten strukturalen Bildungstheorie auszubauen. Radikalisiert wird der Gedanke einer Vorgängigkeit der Sprache dann in der diskurstheoretischen Arbeit von Hans-Christoph Koller. Wie rekonstruiert, wird hier entsprechend Lyotards Ansatz keine Instanz außerhalb von Sätzen angenommen. Jenny Lüders ergänzt den diskurstheoretischen Ansatz, indem sie, mit Foucault arbeitend, stärker die machttheoretischen und historischen Aspekte von Diskursen in den Vordergrund stellt. Während bei Marotzki das Subjekt die Möglichkeit einer subjektiven Aneignung von Sprache hat, wird bei Koller und Lüders das Subjekt erst in der Sprache produziert. Kann bei Marotzki eine subjektive Instanz außerhalb von Sprache vermutet werden, wird diese bei Koller und Lüders systematisch ausgeschlossen. Koller und Lüders schließen damit jedoch
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den Gedanken einer subjektiven Sinnproduktion nicht aus; das Subjekt sowie seine Freiheits- und Kritikpotenziale werden, wie rekonstruiert, in ihren Bildungstheorien nur anders konzeptionalisiert. Die Produktion, Reproduktion und Transformation von Sinn erscheinen so als sprachlich beziehungsweise als diskursiv verfasst. b) Ein anderer Theoriehorizont wird in der zweiten, sich um eine Relationierung von Bildungstheorie und empirischer Bildungsforschung bemühenden Linie aufgemacht. Weniger die Vorgängigkeit der Sprache als vielmehr die Orientierung an kollektiv geteilten und a-theoretisch verfassten Wissensbeständen steht hier im Vordergrund. Vor allem mit Pierre Bourdieu arbeitend, zeigen Peter Alheit (1992, S. 45) und Heidrun Herzberg, wie Bildungsprozesse „durch die Subjekte hindurch“ funktionieren. Ausgangspunkt ist dabei ein Habitusmodell, das als ein Generierungsprinzip von Wahrnehmungs-, Denk-, Fühl- und Handlungsmustern verstanden wird. Der Habitus entsteht dabei durch die Inkorporierung gesellschaftlicher Strukturen und das Teilen von kollektiven, meist routinisiert und implizit funktionierenden Wissensbeständen. Während bei Marotzki die subjektive Aneignung von Gesellschaft im Vordergrund steht, wird in den habitustheoretischen Arbeiten die kollektiv geteilte Aneignung von Gesellschaft betont. Diesen Grundgedanken teilt auch die pragmatistisch-wissenssoziologisch orientierte Bildungstheorie von Arnd-Michael Nohl. Anders als die habitustheoretischen Arbeiten rekonstruiert Nohl jedoch in Anlehnung an Deweys Religions- und Kunsttheorie eine Bildungstheorie, die von kollektiv geteilten und weitestgehend a-theoretisch verfassten Wissensbeständen ausgeht und eine Transformation von Selbst und Welt denkbar macht, ohne dass sich dabei eine Abkehr von der Sozialisationsgeschichte vollziehen würde. Im Fokus steht hierfür ein zwischen gewohnheitsmäßigem und reflexivem Handeln vermittelndes spontanes Handeln. c) Ein Konvergenzpunkt der beiden Linien einer Vorgängigkeit der Sprache und einer Orientierung an kollektiv und weitestgehend a-theoretisch verankerten Wissensmustern liegt meiner Meinung nach in einem von allen Ansätzen geteilten methodologischen Perspektivenwechsel von den Was- zu den Wie-Fragen. Sowohl Marotzki, Koller und Lüders als auch Alheit, Herzberg und Nohl verankern die Relationierung von Bildungstheorie und empirischer Bildungsforschung in einem methodologischen Paradigma, welches auf theoretischer, methodologischer und empirischer Ebene Abstand zu nehmen versucht von einem intentiona-
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len und bewusstseinszentrierten Rekonstruktionsparadigma.18 Sowohl in der Linie, welche von der Vorgängigkeit der Sprache ausgeht, als auch in der Linie, welche kollektiv verankerte und a-theoretisch verfasste Wissensbestände fokussiert, werden einem wissenssoziologischen Ansatz folgend die Geltungsansprüche von Normativität und Richtigkeit zunächst ausgeklammert, um so einen modus operandi rekonstruieren zu können. Die verschiedenen Ansätze fokussieren dabei unterschiedliche Sinnproduktionsebenen eines modus operandi. Stellt der existenziell-phänomenologische Ansatz noch stark mentalistische Vorgänge von Sinn in den Vordergrund, lösen sich der diskurstheoretische, der habitustheoretische und auch der pragmatistisch-wissenssoziologische Ansatz von einer Ausrichtung am Mentalen, wodurch andere Analyseebenen der Sinnproduktion erschlossen werden. Während der habitustheoretische und der pragmatistisch-wissenssoziologisch orientierte Ansatz die Produktion von Sinn in kollektiv verankerten und weitestgehend a-theoretisch funktionierenden Wissensbeständen verortet sehen, geht der diskurstheoretische Ansatz davon aus, dass es keine Instanz außerhalb von diskursiven Praktiken gibt, seien sie nun sprachlich oder stumm verfasst. Durch ihren Fokus auf den Herstellungsprozess, der sich methodologisch in einem Perspektivenwechsel von den Was- zu den Wie-Fragen ausdrückt, lassen sich sowohl die diskurstheoretische Linie als die radikalisierte Form der Annahme einer Vorgängigkeit der Sprache als auch der an a-theoretisch verfassten und kollektiv verankerten Wissensbeständen orientierte Ansatz in seinen Ausprägungen einer habitustheoretischen und einer pragmatistisch-wissenssoziologischen Projektes über ihre Di¤erenzen hinweg in einen Zusammenhang mit einer Theorie der Praxis stellen.19 Während Koller und Lüders in ihrer BildungstheoDie Position von Marotzki lässt sich hier nicht eindeutig zuordnen. Einerseits nimmt Marotzki mit Sartre eine bewusstseinsphilosophische Position ein, andererseits fundiert er seine Untersuchungen in der Wissenssoziologie, deren Positionen sich meinem Eindruck nach nicht ohne Weiteres mit Sartres Philosophie vereinbaren lassen.
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19 An dieser Stelle wird der Zusammenhang einer Theorie der Praxis nicht der Bourdieuschen Theorietradition vorbehalten, vielmehr soll angezeigt werden, dass es unterschiedliche Ansätze einer Theorie der Praxis gibt, eben beispielsweise auch eine diskurstheoretisch oder pragmatistisch orientierte Theorie der Praxis. Vgl. in diesem Sinne auch Reckwitz 2000.
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rie und empirischen Bildungsforschung diskursive und nicht-diskursive Praktiken fokussieren, rekonstruieren Alheit, Herzberg und Nohl in unterschiedlicher Art und Weise die Entstehung des Neuen vor dem Hintergrund von habitualisierten Praktiken.20 In der Folge soll es darum gehen, einen eigenen Anschluss an eine Theorie der Praxis zu suchen. Ausgangspunkt ist dabei einerseits die handlungstheoretische Fundierung von Wissensmustern, welche nicht singulär, sondern kollektiv verankert sind, die sich aus der Inkorporierung von gesellschaftlichen Strukturen ergeben und habitualisieren, also weitestgehend a-theoretisch und implizit funktionieren. Andererseits soll der diskurstheoretische Ansatz dahingehend aufgenommen und umformuliert werden, dass es keine Instanz außerhalb von diskursiven oder stummen Praktiken gibt, dass sich also auch ein Subjekt, ein Habitus, ein Kollektiv, ein impliziter Wissensbestand erst innerhalb einer Praxis konstituieren und so also auch als Positionen innerhalb und nicht als Instanzen außerhalb einer Praxis zu verorten sind. Die diskurstheoretische Blickrichtung wirft damit eine Perspektive auf anonym und stumm verlaufende Regelmäßigkeiten von Praxis. Vor dem Hintergrund dieser beiden Perspektiven ergibt sich auf theoretischer, empirischer und methodologischer Ebene die Aufgabe, eine Bildungstheorie und empirische Bildungsforschung im Zusammenhang mit einer Rekonstruktion von Praktiken zu konzeptionalisieren.
20 Wie herausgearbeitet, arbeiten Alheit und Herzberg mit dem Habitusbegri¤, während Nohl den Habit-Begri¤ bevorzugt. Diese Di¤erenz in Hinterkopf behaltend, wird in der Folge von habitualisierten Praktiken gesprochen.
3. Ausarbeitung einer praxeologischen Bildungstheorie
Anschließend an die Rekonstruktionen des zweiten Kapitels soll in der Folge ein eigener bildungstheoretischer Begri¤srahmen entwickelt werden. Ausgangspunkt hierfür sind Ansätze einer Theorie der Praxis (Bourdieu 2001b; Reckwitz 2000). Zuvor soll jedoch zunächst das Wechselverhältnis zwischen Bildungstheorie und empirischer Bildungsforschung thematisiert werden. Ziel ist es, einigen häufigen Missverständnissen bezüglich des Wechselverhältnisses von theoretischen, methodologischen und empirischen Arbeitstechniken vorzugreifen (3.1). Anschließend wird auf das bildungstheoretische Problem der Weltvergessenheit eingegangen (3.2), um danach einen metatheoretischen Rahmen auszuarbeiten, der es ermöglichen soll, aus einer bildungstheoretischen Perspektive methodologische und empirische Anschlüsse für eine empirisch gehaltvolle Gesellschaftsanalyse zu finden. Im Zentrum dieser Ausführungen wird der Feldbegri¤ stehen (3.2.1). Der Feldbegri¤ wird dabei als ein Begri¤ ausgearbeitet, welcher soziale Eigenlogiken jenseits von Akteurskonstruktionen in den Blick nehmen kann. Damit taucht jedoch gleichzeitig das bildungstheoretische Problem der Vermittlung zwischen Struktur und Praxis auf, dem mit einer Ausarbeitung des Habitusbegri¤es begegnet werden soll (3.3). Hiervon ausgehend wird dann das schon in Kapitel 2 thematisierte bildungstheoretische Problem einer Habitustransformation angegangen (3.3.1) und nachfolgend aus einer ethischen Perspektive reflektiert (3.4). Abschließend sollen dann erste Umrisse einer praxeologischen Bildungstheorie skizziert werden (3.5).
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3.1. Zwischen Bildungstheorie und Bildungsforschung: Zum Unterschied zwischen Metatheorie und Gegenstandstheorie Wie in Kapitel 1 schon ausgeführt, gibt es, vor allem vor dem Hintergrund der disziplinären Entwicklungen der Erziehungswissenschaft nach dem Zweiten Weltkrieg, ein Interesse daran, Bildungstheorie und Bildungsforschung zu verbinden, um den Bildungsbegri¤ auch im 21. Jahrhundert anschlussfähig zu halten. Neben diesem Interesse teilen die ausgeführten Ansätze der phänomenologisch-, habitustheoretisch-, diskurstheoretisch- und pragmatistisch-orientierten Bildungstheorien einen methodologischen Grundrahmen, welcher sich auf das Wechselverhältnis von theoretischer und empirischer Rekonstruktion und, wie in Kapitel 2.5 angeführt, auf die Fokussierung von modi operandi bezieht. Konsens ist dabei ein Bruch mit Annahmen des Common Sense über empirische Forschungsprozesse. Anders als bei hypothesenprüfenden Forschungsverfahren (vgl. Bohnsack 2003, S. 13 ¤.), bei denen die Empirie der Theorie deduktiv nachgeordnet ist, wird in der vorliegenden Arbeit, basierend auf den methodologischen Reflexionen der rekonstruktiven Sozialforschung, von einem heuristischen Wechselverhältnis von Empirie und Theorie ausgegangen (vgl. hierzu auch Marotzki 1990, Koller 1999, Herzberg 2004, Nohl 2006, Lüders 2007). Dabei geht es darum, einen in Bezug auf die empirischen Rekonstruktionen weniger linear-deduktiv als vielmehr zirkulär-rekonstruktiv gedachten metatheoretischen Begri¤srahmen zu explizieren, von dem aus das empirische Material beleuchtet wird, um aus dem Material heraus eine neue gegenstandsbezogene Theorie auszuarbeiten, welche dann wieder auf die metatheoretischen Ausführungen Einfluss nimmt. Ziel ist die Vermeidung einer vermeintlich theorielosen Empirie und einer empirielosen Theorie. Bildungstheorie und empirische Bildungsforschung sind so in ihrem Verhältnis nicht hierarchisch, sondern heterarchisch organisiert. Das damit entstehende zirkuläre Wechselverhältnis zwischen Metatheorie, empirischer Rekonstruktion, Gegenstandstheorie und der so erfolgende, sich wiederholende Rückgri¤ auf eine sich empirisch sättigende Metatheorie und Methodologie1 können in linearen Darstellungsformen meist Die methodologische Fundierung meiner Arbeit wird in Kapitel 4 genauer ausgearbeitet.
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AUSARBEITUNG EINER PRAXEOLOGISCHEN BILDUNGSTHEORIE
nur unzureichend ausgedrückt werden. Ich habe mich dafür entschieden, in der Darstellung vom Forschungsstand ausgehend (Kapitel 2), zunächst einen metatheoretischen Ausgangsrahmen zu beschreiben (Kapitel 3 und 4) und dann die empirischen Rekonstruktionen darzustellen (Kapitel 5 bis 8). Zwangsläufig können die unterschiedlichen Einflussnahmen und die hieraus entstehenden Di¤erenzierungen, die sich in der Metatheorie durch die empirischen Rekonstruktionen ergaben, als auch die sich durch die Umbrüche in der Metatheorie produzierte Schärfung des empirischen Blickes nur unbefriedigend dargestellt werden. Die nun folgende Begri¤srekonstruktion einer bildungstheoretisch inspirierten Theorie der Praxis ist so gesehen das Ergebnis einer Steinbrucharbeit, welche sich wechselseitig auf empirische und theoretische Arbeitstechniken bezieht. Die vornehmlich der Arbeit von Pierre Bourdieu entlehnten Begri¤e von Habitus und Feld werden aufgenommen, vor dem Hintergrund der Konfrontation mit den eigenen empirischen Materialien verändert und für die eigenen Zwecke weiterentwickelt. So entsteht ein Vorgehen, welches zwar mit den praxeologischen Begri¤en von Bourdieu arbeitet, diese jedoch nicht einfach deduktiv auf das empirische Material anwendet, sondern in dessen Verlauf es zu einer eigenen Nutzung der Begri¤e kommt. Die verwendeten Begri¤e erfahren in der empirischen Ausarbeitung eine eigene Wendung, die dem empirischen Material angemessen ist und die ihrerseits auf die metatheoretischen Ausführungen zurückwirkt. Ziel ist so eine durchaus als Dekonstruktion zu fassende Generierung und Neubildung von Theorien und empirisch gesättigten Typen. Ralf Bohnsack (2003, S. 30) folgend, ist damit eine Theorie „ihrem Gegenstand nur angemessen, wenn sie aus ihm heraus entwickelt worden ist“.2 Die empirische Rekonstruktion ist in diesem Sinne auch als eine Methode der Bildungstheoriegenerierung zu sehen. Die folgenden theoretischen, methodologischen und empirischen Ausführungen der Kapitel 3, 4, 5, 6, 7 und 8 sind deshalb, auch wenn sie separat und einer linearen Darstellung folgend aufgezeichnet sind, in ihrer zirkulären Ausarbeitung untrennbar verwoben.
2 Ralf Bohnsack bezieht sich an dieser Stelle auf die Generierung von Gegenstandstheorien. Im oben genannten Sinne gehe ich davon aus, dass sich der Gedanke auch auf die Generierung von Metatheorien übertragen lässt. Empirische Rekonstruktionen dienen so nicht nur der Generierung von Gegenstandstheorien, sondern sie können auch Anlass zur Be- und Ausarbeitung einer Metatheorie geben.
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3.2. Das bildungstheoretische Problem der Rekonstruktion von gesellschaftlichen Strukturen Ein grundlegendes bildungstheoretisches Problem, das die vorgestellten, sich um eine Verbindung von Bildungstheorie und empirischer Bildungsforschung bemühenden Ansätze teilen, soll in der Folge mit dem Begri¤ der Weltvergessenheit gekennzeichnet werden. Ausgangspunkt stellt dabei die These dar, dass sich die bildungstheoretisch orientierte Biographieforschung nur in unzureichender Weise an eine empirisch gehaltvolle Gesellschaftsanalyse angeschlossen hat. Die Stoßrichtung dieser Kritik ist schon an anderer Stelle markiert worden. Lothar Wigger führt in Bezug auf (2004, S. 486) den phänomenologisch orientierten und auf einer extensiven Einzelfallauslegung beruhenden Ansatz von Winfried Marotzki kritisierend aus: „Die gesellschaftstheoretische Relevanz erziehungswissenschaftlicher Bildungsprozessanalysen ist nicht ausgeschöpft, wenn die aufwendigen Einzelfallstudien nur eine generelle Bestätigung des Individualisierungstheorems von U. Beck ergeben und im Resultat nur als jeweils ‚eine typische Biographie der Moderne‘ verstanden werden“.
An anderer Stelle nimmt Wigger (2008, S. 172) implizit auch auf die Ausarbeitungen Kollers Bezug, wenn er schreibt: „Die individuellen Lebensgeschichten werden als Ausdruck postmoderner Gesellschaften verstanden, aber Postmoderne scheint nur die Chi¤re zu sein, die die Leerstelle gesellschaftstheoretischer Analysen verdeckt.“ In diesem Zusammenhang explizit auf Kollers Arbeit Bezug nehmend und dessen schon dargestellte normativ-skeptische Haltung der O¤enhaltung des Widerstreits hinsichtlich der fehlenden Rekonstruktion von gesellschaftlichen Strukturen jenseits eines subjektiven Weltbezuges kritisierend, schreibt Wigger (2004, S. 489): „Lyotards Konzept des Widerstreits kann bildungsanregende Konflikte beschreiben helfen, durch die Differenzen der Weltsichten von Fachsprachen oder Diskursarten in unterschiedlichen gesellschaftlichen Subsystemen wie z. B. zwischen juristischem und moralischem Denken, zwischen naturwissenschaftlich-technischem Denken, philosophischem, narrativem, ökonomischem oder politischem Denken. Aber gerade dieser Weltbezug und diese in-
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haltlichen Konflikte werden in der normativen Wendung, Bildung sei die subjektive Anerkennung von Widerstreit oder die innovative Erfindung von neuen Diskursarten als neuen Ausdrucksarten, vergleichgültigt und versubjektiviert.“
In einer allgemeineren Kritik, welche sich auf die Vermittlung von Subjektivität und Objektivität bezieht, hält Wigger (2004, S. 490) zusammenfassend fest, dass die bildungstheoretisch orientierte Biographieforschung – gemeint sind hier vor allem die Ansätze von Marotzki und Koller – an die Problemlagen einer Rekonstruktion von gesellschaftlichen Strukturen nicht heranreicht, „wenn sie sich auf die akribische Bearbeitung der Frage beschränkt, wie Subjekte mit ihren Erfahrungen umgehen oder sich in der Welt orientieren“. Gefordert wird damit meiner Meinung nach ein theoretischer, methodologischer und empirischer Anschluss der biographieorientierten Bildungstheorie und Bildungsforschung an eine empirisch gehaltvolle Gesellschaftsanalyse. Wigger (2004, S. 290) zufolge kann nur so „die Biographieforschung ihr Versprechen einlösen, über Einzelfallanalysen und biographische Rekonstruktionen einen Beitrag zur erziehungswissenschaftlichen Analyse und Theorie von Institutionen, Strukturen und pädagogischen Handlungsmöglichkeiten zu leisten“.
Eine Möglichkeit für einen Anschluss einer Gesellschaftsanalyse an bildungstheoretische Fragestellungen wird von einer breiten Autorenschaft im Habituskonzept gesehen (vgl. Alheit 2009; Herzberg 2004; Koller 2002; Rieger-Ladich 2005; Wigger 2006). Die leitende These der folgenden Ausführungen wird jedoch sein, dass die theoriestrategischen Möglichkeiten des Habituskonzeptes für die Analyse von Gesellschaft allein nicht ausreichen, insofern die Gesellschaft hier immer nur aus der Perspektive der habituskonstituierenden und habituskonstituierten Aneignung rekonstruiert wird. Diese Kritik tri¤t auch auf die Arbeit Lothar Wiggers zu. Wigger findet, wenngleich aus bildungstheoretischer Perspektive skeptisch bewertet,3 im Habituskonzept einen Ansatz, der Vermitteltheit von Subjekt- und Weltverhältnissen theoretisch und empirisch begegnen zu kön3 Auf die hier angeführte bildungstheoretische Skepsis, die sich auf die Möglichkeit einer Habitustransformation bezieht, wird in Kapitel 3.3.1 noch einzugehen sein.
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nen. Seine Kritik zunächst wiederholend, dass „in der Konzentration auf subjektive Erzählungen und deren biographische Interpretation [...] die Gesellschaftlichkeit des individuellen Denkens, Wahrnehmens und Handelns oft nur als abstrakt-allgemeiner Verweis“ (Wigger 2008, S. 172) vorkommt, findet Wigger (2008, S. 173) im Habitusmodell einen Begri¤, der „die gesellschaftliche Bestimmtheit individuellen Wahrnehmens, Denkens und Handelns fokussiert“. In diesem Sinne sieht Wigger (vgl. 2008, S. 172) in den Arbeiten von Peter Alheit (und hinzuzufügen wäre wohl auch die Arbeit von Heidrun Herzberg) „Ausnahmen“ des ausgemachten Defizits einer fehlenden Rekonstruktion gesellschaftlicher Verhältnisse in der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung. Der Habitusbegri¤ wird von Wigger (2008, S. 181) als eine „Kategorie der Vermittlung von sozialen Strukturen und individueller Praxis“ gesehen. Wenn auch auf andere Art und Weise, fällt Wigger so hinter den eigenen Anspruch zurück, eine Kategorie zur Rekonstruktion von gesellschaftlichen Strukturen jenseits einer subjektiven Aneignung zu benennen. Bourdieu zitierend kennzeichnet Wigger (2008, S. 180) selbst den Habitus „als System verinnerlichter Muster“. Wigger (2008, S. 172) geht es so mit dem Habitus um „den Nachweis der gesellschaftlichen Bestimmtheit von Subjektivität und von ihrem Denken, Wahrnehmen, Handeln“. Was Wigger zuvor bei anderen Autoren kritisiert, schleicht sich nun in seine eigene Konzeption mit ein. Die Rekonstruktion von gesellschaftlichen Strukturen kommt auch bei Wigger im Habitusbegri¤ wieder nur vermittelt und damit weitestgehend auf die – wenn nun auch gesellschaftlich vermittelten – Selbst- und Weltverhältnisse reduziert in den Blick der Analyse. Indem der Habitus, nun mit dem Präfix der Gesellschaftlichkeit versehen, als Vermittlungskategorie bestimmt wird, ergibt sich in anderer Weise die Problematik, die Wigger zuvor am Diskursbegri¤ Kollers rekonstruiert hat. Wurde Koller vorgeworfen, Gesellschaft entweder nur in einem abstrakt-allgemeinen Verweis oder in ihrer subjektiven Aneignung zu thematisieren, fokussiert Wigger mit dem Habitus nun Gesellschaft nur aus ihrer kollektiven Aneignung. Bezogen auf die Analyse von Gesellschaft reichen die Rekonstruktionen von subjektiven und kollektiven Formen der Aneignung von Gesellschaft nicht aus. Modernen Theorieprogrammen der Gesellschaftsanalyse wie beispielsweise jenen von Luhmann (1998), Habermas (1981), Giddens (1997), Foucault (1991) oder Bourdieu (1987) selbst folgend, kann eine
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Gesellschaft nicht einzig als ein Kollektiv und damit auch nicht aus den Formen seiner kollektiven Aneignung verstanden werden. Begri¤e wie System, Diskurs oder Feld kennzeichnen Phänomene gesellschaftlicher Eigenlogiken, die auch jenseits von Akteursbezügen rekonstruiert werden müssen und die für die Rekonstruktion von gesellschaftlichen Strukturen zentral sind. Würde man die inkorporierten Muster des Habitus mit einer zuvor geforderten Rekonstruktion von gesellschaftlichen Strukturen gleichsetzen, würden wichtige gesellschaftstheoretische Di¤erenzierungen eingeebnet. Eine ähnliche Problemlage ergibt sich aus einer gesellschaftstheoretischen Perspektive auch in der sich auf den Pragmatismus und die praxeologische Wissenssoziologie beziehenden Arbeit von Arnd-Michael Nohl. Auch hier wird im Zusammenhang mit Kollektivität in Anlehnung an Karl Mannheim immer auf die Zugehörigkeit zu einem kollektiven Erfahrungsraum rekurriert. Gesellschaftliche Eigenlogiken, welche sich jenseits von akteursgeleiteten Handlungspraktiken vollziehen, geraten so nicht oder nur vermittelt durch ihre kollektivitätsspezifische Aneignung in den Blick. 4 Eine Zwischenposition nimmt der im Anschluss an Michel Foucaults Arbeiten von Jenny Lüders ausgearbeitete, diskurstheoretisch orientierte Bildungsbegri¤ ein. Einerseits erkennt Lüders die Möglichkeit, mit dem Diskursbegri¤ eine Bildungstheorie an eine empirisch gehaltvolle Gesellschaftstheorie anzuschließen, andererseits wird auch bei ihr in der Ausarbeitung ihrer Bildungstheorie, ähnlich wie schon bei der habitustheoretischen und der pragmatistisch orientierten Bildungstheorie, die Rekonstruktion von Welt bis auf wenige Ausnahmen immer wieder auf die Rekonstruktion der Aneignung von Welt zurückgeführt. Eine Analyse von sozialer Welt, welche sich zunächst von der Vermitteltheit der Selbst- und Weltverhältnisse löst, bleibt weitestgehend aus. Vielleicht auch aus ihrem methodologischen Fundament begründet, welches methodologisch meist wissenssoziologisch geprägt ist, vernachlässigen die vorgestellten Ansätze – seien sie nun phänomenologisch,
Arnd-Michael Nohl (vgl. 2006d) erweitert sein kollektivitätstheoretisches Modell in seinen späteren Überlegungen zu einer Pädagogik kollektiver Zugehörigkeiten durch eine gesellschaftstheoretische Perspektive. Diese Überlegungen werden jedoch nicht systematisch auf seine bildungstheoretisch geleiteten empirischen Untersuchungen übertragen.
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habitustheoretisch, diskurstheoretisch oder pragmatistisch orientiert – weitestgehend eine Rekonstruktion von sozialer Welt jenseits von Selbstund Weltverhältnissen und damit eine Rekonstruktion, die sich di¤erent zu einer sozialphänomenologischen Rekonstruktion positioniert. Eine Rekonstruktion von sozialer Welt, die sich jenseits von subjektiven oder kollektiven Aneignungsformen vollzieht, findet weitestgehend nicht statt. Hier ergibt sich eine bildungstheoretische Leerstelle, welche das Problem der Weltvergessenheit vehement werden lässt. Gefragt ist eine Analysekategorie, welche die soziale Welt zunächst nicht vermittelt, sondern in ihrer Eigenlogik in den Blick nimmt. An dieser Stelle erö¤nen sich unterschiedliche sozialtheoretische Anschlussmöglichkeiten. Ohne einen Akteursbezug auskommend, radikalisiert beispielsweise Niklas Luhmann (1987) in seiner Systemtheorie eine Gesellschaftstheorie, welche sich ausschließlich auf kommunikative Eigenlogiken konzentriert. Akteure als psychische Systeme erscheinen zwar an Gesellschaft angeschlossen, dennoch bildet sich bei Luhmann die (Welt-)Gesellschaft nicht aus psychischen Systemen, sondern aus selbstreferentiell funktionierenden Kommunikationen. Auch Jürgen Habermas (1981), der sich gegenüber Luhmanns Systemtheorie äußerst kritisch positioniert, erkennt die Wichtigkeit einer Kategorie von sozialen Eigenlogiken an, die sich jenseits von Akteursintentionen reproduzieren. In seinem Hauptwerk, der Theorie des kommunikativen Handelns, gibt Habermas der Systemwelt neben der Lebenswelt eine prominente Stelle innerhalb seines Theoriegebäudes.5 Neben Luhmann und Habermas knüpft auch Michel Foucault (1981; 1991) mit seinem Diskursbegri¤ an den Gedanken einer sich jenseits von Akteuren reproduzierenden sozialen Eigenlogik an. Diskurse erscheinen bei Foucault als historische Machtgebilde, die anonym und regelgeleitet funktionieren.6 Wie noch zu rekonstruieren sein wird (vgl. Kapitel 4.5), erö¤net die Diskursanalyse so Möglichkeiten für die Rekonstruktion von gesellschaftlichen Eigenlogiken. Aus der Perspektive einer Theorie der Praxis stellen jedoch vor allem Pierre Bourdieus Begri¤e des sozialen
5 Dass die Anerkennung der Systemtheorie in Habermas’ Modell des kommunikativen Handelns auch kritisch gesehen werden kann, zeigen die Kommentare von Bernhard Waldenfels (1985) und Hans Joas (1986).
An dieser Stelle beziehe ich mich vor allem auf die archäologische und genealogische Phase in Foucaults Werk.
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Feldes und des sozialen Raumes Anschlussmöglichkeiten für die Rekonstruktion von gesellschaftlichen Eigenlogiken jenseits einer subjektiven oder kollektiven Aneignung bereit. Dies soll im Folgenden ausgeführt werden.
3.2.1. Der Begriff des Feldes als Anschluss an genuin gesellschaftstheoretische Fragestellungen Zur Beschreibung sozialer Eigenlogiken bietet sich aus einer praxeologischen Perspektive Pierre Bourdieus Feldbegri¤ an. Mit dem Feldbegri¤ stellt Bourdieu seinem bekannten Habitusbegri¤ eine sich auf externe Strukturierungsprinzipien beziehende Kategorie zur Seite. Während der Habitusbegri¤ als eine Vermittlungsinstanz gesehen werden kann, die sich auf „inkorporierte Strukturen“ bezieht, ist der Feldbegri¤ auch auf die Analyse gesellschaftlicher Eigenlogiken gerichtet, die Bourdieu (1998, S. 7) als „objektive Strukturen“ kennzeichnet. Dass der Feldbegri¤ gegenüber dem Habitusbegri¤ eine eigenständige und zu di¤erenzierende Analysekategorie darstellt, verdeutlicht Bourdieu in seinem doppelten Geschichtskonzept. Einerseits geht Bourdieu von einer sich reproduzierenden Geschichte der inkorporierten sozialen Strukturierung aus, die sich auf den Habitus bezieht, andererseits di¤erenziert Bourdieu von der inkorporierten und habitualisierten Geschichte eine Geschichte, welche sich jenseits der Akteure eigenlogisch reproduziert. Bourdieu und Wacquant (1996, S. 161) führen hierzu aus: „Die soziale Realität existiert sozusagen zweimal, in den Sachen und in den Köpfen, in den Feldern und in dem Habitus, innerhalb und außerhalb der Akteure.“ Eine Rekonstruktion von sozialer Welt, welche sich zunächst von einer vermittelten Perspektive über eine inkorporierte habitualisierte Geschichte von Selbst- und Weltverhältnissen lösen möchte, muss sich so auf eine Geschichte von sozialen Eigenlogiken beziehen, die sich mit Bourdieu, bezogen auf das Feld, auch „außerhalb“ der Akteursperspektive vollzieht. Es müsste also um eine Geschichte gehen, die nicht gleichzusetzen ist mit der sich über die Generationen vollziehenden, dabei auch immer wieder im Wandel befindlichen Geschichte der Habitusreproduktion. Eine Geschichte, auf die sich der Habitus zwar bezieht, für die der Habitus jedoch nicht der einzige Generierungsgrund ist. Zur Lösung dieses Problems bietet Bourdieu für den Feldbegri¤ zwei in seinen Schriften unterschiedlich ausgeprägte
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Analyseachsen an, die im Konzept einer gemeinsamen Feldgeschichte relational aufeinander bezogen werden. Einerseits geht es Bourdieu bei seinen Feldrekonstruktionen auf einer sich hierarchisch organisierenden Analyseachse um eine Geschichte der Kapitalverteilung (a), andererseits rekonstruiert Bourdieu, wenn auch weniger systematisch und in seinen Schriften weit weniger ausgeprägt, in seinen Feldrekonstruktionen auf einer heterarchisch organisierten Analyseachse unterschiedliche Feldcodes (b). Die hierarchisch und heterarchisch organisierten Perspektiven auf den Feldbegri¤ finden eine relationale Bezugnahme in einer sich auf eine historische Perspektive beziehenden Feldrekonstruktion (c). Alle drei Perspektiven der Feldrekonstruktion, die zusammen eine auch methodologisch anschlussfähige Analysekategorie für gesellschaftliche Eigenlogiken ergeben,7 sollen in der Folge ausgeführt werden. a) Für Bourdieu ist die Geschichte des Feldes eine Geschichte des Kampfes. Der Kampf stellt für ihn die zentrale Analysekategorie dar, um die Dynamik der Felder zu verstehen. Bourdieu (2001a, S. 368) führt bezogen auf ein Feld aus: „Das generierende und vereinheitlichende Prinzip dieses ‚Systems‘ ist der Kampf.“ Felder sind für Bourdieu Arenen der sozialen Auseinandersetzung, in denen es vor allem um die Distribution unterschiedlicher Kapitalformen und die damit verbundenen sozialen Positionen geht. Unter Berufung auf die unterschiedlichen Kapitalformen von ökonomischem, kulturellem, sozialem und symbolischem Kapital8 findet Bourdieu eine Ökonomie der Praxis.9 Die sozialen Auseinandersetzungen um unterschiedliche Formen von Kapital finden in den verschiedenen Feldern ihren relationalen Bezugspunkt. Innerhalb Bourdieus eigener empirischer Feldanalyse spielt
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Vgl. für die methodologischen Anschlüsse Kapitel 4.
8 Bourdieu erweitert den von Marx geprägten Kapitalbegri¤, indem er ihn neben der ökonomischen Sphäre auch auf andere Logiken des Sozialen bezieht. Ökonomisches Kapital bezieht sich auf die materiellen Güter und deren Verfügungsgewalt. Kulturelles Kapital lässt sich unterscheiden in objektivierte Formen des kulturellen Kapitals, wie Kunst, Bücher, Maschinen etc., in inkorporierte Formen des kulturellen Kapitals, wie beispielsweise verinnerlichte kulturelle Kompetenzen und institutionalisierte Formen des kulturellen Kapitals, etwa als Bildungstitel. Symbolische Kapitalformen beziehen sich auf gesellschaftliche Anerkennungsprozesse, wohingegen soziale Kapitalformen als Ressourcen zu sehen sind, die auf der Zugehörigkeit zu einer Gruppe basieren. 9
Hierzu kritisch Honneth 1984.
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dabei die Unterscheidung zwischen kulturellem und ökonomischem Kapital eine zentrale Rolle, insofern diese beiden Kategorien meist zwei Achsen eines auf ein Feld bezogenen Koordinatensystems bilden. Bourdieu findet so eine Felddi¤erenzierung zwischen Akteursgruppen, die sich vermehrt an einer ökonomischen Kapitalakkumulation orientieren, und solchen Akteursgruppen, die sich stärker an den unterschiedlichen Formen der kulturellen Kapitalakkumulation orientieren. In der damit gewählten Analyseeinstellung werden demnach vor allem hierarchisch organisierte und durch Macht strukturierte Verteilungskämpfe rekonstruiert.10 Zentral erscheint Bourdieu hierfür neben der unterschiedlichen Kapitalorientierung der Konflikt zwischen orthodoxen und häretischen Kräften im Feld. Von der hierarchischen Organisation unterschiedlicher sozialer Positionierungen ausgehend, welche wiederum mit unterschiedlichen Formen der Kapitalverteilung korrelieren, sieht Bourdieu einen ständigen Kampf zwischen orthodoxen Machtlinien, die die Ordnung des Feldes bewahren und damit die von ihnen eingenommene Sozialposition reproduzieren wollen, und Machtlinien, die die Ordnung des Feldes untergraben, torpedieren und verändern wollen, um so ihre soziale Position zu finden, abzugrenzen oder neu zu bestimmen. Bourdieu (1998, S. 70) führt aus: „Was Feldgeschichte macht, ist der Kampf zwischen den Inhabern der Macht und den Anwärtern auf diese Macht.“ Zusammenfassend ergibt sich so eine auf die Rekonstruktion der Dynamiken von unterschiedlichen Kapitalverteilungen und sozialen Positionierungen angelegte Analytik von hierarchisch organisierten Distributionskämpfen. Hiervon unterscheidet sich eine in Bourdieus Schriften gegenüber der bisher vorgestellten Perspektive deutlich weniger präsente, empirisch weitestgehend vernachlässigte, theoretisch jedoch durchaus angelegte Analyseperspektive einer auf heterarchaische Organisationsprinzipien abzielenden Rekonstruktion von Feldcodes. b) Der Begri¤ des Feldcodes stellt in Bourdieus Theoriearchitektonik eine Möglichkeit dar, Felder nicht nur unter hierarchischen, sondern
Die Analyseperspektive ähnelt den genealogischen Rekonstruktionen von Foucault (vgl. 1977; 1991). Auch Foucault untersucht unter dem Aspekt der Macht Kämpfe als gesellschaftliche Eigenlogiken jenseits einer Aneignung von Akteuren.
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auch unter heterarchischen Aspekten zu beleuchten.11 Zum Begri¤ des Codes eines Feldes führt Bourdieu (2001a, S. 427 f.) aus: „Wie eine Sprache stellt dieser Code durch die Möglichkeiten, die er faktisch oder rechtlich ausschließt, eine Zensur dar und gleichzeitig ein Ausdrucksmittel, das den unendlichen Erfindungsmöglichkeiten, die es zur Verfügung stellt, auch bestimmte Grenzen setzt; er funktioniert als historisch ausweisbares System von Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Ausdrucksschemata, welche die gesellschaftlichen Bedingungen der Möglichkeit – und damit in eins die Grenzen – der Produktion und Zirkulation kultureller Hervorbringung definieren, Schemata, die in Gestalt der konstitutiven Strukturen des Feldes objektiv existieren und zugleich in den mentalen Strukturen des Habitus körperlich verankert sind.“
Bourdieu kennzeichnet hier das Feld als einem Code folgend, den man auch als einen feldspezifischen Code der Praxis beschreiben kann. Ein sich auf ein Feld beziehender Code wird von Bourdieu als eine Grenze bestimmt, wobei diese Grenze zwei Funktionen besitzt. Einerseits steckt sie einen Möglichkeitsraum für zu generierende oder nicht zu generierende Praxisformen innerhalb eines Feldes ab. Andererseits bezieht sich ein Code auf ein Feld, sodass ein Feldcode auch eine Grenze zu anderen Feldcodes darstellt. Stellt Bourdieu, wie in den Ausführungen zu den feldspezifischen Distributionskämpfen beschrieben, Felder allgemein unter das Prinzip des Kampfes, kann in den sich unterscheidenden Feldcodes ein theoretisch di¤erenzierendes Mittel für die Unterscheidung verschiedener Felder jenseits einer Di¤erenzierung von bloß unterschiedlichen Kämpfen gesehen werden. Verschiedene Felder folgen unterschiedlichen Codes und bilden so unterschiedliche Logiken der Praxis und Möglichkeitsräume aus.12 11 Einerseits sind bei Bourdieu Feldcodes heterarchaisch konstruiert, insofern Bourdieu unterschiedliche Felder als unterschiedliche Kampfarenen konzipiert, deren Kämpfe nicht ineinander überführbar sind; andererseits ist für Bourdieu das Feld der Macht den anderen Feldern übergeordnet, sodass, anders als bei Luhmann, bei Bourdieu eine streng heterarchaische Perspektive hier nicht durchgehalten wird. Der Begri¤ des Feldcodes bietet meiner Meinung nach dennoch die Möglichkeit, Felddi¤erenzen auf einer heterarchaischen Ebene zu thematisieren. 12 Die Perspektive des Feldcodes ähnelt den archäologischen Rekonstruktionen Foucaults (vgl. 1974; 1981) und dem binären Codieren bei Luhmanns (1987) Begri¤ des Funktionssystems.
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Wie soziale Verteilungskämpfe reproduzieren sich feldspezifische Codes zeitlich und weisen damit eine eigene Geschichte auf. Sie bilden die historische Folie für feldspezifisch unterschiedliche Formen der habituellen Produktion und Aneignung sozialer Praxis, sind mit diesen jedoch nicht gleichzusetzen. Zwar ist die kommunikative und performative Wiederau¤ührung eines Feldcodes strukturelle Voraussetzung für dessen auch codespezifische Reproduktion, jedoch erschließt sich der gesellschaftliche, diskursive und nichtdiskursive Hintergrund der habitualisierten Praktiken nicht, wenn man bei einer akteursgebundenen Perspektive verbleibt. Vielmehr bilden Akteure und deren Praktiken Ereignisse innerhalb eines Feldes; will man die Logik dieser Ereignisse jedoch feldspezifisch beobachten, muss der ereignishafte Charakter einer habituell aufgeführten Praktik in seinem akteursgebundenen Geltungscharakter eingeklammert werden, um die spezifische Logik eines sozialen Feldes und damit die Logik seines Codes und, wie hinzuzufügen wäre, seiner Verteilungskämpfe rekonstruieren zu können.13 Dabei sind feldspezifische Verteilungskämpfe und Codes für Bourdieu gleichermaßen historisch verfasst. Damit findet sich im Konzept der (Feld-)Geschichte ein relationaler Bezugspunkt, der helfen kann, hierarchische und heterarchische Rekonstruktionen zu verbinden. c) Immer wieder betont Bourdieu, dass Felder historisch verfasst sind. Sich gegen einen Universalisierungsanspruch stellend, welcher zu Recht oder zu Unrecht den Vertretern des Strukturalismus vorgeworfen wird, konzipiert Bourdieu Felder als sich historisch prozesshaft vollziehende Instanzen. Felder haben die Möglichkeit, ihre Strukturen nicht nur zu reproduzieren, sondern sie auch zu transformieren.14 Machtpositionen können sich wandeln, an Wert verlieren oder hinzugewinnen, auch feldspezifische Codes können sich wandeln, sodass neue semantische, diskursiv und nichtdiskursiv verfasste Möglichkeitsräume der Praxisgenerierung entstehen können. Ein Feld kann als eine sich historisch eigenlogisch reproduzierende, einerseits durch Distributionskämpfe strukturierte, andererseits durch spezifische Feldcodes geleitete Instanz gesehen werden, die eine Hintergrundfolie für die Aneignung, Reproduktion und Veränderung von sozialen Praktiken bildet. Theoriestrategisch ist so eine Siehe hierzu auch ausführlicher die methodologischen Ausführungen in Kapitel 4, insbesondere zur sinngenetischen Feldtypenbildung.
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Zur Möglichkeit der Transformation von Feldern vgl. Reckwitz 2006.
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Kategorie gewonnen, die es jenseits der Aneignungsprozesse von Akteuren erlaubt, gesellschaftliche Eigenlogiken hinsichtlich ihrer Aspekte von Macht- und Kapitalverteilung, Feldcode und historischer Genese zu untersuchen. Ist mit dem Feldbegri¤ so einerseits ein Anschluss an die Rekonstruktion von sozialer Welt gescha¤en, stellt sich damit aus bildungstheoretischer Perspektive das auf ähnliche Weise schon oft angegangene Problem der Vermittlung zwischen einer akteursgebundenen und einer akteursgelösten Perspektive. Klassisch wird diese hier angelegte Theoriedebatte mit den Begri¤spaaren von Individuum und Gesellschaft oder auch Struktur und Praxis geführt.
3.3. Der Habitus Einen gangbaren Weg, dem Problem der Vermittlung zwischen Selbstund Weltverhältnissen zu begegnen, bietet, wie verschiedene Autoren ausführen (Koller 2002, S. 183 ¤.; Rieger-Ladich 2002, S. 314 ¤.; Müller 2005; Wigger 2008), das Habituskonzept von Pierre Bourdieu. Wie in den zentralen Begri¤en seiner Theorie der Praxis üblich, versucht Bourdieu, mit dem Habituskonzept den Dualismus von Subjektivismus und Objektivismus zu überwinden.15 Bezogen auf das Vermittlungsproblem von Selbst- und Weltverhältnissen geht es darum, einerseits nicht von einem ausschließlich selbstbestimmten Subjekt auszugehen, jedoch soll andererseits auch keine vollständige gesellschaftliche Determination angenommen werden.16 Für Bourdieu (1979, S. 165) sind Formen des Habitus „Systeme dauerhafter Dispositionen, strukturierte Strukturen, die geeignet sind, als strukturierende Strukturen zu wirken, mit anderen Worten: als Erzeugungs- und Strukturierungsprinzip von Praxisformen und Repräsentationen“. Das Habituskonzept wird verstanden als Dispositionssystem, das die Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata der sozialen Akteure strukturiert. Dabei ist der Habitus nicht angeboren, etwa im Sinne einer natürlichen Kompetenz, sondern vielmehr gesellschaftlich, kulturell und historisch bedingt, also sozial produziert. Der 15
Vgl. hierzu auch die methodologischen Ausführungen in Kapitel 4.
Zum damit einhergehenden Problem von Mündigkeit, Freiheit und einem damit oft verbundenen Determinismusvorwurf an die Habitustheorie Bourdieus vgl. Rieger-Ladich 2002; 2005.
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Habitus entsteht in der Auseinandersetzung mit der sozialen und materiellen Umwelt als Instanz der Individualisierung und Vergesellschaftung, wobei er ein Produkt von individuellen und kollektiven Erfahrungen ist. Als Produkt inkorporierter gesellschaftlicher Strukturen wird der Habitus von Bourdieu als eine Vermittlungsinstanz zwischen Subjekt und Gesellschaft konzipiert. Der Habitus fungiert als ein Generierungsprinzip für Denk-, Fühl-, Wahrnehmungs- und Handlungsschemata. Dabei stellt sich Bourdieu gegen rationalistische Handlungsmodelle, indem er das Funktionieren des Habitus und dessen modus operandi weniger als intentional und rational, sondern als implizit und weitestgehend routinisiert konzeptionalisiert. Nicht die freie Ratio leitet die Akteure; vielmehr geben inkorporierte Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata Orientierung innerhalb der sozialen Welt. Die gewöhnliche Praxis vollzieht sich meist „mit der automatischen Sicherheit eines Instinktes“ (Bourdieu 1993, S. 191), ohne explizite Reflexion. Nur so können Akteure ihren Alltag bewältigen, indem sie routinisierte Strategien verfolgen, die sie nicht wiederholt reflektieren müssen. Kognitive, evaluative und motorische Schemata lassen eine Dispositionsmatrix entstehen, welche soziale Praxis generiert. Wie der Feldbegri¤, so vereint auch der Habitusbegri¤ zwei zu unterscheidende Analyseachsen, die in einer dritten Achse relational aufeinander bezogen werden. Einerseits kann der Habitus aus einer Perspektive der Kapitalakkumulation beleuchtet werden (a), andererseits lässt sich der Habitus auch hinsichtlich seines spezifischen Generierungsprinzips – seines modus operandi – rekonstruieren (b). Beide Perspektiven können in ihrer Geschichtlichkeit relational aufeinander bezogen werden, insofern auch der Habitus als ein historisches Prinzip gefasst wird (c). a) Auf der ersten Analyseachse kann der Habitus vor dem Hintergrund seiner Kapitalakkumulation rekonstruiert werden. 17 Bourdieu hat in extensiven empirischen Studien zu unterschiedlichen Themengebieten gezeigt, wie die Kapitalakkumulation und die sich daraus ergebende soziale Positionierung in ihrer Abhängigkeit von sozialen Feldern handlungsgenerierend wirken. Die schon in den Ausführungen zur Feldtheorie beschriebenen unterschiedlichen Kapitalsorten von ökonomischem, Während es aus der Perspektive des Habitus um die Rekonstruktion einer Kapitalakkumulation geht, werden aus der Perspektive von Feldern die Kapitalverteilungen fokussiert.
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kulturellem, sozialem und symbolischem Kapital kommen so auch in der Habitustheorie und in der Habitusrekonstruktion zum Tragen. Die sich aus den unterschiedlichen Kapitalverhältnissen ergebenden Existenzbedingungen sind ausschlaggebend für die Generierung eines Habitus. Bourdieu (1987, S. 279) führt aus: „In den Dispositionen des Habitus ist somit die gesamte Struktur des Systems der Existenzbedingungen angelegt, so wie sich diese in der Erfahrung einer besonderen sozialen Lage mit einer bestimmten Position innerhalb dieser Struktur niederschlägt. Die fundamentalen Gegensatzpaare der Struktur der Existenzbedingungen (oben/unten, reich/arm etc.) setzen sich tendenziell als grundlegende Strukturierungsprinzipien der Praxisformen, wie deren Wahrnehmung durch.“
Neben der Rekonstruktion von unterschiedlichen, mit dem Habitus in Zusammenhang stehenden Kapitalverhältnissen lässt sich der Habitus auch noch aus einer zweiten Perspektive rekonstruieren, welche auf den habituellen modus operandi abzielt. b) Nach Bourdieu bildet sich, abhängig von der sozialen Positionierung und damit auch abhängig von der Kapitalakkumulation, ein spezifisches Generierungsprinzip aus, ein modus operandi des Habitus. Der modus operandi kann als ein implizit und weitestgehend routinisiert funktionierendes Generierungsprinzip für Denk-, Fühl-, Wahrnehmungs- und Handlungsmuster gesehen werden. Bourdieu stellt sich so gegen handlungstheoretische Modelle, bei denen die Intention eines Akteurs im Zentrum der Handlungsgenerierung steht. Hierzu führt Bourdieu (1998, S. 166) aus: „Die Handlungstheorie, die ich (mit dem Begri¤ des Habitus) vorschlage, besagt letzten Endes, dass die meisten Handlungen der Menschen etwas ganz anderes als die Intention zum Prinzip haben, nämlich erworbene Dispositionen, die dafür verantwortlich sind, dass man das Handeln als zweckgerichtet interpretieren kann und muss, ohne deshalb von einer bewussten Zweckgerichtetheit als dem Prinzip dieses Handelns ausgehen zu können.“ Dem handlungsleitenden Prinzip der Intentionalität stellt Bourdieu das Prinzip des praktischen Sinnes oder der praktischen Vernunft gegenüber,
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wobei hierfür die Leiblichkeit des Habitus – seine Hexis – eine zentrale Rolle spielt. c) Sowohl die Rekonstruktion eines habituellen modus operandi als auch die Rekonstruktion der mit einem Habitus zusammenhängenden unterschiedlichen Formen der Kapitalakkumulation finden ihren relationalen Bezug in einer historischen Perspektive, welche die Genese des Habitus zu rekonstruieren versucht. Der Habitus ist weniger als ein feststehendes Schema zu verstehen als vielmehr ein sich in der Zeit vollziehender dynamischer Prozess.18 Zwar geht Bourdieu immer wieder auf die Beständigkeit und die damit zusammenhängende Persistenz des Habitus ein, er weist aber auch, wenngleich weniger häufig (rezipiert), auf die Möglichkeit von Habitustransformationen hin.19 Der Habitus ist insofern ein Prinzip, das einerseits in seiner Variationsbreite einen unendlich großen Möglichkeitsraum für die Generierung unterschiedlicher Schemata erö¤net; andererseits setzt der Habitus jedoch auch sich aus gesellschaftlichen Strukturen ergebende Grenzen in Denk-, Fühl-, Wahrnehmungs- und Handlungsschemata. Damit stellt sich die viel diskutierte Frage, inwieweit eine Habitustransformation möglich ist.
3.3.1. Zur Möglichkeit von Habitustransformationen Bei der Darstellung des habitustheoretischen Bildungsprojektes, welches sich insbesondere in den Arbeiten von Alheit und Herzberg um eine Verbindung von Bildungstheorie und Bildungsforschung bemüht, wurde schon auf das Problem der Möglichkeit einer Habitustransformation hingewiesen. Im Anschluss an Bourdieu hatte Herzberg (2004, S. 53) auf die Persistenz des Habitus hingewiesen, weshalb sie nur von einem begrenzten „Modularisierungspotential“ ausgeht. Eine Transformation von Selbst- und Weltverhältnissen im Sinne von Bildungsprozessen könnte bei Alheit und Herzberg so aus einer habitustheoretischen Perspektive nur eingeschränkt gefasst werden.
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Hierzu auch Rieger-Ladich 2005.
Hier sehe ich, wie noch auszuführen ist, den Einstiegspunkt für bildungstheoretische Fragestellungen.
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Grundlegend für eine fehlende oder ausgeschlossene Transformationstheorie des Habitus scheint die in der Bourdieu-Rezeption weit verbreitete Lesart zu sein, dass aus einer Persistenz des Habitus auf eine Determination des Habitus zu schließen sei (vgl. Pfe¤er 1983; Liebau 1987). In eine ähnliche Richtung geht auch die Argumentationsstrategie von Lothar Wigger (2007). In seinem Aufsatz „Bildung und Habitus? Zur bildungstheoretischen und habitustheoretischen Deutung von biographischen Interviews“ folgt er einem gängigen Rezeptionsmuster und bezieht dieses auf die empirische Ausarbeitung von Bildungsprozessen. Wigger (2007, S. 171 f.) stellt zunächst bei der erziehungswissenschaftlichen Biographieforschung eine Fokussierung auf Einzelfallstudien fest, woraus für ihn das Defizit erwächst, dass eine „Verallgemeinerbarkeit der Einzelfälle und die Integration der Lern- und Bildungsgeschichten in einen größeren subjekt- und gesellschaftstheoretischen Kontext“ nicht geleistet werden. Einen Ausweg findet Wigger, wie schon Alheit und Herzberg, in den habitustheoretischen Überlegungen Pierre Bourdieus. Im Habituskonzept sieht Wigger (2007, S. 172) eine „Verschränkung von sozialer Position und individueller Perspektive, von verinnerlichten sozialen Strukturen individueller Entäußerung in sozialen Strukturen und Felder reproduzierende Praxisformen“. Die habitustheoretische Perspektive zielt damit auf das auch schon für die Bildungstheorie wichtige Problem der „Vermittlung von Subjektivität und Objektivität“ (Wigger 2007, S. 171) ab.20 Der gemeinsame Problemhorizont verleitet Wigger (2007, S. 172 f.) nun dazu, die Habitustheorie und die Bildungstheorie „als alternative Theorieangebote für biographische Analysen“ zu werten. Den Ausgangspunkt für diese These stellt die Rekonstruktion der bildungstheoretisch orientierten und empirisch fundierten Biographieforschung dar, welche auf die Arbeiten von Winfried Marotzki und Hans-Christoph Koller beschränkt wird; hierbei steht vor allem die zuvor rekonstruierte Arbeit von Marotzki im Vordergrund. Während die Arbeiten von Alheit als Ausnahme gekennzeichnet sind (Wigger 2007, S. 172), werden in der Folge Marotzkis empirische Ausarbeitungen benutzt, um eine Abgrenzung zwischen Bildungs- und Habitustheorie vorzubereiten. Nach der Diskussion von Marotzkis empirischer Fallausarbeitung kommt Wigger (2007, S. 179) zu dem in ähnlicher Form auch schon von Alheit herausgearbeiteten Schluss, dass das „allgemeine bildungstheoretische 20
Vgl. kritisch hierzu Kapitel 3.2.
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Thema, die Auseinandersetzung des Subjekts mit der Welt“, bei Marotzki „eine vereinseitigende Auslegung“ erfährt. Wigger (2007, S. 179 f.) fährt fort, dass die von Marotzki fokussierte Dialektik des Allgemeinen und Einzelnen „nur aus der Perspektive subjektiver Vermittlung thematisiert [wird (F. v. R.)], als subjektive Reflexion auf die Transformation seiner Selbst- und Weltsicht. Die soziologische Relevanz erziehungswissenschaftlicher Bildungsprozessanalysen ist nicht ausgeschöpft, wenn die aufwändigen Einzelfallstudien nur eine generelle Bestätigung des Individualisierungstheorems ergeben“.
Dem sich hieraus ergebenden Defizit begegnet Wigger mit den habitustheoretischen Ausarbeitungen Bourdieus. Neben der allgemeinen Kennzeichnung des Habituskonzeptes als Generierungsprinzip für Denk-, Fühl-, Wahrnehmungs- und Handlungsmuster hebt Wigger dabei vor allem auf die auch schon von Herzberg herausgestellte Persistenz des Habitus ab, um hierin eine Abgrenzungsmöglichkeit zu bildungstheoretischen Ansätzen zu sehen. Aus der „Trägheit (oder Hysteresis)“ des Habitus erwächst für Wigger (2007, S. 183) so „eine grundlegende Di¤erenz zwischen Habitustheorie und Bildungstheorie, insofern in der Tradition der Bildungstheorie – und diese Annahme wird auch von den bildungstheoretischen Biographieforschern geteilt – die Möglichkeit der Emanzipation von gegebenen und früheren Zuständen, die Möglichkeit einer radikalen Transformation der Subjektivität, ihres Denkens und ihres Handelns (und damit auch der Objektivität) immer vorausgesetzt wurde.21 Habitustheorie und Bildungstheorie fokussieren das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft also nicht nur aus unterschiedlichen Perspektiven, sondern akzentuieren unterschiedliche Aspekte an der Entwicklung individueller Verfasstheit: die Last der inkorporierten Geschichte und die Voraussetzungshaftigkeit und gesellschaftliche Begrenzung von Veränderung einerseits, die Möglichkeit eines radikalen Wechsels der Haltung und der eigenen Praxis durch Einsicht und Entschluss und somit eines Neuen und Anderen in der Zukunft andererseits“. Neben einer unzulässigen Verallgemeinerung von Marotzkis Position zu einer
21 Wie in Kapitel 2 dargestellt, bilden die Ansätze von Peter Alheit und Heidrun Herzberg hier eine Ausnahme, insofern hier ein qualitativer Sprung negiert wird.
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generellen Position der Bildungstheorie22 scheint Wigger die aufgestellte These einer scheinbar notwendigen Theorieentscheidung zwischen Habitustheorie und Bildungstheorie mehr implizit als explizit selbst zu widerlegen. Gegen eine Überbewertung von Reflexivität und Möglichkeiten der Selbstbestimmung zitiert Wigger aus Bourdieus Arbeit „Meditationen. Zur Kritik der scholastischen Vernunft“ folgende Passage: „Wenn das Erklären dazu beitragen kann, so vermag doch nur eine wahre Arbeit der Gegendressur, die ähnlich dem athletischen Training wiederholte Übung einschließt, eine dauerhafte Transformation des Habitus“ (Bourdieu 2001, S. 229. Zitiert nach Wigger 2007, S. 184). Was Wigger mit Bourdieu als eine reflexionskritische These gegen eine vernunftzentrierte Bildungstheorie anführt, schlägt auf die eigene These einer Dualisierung von Habitus- und Bildungstheorie zurück. Entgegen gängiger Lesarten hält Bourdieu in der zitierten Passage eine Transformation des Habitus, wenn auch nicht durch Reflexion allein, ausdrücklich für möglich. Eine Dualisierung von Bildungstheorie und Habitustheorie mit dem Hinweis, nur die bildungstheoretischen Ansätze würden einen „radikalen Wechsel der Haltung und der eigenen Praxis“ (Wigger 2007, S. 184) für möglich halten, scheint durch das Zitat des eigenen Gewährsmannes widerlegt. Wie eine Habitustransformation aussehen kann, bleibt damit jedoch weiter unbeantwortet. An dieser Leerstelle ansetzend sollen im Folgenden drei Einschlagspunkte für die Transformation eines Habitus aufgegri¤en werden, die mit den Begri¤en der Mehrdimensionalität (a), der Iterabilität (b) und der Inkongruenz zwischen Habitus und Feld (c) gekennzeichnet werden. a) Ein erster Ansatzpunkt für die Möglichkeit einer Habitustransformation ergibt sich aus dem in den theoretischen und empirischen Ausarbeitungen von Bourdieu weitestgehend vernachlässigten Aspekt der Mehrdimensionalität eines Habitus. Der Aspekt der Mehrdimensionalität spielt vor allem in den Studien der praxeologischen Wissenssoziologie, der Intersektionalität und später in den Postcolonial Studies eine Rolle. Vor dem Hintergrund von Mehrfachdiskriminierungen forderten die Studien zur Intersektionalität immer wieder eine „Theorie, in der verschiedene Achsen sozialer Positionierung integriert werden, und die das 22 Das breite Spektrum und die Di¤erenzierungen der Bildungsbegri¤e, die sich um ein produktives Wechselverhältnis von Bildungstheorie und empirischer Bildungsforschung bemühen, wurden in Kapitel 2 dargestellt.
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Ausbrechen aus binären Paradigmen und Modellen“ (Lutz 2001, S. 215) ermöglicht. Vor allem in der US-amerikanischen Diskussion um Race, Class und Gender kam es in den 1970er Jahren zu Kritikformen an der „Eindimensionalität von Analysen, die sich entweder nur auf die Kategorie ‚Frau‘ oder auf die Kategorie ‚Rasse‘ bezogen“ (Lutz 2001, S. 217). Neben den Studien zur Intersektionalität nimmt der Gedanke der Mehrdimensionalität vor allem in der praxeologischen Wissenssoziologie einen zentralen Stellenwert ein. Ralf Bohnsack (1989) arbeitet in seiner Studie ‚Generation, Milieu und Geschlecht. Ergebnisse aus Gruppendiskussionen mit Jugendlichen‘ den mehrdimensionalen Charakter jugendlicher Erfahrungsräume heraus. Unterschiedliche Stadien der Adoleszensentwicklung werden hier vor dem Hintergrund der Di¤erenz von Bildungsmilieus, Geschlechts- und Generationskonstruktionen sowie sozialräumlichen Zugehörigkeiten empirisch in den Blick genommen. Stärker mit dem Milieu- als mit dem Habitusbegri¤ arbeitend, kann Bohnsack aufzeigen, wie handlungsleitende implizite Wissensmuster sich aus einer Überlagerung von unterschiedlichen konjunktiven Erfahrungsräumen ergeben.23 Beispielhaft in diesem Sinne ist auch die Dissertation von Arnd-Michael Nohl (2001) ‚Jugend und Di¤erenzerfahrung. Junge Einheimische und Migranten im rekonstruktiven Milieuvergleich‘. In einer aufwändigen empirischen Studie vergleicht Nohl jugendliche Einheimische in Deutschland und in der Türkei mit Jugendlichen in Deutschland, welche aus einer Familie mit Migrationshintergrund stammen, und kommt so zu einer mehrdimensionalen Typologie von Migrationslagerungen. Mit dem Konzept der Mehrdimensionalität stellt sich Nohl hier theoretisch wie empirisch gegen eine Homogenisierung von Migration.24 Nohl (2001a, S. 29) führt aus:
23 Zur Di¤erenz von Bourdieus Habituskonzept und dem in der praxeologischen Wissenssoziologie gebräuchlichen Modell des konjunktiven Erfahrungsraumes sowie zu der damit zusammenhängenden Diskussion um Konjunktion und Distinktion vgl. Bohnsack 2003, S. 68.
Vor dem Hintergrund einer in der praxeologischen Wissenssoziologie gängigen Unterscheidung zwischen kommunikativ-generalisierten und konjunktiven Wissensformen (vgl. Bohnsack 2003, S. 164 f.) kritisiert Arnd-Michael Nohl (2006d, S. 134 f.) aus der Perspektive der praxeologischen Wissenssoziolgie die Studien der Intersektionalität dahingehend, dass diese sich meist nur mit Phänomenen der Zuschreibung und damit mit expliziten Selbst- und Fremdpositionierungen beschäftigen. Gegenüber den „expliziten Zuschreibungen“ bringt Nohl (2006d, S. 134) 24
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„Die Suche nach Milieuzugehörigkeit ist [...] nicht alleine auf die migrationsspezifischen Erfahrungen beschränkt, sondern mehrdimensional angelegt. Sie erstreckt sich auf die adoleszens-, geschlechts-, generations- sowie bildungsspezifischen Erfahrungsdimensionen und vollzieht sich in deren Überlappung.“
In diesem Sinne halten Bohnsack und Nohl (1998, S. 262, kursiv im Original) an anderer Stelle generell fest, dass „das handlungsleitende Wissen des einzelnen immer zugleich durch unterschiedliche Erfahrungsräume, d. h. mehrdimensional strukturiert“ ist. 25 Vor dem Hintergrund dieser Studien wird davon ausgegangen, dass sich innerhalb eines Habitus unterschiedliche Erfahrungsräume und damit unterschiedliche Logiken von Praxis versammeln. Beispiele für die Mehrdimensionalität eines Habitus können, wie angezeigt, in der Überlagerung von Logiken der Generation, des Milieus oder des Geschlechts gesehen werden. Dabei sind die Überlagerungsverhältnisse eines Habitus nicht zwangsläufig als ein homogener Block zu verstehen. Vielmehr machen gerade die Studien der Postkolonialität und der neueren Kulturwissenschaft deutlich, dass unterschiedliche Logiken der Praxis in einem Habitus durchaus hybrid und widerstreitend organisiert sein können (vgl. Bhabha 2000; Ha 2004; Reckwitz 2006).26 Aus der Perspektive der Intersektionalitätsforschung
die „vorref lexiven, selbstverständlichen Erfahrungen“ und Handlungspraktiken in Anschlag, um hiervon ausgehend aufzuzeigen, dass die expliziten Zuschreibungen implizit meist mehrdimensional strukturiert sind. Nohl (2006d, S. 134) führt aus: „Selbst dort, wo Menschen sich selbst als ‚Deutsche‘, ‚Männer‘ oder ‚68er‘ explizit selbst positionieren, können ihrer selbstverständlichen, habitualisierten Lebensweise mehrere Kulturdimensionen unterliegen (vgl. Bohnsack/Nohl 1998).“ An diesen wichtigen Hinweis schließt sich die Frage an, inwiefern sich gerade wiederholende explizite Fremdpositionierungen selbst zu impliziten Erfahrungen und damit auch zu konjunktiven Erfahrungsräumen verdichten können. Der sich hier andeutenden Diskussion soll an dieser Stelle nicht weiter nachgegangen, auf die Di¤erenz jedoch verwiesen werden. 25 Zur Di¤erenz von Bourdieus Habituskonzept und dem in der praxeologischen Wissenssoziologie gebräuchlichen Modell des konjunktiven Erfahrungsraumes sowie zu der damit zusammenhängenden Diskussion um Konjunktion und Distinktion vgl. Bohnsack 2003, S. 68.
Vor dem Hintergrund einer in der praxeologischen Wissenssoziologie gängigen Unterscheidung zwischen kommunikativ-generalisierten und konjunktiven Wissensformen (vgl. Bohnsack 2003, S. 164 f.) kritisiert Arnd-Michael Nohl (2006d, 26
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schreiben Irene Dölling und Beate Krais (2007, S. 19): „Mit dem Habitus sind wir in der Welt und haben die Welt in uns – und da die Welt, zumindest die moderne, voller Widersprüche und Konflikte ist, ist auch der Habitus keineswegs konflikt- und widerspruchsfrei zu denken.“ Bourdieu selbst spricht an manchen Stellen von einem „zerrissenen Habitus“, Rieger-Ladich (2005, S. 290) benutzt eine ähnliche Metapher, wenn er von einem „gespaltenen Habitus“ spricht. Für eine Bildungstheorie ergeben sich aus dem Gedanken einer nicht monolithisch gedachten Mehrdimensionalität Möglichkeiten, eine Transformation des Habitus zu konzeptionalisieren, insofern in der Mehrdimensionalität eines Habitus Di¤erenzpotenziale angelegt sind. Ein Habitus kann so als ein mehrdimensionales Überlagerungsverhältnis von unterschiedlichen Logiken der Praxis gesehen werden. Diese unterschiedlichen Eigenlogiken sind ohne die Aufgabe einer Eigenlogik nicht ineinander überführbar, weshalb innerhalb eines mehrdimensionalen Praxisgefüges immer wieder di¤erente, potenziell widerstreitende Logiken der Praxis angelegt sind. Damit bietet ein mehrdimensional strukturiertes Habituskonzept durch Di¤erenzpotenziale Möglichkeiten zur Habitustransformation, insofern in der Di¤erenz immer auch die Möglichkeiten einer Wandlung angelegt sind. Dieser Gedanke wird auch im folgenden Punkt aufgenommen. b) Ein weiterer Einsatzpunkt für die Möglichkeit einer Habitustransformation wird, einem Gedanken Derridas folgend, in der Iterabilität eines Habitus gesehen. Begreift man den Habitus als ein dynamisches S. 134 f.) aus der Perspektive der praxeologischen Wissenssoziolgie die Studien der Intersektionalität dahingehend, dass diese sich meist nur mit Phänomenen der Zuschreibung und damit mit expliziten Selbst- und Fremdpositionierungen beschäftigen. Gegenüber den „expliziten Zuschreibungen“ bringt Nohl (2006d, S. 134) die „vorref lexiven, selbstverständlichen Erfahrungen“ und Handlungspraktiken in Anschlag, um hiervon ausgehend aufzuzeigen, dass die expliziten Zuschreibungen implizit meist mehrdimensional strukturiert sind. Nohl (2006d, S. 134) führt aus: „Selbst dort, wo Menschen sich selbst als ‚Deutsche‘, ‚Männer‘ oder ‚68er‘ explizit selbst positionieren, können ihrer selbstverständlichen, habitualisierten Lebensweise mehrere Kulturdimensionen unterliegen (vgl. Bohnsack/Nohl 1998).“ An diesen wichtigen Hinweis schließt sich die Frage an, inwiefern sich gerade wiederholende explizite Fremdpositionierungen selbst zu impliziten Erfahrungen und damit auch zu konjunktiven Erfahrungsräumen verdichten können. Der sich hier andeutenden Diskussion soll an dieser Stelle nicht weiter nachgegangen, auf die Di¤erenz jedoch verwiesen werden.
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Prinzip (vgl. Rieger-Ladich 2005), so ist davon auszugehen, dass bei jeder Reproduktion des Habitus eine zeitliche Di¤erenz entsteht, welche die Möglichkeit einer andersartigen Wiederholung erö¤net. Diesen Gedanken stellt auch Judith Butler (1998, S. 213) heraus, wenn sie Bourdieu dahingehend kritisiert, dass er das Merkmal der Iterabilität nicht berücksichtigt und deshalb „die Temporalität oder Logik der Performativität“ ausschließt. Das Performative ist für Butler das Einfallstor für eine mögliche Transformation des Habitus. Der Habitus stellt nach Butler (1998, S. 219) eine „stillschweigende Form der Performativität dar, eine Zitatenkette“. In der Wiederholung des Zitats kann es laut Derrida immer auch zu einem Misslingen, zu einer fehlerhaften Wiederau¤ührung des Habitus kommen. Butler kritisiert Bourdieu für das Fehlen eines systematischen Einbezugs der Möglichkeit von Kontingenz (vgl. Butler 1998, S. 220). Auf Bourdieus Sprachtheorie Bezug nehmend und diese mit Derrida kontrastierend, kritisiert Butler (1998, S. 214): „Bourdieu [weitet (F. v. R.)] die gesellschaftliche Dimension der performativen Äußerung auf Kosten ihrer Transformierbarkeit aus. Paradoxerweise bietet Derridas Formulierung so die Möglichkeit, Performativität in Verbindung mit Transformation zu denken, mit dem Bruch mit früheren Kontexten, der Möglichkeit, Kontexte zu inaugurieren“.
Die Prozesshaftigkeit des Habitus beinhaltet eine Notwendigkeit der Wiederau¤ührung. In diesem Sinne ist der Habitus ein dynamisches Prinzip. Folgt man dem Konzept der Iterabilität, beinhaltet die Wiederau¤ührung jedoch auch immer ein Moment der konstitutiven Kontingenz. Die Wiederau¤ührung beinhaltet damit auch immer die Möglichkeit des Scheitern oder des Fehlerhaften. Bei jeder Reproduktion des Habitus ist demnach ein Moment der Unruhe konstitutiv, der nicht stillzustellen ist. c) Ein weiteres Einfallstor für ein im Habituskonzept angelegtes Di¤erenzpotenzial ergibt sich aus der Relation zwischen Habitus und Feld. Ein statisches Anpassungsverhältnis zwischen Habitus und Feld und damit ein nicht auf die Probe gestelltes Anpassungsverhältnis scheint gesellschaftlich unwahrscheinlich. Rieger-Ladich (2005, S. 289) führt, Bourdieu zitierend, hierzu aus:
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„Nimmt man jene Untersuchungen genauer in den Blick, in denen er [Bourdieu (F. v. R.)] nicht nur seine Habitustheorie weiterführt, sondern auch eine allgemeine Feldtheorie entwickelt und deren engen Zusammenhang erläutert, zeigt sich doch sehr schnell, dass es sich bei der skizzierten Lesart, die im Habitusbegriff nur ein Synonym für Determinismus und Fatalismus zu erkennen vermag, um eine Fehllektüre handelt. Diese liegt nicht zuletzt darin begründet, dass sie einen Sonderfall als Regelfall interpretiert: So weist Bourdieu [...] ausdrücklich darauf hin, dass die ‚den objektiven Bedingungen vorgreifende Angepasstheit des Habitus‘, ein ‚Sonderfall‘ ist (Bourdieu 2001b, S. 204), der nicht verallgemeinert werden dürfe.“
Durch den Kontakt mit neuen Logiken eines Feldes kann auch die Logik der Praxis eines Habitus tangiert werden. Ausgelöst durch Passungsschwierigkeiten kann ein Habitus in unterschiedlichen Praxisformen bestärkt oder verunsichert werden, wodurch die Relation von unterschiedlichen Logiken der Praxis innerhalb eines Habitus neue Gewichtungen erhalten kann. Neben dem Anschluss an neue Felder und einem damit einhergehenden Di¤erenzpotenzial kann es aber auch durch die Transformation einer Feldstruktur zu Stabilisierungs- oder Verunsicherungsprozessen eines Habitus kommen. Die Wandlung einer Feldlogik lässt auch für einen Habitus Möglichkeiten und Gefahren einer Transformation aufscheinen. Die Grundlagenhaftigkeit einer Transformation des Habitus vielleicht schon zu schwach bewertend, schreibt Rieger-Ladich (2005, S. 291) hierzu: „Es ist daher nicht zuletzt die Herausforderung, auf die sich stetig verändernden Felder reagieren zu müssen, die dafür verantwortlich ist, dass sich auch der Habitus – wenngleich in einer anderen zeitlichen Dimension – fortwährend transformiert.“27
Die sich immer wieder reproduzierende Inkongruenz zwischen Habitus und Feld erö¤net so Di¤erenzpotenziale, die die Transformation eines Habitus möglich machen können.
27 Neben den Arbeiten von Bohnsack und Nohl ließe sich eine Reihe von anderen Autoren nennen, die in vielfältigen Studien die mehrdimensionale Lagerung von impliziten Wissensmustern herausgearbeitet haben. Für einen Überblick vgl. Bohnsack 2003, S. 113.
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Aus einer anderen Richtung, nämlich auf die Kapitalakkumulation und die damit verbundenen sozialen Kämpfe abzielend, formuliert HansChristoph Koller eine weitere Möglichkeit einer Habitustransformation. Auch Koller sieht einen bildungstheoretischen Ausgangspunkt für eine Habitustransformation in Passungsschwierigkeiten des Habitus. Eine machttheoretische Perspektive in den Vordergrund stellend, schlägt Koller vor, symbolische Kämpfe um die Legitimierung von Sichtweisen auf die soziale Welt als mögliche Einsatzpunkte für Bildungsprozesse zu sehen. Koller (2002, S. 190) führt hierzu aus: „Die relative Unbestimmtheit von Objekten der sozialen Welt markiert den Punkt, an dem trotz aller objektiven Limitierungen die Möglichkeit in den Blick gerät, dass es im Zuge symbolischer Auseinandersetzungen um die Durchsetzung der je eigenen Sichtweise einer Gruppe von Akteuren auch zur Veränderung einer solchen Sichtweise und mithin zur Habitustransformation kommen kann.“
Bildung als Habitustransformation ist in diesem Sinne für Koller (2002, S. 188) als ein „Prozess der Erweiterung, Veränderung und Umstrukturierung des jeweils bisher erworbenen inkorporierten kulturellen Kapitals zu begreifen, der durch die Konfrontation mit neuen gesellschaftlichen Herausforderungen ausgelöst wird“. Der Gedanke der Passungsschwierigkeit wird damit von Koller weitergeführt, indem er darauf hinweist, dass Anpassungsleistungen – gleich, ob sie sich auf Prozesse der Tradierung oder der Transformation beziehen – auch konflikthaft verlaufen können. Neben einer Perspektive auf den einzelnen Akteur ö¤net sich damit vor dem Hintergrund von Passungsschwierigkeiten des Habitus auch eine Perspektive auf mögliche kollektive Kämpfe um Weltsichten. Nimmt man die drei genannten Aspekte der Mehrdimensionalität, der Iterabilität und der Inkongruenz von Habitus und Feld zusammen, so zeigen sich aus unterschiedlichen Perspektiven Möglichkeiten einer Di¤erenzbildung und damit Möglichkeiten für eine Transformation einer Logik der Praxis. Dabei stellen die unterschiedlichen Formen der im Habitus angelegten Di¤erenzen bildungstheoretisch gedacht nur Potenziale für die Transformation eines Habitus dar. Wie sich dieses Potenzial entfaltet und wie sich damit die Prozessstruktur eines auf einen Habitus abzielenden Bildungsprozesses gestaltet, sind Fragen, die in der empirischen Rekonstruktion beantwortet werden müssen. Festgehalten werden
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soll an dieser Stelle, dass ein Habitus durch die Aspekte von Mehrdimensionalität, Iterabilität und Inkongruenz in seinem Bezug zu Feldern in dreifacher Weise als nicht geschlossen oder, besser, als per se nicht abschließbar gelten kann. Einsatzpunkt bei allen drei Merkmalen ist dabei eine sich im Habitus ergebende Di¤erenz, welche als Potenzial für eine Transformation gesehen wird. Der so in den Vordergrund gestellte bildungstheoretische Gedanke der Di¤erenz lässt nicht nur eine Habitustransformation konzeptionalisierbar machen, sondern erö¤net auch Möglichkeiten für die Bearbeitung der für den Bildungsbegri¤ konstitutiven Problematik von Ethik, Normativität und Kritik, die im Folgenden behandelt werden soll.
3.4. Die ethische Dimension von Bildung Die Normproblematik innerhalb der Pädagogik stellt insbesondere für die Bildungstheorie einen komplexen Problemhorizont dar, dessen adäquate Behandlung den vorgegebenen Rahmen sprengen würde. In der Folge kann es deshalb nicht darum gehen, eine weitverzweigte Diskussion historisch oder systematisch in Gänze aufzuarbeiten. Trotzdem soll versucht werden, den Problemhorizont zu skizzieren, um hieraus die sich in neueren bildungstheoretischen Ausarbeitungen abzeichnenden Umgangsformen mit dem Normproblem der Pädagogik darzustellen und einen eigenen Ansatz anzudeuten. Im Kern des Problemhorizontes um eine Legitimation von pädagogischen Begri¤en steht die Di¤erenz zwischen den Seins- und den Sollensfragen. Aus der Rekonstruktion des Seins leiten sich keine direkten Sollensschlüsse ab. Lüders (2007, S. 44 kursiv im Original) führt hierzu aus: „Tatsachen, Bedingungen und Umstände (das, was ist) lassen keine begründeten Aussagen über die theoretischen Bestimmungen der Aufgabe (das, was sein soll) zu.“ Wird Bildung jedoch als aufgabenhaft bestimmt, ergibt sich das Problem, dass „sich keine unbedingte pädagogische Rechtmäßigkeit irgendeiner Aufgabe begründen“ (Lüders 2007, S. 45) lässt. Normen sind mit Lüders (2007, S. 50) „verdächtig geworden, denn es fehlt der Ort, von dem aus eine universell gültige Norm begründet und legitimiert werden könnte“. Eine Möglichkeit, mit dem Normproblem umzugehen, ergibt sich nun aus „der Umwendung von Normativität in Kritik“ (Lüders 2007,
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S. 45). Ein in diesem Sinne kritischer Bildungsbegri¤, welcher sich von einer a¤irmativen Bildungstheorie abzugrenzen sucht,28 ist durch zwei Dimensionen gekennzeichnet, die meist als eine skeptische und eine innovative Dimension beschrieben werden (vgl. Koller 1999, S. 146 ¤.; Lüders 2007, S. 43 ¤., 110 ¤.; Benner 2000; Ruhlo¤ 2003). Im Folgenden werden die zwei auszuführenden Dimensionen eines Bildungsbegri¤es aufgenommen und an Operationen der Dekonstruktion angeschlossen. Ziel ist es dabei, der normativen Konstituierung des Bildungsbegri¤es durch eine ethische Fundierung gerecht zu werden. Um dies an dieser Stelle vorwegzunehmen: Ich werde den Verlust der Bestimmung einer Aufgabenhaftigkeit von Bildung nicht als Verlust, sondern als ethisches Prinzip bestimmen. In diesem Sinne wird die erste Dimension eines Bildungsbegri¤es, welche in unterschiedlichen Ansätzen als skeptische oder kritische Dimension beschrieben wird, als Operation der Verschiebung gekennzeichnet. Eine Verschiebung geht mit der Einklammerung jeglicher ästhetischer, normativer oder propositionaler Geltungsansprüche einher. Durch Verschiebung kommt es zu einer kritischen oder skeptischen Infragestellung gesellschaftlicher, eigener und fremder Geltungsansprüche. Wie in vergleichbaren Ansätzen auch, wird hier eine „bestimmte praktischpädagogische Option“ (Ruhlo¤ 2003, S. 121) aufgegeben. Bildung erscheint in dieser Dimension mit Ruhlo¤ (1990, S. 54, zitiert nach Koller 1999, S. 152) als „skeptische Auflösung von Totalitätsvorstellungen im Rückgang auf die besonderen Prämissen, unter denen sie erhoben und für wahr gehalten werden“. Bildung wird hier mit Lüders (2007, S. 50) „sich selbst verdächtig, steht nie außer Frage und muss sich stets der erneuten Prüfung aussetzen“. Nach Ruhlo¤ (1979) gibt es innerhalb dieser Dimension keine „absolut und positiv gültigen oder negativ-unhintergehbaren pädagogischen Normen, Maßstäbe, Ziele oder Zwecke, die als solche allem Zweifel enthoben wären“. Die in diesem Sinne als eine Praxis der Kritik zu verstehende Praxis der Verschiebung kann als eine 28 Schon in der viel rezitierten Studie von Vester, von Oertzen, Geiling, Hermann und Müller „ Soziale Milieus im gesellschaftlichen Strukturwandel. Zwischen Integration und Ausgrenzung “ weißen die Autoren darauf hin, das Bourdieus Habitusmodel „den Blick für innere Ambivalenzen und Identitätskonf likte verstellen“ (1993, S. 206) kann. Der Habitus ist demnach „nicht nur in bestimmten Fällen, wie Bourdieu annimmt, sondern generell auf der Spannung oder dem Widerspruch aufgebaut, wodurch er erst seine Dynamik gewinnt“ (ebd.).
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unabschließbare Bewegung der skeptischen und kritischen Infragestellung verstanden werden. Normative, ästhetische und propositionale Geltungsansprüche werden hier vor einem rekonstruktiven Hintergrund zunächst eingeklammert. Es kommt so zu einer Infragestellung, die auch als eine „grund- und ortlose Praxis der Kritik“ verstanden werden kann (vgl. Lüders 2006, S. 115 ¤.).29 Es geht um eine kritische Infragestellung jeglichen Geltungsanspruchs.30 Mit Ruhlo¤ (2003, S. 116) kann die Praxis der Kritik, die hier als eine mit der Verschiebung einhergehende Praxis der Dekonstruktion verstanden wird, als ein Prozess beschrieben werden, „der die Di¤erenz zwischen dem, was ist oder zu sein scheint, und dem, was ‚richtig‘, ‚gut‘ und in diesem Sinne ‚möglich‘ ist“ hervorbringt. Kritik/Dekonstruktion/Verschiebung haben in diesem Sinne etwas mit der Produktion von Di¤erenz zu tun. In diesem Sinne können die im Zusammenhang mit der Habitustransformation beschriebenen Prozesse der Iteration, der widerstreitenden Mehrdimensionalität und der Passungsschwierigkeit zwischen Habitus und Feld Anlässe für Prozesse der Verschiebung und damit für Prozesse der Kritik darstellen.31 In dem auf Verschiebung abzielenden Kritikbegri¤ ist damit schon eine zweite Dimension des Bildungsbegri¤es angelegt, welche im Folgenden als Dimension der Produktion von Di¤erenz gekennzeichnet werden soll. In anderen Ansätzen wird dieser Aspekt des Bildungsbegri¤es als „innovative Dimension“ (Koller 1999, S. 152 f.), als „produktives Vermögen“ (Ruhlo¤ 2003, S. 121), als „adjustment“ (Nohl 2006, S. 115) oder als „produktives Grenzexperiment“ (Lüders 2007, S. 117) gekennzeichnet. Die
29 Die Bestimmung einer Kritik als ortlos kann an dieser Stelle nur als eine analytische Unterscheidung aufgegri¤en werden. Wie in der Folge deutlich werden wird, bekommt die ortlose Kritik in ihrem Zusammenspiel mit einer zweiten, als innovativ zu kennzeichnenden Dimension einen Ort, welcher in der Folge jedoch selbst wieder Gegenstand der Kritik werden kann. 30
Zur Operation der Dekonstruktion als Praxis der Kritik vgl. Saar 2007.
Die an dieser Stelle von Rieger-Ladich ins Spiel gebrachte „fortwährende Transformation“ bezieht sich vor dem Hintergrund der in Kapitel 1 und 2 eingeführten Di¤erenzierung von Lern- und Bildungsprozessen wohl eher auf Lernprozesse. Die von Rieger-Ladich thematisierte Di¤erenz zwischen Habitus und Feld kann jedoch nicht nur als Anlass für Lern-, sondern auch für Bildungsprozesse gesehen werden. In meiner Arbeit soll sich der Begri¤ der Habitustransformation jedoch nicht auf Lern-, sondern nur auf Bildungsprozesse im Sinne einer Transformation von Selbstund Weltverhältnissen beziehen. 31
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Operation der innovativen Produktion von Di¤erenz ist von der zuerst eingeführten Operation der Verschiebung nicht zu trennen. Beide Operationen zusammen, also Verschiebung und Produktion von Di¤erenz, können als Prozess der Dekonstruktion verstanden werden. Mit der kritischen Praxis der Verschiebung geht eine Suchbewegung einher, welche in der Verschiebung gleichzeitig zur Kritik und zur produktiven Tätigkeit der Di¤erenzbildung wird. In diesem Sinne beschreibt auch Lüders (2007, S. 47) die innovative Dimension von Bildung als „eine produktive Suchbewegung, die neue Möglichkeiten entwirft“. Mit der kritischen Praxis der Dekonstruktion geht „ein Weiterdenken und ein Umdenken“ (Ruhlo¤ 2007, S. 124) einher. In einem wechselseitigen Durchdringungsprozess scheinen die Operationen der Dekonstruktion als Verschiebung und eine damit einhergehende innovative Produktion von Di¤erenz einander zu bedingen. Die Dekonstruktion als Praxis der Kritik arbeitet mit der Operation der Verschiebung, und die Operation der Verschiebung kann auch als innovative Neubildung von Di¤erenz verstanden werden. In diesem Sinne ist die Neubildung von Di¤erenz konstitutiv auf die Operation der Verschiebung als Praxis der Infragestellung angewiesen und umgekehrt. Eine mit der Dekonstruktion zusammenhängende Praxis einer produktiven Verschiebung als innovative Neubildung geht so ein untrennbares zirkuläres Wechselverhältnis ein. Es geht um eine skeptische Infragestellung, die in der Operation der Verschiebung eine Praxis der haltlosen und ortlosen Kritik findet, und um eine damit einhergehende experimentelle Suchbewegung, welche Möglichkeitsräume für eine innovative Produktion von Di¤erenz erzeugt. Die innovative Dimension der Dekonstruktion als Produktion von Di¤erenz ist damit mit einem „produktiven Vermögen“ verbunden, welches als „solches nicht Gegenstand von Kritik ist, wohl aber in dem, was es im Einzelnen hervorbringt, werden kann“ (Ruhlo¤ 2003, S. 121). Die Operation der Verschiebung als Praxis der Kritik und die Operation der innovativen Produktion von Di¤erenz sind in dem Prozess der Dekonstruktion nicht voneinander trennbar und auch nicht endgültig abschließbar. Die produzierte Di¤erenz kann selbst wieder in den Prozess der Verschiebung und damit in die Praxis der Kritik eintreten. Diesem Gedanken folgend, kann das innovativ Neue und damit die Aufgabenhaftigkeit von Bildung nicht positiv bestimmt, sondern als unabschließbare Operation nur negativ formal bestimmt, aber nicht festgehalten werden. Die Operationen der Verschiebung und der Produktion von Di¤erenz er-
AUSARBEITUNG EINER PRAXEOLOGISCHEN BILDUNGSTHEORIE
scheinen so als bildungstheoretische Prinzipien, die sich in einem unabschließbaren dekonstruktiven Prozess der Kritik und der Neubildung immer wieder selbst in Frage stellen und neu formieren. Auch Lüders (2007, S. 50) scheint an diesen Gedanken anzuknüpfen, wenn sie schreibt, dass es in der Dimension der Innovation zu einem „Verzicht auf ein positiv bestimmbares, zukünftiges Neues“ kommt. Andererseits kann man mit Koller (1999, S. 149) einwenden, dass „dort, wo es um die ethische Dimension pädagogischen Handelns geht, [...] das Kriterium der Neuheit (bzw. der Beitrag des Innovativen) allein nicht genügen“. Damit stellt sich die Frage nach der ethischen Dimension der Dekonstruktion, insofern die Produktion des Neuen im Prozess der Dekonstruktion selbst noch keine ethische Fundierung besitzt. Will die Dekonstruktion als Praxis der Kritik durch Verschiebung und Neubildung von Di¤erenz nicht willkürlich sein, scheint der Anschluss an ethische Fragestellungen unausweichlich. Prozesse der Dekonstruktion scheinen so an Formen und Theorien, an Vorstellungen und Praktiken von Wahrheit, Gerechtigkeit und Ästhetik anschließen zu müssen. Innerhalb eines hier als dekonstruktiv bestimmten Bildungsbegri¤es ergibt sich die Notwendigkeit für Formen des Umgangs mit Gerechtigkeit, Wahrheit und Ästhetik. Eine Möglichkeit, die Operationen der Dekonstruktion an eine ethische Dimension anzuschließen, wird in der Folge in einer Ethik der Di¤erenz anzudeuten versucht.32 Für eine Ethik der Di¤erenz erscheint vor dem Hintergrund der Dekonstruktion der Gedanke der/des Anderen konstitutiv. Ausgangspunkt ist dabei der Gedanke, dass der/das Andere oder die Anderen in ihrer Di¤erenz nicht einholbar sind. Die ethische Dimension der uneinholbaren Di¤erenz zum Anderen erscheint vor dem Gegenhorizont des Gleichmachens, des Di¤erenzeinebnens als positiver Gegenhorizont. Wimmer (1996, S. 46 kursiv im Original) führt auf die Haltung der Dekonstruktion und damit auf die ethische Fundierung einer Ethik der Di¤erenz Bezug nehmend aus: „Damit zeichnet sich ein anderes Denken des Anderen ab. Indem ein von dieser Haltung getragenes Denken versucht, der Abstraktion und Reduktion des Anderen zu entgehen, erweist sich gerade das scheinbar Zersetzende der De-
32 Für die Ausarbeitung einer ethischen Dimension der Dekonstruktion aus einer pädagogischen Perspektive vgl. grundlegend auch Masschelein/Wimmer 1996.
