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German Pages 278 Year 2015
Dominik Krinninger Freundschaft, Intersubjektivität und Erfahrung
Dominik Krinninger (Dr. phil.), Diplom-Kulturwissenschaftler, lehrt Allgemeine Pädagogik an der Universität Osnabrück. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Bildungstheorie, Theorie der Ästhetischen Bildung sowie Pädagogik und Pragmatismus.
Dominik Krinninger
Freundschaft, Intersubjektivität und Erfahrung Empirische und begriffliche Untersuchungen zu einer sozialen Theorie der Bildung
Diese Arbeit wurde als Dissertation vom Fachbereich I, Erziehungs- und Sozialwissenschaften der Universität Hildesheim angenommen. Gutachter/innen: Prof. Dr. Volker Schubert und Prof. Dr. Meike Baader. Tag der Disputation: 06.05.2009
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I N H AL T
Einleitung
1. Freundschaft: Begriffliche Grundlagen, zum Stand der Forschung und zur bildungstheoretischen Perspektive der Untersuchung Begriffliche Grundlagen
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Geselligkeit Atmosphäre Leiblichkeit und Sozialität Performativität Biographie
16 16 16 18 24 24 27 29 33 35 38 41 42 43 44 47
2. Zu Methodologie und Methode
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Zur Etymologie Freundschaft: Strukturmerkmale Zum historischen Wandel des Verständnisses von Freundschaft Zum Stand der Forschung
Freundschaft und Geschlecht Freundschaft und Sexualität Freundschaft und Interkulturalität Freundschaft und Entwicklung Freundschaft und Sozialisation Zur bildungstheoretischen Perspektive der Untersuchung
Zum begrifflichen und empirischen Interesse der Arbeit Zur Begründung des hermeneutischen Ansatzes
Sprache als Praxis Freundschaft als Praxis Zum methodischen Vorgehen
Zur Erhebung der untersuchten Gespräche Zur Interpretation der Gespräche
51 53 53 56 58 58 65
3. Erzählte Bildung – Momentaufnahmen von drei Freundschaften Hannes und Roland
Zur Performativität der Beziehung Zum spezifischen Freundschaftskonzept von Hannes und Roland Popmusik als Gegenstand der Beziehung Bildungsbedeutsame Erfahrungen von Roland Bildungsbedeutsame Erfahrungen von Hannes Gemeinsame bildungsbedeutsame Erfahrungen von Roland und Hannes Robert und Jürgen
Zur Performativität der Beziehung Zum spezifischen Freundschaftskonzept von Robert und Jürgen Popmusik als Gegenstand der Beziehung Bildungsbedeutsame Erfahrungen von Robert Bildungsbedeutsame Erfahrungen von Jürgen Gemeinsame bildungsbedeutsame Erfahrungen von Robert und Jürgen Matthias und Volker
Zur Performativität der Beziehung Zum spezifischen Freundschaftskonzept von Matthias und Volker Popmusik als Gegenstand der Beziehung Bildungsbedeutsame Erfahrungen von Volker Bildungsbedeutsame Erfahrungen von Matthias Gemeinsame bildungsbedeutsame Erfahrungen von Matthias und Volker 4. Resümee der drei Falldarstellungen Wichtige Aspekte der freundschaftlichen Beziehungen
Erinnerung Performativität Freundschaftskonzepte Gegenstände der Beziehung Freundschaft als spielerische Beziehung Bildung – inhaltliche Bezüge
Biographie Freundschaftskonzepte Geschmack Bildung – formale Aspekte
Evozierende Atmosphäre Responsive Tätigkeit Konstruktive Bedeutung Bildung in Freundschaften als Transfer zwischen unbestimmter und bestimmter Bedeutung
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71 72 75 81 86 92 98 108 109 114 120 126 133 141 147 147 151 161 165 170 175
187 187 187 188 188 190 192 196 196 197 200 202 202 202 203 205
5. Bildung jenseits des Subjekts – Aspekte einer sozialen Theorie der Bildung Dewey als Pate einer sozialen Theorie der Bildung
Bildung als soziale Praxis Zur Genese von Erfahrungen Zum Umgang mit Erfahrungen Erfahrung und Denken Freundschaft und die Dialektik von Habitus und Feld
Bourdieus soziologisches Habitus-Konzept Deweys pädagogisches Habitus-Konzept Zum Gebrauch der habits Freundschaft als Körperschaft
Leiblichkeit: Bildungstheoretische Perspektiven Reflexion in der leiblich fundierten und intersubjektiven Praxis des Erzählens Zur Sozialität von Erfahrung
207
208 208 211 214 217 222 223 230 232 237 237 244 249
Zum Schluss: Neue Fragen
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Dank
259
Literatur
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Einleitung
„Dann erschien er in Nathal und hörte sich, zuerst einmal, wenn das Wetter danach war, allein im Hof sitzend, die Augen geschlossen, eine von mir im ersten Stock abgespielte Schallplatte an, die bei weitgeöffnetem Fenster vom Hof unten auf das vorzüglichste anzuhören war.“ (Bernhard 1982, S. 57). So schildert Thomas Bernhard in seinem Roman „Wittgensteins Neffe“ (der Untertitel lautet: „Eine Freundschaft“), wie er und sein Freund Paul Wittgenstein ganze Abende verbringen und kaum ein Wort miteinander wechseln. Dieses „trächtige Schweigen“ (Kracauer 1971, S. 57) beruht auf einer geteilten Leidenschaft für Musik – bei anderen Gelegenheiten entwickeln sich daraus für beide wichtige Gespräche, denen sie erwartungsvoll entgegensehen: „Aber es kommt der Tag, an welchem ich den Paul tatsächlich aufsuchen werde, dachte ich und machte mir schon ein paar Notizen darüber, was ich mit ihm zu besprechen vorhatte, über alles das, über das ich so viele Monate mit niemandem hatte sprechen können. Ohne Paul war mir ganz einfach kein Gespräch über Musik möglich in dieser Zeit…“ (Bernhard 1982, S. 46). In diesen zwei Szenen tritt ein bemerkenswertes Verhältnis von gemeinsamem Tun und Miteinander-Sprechen zutage. Das Plattenhören mit dem Freund vollzieht sich nicht deshalb schweigsam, weil sich die beiden nichts zu sagen hätten, sondern weil es an sich schon Bedeutung hat. Zugleich gibt es für die Freunde Bedeutsames, das sich zwar sagen lässt und das gesagt werden will; aber nicht jedem, sondern nur dem Freund. Hier zeigt sich eine gemeinsame Tätigkeit als etwas intersubjektiv Bedeutungsvolles. Doch das, was sie an Bedeutung hat, obwohl es subjektiv benennbar und vermeintlich beliebig mitteilbar erscheint, ist auf das Zuhören und Antworten, auf die Beglaubigung des Freundes angewiesen. 9
FREUNDSCHAFT, INTERSUBJEKTIVITÄT UND ERFAHRUNG
Die vorliegende Untersuchung beschäftigt sich aus pädagogischbildungstheoretischer Perspektive mit diesem komplexen Gefüge, das sich zwischen Freunden entwickeln kann. Ein geteiltes Interesse formiert sich in einer gemeinsamen Tätigkeit bzw. führt die Freunde in einer gemeinsamen Praxis zusammen. Dort fungieren intersubjektiv generierte, nicht nur intersubjektiv mitteilbare Bedeutungen, wobei einen wesentlichen Anteil an dieser Emergenz das Miteinander-Sprechen der Freunde hat. Es geht also darum, inwieweit Freundschaften einen durch eine gemeinsame Praxis gegebenen Bedeutungs- und Erfahrungsraum darstellen, in dem sich spezifische Bildungsbewegungen vollziehen; dazu nimmt die Arbeit das Gespräch unter Freunden in den Blick. Diese Ausrichtung stützt sich auf die Auffassung, dass Freundschaft nur dort entsteht, wo man sich freundschaftlich zueinander verhält. In dieser praxeologischen Orientierung will die Untersuchung nicht primär die Bedeutung einholen, die einzelne Freunde ihrer Beziehung reflexiv zuweisen, sondern geht von der Beobachtung eines Teilbereichs freundschaftlicher Praxis aus: Mit Freundespaaren wurden Gespräche über ein für sie gemeinsames Interesse geführt, um Sequenzen der freien Unterhaltung der Freunde untereinander anzustoßen und einer empirisch-qualitativen Analyse zugänglich zu machen. Dabei beschränkt sich das Vorhaben auf männliche, erwachsene Freundespaare, für deren Beziehung Popmusik ein wichtiges Thema ist.1 In den Gesprächen, die in einer offenen thematischen Ausrichtung u.a. biographische Aspekte und konkrete Erfahrungen mit populärer Musik zum Gegenstand hatten, wurde Material erhoben, anhand dessen sich bildungsbedeutsame Erfahrungsprozesse der Freunde aufzeigen lassen. Über die Analyse ausgewählter Sequenzen, in denen sich die Freunde maßgeblich aufeinander beziehen, werden nicht nur inhaltliche Bezüge dieser Erfahrungsprozesse rekonstruiert, daneben wird auch das aufeinander bezogene Verhalten der Freunde als Sprecher in der Interpretation aufgegriffen. So werden Korrelationen zwischen der freundschaftlichen Beziehung einerseits und intersubjektiv generierten Erfahrungen der Freunde andererseits sichtbar gemacht. Die einzelnen Fallbeschreibungen fließen schließlich in eine Diskussion der sozialen und, damit zusammenhängend, leiblichen Dimensionen von Bildung ein. So soll ein Beitrag dazu geleistet werden, theoretische Grundlagen (insbesondere bei John Dewey, bei Pierre Bourdieu und in der phänomenologischen Bildungstheorie Käte Meyer-Drawes), die sich für diese Dimensionen sensibel zeigen, in Beziehung zu einander zu setzen sowie sie zu konkretisieren und zu differenzieren. Damit will die Untersuchung nicht nur eine Beschreibung freundschaftlicher Praxis leisten und die gemachten Beobachtungen in entsprechende theoretische Konzepte überführen, sie will ebenso zu einer weiter gefassten bil1 10
Zur Begründung dieser Auswahl siehe Zum methodischen Vorgehen.
EINLEITUNG
dungstheoretischen Diskussion beitragen. Denn die pädagogische Bildungstheorie kann nur gewinnen, wenn sie Prozesse der Sozialisation oder der Habitus-Entwicklung nicht als Gegentendenzen zu einer getrennt von ihnen stattfindenden Bildung auffasst, sondern sich in ihrer Verantwortung für die Besonderheiten von Bildung auch auf die Überschneidungen mit diesen Prozessen einlässt. In diesem Sinn wird die soziale Fundierung von Bildung unter Einbeziehung der beobachteten bildungsbedeutsamen Erfahrungsprozesse in Freundschaften diskutiert. Damit sollen aber nicht lediglich die Einsichten einer phänomenologischen oder pragmatistischen Bildungstheorie bzw. Bourdieus Habitus-Konzept illustriert werden; es geht vielmehr darum, diese theoretischen Konzepte differenziert zu konkretisieren. Denn Leiblichkeit und Intersubjektivität sind bisher zwar als fundamentale Bildungsdimensionen theoretisch eingehend untersucht, die entsprechenden Überlegungen sind aber auf einem sehr hohen Abstraktionsniveau angesiedelt. Damit sie ihre Bedeutung pädagogisch breiter entfalten können ist es wichtig, nicht nur die Bedingungen leiblich und intersubjektiv fundierter Bildung weiter zu diskutieren, sondern auch ihre Praxis in konkreten Vollzügen zu beschreiben und zu verstehen. Für dieses zentrale Anliegen der Arbeit ist Dewey eine richtungweisende Referenz. Sein pädagogisches, sozialphilosophisches und ästhetisches Denken zeigt, wie individuelle und soziale Dimensionen von Bildung originell zusammenzuführen sind. Insbesondere die Auffassung, dass sich unser Verhalten auf der Grundlage von habitualisierten Dispositionen (habits) entwickelt, die die uns umgebende soziale Sphäre ebenso strukturieren wie sie ihrerseits dort gebildet werden, und der Begriff der Erfahrung, der rezeptive und konstruktive Leistungen der Subjekte zusammenfasst, spielen dabei eine entscheidende Rolle. So hat die Arbeit ein dreifaches Interesse: Erstens will sie mit einer empirisch gehaltvollen Beschreibung freundschaftliche Gespräche unter dem Aspekt intersubjektiver Bildung erschließen. Zweitens will sie im Anschluss an die dabei gemachten Beobachtungen eine begriffliche Verallgemeinerung zu den intersubjektiven und leiblichen Dimensionen von Bildung in Freundschaften leisten. Und drittens will sie von diesem begrifflichen Ertrag ausgehend theoretische Positionen diskutieren, die aus unterschiedlichen Perspektiven Sozialität als eine wesentliche Sphäre von Bildung in den Blick nehmen.
Zum Aufbau der Arbeit Das erste Kapitel (Freundschaft: Begriffliche Grundlagen, zum Stand der Forschung und zur bildungstheoretischen Perspektive der Untersuchung) fasst begriffliche Grundlagen zur Freundschaft zusammen und bietet einen ideengeschichtlichen Abriss der Entwicklung historisch-kultureller Semantiken von Freundschaft. Zentral ist in diesem Kapitel die Darstellung von 11
FREUNDSCHAFT, INTERSUBJEKTIVITÄT UND ERFAHRUNG
Schwerpunkten der pädagogischen, sozialwissenschaftlichen und psychologischen Freundschaftsforschung. Dabei zeigt sich, dass eine bildungstheoretische Perspektive auf Freundschaft bislang kaum entwickelt ist. Diese Lücke macht die Entwicklung entsprechender theoretischer Konzepte zu einer spannenden Herausforderung, wirft für die vorliegende Arbeit aber auch eine gewisse Schwierigkeit auf: Relevante Forschungsbeiträge aus dem weiteren Umfeld der eigenen Fragestellungen müssen berücksichtigt werden, direkte Bezüge zu diesen Fragen lassen sich dabei indes nur bedingt herstellen. Es finden sich in der v.a. sozialisationstheoretisch und entwicklungspsychologisch orientierten Freundschaftsforschung allerdings durchaus einzelne Befunde, die sich in eine bildungstheoretische Perspektive integrieren lassen. Der zweite Schwerpunkt dieses Abschnitts liegt in der Konturierung dieser spezifischen Perspektive, die die Untersuchung auf Freundschaften richtet. Wesentlich ist dabei ein Verständnis von Bildung, das neben den konstituierenden und reflexiven Vermögen des Subjekts auch seine soziale und leibliche Bedingtheit anerkennt und nach der Bedeutung dieser Dimensionen für Bildungsprozesse fragt. Im zweiten Kapitel (Zu Methodologie und Methode) wird zunächst die hermeneutische Grundorientierung der Arbeit erläutert. Maßgeblich ist dafür eine erkenntnistheoretische Haltung, die sich auf die wechselseitige Differenzierung und Bereicherung einer begrifflichen und qualitativ-empirischen Ausrichtung stützt und dieses Wechselverhältnis in beide Richtungen fruchtbar machen will. In einem zweiten Schritt wird ein praxeologisches Verständnis von Freundschaft und Sprache dargestellt. Dies dient als Grundlage für den spezifischen Interpretationsansatz, mit dem diese Untersuchung arbeitet, und ist ein wichtiger Aspekt bei einigen Entscheidungen zur Materialerhebung. Das dritte Kapitel (Erzählte Bildung – Momentaufnahmen von drei Freundschaften) liefert eine Beschreibung und Interpretation der mit den Freundespaaren geführten und aufgezeichneten Gespräche in Bezug auf deren spezifisch freundschaftlichen Charakter. Leitend sind dabei die folgenden Fragestellungen: Wie bringen die Freunde durch ihr Verhalten zueinander ihre Beziehung als Freundschaft hervor? Welche Beziehungskonzepte zeigen sich in den verschiedenen Freundschaften? Welche Rolle spielt Popmusik als Thema der Freundschaft? Neben diesem auf Freundschaft bezogenen Untersuchungsinteresse richtet sich das Augenmerk in diesem Abschnitt vor allem auf intersubjektive Bildungsprozesse: Welche Rolle spielt Intersubjektivität bei individuellen Erfahrungsprozessen einzelner Freunde? Und: Wie entwickeln sich originär intersubjektive Erfahrungen im Gespräch zwischen den Freunden? Das vierte Kapitel (Resümee der drei Falldarstellungen) liefert zunächst einen systematischen Vergleich der drei Gespräche hinsichtlich signifikanter Übereinstimmungen und Unterschiede. Diese signifikanten Beobachtungen 12
EINLEITUNG
werden dann aufgenommen, um allgemeine Thesen zum Zusammenhang von Freundschaft und Bildung zu formulieren – in Bezug auf Freundschaft als Erfahrungsraum und in Bezug auf Bildung in Freundschaften. Im Kern geht es um ein Verständnis von Freundschaft, das diese als spielerische Beziehung auffasst, insofern in ihr Aspekte des Symbolspiels und des Regelspiels auf spezifische Weise verknüpft sind. Darüber hinaus greift diese begriffliche Verallgemeinerung als einen wesentlichen Aspekt von Bildung in Freundschaften auf, dass der eingespielte Umgang der Freunde miteinander besondere Bedingungen für Übergänge zwischen den habituellen und präreflexiven Dimensionen von Erfahrungen und ihrem reflexivem Nachvollzug schafft. Das letzte Kapitel (Bildung jenseits des Subjekts) beginnt mit einer Rekonstruktion theoretischer Positionen, die die Sozialität von Bildung betonen. Das ist zunächst Dewey, der in seinem Konzept der Erfahrung die Möglichkeit und Notwendigkeit eines konstruktiven Umgangs mit habits herausarbeitet. Deweys Ansatz wird das Habitus-Konzept von Bourdieu gegenübergestellt, der auf vielfältige Weise die subjektive Inkorporierung sozialen Sinns erörtert. Der Vergleich der beiden Theorieansätze zeigt einen zentralen Aspekt, in dem sie sich unterscheiden: das Verhältnis der Subjekte zu ihrer sozialen Verfasstheit. Aus einer pädagogisch-bildungstheoretischen Perspektive kommt hier Deweys Akzentuierung der Handhabbarkeit der habits eine hohe Bedeutung zu. Im Anschluss an diese Diskussion und im Rekurs auf die in der empirisch-qualitativen Untersuchung der Gespräche mit den Freundespaaren gemachten Beobachtungen und den daraus abgeleiteten Thesen wird in einem dritten Schritt dargelegt, dass bei der Genese von Erfahrungen, die konstruktiv auf die eigenen habits zurückgreifen, gerade leiblich fundierte Praxen von zentraler Bedeutung sind. Es sind die besonderen Weisen des Erzählens, die die Freunde in ihrer Beziehung praktizieren, die sie zur gemeinsamen Hervorbringung bildungsrelevanter Erfahrungen befähigen. Die phänomenologische Bildungstheorie Meyer-Drawes ist (neben der hermeneutischen Philosophie Paul Ricoeurs) bei dieser Erörterung ein zentraler theoretischer Bezug. Insgesamt will die Untersuchung dazu beitragen, dass die Besonderheiten von Freundschaft (u.a. ihre sozialen Potentiale und ihre Performativität) bildungstheoretisch ernst genommen werden und ihr nicht nur wohlfeile Sympathie entgegengebracht wird; ein zweites Hauptanliegen dieser Arbeit ist es, Bildung als Begriff wach zu halten. Sie versucht die Beschreibungskraft dieses Begriffs für die individuelle und selbst mitverantwortete Entwicklung von Menschen dadurch zu stärken, dass sie nicht ein autarkes, sich selbst setzendes Subjekt entwirft, sondern sich für ein Verständnis von Bildung als gemeinsamer Praxis öffnet.