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konstruktion als ein ethisches Denken. Statt den Menschen zu annullieren, ist umgekehrt sie [die Dekonstruktion (F. v. R.)] es, die im Denken Achtung und Verantwortung vor dem Anderen bewahrt, indem sie das am Menschen denkt, was an ihm in den Humanwissenschaften nicht gedacht werden kann, nicht, dass der andere Mensch als Anderer ein Gleicher ist, sondern dass der andere Mensch als Nächster Anderer bleibt in einer unaufhebbaren Trennung.“
Die unabschließbare Aufgabe der Bildung ist in diesem Sinne eine immer wieder neu zu produzierende Operation der Dekonstruktion, in der das Unabschließbare als Verantwortung gegenüber einem nicht einholbaren Anderen erscheint. Ausgehend von der Überlegung, dass es keinen letzten nicht weiter dekonstruierbaren ontologischen Punkt mehr gibt, welcher einen normativen Halt des Bildungsgedankens legitimieren könnte, wird die unabschließbare Di¤erenz zum Anderen selbst zum nicht einholbaren ethischen Hintergrund von Bildung. Die Dekonstruktion stellt sich damit gegen eine moralische Fundierung von Bildungsprozessen, ohne dabei auf eine konstitutiv normative Dimension von Bildung verzichten zu müssen. Das Unabschließbare von Bildung wird nicht nur zum Problem, sondern vor dem Hintergrund der Verbindung mit dem Gedanken einer uneinholbaren Di¤erenz zu den/dem Anderen gleichsam zum ethischen Prinzip. Das oder den Andere(n) als Anderes und nicht als Gleiches oder Gleichen zu behandeln, beinhaltet eine ethische Dimension der Dekonstruktion, welche sich in den Operationen der Verschiebung und der Produktion von Di¤erenz immer wieder neu vollziehen muss. Die Verantwortung vor dem Anderen wird als ein nicht passiv geschehenes, sondern als ein immer wieder neu zu produzierendes „geschehendes Ereignis“ (Wimmer 1996, S. 47) verstanden. Bezogen auf Bildungstheorie bleibt die damit einhergehende Verantwortung der Dekonstruktion jedoch immer eine kritische und nicht eine a¤irmative Verantwortung. Wimmer (1996, S. 50 kursiv im Original) führt bezogen auf die ethische Dimension einer Verantwortung der Dekonstruktion aus: „Diese Verantwortung ist jedoch ebensowenig definierbar wie der Andere. Sie lässt sich nicht codifizieren oder in der Form einer positiven Ethik formulieren.“ In diesem Sinne ist die mit der Dekonstruktion einhergehende Ethik der Di¤erenz als eine selbst nicht einholbare Ethik der uneinholbaren Di¤erenz zum Anderen zu verstehen. Eine Ethik der Di¤erenz als eine Ethik des Anderen dehnt sich aus auf das Andere des Eigenen und das Andere des Fremden. Der so immer wieder neu gestartete Prozess der Dekonstruktion mit den Operationen der Verschiebung und der Pro-
AUSARBEITUNG EINER PRAXEOLOGISCHEN BILDUNGSTHEORIE
duktion von Di¤erenz stellt sich gegen das Einholen und damit gegen eine Reduzierung des Anderen durch ein Gleichmachen.33 Bildungstheoretisch bildet die Dekonstruktion so eine ethische Dimension, die sich in den Operationen der Verschiebung und der Produktion von Di¤erenz als eine immer wieder neu herzustellende ereignishafte Verantwortung gegenüber dem Anderen versteht. Die Dekonstruktion kann als eine Ethik der Di¤erenz beschrieben werden, welche die Nicht-Einholbarkeit der Aufgabenhaftigkeit von Bildung nicht nur problematisiert, sondern diese selbst zum ethischen Prinzip macht.34
3.5. Zwischenbetrachtung Ausgehend von den bildungstheoretischen Problemen einer Rekonstruktion von Welt, der Möglichkeit einer Habitustransformation und der ethischen Dimension von Bildung habe ich versucht, die Umrisse einer praxeologischen Bildungstheorie darzustellen. Zunächst wurde die Relation von Habitus und Feld fokussiert. Dabei konnte rekonstruiert werden, dass der Feldbegri¤ auch eine theoriestrategische Möglichkeit der Rekonstruktion von gesellschaftlichen Eigenlogiken bietet und damit, wie im nächsten Kapitel auszuführen sein wird, den Anschluss von Bildungstheorie an eine empirisch gehaltvolle Gesellschaftsanalyse ermöglicht. Anders als der Habitusbegri¤, welcher Gesellschaft nur vermittelt und aus der Perspektive einer subjektiven und/oder kollektiven Aneignung in den Blick nimmt, kann der Feldbegri¤ Welt und damit auch Gesellschaft durch die Einklammerung des Aneignungscharakters in ihrer Eigenlogik rekonstruieren. Der Habitus kann demgegenüber Aneignungs-, Produktions- und Transformationsprozesse von Gesellschaft auf der Ebene von Akteuren oder Akteursgruppen rekonstruieren, ohne dabei in eine Dichotomisierung von Individuum und Gesellschaft zu verfallen. Vor dem Hintergrund der Persistenz des Habitus stellt sich aus einer bildungstheoretischen Perspektive heraus jedoch die
Der/die Andere(n) erscheinen dabei nicht als außerhalb von Sozialität, sondern als sozial konstituierte Andere, welche sich in ihrer Eigenlogik jedoch nicht einholen lassen, ohne damit gleichzeitig Sozialität zu zerstören. 33
34 Für Ansätze einer dekonstruktiven Ausarbeitung von pädagogischen Problemhorizonten vgl. Masschelein/Wimmer 1996, Wimmer 2006, Kossack 2007.
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Frage, wie sich der Habitus transformieren kann. Als Ausgangspunkte für die Konzeptionalisierung einer Habitustransformation halfen die Gedanken von hybrider Mehrdimensionalität, Iterabilität und Inkongruenz zwischen Habitus und Feld. Alle drei Aspekte erö¤nen in unterschiedlicher Art und Weise die Möglichkeit der Produktion von Di¤erenz. Wie sich daraus ein Bildungsprozess ergibt, soll als Frage im empirischen Material weiter ausgeleuchtet werden. Die so in den bildungstheoretischen Vordergrund gestellte Produktion von Di¤erenz konnte nicht nur als Anhaltspunkt für die Rekonstruktion einer Habitustransformation gedacht werden, sondern lieferte auch einen Einsatzpunkt für die Bestimmung der ethischen Dimension von Bildung. Ausgehend von dem Problem der normativen Nicht-Einholbarkeit von Bildung, wurden anhand der dekonstruktiven Operationen der Verschiebung und der Produktion von Di¤erenz zwei ethische Dimensionen des Bildungsbegri¤es bestimmt, welche eine nicht still zu stellende Verantwortung gegenüber dem Anderen nahelegten. Bevor nun die Umrisse einer so nachgezeichneten praxeologischen Bildungstheorie mit empirischen Materialien konfrontiert werden, sollen zunächst einige methodologische Hinweise rekonstruiert werden, welche das Wechselverhältnis von Bildungstheorie und empirischer Bildungsforschung deutlich machen sollen.
4. Zum methodologischen Verhältnis von Bildungstheorie und empirischer Bildungsforschung
Das folgende Kapitel versucht, einen methodologischen Rahmen für eine praxeologische Bildungstheorie und empirische Bildungsforschung zu erarbeiten. Wie in Kapitel 3.1 schon angedeutet, befinden sich dabei theoretische, methodologische und empirische Ausarbeitungen in einem engen Wechselverhältnis. Anders als bei hypothesenprüfenden Verfahren kann es bei der Reflexion der Methodologie einer praxeologischen Bildungstheorie deshalb nicht allein um eine Ausarbeitungsanleitung für eine empirische Forschungspraxis gehen, sondern die empirische Forschungspraxis wirkt auf die Methodologie theoretisch zurück. So verstanden ist die Methodologie eine spezifische Reflexionsform der Theoriegenerierung, welche sich in ein zirkelförmiges Wechselverhältnis zur Empirie setzt. Die methodologische Reflexion ist in diesem Sinne eine Beobachtung zweiter Ordnung, welche das Verhältnis von rekonstruktiver Theorie- und Empiriearbeit zu erkunden versucht (vgl. Bohnsack 2003, S. 201).1 Die folgenden methodologischen Ausarbeitungen sind deshalb nicht nur Ausarbeitungen zu einer Methodologie der empirischen Bildungsforschung – verstanden als Anleitungen für die Forschungspraxis –, sondern auch Ausarbeitungen zu einer Methodologie der Generierung von Bildungstheorie aus einem engen Wechselspiel zwischen theoretischen und empirischen Arbeitsmethoden. Dieser methodologischen Argumentationslinie folgend wird die Relationierung von
Vgl. hierzu auch meine folgenden Ausführungen über den Wechsel von den Waszu den Wie-Fragen in Kapitel 4.2.
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Bildungstheorie und empirischer Bildungsforschung an die rekonstruktive Sozialforschung angeschlossen.2 Sich gegen eine Unterscheidung von quantitativen und qualitativen Verfahren stellend, di¤erenziert Ralf Bohnsack (2003, S. 10) in seinen methodologischen Ausführungen zur rekonstruktiven Sozialforschung grundlegend zwischen hypothesenprüfenden und rekonstruktiven Verfahren. Die Verfahren unterscheiden sich methodologisch wesentlich in ihrer Relationierung von Theorie und Empirie. Ausgehend von dem von Karl Popper (1971) gekennzeichneten Induktionsproblem, welches um die Argumentation kreist, dass Induktionen nicht durch Induktionen zu rechtfertigen sind, da man, um Induktionen zu rechtfertigen, Induktionen vornehmen muss, bestreiten die hypothesenprüfenden Verfahren den methodologischen Weg der potenziell intersubjektiv möglichen Falsifizierung. Eine Theorie wird aufgestellt und kann empirisch nur falsifiziert werden. Theorie und Empirie stehen hier in einem deduktiven Verhältnis. Bezogen auf das Verhältnis von Bildungstheorie und empirischer Bildungsforschung, wird die empirische Bildungsforschung als eine der Bildungstheorie nachgeordnete Plausibilisierungs- oder Legitimierungsinstanz gesehen. Empirische Bildungsforschung wird in diesem Zusammenhang nur als „Überprüfungs- oder Begründungszusammenhang“ (Bohnsack 2003, S. 14) von Bildungstheorie gefasst. Damit ergibt sich aus bildungstheoretischer Perspektive jedoch das Fehlen einer Methode der Theorieentdeckung beziehungsweise der Theoriegenerierung (vgl. Bohnsack 2003, S. 14). Ein an diesem Defizit einsteigender Ansatz kann in der rekonstruktiven Sozialforschung gefunden werden. Aus der Überlegung heraus, dass „eine überholte, eine ungeeignete Theorie nur durch eine alternative, an dem selben Gegenstand entwickelte oder generierte Theorie überwunden werden kann, nicht aber durch Falsifikation“ (Bohnsack 2003, S. 28), versucht die rekonstruktive Sozialforschung eine Methodologie für die Generierung von neuen Theorien zu entwickeln.3 Zentral ist hierfür die erkenntnistheoretische Verknüpfung von Theorie und Empirie. Dem konstruktivistischen Reflexionsansatz verwandt, wird davon ausgegangen, dass sich eine empirische Beobachtung nicht jenseits einer theoretischen Verarbeitung vollziehen kann. Daraus ergibt Ein ähnliches Projekt unter anderen theoretischen Prämissen verfolgt Arnd-Michael Nohl (2006).
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Ähnlich aus der Perspektive der Grounded Theory vgl. Kelle 1994.
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sich ein untrennbarer Zusammenhang von Theorie und Erfahrung. Ein mit einer empirischen Forschung einhergehender Erkenntnisfortschritt muss deshalb immer als ein Wechselspiel von empirischer Rekonstruktion und theoretischer Neubildung verstanden werden. Hierzu formuliert Ralf Bohnsack (2003, S. 29), dass „– wenn ich von einer Theorie ausgehe – Beobachtungen immer schon selektiv im Lichte dieser Theorie wahr[genommen werden (F. v. R.)]. Ein Erkenntnisfortschritt ist demnach nur so denkbar, dass ich aus dem Zirkel aussteige und einen neuen, alternativen Zirkel initiiere, bei gegebenen Beobachtungen, bei gegebener Datenlage also eine neue Theorie generiere, die auf der Grundlage dieser Daten gleichermaßen plausibel erscheint“. Empirische Forschung ist in diesem Sinne keine Falsifikation von theoretischen Überlegungen, vielmehr soll es anhand von empirischen Rekonstruktionen, anhand der Wider- und Eigenständigkeit von empirischen Dokumenten, zur Neubildung einer dem Gegenstand angemessenen Theorie kommen. Aus dieser Perspektive steht eine so verstandene empirische Bildungsforschung gegenüber der Bildungstheorie nicht in einem deduktiv nachgeordneten Verhältnis, sondern Bildungstheorie und Bildungsforschung stehen in einem zirkulären Wechselverhältnis, welches auf eine empirisch fundierte Neubildung von Bildungstheorie abzielt. Bildungstheoretische Überlegungen werden an das empirische Material herangetragen, um dann sensibel für die Widerständigkeit des empirischen Materials eine dem Gegenstand angemessene neue Bildungstheorie zu generieren. In diesem Sinne bezieht sich die hier ausgearbeitete Methodologie, deren Fundamente in der rekonstruktiven Sozialforschung liegen, nicht nur auf die Anleitung einer empirischen Bildungsforschung, sondern auch auf die Generierung von Bildungstheorie. An die Ausführungen zu einer praxeologischen Bildungstheorie in Kapitel 3 anschließend, wird der methodologische Rahmen der rekonstruktiven Sozialforschung (4.1) unter den Aspekten einer Habitus- (4.2) und einer Feldrekonstruktion (4.4) diskutiert. Auf die Habitusrekonstruktion bezogen wird dabei auf die dokumentarische Interpretation von narrativen Interviews eingegangen (4.3), während auf die Feldrekonstruktion bezogen ein Exkurs zu Perspektiven der dokumentarischen Interpretation von Diskursen und Feldern eingefügt wird (4.5). Hiervon ausgehend sollen dann die methodologischen Umrisse einer praxeologischen Bildungsforschung gekennzeichnet werden (4.6).
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4.1. Der methodologische Rahmen der rekonstruktiven Sozialforschung Die rekonstruktive Sozialforschung und hier insbesondere die dokumentarische Methode eignen sich in besonderer Weise für einen Anschluss an eine praxeologische Bildungstheorie. In zweierlei Hinsicht stellen die Arbeiten von Arnd-Michael Nohl einen zentralen Ausgangspunkt für meine eigene Arbeit dar. Einerseits ermöglichen seine systematischen Ausarbeitungen (Nohl 2006b) zur dokumentarischen Methode und zum narrativen Interview einen fundierten Anschluss einer auf Praktiken bezogenen Forschungsmethode an die Biographieforschung, andererseits zeigen seine bildungstheoretischen Forschungsarbeiten (Nohl 2006a; 2006c), wie man bezogen auf Bildungsprozesse empirisch mit dem Konzept einer auf die Praxis ausgerichteten mehrdimensionalen Typenbildung arbeiten kann. Während Nohls bildungstheoretische Ausarbeitung jedoch neben der praxeologischen Wissenssoziologie am Pragmatismus orientiert ist, wird, wie schon in Kapitel 3 deutlich wurde, in dieser Arbeit mit den Begri¤en von Habitus, Feld, Di¤erenz und Praxis ein anderer metatheoretischer Schwerpunkt gesetzt, der sich auch in den methodologischen Ausarbeitungen niederschlägt. Der gemeinsame Ausgangspunkt, der mit anderen Autoren einer bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung geteilt wird, ist das Bemühen, Bildungstheorie und empirische Bildungsforschung in ein fruchtbares Wechselverhältnis zu bringen (vgl. Marotzki 1990, Koller 1999, Herzberg 2002, Nohl 2006, Lüders 2007, Kokemohr 2008). Gerade auf einer methodologischen Ebene eignet sich die rekonstruktive Sozialforschung in ihrer Ausarbeitung als praxeologische Wissenssoziologie (vgl. Bohnsack 2003) für einen Anschluss an die ausgearbeiteten Begri¤e von Habitus und Feld. Entscheidend hierfür ist ein sowohl in den herausgearbeiteten Begri¤ lichkeiten Bourdieus als auch in der Methodologie der rekonstruktiven Sozialforschung vorgenommener Perspektivenwechsel von den Was- zu den Wie-Fragen. Neben den sich damit ergebenden Anschlussmöglichkeiten stellt ein zu bearbeitendes Problem der praxeologischen Wissenssoziologie deren bisherige Fixierung auf eine Habitusrekonstruktion dar. Beispielhaft hierfür rezipiert Michael Meuser (2001, S. 209) aus der Perspektive der dokumentarischen Methode Bourdieus Theorie der Praxis als eine „habitustheoretische Sozialstrukturanalyse“. Zwar wird hier in luzider Weise ein Anschluss zwischen der praxeo-
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logischen Wissenssoziologie und dem Habituskonzept hergestellt, jedoch bleibt der Begri¤ des Feldes weitestgehend außen vor. Im Anschluss an die metatheoretischen Überlegungen in Kapitel 3.2.1 zum Feldbegri¤ soll es deshalb auch darum gehen, an dieser Leerstelle einzusetzen und eine methodologische Perspektive für die Rekonstruktion von Feldern zwar nicht systematisch auszuführen, jedoch zumindest anzudeuten. Übergreifendes methodologisches Ziel ist dabei der Anschluss einer bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung an eine empirisch gehaltvolle Gesellschaftsanalyse. Zunächst jedoch zur Habitusrekonstruktion.
4.2. Habitusrekonstruktionen Bei den folgenden Ausführungen zur Habitusrekonstruktion wird der Fokus auf die metatheoretischen Überlegungen von Pierre Bourdieu zum Habituskonzept und auf die methodologischen Ausarbeitungen von Ralf Bohnsack (2003) zur rekonstruktiven Sozialforschung im Sinne der dokumentarischen Methode gelegt. 4 In aufwändigen und materialreichen Arbeiten hat Bourdieu gezeigt, wie sich mit dem Habituskonzept empirisch arbeiten lässt. Zwar sind diese Arbeiten immer wieder von methodologischen Reflexionen zu einer Theorie der Praxis durchzogen, doch hält sich Bourdieu mit Hinweisen zu einem konkret forschungspraktischen Weg zurück. Im Gegensatz dazu zeigen die Ausarbeitungen zu einer rekonstruktiven Sozialforschung, wie sich ein praxeologischer Theorieansatz methodologisch und forschungspraktisch umsetzen lässt (vgl. Bohnsack 2003; Bohnsack/ Nentwig-Gesemann/Nohl 2001). Ein theoriegeschichtlicher Schnittpunkt in der Arbeit von Bourdieu und der rekonstruktiven Sozialforschung liegt im Konzept des Habitus. Bourdieu nimmt den Begri¤ von Erwin Panofsky auf, der sich in Bezug auf den Habitus wiederum auf Karl Mannheim beruft, dessen Werk wie-
Entsprechend dem theoriestrategischen Anliegen einer Theorie der Praxis, eine subjektivistische und eine objektivistische Perspektive zu unterlaufen, wird ein „subjektiver“ Biographiebegri¤ im Folgenden nicht von einem „objektiven“ Lebenslaufsbegri¤ abgegrenzt (anders Marotzki 1991, S. 81). Biographien werden vielmehr entsprechend dem Habitusbegri¤ als Relation von subjektiven und objektiven Strukturen bestimmt. 4
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derum Ausgangspunkt für die Ausarbeitungen von Ralf Bohnsack zur dokumentarischen Methode ist. Von allen drei Theorielinien wird das Habituskonzept genutzt, um die Rekonstruktion von a-theoretischen Wissensbeständen zu fokussieren, die als inkorporierte Habitusdispositionen der alltäglichen Praxis strukturierend zu Grunde liegen. Gegenüber intentionalen Handlungstheorien betonen die dokumentarische Methode wie auch die Habitustheorie Bourdieus den kollektiven und routinisierten Charakter der a-theoretischen Wissensbestände von Akteuren und Akteursgruppen. Methodologisch entscheidend für den Zugang zu dem a-theoretischen habitualisierten Wissen ist der schon genannte Wechsel in der Analyseeinstellung, der sich in einem Wechsel von den Was- zu den Wie-Fragen dokumentiert. Es wird in der empirischen Rekonstruktion nicht der Frage nachgegangen, was die gesellschaftliche Realität in der Perspektive der Akteure ist, sondern wie die gesellschaftliche Realität in der Praxis der Akteure hergestellt wird (vgl. Bohnsack/ Nentwig-Gesemann/Nohl 2001, S. 12). Vorgenommen wird damit ein Wechsel von einer auf ein Wesen abzielenden ontologischen Analyseeinstellung hin zu einer auf den Herstellungsprozess und auf die Praktiken abzielenden Perspektive, die mit Bohnsack (2003, S. 58) als eine „prozessrekonstruktive“ Perspektive gekennzeichnet werden kann. In der prozessrekonstruktiven Analyseeinstellung geht es mit Bohnsack (2003, S. 151) um die „Rekonstruktion der generativen Praxis, des Erzeugungsprinzips der Praxisformen, nämlich des Habitus.“ Um die Perspektive von dem Herstellungsprozess von Praktiken zu lenken, wird der Geltungscharakter von Akteursaussagen eingeklammert. Fragen, ob die interpretierten Texte richtig oder falsch, moralisch gut oder schlecht sowie ästhetisch ansprechend oder abstoßend sind, bleiben außen vor. Fokussiert wird der modus operandi – das der Praxis zugrunde liegende Generierungsprinzip – des Habitus.5 Man wechselt demnach in eine Beobachterposition zweiter Ordnung. Auf ähnliche Gedankengänge im Konstruktivismus und in der Systemtheorie abzielend, zitiert Ralf Bohnsack (2003, S. 201) in diesem Zusammenhang Niklas Luhmann (1990, S. 95), um den Wechsel von den Was- zu den Wie-Fragen und damit den Wechsel der Beobachterposition verständlich zu ma5 Forschungspraktisch drückt sich der Analysewechsel von den Was- zu den WieFragen in den unterschiedlichen Interpretationsschritten der formulierenden und der ref lektierenden Interpretation aus (vgl. Bohnsack 2003, S. 129–141).
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chen: „Auf der Ebene der Kybernetik zweiter Ordnung, auf der Ebene des Beobachtens von Beobachtungen, wird man daher beobachten müssen, wie der Beobachter beobachtet. Die Was-Fragen verwandeln sich zu den Wie-Fragen.“ Bezogen auf die Rekonstruktion eines Habitus geht es daher um das Beobachten des modus operandi des Habitus. Neben der Einklammerung des Geltungscharakters von Akteursaussagen stellt aus der Perspektive der dokumentarischen Methode die komparative Analyse mit dem Ziel einer mehrdimensionalen Typenbildung ein zentrales methodologisches Instrumentarium bei der Habitusrekonstruktion dar. Als Typen können fallübergreifende Muster gesehen werden. Bei der Typenbildung6 geht es darum, „Orientierungsrahmen zu identifizieren, die sich von [einem (F.v.R)] Fall abheben und auch in anderen Fällen zu finden sind“ (Nohl 2006b, S. 13). Dabei ist nach Bohnsack (2003, S. 143) „die Eindeutigkeit einer Typik [...] davon abhängig, inwieweit sie von anderen auch möglichen Typiken ‚abgegrenzt‘“ werden kann. Zur Herausarbeitung einer Typik ist man damit konstitutiv auf einen Vergleich und damit auf eine komparative Analyse angewiesen. Bei der komparativen Analyse geht es darum, durch empirische Fallvergleiche das zu interpretierende Dokument mit Gegenhorizonten zu kontrastieren und zu di¤erenzieren. Dies geschieht aus zwei Gründen: Zum einen wird das Material so nicht allein mit dem Gegenhorizont des Forschers konfrontiert, sondern es werden empirische Gegenhorizonte von Vergleichsfällen in die Interpretation mit aufgenommen, wodurch die eigene Standortgebundenheit methodologisch und forschungspraktisch relationiert wird (vgl. Nohl 2001b). Zum anderen werden so die herausgearbeiteten Habitusformen, wie oben in Bezug auf die Typenbildung angeführt, in ihrer Mehrdimensionalität di¤erenziert und validiert. Zu unterscheiden sind fallinterne und fallübergreifende komparative Analysen. Durch die fallinterne Kontrastierung wird das Spezifikum eines Typs herausgearbeitet. In der fallübergreifenden komparativen Analyse, bei der das tertium comparationis ein gemeinsames Thema ist, wird das Generalisierungsniveau des herausgearbeiteten Typs bestimmt (vgl. Nohl 2001b). Als Gegenhorizonte lassen sich in dieser Phase der Typenbildung unterschied6 Auf die Di¤erenzierung von unterschiedlichen Typen der Typenbildung werde ich im Folgenden noch eingehen.
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liche gesellschaftliche Strukturierungsprinzipien heranziehen. Dazu gehören beispielsweise habituelle Aspekte wie Geschlecht, Lebensphase, Bildungsniveau oder auch Generation, wobei durch das Erkenntnisinteresse meist eine Basistypologie vorgegeben ist.7 Bei der Rekonstruktion unterschiedlicher Typen muss immer von Überlappungsphänomenen ausgegangen werden; Typenbildungen sind demnach konstitutiv mehrdimensional. Gerade in ihrer Betonung von Mehrdimensionalität hebt sich die Forschungspraxis der dokumentarischen Methode ein Stück weit von den empirischen Arbeiten Pierre Bourdieus ab, insofern Bourdieu meist eine habituelle Disposition, beispielsweise die einer Klasse, einer Generation oder eines Geschlechts beschreibt, Überlagerungsverhältnisse jedoch weitestgehend vernachlässigt. Bohnsack unterscheidet eine auf den modus operandi abzielende Typenbildung von einer Common - Sense -Typenbildung. Während bei der ersten Frage das Wie, also der Prozesscharakter von Praktiken, im Vordergrund steht, versucht die zweite, sich mit dem Was und damit mit dem propositionalen, moralischen und ästethischen Geltungscharakter auseinanderzusetzen. Die auf den modus operandi abzielende Typenbildung lässt sich nach Bohnsack weiter di¤erenzieren. Unterschieden wird zwischen einer kausal-, einer sinn- und einer soziogenetischen Typenbildung (vgl. Bohnsack 2001). Eine kausalgenetische Typenbildung zielt im Sinne der dokumentarischen Methode vornehmlich auf die Kapitalkonfiguration einer Habitusform ab, 8 wohingegen die sinngenetische Typenbildung auf die Funktionsweise eines habituellen modus operandi abhebt. Die dritte, die soziogenetische Typenbildung, nimmt die historische Genese eines modus operandi in den Blick, wodurch die Zielrichtungen einer kausalgenetischen und einer sinngenetischen Typenbildung verbunden werden können. 9 Mit den zusammenhängenden Begri¤ lichkeiten um die Einklammerung des Geltungscharakters, die komparative Analyse und die mehrdimensionale Typenbildung zeigt die dokumentarische Methode elaborierte und methodologisch reflektierte Forschungsinstrumentarien auf, 7
Hierzu näher Bohnsack 2001, S. 237.
Zu einer Kritik aus der Perspektive der dokumentarischen Methode zu dieser vor allem von Bourdieu vorangetriebenen Analyseeinstellung vgl. Bohnsack 2003, S. 68. 8
9 An dieser Stelle zeigen sich in den Formen der Typenbildung die auch schon bei der Rekonstruktion des Habitus angelegten Theorieachsen, vgl. Kapitel 3.3.
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die eine Habitusrekonstruktion gangbar machen. Als Erhebungsmethode eignet sich für die empirische Untersuchung von Bildungsprozessen insbesondere das biographische Interview, insofern dieses die Prozessstruktur eines Lebenslaufes und damit die Prozessstruktur eines habituellen Praxisgefüges in den Blick zu nehmen vermag.
4.3. Dokumentarische Interpretation narrativer Interviews Das Verhältnis von rekonstruktiver Sozialforschung und biographischen Interviews ist, methodologisch reflektiert, vor allem von Arnd-Michael Nohl (2005, 2006b) ausgearbeitet worden. Im Fokus der dokumentarischen Interpretation eines Interviews steht die Rekonstruktion eines modus operandi, weshalb die dokumentarische Interpretation eines Interviews in diesem Sinne anschlussfähig für die Rekonstruktion eines Habitus ist. Nohl schließt zunächst maßgeblich an die Ausarbeitungen zu den narrativen Interviews von Fritz Schütze an, um diese dann durch eine Perspektive der praxeologischen Wissenssoziologie zu ergänzen. Für den Anschluss einer bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung ist das narrative Interview deshalb zentral, weil es erlaubt, „Erlebnisabschnitte bis hin zu Lebensgeschichten aus der Erfahrungsperspektive der interviewten Personen heraus in ihrer Sequentialität“ (Nohl 2005, Kapitel 2, S. 2) zu erheben. Schützes (1983) Interpretationsfokus auf „Prozessstrukturen“ lässt sich dabei in einen Zusammenhang mit dem Habituskonzept stellen, insofern auch der Habitus als eine Prozessstruktur aufgefasst werden kann. Während es jedoch bei Schütze um Prozessstrukturen des Lebenslaufes wie biographische Handlungsschemata, institutionelle Ablaufmuster der Lebensgeschichte, Verlaufskurven und die aus bildungstheoretischer Perspektive wichtigen Wandlungsprozesse geht,10 zielt die Rekonstruktion von Prozessstrukturen des Habitus auf die Genese, Tradierung und Transformation von Praktiken ab. Es geht also weniger um die Rekonstruktion einzelner Phasen der Biographie als
10 Aus einer bildungstheoretischen Perspektive versuchen vor allem Marotzki und Nohl, das Wandlungskonzept an den Bildungsbegri¤ anzuschließen. Wie in der Folge deutlich werden wird, nimmt auch diese Arbeit den Wandlungsbegri¤ auf, grenzt ihn jedoch vom Bildungsbegri¤ ab, um so Di¤erenzierungsmöglichkeiten o¤enzuhalten.
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vielmehr um die Rekonstruktion der sich in den Biographien manifestierenden Prozessabläufe von Praktiken. Anders als bei Schütze zielt die dokumentarische Interpretation von Interviews weniger auf den Einzelfall als vielmehr auf die Mehrdimensionalität des Falls. Nohl kann so, methodologisch fundiert und plausibler als Schütze, die für eine Habitusrekonstruktion wichtige Möglichkeit der kollektiven Einbindung eines narrativen Interviews aufzeigen. Dabei stehen durch komparative Analysen nicht nur der einzelne Fall, sondern auch fallübergreifende Muster von mehreren Interviews im Fokus der empirischen Rekonstruktion (vgl. hierzu Nohl 2006b, S. 110–116; Nohl 2006a).11 Ferner erscheint die von der dokumentarischen Interpretation anvisierte Rekonstruktion von impliziten Wissensmustern für den Anschluss an eine Habitusrekonstruktion zentral. In diesem Zusammenhang führt Nohl (2005, Kapitel 4, S. 8) aus, dass es darauf ankommt, dass „nicht nur das, was wörtlich und explizit in Interviewtexten mitgeteilt wird, für die empirische Analyse wichtig ist, sondern vor allem jener Sinngehalt zu rekonstruieren ist, der diesen Äußerungen unterliegt und ihnen implizit ist“. Methodologisch rekurrieren die expliziten Sinngehalte in der Terminologie der dokumentarischen Methode auf den „intentionalen Ausdruckssinn“ und den „Objektsinn“, während sich die impliziten Sinngehalte auf den „Dokumentsinn“ beziehen (vgl. Nohl 2005, Kapitel 4, S. 8). Nimmt der Objektsinn auf einen allgemein unterstellten common sense Bezug,12 beschreibt Nohl (2005, Kapitel 4, S. 8) den intentionalen Ausdruckssinn mit Mannheim als das, „was vom ‚ausdrückenden Subjekt gemeint, im bewußtseinsmäßigen Daraufgerichtetsein intendiert war‘ (Mannheim 1964, S. 107)“, während der Dokumentsinn „den Text in seiner Herstellungsweise, in seinem ‚modus operandi‘ (Bohnsack 2003, S. 255)“ begreift. Methodologisch entspricht dieser Wechsel dem von den Was- zu den Wie-Fragen und damit einem Wechsel von einer ontologisch verfahrenden Analyse hin zu einer auf den Herstellungsprozess abzielenden Analyse. Forschungspraktisch drückt sich diese Unterscheidung in zwei unterschiedlichen Interpreta-
Auf die komparative Analyse von Interviews wird im Folgenden noch eingegangen.
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An dieser Stelle werden die problematischen Aspekte einer Vorstellung des common sense ausgeklammert.
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tionsschritten aus.13 Einerseits geht es auf der Ebene der formulierenden Interpretation darum, was gesagt wurde, und damit um den Objektsinn, andererseits wird auf der Ebene der reflektierenden Interpretation vor dem Hintergrund eines komparativen Vergleichs das Wie eines Textes und damit der Dokumentsinn fokussiert.14 In der komparativen Analyse gilt es nun, unterschiedliche Interviews zu vergleichen, um so die spezifischen Gemeinsamkeiten und Di¤erenzen eines Textes in den Blick zu bekommen. Bezogen auf die Rekonstruktion eines modus operandi, welcher hier als Orientierungsrahmen gekennzeichnet wird, führt Nohl (2005, Kapitel 4, S. 12) aus: „Die Art und Weise, wie, das heißt in welchem Orientierungsrahmen, ein Thema in einem Interview bearbeitet wird, lässt sich also am besten rekonstruieren, wenn man andere Interviewtexte daneben halten kann, in denen dasselbe Thema in kontrastierenden Orientierungsrahmen behandelt wird.“
Auf dieser Ebene wird der „Zugang zur Handlungspraxis und zu der dieser Praxis zugrunde liegenden (Prozess-)Struktur“ (Bohnsack/NentwigGesemann/Nohl 2001, S. 11) in den Blick genommen. Aus der Interpretationsperspektive der dokumentarischen Methode ergibt sich bei der Rekonstruktion von Bildungsprozessen dabei methodologisch und forschungspraktisch das Problem, dass man der sequentiellen Erfahrungsaufschichtung der narrativen Erzählung strikt folgen muss. Die Rekonstruktion erfolgt dabei fast immer – soweit sich ein Bildungsprozess nicht während des Interviews vollzieht – vor dem Hintergrund eines schon durchlaufenen Bildungsprozesses, das heißt, ein alter modus operandi deutet sich zwar im Was, jedoch weitestgehend nicht mehr im Wie der Erzählung an. Die Rekonstruktion von Bildungsprozessen unterscheidet sich an dieser Stelle auch forschungspraktisch von der Rekonstruktion Für eine ausführliche forschungspraktische Beschreibung einer dokumentarischen Interpretation von Interviews mit seinen Schritten der formulierenden, ref lektierenden Interpretation sowie eine daran anschließende Typenbildung vgl. Nohl 2006b 13
Der intentionale Ausdruckssinn eines Akteurs ist nicht rekonstruierbar. Vor dem Hintergrund einer in der Kommunikation immer angelegten „doppelten Kontingenz“ kann es für die rekonstruktive Sozialforschung immer nur um ein method( olog)isch kontrolliertes Fremdverstehen gehen, insofern die Intention eines Akteurs empirisch nicht nachvollziebar ist.
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eines Orientierungsrahmens. In meinen eigenen Untersuchungen geht es daher in den komparativen Analysen stärker um die Gemeinsamkeiten und die Unterschiede von Phasen der Habitustransformationen als um die Rekonstruktion der Orientierungsrahmen in den Interviews.15 Die komparative Analyse zielt dabei auf die Generierung einer Typologie. Durch den kontrastierenden Vergleich unterschiedlicher Prozessstrukturmodi von Bildungsprozessen soll es in der empirischen Ausarbeitung um die Rekonstruktion einer Phasentypik gehen. Das heißt, es sollen durch Fallvergleiche fallübergreifende Phasen von Bildungsprozessen rekonstruiert werden. Die Prozesse einer Habitustransformation werden damit nicht nur von einem singulären Fall ausgehend, sondern vor dem Hintergrund mehrerer komparativ verglichener Fallrekonstruktionen beleuchtet. Wie in Kapitel 3 herausgearbeitet, wird für die Konstitution von Praxis – und damit auch für die Transformation eines Habitus – davon ausgegangen, dass gesellschaftliche Eigenlogiken für Bildungsprozesse eine Rolle spielen können. Der metatheoretische Rahmen für die Analyse von gesellschaftlichen Eigenlogiken wurde im Feldbegri¤ gesucht, der dem Habitusbegri¤ eine externe Strukturkategorie zur Seite stellt. Nachfolgend soll es darum gehen, wie der Begri¤ des sozialen Feldes die Habitusrekonstruktion ergänzen und die empirische Analyse di¤erenzieren kann. An ausgewählten Passagen der Interviews werden jedoch immer wieder Interpretationen angestellt, die auf die semantische Form des Interviews abzielen. Hierbei wird jedoch die Analyse nach unterschiedlichen Textsorten (vgl. Nohl 2006b, S. 48 ¤.) vernachlässigt. Eine interessante Diskussion findet sich in diesem Zusammenhang in der Arbeit von Hans-Christoph Koller. Koller (1999, S. 175 ¤.) schränkt in seiner Auseinandersetzung mit dem Auswertungsverfahren von Fritz Schütze die Homologiethese zwischen Erzählung und Erfahrung ein, indem er den (Re-)Konstruktionscharakter von Erzählungen hervorhebt. Koller (1999, S. 175) hält fest, „dass auch Erzählungen kein authentisches Abbild vergangener Erfahrungen zu liefern im Stande sind“. Vor diesem Hintergrund fokussiert Koller stärker rethorische Figuren, für die auch andere Textsorten als die der Erzählungen relevant sind. Vor dem Hintergrund der hier von mir äußerst verkürzt wiedergegebenen Argumentation schreibt Koller (1999, S. 182) in Bezug auf seine eigenen empirischen Auswertungen: „Die formale Textanalyse zum Zwecke der Unterscheidung verschiedener Darstellungsformen wie Erzählen, Argumentieren und Beschreiben wird zurückgestellt, da mir die Ausklammerung der nicht narrativen Passagen (...) nicht sinnvoll erscheint.“ Auch für die Rekonstruktionen meiner Interviews waren neben Erzählungen vor allem Argumentationen und Theorien zum eigenen Selbst von großer Wichtigkeit. 15
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Dabei wird von der These ausgegangen, dass der Feldbegri¤ in Kombination mit dem Habitusbegri¤ die Möglichkeit bietet, die bildungstheoretisch orientierte Biographieforschung an eine empirisch gehaltvolle Gesellschaftsanalyse anzuschließen.
4.4. Feldrekonstruktionen Mit dem Feldkonzept wird das Habituskonzept durch ein externes Strukturverhältnis ergänzt. Bourdieu (1998, S. 7) sieht in dieser relationalen Doppelstruktur von Habitus und Feld das Zentrum seiner „Philosophie des Handelns [...], die sich in einigen wenigen Grundbegri¤en wie Habitus, Feld, Kapital verdichtet und deren Kernstück die doppelsinnige Relation zwischen den objektiven Strukturen (den Strukturen der sozialen Felder) und den inkorporierten Strukturen (den Strukturen des Habitus) ist“. Wie schon in Kapitel 3 rekonstruiert, sollen der Feldbegri¤ wie auch der Habitusbegri¤ dazu eingesetzt werden, die Aporien zwischen Subjektivismus und Objektivismus zu überwinden. Bourdieu (2001a, S. 328) schreibt hierzu: „Der Feldbegriff ermöglicht es, über den Gegensatz zwischen interner und externer Analyse hinauszugelangen, ohne irgendetwas von den Erkenntnissen und Anforderungen dieser traditionell als unvereinbar geltenden Methoden aufzugeben.“
Wie in Kapitel 3 ausgeführt, stellt der Begri¤ des sozialen Feldes dabei gegenüber dem Habitus eine eigenständige Kategorie dar. Der Feldbegri¤ zielt auf eine soziale Eigenlogik ab, die sich einerseits jenseits habitueller Dispositionen vollzieht, andererseits eng mit habituellen Mustern verzahnt ist. Dass Habitus und Feld nicht in Eins zu setzen sind, sondern die Unterscheidung zwischen beiden Kategorien eine wichtige empirische Di¤erenzierung erlaubt, verdeutlicht sich daran, dass eine Habitusdisposition in unterschiedlichen Feldern oder zu unterschiedlichen Zeiten in einem Feld verschiedene E¤ekte produzieren kann. Bourdieu (2001a, S. 137) merkt an: „Je nach Zustand des Feldes können gleiche Dispositionen höchst unterschiedliche oder gar gegensätzliche Positionierungen [...] hervorrufen.“ Und an anderer Stelle schreibt er (1987, S. 164): „Deshalb können dieselben Praktiken in jeweils anderen Feldern, bei ver-
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änderten Zuständen oder in gegensätzlichen Abschnitten desselben Feldes, gegensätzliche Bedeutung und Wert erhalten.“ An diesen Textstellen zeigt sich, dass eine habituelle Logik von einer Feldlogik unterschieden werden muss, wenn man Transformationen eines Feldes nicht umstandslos in Habitustransformationen übersetzen will und umgekehrt. Praxis lässt sich so nur als die Relation zwischen Habitus und Feld verstehen, was Bourdieu (1987, S. 175) schematisch in der Formel „[(Habitus) (Kapital)] + Feld = Praxis“ ausdrückt. Wie der Habitus wird auch ein Feld als Produkt historischer Praxis rekonstruiert. Durch gesellschaftliche Entwicklungen sind objektive Feldstrukturen entstanden, die sich nun eigendynamisch und jenseits von intentionaler Steuerung vollziehen und mit denen sich die Akteure und Akteursgruppen mit dem Eintreten in ein Feld auseinandersetzen müssen. Dabei funktioniert ein Feld nach Bourdieu (2001a, S. 367) selbstreferentiell: „Externe Einflüsse wirken sich stets nur über die spezifischen Kräfte und Formen des Feldes aus, das heißt, nachdem sie in einer Weise umstrukturiert wurden, die umso tiefer greift, je autonomer das Feld ist, je fähiger es ist, seine spezifische Logik zur Geltung zu bringen.“
In der Folge soll versucht werden, einen methodologischen Weg zur Rekonstruktion von Feldern anzudeuten. Die dabei leitende These besagt, dass sich die methodologischen Instrumentarien der dokumentarischen Methode, die sich schon bei der Habitusrekonstruktion bewährt haben, auch bei der Rekonstruktion von Feldern anwenden lassen.16 Ausgangspunkt ist dabei, dass sowohl die Habitus- als auch die Feldrekonstruktion
Im Unterschied zu methodologischen und forschungspraktischen Ausarbeitungen zur Habitusrekonstruktion (vgl. Bohnsack 2003, Bohnsack/Nentwig-Gesemann/Nohl 2001) steht eine entsprechende Arbeit zur Feldrekonstruktion noch aus. Die vorliegende Arbeit kann hier nur als ein Ansatzpunkt gesehen werden. 16
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als Interpretationsperspektiven auf Dokumente verstanden werden können.17 18 Wie schon mehrfach angeführt, kann der Feldbegri¤ dazu genutzt werden, gesellschaftliche Strukturen ungeachtet ihrer subjektiven oder kollektiven Aneignung zu fokussieren. Theoriestrategisch bietet der Feldbegri¤ damit Möglichkeiten, eine bildungstheoretisch orientierte Biographieforschung an eine empirisch gehaltvolle Gesellschaftsanalyse anzuschließen. Ich gehe davon aus, dass sich in biographischen Erzählungen Spuren von Feldern zeigen, die sich auch auf gesellschaftliche Eigenlogiken beziehen lassen, welche sich jenseits der subjektiven und kollektiven Aneignung vollziehen. Immer wieder kommt es in den Interviews zu Beschreibungen von sozialen Feldern aus der Perspektive des Akteurs. Die Strukturierungen sozialer Felder lassen sich zwar nicht vollständig aus den Habitusformen von Akteuren erklären, trotzdem bilden sie sich innerhalb der Wissensbestände von Habitusformen vermittelt ab.19 Die sich hier abzeichnenden gesellschaftlichen Eigenlogiken besitzen in der Regel Zeithorizonte, die weit über biographische Verhältnisse hinausgehen. Es ist deshalb – wie in der Folge deutlich werden wird – notwendig, für die 17 Um an dieser Stelle das Komplexitätsniveau nicht weiter zu erhöhen, wird in der Folge vornehmlich auf die Interpretation von Textdokumenten rekurriert, wohingegen die Interpretation von Bildern hier vernachlässigt wird. Es wird jedoch davon ausgegangen, dass die methodologischen Mittel der dokumentarischen Methode in der Lage sind, Bilder, Fotos und Videos sowohl aus einer habitustheoretischen als auch aus einer feldtheoretischen Perspektive zu interpretieren. Während für eine habitustheoretische Interpretation von Bildern, Fotos und Videos aus der Perspektive der dokumentarischen Methode eine methodologische Fundierung ausgearbeitet wurde (vgl. Bohnsack 2009), wäre dies für eine feldtheoretische Perspektive noch zu leisten. Dass die Interpretation von Bildern jedoch geeignet sein kann, gesellschaftliche Eigenlogiken zu rekonstruieren, zeigt sich beispielhaft in Michel Foucaults (1974, S. 31–45) Velasquez-Interpretation. Hier deutet sich an, wie ein Bild aus einer Perspektive, die den Aneignungscharakter von Akteuren oder Akteursgruppen einklammert, interpretiert werden kann.
Anders als bei Foucault, der den Dokumentbegri¤ eher kritisch benutzt und in der Archäologie des Wissens den Monumentbegri¤ vorzieht, werden Dokumente hier nicht mit einer intentionalen Hervorbringung von Subjekten verknüpft.
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Dies zeigen auch Begri¤smöglichkeiten, die in anderen Sozial- und Gesellschaftstheorien verwendet werden, beispielsweise Luhmanns Re-entrys, Bourdieus Inkorporierung und, in spezifischer Weise, negativ gewendet, die Kolonialisierung von Habermas. Immer zeigen diese Begri¤e an, dass sich soziale Ordnungen in Akteuren vermittelt wiederfinden lassen. 19
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Rekonstruktion von Feldern auch auf andere Datenerhebungsformen als das narrative Interview zurückzugreifen. Um die in den Fokus rückenden sozialen Eigenlogiken eines sozialen Feldes zu rekonstruieren, müssen, anders als bei der Habitusrekonstruktion, nicht nur der propositionale, der ästhetische und der normative Geltungscharakter, sondern auch der Geltungscharakter einer subjektiven oder kollektiven Aneignung eingeklammert werden. Nur so können Felder als eigenlogisch funktionierende Symbolsysteme abseits unterschiedlicher Habitusformen rekonstruiert werden. Für die so verstandenen Feldrekonstruktionen bieten sich die methodologischen Ausführungen der Diskursanalyse an.
4.5. Perspektiven für die dokumentarische Interpretation von Diskursen und Feldern20 Die Diskursanalyse kann in einem weiteren Sinne auch als eine Methodologie eines rekonstruktiven Forschungsparadigmas gesehen werden. Wie bei der Habitus- und der Feldrekonstruktion geht es auch bei der Diskursanalyse um die Einklammerung des propositionalen und normativen Geltungscharakters, um den Herstellungsprozess, das Wie oder den modus operandi von Sinnproduktion zu fokussieren. Anders als die Habitusrekonstruktion – und damit für die Rekonstruktion von Feldern geeignet – klammert die Diskursanalyse, wie sie im Folgenden verstanden werden soll, jedoch auch den subjektiven und kollektiven Aneignungscharakter gesellschaftlicher Eigenlogiken ein. Das Feld als ein Ensemble von diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken kann so vor dem Hintergrund seiner gesellschaftlichen Eigenlogik thematisiert werden. Der Diskurs, wie er in der Folge verstanden wird, ist nicht als eine bloße Konstruktion von Common-Sense-Annahmen zu sehen. Einer Theorie der Praxis verbunden, stellt der Diskurs im Anschluss an die Arbeiten von Michel Foucault ein Ensemble von diskursiven und nichtdiskursiven Praktiken dar. In diesem Sinne können Diskursanalysen
20 Zwar werden in der Folge keine eigenen empirischen Diskursanalysen ausgearbeitet, dennoch soll der Rückgri¤ auf diskurstheoretische Arbeiten im Zusammenhang mit den Feldrekonstruktionen des 5. und 6. Kapitels methodologisch plausibilisiert werden.
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nicht als nur sprachliche im Sinne von linguistischen Rekonstruktionen verstanden werden, vielmehr zielen auch Diskursanalysen auf die Rekonstruktion von Praxis und damit auf die Rekonstruktion von diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken ab. So fasst Foucault (1981, S. 74) Diskurse in Abgrenzung von einem bewusstseinsphilosophischen Sprachmodell nicht mehr als „Gesamtheiten von Zeichen (von bedeutungstragenden Elementen, die auf Inhalte oder Repräsentationen verweisen), sondern als Praktiken [...], die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen. Zwar bestehen diese Diskurse aus Zeichen; aber sie benutzen diese Zeichen für mehr als nur zur Bezeichnung der Sachen. Dieses mehr macht sie irreduzibel auf das Sprechen und die Sprache“. Auch Ernesto Laclau bestimmt den Text als Dokument im Diskursiven nicht als sprachlichen, sondern als gesellschaftlichen Text, der diskursive und nicht-diskursive Elemente vereint. Laclau (1981, S. 176, zitiert nach Jäger 2001, S. 92) führt aus: „Unter dem ‚Diskursiven‘ verstehe ich nichts, was sich im engen Sinne auf Texte bezieht, sondern das Ensemble der Phänomene gesellschaftlicher Sinnproduktion, das eine Gesellschaft als solche begründet. Hier geht es nicht darum, das Diskursive als eine Ebene oder eine Dimension des Sozialen aufzufassen, sondern als gleichbedeutend mit dem Sozialen als solchem. [...] Folglich steht nicht das Nicht-Diskursive dem Diskursiven gegenüber, als handelte es sich um zwei verschiedene Ebenen, denn es gibt nichts Gesellschaftliches, das außerhalb des Diskursiven bestimmt ist. Die Geschichte und die Gesellschaft sind also ein unabgeschlossener Text.“
Diskurse können so als „regelgeleitete Praktiken“ (Schwab-Trapp 2006, S. 35) gesehen werden, in denen diskursive und nicht-diskursive Elemente untrennbar zusammenhängen. Anknüpfungspunkte zwischen dem Diskurs- und dem Feldbegri¤ werden darin gesehen, dass beide Begri¤e auf gesellschaftliche Eigenlogiken verweisen können. In diesem Sinne erscheinen die ethnomethodologischen Arbeitstechniken, die aus soziologischer Perspektive meist mit Feldrekonstruktionen in Zusammenhang gebracht werden, ungeeignet. Anders als die Diskursanalysen und die Feldrekonstruktionen, wie sie in dieser Arbeit verstanden werden, haben die Ethnomethodologien keine Arbeitstechniken entwickelt, um gesellschaftliche Eigenlogiken, die sich in ihrer Sequenz meist nur über einen längeren historischen Zeitraum
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rekonstruieren lassen, komparativ zu vergleichen. Im Folgenden wird deshalb exkursartig auf die Diskursanalyse rekurriert. Die Diskursanalyse kann nicht als eine einheitliche Methode gesehen werden.21 So hält Reiner Keller (1997, S. 325) fest: „Diskursanalyse formuliert zu allererst einen breiten Gegenstandsbereich, ein Untersuchungsprogramm, keine Methode.“ Und auch Koller und Lüders (2004, S. 58) sehen, dass „der Begri¤ der Diskursanalyse oft wenig konturscharf verwendet wird und ihm höchst unterschiedliche theoretische und methodologische Überzeugungen zu Grunde liegen“. In den Methoden der Diskursanalyse werden Potenziale gesehen, um ein Feld als eine gesellschaftliche Eigenlogik zu rekonstruieren. Reiner Keller (2001, S. 113) führt aus: „Alles, was wir wahrnehmen, erfahren, spüren, auch die Art, wie wir handeln, ist überall als sozial konstituiertes, typisiertes, in unterschiedlichen Graden als legitim anerkanntes und objektiviertes Wissen vermittelt. Dieses Wissen ist nicht auf ein ‚angeborenes‘ kognitives Kategoriensystem rückführbar, sondern auf gesellschaftlich hergestellte symbolische Systeme.“
Wie mehrfach betont ist dabei das Ziel, durch den Anschluss eines Feldbegri¤es, der dem Diskursbegri¤ nahesteht, eine bildungstheoretisch orientierte Biographieforschung an eine empirisch gehaltvolle Gesellschaftsanalyse anzuschließen. Anders als andere Formen der Gesellschaftsdiagnose bilden die Methoden der Diskursanalyse und die damit einhergehenden Perspektiven für eine Feldrekonstruktion die Möglichkeit, den modus operandi und damit die Herstellungsweise einer gesellschaftlichen Eigenlogik nicht nur zu postulieren, sondern sie auch empirisch zu rekonstruieren. Die Methoden 22 der Diskursanalyse können so 21 Wenn im Folgenden von einer Diskursanalyse gesprochen wird, werden damit vielfältige Di¤erenzierungen nicht berücksichtigt, welche in einer systematischen Ausführung jedoch angeführt werden müssten. Für einen Überblick über unterschiedliche Formen der Diskursanalyse vgl. Rainer Keller 2007. Im Folgenden wird die Diskursanalyse als Interpretationsmethode für die Rekonstruktion von gesellschaftlichen Eigenlogiken verstanden.
Inwiefern die Diskursanalyse eine Methode ist, kann an dieser Stelle nicht eingehend untersucht werden. Den methodologischen Verweis, dass sie sich gegen eine schematische Anwendung sperrt (vgl. Koller/Lüders 2004, S. 66), teilt die Diskursanalyse mit anderen rekonstruktiven und interpretativen Verfahren, die ebenfalls für
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theoretische, methodische und empirische Anregungen geben, wie eine Feldrekonstruktion und damit eine Rekonstruktion von gesellschaftlichen Eigenlogiken angegangen werden kann. Sowohl der Diskurs- als auch der Feldbegri¤ sind dabei in einer Theorie der Praxis fundiert, welche Dualismen von impliziten und expliziten Wissensmustern, sprachlichen und nicht-sprachlichen Praktiken zu unterlaufen sucht. Im Folgenden soll es darum gehen, mit der Diskursanalyse eine Interpretationsmethode anzudeuten, die die empirische Rekonstruktion von gesellschaftlichen Eigenlogiken erlaubt. Ausgangspunkt hierfür ist die schon im Zusammenhang mit der Habitus- und Interviewinterpretation angeführte dokumentarische Methode.23 Ich verspreche mir hiervon, einer elaborierten Methode der Habitusrekonstruktion eine elaborierte Methode für die Rekonstruktion von gesellschaftlichen Eigenlogiken zur Seite stellen zu können. Der von der dokumentarischen Methode mit anderen Theorien und Methodologien der Praxis geteilte Theorieanspruch, „Subjektivismus“ und „Objektivismus“ relational zu überwinden, kann mit der Hinzunahme von Rekonstruktionen gesellschaftlicher Eigenlogiken in seinem Komplexitätgrad weiter gesteigert werden. Wie bei der Habitusrekonstruktion und der dokumentarischen Interpretation von Interviews stehen auch bei der dokumentarischen Interpretation von Diskursen der Perspektivenwechsel von den Was- zu den Wie-Fragen und die damit verbundene Einklammerung von Geltungsansprüchen sowie die komparative Analyse und die Typenbildung im Vordergrund. Ähnlich der Habitusrekonstruktion fokussiert die dokumentarische Diskursanalyse nicht das Was, sondern das Wie eines Diskurses. Einhergehend mit diesem Perspektivenwechsel ist auch die Diskursanalyse kein deduktives, sondern ein rekonstruktives Verfahren. Empirische Arbeitstechniken werden hier nicht als ein Mittel zur Legitimierung von sich Anspruch nehmen, von der Widerständigkeit des empirischen Materials auszugehen und diese nicht einfach einzuebnen. Das in Kapitel 2.3 besprochene Ethos der Dekonstruktion lässt sich hier wiederfinden. Dieses spricht meiner Meinung nach jedoch nicht generell gegen eine Methodisierung, die nicht mit einer Schematisierung gleichgesetzt werden darf. 23 Dass Möglichkeiten gesehen werden, Diskurse dokumentarisch zu interpretieren, deuten auch Keller (vgl. 2001, S. 138) und Nohl (2008) an. Eine systematische Ausarbeitung einer dokumentarischen Diskursanalyse steht bisher jedoch aus. Die vorliegende Arbeit kann hier als eine Bemühung gesehen werden, eine solche systematische Ausarbeitung anzuschieben.
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Theoriearbeit benutzt, sondern als eine Methode der Theoriegenerierung verstanden. Für den Perspektivenwechsel von den Was- zu den Wie-Fragen ist für die dokumentarische Interpretation von Diskursen und Feldern die Einklammerung von Geltungsansprüchen zentral. Neben der Einklammerung von normativen, ästhetischen und propositionalen Geltungscharakteren unterscheidet sich die dokumentarische Interpretation von Diskursen und Feldern durch die Einklammerung des Geltungscharakters von subjektiven oder kollektiven Aneignungsformen zentral von den Habitusrekonstruktionen. Nicht das Wie eines Habitus oder Orientierungsrahmens, sondern das Wie eines Diskurses oder Feldes steht im Mittelpunkt der Analyse. Dies andeutend schreibt Foucault (1981, S. 12), dass seine Analyse „nicht das Gefühl oder die Sensibilität einer Epoche, nicht die ‚Gruppen‘, ‚Schulen‘, ‚Generationen‘ oder ‚Bewegungen‘, nicht die Gestalt des Autors im Spiel des Austausches, das sein Leben und seine ‚Schöpfung‘ verbunden hat, sondern die in einem Werk, einem Buch, einem Text eigene Struktur als Einheit nimmt“. Dokumente werden so in der dokumentarischen Rekonstruktion von Feldern und Diskursen „als Produkte eines anonymen, aber regelhaften Geschehens“ begri¤en (Lüders 2007, S. 171). Der Begri¤ des Anonymen bedeutet in diesem Zusammenhang nicht, dass die Akteure oder Akteursgruppen eines Diskurses nicht bekannt wären oder dass sie keine strukturellen Voraussetzungen für einem Diskurs böten, vielmehr macht der Verweis auf das Anonyme die Einklammerung des Aneignungscharakters von Diskurs- und Feldrekonstruktion deutlich.24 Praktiken werden nicht aus der Perspektive ihrer performativen Au¤ührung, Aneignung, Reproduktion und Transformation beleuchtet, sondern vor dem Hintergrund ihrer gesellschaftlichen Eigenlogik und Dynamik beobachtet. Mit Koller und Lüders (2004, S. 58)
Auch Koller und Lüders (2004, S. 59, 71) sehen die „theoriestrategische Besonderheit“ in Foucaults Diskursbegri¤ in einer Abkehr von im engeren Sinne verstandenen subjektund handlungstheoretischen Begründungszusammenhängen. Foucaults Theorie des Diskurses und Bourdieus Theorie der Felder ähneln an dieser Stelle den systemtheoretischen Ausarbeitungen Niklas Luhmanns. Während sich aus einer methodologischen Perspektive die dokumentarische Methode bisher vor allem an die erkenntnistheoretischen Ausarbeitungen der Systemtheorie angeschlossen hat (vgl. Vogd 2006, Bohnsack 2009), geht es in den folgenden Ausführungen auch um einen Anschluss an eine Theorie von selbstreferentiell gedachten sozialen Eigenlogiken. 24
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geht es so um „übersubjektive Regeln der gesellschaftlichen Produktion von Wissen, Wahrheits- und Wirklichkeitskonstruktionen“. Der Diskurs oder das Feld wird in diesem Sinne als „eine spezifische Beobachterkategorie“ (Reckwitz 2008, S. 203) verstanden. Wie die Praktiken des Habitus, so haben auch die Praktiken von Diskursen und Feldern wirklichkeitskonstituierenden Charakter. Nach Schwab-Trapp (2006, S. 36) spiegeln Diskurse „die Wirklichkeit, auf die sie sich beziehen, nicht einfach wider, vielmehr organisieren sie Wirklichkeit. Und sie sind Gegenstände von Konflikten, weil Diskurse das Richtige vom Falschen, das Gute vom Bösen, das Angemessene vom Unangemessenen und das Normale vom Abweichenden trennen“. Ein Diskurs erö¤net so wie ein Feld Di¤erenzen und Kämpfe um Di¤erenzen. Um den spezifischen Code eines Feldes (vgl. Kapitel 3.2.1) oder Diskurses und damit die spezifische Eigenlogik rekonstruieren zu können, bedarf es entsprechend der dokumentarischen Interpretation anderer Dokumente einer komparativen Analyse. Bezogen auf die Notwendigkeit einer komparativen Analyse für Diskurse führt Michael Schwab-Trapp (2006, S. 38) aus: „Zur Diskursanalyse wird die Analyse diskursiver Beiträge nur dort, wo diese Analyse Vergleichshorizonte einbindet und die Beiträge, die sie untersucht, in Beziehung zu anderen Diskursbeiträgen und Diskursen setzt.“25 In der Forschungspraxis werden, dem Anspruch der komparativen Analyse folgend, für eine Feld- oder Diskursrekonstruktion größere Dokumentsammlungen komparativ verglichen, 26 um damit den modus operandi, das Wie eines Diskurses, rekonstruieren zu können. Ähnlich der Habitusrekonstruktion im Sinne der dokumentarischen Methode zielt auch eine dokumentarische Diskursanalyse auf Typenbildung ab.27 In der Regel geht es bei einer Diskursanalyse dabei nicht darum, einen Diskursbeginn exakt zu datieren oder ihn in Gänze zu erfassen (vgl. Schwab-Trapp 2006, S. 38), vielmehr wird der Herstellungsprozess eines Diskurses fokussiert. Eine auf Typenbildung abzielende Diskursund Feldrekonstruktion funktioniert nach einem Mechanismus der empirischen Sättigung. Je mehr komparative Vergleichshorizonte mit einbe25
Vgl. hierzu auch Foucault 1981, S. 18.
Für einen Einblick in die Forschungspraxis der Diskursanalyse eignet sich Reiner Keller 2007. 26
27 Die Idee, Diskursanalysen an Typenbildungen anzuschließen, taucht auch bei Keller (2001, S. 138) auf.
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zogen werden können, desto höher wird der Generalisierungsgrad einer Diskurs- beziehungsweise Feldrekonstruktion. Es geht weniger darum, einen Diskurs in seiner Vollständigkeit zu erkennen, als vielmehr darum, ihn in seinem Funktionsmodus zu bestimmen. Wie bei der Habitusrekonstruktion lässt sich auch bei der dokumentarischen Interpretation von Diskursen und Feldern eine auf das Was abzielende Common-Sense-Typenbildung von einer auf das Wie abzielenden praxeologischen Typenbildung unterscheiden.28 Während eine CommonSense-Typenbildung versucht, den expliziten Sinngehalt und damit das Was eines Diskurses zu rekonstruieren, zielt eine praxeologische Typenbildung auf den Herstellungsprozess und damit auf die Genese von Feldern und Diskursen ab. Entsprechend der Typenbildung der Habitusrekonstruktion schlage ich auch für die Diskurs- und Feldrekonstruktion drei Analyseachsen vor, die als kausalgenetische, sinngenetische und soziogenetische Feld- und Diskurstypenbildung beschrieben werden können.29 Bei der kausalgenetischen Feldtypenbildung geht es darum, unterschiedliche Kapitalakkumulierungsverhältnisse zu analysieren. 30 Fragen, 28 Vgl. zur Unterscheidung von Typenbildungen des Common Sense und eine praxeologischen Typenbildung Bohnsack 2001. 29 Auch in Arbeiten anderer Autoren (vgl. Nohl/Schittenhelm/Schmidtke/Weiß 2009; Geimer 2009) zeichnet sich ab, dass in Bezug auf die in der dokumentarischen Methode bisher verwendeten Kategorien der kausalgenetischen, sinngenetischen und soziogenetischen Typenbildung, welche sich nur auf Orientierungsrahmen beziehen, ein Erweiterungsbedarf besteht (vgl. auch Rosenberg 2009). 85 Anders als in der dokumentarischen Methode üblich, nehme ich an dieser Stelle die kausalgenetische Typenbildung als eine Perspektive der Interpretation auf. Ich verzichte damit auf die von Bohnsack (2003, S. 151 ¤.) vorgebrachte Bourdieukritik, insofern ich den an Bourdieu herangetragenen Objektivismusvorwurf nicht teilen kann. Meiner Au¤assung nach sind Kapitalbestände, insbesondere symbolischer, kultureller und sozialer Art, nicht „sinnfremde“ Gebilde (Bohnsack 2003, S. 152), sondern durch Anerkennungsverhältnisse geprägte Strukturen. In diesem Sinne sind die Untersuchungen von Kapitalkonfigurationen nicht zwangsläufig jenseits der Erlebniswelt von Akteuren anzusiedeln.
Anders als in der dokumentarischen Methode üblich, nehme ich an dieser Stelle die kausalgenetische Typenbildung als eine Perspektive der Interpretation auf Ich verzichte damit auf die von Bohnsack (2003, S. 151 ¤.) vorgebrachte Bourdieukritik, insofern ich den an Bourdieu herangetragenen Objektivismusvorwurf nicht teilen kann. Meiner Au¤assung nach sind Kapitalbestände, insbesondere symbolischer, kultureller und sozialer Art, nicht „sinnfremde“ Gebilde (Bohnsack 2003, S. 152), 30
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die diese Analyse leiten können, sind: Welche Formen von Kapital sind in einem sozialen Feld relevant? Welche Distributionsstrukturen der unterschiedlichen Kapitalformen liegen vor, und welche sozialen Positionen ergeben sich daraus für unterschiedliche Akteure/Akteursgruppen? Eine Feld- und Diskursrekonstruktion, die den Aneignungscharakter von Akteuren und Akteursgruppen einklammert, könnte fragen: Welche Dynamiken, beispielsweise der Auf-, Ab- oder Entwertung verschiedener Kapitalformen, lassen sich in einem Feld rekonstruieren? Oder: Wie verändern sich Kapitalformen in ihrer symbolischen Funktion innerhalb eines Feldes oder Diskurses? Aus einer stärker diskursanalytischen Perspektive scheint es mir auch sinnvoll, eine kausalgenetische Typenbildung an eine genealogische Interpretationsperspektive von Diskursen und Feldern anzuschließen. Aspekte der Macht fokussierend, könnte es hier um die Rekonstruktion unterschiedlicher Machtrelationen, -produktionen und -transformationen gehen. Die Analyseeinstellung der kausalgenetischen Feldtypenbildung wurde prägnant in den empirischen Studien von Bourdieu ausgearbeitet. In diesem Sinne ist für Bourdieu und Wacquant (1996, S. 127) „ein Feld als ein Netz oder eine Konfiguration von objektiven Relationen zwischen Positionen zu definieren“. Mit diesem Feldbegri¤ kann Bourdieu unterschiedliche Kapitalformen und Kapitalverteilungsdynamiken aufzeigen, wobei, wie bei allen Analysen, die kausalgenetische Feldtypenbildung immer in Relation zu Habituskonfigurationen zu sehen ist. Bourdieu rekonstruiert anhand kausalgenetischer Feldtypenbildungen, wie sich Habitusformen erst aus einer spezifischen Kapitalverteilungsstruktur heraus generieren. Oder wie bestimmte Feldformen und die hier zu einem bestimmten Zeitpunkt vorhandene Kapitalverteilung mit einem spezifischen Habitus in Passung beziehungsweise in Passungsschwierigkeiten stehen können. Oder wie eine Felddynamik sich zwischen zwei Kapitalformen, beispielsweise dem ökonomischen und dem kulturellen Kapital, entwickeln kann. Auch die genealogischen Studien von Michel Foucault (1976), beispielsweise ‚Überwachen und Strafen‘, können als Belege für eine auf die Praxis abzielende kausalgenetische Diskurs- beziehungsweise Feldrekonstruktion begri¤en werden.
sondern durch Anerkennungsverhältnisse geprägte Strukturen. In diesem Sinne sind die Untersuchungen von Kapitalkonfigurationen nicht zwangsläufig jenseits der Erlebniswelt von Akteuren anzusiedeln.
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Eine zweite Rekonstruktionsform stellt die sinngenetische Feldtypenbildung dar. Anders als bei der kausalgenetischen Feldtypenbildung geht es hier nicht um die Kapital- oder Machtverteilung innerhalb eines Feldes oder Diskurses, sondern um die selbstreferentielle Funktionsweise einer gesellschaftlichen Eigenlogik, um einen Feldcode. Im engeren Sinne wird hier der modus operandi eines sozialen Feldes oder Diskurses rekonstruiert. Dabei verdeutlichen sich die Funktionsweise und die spezifische Eigenlogik eines Feldes meist nur in der komparativen Analyse, also im empirischen Vergleich unterschiedlicher Feldcodes. Aus der Perspektive von Diskursanalysen können Beispiele für eine sinngenetische Typenbildung in den archäologischen Arbeiten Michel Foucaults wie „Die Ordnung der Dinge“, „Wahnsinn und Gesellschaft“ oder „Die Geburt der Klinik“ gesehen werden. Immer geht es Foucault darum, die Funktionsweise eines Diskurses durch eine komparative Analyse zu bestimmen. Sowohl die kausalgenetische als auch die sinngenetische Feld- oder Diskurstypenbildung zeigen ihre Überschneidungen in einer dritten Form der Typenbildung, die als soziogenetisch gekennzeichnet werden soll. Die soziogenetische Feld- oder Diskurstypenbildung ist empirisch am anspruchsvollsten zu verwirklichen, insofern sie der sozialen Gewordenheit eines Feldes gerecht zu werden versucht. Die soziogenetische Typenbildung nimmt damit die objektiven Strukturen einer Feld- oder Diskursgeschichte in ihrer Genese in den Blick. In gewisser Weise können sich hier die Analyseeinstellungen der kausalgenetischen und der soziogenetischen Feldtypenbildung verbinden, insofern die Geschichte eines Feldes immer auch als ein Zusammenspiel von Kapitalstrukturund Machtdynamiken in ihrem Zusammenhang mit einem spezifischen, feldgebundenen modus operandi zu verstehen ist. Als Beispiel für eine soziogenetische Feldtypenbildung kann die schon angeführte Studie von Bourdieu ‚Die Regeln der Kunst‘ gelesen werden. Bourdieu erklärt hier zunächst die unterschiedlich relevanten Kapital- und Machtrelationen des literarischen Feldes, um dann einen Code des literarischen Feldes, einerseits in seiner Funktion, andererseits in seiner historischen Genese zu rekonstruieren. Auch die Arbeiten von Michel Foucault können als soziogenetisch verstanden werden. Immer geht es Foucault aus einer komparativen und genetischen Einstellung heraus darum, die Geschichte von diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken in ihrem Feld- und Diskurszusammenhang zu beschreiben.
ZUM METHODOLOGISCHEN VERHÄLTNIS
Der Anschluss an eine empirisch gehaltvolle Gesellschaftsanalyse erfolgt nun, indem man „gesellschaftstheoretisch davon ausgeht, dass die soziale Welt sich aus einer Anzahl verstreuter und gleichwohl miteinander verknüpfter Cluster von Praktiken zusammensetzt“ (Reckwitz 2008, S. 205). Gesellschaft erscheint aus einer feldtheoretischen Perspektive als eine Di¤erenzierung unterschiedlicher Ensembles von Praktiken, die sich teilweise in widerstreitenden Überlagerungen befinden. Die Mittel der Feld- und Diskursrekonstruktion erö¤nen einen empirischen Weg, die gesellschaftlichen Eigenlogiken komparativ in ihrer Genese zu rekonstruieren.
4.6. Zur Rekonstruktion von Praktiken zwischen Habitus und Feld Ausgehend von einem rekonstruktiven Forschungsparadigma wurde versucht, theoretische und empirische Arbeitstechniken zu relationieren, indem die empirische Rekonstruktion als Anlass für eine Theoriegenerierung verstanden wurde. Mit den methodologischen Mitteln der dokumentarischen Methode und Ansätzen der Diskursanalyse wurden zwei Rekonstruktionsperspektiven auf Praktiken – die Habitus- und die Feldrekonstruktion – skizziert. Die Instrumentarien der Einklammerung des Geltungsanspruches, der komparativen Analyse und der Typenbildung konnten dabei gleichermaßen auf eine Habitus- und auf eine diskursive Feldrekonstruktion angewendet werden. Vor dem Hintergrund der Ausführungen in Kapitel 3 ist ein Diskurs wie auch ein Feld als eine Perspektive auf gesellschaftliche Eigenlogiken zu verstehen. Felder funktionieren aus dieser Perspektive jenseits von subjektiven und kollektiven Aneignungsformen, auch wenn Subjekte und Kollektive eine strukturelle Voraussetzung für Felder bieten. Der Habitus ist demgegenüber als ein Prozess der Aneignung, Reproduktion und Transformation von Praxis zu verstehen. Praktiken erscheinen hier nicht aus einer akteursgelösten, sondern aus einer akteursgebundenen Perspektive. Während die Habitusrekonstruktion also eine akteursgebundene Perspektive auf diskursive und nicht-diskursive Praktiken einnimmt, untersucht die Feldrekonstruktion mit den Mitteln einer Diskursanalyse eine akteursgelöste Perspektive auf diskursive und nichtdiskursive Praktiken.
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Beide Rekonstruktionsperspektiven fokussieren mitunter einen gemeinsamen Untersuchungsgegenstand, nämlich Praktiken. Während bei der Habitusrekonstruktion der Aneignungscharakter jedoch gerade im Zentrum der Untersuchung steht, wird bei der Diskurs- als Feldanalyse, welche auf die Rekonstruktion von gesellschaftlichen Eigenlogiken abzielt, der Aneignungscharakter eingeklammert. Im Zusammenspiel von Habitus- und (Diskurs-)Feldrekonstruktion können so unterschiedliche Perspektiven auf soziale Eigenlogiken geworfen und zusammengeführt werden. Weder der Diskurs- noch der Habitusbegri¤ können in ihrem Wechselverhältnis eine dominante Stellung im Sinne einer Basis-Überbaustruktur einnehmen.31 Mit Hilfe des Habitus lässt sich die Relation zwischen Selbst- und Weltverhältnissen rekonstruieren, während mit den methodologischen Mitteln der Diskurs- und Feldanalyse Welt jenseits einer subjektiven und kollektiven Aneignung rekonstruierbar wird.
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Ähnlich auch Reckwitz 2008, S. 203.
5. Empirische Rekonstruktionen von Bildungsprozessen als Wandlungen des Habitus
Im Folgenden geht es um die empirische Rekonstruktion von Bildungsprozessen als Wandlungen des Habitus. In der empirischen Ausarbeitung haben sich dabei Di¤erenzierungen zu den im folgenden Kapitel dargestellten Transformationen des Habitus ergeben. Während sich die Wandlungen des Habitus auf die Transformation einer Dimension des Habitus beziehen, sind die im folgenden Kapitel dargestellten Transformationen des Habitus konstitutiv mehrdimensional angelegt (vgl. Kapitel 7); sie beziehen sich demnach nicht auf die Transformation nur einer, sondern mehrerer Habitusdimensionen. Die empirische Rekonstruktion der Wandlungsprozesse erfolgte auf der Grundlage von vierzehn biographischen Interviews, von denen in diesem Kapitel aus Darstellungsgründen nur drei Fälle beschrieben werden.1 Alle Interviews begannen mit der Au¤orderung an die Akteure, ihre Lebensgeschichte zu erzählen. Interviewt wurden, bis auf eine Ausnahme, Akteure, die dem akademischen Bildungsmilieu zuzuordnen sind; das heißt, diese Personen besitzen alle einen akademischen Studienabschluss oder haben ihr Studium kurz nach den Interviews abgeschlossen. Vor dem Hintergrund eines anfänglichen Samples, welches in Bezug auf Bildungsprozesse die Dimensionen von Generation, Milieu und Geschlecht in den Blick nehmen wollte, erfolgte die Auswahl der Interviewpartner zunächst relativ unspezifisch. Ausgewählt wurden Personen zwischen zwanzig und sechzig Jahren, die sich einerseits bereit erklärten, mir ihre Zum forschungspraktischen Vorgehen der dokumentarischen Interpretation von narrativen Interviews, insbesondere der Typenbildung, vgl. ausführlich Nohl 2006b.
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Biographie zu erzählen, und von denen ich andererseits zunächst vermutete, dass sich in ihrer Biographie größere Veränderungsprozesse ergeben hatten. In den Fokus der folgenden Rekonstruktionen rücken die Fälle von Niklas Behrend, Sebastian Christophsen und Pierre Walters.2 Diese Fälle hängen insofern zusammen, als Herr Behrend, Herr Christophsen und Herr Walters gemeinsam an einem Netzkunstprojekt arbeiteten. Unter Netzkunst versteht man die ästhetische Auseinandersetzung mit dem Medium Internet. Das Internet wird so nicht als ein Medium für die Bereitstellung von Kunst gesehen, sondern es wird selbst zum ästhetischen Medium. Alle drei Fälle wurden im Zusammenhang mit einer Untersuchung über ästhetische Praktiken und Arbeitstechniken im Internet erhoben. Bevor es im Folgenden um die Rekonstruktion der unterschiedlichen Bildungsgeschichten geht (5.2–5.4), soll zunächst auf einer fallübergreifenden Ebene auf die semantische Form der Interviews eingegangen werden (5.1), welche in einem noch auszuführenden Zusammenhang mit den Bildungsprozessen steht. Nach der Darstellung der Fälle wird dann auf der Ebene einer Typenbildung auf die fallübergreifenden Phasen der Bildungsprozesse als Wandlungen einer Habitusdimension eingegangen (5.5), um abschließend die Wandlungsprozesse nochmals vor dem Hintergrund der Semantik der Interviews zu beleuchten (5.6).
5.1. Die semantische Form der Interviews: Der modus operandi der Nonkonformität Im Folgenden soll es um die semantische Verfasstheit der Interviews von Herrn Behrend, Herrn Christophsen und Herrn Walters gehen. Im Vordergrund wird dabei die Rekonstruktion einer nonkonformen Habitusdimension stehen, welche viele der biographischen Erzählungen, Beschreibungen und Argumentationen von Herrn Behrend, Herrn Christophsen
2 Den rekonstruierten Wandlungsprozessen von Herrn Christophsen, Herrn Behrend und Herrn Walters dienten elf weitere Interviews als komparative Vergleichshorizonte. Drei dieser elf Interviews werden in Kapitel 7 vorgestellt, die anderen acht Interviews sind in einer verkürzten Falldarstellung im Appendix dieser Arbeit aufgeführt.
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und Herrn Walters strukturiert. Dass die Analyse des modus operandi vor die Falldarstellungen gezogen wird, hat zwei Gründe. Einerseits werden bei der folgenden Rekonstruktion der Bildungsgeschichten der drei Fälle (vgl. 5.2–5.4) vor allem die unterschiedlichen Phasen der Wandlungsprozesse fokussiert werden, wodurch sehr stark die Sequentialität, die Übergänge und die Brüche der Biographien in den Vordergrund rücken, während die semantische Form an vielen Stellen vernachlässigt wird. Andererseits schärft die fallübergreifende Analyse der semantischen Verfasstheit der drei Biographien jedoch auch den Blick für die Bildungsprozesse, insofern es in allen drei Biographien um die Wandlung der im Folgenden herausgestellten Habitusdimension der Nonkonformität geht. Ein weiterer Anschluss zu dem semantischen modus operandi der Nonkonformität ergibt sich auch zu den im nächsten Kapitel angestellten Feldrekonstruktionen (vgl. Kapitel 6). Hier wird deutlich werden, dass eine spezifische Form des nonkonformen Habitus ein Produkt von sozialen Wandlungsprozessen und damit auch ein Produkt von gesellschaftlichen Eigenlogiken ist, welche sich jenseits von Akteurskonstruktionen tradieren und transformieren. In den Fällen von Niklas Behrend, Pierre Walters und Sebastian Christophsen lässt sich ein gemeinsamer modus operandi rekonstruieren, der in der Folge als modus operandi der Nonkonformität bezeichnet werden soll. Ein prägnantes Beispiel hierfür zeigt sich innerhalb der Eingangserzählung von Herrn Christophsen. Herr Christophsen beginnt die Erzählung3 seiner Biographie folgendermaßen (Z. 14–25): 4 „Äh ich soll mein Leben erzählen. (.) tja vorne anfangen. naja also ich bin in Berlin geboren, und äh man muss heute sagen in Ostberlin, //hmhm// und äh dann ja die frühesten Erinnerungen sind dass ich äh schon sehr früh irgendwie sehr widerstandsf- äh äh widers- widerständig sozusagen war und da haben wir noch in so ner Siedlung gewohnt da so ne kleine wie ist es wie heißt das Wohnbausied-
In den folgenden Darstellungen taucht immer wieder der Begri¤ der biographischen Erzählung auf, welcher sich jedoch nicht strikt auf die Textsorte der Erzählung beziehen muss. Der Begri¤ der biographischen Erzählung ist hier allgemeiner verwendet und bezieht die unterschiedlichen Textsorten von Erzählung, Beschreibung und Argumentation mit ein. Zur Interpretationstechnik der Textsortentrennung vgl. Nohl 2006b, S. 48 f. 3
Zu den Richtlinien der Transkription vgl. Kapitel 2. Die Zahlen der Zeilenangabe beziehen sich auf den Ort der Passage im Originaltranskript.
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lung, und ich weiß noch eine Szene da mochte ich irgendwie das Essen nicht und bin einfach aus dem Fenster gesprungen um abzuhauen als meine Mutter in der Küche war und das war halt zum Glück Parterre gewesen. und dann ist sie aber außen um das Haus rumgerannt und hat mir dann ne Tracht Prügel verabreicht und ich glaube das ist so ganz typisch sozusagen. meine Mutter ist ja relativ streng. und äh ja und ich bin eben halt äh äh relativ durchgeknallt könnte man sagen als Kind so ich war das ist auch nicht typisch so für‘n Kind aber ich glaub ich war schwierig.“
Herr Christophsen widersetzt sich der Autorität seiner Mutter. Das Essen schmeckt ihm nicht, und statt es einfach stehen zu lassen, flüchtet er, und zwar nicht durch die Tür, sondern durch das Fenster. Herr Christophsen setzt sich gegenüber der mütterlichen Autorität durch Entzug in Distanz. Er bricht die vorgegebenen Regeln und stellt selbst neue Regeln auf, beispielsweise, wann und wie der Essenstisch zu verlassen ist. Auch in den weiteren biographischen Erzählungen lassen sich bei ihm diese spezifischen Formen der Distanznahme rekonstruieren. Beispielsweise bricht Herr Christophsen die Regeln der Schule, am Unterricht teilzunehmen und generell das Schulgelände nicht zu verlassen, als er sich in der zweiten Klasse im Unterricht nicht mehr gebraucht fühlt (vgl. hierzu Kapitel 5.3). Herr Christophsen beginnt nun, mit Freunden während der Schulzeit dem Unterricht fernzubleiben und außerhalb der Schule „Abenteuer“ zu erleben. In der Adoleszenz wiederholt sich der Konflikt gegenüber der Schule. Herr Christophsen wird zunächst zum Abitur nicht zugelassen, weshalb er eine Ausbildung beginnen muss. Während er diese bald abzubrechen versucht, was ihm aufgrund seines rechtlichen Status als Minderjähriger nicht gelingt, verweigert sich Herr Christophsen den staatlichen Anforderungen, arbeiten zu müssen, in der Folge subversiv. Sein Ziel ist es, „nicht zu arbeiten“. Allerdings will er dafür keine Gefängnisstrafe riskieren. Also nimmt er eine Stelle als Postkassierer an, bei der er an zwei Tagen im Monat von Haus zu Haus gehen muss, um die Rundfunkgebühren einzusammeln. Regelmäßig versucht er dann, den Erlös aus diesen beiden Arbeitstagen im Pokerspiel zu verwetten oder für die Arbeit seine Freunde zu bezahlen, um damit sein Ziel der Nichtarbeit zu verwirklichen. Später lässt er sich dann, um die Rechtsnorm eines Arbeitsverhältnisses zu erfüllen, bei seiner Mutter als Ateliergehilfe anstellen, ohne hier jedoch tatsächlich zu arbeiten. Wieder bricht Herr Christophsen damit die vorgegebenen Regeln, um seine eigenen aufzustellen.
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Der modus operandi der Distanznahme zeigt sich jedoch nicht nur im Umgang mit unterschiedlichen Formen von Autorität, sondern auch in der Wahl seiner Anschlüsse an soziale Räume und bei seinen kulturellen Vorlieben. So schließt Herr Christophsen sich der ostdeutschen Subkultur an und beginnt, als einer von wenigen in der DDR, in den 1980er Jahren elektronische Musik zu produzieren. Er hält sich in „Künstlerkreisen“ zwischen Punkern und Malern auf, die sich explizit als Gegenkultur verstehen. Wieder folgt Herr Christophsen damit einer Distanznahme bei gleichzeitiger Neugenerierung von Regeln, diesmal gegenüber einer uniformen Sozialität. Schließlich findet Herr Christophsen in der Netzkunst einen Untersuchungsgegenstand, der ihn fasziniert, weil die Kunstgeschichte aus seiner Sicht damit nicht umgehen kann. Die Netzkunst bricht also für Herrn Christophsen die Regeln der Kunstgeschichte und verlangt nach neuen. Damit verhält sich die Netzkunst homolog zu einer Habitusdimension von Herrn Christophsen, die in der Folge als nonkonforme Habitusdimension gekennzeichnet werden soll. Auch in Niklas Behrends biographischen Erzählungen, Argumentationen und Beschreibungen lassen sich Formen eines modus operandi der Nonkonformität rekonstruieren. Ist für Sebastian Christophsen die Auseinandersetzung mit den Autoritätsformen von sozialen Räumen wie Schule und Staates zentral, steht in Herrn Behrends Erzählungen die Auseinandersetzung mit den Eltern im Vordergrund. Herr Behrend geht auf Distanz zu seinen Eltern und auch zu den staatlichen Rechtsformen, indem er vor allem im Zusammenhang mit der Technoszene Drogen konsumiert, oder auch, indem er, wie er an anderer Stelle erzählt, in seiner Jugend Gra¤iti malt. Dabei unterscheidet sich die Distanznahme von Herr Behrend von den spezifischen Formen der Distanznahme von Herrn Christophsen. Während in Herrn Christophsens Erzählungen immer wieder Formen der direkten Konfrontation mit seinen Eltern oder auch mit der Schule erwähnt werden, was als antagonistische Nonkonformität bezeichnet werden soll, sucht Herr Behrend oft eine Distanznahme, die einen Konflikt durch Verheimlichung und Parallelisierung zu vermeiden sucht. Während Herr Christophsen in vielen Phasen seiner Biographie die Regeln o¤ensichtlich bricht, um neue zu generieren, bleiben viele der Regelbrüche von Herrn Behrend zunächst unentdeckt, insofern
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er die Regeln eines sozialen Raumes5 durch die Regeln eines anderen subversiv unterläuft. Herr Behrend parallelisiert die Handlungspraktiken der sozialen Räume der Eltern und der Technoszene, sodass beide Räume sich möglichst wenig berühren, möglichst wenige Schnittpunkte aufweisen. Durch die Praxis der Parallelisierung kann der Schein einer Konformität bewahrt werden, in der das Regelsystem des sozialen Raumes nicht o¤en infrage gestellt wird. Hintergründig werden durch die Praktiken der subversiven Nonkonformität jedoch die gleichen Regeln unterlaufen, weshalb ich von einer subversiven Nonkonformität sprechen will.6 Auch im dritten Fall von Herrn Walters finden sich Formen von Nonkonformität. Zunächst geht er zu den sozialen Räumen der jugendlichen Peergroup in seiner Umgebung auf Distanz, indem er sich sozial isoliert. Statt in die Diskothek zu gehen oder Interesse an körperlichen Auseinandersetzungen zu zeigen, hört er lieber Musik, die die anderen Jugendlichen nicht hören. Wie auch bei Herrn Behrend zeigt sich die Nonkonformität von Herrn Walters vor allem in Bezug auf die Eltern. Immer wieder benutzt Herr Walters die Eltern und deren Normalitätsvorstellungen als negativen Gegenhorizont zu seiner eigenen Biographie. Beispielsweise, wenn er erzählt (Z. 140–164):
5 In der Folge wird der Begri¤ des sozialen Raumes verwendet, jedoch bildungstheoretisch nicht weiter ausgeleuchtet, insofern es mir in den empirischen Untersuchungen primär um die Rekonstruktion von Bildungsprozessen aus der Perspektive des Habitus und weniger um Eigenlogiken von sozialen Raumprozessen geht. Soziale Räume können im Weiteren allgemein als „eine relationale (An)Ordnung sozialer Güter und Menschen“ verstanden werden (Löw 2001, S. 224). Zu unterscheiden ist damit eine soziologische von einer geographischen Raumvorstellung. Räume werden hier nicht als fixe und materielle Verhältnisse oder Behälter gedacht, welche auch abseits von Sozialität Bestand haben, sondern Räume sind soziale Gebilde, deren symbolische und materielle Verf lechtungen nicht voneinander zu trennen sind (vgl. Löw 2001, S. 63 ¤.). In diesem Sinne können soziale Räume als soziale Konstrukte gefasst werden, die aus einer sozialen Genese entstehen und einem eigenen modus operandi folgen. Im Folgenden geht es jedoch nicht um die Rekonstruktion der Logiken von sozialen Räumen, sondern darum, anhand der biographischen Interviews den Umgang der Akteure mit sozialen Räumen vor dem Hintergrund von Bildungsprozessen zu beleuchten. 6 Vgl. hierzu auch die Arbeiten von Erving Go¤man (1972) sowie, in Bezug auf jugendliche Umgangsformen mit der Schule, von Rosenberg 2008.
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„Für die ist dat ähm dat Normale halt gewesen dat ja die Eltern jetzt halt irgendwie im Um- , Umkreis und man sitzt aufeinander und so. //ja// (.) und ähm (.) für die ist natürlich auch ähm weiß nicht als ich dann das Studium abgebrochen habe dat ähm können die halt auch irgendwie nicht so ganz nachvollziehen. //hm// so halt also eben für die gab‘s halt so‘n die sind halt mit 16 aus der Schule haben ihre Ausbildung gemacht //hmhm// und ähm waren eigentlich bis zur Rente sicher dass sie in dem Beruf irgendwie bis zur Rente arbeiten werden, und die haben halt irgendwie doch extrem krass, so diese diese Vorstellung von (.) ick lerne wat und arbeite bis bis zur Rente und dann ähm bin ick halt irgendwie noch Rentner bis ick tot bin. //hmhm// so. und ähm (.) können sich halt auch nix anderes vorstellen irgendwie birgt natürlich dann äh (.) Konfliktpotenzial @in sich@“
Herr Walters teilt die Orientierungen seiner Eltern nicht. Er kann sich nicht vorstellen, mit seinen Eltern in der Kleinstadt zu wohnen, wo alle „aufeinander“ sitzen. Und auch die berufsbiographische Perspektive eines Arbeitszusammenhanges, der bis zur Rente idealerweise nicht gewechselt wird, erscheint für Herrn Walters in negativer Form eindimensional – die „können sich halt auch nix anderes vorstellen“. Wie sich auch an anderen Stellen zeigt, empfindet Herr Walters den Möglichkeitssinn der Eltern als beschränkt; deshalb versucht er selbst, ein anderes Leben zu realisieren. Ebenso wie bei Herrn Behrend und Herrn Christophsen folgt die Logik der Praxis der Nonkonformität einem Bruch mit Regeln und einer Neugenerierung von Regeln durch Verschiebung. Bei Herrn Walters ist dabei ein zentraler Auseinandersetzungspunkt der soziale Raum der Eltern, zu deren Erwartungshorizonten er sich nonkonform verhält. Herr Walters wechselt von einem nicht-akademischen in ein akademisches Milieu. Er bleibt nicht, wie die Eltern, sein Leben lang in derselben Kleinstadt wohnen, er wechselt die Anstellungen und bricht sein Studium ab, und auch seine in der Jugend gefundene homosexuelle Orientierung stößt bei den Eltern auf Unverständnis. Dass es bei Herrn Walters jedoch nicht nur um eine Abgrenzung gegenüber den Eltern geht, sondern dass der modus operandi der nonkonformen Abgrenzung ein konstitutiver ist, zeigt sich beispielsweise in Herrn Walters’ Auseinandersetzungen mit einer homosexuellen Internetplattform. Als Pierre Walters hier mit einem homosexuellen Neofaschisten in Kontakt kommt, der seine Seite „Stolz und Ehre“ nennt, widmet Herr Walters seine eigene Seite in den Namen „Holz und Schere“ um. Als daraufhin das Gegenüber diesen Namen übernimmt, nennt er als Reaktion nun seine Seite „Stolz und Ehre“, was Anfeindungen von
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anderen Forumsnutzern nach sich zieht. Herr Walters zeigt hier, wie er sich gegenüber dem neofaschistischen Forumsteilnehmer, aber auch gegenüber den anderen Forumsteilnehmern um eine doppelte Distanznahme bemüht, die einerseits Regeln der Konformität bricht und diesen gleichzeitig durch eine Umwidmung einen neuen Ausdruck verleiht. So karikiert Herr Walters den Seitentitel des neofaschistischen Forumsteilnehmers, indem er ihn erst verändert und dann zitiert. Damit geht er wiederum auf Distanz zu anderen Forumsteilnehmern, die das Zitat eines neofaschistischen Zusammenhangs als Ausdruck von Intoleranz interpretieren. Herrn Walters’ erste Auseinandersetzungen mit dem Internet und später mit der Netzkunst sind geprägt durch die Faszination, durch eine Distanznahme etwas anders machen zu können. Er erzählt (Z. 759–767): „So Mitte der Neunziger als es mit dem Internet losging gab‘s dann halt so‘n in Berlin irgendwie internationale Stadtserver wo wo halt irgendwie Leute halt n Server zur Verfügung gestellt haben wo dann irgendwelche Privatpersonen oder Verbände oder Musiker halt ((Räuspern)) sich im Internet präsentieren konnten. und ähm (.) und wo so halt einfach noch so ne alternative Öffentlichkeit geschaffen werden sollte irgendwie. und ähm wat auch gemacht wurde wat halt nur nicht in so‘m großen Maße wahrgenommen wurde wie wie halt Leute irgendwie das Fernsehen annehmen. //hmhm// und ähm (3) also dat hat mich dann halt auch gereizt irgendwie zu gucken okay. wie wie funktioniert n dat.“
Herrn Walters fasziniert in der Mitte der 1990er Jahre am Internet, dass er hier die Möglichkeit einer „alternativen Ö¤entlichkeit“ mit eigenen Formen der Kommunikation und anderen Möglichkeiten der Publizierung sieht. Selbst wenn er in der Folge den für ihn illusionären Charakter seiner Anfangsmotive herausstreicht, sieht man doch, wie ihn auch beim Medium des Internets die Möglichkeit einer Distanznahme und Umwidmung fasziniert und wie er versucht, für seinen modus operandi der Nonkonformität einen geeigneten medialen Ausdruck zu finden. Bevor nun im Folgenden auf die einzelnen Biographien eingegangen wird, lässt sich zusammenfassend sagen, dass eine für die Fälle von Herrn Behrend, Herrn Christophsen und Herrn Walters prägende Habitusdimension die der antagonistischen und subversiven Nonkonformität ist. Der modus operandi der Nonkonformität lässt sich dabei als eine Distanznahme beschreiben, die sich antagonistisch oder subversiv gegen Regeln eines sozialen Raumes stellt, um sie dadurch umzuwidmen und
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ihnen einen anderen Ausdruck zu geben. Ohne dass damit schon eine ethische Frage beantwortet wäre, kann der modus operandi der Nonkonformität mit den beiden für Bildungsprozesse konstitutiven Dimensionen von Verschiebung und Produktion von Di¤erenz in Verbindung gebracht werden (vgl. Kapitel 3.4). Die Praxis der Nonkonformität scheint dabei Ausdruck eines auf Dauer gestellten Veränderungsprozesses zu sein. Immer wieder kommt es zu kritischen Verschiebungen und damit verbundenen Suchbewegungen nach neuen Formen der Di¤erenzbildung. So entsteht ein sich ständig verändernder und in diesem Sinne flexibler Habitus.7 Bei den folgenden Falldarstellungen soll es nun darum gehen zu zeigen, wie die Logik der Praxis der Nonkonformität vom Jugend- bis ins Erwachsenenalter innerhalb der Biographien von Herrn Behrend, Herrn Christophsen und Herrn Walters einen Wandlungsprozess erfährt. Anschließend wird auf eine fallübergreifende Ebene gewechselt, um die einzelnen Phasen der Wandlungen des Habitus rekonstruieren zu können (Kapitel 5.5), und abschließend wird dann anhand von Sequenzanalysen auf die semantische Form der Interviews und ihrer Bildungsprozesse eingegangen (Kapitel 5.6). Zunächst jedoch zu den einzelnen Falldarstellungen von Herrn Behrend, Herrn Christophsen und Herrn Walters.