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1 . Fre undsc haft: Be grifflic he Grundla ge n, zum Stand der Forschung und zur bildungstheoretisc he n Perspektive der Unte rs uc hung
Die Forschungslage zum Zusammenhang von Freundschaft und Bildung ist unbefriedigend. Zwar sind beide Themen Gegenstand intensiver und facettenreicher theoretischer wie empirischer Untersuchungen; das gilt nicht nur für Bildung, gerade in jüngerer Zeit auch für Freundschaft. Berührungen zwischen diesen Diskursen sind allerdings rar. Eine Untersuchung, die sich Freundschaft aus bildungstheoretischer Perspektive widmet, ist, das wurde bereits in der Einleitung angesprochen, damit vor gewisse Schwierigkeiten gestellt. Sie kann den Forschungsstand im Umfeld ihrer Fragestellung nicht übergehen, sie kann aber auch nur an wenigen Stellen in einen direkten Dialog mit ihm treten. Vor diesem Hintergrund trägt das erste Kapitel dieser Arbeit nach einem ersten Abschnitt zu begrifflichen Grundlagen zur Freundschaft pädagogisch relevante Beiträge der Freundschaftsforschung zusammen. So zeigen sich einerseits derzeit dominante Blickrichtungen auf Freundschaft, andererseits werden Desiderata deutlich. Allen voran ist das die Frage nach Freundschaft als Ort der Bildung (und eben nicht nur der Sozialisation oder Entwicklung). Aber nicht nur diese Lücke im Forschungsstand, auch einzelne Befunde werfen Fragen auf, die für die vorliegende Untersuchung wichtig und fruchtbar sind. In einem dritten Abschnitt werden dann bildungstheoretische Aspekte gesammelt, die den spezifischen Ansatz, Freundschaft als bildungsbedeutsamen Erfahrungsraum zu untersuchen, konturieren.
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FREUNDSCHAFT, INTERSUBJEKTIVITÄT UND ERFAHRUNG
Begriffliche Grundlagen Zur Etymologie Das englische friend geht wie das deutsche Wort Freund auf das germanische frijond zurück, das neben Freunden auch Verwandte in einem weit verzweigten Verwandtschaftssystems bezeichnet (vgl. Krappmann 1996, S. 23). Die germanische Wurzel ist frij-o, was soviel bedeutet wie jemanden freundlich behandeln oder um jemanden werben. Frei und Frieden entstehen aus derselben Wurzel (vgl. ebd.). Im romanischen Sprachraum (frz.: ami, ital.: amico, span.: amigo) ist die gemeinsame Wurzel das lateinische amicus, das aus amare (lieben) hervorgeht. Krappmann weist auf den etymologischen Bezug von ama zu mama hin (einem frühen kindlichen Phonem, mit dem Zuneigung ausgedrückt wird) und er bemerkt, dass – anders als im Deutschen, dessen Freund eher Nähen zu Freiheit und Freiwilligkeit impliziert – in den romanischen Sprachen affektive Aspekte hervortreten (vgl. ebd.; zur Etymologie auch Kon 1979, S. 18 ff. und Nötzoldt-Linden 1994, S. 27 f.).
Freundschaft: Strukturmerkmale Im Folgenden werden einige wiederkehrende und grundlegende Aspekte aus der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Freundschaft aufgeführt, die für diese Beziehung wesentlich sind. Dabei geht es weniger um konkrete Eigenschaften von Freundschaften, sondern eher um Vorbedingungen, auf die freundschaftliche Beziehungen auf je spezifische Weise eingehen. Freundschaften werden in unterschiedlichen historischen und kulturellen Zusammenhängen jeweils unterschiedlich verstanden und gelebt (siehe dazu auch die Abschnitte Zum historischen Wandel des Verständnisses von Freundschaft und Freundschaft und Interkulturalität). Insofern konturieren die nachfolgenden Gesichtspunkte kein einheitliches oder feststehendes Beziehungsmuster. Freundschaft ist eine persönliche Beziehung. Freunde verstehen sich und einander als individuelle Personen und knüpfen ihre Beziehung in dieser Dimension. Insofern verbindet Freundschaft die an ihr Beteiligten jenseits sozial normierter Rollen (vgl. Auhagen 1993, S. 218; Nötzoldt-Linden 1994, S. 29; Eichler 1999, S. 224). Das Eingehen einer Freundschaft, ihre Beibehaltung und spezifische Ausgestaltung sowie der Umgang mit Erwartungen der Freunde aneinander geschehen in Freiwilligkeit (vgl. Auhagen 1993, S. 219; Nötzoldt-Linden 1994, S. 30; Krappmann 1996, S. 19; Eichler 1999, S. 224 und S. 230). Es gibt anders als für institutionell bzw. sozial vorstrukturierte Beziehungen (z.B. Arbeitsbeziehungen, Familienbeziehungen etc.) für die Gestaltung von Freundschaften keine allgemeinen gesellschaftlichen Normen
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FREUNDSCHAFT: BEGRIFFLICHE GRUNDLAGEN
(vgl. Nötzoldt-Linden 1994 und 1997, S. 30; Eichler 1999, S. 230).2 Freundschaft ist eine dyadische und reziproke Beziehung.3 Nur bei wechselseitiger Konstituierung und beiderseitigem Erleben lässt sich sinnvoll von Freundschaft sprechen (vgl. Auhagen 1993, S. 218; Nötzoldt-Linden 1994, S. 30; Krappmann 1996, S. 20; Eichler 1999, S. 224). Freundschaften zeitigen ein besonderes Verhältnis von Nähe und Distanz. In ihnen entsteht ein Raum persönlicher Offenheit und Anteilnahme, das gegenseitige Wissen übereinander führt zu Intimität (vgl. Nötzoldt-Linden 1997, S. 8 f.; Eichler 1999, S. 229), gleichzeitig hegen Freunde aber auch Diskretion. Dazu bedarf es Vertrauen und Respekt (vgl. Nötzoldt-Linden 1997, S. 10; Eichler 1999, S. 226 ff.). Dementsprechend sind Freundschaften nicht augenblicklich einzugehen, sie entstehen relativ langsam und sind zu pflegende Verhältnisse. Freundschaften haben ihre spezielle Zeitlichkeit, sie sind auf Dauer angelegt4 und brauchen Pflege (vgl. Auhagen 1993, S. 219; Nötzoldt-Linden 1994, S. 30 f.; NötzoldtLinden 1997, S. 5). Freundschaftliche Beziehungen sind von gegenseitigem Wohlwollen und gegenseitiger Wertschätzung geprägt. Infolgedessen entwickelt jede freundschaftliche Beziehung eine spezifische Emotionalität (vgl. ebd., S. 9; Eichler 1999, S. 228). Auf der Basis von Empathie und Wohlwollen können emotionale Unsicherheiten und Differenzen in einer entsprechenden Atmosphäre bewältigt werden. Als symmetrische Beziehungen beruhen Freundschaften auf der gegenseitigen Anerkennung von Gleichberechtigung sowie beiderseitigen Handlungsspielräumen und Einflussmöglichkeiten (vgl. Nötzoldt-Linden 1997, S. 7 f.; Lemke 2000, S. 99 f). Freunde können dabei 2
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Diese Zusammenfassung zentraler Strukturmomente ist nicht der Ort für relativierende Anmerkungen. Zu diesem Aspekt – der gesellschaftlichen Normiertheit von Freundschaften – ist jedoch ein kurzer Kommentar wichtig. Es ist durchaus zu vermuten, dass es sozial dominante Konzepte von Freundschaft gibt. Die im Diskurs über Freundschaft oft aufgegriffene Freiheit der Gestaltung von Freundschaften (neben Nötzoldt-Linden 1994 und 1997 und Eichler 1999 vgl. z.B. auch Auhagen 1993 und Krappmann 1996) kann nicht auf empirische Untersuchungen zurückgreifen, sondern gibt ein, wenn man so will, ‚offizielles‘ kulturelles Verständnis von Freundschaft wieder. Wenigstens drei Perspektiven sind denkbar, in denen diese Zuschreibung empirisch überprüft und differenziert werden könnte. So läge es nahe, nach Tendenzen zur Vereinbarkeit von Freundschaft und Sexualität zu suchen; das ist bislang kaum geschehen (siehe dazu Freundschaft und Sexualität). Ferner wäre nach den Mustern sozialer Vernetzung (und deren normativen Implikationen) zu fragen, die sich auf den höchst populären Internetportalen in der Art von „Facebook“, „MySpace“ oder „StudiVZ“ entwickeln. Schließlich wäre mit Sicherheit auch eine Analyse der Überschneidungen der Diskurse zu Freundschaft und zu Geschlecht aufschlussreich. Das schließt Freundesgruppen nicht aus. Auhagen schlägt vor, Freundesgruppen als Summe der in ihnen bestehenden Zweierbeziehungen zu verstehen (vgl. Auhagen 1993, S. 218). D.h., Freundschaften werden nicht auf eine vorab bestimmte Zeit geschlossen; gleichwohl können sie natürlich enden. 17
FREUNDSCHAFT, INTERSUBJEKTIVITÄT UND ERFAHRUNG
durchaus verschieden sein. Wichtig für ein freundschaftliches Verhältnis ist ein nicht hierarchisierender Umgang mit diesen Unterschieden. Stark hierarchische Verhältnisse entwickeln sich in aller Regel nicht zu Freundschaften (vgl. Friedman 1997, S. 236). Schließlich gehen Freundschaftsbeziehungen nicht in einem bloßen Gleichgewicht zweier Individuen auf. Freunde haben bzw. sind eine Gemeinschaft, verstehen sich als ‚wir‘ und lassen einander Fürsorge zukommen (vgl. Eichler 1999, S. 225, Fasching 1997, S. 23).
Zum historischen Wandel des Verständnisses von Freundschaft Für diese Untersuchung ist eine umfassende Auseinandersetzung mit der Frage, wie Freundschaft zu verschiedenen Zeiten verstanden und gelebt wurde, nicht unbedingt erforderlich. Eine Darstellung historischer Auffassungen von Freundschaft geben Kon (1979), Nötzoldt-Linden (1994) und – besonders ausführlich – Schinkel (2003). Dennoch werden hier einige Aspekte schlaglichtartig betrachtet, weil sie als zentrale Momente des Diskurses über Freundschaft immer wieder begegnen und auch im Hintergrund gegenwärtiger Thematisierungen von Freundschaft aufscheinen.
Freundschaft als Tugend Aristoteles’ Erörterung im achten und neunten Buch der Nikomachischen Ethik ist eine der prominentesten Schriften zur Freundschaft. Aristoteles unterscheidet drei Arten der Freundschaft: (a) Freundschaft um des Nutzens willen, (b) um der Unterhaltung bzw. der Lust willen und (c) um des Wertes der Person des Freundes willen, als der wahren Form von Freundschaft und leitet die Wesensmerkmale der wahren Freundschaft aus dem Verhältnis des tugendhaften Menschen zu sich selbst ab (vgl. Aristoteles 1983). Durch diesen Zusammenhang wirkt die Freundschaft tugendförderlich (vgl. Fasching 1990, S. 117). Benson nennt diese Durchdringung von Fürsorge und Selbstsorge pointiert „making friends“ (Benson 1990, S. 50). Wichtig ist auch Aristoteles’ Verständnis von Freundschaft als einer Form des aktiven Verhaltens: „Sie liegt … mehr im Lieben als im Geliebtwerden.“ (Aristoteles 1983, S. 194). Schließlich findet in seiner Darstellung auch die Frage nach der nötigen Gleichheit bzw. möglichen Verschiedenheit von Freunden herausgehobene Beachtung. Aristoteles argumentiert, dass die Zuneigung (philia) in der auf die Person des Freundes gerichteten Freundschaft nicht auf Homogenität zwischen den Freunden beruht, da, wenn es sich um eine wahre Freundschaft handelt, nicht der Wert von gegebenen und erhaltenen Gaben aufgerechnet
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FREUNDSCHAFT: BEGRIFFLICHE GRUNDLAGEN
oder differente soziale Positionen zum Maßstab des Verhaltens werden (vgl. Landweer 2006).
Freundschaft mit Gott Das mittelalterlich-christliche Motiv der Freundschaft mit Gott spielt an sich kaum noch eine Rolle, aber es ist als Kontext der neuzeitlichen ReSäkularisierung von Freundschaft wichtig. Augustinus greift Elemente antiker Freundschaftskonzepte auf und integriert sie in eine theologische Auffassung. Von zentraler Bedeutung ist dabei, dass die politische Dimension des tugendhaften Verhaltens, die sich in antiken Betrachtungen findet – nicht nur bei Aristoteles, auch bei Cicero (vgl. dazu Schinkel 2003, S. 196 ff.) –, gegenüber einer „Einkehr in die Innerlichkeit“ (ebd., S. 211) zurücktritt. Augustinus versteht es als zentrale Glaubensaufgabe, ein inniges Verhältnis zu Gott zu entwickeln. Eine essentielle Dimension dieses Verhältnisses ist die Liebe als „Mittel der Hinwendung des Menschen zu Gott“ (ebd., S. 216). Augustinus versteht Freundschaft als „Synthese von Gottesliebe und Nächstenliebe“ (ebd., S. 217), weil es dieselbe, letztlich zu Gott führende Liebe ist, die Freunde untereinander und mit Gott verbindet. Dieses Verständnis von Freundschaft, in dem sich eine theologische und eine säkulare Ebene verbinden, erfährt bei späteren christlichen Denkern dann eine Ausrichtung ganz auf Gott. „Sowohl Aelred [von Rieval; DK] als auch Thomas [von Aquin; DK] steigern die Freundschaft der Menschen ‚in‘ Gott zu einer Freundschaft der Menschen ‚mit‘ Gott.“ (ebd., S. 224).
Freundschaft als Gemeinschaft zweier Individuen Eine Grundtendenz des Humanismus in der Renaissance ist der Rekurs auf die antike Philosophie. Diese Bezugnahme zeigt sich auch bei Michel de Montaigne und seiner Betrachtung der Freundschaft (u.a. greift er auf Aristoteles und Cicero zurück). Montaigne geht allerdings weit über eine bloße Wiederbelebung antiker Traditionen hinaus. Er greift auch auf persönliche Erfahrungen aus seiner Freundschaft mit dem Dichter Étienne de la Boétie zurück. Dieser Bezug auf die eigene Erfahrung hängt mit dem anthropologischen Hintergrund seiner Freundschaftsauffassung zusammen. Der Mensch ist für Montaigne nicht durch eine transzendentale Bestimmung determiniert, sondern er geht aus einer „Vielheit von Individuen“ (ebd., S. 267) als spezifische Person hervor. Diese Besonderheit der Person ist ein zentrales Motiv der Freundschaft, wie Montaigne an seiner Beziehung zu de la Boétie erläutert. Diese Freundschaft bestand, „[w]eil er er war, weil ich ich war.“ (Montaigne 2000, S. 293). Freundschaft als Beziehung zweier individueller Personen ist bei Montaigne nicht mehr auf die Wahrung oder Förderung von Tugend oder 19
FREUNDSCHAFT, INTERSUBJEKTIVITÄT UND ERFAHRUNG
auf das Verhältnis zu Gott ausgerichtet, sondern ist eine Erfahrung, die ihren Wert in sich selbst hat (vgl. Schinkel 2003, S. 268). Insofern treten bei Montaigne die Aspekte der Freiwilligkeit („Nichts … ist so voll und ganz das Werk unsres freien Willens wie Zuneigung und Freundschaft.“ (Montaigne 2000, S. 288)) und der konkreten Gemeinschaft hervor, in die die Beziehung mit dem Freund mündet. Diese Gemeinschaft gibt der eigenen Person Raum und besteht zugleich in der vorbehaltlosen Hingabe an den Freund. Montaigne formuliert das z.B. so: „Ein Geheimnis, das niemandem anderen mitzuteilen ich geschworen habe, kann ich, ohne einen Meineid zu begehen, dem mitteilen, der kein anderer ist: Er ist ich.“ (ebd., S. 298 f.). Wenn Montaigne Freundschaft als Beziehung zweier Individuen versteht, so bezieht er sich damit allerdings, das ist eine wichtige Einschränkung, auf eine Beziehung unter Männern (und bleibt darin auf einer Linie mit seinen antiken Referenzen). Zwar hätte eine Freundschaft mit Frauen für ihn durchaus ihren Reiz, allerdings sieht er diese dazu nicht in der Lage; er meint, dass „…das geistige Vermögen der Frauen gewöhnlich den Anforderungen des engen Gedankenaustauschs und Umgangs nicht gewachsen ist, aus denen der heilige Bund der Freundschaft hervorgeht … Freilich, wenn das anders wäre und man mit den Frauen eine derart freie, freiwillige und vertrauenssinnige Beziehung aufbauen könnte, dass darin nicht nur Geist und Seele ihren vollen Genuss fänden, sondern auch die Körper an der Vereinigung teilnähmen und folglich der ganze Mensch sich hingäbe, dann würde das gewiss eine noch erfülltere Freundschaft sein.“ (ebd., S. 290).