5.2. Der Fall Niklas Behrend Herr Behrend ist zum Zeitpunkt des Interviews einunddreißig Jahre alt. Er lebt mit seiner Frau und seinem Sohn in Hamburg und schloss gerade sein Informatikstudium ab. Herrn Behrends Erzählungen aus der Jugend sind zunächst maßgeblich durch seine Freundschaftsbeziehungen strukturiert. Zu seinen Peergroupkontakten in der Schule führt er aus (Z. 318–345):8
7 Vgl. hierzu auch die Feldrekonstruktionen in Kapitel 6, welche das Moment der Flexibilisierung in seinem Kontext mit der Praxis der Nonkonformität in einen Zusammenhang mit gesellschaftlichen Eigenlogiken stellen. 8 Zu den Richtlinien der Transkription vgl. Kapitel 2. Die Zahlen der Zeilenangabe beziehen sich auf den Ort der Passage im Originaltranskript.
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„Keine Ahnung warum irgendwie hab ich mich da als Außenseiter gefühlt ich glaub das hat auch (.) das hat auch mit Frauen oder nicht Frauen zu tun, so weil ich da auch so‘n bisschen zurückhaltend oder Spätzünder oder wie auch immer war ich hatte ich hatte in der Schule zwar ne Freundin, am Gymnasium da war ich 15 glaub ich, da war ich mit der zwei Jahre zusammen, die Beziehung war auch schön, und dann zunehmend problematisch, aber die war auch sozusagen in der Clique war die nicht sehr anerkannt irgendwie. das war halt auch schwierig für mich also da kamen irgendwelche blöden Kommentare so, (2) da weiß ich nicht konnte ich irgendwie nicht richtig mit umgehen. (2)“
Herr Behrend erfährt sich aufgrund seiner Beziehungen zu Frauen in der Peergroup als „Außenseiter“, insofern er sich zunächst als „Spätzünder“ wahrnimmt. Als er dann eine Beziehung zu einer Frau beginnt, wird diese innerhalb der Gruppe nicht anerkannt. Die fehlenden Anerkennungsverhältnisse führen zu ersten Spannungsverhältnissen zwischen Herrn Behrend und der Peergroup. Herr Behrend ist nicht in der Lage, das Spannungsverhältnis zwischen sich und der Peergroup befriedigend zu gestalten. Er gibt an, mit der Situation nicht „umgehen“ zu können. Wie sich noch an anderen Textstellen zeigen lassen wird, deutet die Form, in der Herr Behrend mit den Konflikten in der Peergroup umgeht, auf eine subversive Habitusform hin, deren modus operandi in einer Parallelisierung von unterschiedlichen sozialen Bezügen besteht. Einerseits führt Herr Behrend eine Beziehung zu einer Frau, andererseits unterhält er Beziehungen zu seinen Freunden. Die Beziehungen zu Freunden und Freundin zeigen sich jedoch als nicht vereinbar, was nicht zu einem ausgetragenen Konflikt, sondern zu einer Parallelisierung führt. In der Peergroup bekommt Herr Behrend wegen seiner Beziehung „blöde Kommentare“ zu hören, die er jedoch nicht zu erwidern scheint. Herrn Behrend gelingt es nicht, seine Beziehung in der Peergroup zu legitimieren. Wie auch an anderen Stellen erzählt Herr Behrend in diesem Zusammenhang jedoch nicht von einem Streit zwischen sich und der Peergroup. Die Kommunikation verläuft weitestgehend einseitig. Die Peergroup stellt die Beziehung in Frage, Herr Behrend kann oder will jedoch nicht antworten. An Stelle des Konfliktes parallelisiert er die sozialen Bezüge, was zu Distanzierungsprozessen führt. Herr Behrend erzählt weiter (Z. 318–345): „Und ja es hat sich ((Räuspern)) hat sich da irgendwie alles so nach und nach so‘n bisschen verschoben wie gesagt so der Kreis der dieser Clique (mit) kam das ver-
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schob sich so‘n bisschen auf auf andere Leute die ich halt noch nicht kannte, die auch auf der Schule waren aber die ähm die mir halt eher fremd waren oder die einfach aus ner Klasse und die waren zusammen am Anfang im Gymnasium da war das noch so ne Klassenfeindschaft eher, wir gegen die, und das vermischte sich dann irgendwann so‘n bisschen dann waren die auf einmal nicht mehr die Feinde sondern die Freunde und dann waren‘s irgendwie und dann waren (auf einmal) sogar noch bessere Freunde und so als die alten Freunde und irgendwie ich bin da eben nicht so ganz mitgekommen oder so. ähm ich hatte halt auch zu dieser erweiterten Gruppe dann lange Zeit (.) keinen richtigen Zugang. das=hat sich dann eigentlich alles so‘n bisschen geändert als ich angefangen hab zu kiffen. @(.)@ dadurch haben sich eigentlich so die die Freundschaftsbeziehungen noch mal neu sortiert, als dann sowohl also auf der einen Seite gab es halt welche von der alten Crew, die damit nichts anfangen konnten und (.) weswegen ich sozusagen Abstand zu denen bekommen hatte, auf der anderen Seite waren sozusagen in der erweiterten Crew wieder Leute die auch gekifft haben, und so dass ich denen auf einmal näher wurde.“
Herr Behrend beschreibt eine „Verschiebung“ innerhalb seiner Freundschaftsbeziehungen. Seine alte Peergroup nimmt neue Leute auf. Mit vielen von denen kann Niklas Behrend „nichts anfangen“. Er orientiert sich neu. Die zunächst außerhalb der Peergroup stehenden „Feinde“ werden nun zu Freunden, während manche alten Freundschaftsbeziehungen zunehmend fremd werden. Zentral für die Neusortierung der Freundschaftsbeziehungen ist die bei Herrn Behrend nun einsetzende Praktik des „Ki¤ens“, also des Konsums von Marihuana und Haschisch. Viele der alten Freunde können mit dem Marihuanakonsum nichts anfangen. Herr Behrend zeigt sich damit gegenüber Teilen seiner alten Peergroup als nonkonform. Es dokumentiert sich, wie bei Herrn Behrend aus der Unzufriedenheit über fehlende Anerkennungsverhältnisse eine Aufgeschlossenheit für neue soziale Kontakte und Praktiken entsteht, währenddessen er sich gleichzeitig von alten Freunden distanziert. Dies zeigt sich auch an anderen Stellen. Neben dem „Ki¤en“ spielt dabei für Herrn Behrend das Musikhören eine wichtige Rolle (Z. 345–376): „Ja Musik war auch so ne Sache ich hab halt lange Zeit schon also mit dieser Clique sozusagen die Musikvorlieben geteilt, waren alles so phh war erst Heavy Metal und Hardrock und weiß nicht (.) und ähm (.) war ich dann glaub ich ne Zeit lang ziemlich orientierungslos irgendwie in der Musik, °weiß ich nicht genau° Hip-Hop hab ich dann ne Weile gehört. (.) was dann auch wieder zu Konkurrenzkämpfen geführt hat weil (wenn) die aus der neuen Crew die haben schon länger
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Hip-Hop gehört und dann darf man nicht dazugehören (weil man ist ) keine Ahnung. irgendwie hat sich bei mir warum weiß ich überhaupt nicht mehr irgendwann hab ich Interesse für Techno entwickelt. wie das so entstanden ist das ist mir völlig schleierhaft. ich hab ah genau ich hab angefangen diese (Euro)bands so richtig gut zu finden. (Puket, JFK) und (Tournon und @weiß ich nicht@) das fand ich auf einmal gut so und damit konnt ich natürlich überhaupt nicht mehr punkten. @(2)@ in der Crew. das war natürlich völlig verhasst irgendwie und äh alle haben sich aufgeregt wenn ich irgendwie zu was war‘n das noch mal weiß ich jetzt nicht mehr. dass ich da irgendwie dann (krieg) irgendwann kam das halt auch in die Diskotheken und wenn ich dann da getanzt hab so dann haben alle den Kopf geschüttelt und gedacht so, Gott so, was ist mit dem denn los so.“
Der Musikgeschmack von Niklas Behrend verändert sich. Nachdem er zunächst Heavy Metal und Hardrock gehört hat, beginnt bei ihm eine Phase, die er selbst als „ziemlich orientierungslos“ bezeichnet. Herr Behrend scheint bei der Musik, wie auch in seinem Bezug zu seinen Freunden, zwischen zwei Orientierungen zu stehen. Er hört zunächst Hip-Hop, was zu Konkurrenzkämpfen mit denjenigen führt, die schon länger als Herr Behrend Hip-Hop hören, um sich dann in der Folge für Technomusik zu interessieren. Seine neue Musikvorliebe führt bei seinen alten Freunden zu einer weiteren Distanznahme. Mit Techno kann Herr Behrend bei ihnen „überhaupt nicht mehr punkten“. Wenn er in der Diskothek zu Technomusik tanzt, zeigt die Peergroup durch Kopfschütteln ihr Unverständnis. Herr Behrend vermutet, dass sie denken: „Gott so, was ist mit dem denn los so“. Aus einem Eintritt in die Nonkonformität gegenüber der alten Peergroup beginnt für Herrn Behrend eine Suche nach neuen sozialen Kontakten (Z. 345–376): „Und na es hat sich vor allen Dingen einer einer gefunden aus der erweiterten Crew den ich halt auch schon über die über die Kifforgien kennengelernt hatte der halt auch Interesse für diese Musik hatte (nun). mit dem war ich dann lange Zeit sehr eng befreundet, (.) und //wer denn // Nils. //hm// und bin halt auch mit dem in diese Partyszene eingestiegen in diese Technopartyszene. und sein Bruder war noch dabei oder sein Halbbruder vielmehr, (.) und über die kamen wieder n ganz neuer Kreis von Leuten, eigentlich ähm mit denen ich dann bekannt war (.) naja und das ist halt dann ((Husten)) wir haben halt irgendwann angefangen auch mit mit weiß ich nicht Ecstasy und Speed, (.) und naja in dieser Partyzeit ist das halt dann mit den Freunden Bekanntschaften alles sehr ausgeufert auf der einen Seite aber andererseits auch total verkümmert irgendwie dann. die Gefühle die man füreinander gehegt hatte total überzogen waren halt durch den Drogen(äh)konsum. und ((Husten)) (.) naja ich hab also auf jeden Fall hab ich irgendwann n n Schnitt gemacht mit dieser ursprünglichen Clique aus der Schule. also da hab ich
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mich komplett von distanziert die waren für mich alle nur noch Trottel und und irgendwie (.) im Denken eingeschränkt“
Niklas Behrend findet aus dem erweiterten Kreis der Peergroup einen neuen Freund, der sowohl das „Ki¤en“ als auch die Vorliebe für Technomusik teilt. Mit Nils und dessen Halbbruder steigt Herr Behrend in die Technoszene ein, wodurch sich für ihn ein „ganz neuer Kreis von Leuten“ erschließt. Der Einstieg in die neue Szene verstärkt die, schon vorher begonnene, Distanznahme und führt zu einem Fremdwerden gegenüber der alten Peergroup aus der Schule. Die alten Freunde sind für Herrn Behrend nur noch „Trottel“, die „im Denken eingeschränkt“ sind. Herr Behrend erzählt nun von seinen sich verändernden sozialen Kontakten, wobei die alten Freunde als negativer Gegenhorizont erscheinen (Z. 377–385): „Wir sind dann halt irgendwie durchs Ruhrgebiet gereist von von Rave zu Rave und von Club zu Club irgendwie und die sind halt jahrelang immer noch jedes Wochenende in die gleiche Bochumer in der gleichen Bochumer Großraumdisko gewesen und haben sich die Hucke vollgesoffen naja und wir sind halt durch die Gegend getourt und haben Pillen gefressen und Speed gezogen das war natürlich irgendwie @aufregend@ aber wir fanden das natürlich auch aufregender und offener und so. (.) ja also von denen hab ich mich komplett distanziert in der Zeit und da hab ich halt auch (.) wirklich alle Kontakte gekappt.“
Bei der Erzählung von Herrn Behrend stehen das Erleben und die Faszination des Neuen im Vordergrund. Dabei erzählt Herr Behrend eine Di¤erenzerfahrung. Es zeigt sich eine Orientierung an einem experimentellen Selbstumgang, indem Herr Behrend versucht, neue Erfahrungen zu generieren. Der alte geographische und soziale Raum der Peergroup wird von Herrn Behrend verlassen. Niklas Behrend geht nicht mehr in die für ihn immer gleiche „Großraumdisko“, in der er früher mit den alten Freunden gewesen ist und die diese auch weiterhin besuchen. Er reist nun in umliegende Städte von „Rave zu Rave“ und von „Club zu Club“. Die neuen sozialen Bezüge erscheinen Herrn Behrend als „o¤ener“, wohingegen die alten sozialen Bezüge, wie er in der Passage zuvor erzählt, als „eingeschränkt“ wahrgenommen werden. Während seine alte Peergroup Jahre lang das Gleiche macht, löst sich Herrn Behrend aus diesen Bezügen und probiert etwas Neues aus. Das Neue ist für Herrn Behrend emotional stark aufgeladen. Immer wieder erzählt er, dass er die neuen
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sozialen Bezüge und Situationen als „aufregend“ empfunden habe. So auch in der nächsten Erzählung (Z. 318–484): „Das war schon sehr aufregend. ich musste grad in letzter Zeit oft wieder daran denken wie ich das erste Mal in in so‘n Houseclub gegangen bin in Essen. das war mit Nils und seinem Halbbruder zusammen. (.) da gab‘s irgendwie das also ich hab jetzt vor kurzem noch gelesen das war der erste Deephouseclub im Ruhrgebiet oder so. und da gab‘s hing irgendwie n Plakat, mit DJ-Ankündigung und ich glaub ich fand den Namen einfach irgendwie cool, ohne zu wissen was sich dahinter verbirgt, hatte auch ähäh ist wie gesagt meine Erfahrung war eher so Eurodance bei Viva und vielleicht gab‘s da schon House(rock), keine Ahnung. aber ich glaub eher nicht. und ja dann halt ähm Rote Liebe in Essen, sind wir halt dann da hingefahren, Felix the Housecat hat da aufgelegt, @he@ und ich fand den Namen @glaub ich einfach cool@ und dachte da da gehen wir jetzt hin so, ja dann sind wir da hin und (.) sind da auch irgendwie reingekommen obwohl wir ne Bong ne Bong im Rucksack hatten @und@ ähm (.) tja ich konnte da erstmal auch überhaupt nichts mit anfangen ich hab die Musik überhaupt nicht gecheckt irgendwie, °dachte nur so irgendwie verrückt was geht denn hier ab (weil)° da schon das Publikum komplett anders war als jetzt in den typischen Großraumdiskos die ich so kannte, hm und ich weiß noch dass wir die ganze Zeit nach Aufputschdrogen gesucht haben aber nichts gefunden haben °wir wollten da irgendwas schlucken oder ziehen oder nehmen,° aber wir haben nichts ge- bekommen, (.) ja und von da ging‘s halt dann irgendwie weiter so da ist man öfter sind wir halt öfter auf ganz gezielt in irgendwelche Technoclubs gegangen hm weil da in Bochum selber noch nicht so viel los war, zu der Zeit sind wir halt auch schon dann weiter weiter gereist, in Münster sind wir oft gewesen äh dann bin ich dann auch auf einmal mit Leuten unterwegs gewesen die ich früher für totale Deppen gehalten hätte. (weil) dann hat man auf einmal zusammen gefeiert und war zusammen drauf und dann war‘s alles wunderbar irgendwie. ja in Münster waren wir oft und dann in Düsseldorf, im Poisonclub, und in Neuss im Treibhaus, ja und das war schon dann sehr extrem irgendwie.“
Es entsteht eine neue Praxis für Herrn Behrend. Bei der ersten Party weiß er noch nicht recht, worauf er sich einlässt; er wählt den Club einfach wegen des Namens des angekündigten DJs, er versteht die gespielte Musik noch nicht, aber alles wirkt aufregend und verrückt auf ihn. Wie auch schon in der Passage zuvor zeigen die Erzählungen von Herrn Behrend über seine Jugend eine Orientierung auf, welche in einem experimentellen Selbstumgang auf die Generierung von neuen Erfahrungen abzielt. Die Erfahrung des Neuen, des Unbekannten und Di¤erenten wird dabei als aufregend wahrgenommen. Erscheinen die „typische Großraumdisko“ und damit der soziale Raum seiner alten Peergroup in den vorherigen
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Passagen noch als etwas gleichbleibend Bekanntes, ist das Publikum in den Technoclubs „komplett anders“. Herr Behrend feiert hier mit Menschen zusammen, die er früher für „totale Deppen gehalten hätte“. Es wird deutlich, dass sich für Herrn Behrend ein neuer sozialer Raum ö¤net, der mit seinen alten Beziehungen nicht mehr viel zu tun hat. Neben der Orientierung an einer experimentellen Generierung von Erfahrungen dokumentiert sich in den Handlungen von Herrn Behrend deutlich der ungeplante und kollektive Charakter der Praktiken, weshalb in der Folge von aktionistischen Praktiken9 gesprochen werden soll. Die sich aus den aktionistischen Handlungen, insbesondere dem Drogenkonsum, ergebenden Konflikte mit seinen Eltern spielen in den folgenden Erzählungen von Herrn Behrend eine wichtige Rolle. Er führt aus (Z. 273–277): „Ja ich hatte arge Konflikte mit meinen Eltern vor allen Dingen halt in der Zeit im Zivildienst und so gegen Ende der Schulzeit und Anfang des Studiums so in diesem Zeitbereich weil ich da sehr exzessiv so auf Partys gegangen bin und (.) auch nicht ähm wenig Drogen konsumiert hab und das war halt schon ordentlicher Konfliktstoff irgendwie. (2) naja. (2).“
Der Einstieg in die Technoszene und das damit verbundene exzessive Feiern sowie der Konsum von illegalen Drogen führen für Herrn Behrend zu Auseinandersetzungen mit seinen Eltern. Herr Behrend schildert in der Folge die Konfliktsituation mit seinen Eltern, bei der sich wieder ein modus operandi der Parallelisierung zeigt (Z. 318–484):
9 Der Begri¤ des Aktionismus wird hier gebraucht, um Handlungsformen zu beschreiben, die einerseits ungeplant sind und andererseits dazu dienen, psychische Spannungen zu bearbeiten. Werner Fuchs-Heinritz (2007, S. 26) erläutert den Begri¤ des Aktionismus als „ein politisches Verhalten von Gruppen, das nicht durch klare Ziel- und Wertvorstellungen begründet ist, sondern durch den Versuch der kollektiven Lösung psychischer Spannungen, der Abreaktion von Aggression“. Anders als bei Heinritz wird der Begri¤ im Folgenden nicht nur für politische Handlungsformen gebraucht, sondern vor allem zur Kennzeichnung von ungeplanten Handlungspraktiken bei Jugendlichen. Zu Aktionismen bei Jugendlichen vgl. Bohnsack/ Nohl 2001.
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„Die ganze Zeit war vor halt ziem- von ner ziemlich krassen Angst einfach überschattet vor meinen Eltern so und (4) naja s war (.) ja es war aber schon echt aufregend weil so immer so diese neuen Läden kennenzulernen und immer mit andern Leuten unterwegs zu sein und sich mit denen auch noch @zu verstehen@ und irgendwie verrückte Sachen zu erleben und halt alles unter völligem Drogeneinfluss das war natürlich irgendwie aufregend. und schon auch ziemlich cool eigentlich @(.)@ äh die Angst hat halt da immer mehr überhandgenommen eigentlich und also sowohl meine Angst glaub ich als auch umgekehrt die Angst von meinen Eltern weil die sich halt zunehmend gefragt haben was macht der Junge wenn er wenn er irgendwie das ganze Wochenende weg ist und sich nicht meldet und wenn er dann nach Hause kommt auch noch so komisch aussieht und irgendwie gleich im Bett verschwindet und so.“
Herr Behrend steht im Konflikt mit seinen Eltern, vor denen er seinen Drogenkonsum zu verheimlichen versucht. Wie schon in Bezug auf seine vorherigen Konflikte mit der alten Peergroup versucht Herr Behrend seine sozialen Bezüge zu parallelisieren. Einerseits steigt Niklas Behrend immer tiefer in die Technoszene ein, lernt neue Clubs und Leute kennen, steht unter Drogeneinfluss und erlebt „verrückte Sachen“, die er als „aufregend“ erlebt. Andererseits steigt damit bei Herrn Behrend der Verheimlichungsdruck gegenüber den Eltern. Sowohl bei ihnen als auch bei Herrn Behrend selbst zeichnen sich zunehmend Prozesse der Angst ab. Die Eltern fragen sich, was ihr Sohn das ganze Wochenende macht, während Herr Behrend Angst hat, dass seine gegenüber den Eltern nonkonforme Praxis der Parallelisierung au¤ liegt. Es wird deutlich, dass es Herrn Behrend im Folgenden immer weniger gelingt, seine Aktivitäten in der Technoszene vor den Eltern geheimzuhalten. Die Parallelisierung der unterschiedlichen sozialen Bezüge lässt sich für Herrn Behrend nicht mehr aufrechterhalten. Er erzählt (Z. 318–484): „Da hat mein Vater irgendwann bei mir Haschisch gefunden und ne und ne Wasserpfeife, hat mich halt darauf zur Rede gestellt und (2) gleichzeitig war noch irgendwie hatt ich auch n Verfahren am Hals weil ich weil ich Dope aus Holland irgendwie mitgebracht hatte und das auch irgendwie gefunden wurde und ja irgendwie haben meine dann war das erst ging‘s halt um dieses Haschisch mit meinen Eltern und irgendwie haben die nicht lockergelassen und meinten da wär noch was da wär noch was und dann hab ich halt irgendwie ausgepackt auch mit den ganzen anderen Drogen und was ich eigentlich so diese Zeit mache und dann war total ja weiß ich nicht. @alles am Ende irgendwie also. alles war im Arsch ei-
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gentlich. @ und das war irgendwie das Ende der lustigen Feierzeit so. (2) also da haben wir viele Jahre alle drunter gelitten (also so) wahrscheinlich bis heute. °unter diesen ganzen Erlebnissen.° (12)
Als der Vater von Herrn Behrend bei ihm Drogen findet und gleichzeitig auch noch ein Gerichtsverfahren wegen Drogendelikten gegen ihn läuft, kann und will Herr Behrend seine Aktivitäten nicht mehr vor seinen Eltern verheimlichen. Er erzählt ihnen, dass er Drogen konsumiert und wie er mit seinen Freunden feiert. Die „lustige Feierzeit“ ist damit zunächst beendet, weil für Herrn Behrend damit irgendwie „alles am Ende“ war. Der modus operandi der subversiven Parallelisierung eines nonkonformen Sozialraums läuft ins Leere. Herr Behrend kann nicht mehr so unbeschwert feiern, wie er es vorher konnte. Zu einem späteren Zeitpunkt der Rekonstruktion wird deutlich werden, dass mit dem Ende des Feierns auch das Ende einer uneingeschränkten Orientierung an der experimentellen Generierung von neuen Erfahrungen verbunden ist. Bevor darauf eingegangen wird, wie sich dies auch in der Form der folgenden Erzählungen ausdrückt, soll jedoch weiter der Konflikt mit den Eltern ausgeleuchtet werden, insofern sich hier die Praxis der subversiven Nonkonformität gut dokumentieren lässt. Herr Behrend erzählt von den Reaktionen seiner Eltern auf seinen Drogenkonsum (Z. 531–539): „Es war halt für meine Eltern der totale Hammer weil die mit so was irgendwie überhaupt nichts am Hut haben ne, //hmhm// also die die die wenn‘s hochkommt trinken die n halbes Glas Sekt oder Wein am Abend mein Vater gar nicht und meine Mutter ist dann schon betrunken. und das ist halt also die haben halt überhaupt keinen Zugang (.) zu dieser ganzen Welt des Rausches und der Bewusstseinsveränderung.“
Für die Eltern ist der Drogenkonsum ihres Sohnes der „totale Hammer“. Es wird deutlich, dass der soziale Raum der Technoszene gegenüber den Eltern eine Gegenkonstruktion darstellt, insofern die Eltern „keinen Zugang zu dieser Welt des Rausches und der Bewusstseinsveränderung“ haben. Innerhalb der Technoszene konnte Herr Behrend sich gegenüber den Eltern abgrenzen. Der Einstieg in die Technoszene und die damit neu entstehenden Praktiken des Feiern-Gehens und des Drogenkonsums sind als eine doppelte Distinktion einerseits gegenüber seiner alten Peergroup, andererseits gegenüber seinen Eltern zu lesen. Vor allem gegen-
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über den Eltern wird dabei eine subversiv-nonkonforme Praxisform deutlich, welche den Konflikt zwischen Eltern und Technoszene parallelisiert, um sich so in Distanz gegenüber den Eltern ausprobieren zu können. Durch die Parallelisierung bleibt die Abgrenzung dabei jedoch zunächst versteckt, und als die Trennung zwischen den unterschiedlichen Ansprüchen der sozialen Räume für Herrn Behrend nicht mehr aufrechtzuerhalten ist, kommt, wie in der Folge deutlich wird, zunächst auch der Distanzierungsprozess zum Erliegen. Wie er an anderer Stelle erzählt, beendet Herr Behrend seinen Zivildienst und fängt dann an zu studieren. Dabei richtet er sich sowohl bei der Studienwahl als auch beim Studienort stark nach den Wünschen seiner Eltern. Herr Behrend möchte eigentlich Kunst studieren, was aber von den Eltern abgelehnt wird. Den biographischen Hintergrund für diese Ablehnung bildet neben den von den Eltern projizierten schlechten Berufsaussichten ein Konflikt um Herrn Behrends ästhetisch-subversives Interesse, das dem Konflikt um den Raum der Technoszene ähnelt. Um den Hintergrund hierfür zu verstehen, muss nochmals der Prozess des Fremdwerdens von Herrn Behrend gegenüber seiner alten Peergroup beleuchtet werden. Während dieses Distanzierungsprozesses und auch im Zusammenhang mit dem beginnenden Marihuanakonsum entwickeln sich bei Herrn Behrend erste Ansätze für ein Interesse an ästhetischen Praktiken. Er erzählt (Z. 581–591): „Und dann hab ich irgendwann angefangen Comics auch nachzuzeichnen, hab ich ja schon gesagt und selber Comics zu zeichnen und ähm (7) das war auch früh also noch bevor das eigentlich mit diesem mit dieser Technofeierei losging, davor hatt ich ja angefangen zu kiffen schon n paar Jahre glaub ich eher, (.) und da war das für mich auch so‘n Ruhepol dieses Zeichnen. da hab ich halt oft abends wenn ich ins Bett gegangen bin im Bett irgendwie auf‘m Block einfach noch so vor mich hin gezeichnet. und ich weiß nicht ich war immer fasziniert von Zeichnungen. also so Malerei war nie mein Ding, Zeichnen war immer irgendwie so was mich fasziniert hat und ich hab da einfach viel geübt so. und ich hab endlos verschiedene Stifte ausprobiert, Bleistifte Filzstifte Tintenstifte Kugelschreiber eigentlich alles was es an @schwarzen Stiften@ gab“
Im Zeichnen entdeckt Herr Behrend für sich einen „Ruhepol“. Es entsteht eine für ihn faszinierende Praxis. In der Phase der Abgrenzung von seiner alten Peergroup findet er im Zeichnen einen Ausgleich. An anderer Stelle beschreibt Herr Behrend das Zeichnen als etwas, das in dieser
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Zeit aus ihm „selbst herauskam“. Die Praxis des Zeichnens setzt sich fort (Z. 617–619): „Ja. also in der Oberstufe war das dann schon so‘n Selbstläufer geworden irgendwie. wie gesagt da hatt ich eigentlich großen Spaß dran und hab auch gemerkt dass ich da so Talent habe“
In der Oberstufe verselbstständigt sich bei Niklas Behrend die ästhetische Praxis, sie wird ‚selbstläufig‘, reproduziert sich also als ein selbstständiger Teil der eigenen Praxis. In seiner Jugend bildet Herr Behrend dabei schon erste Ansätze einer subversiven ästhetischen Praxis aus, als er mit seinem Freund illegal Gra¤itibilder zu malen beginnt. Hiervon erzählt er (Z. 565–571): „Und auch die Sache mit dem Graffiti spielt auch ne Rolle da hab ich halt also so so mit Techno und so hab ich halt auch ziemlich früh weiß ich nicht. war einfach ziemlich früh ich denk mal so mit 14 15 oder so. wurde das halt irgendwie interessant ja stimmt das war ja schon mit dem Peter da haben wir ja auch schon Graffitis gemalt. (2) naja da hatt ich ja auch schon so ne frühere Graffiti-Phase da gab‘s ja auch den @ersten Stress mit meinen Eltern (2)@ weil die Nachbarn mich verpfiffen haben.“
Das Gra¤itimalen zeigt Parallelen zu Herrn Behrends späterem Umgang mit den Eltern und dem Raum der Technoszene. Die gegenüber den Eltern verheimlichte ästhetische Praxis kann dabei als eine erste nonkonforme Abgrenzung von den Eltern gelesen werden, indem eine neue Praxis mit eigenen Regeln installiert wird. Das Gra¤itimalen gerät jedoch, wie später auch die Praxis des Feiern-Gehens in der Technoszene, in eine Krise, als Herr Behrend erwischt wird und damit die Parallelisierung in Schwierigkeiten gerät. Die Eltern und der Raum der illegalen Subkultur können nicht mehr getrennt werden, weshalb es zu Konflikten kommt und Herr Behrend das Gra¤itimalen aufgibt. Wie in der Passage zuvor geschildert, bekommt Herr Behrend im Kunstunterricht der Oberstufe jedoch auch soziale Anerkennung für seine Beschäftigung mit einer ästhetischen Praxis, die sich in guten Noten ausdrückt und die ihn sich selbst als „Talent“ bezeichnen lässt. Es wird deutlich, dass Herr Behrend das bei ihm in der Phase der Distanzierung von seiner alten Peergroup entstandene Interesse an einer ästhetischen Praxis auch nach dem
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durch das Gra¤itimalen ausgelösten Konflikt mit den Eltern weiterverfolgt. Zurückkommend auf die Krise nach der elterlichen Aufdeckung des Drogenkonsums und dem Gerichtsverfahren zeigt sich jedoch auch, dass sich Herr Behrend in der Folge mit seinem künstlerischen Studienwunsch nicht durchsetzen kann. Er führt aus (Z. 527–539): „Naja es ging halt vor allen Dingen so weit also dass ich mich halt irgendwie in den großen Entscheidungen halt dem Willen meiner Eltern unterworfen hab, das war halt sozusagen zum Ausziehen und Studiumswahl, also beides wollte ich eigentlich anders, ich wollte eher ausziehen und ich wollte was anderes studieren, und ich hab mich halt in beidem da meinen Eltern unterworfen.“
Obwohl er schon lange den Wunsch hat auszuziehen, bleibt Herr Behrend nach dem Abiturabschluss bis zum Vordiplom noch vier Jahre bei seinen Eltern wohnen. Der in der Parallelisierung zwischen Eltern und Technoszene angelegte Versuch, sich von seinen Eltern zu distanzieren, verläuft sich zunächst. Wie auch schon bei den Konflikten mit seiner Peergroup scheint Herr Behrend über die Parallelisierung sozialer Bezüge hinaus wenig Strategien zu besitzen, um seine eigenen Interessen gegenüber anderen durchzusetzen. Die Eltern behalten auch bei der Planung der berufsbiographischen Orientierungssuche besonderes Entscheidungsgewicht. Obwohl er eigentlich in eine künstlerische Richtung studieren will, lässt sich Herr Behrend von seinem Vater überreden, Informatik zu studieren und seine künstlerischen Studienwünsche aufzuschieben beziehungsweise in sein Nebenfach zu verlegen. Hier zeigt sich erstmals der schon angesprochene Wechsel in der semantischen Form des Interviews. Während es in Herrn Behrends Erzählungen, Argumentationen und Beschreibungen über seine Jugend vornehmlich um die experimentelle Generierung von neuen Erfahrungen ging, vermeidet er nun, dieser Orientierung weiter zu folgen. Der Auszug wird aufgeschoben und das gewünschte Studium nicht weiter verfolgt. Herr Behrend trägt den Anforderungen der Eltern nun stärker Rechnung und lässt sich damit stärker auf strategische Überlegungen ein, was für seine Zukunft von Nutzen sein könnte. Dem Bedürfnis nach der Generierung von neuen Erfahrungen wird so eine Perspektive der Nutzenabwägung zur Seite gestellt. Die in der Jugend weitestgehend vernachlässigte Semantik einer an Zukunft orientierten Nutzenabwägung spielt in der Folge der Erzäh-
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lungen – neben der bleibenden Orientierung an einer experimentellen Generierung von neuen Erfahrungen – eine immer wichtigere Rolle. In seinen Erzählungen, Argumentationen und Beschreibungen bezieht Herr Behrend nun eine neue Zeitperspektive mit ein. Während die Erzählungen über die Jugend vornehmlich an dem Erleben des Gegenwärtigen und teilweise an den damit unmittelbar verbundenen Konsequenzen orientiert sind, werden die folgenden Erzählungen mit Abwägungen für die Zukunft verbunden. Als Konsequenz treten immer stärker semantische Formen in den Vordergrund, in denen es um Akkumulierung und Transferierung von unterschiedlichen Kapitalformen geht. Bezogen auf die vorherige Passage wägt Herr Behrend ab, dass es für ihn aus einer kapitalökonomischen Perspektive besser erscheint, bezüglich seines Studiums nicht seinen, sondern den Wünschen der Eltern zu folgen. Nach dem Abschluss des Vordiploms beginnt für Herrn Behrend ein zweiter Distanzierungsversuch von den Eltern. Er zieht nach Hamburg, was er als „Erleichterung“ erlebt. In Hamburg beginnt er dann nach einer Orientierungsphase die Mitarbeit an einem Netzkunsttutorium (Z. 683–734): „Es war irgendwie also es war für mich vollkommen neu auch Netzkunst kennenzulernen, und ähm (.) ich die Arbeiten die ich ges- die wie halt da besprochen haben, hab ja die fand ich halt echt gut so also das war auch‘n Stil irgendwie oder n Ansatz der der mir einfach (.) lag auch so. weiß ich nicht. also so weil viele Sachen (.) sind da so leicht ironisch oder mit so nem schwarzen Humor belegt so und das das spricht mich halt schon an irgendwie also das ist so ne das spricht mich auch in anderen Ausdrucksformen an also in Literatur oder in Filmen und so °also es war auch schon früher so (mit den)° (.) und s=war halt auch also (.) es war irgendwie so auch was ja einfach was anderes. als man jetzt vom @Internet@ irgendwie kennt oder erwartet oder so und (.) ähm (.) und es war halt auch (.) glaub ich dann zusammenhängend mit Pierre und Sebastian die das geleitet haben, (.) waren jetzt auch zwei Persönlichkeiten so deren Lebensziel mich äh oder Lebensansatz mich vielleicht fasziniert hat glaub ich. (3) aber das war vielleicht auch n bisschen so ging so in die Richtung was ich so von Hamburg vielleicht auch erwartet habe. so halt dieses Subkulturmäßige und ähm (.) Szenige und so. wo ich so vorher war ich in Hamburg so eigentlich null Kontakte hatte, (.) wo ich vorher auch keinen Kontakt zu hatte was ich so‘n bisschen erwartet hatte aber wo ich halt irgendwie noch keine Berührung zu so richtig gekriegt hatte. ich glaub das hat mich halt auch fasziniert. (.) und (.) so ja hab ich da halt mitgemacht und (.) wurde natürlich auch mit offenen Armen empfangen weil sonst kein Informatiker vor Ort war und weil Aufgabe dieses Tutoriums halt auch war eben so ne Datenbank da anzulegen, @(.)@ und ähm da ging‘s halt ziemlich schnell auch zur Sache irgend-
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wie dass halt ähm dass halt wir angefangen haben da was zu planen. (.) hm was mich dann irgendwie gereizt hat weil auf der einen Seite war‘s halt diese technische Komponente die mir halt die mir halt liegt oder wo ich auch ne Begabung zu habe, und auf der anderen Seite war‘s halt n Themengebiet das mir sinnvoll erschien. also was für mich Bedeutung hatte halt einfach. und ich glaub deswegen hab ich mich da so reingestürzt.“
Im Rahmen seines Studiums beginnt Herr Behrend, sich mit Netzkunst auseinanderzusetzen, was für ihn „vollkommen neu“ ist. Die Netzkunst folgt für Niklas Behrend einem modus operandi, der sich für seine eigene subversive Praxis als anschlussfähig erweist. Es geht um Ironie, schwarzen Humor und subkulturelle Bezüge und damit um eine Form des Sich-in-Distanz-Setzens, was für Herrn Behrends auch schon beim Marihuanakonsum, beim Gra¤itimalen und bei seinem Eintritt in die Technoszene eine Rolle gespielt hat. Die Auseinandersetzung mit der Netzkunst ist dabei nicht nur inhaltlicher Art; vielmehr findet Herr Behrend den subkulturellen Ausdruck, den er mit der Netzkunst verbindet, auch im Lebensstil der beiden Tutoriumsleiter Pierre Walters und Sebastian Christophsen wieder (vgl. hierfür auch deren Biographien in Kapitel 5.3 und 5.4), wodurch sich sein Interesse am Studieninhalt in die persönliche Beziehungsebene erweitert. Der „Lebensansatz“ der Tutoriumsleiter fasziniert Herrn Behrend, seine Informatikerfähigkeiten sind gefragt, und das Themengebiet der Netzkunst erscheint ihm sinnvoll, was ihn dazu veranlasst, sich stark im Tutorium zu engagieren. Sein Engagement empfindet Herr Behrend jedoch als zwiespältig. Er erzählt (Z. 683–734): „Hab außer Acht gelassen das vielleicht auch in=ne Richtung zu lenken (.) das da irgendwie oder nee in ne Richtung zu lenken ist jetzt falsch gesagt sondern halt darauf zu achten dass ich dass ich selber auch vorankomme irgendwie ich hab mich halt dann ich hab mich auch so ziemlich abhängig gemacht eigentlich von dem Projekt und auch von den vor allen Dingen von Sebastian, Pierre 10 ist nicht so sehr der Typ von dem man sich abhängig macht aber (.) vielleicht so‘n bisschen naja ich hab mich glaub mich so‘n bisschen abhängig gemacht von der Hoffnung auch in diesen Lebensstil reinzukommen aber es ist ähm es geht halt so nicht. indem man sich (.) man muss halt selber die Entscheidung dafür treffen. man schlittert da nicht so rein irgendwie und das war so‘n bisschen so‘n
Hier ist die Rede von Sebastian Christophsen und Pierre Walters, deren Biographien in den folgenden Kapiteln dargestellt werden.
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Zwiespalt glaub ich in dem ich auch die ganze Zeit gelebt habe und auch vorher schon in dieser Technozeit gelebt habe da hab ich mich ja auch nicht dafür entschieden okay. ich scheiß auf meine Eltern und feier auch bis Mittwoch sozusagen weil ich weil ich‘s eigentlich cool finde irgendwie. und das ist glaub ich so‘n ähnliches Muster auch in diesem Tutorium gewesen. ich hab halt irgendwie mich dann reingehängt und alles gegeben (.) irgendwie an an Einsatz und mich vertieft irgendwie in die technischen und sozialen Zusammenhänge der Netzkunst aber ich glaub was ich halt eigentlich gesucht habe ist irgendwie dieser @(.) dieser Boheme-Lebensstil (.)@ aber nun eben dafür muss man halt glaub ich die so ne die Entscheidung selber treffen und nicht sich in so ne Abhängigkeit begeben. aber ich glaub das war lange Zeit Antrieb für mich. da so intensiv mitzumachen. (2)“
Herr Behrend beginnt, sich in die Thematik der Netzkunst zu vertiefen, wobei er eine soziale Abhängigkeit zu den anderen Teilnehmern des Projektes empfindet. Er versucht, einen Lebensstil zu teilen, ist auf der Suche nach Gemeinsamkeit. Dabei vergleicht Herr Behrend die Situation im Tutorium mit seinem Jugendkonflikt zwischen den Eltern und der Technoszene. Wieder hat er das Gefühl, sich zwar in eine Szene zu vertiefen, doch gleichzeitig fühlt er sich diesem sozialen Raum nicht in letzter Konsequenz zugehörig. Im Gegensatz zu den Erzählungen der Jugend geht es Herrn Behrend nun aber nicht nur um Zugehörigkeiten. Herr Behrend zieht in seine Erzählung auch die Perspektive der Nutzenabwägung mit ein. Das Vorankommen und das In-eine-Richtung-Lenken spielen nun für ihn eine Rolle. Es geht damit bei den Erzählungen um die Mitarbeit in dem Netzkunstprojekt nicht mehr nur um die experimentelle Generierung von neuen Erfahrungen, die Herr Behrend in der Auseinandersetzung mit ästhetischen Praktiken findet, sondern auch um eine Nutzenabwägung für die Zukunft. Als Konsequenz verfolgt Herr Behrend weiter seinen modus operandi der Parallelisierung, indem er sich neben der Netzkunst weitere Optionen o¤enhalten will. Es scheint eine eigene Entscheidung zu fehlen, die ihn wirklich integrieren und die Parallelisierung aufgeben würde. An anderer Stelle führt er hierzu weiter aus (Z. 854–876): „Dabei ist vielleicht dass ähm wenn ich mich entschieden hätte sozusagen in diese Subkultur mit einzusteigen (.) dann hätt ich vielleicht auch meinen ganzen Background über Bord geworfen oder so dieser Background aus der eignen Familie und ich mach mein Informatikstudium und so. so ich hab ja diesen Konflikt auch mit meinem Vater und meinen Eltern hier ausgetragen. in dem Sinne dass ich sozusagen meinem Willen gefolgt wär ich will das eigentlich nicht machen. //
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hmhm// und das ist ja irgendwie auch n Konflikt mit mir selber oder n Zwiespalt mit mir selber einfach dass ich nicht wirklich die Entscheidung dazu treffe okay. ich ich mach das jetzt sozusagen“
Es wird deutlich, dass Herrn Behrends Einstieg in den sozialen Raum der subkulturellen Szene der Netzkunst unter anderem auch von der Bemühung getragen wird, sich von seinen Eltern zu lösen. Er empfindet seinen durch das Elternhaus entstandenen Habitus als Hindernis, um seinen Einstieg in die ‚Szene der Subkultur‘ zu vertiefen. Die Logik der Praxis der Subkultur und die im Zusammenhang mit den Eltern ausgebildeten Praktiken scheinen sich widerstreitend zu verhalten. Herr Behrend deutet die Notwendigkeit einer radikalen Transformation an, in der er „seinen ganzen Background über Bord“ hätte werfen müssen, um in ein für ihn nicht mehr zwiespältiges Passungsverhältnis zum Raum der Netzkunst zu gelangen. In der Folge versucht Herr Behrend, zwischen den Erwartungen der Eltern und seinen eigenen, mit dem Raum der subkulturellen Netzkunst verbundenen Erwartungen zu vermitteln. Herr Behrend möchte aus dem Projekt der Netzkunst eine berufsbiographische Perspektive generieren. Er spricht über seine Ho¤nung, mit dem Projekt Geld zu verdienen beziehungsweise, wie sich an anderer Stelle dokumentiert, einen vertieften universitären Anschluss zu finden (Z. 829–835): „Es waren halt immer wieder so Motivationsschübe irgendwie weiterzumachen und immer so okay. jetzt bald. bald kommt das Geld sozusagen. jetzt haben wir schon das und das geschafft und jetzt müssen wir nur noch n bisschen weiter machen. und dann kommt das Geld auch phh hm wir haben‘s halt nie geschafft eigentlich. (2) was auch glaub ich mit dieser kritischen Haltung einfach zusammenhängt. verträgt sich nicht mit dem Geld. wenn man das System ablehnt braucht man nicht erwarten dass das @System@ einen dafür bezahlt (4).“
Sein Wunsch, endlich Geld zu verdienen, lässt Herrn Behrend sich immer weiter in das Projekt vertiefen. Er versucht, die bei ihm vornehmlich an den sozialen Raum der Subkultur gebundene Orientierung an der experimentellen Generierung von neuen Erfahrungen mit der Perspektive einer Nutzenabwägung zu verbinden. Als dieses Ziel nicht erreicht wird, führt Herr Behrend dies auf die systemkritische Haltung des Projektes zurück, die ihn selbst jedoch gleichzeitig auch immer fasziniert hat. Mit
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dem Scheitern des Projekts scheitern auch Herrn Behrends Pläne, sein Interesse für die Subkultur mit einer berufsbiographischen Perspektive zu verbinden und sich damit ein Stück weit von den Eltern zu lösen. Einen neuen Anstoß zur Distanzierung von seinen Eltern findet Herr Behrend in der Geburt seines Sohnes, welche in etwa in die Zeit des Scheiterns des Netzkunstprojektes fällt (Z. 912–960): „I.: Hm (.) und (.) und du hast schon kurz von der Geburt irgendwie deines Sohnes gesprochen. (.) hm. ja dass das irgendwie deine deine Situation auch verändert hat einfach. vielleicht kannst du davon noch n bisschen erzählen. (4) NB: Also es hat mir einfach ganz d- dringend vor Augen geführt dass ich phh Verantwortung für mein Leben übernehmen muss irgendwie also für mein Leben und für meine Familie halt. darüber halt auch für mein Leben. dass ich vielleicht mit meinem anfangen muss sozusagen. //hmhm// ähm das wäre wahrscheinlich auch auf anderem Wege passiert weil ewig würden meine Eltern mir auch keinen Unterhalt zahlen auch wenn sie‘s jetzt schon ne halbe Ewigkeit tun irgendwie. // hmhm// (.) aber es hat schon so ausgelöst mich glaub ich auch also es hat diesen (.) diesen Abnabelungsdrang irgendwie sozusagen von meinen Eltern noch mal so (.) der war eigentlich schon immer da aber der ich hab angefangen die Sache rationaler zu sehen und zu überlegen was dazugehört. zu dieser Abnabelung. oder wie ich sie durchführen kann sozusagen und dass ich sie eigentlich ist auch klar geworden dass ich sie bisher nicht durchgeführt habe so sehr ich mich vielleicht auch bemüht habe. dass ich mich aber eigentlich eher davor versteckt hab über diese (.) diese verschiedenen Geschichten diese dieses Vertiefen in dieses Kunst- Netzkunstprojekt und (.) und so. (.) ja aber vor allen Dingen ja. dass ich halt also es hängt halt (jetzt) damit zusammen dass ich Verantwortung übernehmen muss dass ich in ganz elementar einfach Geld verdienen muss irgendwie.“
Herr Behrend nimmt die Geburt seines Sohnes zum Anlass, 11 den begonnenen Prozess der „Abnabelung“ von seinen Eltern weiter zu forcieren. Anders als bei seinen Versuchen in der Techno- und Netzkunstszene, empfindet er diesen Versuch nun „rationaler“, da die Abgrenzung sich nicht mehr nur praktisch vollzieht, sondern von einem Selbstref lexionsprozess begleitet wird. Niklas Behrend sieht seine bisherigen Versuche, sich von den Eltern zu lösen, als gescheitert an, insofern er bisher
11 In dem Interview wird nicht deutlich, ob die Partnerin von Herrn Behrend eine Rolle bei den Distanzierungsversuchen spielt, insofern diese nur vermittelt – beispielsweise wenn Herr Behrend von seiner „Familie“ spricht – in dem Interview vorkommt.^
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nicht bereit war, selbst für sein Leben „Verantwortung zu übernehmen“ – was sich zum Beispiel in den fortlaufenden Unterstützungszahlungen der Eltern dokumentiert. Als einen Ausgangspunkt für die Lösung von den Eltern sieht er deshalb die ökonomische Selbstständigkeit. Bei den Überlegungen, wie er diese erreichen soll, steht Niklas Behrend erneut vor einem Entscheidungsfindungsprozess, den er wie folgt beschreibt (Z. 912–960): „Ich könnte mich jetzt entscheiden schmeiß ich das Studium hin, und versuch irgendwie so weiterzukommen Geld zu verdienen oder das wär sozusagen Risiko gewesen oder geh ich auf Nummer sicher, mach mein Studium und schlag sozusagen diesen Weg eher ein. oder zumindest für die erste Zeit also ich will ja nicht sagen dass jetzt alle Weichen gestellt sind aber schon für diesen Moment und für die nächsten Jahre eigentlich schon irgendwie. und ich hab mich halt entschieden für die Sicherheit irgendwie. was auch mit den Erfahrungen zu tun hat die ich halt im in den vergangenen Jahren gemacht habe. wo ich halt eigentlich (.) immer wieder sagen muss dass ich mich nicht für das Risiko einfach entschieden habe ich ich te- ich hab irgendwie dahin tendiert sozusagen also dieses Subkulturleben wäre ja Risiko auch irgendwie gewesen aber ich hab mich ja wie gesagt ich bin ich bin ja nie reingegangen. ich bin dann mal so‘n bisschen so mitgeschwommen irgendwie aber ich bin ich hab nicht gesagt okay. das ist mein Ding ich geh da rein. und da war ich jetzt einfach an nem Punkt wo ich gedacht hab okay. was hast es bis jetzt nicht gemacht dann bist davor zurückgeschreckt und hast irgendwie Berührungsängste gehabt dann ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt das auszutesten oder ob du‘s vielleicht doch kannst. also dann ist es jetzt eigentlich an der Zeit @ auf dem andern Weg@ irgendwie nach ner Basis zu suchen. (2) ja. //hmhm// (9)“
Bei der Verwirklichung der ökonomischen Selbstständigkeit sieht sich Herr Behrend selbst vor eine Wahl gestellt. Entweder er geht ein Risiko ein, indem er sein Studium abbricht, um sein zeitliches Engagement im Raum der Subkultur zu forcieren, auch in der Ho¤nung, dadurch Geld zu verdienen. Oder er geht „auf Nummer sicher“ und schließt das Informatikstudium ab, um sich dann, qualifiziert durch den Bonus eines akademischen Grades, einen Beruf zu suchen. Bei beiden Entscheidungen geht es um das Aufgeben einer Form der Parallelisierung: Entweder gibt er Erwartungshaltungen der Subkultur zugunsten von Erwartungshaltungen, die ihm durch seine Eltern vermittelt wurden, auf, oder er entscheidet sich umgekehrt für die Erwartungshaltungen der Subkultur und gegen die mit den Eltern in Zusammenhang stehenden Erwartungshaltungen. Bei der Entscheidung geht es aber auch um eine Entscheidung
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der Gewichtung zwischen einer Orientierung an einer experimentellen Generierung von neuen Erfahrungen und einer Orientierung an einer zukünftigen Nutzenabwägung. Herr Behrend kann sich entscheiden, mit dem Abbruch des Studiums – gleich einem Experiment, dessen Ausgang ungewiss ist – neue Erfahrungen zu generieren oder mit der Weiterführung des Studiums die Perspektive der Nutzenabwägung stärker in den Vordergrund zu rücken. In der dann schließlich getro¤enen Wahl, das Studium ordnungsgemäß abzuschließen, findet Herr Behrend eine Kontinuität seiner Entscheidungen. Wieder entscheidet er sich nicht für ein bedingungsloses Engagement in der Subkultur, sondern er versucht, auf einem „andern Weg irgendwie nach ner Basis zu suchen“. Das genuin Neue entsteht dabei jedoch durch die Aufgabe des modus operandi der Parallelisierung, welche Herr Behrend für notwendig hält, um seine bisherigen biographischen Konflikte zu entspannen. Wie sich der damit eingeschlagene Weg für Herrn Behrend fortsetzen könnte, führt er an anderer Stelle aus (Z. 195–225): „Ich schreib grad mein Diplom, mach dann noch mein Nebenfach fertig und dann ja. geht es für mich eigentlich darum n Job zu finden (an der) als vermutlich Informatiker. @(.)@ denk ich mal. (2) und (2) ja möglicherweise ((Husten)) das weiß ich jetzt noch nicht genau werd ich halt schon versuchen in diesem Kreis in diesem Kreis (.) Medienkunst Netzkunst da vielleicht irgendwie ne Anstellung zu finden, weil jetzt wo ich manchmal schon so Jobangebote mir angucke, (.) und das so durchlese da merk ich schon dass mich eigentlich die wenigsten Sachen reizen (.) aufgrund ihrer Thematik also (.) vom Technischen her ist es mehr oder weniger egal also ich könnte in jedem Unternehmen wo IT oder Software gemacht wird arbeiten aber ich merke halt dass es mich überhaupt nicht reizt z. B. in der für‘n Medizinunternehmen oder so zu arbeiten oder keine Ahnung. sonstwas und ähm das hatt ich jetzt wiederum n bisschen ausgeblendet ich hatte halt schon ne Weile gedacht egal was du machst Hauptsache Geld verdienen aber jetzt wo ich mich so‘n bisschen damit auseinandersetze merk ich schon dass ich (.) es vielleicht das Schlaueste wäre insgesamt zu versuchen halt in diesem Kunst(äh)diskurs unterzukommen und gerade Medienkunst wird ja auch viel mit IT und Software gearbeitet und ich glaube einfach dass mir das dann (.) mich insgesamt zufriedener machen würde einfach als an irgendwas zu arbeiten woran ich eigentlich auch kein Interesse habe nur des Geldes wegen. jo. das sind grad so die Gedanken die ich mir im Moment mache @(.)@ (3).“
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Herr Behrend startet mit dem Abschluss seines Studiums den Versuch, sich von seinen Eltern ökonomisch zu lösen und seine bisherigen Parallelisierungsversuche zu entschärfen. Dabei tritt er gegenüber den Eltern, anders als noch bei seinem Einstieg in die Technoszene, nicht mehr in ein subversives Praxisverhältnis ein. Vielmehr versucht er nun, wie schon mit dem Netzkunstprojekt, erneut seine subkulturellen Praxisinteressen mit einer berufsbiographischen Perspektive zu verbinden, indem er eine Anstellung als Informatiker im Bereich Medien- oder Netzkunst zu erhalten sucht. Herr Behrend generiert so einerseits die Möglichkeit eines neuen Praxisanschlusses, andererseits erfährt seine Bemühung um eine Distanzierung von den Eltern ein reflexives Moment, indem er seine bisherigen Raumanschlüsse für sich als gescheiterte Distinktionsversuche gegenüber den Eltern versteht. Als Konsequenz versucht er gegenüber der Praxis der Parallelisierung eine neue Praxis zu generieren, bei der sich seine unterschiedlichen sozialen Bezüge nicht mehr unvermittelt gegenüberstehen. Im Vergleich zu seiner Jugend orientiert sich Herr Behrend in der Phase des Erwachsenwerdens nun stärker an einer an die Zukunft ausgerichteten Nutzenabwägung als an einer auf die Gegenwart gerichteten Orientierung an der experimentellen Generierung von neuen Erfahrungen.
Zur Struktur eines Bildungsprozesses als Habituswandlung im Fall Niklas Behrend Der Bildungsprozess von Herrn Behrend als die Wandlung eines Habitus lässt sich aus zwei Perspektiven beleuchten. Einerseits lassen sich unterschiedliche Phasen des Bildungsprozesses unterscheiden, die im Folgenden – anders als im fallübergreifenden Vergleich (vgl. 5.5) – weniger abstrakt als noch stärker am Fall ausgerichtet dargestellt werden sollen, andererseits lässt sich der Wandlungsprozess von Herrn Behrend auch anhand eines Orientierungswechsels in der semantischen Form des Interviews darstellen. Zunächst zu den Phasen des Bildungsprozesses im Fall von Herrn Behrend. In seiner Jugend erfolgt bei Herrn Behrend ein Prozess des Fremdwerdens. Zwischen seinen habituellen Praxisformen und dem für ihn relevanten sozialen Raum der Peergroup ergeben sich Di¤erenzen. Er fühlt sich in der Peergroup als „Außenseiter“. Es beginnt ein Distanzierungsprozess, in dem Herr Behrend die impliziten und expliziten Regeln seines alten sozialen Raumes negiert. Ne-
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ben dem Ki¤en, das noch von Teilen seiner alten Peergroup akzeptiert wird, interessiert er sich für Musikstile, die bei seiner alten Peergroup auf Unverständnis und Ablehnung stoßen. Herr Behrend sucht in einer folgenden Phase des Bildungsprozesses nach neuen Raumanschlüssen und findet diese in der Technoszene. Hier entwickelt er eine schon im Marihuanakonsum und im Gra¤itimalen angelegte nonkonforme Praxis einer subversiven Parallelisierung, in der es neben der Abgrenzung von seiner alten Peergroup auch um die Abgrenzung von den Eltern geht. In der Technoszene wie auch in der Gra¤itisubkultur findet Herr Behrend soziale Räume, in denen er sich selbst ausprobieren kann, die er aber gleichzeitig gegenüber den Eltern geheimhalten muss. Einer subversiven Praxiseinstellung folgend,12 parallelisiert Herr Behrend die sozialen Räume der Eltern und die der Gra¤iti- beziehungsweise Technoszene. Als seine Eltern bei ihm Drogen finden, erleidet die ausgebildete subversive Praxisform eine Krise. Herrn Behrend gelingt es nicht mehr, den sozialen Raum der Eltern und den Raum der Technoszene zu trennen. Er gesteht den Eltern seinen regelmäßigen Drogenkonsum und ein gegen ihn laufendes Strafverfahren ein – der erste Distanzierungsversuch von den Eltern scheitert. Gleiches gilt für Herrn Behrends Einstieg in die Gra¤itiszene, der ebenfalls mit einem Erwischtwerden und damit mit einer nicht mehr aufrechtzuerhaltenden Di¤erenz zu den Eltern endet. Es beginnt eine Zeit, in der sich Herr Behrend zunächst den Wünschen seiner Eltern bezüglich Studium und Wohnort „unterwirft“. Nach seinem Vordiplom startet er einen neuen Distanzierungsversuch von den Eltern. Er zieht nach Hamburg und sucht nach neuen Raumanschlüssen. Diese findet er in einem an ästhetisch-subversiven Praxisformen orientierten Projekttutorium zur Netzkunst. Herr Behrend kann hier sein Interesse an subversiven Praktiken, die schon im Gra¤itimalen ihren Ausdruck fanden, in ein Passungsverhältnis bringen. Seine Erwartungen, aus dem studentischen Projekt eine berufsbiographische Orientierung generieren zu können, zerschlagen sich jedoch, womit auch sein zweiter Distanzierungsversuch von den Eltern zunächst im Sande verläuft. In einer für den Wandlungsprozess wichtigen Phase beginnt Herr Behrend, nach dem Scheitern des Netzkunstprojektes und vor dem Hintergrund der Geburt seines Sohnes eine kritisch-ref lexive Distanznahme 12
Vgl. hierzu auch die komparative Analyse in Kapitel 5.1.
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gegenüber seiner bisherigen biographischen Praxis einzuleiten. Für sich selbst reflektiert er nun seine Raumanschlüsse an die Technoszene und später an die Netzkunst als Distinktionsversuche gegenüber den Eltern. Die subversiven Abgrenzungsversuche von den Normalitätserwartungen der Eltern bekommen nun ein reflexives Moment. Herr Behrend bemüht sich um ökonomische Unabhängigkeit, um sich weiter von den Eltern lösen zu können. Sein Interesse für subversiv-ästhetisch orientierte Praktiken verlagert sich vom Raum der subkulturellen Bewegungen in den der Arbeit. Herr Behrend schließt sein Studium ab und versucht, in einem Diskurs um neue Medien und Ästhetik einen Beruf zu finden, um so neue Raumanschlüsse zu generieren. Dabei bemüht er sich, Konflikte zwischen unterschiedlichen sozialen Bezügen nicht mehr zu parallelisieren, um damit Di¤erenzen zu entschärfen. Zusammenfassend zeigt sich bei Herrn Behrend in unterschiedlichen Phasen ein Bildungsprozess, welcher als Wandlung einer Praxis der Abgrenzung gekennzeichnet werden kann. Die Abgrenzungsversuche von Herrn Behrend verlaufen in der Jugend noch weitestgehend ungeplant und in diesem Sinne aktionistisch. Sie sind durch eine Suche nach Gemeinsamkeit geprägt. Spätestens durch die Geburt seines Sohnes wandelt sich die Logik der Praxis der Abgrenzung bei Herrn Behrend dahingehend, dass mit der Abgrenzung eine kritisch-reflexive Haltung einhergeht. Herr Behrend grenzt sich nicht mehr nur von den Eltern ab, er verbindet die Praxis der Abgrenzung auch mit einer kritischen Suchbewegung, die ihm eine biographische Neuausrichtung und die Suche nach neuen sozialen Raumanschlüssen erlaubt. Neben der Rekonstruktion der unterschiedlichen Phasen kann der Bildungsprozess noch aus einer anderen Perspektive betrachtet werden, wenn man die Semantik des Bildungsprozesses in den Blick nimmt. Während die biographischen Erzählungen über die Jugend bei Herrn Behrend vornehmlich durch eine Orientierung an einer experimentellen Generierung von neuen Erfahrungen gekennzeichnet sind, tritt mit Beginn des eskalierenden Konfliktes mit den Eltern und der damit verbundenen Krise eine zweite Orientierung in den Erzählungen auf. Herr Behrend beginnt mit den Erzählungen über sein frühes Erwachsenenalter die Orientierung an einer zukünftigen Nutzenabwägung mit einzubeziehen. Anders als in der Jugend geht es ihm nun auch um die gezielte Akkumulation und Transferierung von unterschiedlichen Kapitalsorten.
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Die Distanzierungsversuche des nonkonformen Habitus bekommen so gegenüber der Jugend einen rationalen Aspekt.13 Die nonkonforme Distanznahme folgt nun nicht mehr nur der Orientierung an der Generierung von neuen Erfahrungen, sondern auch einer auf die Zukunft ausgerichteten Nutzenabwägung (vgl. hierzu auch Kapitel 5.6).
5.3. Der Fall Sebastian Christophsen Sebastian Christophsen wird Mitte der sechziger Jahre in Ostberlin geboren. Nach einer Ausbildung als Werkzeugmacher und dem Nachholen des Abiturs gründet er eine Familie und studiert nach der Wende Kunstgeschichte und Philosophie in Hamburg. In diesem Rahmen kommt er in Kontakt mit der Netzkunst und gründet mit seinem Kommilitonen Pierre Walters (vgl. Kapitel 5.4) ein Tutorium zu diesem Thema. Nach dem Scheitern des Projektes versucht Herr Christophsen, sich berufsbiographisch im Arbeitsbereich der neuen Medien zu verorten. Sebastian Christophsen beginnt seine Erzählung mit einer Selbstbeschreibung, in der sich eine für die gesamte Biographie wichtige Logik der Praxis dokumentiert (Z. 14–25): Die biographische Erzählung von Herrn Christophsen beginnt mit einer Selbstbeschreibung, die er durch eine für ihn charakteristische Szene zu verdeutlichen sucht. Weil ihm das Essen seiner Mutter nicht schmeckt, flüchtet Sebastian Christophsen als kleiner Junge durch das Fenster und wird dann dafür von seiner Mutter bestraft. Schon zu Beginn des Interviews operiert Herr Christophsen mit antagonistischen Begri¤spaaren, die einen Gegensatz anzeigen sollen. Für Herrn Christophsen stellt die „strenge“ Mutter den Gegenhorizont zur Selbstbeschreibung des Duchgeknallt-Seins dar. Wie in Kapitel 5.1 beschrieben, zeigt sich in Herrn Christophsens Erzählungen der modus operandi einer antagonistischen Nonkonformität. Herr Christophsen
Der Begri¤ der Rationalität darf an dieser Stelle ebenso wenig mit dem Begri¤ der Vernunft (vgl. hierzu Welsch 1998) wie mit den Begri¤en von Intentionalität und Kognition gleichgesetzt werden. Rational bedeutet an dieser Stelle, dass das Handeln einer spezifischen Logik folgt, welche nicht vernünftig sein muss und welche auch nicht zwangsläufig intentional gestaltet sein muss. 13
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bricht die Regeln eines sozialen Rahmens, indem er seine eigenen aufstellt. Anders als bei der subversiven Praxis der Nonkonformität, welche an vielen Stellen des Interviews von Herrn Behrend rekonstruiert werden konnte, zeigt sich in der antagonistischen Praxis der Nonkonformität ein o¤ener und kein verheimlichter Bruch. Während die subversive Praxis die soziale Ordnung heimlich in Frage stellt, kommt es bei der antagonistischen Praxis zu einer unumgänglichen Infragestellung der sozialen Ordnung. Die Praxis des Sich-Widersetzens gegenüber Autoritäten wird auch in den weiteren biographischen Erzählungen von Herrn Christophsen immer wieder eine zentrale Rolle spielen. So auch in seiner Anschlusserzählung über die Schule (Z. 25–60): „Meine Eltern waren sozusagen also im Osten unterteilte man ja sozusagen in Arbeiter und äh Intelligenzia, meine Eltern gehörten zur Intelligenzia die sich halt hochgearbeitet haben kann man sagen also sie kommen selber also nicht aus so‘m Elternhaus aber haben äh dann studiert meine Mutter hatte in der Zeit gerade Malerei studiert also Maler Grafikerin an ner Hochschule der Künste, und mein Vater hat gerade studiert Ökonom- Ökonomie. also Ökonom-Ingenieur hieß das damals. und das war halt Wirtschaftswissenschaften oder Betriebswirtschaft würde man heute glaub ich sagen Betriebswirt. und äh die passten halt da nicht in die Siedlung. und das war mir gar nicht klar. und ich glaube also so wie ich jetzt das schon angefangen hab zu erzählen also es war immer sehr bestimmend für mich äh die Eltern aus der ich komme. und die äh vor allem die soziale äh ja die sozialen Implikationen. also eben gerade durch diese starke Unterscheidung in Intelligenzia und äh nicht. und äh das war mir zu dem Zeitpunkt natürlich noch gar nicht klar irgendwie. und die ersten äh Male wo mir das so auffiel so richtig war ich kam dann in die Schule und innerhalb der der Schule also es hat mich total gefreut in die Schule zu kommen und in der ersten Klasse äh hab ich so extrem mitgemacht und also nicht extrem mitgemacht sondern ich wollte unbedingt was lernen und war mir alles wichtig, @(.)@ kam am Ende der ersten Klasse kam dann die Lehrerin zu uns nach Hause und hat gesagt also so geht‘s nicht mit dem Sebastian und so der äh weiß schon immer alles. und da- das geht nicht ich muss auch auf die anderen Rücksicht nehmen und so und der weiß schon immer Bescheid und Sie müssen jetzt auf den Einfluss haben dass der äh sich mal zusammennimmt und zurücknimmt, und dass er eben halt nicht so stark mitarbeitet. und das hieß eigentlich für mich dass ich dann die äh zweite Klasse über fast ja also n großen Teil geschwänzt habe also weil ich dann dachte ja die brauchen mich nicht äh ich brauch die nicht und dann hatten sie mich auch um mich zu erziehen oder nicht zu erziehen sondern um mich so‘n bisschen einzubinden ins Klassenkollektiv neben die Schlechtesten gesetzt. und das waren halt so richtige Ausreißer und so richtige Typen die dann später auch ins Heim kamen und mit
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denen bin ich dann immer abgehauen und äh durch Ruinen geklettert und hab so Abenteuer erlebt.“
Die Eltern von Herrn Christophsen durchlaufen mit ihrem Studienabschluss einen sozial-ökonomischen Aufstieg, der sie im akademischen Milieu verankert. Die akademische Herkunft spielt für Herrn Christophsen während seiner Schulzeit insofern eine Rolle, als er Milieuunterschiede zwischen sich und seinen Mitschülern feststellt. Er hat ein schnelleres Lerntempo als seine Mitschüler, was zur Folge hat, dass die Klassenlehrerin seine Eltern bittet, Einfluss zu nehmen, dass er sein Lerntempo drosselt. Herr Christophsen fühlt sich daraufhin in dem sozialen Raum der Schule nicht mehr gebraucht. In der folgenden Erzählung zeigt sich wieder der modus operandi einer antagonistischen Nonkonformität. Die Regeln der Schule werden von Herrn Christophsen gebrochen und durch andere ersetzt. Wie bei Herrn Behrend in den Erzählungen zu seiner Jugend steht auch in den Erzählungen von Herrn Christophsen zu seiner Kindheit das gegenwärtige Erleben im Vordergrund. Ohne die Abwägungen von zukünftigen Konsequenzen in den Vordergrund zu stellen, bleibt Herr Christophsen dem Schulunterricht fern, um mit den „Schlechtesten“ der Klasse „Abenteuer“ zu erleben. Wie auch bei Herrn Behrend können diese Handlungsformen als aktionistisch verstanden werden.14 Herr Christophsen kennzeichnet diese Erfahrungen in der Folge als bedeutungsvoll für seine Biographie (Z. 63–65): „Ja. und ich glaub das war sehr bestimmend sozusagen dass ich äh da irgendwie das Gefühl bekommen habe äh anders zu sein, aber nicht zu wissen warum. eigentlich ich dachte tja keine Ahnung bin ich ebent halt anders.“
Die Exklusion aus dem Klassenverband und die Solidarisierung mit den „Schlechtesten“ geben Herrn Christophsen das Gefühl, „anders zu sein“. Seine Andersartigkeit kann er jedoch reflexiv nicht einholen, sie gestaltet sich vielmehr habituell. Er weiß nicht, „warum“ er anders ist. Herr Christophsen kann so zwar nicht den Ursprung seiner Andersartigkeit erklären, wohl findet er aber in der Selbstbeschreibung der Andersartigkeit eine Erklärung für sein antagonistisches Verhalten. 14
Zu aktionistischen Praktiken bei Jugendlichen vgl. auch Bohnsack/Nohl 2001.
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In den folgenden Passagen erzählt Herr Christophsen, dass er sich wieder in den sozialen Raum der Schule eingliedert und den Wunsch entwickelt zu studieren. Er bekommt jedoch trotz eines guten Notendurchschnitts keine Zulassung für das ostdeutsche Abitur, da nicht genügend Oberstufenplätze vorhanden sind. Daraufhin beginnt er eine Lehre als Werkzeugmacher (Z. 150–170): „Dann hab ich gesagt na gut dann werd ich eben halt Werkzeugmacher und dann bin ich Werkzeugmacher geworden und wollte aber nicht arbeiten. irgendwie war es mir wichtig also irgendwie war das damals dann so die Haltung nicht arbeiten zu wollen auch aus Protest glaub ich dem Staat gegenüber und das führte dann wiederum zu äh es verschob dann einige Weichen. also wenn man dann sozusagen sich klar entschieden hat zwar für nichts aber für irgendetwas dagegen sozusagen und das bringt einen dann zusammen mit Leuten die dann so ähnlich sind also war ich dann halt mit sehr vielen Punks zusammen und hab dann angefangen Musik zu machen hatte dann das Glück dass ich dann n paar elektronische Instrumente geschenkt bekommen habe von meiner Oma und die im Westen fand auch sie hat das dann mitgebracht, und dann bin ich sehr viel mit Musikern zusammen gewesen und die Musiker waren wiederum mit Models zusammen und die Models waren wiederum mit äh äh Frauen zusammen die Mode gemacht haben und die Frauen die Mode zu- gemacht haben waren wiederum mit Malern zusammen. und so war ich dann plötzlich mit lauter in diesem doch in diesem Künstlerkreis. ohne aber selber je gesagt zu haben ich will Künstler sein. und ich war ja zu der Zeit noch Werkzeugmacher und hab eigentlich auch immer gesagt wenn ich was will dann werd ich später Philosophiestudent.“
Herr Christophsen entwickelt in seiner Lehrzeit eine „Haltung“ der Praxis des Protests gegenüber dem Staat, die ihn dazu führt, nicht arbeiten zu wollen. Einer antagonistischen Position entsprechend entscheidet er sich für nichts, um als Konsequenz daraus abzuleiten, dass er sich damit für „irgendetwas dagegen“ entschieden hat. Bei Herrn Christophsen entsteht damit die Haltung einer auf Dauer gestellten negativen Kritik gegenüber allem.15 Im Gegensatz zu den Erzählungen über die Kindheit werden Abwägungen über die Zukunft jetzt nicht mehr nur suspendiert, sondern negiert. Durch die Protesthaltung entstehen für Herrn Christophsen neue soziale Raumanschlüsse. Über seine Haltung des Protestes kommt Herr Bei seinem späteren Philosophiestudium interessiert sich Herr Christophsen dann insbesondere für die Arbeit von Theodor W. Adorno.
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Christophsen nach seinen Erzählungen mit Punks, Models, Musikern, Modemacherinnen und Malern zusammen, die er als „Künstlerkreis“ kennzeichnet. In diesem Zusammenhang beginnt Sebastian Christophsen, sich selbst mit ästhetischen Praktiken auseinanderzusetzen, indem er anfängt, Musik zu machen. Als eigentlichen Wunsch gibt er jedoch an, „Philosophiestudent“ werden zu wollen. In anschließenden Passagen erzählt Herr Christophsen, dass sein erster Versuch, keiner Arbeit nachgehen zu müssen, daran scheitert, dass er als Unter-Achtzehnjähriger nicht selbstständig seine Lehre kündigen konnte. Mit dem Anliegen, sich der rechtlich verpflichtenden Arbeit zu entziehen, versucht Herr Christophsen wieder, die Regeln einer sozialen Ordnung zu brechen und durch andere zu ersetzen. Nach Abschluss seiner Lehre realisiert Herr Christophsen dann seinen Plan des Nicht-Arbeitens, indem er sich durch den Verkauf von Schallplatten, die er von seiner Großmutter aus dem „Westen“ geschenkt bekommen hat, selbst finanziert. Um „keinen Ärger“ mit der Polizei zu bekommen und um die Voraussetzungen zu erfüllen, auf der Abendschule sein Abitur machen zu können, nimmt er formell Stellen als Postkassierer und später als Ateliergehilfe bei seiner Mutter an. Bei beiden Stellen entzieht sich Herr Christophsen der Arbeit. Bei seiner Arbeit als Postkassierer lässt er Freunde seine an zwei Tagen im Monat auszuführende Arbeit als Postkassierer verrichten, 16 und auch der Arbeit im Atelier seiner Mutter entzieht er sich weitestgehend. Durch beide Tätigkeiten kann Herr Christophsen jedoch die in der DDR gesetzlich vorgeschriebene Arbeitstätigkeit vorweisen. Die juristischen Anforderungen des Staates werden so von Herrn Christophsen innerhalb einer subversiven Logik der Praxis unterlaufen, insofern er weitestgehend nur formell vorgibt, einer Tätigkeit nachzugehen, sich jedoch aus Plattenverkäufen finanziert. Anders als bei seinen Verarbeitungsprozessen der Passungsschwierigkeiten in der Schule distanziert sich Herr Christophsen in dieser Situation von den an ihn gestellten staatlichen Ansprüchen nun nicht mehr durch eine o¤ene, sondern durch eine versteckte Infragestellung der sozialen Ordnung. Er folgt nun einer subversiven Logik der Praxis, indem er seine eigenen Regeln mit den Regeln des Staates parallelisiert. Die Freunde werden dabei entweder von Herrn Christophsen durch seine Einnahmen aus dem Plattengeschäft bezahlt oder sie können auf diese Weise bei Herrn Christophsen gemachte Pokerschulden begleichen.
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Nach Umwegen beginnt Herr Christophsen, sein Abitur an einer Abendschule nachzuholen. Seinem Ziel folgend, Philosophiestudent zu werden, beginnt damit eine weitere Phase im Wandlungsprozess, welche sich auch in der semantischen Form des Interviews ausdrückt. Ähnlich den Verschiebungen in den Erzählungen von Herrn Behrend beginnt Herr Christophsen nun, in seine Erzählungen auch eine Orientierung mit einzubeziehen, die auf eine zukünftige Nutzenabwägung gerichtet ist. Ein in diesem Zusammenhang sicherlich wichtiges Ereignis ist der Zusammenbruch des politischen Systems der DDR, wodurch ein Großteil der Finanzierung von Herrn Christophsen wegfällt; gleichzeitig lernt Herr Christophsen seine spätere Freundin kennen, mit der er dann eine Familie gründet. Die Familiengründung verstärkt dabei noch die durch den weiterführenden Schulbesuch schon eingeschlagene Bewegung hin zu einer an der Zukunft orientierten Nutzenabwägung. Sowohl der soziale Wandel in der DDR als auch die Familiengründung lassen Herrn Christophsen mit neuen Anschlüssen an soziale Räume experimentieren. Hiervon erzählt er (Z. 301–337): „Dann war die Wende, und äh dann bin ich dann auch mit der Frau zusammen gekommen, die dann auch meine Tochter bekommen hat. sie wollte dann unbedingt n Kind von mir haben halt und dat hab ick auch irgendwie schon geahnt gehabt, und äh ich war zwar nicht dafür dat so früh zu kriegen aber sie war unbedingt der Meinung das muss jetzt sein und dann hab ich gesagt na gut dann machen wir dat so aber wir ändern nichts. wir machen das nebenbei so hab ich gedacht. wir machen so weiter wie wir wollen und dat passt sich schon an. so zigeunermäßig. also ich hatte damals das Argument glaub ich dass ich gesagt hab auch als auch die Zigeuner kriegen Kinder und auch da sind die Kinder total glücklich. es liegt nicht daran was wir also man muss nichts ändern eigentlich sozusagen war die These. das hat sich natürlich überhaupt nicht bewährt. hat sich nicht durchgehalten die Argumentation. dann gab‘s sehr viel Bio-Essen äh sehr andere ja sehr andere Interessen auch plötzlich bei der Mutter und ich musste dann anfangen also dann war dann hab ich fertig gemacht Kind kam dann also sie hat das halt innerhalb der letzten Klasse sozusagen ist sie schwanger geworden kam dann das Kind dann war dann ‚91 sozusagen kam dann das Kind, und dann haben die sofort natürlich weil ich mein dann musste man ja irgendwie Geld verdienen plötzlich im Westen naja war it ja nicht mehr mit eine Platte verkaufen und seine Miete zahlen für die nächsten drei Monate äh hätte man dort Drogen verkaufen müssen oder so um so ne Gewinnspanne zu erzielen. und das heißt da ich dann so was nicht machen wollte und so obwohl wir hatten vorher Melonen verkauft zusammen die Frau und ich da haben wir auch am Tag irgendwie 400 Westmark eingenommen so am Reichstag haben wir Melonen verkauft und Kaffee und Kuchen obwohl der
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Kaffee hat am meisten gebracht. ähm da hatten wir auch sehr viel Geld gemacht. ja die erste Zeit hatten wir sehr viel Geld. wir haben meine Wohnung vermietet haben 30 Ostmark bezahlt und haben die glaub ich für 200 Westmark vermietet und haben die wiederum eins zu zehn getauscht. hatten dann 2000 Ostmark jeden Monat also das war zuer- die erste Zeit also die 1990 war sehr sehr (coole) Sache gewesen“
Wie in der Folge deutlich wird, verändert sich mit der Geburt des Kindes Herrn Christophsens Leben, insofern ein neuer sozialer Raum entsteht. Seine Vorstellungen, sein Leben mit Kind genauso weiterführen zu können wie ohne Kind, zerschlagen sich. Die Orientierung an einer zukünftigen Nutzenabwägung verstärkt sich, beispielsweise durch die Notwendigkeit des Geldverdienens. Die neue familiäre Situation wird überlagert vom Zusammenbruch der DDR. Herr Christophsen kann nach der Wende mit dem Schallplattenverkauf, der vorher sehr gewinnträchtig war, seinen Lebensunterhalt nicht mehr bestreiten. Zudem möchte er, wie er an anderer Stelle ausführt, künftig ökonomische Verantwortung für seine Familie übernehmen. Herr Christophsen äußert, dass er sich in dieser Zeit als Vater „neu entworfen“ habe. Er sucht nach neuen Raumanschlüssen und beginnt zu studieren. Dabei löst er sich, wie schon angedeutet, zunächst aus der subkulturellen Künstlerszene (Z. 308–316): „Ähm naja äh dat heißt sozusagen dann war dat Kind da und dat ließ sich nicht halten also dieset alte Leben sozusagen irgendwie Projekte machen so Musik machen oder andere lustige Dinge machen äh konnte man nicht mehr machen sondern hm ick hab mich dann neu entworfen nicht mehr so eben eher als Vater. entworfen und dat mal probiert. da gab‘s dann so richtig Freunde von mir die gesagt haben ach also auf dich können wir jetzt gar nicht mehr zählen dich haben wir jetzt abgeschrieben und haben mich nicht mehr besucht und so also weil die sind halt auch sind dann in ner völlig anderen Szene gewesen und ich war so zu Hause in der Bio-Szene @und dat hat so@ sich überhaupt nicht äh vereinbaren lassen.“
Die unterschiedlichen Anforderungen der sozialen Räume der „Szene“ und der „Familie“ sind für Herrn Christophsen unvereinbar geworden. Er entwirft sich „neu“ als Vater, was dazu führt, dass viele seiner Freunde mit ihm nichts mehr anfangen können und den Kontakt aufgeben. Es beginnt ein Distanzierungsprozess, indem er sich gegenüber der Nonkonformität des Raumes der Subkultur nonkonform verhält. Hier zeigt sich ein Distanzierungsprozess von einem sozialen Raum, den Herr
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Christophsen bisher als geeignetes Medium der Distanzierung benutzen konnte. Im Gegensatz zu vorherigen Distanzierungsprozessen tritt bei seinem Neuentwurf als Vater, welcher auch auf eine Orientierung an einer experimentellen Generierung von neuen Erfahrungen verweist, nun eine zuvor negierte Orientierung an einer an Zukunft ausgerichteten Nutzenabwägung hinzu. Ebenso wie bei Herrn Behrend erweist sich diese Orientierung, neben der schon genannten, für die folgenden Erzählungen des jungen Erwachsenenalters als mitstrukturierend. Damit zeigt sich auch auf der textlichen Ebene der biographischen Erzählung ein Wandlungsprozess an. In der folgenden Passage erzählt Herr Christophsen, dass er ein Studium der Philosophie und Kunstgeschichte beginnt. Mit seiner Freundin, die auch studieren möchte, vereinbart er, dass im ersten Jahr sie sich um das Kind kümmert, um dann nach einem Jahr die Betreuung dahingehend zu wechseln, dass vermehrt er sich mit dem Kind beschäftigt. Während der Studienzeit von Herrn Christophsen wird seine Freundin jedoch unzufrieden mit der Situation, und es kommt zu Konflikten. Hiervon erzählt er (Z. 389–423): „Und als dann nach einem Jahr eigentlich dass sie studieren sollte gehen sollte äh hat sie sich aber eben also über das halbe Jahr haben wir uns halt so verstritten und haben wir so extrem sie wollte dann auch nicht mehr eben mit mir zusammenleben dass sie dann ebent halt in diese Einzelwohnung dazu und der (Durchbruch dazu) und wir dann zwar auf demselben Flur aber nebeneinander gelebt haben. und getrennt waren. das Kind konnte dann äh dann als es dann laufen konnte konnte es dann hin- und herlaufen und äh ja. so war it sozusagen dann die gab‘s die Trennung, was sehr äh hart war für mich. also irgendwie also das weil ich nun gerade alles so ausgerichtet hatte auf Studium und Papa und so äh da bin ich dann völlig eingebrochen glaub ich also ähm wusst ich dann überhaupt nicht was ich machen soll und denn hab ich mich wieder zurückbesonnen und hab wieder angefangen mit dem Musik-Machen. und hab dann sehr viel Musik gemacht und dann auch wieder aufgelegt, und hatte dann wieder so‘n typisches äh ja. Szeneleben würde ich sagen.“
Der Betreuungswechsel für das Kind verläuft zwischen Sebastian Christophsen und seiner Freundin anders als geplant. Die Konflikte zwischen den beiden werden so intensiv, dass die Freundin auszieht. Herr Christophsen erlebt die Trennung als „sehr hart“. Seine biographischen Orientierungen zwischen dem universitären Studium und der Familie geraten in eine Krise – er bricht „völlig“ ein und weiß nicht mehr, was er machen
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soll. In dieser Zeit nimmt er wieder Kontakt zu seinen Freunden aus der Subkultur auf. Er beginnt wieder Musik zu machen und Platten aufzulegen und führt ein „Szeneleben“. Hiervon erzählt er weiter (Z. 423–427): „Und ab irgend nem Punkt war mir das dann aber zu viel. und die ganze Zeit hat auch noch die äh also ich hab dann trotzdem natürlich immer noch das Kind gehabt und so also ich bin dann weder zum Studieren gekommen noch zum Musik-Machen noch richtig zum Party-Machen so weil ich natürlich auch immer das Kind vom Kindergarten abgeholt hab weil sie hat dann ja angefangen zu studieren.“
Herr Christophsen kann die unterschiedlichen Anforderungen der Familie, der Universität und der Szene der Subkultur nicht mehr vereinbaren. Die Orientierung im Raum der Subkultur an dem Erleben von gegenwärtigen Erfahrungen konfligiert mit einer von Herrn Christophsen vor allem bei seiner eigenen Familiengründung ausgebildeten Orientierung an einer auf die Zukunft gerichteten Nutzenabwägung. Herr Christophsen kommt nicht wirklich zum Studieren, Party- oder Musik-Machen, weil er vermehrt sein Kind betreuen muss/will, da die Mutter des Kindes nun auch studiert. In der Folge erzählt Herr Christophsen, wie er über einen Zeitraum von vier Jahren diesen Konflikt nur unbefriedigend bewältigen kann. Er fühlt sich zwischen den verschiedenen Anforderungen der unterschiedlichen sozialen Räume zerrissen. Eine Lösung deutet sich erst mit einer neuen Partnerschaft an, die ihn motiviert, sein Studium wieder zu intensivieren (Z. 446–460): „Und hab dann richtig angefangen wieder zu studieren und die ganzen Zwischenprüfungen zu machen und dann war‘s aber auch wieder so dass ich mich gefragt hab naja jetzt bin ich jetzt bald 30 und was macht das Ganze für‘n Sinn, und dann irgendwie die Idee entwickelt habe äh als ich gesehen habe dass n Bedarf besteht dass äh es Computerformen gibt eben diese Netzkunst äh äh dass Netzkunst existiert als solches als Phänomen ist mir dann aufgefallen und dann hab ich in Artikeln dann eben festgestellt dass die Kunstgeschichte damit nicht umgehen kann, das fand ich dann spannend natürlich und ähm dass ist jetzt aufgrund der der schnellen Entwicklung im Netz ebent halt unbedingt ne Lösung erfordert. äh bevor das eben verloren ist. und dann dachte ich äh im Zusammenhang sozusagen weil mir weil ich weil mir auch bekannt war dass an der TU sozusagen dass es die Möglichkeit gibt von Projekttutorien und ich keine Lust mehr hatte also BAföG war auch schon längst abgelaufen und ich ebent halt auch keine Lust hatte irgendwie mehr solche Studentenjobs zu machen dachte ich das wär doch am günstigs-
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ten du arbeitest jetzt an der Uni in dem Themenbereich der was dich interessiert kriegst dafür Geld und machst dein Studium zu Ende.“
Herr Christophsen entdeckt für sich die Netzkunst, mit der die etablierte Kunstgeschichte aus seiner Perspektive nicht umgehen kann. Die Netzkunst befindet sich gewissermaßen in einem subkulturellen Stadium. Herr Christophsen findet hier für sein Interesse an ästhetisch-subversiv orientierten Praktiken einen Anschluss im universitären Raum. Er versucht nun, sein Interesse an ästhetischer Praxis in diesem spezifisch subkulturellen Ausdruck mit einer berufsbiographischen Orientierung zu verbinden, was durch die Installation eines selbst gescha¤enen Tutoriums und damit durch die Generierung eines neuen Raumanschlusses kurzfristig auch gelingt. Sebastian Christophsen relationiert so die bisher unterschiedlichen und widerstreitenden sozialen Räume der Universität und der ästhetisch-subversiv orientierten Praktiken, die bisher in seinen Aktivitäten der Subkultur angesiedelt waren. Die Netzkunst bietet für ihn dabei ein Sinnstiftungsangebot. Hierzu sei ergänzend folgende Passage angeführt, in der Herr Christophsen von seinen Reflexionen über das Studium in dieser Zeit erzählt (Z. 513–523): „Also zum Schluss war es ja dann sozusagen nur noch so mit dem Studium also vorher war‘s ja immer ganz schön ich sagte ja auch schon also ich wollte ja immer Student sein dann war ich Student mit allem Drum und Dran also äh wirklich aus- ausgekostet das @Studenten-Sein@ sozusagen also ich glaube das waren 16 Jahre 32 Semester oder so und äh zum Schluss machte das aber keinen Sinn mehr. also weil der der äußere Kontext doch äh einen zu stark immer nötigt dann Erklärungen abzugeben. und äh steht dann ebent auch nicht mehr im Verhältn- @Verhältnis Kosten Nutzen@ so sozusagen (wie) dann hab ich gedacht okay. ich muss es jetzt einfach zu Ende machen. und dann hab ich‘s zu Ende gemacht.“
Gab er in seiner Jugend und im frühen Erwachsenenalter als berufsbiographische Perspektive an, Student werden zu wollen, setzt bei ihm mit dreißig Jahren, wie in der vorherigen Passage geschildert, ein Selbstreflexionsprozess ein, indem sich Herr Christophsen bezüglich des Studiums nach einer Perspektive fragt. Nach zweiunddreißig Semestern macht das Studium für ihn „keinen Sinn mehr“. Aus der Beschäftigung mit der Netzkunst ergibt sich für Herrn Christophsen neben der akademischen Anbindung an seine subversiv-ästhetisch orientierten Praxisinteressen nun eine doppelte Perspektive. Einerseits sieht er in der Tutoriumsstelle
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eine Motivation, sein Studium zu beenden und gleichzeitig zu finanzieren, andererseits bietet die Beschäftigung mit der Netzkunst in seinen Augen eine Möglichkeit, einen „Beruf“ zu generieren und damit ein weitergehendes Ziel zu verfolgen. Die Überlegungen von Herrn Christophsen sind dabei ökonomischer Natur. Die „Kosten“ für einen aufrechterhaltenen Studentenstatus rechnen sich gegenüber dem dadurch gewonnenen Nutzen für ihn nicht mehr. Wie auch bei Herrn Behrend zeigt sich in dieser Phase des Bildungsprozesses ein Prozess der Selbstreflexion, welcher stark von einer schon im jungen Erwachsenenalter ausgebildeten Orientierung an einer auf Zukunft gerichteten Nutzenabwägung getragen ist. Über das Tutorium erzählt Herr Christophsen an anderer Stelle (Z. 466–482): „Dieses Tutorium. und aus dem Tutorium entwickelte sich dann eigentlich entwickelte sich dann eigentlich sozusagen so ne Art ja im Augenblick so ne Art oder nicht im Augenblick aber für ne gewisse Zeit entwickelte sich dann sozusagen so ne Art Ziel und ne Art Perspektive. aus der ick dann eben halt wieder äh Mut geschöpft habe und dann gedacht habe okay. du kannst dieses Studium jetzt zu Ende machen macht Sinn irgendwie und dann hab ich das äh (.) ja hab ich dann das hier dieses Jahr beendet sozusagen und sehe jetzt gerade wie ich mich neu einfinden kann und orientieren kann und hm im Augenblick fühl ich mich gerad irgendwie befreit.“
Es wird deutlich, dass mit dem Tutorium für Herrn Christophsen eine neue Perspektive in seiner Biographie entsteht, die es ihm erlaubt, einerseits die Ansprüche der Universität und der ästhetisch-subversiv orientierten Praktiken in ein Verhältnis zu setzen und sein Studium zu beenden; andererseits bietet sie seinem Wunsch, aus der Netzkunst einen Beruf zu machen, ein Ziel, das über seine akademische Ausbildung hinaus eine Möglichkeit für neue Raumanschlüsse erö¤net. Herr Christophsen findet eine Möglichkeit, die sich mit den ästhetischen Praktiken verbindende Orientierung an einer experimentellen Generierung von neuen Erfahrungen durch eine berufsbiographische Perspektive mit der Orientierung an einer auf die Zukunft ausgerichteten Nutzenabwägung zu relationieren. Zum Zeitpunkt des Interviews hat Sebastian Christophsen sein Studium abgeschlossen, wodurch er sich „befreit“ fühlt. Er hat nun die Absicht, sich neu zu orientieren. Herr Christophsen versucht in der Folge, sich als Selbstständiger beruflich im Bereich zwischen ästhe-
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tischen Diskursen und neuen Medien zu verorten und so Anschlüsse an neue soziale Räume zu generieren.
Zur Struktur eines Bildungsprozesses als Habituswandlung im Fall Sebastian Christophsen Wie bei Herrn Behrend lässt sich auch bei Sebastian Christophsen der Bildungsprozess einerseits vor dem Hintergrund von unterschiedlichen Phasen, andererseits aus der Perspektive von unterschiedlichen Semantiken im Interview rekonstruieren. Zunächst zu den Phasen des Bildungsprozesses im Fall von Herrn Christophsen. Herr Christophsen erlebt erste Passungsschwierigkeiten zwischen seinem Habitus und dem Raum der Schule schon in seiner Kindheit, als die Lehrerin Herrn Christophsens Eltern bittet, ihren Sohn zu einem anderen Verhalten im Unterricht zu bewegen. Der sich hier andeutende Prozess des Fremdwerdens gegenüber einem sozialen Raum vollzieht sich bei Herrn Christophsen dahingehend, dass er die impliziten und expliziten Regeln der Schule negiert, indem er vom Unterricht fernbleibt und auf diese Weise für sich eine subversive Logik der Praxis etabliert. Einhergehend mit dem Fernbleiben von der Schule schließt sich Herr Christophsen an neue soziale Räume an, indem er mit den „Schlechtesten“ der Klasse während der Schulzeit „Abenteuer“ erlebt. Der sich hier dokumentierende Prozess des Fremdwerdens gegenüber der Schule wiederholt sich zu einem späteren Zeitpunkt in Herrn Christophsens Biographie nochmals. Als Herr Christophsen nicht zum Abitur zugelassen wird, beschließt er, sich einer Berufsausbildung und später einer Arbeit zu verweigern. Erneut etabliert Herr Christophsen also eine nonkonforme Praxisform, in der er sich den an ihn gestellten Raumansprüchen entzieht. Im Gegensatz zu seinem ersten Konflikt mit der Schule gestaltet sich die nonkonforme Praxis bei Herrn Christophsen nun jedoch nicht mehr antagonistisch, sondern subversiv.17 Der Konflikt mit dem Staat, der für ihn eine Arbeitstätigkeit rechtlich vorschreibt, wird nicht o¤en ausgetragen, sondern durch eine für eine subversive Praxis typische Form der Parallelisierung umgangen. Einhergehend mit dem Versuch, die Berufstätigkeit zu umgehen, generiert Herr Christophsen durch seinen Anschluss an oppositionelle 17 Zu der Unterscheidung zwischen einer antagonistischen und einer subversiven Praxis der Nonkonformität vgl. 5.1.
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Subkulturen der DDR neue Raumanschlüsse. Das Ziel eines Studiums weiterverfolgend, gelangt er über Umwege zur Abendschule, wo er seine Hochschulzulassung erwerben kann. Kurz vor dem Abitur gründet Herr Christophsen mit seiner Freundin eine Familie, um dann nach Hamburg zu ziehen und zu studieren. Die zuvor in der Subkultur verfolgten Logiken der Praxis verlieren vor dem Hintergrund der neu entstehenden Familie zunächst an Relevanz. Nach der Trennung von seiner Freundin und in einer daran anschließenden biographischen Krise findet Herr Christophsen wieder Anschluss an die Räume und die Praktiken der Subkultur. Im Folgenden kommt es zu einem Widerstreit zwischen den Ansprüchen der Familie, der Universität und der Subkultur. Die daraus folgende biographische Krise kann Herr Christophsen erst mit einer neuen Beziehung überwinden. Es folgt eine kritisch-reflexive Distanznahme, in der Herr Christophsen seinen sozialen Status als Student reflektiert und sich entschließt, sein Studium abzuschließen. In diesem Zusammenhang entdeckt Herr Christophsen die Netzkunst für sich, mit der sein Interesse an subversivästhetisch orientierten Praktiken in ein Passungsverhältnis mit der Universität gestellt werden kann. Mit der Gründung eines Tutoriums und später dann mit dem Versuch, sich auf dem Markt der neuen Medien zu behaupten, sucht und etabliert Herr Christophsen neue soziale Raumanschlüsse, die ihm einerseits erlauben, sein Studium abzuschließen, und andererseits helfen, eine über das Studium hinausgehende berufsbiographische Perspektive zu entwickeln. Zusammenfassend lässt sich bei Herrn Christophsen ein Bildungsprozess als die Wandlung eines Habitus festhalten. Ausgehend von einer Logik der Praxis der Distanzierung, wandelt sich der Habitus von einer aktionistisch-ungeplanten Praxis der Distanzierung zu einer kritischrationalen Praxis der Distanzierung. Dabei lassen sich die Distanzierungsversuche folgendermaßen unterscheiden: Während die Distanzierungsversuche von Herrn Christophsen gegenüber der Schule und später gegenüber den Institutionen der Ausbildung zunächst noch aktionistisch verlaufen und durch eine Suche nach Gemeinsamkeit getragen sind, findet Herr Christophsen zu einer Logik der Praxis, die sich immer noch um Distanzierung bemüht, diese jedoch mit einer kritisch-rationalen Haltung verbindet. Dabei lassen sich zwei unterschiedliche Orientierungen an Zeit rekonstruieren: Während die aktionistische Distanzierung an der Suspendierung und Negation der Zukunft zugunsten einer Ori-
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entierung an Gegenwart interessiert ist, zielt die kritisch-rationale Orientierung der Distanzierung gerade auf Zukünftigkeit ab. Dies verdeutlicht sich auch auf der zweiten Analyseebene, welche die semantische Form des Interviews zum Gegenstand hat. Im komparativen Vergleich (vgl. hierzu auch Kapitel 5.6) zeigt sich bei Herrn Christophsen ein ähnlicher Wandel in der semantischen Form des Interviews wie schon bei Herrn Behrend. Steht in den biographischen Erzählungen, Argumentationen und Beschreibungen der Kindheit und Jugend von Herrn Christophsen vor allem die experimentelle Generierung von neuen Erfahrungen im Vordergrund – wobei die Abwägung von zukünftigen Konsequenzen suspendiert bis negiert wird –, tritt mit den Erzählungen zum Beginn des frühen Erwachsenenalters eine weitere Orientierung hinzu: Herr Christophsen bezieht nun in seine biographischen Handlungen eine auf die Zukunft gerichtete Nutzenabwägung mit ein. Mit seinem Ziel, Student zu werden, beginnend und sich dann mit der Gründung einer Familie verstärkend, tritt eine Orientierung an einer Zukünftigkeit zu der Generierung von neuen Erfahrungen hinzu. Anders als bei Herrn Behrend treten diese beiden Orientierungen bei Herrn Christophsen nicht von vorneherein in einen starken Konflikt. Herr Christophsen entspricht seiner Orientierung an der experimentellen Generierung von neuen Erfahrungen durch ein sich wiederholendes Neuerfinden der eigenen Identifikation. So kann er sich beispielsweise als Vater „neu entwerfen“, wodurch er gleichermaßen seiner Orientierung an der Generierung neuer Erfahrungen als aber auch der Orientierung auf eine zukünftige Nutzenabwägung entsprechen kann. Sowohl auf der Ebene der Phasen als auch auf der Ebene der semantischen Form des Interviews zeigt sich so ein Bildungsprozess des Habitus an, in dem es um den Wandel einer Logik der nonkonformen Distanzierung geht. Eine sich aktionistisch auf die Gegenwart beziehende Distanzierung wird durch den Einbezug einer an Zukunft orientierten Nutzenabwägung in ihrer Logik transformiert.
5.4. Der Fall Pierre Walters Pierre Walters wächst Mitte der 1970er Jahre in einer ländlichen Umgebung in der DDR auf. Er verlässt seinen Heimatort 1995 im Alter von zwanzig Jahren, um seinen Zivildienst zu leisten. Danach zieht er nach
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Berlin. Hier beginnt er nach einem einjährigen Moratorium das Studium der Kunstgeschichte. Er startet mit dem bereits dargestellten Sebastian Christophsen (5.3) ein Projekt zum Thema ‚Netzkunst‘, in dem auch der ebenfalls dargestellte Niklas Behrend (5.2) mitarbeitet. Nach dem Scheitern des Projektes bis zum Zeitpunkt des Interviews finanziert sich Herr Walters durch Programmieraufträge und ist nebenbei künstlerisch tätig. Herr Walters beginnt seine Erzählung mit einer Zusammenfassung seines Lebenslaufes. Die kurzen Ausführungen zu seiner Kindheit und Jugend entstehen erst aufgrund einer Nachfrage des Interviewers (Z. 165–196): „Also so Kindheit war eigentlich ganz okay. weil‘s natürlich so auf‘m Land und äh mein mein Opa der hatte irgendwie dann um sich halt so n bisschen seine Bauernillusion aufrechtzuerhalten hat er halt immer noch ziemlich viel Viehzeug gehabt und hatte Pferde und irgendwie n relativ großen Hof, und ähm also ich war so bis weiß ich nicht vielleicht so bis 13 also als Kind war‘s eigentlich ziemlich super. // hm// so. weil du konnst halt auch ähm weiß ich nicht da durch die Gegend und irgendwo im Wald Höhlen bauen und irgendwie so Sachen machen. hm (.) wat dann aber irgendwann naja wenn man halt nicht mehr so drauf steht Höhlen zu bauen und äh durch die Wälder zu streifen dann war‘s halt n bisschen öde einfach. //hmhm// und ähm (.) weiß ich nicht ich bin da auch nie irgendwie auf so ähm auf die ganzen Diskos gegangen weil dat meistens ähm und ist halt auch n bisschen heftig also weil, das meistens äh ziemlich (.) also es ist halt schon ziemlich rau @ (.)@ //hmhm// und ähm es gab halt immer regelmäßig Schlägereien und so und ähm //hmhm// dat hat mir irgendwie allet nicht so zugesagt und ick war wahrscheinlich auch nicht so der Stärkste der sich irgendwie bei Schlägereien hätte durchsetzen können so dat war n dat war dann eigentlich so dat ick dann ähm (.) ja weiß ich nicht vielleicht so ab 13 14 ähm (.) war ich ne ganze Weile n ziemlicher Stubenhocker. //hm// so und ähm (.) weil ick halt irgendwie ja ich wusste halt nicht wat ick da sonst machen sollte irgendwie dat hat mich allet nicht so gereizt. //hm// wat natürlich damals irgendwie äh sehr frustrierend gewesen ist.“
Herr Walters beschreibt seine Kindheit zunächst als „ziemlich super“. Es gefällt ihm, in einer ländlichen Umgebung aufzuwachsen. Sein Großvater hat verschiedene Tiere, und er kann im Wald umherstreifen und Höhlen bauen. Die Kindheit erscheint in der Folgeerzählung jedoch als Gegenhorizont zur Jugend. Wird die Kindheit auf dem Lande von Herrn Walters noch positiv bewertet, so erscheint ihm derselbe Ort in der Jugend als „öde“. Im Gegensatz zu den Kindheitserzählungen von Sebastian Christophsen fehlt bei Herrn Walters von Beginn an die kollektive Einbindung.
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Nicht die kindlichen oder jugendlichen Aktivitäten, sondern deren Einbindung wird zum Problem. Herr Walters partizipiert nicht an den Praktiken der anderen Jugendlichen im Dorf, wie beispielsweise in die Diskothek zu gehen. Er empfindet den Umgang in den Diskotheken als „rau“ und beteiligt sich nicht an den für ihn dort üblichen Schlägereien. Die Folge ist, dass Herr Walters allein zu Hause bleibt und ein „Stubenhocker“ wird. Einerseits „reizen“ ihn die Aktivitäten der anderen Jugendlichen nicht, andererseits „frustriert“ ihn seine soziale Isolation. Auch hier entsteht ein ungeplantes und in diesem Sinne aktionistisches Verhalten, welches sich jedoch von den aktionistischen Praktiken bei Herrn Behrend und Herrn Christophsen unterscheidet. Auch Herr Walters erzählt das Sich- Zurückziehen als eine Handlungsform, welche sich eher ergibt als dass sie geplant ist. Anders als bei den Biographien zuvor ist dieses aktionistische Verhalten nicht kollektiv durch eine Suche nach Gemeinsamkeit gerahmt, sondern gerade gegen einen kollektiven Zusammenhang gerichtet. Bei Herrn Walters steht also weniger die mit dem Aktionismusbegri¤ verbundene kollektive Rahmung im Vordergrund als vielmehr der ebenfalls mit diesem Begri¤ zusammenhängende ungeplante Umgang mit psychischen Spannungen.18 Es entsteht ein Bruch, der als ein Bruch zwischen Herrn Walters Habitus und den sozialen Räumen der Peergroup gelesen werden kann und der in der Biographie als ein Bruch zwischen Kindheit und Jugend erzählt wird. In einem fallinternen Vergleich drückt sich dieser Bruch unter anderem in der unterschiedlichen Verwendung der Metapher ‚Wald‘ aus. Bezogen auf seinen Geburtsort führt Herr Walters aus (Z. 80–84): „Weil das war halt n bisschen also im Nachhinein ähm (.) es gab halt irgendwie eigentlich nicht so wirklich viele Möglichkeiten (.) irgendwelche tollen Sachen zu machen oder so. weil halt auch ähm die Leute da schon so‘n bisschen (.) na ist schon so‘n bisschen hinterwäldlerisch da alles.“
18 An dieser Stelle wird noch einmal die entsprechende Passage der Begri¤serklärung von Heinritz (2007, S. 26) zitiert, welche bei der Fallrekonstruktion jedoch aus ihrem politischen Kontext gelöst wird: „Aktionismus, ein politisches Verhalten von Gruppen, das nicht durch klare Ziel- und Wertvorstellungen begründet ist, sondern durch den Versuch der kollektiven Lösung psychischer Spannungen, der Abreaktion von Aggression“.
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Von der Adoleszenz ausgehend, beschreibt Herr Walters seine Herkunftsstadt als „hinterwäldlerisch“. Die Metapher des Waldes, die in der Erzählung über seine Kindheit noch eine positive Konnotation besaß, wird hier als ein negativer Gegenhorizont verwendet. Wird die Herkunftsstadt mit der Möglichkeit, „durch die Wälder zu streifen“, von Herrn Walters als Kind zunächst noch positiv bewertet, erscheint der gleiche geographische Raum in der Adoleszenz als Einschränkung der Möglichkeiten. Die Metapher des ‚Hinterwaldes‘ hat hier jedoch nicht nur einen geographischen, sondern auch einen sozialen Charakter, denn nicht nur der Ort, sondern auch die „Leute“, das soziale Geflecht, in dem „da alles“ eingeschlossen ist, erscheinen „hinterwäldlerisch“. Die positive Bewertung des Waldes in der Kindheit schlägt in der Beschreibung von Herrn Walters’ Jugend in eine negative um. Konnte sich Herrn Walters’ Habitus in seiner Kindheit bei den Eltern ungestört reproduzieren, gibt es in der Adoleszenz eine Passungsschwierigkeit zwischen den generierten Praxen und den Anforderungen des sozialen Raumes der Peergroup. Die Peergroup scheint anderen Gesetzmäßigkeiten zu folgen, als dies im Raum der Eltern der Fall ist. Hieraus folgt für Herrn Walters eine soziale Isolierung, die ihn frustriert. Die Umgebung der ländlichen Kleinstadt und dadurch teilweise auch sein familiäres Herkunftsmilieu werden durch die Passungsschwierigkeiten zwischen habitueller Praxis und sozialem Raum für Herrn Walters zum ersten Mal fragwürdig. Pierre Walters negiert den Lebensstil der anderen Jugendlichen und damit auch die impliziten und expliziten Regeln des sozialen Raumes der Peergroup. Er reagiert auf die Passungsschwierigkeiten mit Rückzug und Abgrenzung. Wie an anderer Stelle deutlich wird, verbringt Pierre Walters seine Zeit als „Stubenhocker“ nun vor allem mit Lesen. Die Passage wird von Herrn Walters fortgesetzt mit einer Erzählung, welche den Übergang zum Gymnasium beschreibt (Z.196–226): „Ab der° zehnten Klasse da war ick dann auf‘m Gymnasium,, //hmhm// in D., // hmhm// dat war zumindest dann schon mal ne Stadt und it gab n paar andere Leute irgendwie, //hm// obwohl‘s auch ne ziemlich ähm üble Stadt ist eigentlich, //hmhm// und ähm also dat war aber dort so‘n bisschen ähm weiß ich nicht so ne vorsichtige Horizonterweiterung und was halt schon krass ist irgendwie da (.) es ist halt schon eine sehr sehr ähm also halt die Leute aus T. und Leute aus’m Nachbardorf oder Nachbarstadt sind halt schon fremd. //hmhm// also das ist halt wirklich ziemlich krass ähm wie eben wie eng der Horizont da ist und //hm// ähm
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, (3) das war dann schon ganz gut irgendwie dann so (.) am Gymnasium überhaupt irgendwie ja mit anderen Leuten irgendwie zusammenzukommen und ähm da halt auch irgendwie Leute zu treffen die halt ähm weiß ich nicht vielleicht so in etwa ähnlich sind und halt auch nicht äh keinen Bock hatten auf den weiß ich nicht auf die Dorfdisko, da und da und (die gehen da) die sich halt irgendwie für n paar andere interessiert haben //hmhm// und ähm stimmt da war ick dann auch noch ähm zwei Jahre bei (Tensing) weiß nicht ob dir dat wat sagt, //hm// dat ist ähm so‘n naja so Chor Theater-Ding, wat eigentlich ähm aus dem CVJM //hmhm// kommt und ähm wat aber da so‘n bisschen also it wurd halt von der Kirche organisiert, aber dadurch dat it eigentlich so das Einzige war irgendwat zu machen ähm war dat halt ziemlich also it war jetzt nicht so stark ähm irgendwie kirchlich geprägt. //hmhm// (.) hm (.) und dat war halt eigentlich auch ziemlich gut weil da ähm das waren so 30 Leute oder so, //hmhm// es gab halt immer so ein Programm pro Jahr wo man halt irgendwie ähm sich halt irgendwie n Theaterstück ausgedacht hat und irgendwelche Lieder eingeprobt hat und damit sind wir dann auch meistens immer ähm irgendwohin also oft irgendwo so Nordfriesland Hamburg oder T. halt und haben‘s da aufgeführt und das war halt schon ziemlich gut. //hmhm// um um halt überhaupt irgendwie irgendwat anderes zu machen und damit halt irgendwie rauszukommen und (.) hm (6).“
Mit dem Wechsel zum Gymnasium, das in einer anderen Stadt liegt, kann Herr Walters Bezüge zu neuen sozialen Räumen scha¤en. Den Schulwechsel erfährt er als „vorsichtige Horizonterweiterung“, womit sich auch in der Erzählung der Biographie selbstreflexiv ein Verweis auf einen Wandlungsprozess andeutet. Der Wandlungsprozess wird hier topographisch an einem mit der Schule zusammenhängenden Ortswechsel festgemacht, wobei in der Folge des Interviews deutlich werden wird, dass Herr Walters den Heimatort in enger Verbindung mit dem sozialen Raum der Eltern versteht. Die Entfernung vom Heimatort stellt also auch eine erste Entfernung von den Eltern dar. In seinem Heimatort gelten die Leute aus dem Nachbardorf beziehungsweise der Nachbarstadt als „fremd“. Sein Wechsel auf ein Gymnasium in einer anderen Stadt kann so auch als ein Auszug in etwas Fremdes interpretiert werden. Für Herrn Walters stellt sich jedoch das Fremde in der Folge als etwas ihm Entsprechendes dar. Er empfindet die Mitschüler als „ähnlich“, insofern auch die „keinen Bock hatten auf die Dorfdisko“. Auf dem Gymnasium kann Herr Walters andere soziale Kontakte eingehen, die sich von den Kontakten zu den Jugendlichen aus seiner vorherigen Schule unterscheiden. Im Gegensatz zu seiner früheren Schule geraten die Praktiken von Herrn Walters auf dem Gymnasium nicht in Passungsschwierigkeiten zu den Peergroups. Dadurch erö¤nen sich für
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Pierre Walters im Bildungsmilieu des Gymnasiums neue Möglichkeiten, sich an andere soziale Räume anzuschließen und sich aus seiner sozialen Isolation zu lösen. Erstmalig erzählt Herr Walters von sozialen Einbindungen jenseits der Familie. Er beginnt in einer Theatergruppe mitzuspielen, wodurch sich eine erste Auseinandersetzung mit ästhetischen Praktiken ergibt, die in den folgenden biographischen Erzählungen für Herrn Walters noch wichtiger werden. Anders als in den vorherigen Erzählungen bewertet Herr Walters seine Jugend nun in gewissem Maße als befriedigend. Wiederholt stellt er fest: „Das war halt schon ziemlich gut“, wobei er das „Rauskommen“ betont, welches, wie in der Folge noch deutlicher wird, als ein Rauskommen aus dem sozialen Raum der Eltern interpretiert werden kann. Herr Walters ist kein „Stubenhocker“ mehr. Nach dem Abitur absolviert Herr Walters seinen Zivildienst, wofür er in die nächste größere Stadt zieht, etwa hundert Kilometer von seinem Herkunftsort entfernt. Hier beginnt er, sich mit seiner berufsbiographischen Perspektive auseinanderzusetzen (Z. 96–102): „Als Kind wollt ick Bäcker oder Gärtner werden und ähm dann halt irgendwann so dieses hatt=ick so die Idee okay mit Fotografie irgendwas zu machen, (.) und ähm Kunstgeschichte kam dann eigentlich (.) ich weiß nicht also ich hab dann als ich da in Frankfurt Zivildienst gemacht hab ähm überhaupt auch erst angefangen irgendwie so selber Bücher, zu lesen und mich irgendwie mehr für mehr andere Sachen zu interessieren und ähm (.) ja und da kam‘s dann eigentlich bin ich dann so auf Kunstgeschichte gekommen.“
Pierre Walters zieht von zu Hause aus und verlässt damit zum ersten Mal auch geographisch konstant den sozialen Raum der Eltern. Obwohl Herr Walters in seiner Jugend nach eigenen Angaben schon viel gelesen hat, hat er den Eindruck, erst jetzt „selber Bücher zu lesen“. Die vertiefte Ablösung von den Eltern geht einher mit einer beginnenden Phase eines experimentellen Umgangs mit den eigenen Praktiken. Er beginnt, sich für „andere Sachen zu interessieren“ und Praktiken, die schon in der ersten Ablösungsphase auf dem Gymnasium begonnen wurden, zu vertiefen. Hierzu gehört die Auseinandersetzung mit ästhetischen Praktiken. Herr Walters entwickelt ein Interesse für Kunstgeschichte und Fotografie. Hieraus ergibt sich für ihn eine berufsbiographische Perspektive. Wie auch in den Interviews von Herrn Behrend und
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Herrn Christophsen zu lesen, beginnt für Herrn Walters nun eine Phase, in der er beginnt, eine Orientierung an Zukünftigkeit auszubilden. Wie er an anderer Stelle erzählt, will er zunächst eine Lehre zum Fotografen machen, wofür er jedoch keine Ausbildungsstelle erhält; dadurch entsteht für ihn nach dem Zivildienst zunächst eine berufsbiographische Leerstelle. Wichtig erscheint hier, dass Herr Walters die „Idee“ für diese neuen berufsbiographischen Perspektiven von älteren Ideen abgrenzt, die er als Kind und damit im engen Zusammenhang mit den Eltern entwickelt hatte. Abgrenzungsprozesse finden bei Herrn Walters in dieser Phase auch in anderen Lebensbereichen statt. Deshalb erscheint es nicht zufällig, dass er sich gerade zu diesem Zeitpunkt in eine andere Form der Auseinandersetzung mit seiner sexuellen Orientierung begibt (Z. 439–473): „I.: Ja dann (.) ja vielleicht biographisch weil du das angedeutet hast dein Schwulsein. also vielleicht vielleicht kannst du einfach da n bisschen erzählen wie sich das entwickelt hat. wie das überhaupt ja //ähm// wie das so kam ja erzähl einfach mal. P.W.: (5) Na ick glaube also (jetzt) für mich irgendwie als Ahnung zumindest da war so ab vielleicht so ab 13 14, //hmhm// aber halt eher so als ähm so‘n oh Gott das kann nicht sein, //hmhm// und ähm es wird schon alles normal werden, // hmhm// weil halt ähm (.) also ich konnt‘s mir halt selber irgendwie überhaupt nicht vorstellen schwul zu sein und das ähm ging halt irgendwie nicht. und ähm (.) und dann war also wo‘s dann für mich irgendwie zumindest (.) klar war dass es so ist und dass=es wahrscheinlich auch so bleiben wird ähm war halt irgendwie mit ich glaube 16 oder so, ähm als mir n Cousin erzählt hat dass er schwul ist. und da war halt irgendwie für mich so zum ersten Mal so dieses okay. dat is real irgendwie dat is halt ähm dat gibt‘s dat geht und ähm (.) hm (.) aber dat war natürlich schon irgendwie n Problem. weil ähm also ich=hab‘s da auch irgendwie niemandem gesagt weil ick ähm mir nicht also ick wusste nicht wem ick dat da sagen sollte und so und ähm (.) und dann eigentlich erst ja als ich in F. war und den Zivildienst gemacht habe da hab ich‘s dann irgendwann meinem Bruder gesagt, (.) und ähm von da war‘s dann so okay. jetzt ist raus irgendwie (dat war wie) so‘n Stöpsel umgezogen. //hmhm// und ähm (.) aber das war halt irgendwie weiß ich nicht also ick hab manchmal das Gefühl dat ähm (2) dat war auf jeden Fall nicht gut irgendwie sich da so lange mit zu verstecken, //hmhm// so und ähm (3) und ick merke halt auch also ich hab‘s dann irgendwie meinen Eltern gesagt kurz bevor ich nach Hamburg gezogen bin, weil ick irgendwie dachte okay. also ick will halt schon dass sie‘s wissen, und ähm //((Räuspern))// und ich hab halt auch gedacht nee wenn ich in Hamburg bin dann ähm bin ich halt weg und dann werd ich‘s denen wahrscheinlich irgendwie nicht mehr sagen. und ähm naja und dat
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war ähm @(.)@ schwierig. @(.)@ also weil für die ist natürlich irgendwie so‘n riesen Schock gewesen, //hmhm// und ähm (.) also ick glaube die oder ich glaube die kommen da auch irgendwie immer noch nicht mit klar und ick glaube die werden da auch nie mit klarkommen so und ähm und ist halt (.) ja weiß ich nicht also für meine Mutter ist glaub ich eher so so‘n oh Gott mein armer Sohn, //hmhm// weil ähm die sich glaub ich auch nicht vorstellen kann dat man irgendwie schwul sein kann und dat sagen kann ohne dafür schräg angeguckt zu werden. also für die ist dat halt irgendwie schlimm. einfach //ja// aber ähm eher so von der Warte dat=it für mich total schwierig ist so. und ähm ick glaub mein Vater will‘s einfach nicht wahrhaben. also so für für den ist dat glaub ick eher so (.) also wenn ähm (.) ja=das für den ist das glaub ich Einstellungssache. //hmhm// und ähm wenn ich nur wollte dann ähm (.) wär‘s halt nicht so. //hm// und ähm (4) keine Ahnung also so ähm (4).“
Herr Walters findet während des Zivildienstes eine andere Auseinandersetzungsform mit seiner Homosexualität. Deutete sich die Ablösung von den Eltern in der Adoleszenz schon an, scheint sich diese in der Zivildienstzeit noch zu forcieren, wie sich auch in Herrn Walters sexueller Orientierung zeigt, für die seine Eltern keinerlei Verständnis auf bringen können. Zwar bemerkt Pierre Walters seine homosexuelle Orientierung schon in der frühen Adoleszenz mit etwa dreizehn oder vierzehn Jahren, und sie erfährt auch eine erste lebensweltliche Legitimierung durch den Lebensentwurf seines homosexuellen Cousins mit sechzehn. Aber erst mit seinem Coming-out innerhalb der Familie, dessen Auftakt ein Gespräch mit seinem Bruder während seines Zivildienstes ist, erfährt Herr Walters eine Erleichterung („jetzt ist raus irgendwie“), die sich in der Metapher des Stöpsel-Ziehens verdeutlicht. Nun will er auch seine Eltern über seine sexuelle Orientierung informieren, und zwar noch, bevor er nach Hamburg umzieht; er befürchtet, ihnen ansonsten nie davon zu erzählen. Dies drückt er in dem Satz aus: „wenn ich in Hamburg bin dann ähm bin ich halt weg“. Während der Zivildienstzeit scheint für Herrn Walters noch eine Verbindung zum Raum der Eltern zu bestehen. Diese hat jedoch schon durch den zivildienstbedingten Ortswechsel eine Schwächung erfahren, sodass Herr Walters das Empfinden neuer Freiheiten erlangt. Er begibt sich in eine experimentierende Phase, in der er versucht, jenseits der Eltern eigene Praxisbezüge auszubilden. Mit dem Umzug nach Hamburg deutet sich nun ein weiterer Ablösungsprozess an, in dem Herr Walters sich weitestgehend von den Eltern zu distanzieren scheint.
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Durch soziale Kontakte motiviert, zieht Herr Walters nach dem Zivildienst nach Hamburg und verbringt hier ein einjähriges Moratorium, in dem er von dem Arbeitslosengeld lebt, das ihm aus der Zeit des Zivildienstes zusteht. Er setzt damit seinen Ausbildungsweg nicht direkt fort, sondern stellt andere Interessen in den Vordergrund. Die langsam entstehende Orientierung an Zukünftigkeit, die sich bei Herrn Walters, anders als bei den anderen Interviewten, noch nicht mit einer Orientierung an einer Nutzenabwägung verbindet, wird zunächst wieder eingeklammert. Die berufsbiographische Orientierungssuche tritt in den Hintergrund. Das dies eine weitere Distinktion gegenüber den Eltern bedeutet, macht Herr Walters klar, als er über die berufsbiographische Orientierung der Eltern spricht, die einen Gegenhorizont in seinen Erzählungen darstellt (Z. 140–164): „Und ähm das=ist halt auch so‘n bisschen ähm (.) ich glaube dadurch gibt‘s halt auch so‘n bisschen so ne Kluft irgendwie so zwischen meinen Eltern und uns weil dat halt ne völlig andere ähm ah sie sind halt auch die kommen beide halt aus’m extrem kleinen Dorf wat halt sieben Kilometer von T. weg ist und die haben sich da halt auch nie also eben der einzige oder die einzige Bewegung in ihrem Leben war halt sieben Kilometer ins Nachbardorf zu ziehen //hmhm// und die sind halt auch sehr ähm ähm (.) sag mal sehr unoffen für ähm andere Sachen die fahren halt auch nicht großartig umher oder so und //hm// ähm (.) ick glaube für die ist dat halt schon n Problem oder oder n Problem doch schon Problem. weil halt auch die meisten irgendwie so aus aus der ganzen äh Eltern dann mehr oder weniger in derselben Ecke äh sind und mein Bruder war halt auch in Hamburg jetzt ist er in Hanau macht in (.) Wirtschaftswissenschaften, irgendwie da an der Uni hat er ne Stelle, und für die ist dat halt so total komisch halt so dat die Kinder irgendwie so weit sind obwohl dat natürlich nicht so weit weg ist. //hmhm// irgendwie 250 Kilometer aber so für die ist dat ähm dat Normale halt gewesen dat ja die Eltern jetzt halt irgendwie im Um- , Umkreis und man sitzt aufeinander und so. // ja// (.) und ähm (.) für die ist natürlich auch ähm weiß nicht als ich dann das Studium abgebrochen habe dat ähm können die halt auch irgendwie nicht so ganz nachvollziehen. //hm// so halt also eben für die gab‘s halt so‘n die sind halt mit 16 aus der Schule haben ihre Ausbildung gemacht //hmhm// und ähm waren eigentlich bis zur Rente sicher dass sie in dem Beruf irgendwie bis zur Rente arbeiten werden, und die haben halt irgendwie doch extrem krass, so diese diese Vorstellung von (.) ick lerne wat und arbeite bis bis zur Rente und dann ähm bin ick halt irgendwie noch Rentner bis ick tot bin. //hmhm// so. und ähm (.) können sich halt auch nix anderes vorstellen irgendwie birgt natürlich dann äh (.) Konfliktpotenzial @in sich@ (3) ähm (9).“
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Herr Walters setzt sich in der Passage mit dem Normallebenslauf seiner Eltern auseinander. Dabei erscheint dieser als ein negativer Gegenhorizont, der für ein „Konfliktpotenzial“ in der Beziehung zwischen Eltern und Sohn sorgt. Einerseits können die Eltern sein Verlassen des Herkunftsortes nicht verstehen, insofern sich innerhalb der Familie bisher eine Praxis des Nahe-beieinander-Wohnens tradiert hatte, andererseits verstehen sie nicht die sich immer wieder wandelnde berufsbiographische Orientierung ihres Sohnes, insofern ihre eigene weitestgehend festzustehen schien. Mit dem Aussetzen der Ausbildung nach dem Zivildienst grenzt sich Herr Walters deshalb von den Wertvorstellungen des familiären Raumes ab, indem er seine Orientierung an einem Experimentieren-Wollen über seine langsam entstehende Orientierung an Zukunft stellt. In Hamburg beginnt Herr Walters ein Studium der Romanistik und Geschichte, um später zu dem von ihm bevorzugten, jedoch zunächst wegen eines zu hohen Numerus clausus nicht erreichten Studium der Kunstgeschichte und Germanistik zugelassen zu werden. In dieser Zeit beginnt für Herrn Walters ein Di¤erenzierungsprozess. Die bisher unbestimmten oder nicht weiterentwickelten Praktiken der Abgrenzung werden nun zu eigenen Praxisentwürfen ausgearbeitet. Den sozialen Raum hierfür bietet ein mit Sebastian Christophsen gegründetes Tutorium zum Thema Netzkunst. Hierzu führt Pierre Walters aus (Z. 17–37): „Da in der Zeit hab ich eben mit ähm Herrn Christophsen so‘n, Projekttutorium angefangen zu dies Netart-Datenbankprojekt, //hmhm// und hatte da dann drei Jahre lang ne Tutorenstelle wo wir halt ne Lehrveranstaltung gemacht haben und ähm ja halt so auch Schulungen organisiert haben das hat sich dann auch ziemlich schnell verselbstständigt. //hmhm// und ähm wir hatten dann (.) uns irgendwann n Raum, gemietet wo wir halt irgendwie mehr oder weniger auf eigene Faust die Sache weiter gemacht haben. also was halt parallel noch an der Uni lief, und ähm wir da aber die meisten Sachen unabhängig von der Uni gemacht haben // hm// weil irgendwie dat an der Uni auch nicht so gut lief. also die Unterstützung war wirklich null. und ähm er ähm es gab dann halt so Fälle dass n Professor irgendwelche Ankündigungen von uns abgehängt hat, wo wir Künstler eingeladen haben und so weil‘s ihm nicht gepasst hat. und ähm (.) das ging bis ähm (.) ich glaub 2003, liefen die Tutorenstellen aus, und ich hab dann aber schon vorher als ich als ich mein Grundstudium fertig hatte in Kunstgeschichte und Germanistik dann noch mal zum (Medienberatung) gewechselt. Was halt ähm nur n Hauptstudiengang ist und brauchst halt ähm n abgeschlossenes Grundstudium. und
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das hab ich dann 2004 oder 2005 abgebrochen, alles. und (.) hm ich hatte zwischendurch dann schon also eigentlich ging‘s dann so los dass ähm durch diese ähm durch dieses Tutorium irgendwie hab=ich dann halt angefangen mich überhaupt mit so dem ganzen Internetkram intensiver auseinanderzusetzen und hatte vorher eigentlich gar nicht so viel mit am Hut, und hab dann auch ähm (.) ja so so angefangen so‘n bisschen HTML zu lernen.“
Herr Walters berichtet, wie sich das Tutorium schnell verselbstständigt, womit auf einen Prozess hingewiesen wird, der von den einzelnen Akteuren nicht mehr zu kontrollieren ist. Das Projekttutorium entwickelt eine soziale Eigenlogik. In der zitierten Passage deutet sich auch schon an, dass zwei Entwicklungsphasen des Projektes zu unterscheiden sind: die, in der das Projekt eine universitäre Anbindung hat, und die, in der die Mitglieder das Projekt auf „eigene Faust“ vorantreiben wollen. Im Folgenden soll auf die Auseinandersetzung von Herrn Walters mit dem Netzkunstprojekt eingegangen werden. Wie auch in den anderen Interviews dokumentiert sich in den Erzählungen über das junge Erwachsenenalter ein Wandel, der sich durch das Auftreten einer zuvor weitestgehend suspendierten Orientierung an einer auf Zukunft ausgerichteten Nutzenabwägung zeigt. Innerhalb des Projektes um Netzkunst beginnt Herr Walters, seine Bemühungen um eine ästhetische Praxis zu intensivieren. Dabei entdeckt er für sich den Computer. An anderer Stelle führt er aus (Z. 691–723): „Und ähm ach vielleicht noch mal also wat ick eigentlich ähm um noch mal zum Computer irgendwie zu kommen wat ick da wat mich da eigentlich ziemlich fasziniert hat irgendwie hm war das ähm also ick glaube dat war bei mir immer so‘n bisschen dat Problem dat ick halt auch weiß nicht so in der Kindheit irgendwie nie ich hab nie n Instrument gelernt hab halt nie irgendwie so‘n intensives Hobby gehabt oder so, und ähm also ick fand zum Beispiel Musik fand ick schon immer irgendwie ziemlich spannend und ick fand‘s dann halt auch bei dieser Tensingchorgeschichte dat war halt schon ziemlich gut wo ick aber auch ((Husten)) irgendwie gemerkt hab da gab‘s dann halt eben auch Leute die ähm die waren auf ner Musikschule oder haben halt irgendwie mit sechs angefangen Gitarre zu lernen, //hm// wo ick dann halt wat natürlich im Nachhinein so‘n bisschen absurd ist, schon ähm mit irgendwie 16 17 natürlich gesagt hab oh Gott der Zug ist abgefahren irgendwie die können dat alle schon und ick kann dat nicht, //hmhm// und ähm und ich hatte irgendwie so mit‘m Computer im Endeffekt so dat erste Mal dat Gefühl okay. dat is halt irgendwie ne Sache die ähm womit du halt irgendwie oder womit ick halt irgendwelche Sachen machen kann, die ähm also wo‘s egal ist. also dat kann ick jetzt anfangen und kann dat lernen und ähm ((Husten)) und kann ähm kann
EMPIRISCHE REKONSTRUKTIONEN VON BILDUNGSPROZESSEN
da halt irgendwat mit machen. //hmhm// und ähm (2) so als quasi unbeschriebenes Blatt. irgendwie mehr oder weniger und dat war halt schon so dat ähm (.) so die größte Faszination irgendwie. (.) und ähm also it war halt eben so dat erste Mal bei diesem Workshop mit mit dem Ivan, halt zu sehen okay. ick kann halt irgendwie (.) oder ick kann mir halt irgendwelche Sachen ähm beibringen und dann ähm mit Leuten zusammen ne Ausstellung machen irgendwie. //hmhm// und kann ähm kann die Sachen zeigen. und dat ähm (.) war jetzt zum Beispiel auch oder eben so die Sachen für dat Magazin oder so dat is ja sind halt alles so computer- oder photoshopbearbeitete Bilder. //hmhm// und ähm also dieses (Ding) ick muss halt nicht irgendwie fünf Jahre äh an der Kunsthochschule Ölmalerei lernen um um halt irgendwelche Sachen zu machen irgendwie. die ick ausdrücken will oder so. //hmhm// (.) und ähm also dat find ick halt auch immer noch ne ziemlich faszinierende Geschichte wat mir im Moment so‘n bisschen fehlt ist ähm (.) dat ick ähm also so‘n bisschen der Austausch halt. //hmhm// so auch im im in Arbeitssachen aber halt so generell also et war halt ähm ganz gut halt bei dem Datenbankprojekt irgendwie da war naja man man hat halt irgendwie so sehr an dieser Richtung gearbeitet und konnte sich irgendwie darüber austauschen.“
In den Erzählungen von Herrn Walters über das Netzkunstprojekt wird klar, dass er vor Projektbeginn mit dem Computer „eigentlich gar nicht so viel mit am Hut“ hatte. In seine Auseinandersetzung mit ästhetischen Praktiken tritt so etwas Neues ein. Herr Walters nutzt das Medium des Computers als ästhetisches Werkzeug, das ihm helfen soll, sich auszudrücken. Dabei „fasziniert“ ihn, dass er, anders als bei seinen früheren Theaterübungen, hier gegenüber den übrigen Akteuren des künstlerischen Raumes (die aufgrund ihrer Herkunft meist schon frühzeitig mit ästhetischen Werkzeugen wie Musikinstrumenten oder Malerei in Kontakt gekommen waren) keine unüberbrückbaren Di¤erenzen in der Akkumulation kulturellen Kapitals vorfindet. In der in diesem Zusammenhang gewählten Metapher „unbeschriebenes Blatt“ drückt sich aus, dass Herr Walters an dieser Stelle die in ihn eingeschriebene Geschichte einer nicht aus dem Bildungsbürgertum kommenden Sozialisation tilgen kann, was ihm bei anderen Medien, beispielsweise wenn es um die Ausübung eines Musikinstrumentes geht, nicht ohne Weiteres möglich erscheint. Anders als beispielsweise beim Theaterspielen wägt Herr Walters an dieser Stelle seine Möglichkeiten der Kapitalakkumulation in Relation zu den anderen Teilnehmern des Feldes ab. In der Netzkunst sieht er Möglichkeiten, einen Ausdruck zu finden, ohne dabei gegenüber anderen Künstlern von vornherein im Nachteil zu sein.
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Herr Walters kann so einen Anschluss an neue soziale Räume generieren, indem er beispielsweise in einem Magazin publiziert oder eine Ausstellung mit seinen Arbeiten initiiert. Herr Walters deutet am Ende der Passage an, dass das Netzkunstprojekt, das aus dem Projekttutorium um Netzkunst hervorging, ihm eine Möglichkeit der Kommunikation über seine ästhetische Praxis gegeben hat, die ihm jetzt, da das Projekt zum Erliegen gekommen ist, fehlt. Es stellte für ihn, wie sich aus der vorherigen Passage zeigt, einen Raum dar, in dem er sich motivieren konnte, sich mit dem für ihn neuen Medium des Computers auseinanderzusetzen. Innerhalb des Projektes sind dabei zwei Phasen zu unterscheiden. Herr Walters führt zur ersten Phase des Projektes, welche, wie beschrieben, durch ihre universitäre Anbindung gekennzeichnet ist, aus (Z. 298– 322): „Von daher war dat halt n ziemlich guter ne ziemlich gute ähm Sache und wat halt so‘n bisschen (.) im Endeffekt so‘n bisschen deprimierend war war halt einmal so die Erfahrung an der Uni, halt dat ähm dat it halt überhaupt nicht ähm (2) überhaupt nicht anerkannt wurde, also einmal ähm hat man‘s halt daran gemerkt dass eben so so Ankündigungen von irgendwelchen Profs abgehängt wurden die wir da ausgehängt haben und dann ähm wat ick halt auch ziemlich deprimierend fand als wir irgendwie wir haben drei Jahre dieses Projekt gemacht, //hmhm// und ähm hatten schon halt auch dann noch so darüber hinaus weil (.) also diese ganze äh Projekttutoriumsgeschichte ist ja so dat it zentral von der Uni irgendwie die haben n Kontingent für glaub ick zwei oder drei ähm Tutorien pro Jahr die sie halt mit ner Tutorenstelle unterstützen, und dit wird aber zentral von der Uni vergeben also unab- unabhängig vom Institut, du brauchst halt am Institut nur ähm n Prof der sagt okay. ich betreue dat und //hm// wir hatten dat Glück als wir angefangen haben da gab‘s ähm ne die (hat war das) als Privatdozentin angestellt die dat halt auch gut fand und ähm Sebastian. und ick haben uns auch im Seminar bei ihr kennengelernt. //hmhm// und ähm und die ist dann aber nach‘m Jahr oder so dann wieder weggegangen und ähm von da oder von der Zeit gab‘s halt niemand der dat wirklich ähm also verstanden hat‘s sowieso keiner, //hmhm// und ähm aber dann gab‘s auch niemanden mehr der dit überhaupt ähm (.) gut fand dat‘s da so‘n Projekt gab, und dat war ja ursprünglich ähm sind diese Projekte früher noch so dass ähm (.) dass du halt von studentischer Seite halt irgendwelche Lehr(äh)themen vorschlagen kannst die halt am Institut unter(äh)repräsentiert sind, und (.) und ähm im Idealfall ähm wird dat dann halt auch ähm Schwerpunkt am Institut, //hm// und ähm und als Tutor machst du dann den Abschluss und kriegst halt irgendwie ne ähm Doktorandenstelle. //hmhm// und dat war so zu Anfang ähm war dat auch so‘n bisschen die Hoffnung dat dat so läuft.“
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Herr Walters versucht, seine Auseinandersetzung mit den ästhetischen Praktiken der Netzkunst mit einer berufsbiographischen Perspektive zu verknüpfen. Mit der Anstellung als Tutor verbindet er die Ho¤nung, nach seinem Studienabschluss eine Doktorandenstelle zu bekommen. Hier dokumentiert sich, wie Herr Walters versucht, seine ästhetischen Praktiken zu verbinden mit einer Orientierung, die auf eine zukünftige Nutzenabwägung gerichtet ist. Herrn Walters geht es nicht mehr nur um die Generierung von neuen Erfahrungen durch einen experimentellen Umgang, wie er ihn in der ästhetischen Auseinandersetzung findet, sondern er möchte nun auch das hier akkumulierte kulturelle Kapital in ökonomisches und soziales Kapital an der Universität transferieren. Dieser Versuch scheitert jedoch, wie sich in den folgenden Erzählungen herausstellt (Z. 322–343): „Und da hat sich dann aber ziemlich schnell herausgestellt dat dat ähm an dem Institut irgendwie wird dat nicht passieren. //hmhm// und ähm (.) aber eben dann gab‘s halt irgendwie noch so Sachen da mach ich dies drei Jahre dieses ähm Tutorium gemacht und hatten dann da halt bald an die ((Räuspern)) Frau Paul diese Privatdozentin meinte dann halt auch so ja irgendwie um sich n bisschen gut zu stellen ähm wir sollten mal n paar Sachen extra machen haben eben so Interneteinführungskurse für Erstsemester gemacht und haben irgendwie als die ähm ihre Bilddaten oder ihre äh ihr Dia-Archiv digitalisieren wollten //hm// haben wir die irgendwie beraten wat die am besten für‘n Server nehmen und welche Technik und so , //hmhm// also et war halt schon so dat ähm (.) wir da versucht haben irgendwie oder sehr sehr stark versucht haben guten Willen zu zeigen und ähm nachdem wir dann drei Jahre lang das Tutorium gemacht haben hm haben wir halt irgendwie so‘n 20- oder 30-seitigen Abschlussbericht geschrieben, //hm// und haben dann irgendwie den einen Prof. gefragt ob wir vielleicht n n Hauptseminarschein kriegen ob er uns einen unterschreibt und da meint er so nee. //hmhm// und da war für mich so‘n bisschen ähm (.) dat Thema Uni gestorben.“
Einen ersten Dämpfer erhalten seine diesbezüglichen Ho¤nungen, als die das Projekt unterstützende Dozentin die Universität verlässt und innerhalb des angesiedelten Institutes kein Interesse beziehungsweise kein Verständnis mehr für die Projektarbeit besteht. Bei Herrn Walters setzt bezüglich seiner Ho¤nung, aus dem Projekt einen berufsbiographischen Raumanschluss generieren zu können, ein Desillusionierungsprozess ein. Er muss erkennen, dass die im Projekt über drei Jahre getätigten Leistungen nicht einmal in ein geringes, institutionalisiert-kulturelles Kapital transferiert werden können. Als ihm ein Professor auf seine Bitte,
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ihm für den Abschlussbericht des Projektes einen Leistungsschein auszustellen, eine Absage erteilt, ist für Herrn Walters „dat Thema Uni gestorben“. Die fehlende Anerkennung der Institution für die von ihm geleistete Arbeit bewegt ihn zum Studienabbruch. Wie Herr Walters an anderer Stelle erzählt, scheitern etwa zeitgleich die Versuche, das Projekt außerhalb der Universität fortzuführen. Die angemieteten Räumlichkeiten gehen, wie an anderer Stelle deutlich wird, durch finanzielle Streitigkeiten innerhalb der Gruppe verloren. Hinzu kommt, dass die zwei anderen wichtigen Mitglieder des Projektes ihre Lebensprioritäten verlagern. Niklas Behrend gründet eine Familie, und Sebastian Christophsen konzentriert sich auf seinen Studienabschluss. Herr Walters erzählt von dieser Phase (Z. 350–367): „Hmhm und ähm (.) also it war halt sehr enttäuschend irgendwie also einmal ähm wie de wie sich dat da ähm so an internen Zwistigkeiten ähm aufgelöst hat und dann die Sache an der Uni irgendwie, und eben dann hab ick halt ähm gedacht okay. dat war jetzt erstmal alles falsch, @was du gemacht hast@ und hab mein Studium abgebrochen und hab erstmal irgendwie wahrscheinlich so‘n halbes Jahr nur zu Hause gesessen hab mich geärgert, //hmhm// und ähm (.) und dann aber also ich hab dann schon gemerkt dass ähm so die ganze Geschichte da an der Libnitzerstraße dat fand ick halt ziemlich gut halt mit Leuten irgendwie n Raum zu haben //hm// und irgendwelche Sachen zu machen und ähm ick bin dann ähm (.) war halt dann da so‘n bisschen dat Problem dass ähm (.) wir vom äh Datenbankprojekt war halt absehbar dass wir erstmal nicht ähm n neuen Raum suchen weil einmal war das halt ne Geldfrage, auf der andern Seite irgendwie war Sebastian wollte sein Studium fertig machen und eben Niklas und Jule sind Eltern geworden“
Herrn Walters’ erster Versuch, sein Interesse an ästhetischen Praktiken berufsbiographisch zu integrieren, scheitert. Dies löst bei ihm eine Krise aus, in der er das Gefühl hat: „okay dat war jetzt erstmal alles falsch, @ was du gemacht hast@“. Herr Walters verbringt etwa ein halbes Jahr krisenhaft, was er in der Metapher des ‚Zu-Hause-Sitzens‘ und des ‚Ärgerns‘ ausdrückt. Wie er an anderer Stelle erzählt, findet danach eine Verlagerung seiner Aktivitäten statt. Er arbeitet mit dem Computer, der für ihn bisher weitestgehend ein Medium seiner ästhetischen Praxis war, nun verstärkt auf kommerzieller Basis für Klienten an verschiedenen Internetprodukten. Die kreativen Anteile dieser Arbeit sind, anders als beim Netzkunstprojekt, dabei gering, weshalb er seine Arbeit als unbefriedigend empfindet. Seine ästhetischen
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Praktiken verfolgt er deshalb in seiner Freizeit weiter. Er findet einen sozialen Zusammenhang, in dem er mit Ausstellungen und Publikationen produktiv tätig werden und gleichzeitig soziale Kontakte pflegen kann, ohne dass er, wie bisher, damit kommerzielle oder berufliche Interessen verfolgt. Die für Herrn Walters teilweise unbefriedigende Trennung zwischen der beruflichen Perspektive und der ästhetischen Praxis führt bei ihm zu dem Bedürfnis, Zeit für einen Selbstreflexionsprozess zu haben. Er erzählt (Z. 401–423): „Dat is glaub ick so‘n Ding wat ick so im Nachhinein so seh dat ähm (.) ja ick dann immer wieder irgendwelche anderen Sachen gemacht habe und ähm so dat Gefühl habe so eigentlich hat sich nix so wirklich aufgebaut. oder ist halt jetzt nicht so okay. so aus dem Netart-Datenbankprojekt ist jetzt irgendwie ne Lebensaufgabe geworden //hm// oder ähm also wir sind dann halt irgendwann da aus der Weserstraße in der Falckensteinstraße ausgezogen, //hm// und da war dann halt auch irgendwie dat Problem dass der Emil und ick die einzigen gewesen sind die überhaupt Lust gehabt hätten da noch irgendwat weiterzumachen, //hm// und ähm wir konnten halt aber die Miete irgendwie nicht zahlen zu zweit und auch mit der ähm mit den Geschichten am Mittwoch und am Donnerstag hätte man die Miete nicht reingekriegt. hm. (.) das ist eigentlich immer so wo ick dat Gefühl habe na na phh sind dann Sachen wieder so zu Ende gegangen, und halt nicht so richtig zu Ende, weil (.) weiß nicht so dat ähm Netart-Datenbankprojekt gibt‘s ja immer noch, und ähm als Verein mittlerweile aber is halt irgendwie grad nicht mehr so aktiv, und wo ick halt mittlerweile mich dann auch manchmal frage okay. so dat is passiert dat is passiert dat is passiert, ist alles irgendwie noch da aber ähm in wieweit steh ich da noch drin oder ist es eigentlich abgeschlossen, und ähm und ich glaube das=ist so‘n bisschen die Situation jetzt wo ick eigentlich denke naja ick müsste mal ähm irgendwie ne Auszeit haben und mal nachdenken so okay. wat wo bin ich jetzt eigentlich und wat is eigentlich los, hm (.) bloß dat Problem ist dat kann ick mir halt grad nicht leisten ähm //hm// ich kann jetzt nicht irgendwie sagen okay. ick bin jetzt mal n Monat weg.“
Herr Walters hat an vielen Stellen das Gefühl, dass Projekte zwar zu Ende gegangen, für ihn jedoch noch nicht abgeschlossen sind. Im Netzkunstprojekt, mit dem Herr Walters, wie rekonstruiert, den Wunsch nach einer berufsbiographischen Ausrichtung verbunden hat, hatte er eine „Lebensaufgabe“ gesehen. Er reflektiert, was geschehen ist, wobei er sich selbst in Bezug zum Netzkunstprojekt jedoch nicht eindeutig verorten kann. Herr Walters würde sich eine „Auszeit“ zum Nachdenken wünschen, die er aber bisher nicht finanzieren kann. Es wird deutlich, dass sich für Herrn Walters die Orientierung an einer experimentellen Selbsterkundung und
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die Orientierung an einer zukünftigen Nutzenabwägung konflikthaft gestalten und er hierfür bisher keinen Umgang gefunden hat.
Zur Struktur eines Bildungsprozesses als Habituswandlung im Fall Pierre Walters Wie auch bei den anderen Interviews, soll der Bildungsprozess von Herrn Walters aus zwei Perspektiven beleuchtet werden. Zunächst sollen die unterschiedlichen Phasen des Bildungsprozesses rekonstruiert werden, um dann auf einen Wechsel in der semantischen Form des Interviews einzugehen. In seiner Jugend erlebt Pierre Walters einen Prozess des Fremdwerdens gegenüber seinem sozialen Umfeld. Er distanziert sich von seinen Altersgenossen und negiert deren implizite und explizite Regeln, indem er sich sozial isoliert. Mit einem Schulwechsel verbunden, schließt sich Herr Walters an neue soziale Räume an. Er beginnt, in einer Theatergruppe mitzuspielen, und vertieft so sein sich schon zuvor andeutendes Interesse für ästhetische Praktiken. Es wird deutlich, dass Herr Walters sich in der Folge nicht nur aus seinem alten Sozialraum herauslöst, sondern dass damit auch Distanzierungsprozesse gegenüber den Eltern einhergehen. Herr Walters distinguiert sich sowohl in seinen berufsbiographischen Zukunftsvorstellungen als auch in seiner sexuellen Praxisorientierung von dem Erwartungshorizont der Eltern. Dabei geht Herr Walters subversiv vor,19 insofern er beispielsweise seine sexuelle Orientierung vor den Eltern geheim zu halten versucht. Herr Walters folgt hier einem modus operandi der Parallelisierung, welcher unterschiedliche Raumansprüche trennt.20 Im Zivildienst wird die Ablösung von den Eltern noch forciert. Herr Walters vertieft seinen Zugang zu ästhetischen Praktiken und seine Auseinandersetzung mit seiner homosexuellen Orientierung. Er outet sich gegenüber den Eltern als homosexuell, was bei diesen auf Unverständnis stößt. In der Folge zieht Herr Walters nach Hamburg und beginnt hier nach einem Moratorium ein akademisches Studium, in dessen Zusammen19
Vgl. hierzu auch die komparative Analyse in Kapitel 5.1.
Die subversive Praxis unterscheidet sich hier von der antagonistischen Praxis der Nonkonformität dahingehend, dass die antagonistische Praxis Machtansprüche o¤en in Frage stellt, während die subversive Praxis Machtansprüche unterläuft.
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hang er mit Sebastian Christophsen ein Netzkunstprojekt initiiert. In diesem Netzkunstprojekt generiert Herr Walters mit dem Computer für sich neue ästhetische Praxisformen, findet aber auch über den Projektzusammenhang Anschlüsse an neue soziale Räume, in denen er sein Interesse an subversiv-ästhetisch orientierten Logiken der Praxis einbringen kann. Nach dem Scheitern des Projektes fällt Herr Walters in eine biographische Krise, die bei ihm eine kritische Distanznahme evoziert. Herr Walters löst zunächst sein Interesse an subversiv-ästhetisch orientierten Praktiken von seinen berufsbiographischen Vorstellungen ab. Er arbeitet nun mit dem Computer, um Geld zu verdienen, und scha¤t sich jenseits der Lohnarbeit einen Raumanschluss, in dem er, unabhängig von ökonomischen Interessen, seine ästhetisch-subversiv orientierten Praktiken mit sozialen Kontakten verbinden kann. Die so entstehende Di¤erenz zwischen ästhetischen und ökonomischen Interessen, die, wie sich im Folgenden zeigt, mit zwei unterschiedlichen Orientierungen in der Erzählung verbunden ist, empfindet Herr Walters jedoch als unbefriedigend. Gleichzeitig kann er sich zum Zeitpunkt des Interviews zu dem für ihn biographisch relevanten Anschluss an das Netzkunstprojekt, bei dem er zuletzt versucht hatte, die ästhetische Praxis mit einer berufsbiographischen Perspektive in Beziehung zu setzen, nur ambivalent verhalten. Herr Walters weiß nicht, wo er in Bezug auf das Projekt – und damit auch in Bezug auf seine Versuche, seine ästhetisch-subversiv orientierte Praxis mit einer berufsbiographischen Orientierung zu relationieren – steht. Hieraus erwächst das Bedürfnis nach einer Auszeit zum Nachdenken, die er sich bisher jedoch finanziell nicht leisten konnte. Herr Walters findet zwar eine Distanz gegenüber dem Raum der Eltern, gleichzeitig ist er aber auch noch auf der Suche nach Perspektiven für Anschlüsse an soziale Räume, die ihm ein befriedigenderes Passungsverhältnis zu den von ihm ausgebildeten Praxisformen erlauben. Wie sich in der fallübergreifenden Rekonstruktion der Phasen von Bildungsprozessen der Fälle Behrend, Christophsen und Walters zeigen wird, deutet sich bei Herrn Walters ein Wandlungsprozess des Habitus an, der jedoch nicht beendet wird, sondern zumindest vorläufig ins Stocken gerät. Ähnlich wie in den Fällen von Niklas Behrend und Sebastian Christophsen vollzieht sich auch bei Pierre Walters ein Wandlungsprozess von einer aktionistischen Form der Abgrenzung zu einer kritischrationalen Logik der Praxis von Abgrenzung. Während sich Herr Walters
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in seiner Jugend aktionistisch distanziert, indem er sich in eine soziale Isolation begibt, geht bei ihm in der Auseinandersetzung mit der Praxis der Netzkunst die Abgrenzung mit einer kritisch-rationalen Haltung einher, bei der Herr Walters neben der Orientierung an einer experimentellen Generierung von neuen Erfahrungen auch eine Orientierung auf eine zukünftige Nutzenabwägung praktiziert. Herr Walters koppelt das Interesse an subversiven Praktiken mit ästhetischen Praktiken. Als aber seine Versuche, die subversiven Praxisinteressen berufsbiographisch zu integrieren, wiederholt scheitern, fällt Herr Walters in eine biographische Krise. Die Praxis der Abgrenzung koppelt sich von seinen berufsbiographischen Interessen ab, was ihn unzufrieden werden lässt. Zwar bemüht sich Pierre Walters, eine neue biographische Perspektive zu entwickeln; dies jedoch gelingt ihm, vor allem vor dem Hintergrund von ökonomischen Sachzwängen, bis zum Zeitpunkt des Interviews nicht. Auch auf der semantischen Ebene des Interviews zeigt sich die Ambivalenz des nicht beendeten Wandlungsprozesses bei Herrn Walters. Einerseits beginnt er mit den Erzählungen über das frühe Erwachsenenalter neben der Orientierung an einer experimentellen Generierung von neuen Erfahrungen eine Orientierung an Zukunft und später dann an einer auf Zukunft gerichteten Nutzenabwägung mit einzubeziehen, andererseits verbleibt diese Orientierung in einer Ambivalenz, die Herr Walters als unbefriedigend erlebt. Herr Walters scha¤te es an unterschiedlichen Stellen – beispielsweise beim Scheitern der universitären Einbindung des Projektes oder dann beim endgültigen Erliegen des Projektes – nicht, die von ihm akkumulierten Kapitalressourcen in einer ihn zufriedenstellenden Weise zu transferieren oder umzuorganisieren. Die Rationalität einer auf Zukunft gerichteten Nutzenabwägung wird immer wieder gebrochen, jedoch nicht reorganisiert. Seine ambivalente biographische Situation reflektierend, wünscht sich Herr Walters Zeit, sich mit sich selbst zu beschäftigen. Er scheint damit intuitiv eine Möglichkeit zu suchen, einen sich bei Herrn Behrend und Herrn Christophsen dokumentierenden Prozess der Suchbewegung zu forcieren, um dadurch neue biographische Verhältnisse zu generieren.
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5.5. Phasentypik von Bildungsprozessen als Wandlungen des Habitus Im fallübergreifenden Vergleich der Fälle von Herrn Behrend, Herrn Christophsen und Herrn Walters kann eine Phasentypik, die auf Wandlungsprozesse des Habitus abzielt, rekonstruiert werden. Bei allen drei Biographien stellt sich ein Bildungsprozess ein, in dem es um die Ausdi¤erenzierung eines eigenen Habitus durch den Wandel einer Habitusdimension geht. Während bei Herrn Behrend und Herrn Walters hierfür der soziale Raum21 der Eltern einen wichtigen Gegenhorizont bildet, sind für Herrn Christophsen die Auseinandersetzungen mit den unterschiedlichen Räumen der Schule und der Ausbildung von entscheidender Bedeutung. Die hier zu rekonstruierenden Wandlungsprozesse des Habitus vollziehen sich in vier zu di¤erenzierenden Phasen, innerhalb derer nochmals unterschiedliche Prozesse di¤erenziert werden können. Innerhalb einer Phase können die verschiedenen Prozesse in ihrem Ablauf oder in ihren Überlappungsverhältnissen in den unterschiedlichen Fällen variieren. So kann es beispielsweise sein, dass innerhalb einer Phase die gleichen Prozesse von einem Akteur mehrmals durchlaufen werden, bevor er in eine neue Phase des Wandlungsprozesses eintritt, während ein anderer Akteur die gleichen Prozesse vor dem Eintritt in eine neue Phase weniger oft durchläuft. Im Folgenden soll es darum gehen, die vier unterschiedlichen Phasen und die dazugehörigen Prozesse der Wandlungen des Habitus darzustellen.
21 Wiederholt sei an dieser Stelle meine Anmerkung (vgl. meine Fußnote 96) bezüglich des Begri¤es des sozialen Raumes. Hierunter wird „eine relationale (An) Ordnung sozialer Güter und Menschen“ verstanden (Löw 2001, S. 224). In diesem Sinne können soziale Räume als soziale Konstrukte gefasst werden, die aus einer sozialen Genese entstehen und die einem eigenen modus operandi folgen. Im Folgenden geht es jedoch nicht um die Rekonstruktion von Logiken eines sozialen Raumes, sondern darum, anhand der biographischen Interviews den Umgang der Akteure mit sozialen Räumen vor dem Hintergrund von Bildungsprozessen zu beleuchten.
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Die erste Phase des Fremdwerdens gegenüber einem biographisch relevanten Raum In der ersten Phase der Wandlungsprozesse des Habitus kommt es innerhalb einer Logik der Praxis zur Di¤erenzierung und zu Anschlüssen an neue soziale Räume. Dabei kann die erste Phase nochmals in vier sich teilweise überlagernde Prozesse di¤erenziert werden. Hierbei handelt es sich um die Prozesse eines Fremdwerdens und einer Negation, welche mit einer kritischen Distanzierung gegenüber einem sozialen Raum einhergehen, sowie einer Suche und eines Anschlusses an einen neuen sozialen Raum. a) In der ersten Wandlungsphase kommt es zu einem Prozess des Fremdwerdens gegenüber einem biographisch relevanten sozialen Raum und, damit einhergehend, zu Passungsschwierigkeiten zwischen Habitus und Raum.22 Bei Herrn Behrend und Herrn Walters kommt es zu Passungsschwierigkeiten zwischen ihrem Habitus und den Räumen der Peergroup. Dabei empfinden sich beide aufgrund von Desintegrationserfahrungen als Außenseiter. Eine Erfahrung, die auch Herr Christophsen gemacht hat, allerdings nicht in Bezug auf seine Peergroup, sondern im Raum der Schule. Er empfindet sich nach einer Intervention seiner Lehrerin in der Grundschule als nicht mehr gebraucht, was zu einer Passungsschwierigkeit zwischen seinem Habitus und dem Raum der Schule führt. In der Adoleszenz wiederholt sich bei Herrn Christophsen der Bruch mit einer pädagogischen Organisation, als ihm trotz guter Noten aus politischen Gründen der Zugang zum Abitur verweigert wird. b) Weiter kommt es in der ersten Wandlungsphase zu einem Prozess der Distanzierung von den alten Anschlüssen an soziale Räume, indem die impliziten und expliziten Regeln des Raumes negiert werden. Herr Behrend beginnt, Marihuana zu konsumieren und setzt sich in der Folge mit Technomusik auseinander, was bei seiner alten Peergroup auf völliges Unverständnis stößt. Herr Walters zieht sich von den anderen Jugendlichen zurück, indem er sich sozial isoliert und zum „Stubenhocker“
Die Dauerhaftigkeit und der sich wiederholende Charakter der Konf likte deuten darauf hin, dass es sich nicht um situationale, sondern um regelmäßig reproduzierte Konf likte handelt, welche mit den Handlungsdispositionen der Akteure eng verknüpft sind. 22
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wird. Herr Christophsen bleibt dem Schulunterricht und später der Ausbildung einfach fern. c) In einem folgenden dritten Prozess der ersten Wandlungsphase, der sich teilweise mit dem zweiten überschneidet, werden neue Anschlüsse an soziale Räume gesucht. Herr Behrend schließt sich der Technoszene an, Herr Walters findet im Bildungsmilieu des Gymnasiums neue Raumanschlüsse, und Herr Christophsen solidarisiert sich in der Grundschule mit den „Schlechtesten“ der Klasse, um dann später in den sozialen Raum der ostdeutschen Subkultur der Punks, Models, Musiker, Maler und Modemacherinnen einzutauchen. In allen biographischen Erzählungen zeigt sich dabei ein gegenüber den alten biographischen Relationen befriedigenderes Passungsverhältnis zwischen den eigenen Praxisformen und dem neu angeschlossenen sozialen Raum. d) In einem von dem dritten Prozess nur analytisch zu trennenden vierten Prozess innerhalb der ersten Phase des Wandlungsprozesses kommt es zum Entstehen einer neuen Praxis. In den ausgewählten Biographien konvergieren dabei die Erzählungen insofern, als Herr Behrend, Herr Walters und auch Herr Christophsen sich im Zusammenhang mit dem neuen Raumanschluss um die Ausbildung ästhetischer Praktiken bemühen. Herr Behrend beginnt, auch beeindruckt durch seine in der Technoszene gesammelten Erfahrungen, neben dem Drogenkonsum zu zeichnen und Gra¤iti zu malen. Herr Walters spielt Theater und fotografiert, und Herr Christophsen beginnt, unter dem Eindruck der ostdeutschen Subkultur elektronische Musik zu machen. Durch die hier verfolgten Praktiken und Neuanschlüsse an soziale Räume distanzieren sich Herr Behrend, Herr Walters und Herr Christophsen von ihren alten Raumbezügen. Herr Behrend entfernt sich von den Eltern, indem er ihnen sein Leben in der Technoszene verschweigt und sich auf diese Weise subversiv einen von ihnen separierten sozialen Raum scha¤t, in dem er sich ausprobieren kann. Auch Herr Walters ö¤net sich durch das Bildungsmilieu des Gymnasiums und durch die hier gemeinsam verfolgten Praktiken des Theaterspiels, des Hörens spezifischer Musik und des Reisens zu Theaterau¤ührungen einen sozialen Raum, der sich von den Normalitätsvorstellungen seiner Eltern unterscheidet, deren Sozialität sich auf die eigene Kleinstadt beschränkt. Und Herr Christophsen findet sowohl mit seinen Freunden in der Grundschule als auch später in der ostdeutschen Subkultur einen sozialen Raum, der von den pädagogischen Einrichtungen gelöst erscheint. Innerhalb der Biographien kommt
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es so zu Distanzierungsprozessen, in denen die Akteure, einer nonkonformen Logik der Praxis folgend, Regeln brechen, negieren oder sich von ihnen distanzieren und durch Umwidmung/Verschiebung neue Regeln generieren, wodurch neue Formen der Di¤erenzbildung entstehen. In einer für das Jugendalter sicherlich nicht untypischen Form geht es dabei um Abgrenzungsprozesse von den Räumen der Familie beziehungsweise der Schule. Die Abgrenzungsprozesse erfolgen meist aktionistisch23 und sind oft durch die Suche nach Gemeinsamkeit geprägt, beispielsweise durch die Praktiken der Techno- oder Punkszene.
Die zweite Phase des Experimentierens mit Raumbezügen In der zweiten Phase der Wandlungsprozesse kommt es zu einem Experimentieren mit neuen Anschlüssen an soziale Räume. In dieser Phase treten in unterschiedlicher Reihenfolge und in unterschiedlichem Ausmaß zwei Prozesse wiederholt auf: eine krisenhafte Empfindung von zuvor generierten Raumanschlüssen (a) sowie eine Suche nach neuen Raumanschlüssen (b). Diese beiden Prozesse gleichen in ihrer Struktur den Prozessen 1a und 1b. Dies deutet darauf hin, dass sich in unterschiedlichen Phasen ähnliche Prozesse wiederholen. Gleichzeitig lassen sich aber auch Unterschiede festhalten, insofern die Prozesse der zweiten Phase eine andere Funktion übernehmen, als dies die gleichen Prozesse in der ersten Phase tun. Die Prozesse des krisenhaften Empfindens von zuvor generierten sozialen Räumen und die Suche nach neuen sozialen Räumen bleiben in dieser zweiten Phase auf die in der ersten Phase neu ausgebildeten Praktiken und Raumanschlüsse bezogen. In diesem Sinne geht es bei den Prozessen der zweiten Phase nicht – wie in Phase 1 – um ein Generieren und Ausdi¤erenzieren einer neuen gegenüber einer alten
23 Der Begri¤ des Aktionismus wird hier gebraucht, um Handlungsformen zu beschreiben, die einerseits ungeplant sind und andererseits dazu dienen, psychische Spannungen zu bearbeiten. Werner Fuchs-Heinritz (2007, S. 26) führt zum Begri¤ des Aktionismus aus: „ein politisches Verhalten von Gruppen, das nicht durch klare Ziel- und Wertvorstellungen begründet ist, sondern durch den Versuch der kollektiven Lösung psychischer Spannungen, der Abreaktion von Aggression“. Der Aktionismusbegri¤ wird in den folgenden Darstellungen, die sich weitestgehend auf Praktiken von Jugendlichen beziehen, anders als bei Heinritz nicht nur in einem politischen Rahmen verortet, sondern er bezieht sich allgemein auf ungeplante Handlungsformen. Zu aktionistischen Handlungsformen bei Jugendlichen vgl. Bohnsack/Nohl 2001.
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Praxis, sondern um ein Experimentieren und Zurechtfinden mit und in einer neuen Praxis. Bei Herrn Behrend kommt es zu einer Krise innerhalb seiner neu generierten Raumanschlüsse, als er die Ansprüche der Familie und der Technoszene nicht mehr trennen kann. Nachdem sein Drogenkonsum und seine Probleme mit der Justiz in der Familie bekannt geworden sind, scheitert zunächst der in der Jugend begonnene Distanzierungsprozess von den Eltern. Herr Behrend stellt seine Wünsche nach einem Auszug und einem künstlerischen Studium zunächst zugunsten der elterlichen Erwartungshaltungen zurück, was er als unbefriedigend erlebt. Nach seinem Vordiplom startet Herr Behrend erneut einen Versuch der Distanzierung, indem er in eine andere Stadt umzieht. Herr Behrend sucht nach neuen Raumanschlüssen und findet diese im Netzkunstprojekt. Hier kann er für seine ausgebildeten Interessen an einer ästhetisch-subversiven Praxis geeignete Raumanschlüsse eingehen. Auch bei Sebastian Christophsen kommt es in einer zweiten Wandlungsphase zum Prozess der Wahrnehmung von krisenhaften Anschlüssen an soziale Räume und zur Suche nach neuen Raumanschlüssen. Nach der Wende und dem damit verbundenen Wegfall seiner Einkommensbasis beginnt Herr Christophsen, sich zunächst mit Nebentätigkeiten zu finanzieren. Mit der Geburt seiner Tochter generiert sich mit der Familiengründung ein neuer sozialer Raum. Gleichzeitig beginnt Herr Christophsen, sich an den sozialen Raum der Universität anzuschließen, indem er ein Studium aufnimmt. In der Folge kommt es zu einer Krise der Raumbezüge. Herr Christophsen findet wegen seiner Aufgaben in der Familie keine Zeit mehr für die für ihn zuvor relevanten Praktiken der Subkultur. Als dann die Beziehung zu der Mutter seines Kindes zerbricht, wird neben dem Anschluss an die Familie auch der Anschluss an den Raum der Universität von Herrn Christophsen als krisenhaft empfunden. Bei Pierre Walters beginnt die experimentelle Suche nach neuen Anschlüssen an soziale Räume während seines Zivildienstes. Wohl auch evoziert durch die geographische Distanz zu seinen Eltern, forciert er seinen Distinguierungsprozess gegenüber den Eltern. Herr Walters setzt sich verstärkt mit seiner homosexuellen, seiner berufsbiographischen und seiner ästhetischen Orientierung auseinander. Er zieht in der Folge nach Berlin und sucht neue Raumanschlüsse, die er im Projekt der Netzkunst findet. Hier kann er sein Interesse für ästhetische Praktiken
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und eine berufsbiographische Orientierung in ein Passungsverhältnis zu den gegebenen Raumanschlüssen bringen. In eine Krise geraten die Anschlüsse an den sozialen Raum der Netzkunst, als das Projekt zum Erliegen kommt. Zunächst klappt der universitäre Anschluss des Projektes nicht, woraufhin Herr Walters den weiteren Anschluss an die Universität als so krisenhaft empfindet, dass er sein Studium abbricht. Zu einem späteren Zeitpunkt des Projektes zerstreitet sich die Gruppe beziehungsweise verlagern sich die Schwerpunkte von Herrn Christophsen und Herrn Behrend, woraufhin das Projekt weitestgehend zum Erliegen kommt. Herr Walters ist enttäuscht, was sich zunächst in einer halbjährigen sozialen Isolierung ausdrückt. In einer fallübergreifenden Perspektive kann rekonstruiert werden, wie sich in der zweiten Wandlungsphase die zwei Prozesse der Krise von gegebenen Raumanschlüssen und der Suche nach neuen Anschlüssen für ausgebildete Praxisformen unter Umständen mehrfach abwechseln und wie es dadurch zu einem Experimentieren mit neuen Raumanschlüssen kommt.
Die dritte Phase einer kritisch-reflexiven Distanznahme In der dritten Phase der Wandlungsprozesse kommt es zu einer kritischreflexiven Distanznahme gegenüber den eigenen Praxisformen und Raumanschlüssen. Auslöser hierfür sind meist die in der zweiten Wandlungsphase evozierten, krisenhaft empfundenen Anschlüsse an soziale Räume. Nach dem Erliegen des Netzkunstprojektes und der Geburt seines Sohnes erkennt Herr Behrend, dass die von ihm bisher gesuchten Raumanschlüsse in einem Zusammenhang stehen mit seinem Distanzierungsbedürfnis gegenüber seinen Eltern. In einer kritisch-reflexiven Distanznahme hinterfragt er seine berufsbiographische Zukunft und seinen Anschluss an die Subkultur der Netzkunst. Nach einer längeren Krise der sozialen Anschlüsse zu seiner eigenen Familie, der Universität und der Subkultur, welche maßgeblich durch die Trennung von der Mutter seines Kindes bestimmt ist, gerät Herr Christophsen nach einem Beziehungswechsel in einen Prozess der kritischen Distanznahme. Er fragt sich nach dem Sinn seines Studiums und geht auf Distanz zu seinem Wunsch, einfach nur Student sein zu wollen. Bei Herrn Walters kommt es nach dem Erliegen des Netzkunstprojektes zu einer kritisch-reflexiven Distanznahme. Zu diesem Zeitpunkt hat
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er zunächst die Empfindung, „bis jetzt alles falsch gemacht zu haben“. Anders als bei Herrn Behrend und Herrn Christophsen ist der Prozess der kritisch-reflexiven Distanznahme bei Herrn Walters jedoch noch nicht abgeschlossen. Er bemüht sich zwar, findet aber noch keine Distanz zu seinen bisherigen Raumanschlüssen. Er weiß sich nach dem vorläufigen Scheitern des Projektes noch nicht in eigener Weise mit den von ihm im Netzkunstprojekt verfolgten Praxis- und Raumformen in Relation zu setzen. Wegen der hiermit einhergehenden Unbestimmtheit wünscht er sich eine Zeit zum Nachdenken, die er sich bisher jedoch finanziell nicht leisten konnte. Wie auch in der ersten und zweiten Phase des Wandlungsprozesses ist für die Fälle von Herrn Behrend, Herrn Christophsen und Herrn Walters die Logik einer nonkonformen Praxis entscheidend. Immer noch geht es um subversive und antagonistische Distanzierungsprozesse, in denen es zu Wechselspielen zwischen Negation, Umwidmungen und Neugenerierungen von Regeln kommt. Im Unterschied zu ihrer Jugendphase zeichnet sich jetzt jedoch ein Wandlungsprozess der Logik der nonkonformen Praxis ab. Die Suche nach Abgrenzung ist weniger stark durch Aktionismen und eine Suche nach Gemeinsamkeit geprägt, auch wenn diese Elemente immer wieder eine Rolle spielen. Vielmehr kann rekonstruiert werden, wie die Praxis der Nonkonformität durch eine spezifische, kritisch-suchende Haltung ergänzt wird. Die Abgrenzungsbemühungen gegenüber den Eltern oder Institutionen erfolgen nicht mehr einfach, sondern verbinden sich mit kritischen Reflexionen, welche eine Suchbewegung auslösen, die auch charakteristisch für die vierte Phase des Wandlungsprozesses ist.
Die vierte Phase der Suche und Etablierung von neuen Raumanschlüssen In der vierten Phase des Wandlungsprozesses können nach einer kritischen Distanznahme Suchbewegungen nach neuen Raumanschlüssen sowie damit einhergehenden Etablierungsversuchen von neuen Anschlüssen an soziale Räume rekonstruiert werden. Die Suche nach neuen Raumanschlüssen gestaltet sich dabei gegenüber ähnlichen Prozessen in der ersten und zweiten Phase des Wandlungsprozesses nicht mehr aktionistisch, vielmehr sind die nun forcierten Suchbewegungen auch durch biographische Selbstreflexionen geprägt. Nachdem sich bei Herrn Behrend nach dem Scheitern seiner Vermittlungsversuche zwischen einer ästhetisch-subversiven Praxis und
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einer berufsbiographischen Orientierung ein kritisch-reflexiver Distanzierungsprozess einstellte, in dem es um sein Distinguierungsbedürfnis zum sozialen Raum der Eltern ging, bemüht er sich in der nun folgenden Phase um eine Verlagerung seiner Schwerpunkte. Statt eines vermehrten Engagements in der Netzkunst möchte Herr Behrend nun zunächst sein Studium abschließen, um sich um eine eigene, von seinen Eltern gelöste ökonomische Basis zu bemühen. Damit verbunden sucht er neue Raumanschlüsse im Bereich zwischen neuen Medien und Ästhetik, um seinem Wunsch nach einer Relationierung zwischen dem Interesse an einer ästhetisch-subversiv orientierten Praxis und einer berufsbiographischen Perspektive zu entsprechen. Gleichzeitig möchte Niklas Behrend damit den Distanzierungsprozess gegenüber den Eltern weiter vorantreiben. Herr Christophsen findet nach seinen als krisenhaft empfundenen Anschlüssen an die sozialen Räume der Familie, der Subkultur und der Universität zu einem kritischen Selbstreflexionsprozess, indem er die Sinnhaftigkeit seiner biographischen Situation hinterfragt, wodurch eine Suchbewegung initiiert wird. In der Folge kann Herr Christophsen durch seine Auseinandersetzung mit der Netzkunst neue Raumschlüsse etablieren und gleichzeitig auch Perspektiven für neue Suchprozesse ö¤nen. Im Netzkunstprojekt findet er einerseits einen Anschluss für die vorher im sozialen Raum der Subkultur verorteten, ästhetisch-subversiv orientierten Praxisformen an die Universität, wodurch er eine neue Sinngebung und eine Finanzierung für seinen Studienabschluss findet. Andererseits entwickelt er, ebenso wie Herr Behrend, aus der Netzkunst Möglichkeiten einer berufsbiographischen Orientierung, die sich auch nach dem Scheitern des Netzkunstprojektes weiterführen lassen. Herr Walters hingegen hat bis zum Zeitpunkt des Interviews keine neuen Perspektiven für Raumanschlüsse generieren können. Er befindet sich noch in der Wandlungsphase der kritischen Distanznahme. Zwar ist er mit seinen gegebenen Raum- und Praxisanschlüssen nicht zufrieden und somit auch auf der Suche nach neuen Anschlüssen an soziale Räume, jedoch ist seine Suche in noch größerem Maße unbestimmt als die von Herrn Behrend und Herrn Christophsen. Für Herrn Walters tun sich bisher keine neuen Perspektiven jenseits der Unbestimmtheit auf. Dies antizipierend, wünscht er sich eine Zeit des Nachdenkens. Zusammenfassend können vier Phasen von Wandlungsprozessen di¤erenziert werden. In einer ersten Phase geht es um ein Fremdwerden gegenüber alten Raumbezügen, mit den Prozessen der Passungsschwie-
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rigkeit zwischen Habitus und einem biographisch relevanten Raum, der Negation gegebener Raumbezüge, der Suche nach neuen Raumanschlüssen, der kritischen Distanznahme gegenüber den alten Raumbezügen und der Ausbildung einer neuen Praxis. In dieser Phase kommt es zur Di¤erenzierung eines Habitus durch die Ausdi¤erenzierung einer Logik der Praxis. Es entstehen neue Praxis- und Raumanschlüsse. In der zweiten Phase eines Wandlungsprozesses kommt es zu einem Experimentieren mit unterschiedlichen Raumbezügen. Hier stehen die Prozesse der weiteren Suche nach neuen Anschlüssen an soziale Räume und des krisenhaften Empfindens gegebener Raumanschlüsse im Vordergrund. In der dritten Phase eines Wandlungsprozesses kommt es zu einer kritisch-reflexiven Distanznahme gegenüber den bisherigen Praxisformen und Raumanschlüssen. Dies führt zu einem Prozess der Hinterfragung und zur Projektion und Neuausrichtung von Praxis- und Raumformen. In der vierten Phase eines Wandlungsprozesses kommt es im Zusammenhang mit biographischen Selbstreflexionsprozessen zu einer Suche und Etablierung von neuen Raumanschlüssen. Bei den dargestellten Fällen geht es um den Wandel einer Logik der Praxis der Nonkonformität. Während in der Jugend eine aktionistische Nonkonformität entsteht, welche teilweise durch eine aktionistische Suche nach Gemeinsamkeit geprägt ist, entsteht im jungen Erwachsenenalter bei Herrn Behrend, Herrn Christophsen und Herrn Walters eine Logik der Praxis der Nonkonformität, welche einhergeht mit kritischreflexiven Suchbewegungen, Verschiebungen, Umwidmungen und Neubildungen von Regelkomplexen. So entsteht ein sich ständig verändernder und in diesem Sinne flexibler Habitus der Nonkonformität. Die auf Dauer gestellte Veränderung des nonkonformen Habitus ist nicht mit einem ständigen Wandel oder gar einer ständigen Transformation des Habitus gleichzusetzen. Der Habitus der Nonkonformität verändert sich durch seine Abgrenzung und damit auch durch seine Relation zu einem Gegenüber immer wieder in seiner Form, jedoch nicht in seiner Logik, da die Logik der Abgrenzung weitestgehend die gleiche bleibt. Dass sich die Praxis der Nonkonformität jedoch nicht nur in ihrer Form, sondern auch in ihrer Logik grundlegend wandeln kann, konnte rekonstruiert und in der Phasentypik dargestellt werden. Wie schon in den Einzelfalldarstellungen zuvor, soll im folgenden Kapitel nun nochmals auf die Ebene der semantischen Formen der Interviews gewechselt werden, um so zu ver-
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deutlichen, wie sich die rekonstruierten Wandlungsprozesse nicht nur in den fallübergreifenden Phasen, sondern auch in unterschiedlichen modi operandi von Erzählungen, Beschreibungen und Argumentationen dokumentieren lassen.
5.6. Der Wandel des modus operandi der Nonkonformität vor dem Hintergrund der Semantischen Form der Interviews In Kapitel 5.1 wurde auf die semantische Form der Interviews eingegangen. Im Fokus stand hier die Rekonstruktion eines modus operandi der Nonkonformität, der sich in den drei Interviews mal in der Form einer antagonistischen, mal in der Form einer subversiven Nonkonformität zeigte. Vor dem Hintergrund der fallübergreifend rekonstruierten Phasentypik lassen sich bei den drei unterschiedlichen Fällen anhand der semantischen Form der Interviews Wandlungsprozesse auch jenseits der Phasen aufzeigen. Zwei Merkmale zeichnen sich dabei ab. Zum einen deutet sich in allen drei Interviews eine Di¤erenzierung in der Semantik zwischen unterschiedlichen Lebensphasen an, welche andererseits auch auf den Wandel eines nonkonformen Habitus zu einem nonkonform-flexiblen Habitus verweist. Während bei den Erzählungen, Beschreibungen und Argumentationen über die Kindheit und Jugend für alle drei Akteure Erzählungen 24 über ihr experimentelles Generieren von neuen Erfahrungen im Vordergrund stehen, wandelt sich die Semantik, wenn es zu den Erzählungen des frühen Erwachsenenalters kommt. Zwar spielt in den Erzählungen des frühen Erwachsenenalters das experimentelle Generieren von neuen Erfahrungen immer noch eine Rolle, die Erzählungen werden jedoch in allen drei Interviews nun stark von einer Orientierung an Zukünftigkeit überlagert. Erfahrungen werden nicht, wie in der Kindheit und Jugend, vor dem Hintergrund einer weitestgehenden Einklammerung von Zu-
24 Im Folgenden wird, wie auch schon zuvor, der Begri¤ der Erzählungen nicht für die Di¤erenzierung einer Textsortentrennung gebraucht. Der Begri¤ der Erzählung bezieht sich in diesem Sinne auch auf Textsorten der Beschreibung und Argumentation.
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kunft gemacht, sondern sie werden nun auch durch eine sich auf unterschiedliche Kapitalformen beziehende Verwertungsrationalität bewertet. Einige Stellen seien im Folgenden nochmals hervorgehoben: Herrn Behrend geht es in seiner Jugend vor allem um das Erleben von „aufregenden“ Erfahrungen, beispielsweise durch das verbotene Gra¤itimalen oder das Feiern und den damit verbundenen Drogenkonsum. Dabei werden Abwägungen über die Zukunft weitestgehend eingeklammert. Zwar hat Herr Behrend Angst, dass seine Eltern von seinen subkulturellen Aktivitäten erfahren, jedoch ist die Angst dabei nicht auf zukünftige, sondern auf gegenwärtige Sanktionen gerichtet. Dies ändert sich bei Herrn Behrend im frühen Erwachsenenalter. Die Erzählungen, Beschreibungen und Argumentationen, etwa über das Netzkunstprojekt und auch über soziale Kontakte zur Subkultur, sind immer noch geprägt von einer experimentellen Generierung von neuen Erfahrungen; jedoch tritt nun eine Orientierung an Zukünftigkeit hinzu. In den Erzählungen spielen jetzt immer auch Reflexionen über kapitalökonomische Abwägungen eine Rolle. Beispielsweise wird das Netzkunstprojekt von Beginn an von der Ho¤nung mitgetragen, damit auch innerhalb der akademischen Institution kulturelle Kapitalformen akquirieren zu können. Später überlegt Herr Behrend dann, inwieweit er genug soziales Kapital innerhalb der Netzkunstbewegung hat, um daraus eine berufsbiographische Perspektive zu generieren. Nach der Geburt seiner Tochter reflektiert er, wie er sein kulturelles Kapital am besten einsetzen und erweitern kann, um es dann in ökonomisches Kapital transferieren zu können. Die weiterhin auch nonkonform strukturierten Distanzierungsversuche verlaufen nun nicht mehr nur aktionistisch, sondern sie werden durch eine kapitalökonomische Verwertungsrationalität mitstrukturiert. Dies zeigt sich auch in den Fällen von Herrn Christophsen und Herrn Walters. Die nonkonformen Distanzierungsversuche der Kindheit und der Jugend stehen bei ihnen immer auch im Fokus einer experimentellen Erfahrungsgenerierung. Herr Christophsen möchte mit seinen Freunden während des Fernbleibens von der Schule „Abenteuer“ erleben. Dabei akkumuliert er, wie auch später bei seinen Engagements in der ostdeutschen Punk- und Künstlerszene, zwar soziales und vermutlich auch kulturelles Kapital; diese Kapitalformen werden jedoch nicht für andere soziale Raumanschlüsse genutzt. Und auch für Herrn Walters steht bei den Erzählungen, Argumentationen und Beschreibungen der Kindheit
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und der Jugend vor allem die experimentelle Generierung von neuen Erfahrungen im Vordergrund, sei es beim „Rumstreifen durch den Wald“ oder beim Engagement in einer Theatergruppe während der Schulzeit. Wie bei den anderen Akteuren werden die Handlungen dabei nicht vor dem Hintergrund von Zukünftigkeit reflektiert; das gegenwärtige Erleben steht im Vordergrund. Auch bei Herrn Christophsen und Herrn Walters ändert sich die semantische Form mit den Ausführungen zum frühen Erwachsenenalter. Es treten nun verstärkt Abwägungen über Zukünftigkeit in den Vordergrund. Bei Herrn Christophsen setzen diese Reflexionen mit seinem Wunsch nach einem akademischen Studium und verstärkt dann mit der Familiengründung ein. Es treten nun in verstärktem Maße ökonomische Kapitalreflexionen in den Fokus. Auch vor dem Hintergrund der Wende verändert sich die Struktur seiner sozialen Raumzugehörigkeiten so sehr, dass Herr Christophsen sein ökonomisches Einkommen nicht mehr allein durch seine Aktivitäten in der ostdeutschen Subkultur bestreiten kann. Verkaufte er zuvor Schallplatten, gibt er nun an, für ein entsprechendes Auskommen im Westen Drogen verkaufen zu müssen. Auch die Erzählungen über das Engagement in dem Netzkunstprojekt sind bei Herrn Christophsen maßgeblich durch kapitalökonomische Motive strukturiert. Neben seinen ökonomischen Einkünften als Projektleiter verspricht sich Herr Christophsen, ebenso wie Herr Walters, eine institutionelle Anbindung an die Universität. Beide wollen damit akkumulierte Bestände von sozialem und kulturellem Kapital in institutionelle und ökonomische Kapitalformen transferieren. Als die universitäre Anbindung des Projektes scheitert, ist Herr Walters so enttäuscht, dass er sein Studium beendet. Die fehlende universitäre Anerkennung seiner Kapitalakkumulationen deutet er als Missachtung. Er kann mit dem Studium „nischt mehr anfangen“. In Selbstreflexionen über seine sozialen Zugehörigkeiten konstatiert Herr Walters, dass er immer wieder Projekte angefangen, jedoch damit „nix so wirklich aufgebaut hat“. Die fehlende Möglichkeit, seine bisherigen Kapitalakkumulationen konstant in ökonomische Kapitalgewinne zu transferieren, frustriert ihn. Er wünscht sich eine „Auszeit“, um zu überlegen, welche Möglichkeiten zur besseren Verwertung seiner Kapitalakkumulationen er nun besitzt.