Freundschaft als soziales Paradigma Auch nach ihrer Säkularisierung im Renaissance-Humanismus behält die Freundschaft einen umfassenden Bedeutungshorizont. In der Aufklärung entwickelt sich die Idee der „allgemeinen Menschenfreundschaft“ (Schinkel 2003, S. 344). Die Freundschaft wird (idealistisch) als zu allen Menschen mögliches und zu verwirklichendes Verhältnis verstanden und mit den Freundschaftsbünden entwickelt sich eine spezifische – besonders literarisch geprägte – Stilisierung der Freundschaft als Lebensform (vgl. Hermand 2006, S. 10 ff.). In der Romantik erfährt die Freundschaft eine regelrecht kultische Wertschätzung (vgl. dazu van Dülmen 2001 und Baader 2006). Ein prominentes Dokument dieser Wertschätzung ist der Briefroman „Die Günderode“ von Bettina von Arnim. Schinkel hebt aus dem in dieser Freundschaftserzählung entwickelten Verständnis von Freundschaft das Moment des freundschaftlichen Geistes hervor und zeigt, dass mit diesem „Geist“ (Schinkel 2003, S. 390) „…in der Freundschaft neben den Individuen noch eine dritte ‚Entität‘ eine Rolle spielt.“ (ebd.). Freundschaft wird damit zu einer eigenen „Sinnstruktur“ (ebd., S. 393). Diese Begeisterung für die Freundschaft strahlt in 20
FREUNDSCHAFT: BEGRIFFLICHE GRUNDLAGEN
viele andere Bereiche aus. Freundschaft ist der Romantik „…nicht nur eine Lebensform, sondern zugleich auch eine künstlerische Produktionsform.“ (Baader 2006, S. 260). Sie trägt auch das Konzept der „Symphilosophie“ (ebd., S. 261) und ist ein zentrales Motiv der romantischen Briefkultur und Salonkultur (vgl. ebd.). Van Dülmen meint pointiert: „Ohne Freundschaft hätte es die Romantik nicht gegeben.“ (van Dülmen 2001, S. 281). Dabei greift die romantische Freundschaftstheorie und -praxis nicht nur Entwicklungen aus der Zeit der Aufklärung auf. So fungiert Freundschaft als eine Beziehungsform von Individuen, die sich – das ist der neue bürgerliche Anspruch – durch Bildung selbst bestimmen und in Freundschaften die Anerkennung Gleichgesinnter finden. (vgl. ebd., 267 f.). Sie wird auch zu einem „Medium der Selbstinszenierung“ (ebd., S. 269). Am Beispiel des Freundschaftsbundes um die Brüder Schlegel in Jena zeigt van Dülmen die Poetisierung einer Beziehungspraxis auf, die auf deren konkretem Vollzug aufbaut (vgl. ebd., S. 269 ff.). Durch die Verknüpfung von privaten Beziehungen mit philosophischer und ästhetischer Tätigkeit wird die Freundschaft zu einem zentralen Motiv der Hervorbringung moderner Subjektivität in der Romantik.5 Von hoher Bedeutung ist auch, dass in der Romantik Frauenfreundschaften öffentlich werden. Die Dominanz von Männerfreundschaften im Diskurs über Freundschaft (paradigmatisch zeigt sich das in antiken Thematisierungen der Freundschaft, in denen Freundschaftsepisoden aus Heldenmythen eine wichtige Rolle spielen) ist auch darauf zurückzuführen, dass Frauenfreundschaften lange auf nicht öffentlichen Bereiche beschränkt bleiben. Erst in der Romantik ändert sich dies: „Für das Heraustreten aus den der bürgerlichen Frau zugewiesenen privaten Räumen in öffentliche oder wenigstens halb-öffentliche Sphären, etwa in die Salons oder als Schulleiterinnen, steht die Generation der Romantikerinnen.“ (Baader 2006, S. 260).
Differenzierte Freundschaft Das Ideal der wahren Freundschaft ist im Diskurs über Freundschaft lange dominant. Es ist ein Angelpunkt u.a. der Schriften von Aristoteles, Montaigne und von Arnim. Damit gehen eine mehr oder weniger stark betonte Exklusivität der Beziehung einher sowie bestimmte Erwartungen und Zuschreibungen,
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Als ästhetisierte Lebensform ist sie ein wichtiger Hintergrund der Tendenzen einer Ästhetisierung von Subjektivität, die sich in der Romantik zeigen. Die wichtigen romantischen Prinzipien des Fragmentarischen (vgl. Ostermann 1991) und der Ironie (vgl. Oesterreich 1998) implizieren jeweils ein besonders ausgeprägtes Bewusstsein über die Möglichkeiten und Grenzen des Subjekts in der ästhetischen oder philosophischen Praxis. Es ist wohl kein Zufall, dass sich die Genese dieser Konzepte wesentlich in intersubjektiven Formen (Freundschaftsbünde, Zeitschriften, Symphilosophie) vollzieht. 21
FREUNDSCHAFT, INTERSUBJEKTIVITÄT UND ERFAHRUNG
die die wahre Freundschaft gegenüber anderen Beziehungsformen auszeichnen. Simmel entwirft ein Modell der Freundschaft, das diese Ansprüche nicht mehr stellt. In der Differenziertheit moderner Gesellschaften sind die Individuen in eine Vielheit von verschiedenen Lebensbereichen eingebunden. Die Teilhabe an diesen verschiedenen Sphären ist nicht mehr ganzheitlich, weil es immer noch andere Bereiche gibt, in denen man sich auch verortet, sondern sie vollzieht sich „mit der wachsenden Differenzierung der Menschen“ (Simmel 1968, S. 269) fragmentarisch. Daraus folgert Simmel, dass „… die moderne Gefühlsweise sich mehr zu differenzierten Freundschaften neigt, d.h. zu solchen, die ihr Gebiet nur an je einer Seite der Persönlichkeiten haben und in die die übrigen nicht hineinspielen.“ (ebd., S. 269). Als Mittel der Konstruktion von privaten Beziehungen macht Simmel das Geheimnis aus (vgl. ebd., S. 256 ff., Simmel 1993, S. 317 ff.; auch Nötzoldt-Linden 1994, S. 147 ff.). Dabei dient das Wissen voneinander der Gestaltung eines bestimmten Verhältnisses von Nähe und Distanz innerhalb einer Beziehung wie nach außen hin zur Gesellschaft. In Freundschaften überwiegt das Wissen übereinander gegenüber dem Nichtwissen. Allerdings handelt es sich dabei um ein differenziertes Wissen: Freunde präsentieren nicht ihr „ungeteiltes Ich“ (Simmel 1968, S. 268). Freundschaft vollzieht sich so nach einem „Prinzip der Grenzkonstruktion als Spannung zwischen Nähe und Distanz“ (Nötzoldt-Linden 1994, S. 150).
Freundschaft in der individualisierten Moderne Die Verbreitung eines Selbstverständnisses des Menschen, das die Möglichkeit und Notwendigkeit beinhaltet, sich zu begreifen „…als jemand, der Positionen, Rollen, Regionen und Zugehörigkeiten wechseln kann…“ (Mollenhauer 1994, S. 171) und das Bewusstsein mit einschließt, „…dass der Werthorizont, in dem man zunächst aufwuchs, revisionsbedürftig und revisionsfähig ist…“ (ebd.), hängt eng mit der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft zusammen. Das Fraglich-Werden gesellschaftlicher Präskripte und die Ausdifferenzierung der Gesellschaft sind nicht nur wichtige Bedingungen für das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, sondern berühren auf spezifische Weise auch das Verständnis und die Praxis freundschaftlicher Beziehungen. „Der Mensch des 18. Jahrhunderts ist … aus dem sozialen Gefüge herausgetreten. Da er sich nicht mehr ohne weiteres mit seinen sozialen Gruppen, vor allem mit seinem Stand identifizieren kann, sind sein Tun, Denken, Fühlen und Wollen nicht mehr hinreichend durch soziale Vorbilder gesteuert. Stärker empfindet er sich als Individuum… In dieser Situation, in der die Gesellschaft ihre Mitglieder nicht mehr in eindeutige und in sich einheitliche soziale Gruppen einzuteilen vermag, in welchen sich ihr Dasein ungezwungen und vollständig abspielen könnte, wird die persönliche Beziehung in neuer 22
FREUNDSCHAFT: BEGRIFFLICHE GRUNDLAGEN
Weise bedeutend. Der Freundschaftskult und die Freundschaftsdichtung sind Ausdruck dieser Situation.“ (Tenbruck 1989, S. 233). Vielfach werden zwischen dieser geschichtlichen Entwicklung und gegenwärtigen Rahmenbedingungen von Freundschaft Parallelen festgestellt. So hält z.B. Lemke fest: „Die Aktualität der Freundschaft im 18. Jahrhundert lässt sich … auf eine mit der heutigen Situation vergleichbare Individualisierung der Lebensverhältnisse und der damit einhergehenden soziokulturellen Möglichkeit, persönliche Beziehungen auf der Grundlage der Freiheit und Gleichheit der Individuen zu gestalten, zurückführen.“ (Lemke 2000, S. 19). Ähnlich argumentieren Nötzoldt-Linden (1994, S. 9 ff. und S. 82 ff.) und Eichler (vgl. Eichler 1999, S. 217). Dabei wird der Freundschaft eine „Kompensationsfunktion“ (Nötzoldt-Linden 1994, S. 82) zugeschrieben. „Je freier Menschen von strukturellen Zwängen sind, desto eher ergibt sich die Chance und ein Druck zu neuen, selbstbestimmten Ver-Bindungen. Dies vermutlich an solchen Stellen, wo die Gefahr einer subjektiv empfundenen sozialen Isolation und persönlichen Fragmentierung droht…“ (ebd.). Diese Sicht „… lässt Freundschaft als das Konzept erscheinen, das es Menschen in hochindividualisierten postmodernen Gegenwartsgesellschaften erlaubt, befriedigende Sozialbeziehungen jenseits familialer Eingeengtheit zu leben.“ (Dörr-Backes 1997, S. 21; H.i.O.). In diesem Zusammenhang wird jedoch kaum thematisiert, inwieweit Freundschaften selbst den gesellschaftlichen Bedingungen unterliegen, die sie kompensieren sollen. Wenn festgestellt wird, wie Beck als Referenz in der Argumentation für die Kompensationsfunktion von Freundschaften (vgl. Nötzoldt-Linden 1994, S. 9 ff.) das tut, dass das „… zu Ende gedachte Marktmodell der Moderne … die familien- und ehelose Gesellschaft unterstellt“ (Beck 1987, S. 191), so ist der Anspruch, diesen Bedingungen entsprechende Sozialformen entgegenzustellen, durchaus nachvollziehbar. Dabei geht es dann um die „…Findung und Entfaltung des Selbst im Sozialen und Definition eines Sozialen, das wechselseitige Selbstbefreiung und -findung möglich macht.“ (Beck/Beck-Gernsheim, 1990, S. 64). Allerdings lassen sich dieselben Lebensbedingungen auch so verstehen, dass sie den Menschen umfassender ergreifen und ihm eine ins Totale tendierende „Flexibilität“ (Sennett 2001, S. 57) auferlegen, die auch seine Beziehungen ergreift, Freundschaften mit eingeschlossen: Es entsteht eine „Flüchtigkeit von Freundschaft und örtlicher Gemeinschaft“ (ebd., S. 23).6
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Es ist nicht Aufgabe dieser Arbeit, die eine oder andere Lesart als richtig oder falsch zu beurteilen. Allerdings erscheint es wichtig, beide Sichtweisen zu bedenken. Eine verkürzte, affirmative Beschreibung von Freundschaften als Residuen individueller Autonomie kann gerade der gesellschaftlichen Inzwecknahme freundschaftlicher Beziehungen das Wort reden. An diesem Punkt deutet 23
FREUNDSCHAFT, INTERSUBJEKTIVITÄT UND ERFAHRUNG
Zum Stand der Forschung Vor dem Hintergrund dieser ideengeschichtlichen Entwicklung und im Rückgriff auf die eingangs aufgelisteten Strukturmerkmale stellt sich Freundschaft dar – und damit wird auch das dieser Arbeit zugrunde liegende Verständnis von Freundschaft zusammengefasst – als die gemeinsame Praxis einer persönlichen Beziehung, die die Freunde freiwillig eingehen und gleichberechtigt selbst gestalten. Innerhalb dieser Beziehung, deren konkrete Ausgestaltung im Zusammenhang mit gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklungen steht, ergibt sich eine differenzierte Nähe und Gemeinschaft. In Freundschaften kommen unterschiedliche Aspekte zum Tragen, die in der Freundschaftsforschung aufgegriffen werden. Der folgende Überblick soll nicht deren gesamten Diskurs abbilden.7 Es geht zum einen um eine im weitesten Sinn pädagogische Perspektive, so dass die Sichtweisen anderer Disziplinen auf Freundschaft, wie etwa die der Soziologie oder Philosophie, nicht systematisch rekonstruiert werden, sondern im Zusammenhang mit den jeweils dargestellten thematischen Bezügen berücksichtigt werden. Zum andern werden auch innerhalb der pädagogisch-psychologisch-sozialwissenschaftlichen Ausrichtung Schwerpunkte gesetzt. Im Einzelnen werden Beiträge zur Freundschaft unter den Aspekten Geschlecht, Sexualität, Interkulturalität, Entwicklung und Sozialisation vorgestellt. Diese thematische Struktur gibt Schwerpunkte der Freundschaftsforschung wieder (Geschlecht, Interkulturalität, Entwicklung) und sie zeigt ein dominantes Verständnis von Freundschaft als Ort und Medium der Sozialisation auf. Der Aspekt der Sexualität liegt dazu etwas quer. Trotzdem findet er hier Berücksichtigung, weil er in besonderer Weise die kulturellen und sozialen Subströmungen einer Beziehungsform verdeutlicht, die ansonsten oft als besonders frei von gesellschaftlichen Normen beschrieben wird.
Freundschaft und Geschlecht Krappmann und Oswald stellen bei der Untersuchung des Sozialverhaltens von Kindern einer Berliner Grundschule fest, dass Kinder zu Beginn der Grundschulzeit „…insgesamt fast ebenso häufig mit Kindern des eigenen wie
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sich erneut eine gesellschaftliche Bedingtheit von Freundschaften an (siehe Anm. 1 in diesem Kapitel). Einen ausführlichen Überblick zur pädagogischen und psychologischen Freundschaftsforschung legen Wagner und Alisch vor (vgl. Alisch/Wagner 2006, 11 ff.).
FREUNDSCHAFT: ZUM STAND DER FORSCHUNG
des anderen Geschlechts interagieren…“ (Krappmann/Oswald 1988, S. 57; vgl. hierzu auch Winstead 1986, S. 85 f.). Im Grundschulalter lässt sich dann aber eine deutliche Tendenz zu freundschaftlichen Beziehungen mit Kindern des eigenen Geschlechts beobachten (vgl. Maccoby 1990, S. 514; Krappmann/Oswald 1995, S. 203 ff.), die erst ab etwa dem zwölften Lebensjahr aufzuweichen beginnt, wenn wieder „engere Freundschaften über die Geschlechtsgrenze hinweg“ (Krappmann/Oswald 1988, S. 56) gebildet werden, wobei gleichgeschlechtliche Freundschaften altersübergreifend die Regel bleiben (vgl. Lenz 2003, S. 31 f.; vgl. auch Kon 1979, S. 152 ff.). Breitenbach untersucht Freundschaftsgruppen und -dyaden elf- bis 18-jähriger Mädchen. Sie beschreibt diese Beziehungen als geprägt von Intimität und offener Emotionalität und stellt sie als Räume „gegenseitiger Fürsorge und Unterstützung“ (Breitenbach 2000, S. 305) aber auch als Instanzen sozialer Kontrolle dar (vgl. ebd., S. 308 f.). Breitenbach weist darauf hin, dass Freundinnen für Mädchen und Frauen die wichtigsten Bezugspersonen neben Familie und Partnerschaft darstellen und dass sie in der Jugend von ganz besonderer Bedeutung sind (vgl. ebd., S. 303). In Mädchenfreundschaften sind dabei auch Spaß und Partys wichtige Aspekte (vgl. ebd., S. 306). Die in ihnen herrschende „Verbundenheit und Intimität“ (ebd., S. 305) entsteht vor allem in einer ausgeprägten Gesprächspraxis (vgl. ebd., S. 306). Als ein von intensiver und intimer Kommunikation getragener Erfahrungsraum tragen Mädchenfreundschaften zur Konstruktion von Weiblichkeit in der Adoleszenz bei. „Mädchen definieren ihre Freundschaften als geschlechtsspezifisch, weil sie Mädchen sind und umgekehrt definieren sie sich als ‚weiblich‘ mit Hilfe der Mädchenfreundschaft.“ (ebd., S. 307). Neben der gegenseitigen Beratung und Unterstützung – Breitenbach beschreibt die von ihr untersuchten Beziehungen als „Supervisionsort bei der Konzeption und Durchführung von Liebesbeziehungen“ (ebd., S. 311) und hebt den offenen und pragmatischen Umgang mit Fragen der Sexualität hervor (vgl. ebd., S. 313 ff.) – üben v.a. Freundschaftscliquen auch Kontrolle über ein für angemessen erachtetes weiblichen Verhalten aus. Sie stigmatisieren „negative Standards von Weiblichkeit“ (ebd., S. 308) als „‚Schlampe‘, ‚Intrigantin‘ und ‚typisches Mädchen‘“ (ebd.). Jösting geht der Freundschaftspraxis männlicher Jugendlicher (im Alter von 13 bis 17 Jahren) nach und beschreibt deren Beziehungen als einen wichtigen „Ort und ein wichtiges Mittel zur Konstruktion von jugendlicher Männlichkeit“ (Jösting 2005, S. 313). Als maßgebliche Aspekte stellt sie sportliche Aktivitäten der Jungen als „körperreflexive Praxis“ (ebd., S. 264) im geschlechtshomogenen Kollektiv dar, sie zeigt auf, wie technische Interessen (Computer, Traktoren, eigene Musikproduktion) eine auf eine spezifische Vorstellung von Männlichkeit ausgerichtete Sozialität stiften und berufliche Entwürfe anstoßen (vgl. ebd., S. 268 ff.) und sie diskutiert die Reproduktion
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FREUNDSCHAFT, INTERSUBJEKTIVITÄT UND ERFAHRUNG
von traditionalen heterosexuellen Paarbeziehungsvorstellungen in Jungenfreundschaften (vgl. ebd., S. 290 ff.). Valtin und Fatke (1997) untersuchen in einem Vergleich von Ost- und Westberliner Erwachsenenfreundschaften und Liebesbeziehungen die Beziehungskonzepte und die Qualität der Beziehungen. Ein wichtiger Aspekt, den sie herausarbeiten, ist der Grad der „Personalisierung“ (ebd., S. 142) dieser Beziehungen. Neben Korrelationen mit den unterschiedlichen Sozialisationserfahrungen der befragten Frauen und Männer stellen die beiden Autoren auch Geschlechterunterschiede fest. Sie fassen zusammen: „Frauen stellen im Vergleich zu Männern höhere Ansprüche an Bindung, Intimität, Selbstenthüllung und emotionale Unterstützung in ihren Freundschaftsbeziehungen.“ (ebd., S. 183). Daraus leiten sie eine „deutlich höher[e]“ (ebd.) „Intensität…der Beziehung“ (ebd.) für Frauenfreundschaften ab. Insgesamt zeichnet sich eine geschlechtsspezifische Entwicklung von Freundschaftspraxen ab. Eine für den Zusammenhang von Freundschaft und Geschlecht elementare Beobachtung bringt Wright auf den Punkt. Er hält fest, dass Freundschaften unter Frauen von einem relativ hohen Maß an Intimität im Hinblick auf emotionale Offenheit und den Austausch über persönlich relevante Fragen geprägt sind, während Freundschaften unter Männern sich dagegen häufig auf gemeinsame Aktivitäten konzentrieren. Er fasst zusammen, dass sich Frauen in ihren Freundschaften „face-to-face“ aufeinander beziehen und Männer „side-by-side“ zusammen sind (Wright 1982, S. 8). Dieser Befund findet häufige Bestätigung in der Literatur (vgl. z.B. Winstead 1986, S. 81 ff.; Maccoby 1990, S. 516 f.; Auhagen 1993, S. 220 ff.; Kolip 1994, S. 23 f.; Valtin/Fatke 1997, S. 141). Zu diesem Vergleich von Frauen- und Männerfreundschaften und zu den möglichen Folgerungen, die er zulässt, finden sich Differenzierungen. Relativierende Beobachtungen, nicht in Bezug auf die grundsätzlichen Unterschiede der Beziehungsmuster, aber hinsichtlich deren Effekte auf die erlebte Intimität und Intensität freundschaftlicher Beziehungen, tragen Wagner und Alisch zusammen (vgl. Wagner/Alisch 2006, S. 52 ff.). Auch Jamieson hält fest, dass „…die häufig gemachte Behauptung, Freundschaften von Frauen und Mädchen seien dyadischer und intimer als die von Männern und Jungen, gleichermaßen als eine grobe Vereinfachung und auch als Ergebnis des Geschlechter- und Machtverhältnisses sowie als Folge des relativen Ausschlusses der Mädchen von der öffentlichen Sphäre und deren Verunglimpfung durch Jungen…“ (Jamieson 2003, S. 292) zu pauschal ist. Stiehler wendet sich offen gegen eine Tendenz, Männerfreundschaften als „eine Beziehung zweiter Klasse“ (Stiehler 2003, S. 207) zu werten. Er weist darauf hin, dass sich Intimität zwischen männlichen Freunden auch in „differenzierten Formen von Selbstoffenbarung“ (ebd., S. 223) entwickelt und zeigt. Ferner bedarf es Stiehler zufolge auch bezüglich der Emotionalität in Männerfreundschaften 26
FREUNDSCHAFT: ZUM STAND DER FORSCHUNG
„…eines nuancierten Blicks, um die bestehende emotionale Nähe zwischen Freunden deutlich erkennbar und fassbar zu machen…“ (ebd.). Dies u.a. deshalb, weil auch das kognitive Verstehen des Freundes einen Raum emotionaler Selbstöffnung und Zuwendung eröffnet (vgl. ebd., S. 224). Eine detaillierte Analyse der Überschneidungen der Diskurse zu Gender und Freundschaft ist nicht Aufgabe dieser Arbeit, es erscheint jedoch sinnvoll festzuhalten, dass beide Komplexe sozialer Konstruktion unterliegen. Männer- und Frauenfreundschaften sind nicht einfach so, wie sie sind, weil sie von Frauen und Männern geführt werden; sie sind selbst Teil eines komplexen Zusammenhangs der sozialen Konstruktion von Geschlecht. Paradigmatisch fragt in diesem Sinn Breitenbach: „Wie strukturiert das Geschlecht Beziehungen und wie wird innerhalb von Beziehungen und durch Beziehungen das Geschlecht konstruiert?“ (Breitenbach 2000, S. 8). Damit geht einher, dass die jeweiligen Freundschaftspraxen ohne Aufmerksamkeit dafür, wie sie geschlechtsspezifisch erlebt und erfahren werden, nicht sinnvoll verglichen werden können. Freundschaft verweist in ihren Strukturmerkmalen selbst auf die Möglichkeit und Praktikabilität egalitärer Differenz (zum Konzept egalitärer Differenz vgl. Prengel 1993, S. 181 ff.). Der wissenschaftliche Umgang mit ihr kann sich davon inspirieren lassen.