EMPIRISCHE REKONSTRUKTIONEN VON BILDUNGSPROZESSEN
In den fallübergreifenden komparativen Sequenzanalysen zeigt sich, dass sich auch auf der semantischen Ebene der Interviews Spuren von Wandlungsprozessen abzeichnen. Während in der Kindheit und Jugend das experimentelle Generieren von Erfahrungen, vornehmlich durch nonkonforme Distanzierungsprozesse, im Vordergrund stand, tritt im frühen Erwachsenenalter ein modus operandi einer auf Zukunft gerichteten Kapitalverwertung hinzu. Die nonkonformen Distanzierungs- und Neuerfindungsprozesse verlaufen nicht mehr nur aktionistisch, sondern beziehen auch ein kritisch-rationales Moment mit ein. Erfahrungszusammenhänge werden nun auch vor dem Hintergrund ihrer kapitalökonomischen Einbindung reflektiert. Die beiden Orientierungen einer experimentellen Generierung von neuen Erfahrungen und einer auf Zukunft gerichteten Nutzenabwägung verbinden sich dabei zu Prozessen der Selbstmobilisierung und des auf Dauer gestellten Sich-selbst-neu-Erfindens. Durch einen experimentellen Selbstbezug werden damit Prozesse einer sich immer wieder neu vollziehenden biographischen Suchbewegung dauerhaft gestellt. Der Habitus wandelt sich in den einzelnen Biographien von Herrn Behrend, Herrn Christophsen und Herrn Walters damit von einem nonkonformen zu einem nonkonform-flexiblen Habitus. Wie diese Wandlungsprozesse der Nonkonformität auch in soziale Wandlungsprozesse eingefasst sind, die sich jenseits von Akteurskonstruktionen vollziehen, sollen die folgenden Feldrekonstruktionen zeigen (vgl. Kapitel 6). Dabei wird, wie in Kapitel 4.5 methodologisch plausibilisiert, auf Diskursanalysen zurückgegri¤en, um die biographischen Rekonstruktionen an eine empirisch gehaltvolle Gesellschaftsanalyse anzuschließen.
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6. Feldrekonstruktion innerhalb der Praxisform der Nonkonformität
Für die nonkonforme Logik der Praxis sind die Abgrenzung und die Kritik von Normierungspraktiken zentrale Auseinandersetzungspunkte. In der Folge soll es deshalb darum gehen, den gesellschaftlichen Wandel von Normierungspraktiken nachzuvollziehen, um so dann auch die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstandenen nonkonformen Kritikformen an Normierungspraktiken verstehen zu können. Die leitende These wird dabei sein, dass sich die rekonstruierten biographischen Wandlungsprozesse der nonkonformen Praxis in einen gesellschaftlichen Wandlungsprozess einfügen, in dem die nonkonformen Kritikformen an Normierungspraktiken zu einer Ausbildung von spezifischen Praxisund Feldformen der Flexibilisierung führen. Vor diesem Hintergrund erscheint das für die Akteure wichtige Netzkunstprojekt auch als ein Ausdruck von postbürokratischen Organisations- und Arbeitspraktiken. Diesem Argumentationsgang folgend, wird zunächst die Entstehung von Praktiken der Normierung im 18. und 19. Jahrhundert skizziert (6.1), um dann die massenwirksame Durchsetzung dieser Normierungspraktiken vor allem im Feld der fordistischen Arbeits- und Organisationspraktiken in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu beschreiben (6.2). Daran anschließend soll dargestellt werden, wie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts aus einer auch für die beschriebenen Fälle relevanten Form der nonkonformen Kritik neue postbürokratische Arbeits- und Organisationsformen entstehen, die auch für das Feld des Netzkunstprojektes relevant sind (6.3).
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6.1. 18. und 19. Jahrhundert: Die Entwicklung von Praktiken der Normierung Im 18. und 19. Jahrhundert bilden sich in den Institutionen des Militärs, des Gefängnisses und der Schule neue Formen von modernen Normierungspraktiken aus, welche für die massenhafte Durchsetzung fordistischer Arbeits- und Organisationspraktiken zu Beginn des 20. Jahrhunderts Vorbildcharakter haben. Gerade die Arbeit Michel Foucaults zum Thema Überwachen und Strafen zeigt, wie durch Arrangements des Körpers, der Zeit und des Raumes spezifische Normierungspraktiken entstehen. Die von Foucault gewählten Untersuchungsgegenstände von normierenden Institutionen des 18. und 19. Jahrhunderts stellen „Versuchsgelände für die regulatorischen Praktiken dar, die sich erst wesentlich später voll entwickeln“ (Fraser 2003, S. 244) und die im Fordismus1 zu ihrem Höhepunkt gelangen. In der Folge sollen deshalb mit Foucault die Anfänge der für den Fordismus prägenden Normierungspraktiken rekonstruiert werden. Foucault geht bei seinen historischen Diskursanalysen von Alltagspraktiken aus. Im Alltäglichen findet Foucault einen Kristallisationspunkt, in dem sich die Machtmechanismen der Moderne sehr viel klarer ausdrücken als in den großen Ereignissen einer Epoche. Für die Analysen des Gefängnisses, der Schule und des Militärs rekonstruiert Foucault disziplinierende diskursive und nicht-diskursive Praktiken der Macht, die auch für die beschriebenen fordistischen Praktiken konstitutiv sind. Disziplinierende Machtformen, wie Foucault sie untersucht, wirken unauffällig, schleichend und im Gegensatz zur Macht eines alleinigen Souveräns ohne physische Gewalt, weshalb sie sehr viel ökonomischer sein können. Im 18. und 19. Jahrhundert entsteht eine neue Form der Macht, die Nancy Fraser (1994, S. 70) als „still und unspektakulär und gleichwohl kontinuierlich, durchdringend und allgegenwärtig“ bezeichnet. Die
Auf die hier als fordistisch gekennzeichneten Praktiken der Arbeit und der Organisation, welche für weite Teile Westeuropas und Nordamerikas charakteristisch für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts sind, wird in Kapitel 5.6.2 eingegangen. Vorgreifend sei an dieser Stelle der Begri¤ des Fordismus als Ausdruck für eine Phase der Industrialisierung angeführt, die vor allem durch Formen der Massenproduktion und, damit einhergehend, durch Möglichkeiten des Massenkonsums geprägt war.
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FELDREKONSTRUKTION INNERHALB DER PRAXISFORM DER NONKONFORMITÄT
so beschriebene Machtform „hat kein leicht identifizierbares Zentrum, sondern ist ‚kapillar‘“ (Fraser 1994, S. 70). Bei der Ausbildung kapillarer Formen der Macht im 18. und 19. Jahrhundert – und später auch im Fordismus des 20. Jahrhunderts – geht es nach Foucault (1977, S. 283) zentral um die „Überholung der traditionellen, rituellen, kostspieligen, gewaltsamen Machtformen“. Es geht also um den Wandel von einer durch Autorität abschreckenden zu einer disziplinierend-normalisierenden Machtform. Anschlussfähig für das Verständnis der fordistischen Normierungspraktiken erscheinen vor allem Foucaults Analysen der Disziplinierung des Körpers. Nach Foucault rückt der Körper im 18. Jahrhundert verstärkt in den Fokus der Aufmerksamkeit. Er führt aus: „Im Laufe des klassischen Zeitalters spielt sich die Entdeckung des Körpers als Gegenstand und Zielscheibe der Macht ab. Die Zeichen für jene große Aufmerksamkeit, die damals dem Körper geschenkt wurde, sind leicht zu finden. Die Aufmerksamkeit galt dem Körper, den man manipuliert, formiert und dressiert, der gehorcht, antwortet, gewandt wird und dessen Kräfte sich mehren.“ (Foucault 1977, S. 174)
Für Foucault geht es um praktische Wissensformen der Belehrung, Unterwerfung, Nutzung, Umformung und Vervollkommnung des Körpers. Die Zugri¤e und Techniken auf den Körper beziehen sich im 18. Jahrhundert, anders als im 17. Jahrhundert, nicht auf die Masse des Körpers, sondern es geht darum, „ihn im Detail zu bearbeiten. Auf ihn einen fein abgestimmten Zwang auszuüben“ (Foucault 1977, S. 175), bis ins Kleinste zu gehen, in die Bewegungen, Gesten und Haltungen. Dabei sollen die Kräfte des Körpers weniger klein als produktiv gehalten werden. Macht erscheint so nicht mehr nur als repressiv, sondern vor allem auch als produktiv.2 Zentral für die Besetzung des Körpers durch eine Mikrophysik der Macht wird die Praktik der Übung, in der weniger das Resultat und die Zeit als vielmehr der Vorgang der Tätigkeit selbst mit der „peinlichen Kontrolle der Körpertätigkeit“ im Vordergrund steht (Foucault 1977, S. 175).3 Die Eleganz dieser Disziplinartechnik besteht gerade darin, 2
Vgl. hierzu auch zentral Foucault 1983.
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Hierzu auch Menke 2003.
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dass sie auf eine fundamentale Besitzergreifung im Sinne des Körpers als Eigentum eines Machtinhabers verzichtet und gleichzeitig trotzdem Nützlichkeitse¤ekte durch Habitualisierung erzielt. Es entsteht eine „Kunst des menschlichen Körpers“, die „nicht bloß die Vertiefung seiner Unterwerfung im Auge hat, sondern die Scha¤ung eines Verhältnisses, das in einem einzigen Mechanismus den Körper umso gefügiger macht, je nützlicher er ist und umgekehrt“ (Foucault 1977, S. 176). Hierin sieht Foucault eine zweifache Funktion: die Kraft des Körpers wird gesteigert, und gleichzeitig wird er politisch fügsam gemacht. Es kommt zu einer politischen Besetzung des Körpers, die sich in Kleinigkeiten äußert. Es geht um eine Form der stillen Pädagogik, die auch für die habitustheoretischen Arbeiten Bourdieus und sein Konzept der Inkorporierung wichtig ist. So schreibt Foucault (1977, S. 179), im „Detail fügen sich alle Kleinlichkeiten der christlichen Erziehung, der Schul- oder Militärpädagogik und schließlich alle Formen der Dressur ohne weiteres ein“. Hier handelt es sich um eine „Disziplin des Details“, deren Ausdruck der „kleinliche Blick der Inspektion“ und „die Kontrolle über die kleinsten Parzellen des Lebens und des Körpers“ sind (Foucault 1977, S. 179 ¤.). Während sich die Praktiken der Normalisierung in Bezug auf eine Besetzung des Körpers zunächst noch weitestgehend auf die pädagogischen, militärischen und strafrechtlichen Institutionen des 18. und 19. Jahrhunderts beschränken, kommt es zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch die Industrialisierung des Fordismus zu einer massenwirksamen Durchsetzung dieser Praktiken. In diesem Sinne können die genannten Institutionen als Experimentierfelder gesehen werden, in denen ein Wissen über Regierungsformen des Körpers und die Verteilung der Masse generiert wurde, welche dann zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine starke Verbreitung erfährt.
6.2. Erste Hälfte des 20. Jahrhunderts: Die Durchsetzung von Normierungspraktiken Im Feld der fordistischen Arbeits- und Organisationspraktiken Die Normierungspraktiken, die im 18. und 19. Jahrhundert zunächst in den partiellen Institutionen des Militärs und des Gefängnisses sowie teilweise in den pädagogischen Institutionen entstehen, breiten sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts weiter aus und erhalten nach dem Zweiten
FELDREKONSTRUKTION INNERHALB DER PRAXISFORM DER NONKONFORMITÄT
Weltkrieg ihre entscheidende Durchschlagskraft in einer tayloristischen Massenproduktionsweise. Zu diesem Zeitpunkt setzen sich in Westeuropa und in Nordamerika im Zuge einer zweiten Industrialisierungswelle Arbeits- und Organisationsformen durch, welche, in Anlehnung an die von Henry Ford eingeführten Arbeits- und Produktionsverhältnisse, unter dem Stichwort des Fordismus firmieren. Wie Volker Wittke (1996, S. 67 f.) ausführt, hatte „die erste industrielle Revolution die Entstehung des freien Lohnarbeiters als industriellen Produzenten zum Ergebnis“, während „die zweite industrielle Revolution auf der massenhaften Verbreitung von Konsumenten industriell erzeugter Güter“ aufbaut. Es geht um die Entstehung „neuer tayloristisch-fordistischer Organisationsformen“ (Wittke 1996, S. 68), die sich mit der vorherigen Rekonstruktion von Foucault historisch relationieren lassen. Nach Joachim Hirsch und Roland Roth (1986, S. 50) kommt es hierbei zu einer „neuen Arbeitsorganisation, die auf einer weitgehenden Präzisierung und Standardisierung der Produktkomponenten, der ‚wissenschaftlichen‘ Zerlegung des Arbeitsprozesses, der Anwendung neuer Transfersysteme, einer extremen Vertiefung der Arbeitsteilung und der weitgehenden Dequalifizierung der Produktionsarbeiter zugunsten des Managements beruht“. Auf diesen Prozess der Ausbreitung von Massenproduktionen Bezug nehmend schreiben Michael J. Piore und Charles F. Sadel (1984, S. 28 f.): „Ein Industriezweig nach dem anderen geriet unter die Kontrolle gigantischer Unternehmen, die sich spezialisierter Maschinenparks bedienten, um eine bis dahin unvorstellbare Menge von standardisierten Waren zu Preisen auszustoßen, bei denen lokale Produzenten nicht mithalten konnten. Als Ford 1913 in seiner Niederlassung in Highland Park (Michigan) sein Modell T vom Band rollen ließ, war das der Höhepunkt einer hundertjährigen Erfahrung mit Massenproduktion: die Maschinerie zur Herstellung der einzelnen Teile war so präzise aufeinander abgestimmt, dass sich eine abschließende Überarbeitung von Hand erübrigte, und die Maschinen waren dabei so einfach zu bedienen, dass selbst einer, der gestern noch Bauer war, mit ihnen umgehen konnte; und die Endmontage des Produktes [...] erforderte kein traditionell handwerkliches Können mehr, sondern nur noch die Bedienung handwerklicher Maschinen – die die Ingenieure hinter vorgehaltener Hand ‚Bauerngerät‘ nannten“. So kommt es zu einer Umstellung von handwerklich, bäuerlich oder traditionell produzierten zu industriell hochgradig arbeitsteilig hergestellten Konsumgütern (vgl. Wittke 1996, S. 68). Die zuvor unter Bezug auf die Studien
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von Foucault rekonstruierten Formen der Normierung durch Schematisierung, Temporalisierung, Parzellierung und Hierarchisierung erhalten nun eine breitenwirksame Durchschlagskraft im Feld der Arbeit. Hirsch (2005, S. 116) führt zu den fordistischen Arbeitspraktiken aus: „Die Zerlegung, zentrale Vorbereitung und Kontrolle der Arbeitsschritte diente der Verdrängung handwerklich qualifizierter Beschäftigter durch unqualifizierte FließbandarbeiterInnen. Die gesellschaftliche Trennung von Hand- und Kopfarbeit wurde damit erheblich verändert, und dies führte zu einer starken Rationalisierung und Arbeitsintensivierung.“
Die Ordnungs- und Normierungspraktiken der Masse verbinden sich im 20. Jahrhundert mit dem schon beschriebenen Produktionsapparat. Dabei ist nicht von einer Vorgängigkeit der Normierungspraktiken gegenüber dem Produktionsapparat auszugehen oder umgekehrt, vielmehr bedingen sich die Normierungs- und Produktionsmechanismen und greifen ineinander. Lemke (1997, S. 74) führt aus: „Das Problem der Anhäufung von Menschen wäre nicht zu lösen gewesen ohne die Entwicklung eines Produktionsapparates, der diese Menschen nutzbar macht und erhält; umgekehrt ist die Akkumulation von Kapital an Produktionstechniken und Arbeitsformen gebunden, denen es gelingt, eine Vielzahl von Menschen profitabel einzusetzen.“
Mit der fordistischen Industrialisierung findet eine „Standardisierung und Normalisierung der Arbeitsverhältnisse“ (Hirsch 1990, S. 102) statt. Zielen die von Foucault (1977, S. 175) beschriebenen Disziplinartechniken des 18. und 19. Jahrhunderts auf einen Körper, der „vervollkommnet werden kann“, so kann im Feld des Fordismus des 20. Jahrhunderts, der auch „durch Arbeitsdisziplin, Verhaltensstandardisierung“ gekennzeichnet ist, eine „Emanzipation durch Lohnarbeit“ entdeckt werden (Roth 1990, S. 103). Anders als im 18. und 19. Jahrhundert gehen die Prozesse einer produzierenden Disziplinierung jedoch nicht mit einer Pauperisierung einher, vielmehr kommt es zu einer neuen ökonomischen Struktur. Die am Beispiel der Institutionen des Militärs, der Schule und des Gefängnisses beschriebenen Techniken der Normierung führen als Rationalisierungspraktiken zu einer Intensivierung der Arbeitsprozesse und zu ei-
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ner enormen Steigerung der Produktivität. Innovativ erscheint nun, dass es im Feld des Fordismus trotz der Dequalifizierung der Arbeit zu einer Steigerung des relativen Lohnniveaus und zu einem Ausbau der Freizeit kommt. Die gesteigerten ökonomischen und zeitlichen Möglichkeiten verbinden sich mit dem Ausbau des Konsums von kommerziell produzierten Dienstleistungen (vgl. Hirsch/Roth 1984, S. 59). Hirsch (2005, S. 116) erläutert: „Die Arbeitsproduktivität stieg enorm an, und dies wiederum begründete ein vergleichsweise starkes und beständiges ökonomisches Wachstum. Dadurch wurden beträchtliche Lohnsteigerungen möglich, die die Grundlage des sich entwickelnden Massenkonsums bildeten.“
Es entsteht eine neue breite Mittelschicht, welche die Grundlage für die wachsende Konsumgüterindustrie bildet. Während die Zahl der Lohnabhängigen (Arbeiter, Angestellte, Beamte) ständig steigt, sinkt die Anzahl der Selbstständigen innerhalb der Mittelschichten, die sich bis zum Ende des 19. Jahrhunderts vor allem aus der Landwirtschaft rekrutiert (vgl. Hirsch/Roth 1984, S. 54). Hauswirtschaftliche, kleinbäuerliche und handwerkliche Produktionsformen können sich gegen die industriellen Massenproduktionen immer weniger behaupten und gehen nach und nach unter (vgl. Hirsch 1995, S. 76). Hirsch und Roth (1984, S. 54) führen aus: „Die ‚neue Mittelklasse‘ der Angestellten und Beamten gewann deshalb schon aus Gründen ihres Größenwachstums an gesellschaftlichem Gewicht.“ Die gesellschaftlichen Lebensweisen verändern sich im Praxisfeld des Fordismus „vor allem in den Dimensionen ‚Mobilität‘, ‚Reproduktion‘ und ‚Freizeit‘“ (Wittke 1996, S. 69). Die vormals prägenden ökonomischen Klassenunterschiede zwischen Arbeiterschaft und Bürgerlichkeit befinden sich in einem Prozess der zunehmenden Nivellierung. Es wurde ein „Traum immerwährender Prosperität“ (Lutz 1984) geträumt; „der allmähliche Ausgleich der Klassenunterschiede schien Wirklichkeit zu werden“ (Hirsch 2005, S. 116). Die Familienstrukturen änderten sich. Die Kleinfamilie wird nach dem Zweiten Weltkrieg und bis in die 1970er Jahre hinein in den Großstädten zu einer dominierenden Lebens- und Beziehungsform. Auch Hirsch und Roth (1984, S. 56) sehen in der Familie eine zentrale Schnittstelle für die Ausbildung fordistischer Praxiskomplexe: „Die bürgerliche Kleinfamilie hielt Einzug in die Arbeiterklasse und begann als Soziali-
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sationsagentur zu fungieren, die die vom tayloristischen Arbeitsprozess geforderten Triebunterdrückungs-, Verzichts- und Normalisierungstugenden vermittelt.“ Eine ähnliche These vertritt auch Norbert Elias (1979, Bd. 1, S. 260), wenn er über den Zusammenhang von normierender Triebunterdrückung und Kleinfamilie schreibt: „Je größer die Umformung, die Regelung, die Zurück- und Geheimhaltung des Trieblebens ist, die das gesellschaftliche Leben von den einzelnen verlangt, und je schwieriger dementsprechend die Konditionierung der Heranwachsenden wird, desto stärker konzentriert sich die Aufgabe der ersten Züchtung dieser gesellschaftlich notwendigen Triebgewohnheiten im intimen Zirkel der Kleinfamilie.“
Durch die Herauslösung aus traditionellen Sozialverbänden stieg das Maß an zu leistender Risikobewältigung, welche teilweise durch einen sich immer weiter konstituierenden Wohlfahrtsstaat getragen wurde. Hirsch (2005, S. 118) führt aus: „Das Verschwinden traditioneller Produktions- und Lebensweisen, die Verallgemeinerung des Lohnverhältnisses und die Veränderungen der Familienformen brachten massenhaft soziale Risiken – etwa bei Krankheit, Arbeitslosigkeit und Alter – mit sich, die kollektive soziale Schutzmaßnahmen notwendiger machten. Zumindest in den kapitalistischen Metropolen, und das auch in sehr unterschiedlichem Ausmaß, gelang es den Organisationen der Arbeiterbewegung, den Ausbau des Sozialstaates voranzutreiben.“
Es entstanden gesellschaftliche Großorganisationen, ein in weite gesellschaftliche Bereiche intervenierender Staat, bürokratische Massenparteien, Gewerkschaften, Unternehmer-, Bauern-, Ärzte- und sonstige Interessenverbände (vgl. Hirsch 2005, S. 119). Die Anfälligkeit der hoch arbeitsteilig angelegten Produktionsprozesse (beispielsweise durch Streiks und Sabotage) führt zu einer zunehmenden Verrechtlichung der „Arbeitsbeziehungen durch Einbeziehung der Gewerkschaften in staatlich organisierte und kooperativistisch strukturierte Verhandlungs- und Entscheidungsgremien“ (Hirsch 1986, S. 70). Eine Ausbreitung von Sozialpolitik findet statt mit dem Ziel, „Arbeitslosigkeit, Arbeitsunfähigkeit, Krankheit, Verwahrlosung, Absentismus, ‚Leistungsverweigerung‘, fehlende oder falsche Qualifikation u. a. m.“ (Hirsch 1986, S. 77) zu ver-
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hindern. Statt durch einen äußeren Zwang erfolgt „Normalisierung/Einpassung der Individuen in die bürgerlichen Verkehrsformen“ nun durch sozial- und wohlfahrtsstaatliche Hilfsleistungen (Hirsch 1986, S. 78). Durch soziale Sicherheitsmaßnahmen kommt es zu einem „passiven Einbau der Arbeiterklasse in den Staat“ (Hirsch 1990, S. 102). Betrachtet man die Feldrekonstruktion eines auf Normalisierung und Disziplinierung abstellenden Institutionsapparates der Familie, der Schule und des Staates, so wird deutlich, dass der Ungehorsam des nonkonformen Habitus sich auch gegen Formen der Autorität und der Hierarchisierung richtet. Die in der subversiven Form eher versteckt, in der antagonistischen Form jedoch o¤en ausgetragene Ablehnung von Hierarchie und Autorität zeigt sich in allen drei dargestellten Fällen: in Niklas Behrends Ablehnung der Familienordnung; in Pierre Walters’ Abgrenzung gegenüber den Normalitätserwartungen seiner Familie bezüglich Regionalität, Mobilität und Sexualität; in Sebastian Christophsens Ablehnungshaltung gegenüber pädagogischen und staatlichen Institutionen, die ihn auf spezifische Arbeitsweisen festlegen wollen. In allen drei Biographien finden sich Spuren der Ablehnung von Hierarchie, Konformität und Autorität. Ähnliche Motive sind auch in der Fordismuskritik enthalten, die infolge einer ersten fordistischen Krise Mitte der 1960er Jahre an Einfluss gewinnt.
6.3. Zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts: Die Kritikformen der Nonkonformität und das Entstehen von postbürokratischen Arbeits- und Organisationspraktiken Ende der 1960er Jahre kommt es in den Feldern der „organisierten Moderne“, die Reckwitz auch als „Angestelltenkultur“ kennzeichnet (Reckwitz 2006, S. 445), zu einer Krise, die sich vor allem in politischen, ökonomischen und soziokulturellen Spannungslagen äußert und die massive Auswirkungen auf Teile der fordistischen Arbeits- und Organisationspraktiken sowie die damit zusammenhängenden Normierungspraktiken hat. Peter Wagner (1995, S. 186) geht von einer Krise einer „organisierten Moderne als Konventionalisierung sozialer Praktiken“ aus, die zu Prozessen der „Dekonventionalisierung“ führt. Auf der ökonomischen Ebene kommen die mit den tayloristischen Rationalisierungsprozessen freige-
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legten Produktivitätsreserven und die damit kontinuierlich steigenden relativen Mehrwertraten immer weiter zum Erliegen (vgl. Hirsch/Roth 1985, S. 79 f.). Dies bringt auch auf der politischen Ebene Probleme mit sich: „Abnehmende Wachstumsraten und eine steigende Staatsverschuldung führten zu der für den Fordismus charakteristischen Verbindung von Stagnation und Inflation. [...] Die enge Verbindung von Massenkonsum, Sozialstaat und Akkumulation, die das goldene Zeitalter des Fordismus gekennzeichnet hatten, zerbrach.“ (Hirsch 2005, S. 125) Es findet eine umfassende Krise der Produktivität statt (vgl. Hirsch/Roth 1985, S. 80). Einen einschneidenden ökonomisch-politischen Ausdruck findet die organisierte Moderne in der Ölkrise Mitte der 1970er Jahre. HeinzGünther Vester (1993, S. 113) führt aus: „Die Schockwirkung der so genannten Ölkrise, die Führungsschwäche der USA, der relative Niedergang des Dollars gipfeln in dem Gefühl, dass die Weltwirtschaft nicht grenzenlos wachsen kann. [...] Die Interventionspolitik des Keynesianismus will nicht mehr recht greifen, der Wohlfahrtsstaat erscheint nicht mehr finanzierbar.“
Auch auf der soziokulturellen Ebene kommt es zu Spannungslagen. Soziale Bewegungen üben zunehmend Kritik an den normierenden Praktiken der fordistisch organisierten Moderne; es kommt zu einem „Zerbröseln des ideologischen Kitts“ (Hirsch 2005, S. 129). Hierzu führt Hirsch (2005, S. 129) aus: „Der durch Bürokratisierung, Reglementierung und Normierung gekennzeichnete ‚Sicherheitsstaat‘, der auf standardisierten Warenkonsum gegründete Wohlstand, die ausufernde Ressourcenverschwendung und Naturzerstörung sowie die fordistisch – durch wachsende Frauenerwerbstätigkeit und Kleinfamiliarisierung – modifizierte Form patriarchaler Herrschaft wurden Ziel einer wachsenden Kritik, die in einem allgemeinen ‚Wertewandel‘ und in den sich seit dem Ende der 1960er Jahre herausbildenden ‚neuen sozialen Bewegungen‘ ihren Ausdruck fand.“
Die politischen, ökonomischen und kulturellen Schwierigkeiten führten zu einem sozialen Wandel, der auf der ökonomischen Ebene mit Hirsch und Roth (1985, S. 88) als eine „durch Internationalisierung und Produktion gekennzeichnete Umstrukturierung des Weltmarktes“ bezeichnet werden kann, der auf der politischen Ebene zu einem Umbau des
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Wohlfahrtsstaates bis hin zu einer Verabschiedung des Nationalstaates führt (Habermas) und der soziokulturell mit dem Phänomen der Individualisierung (Beck) einhergeht. Es entstehen multinational agierende Großkonzerne, politisch wie auch militärisch agierende internationale Staatengemeinschaften, staatenübergreifend operierende nicht-staatliche Organisationen, beispielsweise für medizinische Versorgung, Umweltschutz und den Einsatz für Menschenrechte; gleichzeitig kommt es zu Auflösungs- und Umstrukturierungsprozessen vorheriger Sozialdimensionen wie Klasse, Milieu, Generation oder Geschlecht. Der somit auf unterschiedlichen Ebenen Mitte der 1970er Jahre beginnende soziale Wandlungsprozess führt, wie mehrfach angedeutet, zu neuen Formen der Kritik an Normierungspraktiken und, damit einhergehend, auch zu neuen Formen von Arbeits- und Organisationspraktiken. Innerhalb der Ökonomie werden die sich wandelnden Arbeits- und Organisationsformen mit einem weiteren Industrialisierungsschub in Verbindung gebracht, welcher maßgeblich durch die neue Technologie des Computers bestimmt ist. In dieser Phase entstehen neue Arbeits- und Organisationspraktiken, die sich vor allem auf eine „‚Flexibilisierung‘ von Mensch und Maschine“ beziehen (Hirsch/Roth 1985, S. 106). Durch computergestützte Maschinen werden neue Produktivitäts- und Rationalisierungspotenziale erschlossen. Der Vorteil gegenüber dem vorherigen Produktionsapparat bestand darin, dass die Fertigungsprozessinformationen einer computergestützten Maschine nun austauschbar wurden. Eine Maschine war nicht mehr nur für die Fertigung eines Produktes nutzbar, sondern konnte durch die Trennung von Maschinensoftware und Maschinenhardware auch schnell und flexibel auf unterschiedliche Produktfertigungsprozesse umgestellt werden. Durch diesen Flexibilisierungsprozess konnten nun auch kleinere Stückzahlen rentabel maschinell produziert werden. Ohne die vorherigen Produktionsformen völlig aufzugeben, führten die neu entstehenden Flexibilisierungsprozesse bei der Fertigung in einigen Wirtschaftssektoren zu einer „dramatischen Verbesserung des Niveaus der Produktivität“ (Hirsch/Roth 1985, S. 107). Gleichzeitig wurde es möglich, „auf schnell wechselnde Marktanforderungen einzugehen, neue Märkte zu testen oder in Marktnischen einzudringen, ohne die Kostenvorteile der Automation preisgeben zu müssen“ (Hirsch/Roth 1985, S. 108). Während der Anteil lebendiger Arbeit im Produktionsprozess sinkt, erhöht sich „die Arbeit der Apparate und Automaten“ (Weimann 1991,
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S. 10). Damit steigt der Wert von qualifizierter Arbeit wieder. Die Ressource des Wissens bekommt gegenüber der Ressource der Arbeit ein steigendes Gewicht. Nico Stehr (2000, S. 55, 64) geht von einer Ablösung der „Arbeitsgesellschaft“ durch eine „Wissensgesellschaft“ aus, in der „Wissen zum Motor und zur führenden Größe im Produktionsprozess wird“. Die Wandlungsprozesse im Feld der Arbeit lassen neue Organisationsformen entstehen. Beispielsweise werden ganze Teilarbeitsbereiche einer Produktion von Firmen ausgelagert, sodass sich völlig neue Zusammenschlussformen des Produktionsapparates ergeben. Durch die Produktionsumstellungen kommt es auch innerhalb der beruflichen Organisationsformen zu einem strukturellen Wandel, der sich zu Beginn der 1970er Jahre vor allem in Teilen von Großorganisationen ausdrückt, insbesondere in den sich immer weiter ausbreitenden, global agierenden und multinational strukturierten Konzernen. Reckwitz (2006, S. 500) bringt diesen Wandel in Zusammenhang mit dem Entstehen von „post-bürokratische(n) Praktiken der Arbeit“. Ausgehend von nonkonformen Kritikformen, die sich auch in den sozialen Bewegungen seit dem Ende der 1960er Jahre artikulieren, kommt es zu einer Veränderung von bis dahin vorherrschenden hierarchischen Arbeits- und Organisationsstrukturen, „welche einer Logik des ‚Militärischen‘, einer geschlossenen Logik hierarchischer, innovationsfeindlicher Kontrolle“ (Reckwitz 2006, S. 508) folgen. Die Stichwörter der hier neu entstehenden Arbeits- und Organisationskultur heißen „Projektarbeit“, „Selbstorganisation“, „Kreativität“, „Mobilität“ und „Flexibilität“. Hiermit vollzieht sich ein Wandel von einem „Angestelltensubjekt zum kreativ-unternehmerischen Subjekt“ (Reckwitz 2006, S. 501). Konnten für die fordistischen Arbeits- und Organisationsformen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, wie rekonstruiert, die institutionellen Praktiken des Militärs, des Gefängnisses, der Medizin und der Schule als Testfelder für einen neuen Habitus begri¤en werden, so ist für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts der neoliberale Managementdiskurs „eine Art ‚Treibhaus‘ für die Entwicklung [...] [eines (F. v. R.)] neuen zivilisierten Habitus“ (Schultheis 2006, S. IV). Wie die nonkonformen Protestkulturen, so sind auch die neuen Managementdiskurse in dieser Zeit durch ein kritisches Di¤erenzschema von einer als positiv bewerteten „Dynamik“ und einer negativ codierten „Rigidität“ gekennzeichnet (Reckwitz 2006, S. 507). Boltanski und Chiapello (2006) haben in ihrer empirischen Un-
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tersuchung der Managementdiskurse der 1960er bis 1990er Jahre herausgearbeitet, wie gerade in der Projektarbeit neue Formen von postbürokratischen Arbeits- und Organisationsprinzipien entstehen. Reckwitz (2006, S. 510) führt in Bezug auf das kulturell Andere dieser neuen Arbeitsformen und die damit verbundene Abgrenzung aus: „Die Distinktionsfolie des Kreativunternehmers ist das der Kreativität unfähige, inferiore Subjekt der Planungs- und Routinearbeit, aber auch ein Habitus, dem es an der Fähigkeit zur marktförmigen Stilisierung und disziplinierten Selbstentwicklung mangelt.“
Es geht hierbei durch die Inkorporierung von Selbstkontrolle um den Aufbruch von Selbst- und Fremdkontrolle. So entsteht eine Praxisform, die im Anschluss an Foucault als gouvernementale Praxis der Selbstregierung gekennzeichnet werden kann. Mit dem Begri¤ der Gouvernementalität beschreibt Foucault eine Machttechnologie, deren Aufkommen er im 17. Jahrhundert verortet. Die Gouvernementalität stellt eine Kunst des Regierens dar, welche Voraussetzungen zu scha¤en sucht, Individuen Anreize zu geben, sich selbst zu führen (vgl. auch Kapitel 6.5). Hier wird „individuelles Profil statt sozialer Konformität“ prämiert (Reckwitz 2006, S. 510). Es kommt zu einer „Ästhetisierung [...] gegen die Normalisierung“ (Reckwitz 2006, S. 556), die auch für den nonkonformen Habitus der rekonstruierten Biographien entscheidend ist.
6.4. Bezüge zwischen Feld- und Habitusrekonstruktion Technische Voraussetzungen für den Wandel in den Organisationen sind das Aufkommen der Computertechnologie und die damit einhergehenden neuen Möglichkeiten für Arbeits- und Organisationspraktiken. Reckwitz (2006, S. 503) führt aus: „Der Informationszugang über den Computer erleichtert eine kooperative Vernetzung zuvor separierter Tätigkeiten innerhalb einer sowie zwischen Organisation(en) oder von selbständigen Einzelnen zu Organisationen, er liefert den Rahmen für die Auflösung der Arbeitsbedingungen von Gleichräumigkeit und Gleichzeitigkeit; zudem kann die Computertechnologie zur Ent-
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monopolisierung des nun jenseits von schriftlichen Wissensspeicher zirkulierenden Wissens beitragen.“
Neben der Computertechnologie und dem Fokus auf Kreativität ist die Arbeit in Projekten für die postbürokratischen Arbeits- und Organisationsformen zentral. In den dargestellten Fällen zur Netzkunst wird dabei, wie rekonstruiert, der Computer nicht nur zum Kommunikationsmedium, sondern auch zu einem ästhetischen Werkzeug. Der Computer stellt für eine ästhetische und nonkonforme Praxisorientierung ein besonders geeignetes Medium dar, insofern er neue Möglichkeiten der Destabilisierung erö¤net. Reckwitz (2006, S. 445) führt hierzu aus: „Der generelle Effekt der digitalen Technologie besteht darin, strikte Grenzziehungen zwischen verschiedenen Sinnfeldern, welche die Kultur der organisierten Moderne in ihrer Imagination einer fixen technischen und sozialen Ordnung gerade stabilisieren, zu unterminieren.“
Speziell der Computer ist damit für die Netzkunst ein Medium, in dem sich das für die postbürokratischen Arbeits- und Organisationsformen wichtige Merkmal der Kreativität in einer Ästhetik der Nonkonformität zeigt, welche mit den Möglichkeiten der Destabilisierung und der Neukonstituierung einhergeht. Als Organisationsform bietet sich für die Netzkunst wie für die postbürokratischen Arbeitstechniken die Projektarbeit an. Dabei verschwimmen, wie auch in den Fällen von Herrn Behrend, Herrn Christophsen und Herrn Walters und ihrem Projekt rekonstruiert, oft Arbeits- und Freundschaftsbeziehungen. Reckwitz (2006, S. 515, kursiv im Original) führt aus: „Analog den jugendkulturellen Kollektiven ist das Kollektiv der Projektarbeit nicht nur Kreativgemeinschaft, sondern auch Erlebnis- und Stilisierungsgemeinschaft. Das Erleben des kreativen flow, auf das das postmoderne Arbeitssubjekt abzielt, richtet sich nicht allein auf das individuelle Werk, sondern auch auf den kollektiven Zusammenhang des Projektteams, auf die ‚Arbeitsatmosphäre‘ [...]. Die Erlebnisgemeinschaft setzt dabei voraus, dass der Einzelne nicht in einer fachlichen Rolle und auch nicht in der normalistischen Extrovertiertheit des regular guy/girl aufgeht, sondern sich als ‚ganze Persönlichkeit‘ in das Projekt ‚einbringt‘. Gemeinsames Erleben verlangt, den jeweils Anderen nicht nur als handlungsfähig, sondern in seiner Individualität als er-
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lebens- und emotionsfähig kennenzulernen. Regelmäßig können dann die Grenzen zwischen Arbeits- und Freundschaftsbeziehung fließend werden.“
Auch in den Biographien zeigen sich die von Reckwitz genannten Anschlüsse zwischen den kollektiven Einbindungen in der Jugend und der Rahmung der Projektarbeit sowie die Fokussierung auf die experimentelle Generierung von neuen Erfahrungen. Der Unterschied der Projektarbeit gegenüber den jugendlichen Vergemeinschaftungsformen besteht nun in ihrer Orientierung auf Zukünftigkeit. Während die Jugendlichen in ihren Flow-Erlebnissen oft zukünftige Erwartungen zu Gunsten von Gegenwärtigkeit einklammern oder negieren, zielen die Zusammenschlüsse der Projektarbeit meist auf eine zukünftige Generierung von unterschiedlichen Kapitalformen. Die hier nachgezeichneten Linien postbürokratischer Arbeits- und Organisationspraktiken zeigen damit einen hohen Anschlusswert für die Analyse des für Herrn Behrend, Herrn Christophsen und Herrn Walters biographisch relevanten Netzkunstprojektes. Auch die kreativen Projekte um die Netzkunst setzen auf Kreativität, Flexibilität und ein hohes Maß an Selbstorganisation. Diskursiver Ausdruck hierfür ist das Buch von Holm Friebe und Sascha Lobo (2006) ‚Wir nennen es Arbeit. Die digitale Bohème oder: Intelligentes Leben jenseits der Festanstellung‘. Schon der Titel zeigt den Fokus auf postbürokratische Arbeits- und Organisationsformen an, die sich nicht auf den Arbeitsplatz beschränken, sondern die sich gleichsam auf die gesamte Lebensführung ausdehnen. Friebe und Lobo (2006, S. 14) geben vor dem Gegenhorizont einer Festanstellung eine Selbstbeschreibung ab: „Jede Form der abhängigen Lohnarbeit wäre für uns der ‚milden Krankheit‘ gleichkommend, als die auch der Philosoph Frithjof Bergmann sie beschreibt: ‚Eine Zeit, in der man nicht wirklich lebt, man zählt nur die Wochen und Monate, bis es vorbei ist.‘ Die Vorstellung, genau zu wissen, wo man den übernächsten Dienstag von zehn bis neunzehn Uhr verbringen wird, wird nicht schön durch einen monatlichen Scheck. Sie wird nur erträglicher. Wir hatten aber keine Lust mehr, den Weg des geringsten Leids zu gehen; wir wollten den Weg der größten Freude. Besonders bei der Arbeit.“ Die Arbeit erscheint hier als eine Praktik der Selbstverwirklichung, welche durch zeitliche, räumliche und institutionelle Festlegungen eingeschränkt wird und einen dadurch am Leben hindert. Friebe/Lobo (2006, S. 15) möchten „so arbeiten, wie man leben will“. Die Autoren beschreiben sich selbst
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als digitale Bohème, die sich in einem Zusammenhang sieht mit einer „selbstbestimmte(n) Lebensweise in einer informellen Gruppenstruktur, die immer auch Arbeits- und Produktionsweise ist und sich nur sehr bedingt mit einem Festanstellungsverhältnis verträgt“ (Friebe/Lobo 2006, S. 27). Ihre Arbeit wie auch die damit verbundene Lebens- und Freizeitführung werden synthetisiert. In postbürokratisch organisierten Projektarbeiten, die sie als „Produzentennetzwerke zwischen Kommerz und Kunst, Wirtschaft und Leidenschaft“ (Friebe/Lobo 2006, S. 19) beschreiben, finden sie Möglichkeiten, das für sie positiv gesetzte „Prinzip des Unsteten, Spontanen und Ungewissen“ (Friebe/Lobo 2006, S. 28) sozial zu verankern. Die digitale Bohème, in deren Umkreis sich auch viele Arbeits- und Organisationspraktiken der Netzkunst wiederfinden lassen, setzt auf Attribute wie Flexibilität, Mobilität und Kreativität; dabei legt sie nach eigenen Angaben „Wert auf Selbstprogrammierung“ (Friebe/ Lobo 2006, S. 28 f.), die mit Formen der individuellen Selbstbestimmung in Bezug gesetzt wird. Gouvernementale Selbstformierung wird hier zu einem leitenden Attraktor, beispielsweise wenn Friebe und Lobo (2006, S. 33) von einer anzustrebenden „verzögerten Belohnung“ sprechen, „die sich von der bürgerlichen Berufsethik darin unterscheidet, dass die Belohnung kein Führungsposten oder Dienstwagen ist, sondern der Erfolg der eigenen Projekte. Die Disziplin besteht darin, Durststrecken zu überbrücken, während man gleichzeitig hochtrabende Pläne verfolgt, die vielleicht niemals Realität werden. Was die Situation vergleichsweise komfortabel macht, ist, dass man anders als im stahlharten Gehäuse des Unternehmens zu jedem Zeitpunkt selbst Herr des Geschehens ist und dadurch Ergebnisse steuern und die Methoden anpassen kann.“ Die digitale Bohème und in diesem Zusammenhang auch die Netzkunst präsentieren sich als Ausdruck von postbürokratischen Arbeitsund Organisationsformen. Dabei zeigt sich ein modus operandi, der an einem binären Code von Flexibilität und Rigidität orientiert ist und der sich beispielsweise bis in den „kreativen Umgang“ (Friebe/Lobo 2006, S. 34) mit den (auch immer wieder in den Interviews angesprochenen) prekären ökonomischen und berufsbiographischen Verhältnissen hinzieht. Die Projektarbeiten der digitalen Bohème und der Netzkunst folgen damit Subjektivierungsformen, die Ulrich Bröckling (2007) als ein ‚unternehmerisches Selbst‘ bezeichnet. Dabei können sich die Praktiken einer kritischen und an Ästhetik orientierten Nonkonformität in ein Passungsverhältnis zu den Praktiken postbürokratischer Arbeits- und
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Organisationsformen stellen, auf deren Programmatik bezogen Bröckling (2007, S. 285) ausführt: „Die Programme fordern Distinktion statt Konformität, Überschreitung statt Regelbefolgung, kurzum: sie fordern anders zu sein.“ Damit zeigt sich, wie sich, einhergehend mit einer Praxis der Nonkonformität und den damit entstehenden Formen der Kritik an Normalisierungspraktiken, seit dem Ende der 1960er Jahre ein Feld von postbürokratischen Arbeits- und Organisationsformen entwickelt hat, das die Grenzen zwischen Arbeits- und Freizeit und den damit verbundenen Sozialbeziehungen fließend hat werden lassen. Einer gesellschaftlichen Eigenlogik folgend entstehen so Praxisfelder – wie beispielsweise das des Netzkunstprojektes –, an die sich die nonkonformen Praxisformen der Fälle von Herrn Behrend, Herrn Christophsen und Herrn Walters anschließen können. Während diese Akteure in den Feldern der Familie und der Institution Schule durch ihre Nonkonformität noch Exklusionserfahrungen erleiden, finden sie in einer an Kreativität und Projektarbeit orientierten Arbeitswelt Anschlussmöglichkeiten und Feldbezüge, die sie mit den Möglichkeiten und Gefahren 4 der Flexibilisierung konfrontieren. Die Praxis der Nonkonformität mit den Operationen der nonkonformen Kritik und Verschiebung erscheint so als Logik der Praxis eines sich in der Form ständig verändernden und damit flexibel seienden Habitus.5 Die rekonstruierten Wandlungsprozesse, die auf eine kritische Logik der Nonkonformität abzielten, stellten so einen Ausdruck einer Bedingung der Möglichkeit dar, um überhaupt erfolgreich an einem an postbürokratischen Arbeits- und Organisationsformen orientierten Feld der Netzkunst im engeren und der digitalen Medien im weiteren Sinne partizipieren zu können. Die Initiierung eines eigenen Netzkunstprojektes stellte so die Generierung eines eigenen Projektes der Nonkonformität dar, das Herrn Behrend, Herrn Christophsen und Herrn Walters die Möglichkeit bot, einerseits die an Kreativität und Ästhetik orientierten postbürokratischen Arbeits- und Organisationspraktiken einzuüben und
Zu den Gefahren einer postbürokratischen Arbeitswelt, in der durch eine permanente Mobilmachung „nicht mehr die Neurose, sondern der Burnout der Normalfall der Abweichung von der Norm“ (Bröckling 2007, S. 290) ist, vgl. ausführlich Ehrenberg (2004).
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5 Zum Zusammenhang von Formen einer hier als nonkonform gekennzeichneten Kritik und Prozessen der Flexibilisierung vgl. aus unterschiedlichen Richtungen Sennett 2008, S. 200; Boltanski/Chiapello 2006; Bröckling/Krasmann/Lemke 2007.
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andererseits ihre nonkonformen Praxisorientierungen in ein Passungsverhältnis zu bringen. Dass ein so angelegtes Netzkunst-Projekt zeitlich begrenzt ist, und weiter, dass es an der institutionellen Einbindung an eine Universität scheitert, scheint vor dem Hintergrund der Feldrekonstruktion zu den postbürokratischen Praktiken nicht weiter verwunderlich. Die mit diesem Scheitern verbundenen biographischen Enttäuschungen, die sich in unterschiedlicher Art und Weise in allen drei Interviews dokumentieren, zeigen, dass die Akteure zu diesem Zeitpunkt die Ho¤nung auf eine Festanstellung oder zumindest auf eine langfristige Projektarbeit eint, um dem Flexibilisierungsdruck wenigstens ein Stück weit ausweichen zu können. Die Ende der 1960er Jahre aus nonkonformen Kritikformen entstandenen postbürokratischen Arbeits- und Organisationspraktiken werden so aus einer nonkonformen Perspektive der Kritik an einer Flexibilisierung selbst wieder Ausgangspunkt einer Suchbewegung.
6.5. Die Ambivalenz von Bildungsprozessen im Horizont von Flexibilisierungsprozessen Die vorangegangenen Feldrekonstruktionen haben ein durchaus ambivalentes Bild der zuvor rekonstruierten Bildungsprozesse gezeichnet. Einerseits konnten die Wandlungen des Habitus als die Transformation einer Logik der Praxis und damit als eine Transformation von Selbst- und Weltverhältnissen gekennzeichnet werden; andererseits erscheinen die so angezeigten Bildungsprozesse vor dem Hintergrund der Feldrekonstruktion auch als ein Ausdruck von Machttechnologien der gouvernementalen Selbstführung interpretierbar. Die Ambivalenz von Bildungsprozessen, der Jenny Lüders (2007) ihre empfehlenswerte Arbeit gewidmet hat, ist damit angezeigt. Im Folgenden soll es darum gehen, diese Ambivalenz anzuzeigen, nicht aber sie aufzulösen. Meiner Meinung nach lässt auch eine vertiefte Bearbeitung des Problemhorizontes mehr einen Umgang mit dem Problem als eine Lösung für das Problem erwarten. Der Grund hierfür liegt in der Doppeldeutigkeit von Praktiken. Wie in der Arbeit schon mehrfach angesprochen, können Praktiken aus der Perspektive von Akteuren, aber auch aus der Perspektive von gesellschaftlichen Eigenlogiken betrachtet werden. Vereinseitigt man eine dieser Perspektiven, erscheinen Bil-
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dungsprozesse entweder als reine Eigenleistungen von Akteuren oder als bloße Ableitungen aus gesellschaftlichen Strukturen. Traditionell wendet sich der Bildungsbegri¤ gegen totalisierende Ansprüche von Gesellschaftlichkeit. Einer Vereinnahmung von Gesellschaft wurden deshalb immer wieder individuelle Emanzipationskonzepte gegenübergestellt. Aus der Perspektive einer in der Theorie der Praxis verwurzelten Bildungstheorie scheint eine Dichotomisierung von Individuum und Gesellschaft jedoch nicht mehr angebracht. Kritikpotenziale sind daher weniger gegen als vielmehr im Umgang mit Gesellschaft angelegt. Es geht um die Betonung der Eigenlogik von Akteurskonstruktionen, welche nicht als bloße Ableitung aus der Gesellschaft zu verstehen sind. Dennoch werfen die gemachten Rekonstruktionen von Gesellschaftlichkeit, wie angedeutet, ein kritisches Licht auf die Bildungsprozesse, was hier nicht unerwähnt bleiben soll. Betrachtet man die in den Biographien gemachten Freiheitsgewinne vor dem Hintergrund der Feldrekonstruktionen, so scheint die gewonnene Autonomie gleichzeitig auf die Inkorporierung und Steigerung einer spezifischen Machttechnik zu verweisen. Die Prozesse der Selbstmobilisierung können in diesem Zusammenhang nicht nur als Motoren von Bildung gesehen werden, sondern auch als Aneignung einer in neoliberalen Wirtschaftsstrukturen geforderten Ökonomisierng des Selbst (vgl. Bröckling 2007). In diese Richtung kritisiert auch Bourdieu (1998, S. 50, zitiert nach Pongratz 2004, S. 256) neoliberale Begri¤sapparate, wenn er ausführt: „Es gibt ein ganzes Spiel mit den Konnotationen und Assoziationen von Wörtern wie Flexibilität, Anpassungsfähigkeit, Deregulierung, das glauben macht, die neoliberale Botschaft sei eine der allgemeinen Befreiung.“ Kritisch wurde dieser Sachverhalt in der Erziehungswissenschaft an unterschiedlichen Stellen mit dem Verweis auf Foucaults Konzept der Gouvernementalität diskutiert (vgl. Ricken/Masschelein 2003; Pongratz 2004; Lüders 2007). Mit dem Begri¤ der Gouvernementalität beschreibt Foucault eine Machttechnologie, deren Aufkommen er im 17. Jahrhundert verortet. Die Gouvernementalität stellt eine Kunst des Regierens dar, welche Voraussetzungen zu scha¤en sucht, Individuen Anreize zu geben, sich selbst zu führen. Wie auch schon in den Feldrekonstruktionen beschrieben, geht es hier um Techniken der Selbstführung und Selbstmobilisierung. Thomas Lemke (2003, S. 269) führt zum Begri¤ der Gouvernementalität bei Foucault aus:
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„Mit dem Neologismus Gouvernementalität (gouvernementalité) bezeichnet er unterschiedliche Rationalitäten, Handlungsformen und Praxisfelder, die auf Steuerung und Kontrolle von Individuen und Kollektiven zielen und gleichermaßen Formen der Selbstführung und Techniken der Fremdführung umfassen.“
Die damit einsetzenden Prozesse einer Selbstermächtigung werden von unterschiedlichen Sozialwissenschaftlern, vor allem vor dem Hintergrund von (Selbst-) Ökonomisierungsprozessen kritisiert (vgl. Bröckling/ Lemke/Krasmann 2007). Eine wachsende Ökonomisierung des Bildungssystems durch den Rückgri¤ auf gouvernementale Machttechnologien kritisierend, führt beispielsweise Ludwig A. Pongratz (2004, S. 252) aus: „mit Beginn des 20. Jahrhunderts [zeichnet sich (F. v. R.)] ein Übergang von der alten Lern- und Drillschule zu dynamischeren, innengeleiteten Arbeitsformen ab, die darauf hinzielen, möglichst früh Fremd- in Selbstregulierung zu überführen“. In diesem Sinne können auch die Wandlungen des Habitus von Herrn Behrend, Herrn Christophsen und Herrn Walters als Prozesse aufgefasst werden, in denen es durch die Transformation von Selbst- und Weltverhältnissen, von der Abarbeitung an Prozessen der Fremdsteuerung, zur Installation und Steigerung von Prozessen der Selbstregulierung und Selbstmobilisierung kommt. Auf Pongratz‘ (vgl. 2004, S. 254) Kritik am Bildungssystem Bezug nehmend könnte man auch sagen, dass die Biographieträger das, was die Institutionen von Schule und Familie durch „Fremdzwang oder internalisierte Autorität“ vermitteln wollten, nun durch „Selbstzwang“ selbst zu verwirklichen suchen. Die Transformationsprozesse würden vor diesem Hintergrund weitestgehend als Ableitung von gesellschaftlichen Strukturen gesehen werden. Die rekonstruierten Bildungsprozesse könnten so zu Recht, wie es Bourdieus Kritik andeutet, als Verklärungen eines neoliberalen Wandlungsprozesses verstanden werden, dem es um eine Ökonomisierung des Wissens geht. Ein Hinweis in diese Richtung zeigt sich in der Organisation des Netzkunstprojektes, welches in den Feldrekonstruktionen in einen Zusammenhang mit postbürokratischen Arbeitspraktiken gestellt werden konnte. In allen drei Biographien lassen sich intensivste Arbeitsphasen innerhalb des Projektes beobachten, welche maßgeblich durch Eigen- und nicht durch Fremdmotivation gespeist sind. Als die universitäre Einbin-
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dung und damit auch das Einpassen in tradierte institutionelle Ablaufmuster scheitern, versuchen die Akteure in Prozessen der Selbstmobilisierung das Projekt selbst zu verwalten und es gewinnbringend zu vermarkten. Im Sinne der rekonstruierten Orientierung an einer zukünftigen Nutzung der akkumulierten Kapitalbestände (vgl. Kapitel 5.6) ließe sich mit Pongratz (2004, S. 256) kritisch ausführen, dass es nicht mehr um „‚Bildung‘, sondern um die Privatisierung und Kommerzialisierung von Wissen [geht (F. v. R.)] [...]. Bildungsprozesse werden umgewandelt als Eigentumsprozesse mit Wissen als Ware.“6 Andererseits zeigt sich in den Biographien jedoch gerade in der Netzkunst und den damit verbundenen Auseinandersetzungen mit ästhetischen Praktiken ein Versuch, eine Gegenmacht zu installieren. Die ästhetischen Praktiken bei Herrn Behrend, Herrn Christophsen und Herrn Walters verweisen auch auf einen Zusammenhang, in dem es den Akteuren um die nonkonforme Umwidmung und Neuinitiierung von sozialen Rahmungen geht. In diesem Sinne könnte man die Beschäftigung mit der Netzkunst auch als einen Versuch betrachten, eine Form von einer „Ästhetik der Existenz“ zu installieren. Bei dieser Ästhetik der Existenz geht es um Prozesse, die mit Mencke (2003, S. 298) als „Bewegung der Selbstüberschreitung“ gesehen werden können. Die Akteure treten in ein experimentelles Verhältnis zu ihrem Leben und zu ihrer Biographie. Anders als aus der Blickrichtung einer gouvernementalen Selbstführung erscheint der Akteur hier nicht als ein bloßes Produkt gesellschaftlicher Strukturen, sondern auch als ein Subjekt mit der Fähigkeit zu eigenlogischen Selbstkonstruktionen, die nicht gänzlich in der Logik von gesellschaftlichen Strukturen aufgeht. Mencke (2003, S. 294) schreibt: „Der Gewinn der Fähigkeit persönlicher Lebensführung richtet sich immer auch gegen die Gestalt, die das Subjekt in Prozessen der Disziplinierung und Normalisierung angenommen hat.“7 Ein Bildungsprozess vor dem Hintergrund einer Ästhetik der Existenz ist damit als ein Prozess der Selbstführung zu verstehen, der jedoch
6 Jenseits einer Kritik an der Ökonomisierung von Wissen muss angemerkt werden, dass die von Pongratz angesprochenen Machtmechanismen im Sinne Foucaults nicht nur einschränkenden, sondern auch ermöglichenden Charakter besitzen.
Die Möglichkeit einer Widerständigkeit des Subjekts gegenüber gesellschaftlichen Strukturen wird auch von Judith Butler mit dem an Derrida angelehnten Konzept der Iteration betont (vgl. hierzu auch Kapitel 3.3.1).
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nicht in Gänze in Prozessen der gouvernementalen Selbstführung aufgeht. Während gouvernementale Selbstführungsprozesse lediglich auf eine Normalisierung hinwirken, versuchen ästhetische Selbstführungsprozesse eine Überschreitung dieser Normalisierungsprozesse einzuleiten (hierzu auch Lüders 2007). In diesem Sinne ist die Normalisierung eine Grundlage, ohne die ihre eigene Überschreitung nicht geleistet werden kann (vgl. Mencke 2003, S. 294). Die Biographien können damit aus den unterschiedlichen Perspektiven als eine Selbstführung der Gouvernementalität und als eine Selbstführung einer Ästhetik der Existenz gesehen werden. Die Interpretationsandeutungen zeigen die Ambivalenz der ausgebildeten Praktiken, die sich meiner Meinung nach nicht auflösen lässt und die auch nicht aufgelöst werden sollte. Praktiken erscheinen vor dem Hintergrund von machttheoretischen Überlegungen immer doppeldeutig. Gleich der Kippfigur einer Theorie der Praxis, die zwischen ‚Subjektivismen‘ und ‚Objektivismen‘ zu vermitteln sucht, zeigen sich hier die Perspektiven eines Akteurs, der aus gesellschaftlichen Strukturen entsteht, und eines Akteurs, der mit gesellschaftlichen Strukturen umzugehen versucht. Man kann damit Bildungsprozesse aus einer objektivistisch-kritischen Perspektive als eine Ableitung aus kritisierbaren sozialen Strukturen kennzeichnen, wobei die Akteure hier nur als fremdgesteuerte Ableitungen sozialer Wandlungsprozesse erscheinen. Oder man kann andererseits die Bildungsprozesse aus einer subjektivistischen Perspektive als Autonomiegewinne einzelner über auf Uniformierungsprozessen abzielende gesellschaftliche Strukturen sehen. Eine praxeologische Perspektive verneint und bejaht beide Perspektiven gleichermaßen. Mit Reckwitz (2006, S. 9) kann ein (Bildungs-) Subjekt je nach Perspektive als ein „unterworfener Unterwerfer“ oder als ein „unterwerfendes Unterworfenes“ betrachtet werden. Sich auf den Zusammenhang von Subjektivierungsprozessen beziehend führt Reckwitz (2006, S. 9) aus: „Der Einzelne avanciert zum vorgeblich autonomen, zweckrationalen oder moralischen Subjekt erst dadurch, dass er sich bestimmten Regeln – Regeln der Rationalität, des Kapitalismus, der Moralität etc. – unterwirft, diese interiorisiert und inkorporiert und sich in soziale Gefüge integriert.“
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Ist hiermit an den schon im zweiten Kapitel angedeuteten Gedanken einer Vorgängigkeit der Sprache und einer Vorgängigkeit von Praxis erinnert, zeigen die Überlegungen von Butler und auch von Bourdieu selbst, dass die Akteure keine Ableitungen aus objektiven Strukturen sind, sondern dass die Akteure auch selbst einen verändernden Umgang mit den objektiven Strukturen pflegen können. Damit ist eine Perspektive auf Bildungsprozesse angezeigt, welche es nahelegt, die Kritik an einer „Regierung durch Individualisierung“ (Lazzarato 2001; Ricken/Masschelein 2003, S. 149 f.; Lüders 2006, S. 13;) ernst zu nehmen, diese aber nicht gleichzeitig im Sinne eines kritischen Objektivismus zu totalisieren. Akteure sind genauso unterworfene Unterwerfer, wie sie unterwerfende Unterworfene sein können. Ich stimme Lüders dahingehend zu, dass die wichtige Kritik am Bildungsbegri¤ und der Hinweis auf die Verflechtung von Macht- und Bildungsprozessen nicht notwendigerweise zur Verabschiedung des Bildungsbegri¤es führen müssen (vgl. Lüders 2006, S. 14 ¤.). Vielmehr muss auf den ambivalenten Charakter von Praktiken im Allgemeinen und Bildungsprozessen im Besonderen hingewiesen werden. Praxis ist damit immer doppeldeutig beobachtbar. Die Feststellung von Christoph Mencke (2003, S. 299), dass es von der „Haltung“ abhängig sei, ob eine Praxis eine gouvernementale oder eine existenziell-ästhetische Selbstführung ist, muss vor diesem Hintergrund dahingehend erweitert werden, dass es auch davon abhängt, aus welcher Perspektive man diese Haltung rekonstruiert. Rekonstruiert man eine Haltung aus der Perspektive ihrer gesellschaftlichen Entstehung und damit als ein Produkt von gesellschaftlichen Strukturen, oder rekonstruiert man eine Haltung vor dem Hintergrund der Eigenkonstruktion eines Akteurs und damit als ein Produkt der Selbstgestaltung? Die Habitus- und die Feldrekonstruktionen legen nahe, dass beide Blickrichtungen Geltung beanspruchen können und dass sie nicht ohne Weiteres gegeneinander ausspielbar sind. Bildung scheint so per se ein ambivalentes Geschehen zu sein. Diesen Befund ernst nehmend, soll es nun um die Rekonstruktion von Bildungsprozessen gehen, bei denen nicht mehr die Wandlung, sondern die Transformation eines Habitus im Vordergrund steht. Dem bisherigen Auf bau der empirischen Rekonstruktionen weiter folgend, wird die Analyse von Bildungsprozessen zunächst auf der Ebene der Habitusrekonstruktionen fortgesetzt (Kapitel 7), um dann auf die Ebene der Feldrekonstruktionen zu wechseln (Kapitel 8).
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7. Empirische Rekonstruktionen von Bildungsprozessen als Transformationen des Habitus
In der Folge soll es darum gehen, Bildungsprozesse als Transformationen des Habitus zu rekonstruieren. Die Transformationen des Habitus unterscheiden sich von den Wandlungen des Habitus in dreierlei Hinsicht. Zum Ersten ist die empirische Basis für die Wandlungsprozesse größer, insofern sich zwar in allen vierzehn biographischen Interviews Habituswandlungen fanden, sich Transformationen des Habitus jedoch nur in drei Fällen rekonstruieren ließen. Wie in der empirischen Rekonstruktion deutlich werden wird, unterscheiden sich die Transformations- von den Wandlungsprozessen des Habitus zweitens dahingehend, dass sie sich nicht auf eine, sondern auf mehrere Logiken der Praxis beziehen. Und drittens ergeben sich vor dem Hintergrund der hiermit angesprochenen Mehrdimensionalität normative Unterscheidungen zwischen den Wandlungen und Transformationen des Habitus, die in Kapitel 7.5 ausgeführt werden sollen. Begonnen wird jedoch zunächst mit den Falldarstellungen von Svetlana Chruchot (7.1), Jan Bosch (7.2) und Christiane Othmar (7.3), um daran anschließend zu einer fallübergreifenden komparativen Analyse mit dem Ziel einer mehrdimensionalen Typenbildung überzugehen. Zunächst werden in einer ersten komparativen Analyse auf der Ebene einer sinngenetischen Typenbildung die fallübergreifenden Phasen der Bildungsprozesse herausgearbeitet (7.4), um dann auf den für die behandelten Fälle äußerst relevanten modus operandi einer Praxis der Selbstsorge einzugehen (7.5). Wie schon in Kapitel 5 werden die Bildungsprozesse dann vor dem Hintergrund einer skizzenhaften Darstellung einer soziogenetischen Feldrekonstruktion beleuchtet, um
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so Anhaltspunkte für eine Dimension der gesellschaftlichen Verfasstheit der Bildungsprozesse zu erhalten (8).
7.1. Der Fall Svetlana Chruchot Svetlana Chruchot ist zum Zeitpunkt des Interviews neunundzwanzig Jahre alt und sucht ein Engagement als Schauspielerin. Frau Chruchot verbringt ihre Kindheit in einer Lebensgemeinschaft, die sie als „Kommune“ bezeichnet. Mit etwa acht Jahren löst sich der institutionelle Rahmen der Lebensgemeinschaft auf. Die Mutter von Frau Chruchot initiiert mit anderen Angehörigen der ehemaligen Gemeinschaft eine neue Lebensgemeinschaft. Nach einer familiären Krise verlässt Frau Chruchot mit siebzehn Jahren diese Lebensgemeinschaft und zieht nach München, um dort Schauspiel zu studieren. Zum Zeitpunkt des Interviews beendet Frau Chruchot gerade ihr Studium und sucht ein Engagement.
Entwicklung der Praktiken des Sich-Einordnens und des Sich-Darstellens Frau Chruchot beginnt ihre Lebensgeschichte mit biographischen Erzählungen aus ihrer Kindheit in der Lebensgemeinschaft, die sie selbst als „Kommune“ bezeichnet. Als Frau Chruchot geboren wird, lebt ihre Mutter schon sieben Jahre in der „Wiese-Kommune“ (Z. 9–20):1 „Die Wiese-Kommune war eine ähm Künstler-Kommune, gegründet von Peter Wiese, ein Hamburger Aktionist, in Hamburg, die dann später einen Hof namens Mooshof gekauft haben ihn umgebaut haben und überall in Europa rumgefahren sind und auch in Amerika also überall in der Welt um Propaganda zu machen für diese Kommune. das ein die sollte ein ein Lebensexperiment sein. und zwar ähm nach einer bestimmten Ideologie mit freier Sexualität, keine Kleinfamilien das heißt alle jeder hat mit jedem geschlafen und es durften sich keine Pärchen bilden, also ja. (.) und keine Ein-Mann-und-eine-Frau-Geschichte keine Liebe und so. und ähm viel Kunst machen. weil Kunst den Menschen befreit und ähm Peter Wiese hat nach Wilhelm Reich und äh Freud und anderen psychologischen Methoden ähm Psychoanalyse mit den Leuten gemacht. quasi. und ähm so bin ich quasi entstanden.“
Zu den Richtlinien der Transkription vgl. Kapitel 2. Die Zahlen der Zeilenangabe beziehen sich auf den Ort der Passage im Originaltranskript.
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EMPIRISCHE REKONSTRUKTION VON BILDUNGSPROZESSEN
Frau Chruchot wird in einer Gemeinschaft geboren, welche versucht, neue oder andere Formen des Zusammenlebens zu installieren. Diesen sozialen Raum kennzeichnet Frau Chruchot als ein „Lebensexperiment“. Dabei gelten in der Lebensgemeinschaft eigene Regeln bezüglich Sexualität sowie familiärer und persönlicher Lebensführung. Im Zentrum der Selbstbeschreibung dieser Lebensform steht dabei ein Entwicklungsgedanke, der eng an ästhetische, psychologische, sexuelle und selbstreflexive Praktiken gekoppelt ist. Dass dieser Rahmen für die Reflexion der eigenen Entwicklung für Frau Chruchot zentral ist, kennzeichnet sie mit der Formulierung, dass sie „so quasi entstanden“ sei. Frau Chruchot deutet schon an, dass der Raum der Lebensgemeinschaft ihre primäre Sozialisationsinstanz darstellte, insofern der familiäre Zusammenhang der leiblichen Eltern in der Lebensgemeinschaft aufgeht. Das Zusammenfallen von Familie und Lebensgemeinschaft soll nun weiter rekonstruiert werden. Frau Chruchot führt aus (Z. 25–37): „Und daraus bin ich entstanden. und ähm dann war es noch ne Frage weil es gab natürlich Geburtenkontrolle das heißt eigentlich ist es n ziemliches Glück dass ich geboren wurde weil äh meine Mutter musste davor schon dreimal abtreiben, und ähm als sie dann mit mir schwanger war gab‘s einen Typen ich weiß nicht mehr genau wie der hieß der auch in der Kommune war, der zu meiner Mutter meinte dieses Kind behältst du ich setz mich dafür ein dass du dieses Kind behalten kannst. also durfte sie mich behalten und ich wurde geboren, war ne Frühgeburt, ähm und als ich einen Monat alt war zirka und genau mein Vater was sehr unüblich in der Kommune weil man eigentlich nicht wusste wer der Vater ist, hat von Anfang an gesagt das ist meine Tochter. weil ich ihm auch sehr ähnlich sah von Geburt an und war irgendwie n Glücksfall wie sich später hinausgeste- herausgestellt hat dass ich immer wusste wer mein Vater war. ähm (.) im Gegensatz zu anderen Kindern die eben bis heute noch nicht rausgefunden haben wer ihr Vater ist.“
Frau Chruchot beschreibt, dass schon ihre Geburt an die Regelungen der Lebensgemeinschaft gebunden war, das heißt, dass die Mutter innerhalb des institutionellen Zusammenhangs der Lebensgemeinschaft nicht eigenständig über eine Geburt oder Nichtgeburt entscheiden konnte, durfte oder wollte. Die Mutter musste sich, auch in Bezug auf ihren Wunsch oder Nicht-Wunsch des Kinderkriegens, den Regelungen der Lebensgemeinschaft unterordnen. Frau Chruchot kennzeichnet ihre Geburt dabei in doppelter Hinsicht als Glück: einerseits weil ihre Mutter nach drei Schwangerschaftsabbrü-
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chen die Erlaubnis für eine Geburt bekam, andererseits, weil Frau Chruchot, anders als andere Kinder der Lebensgemeinschaft, die Identität ihres Vaters kannte. Auf einer semantischen Ebene dokumentiert sich im Interview hier schon früh eine für Frau Chruchots Ausführungen über die Kindheit und Jugend typische Figur. Frau Chruchot sieht sich in ein äußeres Abhängigkeitsverhältnis gestellt, das nicht nur sie selbst, sondern auch ihre Mutter in ihren Handlungsspielräumen beeinträchtigt. Frau Chruchot erzählt weiter (Z. 284–289): „Und die Männer hatten nur einen Schrank, und die Frauen hatten die Zimmer mit den Betten in denen sie gewohnt haben das war auch im Hof so, und dann gab‘s diese Listen wer bei wem heut Nacht geschlafen hat. und die Männer mussten immer ähm (wie=sagt=man) kr- also so zirkulieren, zwischen den Frauen ansonsten wurden sie abends beim Palaver fertig gemacht und kamen in der Struktur runter.“
Wie Frau Chruchot ausführt, bestehen innerhalb der Lebensgemeinschaft Regeln bezogen auf Zeit, Ort und Regelmäßigkeit von sexuellen Zusammenkünften. Jede Nacht wechseln die Geschlechtspartner innerhalb der „Kommune“. Eine monogame Beziehungsform wird innerhalb der Lebensgemeinschaft nicht toleriert und gegebenenfalls sanktioniert, indem in einer internen Hierarchie hoch- und heruntergestuft werden kann. Durch die täglich wechselnden Geschlechtspartner ist der Nachvollzug der Vaterschaft bei einer Geburt einerseits schwierig, andererseits auch nicht erwünscht, insofern das Konzept einer dualen Intimbeziehung grundsätzlich abgelehnt wird (vgl. Z. 25–37). Frau Chruchot besitzt so, bezogen auf die Kenntnis ihres Vaters, ein Sonderwissen. Auch an anderen Stellen wird deutlich, dass innerhalb der Lebensgemeinschaft gängige Formen von Dualbeziehungen untergraben werden. Nachdem der Vater von Frau Chruchot an einen anderen Ort der Lebensgemeinschaft verlegt wird, wird auch die Beziehung zwischen Svetlana Chruchot und ihrer Mutter temporär getrennt. Sie erzählt (Z. 64–79): „Also Peter Wiese war pädophil und hat ähm die jungen Mädchen aus der Kommune die so 13 14 waren in die Sexualität eingeführt, es gab quasi eigene Regeln wann man geschlechtsreif war und wann nicht, und diese Mädchen haben anscheinend irgendwann den Wunsch geäußert, dass sie gerne Kinder hätten, und äh dann haben die @beschlossen@ dass wir von unseren Müttern getrennt werden und dass diese 14–jährigen Mädchen uns jetzt beaufsichtigen als Mütter. (.)
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und ich glaub das war ziemlich schlimm für uns als Kinder ich hab keine Erinnerung dran aber das hat so das Mutter-Kind-Verhältnis n bisschen zerstört. (.) und ähm dann war ich also das weiß ich eben alles nur aus Erzählungen dann war ich 1 ½ nee ein Jahr war ich bei diesem Mädchen diesem 14–jährigen Mädchen ähm und dann irgendwann ich weiß nicht wie es gekommen ist hatten diese Mädchen anscheinend genug vom Mutter-Spielen das war ihnen zu anstrengend und wir wurden wieder weitergegeben, dann war ne waren irgendwie andere Frauen meine Mütter oder ich weiß nicht n halbes Jahr weiß ich nicht bei wem ich war, und als ich dann 2 ½ Jahre alt war wurde ich quasi zu meiner Mutter zurückgegeben, und ähm hab glaub ich auch mit ihr gelebt. und aber an die Zeit hab ich wenig Erinnerung.“
Frau Chruchot wird von ihrer Mutter getrennt und kommt in die Obhut jugendlicher Mitglieder der Lebensgemeinschaft. Es wird deutlich, dass die Mutter, wie auch schon bei der Geburt, Entscheidungen bezüglich ihres Kindes nicht eigenständig tre¤en will, kann oder darf, sondern dass die Entscheidungsgewalt an eine der Lebensgemeinschaft vorstehende Person abgegeben wird, der es sich unterzuordnen gilt. Die Erzählungen, Beschreibungen und Argumentationen von Frau Chruchots Kindheit zeigen sich hier wieder durch eine Semantik der äußeren Abhängigkeit strukturiert. Im Zentrum dieser Abhängigkeit steht für Frau Chruchot jedoch nicht ihre Mutter, sondern die als äußerlich beschriebene Machtstruktur der Lebensgemeinschaft. Die Zusammenhänge von Sexualität, Geburt und Erziehung werden organisiert, es entsteht ein eigenlogisch funktionierender sozialer Raum, der sich selbst reproduziert und sich auch über die gegebenen juristischen Reglementarien stellt, beispielsweise durch den Geschlechtsverkehr von Erwachsenen und Minderjährigen oder, wie an anderer Stelle berichtet wird, durch den Konsum von Drogen. Obwohl Frau Chruchot immer wieder auch positive Bewertungen über ihr Leben in der Lebensgemeinschaft in ihre Erzählungen einfügt, wird deutlich, dass sie den Organisationszusammenhang der Lebensgemeinschaft als problematisch, gewalttätig bis kriminell bewertet. Neben den von der Mutter übernommenen Beschreibungen eines „Überwachungsstaates“ (vgl. Z. 46) berichtet sie darüber, wie sie „stundenlang fertiggemacht“ wurde (vgl. Z. 113 f.), weil sie Schokolade geklaut hatte, oder auch, wie sie gegenüber dem der Lebensgemeinschaft vorstehenden Peter Wiese schon in frühester Kindheit eine Abneigung und Angst entwickelt hat. Kondensiert zeigt sich die Verurteilung der Lebensgemeinschaft in der folgenden Erzählung (Z. 234–247):
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„Dann erinnere ich mich auch an ein schreckliches Erlebnis dort. @(.)@ ich weiß nicht ob‘s hier reinpasst @aber@ äh es war es ist für mich auch so prägnant für diese Kommunensituation oder diese diese Menschenhetze die dort war ich hatte so ne ich hatte so ich hatte kleine Schuhe also zu kleine Schuhe die waren 1 ½ Nummern zu klein und ich wollte sie aber immer anziehen weil sie so schön waren und dann hab ich ne Warze am Fuß gekriegt. und dann musste diese Warze abgeschnitten werden und das wurde natürlich von den kommuneeigenen Ärzten oder von einem Arzt gemacht ich erinner mich an diese Situation ich war in so‘m Container son Baucontainer in denen wir auch teilweise gewohnt haben, und mir wurde der Fuß betäubt. und ich hab geschrien weil das so weh getan hat das Abschneiden selber hab ich kaum gemerkt aber diese Betäubungsspritze und ich erinner mich nur noch an das Gesicht von Carolin Wiese und der ihr Sohn also Benjamin Wiese der Thronfolger und die ganzen Kommunarden die da standen, also so ist in meiner Erinnerung diese Fratzen und je mehr ich geschrien hab desto mehr haben sie gelacht.“
Svetlana Chruchot beschreibt ein Bild ihrer Wahrnehmung in der „Kommunensituation“, welche sie als „Menschenhetze“ empfindet. In ihrer Erzählung beschreibt sie die Führungsmitglieder der Lebensgemeinschaft als „Fratzen“, welche sich über ihre Schmerzen amüsieren. Auch in anderen Passagen stellt Frau Chruchot die für sie negativen Aspekte der Lebensgemeinschaft heraus. Sie berichtet über die tägliche Hierarchisierung und damit verbundene Sanktionierung innerhalb ihrer Kindergruppe (Z. 160 f.), über ihre Angst vor den Führungsmitgliedern der Lebensgemeinschaft (Z. 323–327), über Strafmaßnahmen (Z. 92 f.) sowie über ihr unangenehmes Gefühl, mit ihrer Mutter und täglich wechselnden Männern im gleichen Raum schlafen zu müssen (vgl. Z. 295–301). An diesen Stellen verdeutlicht sich ein bestimmter Umgang von Frau Chruchot mit der Lebensgemeinschaft. Exemplarisch sei folgende Stelle genannt (Z. 157–183): „Auf jeden Fall war da Peter Wieses Sohn schon geboren, der so der Thronfolger sein sollte also der kleine Mini-Guru der dazu erzogen wurde der irgendwann in die Fußstapfen seines Vaters zu ziehen, äh zu steigen, und ((Räuspern)) das ist mir deshalb so in Erinnerung weil ab dem Moment wo wo ich mit ihm gespielt habe also wo unsere Kindergruppen gemischt waren gab es immer einen Anführer der alles bestimmen durfte oder ein Kind zumindest was nicht den normalen oder auch mehrere Kinder beziehungsweise die Kinder der ersten (Bag) ähm Erwachsenen oder Mütter die dann die privilegierten Kinder waren also die von die einfach eine an- die eine ererbte Stellung hatten weil es eine Struktur damals gab sowo- sowohl bei den Erwachsenen als auch bei den Kindern und je nachdem wie
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gut du dich verhalten hast in der Kindergruppe oder ähm wie ausdrucksstark du warst oder ich weiß nicht da haben viele Faktoren mitgespielt, äh dementsprechend hattest du einen Platz in der Struktur und jeden Abend gab‘s n Kinderpalaver nach dem Kindertanzen oder Kindersingen oder so, Kinder-SD-Abend also SD für Selbstdarstellung, und danach gab‘s das Kinderpalaver und dann konnten die Kindergruppenleiter vorbringen wie man sich verhalten hatte wer sich wer nicht folgen wollte wer verträumt war wer nicht konzentriert war und der kam dann in ne Struktur runter. oder man kam hoch wenn man sehr gut war, und eben ab dem Zeitpunkt in Südfrankreich wo dieser Wiese-Sohn bei uns in der Kindergruppe dabei war gab‘s eine ererbte Struktur. und diese Kinder waren immer über uns auch wenn sie zwei Jahre jünger waren und das ist mir deswegen auch so prägnant im Gedächtnis weil ähm (.) weil ab da glaub ich musste man einfach kuschen. also ab da (.) musste man sehr sehr konzentriert sein und immer genau darauf achten dass man nichts falsch macht und sich nicht über die stellt die in der Struktur über einem waren, obwohl das immer schon so war dass man als Untergestellter wenn man den Platz 6 belegt hat durfte man nicht äh musste man sich denen die in den höheren Plätzen waren unterordnen (.)“
Frau Chruchot berichtet, wie es sowohl unter den Erwachsenen als auch unter den Kindern ein gleiches Organisationsprinzip gab. In regelmäßigen Abständen werden die unterschiedlichen Leistungen der Lebensgemeinschaftsmitglieder evaluiert und dann in eine hierarchische Struktur umgesetzt, wobei die in der Hierarchie niedriger Gestellten sich den Höhergestellten unterordnen mussten; andernfalls hatten sie Sanktionen zu erwarten. Mit der Aufnahme der Kinder aus der Führungsspitze der Lebensgemeinschaft in die Kindergruppe von Frau Chruchot ändert sich das Hierarchisierungsprinzip: Die Hierarchisierung durch Leistung wird durch eine Hierarchisierung der Herkunft ergänzt. Da Frau Chruchot in der Erbstruktur weiter unten angesiedelt ist, hat sie ab diesem Zeitpunkt in der Hierarchie immer Kinder über sich. Sie sagt, von da an „musste man einfach kuschen“. Wieder erscheint für die semantische Form des Interviews eine äußerliche Abhängigkeit, auf die von Frau Chruchot wenig Einfluss ausgeübt werden kann, entscheidend. Wie in den Erzählungen über das Verhalten der Mutter, so erzählt auch Frau Chruchot in eigenen Passagen, dass ihre Handlungspraxis innerhalb der Lebensgemeinschaft immer wieder durch die Regelungen der Lebensgemeinschaft strukturiert wurde und dass sie keine andere Möglichkeit sah, als sich diesen Verhältnissen anzupassen. Frau Chruchot entwickelt hier eine Praxis des Sich-Einordnens, deren modus ope-
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randi durch die Befolgung fremdbestimmter Handlungsanweisungen gekennzeichnet ist. Dabei tri¤t diese auch in anderen Sozialisationsprozessen zu rekonstruierende Praxis des Sich-Einordnens auf einen sozialen Raum, dessen Regeln teilweise kontingent bleiben, insofern sie auf der Willkür der Führungsmitglieder der Lebensgemeinschaft beruhen. Frau Chruchot führt dazu an anderer Stelle aus (Z. 322–329): „Aber die Strafen die wir bekommen haben waren sowieso irgendwie furchtbar. und Peter Wiese der sehr unter Drogen stand hat eben mal an a- ei- mal gab‘s ne Zeit wo die Kinder Liebe brauchten mal gab‘s ne Zeit wo die Kinder Prügel brauchten mal gab‘s ne Zeit wo die Kinder irgendwas anderes brauchten also er hat entschieden was gerad gut ist für die Kinder. in seinem verkoksten Hirn. und ähm (.) aber ich weiß dass wir alle irgendwie Angst hatten vor ihm. trotzdem haben wir ihn Papa Peter genannt, und er war so der große Häuptling aber irgendwie hatten alle Angst vor ihm.“
Frau Chruchots Praxis des Sich-Einordnens gerät immer wieder in Passungsschwierigkeiten zum sozialen Raum der Lebensgemeinschaft, insofern hier die Regeln von der Willkür der Führungspersonen abhängen. Die dadurch entstehende Unsicherheit äußert sich für Frau Chruchot in einem Gefühl der Angst. Eine Emotion, welche bei der Rekonstruktion der weiteren biographischen Erzählungen von Frau Chruchot noch eine wichtige Rolle spielen wird. Als Frau Chruchot etwa acht Jahre alt ist, wird die Führung der Lebensgemeinschaft von der Polizei verhaftet; viele ihrer Mitglieder setzen sich ins Ausland ab, weil sie befürchten, juristisch verfolgt zu werden. Die Mutter von Frau Chruchot organisiert mit einem kleineren Personenkreis von verbleibenden Mitgliedern der Lebensgemeinschaft eine Fortführung der „Kommune“, jedoch ohne eine hierarchische Leitung. Dabei liiert sich die Mutter mit einem früheren Mitglied der Kommune, mit dem es in der Folge immer wieder zu Auseinandersetzungen kommt. Frau Chruchot wird dabei ab ihrer Jugend von ihrer Mutter häufig in die Konfliktsituationen mit ihrem Lebenspartner involviert. In der Folge zeichnet sich jedoch ein Wandel ab, der sich auch in der semantischen Form des Interviews dokumentiert. Frau Chruchot erzählt von den familiären Konflikten (Z. 527–535): „Irgendwann hab ich‘s einfach nicht mehr ausgehalten und bin dann ganz schwer krank geworden hab Angina gekriegt lag zwei Tage fast im Koma, also ich erin-
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ner mich an gar nichts mehr ich hab irgendwie zwei Tage war ich nicht mehr wach hab nichts gegessen nichts getrunken und dann als ich aufgewacht bin aus der Krankheit hab ich zu meiner Mutter gesagt, dass entweder er geht oder ich gehe. er muss ja nur wieder nach unten ziehen mir ist es zu eng und ich kann es nicht mehr. und sie ja er geht und eine Woche war er weg und dann war er wieder da und dann hab ich gesagt ich zieh aus und sie hat‘s mir nicht richtig geglaubt und ich hab mir ne Wohnung gesucht und bin ausgezogen.“
Frau Chruchot ist unzufrieden mit ihrer häuslichen und familiären Situation. Diese Unzufriedenheit steigert sich so, dass sie eine schwere Erkrankung auf ihre familiäre Situation zurückführt. An dieser Stelle deutet sich auf der semantischen Ebene ein Wandel an. Während Frau Chruchot ihre bisherige Biographie weitestgehend aus einer Perspektive der äußerlichen Abhängigkeit beschreibt, in der ihr ein Handlungsspielraum von anderen vorgegeben wird, versucht sie nun selbst eine eigene Handlungsmacht zu erhalten. Sie verlangt von ihrer Mutter den Entschluss, etwas zu ändern, und bezieht so eine kritische Position gegen sie. Als sie merkt, dass die Mutter in ihrer Entscheidung inkonsequent ist, zieht sie von zu Hause aus. Entsprechend der schon rekonstruierten Phasentypik von Wandlungsprozessen (vgl. Kapitel 5.5) können die Krankheit, der Versuch einer Erlangung von Handlungsmacht und die damit verbundene Thematisierung einer familiären Krise als eine Phase des Fremdwerdens gegenüber einem zuvor biographisch relevanten sozialen Raum beschrieben werden. Die sich über einen längeren Zeitraum abzeichnende Unzufriedenheit von Frau Chruchot mit ihrer familiären Situation mündet in einer kritischen Distanznahme gegenüber ihrer Familie, die sie dazu führt, von der Mutter eine Entscheidung zu verlangen. Als diese jedoch die gemeinsame Übereinkunft erneut missachtet, distanziert sich Frau Chruchot von einem weiteren Zusammenleben mit ihrer Familie, indem sie die Gemeinschaft verlässt. In der Folge versucht Frau Chruchot, sich an neue soziale Räume anzuschließen. Sie erzählt über die Zeit nach ihrem Auszug (Z. 547–560): „Und ähm eigentlich war‘s ne sehr schöne Zeit außer eben dass ich angefangen hab Bulimie zu haben. und dann bin ich mit meinem damaligen Freund zusammengekommen und ähm bin auch mit ihm zusammengezogen als ich 17 war und dann wurd alles irgendwie besser und ich war kurz vor‘m Abitur, und ich hatte in der Schule mit 16 angefangen jeden jede Woche zwei mal Meditationskurse zu
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machen und bin immer ruhiger geworden und hab immer mehr ich hätte eigentlich ne Therapie anfangen müssen aber es hat nie so es hat niemand richtig ich hab‘s den Leuten gesagt also ich hab zu meinem Freund gesagt dass ich diese Krankheit hab ich hab‘s meinen besten Freundinnen gesagt aber es hat niemand mich jemals weiter gefragt. sie haben‘s zur Kenntnis genommen aber haben irgendwie nicht realisiert dass es ernst ist. und ähm (.) dann kurz vor‘m Abi ging‘s mir eigentlich viel besser, auch ich glaube viel durch diese Lehrerin mit der ich so viel meditiert habe, die mir sehr viel Zuneigung gegeben hat oder Verständnis war eigentlich ne Art von Therapie n bisschen.“
Svetlana Chruchot beginnt eine Beziehung und zieht mit ihrem Freund zusammen, sie meditiert und baut einen vertrauten Kontakt zu ihrer Meditationslehrerin auf. Frau Chruchot beschreibt diesen Abschnitt ihrer Biographie, der als Suche und Anschluss an neue soziale Räume rekonstruiert werden kann, allgemein als „sehr schöne Zeit“. Sie deutet aber auch psychosomatische Problemlagen an, wenn sie von ihrer Bulimiekrankheit spricht. Trotz dieser neu auftretenden Symptomatik bewertet sie diese Phase als einen Lebensabschnitt, in dem es ihr „eigentlich viel besser“ ging, was vermuten lässt, wie krisenhaft sie ihr familiäres Zusammenleben empfunden haben muss. Frau Chruchot gerät in eine weitere emotionale Krise, als ihr Freund sich in eine andere Frau verliebt. Sie erzählt (Z. 582–595): „Das war ein Drama und ich hab ihn nur angeguckt und über ihn gelacht und gelacht und es war so schrecklich und ich hab ich konnt nicht mehr lernen meine Mutter hat mir dann so das war so der erste Liebesbeweis richtig dass sie dann hat sie nur noch mit mir gelernt und hat mir so viel geholfen und so dass ich das irgendwie schaffe obwohl‘s ich konnte nicht mehr essen ich konnt nicht mehr es war so weil wir auch zusammen gewohnt haben und er war meine Familie gewesen in der Zeit wo ich niemanden wo ich allein war in Hamburg und ähm ((Räuspern)) dann nach zwei Wochen kam er eh wieder an und meinte er liebt die Frau nicht er will wieder zurück aber es war irgendwie was kaputt, und ich hatte mich schon entschieden dass ich weggehe ich wollte eigentlich immer aus Hamburg weg. ich wollte vom Hof weg ich wollte aus Hamburg weg ich wollte immer dort weg. ich hab die Sprache gehasst ich hab die Mentalität gehasst ich hab die Leute irgendwie ich hatte zwar meine Freunde aber ich hab‘s irgendwie wusste ich ich komm da nicht weiter.“
In der Erzählung wird klar, dass Frau Chruchot zumindest teilweise den sozialen Raum der Familie durch ihren Freund ersetzt hat. Als nun die Beziehung zu dem Freund zerbricht, bezieht Frau Chruchot sich wie-
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der stärker auf ihre Mutter und damit auf ihren alten sozialen Raum. Es zeigt sich aber auch ein anderer Umgang mit den Problemen. Zwar stößt Frau Chruchot das „Drama“ ihrer Beziehung wieder zu, womit sie immer noch in einer Semantik des von Außen-Zustoßens verbleibt; anders als in ihrer Kindheit versucht Frau Chruchot nun aber – sicher auch mit anderen Möglichkeitsräumen ausgestattet –, dem Problem eigene Handlungen entgegenzustellen. Sie empfindet eine Unzufriedenheit, die sie veranlasst, die Stadt und damit ihre alten sozialen Beziehungen zu verlassen. Der begonnene Prozess des Fremdwerdens gegenüber der Familie wird von Frau Chruchot fortgesetzt. Sie sucht nach neuen sozialen Anschlüssen. Sie zieht mit einer Freundin nach München und beginnt hier ein Studium der Asienwissenschaft, für das sie sich jedoch nicht engagiert (vgl. Z. 639). Es beginnt eine Phase des Moratoriums, in der Frau Chruchot viel Zeit allein verbringt. Sie erzählt (Z. 642–657): „Und ich weiß noch ich hatte einfach nicht so viel zu tun durch die Uni ich war irgendwie vier Stunden in der Woche auf der Uni und war viel zu Hause und hab gemalt ich hab früher immer gemalt wenn‘s mir schlecht ging ich hab irgendwie das=ist so hängen geblieben da von früher dass man seine Gefühle immer schreialso oh dass man immer schreibt oder malt um irgendwie seine Aggressionen seine Wut seine Trauer rauszulassen.“
Frau Chruchot beschäftigt sich in ihrer Freizeit wieder mit ästhetischen Praktiken, die sie schon während ihrer Zeit in der Lebensgemeinschaft kennengelernt hat. In diesen Praktiken versucht sie einen Umgang mit ihren Gefühlen zu finden, indem sie malt. Die Fortführung der schon in der Kindheit und Jugend kennengelernten Praktiken spielt auch bei der sich nun weiterentwickelnden berufsbiographischen Orientierung eine Rolle, indem Frau Chruchot sich entschließt, Gesang zu studieren. Dass dabei weniger der Gesang im Speziellen als vielmehr das Sich-Darstellen auf der Bühne eine Rolle spielt, verdeutlicht sich auch darin, dass Frau Chruchot auf Anraten ihres Vaters den Wunsch, ausschließlich Gesang zu studieren, aufgibt und sich an Schauspielschulen bewirbt. Hiervon erzählt sie (Z. 680–689): „Ich kann mich nicht erinnern dass ich wirklich was wusste davon wie Schauspiel studieren funktioniert oder was was man da machen muss oder ich hatte eben auch keine Stücke gelesen vielleicht zwei drei die man in der Schule lesen muss
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meine zwei Theaterbesuche waren eben wie gesagt Jägermeister trinken oder von den Logen Kaugummi auf die Leute schmeißen und Rumkugeln unter die Füße der @der Schauspieler werfen und so@ und ähm ich hab eigentlich kein Interesse am Theater gehabt aber ich hab‘s gerne gemacht selber ich hab immer gerne auf der Bühne gestanden. hab auch immer gerne Gesangsabende gemacht und gesungen und so ich hatte nie ne Scheu ich war auch immer bei den Gesangsabenden war ganz klar ich bin als erstes dran weil ich keine Angst davor hab und so.“
Trotz des Bestrebens, sich an einer Schauspielschule zu bewerben, hat Frau Chruchot keinen Bezug zur Institution des Theaters. Bei den wenigen Theatervorstellungen, die sie selbst besucht hat, stand weniger die Au¤ührung als die Störung der Au¤ührung im Vordergrund. Trotzdem hat sie einen praktischen Bezug zur Bühne, insofern sie in ihrer Kindheit innerhalb der Lebensgemeinschaft und auch später in der Wohngemeinschaft ihrer Mutter oft selbst auf einer Bühne gesungen und geschauspielert hat. An anderer Stelle berichtet sie, wie das Theaterspielen nach der Auflösung der Lebensgemeinschaft und der Neugründung einer Wohngemeinschaft ein verbindendes Element für sie darstellte (Z. 435–450): „Das war eigentlich ziemlich schön als eben der Guru nicht mehr da war und keine Struktur mehr da war und plötzlich konnten wir alles machen was wir wollten und waren total frei und haben immer noch jeden jedes Wochenende Theaterabende gemacht und zu jedem Thema wenn der Nikolaus kam zu Weihnachten haben wir Shows gemacht und Fernsehabende wo wir son Karton in so ne Tür gesetzt haben und alles rundherum mit Tuch verhüllt haben dass nur der Kar- man konnte nur durch den Karton durchgucken und dahinter haben wir dann Shows gemacht und Werbung gebracht und wir haben uns in so ne Rage reingespielt weil‘s plötzlich keinen Leader keinen Leiter mehr gab und wir waren total frei, und irgendwann haben wir auch ne Kamera bekommen und haben gefilmt wie die Verrückten und haben alles verfilmt Bauchspeicheldrüsenoperationen mit Katzenfutterbrocken und Ketchup stundenlang und Knetfilme und Cowboyfilme und alles Mögliche. und ähm also das war son bisschen das was aus der Kommune übrig geblieben ist bei uns. äh an dem Thea- beim also vom Theaterspielen. dass wir das immer noch leidenschaftlich gern gemacht haben und gar nicht aufhören konnten damit mit Verkleiden und in andere Rollen schlüpfen und uns irgendwelche Geschichten ausdenken und so.“
Frau Chruchot findet Spaß am Sich-Darstellen, am Auf-der-Bühne-Sein, am Singen, Sich-Verkleiden und Geschichtenausdenken. Gerade nach der Auflösung von alten Machtstrukturen verbindet sie in ihren Erzählungen
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das Au¤ühren auch mit einem Gefühl der „Freiheit“. Das Au¤ühren, das schon in ihrer Kindheit und in ihrer Jugend eine Rolle spielte, und das damit verbundene Sich-Darstellen reproduziert Frau Chruchot nun auch in der eigenen berufsbiographischen Orientierung. Frau Chruchot bewirbt sich an einer Schauspielschule und wird angenommen. Sie erzählt (Z. 701–711): „Bin dann ja hab dann studiert, nach einem ich bin auch in den ich ich weiß nicht es war irgendwie die Zeit die ich in der Uni war war sehr intensiv ich hatte auch ne äh ganz also die Hälfte meiner Klasse damals war ganz toll ich hatte ganz tolle Freunde und so nur leider haben wir in der Zeit auch wirklich sehr viel gekifft sehr sehr viel gekifft auch im Unterricht und so also vor dem Unterricht und so was irgendwie die Zeit n bisschen verschwommen werden lässt, aber ich hab gespielt und es hat mir Spaß gemacht und ich hatte einfach nie Angst auf die Bühne zu gehen ich wollte immer spielen ich hab nie verstanden auch bei den Aufführungen warum alle so aufgeregt waren und Stimmübungen machen und so ich hab für=mich war‘s irgendwie selbstverständlich dass man da rausgeht und das macht und ich will es endlich machen und zeigen was wir da einstudiert haben.“
In ihrer Schauspielklasse findet Frau Chruchot sozialen Anschluss, sie integriert sich in die Ausbildungsinstitution der Schauspielschule. In den Beschreibungen aus ihrer Praxis des Theaterspielens zeigt sich, dass Frau Chruchot das Auf-die-Bühne-Gehen und Sich-Darstellen mit einer habituellen Sicherheit begeht. Während bei ihren Kommilitonen die Au¤ührung mit Angst und Aufregung verbunden ist, empfindet Frau Chruchot es als „selbstverständlich“, das Einstudierte auch zu zeigen. Wie schon in vorherigen Erzählungen dargestellt, ist ihr Sich-auf-derBühne-Darstellen nicht aus einem kurzfristigen Wunsch, sondern aus einer schon in der Kindheit und Jugend eingeübten Praxis entstanden. Frau Chruchot erfährt im Sich-Darstellen auf der Bühne die habituelle Natürlichkeit und Selbstverständlichkeit einer lange eingeübten Praxis. Betrachtet man die bisherige Darstellung der biographischen Entwicklung von Frau Chruchot, so zeigt sich ein auch schon in Kapitel 5.5 rekonstruierter Phasenablauf. Frau Chruchot partizipiert an einem für ihre Entwicklung maßgebenden sozialen Raum, hier dem der Lebensgemeinschaft und später dann dem der Wohngemeinschaft der Mutter. In dieser Phase entwickeln sich zwei unterschiedliche Logiken der Praxis: zum einen die des Sich-Unterordnens und zum anderen die des Sich-Darstellens. In der Folge kommt es dann zu einem Fremdwerden gegenüber
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dem sozialen Raum der Familie, jedoch nicht mit den hier ausgebildeten Praktiken des Sich-Einordnens und des Sich-Darstellens. Frau Chruchot zieht aus, um sich dann an neue soziale Räume anzuschließen, wobei sie zunächst eine Intimbeziehung zu einem Mann eingeht, der für sie teilweise einen Familienersatz darstellt. Die Beziehung zu ihrem Freund gerät jedoch in eine Krise, mit dem Ergebnis, dass Frau Chruchot in eine andere Stadt umzieht. Hier entwickelt sie, insbesondere vor dem Hintergrund der ausgebildeten Praktiken, eine eigene berufsbiographische Orientierung. Frau Chruchot nimmt aus schon seit Kindheitstagen vorhandenem Interesse an einem Sich-auf-der-Bühne-Darstellen ein Schauspielstudium auf, wodurch sich ihre entwickelte Praxis des Sich-Darstellens mit einer berufsbiographischen Orientierung verbindet.
Bruch mit den entwickelten Logiken der Praxis Innerhalb ihres Schauspielstudiums kommt es zu einer Krise und zu einem ersten Bruch mit den Praktiken des Sich-Darstellens und des SichEinordnens. Frau Chruchot führt dazu aus (Z. 771–806): „Und das Semester hatte angefangen und wir haben sehr krasse wir haben mit Manfred Campe gearbeitet der so sehr viel Strasbergmethoden und so Method Acting son bisschen. also so so Methoden angewandt hat wo man so sehr tief in sich hineingeht und wir haben viel so Chakrasingen gemacht an der Uni und so und plötzlich ist ich weiß nicht was passiert ist aber ich hab nur noch am Boden gelegen und gezittert in dieser Zeit. bei jeder Übung bin ich irgendwie zusammengebrochen und hab gezittert und es hat immer jemand meine Hand gehalten ich musste immer rausgehen weil ich nicht mehr konnte und so und es war so es war zwar irgendwie ich hab geweint geweint geweint und es hat sich was gelöst in mir (.) was äh ich weiß nicht es war so ein wunderschönes Gefühl obwohl ich die ganze Zeit geweint hab.“
Frau Chruchot wird in den Schauspielübungen mit ihrer Emotionalität konfrontiert. Ihre Gefühle brechen über sie herein. In einer anderen Form erscheint ihre Emotion so wieder als etwas Äußerliches, das Frau Chruchot nicht beeinflussen kann. Sie muss in den Übungen weinen, sie kann nicht mehr stehen, liegt am Boden und zittert. Die Konfrontation mit ihrer Emotionalität ist so stark, dass sie die Übungen immer wieder abbrechen muss. Das Weinen bewertet Frau Chruchot, anders als die unkontrollierbare Äußerlichkeit der Kindheit, als positiv, insofern sie im
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Weinen eine Erleichterung erfährt. Von den Übungen erzählt Frau Chruchot weiter (Z. 771–806): „Und plötzlich weil wir eben auch Übungen gemacht haben ich weiß noch eine Übung da sollten wir uns einen Raum vorstellen und ganz also in diesen Raum reingehen und da drin verweilen. unsere Position feststellen in dem Raum und nachfühlen wie dieser Raum ist. es kann ein Raum aus der Kindheit sein oder ein anderer Raum und ich hab ich bin in einen Raum reingekommen den ich einfach vergessen hatte der so der meine ganze Kindheit wieder hochgeholt hat und dieses Gefühl von Angst und nicht wissen zu wem man gehört und dieses Misstrauen jedem Menschen gegenüber und das Alleingelassenwerden von der Mutter und alles. kam mit einem Schwall plötzlich hoch (.) und dann meinte auch Manfred Campe einmal das weiß ich noch meinte zu mir Svetlana die Energie des Weinens ist dieselbe wie die des Singens. sing doch mal während du weinst. und ich hab angefangen zu singen und in dem Moment hab ich gemerkt nein ich musste als Kind musste ich jeden Abend in die Mitte treten und ich durfte nicht ein Subjekt sein ich durfte nicht sagen nein heute will ich nicht. sondern ich musste immer funktionieren und in dem Moment hab ich gedacht nein. ich ich funktionier jetzt nicht mehr ich hab keine Lust ich will jetzt für mich allein sein und ich möchte weinen weil es fühlt sich gut an zu weinen ich möchte das jetzt nicht umwandeln und wieder singen und wieder funktionieren um auf die Bühne gehen zu können.“
Als Frau Chruchot in einer Übung mit ihren biographischen Kindheitserinnerungen an Angst, Orientierungslosigkeit, Misstrauen und Alleingelassenwerden konfrontiert wird, verändert sich ihr Bezug zu der Praxis des Sich-Darstellens. Sie erkennt, wie das Sich-Darstellen für sie in ihrer Kindheit, neben der schon an anderen Stellen erwähnten positiven Bewertung, auch einen Zwangscharakter hatte. In ihrer Kindheit musste Frau Chruchot sich darstellen, ob sie wollte oder nicht – sie „musste immer funktionieren“. Die Logik der Praxis des Sich-Unterordnens, welche für sie biographisch verbunden ist mit der Logik der Praxis des Sich-Darstellens, wird für Frau Chruchot problematisch. Als ihr Schauspiellehrer sie au¤ordert, die „Energie des Weinens“ für die „Energie des Singens“ und damit für die Darstellung zu nutzen, verweigert sich Frau Chruchot. Sie möchte das Weinen nicht „umwandeln“, sie möchte nicht mehr „funktionieren“. Der sich schon vorher anzeigende Wandel der semantischen Form von einem äußerlichen Ausgeliefertsein zu einem Selbst-agieren-Wollen dokumentiert sich nun deutlich. Frau Chruchot gesteht sich zu, die an
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sie gestellten Ansprüche zu negieren. Das Negieren des Außen ist etwas, was ihr in der Kindheit nicht erlaubt war. Sie durfte in dieser Zeit nicht Nein sagen und konnte ihrer eigenen Deutung nach dadurch kein „Subjekt sein“. Nun bricht Frau Chruchot mit den für sie in diesen Zusammenhang verwobenen Praktiken des Sich-Unterordnens und des Sich-Darstellens. Bei der Rekonstruktion dieser Brüche fällt auf, dass ihnen eine biographische Erfahrung der Vergemeinschaftung an dem geographischen Ort ihrer Kindheit vorausgeht. Hiervon erzählt Frau Chruchot (Z. 724–753): „Und ähm bin dann im April 200(.)3 bin ich nach Südfrankreich gefahren (.) hab dort gearbeitet weil seitdem die Kommune zu Ende war war ist dort son Hotelbetrieb für eher betuchte Leute oder es ist son ganz besonderer Platz wo keine Autos fahren wo es ganz still ist wo nur biologisches Essen (oder=so) ist son ganz spezieller Ort irgendwie eingerahmt von zwei riesigen Bergen und vorne nur das Meer und (.) und dann war ich dort fünf Wochen und war mit auch mit einem Typen da zusammen und wir haben den ganzen ich durfte irgendwann ich hab die Kinderbetreuung gemacht was mir wahnsinnig gut getan hat und die Kinder haben mich geliebt und die Eltern sind zu mir gekommen haben mir Geschenke gebracht weil sie meinten die Kinder haben so Fortschritte gemacht und es war irgendwie ich war dort mit einer Gruppe von anderen Studenten da sind immer viele andere Studenten die dort arbeiten die wir waren so eine schöne Gruppe wir haben jeden Abend zusammen musiziert und gesungen und Kunst und Jamsessions gemacht und Ausflüge gemacht und es war so das erste Mal in meinem Leben dass ich so wirklich mich in einer Gruppe von Leuten geliebt gefühlt habe. weil auch auch nach der Kommune war es bei uns immer so ne wir wurden einfach von klein auf darauf getrimmt dass wir so Konkurrenz und Neid und Eifersucht gegeneinander verspüren und dass jeder so ne Rolle hat in die er drinsteckt die er irgendwie auch erfüllen musste und wenn du diese Rolle nicht erfüllt hast dann haben die anderen dich schief angeguckt also obwohl wir uns so gut kannten aber was ja wahrscheinlich auch normal ist bei Leuten die so wie Geschwister aufwachsen war es immer so ne eben auch dieses dass ich mein dass meine besten Freunde wussten dass ich Bulimie hatte und mein wenn ich jetzt meinen Freunden das sagen würde die würden mir links und rechts eine runterhauen und mich zur nächsten Therapiestelle schleppen aber das war irgendwie es war so ne feindschaftliche Atmosphäre immer noch zwischen uns da am Hof. und da in Südfrankreich war das erste Mal dass ich wirklich total glücklich war unter den Menschen und mich total akzeptiert und geliebt gefühlt habe und war mit diesem Typen dann zusammen der dort lebt und war irgendwie auf einen Tag auf den anderen hat meine Bulimie aufgehört und alles war perfekt. alles war super.“
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Frau Chruchot erlebt am gleichen geographischen Ort ihrer Kindheit eine kontrastierende Erfahrung. Während sie den Ort der kindlichen Lebensgemeinschaft als einen Ort der Konkurrenz, des Neides und der Eifersucht erlebte, macht sie nun am gleichen Ort mit Studenten ihres Alters eine für sie positive Erfahrung der Vergemeinschaftung, in der sie ausdrückt, sich „akzeptiert“ und „geliebt“ gefühlt zu haben. Dieses Gefühl der Gemeinschaft hat für sie einen so starken E¤ekt, dass sie ihre Bulimie-Erkrankung überwinden kann. Auf einer semantischen Ebene zeigt sich ein Wechsel von einer auf einen strategischen Umgang mit Machtbeziehungen abzielenden Semantik, die die Erzählungen, Beschreibungen und Argumentationen der Kindheit strukturiert, zu einer auf Anerkennung von sich und anderen abzielenden Semantik, die in den folgenden Interviewpassagen relevant wird. Die sich hier im Urlaub andeutende Veränderung führt dann in die zuvor dargestellte Passage des Bruches mit den unterschiedlichen Logiken der Praktiken des Sich-Darstellens und des Sich-Unterordnens. Frau Chruchot entschließt sich, ihr Schauspielstudium abzubrechen, um mit ihrem neuen Freund zu einer längeren Reise nach Asien aufzubrechen. Sie erzählt (Z. 816–820): „Und ähm konnte auch irgendwie nicht mehr spielen in der Uni hab ich mich hab ich nur noch geweint und ähm hab mich ent- hab mich mit meinem Freund entschieden nachdem wir zwei Wochen zusammen waren haben wir entschieden dass wir zusammen nach Asien fahren und alles hinter uns abbrechen.“
An anderer Stelle führt sie aus (Z. 832–838): „Ich wollte einfach nichts mehr damit zu tun haben. ich war so befreit dass ich aus dieser Uni und aus diesem Druck irgendwie dass ich spielen muss und mich quasi irgendwie beweisen muss was ich als Kind irgendwie immer das Gefühl hatte dass ich muss und muss und sonst bin ich schlecht und komm in der Struktur runter und bin kein guter Mensch und krieg keine Liebe, dass ich dieses Gefühl einfach über Bord werfen konnte und sagen konnte nee ich mach‘s jetzt aber nicht und ich liebe mich selbst und ihr müsst mich nicht lieben. und das war irgendwie son Triumph.“
Frau Chruchot bricht mit den gegebenen Praktiken des Sich-Darstellens und des Sich-Einordnens, um diese dann in einem Studienabbruch zu negieren. Dabei ist für sie entscheidend, nicht mehr nur den externen,
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sondern vor allem auch den eigenen Ansprüchen gerecht zu werden. Frau Chruchot will in der Folge strategische Beziehungen, in denen es ihr um die Positionierung in einer hierarchischen Struktur geht, weniger stark gewichten als Beziehungen, die auf Anerkennung abzielen und in denen es ihr auch um ein Verhältnis zu sich selbst geht. Diesen Wechsel empfindet sie für sich als „Triumph“. Anschließend sucht sie nach Anschlüssen an neue soziale Räume, indem sie zunächst mit ihrem Freund nach Asien fährt mit dem Entschluss, alles hinter sich abzubrechen. Svetlana Chruchot wird auf ihrer Reise nach Asien mit für sie neuen Erfahrungen und Eindrücken konfrontiert. Hiervon erzählt sie (Z. 859–879): „Das war son son Realitätsknall irgendwie. ich hab gemerkt Fuck mein eigenes Schicksal ist ne Mücke im Vergleich zu dem Elefanten was hier so das Schicksal der Menschen ist. und halt da hab ich das Gefühl in in dieser Zeit da war ich 20 ist so wirklich son diese dieser Schleier der die ganze Zeit vor meinem Gesicht war weil ich auch in so ner irrealen Welt aufgewachsen bin ist einfach weg. es hat sich zur Seite geschoben und ich hab ganz klar gesehen. und ich hab die Realität zum ersten Mal akzeptiert ich hab nicht das Bedürfnis empfunden in der Phantasie zu verschwinden oder in irgendwelche Rollen zu schlüpfen oder ähm mich in der Kunst auszudrücken oder sowas ich hab einfach nur noch gesehen und wahrgenommen und gesagt okay das ist das Leben. und das ist okay so. also ich weiß nicht wie es ich weiß nicht wie ich‘s beschreiben soll aber dieses Gefühl von dieser die Realität ist okay wie sie ist und sie ist hart aber sie ist okay. und ich schaff sie. (.) das war son son Knall. und ab da hat sich dann sind wir nach acht Monaten ungefähr sind wir wieder nach München zurück und ich hatte meine Urlaubssemesterfrist schon längst überschritten und war exmatrikuliert und dachte ich spiel eh nie wieder und ich hab ich will nie wieder was mit dieser ganzen mit diesem Pack von Schauspielern was zu tun haben und das ist alles immer Exhibitionismus und (.) ja es kam mir so pervers vor einfach dieses ganze Schauspielen und Profilieren und dieses weil viele Schauspieler einfach auch nach nach ner bestimmten Bestätigung suchen das ist ganz klar spürbar und mir war das so zuwider dass man dass man Bestätigung durch sein also dass man auf diese Art Bestätigung und Liebe sucht.“
Frau Chruchot versucht, ihr „Schicksal“ mit dem der Menschen in Asien zu relationieren. Die Einsicht in die eigene Begrenztheit wird für sie zum „Realitätsknall“, der in ihr das Bedürfnis weckt, der „Phantasie zu entschwinden“. Dabei bringt Frau Chruchot die Phantasie in einen Zusammenhang mit ihrer eigenen biographischen Praxis des Sich-Darstellens, welche sich, wie rekonstruiert, von ihrer Kindheit über die Jugend bis
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hin in die erste berufsbiographische Orientierung des Erwachsenenalters zieht. Die Phantasie des In-Rollen-Schlüpfens, des Sich-in-Kunst-Ausdrücken-Wollens stellt für sie einen biographischen Gegenhorizont dar, von dem es sich zu entfernen gilt. Sie will mit dem „Pack von Schauspielern“ nichts mehr zu tun haben. Sie will nicht mehr, wie sie dies in der Kindheit tun musste, „Bestätigung“ und „Liebe“ im Sich-Darstellen suchen, sondern sie will „sich selbst lieben“. Gleichzeitig empfindet Frau Chruchot die Realität als „hart“; dabei strukturiert sie aber, anders als in ihrer Kindheit, nicht mehr das Gefühl einer äußerlichen Bedrohung. Sie geht nun davon aus, die an sie gestellte Anforderung zu „scha¤en“, womit sie gegenüber der Welt eine eigene Handlungsmacht installiert.
Biographische Krise und das Entstehen einer neuen Praxis der Selbstinterpretation Nachdem Frau Chruchot aus Asien zurückkehrt, fällt sie wieder in eine emotionale Krise, welche sich in ihrer Beziehung zu ihrem Freund ausdrückt. Frau Chruchot beschreibt diese Phase als „schreckliche Zeit“ (vgl. Z. 880). Sie wird konfrontiert mit Ängsten von Allein-Sein, Hilflosigkeit und sexuellem Missbrauch (vgl. Z. 882 ¤.). Ihr Freund rät ihr zu einer Therapie, die Frau Chruchot jedoch zunächst aufgrund vorheriger schlechter Erfahrungen mit psychotherapeutischer Praxis in ihrer Kindheit, Jugend und im frühen Erwachsenenalter ablehnt. Die Beziehung droht zu scheitern, weil sich der Freund mit den Problemen von Frau Chruchot überfordert fühlt. Dies scheint Anlass für sie zu sein, ihre Ablehnung gegenüber einer Psychotherapie zu überdenken. Sie führt aus (Z. 934–942): „In der Zeit war das eben dass ich zurückkam und mich so an meinen Freund geklammert hab dass er einen irgendwann hat er eines Abends ge- mich weggestoßen gegen die Wand geschlagen wir haben beide gezittert er meinte lass dir helfen ich kann nicht mehr diese Bürde tragen lass dir helfen ich bin für dich da aber lass dir von jemandem helfen geh zur zur Behandlung ich kann nicht mehr und so. und dann hab ich‘s irgendwie verstanden und dann bin ich drei Wochen zu meinem Vater und hab bei ihm gelebt und hab verstanden okay ich muss mir irgendwie helfen lassen von einer Therapeutin weil ich kann es nicht bei meinem Freund abladen und ich muss mir aber helfen lassen weil es sind zu viele Ängste die mich da einholen.“
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Frau Chruchot kommt zu der Einsicht, dass sie hilfsbedürftig ist und dass das Suchen einer Hilfe bei ihrem Freund für sie nicht angebracht ist, sondern sie eine professionelle Hilfe in Anspruch nehmen muss. Sie beginnt in der Folge eine Psychotherapie. Sowohl in dem Abbruch des Studiums als auch in der späteren Aufnahme einer psychotherapeutischen Behandlung zeigt sich bei Frau Chruchot die Suche nach einer neuen Praxis der Selbstinterpretation.2 Vor dem Hintergrund des Sich-Unterordnens und den damit verbundenen Einschränkungen in ihrer Kindheit versucht Frau Chruchot, ihren Bedürfnissen große Beachtung zu schenken und sich für sie einzusetzen. Es zeigt sich ein Entwicklungsmuster von Bruch, Negation und Suche nach neuen Praxisanschlüssen. Nachdem Frau Chruchot mit der Praxis des Sich-Einordnens und Sich-Darstellens bricht und bei einer Asienreise diesen Bruch für sich als einen Bruch mit der biographischen Orientierung ihrer Kindheit erkennt, sucht sie nach neuen Anschlüssen und findet diese schließlich in der professionellen Hilfe einer Psychotherapie, womit eine neue Praxis der Selbstinterpretation einhergeht. Frau Chruchot möchte sich selbst mit der Hilfe einer Psychotherapeutin neu verstehen. Durch wöchentliche Gesprächstermine beginnt Frau Chruchot, einer regelmäßigen Praxis der Selbstinterpretation zu folgen, deren Ziel die Installation von neuen Selbst- und Weltverhältnissen ist. In der Psychotherapie gewinnt Frau Chruchot in der Folge einen neuen Bezug zu der zuvor negierten Praktik des Sich-Darstellens. Sie führt aus (Z. 952–961): „Hab dann eine Frau gefunden Claudia Weiß die meiner Mutter ähnlich sah und ne ganz tolle Frau war und die so ne Gestalttherapie mit mir gemacht hat, mit hab bei ihr angefangen und hab ihr gesagt und dann ist in der Zeit auch der Wunsch wieder aufgewacht dass ich doch wieder spielen möchte. ich bin eines Morgens aufgewacht und es hat so gekribbelt und ich hab=gedacht so ah nee das ist das ist so ne Leidenschaft von mir gewesen und ich will mir das jetzt nicht kaputtmachen durch diese Erinnerung und diese Ängste und diesen diesen Druck und diese Scheiße da in der Kindheit dieser Zwang sondern Spielen war meine LeidenDer Begri¤ der Selbstinterpretation und in diesem Zusammenhang die Praxis der Selbstsorge und die Technologien des Selbst können in einen Zusammenhang gestellt werden mit den späten Arbeiten von Michel Foucault 1989 a & b; 2004. Auch Foucault geht es um die Untersuchung von Praktiken der Selbstinterpretation und Selbstauslegung, jedoch nicht auf der Ebene von biographischen Interviews, sondern auf der Ebene von Diskursen. 2
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schaft und ich muss sie wieder zu meiner Leidenschaft machen. und musste unbedingt spielen. ich wollte unbedingt wieder spielen.“
Im Rahmen ihrer Psychotherapie beschäftigt sich Frau Chruchot erneut mit ihrer Kindheit und mit dem Verhältnis der Logiken der Praxis des Sich-Einordnens und des Sich-Darstellens. Aus dieser Beschäftigung erwächst für sie eine neue Thematisierung des Schauspielens. In einer kritischen Distanzierung von den Verhältnissen ihrer Kindheit und einer damit einhergehenden suchenden Bewegung beschließt sie, dass sie sich ihre „Leidenschaft“ für das Schauspiel nicht durch den „Zwang“ aus ihrer Kindheit kaputt machen lassen will. O¤ensichtlich strebt Frau Chruchot eine neue Form der Selbstinterpretation an, welche als eine Transformation von Selbst- und Weltverhältnissen verstanden werden kann. Der Prozess und die daraus entstehende neue Haltung sollen im Folgenden gekennzeichnet werden.
Transformation der Relation von unterschiedlichen Logiken der Praxis Einhergehend mit ihrem Entschluss, sich ihre Leidenschaft am Schauspiel nicht nehmen lassen zu wollen, nimmt Frau Chruchot ihr zuvor abgebrochenes Schauspielstudium wieder auf. Nach der Wiederaufnahme wird Frau Chruchot erneut mit ihrer Emotionalität konfrontiert, wobei sie nun einen anderen Umgang mit ihren Gefühlen finden kann. Hiervon erzählt sie (Z. 1005–1030): „Und am beim letzten Tag meinte sie [die Schauspiellehrerin (F. v. R.)] ist sie neben mir gerannt und wir mussten immer durch den Raum rennen und einander ausweichen und sollten schnell laufen und schnell laufen und so und sie sie lief plötzlich neben mir und hat mich angeschrieen ich soll schneller laufen. und ich bin immer son vorsichtiger Mensch gewesen der so vorsichtig alles also sich nicht immer so ne bestimmte Grenze nicht überschreitet weil so ne Angst da ist und dann gehen die Schultern hoch und dann fang ich kann ich nicht mehr atmen und krieg Panik. und die hat mich so ge- angeschrieen bis ich bis ich bis ich richtig losgerannt bin. und in dem Moment phh und dann hat sie mich hinten an der am Nacken so berührt, und in dem Moment ich weiß nicht was passiert ich bin äh ich bin geschwebt ich bin durch den Raum geschwebt und geflogen in einem und mir sind die Tränen aus den Augen gelaufen und ich war so befreit von allem (.) und das hi- hielt irgendwie fünf Minuten dann an und ich bin mit offenen=geöffneten Armen durch den Raum und hab geweint und geweint und bin gelaufen und hab den Leuten in die Augen gesehen und ich wollte mich nicht zurückziehen und ich wollte nicht alleine sein obwohl‘s mir obwohl mir die Tränen runtergelaufen sind
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und obwohl mich etwas gerad berührt hatte und sie meinte danach auch zu mir es ist super dass du geblieben bist weil du ich bin immer rausgegangen sonst wenn‘s mir schlecht ging weil ich mir gesagt hab ich nehm mir meinen Raum. oder ich nehm mir das was mir zusteht und ich will alleine sein wenn‘s mir wenn mich etwas so tief berührt dass ich ich möchte das nicht teilen. und sie war dann ganz stolz auf mich und meinte es ist super dass du das gemacht hast und äh und das war irgendwie ein Moment der mir so in Erinnerung geblieben ist weil‘s so phhu also ich hatte in meinem Leben manchmal Momente wo ich das Gefühl hatte so leicht kann es sein. wenn man loslässt. und so unbeschwert kann das Gefühl sein wenn man sich nicht wenn man diese ganze Last auf den Schultern einfach fallen lässt und sagt ich will die nicht tragen.“
Frau Chruchot wird in einer Schauspielübung mit ihren Ängsten und den damit verbundenen auch körperlichen Grenzen konfrontiert. Durch eine Hilfestellung der Schauspiellehrerin und durch einen Prozess, den sie selbst reflexiv nicht ganz einholen kann, gewinnt sie in der Übung ein anderes Verhältnis zu ihrer Emotionalität und den hier entwickelten Praktiken des Sich-Einordnens und des Sich-Ausdrückens. Frau Chruchot findet einen Weg, die Praxis des Sich-Darstellens in ein anderes Verhältnis zu der des Sich-Einordnens zu bringen. Beschrieb sie zuvor noch, wie sie ihre Gefühle in der Praxis des Sich-Darstellens umwandeln musste, wodurch es für sie zu einem Sich-Einordnen kommt, kann sie nun ihre Emotionalität mit der Praxis des Sich-Darstellens in einer neuen Weise verbinden. Frau Chruchot findet im Schauspiel eine Praxis der Auseinandersetzung mit sich selbst, in der für sie die Anerkennung der eigenen Bedürfnisse eine wichtige Rolle spielt. Anknüpfend an ihre Psychotherapie kann das Schauspiel für Frau Chruchot damit auch ein neuer Anlass zur Selbstinterpretation sein. Frau Chruchot geht nun nicht mehr dem Gefühl nach, sich aus einer Sorge um sich zurückziehen zu müssen. Die Logik der Praxis einer Anerkennung des Selbst und die Logik der Praxis des Sich-Darstellens kollidieren nicht mehr miteinander und setzen sich damit in eine neue Relation zu der Logik der Praxis des SichEinordnens. Frau Chruchot beschreibt die neue Relationierung, wenn sie zum Ende des Interviews über ihre Diplomarbeit spricht, welche für sie eine Übung der Selbstreflexion darstellte (Z. 1098–1128): „Beim Schreiben dieser Diplomarbeit bin ich auf einen (.) auf ein Zitat oder auf einen Teil aus einem Buch gestoßen von Jan Mattel Schiffbruch mit Tiger über die Angst, in dies- in diesem Kapitel beschreibt er den Kampf gegen die Angst. und dass die Angst das Einzige ist was uns Menschen eigentlich zerstören kann, weil
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weil sie immer wieder kommt weil sie so im Dunkeln wartet und lauert und erst wenn man diese Angst nimmt und sie in Worte fasst und sich mit dieser Angst beschäftigt und sie in irgendeiner Art ausdrückt erst dann kann man die Angst besiegen. und wenn man die Angst im Dunkeln schlummern lässt und sie vielleicht sogar vergisst dann gibt man der Angst alle Möglichkeiten einen wieder einzuholen und einen zu zerstören auf ne Art. und ich kann‘s nicht so genau wiedergeben aber dieser dieses Kapitel in dem Buch was ich dann an den Anfang meiner Diplomarbeit gesetzt hab hat mir erstens ich wollte diese Arbeit darüber schreiben über dieses Thema weil ich mir darüber klar werden wollte was ob ich spielen will oder nicht ob ich diese diese teil- teilweise auch qualvollen Gefühle beim Spielen immer der Beurteilung ausgesetzt zu sein und diesen alten Erinnerungen und Gefühlen ob ich das auf mich nehmen will diesen Kampf einzugehen, also diesen diesen Weg einzuschlagen und diese diese Angst die die dieser Weg mit sich führt auf mich zu nehmen und als ich‘s dann als ich‘s dann geschrieben hab hab ich gemerkt dass es hat es mich immer mehr herausgefordert dass ich dass es dieser Kampf ist. den ich unbedingt eingehen möchte. dass es auch diese Lust war mich zu konfrontieren mit dieser Angst die mich damals wieder in das Studium getrieben hat, und mittlerweile ist beim Schreiben eben so ne Lust in mir erwacht dass ich mich unbedingt dieser Angst stellen möchte dass ich diesen Kampf eingehen will dass ich richtig neugierig darauf bin was die Dämonen noch für mich bereithalten, und was ich noch alles bekämpfen muss oder worüber ich noch alles hinwegkommen muss um um diese Angst zu besiegen. oder mit dieser Angst zumindest zu kämpfen obwohl=ich ob ob ich sie jemals besiegen werde weiß ich nicht. ((Räuspern)) (.) und das ist jetzt ich bin ich bin zwar zu keiner Entscheidung gekommen ob ich Schauspieler werden will oder nicht weil man das ja auch nicht so sagen kann sondern das zeigt sich dann erst in der Zukunft, was wo der Weg so hingeht, aber ich bin auf jeden Fall bereit und stehe da mit meinen Waffen und möchte gerne kämpfen. (5)“
Frau Chruchot setzt sich in einer Selbstreflexion mit ihrem Verhältnis zu biographischen Ängsten aus der Kindheit und ihrer Praxis des SichDarstellens auseinander. Durch Literatur und gegebenenfalls auch durch ihre psychotherapeutische Praxis ist sie inspiriert, in eine weitere Auseinandersetzung mit ihren Ängsten einzutreten. Frau Chruchot geht davon aus, dass sie durch die Auseinandersetzung mit ihrer Angst und dem Finden eines Ausdrucks hierfür in ein anderes Verhältnis zu ihren Ängsten und damit auch zu ihrer Biographie treten kann. Die Praxis der Selbstsorge, in der für Frau Chruchot die Auseinandersetzung mit ihren biographischen Ängsten eine zentrale Rolle spielt, tritt in ein neues Verhältnis zur Praxis des Sich-Darstellens, womit sich auch die Relation zur Praxis des Sich-Einordnens wandelt. Vor dem Hintergrund des Phasenablaufs von Frau Chruchots Bildungsprozessen transformiert sie ihren
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Habitus durch die Transformation der Relation unterschiedlicher Logiken der Praxis. Auch auf der semantischen Ebene des Interviews ergibt sich ein Wandel. Durch die Praxis der psychoanalytischen Selbstinterpretation verändert sich die Thematisierung der Kindheit. Frau Chruchot beschreibt, wie sie die im Schauspielstudium auftretenden Ängste als Ängste ihrer Kindheit wahrnimmt. Treten diese Ängste in der Kindheit und Jugend in den Darstellungen noch als eine unbeeinflussbare äußere Instanz auf, welche die Handlungen von Frau Chruchot negativ determiniert, findet sie vor dem Hintergrund der Psychoanalyse eine neue Selbstinterpretation. Während Frau Chruchot zu Beginn ihres Schauspielstudiums die Angst als ein unkalkulierbares Äußeres wahrnimmt, das über sie hereinbricht, ist die Angst für sie nun ein Gegenüber, welches es zu bearbeiten gilt. Sie traut sich selbst zu, sich mit ihren Ängsten auseinanderzusetzen, um sich damit nicht mehr von einer versteckten Angst regieren zu lassen. Wenn Frau Chruchot infrage stellt, dass die Angst „jemals“ besiegt werden kann, zeigt sie, dass sie sich auf einen unabschließbaren Prozess einstellt. Die Angst ist dabei nicht mehr nur negativ besetzt; vielmehr findet Frau Chruchot in der Angst Potenziale, Neues zu entdecken, was sie gespannt werden lässt. Ihre Angst erscheint damit nicht mehr als ein negativ konnotiertes Außen, welches unkalkulierbar ist, sondern als eine interne Struktur, die potenziell in der Lage ist, Neues zu generieren. Die stark mit der Praxis des Sich-Einordnens verbundenen biographischen Ängste werden selbst Gegenstand der Auseinandersetzung, deren Praxisform sich auch in einer praktisch-körperlichen Selbsterkundung im Sich-Darstellen findet.
Zur Struktur eines Bildungsprozesses als Habitustransformation im Fall Svetlana Chruchot Wie in den zuvor rekonstruierten Fällen kann auch bei Svetlana Chruchot der Bildungsprozess aus zwei Perspektiven beleuchtet werden. Einerseits lassen sich in dem Interview unterschiedliche Phasen eines Bildungsprozesses rekonstruieren, andererseits kann auf einer semantischen Ebene ein Wandlungsprozess angezeigt werden. Zunächst zu den unterschiedlichen Phasen des Bildungsprozesses. Frau Chruchot bildet anfangs im sozialen Raum der nicht scharf zu trennenden Familie und kommunalen Lebensgemeinschaft zwei für ihre Biographie prägende Logiken der Praxis aus: zum einen die Praxis des
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Sich-Einordnens, zum anderen die Praxis des Sich-Darstellens. In ihrer Jugend kommt es bei Frau Chruchot zu einem Fremdwerden gegenüber der mit diesen Praktiken zusammenhängenden Familie. Mit den Prozessen der Kritik und der Distanzierung beginnt bei ihr eine Suchbewegung nach neuen Raumanschlüssen. In der Folge entwickelt sich aus der Praxis des Sich-Darstellens bei Frau Chruchot eine berufsbiographische Orientierung. Sie will Schauspielerin werden und besucht hierfür eine Schauspielschule, in der sich die Praktiken des Sich-Darstellens und des Sich-Einordnens zunächst neu verankern können. In ihrer Ausbildung zur Schauspielerin wird Frau Chruchot im Zusammenhang mit der Praxis des Sich-Darstellens jedoch auf eine für sie unangenehme Weise erneut mit der Praxis des Sich-Einordnens konfrontiert, welche sie zu diesem Zeitpunkt mit einem Funktionieren-Müssen gleichsetzt. Als bei ihr in Schauspielübungen wiederholt ein Weinen auftritt, das sich mit Gefühlen aus ihrer Kindheit verbindet, und der Schauspiellehrer sie au¤ordert, aus der „Energie des Weinens“ eine „Energie des Singens“ zu generieren, weigert sich Frau Chruchot, der Anweisung zu folgen. Sie möchte sich nicht mehr einordnen, nicht mehr funktionieren und ihre Gefühle in der Darstellung verstecken. Hieraus entsteht bei Frau Chruchot der Entschluss, das Schauspielstudium abzubrechen. Mit dem Raum der Schaupielschule wird so zunächst gebrochen. Sie möchte mit dem „Pack“ der Schauspieler nichts mehr zu tun haben. Frau Chruchot beginnt sich mit ihrem Freund an neue soziale Räume anzuschließen, reist nach Asien und tritt in eine experimentelle Phase der Selbsterkundung ein, bei der ihre Beziehung zu ihrem Partner für sie eine wichtige Rolle spielt. Als die Beziehung in eine Krise gerät und der Freund Frau Chruchot zu professioneller psychotherapeutischer Hilfe rät, weil er selbst sich von den Problemen seiner Freundin überladen fühlt, beginnt Frau Chruchot über eigene Widerstände hinweg eine Psychotherapie. Durch die vertrauensvolle Beziehung zu ihrer Psychotherapeutin gelingt es Frau Chruchot, eine neue Praxis der Selbstinterpretation zu installieren. Durch diese Praxis kann Frau Chruchot eine Di¤erenz produzieren, wodurch ein Prozess einsetzt, der sie ihre biographische Situation hinterfragen lässt. Aus einer Kritik an den Verhältnissen ihrer Kindheit ergibt sich aus einer suchenden Bewegung heraus der Entschluss, ihr Schauspielstudium wieder aufzunehmen, weil sie sich ihre Leidenschaft
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für das Schauspiel nicht durch die negativen Erlebnisse in ihrer Kindheit nehmen lassen möchte. Während des neu aufgenommenen Schauspielstudiums kommt es bei Frau Chruchot zu einer Transformation der Relation von unterschiedlichen Logiken der Praxis und damit zu der Transformation ihres Habitus. Indem Frau Chruchot in der Praxis des Sich-Darstellens eine Praxis der Auseinandersetzung mit sich selbst findet, die ihr die Möglichkeit gibt, sich mit ihren biographischen Ängsten auseinanderzusetzen und mit ihnen zu „kämpfen“, verändert sich für sie auch die Praxis des Sich-Einordnens. Sie kann nun die Auseinandersetzung mit den eigenen Gefühlen und damit eine Praxis der Selbstsorge mit der Praxis des Sich-Darstellens dahingehend verbinden, dass sie ihre Gefühlswelt nicht mehr vor den anderen Schauspielern verstecken möchte. Sie findet einen Weg, sich in die Gemeinschaft der Schauspieler ein- und sich ihr unterzuordnen und sich an den sozialen Raum des Schauspiels anzuschließen. Sie transformiert damit die Relation zwischen den Logiken der Praxis des Sich-Einordnens, des Sich-Darstellens und der Selbstauseinandersetzung, indem das SichDarstellen zu einer Form der Selbstsorge wird, wodurch auch eine neue Praxis des Sich-Einordnens entsteht. Frau Chruchot bildet so einerseits einen neuen Habitus aus, andererseits generiert sie für sich einen neuen sozialen Raumbezug, der Anschlussmöglichkeiten für die sich mit ihrer Transformation der Relation unterschiedlicher Logiken der Praxis ergebenden Veränderungen bereitstellt. Neben den unterschiedlichen Phasen des Bildungsprozesses, an deren Ende die Transformation der Relation von unterschiedlichen Logiken der Praxis steht, kann Frau Chruchots Bildungsprozess auch auf einer semantischen Ebene nachvollzogen werden. Während Frau Chruchot ihre Kindheit und teilweise ihre Jugend in einer Semantik der Abhängigkeit von einem unkalkulierbaren Außen beschreibt, verändert sich dieser Bezug in ihrem frühen Erwachsenenalter. Zunächst beginnt Frauch Chruchot – einsetzend mit der Auseinandersetzung mit ihrer Mutter, die zu ihrem Auszug führt –, ihrer sozialen Umwelt eigene Handlungen entgegenzusetzen. Anders als in ihrer Kindheit startet Frau Chruchot damit den Versuch, für ihre Biographie eine eigene Handlungsmacht zu entwickeln. In ihrem frühen Erwachsenenalter setzt sich dieser Prozess fort. Nach biographischen Krisen, die zum Abbruch des Schauspielstudiums und später zur Aufnahme einer Psychotherapie führen, findet sie zu ei-
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ner Praxis der Auseinandersetzung mit sich selbst, welche das Unkalkulierbare einer sich aus ihrer Biographie ergebenden Angst als Potenzial für die Generierung von Neuem sieht. Das Außen wird von Frau Chruchot damit nicht mehr als eine externe Macht interpretiert, von der sie selbst abhängig ist, sondern das Außen ist nun potenziell ein Motor für eigene Entwicklungsmöglichkeiten.
7.2. Der Fall Jan Bosch Jan Bosch ist zum Zeitpunkt des Interviews sechzig Jahre alt und arbeitet als Psychotherapeut in Stuttgart. Geprägt von seiner Mutter, setzt sich Herr Bosch in seiner Jugend mit der katholischen Kirche auseinander, was ihn in seiner Adoleszenz schließlich zum Austritt aus der Kirche bewegt. In der Folge beginnt Herr Bosch ein Psychologiestudium und arbeitet mit Kindern aus sozialökonomisch schwachen Verhältnissen. Mit etwa dreißig erlebt Herr Bosch eine biographische Krise, von der ausgehend er anfängt, sich für esoterische Literatur und Praktiken zu interessieren. Dieses Interesse führt ihn über eine Psychotherapeutenausbildung nach Südamerika, wo er beginnt, sich mit dem Schamanismus auseinanderzusetzen.
Entwicklung der Praktiken des Engagements für andere und der existenziellen Sinnsuche Jan Bosch erzählt, dass seine Eltern früh heirateten. Der Vater arbeitet nach dem zweiten Weltkrieg in einer aufstrebenden Fabrik als Firmenleiter, die Mutter besorgt den Haushalt und kümmert sich um die vier Kinder. Geprägt durch die Beziehungen des Vaters zu anderen Frauen und dessen Alkoholprobleme bewertet Herr Bosch die Beziehung der Eltern in der Rückschau als eine „relative Katastrophe“ (Z. 84). Als Herr Bosch zwölf Jahre alt ist, trennt sich der Vater von der Familie und zieht mit einer neuen Frau in eine andere Stadt. Die Mutter, bei der Herr Bosch in der Folge lebt, wird depressiv und leidet die nächsten Jahre unter der Trennung und unter den damit verbundenen Konflikten mit ihrem Mann. Hiervon erzählt Herr Bosch (Z. 105–115): „In der Folge dieser ganzen Trennung (.) die sich ja über Jahre hinzog mit einer hoch depressiven Mutter, die also fürchterlich litt und ihre Sachen eigentlich nicht
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mehr machen konnte, die nie nen Beruf gemacht hat, weil se halt von Anfang an zwei Kinder hatte, also meine Schwester und mich, als die Älteren und dann kam später der Peter und dann der Alexander (.), also (5) die hatte nie nen Beruf, die hat ihr Abitur gemacht und war immer Hausfrau (.) und äh: konnte sich dann nicht lösen äh: nachdem der:, der Mann gegangen war, (.) nachdem mein Vater gegangen war und ((holt tief Luft)) hat sich in ihr verstrickt, in ihre Depressionen verstrickt und ich war sozusagen der:: (.) der Tragende dann. Es gibt ja immer in der Familie son äh: (.) IP, was identified patient bedeutet oder der identifizierte Patient heißt, der der sozusagen die (.) die unbewussteren Schichten auch trägt und ich hab halt das Leid der der Mutter gespürt und war für sie zuständig.“
Und an anderer Stelle führt Herr Bosch aus (Z. 198– 204): „Die Qual, ne Mutter zu haben die, die unglücklich is. (das glaub) is fürn Kind was: (.) was ganz Schreckliches, ja? vor allem für nen Kind, (.) was das spürt, ja? das andere, andere in der Familie wissen das nich unbedingt, Kinder wissen das nich. es is meistens einer oder ein Kind, was das sozusagen abkriegt. das es trägt, ja? das is ( ), auch ja? ((holt tief Luft)) und äh: (.) das is äh enorm entwicklungsbehindernd, ja wenn du nich frei bist. wenn du einfach nich, nich äh: (2) nich vorbehaltlos dem, dem Leben öffnen kannst, weil immer irgendwas zieht. immer zieht irgendwas (.).“
Die Trennung von ihrem Mann ist für Herrn Boschs Mutter nicht leicht zu verarbeiten. Neben der für sie unbefriedigenden familiären Situation ist sie nach den Erzählungen von Herrn Bosch auch mit ihrem beruflichen Möglichkeitshorizont als Hausfrau unzufrieden. All dies lässt sie depressiv werden. Herr Bosch fühlt sich verantwortlich für seine Mutter und bezeichnet sich selbst als den Tragenden, der das Leid seiner Mutter spürt und „für sie zuständig“ ist. Schon an dieser frühen Textstelle im Interview wird eine semantische Figur sichtbar, welche für die Erzählungen, Argumentationen und Beschreibungen von Herrn Bosch eine wichtige Rolle spielt. Herr Bosch sieht sich selbst in einer Position des Helfen-Wollens. Es entsteht eine enge Beziehung zwischen ihm und seiner Mutter, die Herr Bosch wegen ihres Leidens jedoch auch teilweise als „Qual“ empfindet. In der Position des Helfens ist damit für Herrn Bosch schon früh ein Konflikt angelegt. Einerseits fühlt er sich für seine Mutter „zuständig“, andererseits belastet ihn diese im Helfen angelegte Zuständigkeit. Neben der emotionalen Anteilnahme wirkt sich der mütterliche Einfluss auch auf Herrn Boschs Verhältnis zur christlichen Religion aus. Hiervon erzählt er (Z. 323–324):
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„Also katholisch groß geworden. (.) Messdiener gewesen. (.) sehr gläubig gewesen. (.) innig gläubig gewesen. (5)“
Herr Bosch wächst über die Mutter in den katholischen Glauben hinein und engagiert sich als Messdiener auch institutionell in der Kirche. Die Anteilnahme an der Kirche ist für Herrn Bosch jedoch nicht nur institutionell bestimmt, sondern er bezeichnet sich selbst auch als „innig gläubig“. Im Laufe des Interviews dokumentiert sich, dass im Zusammenhang mit der Kirche und dem religiösen Glauben für Herrn Bosch vor allem zwei Logiken der Praxis relevant werden: einerseits eine Praxis der Gerechtigkeit, die sich mit einer Praxis des Engagements für andere verbindet, andererseits eine Praxis der existenziellen Sinnsuche. Zu einer sich bei ihm entwickelnden Praxis der Gerechtigkeit und des Engagements für andere erzählt Herr Bosch (Z. 362–375): „Ja? also dieses Moment, (.) äh: gut zu sein, Gutes zu tun (.) und äh richtig zu sein und ne- und ne Ethik (2) die ähm: (2) wo ich nicht richtig weiß wo die herkommt. die kommt sicherlich von meiner Mutter, weil meine Mutter immer (.) ne Gute sein wollte. (.) aber (.) äh: ich weiß zum Beispiel, dass ich (.) ähm: (2) dass ich (.) eben mit sieben Jahren, wir sind umgezogen. ich komm in ne neue Klasse und zwar in die zweite Klasse (.) und da war son Steppke, ja? und (.) da gab es ein:, ein Kind in der Klasse, der Heribert, (.) und (.) Heribert war der (.) Abschaum. HariHeribert war (.) in der Obdachlosensiedlung und äh: (.) Heribert stank und (.) mit Heribert hatte man nichts zu tun. (2) und nach der Pause stellen wir, mussten wir uns na in die Klassen wenn‘s geklingelt hat (.) zu Zweierreihen aufstellen, also immer zwei zwei zwei zwei und niemand würde sich neben, neben Heribert stellen. (2) aber ich hab mich neben Heribert gestellt. (.) und man hat sich auch an die Hand gefasst. ((holt tief Luft)) und (.) das is ne (.) dat is ne Art wo ich eigentlich nich weiß wo ich dit hergenommen hab. weil ich kein, ich war nicht son Powerbolzen, der sich so durchgesetzt hat. sondern dat hab ich einfach gemacht.“
Seine Orientierung, „gut zu sein“, führt Jan Bosch auf seine Mutter zurück, welche immer eine „Gute“ sein wollte. Dass Jan Bosch jedoch nicht nur gut sein will, sondern auch „Gutes tun“ will, dass sich seine ethische Orientierung also mit einer Handlungs- und Praxisform verbindet, verdeutlicht er in der Erzählung über einen ausgegrenzten Schüler in seiner Klasse. Der aufgrund seiner Herkunft aus einem Obdachlosenheim als „Abschaum“ geltende Heribert wird von der Klasse sozial ausgeschlossen. Als es darum geht, dass sich jeder Schüler mit einem Partner in Zweierreihen aufstellen soll, um in die Pause zu gehen, stellt sich Herr Bosch
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neben den ausgegrenzten Schüler und gibt ihm die Hand. In seinen biographischen Erzählungen zeigt sich hier eine für ihn auch künftig wichtig werdende Praxis des Engagements für andere, welche orientiert ist an einem Gerechtigkeitsethos der vorbehaltlosen Integration. Vor dem Hintergrund der ersten interpretierten Passage ist die von Herrn Bosch thematisierte Herkunft des Engagements für andere doppelt zu lesen. Einerseits gibt Herr Bosch an, eine ethische Haltung von seiner Mutter vermittelt bekommen zu haben, andererseits kannte Herr Bosch, wie bereits vorher deutlich geworden ist, das im Engagement für andere angelegte Helfen auch schon durch das Sich-für-seine-Mutter-zuständig-Fühlen. Neben dem Engagement für andere entsteht im Zusammenhang mit dem sozialen Raum der institutionalisierten Religion eine zweite Praxisform, die als existenzielle Sinnsuche gekennzeichnet werden soll. Wie Herr Bosch in einer in anderem Zusammenhang noch zu interpretierenden Passage ausführt, stellt für ihn der katholische Glaube eine Möglichkeit dar, sich mit existenziellen Sinnfragen auseinanderzusetzen. In Gesprächen mit seinem Vater spricht er über Gott, den Kosmos und das Leben. Die im Zusammenhang mit der Praxis einer existenziellen Sinnsuche gestellten Fragen führen mit der Praxis eines Engagements für andere und der damit verbundenen Orientierung an einer vorbehaltlosen Integration zu einer kritischen Hinterfragung der katholischen Kirche. Hiervon erzählt Herr Bosch (Z. 324–336): „Sehr schnell mit (2) ab acht neun zehn Jahre bestimmt schon angefangen (.) Fragen zu stellen. (2) also zu sagen, zu zweifeln, warum (2) also dieses (.) ich bin katholisch geboren und deswegen darf ich (.) in Himmel mal, wenn ich mich gut verhalte (.) und (.) nen anderer is nich katholisch geboren (.) der darf nich. dit hat mich schon relativ früh: (2) hab dis nich verstanden, ja? weil ich dachte is doch Zufall, dass ich: (.) hier geborn bin und und christlich und jemand der irgendwo anders geboren is (.) der kann doch gar nichts dafür, das kann Gott nich wollen, oder so. dit war mir schon (.) also diese Logik die hab ich nie, die hab ich schon als, als relativ (2) früh hab ich die infrage gestellt. und äh: (.) ich bin dann mit (.) ähm: vierzehn nich mehr in die Kirche gegangen. da wars schon vorbei, da wurd ich dann sozusagen (2) agnostisch (.) oder oder atheistisch und hatte ne Phase die sich (4) bis ich achtundzwanzig war. bis ich wirklich: (.) äh: (.) die (eher) wirklich atheistisch geprägt is, würd ich mal sagen. wobei ich immer (.) immer (.) diese Faszination gespürt habe, an der Frage, was is eigentlich (.).“
Bei Herrn Bosch setzt schon sehr früh ein Wandlungsprozess ein, der sich bis in seine späten zwanziger Jahre hinein fortsetzen wird. Wie
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schon in Kapitel 5 herausgearbeitet, kommt es dabei zu einem Phasenablauf, bei dem ein Prozess des Fremdwerdens gegenüber einem biographisch relevanten sozialen Raum einsetzt. Über die Prozesse einer kritischen Distanznahme, einer Negation, einer damit einhergehenden Suche nach neuen Raumanschlüssen und eines noch weiter auszuführenden Neuanschlusses ergibt sich eine neue Verankerung der Praktiken des Engagements für andere und der existenziellen Sinnsuche. Die Frage, warum er als katholisch Geborener in den Himmel darf und andere nicht, kann Herr Bosch mit den ihm im katholischen Glauben zur Verfügung gestellten Sinnangeboten nur unbefriedigend beantworten. Die Praxis des Engagements für andere vor dem ethischen Hintergrund einer vorbehaltlosen Integration konfligiert mit dem von Herrn Bosch kennengelernten katholischen Glauben. Wie in der folgenden Passage deutlich wird, kommt es zu einem Fremdwerden gegenüber dem sozialen Raum der katholischen Glaubensvorstellungen, dem eine Negation der kirchlichen Institution folgt, sowie einem Neuanschluss an neue soziale Räume, die ihn „atheistisch“ werden lassen. Trotz des kritischen Bruchs mit der Institution bewahrt sich Herr Bosch eine Faszination für die für ihn zunächst mit der katholischen Kirche verbundene existenzielle Sinnfrage: „was is eigentlich“. Das für Herrn Bosch wichtige Gerechtigkeitsempfinden in Verbindung mit einer Praxis des Engagements für andere findet sich als Motivation und treibende Kraft auch in seinem nun folgenden politischen Engagement wieder, was nach dem Bruch mit der Institution der Kirche einen Anschluss an neue soziale Räume bedeutet. Über die Phase des Bruches mit der Institution Kirche und die folgenden Neuanschlüsse führt Herr Bosch aus (Z. 340–361): „Mit achtzehn bin sofort aus der Kirche ausgetreten (.) aus der katholischen, das war in dem Moment vollkommen klar, dass ich da nicht mehr hingeh (.) ((holt tief Luft)) und hab mächtig in, also in drei vier fünf Jahren mächtigen Hass auch auf die (.) auf die katholische Kirche geschoben. Also da war ich so was, so was wie (.) wenn ich (.) nich mehr agitiert worden wäre und ich hätte ne Bombe gehabt, das hätte gut sein können @ das irgendwie ne Bombe ( ) hätte@, weil ich dit einfach nur unmöglich fand. (.) und und und (.) äh: schräg fand äh, wie diese diese Institution Kirche sich erdreisten kann (.) äh: (3) in dieser Form aufzutreten, jemanden die Beichte abzunehmen, (.) und zu glauben dass sie allein Vorbild machend ist (.) und ähm: (4) und ein Gottesbild vermittelt, was: äh: (.) was strafend is:. ich hab also nich, ewig nich kapiert (.) ich hätt nich gedacht, dass es ne Hölle geben kann. ich dachte es gibt vielleicht nen Himmel (.) aber ne Hölle kann‘s nich ge-
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ben, weil die Menschen eigentlich nich, nichts dafür können, wenn sie, wenn sie schlecht sind, ja? also ich war damals schon sehr (.) materialistisch äh (.) sozusagen geprägt, als ich dachte, wenn jemand gute Voraussetzungen hat dann wird er auch nicht schlecht, oder so. ja? (3) ähm: Das hat natürlich dann auch dazu geführt, dass ich dann gerne in der äh (3) links geworden bin. ich hab ja immer diesen (.) diesen Bezug zum Arbeiter gehabt und ich hab mir dann fest vorgenommen ich will mein Leben (.) sozusagen (.) äh (.) für den (.) für die arbeitende Bevölkerung. das war mir eigentlich ne Ethik, die mir sofort klar geworden is. das mein Leben (.) sozusagen in die in die Pflicht oder in die (.) äh: (.) wie sacht man (2) in den Dienst (.) der Leute die arbeiten zu stellen, dit schien mir irgendwo logisch und sinnvoll zu sein, ja? (.) dit (.) und dit is sicherlich ne ne ne (4) ne Ableitung aus auch aus dem, aus dem tiefen religiösen Bewusstsein was ich als Kind hatte einfach gut zu sein (.)“
Der Bruch mit der Institution schlägt bei Herrn Bosch in einen „mächtigen Hass“ um. Er tritt aus der Kirche aus, die er nun „unmöglich“ findet. Seine Kritik an der Kirche verbindet sich mit einer „materialistischen“ Au¤assung, nach der die sozialen Voraussetzungen und nicht die Glaubensbekenntnisse entscheiden, ob jemand gut oder „schlecht“ wird. Hier deuten sich nach dem Bruch und der Negation der Kirche schon Anschlüsse an neue soziale Räume an. Seine Kirchenkritik führt ihn dazu, dass er „links“ wird, wodurch sich neue Raumanschlüsse und in der Folge die Entwicklung einer politischen Praxis ergeben. Neben dem Bruch zeigt sich aber auch eine Weiterführung der ihm schon im Rahmen der Kirche wichtigen Praxis des Engagements für andere. Herr Bosch möchte sich in den „Dienst der Leute, die arbeiten“ stellen. Um den Hintergrund für Herrn Boschs Engagement für Arbeiter zu verstehen, ist sein Verhältnis zur väterlichen Arbeitswelt aufschlussreich. Hiervon erzählt er (Z. 228–250): „Ich bin ja von Kind auf eng in in Betrieben groß geworden. und ich kannte also immer die äh: schon die: (.) das Fließband ich kannte die Arbeiter am Fließband (.) äh ich kannte die (3) ich kannte die Fahrer ich kannte die Lieferwarenfahrer ich kannte die: äh: die Werkstätten, also die Schreinerei, die Schlosserei, (.) ich kannte die (Küferei), dabei (.) Cognac( ), ich kannte die ganze Produktion. (.) ich hatte Zugang zu (.) zu allem im Betrieb. ja? Ich kannte die Betriebsfeuerwehr, und ich (.) äh (2) ich mochte (.) die Leute (.) die was tun. (.) die haben ne Art von (.) Selbstbewusstsein ausgestrahlt, selbst die Frauen (.) da in der (.) an den äh: (.) an den Fließbändern, (.) wo die Flaschen eingefüllt wurden und kontrolliert wurden und verpackt wurden. Verpackung (.) äh: das Verschicken äh: (.) ich kannte praktisch die Produktion von Anfang bis Ende (.) und war immer fasziniert davon. und (.)
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und das war aber immer sowas, dass ich als (.) als Kind vom: (.) vom Direktor, vom Verkaufsdirektor, nie so wirklich, ich hatte zwar Zugang gehabt aber (.) es immer so ne Wand auch (.) dann zwischen, (.) ja? also ich (.) wurde nie so eingebunden, wie zum Beispiel der Sohn vom (.) vom Werkstattleiter. ja der Günter, der einmal vier Jahre älter war: und (.) der viel eher dem viel eher das Arbeitersein sozusagen äh: (.) als, als Arbeiterkind hatte er nen direkteren Zugang, nich? bei mir wurde immer son bisschen vorsichtig. dis is ja der Sohn vom Direktor oder so. äh schon mit Respekt aber so auch mit‘m bisschen (.) bisschen Abstand. aber ich war fasziniert, mich mochten die immer und ich (.) kannte halt als ähm (3) äh: (.) al:s Jugend- mein Vater hat mir auch sicherlich Respekt vor den (.) vor den Arbeitern beigebracht. er hatte da nen sehr: ähn (.) äh ne ne äh: (.) hohe Ethik. der war überhaupt nich äh: arrogant, als, als (.) äh: (.) auch später als (.) als Vorstandsmitglied, ja? (da später) auch ne (.) äh ne gute Art gehabt. mit (3) mit dem Betriebsrat umzugehen und mit (.) äh mit Gewerkschaften umzugehen.“
Durch die Position des Vaters als Firmenleiter erhält Herr Bosch Einblicke in Produktionsprozesse einer Firma. Hier kommt er in Kontakt mit unterschiedlichen Gruppen von Arbeitern. Zwar spürt er einen Milieuunterschied, der sich ihm gegenüber im Einhalten eines respektvollen Abstands seitens der Arbeiter ausdrückt, gleichzeitig ist er aber auch fasziniert von den Leuten, „die was tun“, insofern diese eine „Art von Selbstbewusstsein ausgestrahlt“ haben. Der Kontakt mit den Arbeitern und auch die Haltung des eigenen Vaters bewirken bei Herrn Bosch „Respekt vor den Arbeitern“ und dem, was sie tun. Dieser Respekt vor den Arbeitern kann im Zusammenhang mit der Praxis des Engagements für andere als Hintergrund für die spätere politische Praxis von Herrn Bosch gesehen werden. Als Herr Bosch nach dem Abitur selbst eine berufsbiographische Orientierung auszubilden versucht, erscheint diese Faszination für Menschen, die etwas tun, erneut. Herr Bosch führt aus (Z. 255–259): „Und äh:: (4) und ick tue (2) ich wollte eigentlich (2) was tun, ich wollte ne Lehre machen, ich wollte (.) äh: (4) ich wollte ne Autoschlosserlehre machen, ich wollte (.) Rennwagen fahren, ich wollte Rallyes fahren, ich wollte Motorräder fahren ((holt tief Luft)) ich wollte alles andere als in diese Welt rein, in der mein Vater war.“
Die Welt des Vaters erscheint als Gegenhorizont zu den berufsbiographischen Vorstellungen von Herrn Bosch. Wie Herr Bosch an anderer Stelle ausführt, möchte der Vater, dass er Betriebswirtschaftslehre studiert, um so wie er Zugang zu den Führungsebenen in der Industrie zu erhalten. Nach der Schule möchte sich Herr Bosch jedoch zunächst nicht weiter
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theoretisch auseinandersetzen. Wie er in der angeführten Passage erläutert, will er „was tun“, eine Autoschlosserlehre absolvieren, Rennwagen, Rallye oder Motorrad fahren. Neben dem Drang nach praktischen Tätigkeiten kommt bei Herrn Bosch jedoch noch ein zweiter Aspekt hinzu, weshalb er sich in der Arbeitswelt des Vaters nicht wohlfühlt. Dieser steht im Zusammenhang mit der schon angesprochenen Praxis der existenziellen Sinnsuche. Nach dem Abitur zieht Herr Bosch zu seinem Vater nach Stuttgart, wo er einerseits dem Vater nach dessen Fortgang aus der Familie wieder etwas näherkommt und wo er andererseits in Kontakt mit den Arbeitskollegen des Vaters kommt, wodurch er die Akteure der Industriewelt besser kennenlernt. Hierzu führt er aus (Z. 259–273): „Da kam so die Leute, wie (.) der Senator und der spätere Münchner Bürgermeister (.) dann, mein °Vater war dann in der SPD in der Zwischenzeit und (.) ähm: (.) und ich hab° vom Konzern diese Leute kennengelernt, die waren öfters maldas sind ja nu (.) wirklich viele von den (.) von den (.) äh: (.) Unternehmensleuten auch zu Hause gehabt. (2) und immer war‘s (.) so dass ich dit schon: (.) ich konnte auch dabeisitzen und ich konnte zuhören aber es hat mich nie (.) es hat mich nie wirklich gelockt, diese Welt. ja? die fande ich immer (.) irgendwo (2) ohne dass ich das damals hätte aussprechen können, oberflächlich. ja? es fand nie ((holt Luft)) irgendwo (.) hab ich, hab mir die nich die Antworten gegeben, oder die (.) die Fragen gestellt. ich wunder mich immer warum? warum stellen die nich wichtigen Fragen an das Leben? (.) mein Vater hatte mit uns: (.) früher als wir (.) als ich so zehn zwölf war (.) ab und zu mal abends (.) diskutiert und da ging‘s schon um Gott und da ging‘s um den Kosmos und dann ging‘s um die Sterne und dann ging‘s (.) um das Leben und er sachte mal, er war ja evangelisch, er sachte mal, dass er mit dem evangelischen Pastor besprochen hatte und der hätte ihm gesacht (.) naja und wenn‘s kein Gott gibt:? das war damals für mich: (.) da war damals für mich faszinierende Gespräche. das fand ich völlig revolutionär, dass mein Vater sich das traut, weil ich war katholisch: und (.) dass man überhaupt Gott infrage stellen kann äh:: (.) das fand ich: atemberaubend.“
Die Tre¤en des Vaters mit Politikern und Geschäftsleuten geben Herrn Bosch Einblicke in die Arbeitswelt seines Vaters. Obwohl er, wie er an anderer Stelle berichtet, die Annehmlichkeiten des väterlichen Geschäftslebens wie Reisen und Restaurantbesuche schätzt, erscheint ihm diese Welt als „oberflächlich“. Die Kollegen des Vaters stellen nach Jan Boschs Einschätzung nicht die „wichtigen Fragen an das Leben“. Als Gegenhorizont zur Oberflächlichkeit erscheinen die abendlichen Gespräche mit dem Vater in Herrn Boschs Kindheit. Hier sprechen sie über „Gott“, den
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„Kosmos“ und das „Leben“. Besonderen Eindruck auf Herrn Bosch macht die Möglichkeit einer Infragestellung Gottes; dies erscheint ihm vor seinem damaligen katholischen Glaubenshintergrund als „revolutionär“. Die Fragen nach einer existenziellen Sinnsuche, die bei Herrn Bosch schon in seiner institutionell-religiösen Praxis relevant sind, tauchen damit auch bei der berufsbiographischen Orientierungssuche wieder auf. Er will im Gegensatz zu seinem Vater einerseits etwas Praktisches tun, andererseits aber auch die für ihn „wichtigen Fragen an das Leben“ nicht verlieren. Aus diesen Gründen lehnt Herr Bosch das väterliche Angebot ab, in die industrielle Führungswelt einzusteigen, und beginnt ein Psychologiestudium. Dabei engagiert er sich zunächst in marxistischen Studiengruppen, die ihm jedoch zu theoretisch sind. Herr Bosch versucht deshalb, seine ursprünglich praktischen Studienwünsche auf anderem Wege umzusetzen. Hiervon erzählt er (Z. 413–422): „Bin ich dann im Hauptstudium ins Legastheniezentrum gegangen (2) äh: dis war son praktisch orientierte (.) äh: praxisorientierte Studieneinheit (.) ein im Hauptstudium, wo wir schon angefangen mit (.) mit Arbeiterkindern (.) die nich lesen und schreiben konnten (.) in der Schule eher versagt sind (.) Therapie aufzubauen. (.) und äh: (.) das war ne Arbeit, wo gedacht habe das kann nicht falsch sein (.) das is ne (.) äh (.) kene richtige Arbeit, sondern gleichzeitig verbunden (.) mit der (.) mit der Parteiarbeit (.) die natürlich auch gleichzeitig, sozusagen haben wa da (.) sozusagen über diese (.) äh über dieses Seminar gab‘s dann ne Parteigruppe und dann hatte dit allet sozusagen, son (.) son Frame (.) son Rahmen der (.) den ich, den ich für mich richtig fand. (3)“
In einem Praxisseminar kann Herr Bosch seiner Neigung nachkommen, sich politisch-praktisch einzusetzen. Er arbeitet in einem psychologischen Betreuungsdienst mit Kindern aus sozialökonomisch schlechter gestellten Familien und engagiert sich in einer linksgerichteten politischen Partei. Herr Bosch bekommt einen „Rahmen“, in dem er seine schon früher ausgebildete Praxis eines Engagements für andere, welche sich verbindet mit einem Gerechtigkeitsethos der Integration, an den politischen Raum einer, wie an anderer Stelle deutlich wird, marxistisch orientierten psychologischen Sozialhilfe anschließen kann. Bei Jan Bosch zeigt sich ein Wandlungsprozess, dessen typischer Phasenablauf auch schon in Kapitel 5.5 rekonstruiert wurde. Durch eine kritische Praxis, die sich in diesem Fall auf das Hinterfragen des katholischen Glaubens bezieht, wird Herrn Bosch der für ihn biographisch relevante
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Raum der institutionalisierten Religion fremd, weshalb er sich an den neuen sozialen Raum einer politischen Bewegung anschließt. Seine Praxis des Engagements für andere erhält so neben einer rein praktischen Orientierung des Sich-einfach-einsetzen-Wollens – wie in der Passage über sein Engagement für einen in der Schulklasse isolierten Mitschüler oder seine Orientierung an der Absicht, Gutes zu tun, rekonstruiert werden konnte – auch ein reflexives Moment, das in dem Entschluss mündet, sein Leben der „arbeitenden Bevölkerung“ zu widmen. In dem so entstehenden neuen Raumanschluss an eine politisch linksgerichtete Bewegung kann Herr Bosch seine Praxis eines Engagements für andere an eine psychologisch orientierte Sozialarbeit anschließen. Es entsteht jedoch ein Konflikt zu einer anderen Praxisform. Über den Zusammenhang der zweiten für Herrn Bosch in seiner Kindheit und Jugend relevanten Praxis einer existenziellen Sinnsuche, die ihre Verankerung zunächst vor allem im katholischen Glauben gefunden hatte, zu einem Neuanschluss an den politischen Raum führt Herr Bosch aus (Z. 336–339): „Ich hab also nie verstanden, dass die Marxisten diese Frage nicht stellen. ich hab nie verstanden, (.) dass äh: (5) dass ähm (2) die Leute die sehr politisch waren (.) nich auch (2) ähm: (.) Glaubensfragen gestellt haben. also die Diskussion hat mir gefehlt. (.) dit hab ich immer nicht verstanden.“
Es wird deutlich, dass Herr Bosch im neuen sozialen Raum der politischen Bewegung zwar Anschlüsse für seine Praxis des Engagements für andere findet, dass jedoch die Logik der Praxis der existenziellen Sinnsuche hier nicht befriedigt wird. Wie an anderer Stelle angeführt, bezeichnet er sich in dieser Phase als „atheistisch“, wobei er dennoch nicht verstehen kann, warum sich die Marxisten keine „Glaubensfragen“ stellen. Für die Praxis der existenziellen Sinnsuche findet Herr Bosch nach seinem Prozess der Fremdwerdung gegenüber der Kirche parallel zu seinem politischen Engagement einen neuen Raumanschluss in der Hippiebewegung. In einem anderen Zusammenhang erzählt er hiervon rückblickend (Z. 574–594): „Und ähm: da is natürlich was aufgegangen (.) zu der Linie gehört sicherlich (.) das Rauchen, (.) das Kiffen (.) was: nämlich: (.) äh: (.) die ersten LSD-Trips. (.) die ich vielleicht fünf, sechs, sieben Jahre vorher schon angefangen hab, die: (.) die Hippiebewegung (.) nen bisschen Sex, Drugs und Rockn roll (.) dieses (.) nach innen
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(.) also dieses Leben, was von innen so raus will, ja? wo du sagst; wah (.) es gibt irgendwo was (.) was (.) äh:(.) was lebenswert is, ja? (.) Liebe, (.) äh: Sex (.) und (.) und (.) diese (.) diese Drogenerfahrung.“
Nach dem Fremdwerden gegenüber dem Raum der katholischen Kirche und der damit verbundenen kritischen Distanzierung sucht Herr Bosch neue Anschlüsse an soziale Räume. Während er für die Logik der Praxis eines Engagements für andere diesen Raumanschluss in den politischen Bewegungen sucht, findet Herr Bosch für seine existenzielle Sinnsuche einen Anschluss an die Hippiebewegung. Herr Bosch konsumiert psychoaktive Substanzen wie Haschisch, Marihuana und LSD. Hiermit verbindet er ein „Leben, was von innen so raus will“. Es geht um Erfahrungen der Introspektion und des Rausches, die sich in einem Lebensstil um „Sex, Drugs und Rock´n Roll“ ausdrücken.
Biographische Krise und das Entstehen einer neuen Praxis der Selbstinterpretation Mit etwa dreißig erfährt Herrn Boschs Anschluss an die politische Bewegung erste Brüche. Auslöser hierfür sind Konflikte innerhalb der Partei (Z. 535–539): „Zwei Jahre war ich in der DKP (2) äh: (.) und (4) zwar von sechundsiebzig bis achtundsiebzig (.) und bin achtundsiebzig ausgetreten aus der DKP, weil ich gesehen habe, dit is so ein (.) ein (.) Humbug was politisch passiert, dass ich gedacht hab, dat kann ich nich mehr tragen. das war also alles des (.) nur nich des (.) für den Arbeiter.“
Nach Auseinandersetzungen innerhalb der Partei zeigt sich ein Bruch zwischen Herrn Bosch und der politischen Bewegung, in der er sich zuvor engagiert hatte. Herr Bosch kann die politische Einstellung der Partei nicht mehr teilen. Die Partei macht für ihn alles, „nur nich des für den Arbeiter“. Die ausgebildete Praktik des Engagements für andere steht für ihn nicht mehr in Passung zum sozialen Raum der politischen Bewegung. Es folgt eine biographische Krise, von der Herr Bosch Folgendes erzählt (Z. 563–571): „Und dann bin ich rausgegangen aus der DKP und war natürlich (.) vollkommen leer, ja? (.) Da boh: krachte dieses Gebäude (.) krachte vollkommen zusammen,
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nich? weil (.) wo ich (.) wo (.) ich hatte nur im Prinzip meine Arbeit wieder. (.) im Legastheniezentrum, aber keine (.) kein politische Orientierung, ich war nich bei den Hausbesetzern dabei, ich war nich bei irgendwelchen Bürgerinitiativen dabei. (.) weil ich ja eigentlich dit Richtige wollte (.) ja? ich wollte ja nich irgend ne Bürgerinitiative für nen kleinen Zweck oder nen Haus besetzen (.) um dann (.) nen eignes Haus zu haben oder so was. es war für mich politisch zu kleinkariert (.) gedacht, ja? ich wollt ja dit Große (.) die große Bewegung. die krachte zusammen, (.) ja? und ich sah (.) nich wo‘s weiter geht. dit war Ende achtundsiebzig (3) und (2) da bin ich sehr sehr depressiv geworden. also da (.) war ich ana (.) ana Gre=nze (.) sozusagen (.) von (.) von äh: (3) Sinnlosigkeit, (.) ja? (.) ie ich nich mehr (.) äh: (.) die ich nich mehr klar gekriegt habe und hab aber (2)“
Herr Bosch kann sich in den gegebenen politischen Bewegungen nicht mehr verorten. Seine politischen Vorstellungen stimmen mit der „Kleinkariertheit“ seiner ehemaligen Partei und den neu entstandenen sozialen Bewegungen nicht mehr überein. Es entsteht eine Passungsschwierigkeit zwischen Habitus und Raum, die zu einem Bruch und einer Negation des ehemaligen sozialen Raumes führt und sich in Jan Boschs Parteiaustritt dokumentiert. Das „Gebäude“ der politischen Orientierung „krachte völlig zusammen“. Herr Bosch erfährt „Sinnlosigkeit“ und fühlt sich „leer“. Der Bruch und die Negation des alten sozialen Raumes haben ihn in eine biographische Krise geführt – er wird depressiv. Innerhalb der biographischen Krise zeigen sich jedoch auch neue Möglichkeiten, zu einigen in der Zeit des politischen Engagements vernachlässigten Praxisanschlüssen zurückzufinden. Hiervon erzählt Herr Bosch (Z. 574–594): „Eben in der Phase (.) mit (2) ähm: (.) es wird ne andere Linie. vielleicht machen wat so; es wird ne andere Linie bedeutungsvoller die vorher auch schon da war. und diese Linie (2) die dann bedeutungsvoller wird (.) wird in der Zeit bestimmt durch (.) Castaneda lesen. (2) ja? eine andere Wirklichkeit. (2) Castaneda (.) und die Linie war vorher schon da durch (.) eben (3) Glauben an Gott, (.) die Fragen nach dem Sinn des Lebens, die (.) diese Bilder, die ich hatte als Kind, wenn ich (.) wenn die Sonne geschienen hat (.) ins Zimmer und (.) da waren ganz viele (.) ähm: (.) äh: (.) Staubpartikel, ja? und ich hab sozusagen die Sonne auf diese Staubpartikel (.) plötzlich waren die sichtbar und ich hab mir vorgestellt (.) die Welt ist auch son (.) son Staubpartikel, ja? (.) und: (.) ich seh jetz das Zufällige (.) aber ich seh (2) auch nich eins sondern ganz viele. und ich seh aber die meisten die es gibt, nich. also (2) Milliarden von Milliarden seh ich nich. und so hab mir (.) so die Welt um Gott vorgestellt. ja? dass es zwar (.) nen Gott gibt, aber dass die Welt zu klein is (.) und wir soweit weg sind, dass es da überhaupt keinen Bezug geben kann. (.) und (.) das is: natürlich, (.) wenn dann: (.) die äh: die (.) politische Perspektive zusammenkracht, (.) ja? (.) stehste wirklich plötzlich vor dem Nichts, ja? weil dann
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gar nichts da. (.) und dann hat ein (.) Castaneda, der sagt eine andere Realität (.) die erlebt werden kann. (.) und die Beschreibung war sehr sehr unglaublich (.) präzise und direkt, ja? also glaubhaft (.) also Castaneda (.) hat so authentisch ge- geschrieben, dass ihm geglaubt habe (.) und da hab ich ja; waho, wenn‘s das gibt (.) wenn‘s wirklich ne Möglichkeit gibt, ja? (2) ne andere Realität neben dieser abgefuckten, sinnlosen Realität @(.)@ zu erleben zu können, ja? (.) waho (.)“
In seiner Sinnkrise beginnt Herr Bosch, Bücher von Carlos Castaneda zu lesen, welche Beschreibungen von Praktiken des mexikanischen Schamanismus enthalten. Herr Bosch knüpft so wieder an die religiös geprägten Sinnfragen seiner Kindheit und damit an eine Logik der Praxis der existenziellen Sinnsuche an. Die Möglichkeit, eine „andere Realität“ zu erfahren, wirkt auf Herrn Bosch faszinierend. Dabei erscheint diese andere Realität als positiver Gegenhorizont zu der „abgefuckten, sinnlosen Realität“, welche für Herrn Bosch gerade durch die Einsicht in einen als sinnlos empfundenen Anschluss an die politische Bewegung geprägt ist. Innerhalb der biographischen Krise entsteht eine Suchbewegung, die Herrn Bosch in der Folge eine neue Praxis der Selbstinterpretation ausbilden lässt. Als Ausgangspunkt auf dem Weg zu einer neuen Praxis der Selbstinterpretation kann bei Herrn Bosch eine Indienreise gesehen werden. Hiervon erzählt er (Z. 636–656): „In dieser Depression liege ich auf‘m Bett, mach meine Arbeit mit den Kindern (.) ansonsten lieg ich auf dem Bett und lese Castaneda. (.) und (4) da geht ne Linie auf, die dann dazu führt, dass ich nach (.) Indien fahre (.) so der Zufall (.) dann kennt man jemand, der auch noch will. und Indien (.) und ich fahre nach (.) nach Indien sechs Wochen (.) achtundsiebzig, neunundsiebzig. (2) das war ich dann:: dreißig. (3) nach meinem Diplom auch (.) und äh (2) bin in (.) in Pontijeri (.) und les nen Buch (.) nen deutsches Buch, DTV, son kleines Büchlein Autobiographie (.) Biographie von (.) von Aurobindo (.) und da wird C. G. Jung erwähnt. (.) ja jetzt mach wieder die Kurve zu dem (.) nächsten Lehrer (.) und da wird C. G: Jung als jemand erwähnt, der: äh::, die indische Philosophie (.) und die indische Mystik verbinden kann mit ner westlichen Rationalität. (2) und da gings mit mir sofort don-don-don-don. (.) da wusst ich da will (.) das muss ich (.) da muss ich hin. ja? fahr nach Stutt- komm nach Stuttgart zurück (.) und äh: (.) krieg mit (.) dass es hier in Stuttgart (.) nen C.-G.-Jung-Institut gibt. (.) ja? wo man (.) psychoanaly- (.) psychoanalytische Ausbildung machen kann. (.) und da war ich gleich (.) mach die psychoanalytische Ausbildung nach C. G. Jung. (.) ja? (.) und wenn (.) wenn ich son(.) sone Klarheit hatte, dann (.) war immer so dass ich (2) da ging‘s durch (.) da wurden Energien (.) in mir frei.“
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Während seiner Depression erledigt Jan Bosch seine Arbeit und liest in seiner Freizeit weiter Carlos Castaneda. Hieraus ergibt sich für ihn nach dem Studium eine Motivation, nach Indien zu fahren. Durch die Lektüre eines Buches ergeben sich für Herrn Bosch in Indien neue biographische Perspektiven, die ihm helfen, die depressive Sinnlosigkeit zu überwinden und vorher fehlende „Energien“ freizusetzen. Jan Bosch bekommt einen Hinweis auf die Arbeit C. G. Jungs, an der ihn besonders die Möglichkeit einer Zusammenführung von westlicher Rationalität mit indischer Philosophie und Mystik fasziniert. Mit seinem Beschluss, „da muss ich hin“, drückt Herr Bosch topographisch aus, worum es ihm biographisch in den nächsten zehn Jahren gehen wird. Er beschließt, eine psychotherapeutische Ausbildung an einem C.-G.-Jung-Institut zu beginnen. Dass diese Entscheidung für ihn nicht selbstverständlich ist, führt er in der folgenden Passage aus (Z. 626–623): „Das was ich (.) oder (.) äh: (.) schade finde, wo ich denke ich bin (.) viel zu (.) viel zu spät eigentlich (.) in die (.) in die Gelegenheit gekommen Psychotherapie zu machen. (.) erst über meine Ausbildung als Psy-, (.) als Psychoanalytiker hab ich erstmal mich getraut (.) äh: (.) Therapie zu machen. (4) weil irgendwo war des so (.) zu sehr tabuisiert und ich wollte auch nich als: (.) ich wollte mich nich als (.) als neurotisch emporheben (.) oder so. ja? (.) ich ha- konnte es nich (.) ähm: (.) hat mir auch niemand wirklich gesacht, mach doch mal ne Therapie oder mach (.) lass dir doch mal helfen. ich konnte mir nicht helfen (.) lassen, (.)“
Über den Entschluss für eine Psychotherapeutenausbildung „traut“ sich Jan Bosch dann, eine eigene Therapie zu beginnen und damit mit etwas, das vorher für ihn als „tabuisiert“ galt, zu brechen. Auf einer semantischen Ebene deutet sich hier ein Wandel an. Das zuvor im Engagement für andere angesiedelte Helfen wird nun in einen neuen Kontext gestellt. Herr Bosch möchte nicht mehr nur anderen helfen, sondern er ist auch bereit, sich selbst helfen zu lassen. Der Beginn einer eigenen Therapie stellt für Herrn Bosch dabei insofern einen Einschnitt in sein bisheriges Leben dar, als er sich vorher „nicht helfen lassen“ konnte. Es entsteht eine neue Praxis der Selbstinterpretation, in der sich Herr Bosch nicht nur als Helfender, sondern auch als Hilfebedürftiger thematisieren kann. Wie im Folgenden deutlich werden wird, bekommen mit der psychotherapeutischen Analyse auch sein Drogenkonsum und damit seine rauschhafte Suche nach Sinn und einer „anderen Realität“ einen anderen
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Rahmen. In einer Reflexion über den Unterschied zwischen einer Lehrund einer Patientenanalyse führt er aus (Z. 673–682): „Psychotherapie (.) es war ne Lehranalyse. (.) leider ich hätte sicherlich (.) ne:: ähm: (.) Patientenanalyse (2) wär für mich gut gewesen, wenn ich die vorher gemacht hätte, (.) weil (.) die Lehranalyse dann doch (.) irgendwo (.) ähm: (3) da kannste deine Neurose nich so ganz ausleben, (.) zumindest konnte ich‘s (.) wie (.) wie in ner Patientenanalyse (.) also mein Analytiker hatte zum Beispiel (2) verboten (.) drei Jahre lang (.) äh:: (.) zu kiffen und (.) äh: Alkohol zu mir zu nehmen. (2) was sicherlich überhaupt nich (.) falsch war in dem Sinne, (.) aber mit ner Patientenanalyse (.) äh: (.) hätt ich damit anders umgehen können. vielleicht. (.) und ich hatte so das Gefühl, dass der Bereich der (.) äh: (3) der (.) der inneren Erfahrungen (.) im (.) im Rausch (.) im Drogenrausch (.) dadurch son bisschen aus der (.) äh: aus der Betrachtung rausgefallen is.“
Der Therapeut verbietet Herrn Bosch innerhalb seiner Lehranalyse den Konsum von Alkohol und psychoaktiven Substanzen. Herr Bosch deutet an, dass er die Maßnahme als richtig empfindet, er jedoch rückblickend den Rahmen einer Patientenanalyse gegenüber dem einer Lehranalyse für die Auseinandersetzung mit seinen Neurosen für besser gehalten hätte. Mit der Lehranalyse fallen für Herrn Bosch die „inneren Erfahrungen“ des Drogenrausches und damit seine Praxisanschlüsse für eine existenzielle Sinnsuche zunächst aus der „Betrachtung“ heraus. Mit der Praxis des Rausches kommt es durch den Anschluss an einen neuen sozialen Raum, nämlich den der Psychotherapie, zu einem Bruch. Ein intensiver Prozess beginnt, in dem sich Jan Bosch über acht Jahre in der Regel drei Mal pro Woche mit seinem Therapeuten tri¤t, um sich mit seiner psychischen Genese auseinanderzusetzen. Er etabliert hier eine neue Praxis der Selbstinterpretation, in der es um die Auseinandersetzung mit der eigenen Biographie geht. Nach der Lehranalyse engagiert sich Herr Bosch weitere Jahre im Institut und beginnt nun neben seiner Tätigkeit mit Kindern auch mit Erwachsenen zu arbeiten.