Freundschaft und Sexualität Freundschaften werden tendenziell als nicht sexuelle Beziehungen beschrieben (vgl. u.a. Auhagen 1993, S. 219 f.; Eichler 1999, S. 231). Zum Verhältnis von Freundschaft und Sexualität liegen dabei nicht viele empirische Untersuchungen vor. Mönkemeyer und Nordhoff (1990) beschreiben gemischtgeschlechtliche Freundschaften und zeigen, dass in diesen Beziehungen Sexualität explizit ausgeschlossen wird (durch Vereinbarungen oder als Reaktion auf entsprechende Erfahrungen in der Beziehung) oder dass die Sublimierung sexueller Attraktion ein wichtiges Moment der Beziehung darstellt. Auhagen stellt mit Verweis auf eine eigene Untersuchung „zur unterschwelligen Sexualität in gegengeschlechtlichen Freundschaften“ (Auhagen 1997, S. 16) fest, dass viele der von ihr Befragten „…sich durch den gegengeschlechtlichen Freund oder die gegengeschlechtliche Freundin in ihrer Attraktivität als Frau oder Mann bestätigt sehen.“ (ebd.). Neben der peripheren Lage dieses Aspekts in der Forschung finden sich bei Freud und Foucault prominente theoretische Überlegungen zum Zusammenhang von Sexualität und Freundschaft. Freud versteht freundschaftliche Zuneigung als „zielgehemmte“ (Freud 2000, S. 66) Sexualität. Grundsätzlich sind für ihn alle persönlichen Beziehungen libidinös unterlegt. Kulturelle Standards legitimieren sexuelles Begehren und sexuelle Praktiken allerdings nur für die (monogame) heterosexuelle Paarbeziehung. „Die spätere Hetero27
FREUNDSCHAFT, INTERSUBJEKTIVITÄT UND ERFAHRUNG
sexualität des Erwachsenen ist also das Produkt einer normgerecht durchlaufenen psychosexuellen Entwicklung, in deren Verlauf die bei jedem Menschen anzunehmenden homosexuellen Strebungen einer anderen Verwendung zugeführt werden.“ (Nitzschke 1988, S. 303). In der Auffassung Freuds haben wir uns im Fall der Freundschaft angewöhnt, den Verzicht zu lieben, d.h., dass wir den Anderen auch lieben, wenn er uns entzogen ist; wir erwarten (und wollen) nicht, dass der Freund unserem sexuellen Begehren zur Verfügung steht. „Die zielgehemmte Liebe war eben ursprünglich vollsinnliche Liebe und ist es im Unbewussten des Menschen noch immer. Beide, vollsinnliche und zielgehemmte Liebe, greifen über die Familie hinaus und stellen neue Bindungen an bisher Fremde her. Die genitale Liebe führt zu neuen Familienbildungen, die zielgehemmte zu ‚Freundschaften‘, welche kulturell wichtig werden, weil sie manchen Beschränkungen der genitalen Liebe, z.B. deren Ausschließlichkeit, entgehen.“ (Freud 2000, S. 66). Foucault greift in der Diskussion homosexueller Lebensweisen auf die Freundschaft als Modell zurück. Seine Bezugnahme auf Freundschaft als Feld, in dem man neue Beziehungen erfinden und gestalten kann, findet auf der Basis einer fundamentalen Gesellschaftsanalyse statt. Foucault entwickelt einen Begriff von Macht, der diese nicht als einen quasi gegenständlichen Besitz beschreibt, über den wenige verfügen, sondern als ein soziales Geschehen, in dem alle, Herrscher und Beherrschte, auf eine komplexe Weise Zugehörigkeiten, Identitäten und Statuslagen in einem sozialen System erzeugen. „Dieser Apparat muss ein Verhalten fabrizieren, das die Individuen charakterisiert, er muss einen Nexus von Gewohnheiten schaffen, wodurch sich die soziale Zugehörigkeit der der Individuen zu einer Gesellschaft bestimmt. Mit anderen Worten, dieser Apparat fabriziert so etwas wie die Norm.“ (Foucault 2001, S. 52). Dieses Disziplinierungsgeschehen ist allerdings nicht nur gegen die Individuen gerichtet zu verstehen. Foucault sieht die Subjekte in der Lage, die Machtstrukturen, in denen sie sich befinden, mit zu gestalten. Er geht von homosexuellen Beziehungen unter Männern8 aus, für deren Gestaltung es gerade aufgrund ihrer Tabuisierung keine gesellschaftlichen Vorgaben gibt, und plädiert dafür, dieses Normvakuum als Freiraum zu nutzen. „Die Sexualität sollte dazu gebraucht werden, freie, schöpferische Lebensweisen zu erfinden; insofern entwickelt sich das Problem der Homosexualität zu einem Problem der Freundschaft.“ (Guerrero Ortega 1995, S. 897). Über die Gestaltung ihrer (Macht-)Beziehungen können sich die Subjekte in der Umgehung gesellschaftlicher Vorgaben neue Möglichkeiten eröffnen, um „…die Vielfalt möglicher Lebens-Formen zu testen, zu experimentieren…“ (ebd., S. 894). Es 8
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Auch wenn die Überlegungen Foucaults v.a. um homosexuelle Beziehungen unter Männern kreisen, lassen sie sich durchaus auch auf Beziehungen unter Frauen oder heterosexuelle Beziehungen übertragen (vgl. Guerrero Ortega 1995, S. 900 und 1997, S. 235).
FREUNDSCHAFT: ZUM STAND DER FORSCHUNG
geht darum, „… innerhalb der Machtbeziehungen mit einem Minimum an Herrschaft zu spielen, eine intensive und bewegliche Beziehungsform zu entwerfen, die es nicht gestattet, Machtbeziehungen zu Herrschaftszuständen werden zu lassen.“ (ebd., S. 899). Foucault macht die Freundschaft damit als ein soziales Paradigma aus. „Eine Lebensweise kann von Individuen geteilt werden, die sich in Bezug auf Alter, Status und soziale Tätigkeit unterscheiden. Sie kann zu intensiven Beziehungen führen, die keiner institutionalisierten Beziehung gleichen. Und eine Lebensweise kann, glaube ich, zu einer Kultur und einer Ethik führen.“ (Foucault 1984, S. 89). Freundschaft und Sexualität sind für Foucault also nicht nur vereinbar, sie sind auf einander bezogene Felder, deren Potentiale in ihrem je individuellen Zusammenspiel liegen.
Freundschaft und Interkulturalität Im Folgenden geht es um zwei Perspektiven auf die kulturelle Bedingtheit von Freundschaft. Es werden Befunde über unterschiedliche und ähnliche Konzepte von Freundschaft in verschiedenen Kulturen angeführt und es wird ein Blick auf die in jüngerer Zeit einsetzende Forschung zu interethnischen bzw. interkulturellen Freundschaften geworfen. Krappmann berichtet von weitgehenden Übereinstimmungen in Bezug auf die Entwicklung des Freundschaftsverständnisses von Kindern aus verschiedenen, meist westlichen Gesellschaften9 (vgl. Krappmann 1996, S. 25). Er hält fest: „…children and adolescents growing up in different cultures construct a similar concept of a mutual and trustful relationship called friendship.“ (ebd., S. 26). Innerhalb dieser grundlegenden Kongruenz treten allerdings durchaus Unterschiede auf. So ist z.B. die Freiwilligkeit und Freiheit des Eingehens und der Gestaltung von Freundschaften in ritualisierten Formen (z.B. der Blutsbrüderschaft) eingeschränkt (vgl. ebd., S. 27). Cohen (1966) macht in einem Überblick über ethnographische Studien verschiedene kulturübergreifende Ausprägungen von Freundschaften aus und argumentiert, dass in Abhängigkeit von der jeweiligen Struktur einer Gesellschaft dort jeweils eine dieser Formen dominiert10 (vgl. Cohen 1966, S. 382). Diese These hält Krappmann für unzureichend; er stellt fest: „All … types can be found in Western societies.“ (Krappmann 1996, S. 29). Und er plädiert für eine erhöhte Aufmerksamkeit für die Diversität freundschaftlicher Beziehun9
Krappmann bezieht sich dabei auf Untersuchungen, die in den USA, Kanada, Schottland, Island, Deutschland und China durchgeführt wurden. 10 Cohen unterscheidet folgende Typen von Freundschaften: (a) ritualisiert (i.O.: „inalienable friendship“ (Cohen 1966, S. 352)), (b) eng, aber nicht ritualisiert (i.O.: close friendship“ (ebd., S. 353) , (c) Gelegenheitsfreundschaften (i.O.: „casual friendship“ (ebd.)) und (d) Zweckfreundschaften (i.O.: „expedient friendship“ (ebd.)). 29
FREUNDSCHAFT, INTERSUBJEKTIVITÄT UND ERFAHRUNG
gen (vgl. ebd.). Dabei stellt vor allem die soziale Lage einen Faktor dar, der Freundschaften hinsichtlich ihrer Funktionen und Ausprägungen beeinflusst (vgl. ebd., S. 30 ff.). Brains ethnographische Untersuchung (1978) führt die Vielfalt freundschaftlicher Beziehungsformen vor Augen. U.a. beleuchtet er das Verhältnis zwischen Freundschaft und Verwandtschaft. So genießt die Freundschaft bei den Bangwa in Kamerun hohe Wertschätzung, weil sie eine magieresistente Beziehung ist; anders als bei verwandtschaftlichen Beziehungen gibt es in Freundschaften kein Risiko der Übertragung von Zauberei (vgl. ebd., S. 43 f.). Auch zum Zusammenhang von Geschlechterrolle und Freundschaft trägt Brain eine interessante Beobachtung bei: Freundschaft fungiert bei den Bangwa nicht nur nach dem Muster eines sozial vorherrschenden Geschlechterverhaltens, sondern auch als Legitimation eines davon abweichenden Verhaltens. Zwischengeschlechtliche Freundschaften bei den Bangwa ermöglichen ein eher gleichberechtigtes Verhalten zwischen Frauen und Männern, das es dort sonst kaum gibt (vgl. ebd., S. 67). Insgesamt macht Brain deutlich – und das ist ein wichtiger Befund, aus dem auch die Auseinandersetzung mit Freundschaften innerhalb des eigenen Kulturkreises eine entsprechende Unvoreingenommenheit entwickeln kann –, dass, obwohl Freundschaften in so gut wie allen Gesellschaften beobachtet werden können, ihre konkrete Ausgestaltung und ihre Bedeutung höchst unterschiedlich sein können. Keller und Gummerum (2003) untersuchen „Vorstellungen über Beziehungen und moralische Urteile im Kulturvergleich“ (ebd., S. 102). In der Analyse von mit chinesischen und isländischen Kindern und Jugendlichen geführten Interviews gehen sie der Frage nach, ob die kulturellen Bedingungen bestimmter Gesellschaften sich auf Beziehungsvorstellungen auswirken. Im Einzelnen zeigen sie, dass chinesische Kinder und Jugendliche freundschaftliches Verhalten oft mit gesellschaftlichen Aspekten (z.B. internationaler Politik oder Handelsbeziehungen) verknüpfen (vgl. ebd., S. 112) und dass sie häufiger als ihre isländischen Altersgenossen Freundschaft als einen Ort der gegenseitigen Korrektur beschreiben (vgl. ebd.). Insgesamt halten sie – mit einigen Differenzierungen – fest, dass „Forschungen, die zwischen individualistischen und kollektivistischen Gesellschaften unterschieden haben“ (ebd., S. 116) zu bestätigen sind, weil sich „… eine theoriekonsistente altruistische Orientierung der chinesischen Heranwachsenden gegenüber einer eher auf Eigeninteresse gerichteten Orientierung der isländischen Heranwachsenden“ (ebd.) beobachten lässt. Diese Ergebnisse bestätigt Keller andernorts: „… Chinese participants emphasized the moral qualities of close friendship and the connection of friendship and society more than Western participants did and were more altruistic... Western participants focused predominantly on interaction qualities and promise-keeping and, in particular, in late adolescence on relationship intimacy.” (Keller 2004; vgl. hierzu auch Keller 2003). 30
FREUNDSCHAFT: ZUM STAND DER FORSCHUNG
Freundschaft ist nicht nur Thema kulturvergleichender Betrachtungen, es wird auch untersucht, wie in multikulturellen Gesellschaften freundschaftliche Beziehungen zwischen Menschen verschiedener Herkunft entstehen und welche Gesichtspunkte dabei von Bedeutung sind. So fragt Reinders (2004a) nach den Entstehungskontexten interethnischer Freundschaften bei Hauptschülern.11 Diese Frage entfaltet er in drei Stufen: „…es gibt Gründe, warum sich Jugendliche an bestimmte Orte begeben (moving), dort Leute treffen (meeting) und mit diesen Freundschaften eingehen (mating).“ (ebd., S. 125). Für das moving, das Reinders als Sozialraumorientierung spezifiziert, ist das Verhältnis zu den Eltern von Bedeutung: betreiben diese ein intensives „FreizeitMonitoring“ (ebd., S. 126), kann das interethnische Kontakte der Jugendlichen hemmen. Entwickeln die Jugendlichen jedoch eine relative „Distanz zur Erwachsenengeneration“ (ebd.) können solche Kontakte leichter entstehen. Ein generationales Konzept der Gruppenzugehörigkeit (‚Wir sind Jugendliche.‘) kann zudem ein ethnisches Konzept (‚Wir sind Türken.‘/‚Wir sind Deutsche.‘) überlagern (vgl. ebd., S. 126 f.). Auf der Ebene des meeting sind Status-Ähnlichkeiten und „eine gewisse kulturelle Offenheit der Jugendlichen im Sinne einer geringeren Distanz zu andersethnischen Peers“ (vgl. ebd., S. 127 f.) wichtige Faktoren für das Eingehen interethnischer Kontakte. Für das mating sind dann die Häufigkeit und Regelmäßigkeit der Kontakte und das Vorhandensein gemeinsamer Interessen grundlegende Vorraussetzungen (vgl. ebd., S. 128). Reinders und Mangold (2005) berichten von einer insgesamt noch dünnen Forschungslage in Bezug auf den Vergleich zwischen intra- und interethnischen Freundschaften (vgl. ebd., S. 145). Als eines der Ergebnisse eigener Untersuchungen halten sie fest, „…dass einmal etablierte interethnische Freundschaften die gleiche Qualität wie intraethnische Beziehungen aufweisen, und dass ethnische Homogenität als Entstehungsbedingung nicht überbewertet werden darf.“ (ebd., S. 153; vgl. dazu auch Reinders/Greb/Grimm 2006, S. 52). Dies erfährt allerdings eine wichtige Einschränkung: „Insbesondere Mädchen nicht-deutscher Herkunft besitzen im Vergleich zu allen anderen Gruppen eine geringere Wahrscheinlichkeit einer interethnischen Freundschaft.“ (ebd., S. 148). In diesem Zusammenhang entwickelt Reinders (2004b) das Konzept der „Ko-Kulturation“ (ebd., S. 183). Damit bezieht er sich auf Prozesse, in denen Gleichaltrige gemeinsam eigene kulturelle und generationale Werte entwickeln (vgl. ebd.). Mit Blick auf interethnische Freundschaften bedeutet dies, dass „…kulturspezifische Werte nicht aufgrund vermeintlicher Minder- oder Mehrwertigkeit soziale Valenz erhalten, sondern 11 In der an baden-württembergischen Hauptschulen durchgeführten Untersuchung geben 36,5 % der deutschen und 40,7 % der türkischen Jugendlichen an, dass sie Freunde auch außerhalb der eigenen Gruppe haben (vgl. Reinders 2004, S. 132; die Ergebnisse sind nicht geschlechtsspezifisch ausgewiesen). 31
FREUNDSCHAFT, INTERSUBJEKTIVITÄT UND ERFAHRUNG
auf Grund der von den Interaktionspartnern ausgehandelten Bedeutung für den Erhalt der eigenen Beziehung.“ (ebd.; vgl. dazu Reinders/Mangold/Greb 2005, S. 141 ff.; Reinders 2006, S. 10; Reinders/Greb/Grimm 2006, S. 43). Insofern kann der andere kulturelle Hintergrund des Freundes zu einem tragenden Motiv der Beziehung werden. Strohmeier, Nestler und Spiel (2006) zeigen in ihrer Fragbogenuntersuchung an vier Wiener Grundschulen einen differenzierten Zusammenhang von kultureller Herkunft und Freundeswahl auf, der v.a. in Bezug auf die Wahl der besten Freundin/des besten Freundes aufschlussreich ist.12 Sie weisen darauf hin, dass eine Tendenz zur Homophilie in der Freundeswahl zwar beobachtet werden kann, dass sie aber bei besonders bedeutsam gewerteten Beziehungen nicht allzu deutlich ausgeprägt ist. Reinders, Greb und Grimm (2006) zeigen in einer Längsschnittstudie, dass „…es die Jugendlichen mit einer stabil interethnischen Freundschaft [sind], die eine höhere Sozialraumorientierung als Jugendliche mit stabil intraethnischer Beziehung aufweisen.“ (ebd., S. 48). Und sie beobachten dass Jugendliche, die interethnische Freundschaften pflegen, eine besondere kulturelle Offenheit zeigen bzw. dass interethnische Freundschaften die Öffnung gegenüber Menschen anderer kultureller Herkunft verstärken (vgl. ebd., S. 50 f.). Reinders, Mangold und Greb (2005) argumentieren ähnlich, verweisen aber auch darauf, dass Art und Intensität der freundschaftlichen Beziehung wichtig für die Verstärkung kultureller Offenheit sind (vgl. ebd., S. 151). Als Konsequenz halten sie fest, dass es im Interesse einer demokratischen Gesellschaft sein muss, „… diese Prozesse der Ko-Kulturation nachhaltig zu unterstützen und auf breiter Basis zu fördern. Nicht durch artifizielle Begegnungsprogramme zwischen Minoritäten und Majoritäten, sondern durch die Schaffung von offen gehaltenen Räumen (wie Jugendzentren oder -clubs), die Jugendliche sich aneignen und gemäß den eigenen Bedürfnissen gestalten können.“ (ebd., S. 156).
12 Die Freunde von Kindern mit deutscher Muttersprache sind zu 76% muttersprachlich deutsch, die Freunde von Kindern mit türkischer Muttersprache sind zu 56% muttersprachlich türkisch und die Freunde von Kindern aus dem ehemaligen Jugoslawien sind zu 50% aus diesem Sprachraum. Die Herkunft der besten Freunde entspricht in etwa dieser Verteilung: bei deutschen Kindern sind es 73%, bei türkischen Kindern 62%, bei Kindern aus dem ehemaligen Jugoslawien 48%. Insgesamt weist der beste Freund/die beste Freundin zu 55% die gleiche kulturelle Herkunft auf (vgl. Strohmeier, Nestler und Spiel 2006, S. 31 ff.). 32
FREUNDSCHAFT: ZUM STAND DER FORSCHUNG
Freundschaft und Entwicklung Einen prominenten Status in der Freundschaftsforschung haben entwicklungspsychologische Ansätze. Der Beitrag von Selman (1984) ist in diesem Zusammenhang von grundlegender Bedeutung. Selman greift auf Mead und Piaget zurück und erarbeitet ein Stufenmodell der Entwicklung des sozialen Verstehens bei Kindern und Jugendlichen. Es geht ihm in entwicklungspsychologischer Tradition darum, „… eine invariante Sequenz kognitiv begründeter Stufen, d.h. qualitativ verschiedener Modi, einen bestimmten Erfahrungsbereich zu organisieren und zu verstehen, zu erstellen.“13 (ebd., S. 32). Der Bereich, den Selman untersucht, ist die Perspektivenübernahme. Dabei bezieht er sich auch auf die Sozialpsychologie Meads, der mit play und game zwei Stadien des sozialen Verstehens unterscheidet, die sich auf konkrete Andere beziehen.14 An diese Stadien schließt die Perspektive des generalisierten Anderen an. „Dieser generalisierte Andere repräsentiert die abstrakte normative bzw. gesellschaftliche Perspektive; sie erfordert den Erwerb eines Begriffes des sozialen Konsens und der sozialen Norm.“ (Selman 1984, S. 33; vgl. Mead 2002, S. 194 ff.). Über Interviews zu Dilemmageschichten beschreibt Selman zunächst fünf Niveaustufen zur Entwicklung der Perspektivenübernahme (vgl. Selman 1984, S. 50 ff.).15 Dieses Modell verwendet er dann als „Instrument zur Analyse interpersonalen Verstehens, d.h. sozialer Vorstellungen und Konzepte“ (ebd., S. 65). Als entsprechende Bereiche wählt er aus: „‚Individuum‘, ‚Freundschaft‘, ‚Gleichaltrigengruppe‘ und ‚Eltern-Kind-Beziehungen‘“ (ebd.). Über die Untersuchung verschiedener Themen aus diesen Bereichen16 erstellt er dann detaillierte Stufenbeschreibungen zur Entwicklung der Konzepte für diese Bereiche. Für den Bereich Freundschaft kann Selman so eindrucksvoll beschreiben, wie aus einem Konzept von Freundschaft, das diese Beziehung als „momentane physische Interaktion“ (ebd. S. 152) fokussiert 13 Selman hält im Anschluss an Piaget vier Bedingungen für Stufenmodelle fest: „… (a) dass sich Entwicklungsstufen in qualitativer Hinsicht von einander unterscheiden; (b) dass diese Stufen eine invariante Entwicklungssequenz bilden; (c) dass verschiedene Stufensysteme ein strukturiertes Ganzes bilden; und (d) dass die Stufen hierarchisch geordnet sind.“ (Selman 1984, S. 70; zu Selmans differenzierter Kritik an Stufenmodellen vgl. ebd., S. 77 ff.). 14 Zunächst übernimmt das Kind in Rollenspielen (play) die Position ihm bekannter Personen und ahmt deren Handlungen nach. Im organisierten Wettspiel (game) werden dann die Verhaltensweisen und Funktionen nicht mehr nur einer Person, sondern sämtlicher Beteiligter koordiniert. Dies geschieht nicht mehr auf einer praktischen, sondern auf einer mentalen Ebene (vgl. Mead 2002, S. 194 ff.; Selman 1984, S. 33). 15 Hier bezieht sich Selman auch auf Kohlbergs Modell der Moralentwicklung. 16 Bei ‚Freundschaft‘ sind das: „1. Entstehung … 2. Nähe … 3. Vertrauen … 4. Eifersucht … 5. Konfliktlösung … 6. Beendigung…“ (Selman 1984, S. 83). 33
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und von einseitigen Intentionen getragen ist, über die Entwicklung einer reziproken Sichtweise ein Verständnis erwächst, bei dem sich die freundschaftliche Beziehung als dritte Perspektive neben der der beiden Freunde etabliert.17 Vor allem dieser Aspekt, die Entstehung einer eigenen Ordnung, die über die eigene Sichtweise hinaus geht und doch auch mit dieser verknüpft bleibt, ist auch von großer bildungstheoretischer Bedeutung. Er verweist auf die Verschränkung von Subjekt und Sozialität im Modus einer originären Inter-Subjektivität, die beide Freunde gemeinsam konstituieren. Im Zentrum von Youniss’ Auseinandersetzung mit Freundschaft bei Kindern und Jugendlichen (1982) steht das Konzept der „symmetrischen Reziprozität“ (ebd., S. 79). Für Youniss speist sich Entwicklung nicht nur daraus, dass Kinder sich gegenüber Erwachsenen in ihren Fähigkeiten und Möglichkeiten eingeschränkt wahrnehmen und diese Einschränkungen überwinden wollen, sondern auch aus einer symmetrischen „Ko-Konstruktion“ (ebd., S. 84). Unter befreundeten Kindern und Jugendlichen besteht nicht nur eine allgemeine Symmetrie wie zu anderen Altersgenossen, zwischen ihnen findet auch „Kooperation“ (ebd.), namentlich in der Form von „Kompromiss, Diskussion, Debatte und Verhandlung“ (ebd.) statt. In Freundschaften entwickeln sich so „gegenseitiges Verstehen“ (ebd.), „Solidarität“ (ebd.) und „Vertrautheit“ (ebd., S. 85). Symmetrische Reziprozität als Verhaltensmuster durchläuft dabei eine Entwicklung von der konkreten Entsprechung von Handlungen in einzelnen Situationen (im Verständnis von Sechs- bis Achtjährigen) (vgl. ebd., S. 88 ff.) über ihr Fungieren als „Prinzip“ (ebd., S. 91), das die 17 Im Einzelnen ergeben sich die folgenden Stufen: Stufe 0: Im Alter von drei bis acht Jahren verstehen Kinder „[e]nge Freundschaft als momentane physische Interaktion“ (ebd., S. 153). Freunde sind Spielkameraden, Konflikte werden körperlich ‚gelöst‘. Stufe 1: Im Alter von fünf bis neun haben Kinder ein Konzept von Freundschaft, bei dem die „einseitige Hilfestellung“ (ebd., S. 155) im Vordergrund steht. Zwar unterscheiden Kinder jetzt zwischen den eigenen Intentionen und denen Anderer und sie differenzieren zwischen Intentionen und Handlungen, aber sie können noch nicht die Reziprozität dieser Einsicht handhaben. Ein guter Freund ist demnach jemand, der „gut zu den eigenen Interessen passt“ (ebd., S. 155 f.). Stufe 2: „Freundschaft als Schönwetter-Kooperation“ (ebd., S. 156): Im Alter von sieben bis zwölf lernen Kinder, „die Reziprozität interpersonaler Perspektiven zu erkennen“ (ebd.). Beziehungen werden als solche bedeutsam. Stufe 3: Im Alter von zehn bis fünfzehn entwickelt sich ein Verständnis, in dem „[e]nge Freundschaft als intimer gegenseitiger Austausch“ (ebd., S. 158) erscheint. Über die Reziprozität freundschaftlichen Verhaltens hinaus „…steht nun die Beziehung selbst im Zentrum, und nicht jedes der beiden Subjekte getrennt voneinander.“ (ebd.). Stufe 4: „Enge Freundschaft als Autonomie und Interdependenz“ (ebd., S. 160). Ab einem Alter von etwa zwölf Jahren reift die Einsicht, dass Freundschaften Beziehungen sind, „…die sich ebenso wie Personen entwickeln und verändern können.“ (ebd.). Dazu gehört u.a., Zusammengehörigkeit und Selbständigkeit als legitime Bedürfnisse zu erfahren und zu behandeln (vgl. ebd., S. 160 f.). 34
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Wahrung von Symmetrie auch über längere Zeit eröffnet (bei Neun- bis Elfjährigen), bis zu einem Stadium enger Vertrautheit, in dem Symmetrie durch gegenseitige persönliche Anerkennung hergestellt wird (bei Zwölf- bis 14jährigen) (vgl. ebd., S. 93 f.). Die intensive Gemeinschaft, die in Freundschaften herrscht, führt dazu, dass sich diese Entwicklung v.a. in ihnen vollzieht und nicht allgemein in Peer-Beziehungen (vgl. ebd., S. 96). Die Entwicklung sozialen Verhaltens in freundschaftlichen Beziehungen führt Youniss zu der Einsicht, „…dass das Individuum durch interpersonale Beziehungen konstituiert wird und in ihnen lebt.“ (ebd., S. 98). Diese „Ko-Konstruktion des Selbst“ (ebd., S. 105) in Freundschaften verweist auf einen auch bildungstheoretisch hoch bedeutsamen Zusammenhang von Subjekt und Sozialität. Die Darstellungen von Youniss und Selman, wie auch die von Damon18 erfreuen sich einer breiten Rezeption. So greift z.B. Reinders in seinen Beiträgen zu interkulturellen Freundschaften auf das Konzept der KoKonstruktion von Youniss zurück und entwickelt daraus seinen Begriff der Ko-Kulturation (s.o.). Auch Krappmann (s.u.) bezieht sich auf diesen von Youniss herausgearbeiteten Aspekt.19 Keller greift in ihren kulturvergleichenden Beiträgen zur Freundschaft breit auf die entwicklungspsychologischen Arbeiten von Damon, Selman und Youniss zurück (s.o.) aber auch in ihrer Untersuchung zur Moralentwicklung in Freundschafts- und Familienbeziehungen (1996). Schließlich sind diese Ansätze u.a. auch für Brumlik (1993 und 2002) eine wichtige Referenz.
Freundschaft und Sozialisation Den weiteren Rahmen einer Sichtweise von Freundschaft als einem Ort der Sozialisation bildet ideengeschichtlich der Begriff der Peergroup. Dabei werden der Sozialisation in der Gleichaltrigengruppe Funktionen der Sicherung von Kontinuität gesellschaftlicher Systeme zugeschrieben (vgl. Eisenstadt 1956); zudem werden diese Gruppen als gesonderter Bezirk der Sozialisation in einer für die Moderne typischen Lücke zwischen Familie und Gesellschaft thematisiert (vgl. Tenbruck 1965). Mit konkretem Bezug auf Freundschaften
18 Damon (1984) gibt gute Zusammenfassungen der Untersuchungen von Youniss und Selman und hebt in seinem entwicklungspsychologischen Ansatz noch einmal die enge Verknüpfung der „Konzepte Freundschaft und Gerechtigkeit“ (ebd., S. 161) hervor. Außerdem weist er darauf hin, dass sich die von ihm (wie die von Selman und Youniss) beschriebene Entwicklung des sozialen Verstehens und damit der Auffassung von Freundschaft nicht adäquat als quantitativer Zuwachs – etwa in den Dimensionen von Reziprozität und der Ausrichtung auf Gleichheit – verstehen lässt, sondern dass mit dieser Entwicklung qualitative Veränderungen einhergehen (vgl. ebd., S. 286 ff.). 19 Zum Aspekt der symmetrischen Reziprozität bei Youniss vgl. auch Oerter 2002. 35
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und deren sozialisatorische Funktionen gerät zunächst das Moment der Kompensation bzw. Stabilisierung in den Blick. Tenbruck beschreibt Freundschaft als eine Beziehung, die in einer heterogenen Welt wesentlich zur persönlichen Stabilisierung beiträgt (vgl. Tenbruck 1989, S. 236). Dieses Motiv kehrt in der Freundschaftsforschung oft wieder. Litwak charakterisiert Freundschaft als eine besonders zur Bewältigung der in modernen Gesellschaften hohen Anforderungen an Flexibilität und Mobilität der Individuen geeignete Beziehungsform (vgl. Litwak 1989). Analog beschreibt Auhagen Erwachsenenfreundschaften als Rückzugsraum (vgl. Auhagen 1993). Nötzoldt-Linden (1994 und 1997), die „Freundschaft als nicht-familiale Privatbeziehung“ (Nötzoldt-Linden 1994, S. 212) untersucht, versteht sie als Nische für erwünschte und freiwillige Authentizität und spricht ihr eine Kompensationsfunktion angesichts des Flexibilitäts- und Mobilitätsdrucks in gegenwärtigen Gesellschaften zu (vgl. Nötzoldt-Linden 1997). Daneben gilt die Aufmerksamkeit der Forschung zur Freundschaft auch deren eigenen sozialisierenden Wirkungen. Nötzoldt-Linden argumentiert im Rückgriff auf Meads Konzept der sozialen Konstruktion der Persönlichkeit, dass Freunde, die oft nach ähnlichen Interessen oder Lebenslagen gewählt werden, „die Dynamik unserer Handlungskonformitäten und -zwänge“ (Nötzoldt-Linden 1994, S. 204) vor Augen führen und deren aktive Gestaltung unterstützen. „Am Freund als konkretem Me ist die eigene Identität miterlebbar, überprüfbar und neu interpretierbar.“ (ebd.) Krappmann (1991 und 1994) betont die Besonderheit von Freundschaften gegenüber Peer-Beziehungen. Er stellt zwei Konzepte der Entwicklung innerhalb der Sozialwelt gleichaltriger Kinder dar. Zum einen kann sich soziales Lernen durch Nähe und Gleichheit in der Beziehung als „ko-konstruktiver Weg der Förderung“ (Krappmann 1994, S. 508) einstellen. Andererseits fungiert die Herausforderung durch Verschiedenheit in der Begegnung mit gleichberechtigten, aber kompetenteren Mitgliedern der Altersgruppe auch als „anleitender Weg der Förderung“ (ebd.). Hier bezieht sich Krappmann in sozialisationstheoretischer Perspektive auf die entwicklungspsychologischen Einsichten zur Ko-Konstruktion in Freundschaften als symmetrischreziproken Beziehungen (Youniss; s.o.). Krappmann und Oswald bestätigen in ihrer Studie über den „Alltag der Schulkinder“ (1995) die Bedeutung von Freundschaften als Räume der KoKonstruktion; sie weisen auf die höhere Komplexität freundschaftlicher Aushandlungsprozesse hin, die sich im Vergleich zu denen zwischen nicht bzw. weniger befreundeten Kindern beobachten lässt. Die Frage, „… ob Aushandlungsgegenstände und enge Freundschaft das Verhalten beeinflussen, oder ob es die entwickelteren und vielfältigeren Strategien sind, die andere Aushandlungsgegenstände wählen und stabilere Freundschaften entstehen lassen…“ (Krappmann/Oswald 1995, S. 104) lässt sich dabei nicht entscheiden. „Beide 36
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Vorstellungen über die Richtung des Einflusses erscheinen sinnvoll, und wir nehmen an, dass sie auch beide in der Sozialwelt der gleichaltrigen Kinder wirksam sind.“ (ebd.). Bereits angesprochen wurden die Studien von Breitenbach und Jösting (siehe Freundschaft und Geschlecht). Breitenbach betont im Rekurs auf Hagemann-White den „Begriff der ‚Subjektivität‘“ (Breitenbach 2000, S. 36), um hervorzuheben, dass sich geschlechtsspezifische Sozialisation nicht einfach als gesellschaftliche Attribuierung vollzieht, sondern dass es ein sozial konstruiertes „System der Zweigeschlechtlichkeit“ (ebd., S. 37) gibt, das sich Mädchen und Jungen ihrerseits „aneignen“ (ebd.). In den von ihr untersuchten Mädchenfreundschaften zeigen sich dabei einerseits kommunikative Praxen und Strategien der Fürsorge und Unterstützung; andererseits geht mit den freundschaftlichen Beziehungen unter Mädchen auch die Kontrolle von sozialen Normen einher (s.o.). Analog macht Jösting die Peergroup als wichtige Instanz der Konstruktion von Jugend aus. Dabei „… sind Freundschaften zum einen praktische und orientierende Unterstützungssysteme, die bedeutende Ressourcen für die Subjekte bereitstellen, insbesondere bei der Übung und allmählichen Habitualisierung jugendlicher und geschlechtlicher Darstellungen. Gleichzeitig jedoch sind Gruppen Gleichaltriger Orte sozialer Kontrolle…“ (Jösting 2005, S. 45). Zwei Hauptmotive zeigen sich in der Betrachtung von Freundschaft als Ort der Sozialisation. Zum einen wird ihr als einer Beziehung, die wesentlich persönliche Nähe und Zuneigung mit einschließt, zugeschrieben, dass sie für die Individuen einen Raum bietet, in dem allgemeine soziale Erwartungen zeitweise kaum greifen und der dadurch entlastend und stabilisierend wirken kann.20 Zum andern wird hervorgehoben, dass in Freundschaften persönliche und gegenseitige Erwartungen auf besondere Weise ausgehandelt werden und Interaktionen in einem besonderen Maße thematisiert werden, sodass sie dadurch eine herausgehobene sozialisatorische Bedeutung erhalten. Diese Auffassungen sind nur scheinbar gegenläufig; ihnen liegt das gemeinsame Motiv zugrunde, dass Freundschaften einen besonderen Beziehungsraum entwickeln, der nach außen hin relativ eigenständig ist und im Innern besondere soziale Erfahrungen ermöglicht.