Transformation der Relation von unterschiedlichen Logiken der Praxis Nach etwa zehn Jahren der psychotherapeutischen Arbeit kommt es bei Jan Bosch zu einem Bruch mit der Institution seiner Ausbildungsstätte. Vor dem Hintergrund der schon vorher immer wieder relevanten Praxis der existenziellen Sinnsuche gewinnt Herr Bosch eine Di¤erenz, die ihn seine biographische Situation hinterfragen lässt und einen Prozess der
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Kritik einleitet. Herr Bosch führt hierfür seinen ursprünglichen Wunsch an – der auch seine Motivation für die Psychotherapeutenausbildung darstellte –, nämlich, sich mit Formen von Mystik und Spiritualität und damit mit einer Praxis der existenziellen Sinnsuche auseinanderzusetzen. Über seinen Bruch mit dem C.-G..-Jung-Institut erzählt er (Z. 912–923): „Aber ich war: (.) äh: (.) den auch wieder (.) von der Institution:: (2) enttäuscht, die für mich: (.) meine Hoffnung auf: (.) ne tiefen- (.) auf eine tiefe mystische Erfahrung (3) letztlich (.) äh: hat sich das nicht erfüllt. also ich (.) bin (.) hab angefangen (.) Jungianische Ausbildung zu machen (.) in der Hoffnung auch (.) äh: (.) eigentlich ne spirituelle Entwicklung zu machen (.) oder spirituelle Erfahrungen machen zu können. (2) und (.) im Nachhinein (.) war‘s aber eigentlich ganz nüchtern ne Psychoanalyse, (.) ja? und da is überhaupt nichts falsch (.) nur damals war ich dann (.) ähm (.) hab ich gemerkt, dass: (.) allei- über Spiritualität zu reden (.) war in dieser damaligen Zeit tabuisiert (.) und für mich enttäuschenderweise eben auch (.) in der (.) in der Jungianischen (.) in der deutschen Jungianischen Gesellschaft zumindest tabuisiert. niemand wusste wirklich, wie man darüber redet und (2) spirituelle Erfahrungen wurden auch son bisschen leicht bespöttelt.“
Jan Boschs Ho¤nung auf einen sozialen Raum, in dem Erfahrungen von „Spiritualität“ evoziert und kommuniziert werden, wird enttäuscht. Er findet etwas anderes vor, als er erwartet hatte; es geht nicht um spirituelle Erfahrungen, sondern um Psychoanalyse. Hier findet Herr Bosch zwar einen Anschluss für eine neue Praxis der Selbstinterpretation, jedoch nicht für sein Bedürfnis nach einer existenziellen Sinnsuche mit einem spirituellen Erfahrungshintergrund. Auch in anderen Passagen stellt Herr Bosch heraus, wie wichtig die Psychoanalyse für ihn war und auch noch ist, vor allem in Bezug auf seine eigene Arbeit als Therapeut und damit für seine Praxis des Engagements für andere. Die Enttäuschung seiner ursprünglichen Motivation, eine psychotherapeutische Ausbildung mit Komponenten spiritueller Sinnsuche zu beginnen, bringt ihn also nicht von der Praxis der Psychotherapie ab; wohl aber entsteht eine kritische Distanznahme gegenüber dem sozialen Raum der psychotherapeutischen Institution. Herrn Bosch stören vor allem die Tabuisierung und die fehlende Sprache einer für ihn wichtigen Dimension, nämlich der der „spirituellen Erfahrung“ und damit der einer Praxis der existenziellen Sinnsuche. Nach dem Bruch mit dem C.-G.-Jung-Institut beginnt Jan Bosch eine Suche nach Anschlüssen an neue soziale Räume. Auf Reisen nach Süd-
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amerika kommt er in Kontakt mit schamanistischen Praktiken, die ihn schon bei seiner Lektüre von Carlos Castaneda angesprochen hatten. Seine Orientierung an einer Suche nach einer „anderen Realität“ bekommt, wie in der Folge deutlich werden wird, einen sozialen Zusammenhang. Über seine Ablösung von der psychotherapeutischen Institution und seinen Anschluss an einen neuen sozialen Raum erzählt er (Z. 942–945): „Ich ab (.) eigentlich (.) eigentlich nich gesacht ich will da nich mehr hin, sondern ich mich einfach vehement (.) in die (.) in die schamanische Richtung geschmissen (.) äh: (.) hab erstmal nen (.) n (2) einundneunzig? (.) nen vierzigtägiges Fasten gemacht (4) und das hat mich vollkommen (.) vollkommen sensibilisiert und geöffnet.“
Der Bruch mit der psychotherapeutischen Institution, in der sich Herr Bosch vorher engagiert hat, ist nicht nur ein argumentativ-rationaler, sondern auch ein praktischer Bruch. Er geht nicht mehr ins Institut und fastet im Rahmen eines schamanischen Rituals vierzig Tage lang – eine Erfahrung, die ihn „sensibilisiert“. Jan Bosch beginnt in der Folge eine neue Praxis. Er reist nun regelmäßig nach Peru und nimmt hier an schamanistischen Praktiken und Riten teil. Dabei tauchen die alten Motive wieder auf, die ihn schon zu der Psychotherapeutenausbildung bewogen hatten, welche jedoch nun in einen neuen Rahmen gestellt werden. Herr Bosch erzählt von Workshops, die er mit einem Therapeutenfreund und Peruanern organisiert hat (Z. 952–967): „Haben da versucht zum ersten Mal die: (.) Verbindung herzustellen zwischen moderner (.) westlicher Psychotherapie und (.) und (.) äh: (.) schamanischen Heilformen (.) also Heilzeremonien (2) ein- einfach fürchterlich spannend, ja? war (.) ähm: (.) oftmals nen bisschen chaotisch, aber (.) äh: (.) die (.) die Zusammenarbeit mit den Heilern (.) da hab ich die peruanischen Heiler kennengelernt und die (.) die tiefe Authentizität von denen. (.) und vor allem der (.) der eine Art von (.) Glauben, die ich bis dahin nicht gekannt habe. (.) nämlich ein Wissen (.) die (.) habn überhaupt nicht (.) die- (.) diese (.) die Art von Glauben war ohne Zweifel (3) äh: (.) die Art, wie die über Gott und wie die über (.) über die (.) äh: (.) über die höheren oder tieferen Ebenen gesprochen haben (.) war so ungebrochen und so (.) äh: (2) also, (.) also so (.) so demütig=gleichzeitig, aber gleichzeitig so sicher und die (.) konnte dir auch innerhalb von (.) von zwei drei Minuten (.) Dinge an Kopf sagen (.) wo ich dachte, dafür brauch ich inner Analyse zwei Jahre um dit rauszufinden, (.)“
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Im Kontakt mit den peruanischen Schamanen lernt Herr Bosch neue Formen des religiösen Wissens kennen, die er „fürchterlich spannend“ findet. Ihn fasziniert die „Art von Glauben“, die ihm vorher praktisch unbekannt war, die ihn literarisch jedoch schon bei Carlos Castaneda angesprochen hatte. Wie schon zu Beginn seiner Psychotherapieausbildung kommt es jetzt auch in Bezug auf die Auseinandersetzung mit dem Schamanismus zu einem Wandel auf der semantischen Ebene, indem Herr Bosch nun seine Hilfsbedürftigkeit weiter in einen Zusammenhang mit seiner existenziellen Sinnsuche stellt. Die schamanischen „Heiler“ helfen ihm bei seiner Praxis der Selbstinterpretation, indem sie einerseits mit ihm die Arbeit seiner Selbstthematisierung fortsetzen – und ihm dabei spontan Dinge auf den Kopf zusagen, für deren Erkenntnis er in der Analyse mehrere Jahre brauchte –, und andererseits diese Arbeit in den Kontext eines praktisch-religiösen Wissens stellen. Herr Bosch findet so neue Raum- und Praxisanschlüsse für seine existenzielle Sinnsuche. Gleichzeitig verändern sich durch seinen Versuch, „westliche Psychotherapie“ mit „schamanischen Heilformen“ zu verbinden, in der Folge auch seine therapeutischen Arbeitsformen und damit die Praxisdimensionen seines Engagements für andere. Herr Bosch kann nun sein Engagement für andere mit seiner existenziellen Sinnsuche verbinden. Durch die Zusammenarbeit mit den schamanischen Heilern entdeckt er neue Wege, andere Menschen in ihrer Selbstthematisierung anzuleiten. Bei Jan Bosch entsteht eine Transformation der Relation von unterschiedlichen Logiken der Praxis, wodurch sich neue Erfahrungsräume und neue Selbst- und Weltverhältnisse ergeben. Im Zusammenhang mit den von ihm ausgeführten schamanischen Praktiken erzählt Herr Bosch (Z. 979–997): „Und (.) ähm: (2) hab dort eben dann, aber auch (.) ähm: (2) äh: (.) die ersten (.) äh: (.) Initiationen gehabt (.) also die (.) in ne eine Initiation is für mich (.) nen (.) ein, ein: (.) Öffnen in eine (.) äh: (.) andere (.) äh: äh (.) Erfahrungs==dimension (.) könnte man sagen, in eine andere Wahrnehmungsdimension, (2) die: (.) äh::: (.) durch ein bestimmtes (.) Setting (.) hervorgerufen wird, ja? das Setting kann sein, dass du (.) dass du (.) ähm: (.) secret plants nimmst (.) also wie ( ) oder wie: (.) wie ( ) kann aber auch sein, dass du (.) äh: (.) auf (.) ne Deprivation machst, wie beim (.) wie bei der Missionssuche (.) indem du vier Tage nicht isst und auch nichts trinkst. (.) und (.) ähm: (4) die äh: (.) diese Erfahrungen (.) die Initiationen waren sicherlich auf der Linie (.) meiner (.) äh: (.) meiner frü-
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heren Drogenerfahrungen (.) also wenn du so willst waren sie Fortsetzungen dieser Linie oder ne Vertiefung dieser Linie (.) ähm: (3) und (.) die: waren zum Teil (2) grenzwertig (.) beziehungsweise grenzüberschreitend. also grenzwertig im Sinne von (.) äh:: (3) meine (.) den (.) den (.) die Struktur meiner Psyche (.) äh: (.) erheblich erschütternd. (4) ne (.) ne Initiation (.) is so was wie die Wirkung hört auf (.) aber das tiefe Wissen, was du erfährst hört niemals auf. (.) und das is (.) das is sozusagen die: (.) die Gefahr, dass du die (3) dass man die (.) ähm (.) die Erfahrung, die man eigentlich macht, der anderen Dimension (.) nich mehr (.) nich mehr mit den mo- (.) mit den modernen normalen Alltag in dem man hier lebt (.) übernander kriegt“
In den schamanischen Praktiken findet Herr Bosch eine neue „Wahrnehmungsdimension“. Er deutet an, dass er, induziert durch psychoaktive Substanzen und andere Techniken wie zum Beispiel „Deprivation“, seine psychische Struktur in den Initiationen massiven Erschütterungen ausgesetzt hat. In den Initiationen des Schamanismus und damit im Zusammenhang mit seiner Praxis der existenziellen Sinnsuche ö¤nen sich für Herrn Bosch neue „Erfahrungsdimensionen“ und hierdurch, wie er an anderen Stellen detaillierter ausführt, neue Formen religiösen Wissens. Herr Bosch schildert, wie er sich an den sozialen Raum des Schamanismus und dessen Praktik anschließt und wie er damit selbst in Kontakt mit dem von ihm zuvor an den Schamanen bewunderten praktisch-religiösen Wissen gerät. Für Herrn Bosch verändert sich in der Auseinandersetzung mit dem sozialen Raum des Schamanismus die Relation von unterschiedlichen Logiken der Praxis. Zum einen findet seine existenzielle Sinnsuche im Schamanismus einen sozialen Anschluss; zum anderen wandeln sich durch den starken Einbezug der schamanistischen Praktiken auch die Relationen der Praktiken der Selbstinterpretation und des Engagements für andere, die nun in den neuen Rahmen einer an religiösem Erfahrungswissen orientierten existenziellen Sinnsuche gestellt werden.
Zur Struktur eines Bildungsprozesses als Habitustransformation im Fall Jan Bosch Der Bildungsprozess von Herrn Bosch lässt sich einerseits auf der Ebene von unterschiedlichen Phasen der Habitustransformation rekonstruieren, andererseits dokumentiert sich auch auf der semantischen Ebene ein Wandlungsprozess.
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Bezogen auf die unterschiedlichen Phasen der Habitustransformation bilden sich in Jan Boschs Kindheit und Jugend die Logiken der Praxis einer existenziellen Sinnsuche und eines Engagements für andere zu einem spezifischen Habitus aus. Ist die existenzielle Sinnsuche zunächst noch an den Raum der kirchlichen Institution geknüpft, sprengen gerade die mit der Praxis des Engagements für andere verbundenen Gerechtigkeitsannahmen für Herrn Bosch die von der katholischen Kirche angebotenen Sinnstiftungsangebote. Es kommt zu einem Fremdwerden gegenüber der Kirche, einer kritischen Distanzierung und zu neuen Raumanschlüssen in einer linkspolitischen Partei und in der Hippiebewegung. Herr Bosch kann hier die Logiken der Praxis eines Engagements für andere und einer existenziellen Sinnsuche neu verankern. In der Folge kommt es bei Herrn Bosch zu einem Bruch mit der politischen Bewegung, insofern er sich mit den Zielen der Partei nicht mehr identifizieren kann. Nach dem Bruch mit der Partei und dem „Zusammenbruch“ seiner politischen Orientierung fühlt sich Herr Bosch „leer“. Er gerät in eine biographische Krise, in der er depressiv wird und seine Umwelt als sinnlos wahrnimmt. Innerhalb der biographischen Krise beginnt bei ihm eine Suchbewegung, die ihn über das Interesse an esoterischer Literatur und über eine Indienreise in eine psychotherapeutische Ausbildungsstätte führt. In diesem Zusammenhang beginnt er innerhalb einer Ausbildung als Psychotherapeut selbst eine Psychotherapie und initiiert so eine neue Praxis der Selbstthematisierung und Selbstinterpretation. In den nächsten acht Jahren setzt sich Herr Bosch verstärkt mit seiner biographischen Genese auseinander. Durch die Regeln des therapeutischen Settings fällt in dieser Zeit die existenzielle Sinnsuche, welche zuvor mit der Hippiebewegung und mit Praktiken des Rausches in Zusammenhang stand, weitestgehend aus seiner Betrachtung heraus. Jedoch entsteht durch die neue Praxis der Selbstinterpretation eine Di¤erenz, die ihn seine biographische Situation hinterfragen lässt. Ausgehend von seiner Anfangsmotivation, dem Wunsch nach einem spirituellen Erfahrungsaustausch, nach einer existenziellen Sinnsuche, ist Herr Bosch nach mehreren Jahren der Arbeit am psychotherapeutischen Institut in seinen diesbezüglichen Erwartungen enttäuscht. Er zieht sich aus der Institution seiner psychotherapeutischen Ausbildung zurück. Mit dieser kritischen Distanzierung einhergehend kommt es zur Suche nach Anschlüssen an neue soziale Räume.
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Bei Reisen nach Südamerika findet Herr Bosch in schamanischen Initiationsritualen Anschluss für seine Bedürfnisse nach einer Praxis der existenziellen Sinnsuche. In der folgenden Verbindungs- und Austauschsuche zwischen „westlicher Psychotherapie“ und „Schamanismus“ beginnt bei Herrn Bosch eine Transformation der Relation von unterschiedlichen Logiken der Praxis. Die Praktiken der Selbstinterpretation und des Engagements für andere werden durch den Einbezug des Schamanismus und der damit verbundenen Praxis der existenziellen Sinnsuche in eine neue Relation gesetzt, wodurch sich ein neuer Habitus generiert. Einerseits entdeckt Herr Bosch durch die Praktiken der existenziellen Sinnsuche neue Formen der Selbstinterpretation, andererseits versucht er, die hier gemachten Erfahrungen auch in seine psychotherapeutische Arbeit und damit in seine Praxis eines Engagements für andere aufzunehmen. Auf diese Weise generiert Herr Bosch für sich neben einem neuen Habitus auch einen neuen sozialen Raumanschluss, der sich für die Veränderungen anschlussfähig zeigt, die sich mit der Transformation der Relation von unterschiedlichen Logiken der Praxis ergeben. Auch auf einer semantischen Ebene lässt sich der Wandlungsprozess nachvollziehen. Während für Herrn Bosch in den Erzählungen, Beschreibungen und Argumentationen seiner Kindheit, Jugend und seines frühen Erwachsenenalters das Helfen im Rahmen des Engagements für andere immer als ein Hilfe-geben-Wollen auftaucht, zeigt sich nach einer biographischen Krise auch eine zuvor tabuisierte eigene Hilfsbedürftigkeit an. Das Hilfe-Geben und das Hilfe-Nehmen treten in der Folge in der Arbeit als Psychotherapeut in einem engen Wechselverhältnis auf. Einerseits gibt Herr Bosch durch seine psychotherapeutische Tätigkeit Hilfe, andererseits findet er in seiner eigenen psychotherapeutischen Praxis auch neue modi der Selbstinterpretation. Sowohl das Hilfe-Geben als auch das Hilfe-Nehmen treten in der Auseinandersetzung mit dem Schamanismus in einen neuen Rahmen, indem die beiden Dimensionen nun in einen Zusammenhang mit der schon zuvor immer wieder relevant werdenden Praxis der existenziellen Sinnsuche gestellt werden. Hilfe geben und Hilfe nehmen erscheint im Zusammenhang mit den schamanischen Heilern nun auch als ein Projekt, das sich in den Kontext eines praktisch-erfahrbaren religiösen Wissens stellen lässt.
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7.3. Der Fall Christiane Othmar Frau Christiane Othmar ist zum Zeitpunkt des Interviews fünfzig Jahre alt. Nach einem wirtschaftswissenschaftlichen Studium und anschließendem Engagement in sozialen Bewegungen der 1980er Jahre, welches mit einem Zweitstudium der Politikwissenschaft einhergeht, gründet Frau Othmar ein Unternehmen in der Biobranche. Neben einem sozialen Aufstiegsprozess lässt sich auch bei Frau Othmar ein Bildungsprozess im Sinne einer Transformation der Relation von unterschiedlichen Logiken der Praxis rekonstruieren.
Entwicklung der Praktiken einer ökonomischen Kapitalakkumulation und eines sozialen Aufstiegswillens Frau Othmar wird Mitte der fünfziger Jahre in einer Kleinstadt in Norddeutschland geboren. Nachdem ihr Vater zunächst als Hilfsarbeiter in einer Fabrik angestellt war, beginnt dieser, sich nach der Geburt seiner Tochter mit einer kleinen Handwerksfirma selbstständig zu machen. Frau Othmars Mutter ist zu diesem Zeitpunkt Hausfrau, hilft jedoch auch bei der Buchführung im eigenen Betrieb. Die Firmengründung bedeutet für die Familie einen sozialen Aufstieg aus einem gesicherten Arbeitermilieu in ein kleinbürgerliches Milieu von Selbstständigen der Mittelschicht. Ähnlich wie ihre Eltern in der Arbeitswelt, zeigt Frau Othmar in der Schule eine erhöhte Arbeitsbereitschaft. Dies dokumentiert sich schon zu Beginn ihrer Schulzeit, als zunächst Leistungsprobleme auftreten. Hiervon erzählt sie (Z. 54–62): „Dann bin ich mit sechs in die Schule gekommen (.) hat mir auch nicht gut gefallen war ich auch ziemlich traurig (.) und bin am Anfang unheimlich langsam gewesen bin sehr äh irgendwie nie fertig geworden die Dinge abzuschreiben oder abzumalen die da an der Tafel waren (.) und hab dann (.) aber zu Hause meine Mutter hat sich dann immer mit mir dran gesetzt und hat sich da soviel Zeit genommen dass ich dann irgendwie das äh doch geschafft hab (.) und bis zum Ende des ersten Jahres war dann schon klar (.) dass ich doch recht gut war also ich war die ganze Zeit wo ich da in in der Schule war dann immer die Beste (.)“
Der Schulbesuch beginnt für Frau Othmar problematisch, weil sie Lernprobleme hat. In der Folge setzt sich die Mutter für Frau Othmar ein, indem sie ihr bei den Schulaufgaben hilft. Die Mutter investiert vermehrt Zeit, um den schulischen Erfolg der Tochter zu befördern. Die Mutter
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zeigt ihrer Tochter, wie sie den Problemen in ihrer kindlichen Arbeitswelt durch kontinuierlichen Einsatz und durch zeitliches Engagement begegnen kann. Frau Othmar inkorporiert diese Eigenschaften erfolgreich, sie wird „die Beste“ in ihrer Klasse. Im Kleinen reproduziert Frau Othmar hier die familiäre Aufstiegsgeschichte. Sowohl die Eltern als auch die Tochter haben zu Beginn ihres sozialen Aufstiegs ungünstige Startvoraussetzungen. Die Eltern kommen aus einfachen Verhältnissen vom Lande und müssen sich hocharbeiten, die Tochter beginnt ihre Schullaufbahn mit Lernproblemen, die ihr mehr Einsatz abverlangen. Durch ihre Mutter erfährt Frau Othmar die Möglichkeit, durch Einsatz und Mehraufwand vorliegende Defizite bearbeitbar zu machen, sodass sie ein schulisches Erfolgserlebnis hat. Es entsteht eine ethische Haltung des Fleißes, welche sich auch in der späteren Schulzeit reproduziert. Auf einer semantischen Ebene zeigt sich in dieser Passage eine enge Verknüpfung zwischen einer unbefriedigten Gefühlswelt – Frau Othmar fühlt sich in der Schule traurig – und einer Bearbeitung von Problemen durch das Erbringen von Leistung. Diese semantische Figur, welche an Leistungserbringung orientiert ist, wird sich noch an anderen Stellen des Interviews zeigen. Nachdem sie die Hauptschule wieder als „die Beste“ absolviert hat, besucht sie eine Handelsakademie, auf der sie, als Einzige in ihrem Jahrgang, ihr Abitur mit Auszeichnung abschließt. Klarer noch als in ihrer Schulzeit richtet sich Frau Othmar in ihrem sozialen Aufstieg nun auch an der Akkumulation von ökonomischem Kapital aus. Sie beginnt, vielfältigen beruflichen Nebentätigkeiten nachzugehen und das hierbei erwirtschaftete Geld zu sparen. Dieses investiert sie in materielle Güter wie ein Tonbandgerät oder später dann in ein Auto. Frau Othmar kann so gegenüber vielen ihrer MitschülerInnen einen höheren Lebensstandard vorweisen. Hiervon erzählt sie (Z. 184–188): „Und dann bin ich achtzehn geworden und dann hatt ich genau äh äh das Geld äh zusammen und hab mir‘n Auto gekauft also ich hab schon: quasi vorm Abi üh n n Auto gehabt ‚s gab zwei Schülerinnen in der Klasse die die‘n Auto hatten die andere hat‘s von den Eltern gekriegt ich hab‘s mir selber gekauft was mich richtig (.) stolz gemacht hat.“
Frau Othmar ist stolz auf den von ihr selbst erarbeiteten Lebensstandard. Einerseits sind ihre Konsumgüter Ausdruck einer gesteigerten Arbeits-
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moral, welche sich mit Fleiß verbindet, andererseits zeigt sie in dem von ihr erwirtschafteten materiellen Wohlstand aber einen eigenen sozialökonomischen Aufstieg an. Bei Frau Othmar deutet sich hier schon eine in der Kindheit erworbene und in der Jugend sich reproduzierende Logik der Praxis an, die an einer selbstständigen ökonomischen Kapitalakkumulierung orientiert ist und sich vor allem durch eine ethische Haltung der Einsatzbereitschaft und des Fleißes auszeichnet. Die Semantik eines Leistung-erbringen-Wollens nimmt hier, wie an vielen anderen Stellen des Interviews, eine zentrale Stellung ein; dabei wird diese gekreuzt durch Orientierungen sowohl an einer ökonomischen Kapitalakkumulation als auch an einem sozialen Aufstieg. Dass Frau Othmar weniger an kulturellen Kapitalakkumulationen interessiert ist, zeigt sich, als sie trotz ihres überdurchschnittlich guten schulischen Abschneidens das Angebot ihrer Lehrer, sie auf ein Gymnasium zu schicken, ausschlägt und stattdessen die Hauptschule besucht. Auch dem Rat ihrer Eltern folgend, interessiert sich Frau Othmar nicht für die am Gymnasium zu erwerbenden unterschiedlichen Formen des kulturellen Kapitals, sondern zieht eine Ausbildung an der Hauptschule vor, um dann eine wirtschaftliche Ausbildung an einer Handelsschule zu beginnen. Dass Frau Othmar die elterlichen Erwartungshaltungen jedoch nicht einfach reproduziert, zeigt sich, als sie über das Entstehen ihres Studienwunsches spricht (Z. 231–241): „Jedenfalls hatt ich dann ähm: während des Studiums äh also ich bin dann ach so irgendwann gabs irgendwie zur Zeit äh so ich glaub da war ich sechzehn oder siebzehn oder was (.) in in der Nacht also das warn immer so Sachen wo ich die Nacht irgendwie nicht schlafen konnte heut würd ich sagen da ist dann irgendwie ähm n Kontakt zu ner zu ner erweiterten Bewusstseinsebene hergestellt worden jedenfalls äh äh hab ich in einer Nacht entschieden ich werd studieren also das war vorher überhaupt @nicht da@ und es gab auch nichts was mir da irgendwie mich da hm mein- meine Eltern warn eigentlich überzeugt wenn ich jetzt da diese Handelsakademie fertig hab dass ich dann da irgendwo in einem Betrieb äh als Sekretärin arbeite oder so. weil ich das ja auch in den Ferien schon gemacht hatte ne“
Frau Othmar berichtet, wie sie sich während ihrer Ausbildung auf der Handelsschule zu einem akademischen Studium entschließt. Die Erwartungshaltungen der Eltern, welche für sie eine mittelständische Arbeits- und Sozialposition vorgesehen hatten, werden so einerseits kritisch gebrochen und negiert, andererseits kann Frau Othmar durch die
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gesuchten und gefundenen neuen Anschlüsse an die Universität ihren Praxisformen des sozialen Aufstiegswillens und der ökonomischen Kapitalakkumulation weiter nachkommen. Die Semantik einer religiösen Erfahrung wählend, verdeutlicht Frau Othmar die Ereignishaftigkeit ihres Entschlusses. Das Neue als Entscheidung, an der Universität zu studieren, bricht über sie herein, ohne dass sie hierfür zuvor einen Anhaltspunkt gefunden hätte. Durch die Semantik, welche den „Kontakt zu ner erweiterten Bewusstseinsebene“ in den Vordergrund stellt, verdeutlicht Frau Othmar eine in ihrer Erzählung als spontan gekennzeichnete Horizonterweiterung, in der das Neue das Alte übersteigt. Vor dem Hintergrund der bisherigen Interpretationen zeigt sich jedoch, dass die Entscheidung für ein Studium durchaus als eine Weiterführung der bisherigen Praktiken eines sozialen Aufstiegswillens und einer ökonomischen Kapitalakkumulation gesehen werden kann. Immer noch verbleibt Frau Othmar weitestgehend in einer oft ökonomisch geprägten Semantik der Leistungsgenerierung. In der Folge wird jedoch deutlich werden, dass sich abseits der bisherigen Erwartungen von Frau Othmar an ein akademisches Studium neue soziale Räume auftun, die einen Wandlungsprozess befördern.
Der Bruch mit den ausgebildeten Praktiken und das Entstehen einer Praxis des politischen Engagements Für das Verständnis des Bruchs mit den ausgebildeten Praktiken des sozialen Aufstiegswillens und der ökonomischen Kapitalakkumulation und der sich in Überlagerung entwickelnden neuen Praxisform sind die soziale Einbettung und die sich hieraus ergebende Neuorientierung in Frau Othmars Jugend und in ihrem frühen Erwachsenenalter relevant. Die sozialen Kontakte in Frau Othmars Jugend sind maßgeblich durch ihre Mitgliedschaft in einer kirchlichen Jugendgruppe bestimmt. Hier fühlt sie sich integriert („da hab ich mich ziemlich gut gefühlt“ Z. 70–71). Sie organisiert Ausflüge und leitet Zeltlager. Mit siebzehn (Z. 267 ¤.) kommt es jedoch zu einem Fremdwerden gegenüber der Institution der Kirche und der Jugendgruppe. Hiervon erzählt sie (Z. 267–282): „Bis siebzehn bin ich bei der Kirche ganz engagiert gewesen und hab da auch immer Jugendgruppen geführt und eben auch diese Ferienfahrten dann selber mit organisiert für die Jugendlichen und bin dann ähm (.) auf einer dieser äh Fahrten hatten die Jungs irgendwie so ne blöde Idee das gabs äh das war so ne so ne Ge-
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schichte denk ich die aus dem Krieg noch kann haben sie uns äh einfach ne Decke übergeworfen und haben uns irgendwie mit Lederriemen geschlagen und uns äh dabei noch die Fingernägel abgeschnitten also es war irgendwie so ne Mutprobe oder was weiß ich jedenfalls hab ich das zum Anlass genommen (im Ver-) mit denen red ich nie wieder ein Wort bin also von dem Tag an dort ausgetreten und bin nie wieder @in der Kirche@ und in diesen Zusammenhängen aufgetaucht es war mir irgendwie völlig also damit konnt ich nicht umgehen ich konnts nicht ansprechen ich war völlig entsetzt also ich war irgendwie nicht in der Lage (.) und ich hab dann mit denen auch nie wieder was zu tun gehabt aber das hat auch wohl gepasst weil mein Freund äh das war dann nicht lang danach als ich den kennen lernte der war natürlich links“
Nach einer „Mutprobe“, bei der Frau Othmar von Jungen der Kirchengruppe geschlagen und gedemütigt wird, bricht sie den Kontakt zur Kirche vollständig ab. Die für sie bis dahin bestimmenden sozialen Kontakte können nicht mehr ohne Weiteres fortgesetzt werden. Neben dem Bruch mit der Kirche tritt zu Beginn der Passage eine neue Semantik auf, die für die weiteren Erzählungen, Argumentationen und Beschreibungen von Frau Othmar eine wichtige Rolle spielt. Waren die Berichte über die Schule und die Universität bisher weitestgehend durch eine an Leistung orientierte Semantik geprägt, tritt nun eine Semantik des Engagements in den Vordergrund. Dabei deutet Frau Othmar durch den Verweis auf ihre folgende Beziehung an, dass der Bruch mit der Kirche „gepasst“ hat, insofern dies ihren späteren Einstieg in die linkspolitische Szene erleichtert hat. Der Bruch stellt für Frau Othmar schon einen Verweisungszusammenhang zu ihrem späteren politischen Engagement her. Wie eine andere Passage deutlich macht, fällt ihr der Bruch mit der Kirchengruppe vor dem Hintergrund ihres gesteigerten Engagements zunächst noch schwer. Frau Othmar beginnt mit ihrer Freundin einen neuen Ferienjob, wobei sie in eine biographische Krise gerät. Sie erzählt (Z. 158–169): „Und da hab ich dann äh gehört ne ne andere Schülerin war in in Hamburg das war so die Stadt wo wo eben äh die vielen Sehenswürdigkeiten waren und die äh die meisten Touristen damals warn (.) die hat in ner Diskothek äh äh serviert. und da hab ich mich beworben und bin dann dahin gefahren in im Sommer da hab ich dann also öh weiß ich nicht zwanzig Mark verdient das war richtig viel Geld weil‘s da ja auch Trinkgelder gab und so (.) hab ich mich da aber wieder überhaupt nicht wohlgefühlt war irgendwie völlig unglücklich weil ich da irgendwie keine Freunde hatte und das ((Einatmen)) äh auch nicht irgendwie weiß ich auch nicht da war ich so in so Pubertätskrisen oder so da hab ich mich äh ich bin nicht auf Leute zu-
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gegangen ich bin da da irgendwie (beruflich) rum ä:::h ä:::h (gesessen) und hab mich da nicht wohlgefühlt.“
Obwohl Frau Othmar bei ihrem neuen Job genug Geld verdient, erzählt sie unzufrieden gewesen zu sein. Sie fühlt sich sozial isoliert, hat keine Freunde und gerät in „Pubertätskrisen“. Sie scha¤t es zunächst nicht, die für sie vorher bestimmenden sozialen Kontakte zur Kirchengruppe zu kompensieren. Frau Othmar sucht nun neue soziale Kontakte. Hiervon erzählt sie (282–293): „Bin ich dann eben da auch zu den äh zu den Jusos da gegangen und dann aber auch zu den (.) äh marxistischen und leninistischen Gruppen und hab da eben in Bremen äh die paar Tage wo ich da war dann abends schon immer auch an solchen Diskussionen teilgenommen hab dann auch äh in meiner Heimatstadt irgendwie Flugblätter verteilt hab da äh meinen Namen und meine Adresse angegeben was dann wieder für meine Eltern etwas peinlich war äh hab dann ja auch wählen dürfen und weiß dass ich da also si- sicher die Einzige war die in diesem Wahlkreis dann irgendwie @kommunistisch gewählt@ hat @und@ das war alles irgendwie sehr (.) sehr aufregend“
Auf der Suche nach einer Alternative zu ihren bisherigen sozialen Kontakten betätigt sich Frau Othmar zunächst bei den jungen Sozialdemokraten und später dann in linkspolitischen Kreisen. Wie schon in Bezug auf die Kirchengruppe tritt hierbei eine Semantik des Engagements in den Vordergrund. Sie nimmt an Diskussionen teil und verteilt Flugblätter in ihrem Heimatort. Im Verlauf des Interviews treten die an Leistung orientierte Semantik und mit ihr die Orientierungen an einer ökonomischen Kapitalakkumulation und an einem sozialen Aufstiegswillen weitestgehend zurück, wohingegen die Semantik des Engagements weite Teile des Interviews bestimmt. Wie schon angedeutet, lernt Frau Othmar bei ihren politischen Aktivitäten einen politisch links orientierten iranischen Studenten kennen, der für die nächsten zehn Jahre ihr Freund sein wird. Wie zuvor in der Kirche, sucht Frau Othmar auch jetzt in den politischen Gruppen soziale Kontakte innerhalb eines institutionalisierten Rahmens, wobei sich ihre Praxis des politischen Engagements zu festigen beginnt. Sie berichtet über gewalttätige Aktionen und Demonstrationen, an denen sie teilnimmt, ohne selbst „Steine zu schmeißen“. Frau Othmar experimentiert
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weiter mit ihren Zugehörigkeiten zu politischen Gruppen. Sie erzählt von feministischen Gruppen (Z. 305–308): „.In diesen (.) äh Studenten- und feministischen Kreisen gings dann schon n bisschen bisschen anders ab aber das war für mich dann (.) also da da kannte mich ja keiner und das war für mich dann auch so‘n bisschen bisschen Freiräume (.)“
Frau Othmar findet in studentisch und feministisch geprägten Kreisen „Freiräume“, in denen sie sich ausprobieren kann. So ergibt sich bei ihr, ausgehend von dem Bruch mit ihrer für die Jugend prägenden Kirchengruppe, nach und nach eine neue Logik der Praxis, die mit ihren bisherigen Lebensentwürfen nicht mehr in Deckung zu bringen ist. Im Fokus steht dabei neben einem politischen Engagement für andere auch das Erproben alternativer Lebensformen. Die Praxis eines politischen Engagements für alternative Lebensformen geht mit der Praxis eines experimentellen Selbstumgangs einher. Die antikapitalistische Orientierung der marxistischen und feministischen Politgruppen passt nur schwer zu ihren Praktiken des sozialen Aufstiegswillens und der ökonomischen Kapitalakkumulation, die sich beispielsweise in ihrem wirtschaftswissenschaftlichen Studium ausdrücken. Dennoch werden beide Praktiken zunächst parallel weitergeführt. Frau Othmar schließt ihr wirtschaftswissenschaftliches Studium ab, jedoch dokumentiert sich in der Folge ein Bruch mit ihrer bisherigen Ausbildung. Sie arbeitet nach dem Diplomabschluss nicht in der Wirtschaft und schlägt damit die sich auftuenden Möglichkeiten einer gesteigerten ökonomischen Kapitalakkumulation und eines weiteren sozialen Aufstiegs aus. Stattdessen beginnt sie ein politikwissenschaftliches Studium und zieht in das von ihr als alternativ wahrgenommene Bremen. Der sozialen Umorientierung nach dem Bruch mit der Kirchengruppe folgt eine berufliche Umorientierung. Die Logiken der Praxis einer ökonomischen Kapitalakkumulation und eines sozialen Aufstiegswillens treten gegenüber einer Praxis des politischen Engagements zurück. Verfolgte Frau Othmar bis in ihr Studium hinein vor allem die Ziele des sozialen Aufstiegs und der ökonomischen Kapitalakkumulation, bricht diese Praxisorientierung mit dem Austritt aus der kirchlichen Jugendgruppe und der damit verbundenen Neuorientierung zu anderen sozialen Bewegungen langsam auf. Die „Freiräume“ innerhalb der studentischen Bewegungen ermöglichen Frau Othmar, eine Praxis des Selbstexperiments zu installieren. Sie findet einen neuen
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Umgang mit Di¤erenzen. Berichtet sie in anderen Passagen, wie sie bisher am liebsten zu Hause bei ihren Eltern war, lernt sie nun alternative Lebensformen kennen. Sie verlässt ihre Heimatstadt Richtung Bremen und lebt dort mit ihrem Freund in einer selbstverwalteten Studentenkommune. Hiervon erzählt sie (Z. 432–445): „Ham wir uns da in diesem Studentenheim hab ich mich natürlich sofort wieder engagiert ich war ja irgendwie gewohnt überall mitzumischen äh und hab mich dort da gabs ne Selbstverwaltung und hab mich mit denen dann äh hm:: da gabs einmal äh die Woche so‘n Treffen und hab da immer mitdiskutiert fand die Leute sehr interessant das war eben ein internationales Studentenheim und wir nannten uns internationale Vereinigung der Studenten und äh dadurch dass ich dort aktiv war ham wir dann auch schnell‘n besseres Zimmer gekriegt da gabs dann eben auch so äh größere Appartements und (2) ich hab dann (.) dort auch (2) hm ja wir ham (.) Feten veranstaltet zweimal im Jahr und diese Feten waren also sehr bekannt da ham wir immer irgendwie in ganz Bremen Plakate verteilt und haben da äh wirklich große Tanzfeste gemacht und haben weil wir ja alle irgendwie total politisch engagiert waren das Geld immer an Befreiungsbewegungen gespendet“
Nach dem Umzug nach Bremen setzt Frau Othmar einerseits ihr Engagement in politischen Organisationen fort, andererseits nutzt sie nun ihre Fähigkeiten der ökonomischen Kapitalakkumulation teilweise für politische Projekte. Anders als in ihrer Jugend in Bezug auf die Schule, wird die Semantik der Leistung nun jedoch weitestgehend durch die Semantik des Engagements und nicht durch das Interesse an ökonomischer Kapitalakkumulation überlagert. Die Linie des sozialen Engagements in Alternativbewegungen führt auch zu einem Bruch der spezifischen Orientierung des sozialen Aufstiegs. Frau Othmar arbeitet nicht ihrem Ausbildungsgrad entsprechend in der Wirtschaft, sondern lebt in einer studentischen Selbstverwaltung, um sich hier politisch zu engagieren. Sie schlägt Möglichkeiten, mehr Geld zu verdienen, aus, findet dafür jedoch innerhalb ihres politischen Engagements „Freiräume“, die ihr neue Optionen erö¤nen. Von den sich hier ergebenden Freiräumen erzählt Frau Othmar (Z. 515–521): „Ich war ja äh in dieser Frauenbewegung und und in dieser äh politischen Bewegung da ist auch das Frauenforschungs- Bildungs- und Informationszentrum in Bremen entstanden da war ich auch von Anfang an dabei und da war dann irgend-
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wie: ähm für mich äh total äh interessant ich wollt mal wissen wie das ist lesbisch zu sein. und da hab ich dann eben auf einem dieser Seminare äh eine Studentin kennengelernt wo ich vermutet hab dass die lesbisch ist und das hat dann auch toll geklappt“
Frau Othmar interessiert sich für homosexuelle Formen der Intimbeziehung. In der Frauenbewegung lernt sie eine Kommilitonin kennen, bei der sie vermutet, dass sie „lesbisch ist“. Die Form der Beschreibung verbleibt dabei auch hier in einer der Semantik des Engagements verwandten Projektsprache. Frau Othmar interessiert sich für eine homosexuelle Beziehung; einem Experiment ähnlich bewertet sie im Nachhinein, dass die Beziehung „toll geklappt“ hat. In der Folge ergibt sich aus diesem Kontakt eine Beziehung. Hiervon erzählt Frau Othmar (Z. 521–545): „Also dann hatt ich ne Beziehung mit der, hm die ging dann auch ich weiß es nicht zwei drei Jahre und das war für mich irgendwie ziemlich schlimm (.) weil ich bin in dieser Beziehung unheimlich regrediert das hab ich damals aber nicht gecheckt also sie hat mich quasi toll gefunden ich hatte da äh eben in diesen Seminaren sozusagen die Reiseleitung und ich hab da auch n ziemlich guten Vortrag gehalten zu meinem äh Refera- also mein mein meine Arbeit da vorgestellt und so und das fand die alles ziemlich beeindruckend und dann in dieser Beziehung bin ich irgendwie äh phh (.) also (.) würd ich heute sagen immer mehr zurückgefallen ich war dann nur noch (.) ich hab nichts mehr ä:hm gemacht ich war irgendwie sehr (2) ich hab hab immer nur noch ä:h ich wollte: eigentlich ständig Sex haben also es war nichts mehr (.) und und die hat das überhaupt nicht gut gefunden die fand an mir äh meine Aktivitäten und so weiter toll und meine äh ich ich will nur noch zu Hause und und und mich möglichst ä:hm auch nicht mehr mit Leuten treffen ich war eifersüchtig ich war also ich konnte irgendwie nicht damit umgehen ich war nicht in der @Lage mit dieser Beziehung umzugehen@ aber ich hab da tierisch gelitten ich war irgendwie äh die wollt mich immer irgendwie wieder nach rau- nach draußen (.) bringen dann ham wir zusammen n Motorrad gekauft und sind dann irgendwie mit Motorrädern rumgefahren und so und das war zwar alles irgendwie is so weiter gelaufen aber ich hab nichts hmhm nichts wirklich auf die Reihe gekriegt. und dann hat sie sich irgendwann von mir getrennt, das war für mich ganz hart also ich war irgendwie ganz unglücklich und hab das nicht verstanden weil ich fand es (.) endlos äh äh angenehm einfach nur äh in diesem (.) ä:h Zusammensein und und und zusammen äh sich wohlfühlen und nicht mehr draußen in der Welt agieren.“
Ihre Beziehung reflektiert Frau Othmar im Nachhinein als einen Regress. Sie lässt ihr politisches Engagement schleifen. Sie möchte nicht
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mehr „in der Welt agieren“, sondern nur noch Zeit zu Hause mit ihrer Freundin verbringen. Anders als ihre Partnerin fühlt Frau Othmar das Bedürfnis, sich sozial zu isolieren. Die Beziehung scheitert, was Frau Othmar „unglücklich“ macht. Sie stürzt in eine Krise, die mit einer beruflichen Orientierungslosigkeit nach dem Abschluss ihres zweiten Studiums zusammenfällt.
Transformation der Relation von unterschiedlichen Logiken der Praxis In dieser Phase ergibt sich vor dem Hintergrund der ausgebildeten Praxis eines Engagements für alternative Lebensformen eine Di¤erenz, die in eine kritische Suchbewegung mündet. Frau Othmar erzählt (Z. 560–575): „Und da hatt ich Leute kennengelernt äh die biologische Landwirtschaft (.) betreiben. und ähm phh da war ja schon klar dass dass ich mit dem Studium bald zu Ende sein werde und dass ich jetzt nicht noch n drittes @Studium anfangen könnte@ ich vielleicht doch mal irgendwas arbeiten werd müssen. und da kam mir diese Idee ich könnte ja n Biogroßhandel machen also aus (.) a- aus diesen Gesprächen mit diesen Leuten in den Projekten die haben immer wieder erzählt die bräuchten hier n Handel der das vermarktet und und und wo diese Produkte dann ((Schlucken)) in die Stadt kommen und in dem Zusammenhang ist diese diese Idee bei mir entstanden. dann hab ich noch äh ne Untersuchung gemacht da gabs dann schon die ersten Bioläden äh was ich dann so als Seminararbeit hab ich einen äh Bioladen der erste der da in der Nähe von diesem Studentenheim wo ich gewohnt habe entstanden war hab ich mit dem äh so n bisschen (.) das untersucht und und (2) ja und hab dann eben noch mehr von diesen Bauern äh da auch kennengelernt bin bei der nächsten Seminarreise dann so n bisschen gezielter schon auf die zugegangen“
Frau Othmar hinterfragt ihre eigene biographische Situation. Sie erkennt für sich, dass sie nicht weiter studieren will, woraus sich eine Suchbewegung ergibt. Sie entwickelt eine neue Idee, welche sich maßgeblich aus ihrem Engagement in der ökologisch und friedenspolitisch orientierten sozialen Bewegung speist. Nachdem in den Interviewpassagen über das frühe Erwachsenenalter und die zweite sozialwissenschaftliche Studienphase weitestgehend eine Semantik des politischen Engagements das Interview strukturierte, tritt nun wieder verstärkt eine Semantik auf, die für die Kindheit und Jugend schon relevant war und die an einer Leistungserbringung und an einer ökonomischen Kapitalakkumulation orientiert ist. Angeregt durch ihre Gespräche mit Bauern der biologischen Landwirtschaft entsteht bei Frau Othmar das Interesse, einen Biogroß-
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handel zu gründen, wodurch wieder verstärkt ihre jahrelang weitestgehend vernachlässigte wirtschaftliche Ausbildung in den Vordergrund rückt. Bei Frau Othmar dokumentiert sich nun ein Wandlungsprozess, der sich auch auf der semantischen Ebene nachvollziehen lässt. Sie führt aus (Z. 575–577): „Und hab dann auch Leute kennengelernt äh die hier schon äh so ne Genossenschaft gründen wollten und dann war die Idee ja wir gründen jetzt eine hm Biogenossenschaft. weil das war ja noch alles sehr sehr politisch motiviert.“
Frau Othmar gründet mit Bekannten eine Biogenossenschaft, um so einen Biogroßhandel zu initiieren. Wie in einer anderen Passage deutlich wird, geraten durch die Umweltkatastrophe von Tschernobyl und die damit steigende Nachfrage nach ökologischen Produkten die vorher weitestgehend unrentablen ökologischen Geschäftsmodelle in eine wirtschaftlich stabile Lage, sodass auch Frau Othmars Geschäft rentabel wird. Für Frau Othmar ergibt sich dadurch eine neue Situation. Neben einer berufsbiographischen Perspektive nach ihrem Studienabschluss kann sie die Gründung eines ökologischen Geschäftsmodells auch mit einer politischen Motivation verbinden. Erstmals überlagern sich in einem starken Maß die vorher weitestgehend getrennten Logiken der Praxis einer ökonomischen Kapitalakkumulation und eines politischen Engagements. Die ökologische Landwirtschaft ist für Frau Othmar vor dem Hintergrund ihrer Aktivitäten in den politischen Gruppen der Friedensbewegung und der ökologischen Bewegung nicht nur eine Geschäftsidee, sondern auch ein politisches Projekt. Damit kommt es, wie im Folgenden deutlich wird, zu einer Transformation der Relation von unterschiedlichen Logiken der Praxis, in denen sich das Verhältnis von ökonomischer Kapitalakkumulation und politischem Engagement grundlegend ändert. Das Interesse an einer ökonomischen Kapitalakkumulation steht nun nicht mehr in einem Konflikt mit der für Frau Othmar wichtig gewordenen Praxis des politischen Engagements. Dass dies für sie eine neue Situation darstellt, wird in der folgenden Passage deutlich. Sie erzählt (Z. 720–727): „Okay okay. also dann bin ich äh in ne völlig neue Situation geraten weil ich war ja bis dahin eher ähm äh linke Studentin feministisch und äh ökologisch ne, und da war ich Unternehmerin und bin quasi auf der andern Seite: ähm gestanden und hatte (.) Leute unter mir die mich natürlich weitlich ausgenommen haben weil
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ich ja unheimlich nett und ( ) und so war ne? und dann musste ich das halt lernen mit denen umzugehen und da phh (.) äh:m Möglichkeiten zu finden dass sie mich nicht bescheißen dass ich aber auch nicht die bescheiße und so=aber das war schon hart“
Durch ihre Firmengründung und den wirtschaftlichen Aufschwung der Ökobranche entsteht für Frau Othmar eine neue Situation. Von der linken und feministischen Studentin wird sie als Unternehmerin zu einem Wechsel „auf die andere Seite“ gezwungen. Ihr politisches Engagement hat sie über die Friedens- und Ökobewegung von einer antikapitalistischen Aktivistin zu einer sich auf dem kapitalistischen Markt zurechtfinden müssenden Unternehmerin gemacht. Dabei fällt auf, dass sich auf einer semantischen Ebene ein Wandel abzeichnet. War die jetzt wieder in den Vordergrund rückende Semantik der Leistung in Frau Othmars Kindheit und Jugend neben der Orientierung an einer ökonomischen Kapitalakkumulation stark verwoben mit einer Orientierung an einem sozialen Aufstieg, tritt diese Orientierung nun zurück. Zwar steht die Semantik der Leistung in Bezug auf die ökologische Firmengründung immer noch in einem Zusammenhang mit einer ökonomischen Kapitalakkumulation, jedoch hat sich im Zuge des politischen Engagements dessen Rahmung verändert. Die Semantik der Leistung zielt bei Frau Othmar nun nicht mehr auf ihren individuellen sozialen Aufstieg ab, sondern sie versucht, dem eigenen Anspruch entsprechend, durch die gesellschaftspolitische Rahmung ihres auf Nachhaltigkeit abzielenden Firmenprojektes auch kollektive Ziele zu verwirklichen. Die Semantik der Leistungserbringung wandelt sich so von einem sozialen Aufstiegswillen hin zu einem politischen Engagement. Bei Christiane Othmar ergibt sich so eine Transformation der Relation von unterschiedlichen Logiken der Praxis. Durch die Firmengründung kann sie die Praktiken der ökonomischen Kapitalakkumulation und des politischen Engagements in eine neue Relation stellen. Frau Othmar versucht, mit einem ökologischen Geschäftsmodell, in dessen Zentrum ein nachhaltiges Wirtschaften und die Entwicklung einer alternativen Firmenkultur stehen, ein Gegenprojekt zu gängigen marktorientierten Geschäftsmodellen zu installieren. Vor diesem Hintergrund kann sie ihre Firmengewinne auch als Gewinne eines politischen Engagements für eine alternative Lebensform verstehen. Die Logiken der Praxis der ökonomischen Kapitalakkumulation und des politischen Engagements werden
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so in ihrer Relation transformiert, insofern sie einander nun nicht mehr ablösen, sondern in ein produktives Wechselverhältnis gestellt sind.
Zur Struktur eines Bildungsprozesses als Habitustransformation im Fall Christiane Othmar Der Bildungsprozess von Christiane Othmar lässt sich einerseits aus der Perspektive unterschiedlicher Phasen der Transformation des Habitus betrachten, andererseit kann der Bildungsprozess auch auf einer semantischen Ebene nachvollzogen werden. Bezogen auf die unterschiedlichen Phasen reproduziert Frau Othmar in ihrer Schullauf bahn zunächst den sozialen Aufstiegswillen ihrer Familie, deren Mitglieder sich aus einem proletarischen Angestelltenverhältnis in eine bürgerliche Selbstständigkeit hochgearbeitet haben. Nach anfänglichen Schwierigkeiten in der Schule lernt Frau Othmar, vermittelt durch ihre Mutter, sich in der Schule durch erhöhten Arbeitseinsatz als „Klassenbeste“ zu positionieren. Die hier ausgebildete Praxis des sozialen Aufstiegswillens, welche sich durch einen modus operandi der erhöhten Einsatzbereitschaft auszeichnet, verbindet sich in der Folge mit einer Praxis der ökonomischen Kapitalakkumulation. Frau Chruchot geht extensiv beruflichen Nebentätigkeiten nach und spart, sodass sie sich in ihrer Adoleszenz ohne die Unterstützung der Eltern selbst Reisen sowie kleinere und größere Konsumprodukte wie eine Fotokamera, ein Tonbandgerät oder später ein Auto kaufen kann. Den Praktiken der ökonomischen Kapitalakkumulation und des sozialen Aufstiegswillens folgend, bricht Frau Othmar nach dem Besuch einer Handelsschule mit den Erwartungshaltungen der Familie, indem sie ein akademisches Studium beginnt. Im sozialen Raum der Universität, in dem sie ein wirtschaftswissenschaftliches Studium absolviert, kann sie ihre Praxen des sozialen Aufstiegswillens und der ökonomischen Kapitalakkumulation neu verankern. Hiermit überlagernd ergibt sich bei Frau Othmar ein Fremdwerden gegenüber dem für sie in ihrer Jugend wichtigen sozialen Raum der Kirchengemeinde. Damit verbunden kommt es zu einer biographischen Krise, die Frau Othmar selbst als „Pubertätskrise“ kennzeichnet. Sie sucht nun nach neuen Raumanschlüssen. Während ihres Studiums kommt sie mit antikapitalistisch orientierten Sozialbewegungen in Kontakt. Hier bildet sie eine Praxis des politischen Engagements für alternative Lebensformen aus, welche sich zu
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dem bisher ausgebildeten Praxisgefüge des sozialen Aufstiegs und der ökonomischen Kapitalakkumulation in Widerspruch setzt. Frau Othmar beendet zwar ihr wirtschaftswissenschaftliches Studium, arbeitet danach jedoch nicht in einem Beruf, der ihr durch ihren Studienabschluss höhere ökonomische Einkünfte hätte sichern können. Sie schlägt so die Möglichkeiten einer vermehrten ökonomischen Kapitalakkumulation und eines weiteren sozialen Aufstiegs zunächst aus. Frau Othmar verlässt ihren Studienort und geht in das für sie als alternativ geltende Bremen, um hier Politikwissenschaft zu studieren. Sie engagiert sich weiterhin politisch und findet in ihrer politischen Praxis auch in Bremen Anschluss an soziale Räume der politischen Bewegungen. Wie schon in ihrem Wirtschaftsstudium erfährt Frau Othmar die politischen Bewegungen als experimentelle „Freiräume“, in denen sie sich ausprobieren kann, wodurch die Praxis des politischen Engagements für alternative Lebensformen sich mit einer Praxis des experimentellen Selbstumgangs verbindet. Beispielsweise beginnt sie, inspiriert durch ihr Engagement in feministisch orientierten Politikbewegungen, ein Interesse für homosexuelle Intimbeziehungen auszubilden. Aus diesem Interesse entwickelt sich eine Liebesbeziehung zu einer Frau. Entgegen ihren vorher ausgebildeten Praxisformen des sozialen Aufstiegswillens, der ökonomischen Kapitalakkumulation oder der politischen Selbstauseinandersetzung, welche in irgendeiner Weise immer eine gesteigerte Aktivität voraussetzten, möchte Frau Othmar innerhalb dieser Beziehung nun „nicht mehr in die Welt hinausgehen“. Getrieben von Sex- und Eifersucht, möchte sie mit ihrer Freundin nur noch „zu Hause bleiben“. Als die Beziehung daraufhin in eine Krise gerät und in die Brüche geht, mündet dies für Frau Othmar auch in eine biographische Krise. Sie entschließt sich, nicht mehr Studentin sein zu wollen und ihr Studium zu beenden. Vor dem Hintergrund ihrer Praxis des politischen Engagements hat sich bei Frau Othmar eine Di¤erenz ergeben, die sie ihre biographische Situation hinterfragen lässt. Sie sucht nach Anschlüssen an neue soziale Räume, die sich im Folgenden aus ihren Kontakten mit der Öko- und Friedensbewegung entwickeln. Zusammen mit Freunden beschließt Frau Othmar, einen biologisch-ökologischen Großhandel aufzuziehen, wodurch sich die Relation der von ihr bis dahin ausgebildeten Logiken der Praxis transformiert. In ihrem Geschäftsmodell kann Frau Othmar in der Folge die Praktik der Kapitalakkumulation mit einer politischen Praxis
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des Einsatzes für alternative Lebensformen in ein neues Verhältnis bringen, wodurch sich für sie neue Erfahrungsmöglichkeiten erö¤nen. Da sie in ihrem ökologisch fundierten Geschäftsmodell ein gegen die gängigen Formen des Kapitalismus gerichtetes Projekt sieht, kann sie ihre finanziellen, geschäftsexpandierenden Erfolge, die im engen Zusammenhang mit ihrer Praxis der ökonomischen Kapitalakkumulation stehen, auch als eine Praxis des politischen Engagements für alternative Lebensformen begreifen. Gleichzeitig versucht sie, innerhalb ihrer Firma neue Formen einer sozialen Geschäftsführung zu installieren. Christiane Othmar findet so eine Praxis der politisch engagierten, ökonomischen Kapitalakkumulation. So bildet Frau Othmar einerseits einen neuen Habitus aus, in dem sich die Logiken der Praxis der ökonomischen Kapitalakkumulation und der politischen Praxis in eine neue Relation setzen; andererseits generiert sie einen Bezug zu neuen sozialen Räumen, welcher sich für die Veränderungen, die mit der Transformation der Relation ihrer unterschiedlichen Praxisformen einhergehen, anschlussfähig zeigt. Auch auf einer semantischen Ebene lässt sich bei Frau Othmar ein Wandlungsprozess erkennen. Während die Interviewpassagen der Kindheit und Jugend überwiegend durch eine Semantik der Leistungserbringung strukturiert sind, ergibt sich mit den Erzählungen über das frühe Erwachsenenalter ein Wandel. Hier steht weniger eine Semantik der Leistung als vielmehr eine Semantik des Engagements im Vordergrund. Die mit der Semantik der Leistung in der Kindheit und Jugend eng verknüpften Orientierungen an einem sozialen Aufstiegswillen und an einer ökonomischen Kapitalakkumulation treten in den Hintergrund. Ein Wandel zeichnet sich in dieser Hinsicht mit Frau Othmars Gründung einer ökologischen Firma ab. Die Semantik der Leistung tritt mit der Semantik des Engagements in eine neue Relation. Die ökonomische Kapitalakkumulation wird nun zu einem Weg des politischen Engagements. Anders als in der Jugend tritt die Semantik der Leistung weniger vor dem Hintergrund einer Orientierung an einem sozialen Aufstiegswillen auf, sondern die auch ökonomische Leistungsbereitschaft ist nunmehr selbst maßgeblich durch ein politisches Engagement mitstrukturiert. Eine semantische Form der Leistung, die auf den eigenen Erfolg abzielt, wird so durch eine semantische Form ersetzt, die ebenfalls an Leistung orientiert ist, diese jedoch in einen gesellschaftspolitischen Rahmen stellt.
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7.4. Phasentypik von Bildungsprozessen als Transformationen des Habitus Im Folgenden soll von den Einzelfällen abstrahiert und auf das Niveau einer fallübergreifenden Typenbildung gewechselt werden. Dabei lassen sich im Vergleich der Fälle von Frau Chruchot, Herrn Bosch und Frau Othmar mindestens fünf Phasen von Transformationsprozessen des Habitus unterscheiden, welche jeweils nochmal in unterschiedliche Prozesse di¤erenziert werden können. Die Prozesse innerhalb einer Phase gehen dabei ein dynamisches Wechselspiel ein. Einzelne Prozesse treten oftmals in Überlappungsverhältnisse oder wiederholen sich teilweise mehrfach. Während also eine Phase und die darin gegebenen Prozesse als fallübergreifende Merkmale gekennzeichnet werden können, sind die Anordnungen der Prozesse in einzelnen Phasen teilweise innerhalb der Fälle di¤erent. So kommt es beispielsweise vor, dass innerhalb einer Phase eine einzelne Prozessstruktur in einem Fall mehrfach wiederholt wird, bevor es zu einem Übergang in eine andere Phase kommt, während in einem anderen Fall die gleiche Prozessstruktur nur einmal durchlaufen wird, bevor ein Übergang in eine andere Phase entsteht.
Die erste Phase der Differenzierung eines Habitus Fallübergreifend kommt es in der ersten Phase der rekonstruierten Bildungsprozesse zu einer Di¤erenzierung des Habitus. Dabei ähneln die Prozesse innerhalb der ersten Phase den in Kapitel 5 rekonstruierten Wandlungsprozessen. Zunächst vollzieht sich ein Prozess des Fremdwerdens gegenüber einem zuvor biographisch relevanten sozialen Raum, dann folgt eine kritische Distanzierung gegenüber den Raumbezügen, woraufhin eine Suche nach Anschlüssen an neue soziale Räume beginnt und schließlich ein neuer Raumanschluss gefunden wird. Hier zeigen sich die schon im zweiten Kapitel rekonstruierten Dimensionen von Kritik und Innovation. Einhergehend mit einer Kritik an bisherigen sozialen Räumen entsteht eine Suchbewegung, die zu neuen Raumanschlüssen führt. Bei Frau Chruchot bilden sich die Praktiken des Sich-Einordnens und des Sich-Darstellens im Raum der nicht scharf trennbaren Familie und der kommunalen Lebensgemeinschaft aus. Es entwickelt sich ein Habitus, in dem die Praxen des Sich-Darstellens und des Sich-Einordnens ein enges Wechselverhältnis eingehen. Wie rekonstruiert, kommt es bei
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Frau Chruchot zu einem Prozess des Fremdwerdens gegenüber dem sozialen Raum der Familie. Es beginnt eine kritische Distanzierung und eine Suchbewegung nach neuen Raumanschlüssen. Einhergehend mit einer berufsbiographischen Orientierung findet Frau Chruchot neue Anschlüsse im Raum der Schauspielschule, wo sie die Praktiken des SichDarstellens und des Sich-Unterordnens neu verorten und di¤erenzieren kann. Bei Herrn Bosch kommt es zu einer Di¤erenzierung des Habitus, indem die Logiken der Praxis einer existenziellen Sinnsuche und eines Engagements für andere in ein enges Wechselverhältnis treten. Beide Praktiken entwickeln sich zunächst im Zusammenhang mit Herrn Boschs Mutter und dem Raum der religiösen Institution. In seiner Jugend beginnend, kommt es bei Herrn Bosch zu einem Prozess des Fremdwerdens gegenüber dem zuvor biographisch relevanten Raum der katholischen Kirche. Einhergehend mit einem Prozess der kritischen Distanznahme kommt es zu einer Suchbewegung nach Anschlüssen an neue soziale Räume, welche bei Herrn Bosch zu einem Neuanschluss an den Raum der politischen Bewegung führt. Hier kann er zwar die Praxis des Engagements für andere neu verorten und di¤erenzieren. Gleichzeitig kommt es jedoch bei Herrn Bosch auch zu einem Anschluss an die Hippiebewegung, in dem die Praxis der existenziellen Sinnsuche einen Platz findet. Bei Frau Othmar entwickelt sich in der Kindheit und Jugend ein Habitus, in dem die Logiken der Praxis eines sozialen Aufstiegswillens und einer ökonomischen Kapitalakkumulation in einem engen Wechselverhältnis stehen. Nach dem Abschluss ihrer Ausbildung kommt es zu einem Prozess des Fremdwerdens gegenüber dem sozialen Raum der Eltern. Frau Othmar distanziert sich kritisch von den Erwartungshaltungen der Eltern, welche für sie eine mittelständische Anstellung vorgesehen hatten, und beginnt in dem für ihre Familienzusammenhänge neuen Raum der Universität ein akademisches Studium. In der Erzählung von Frau Othmar, die an dieser Stelle einer religiösen Konversionserzählung ähnelt, überlagern sich die kritische Distanzierung und der Entschluss für einen neuen Raumanschluss derart, dass eine Suchbewegung ausgeblendet scheint.3 Mit der Entscheidung für ein wirtschaftswissenschaftliches Studium können die Logiken der Praxis von ökonomischer Kapitalakku3 Ähnlich einem von Nohl (2006) herausgearbeiteten Prozess des adjustment könnte die Erzählstruktur auf einen Prozess hindeuten, in dem es zu einer sponta-
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mulation und sozialem Aufstiegswillen neu verankert und di¤erenziert werden. Die erste Phase kann so als ein Prozess beschrieben werden, in welchem sich ein Habitus über einen Wandlungsprozess di¤erenziert. In allen drei Fällen stehen dabei Prozesse des Fremdwerdens gegenüber einem sozialen Raum, der in der Jugend biographisch relevant war, im Vordergrund. Einhergehend mit der Prozessstruktur der kritischen Distanznahme kommt es zu Suchbewegungen, welche in neue Anschlüsse an soziale Räume münden, in denen die zuvor ausgebildeten Praktiken neu verankert werden können.
Die zweite Phase des Bruchs mit einem Praxiskomplex In der zweiten Phase der Transformationen des Habitus kommt es zu einer Passungsschwierigkeit zwischen dem Habitus und einem biographisch bis dahin relevanten Raum, wodurch ein Bruch und eine kritische Negation von Raumanschlüssen evoziert werden. Nachfolgend kommt es zu Destabilisierungsprozessen der ausgebildeten Praxisformen, die zu einer biographischen Krise führen. Im Unterschied zu dem Prozess des Fremdwerdens geht es in Phase zwei nicht um eine Di¤erenzierung einer Praxis. Während in Phase eins eine Praxis über das Fremdwerden gegenüber einem Raum, die Suche und den Anschluss an einen neuen Raum beibehalten wird, kommt es in der zweiten Phase nicht nur zu einem Bruch mit einem Raum, sondern auch zu einem Bruch mit einer Praxis. Bei Frau Chruchot ergeben sich Passungsschwierigkeiten zwischen der habituell verankerten Praxis des Sich-Einordnens und dem Raum der Schauspielschule, wodurch es zu einem Abbruch ihres Schauspielstudiums kommt. In der Folge fokussiert Frau Chruchot die Intimbeziehung zu ihrem Freund und gerät in eine biographische Krise. Bei Herrn Bosch kommt es zu Passungsschwierigkeiten zwischen seiner habituell ausgebildeten Praxisform des Engagements für andere und dem sozialen Raum der politischen Organisation, was ihn zum Austritt aus seiner Partei veranlasst. Herr Bosch fühlt sich ohne seine politische Orientierung leer und gerät in eine biographische Krise, die zu einer Depression führt.
nen Heranführung von zuvor a-ref lexiven an ref lexive Wissensbestände kommt, die in der Folge handlungsleitend werden.
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Bei Frau Othmar drückt sich die Passungsschwierigkeit zwischen habitualisierten Praxisformen und einem für sie biographisch relevanten Raum in einer Missachtungserfahrung aus, nach der Frau Othmar die sie in ihrer Jugend prägende Institution der kirchlichen Freizeitgruppe verlässt. Frau Othmar fällt daraufhin in eine biographische Krise, die sie als „Pubertätskrise“ kennzeichnet. Die hieraus entstehende soziale Isolation und auch anfängliche Probleme in ihrem Studium bilden einen Zusammenhang aus, der Frau Othmar mit Teilen ihrer Jugend brechen lässt.
Die dritte Phase der Entstehung einer neuen Praxis der Selbstinterpretation In der dritten Phase der Transformationen des Habitus kommt es zur Ausbildung einer neuen Logik der Praxis, welche in den dargestellten Fällen mit Praktiken im Zusammenhang steht, die die Akteure in neuen Selbstinterpretationen einüben. Frau Chruchot beginnt, ausgelöst durch ihre biographische Krise, mit einer Psychotherapie und entwickelt so eine Praxis der Selbstinterpretation, in der sie sich in einen neuen Selbstbezug setzen kann. Inspiriert durch esoterische Lektüre, entdeckt Herr Bosch sein Interesse an den psychoanalytischen Techniken von C. G. Jung und beginnt in der Folge eine Psychotherapie, in der er eine neue Praxis der Selbstinterpretation findet. Und auch Frau Othmar beginnt nach dem Herausfallen aus ihren bisherigen sozialen Raumbezügen und der in der Folge erlittenen biographischen Krise eine für sie neue Praxis des politischen Engagements für alternative Lebensformen zu entwickeln, welche einhergeht mit einer experimentellen Praxis des Selbst, in der sie sich neue Selbstinterpretationen einübt.
Die vierte Phase der kritisch-reflexiven Distanznahme In der vierten Phase ergibt sich vor dem Hintergrund einer durch die Einübung in neue Selbstinterpretationen produzierten Di¤erenz eine kritische Distanznahme gegenüber den eigenen biographischen Verhältnissen. Frau Chruchot kritisiert die Verhältnisse ihrer Kindheit und die sich daraus für sie ergebende Situation in der Gegenwart, Herr Bosch vermisst die fehlende Sprache für mystische Erfahrungen in der psychotherapeutischen Institution und folgert hieraus eine Unzufriedenheit, und
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Frau Othmar erkennt, dass sie nicht länger Studentin bleiben kann und sich um eine berufsbiographische Orientierung bemühen muss.
Die fünfte Phase der Transformation der Relation von unterschiedlichen Logiken der Praxis In der fünften Phase der Transformationen des Habitus kommt es zu einer Transformation der Relation unterschiedlicher Logiken der Praxis, wodurch sich einerseits ein neuer Habitus bildet und sich damit neue Selbstverhältnisse ergeben, andererseits ein neuer Bezug zu neuen sozialen Räumen und, damit einhergehend, auch neue Weltverhältnisse generiert werden. Frau Chruchot beginnt in dieser Phase ihr Schauspielstudium wieder aufzunehmen. Sie kann hier die Di¤erenz zwischen den Praktiken des Sich-Darstellens, des Sich-Einordnens und der Selbstinterpretation neu relationieren. Indem sie im Schauspiel und damit in der Praxis des Sich-Darstellens nun eine Auseinandersetzung mit ihren biographischen Ängsten findet, welche sie mit den anderen Schauspielern zu teilen versucht, kann sie die Relation des vorherigen Praxisgefüges zwischen dem Sich-Unterordnen und dem Sich-Darstellen transformieren. Die Praxis des Sich-Darstellens setzt sich in eine neue Relation zu den Praktiken der Selbstinterpretation und des Sich-Einordnens. Frau Chruchot generiert für sich neue Anschlüsse an soziale Räume und damit neue Weltverhältnisse, welche sich für ihren neu entstandenen Habitus und für die neuen Selbstverhältnisse anschlussfähig zeigen. Für Herrn Bosch ergibt sich mit dem Verlassen seiner psychotherapeutischen Ausbildungsstätte und dem Anschluss an den sozialen Raum des südamerikanischen Schamanismus die Möglichkeit, die Praktiken des Engagements für andere, der Selbstinterpretation und der existenziellen Sinnsuche neu zu relationieren. In dem Vermittlungsversuch zwischen „westlicher Psychotherapie“ und „südamerikanischem Schamanismus“ findet Herr Bosch eine Beziehung zwischen den Praktiken der Selbstinterpretation und der existenziellen Sinnsuche; darüber hinaus wirkt sich dieser Relationierungsversuch auch auf sein Engagement für andere aus, indem er nun versucht, seinen Klienten neben der Psychotherapie auch schamanistische Praktiken nahezubringen. Es kommt zu einer Transformation der Relation unterschiedlicher Logiken der Praxis. Herr Bosch generiert damit auch einen neuen Raumanschluss, der sich
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für die mit seinem Bildungsprozess einhergehende Transformation seines Habitus als anschlussfähig zeigt. Auch bei Frau Othmar kommt es in der fünften Phase ihres Bildungsprozesses zu einer Transformation der Relation unterschiedlicher Logiken der Praxis und zur Ausbildung eines neuen Anschlusses an einen sozialen Raum. Sie gründet mit ihren Freunden einen Biogroßhandel und kann so die sich aus ihrer Biographie ergebende Di¤erenz zwischen einem sozialen Aufstiegswillen, einer ökonomischen Kapitalakkumulation und einer Praxis des politischen Engagements für alternative Lebensformen sowie den damit einhergehenden experimentellen Selbstumgang neu relationieren. Indem Frau Othmar in der Gründung einer ökologisch nachhaltig wirtschaftenden Firma ein Projekt findet, das sich gegen gängige Formen des Kapitalismus stellt, kann sie die Expansion ihrer Firma und die damit verbundenen sozialen Aufstiegschancen sowie die vermehrte ökonomische Kapitalakkumulation in eine Relation zu einer politischen Praxis stellen. Die zuvor mit der Aufnahme des Politikstudiums nicht weiter fokussierten Praktiken des sozialen Aufstiegswillens und der ökonomischen Kapitalakkumulation kommen durch ein Ins- VerhältnisSetzen zu der sich mit einem experimentellen Selbstbezug verbindenden politischen Praxis in eine neue Relation. Frau Othmar transformiert so einerseits die Relation unterschiedlicher Praxisformen und bildet neue Selbstverhältnisse aus, andererseits generiert sie neue Anschlüsse an soziale Räume und damit neue Weltverhältnisse, welche sich für das neu ausgebildete Praxisgefüge als anschlussfähig erweisen. Zusammenfassend können also fünf Phasen von Habitustransformationen di¤erenziert werden: Eine erste Phase der Habitusdi¤erenzierung, eine zweite Phase der Passungsschwierigkeit zwischen Habitus und sozialem Raum, welche man auch als Passungsschwierigkeit zwischen Selbst- und Weltverhältnissen kennzeichnen kann, eine dritte Phase der Entwicklung einer neuen Praxis, welche mit neuen Selbstverhältnissen einhergeht, eine vierte Phase, in der, ausgehend von einer produzierten Di¤erenz der Praktiken der Selbstinterpretation, eine kritische Hinterfragung und Suchbewegung bezüglich der eigenen biographischen Verhältnisse beginnt, und eine fünfte Phase, in der es zu einer Transformation des Habitus als Transformation der Relation unterschiedlicher Logiken der Praxis und der Generierung neuer Raumanschlüsse kommt. Die fünfte Phase kann in diesem Sinne auch als die Phase einer Transformation von Selbst- und Weltverhältnissen interpretiert werden.
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7.5. Theoretische und empirische Differenzierungen von Wandlungs- und Transformationsprozessen des Habitus vor dem Hintergrund der empirischen Rekonstruktionen Vor dem Hintergrund der bisherigen Ausführungen soll es im Folgenden um die Unterscheidung von Wandlungs- und Transformationsprozessen des Habitus gehen. Ich gehe dabei von einem habitustheoretischen Modell aus, welches den Habitus als eine Überlagerung von mehreren Logiken der Praxis versteht. Bezogen auf Wandlungs- und Transformationsprozesse ist die grundlegende These nun, dass sich die rekonstruierten Bildungsprozesse durch unterschiedliche Bezugnahmen auf Logiken der Praxis di¤erenzieren lassen. Während es bei Wandlungsprozessen des Habitus zu der Transformation einer Logik der Praxis kommt, beziehen sich Transformationen des Habitus auf die Transformation der Relation unterschiedlicher Logiken der Praxis. Mit dieser Unterscheidung kann die Frage nach der Wandlungs- und Transformationsfähigkeit eines Habitus weiter di¤erenziert werden, bevor dann der Faden der Rekonstruktion von Bildungsprozessen vor dem Hintergrund von gesellschaftlichen Eigenlogiken wieder aufgenommen werden soll (Kapitel 8). a) In den metatheoretischen Ausführungen in Kapitel 3 wurde zentral von einer Theorie der Praxis im Sinne Pierre Bourdieus ausgegangen. Aus einer bildungstheoretischen Perspektive war eines der zentralen Probleme hier die Frage nach der Möglichkeit einer Habitustransformation. Vor dem Hintergrund der empirischen Rekonstruktionen und der damit angedeuteten Di¤erenzierung von Wandlungs- und Transformationsprozessen des Habitus kann nun die Frage nach einer Habitustransformation beziehungsweise einem Habituswandel di¤erenzierter bearbeitet werden. Wie angedeutet, lassen sich Wandlungs- beziehungsweise Transformationsprozesse des Habitus vor dem Hintergrund ihrer Bezugnahme auf Logiken der Praxis unterscheiden. Bei Wandlungsprozessen kam es zu der Transformation einer Logik der Praxis, die über die vier Phasen einer Di¤erenzierung eines Habitus, eines Experimentierens mit Raumanschlüssen, einer kritischen Distanznahme sowie einer Suche und Etablierung von neuen Anschlüssen an soziale Räume zustande kommt. Durch die hier sich vollziehende Transformation einer Praxis wandelt sich zwar der Habitus eines Akteurs, insofern die Transformation einer Logik der Praxis auch die Beziehungen zu anderen Logiken der Praxis
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verändert, jedoch transformiert sich der Habitus in seiner Mehrdimensionalität nicht, insofern die Relationierung der unterschiedlichen Logiken der Praxis sich nicht grundlegend neu konstituiert. Ein Wandlungsprozess bezieht sich demnach nur auf die Transformation einer Logik der Praxis, wodurch sich ein Habitus verändert/ausdi¤erenziert, jedoch nicht transformiert. Bei der Rekonstruktion von Transformationsprozessen des Habitus ergab sich ein anderer Bezug zu Logiken der Praxis. Ausgehend von einer Di¤erenzierung einer neuen Logik der Praxis, kommt es innerhalb dieser Bildungsprozesse zur Transformation der Relation von unterschiedlichen Logiken der Praxis, wodurch sich der Habitus nicht nur partiell wandelt, sondern grundlegend transformiert. Es entsteht ein neuer Habitus, verstanden als eine neue Relation von unterschiedlichen Logiken der Praxis, die sich aus der alten Relation nicht vollständig deduzieren lassen. In diesem Sinne entsteht durch einen qualitativen Sprung ein neues Strukturprinzip, ohne dass der Habitus sich dabei von seiner Sozialisationsgeschichte vollständig lösen würde. Über die fünf Bildungsphasen der Di¤erenzierung eines Habitus, der Passungsschwierigkeit zwischen Habitus und einem angeschlossenen Raum, der Entwicklung einer neuen Praxisform, einer kritischen Hinterfragung und Suchbewegung bezüglich der eigenen biographischen Verhältnisse sowie der Transformation der Relation unterschiedlicher Logiken der Praxis, kommt es hier zu einer Transformation eines Habitus. Entscheidend ist, dass durch die Entwicklung einer neuen Logik der Praxis eine neue Relation zu anderen Logiken der Praxis gescha¤en werden kann. Wie in der vierten Phase gezeigt, liegt in der Eigenlogik einer Praxis und in der sich damit ergebenden Di¤erenz zu anderen Logiken der Praxis das Potenzial einer Transformation der Relation von unterschiedlichen Praxisformen. Durch einen so konzeptionalisierten Bildungsbegri¤ löst sich ein Habitus in Wandlungs- und Transformationsprozessen nicht von seiner biographischen Geschichte, vielmehr kommt es zu einer Neukonstitution der historisch ausgebildeten Praxisformen; dadurch ergibt sich eine Distanznahme zu Teilen der eigenen Geschichte, welche Möglichkeiten für eine biographisch neu anschließbare Geschichte erö¤net. Dass diese Geschichte nicht nur eine Geschichte der Wandlung oder Transformation eines Habitus ist, sondern auch maßgeblich durch gesellschaftliche Eigenlogiken strukturiert wird, sollen die folgenden Feldrekonstruktionen zeigen.
8. Feldrekonstruktionen innerhalb der Praxisformen der Technologien des Selbst
In den Fällen von Frau Chruchot, Herrn Bosch und Frau Othmar spielten bei Habitustransformationen immer wieder Praktiken eine Rolle, die man mit Foucault als Technologien des Selbst bezeichnen kann. Technologien des Selbst können dabei als Praktiken angesehen werden, die den Einzelnen in einer spezifischen Technik des Selbstbezuges üben. Durch Techniken wie das Tagebuchschreiben, eine Gesprächstherapie, Körperübungen oder Meditationstechniken kann der Einzelne einen spezifischen Selbstbezug trainieren und so zu neuen Formen von Selbstinterpretation kommen. Foucault (2003) spricht in diesem Zusammenhang von einer „Hermeneutik des Selbst“. Technologien des Selbst beziehen sich in diesem Sinne nicht auf ein a-priorisches oder a-historisches Subjekt. Der im Zusammenhang mit den Technologien des Selbst häufig verwendete Begri¤ der Subjektivierungsformen verweist darauf, dass Subjekte durch eine Einschreibung in Felder erst gebildet werden. Reckwitz (2006, S. 9) führt dazu aus: „Der Einzelne avanciert zu einem vorgeblich autonomen, zweckrationalen oder moralischen Subjekt erst dadurch, dass er sich bestimmten Regeln – Regeln der Rationalität, des Kapitalismus, der Moralität etc. – unterwirft, diese interiorisiert und inkorporiert und sich in soziale Gefüge integriert.“
Subjekte erscheinen so als historisch produzierte Instanzen, deren Form einerseits von sozialen Strukturen abhängt, die wir als Felder gekennzeichnet haben, und die sich andererseits historisch tradieren und transformieren können. Im Folgenden soll es darum gehen, diese an Felder
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gebundenen Tradierungs- und Transformationsprozesse skizzenhaft nachzuzeichnen. Ziel ist dabei, die in den Biographien gelegten Spuren von Praktiken der Technologien des Selbst in einen Zusammenhang mit gesellschaftlichen Eigenlogiken zu stellen. Die folgenden Feldrekonstruktionen beziehen sich dabei zentral auf die Arbeit ‚Das hybride Subjekt‘ von Andreas Reckwitz (2006). In einer äußerst breit angelegten Arbeit versucht Reckwitz hier, die für ihn zentralen Praktiken der Arbeit, der Intimsphäre und der Technologien des Selbst vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart (die Postmoderne) zu rekonstruieren. Empirische Basis dieser historisch vergleichenden Studie sind primär Quellen unterschiedlicher Dokumente und die vergleichende Auswertung unterschiedlicher Fachdiskurse (vgl. Reckwitz 2006, S. 31). Für die vorliegende Feldrekonstruktion sind vor allem die Rekonstruktionen zu den Technologien des Selbst interessant, wobei diese auch bei Reckwitz (vgl. 2006, S. 17) als ein Feld gekennzeichnet werden, in dem sich Subjekte in Praktiken einüben, um sich selbst zu transformieren. Für Reckwitz ist das Feld der Technologien des Selbst vor allem durch einen Umgang mit unterschiedlichen Medien gekennzeichnet. Die Technologien des Selbst werden als ein Feld von Praktiken beschrieben, in denen ein Akteur „unmittelbar ein Verhältnis zu sich selber herstellt und die vor allem Praktiken im Umgang mit Medien (Schriftlichkeit, audiovisuelle und digitale Medien), sowie im 20. Jahrhundert Praktiken des Konsums umfassen“ (Reckwitz 2006, S. 16 f.). Die hier in den Fokus gerückten Medien werden dabei nicht primär unter dem Aspekt ihrer Kommunikationsmöglichkeiten betrachtet, sondern „als technische Voraussetzungen dafür verstanden, dass das moderne Subjekt ein spezifisches Verhältnis zu sich selber herstellt, das heißt, in sich selber bestimmte E¤ekte erzielt. [...] Mediale Praktiken werden so als Trainingsfelder der Wahrnehmung, der Kognition und der A¤ektivität“ verstanden (Reckwitz 2006, S. 59). Neben den medialen Aspekten der Technologien des Selbst beschreibt Reckwitz, wie ab den 1920er Jahren auch konsumtorische Praktiken für die Technologien des Selbst eine Rolle spielen. Hier zeigt sich eine Verschiebung in den Feldern der Technologien des Selbst zwischen medialen und konsumtorischen Aspekten. Der hier rekonstruierte Wandel soll im Folgenden ausgeführt werden, um so, gleich dem Prinzip der komparativen Analyse im historischen Feldvergleich, den Hintergrund der sich in den rekonstruierten Fällen abzeichnenden Praktiken der Technologien des Selbst beleuchten zu können. Ziel dieser Feldrekon-
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struktion ist es also, der spezifischen Formgebung von Bildungsprozessen im 21. Jahrhundert vor dem Hintergrund ihrer historischen Feldgenese ein Stück näher zu kommen.
8.1. 18. Jahrhundert: Das Entstehen einer moralischsouveränen Praxis im Feld der Technologien des Selbst Reckwitz beschreibt die Technologien des Selbst im 18. Jahrhundert als maßgeblich durch das Medium der Schrift gekennzeichnet. Sich auf eine bürgerliche Subjektform beziehend, führt Reckwitz (2006, S. 155 f.) aus: „Das bürgerliche Subjekt ist in einer beträchtlichen Spanne von Alltags- und Lebenszeit Schreibender und Lesender, so dass sich der Schriftlichkeitshabitus in seinen Körper/Geist ‚einschreibt‘ und ihm eine Form verleihen kann, welche seine gesamte Praxis und sein Verhältnis zu sich selbst prägt.“
Im Medium der Schriftlichkeit bildet sich nach Reckwitz (vgl. 2006, S. 156) ein spezifischer Modus einer als innerweltlich wahrgenommenen kognitiven, emotionalen und imaginativen Struktur aus. Als Gegenhorizont der Abgrenzung für die bürgerliche Moderne des 18. Jahrhunderts, welche an „Ernsthaftigkeit“ orientiert ist, fungieren für Reckwitz (2006, S. 156) die „als ‚unernst‘ repräsentierten Praktiken der Adelskultur und Volkskultur“. Dabei werden die Praktiken des Adels als amoralisch bewertet, vor allem vor dem Hintergrund ihrer wahrgenommenen Artifizialität, welche als Künstlichkeit und Unnatürlichkeit verstanden wird (vgl. Reckwitz 2006, S. 192 f.). Weitere Distinktionshintergründe für die bürgerliche Moderne sind die der Adelskultur zugeschriebenen Attribute eines exzessiven Umgangs mit Zeit und Körper sowie ihre „parasitäre Leistungsverweigerung“ (Reckwitz 2006, S. 179), wohingegen die Praktiken der Volkskultur als „Ort eines unsouveränen religiösen Glaubens“ (Reckwitz 2006, S. 176) und damit als abhängig und unvernünftig kontextualisiert werden (Reckwitz 2006, S. 184 ¤.). In Abgrenzung hierzu bildet sich das für die bürgerliche Kultur wichtige protestantische Subjekt. Dieses „übt sich in der einsamen oder gemeinsamen Lektüre religiöser und moralischer Texte zum Zwecke ihrer Anwendung auf die eigene Biografie. Selbstständige Lektüre erscheint zur Voraussetzung internalisierten Glaubens. Gleichzeitig entwickelt es eine Routine alltäglichen
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Schreibens in Form von Tagebüchern. Die religiöse Anforderung ununterbrochener Selbstprüfung von Taten, Gewissen und Gefühlen erhält im schriftlichen Medium der täglichen Aufzeichnungen eine systematische Form“ (Reckwitz 2006, S. 157 f.). Gegenüber anderen Lesepraktiken, beispielsweise der Antike, in der das Vorlesen eine größere Rolle gespielt hat, ist die bürgerliche Lesepraxis des 18. Jahrhunderts meist solitär organisiert. Reckwitz (2006, S. 160) führt aus: „Das bürgerliche Subjekt übt sich darin, allein mit einem semiotischen Artefakt, den Zeichen des Buches, zu interagieren – Lesen ist keine intersubjektive Praxis unter Anwesenden (mehr), sondern eine (interobjektiv vermittelte) Praktik des Selbst, die zugleich auf von Abwesenden produzierte Texte angewiesen ist.“
Es bildet sich eine spezifische Praxis der Lesbarkeit von Welt, in der bei der bürgerlichen Subjektivität, im Gegensatz zu Textgattungen theoretizistischer Gelehrsamkeit, die Zweckmäßigkeit im Vordergrund steht. Reckwitz (2006, S. 162) führt aus: „Grundsätzlich erscheinen im Rahmen der bürgerlichen Praxis diese Textformen dazu geeignet, dem Subjekt ein weniger theoretisches, als vielmehr ein praktisches Weltwissen zu vermitteln.“ Im Zentrum der Texte stehen die biographische Thematisierung des Menschen und, damit verbunden, Themen der Lebensführung. So entsteht in den seit dem 17. Jahrhundert expandierenden Genres der Biographie und der Autobiographie ein für das Feld der bürgerlichen Technologien des Selbst im 18. Jahrhundert zentraler Feldcode, in dem ein praktischer Sinn „für eine ‚rationale Intelligibilität‘ des Handelns, eine reflexive Distanznahme zum eigenen Handeln und Erleben, schließlich auch das Modell einer bürgerlich gelungenen Existenz“ (Reckwitz 2006, S. 162 f.) ausgebildet wird. Das Leben wird so als eine biographische Kette von Entscheidungen thematisiert, wobei von den Entscheidungen die individuelle Zukunft zu tragen ist. „Es findet eine temporale Selbstlimitierung durch Entscheidungen statt“ (Reckwitz 2006, S. 163). Es geht um Formen der Selbstdisziplinierung mit dem Ziel, eine autonome Entscheidungsinstanz auszubilden. Zentral werden hier die Instanz eines Handlungsmotivs und die damit verbundene Einsetzung einer Handlungsrationalität. Zusammenfassend hält Reckwitz (2006, S. 167) fest:
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„Es ist die Bearbeitung der Problematik einer Moralität und Zweckhaftigkeit beanspruchenden Lebensführung, einer tugendhaften Strukturierung der eigenen Biografie, welche die bürgerlichen Schreib- und Leseobjekte insgesamt anleitet. Sie tragen alle zur Produktion einer bürgerlichen Innenwelt kognitiver, moralischer und emotionaler Akte bei.“
Das so entstehende Feld der bürgerlichen Technologien des Selbst kreiert eine spezifische Form der Selbstpraktiken. Dabei ist die legitime Selbstproduktion als „die Entwicklung des Selbst entlang eines kulturell modellierten Maßstabs der Moralität und kognitiven Reflexivität“ (Reckwitz 2006, S. 174 f.) gedacht. Der Einzelne ist also nicht als kreativ-ästhetisches Individuum konzeptionalisiert, dem es um eine singuläre Selbstverwirklichung geht, sondern er kann als eine Entität gedacht werden, welche sich an allgemeinen Maßstäben der Moralität und Reflexivität orientiert. So kommt es im bürgerlichen Feld der Technologien des Selbst im 18. Jahrhundert zu einem „Anspruch der allgemeingültigen Repräsentation des modernen ‚Menschen‘“ (Reckwitz 2006, S. 176). Der sich hiermit ergebende universelle Geltungsanspruch, zu dem auch die Subjektdiskurse von Locke bis Kant mit dem Fokus der Autonomie des Subjekts passen (vgl. Reckwitz 2006, S. 188), wird zu einer zentralen Kontrastfolie für spätere Feldformen der Technologien des Selbst werden. Trotzdem werden die Techniken der „Selbst- und Fremdpsychologisierung; ein körperliches ‚An-Sich-Halten‘; schließlich die mentalen Techniken einer ‚Reflexion‘ im Sinne einer Selbstbeobachtung, einer Abwägung einer Entscheidungssituation und eines ‚moralischen Sinns‘“ in der Folge, obwohl sie auch einen Gegenhorizont bilden, nicht einfach abgelöst. Stattdessen bilden sie einen auch in dem Feld der Technologien des Selbst wichtigen Praxispool, der sich durch andere Feld- und Praxisformen überlagert. Die sich so ergebenden Praktiken der bürgerlichen Technologien des Selbst im 18. Jahrhundert bilden damit, durch ihren Widerstreit zu noch zu rekonstruierenden Feld- und Praxisformen, im Zusammenhang mit den Praktiken des Selbst ein zentrales Konfliktelement, dessen Spuren sich, wie deutlich werden wird, auch in den von mir rekonstruierten Biographien des 21. Jahrhunderts finden lassen.
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8.2. 19. Jahrhundert: Die kulturelle Gegenbewegung der Romantik und das Entstehen einer ästhetischexpressiven Praktik im Feld der Technologien des Selbst Die dargestellten Praktiken der bürgerlichen Technologien des Selbst im 18. Jahrhundert, die nachfolgend als moralisch-souveräne Praxisformen einer Praxis des Selbst beschrieben werden sollen, bilden einen Gegenhorizont zu einem bei Beginn des 19. Jahrhunderts entstehenden Feld von Technologien des Selbst, das sich rund um die Romantik organisiert. Ausgehend von einer „kulturellen Minorität, die sozial größtenteils aus dem Bürgertum stammt und künstlerisch, philosophisch und publizistisch tätig ist“ (Reckwitz 2006, S. 205), entwickelt sich eine Feldstruktur, die sich von dem Feldcode einer moralisch-kognitiven Praxisform abzugrenzen sucht, indem „‚Individualität‘, ‚Kreativität‘, ‚Imagination‘, des ‚inneren Erlebens‘ und der inneren ‚Tiefe‘, aber auch Diskontinuität und Intransparenz des Subjekts“ fokussiert werden (Reckwitz 2006, S. 204). Für Reckwitz stellt die Romantik damit eine an Ästhetik orientierte kulturelle Gegenbewegung zu dem zuvor rekonstruierten Feld der bürgerlichen Moderne dar, wodurch neue Praxisformen auch der Technologien des Selbst entstehen können. Reckwitz (2006, S. 206) führt in Bezug auf die Diskursproduktion der Romantik aus: „In literarischen, philosophischen und essayistischen Texten wird ein Distinktionskonflikt mit der herrschenden bürgerlichen Kultur ausgetragen, und es wird textuell ein alternativer Subjektivitätscode entwickelt, der ein ‚anderes‘ und gleichzeitig modernes Subjekt denk- und sagbar macht.“
Die von den Vertretern bürgerlicher Praxisformen gegenüber der Aristokratie vorgebrachte Kritik einer unnatürlichen und unauthentischen Lebensform wird dabei von den Romantikern auf die bürgerlichen Lebensformen selbst angewendet. Kritisiert werden Elemente der Moralisierung, welche als Limitierung von Möglichkeiten gesehen werden, ferner die Zweckrationalisierung, bei der eine Kritik an der Disziplinierung von Zeit, Körper und dem Umgang mit Objekten im Vordergrund steht, sowie die Routinisierung der Subjektivität, mit einer unterstellten Ereignislosigkeit als Begleiterscheinung (vgl. Reckwitz 2006, S. 207 ¤.). Die Praktiken des Feldes der Romantik sind hingegen an expressiven Praxisformen interessiert, aus denen heraus ein „irreduzibles Individuum“
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(Reckwitz 2006, S. 211). modelliert werden kann. Reckwitz (2006, S. 211) führt hierzu aus: „Der Einzelne stellt sich nicht als Deduktion des Allgemeinen dar, sondern findet seine Einheit als ein Einzigartiges. Die Aufgabe des Einzelnen besteht darin, diesem Individuellen, Besonderen seines Ichs zur Entfaltung zu verhelfen.“ Es kommt zu einer Aufwertung der subjektiven Intuition und der inneren Gefühlswelt. Es geht darum, „die Emotion als individuelle, exzessive, in ihrer Intensität der Moral zuwiderlaufende hervorzulocken: die Leidenschaft und Sehnsucht des SichVerliebens, das Gefühl des Sublimen im Angesicht der übermächtigen Natur, das Gefühl der Angst angesichts der Nicht-Beherrschbarkeit und Nicht-Verstehbarkeit von äußerer, sozialer und innerer Natur“ (Reckwitz 2006, S. 212). Im Fokus der Technologien des Selbst stehen in der Folge Praktiken der Selbstemotionalisierung; es entsteht ein „komplexes Vokabular für verschiedene innere Vorgänge“ (Reckwitz 2006, S. 212). Als romantisches Ideal wird eine spezifische Form des Künstlers gewählt, der „eine Expression vom Innen im Außen scha¤t, einer Innenwelt, die sich in hervorgebrachten Objekten manifestiert“ (Reckwitz 2006, S. 215). Bei den Techniken des Selbst werden die schon erwähnten moralisch-souveränen Praxisformen des Lesens und Schreibens weitergeführt, jedoch erhalten sie durch eine ästhetisch-expressive Praxisorientierung eine Umwidmung, bei der eine Entmoralisierung der Textproduktion und eine Ästhetisierung des Subjekts im Vordergrund stehen (vgl. Reckwitz 2006, S. 223). Reckwitz (2006, S. 224) führt aus: „Der Leser kann sich dem Künstler analog begreifen, indem er die Lektüre vor dem Hintergrund seines individuellen, nicht-standardisierten Rezeptionshorizontes mit einer subjektiven Bedeutungsschicht versieht und sie für die Vervielfältigung seiner Erfahrungsmöglichkeiten nutzt.“
Weiter werden die hier ausgebildeten Technologien des Selbst, die des Lesens und Schreibens, im Feld der Romantik durch spezifisch anti-intellektuelle und erlebnisorientierte Praktiken wie das Musikhören und die Naturbetrachtung ergänzt, bei denen es um „eine Auflösung der IchKontrolle und des bewussten Ich-Bezugs im fremdreferentiellen, ‚interessenlosen‘ Erleben eines das Ich übersteigenden nicht-humanen Anderen der Natur oder der Musik“ geht (Reckwitz 2006, S. 224). Ausgehend von den Praktiken des Selbst im Feld der Romantik und bezogen auf das Feld der Arbeit, welches auch für die rekonstruierten Fälle von zentra-
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ler Bedeutung war, deutet sich hier, verankert in einer Minorität, schon ein „expressives Arbeitssubjekt an, das den Sinn und die Befriedigung der ‚Arbeit‘ nicht moralisch im Dienst am Anderen oder dem sozialen Fortschritt (wie in der bürgerlichen Moderne), auch nicht im sozialen Statusgewinn (wie in der organisierten Moderne), sondern im Ausdruck des inneren Kerns seiner Individualität sieht, ein produktivistisch-innenorientiertes Arbeitsethos, welches in den kulturellen Gegenbewegungen des 20. Jahrhunderts und schließlich in der postmodernen Subjektkultur Gegenstand eines Sinntransfers wird“ (Reckwitz 2006, S. 231).