20 Zur Unterscheidung von Freundschaften und familialen Beziehungen in dieser Hinsicht vgl. Beck/Beck-Gernsheim und Nötzoldt-Linden (siehe Freundschaft in der individualisierten Moderne). Auch wenn Krappmann (1994) und Krappmann/Oswald (1995) die besondere Rolle, die Freundschaften im Vergleich zu anderen Peer-Beziehungen spielen, hervorheben, so ist hier anzumerken – und Krappmann tut dies selbst (vgl. Krappmann 1994, S. 503 ff.) –, dass sich Freundschaften nicht unabhängig vom Peer-Status entwickeln. Einen deutlichen Zusammenhang zwischen Freundschaften und Peer-Status beschreibt auch Brendgen (1996). 37
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Zur bildungstheoretischen Perspektive der Untersuchung Ein deutliches Desiderat für die pädagogische Freundschaftsforschung ergibt sich aus dem Fehlen bildungstheoretisch orientierter Untersuchungen zur Freundschaft.21 In den oben zusammengestellten Beiträgen finden sich jedoch einige Aspekte, die eine solche Perspektive als Anregungen aufnehmen kann. Wenn etwa Freundschaft aus sozialisationstheoretischer Sicht zugeschrieben wird, dass die besondere Beachtung, die sozialen Interaktionen und gegenseitigen Erwartungen in ihr zuteil wird, sie zu einem wichtigen Ort sozialen Lernens machen, dann lassen sich daraus auch Anregungen für ein bildungstheoretisches Nachdenken über Freundschaft gewinnen. „Dazu ist es erforderlich, über Subjektivität in der Weise nachzudenken, dass man die Alternative von Bildung zur Autonomie und Sozialisation in reproduktiven gesellschaftlichen Verhältnissen in Bewegung bringt, um übersubjektive Konturierungen und Bedingungen der Individualgenese sichtbar zu machen in der Absicht, nach Bedingungen der Subjektformation von Einzelnen zu suchen.“ (Meyer-Drawe 2000a, S. 39). Es geht um eine Bereicherung des Bildungsbegriffs durch eine erhöhte Aufmerksamkeit für seine sozialen Dimensionen und die Überwindung von Vorstellungen, die Subjekt und Sozialität einander dichotomisch gegenüberstellen (vgl. dazu auch Geulen 1999 und Sting 2004). Auch die in den Untersuchungen zu interethnischen bzw. interkulturellen Freundschaften beobachtete Wertschätzung von kultureller Fremdheit im gemeinschaftlichen Zusammenleben und die kulturelle Offenheit, die sich in diesen Freundschaften entwickelt, sind aus bildungstheoretischer Sicht wichtig. Sie verweisen auf die Frage, ob sich in Freundschaften, die zunächst als konkrete soziale Praxis fungieren, auch soziale Dispositionen entwickeln, die diese Praxis zumindest der Möglichkeit nach überschreiten. Die in den entwicklungspsychologischen Studien festgestellte Entwicklung von Freundschaft zu einer eigenen Ordnung, die wie eine dritte, gemeinsame Perspektive zwischen den Freunden entsteht und in der ko-konstruktive Prozesse möglich werden, macht darauf aufmerksam, dass sich intersubjektive Bildungsprozesse nicht nur nach dialogischem Muster vollziehen können, sondern eben auch auf kokonstruktive, gemeinsame Weise. Und schließlich auch birgt auch die Diskussion um den Zusammenhang von Geschlecht und Freundschaftsqualität wichtige Impulse. Die vorliegende Arbeit kann in ihrer methodischen Anlage keine empirisch gestützten Aussagen zum Geschlechtervergleich machen (siehe Kapitel 2). Aber sie kann die Gespräche unter Freunden auch daraufhin be-
21 Entsprechende Untersuchungen führen auch Alisch/Wagner (2006) in ihrem Forschungsüberblick nicht auf. 38
FREUNDSCHAFT: ZUR BILDUNGSTHEORETISCHEN PERSPEKTIVE DER UNTERSUCHUNG
trachten, welche Bedeutung diese konkreten Gespräche für die Freunde haben.22 Bislang werden Freundschaften aus pädagogischer Perspektive einerseits, das geht aus den dargestellten Untersuchungen hervor, v.a. als eine wichtige Sozialisationsinstanz betrachtet. Hier ist an die Beiträge von Breitenbach (2000) und Jösting (2005), von Krappmann (1991, 1994) sowie Krappmann und Oswald (1995) zu erinnern; zu nennen ist in diesem Zusammenhang auch die Arbeit von Leidinger (2003). Zum andern werden Freundschaften als Orte in den Blick genommen, die spezifische Erfahrungs- und Lernmöglichkeiten bereithalten. So heißt es etwa bei Brumlik: „Eine Theorie der Freundschaft und eine entsprechende Pädagogik der Förderung freundschaftlicher Beziehung zwischen Kindern und Jugendlichen in außerschulischen Gruppen und Klassen kann zugleich ein zentrales Rätsel der politischen Bildung lösen, nämlich die Frage, welche Art der Gemeinschaftsbildung für das Fördern demokratischer Haltungen geeignet ist.“ (Brumlik 2002, S. 252). An anderer Stelle verweist Brumlik auf die Möglichkeit, durch das Erlernen fairen Verhaltens im Rahmen „sportlicher Regelspiele“ (Brumlik 1993, S. 17) konventionelle Haltungen in Bezug auf das Einhalten von Normen zu fördern, was beinhaltet, „…sich auch dann an bestimmte Regeln zu halten, auch dann, wenn dies – egozentrisch gesehen – zum eigenen Nachteil wäre.“ (ebd.). Auf dieser Grundlage können sich dann Freundschaften entwickeln, die ihrerseits auch zu einem „Einüben demokratischer Handlungen“ (ebd., S. 15) führen. Krappmann argumentiert, bezogen auf den positiven Zusammenhang von gegenseitiger Hilfe und schulischem Lernerfolg, ähnlich. Er attestiert Kindern, die in Freundschaften eingebunden sind, „…bessere Bedingungen erfolgreichen Lernens, denn durch die unkomplizierte gegenseitige Hilfe erlangen Kinder leichter jene Informationen, Unterlagen, Rat oder Ideen, die Lernende immer wieder benötigen.“ (Krappmann 1996, S. 310). Für die Beziehungskultur im Klassenzimmer folgert Krappmann: „Diese Befunde ermutigen, soziale Prozesse unter den Kindern, die ohne gezieltere Herausforderung nur mühselig und langsam Entwicklungsschritte hervorbringen, durch das Angebot von Regeln und Verhaltensmustern produktiver einzusetzen.“ (ebd., S. 312). Insgesamt schenkt die pädagogische Theorie Freundschaften allerdings noch eher wenig Aufmerksamkeit. Das kann daran liegen, dass Freundschaften unter Peer-Beziehungen subsumiert werden; es kann aber auch damit zusammenhängen, dass sie jenseits einer sozialisationstheoretischen Betrachtung mit dem Instrumentarium pädagogischer Begriffe nicht leicht zu fassen 22 Ein weiteres Desiderat besteht zudem, das wurde schon mehrfach angemerkt, in der Frage nach der gesellschaftlichen Rahmung von Freundschaft. Diese Frage hier näher zu behandeln würde allerdings den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Der Hinweis auf die Ambivalenz einer vorschnellen Funktionalisierung von Freundschaft muss in diesem Zusammenhang genügen (siehe Anm. 5). 39
FREUNDSCHAFT, INTERSUBJEKTIVITÄT UND ERFAHRUNG
sind. Der Umgang unter Freunden lässt sich nicht ohne weiteres als Erziehung verstehen. Hier spielt u.a. die Differenz (in Bezug auf Wissen, Fertigkeiten, Rollen etc.) zwischen Erziehenden und Erzogenen eine wichtige Rolle, auf der Erziehung immer mit beruht. Auch wenn Freundschaften durchaus offen für Differenz sind, so können freundschaftliche Verhältnisse nicht ohne eine eingehende Analyse der jeweiligen Differenzverhältnisse unter erziehungstheoretischem Gesichtspunkt betrachtet werden. Auch für einen bildungstheoretischen Zugang erscheinen Freundschaften zunächst etwas sperrig. In der Geschichte des Bildungsbegriffs hat sich als ein zentraler Aspekt die Auffassung herausgebildet, dass Bildung wesentlich Selbst-Bildung ist. Diese Tradition betont die Selbstbestimmung des Subjekts, das sich auf dem Wege der Selbsttätigkeit individuell (das impliziert bisweilen entelechische Vorstellungen – aus sich selbst heraus) entwickeln soll. Eine solche Begriffsgeschichte legt den Blick auf individuelle und subjektive Erfahrungen nahe. Prozesse, in denen außerhalb pädagogischer Beziehungen soziale Interaktionen stattfinden, bleiben einem sozialisationstheoretisch orientierten Forschungszugriff überlassen. Gleichwohl sollen in dieser Arbeit Freundschaften in einer bildungstheoretisch geleiteten Perspektive untersucht werden. Das geschieht zum einen in der Erwartung, dass sich auch zwischen Freunden Verhaltensweisen aufzeigen lassen, die als „Aufforderung zur Selbsttätigkeit“ (Mollenhauer 1994, S. 124; vgl. Benner 2001, S. 80 ff.) verstanden werden können. Dieses Interesse greift auf ein Verständnis von Bildungsprozessen zurück, das deren relationale Dimensionen akzentuiert. Das geschieht v.a. aber in der Bezugnahme auf Positionen, die Bildungsprozesse als auch in ihrem Verlauf und nicht nur in ihrem Anlass als soziale bzw. intersubjektive Prozesse beschreiben. Es ist das erkenntnisleitende Interesse dieser Arbeit, zu untersuchen, ob Freundschaft und das Verhalten, das sie ausmacht, als eine spezifische Form von Bildung verstanden werden können; kurz gesagt: es geht darum, was man von der Freundschaft über Bildung lernen kann. Wenn auch bislang keine Untersuchungen zu Freundschaften als Ort intersubjektiver Bildung vorliegen, finden sich bildungstheoretische Grundlagen, an die die hier angestellten Überlegungen anknüpfen. Eine allgemeine Diskussion des Bildungsbegriffs über diese speziellen Bezüge hinaus würde diese Untersuchung allerdings bei weitem überfrachten. Deswegen müssen an dieser Stelle kurze Hinweise genügen. Bildung als dauerhafter Prozess umfasst die gesamte Personwerdung des Menschen. Sie ist nicht auf institutionelle Orte oder eine formelle Realisierung beschränkt, sondern vollzieht sich ebenso außerinstitutionell und informell. Die Aneignung von Wissen und Fähigkeiten und die Entwicklung von Haltungen gehen im Rahmen von Bildungsprozessen aus der Auseinandersetzung mit Kultur hervor. Ein zentraler Aspekt dabei ist die Mitverantwortung des Subjekts für seine Entwicklung; 40
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weder besteht Bildung in der Reproduktion einer ‚objektiven‘ Wirklichkeit noch in einer wie auch immer gedachten ‚Selbstverwirklichung‘ (vgl. dazu u.a. Benner 2001; Heydorn 1979, 1980; Meyer-Drawe 1999; Mollenhauer 1994, 2000; Schäfer 1997; von Hentig 2004).
Geselligkeit In einer Diskussion der Nikomachischen Ethik von Aristoteles rekonstruiert Schleiermacher (1984) drei wesentliche Funktionen von Freundschaft: reziproke Wahrnehmung von Differenz, gegenseitige Verhaltenskritik und Rückspiegelung der je anderen Persönlichkeit. Dabei hat die Freundschaft über die Erfahrung eigener Unvollständigkeit bildende Wirkung (vgl. Oberdorfer 1996). Im „Versuch einer Theorie des geselligen Betragens“ argumentiert Schleiermacher, dass in geselligen Situationen die Einpassung des Einzelnen in die Gemeinschaft sich entlang von „Schicklichkeit“ (Schleiermacher 2000, S. 21) arrangiert und dass „Gewandtheit“ (ebd., S. 26) zur Wahrung der „eigensten Gestalt“ (ebd.) anhält. Diese Balance verdichtet sich in der „Feinheit“ (ebd., S. 30) der geselligen Konversation. Riemer identifiziert in der „Theorie des geselligen Betragens“ das „gesellige Zusammensein als konstitutives Element des Bildungsprozesses“ (Riemer 1989, S. 30). Auch Mollenhauer versteht Schleiermachers Schrift nicht nur als „Interaktionsanalyse“ (Mollenhauer 1985a, S. 206), sondern auch als den Entwurf einer Bildungstheorie (vgl. ebd., S. 207). Auch von Bollnow (1988) liegt eine Betrachtung der Geselligkeit vor. Zwar grenzt Bollnow diese einerseits von der Freundschaft ab, schließt Nähen zu ihr aber auch nicht aus. Er verortet das gesellige Gespräch „irgendwo in der Mitte zwischen … Freundesgespräch und dem verantwortungslosen Gerede“ (Bollnow 1988, S. 71 f.). Das Gespräch als Medium der Geselligkeit ist nach Bollnow maßgeblich getragen vom „Interesse“ (ebd., S. 72). Mit diesem Gestus bricht es verfestigte Wissensbestände der an ihm Beteiligten für Neues auf (vgl. ebd., S. 75). Nicht zuletzt fördert es in seiner spielerischen Art noch nicht zur „begrifflichen Fixierung“ (ebd.) gereifte Gehalte zutage. Sting greift mit Kant, Herder und Schleiermacher drei historische Positionen der Bildungstheorie auf und vergleicht sie im Hinblick auf ihre Auffassungen zur Geselligkeit. Während bei Kant die Dialektik zwischen dem Konzept eines autonomen Vernunftgebrauchs des Einzelnen und der Korrektur von möglichen Egozentrismen durch sozialen Austausch zentral ist (vgl. Sting 2002a, S. 46 f.), lässt sich bei Herder ein „organologisches Gemeinschaftsverständnis“ (ebd., S. 47) ausmachen (vgl. hierzu auch Müller 1998, S. 13 ff.). Da Herder das Denken an seinen sprachlichen Vollzug gebunden begreift, gibt es für ihn auch kein vollständig autonomes Denken. Als eine zentrale Gemeinschaftsform, in der sich mit der Sprache auch spezifische Bedeutun41
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gen und Denkweisen entwickeln, fungiert dabei die Familie (vgl. Sting 2002a, S. 47). Bei Schleiermacher schließlich steht das Moment der Erfahrung von Differenz (zwischen verschiedenen sozialen Zugehörigkeiten sowie zwischen eigenen und fremden Intentionen und Anorderungen) im Mittelpunkt (vgl. ebd., S. 48 f.). Diesen theoriegeschichtlichen Hintergrund entwickelt Sting an anderer Stelle weiter und beleuchtet die „Geselligkeitsdimension von Bildung“ (Sting 2002b, S. 385). Er weist darauf hin, dass Selbstbildung „immer auch Suche nach sozialer Anerkennung“ (ebd., S. 386) einschließt und dass sich entsprechende Bildungsprozesse v.a. informell vollziehen. Pädagogischer Praxis stellen sich damit Aufgaben „…in der subjektiv passenden Initiierung von Bildungsprozessen durch die Ermöglichung neuer Erfahrungshorizonte und den Anstoß zu Selbstreflexionsprozessen…“ (ebd., S. 388). Dies hat maßgeblich soziale Dimensionen, weil „…derartige Bildungsprozesse neben der kognitiv-sprachlichen Ebene auch eine körperbezogene Bildung der habituellen Praktiken und die sozial-emotionale Beziehungsgestaltung umfassen.“ (ebd.). Geselligkeit ist für Sting insofern „… mehr als Interaktion: Es geht um die Einbindung in gemeinschaftliche Kontexte und in Prozesse der Gruppenbildung…“ (Sting 2004, 139). Damit wird ein Aspekt relevant, der für die Untersuchung intersubjektiver Bildungsprozesse von großer Bedeutung ist: Sozialität und Subjektivität sind keine klar von einander abzugrenzenden Sphären; sie überschneiden sich, weil „Formen des Umgangs in der inneren Form des Subjekts interiorisiert werden…“ (ebd., 140).23 Auf dieser Grundlage macht Sting „Koheränzerzeugung“ (ebd., 144) und „Differenzbearbeitung“ (ebd.) als Pole sozialer Bildung aus, die in ihrem jeweiligen Verhältnis konkrete Bildungsgelegenheiten und -prozesse ausmachen.
Atmosphäre Bollnow untersucht einen weiteren Aspekt, der für eine bildungstheoretische Betrachtung der Freundschaft richtungweisend ist. Mit dem Begriff der „pädagogischen Atmosphäre“ versucht er, die für erzieherische Verhältnisse wichtigen, szientifisch nur schwer zu greifenden „gefühlsmäßigen zwischenmenschlichen Voraussetzungen der Erziehung“ – so der Untertitel der Arbeit – zu beschreiben. Es ist von zentraler Bedeutung, dass Bollnow damit eine 23 Bei Elias kommt ein ähnlicher Gedanke in einem eindrücklichen Bild zum Ausdruck: „Man stellt sich die Beziehung zwischen Menschen heute oft genug ähnlich vor wie eine Beziehung zwischen Billardkugeln: Sie stoßen zusammen und rollen wieder voneinander fort. Sie üben, so sagt man, eine ‚Wechselwirkung‘ aufeinander aus. Aber die Figur, die bei der Begegnung von Menschen entsteht, die ‚Verflechtungserscheinungen‘, sie sind etwas anderes als eine solche ‚Wechselwirkung‘ von Substanzen, als ein rein additives Zu- und Auseinander.“ (Elias 1984, S. 44). 42
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Dimension von Bildung ausmacht, die „unseren herkömmlichen Auffassungen von Innen und Außen“ (Schubert 2004a, S. 109) nicht entspricht. Die Atmosphäre ist weder nur in den Subjekten, die in einer pädagogischen Beziehung zueinander stehen, noch ist sie nur zwischen ihnen, geschweige denn, dass sie sich einseitig erzeugen ließe. Aus der spezifischen Haltung zueinander und der gegenseitigen Zuwendung geht eine umfassende „Gestimmtheit und Abgestimmtheit des einen auf den andern“ (Bollnow 1970, S. 12) hervor. Dieser Gedanke ist hier weniger in Bezug auf die Betrachtung der verschiedenen Aspekte und Motive von Belang, die Bollnow dann für die Perspektiven des Kindes und des Erziehers vornimmt, und die in ihrem Zusammenspiel eine je spezifische pädagogische Atmosphäre ausmachen. Vielmehr verweist das Konzept der pädagogischen Atmosphäre grundsätzlich auf die Möglichkeit, dass soziale Akteure gemeinsam einen Erfahrungsraum erzeugen können, in dem sich Bildungsprozesse vollziehen, die nicht eindeutig einem Subjekt zuzuordnen sind, sondern die sowohl subjektiv als auch intersubjektiv verortet werden können. Schaller greift den Begriff der pädagogischen Atmosphäre auf und gibt zu bedenken, wie die Subjekte verfasst sind, die in gemeinsamen Situationen (pädagogisch) interagieren. „Unser Ich ist … zunächst konstituiert von Erfahrungsvollzügen, die wir als leiblich mit anderen Menschen in einer konkreten Situation zusammenlebende Menschen machen – präreflexiv.“ (Schaller 1985, S. 235) Insofern ist auch Intersubjektivität nicht nur nach dem Schema dialogischer Aktion und Reaktion von souverän rationalen Subjekten zu verstehen. „Inter-Subjektivität geht den Subjekten voraus und umfasst sie zugleich.“ (ebd., S. 236). Dieser Hinweis auf die präreflexiven Dimensionen von Intersubjektivität ist wichtig, macht er doch deutlich, dass Intersubjektivität sich nicht nur als mittelbarer Dialog vollzieht, sondern dass Sozialität aufbauend auf dieser grundlegenden Dimension immer auch Prozesse „gemeinsamer Bildung sozialen Sinns“ (ebd., S. 238) mit einschließt.
Leiblichkeit und Sozialität Schallers Ausführungen zur pädagogischen Atmosphäre greifen Theoreme einer phänomenologisch orientierten Pädagogik auf, die die leibliche und soziale Bedingtheit von Subjekten herausstellt. Im Rekurs auf Merleau-Pontys Begriff der „Zwischenleiblichkeit“ (Meyer-Drawe 2001, S. 29) diskutiert Meyer-Drawe Leiblichkeit und Sozialität als Grundbedingungen unserer Existenz und erörtert die vielfältigen Verflechtungen zwischen Leiblichkeit, Bewusstsein, Subjektivität und Intersubjektivität. Dabei geht es einerseits darum, wie diese Dimensionen kindliche Entwicklung ermöglichen und bedingen, andererseits darum, dass sie auf Dauer unaufhebbare Anteile unseres Seins bleiben. Insofern ist menschliche Subjektivität nicht als die souveräne Per43
FREUNDSCHAFT, INTERSUBJEKTIVITÄT UND ERFAHRUNG
spektive eines autonomen und rationalen Subjekts zu begreifen, sondern als „Formation“ (Meyer-Drawe 2000a, S. 44) in der sich verschiedene (rationale und leibliche) Modi des Zur-Welt-Seins verknüpfen. In diesem Sinn spricht Meyer-Drawe auch von „ontologischer Ambiguität“ (Meyer-Drawe 2001, S. 148). Da der Leib immer an unserem Verhältnis zur Welt teilhat, verknüpft er uns mit konkreten Situationen, in denen wir nicht alleine, sondern mit Dingen und Anderen sind. Dadurch verflechten sich im Medium des Leibes unser spezifisches Subjekt-Sein mit einer intersubjektiven Gemeinschaftlichkeit. Bildung ist vor diesem Hintergrund immer als ein leiblich und sozial bedingter Prozess zu verstehen.24
Performativität Die Leibgebundenheit von Bildung verweist auf eine weitere wichtige Perspektive. Weil Bildungsprozesse nicht auf die Sphäre der Rationalität beschränkt sind, ist es wichtig, die Beteiligung des Leibes (im Wahrnehmen, Sprechen, Handeln) an ihnen mit zu beachten. Dementsprechend ist Bildung auch als Prozess zu begreifen, der nicht nur über Reflexion wirksam wird, sondern der sich auch im praktischen Vollzug entwickelt. Bildung ist in dieser Hinsicht ein performatives Geschehen. Die Ursprünge des Begriffs der Performativität liegen in der Sprachphilosophie. Austin und Searle fassen sprachliche Äußerungen als „Sprechakte“ auf, d.h. als mit den Äußerungen vollzogene Handlungen (vgl. Bohle/König 2001). Das Gelingen eines Sprechaktes – z.B. eines Versprechens, mit dem nicht nur eine Aussage gemacht wird, sondern auch eine Übereinkunft hergestellt wird – verlangt, dass ein Sprecher „…den Hörer dazu bringt, seine Absicht, diese Wirkung zu erzielen, zu erkennen…“ (Searle 2002, S. 100); dies wiederum beruht darauf, „…dass der lexikalische und syntaktische Charakter des geäußerten Satzes konventionell mit dem Hervorrufen einer solchen Wirkung verbunden ist.“ (ebd.). Ein Versprechen funktioniert demnach dadurch, dass seine Äußerung als Übernahme der Verpflichtung zu einer versprochenen Handlung gilt. Derrida begreift Performativität nicht nur als Funktionsweise spezifischer Sprechakte, sondern legt sie der Sprache insgesamt zugrunde. Für ihn sind Sprechen und Sprache beständige Wiederholung; eine Wiederholung, die aber nicht nur bloße Kopien hervorbringt, sondern auch Erneuerung bewirkt. Dies ist verdichtet in Derridas Begriff der „différance“ (Derrida 1999, S. 31). Hierin fallen „Temporisation“ (ebd., S. 36) – als Mechanismus etwa des rhetori-
24 Dieser Aspekt – Leiblichkeit und Sozialität als Dimensionen von Bildung – wird eingehend im Abschnitt Freundschaft als Körperschaft entfaltet. Insofern bleiben die Ausführungen dazu hier kurz. 44
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schen Umwegs oder der symbolischen Repräsentation (hierbei steht eines für ein noch nicht vorhandenes anderes) – und „Verräumlichung“ (ebd.) – als Distanz zwischen Signifikant und Signifikat (dabei steht eines hier für ein anderes dort) – zusammen als „Zeit-Werden des Raumes und Raum-Werden der Zeit“ (ebd.). Über die wechselseitige Interferenz dieser Dimensionen eröffnet sich ein Raum, in dem Sprache und Sprechen nicht auf feststehende Bedeutungen fixiert sind, sondern Neues erzeugen. Neben einer sprachphilosophischen Tradition, die Sprechen als Handeln versteht, betonen ethnologische und soziologische Theorien zur Performativität deren soziale Dimensionen. Carlson zeigt, wie Turner im Rekurs auf van Genneps Ritualtheorie einen besonderen Modus der sozialen Reflexivität entwickelt. Während Übergangsrituale in vormodernen Gesellschaften zwar eine Schwellenphase erzeugen, in der soziale Normen suspendiert sind, letztlich aber über die Wiedereingliederung der Initianden der Aufrechterhaltung sozialer Strukturen dienen, lassen sich in modernen Gesellschaften soziale Praxen beobachten, die eine andere, offenere Art der Liminalität schaffen. „… Turner … argues that the concept of leisure itself is one that arises with modern industrial society, which clearly divides human activity into periods of work and non-work. The activities of the non-working, leisure periods, play activities, are precisely those that Turner characterizes as liminoid.“ (Carlson 1996, S. 25). In solchen Aktivitäten – im Sport, im Spiel, in der Kunst – zeigt sich im Rahmen eines spielerischen Verhaltens eine Art praktische Reflexion sozialer Präskripte: „ Liminoid … activities mark sites where conventional structure is no longer honored, but being more playful, more open to chance, they are also much more exploring different structures that may develop into real alternatives to the status quo.“ (ebd., S. 24). Goffman, der soziales Verhalten mit den Metaphern der Bühne und der Rolle beschreibt, hebt die Beziehung zwischen einzelnen Akteuren und ihrer sozialen Umgebung hervor. Dabei muss den Akteuren die Rollenförmigkeit ihres Verhaltens, also die Anpassung an soziale Verhaltenserwartungen, nicht bewusst sein, wie es die aus dem Bereich des Theaters entlehnten Metaphern nahe legen. Zentral ist für Goffman das Verhältnis zwischen Handelnden und sozialem Kontext. Carlson fasst diesen Aspekt zusammen: „… performance … is based upon a relationship between a performer and an audience.“ (ebd., S. 38). Auch in der Ästhetik spielt Performativität eine wichtige Rolle. Für Fischer-Lichte (2004) besteht sie wesentlich in einem Handeln, das nicht auf festgelegte Zwecke, sondern auf seinen eigenen Vollzug ausgerichtet ist. Für das bildungstheoretische Interesse dieser Arbeit sind dabei im Einzelnen v.a. zwei Motive wichtig. Zum einen arbeitet Fischer-Lichte heraus, dass performative Ereignisse „…die Herstellung einer Gemeinschaft von Akteuren und Zuschauern, basierend auf einer leiblichen Ko-Präsenz…“ (ebd., S. 82) bewirken. Dies geschieht durch „gemeinsames Handeln und Erleben“ (ebd., S. 45
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87) und durch die wechselseitige Wahrnehmung von Akteuren und Publikum und eine sich dadurch einstellende „Feedback-Schleife“ (ebd., S. 100; vgl. dazu auch Fischer-Lichte 2002). Zum andern weist sie darauf hin, dass performatives Handeln sich nicht auf einen abstrahierbaren (unabhängig von der Handlung bestehenden) Sinn bezieht. Vielmehr bringen performative Akte Sinn hervor, der in ihnen präsent ist; sie führen zur Emergenz von Bedeutung. Dem liegt ein Verständnis von Rezeption zugrunde, das diese als konstruktive und nicht nur passive Leistung begreift: „Bewusste Wahrnehmung erzeugt immer Bedeutung…“ (Fischer-Lichte 2004, S. 246). Damit sind subjektive Erkenntnisprozesse angesprochen, die sich wesentlich habituell-assoziativ und insofern jenseits „von einem intentional vollzogenen Deutungs- und Interpretationsprozess“ (ebd., S. 248) vollziehen. Diese praktisch erfahrene Bedeutung macht die Offenheit der Subjekte im Modus der Performativität deutlich. „Das Subjekt erfährt sich in den von ihm selbst vollzogenen Prozessen der Bedeutungserzeugung sowohl aktiv als auch passiv, weder als ein autonomes Subjekt noch auch als unbegreiflichen Mächten ausgeliefert.“ (ebd., S. 269). In der bildungstheoretischen Diskussion der Performativität werden v.a. die Momente des Nicht-Intentionalen und der praktischen Hervorbringung von Sinn erörtert. Göhlich hält es für wichtig, „…das Performative nicht als Vollzug einer Handlung, eines Aktes, sondern … als Vollzug einer Praxis oder, um das Prozessuale noch deutlicher hervorzuheben, als ‚praktisches Vollziehen‘ zu verstehen.“ (Göhlich 2001, S. 30 f.). Damit wird das Handeln selbst zur Sinnstruktur: „Relevant ist hier nicht, was beabsichtigt ist, sondern was geschieht und wie es geschieht.“ (ebd., S. 31). Dieses praktisch-sinnhafte Agieren hat immer eine somatische Ebene, es ereignet sich stets als „körperliches Aufführen“ (ebd., S. 32). Performatives Handeln geht dabei nicht in begrifflich-sprachlichem Ausdruck auf, es umfasst wesentlich auch nichtsprachliches körperliches Handeln. In dieser Dimension ist es nicht als Träger von Bedeutung zu verstehen, es macht vielmehr Sinn; dieser praktische Sinn performativen Handelns knüpft an vorausgegangene Handlungen an. Insofern lässt sich das Performative als „präzisierendes Selbstdeuten“ (ebd., S. 34) beschreiben. Daraus geht auch hervor, dass im Modus des Performativen Sinn intersubjektiv gleichsam hin und her gespielt werden kann oder gemeinsam erzeugt werden kann. Aus dieser Warte erscheint Performativität als „kommunikatives Wirken“ (ebd., S. 35). Diese Aspekte (‚praktisches Vollziehen‘, ‚körperliches Aufführen‘, ‚präzisierendes Selbstdeuten‘, ‚kommunikatives Wirken‘) schlägt Göhlich als Aufmerksamkeitsrichtungen erziehungswissenschaftlicher Forschung vor. Zirfas (2001) stellt im Bezug auf Derrida als eine wichtige Eigenschaft performativen Handelns heraus, dass es auch in seiner mimetischen Grundstruktur nicht in einer bloßen Reproduktion von vorgängigen Handlungsmus46
FREUNDSCHAFT: ZUR BILDUNGSTHEORETISCHEN PERSPEKTIVE DER UNTERSUCHUNG
tern aufgeht, sondern immer auch zur Veränderung dieser Muster führt. Daraus leitet sich für Zirfas ab, dass in pädagogischen Vollzügen stets ein Bruch zwischen Intention und Wirkung gegeben ist, weil mit den entsprechenden Handlungen die Emergenz eines unvorhersehbaren neuen Sinns einhergeht (vgl. ebd., S. 80 f.). Wo die Pädagogik dies nicht mit bedenkt, wo sie ihre Performativität verdrängt, gerät sie in die Gefahr, in „totale Gesten“ (ebd., S. 81) zu verfallen. Der Aspekt der Veränderung ist auch im Hinblick auf den Begriff der Bildung wichtig. Weil Bildung, für die „die Bildungstheorie Humboldts [den] für die Moderne fundamentalen Begriff der Selbstbildung formuliert hat“ (ebd., S. 85), auf Veränderung – und damit auf die „Notwendigkeit des irreduziblen Anderen für die Selbstbildung“ (ebd.) – angewiesen ist, damit sie nicht in leere Redundanz abgleitet, lässt sie sich nicht als Selbstverwirklichung oder Selbstfindung verstehen. „Bildung wird insofern nicht mehr als Rückkehr aus der Entfremdung … sondern als Überschreitung des eigenen Horizonts auf den anderen hin beschrieben werden können.“ (ebd., S. 86 f.).