8.3. Erste Hälfte des 20. Jahrhunderts: Organisierte Moderne und die Durchsetzung von visuellen und konsumtorischen Praktiken im Feld der Technologien des Selbst Zu Beginn des 20. Jahrhunderts ergeben sich weitere Wandlungsprozesse innerhalb des Feldes um die Technologien des Selbst. Bis zum Ersten Weltkrieg können die moralisch-souveräne Praxis, welche sich maßgeblich im 18. Jahrhundert entwickelte, und die damit verbundenen Technologien des Selbst als dominierende Subjektivierungsformen angesehen werden. Zwar ergibt sich mit dem Feld der Romantik und mit den ästhetisch-expressiven Praktiken eine kulturelle Gegenbewegung; diese kann die hegemoniale Stellung der ausgebildeten bürgerlichen Praktiken allerdings nicht einnehmen (vgl. Reckwitz 2006, S. 242–274). Anfang des 20. Jahrhunderts beginnt jedoch ein Erosionsprozess der bürgerlichen Praktiken, welcher sich auch auf das Feld der Technologien des Selbst auswirkt. Ausschlaggebend für diese Wandlungsprozesse sind vor allem die schon im fünften Kapitel beschriebenen und mit einem technologischen Wandel einhergehenden Veränderungen in der Ökonomie, in der sich die Praktiken der organisierten Moderne auf einer breiten Basis durchsetzen. Nachdem in Kapitel 6 die Praktiken der Arbeit in dieser Phase schon dargestellt worden sind, konzentriere ich mich nachfolgend auf die Praktiken des Selbst im Feld der Technologien des Selbst. Für Reckwitz (2006, S. 381) sind hier zwei Aspekte zentral: „Die Routinen im Umgang mit den audiovisuellen Medien, vor allem Film und Fernsehen, und die konsumtorischen Praktiken, das heißt die Aktivität
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der Auswahl und der Verwendung von Waren zum Zwecke der Identitätskreation und -sicherung. Beide Komplexe sind an der Rezeption visueller Oberflächen orientiert und beide üben das Subjekt [...] in der ‚Konsumtion‘ im weiteren Sinne, in der Verarbeitung von Zeichensequenzen zum Zwecke der subjektiven Zerstreuung.“
Auch wenn die Schrift als Medium nicht völlig ersetzt wird, so verliert sie doch ihre hegemoniale Stellung, die sie zuvor in den Praktiken des Selbst in der moralisch-souveränen Praxisform besessen hatte. Während nach Reckwitz (vgl. 2006, S. 383) Visualität im Rahmen der klassischbürgerlichen Schriftkultur, vor allem vor dem Hintergrund einer protestantischen Tradition des ‚Bilderverbotes‘, als illegitim und unbürgerlich erscheint, kippt „im Di¤erenzcode zwischen dem Schriftlichen und dem Visuellen [...] die positive Identifikation nun zur anderen Seite“ (Reckwitz 2006, S. 283). Reckwitz (vgl. 2006, S. 385 ¤.) beschreibt, wie sich insbesondere durch den alltäglich werdenden Konsum von Kinofilmen und Fernsehen eine neue Praxis der Sichtbarkeit entwickelt, in der sich die Grundhaltung festsetzt, „dass die ‚eigentliche Realität‘ die durch den Gesichtssinn erfahrbare (daneben auch die hörbare) Realität ist. Die Wirklichkeit scheint als visuelle Oberfläche strukturiert“. Dementsprechend setzt nun eine Verschiebung in den Praktiken des Selbst ein. Hierzu führt Reckwitz (2006, S. 387) aus: „In der Filmrezeption übt sich der nach-bürgerliche Habitus damit in einer neuen Haltung zu den Subjekten: Personen existieren allein oder zumindest primär in ihrer sichtbaren performance, in ihren körperlichen Akten, in ihren Gesichtern, Gesten und Bewegungen, in der Weise, wie sie sich kleiden, wie sie sprechen, wie sie gehen, wie sie sich verhalten. Während die Technologien der Schriftlichkeit im bürgerlichen Subjekt ein Vokabular der Innerlichkeit, des Gewissens, der Motive und der Empfindungen implementieren, auf dass es selbst solche Entitäten in sich entwickeln, psychologisierend beobachten und auch im Anderen aufspüren soll, üben die audiovisuellen Medien das Subjekt in einem Blick der performance und für die äußere Erscheinung von Personen, die weniger als ein Indikator für eine ‚dahinter liegende‘ Innenwelt, sondern als Ebene der eigentlichen Realität betrachtet wird: Die Oberfläche ist die Person.“
Wie angedeutet, entwickelt sich neben und verknüpft sich mit den visuellen Praktiken des Fernsehens und des Kinofilms mit den Praktiken des Konsums eine zweite zentrale Praxisform innerhalb des Feldes der
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Technologien des Selbst. Die materielle und ökonomische Basis für die Praktiken des Konsums bilden die schon in Kapitel 6 rekonstruierten gesellschaftlichen Wandlungsprozesse der organisierten Moderne. Zu den Subjektivierungsformen eines zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstehenden genussorientierten Konsums einer Angestelltenkultur, die im Gegensatz zu einer an ihrem Gebrauchswert orientierten Konsumform der bürgerlichen Kultur bis ins späte 19. Jahrhundert steht, äußert sich Reckwitz (2006, S. 398) wie folgt: „Im Vergleich zur bürgerlichen Kultur bildet sich im Rahmen der konsumtorischen Praktiken der Angestelltenkultur seit den 1920er Jahren [...] ein spezifisches Konsumsubjekt heraus, das sich – jenseits des Erwerbs von Waren - über die kontingente ästhetische Aufladung von Gegenständen modelliert, welche dem Subjekt zu einer Modifizierung seines Selbstbildes verhilft; das Angestelltensubjekt ist in seiner a¤ektiv-imaginären Dynamik wie in seinem Selbstverstehen legitimerweise Konsumsubjekt.“ Durch die a¤ektive Verknüpfung mit den Objekten avancieren „die nach-bürgerlichen konsumtorischen Praktiken [...] zu Technologien des Selbst“ (Reckwitz 2006, S. 399). Reckwitz arbeitet heraus, wie sowohl die konsumtorischen als auch die visuellen Praktiken dabei an der peer society einer Familien- oder Milieustruktur orientiert sind. Der Konsum ist aus dieser Perspektive an einer sozialen Normalität orientiert, aus der es möglichst nicht herauszufallen gilt (vgl. Reckwitz 2006, S. 382 f., S. 399 f.). Unter anderem werden auch hier die Bezüge zu den zuvor dargestellten visuellen Praktiken des Selbst hergestellt. Reckwitz (2006, S. 406) führt aus: „Wenn das Subjekt lernt, sich selbst als ein - äußerlich sichtbares – Bild zu verstehen, dann sind die Artefakte die entscheidenden Vehikel, um dieses Bild in Richtung eines Ideal-Ichs zu modifizieren [...]. Sich in diesem Sinne zu stilisieren, setzt ein Stilvermögen voraus, welches das Subjekt in der Konsumkultur erwirbt; es muss lernen zu erkennen, welche Gegenstände zueinander passen, um damit einen homogenen ‚Stil‘ zu fabrizieren.“
Gerade die Fabrikation eines homogenen Stils in den visuellen und konsumtorischen Praktiken des Selbst erfährt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einen Bruch, wodurch sich einerseits im Feld der Technologien des Selbst die konsumtorischen Praktiken wandeln, andererseits aber neue Praktiken des Selbst entstehen, welche gerade vor dem Hintergrund der Fallrekonstruktion als relevant erscheinen.
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8.4. Zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts: Postmoderne und die Durchsetzung von individualästhetischen Praxisformen Wie schon in Kapitel 6 gezeigt, kommt es in Westeuropa und Nordamerika in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in unterschiedlichen Bereichen zu sozialen Wandlungsprozessen. Vor dem Hintergrund der Aktivitäten unterschiedlicher sozialer Gruppierungen kann das Jahr 1968 gemeinhin als ein symbolischer Zäsurpunkt gesehen werden. Bezogen auf die Praktiken des Selbst kommt es zu einem Bruch mit den normalisierenden Formen des visuellen Massenkonsums (vgl. Reckwitz 2006, S. 441). Treibend ist für Reckwitz hier eine Bewegung der counter culture, wobei beispielsweise auch das in Kapitel 6 angesprochene Feld der Netzkunst als eine Form der creative class zu diesem Spektrum gezählt werden kann. Für Reckwitz (2006, S. 442) bildet sich hier die „Subjektkultur eines ‚konsumtorischen Kreativsubjekts‘ aus, die Arbeit, Intimsphäre und Selbstpraktiken kreuzt und in dem sich spezifische ästhetisch-expressive und ökonomisch-marktförmige Dispositionen kombinieren“. Hier zeigen sich die auch für die von mir rekonstruierten Bildungsprozesse wichtigen Transformationen der Relation von unterschiedlichen Praxisformen. Bei Frau Chruchot, Frau Othmar und Herrn Bosch ist festzustellen, wie sich die Praktiken der Arbeit, die Praktiken der im weiteren Sinne Intimsphäre und die Praktiken des Selbst kreuzen. Ein weiteres Merkmal der hier entstehenden Feld- und Habitusdisposition ist, dass sie „das Projekt einer Ästhetisierung qua Politisierung“ (Reckwitz 2006, S. 442) ausweitet. Gerade für die beiden Fälle von Frau Othmar und Herrn Bosch, die sich 1968 altersmäßig in oder um ihre Adoleszenz befinden, konnte dies rekonstruiert werden, wohingegen in der Biographie von Frau Chruchot, die erst 1981 geboren wurde, politische Praktiken keine zentrale Rolle spielen. Ein weiteres Merkmal der sich mit den sozialen Wandlungsprozessen seit dem Ende der 1960er Jahre ergebenden Feld- und Praxistransformationen sieht Reckwitz (2006, S. 443) in „einer Suche nach Authentizität und Selbsterweiterung in befriedigenden Erlebnissen, die auf Distanz zu sozialen Normalitätserwartungen geht“. Sehr ausgeprägt zeigen sich diese Praxisbedürfnisse in Herrn Boschs Praxis der existenziellen Sinnsuche, bei Frau Othmars Experimenten mit ihrer sexuellen Orientierung im Zuge einer Politisierung des Privaten und auch bei Frau Chruchots
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Auseinandersetzungen mit den Praktiken des Sich-Darstellens und der Rebiographisierung. Dabei spielt bei Frau Chruchot wie bei Herrn Bosch die Disziplin der Psychologie eine entscheidende Rolle – wobei diese, auch bezogen auf die Praktiken des Selbst, in den 1960er Jahren einen Wandel erfährt. Hierzu führt Reckwitz (2006, S. 446) aus: „Während der herrschende psychologische Code der 1920er bis 60er Jahre die extrovertierte Sozialorientierung des Subjekts naturalisiert, meint die neue Psychologie, eine reichhaltige subjektive Innenwelt zu entdecken, die es vom Subjekt zu ‚entfalten‘ gilt: Das Subjekt erscheint als Wesen, das in seinem Kern nach unentfremdetem ‚self growth‘ (A. Maslow), nach innerer Balance und Verwirklichung strebt; es ist eine Instanz, die sich ihre Welt und sich selbst kontingent ‚konstruiert‘; es enthält neben rationalen Eigenschaften eine Fülle heterogener nicht-rationaler Kompetenzen (z. B. emotionale Intelligenz).“
Der Wandel im Feld der Technologien des Selbst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts baut zunächst auf den schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ausgebildeten Praktiken des Konsums auf. Während sich die Konsumpraktiken in der organisierten Moderne in diesen frühen Jahren noch stark an den Erwartungshaltungen der Normalität eines Peergroupideals orientieren, aus dem es nicht herauszufallen gilt, kommt es ab den 1980er Jahren innerhalb der konsumtorischen Praktiken des Selbst zu einer „Ästhetisierung [...] gegen die Normalisierung“ (Reckwitz 2006, S. 556). Selbst wenn diese Konsumpraktiken als individual-ästhetische Praktiken gegen eine Form der konformistischen Normalisierung gerichtet sind, so können sie nicht als gegen eine Vergemeinschaftung gerichtete Vereinzelung verstanden werden. Auch die individual-ästhetisch orientierten Konsumpraktiken sind an einer kollektiven Legitimierung interessiert, geht es doch darum, „von sozialen Anderen als Subjekt mit individuellem Stil und Genussfähigkeit anerkannt zu werden“ (Reckwitz 2006, S. 563). Wie auch in den Biographien der rekonstruierten Fälle geht es um ein „flow-Subjekt, dessen gesamtes Begehren darauf abzielt, in sich körperlich-mental-a¤ektive Zustände einer ‚optimal experience‘ des inneren Erlebens libidinös besetzter Situationen hervorzurufen, zu wiederholen und zu potenzieren [...]. Es ist ein Subjekt, das sich in der aktiven, ‚kreativen‘ Gestaltung seiner Selbst trainiert“. Bei Frau Chruchot zeigt sich dies in ihrer Auseinandersetzung mit ihren Gefühlen in ihren Theaterübungen, bei Herrn Bosch in seinen Übungen in psychothera-
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peutischen und schamanischen Praktiken und bei Frau Othmar in ihrem experimentellen Selbstumgang, beispielsweise in Bezug auf sexuelle Orientierungen. Hier zeigen sich o¤en die Bezüge zwischen den von mir rekonstruierten Bildungsprozessen und den Entwicklungen im Feld der Technologien des Selbst.
8.5. Bezüge zwischen Feld- und Habitusrekonstruktion Bei den Bildungsprozessen von Frau Chruchot, Frau Othmar und Herrn Bosch spielten jeweils Technologien des Selbst eine entscheidende Rolle für die Transformationen des Habitus. Nachdem es in der dritten Phase der Habitustransformation zunächst zu der Ausbildung von Technologien des Selbst und nachfolgend zur Ausbildung von neuen Selbstinterpretationen kam, entstand in der vierten Phase der Habitustransformation vor dem Hintergrund der mit den Technologien des Selbst in Zusammenhang stehenden Praktiken eine biographische Di¤erenz, die in der Folge zu einer Transformation der Relation von unterschiedlichen Logiken der Praxis führte (vgl. 7.4). Nach einer biographischen Krise bildet Frau Chruchot im Zuge einer Psychotherapie neue Formen der Selbstinterpretation aus, die zu neuen Selbstbezügen führen. Schon die Psychotherapie erweist sich als eine Praktik, in der sich Frau Chruchot im Sinne einer Technologie des Selbst in neue Formen der Selbstinterpretation einübt. Im Zusammenhang mit der Psychotherapie entdeckt Frau Chruchot für sich das von ihr zuvor suspendierte Schauspiel wieder. Das Schauspiel wird zu einer Technologie des Selbst, bei der sich Frau Chruchot mit ihren in der Kindheit verankerten biographischen Ängsten auseinandersetzt. Die Praktiken des SichDarstellens werden damit zu Praktiken der Selbsttransformation. In Erzählungen über körperliche Übungen beschreibt Frau Chruchot, wie sie versucht, sich von ihren Ängsten nicht überwältigen zu lassen, diese aber auch gleichzeitig nicht einfach durch eine Übung zu übergehen. Passend schreibt Mencke (2003, S. 295), auf Foucaults Unterscheidung zwischen einer disziplinierenden und einer ästhetisch-existenziellen Übung Bezug nehmend: „Autonomie besteht nicht allein in einer Selbstbestimmung des Guten meines Lebens angesichts meiner in Disziplinierungsprozessen erworbenen Möglichkeiten und Fähigkeiten. Autonomie beginnt vielmehr erst dort, wo das um das Gute seines Lebens besorgte Subjekt diese
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Möglichkeiten und Fähigkeiten, und zwar gerade auch auf ihrer elementarsten Ebene, der der Führung des eigenen Körpers, zu verändern sucht.“ Hier lassen sich auch Bezüge zu dem Fall von Herr Bosch aufzeigen, der seine Beschäftigung mit dem Schamanismus beginnt, indem er vierzig Tage fastet. In diesem Sinne schreibt Reckwitz (vgl. 2006, S. 567 f.), wie sich seit den 1970er Jahren ein Apparat von Praktiken herausbildet, welcher auf die psychophysische Gestaltung des Körpers abhebt. Das, was in der Angestellten- und bürgerlichen Kultur der 1960er Jahre der Sport war, wird in einem „individualästhetischen Sinne“ umgeformt (Reckwitz 2006, S. 567). Frau Chruchot begreift ihre biographischen Ängste nun nicht mehr als Mächte, die sie überwältigen, sondern als Potenziale, die sie Neues erschließen lassen. Das Sich-Darstellen wird zu einer regelmäßigen Übung, in der sich Frau Chruchot auf die Unwägbarkeiten ihres Gefühlslebens einzulassen versucht. Gleichzeitig sieht man auch die von Reckwitz angesprochene ästhetisch-ökonomische Dublette: Dadurch, dass sich für Frau Chruchot aus dem Schauspiel nicht nur eine Technologie des Selbst, sondern auch eine berufsbiographische Perspektive ergibt, kreuzen sich ästhetische und ökonomische Interessen. Die schon in Kapitel 6.5 diskutierte Ambivalenz von Bildungsprozessen leuchtet hier genauso wie in den folgenden Fällen wieder auf. Auch im Fall von Herrn Bosch zeigt sich eine ästhetisch-ökonomische Dublette, in der die auf einen transformativen Selbstbezug ausgelegten Praktiken ökonomisch gekreuzt werden. Nach einer biographischen Krise beginnt Herr Bosch mit der für ihn zuvor tabuisierten Praxis der Selbstanalyse. Herr Bosch berichtet, wie er sich mehrmals in der Woche auf eine Couch legt, um sein Leben zu reflektieren. Für Herrn Bosch entsteht damit im Zusammenhang mit einer Technologie des Selbst eine Praxis, welche auf die Transformation seiner Selbstinterpretationen abzielt. Gleichzeitig verbindet sich die Praxis der Selbstinterpretation mit einer berufsbiographischen Perspektive, insofern die Selbstanalyse Teil einer Ausbildung zum Psychotherapeuten ist. An einigen Stellen des Interviews kritisiert Herr Bosch selbst die Doppeldeutigkeit seiner Lehranalyse, wenn er herausstellt, dass er, im Nachhinein betrachtet, vor der Lehranalyse besser eine Patientenanalyse gemacht hätte. Ähnlich dem Fall von Frau Chruchot, bildet auch für Herrn Bosch das Einüben in neue Formen der Selbstinterpretation den Hintergrund für eine biographische
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Di¤erenzbildung, die in der Folge zu einer Transformation der Relation von unterschiedlichen Logiken der Praxis führt. Sowohl in seiner Arbeit an sich selbst als auch in seiner Arbeit mit anderen vermisst Herr Bosch einen Austausch über und eine Suche nach spirituellen Dimensionen des Lebens. Die hiermit einhergehende Unzufriedenheit kulminiert bei Herrn Bosch in einem Bruch mit seiner psychotherapeutischen Ausbildungsstätte. Durch Reisen nach Südamerika beginnt Herr Bosch sich intensiv mit Praktiken des Schamanismus auseinanderzusetzen. Hier findet er ein Trainingsfeld, um sich als ein spirituelles Subjekt zu üben. Herr Bosch nimmt an schamanistischen Ritualen und Einweisungen teil und versucht im Folgenden, schamanistische und psychotherapeutische Praktiken zu verbinden. Wie schon bei seiner Praxis als Psychotherapeut, in der er als Klient sich selbst in neue Selbstinterpretationen einübte, während er als Psychotherapeut andere bei der Einübung von neuen Selbstinterpretationen begleitete, bekommt nun auch die Auseinandersetzung mit dem Schamanismus durch Herrn Boschs Kreuzung mit seiner Arbeit, eine ästhetisch-ökonomische Dublette. Einerseits ist seine Einübung in den Schamanismus nun Arbeit an neuen Formen der Selbstinterpretation, andererseits ist diese Arbeit jedoch gleichzeitig auch Voraussetzung für seine eigenen berufsbiographischen Versuche, psychotherapeutische und schamanistische Praktiken zu verbinden. Die Praktik des Einübens in den Schamanismus kann damit entsprechend der schon thematisierten Ambivalenz von Bildungsprozessen sowohl als Praktik einer ästhetischen Selbstauslegung als auch als eine berufsbiographische Selbstmobilisierung gesehen werden. Am deutlichsten zeigt sich die Ambivalenz einer ästhetisch-ökonomischen Dublette in dem Bildungsprozess von Frau Othmar. Nach einer biographischen Krise findet Frau Othmar in den sozialen Räumen von politischen Bewegungen eine Praxis des experimentellen Selbstbezuges. Frau Othmar beginnt hier mit unterschiedlichen Praktiken zu experimentieren, die in einen Zusammenhang mit alternativen Lebensformen gebracht werden können. Dabei bildet sie gegenüber den vorher dominanten Praktiken der ökonomischen Kapitalakkumulation und des sozialen Aufstiegswillens einen neuen Selbstbezug aus. Die infolge einer gescheiterten Intimbeziehung entstehende biographische Krise sowie der bevorstehende Abschluss ihres zweiten Studiums lösen bei Frau Othmar das Suchen nach einer neuen Form der Selbstinterpretation aus, was zu einer biographischen Di¤erenz führt. Frau Othmar beginnt in
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der Folge sich selbstständig zu machen, wodurch sich die Relation von unterschiedlichen Logiken der Praxis transformiert. Die zuvor weitestgehend suspendierte Praxis der Orientierung an einer ökonomischen Kapitalakkumulation verbindet sich nun mit einer Praxis des Engagements für alternative Lebensformen. Freundschafts-, Intim- und Geschäftsbeziehungen beginnen sich zu kreuzen. Das Experimentieren mit Selbstinterpretationen überträgt sich nun auf das Experimentieren innerhalb des Feldes der Ökonomie. Frau Othmar beschreibt, wie sie von einer linken antikapitalistischen Studentin zu einer selbstständigen Firmeninhaberin geworden ist. Frau Othmar übt sich als Geschäftsfrau in ein neues Trainingsfeld ein, ohne dabei ihre alten politischen Vorsätze außer Acht zu lassen. Durch ihren Einsatz für ein nachhaltiges Wirtschaften fühlt sie sich weiterhin einem Engagement für alternative Lebensformen verbunden. Die Praxis der Kapitalakkumulation und das Einüben in die Rolle einer Firmenchefin werden zu Komponenten eines politischen Engagements. Die ästhetisch-ökonomische Dublette zwischen einer ästhetischen Selbstauslegung und einer ökonomischen Selbstmobilisierung tritt hier in ihrer Kippform deutlich zutage. Die bis hierhin vorangetriebenen Feldrekonstruktionen, welche um die Rekonstruktion der Technologien des Selbst kreisten, erhalten durch die Skizze ihrer historischen Verortung nun einen dekonstruktiven Zug, indem sie nicht nur teilweise das mitkonstituierende historische Andere der rekonstruierten Bildungsprozesse, sondern gleichzeitig auch das historische Andere der ausgearbeiteten Bildungstheorie o¤enbaren. Die bisherigen und die folgenden Ausführungen zeigen sich deshalb als doppelt bestimmend, zum einen für die historische Verortung der Bildungsprozesse, zum andern für die historische Verortung der mit diesen verbundenen Bildungstheorie. In diesem Sinne deutet sich hier, den Jargon des entwickelten methodologischen Rahmens weiterführend, eine zirkuläre Soziogenese zwischen Bildungstheorie und Bildungsforschung an.
8.6. Eine doppelte historische Verortung: Bildungsprozesse zu Beginn des 21. Jahrhunderts Die Feldrekonstruktionen um die Praktiken des Selbst werfen ein doppeltes Licht auf die ausgearbeitete Bildungstheorie und auf die rekonstruierten Bildungsprozesse. In der historischen Verortung wird der selbst-
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referentielle Selbstbezug zwischen Bildungstheorie, Methodologie und Bildungsforschung deutlich. Die empirisch rekonstruierten Bildungsprozesse erscheinen vor dem Hintergrund ihrer historischen Formgebung als postmoderne Formen von transformativen Bildungsprozessen, genauso wie die ausgearbeitete Bildungstheorie und die Problemhorizonte, an denen sie sich abzuarbeiten versucht, als eine historische Form der Postmoderne zu verstehen sind. Während vom 18. und 19. Jahrhundert bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts Bildungsprozesse als Modellierungen zu moralisch-souveränen oder zu ästhetisch-expressiven Subjektformen verstanden werden können, erscheinen die Bildungsprozesse des späten 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts auch als Prozesse, in denen es um einen ‚kreativen Umgang‘ mit heterogenen Erfahrungsansprüchen geht, ohne gleichzeitig das Ziel des Konsums von gelungenen Erfahrungszuständen aus den Augen zu verlieren. Das kulturelle Andere, von dem sich der so gekennzeichnete Bildungsbegri¤ und die damit verbundenen Subjektivitätsvorstellungen zu distinguieren versuchen, ist durch ein „‚konventionelles‘, an vorästhetischen (sozialen, moralischen, technischen) Regeln orientiertes Subjekt repräsentiert, dem es an Genuss(flow-)fähigkeit, ebenso wie an Stilisierungs- und Experimentierfähigkeit im Umgang mit sich selbst mangelt“ (Reckwitz 2006, S. 264). Die rekonstruierten Bildungsprozesse von Frau Chruchot, Herrn Bosch und Frau Othmar, ebenso wie der Bildungsbegri¤ der Transformation der Relation von unterschiedlichen Logiken der Praxis, können so ein Stück weit historisch verortet werden. Die historischen Hintergründe der rekonstruierten Bildungsprozesse und des metatheoretischen Bildungsbegri¤s scheinen in einem „Expressivsubjekt“ verortet zu sein, bei dem sich eine „Prämierung des Experimentellen gegenüber dem Normierten“ (Reckwitz 2006, S. 562) ergibt. Hierzu passend und auf die rekonstruierten Fälle übertragbar, geht Reckwitz (2006, S. 562) von der „Zementierung eines Veränderungswunsches“ aus, der auch dem modus operandi der postmodernen Praktiken des Selbst leitend ist: „Im Modus des Konsumierens will das Subjekt als ganzes sich verändern, insofern ihm eine solche Selbstveränderung eine Potenzierung seiner ästhetischen Erfahrungen und eine Befriedigung eines ‚authentischeren‘ Selbst ermöglicht – mit Hilfe neuer Kleidungsstücke, Musikstile, Sportarten, Therapieangebote, spiritueller Erfahrungen etc. Inwiefern eine Veränderung der Wünsche und ein Ausprobieren von Neuem tatsächlich das erhoffte, das Selbst er-
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weiternde Erleben erbringt, erscheint im Voraus notwendiger Weise unsicher und enttäuschungsanfällig.“
Hierzu passen die auch um die Praktiken des Selbst kreisenden Diskurse um eine Ästhetik der Existenz (vgl. Schmid 2000), welche den Ästhetikbegri¤ in diesem Bereich in einen engen Zusammenhang mit einer experimentellen Lebensführung bringen. Der so ausgearbeitete Bildungsbegri¤ zeigt sich als eine historische Hybridform, in der sich moralischsouveräne wie auch ästhetisch-expressive und konsumtorische Aspekte wiederfinden lassen und dessen Herkunft sich vor dem Hintergrund von Wandlungsprozessen von sozioökonomischen, politischen, kulturellen, wissenschaftlichen und insbesondere technischen Praktiken in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verstehen lässt.
9. Bildung als Habitustransformation
Vor dem Hintergrund der theoretischen und empirischen Ausarbeitungen soll es im Folgenden darum gehen, Ergebnisse zusammenzufassen und mögliche Perspektiven anzudeuten. Ausgangspunkt meiner Überlegungen ist das Bemühen, Bildungstheorie und empirische Bildungsforschung in ein produktives Wechselverhältnis zu stellen. Damit verortet sich meine Arbeit in einem Diskurs um eine bildungstheoretisch fundierte Biographieforschung (vgl. Marotzki 1990; Koller 1999; Herzberg 2004; Nohl 2006; Lüders 2007). Im Sinne einer Theorie der Praxis im Anschluss an Pierre Bourdieu knüpften die eigenen Ausarbeitungen dabei an einen Forschungsansatz an, der explizit subjektivistische und objektivistische Erkenntnisformen zu unterlaufen sucht. Einerseits sollten die Bildungsprozesse nicht als individuelle Produkte einzelner Akteure verstanden werden, insofern Bildungsprozesse immer auch eingelassen sind in gesellschaftliche Strukturen (vgl. Alheit 1999), andererseits sollten Bildungsprozesse jedoch auch nicht nur als determinierte Ableitungen von gesellschaftlichen Strukturen verstanden werden, insofern die einzelnen Akteure auch einen individuellen Umgang mit gesellschaftlichen Strukturen pflegen. Bezieht man die Gedanken von Bourdieu und Wacquant (vgl. 1996, S. 161) zu einer Theorie der Praxis auf die Rekonstruktion von biographischen Bildungsprozessen, dann geht es damit auch hier um die Erforschung einer „doppelten Geschichte“. Bildungsprozesse müssen genauso aus der Perspektive ihrer habituellen Produktion, Reproduktion und Transformation gesehen werden, wie sie auch aus der Perspektive ihrer Fundierung in gesellschaftlichen Feldstrukturen betrachtet werden müssen. Diesen Gedanken aufnehmend, begannen die empirischen Untersuchungen zunächst mit der Rekonstruktion von Biographien, um Bil-
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dungsprozesse aus der Perspektive des Habitus zu fokussieren, um dann anhand von Feldrekonstruktionen, welche auf Diskursanalysen zurückgri¤en, auf die Ebene von gesellschaftlichen Strukturen zu wechseln. Zwar ist das Konzept des Habitus in der Biographieforschung geläufig, der bildungstheoretische Anschluss von Bourdieus Habituskonzept erschien jedoch rechtfertigungsbedürftig, insofern mit der Theoriearchitektonik des Habitus immer wieder auch die Kritik einhergeht, Bourdieu könnte mit seinem Modell zwar die Reproduktion, nicht aber die Transformation von Sozialität erklären (vgl. Reckwitz 2000, S. 339 ¤.). Für die Ausarbeitung einer Bildungstheorie im Anschluss an Bourdieu ist dies ein fataler Befund, legt er doch den Schluss nahe, dass Bildungsprozesse, verstanden als die Transformation von Selbst- und Weltverhältnissen, mit dem Habituskonzept gar nicht erklärbar seien. Verstärkt wird dieser Eindruck noch durch die Arbeiten von Alheit (1992) und Herzberg (2004), welche die Transformierbarkeit des Habitus prinzipiell ausschließen. Bildung wird hier als die Ausschreitung eines „begrenzten Modularisierungspotentials“ (Herzberg 2004, S. 53) verstanden; ein „qualitativer Sprung“ im Sinne Marotzkis (1990, S. 216) ist hier streng genommen nicht möglich. Bezogen auf das Habituskonzept möchte ich eine andere Lesart vorschlagen. Neben bildungstheoretischen Argumentationen stand bei mir – in der Anlage der Arbeitsweise Bourdieus nicht unähnlich – vor allem auch die empirische Rekonstruktion im Vordergrund. Auf der Grundlage von vierzehn biographischen Interviews ergab sich zunächst eine Di¤erenzierung zwischen zwei Formen von Bildungsprozessen. In allen vierzehn Interviews ließen sich Wandlungsprozesse eines Habitus rekonstruieren, während sich in drei von ihnen Habitustransformationen aufzeigen ließen. Vor dem Hintergrund der Di¤erenzierung von Wandlungs- und Transformationsprozessen des Habitus wurden zwei unterschiedliche Phasentypologien ausgearbeitet, welche Einblicke in die Strukturen von Bildungsprozessen ermöglichten. Bei den Bildungsprozessen als Wandlungen des Habitus wurden vier Phasen unterschieden. In der ersten Phase des Fremdwerdens gegenüber einem biographisch relevanten Raum ging es um eine Ablösung gegenüber schon gegebenen sozialen Bezügen. Dabei wurde ein sozialer Raum allgemein als „eine relationale (An)Ordnung sozialer Güter und Menschen“ (Löw 2001, S. 224) verstanden. Bei dem Fremdwerden gegenüber einem sozialen Raum
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kommt es einem Prozess der Passungsschwierigkeit zwischen Habitus und Raum. Schon in den bildungstheoretischen Reflexionen des dritten Kapitels wurde die nicht still zu stellende Di¤erenz zwischen dem Habitus und seiner sozialen Umwelt als ein Potenzial für Bildungsprozesse beschrieben, insofern hier die Möglichkeit besteht, dass das Funktionieren des Habitus nachhaltig gestört werden kann (vgl. hierzu auch Alheit 1992; Rieger-Ladich 2005). In diesem Sinne folgt auch für Hans-Christoph Koller (2002, S. 186) aus dem Gedanken der Passungsschwierigkeit nicht nur „die relative Unabhängigkeit des Habitus von den aktuellen gesellschaftlichen Bedingungen, sondern auch die Möglichkeit, die Transformation des Habitus zu denken“. Andere bildungstheoretische Ausarbeitungen zwischen Theorie und Empirie heranziehend, deutet sich eine Passungsschwierigkeit aus der Perspektive des Akteurs auch in den Untersuchungen von Nohl (2006, S. 220 ¤.; S. 266) an, welcher in den Vorgeschichten der Bildungsprozesse fallübergreifend „milieuspezifische Desintegrationserfahrungen“ findet, sowie bei Koller (1999, S. 267), welcher in seinen Fällen in der Jugend einen Konflikt zwischen zwei Welten rekonstruiert, die er auf „soziokulturelle Milieuunterschiede“ zurückführt. Zurückkommend auf das Habituskonzept bei Bourdieu zeigt sich, dass der Habitus seiner gewohnten Funktionsweise folgt, solange diese nicht gestört wird. In meinen eigenen empirischen Untersuchungen konnte ich keine Bildungsprozesse rekonstruieren, in denen der Habitus nicht in eine Krise geriet. Zu Recht weist jedoch Nohl (2006, S. 267) darauf hin, dass bei ihm die milieuspezifischen Desintegrationserfahrungen nicht den Beginn, sondern den Hintergrund der rekonstruierten Bildungsprozesse darstellen. Den Gedanken Nohls entsprechend können auch die von mir rekonstruierten Bildungsprozesse nicht als die Lösung einer ursprünglichen Krise gesehen werden. Die anfängliche Passungsschwierigkeit zwischen Habitus und Raum in der ersten Phase der Habituswandlung stellt einen Anlass für die folgenden Bildungsprozesse dar, nicht jedoch eine zu lösende Aufgabe. Der Bruch zwischen Habitus und Raum löst in der Folge einen Prozess der Negation gegebener Raumbezüge und die Suche nach neuen Anschlüssen an soziale Räume aus. Hier stellen sich Prozesse ein, die schon in Bezug auf die ethische Fundierung von Bildung (vgl. Kapitel 3.4) eine Rolle gespielt haben und die in unterschiedlichen Funktionen auch in den folgenden Phasen der Bildungsprozesse immer wieder auftauchen.
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Es geht um Prozesse der Verschiebung und Produktion von Di¤erenz, welche mit einer Suchbewegung nach Alternativen einhergehen. Immer wieder kommt es in den rekonstruierten Fällen zur Distanzierung von alten sozialen Bezügen und zu einer damit ausgelösten Suche nach neuen Bezügen, die meist mit neuen Praxisformen einhergehen. Die kritische Distanz gegenüber den alten Bezügen zu sozialen Räumen ö¤net einen Möglichkeitsraum, in dem neue soziale Räume erkundet und alternative Praxisformen ausprobiert werden können. Die erste Phase von Wandlungsprozessen des Habitus weist damit starke Bezüge zu den von Nohl (2006, S. 125 ¤., S. 129 ¤.) herausgearbeiteten Phasen des „ersten spontanen Handelns“ und „des Erkundens und Lernens“ auf. Auch hier finden sich in ersten spontanen Handlungen ateleologische Prozesse, in denen Akteure darüber berichten, „wie sie zunächst etwas gesehen, entdeckt oder gemacht haben, ohne dass sie dies geplant oder gar damit eine biographische Orientierung verbunden“ (Nohl 2006, S. 267) haben. Nach einer Phase der unspezifischen Reflexion treten die Akteure bei Nohl, ähnlich dem Prozess der Suche nach neuen Raumanschlüssen, in eine Phase des Erkundens und Lernens, in der für Nohl charakteristisch ist, „dass es den Lernenden noch an einem klaren Rahmen fehlt“ (Nohl 2006, S. 271). Durch die kritischen Distanznahmen gegenüber den alten Räumen und die Ausbildung einer neuen Praxis kommt es in meinen eigenen Fällen zu einer ersten Wandlung von Selbst- und Weltverhältnissen und einer Di¤erenzierung des Habitus. In der zweiten Phase des Experimentierens mit Raumbezügen wird versucht, einen Umgang mit den neuen Raumbezügen zu finden. Hier stehen die schon in der ersten Phase wichtigen Prozesse der Suche nach neuen Anschlüssen an soziale Räume und das krisenhafte Empfinden bereits gegebener Raumanschlüsse im Vordergrund. Im Unterschied zu der ersten Phase übernehmen die hier genannten Prozesse in der zweiten Phase eine andere Funktion. In der zweiten Phase beziehen sich die Prozesse des krisenhaften Empfindens gegebener Raumanschlüsse und die Suche nach neuen Raumanschlüssen auf die in der ersten Phase neu ausgebildeten Praktiken. Während damit die Suche nach neuen Raumanschlüssen in der ersten Phase der Wandlungsprozesse des Habitus noch weitestgehend orientierungslos verläuft, sind die gleichen Prozesse in der zweiten Phase auf die zuvor neu ausgebildeten Praktiken bezogen. Es kommt damit zu einem Experimentieren und Zurechtfinden mit und in einer neuen Praxis. In dieser Phase ist Nohl (2006, S. 274) zuzustim-
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men, wenn er in Bezug auf seine zweite Phase spontanen Handelns festhält, dass auch hier das Handeln der Akteure „einer Planung und eines biographischen Horizontes entbehrt“. Die Akteure versuchen sich innerhalb der zuvor gefundenen Raumanschlüsse zu orientieren, indem sie einerseits unterschiedliche soziale Bezüge ausprobieren und sie andererseits mit der für sie neuen Praxis experimentieren. Dabei ist das Experimentieren mit den neuen Praxisbezügen wichtig für den Übergang zur nächsten Phase. Auf Kokemohr und Schütze eingehend führt Marotzki (1990, S. 148) aus: „Eine aktive, negationsreiche Welthaltung kann entstehen, wenn das Subjekt Möglichkeiten zur Erprobung tentativer Wirklichkeitsauslegungen erhält.“ Gerade der Prozess der Negation ist dabei für die nächste Phase wichtig. In der dritten Phase einer kritisch-ref lexiven Distanznahme kommt es zu einer biographischen Selbstreflexion. Hier konstituiert sich ein Prozess der Hinterfragung, der Projektion und Neuausrichtung. Anders als in der ersten und zweiten Phase des Bildungsprozesses greift die Kritik hier weiter aus, insofern sie sich nicht nur auf einen Praxiszusammenhang, sondern vor dem Hintergrund der in der ersten und zweiten Phase neu ausgebildeten Praxis- und Raumanschlüsse auf eine generelle biographische Haltung bezieht. Bildung bringt hier nach Marotzki (1990, S. 153) „Unbestimmtheitsdimensionen zur Geltung; das macht gerade den o¤enen, experimentellen und suchenden Charakter aus. Interaktive Routinen der Selbst- und Weltauslegung werden gerade in Bildungsprozessen außer Kraft gesetzt; sie werden würdig befragt zu werden, also fragwürdig.“ Neben Marotzki zeigen meine empirischen Rekonstruktionen der dritten Phase von Habituswandlungen auch Anschlüsse zu der von Nohl ausgearbeiteten Phase der biographischen Selbstreflexion. Die Akteure erkennen hier, dass sie „die früheren Lebensorientierungen transformiert“ (Nohl 2006, S. 280) haben. Während Nohl diese Phase vor allem auf die Selbstreflexionen im biographischen Interview bezieht, nimmt die Phase der kritisch-reflexiven Distanznahme in meiner Phasentypik einen anderen Stellenwert ein, insofern sie sich auf einen biographisch zurückliegenden Zeitpunkt bezieht. Die Akteure berichten in diesem Zusammenhang in ihren Interviews meist von einer Phase, in der sich ihre Lebensorientierung zwar schon gewandelt, jedoch noch nicht vollständig etabliert und konsolidiert hat. Die neue Lebensorientierung bietet damit einen Ausgangspunkt für eine Kritik an alten Lebensorientierungen und für eine gleichzeitige Suche nach neuen Anschlüssen. An-
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ders als in den Phasen eins und zwei konstituiert sich damit der Ort der Kritik nicht in einer orientierungslosen Suchbewegung, sondern der Ort der Kritik ergibt sich vor dem Hintergrund der in den vorherigen Phasen schon ausgebildeten Praktiken. Der Begri¤ der Kritik zeigt in Bezug auf die Ausarbeitung einer bildungstheoretisch orientierten Theorie der Habitustransformation neben den genuin bildungstheoretischen Ausarbeitungen auch Anschlüsse an Theoriediskussionen, welche in Deutschland jüngst unter dem Stichwort ‚Soziologie der Kritik‘ (vgl. Honneth 2008; Celikates 2009) firmieren. Im Anschluss an den Bourdieu-Schüler Boltanski geht es in dieser Diskussion darum, die Akteurspotenziale und damit auch die Rationalitätsressourcen des Habituskonzeptes auszuloten. Boltanski grenzt sein eigenes Modell von Bourdieus Handlungsmodell ab. Ohne dabei die Fundamente einer Theorie der Praxis oder den Anspruch, eine empirisch fundierte Theorie auszuarbeiten, aufzugeben, arbeitet Boltanski eine am Pragmatismus orientierte Handlungstheorie aus. Boltanski konstatiert, dass Bourdieus Handlungstheorie den Akteur maßgeblich als eine unbewusst agierende Instanz kennzeichnet. Auf das Habituskonzept anspielend sieht Boltanski Bourdieus Handlungstheorie durch eine mechanische Handlungskonzeption geleitet. Die Akteure verfügen nach Boltanski (2009, S. 83) in Bourdieus Handlungsmodell „über eine Art inneren Computer, der strategische Kalkulationen durchführt und ihnen bestimmte Handlungsoptionen nahe legt“. Die Konzeptionalisierung von Handlungen als unbewusst und strategisch geleitet führt nach Boltanski (2009, S. 83) bei Bourdieu zu einer Theorie „des gespaltenen Akteurs“. 1 Boltanski versucht demgegenüber die reflexiv-kritischen Kompetenzen des Akteurs wieder stärker in den Vordergrund zu stellen, um zu zeigen, dass Akteure gegenüber sozialen Strukturierungen einen kritischen Umgang pflegen können.2 Die eigenen empirischen Untersuchungen zu der dritten Phase der Wandlungsprozesse des Habitus zeigen hier durch-
1 Zu einer Kritik, welche den Umkehrschluss nahelegt und Boltanski eine fehlende Einbeziehung sozialer Strukturen vorwirft, vgl. Honneth 2008, S. 101 f. 2 Auf die sich hieraus ergebenden methodologischen Umstrukturierungen einer Soziologie der Kritik gegenüber einer kritischen Soziologie soll an dieser Stelle nicht eingegangen werden. Es zeigen sich jedoch starke Parallelen zwischen der praxeologischen Wissenssoziologie (vgl. Bohnsack 2003) und der Soziologie der Kritik (vgl. Celikates 2009, S. 99 ¤.).
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aus Anschlüsse auf. Auch hier gelingt es den Akteuren, in ein reflexives Verhältnis zu habitualisierten Strukturierungen zu gelangen. Allerdings sind diese Reflexionen nicht als Prozesse jenseits einer Habitualisierung, sondern vielmehr als Zeugnisse eines gegenüber einer alten Struktur gewandelten Habitus zu lesen. Die hier einsetzende Spaltung ist damit als eine Di¤erenz zwischen einer alten und einer neuen Habitusstruktur zu verstehen. Auch die Ausführungen von Nohl zum bildungstheoretischen Verhältnis von reflexiven und a-reflexiven Handlungsstrukturen zeigen, wie die von Boltanski negativ konnotierte Spaltung des Akteurs Potenziale für einen Bildungsprozess freisetzen kann. Im Prozess der Impulsion werden „implizite, bislang ungenutzte Ressourcen vorgängiger Lebenserfahrungen“ genutzt, um Selbst und Welt in „eine neue, transformierte Passung“ zu bringen (Nohl 2006, S. 276). Aus einer habitustheoretischen Perspektive zeigen sich in unterschiedlicher Art und Weise die Überlegungen zu Rationalitätsressourcen von Akteuren und die damit zusammenhängende Frage nach Kritikpotenzialen als lohnenswerte bildungstheoretische Aufgabe. Zurückkommend auf die Phasentypik der Wandlungsprozesse des Habitus findet sich nach der dritten Phase einer kritisch-reflexiven Distanznahme eine vierte Phase der Suche und Etablierung von neuen Raumanschlüssen. Vor dem Hintergrund der kritisch-reflexiven Distanznahme wird eine Suchbewegung eingeleitet, welche die neu ausgebildeten Selbstund Weltverhältnisse an neue Praktiken und Raumanschlüsse heranführen will. Die Produktion von neuen biographischen Di¤erenzen wird fortgeführt, und die neuen Selbst- und Weltverhältnisse werden in einem Praxiszusammenhang, der den Akteuren hierfür günstig erscheint, etabliert. Ein über diese vier Phasen rekonstruierbarer Bildungsprozess wandelt den Habitus, transformiert ihn aber nicht. Während ein Habitus aus unterschiedlichen Logiken der Praxis besteht und somit unterschiedliche Formen der Selbst- und Weltverhältnisse aufweist, bezieht sich ein Wandlungsprozess nur auf eine Praxisform. Die Relation der unterschiedlichen Logiken der Praxis wandelt sich, wird jedoch nicht grundlegend transformiert (vgl. auch Kapitel 7.5). Wie ein Bildungsprozess aussieht, der sich auf die Transformation eines Habitus bezieht, wurde in Kapitel 7 anhand der zweiten herausgearbeiteten Phasentypik rekonstruiert. Bei den Transformationsprozessen des Habitus lassen sich fallübergreifend fünf Phasen unterscheiden.
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Die erste Phase der Di¤erenzierung eines Habitus gleicht von ihrem Phasenablauf der rekonstruierten Phasentypologie einer Habituswandlung. Der Habitus wird in dieser Phase di¤erenziert, indem er über verschiedene Stadien hinweg einerseits eine neue Praxis ausbildet, andererseits diese Praxis in einem neuen sozialen Raum verankert. In der zweiten Phase des Bruchs mit einem Praxiskomplex entsteht ein Bruch zwischen Habitus und Raum. Im Unterschied zu den Wandlungsprozessen bezieht sich dieser Bruch auf die neu ausgebildeten Habitusverhältnisse. Anders als in der zweiten Phase der Wandlungsprozesse wird also nicht mit den neu ausgebildeten und etablierten Praktiken experimentiert – dies findet in der ersten Phase der Habitustransformation statt –, sondern mit den neu ausgebildeten Praktiken wird gebrochen. An dieser Stelle kommt es zu Destabilisierungen der Praxisformen, welche dann in eine biographische Krise führen. Empirisch lässt sich hier gut beobachten, was in Kapitel 3 unter dem Begri¤ der Iteration thematisiert wurde. Sieht man den Habitus als einen Prozess, in dem sich der Habitus in seiner Funktion regelmäßig wiederholen muss, so kann in der Wiederholung immer auch von der Möglichkeit eines (un-)kalkulierten Fehlers, einer Abweichung, Veränderung oder Unwägbarkeit ausgegangen werden. Der Habitus bleibt in seinem Prozess durch die Möglichkeit der Abweichung immer unabgeschlossen. Der Zwang der Wiederholung wird hier gerade nicht als ein Zwang zur Reproduktion, sondern als die Möglichkeit der Transformation gewertet. Wird bei vielen mit Bourdieu arbeitenden Ansätzen der Begri¤ der Wiederholung mit dem Gedanken der Reproduktion in Verbindung gebracht, zeichnen sich vor allem bei Praxistheorien, die sich am Poststrukturalismus orientieren, neue Forschungsperspektiven ab, die auch für bildungstheoretische Reflexionen interessant sind.3 Eine am Poststrukturalismus orientierte Praxistheorie legt nach Stephan Moebius (2008, S. 61f.) „den Akzent insbesondere auf eine permanente Unberechenbarkeit, Verschiebbarkeit und Unentscheidbarkeit, die den repetitiven sozialen Praktiken inhärent sind. [...] Niemals lässt sich eine Praxis absolut gleich oder identisch wiederholen, immer existiert eine Art von
3 Bisher bemühen sich vor allem Hans-Christoph Koller (vgl. 2001) und jüngst Jenny Lüders (2007) und Rainer Kokemohr (2008) im Diskurs um die Relationierung von Bildungstheorie und empirischer Bildungsforschung um die Einführung unterschiedlicher poststrukturalistischer Theorieansätze.
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Andersheit in der Wiederholung, eine Art ‚verschiebende Verzeitlichung‘ (di¤érance), so dass sich von hier aus die Möglichkeit ergibt, dass die repetitiven Praktiken mit den ihnen vorangegangenen Kontexten, kulturellen Codes oder symbolischen Strukturen brechen, oder diese verschieben.“ Der Prozess der Iteration steht damit im Fokus einer auf Brüche abzielenden Forschungsrichtung, deren Gedanken für eine bildungstheoretische Reformulierung von Bourdieus Habituskonzept wichtig waren. Durch den systematischen Einbezug poststrukturalistischer Praxistheorien deuten sich Perspektiven an, die in meiner Arbeit wenig ausgeleuchtet worden sind. Die Transformation von Selbst- und Weltverhältnissen und damit das Entstehen von Neuem werden im Zusammenhang mit poststrukturalistischen Theorieansätzen oft auch in eine Auseinandersetzung mit dem Phänomen des Fremden oder Anderen gestellt. Für die bildungstheoretisch orientierte Biographieforschung ö¤nen hier Koller (2002) und jüngst Kokemohr (2008) und die an ihn anschließende Diskussion (vgl. Koller/Marotzki/Sanders 2008) interessante Perspektiven. Zentral setzt sich hier Kokemohr anhand eines empirischen Beispiels mit dem Phänomen des Anderen auseinander. Neben einer erzähltheoretischen Fundierung in der Arbeit Paul Ricoeurs und dem in der Sprachphilosophie gegründeten psychoanalytischen Ansatz von Jacques Lacan setzt sich Kokemohr in Bezug auf Phänomene des Fremden mit Bernhard Waldenfels auseinander. Ähnlich der im dritten Kapitel diskutierten ethischen Fundierung meiner Bildungstheorie führt auch Kokemohr das Fremde als ein Nicht-Einholbares ein. Kokemohr schreibt (2008, S. 31): „Das Fremde, das sich den Gestaltungsfiguren des Eigenen nicht fügt, sei nur als ein Anspruch aufzunehmen, auf den zu antworten sei.“4 Das Fremde erscheint damit auch aus der Perspektive der eigenen Ordnung als ein Außerordentliches. Vor diesem Hintergrund wird Bildung für Kokemohr (2008, S. 65) „als Prozess eines Handelns begreifbar, das auf ein Problem, verstanden als Anspruch eines original Unzugänglichen, mit dem Entwurf eines anderen Welt- und Selbstverhältnisses antwortet, eine Antwort, die das auslösende Problem im Referenzrahmen der verschiedenen Ordnungen durch eine andere Kon- und Refiguration zu
4 Kokemohr (2008, S. 31) setzt sich in seiner bildungstheoretischen Ausarbeitung vor allem mit dem Paradox des Fremden dahingehend auseinander, dass vor dem Hintergrund der Nichteinholbarkeit des Fremden interkulturelle Erfahrung immer auch eine Erfahrung von „abwesender Anwesenheit“ impliziert.
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lösen verspricht und sich im nie abgeschlossenen Bildungsprozess als ein Zugang, als, mit einem Begri¤ Ricoeurs, als ‚Neubeschreibung‘ (vgl. Ricoeur 1986, S. 235) zu bewähren hat, die das original Unzugängliche achtet.“ Das Fremde wird hier durch seine Unfügsamkeit als ein Potenzial für Bildungsprozesse gesehen.5 Wurden auf einer metatheoretischen Ebene schon einige bildungstheoretische Ansätze zum Verhältnis von Bildung und Fremd- oder Andersheit ausgearbeitet, sind die methodologischen Ausarbeitungen hier noch wenig ausgeleuchtet.6 Als aussichtsreich erscheinen meiner Meinung nach für die Biographieforschung Anschlüsse an die Forschungsarbeiten der Dekonstruktion, insofern gerade hier der, die oder das Andere/Fremde einen systematischen Ausgangspunkt der Reflexion darstellen. Aus der Perspektive der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung sind das Verhältnis von biographischem Text und Intertext (vgl. Rosenberg 2010), aber auch die Rekonstruktion von biographischen Texten in ihrem Zusammenhang mit einer damit einhergehenden Dekonstruktion interessant.7 In der dritten Phase der Entstehung einer neuen Praxis der Selbstinterpretation kommt es zu der Ausbildung einer Praxis, welche in den rekonstruierten Fällen in einen Zusammenhang mit Technologien des Selbst gestellt werden können. Die Akteure üben sich hier in Praktiken ein, in denen sich ihre bisherigen Selbstinterpretationen transformieren. Hier zeigen sich Anschlüsse zu den Arbeitskontexten, welche sich im Anschluss an Michel Foucault mit Subjektivierungstechniken der ästhetischen Selbstauslegung beschäftigen (vgl. Schmid 2000; Mencke 2003).
Eine ähnliche Forschungsausrichtung wird auch in Teilen des DFG-Projekts ‚Bildung – Transformation und Tradierung zwischen Individualität und Kollektivität’ (Leitung: Arnd- Michael Nohl 2008–2010) verfolgt. Im Fokus der Forschung stehen hier unter anderem die Zusammenhänge zwischen interkulturellen Fremdheitserfahrungen und transformativen Bildungsprozessen. 5
6 Neben Kokemohrs (vgl. 2008, S. 32 ¤.) Kreuzung zwischen Ricoeur und Lacan ergibt sich ein weiterer interessanter Ansatz aus der von Arnd-Michael Nohl (2006d) ausgearbeiteten Pädagogik kollektiver Zugehörigkeiten, welche sich methodologisch in der dokumentarischen Methode fundieren lässt. Nohl hat diesen Ansatz bisher jedoch bildungstheoretisch noch nicht ausgeleuchtet.
Schon durch die Montage der unterschiedlichen biographischen Passagen zur Rekonstruktion eines Bildungsprozesses wird die ursprüngliche sequentielle Abfolge des Interviews dekonstruiert.
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Eingehender, als dies in dieser Arbeit möglich war, wären hier auch Theorievergleiche zwischen Bourdieu und Foucault erstrebenswert, beispielsweise bezüglich der unterschiedlichen Wissenskonzeptionen (vgl. Kajetzke, 2007). In der vierten Phase der kritisch-ref lexiven Distanznahme ergibt sich vor dem Hintergrund einer durch die neuen Selbstinterpretationen produzierten Di¤erenz eine kritische Reflexion gegenüber den eigenen biographischen Verhältnissen. Diese Phase ist homolog mit der dritten Phase der Wandlungsprozesse des Habitus. Vor dem Hintergrund der Praktiken von Technologien des Selbst werden neue Selbstinterpretationen installiert, wodurch die alten Selbst- und Weltverhältnisse weiter infrage gestellt werden. Es kommt zu einer kritischen Distanznahme, mit der eine Suchbewegung nach neuen biographischen Verhältnissen evoziert wird. Die so angestoßene Suchbewegung löst den entscheidenden Prozess der Habitustransformation aus. In der fünften Phase der Transformation der Relation von unterschiedlichen Logiken der Praxis kommt es zu der pluralen Ausbildung von neuen Selbst- und Weltverhältnissen. Wenngleich von anderen theoretischen und empirischen Ausgangslagen ausgehend, verbinden sich hier unterschiedliche bildungstheoretische und kulturwissenschaftliche Studien unter den Stichwörtern Mehrdimensionalität, Hybridität und Widerstreit. Wie unterschiedliche Arbeiten der praxeologischen Wissenssoziologie (vgl. Bohnsack 1989; Nohl 2001, 2006d; Bohnsack/Nohl 1998), der Postcolonial Studies (Bhabha 2000; Ha 2004) und der Intersektionalität (Lutz/Wenning 2001; Dölling/Krais 2007) verdeutlichen, kann der Habitus weniger als ein homogener Block als vielmehr als ein heterogenes Ensemble von unterschiedlichen Praktiken verstanden werden. Immer wieder zeigt sich, dass der Habitus nicht nur einer Logik der Praxis folgt, sondern dass er durch unterschiedliche Dimensionen wie beispielsweise Generation, Milieu oder Geschlecht strukturiert ist. Auch im bildungstheoretischen Diskurs wurde an verschiedenen Stellen auf den Aspekt der Mehrdimensionalität verwiesen. Forschungspraktisch ausgearbeitet wurden mehrdimensionale Bildungsprozesse aus der Perspektive der praxeologischen Wissenssoziologie neben der schon genannten Studie von Nohl (2006) auch in Bezug auf verschiedene Mediennutzungsformen von Generationen (Schä¤er 2003) und auf unterschiedliche Aneignungsformen bei Filmrezeptionen von Jugendlichen (Geimer 2009).
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Auch in der Untersuchung von Marotzki zu seiner strukturalen Bildungstheorie finden sich bildungstheoretische Auseinandersetzungen, die sich mit der Mehrdimensionalität beschäftigen und die mit der Transformation der Relation von unterschiedlichen Logiken der Praxis in Verbindung gebracht werden können. Herausheben möchte ich Marotzkis (1990, S. 32 ¤.) Überlegungen zu Baetsons Lernebenenmodell. Auf der Lernebene II, welche bei Marotzki Ausgangspunkt für eine Konzeptionalisierung von Bildungsprozessen ist, geht es um die Transformation eines kognitiven Schemas, also um die Transformation von gegebenen Sinnhorizonten. Auf dieser Lernebene geht es für das Subjekt darum, durch die Transformation eines kognitiven Schemas zu lernen, Verhaltensgewohnheiten und damit „die Art und Weise, seine Erfahrungen zu interpunktieren“ zu verändern (Marotzki 1990, S. 38). Für Marotzki (1990, S. 41) ergibt sich so eine Veränderung der „Konstruktionsprinzipien der Weltaufordnung“. Die Veränderung des Weltbezugs ist für Marotzki jedoch nur ein konstitutiver, nicht aber hinreichender Grund für die Konzeptionalisierung von Bildungsprozessen. Erst durch die Hinzunahme des dritten Lernniveaus, Lernen III, bei dem es um die Veränderung der Selbstverhältnisse geht, kommt es für Marotzki zu dem für Bildungsprozesse konstitutiven Transformationsverhältnis, welches auf die Veränderung des Selbst- und Weltbezugs abzielt. Auf diesem Lernniveau verändert das Subjekt nicht mehr nur sein kognitives Schema und damit seinen Weltbezug, sondern beim Lernen III verändert das Subjekt seinen Bezug zu kognitiven Schemata im Allgemeinen. Auf dieser Lernebene kommt es zu einem Prozess, in dem das Transformieren von Kontexten selbst gelernt wird. Es geht darum, sich von Gewohnheiten eines kognitiven Schemas lösen zu können, indem gelernt wird, sich auf unterschiedliche kognitive Schemata beziehen beziehungsweise diese ausbilden zu können. Marotzki (1990, S. 44) führt aus: „Auf dieser Ebene lerne das Subjekt etwas über den Vorgang des Wechsels von einer Rahmung (Auswahlmenge) zu anderen“; es geht darum, „mit verschiedenen Weisen der Weltau¤orderung umgehen zu können“. Bildungstheoretisch beschreibt Marotzki hier einen transformativen Umgang mit Mehrdimensionalität. Zwar vollzieht sich der Umgang mit den unterschiedlichen Logiken der Praxis in meinen eigenen Untersuchungen weniger voluntativ, als dies bei manchen der von Marotzki gewählten Formulierungen den Anschein erweckt, jedoch kann die fünfte Phase der Habitustransformation durch-
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aus in einen Zusammenhang gestellt werden mit den Lernprozessen, die Marotzki auf der Lernebene III in Anschlag bringt. Stärker noch als bei Marotzki wird der Umgang mit Mehrdimensionalität, welche hier unter dem Stichwort der Pluralität verhandelt wird, in der Arbeit von Hans-Christoph Koller behandelt. Für meine eigenen habitustheoretischen Überlegungen sehr aufschlussreich, thematisiert Koller die Verfassung von Pluralität als konstitutiv widerstreitend. Wie in Kapitel 2 diskutiert, verdeutlicht Koller im Anschluss an Lyotard, dass zwei unterschiedliche Eigenlogiken nicht ineinander überführbar sind, ohne mindestens einer Dimension Gewalt anzutun. In seinen empirischen Ausarbeitungen zeigt Koller, wie es in Bildungsprozessen darum geht, den Widerstreit zwischen unterschiedlichen Dimensionen o¤enzuhalten. In meinen eigenen empirischen Rekonstruktionen erwies sich, dass ein auf brechender Widerstreit zwischen zwei unterschiedlichen Logiken der Praxis, beispielsweise zwischen den Logiken des Sich-Unterordnens und des Sich-Darstellens oder der ökonomischen Kapitalakkumulation und des politischen Engagements, einen Anlass für Bildungsprozesse darstellen kann. Hier zeigt sich, dass ein Habitus in seiner Mehrdimensionalität nicht homogen gestaltet ist, sondern sich durchaus widerstreitend in agonalen Kämpfen mit sich Selbst ausdrücken kann. Die Transformation der Relation von unterschiedlichen Logiken der Praxis kann in diesem Sinne auch nicht als ein Prozess der Harmonisierung oder Stillstellung verstanden werden. Vielmehr setzen sich die unterschiedlichen Logiken der Praxis in ein neues Verhältnis, wodurch neue Konfliktlinien gescha¤en werden. Bildung kann so nur als ein unabschließbarer Prozess begri¤en werden, in dem der Habitus sich immer wieder mit der Relationierung seiner Mehrdimensionalität auseinandersetzen muss, sei es nun in tradierender oder, wie beschrieben, in transformierender Weise. Nachdem ich zunächst Bildungsprozesse als Habituswandlungen und als Habitustransformationen aus der Perspektive von Akteuren theoretisch und empirisch beleuchtet habe, ging es mir in meiner Arbeit auch darum, die bildungstheoretischen Kategorien um eine Facette zu erweitern, welche explizit die Eigenlogiken gesellschaftlicher Strukturen in den Blick nimmt. Damit stellen sich Fragen, die sich auf den Kontext von Bildung und Gesellschaft beziehen. Dieser Zusammenhang ist in der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung schon an anderer Stelle diskutiert worden. Auch hier gibt es Ansätze, gesellschaftstheoretische Fragestellungen mit bildungstheoretischen Reflexio-
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nen und empirischen Ausarbeitungen zu verbinden. Winfried Marotzki (vgl. 1999, S. 19 ¤.) stellt seine strukturale Bildungstheorie in den Rahmen der Individualisierungsthese, welche maßgeblich durch die Gesellschaftsdiagnose von Ulrich Beck (1986) beeinflusst ist. Hans-Christoph Koller (1999, S. 23 ¤.) schließt an Lyotards Gesellschaftsdiagnose einer plural und widerstreitend verfassten Postmoderne an, und Jenny Lüders (2007, S. 92 ¤.) bemüht, an Foucault anschließend, Gesellschaftsdiagnosen, welche um die Stichworte von Disziplinar- und Kontrollgesellschaft kreisen. Allen Ansätzen ist gemein, dass die Autoren eine Notwendigkeit sehen, ihre bildungstheoretischen und empirischen Ausarbeitungen gesellschaftstheoretisch zu fundieren. Marotzki (1999, S. 19) schreibt, dass „jede pädagogische Aufgabenstellung einen gesellschaftlichen Bezug sowohl auf Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft besitzt. Erziehung und Bildung finden in einer geschichtlichen Situation statt, die eine geschichtliche Hypothek wie auch Möglichkeitshorizonte hat.“ Das Zusammendenken von Bildung und Gesellschaft scheint hier unabdingbar. Eine explizite Weigerung, diesem Vorgehen zu folgen, findet sich bei Arnd-Michael Nohl, welcher auf eine eigene gesellschaftstheoretische Einbettung seiner empirisch fundierten Bildungstheorie verzichtet. 8 Nohl (2006, S. 13) kennzeichnet die explizit von Marotzki benutzte Gesellschaftsdiagnose der Individualisierung als „theoretisch angeleitete Zeitdiagnose“ und als „empirisch untermauerungsbedürftig“.9 Zwar deutet Nohl mit der fehlenden empirischen Fundierung der Gesellschaftsdiagnose ein Problem an, dieses wird aber in seinen eigenen Ausarbeitungen nicht weiterverfolgt. An anderen Stellen des Diskurses um eine bildungstheoretisch fundierte Biographieforschung taucht es jedoch wieder auf. Beispiele hierfür finden sich vor allem in bildungstheoretischen Auseinandersetzungen um den Habitusbegri¤, welche explizit eine empirisch geleitete gesellschaftstheoretische Fundierung der Biographieforschung thematisieren (Alheit 1993; Herzberg 2004; Wigger 2007).
8 Nohl (2006d) arbeitet jedoch an anderer Stelle in Bezug auf seine Ausarbeitung zu einer Pädagogik kollektiver Zugehörigkeiten eine gesellschaftstheoretische Perspektive heraus, ohne diese allerdings näher auf seine bildungstheoretischen Arbeiten zu beziehen. 9 Wie Jürgen Wittpoth (1996) zeigt, lässt sich gerade für die Becksche Individualisierungsthese eine Vielzahl von empirischen Gegenbelegen anführen.
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Schon vor Nohls skeptischer Haltung gegenüber Gesellschaftsdiagnosen findet sich bei Alheit (1992) eine Kritik an Marotzkis gesellschaftsdiagnostischer Einordnung. Alheit (1992, S. 36 f.) kritisiert Marotzkis Ausführungen dahingehend, dass mit der Individualisierungsthese die kollektive Einbindung von Bildungsprozessen verkannt wird, wodurch die gesellschaftlichen Bedingungen der Möglichkeit von Bildung aus dem Blick geraten. Gefordert ist hier meiner Meinung nach ein Anschluss der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung an eine empirisch fundierte Gesellschaftsanalyse.10 Wenn auch immer mit bildungstheoretischen Vorbehalten formuliert, wird ein Lösungsvorschlag von unterschiedlichen Autoren (Alheit 1992; Herzberg 2004; Wigger 2007) im Habituskonzept gesehen. Der Habitus als ein Generierungsprinzip für Denk-, Fühl-, Wahrnehmungs- und Handlungsmuster wird dabei als eine Vermittlungsinstanz zwischen Subjekt und Gesellschaft verstanden (vgl. Wigger 2008, S. 181). Genau hier liegt jedoch meiner Meinung nach das Defizit der bisherigen Anschlussversuche einer bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung an eine empirisch gehaltvolle Gesellschaftstheorie. Dadurch, dass Selbst- und Weltverhältnisse immer nur vor dem Hintergrund ihrer gesellschaftlichen Vermitteltheit in den Blick genommen werden, fallen gesellschaftliche Eigenlogiken, die sich jenseits von Akteurskonstruktionen reproduzieren und transformieren, aus der Analyse heraus. Bildung wird so immer aus der Perspektive der Selbst- und Weltverhältnisse und damit aus der Perspektive der Konstruktionsarbeiten von Akteuren untersucht. Die Rekonstruktion der sozialen Welt – zu der auch gesellschaftliche Eigenlogiken gehören, die sich nicht auf Akteurskonstruktionen beschränken lassen – bleibt dabei weitestgehend außen vor. Vor dem Hintergrund dieses Problemhorizontes wurde deshalb in der vorliegenden Arbeit dafür plädiert, für die Untersuchung von Bildungsprozessen einen Praxisbegri¤ in Anschlag zu bringen, der sich nicht auf die Strukturen des Habitus beschränkt, sondern der den im bildungsthe-
10 Ein Stück weit gelingt dies Jenny Lüders in ihren Anschlüssen an Foucaults Überlegungen zur Disziplinar- und Kontrollgesellschaft. Lüders arbeitet jedoch keine expliziten Bezüge heraus, wie sich eine bildungstheoretisch orientierte Biographieforschung an eine empirisch fundierte Gesellschaftstheorie anschließen ließe.
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oretischen Diskurs weitestgehend vernachlässigten Feldbegri¤ 11 in seine Analysen mit einbezieht. Felder können als makrosoziologische Kategorien gesehen werden, welche gesellschaftliche Eigenlogiken jenseits von Akteurskonstruktionen thematisieren können. Der Praxisbegri¤ wird so mit Bourdieu (vgl. 1987, S. 175) als Verzahnung von Habitus und Feld konzeptionalisiert. Sowohl die Kategorie des Habitus als auch die des Feldes können so als unterschiedliche Analyseperspektiven auf Praxis verstanden werden. Konnte so eine Metatheorie ausgearbeitet werden, die Bildungsprozesse einerseits aus der Perspektive ihrer habituellen Produktion, Reproduktion und Transformation beschreibt und die andererseits gesellschaftliche Eigenlogiken aus der Perspektive von Feldstrukturen thematisieren kann, stellten sich damit methodologische Anschlussprobleme. Zwar finden sich in der praxeologischen Wissenssoziologie (vgl. Bohnsack 2003; Bohnsack/Nentwig-Gesemann/Nohl 2001) elaborierte Ansätze für eine Habitusrekonstruktion (vgl. Meuser 2001), die sich durch die Ausarbeitungen von Nohl (2006b) auch für die Bearbeitung von biographischen Interviews als anschlussfähig zeigen, jedoch fehlen hier bisher methodologische Wege für die Rekonstruktion von Feldstrukturen und damit für die Rekonstruktion von gesellschaftlichen Eigenlogiken.12 In meinen methodologischen Ausführungen (vgl. Kapitel 4) habe ich deshalb versucht, die in der Biographieforschung schon etablierte Habitusrekonstruktion durch Methoden für eine Feldrekonstruktion zu ergänzen (vgl. hierzu auch von Rosenberg 2009). Als anschlussfähig hat sich hier die Diskursanalyse gezeigt. Anders als die Habitusrekonstruktion klammert die Diskursanalyse den Akteurscharakter von sozialen
Zwar taucht der Begri¤ des sozialen Feldes in den Arbeiten von Alheit und insbesondere in einer systematischeren Ausarbeitung auch bei Herzberg (2003) auf, jedoch werden hier Feldstrukturen auf Milieustrukturen reduziert. Gesellschaftliche Eigenlogiken, die sich nicht auf die mit dem Milieu eng zusammenhängenden Habitusstrukturen beschränken, kommen nur vermittelt in den Blick. Das bei Bourdieu im Feldbegri¤ angelegte Theoriepotenzial wird meiner Meinung nach hier nicht ausgeschöpft, auch wenn zumindest formal der Feldbegri¤ in die Analysen mit einbezogen wird. 11
An unterschiedlichen Stellen finden sich jedoch neue Formen von Typenbildung, beispielsweise in Bezug auf das Zusammenspiel von Orientierungsrahmen und Kapitalakkumulation (vgl. Nohl/Schittenhelm/Schmidtke/Weiß 2009), deren methodologische Ref lexion jedoch noch weitestgehend aussteht.
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Dokumenten ein, wodurch eine spezifische Beobachterkategorie installiert wird, die den Blick auf die Rekonstruktion von gesellschaftlichen Eigenlogiken freigibt. Dem Umstand geschuldet, dass die bisherigen Diskursanalysen im deutschsprachigen Raum ihre methodologischen Fundamente meist in der Sozialphänomenologie haben, wodurch der Fokus stärker auf Wissens- denn auf Praxiskomplexe gelenkt wird, wurde versucht, vor dem Hintergrund eines praxeologischen Methodenansatzes Perspektiven für die Interpretation von Diskursen anzudeuten. Dabei war der Referenzpunkt die dokumentarische Methode, welche sich bisher eher randständig mit der Interpretation von Diskursen beschäftigt hat.13 An dieser Stelle ergeben sich perspektivisch weitere methodologische Ausarbeitungsmöglichkeiten. Insbesondere bedarf es weiterer Reflexionen, wie Habitus- und Feldstrukturen methodologisch und forschungspraktisch aufeinander zu beziehen sind. Anschlüsse, die hier systematisch zu vertiefen wären, zeigen sich in Diskursen um eine Methodentriangulation (Flick 2007); weiter untersucht werden müsste in diesem Zusammenhang jedoch auch die Frage, wie sich die rekonstruktiven Methoden der Theoriegenerierung (Bohnsack 2003; Kelle 1994; Glaser/Straus 1998) zu Ansätzen der Theorie- und Methodentriangulation verhalten. Zwangsläufig steigert sich der Komplexitätsgrad, wenn bei Verfahren der Theoriegenerierung, die theoretische und empirische Forschungsmethoden in ein produktives Wechselverhältnis stellen wollen, nicht nur, wie üblich, unterschiedliche Theorien herangezogen, sondern auch unterschiedliche Forschungsmethoden und Forschungsebenen eingearbeitet werden. Die methodischen Reflexionen der Biographieforschung befinden sich hierzu an vielen Stellen noch im Anfangsstadium; weitere Systematisie-
Einige Gedanken zu einer dokumentarischen Interpretation von Diskursen finden sich bei Nohl (2008). Dass die dokumentarische Methode bisher keine elaborierten Ausarbeitungen für die Interpretation von Diskursen geliefert hat, liegt meiner Meinung nach an der Besetzung der Diskursanalyse durch sozialphänomenologische Ansätze. Die dokumentarische Methode hat es bisher verpasst, einem sozialphänomenologischen Diskursbegri¤ – welcher Diskurse auf Common-SenseKonstruktionen verkürzt – einen praxeologischen Diskursbegri¤ entgegenzustellen. Meine Ausführungen zum Diskursbegri¤ verfolgten das Ziel, Diskurse als Ensemble von diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken zu verstehen. Der so angelegte Diskursbegri¤ entzieht sich damit einer Reduzierung auf kommunikativ-generalisierte Wissensbestände und ö¤net sich für eine Rekonstruktion von impliziten Wissensbeständen. 13
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rungsversuche erscheinen jedoch lohnenswert.14 Wie so oft könnten sich auch in diesem Fall für die erziehungswissenschaftliche Biographieforschung die Nachbardisziplinen als produktiv erweisen, insbesondere die Kulturwissenschaft (Reckwitz 2006) und die Soziologie (Boltansky/Chiapello 2006; Latour 2007). Auch hier zeigt sich das Bedürfnis, vor dem Hintergrund einer Theorie der Praxis mikro- und makrosoziologische Perspektiven stärker aufeinander zu beziehen. Um die von mir rekonstruierten Bildungsprozesse vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Eigenlogiken, die sich jenseits von Akteurskonstruktionen vollziehen, zu beleuchten, zog ich unterschiedliche diskurstheoretische Arbeiten heran. Dabei erwiesen sich für die von mir rekonstruierten Bildungsprozesse zwei Achsen als relevant: einerseits eine auf Praktiken der Selbstführung abzielende Achse, die im Zusammenhang mit sozialen Wandlungsprozessen von Arbeits- und Organisationspraktiken rekonstruiert wurde, und andererseits eine Achse, in der es um Praktiken einer ästhetischen Selbstauslegung ging. Zunächst zu der Entwicklung von Praktiken der Selbstführung. Gestartet wurde bei der Rekonstruktion der Produktion von Normalisierungspraktiken im 18. und 19. Jahrhundert anhand der Diskursanalysen von Michel Foucault. Prototypisch in den Institutionen des Militärs, des Gefängnisses und der Schule ergeben sich Praktiken, die auf eine Regierung und Produktivitätssteigerung des Körpers abzielen und die so spezifische Formen eines normalisierten Habitus generieren. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts breiten sich die Praktiken der Normalisierung unter dem Stichwort des Fordismus massenwirksam aus. Ausgehend von hierarchisch-normierenden Arbeits- und Organisationsformen, kommt es nach dem Zweiten Weltkrieg bis zum Ende der 1960er Jahre zu einem Durchbruch der im 18. und 19. Jahrhundert entstandenen Normalisierungspraktiken. Die sich hier ausbreitenden Praktiken bilden dann in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Grundlage für einen sich Ende der 1960er Jahre ergebenden sozialen Wandel, der in engem ZuNeben den klassischen Studien von Bourdieu, welche es mit großer methodischer Sensibilität gescha¤t haben, makro- und mikrosoziologische Forschungen zu relationieren, zeigen sich in jüngerer Zeit auch in Deutschland ambitionierte Forschungsprojekte, welche sich forschungspraktisch um die Unterlaufung von subjektivistischen und objektivistischen Erkenntnisformen bemühen; vgl. hierzu beispielsweise die Studien von Alheit/Schömer 2009; Nohl/Schittenhelm/Schmidtke/Weiß 2009; Pfa¤ 2006. 14
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sammenhang steht mit Formen der nonkonformen Kritik. Aus einer Kritik in den unterschiedlichen Feldern von kultureller Produktion, ökonomischer und politischer Organisation ergibt sich eine Verstärkung von heterarchischen Organisationsformen, die eine Praxis der Flexibilität etablieren und ausbreiten. Waren für die disziplinierenden Praktiken der organisierten Moderne die genannten Institutionen von Militär, Schule und Medizin Treibhäuser für eine spezifische Praxisorganisation, so konnten für die sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ausbreitenden Praxisformen die Managementdiskurse als tragend herausgestellt werden (vgl. Schultheis 2006). Hier zeigen sich gouvernementale Führungspraktiken, die auf Flexibilität, Kreativität, Mobilität und Wandlungsfähigkeit setzen. Die hier eingenommene Perspektive demonstriert am Beispiel der dargestellten Fälle, wie sich die Formen der nonkonformen Kritik, die für Herrn Behrend, Herrn Christophsen und Herrn Walters eine zentrale Rolle spielen, nicht nur als akteursbezogene Praktiken konstituieren, sondern wie sich bis in die habituelle Praxis hinein akteursgelöste soziale Eigenlogiken als biographische Spuren reproduzieren. Auch vor dem Hintergrund der Rekonstruktionen zum Feld der Netzkunst dokumentieren die Biographien dabei, wie die Ende der 1960er Jahre aus nonkonformen Kritikformen entstandenen postbürokratischen Arbeits- und Organisationspraktiken selbst wieder Ausgangspunkt für eine nonkonforme Kritik werden, wobei es um ein Bestreben geht, den sich aus den neuen Praxisformen ergebenden Flexibilisierungsdruck zu reduzieren. Anhand der Arbeiten von Andreas Reckwitz habe ich im Anschluss an die Habitustransformationen eine zweite Achse dargestellt, in der ich den Fokus auf eine ästhetisch orientierte Selbstauslegung gerichtet habe. Gezeigt wurde, wie die Technologien des Selbst im 18. Jahrhundert in einer bürgerlichen Moderne über die Produktion einer Innenwelt des Subjekts im Medium der Schrift organisiert sind. Das Leben wird hier als eine biographische Kette von Entscheidungen thematisiert, von denen ausgehend die individuelle Zukunft zu tragen ist. Es bildet sich ein Habitus, der an einer moralisch-souveränen Praxis orientiert ist. Im 19. Jahrhundert entsteht dann mit der Romantik innerhalb einer Minorität eine Gegenbewegung, welche der moralisch-souveränen Praxis eine ästhetisch-expressive Praxis entgegenhält. Der Mensch wird hier weniger als Ableitung aus dem Allgemeinen verstanden; vielmehr soll er in seiner Einzigartigkeit und Individualität wahrgenommen werden. Die Emotion und die individuelle Intuition werden der Moral positiv entge-
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gengestellt. Im Gegensatz zu der moralisch-souveränen Praxis geht es bei der ästhetisch-expressiven Praxis weniger um eine Selbstdisziplinierung als vielmehr um das Finden eines Selbstausdrucks. Der sich hier andeutende Konflikt reproduziert sich im 20. Jahrhundert. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die mit Reckwitz als organisierte Moderne gekennzeichnet wird, stehen die visuellen Praktiken und die Praktiken des Konsums im Vordergrund der Technologien des Selbst. Orientiert an der Konformität zur Peergroup, geht es hier vor allem um die Fabrikation von homogenen Bildern. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kommt es dann zu einem Wandel, der mit Reckwitz (2006, S. 556) als eine „Ästhetisierung [...] gegen die Normalisierung“ beschrieben werden kann. Ausgehend von den auch schon in Kapitel 5 beschriebenen Wandlungsprozessen in Technologie, Wirtschaft und Kultur entsteht ein Überlagerungsverhältnis von ökonomischen Selbstführungspraktiken und Praktiken der ästhetisch-expressiven Selbstauslegung. Diese Kreuzung zeigt sich als relevant für die im Zusammenhang mit den Bildungsprozessen rekonstruierten Biographien. Bei den Fällen von Frau Chruchot, Herrn Bosch und Frau Othmar geht es einerseits anhand von ästhetischen, psychotherapeutischen, religiösen und politischen Praktiken um Praktiken der ästhetisch-expressiven Selbstauslegung; andererseits werden diese Praktiken, vor allem durch die auf der ersten Achse der Feldrekonstruktionen dargestellten postbürokratischen Arbeitstechniken, an Formen der berufsbiographischen Selbstführung rückgebunden. Frau Chruchot findet im Sich-Darstellen eine Form, sich mit ihren biographischen Ängsten auseinanderzusetzen, wobei sie diese Praxis mit ihrer Profession als Schauspielerin verbindet. Herr Bosch setzt sich mit seiner Biographie vor dem Hintergrund von psychotherapeutischen und schamanistischen Praktiken auseinander und verbindet seine hier gemachten Erfahrungen mit seiner Profession als Psychotherapeut. Frau Othmar schließlich findet in ihrer politischen Praxis eines Engagements für alternative Lebensformen auch einen experimentellen Umgang mit dem eigenen Selbst. Wie schon Frau Chruchot und Herr Bosch, verbindet und parallelisiert auch Frau Othmar die Praktiken des Selbst mit einer berufsbiographischen Orientierung, indem sie ein alternatives Geschäftsmodell gründet. Bei allen drei Fällen zeigen sich Überschneidungen einer ästhetisch-ökonomischen Dublette (vgl. Reckwitz 2006, S. 460 ¤.) Einerseits geht es um eine ästhetisch-expressive Selbstauslegung, andererseits um Praktiken der Selbstmobilisierung, die man mit Ulrich Bröcklin (2007)
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mit einem ökonomischen Code des ‚unternehmerischen Selbst‘ in Verbindung bringen kann. Angestoßen wird damit eine Debatte um die Ambivalenz von Bildungsprozessen (vgl. auch Lüders 2007 und Kapitel 6.5 dieser Arbeit). Die Feldrekonstruktionen zeigen, dass die von mir rekonstruierten Bildungsprozesse je nach Perspektive als Produkte von gesellschaftlichen Strukturen gesehen werden, in denen es durch eine Inkorporierung von Machtverhältnissen zu einer gouvernementalen Selbstführung kommt. Genauso zeigen die Bildungsprozesse aus einer anderen Perspektive jedoch auch Formen, in denen sich die Akteure im Sinne einer Gegenmacht um eine ästhetische Selbstauslegung und damit gerade um die Überschreitung von Normalisierungstechniken bemühen. Beide Perspektiven können Geltung beanspruchen. Die Ambivalenz von Bildungsprozessen ist nicht auflösbar (vgl. auch Kapitel 6.5). Mit Christoph Mencke (vgl. 2003, S. 299) bestimmt die Haltung, mit der eine Praxis ausgeführt wird, darüber, ob diese als eine Praktik der Selbstökonomisierung oder als eine Praktik der ästhetischen Selbstauslegung zu verstehen ist. Im Sinne der im sechsten Kapitel von mir verfolgten Argumentation ist hier zu ergänzen, dass es auch um die Art der Perspektive geht, aus der eine Praxis rekonstruiert wird. Untersucht man eine Praxis aus der Perspektive eines Feldes, erscheint der Akteur meist als determinierte Ableitung aus einer gesellschaftlichen Struktur; untersucht man eine Praxis hingegen aus der Perspektive des Habitus, so fällt meist der individuelle oder gruppenspezifische Umgang mit gesellschaftlichen Strukturen ins Auge. Aus dieser Perspektive gelingt es meist leichter, dem Akteur eine Handlungskompetenz gegenüber gesellschaftlichen Strukturen zuzuschreiben. Entsprechend der Relationierung zwischen Objektivismus und Subjektivismus wurde dafür plädiert, beide Perspektiven mit einzubeziehen. Ein (Bildungs-)Subjekt erscheint damit, wie dargestellt, gleichzeitig als ein unterwerfendes Unterworfenes und als ein unterworfenes Unterwerfendes. Die Ambivalenz von Bildungsprozessen ist damit auf Dauer gestellt. Auf einer machttheoretischen Ebene deutet sich damit an, was für meine bildungstheoretischen Ausarbeitungen im Anschluss an eine Theorie der Praxis konstitutiv war. Immer wieder ging es um die Relationierung von gegensätzlichen Perspektiven, um so Anderes in den Blick nehmen zu können.
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10.
Appendix
Richtlinien der Transkription (.)
Pause bis zu einer Sekunde
(2)
Anzahl der Sekunden, die eine Pause dauert
nein
betont
nein
laut (in Relation zur üblichen Lautstärke des Sprechers/der Sprecherin)
°nee°
sehr leise (in Relation zur üblichen Lautstärke des Sprechers/der Sprecherin)
.
stark sinkende Intonation
;
schwach sinkende Intonation
?
stark steigende Intonation
,
schwach steigende Intonation
viellei-
Abbruch eines Wortes
oh=nee
Wortverschleifung
nei::n
Dehnung, die Häufigkeit vom : entspricht der Länge der Dehnung
(doch)
Unsicherheit bei der Transkription, schwer verständliche Äußerungen
()
unverständliche Äußerungen, die Länge der Klammer entspricht etwa der Dauer der unverständlichen Äußerung
((stöhnt))
Kommentare bzw. Anmerkungen zu parasprachlichen, nicht-verbalen oder gesprächsexternen Ereignissen; die Länge der Klammer entspricht im Falle der Kommentierung parasprachlicher Äußerungen (z. B. Stöhnen) etwa der Dauer der Äußerung. In vereinfachten Versionen des Transkriptionssystems kann auch Lachen auf diese Weise symbolisiert werden. In komplexeren Versionen wird Lachen wie folgt symbolisiert:
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@nein@
lachend gesprochen
@(.)@
kurzes Auflachen
@(3)@
3 Sek. Lachen
Groß- und Kleinschreibung: Hauptwörter werden groß geschrieben, und bei Neuansetzen eines Sprechers/einer Sprecherin am Beginn eines ‚Häkchens‘ wird das erste Wort mit Großbuchstaben begonnen. Nach Satzzeichen wird klein weitergeschrieben, um deutlich zu machen, dass Satzzeichen die Intonation anzeigen und nicht grammatikalisch gesetzt werden.
APPENDIX
Fallprofile1 1) Martin Hindt Martin Hindt ist zum Zeitpunkt des Interviews vierundzwanzig Jahre alt. Er wächst zusammen mit fünf Geschwistern in Hamburg auf. Während des Besuchs der Waldorfschule entsteht bei Herrn Hindt das Bedürfnis nach anderen Lernbedingungen, weshalb er auf ein Gymnasium wechselt. Seine schulischen Erwartungen werden hier jedoch enttäuscht. Nach dem Abitur beginnt Herr Hindt, Philosophie, Literatur und Soziologie zu studieren. Nach einem engagierten Studienbeginn werden auch hier seine Erwartungen an ein universitäres Studium nicht erfüllt. Martin Hindt entschließt sich zu einem einjährigen Auslandsaufenthalt in den USA. Das Interview entstand nach seiner Rückkehr. 2) Benjamin Schnittke Benjamin Schnittke ist zum Zeitpunkt des Interviews dreiundzwanzig Jahre alt. Die biographischen Erzählungen zur Kindheit von Herrn Schnittke sind durch eine konfliktreiche Beziehung seiner Eltern geprägt. Nach der Trennung der Eltern beginnt für Herrn Schnittke eine Zeit des ständigen Pendelns zwischen den Elternteilen, welche in verschiedenen Städten leben. Er zieht mit siebzehn Jahren von zu Hause weg und beginnt eine Lehre als Restaurator, um sich in der Folge mit einer kleinen Werkstatt selbstständig zu machen. 3) Sabrina Kunze Sabrina Kunze ist zum Zeitpunkt des Interviews neunundzwanzig Jahre alt. Ihre biographischen Erzählungen sind geprägt von Konflikten zwischen zwei unterschiedlichen Lebensformen. Während ihr Vater als Pfarrer arbeitet, lebt ihre Mutter in einer homosexuellen Lebensgemeinschaft. Mit zwanzig Jahren zieht Frau Kunze zu Hause aus und beginnt ein Studium der Politikwissenschaft und Soziologie. Nach dem Abschluss ihres Studiums arbeitet sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin eines außeruniversitären Forschungsinstitutes.
An dieser Stelle sei nochmals allen Personen, die mir ihre Lebensgeschichte erzählt haben, ausdrücklich gedankt.
1
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4) Susan Rot Susan Rot wird 1979 als erstes von zwei Kindern in Westdeutschland in eine Akademikerfamilie geboren. Die Mutter ist Designerin, der Vater promoviert zum Zeitpunkt der Geburt, um später Professor zu werden. Die Kindheit von Frau Rot ist geprägt durch die konfliktreiche Beziehung ihrer Eltern, in der es über Jahre zu juristischen Auseinandersetzungen kommt. Nach einer familiären Krise zieht Frau Rot mit fünfzehn in eine Punkerwohngemeinschaft und distanziert sich von ihrer Familie. Nach dem Abitur siedelt sie nach einigen Auslandsaufenthalten nach Berlin über und beginnt hier zu studieren. 5) Patrick Müller Patrick Müller ist zum Zeitpunkt des Interviews dreißig Jahre alt. Seine biographischen Erzählungen sind geprägt durch längere Auslandsaufenthalte vor und während seines Ethnologiestudiums. Nach mehreren Aufenthalten in Südamerika, wo er reist und für NGOS arbeitet, schließt er sein Studium ab, um dann eine längere Reise nach Asien zu unternehmen. 6) Andreas Mill Andreas Mill ist zum Zeitpunkt des Interviews achtunddreißig Jahre alt. Herr Mill entdeckt in seiner Adoleszenz seine Homosexualität und beginnt, sich in die Punkerszene zu integrieren; mit achtzehn zieht er nach Hamburg in ein besetztes Haus. Nach dem Abitur beginnt er eine Schauspielausbildung und arbeitet in der Folge als Schauspieler und Regisseur am Theater. 7) Stuart Smith Stuart Smith ist zum Zeitpunkt des Interviews neunundzwanzig Jahre alt. Er wächst in amerikanischen Kasernen in Deutschland auf. Seine Mutter ist Deutsche, sein Vater ist Afroamerikaner. In seinen biographischen Erzählungen spielen immer wieder Diskriminierungserfahrungen eine zentrale Rolle. In seiner Adoleszenz beginnt Herr Smith sich mit Büchern afrodeutscher Sozialbewegungen auseinanderzusetzen. Hieraus erwächst für ihn die Motivation, Geschichts- und Politikwissenschaft zu studieren. Zum Zeitpunkt des Interviews schloss Stuart Smith gerade sein Studium ab.
APPENDIX
8) Matthias Jung Matthias Jung ist zum Zeitpunkt des Interviews sechsunddreißig Jahre alt. Nach dem Abitur beginnt er ein Designstudium, um sich in der Folge mit seinem Freund selbstständig zu machen. Mit dem wirtschaftlichen Schub der New Economy expandiert Jungs Firma, muss später aber aufgrund der Zahlungsunfähigkeit einiger Kunden Insolvenz anmelden. Zum Zeitpunkt des Interviews arbeitet Matthias Jung in einer Firma als Art-Direktor.
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Peter Faulstich Aufklärung, Wissenschaft und lebensentfaltende Bildung Geschichte und Gegenwart einer großen Hoffnung der Moderne Juni 2011, 194 Seiten, kart., zahlr. Abb., 19,80 €, ISBN 978-3-8376-1816-7
Peter Faulstich Vermittler wissenschaftlichen Wissens Biographien von Pionieren öffentlicher Wissenschaft 2008, 196 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN 978-3-89942-878-0
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Theorie Bilden Hans-Christoph Koller, Markus Rieger-Ladich (Hg.) Figurationen von Adoleszenz Pädagogische Lektüren zeitgenössischer Romane II 2009, 216 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1025-3
Ingrid Lohmann, Sinah Mielich, Florian Muhl, Karl-Josef Pazzini, Laura Rieger, Eva Wilhelm (Hg.) Schöne neue Bildung? Zur Kritik der Universität der Gegenwart Mai 2011, 242 Seiten, kart., zahlr. Abb., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1751-1
Joachim Schwohl, Tanja Sturm (Hg.) Inklusion als Herausforderung schulischer Entwicklung Widersprüche und Perspektiven eines erziehungswissenschaftlichen Diskurses 2010, 364 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1490-9
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Theorie Bilden Sönke Ahrens Experiment und Exploration Bildung als experimentelle Form der Welterschließung 2010, 330 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1654-5
Stephanie Maxim Wissen und Geschlecht Zur Problematik der Reifizierung der Zweigeschlechtlichkeit in der feministischen Schulkritik 2009, 306 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1030-7
Frank Elster Der Arbeitskraftunternehmer und seine Bildung Zur (berufs-)pädagogischen Sicht auf die Paradoxien subjektivierter Arbeit
Torsten Meyer, Andrea Sabisch (Hg.) Kunst Pädagogik Forschung Aktuelle Zugänge und Perspektiven
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2009, 276 Seiten, kart., zahlr. Abb., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1058-1
Werner Friedrichs Passagen der Pädagogik Zur Fassung des pädagogischen Moments im Anschluss an Niklas Luhmann und Gilles Deleuze
Karl-Josef Pazzini, Marianne Schuller, Michael Wimmer (Hg.) Lehren bildet? Vom Rätsel unserer Lehranstalten
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Kathrin Hahn Alter, Migration und Soziale Arbeit Zur Bedeutung von Ethnizität in Beratungsgesprächen der Altenhilfe
Andrea Sabisch Inszenierung der Suche Vom Sichtbarwerden ästhetischer Erfahrung im Tagebuch. Entwurf einer wissenschaftskritischen Grafieforschung
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Hans-Christoph Koller, Winfried Marotzki, Olaf Sanders (Hg.) Bildungsprozesse und Fremdheitserfahrung Beiträge zu einer Theorie transformatorischer Bildungsprozesse 2007, 260 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-89942-588-8
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Simone Tosana Bildungsgang, Habitus und Feld Eine Untersuchung zu den Statuspassagen Erwachsener mit Hauptschulabschluss am Abendgymnasium 2008, 276 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN 978-3-89942-798-1
Jenny Lüders Ambivalente Selbstpraktiken Eine Foucault’sche Perspektive auf Bildungsprozesse in Weblogs 2007, 280 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-89942-599-4
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