Biographie Noch ein Aspekt ist für die bildungstheoretische Ausrichtung dieser Untersuchung von Belang. Die Dimensionen von Geselligkeit, Atmosphäre, Leiblichkeit und Sozialität sowie Performativität sind wichtig für die Entwicklung konkreter bildungsbedeutsamer Erfahrungen. Zwar sind insbesondere Leiblichkeit und Sozialität auch Ebenen, in denen habituelle Dispositionen entstehen und sich reproduzieren, insofern weisen sie über situationsgebundene Erfahrungen hinaus. Die situationsübergreifende Entfaltung von Bildung ist jedoch noch differenzierter einzuholen. Dazu werden zum Abschluss dieses Abschnitts einige biographietheoretische Gesichtspunkte zusammengestellt. Bildung ist ein Prozess, der in der Biographie wirksam wird. In den bislang erläuterten Bezügen nimmt sie ihren Ausgang im Vollzug konkreter Erfahrung – dabei zeigt sich schon im Modus der Erfahrung ihre Zeitlichkeit: Erfahrungen werden gemacht (ausführlicher dazu siehe Dewey als Pate einer sozialen Bildungstheorie), sie stellen sich nicht unmittelbar ein. Zur Bildung gehört jedoch auch, dass sie von spezifischen Erfahrungen ausgehend in neuen Zusammenhängen wirksam werden kann. Darauf weist Meyer-Drawe hin. Im Bezug auf die „… Doppeldeutigkeit unserer leiblichen Existenz, … uns selbst als exzentrische Positionalität vertraut und fremd in eins zu sein…“ (Meyer-Drawe 2000b, S. 154), formuliert sie: „Bildung bedeutet in dieser Perspektive gerade nicht Identitätsfindung, sondern Gestaltung einer unausweichlichen Fremdheit mit uns selbst, also eine konflikthafte Lebensformung unter historischen, gesellschaftlichen, aber auch naturgegebenen Bedingungen.“ (ebd.). Für eine Perspektive, die Bildung als Prozess der Lebensformung begreift, in dem anthropologische Voraussetzungen, konkrete Situatio47
FREUNDSCHAFT, INTERSUBJEKTIVITÄT UND ERFAHRUNG
nen und biographische Entfaltung ineinander greifen, ist es wichtig, diesen Zusammenhängen auch konkret nachzugehen. Dazu lassen sich zwei Fragerichtungen benennen: Wie werden spezifische Erfahrungen biographisch bedeutsam? Und: Wie wird Biographie zum Gegenstand von Erfahrungen? In der erziehungswissenschaftlichen Biographieforschung finden sich dazu wichtige Einlassungen. Schulze entwickelt den Begriff der „biographischen Kompetenz“ (Schulze 1999, S. 39) und beschreibt damit die Leistungen und das Vermögen des Subjekts, aus den gegebenen Lebensumständen eine eigene Lebensgeschichte zu entwickeln und in diesen Umständen das eigene Leben zu führen. Dabei ist das lernende Subjekt „ … sowohl Produkt als auch Produzent seines Lebens und immer ein Teil desselben… Den Zusammenhang von Aus-dem-eigenen-Leben-lernen, Sein-Leben-gestalten und Daseigene-bisherige-Leben-erinnernd-reflektieren nenne ich ‚Biographie als Bildungsprozess‘… und die Fähigkeit, die das biographische Subjekt in diesem Zusammenhang entwickelt, ‚Biographische Kompetenz‘…“ (ebd.). Ein ähnliches Konzept entfaltet Alheit um den Begriff der „Biographizität“ (Alheit 1993, S. 380). Fundamental für diesen Ansatz ist eine Dialektik von „Struktur“ (ebd., S. 349) – den sozialen Präskripten, die Biographieverläufe zu einem gewissen Grad vorbestimmen – und „Emergenz“ (ebd.) – der individuellen Lebensgestaltung. „Biographien lassen sich einerseits als sequentielle Ordnungen gesellschaftlich vorgegebener ‚Muster‘ beschreiben, die nicht beliebig verändert werden können. Hier liegt der Strukturaspekt des Biographischen. … Andererseits lassen sich Biographien nicht erfassen, wenn die Emergenzdimension ignoriert wird, das Eigensinnige, Individuelle im biographischen Prozess.“ (ebd., S. 352 f.). Innerhalb vorgegebener, die individuelle Biographie strukturierender sozialer Ordnungen allerdings das eigene Leben zu führen und es nicht an diese Ordnungen zu verlieren, dazu bedarf es subjektiver Fähigkeiten und Leistungen; die dabei zu bewältigenden Schwierigkeit nehmen zu, weil „…im Zuge von Modernisierungsprozessen … lebensweltliche Sicherheiten und Konventionen…“ (ebd., S. 384) fragil werden. „Notwendig ist deshalb eine Art Schlüsselqualifikation, die als ‚Biographizität‘ bezeichnet werden soll: die Fähigkeit, modernen Wissensbeständen biographische Sinnressourcen anzuschließen, und sich mit diesem Wissen neu zu assoziieren.“ (ebd., S. 387). Insofern geht es nicht darum, jenseits gesellschaftlicher Bedingungen ein davon unberührtes Leben zu führen, sondern mit diesen Bedingungen, die auch in unsere Intentionen und Lebensentwürfe eingehen, auf eine subjektiv sinnvolle Weise umzugehen. Alheit und Dausien formulieren in diesem Zusammenhang: „Biographische Konstruktionen vermitteln uns Sozialität in einer dem Individuum zuhandenen Gestaltbarkeit: sie belegen die Biographizität des Sozialen.“ (Alheit/Dausien 2000, S. 277). Damit greifen soziale Präskripte und individuelle Biographie unauflöslich inein-
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FREUNDSCHAFT: ZUR BILDUNGSTHEORETISCHEN PERSPEKTIVE DER UNTERSUCHUNG
ander. „Biographische Lernprozesse … finden gleichsam am ‚Schnittpunkt‘ zwischen Subjekt und Struktur statt.“ (Alheit 1993, S. 389). Eine sehr skeptische Position entwickelt Bourdieu. Er sieht in der Konstruktion von Biographie als Lebensgeschichte eine Strategie, sich einer sozialen Logik zu beugen, die unser Leben ohne unser Zutun vorstrukturiert. Dabei tragen soziale Kräfte zur „Totalisierung und Vereinheitlichung des Ich“ (Bourdieu 2000a, S. 54) bei, um ein Subjekt zu erzeugen, das in der Lage ist, „…sich einer rhetorischen Illusion zu unterwerfen…“ (ebd., 53) und „…sich zum Ideologen des eigenen Lebens zu machen…“ (ebd., S. 52). Bourdieus Kritik am Medium der Lebensgeschichte greift den gesellschaftlichen Zwang zur Wahrung einer dauerhaften Identität auf (beispielhaft vorgeführt am „Eigennamen“ (ebd., S. 54), der dabei eine zentrale Rolle spielt) und beschreibt auf dieser Grundlage Biographie als eine Illusion, mittels derer sich die Individuen in soziale Strukturen einpassen. „Den Versuch zu unternehmen, ein Leben als eine einzigartige und für sich selbst ausreichende Abfolge aufeinander folgender Ereignisse zu begreifen, ohne andere Bindung als die an ein Subjekt, dessen Konstanz zweifellos in der des Eigennamens besteht, ist beinahe genauso absurd wie zu versuchen, eine Metro-Strecke zu erklären, ohne das Streckennetz in Rechnung zu stellen, also die Matrix der objektiven Beziehungen zwischen den Stationen.“ (ebd., S. 58). Man muss Bourdieus soziologische Skepsis aus bildungstheoretischer Perspektive nicht ganz mitgehen. Bourdieu selbst deutet zumindest eine Art Schlupfloch an, indem er auf Unterschiede zwischen verschiedenen Anlässen, in den Biographie konstruiert wird, hinweist: Zwischen Situationen „offizieller Befragungen“ (ebd., S. 56) und „privaten Austauschformen“ (ebd., S. 57) sieht er eine unterschiedliche „Logik des Vertrauens“ (ebd.). Doch legt seine Skepsis zumindest einige Differenzierungen nahe. Die Konzepte der Biographischen Kompetenz (Schulze) oder der Biographizität (Alheit) gehen von einem reflexiven, gestaltenden Subjekt aus, das seine Lebensgeschichte als Selbstzuschreibung rekonstruiert bzw. entwirft.25 Demgegenüber macht die phänomenologische Bildungstheorie auf die rezeptiven Dimensionen des Subjekts aufmerksam. Diesen theoretischen Bezug greifen Dietrich/Schubert auf und plädieren für eine Erweiterung des Blicks der erziehungswissenschaftlichen Biographieforschung über das „…lebensgeschichtlich Explizite, das worüber wir kulturell seit langem zu erzählen gewohnt sind: Arbeit und Liebe, Krankheit und Kindererziehung, Schule und Gewalt, Politik und Geschlecht etc.“ (Dietrich/Schubert 2002, S. 329) hinaus auch auf Erfahrungsfelder, die „eher zum Impliziten“ (ebd.) zählen. Solche Felder, die ein Stück vom ver-
25 Auch wenn Alheit die Überschneidung von Struktur und Subjekt hervorhebt, so betont er mit der als Kompetenz angelegten Biographizität doch die gestaltenden und verstehend ordnenden Fähigkeiten des Subjekts. 49
FREUNDSCHAFT, INTERSUBJEKTIVITÄT UND ERFAHRUNG
meintlichen Hauptweg des Lebenslaufs entfernt sind, bieten womöglich andere und weniger vorstrukturierte Räume, in denen biographisch bedeutsame Erfahrungen gemacht und rekonstruiert werden können.26 Marotzki (1999) nimmt im Hinblick auf die Formen biographischer Reflexion eine wichtige Unterscheidung vor, die einer grundlegenden Skepsis, wie sie Bourdieu gegenüber einer Bildung in biographischer Dimension formuliert, Zwischenmöglichkeiten entgegenstellt. Marotzki verknüpft die lebensgeschichtlich erinnernde Reflexion mit der Sphäre intersubjektiver Anerkennung und ermöglicht damit eine hier hilfreiche Differenzierung. Als „diachrone Reflexion“ (ebd., S. 63) bezeichnet er die Aufgabe der Subjekte, sich in Auseinandersetzung mit den sozialen oder kulturellen Bedingungen ihres Lebens ihre Lebensgeschichte zu „erzählen“ (ebd.), um sich darüber der eigenen Identität zu vergewissern bzw. diese zu konstruieren – soweit ist er den Ansätzen von Schulze und Alheit recht nahe. Gerade weil es mit einem narrativen Selbst-Entwurf allein den Subjekten aber nicht möglich ist, einer wesentlichen Erfahrung der Gegenwart, dem Fehlen von Gewissheit im Hinblick auf die Sinnhaftigkeit der eigenen Existenz, zu begegnen, weil also „… Subjektivität prinzipiell im Modus der Geworfenheit, der Kontingenz … gegeben ist, … dann muss auch das, was Intersubjektivität bedeutet, neu gedacht werden. … Menschen brauchen nicht nur eine Geschichte, die sie fort- und umschreiben können, sie brauchen auch Anerkennung im Hier und Jetzt.“ (ebd., S. 64). Dieses Bedürfnis, für die eigene Person Bestätigung zu finden, beschreibt Marotzki als „synchrone Reflexion“ (ebd.). Intersubjektivität kann also (gewissermaßen in Umkehrung der Bewegung, in der Bourdieu die Biographie als einen Reflex auf soziale Kräfte sieht) auch zum Medium der Biographie werden – die Gespräche unter Freunden werden als ein solches Erfahrungsfeld im den Blick genommen. Die Dimensionen der Geselligkeit, der Atmosphäre, der Leiblichkeit und Sozialität, der Performativität sowie der Biographie konturieren die bildungstheoretische Perspektive, aus der das in dieser Untersuchung geschieht. Es geht also darum, ob Freunde in ihrem gemeinsamen Verhalten und ihrem Verhalten zueinander in einer gemeinsamen Praxis (im gegenseitigen oder gemeinsamen Erzählen) Erfahrungen entfalten, die nicht in individueller Reflexion aufgehen, in denen subjektiver und intersubjektiver Sinn generiert wird und die darüber den situativen Ausgang der Erfahrungen überschreiten. Es geht, kurz gesagt, darum, ob und wie sich Bildung in der gemeinsamen Tätigkeit Gleichberechtigter vollziehen kann.
26 Natürlich ist der Habitus auch in eher privaten Erfahrungsfeldern wirksam; insofern lässt sich nicht von nicht vorstrukturierten Erfahrungsräumen sprechen, vielleicht aber von Feldern, in denen der Zwang, „zum Ideologen des eigenen Lebens“ (Bourdieu 2000a, S. 52) zu werden, weniger umfassend ist. 50
2 . Zu Me thodologie und Methode
Zum begrifflichen und empirischen I n t e r e s s e d e r Ar b e i t Mit der Wahl einer bildungstheoretischen Perspektive gehen Entscheidungen zur Anlage der Untersuchung einher. Neben dem auf das empirische Material gerichteten Erkenntnisinteresse geht es auch darum – das ist in der Fragestellung am Ende des vorangegangenen Abschnitts bereits angedeutet –, welche Rückbezüge auf bildungstheoretische Positionen die aus dem Material gewonnenen Interpretationen eröffnen bzw. welche Differenzierungen dieser Positionen sie ermöglichen. Die Arbeit verfolgt also ein begriffliches und ein empirisches Interesse. Dabei erklärt sich das empirische Interesse aus einem Desiderat der bisherigen Forschung zu Freundschaften. Die begriffliche Intention der Arbeit, die v.a. in der bildungstheoretischen Diskussion entfaltet wird (siehe Kapitel 5) und sich vom empirischen Bezug zwar nicht löst, aber doch auch über ihn hinausgeht, verlangt indes eine etwas ausführlichere Erläuterung. In seiner Diskussion des Anspruchs und der Bedeutung erziehungswissenschaftlicher Begriffe weist Schäfer (2005) eindringlich auf die Schwierigkeiten hin, die sich für die Erziehungswissenschaft aus einer Trennung der „erziehungsphilosophischen Reflexion … von der empirischen Erziehungswissenschaft“ (Schäfer 2005, S. 14) für beide Komplexe ergeben. Ein Blick, der sich nur auf die pädagogische „Wirksamkeit“ (ebd., S. 11) von Praxis richtet, vernachlässigt die Intentionen und Strategien, in die jede Praxis verwoben ist – ganz zu schweigen davon, dass er sich nicht gegen ideologische, politische, ökonomische etc. Inzwecknahmen verwehrt. Aber auch eine ausschließliche Aufmerksamkeit für das „Rechtfertigungsproblem“ (ebd., S. 9) pädagogischer Konzepte – also eine nur auf begrifflicher Ebene geführte Diskussion – kann keine Auskunft darüber geben, welcher Zusammenhang zwischen Konzepten 51
FREUNDSCHAFT, INTERSUBJEKTIVITÄT UND ERFAHRUNG
und damit verknüpften Absichten einerseits und praktischen Prozessen andererseits besteht. „Eine wissenschaftliche pädagogische Theorie wird, wenn sie diese Frage beantworten will, sich dem Legitimations- wie auch dem Wirkungsproblem stellen müssen.“ (ebd., S. 17). Nun handelt es sich bei Freundschaften nicht um pädagogische Institutionen und auch bei den Gesprächen unter Freunden nicht um eine Praxis, die gemäß einer pädagogischen Intention geführt oder gestaltet wird. Dennoch macht es Sinn, freundschaftliche Gespräche als bildungsbedeutsamen Erfahrungs- und Reflexionsraum in den Blick zu nehmen, auch wenn diese Gespräche ohne explizite Intention der (Selbst-)Bildung geführt werden, sondern einfach nur, weil sie angenehm oder anregend sind. Wenn diese Gesprächspraxis als bildungsrelevante Praxis betrachtet wird, so wird damit ein spezifischer „Scheinwerfer“ (ebd., S. 150) auf sie gerichtet, der bestimmte Aspekte sichtbar macht. Das, was dadurch sichtbar wird, lässt seinerseits Rückschlüsse über die spezifische Art der Belichtung zu. Diese theoretische Ausgangsperspektive greift Überlegungen zur Gestalt eines kritischen Denkens auf. „Das Aufbegehren gegen Herrschaft, die aufgrund ihrer subtilen Institutionalisierungen und ihrer Verlagerungen von körperlicher Tortur zu zivilisierender Disziplinierung immer unsichtbarer und damit undurchschaubarer und damit schließlich auch durchgreifender wird, ist weiterhin Aufgabe kritischen Denkens. Kritisch kann dieses Denken jedoch nur sein, wenn es sich von dieser Infiltration von Herrschaft distanziert und ihr nicht durch bloße Flucht den Weg bereitet oder sie durch theoretische Kopien ratifiziert.“ (Meyer-Drawe 2000a, S. 41). So betont Meyer-Drawe – auch im Rückgriff auf Adorno – die Notwendigkeit der „Respektierung der Ferne der Dinge“ (ebd.) und leitet aus den Intentionen eines kritischen Denkens die Aufgabe der Entwicklung einer entsprechenden Denkform ab. Die pädagogische Bildungstheorie kann dem nicht dadurch nachkommen, dass sie nach dem ‚richtigen‘ theoretischen Konzept sucht, sondern nur dadurch, dass sie immer in Bewegung bleibt. Sie ist „… so gesehen eine Einrichtung, die niemals zu endgültigen Antworten kommt, sondern die das kritische Fragen und die methodischen Antwortversuche in einen endlosen Prozess bringt.“ (Schäfer 2005, S. 21). Hier geht das bildungstheoretische Selbstverständnis der vorliegenden Untersuchung in die Begründung ihrer hermeneutischen Umsetzung über. Denken wird prätentiös, wenn es „… keinen Wert darauf legt, dass es auf Dingen aufruht, die Winke geben.“ (Meyer-Drawe 2000a, S. 42). Um dieser Gefahr zu entgehen, ist der Bezug auf konkrete Erfahrungspraxen wichtig. „Es gilt so … vom Allgemeinen zum Konkreten aufzusteigen – und nicht etwa das Konkrete dem Allgemeinen zu subsumieren (und es beispielsweise auf eine Illustration zu reduzieren). Indem derart so genau wie möglich konstatiert wird, was die Besonderheit ist, fällt ein Licht auf das Allgemeine: nämlich deshalb, weil über die Angabe der Grenze, der spezifischen Bedin52
ZU METHODOLOGIE UND METHODE
gung, auch ‚aufscheint‘, was das Besondere nicht ist…“ (Schiffauer 1991, S. 27). Diese Überlegungen führen zu einer entsprechenden Anlage der Untersuchung: sie geht von begrifflichen Grundlagen aus, um mit der gewonnenen Perspektive eine spezifische Erfahrungspraxis zu betrachten; dies wiederum in der Absicht, die gemachten Beobachtungen und Interpretationen auf die begrifflichen Grundlagen zurück zu beziehen und diese dadurch zu differenzieren.
Z u r B e g r ü n d u n g d e s h e r m e n e u t i s c h e n An s a t z e s Sprache als Praxis Im Folgenden werden sprachtheoretische Grundlagen skizziert, auf die der spezifische hermeneutische Zugang aufbaut, mit dem in dieser Arbeit Gespräche unter Freunden interpretiert werden. Im Einzelnen werden drei Perspektiven auf die Handlungsförmigkeit von Sprache vorgestellt: zunächst eine grundsätzliche Sicht von Sprache als Medium einer Praxis der Verständigung, dann die Theorie der Sprechakte, die sprachliche Äußerungen als Formen intersubjektiven Verhaltens beschreibt, und schließlich Positionen, die auch Verständigung und Verstehen als Praxis beleuchten.
Sprechen als Handeln: Praxis der Verständigung Blumenberg entwirft eine anthropologische Sicht auf ein mittelbares und damit rhetorisches Verhältnis des Menschen zur Welt. Er geht davon aus, dass der Mensch als „Mängelwesen“ (Blumenberg 1986, S. 105), dem die Welt nicht natürlich gegeben und instinktiv evident ist, ihr mit Formen des Verstehens begegnen muss. Auf dieser Grundlage etabliert Blumenberg eine anthropologische Begründung der Rhetorik. „Evidenzmangel und Handlungszwang sind die Voraussetzungen der rhetorischen Situation.“ (ebd., S. 117). Dass man die Welt verstehen muss – und kann –, mag zunächst trivial erscheinen. Es lohnt sich dennoch, diesem Gedanken mit Blumenberg ein wenig weiter nachzugehen. Der Mensch muss dem Mangel an natürlicher Evidenz begegnen, er kann sich in seiner Lebenswelt nicht in einen Schwebezustand der Vorläufigkeit zurückziehen, er muss handeln. „Handeln ist die Kompensation der Unbestimmtheit des Wesens Mensch, und Rhetorik ist die angestrengte Herstellung derjenigen Übereinstimmungen, die anstelle des ‚substantiellen‘ Fundus an Regulationen treten müssen, damit Handeln möglich wird.“ (ebd., S. 108). Sprache ist insofern als ein Medium der „Herstellung von Verständigung“ (ebd.) zu verstehen und nicht als „Mitteilung von Wahrheit“ (ebd.). Eben darin besteht das „Vermögen des Begriffs“ (Ostermann 2002, S. 251), 53
FREUNDSCHAFT, INTERSUBJEKTIVITÄT UND ERFAHRUNG
durch das der Mensch „…das Unbestimmte appellationsfähig [macht und] es in Geschichten verstrickt…“ (ebd.). Ein Verstehen, das sich mit Begriffen hilft, muss dabei nicht zu einer aufherrschenden Ordnung der Welt durch eine instrumentelle Vernunft führen – eine Tendenz, die Horkheimer und Adorno eindrücklich zeigen (vgl. Horkheimer/Adorno 1969, insbesondere S. 9 ff.) –, sondern hat auch die Möglichkeit, „die Durchschlagskraft der instrumentellen Rationalität auf ein menschliches Maß“ (Ostermann 2002, S. 253) einzudämmen, weil es als Mittel der Verständigung ganz wesentlich auch „Umständlichkeit, prozedurale Phantasie“ (Blumenberg 1986, S. 122) beinhaltet.
Miteinander sprechen als Verhalten zueinander Die Sprechakttheorie (auf die schon im Abschnitt Performativität verwiesen wurde) bezieht sich auf diejenigen sprachlichen Akte, „… in denen etwas sagen etwas tun heißt; in denen wir etwas tun, dadurch dass wir etwas sagen oder indem wir etwas sagen.“ (Austin 2002, S. 63; H.i.O.). Searle erklärt das Funktionieren von Sprechakten, die sich als Handlung in der Rede vollziehen wie z.B. etwas versprechen, befehlen, behaupten etc., mit einigen Regeln. Dabei handelt es sich um konstitutive Regeln, die bestimmte Verhaltensformen erst schaffen bzw. festlegen (wie etwa die Spielregeln beim Fußball), nicht um regulative Regeln, die ein schon bestehendes Verhalten leiten (wie etwa die Höflichkeit im zwischenmenschlichen Umgang). Nur unter bestimmten Voraussetzungen kommt zwischen einem Sprecher und einem Hörer ein Sprechakt zustande. Dabei ist zum einen zwischen der performativen Funktion eines Sprechaktes (Ich verspreche...) und dem ihm inneliegenden Gehalt, der Proposition (...X zu tun.), zu unterscheiden. Zum andern ist – wie bereits erwähnt – zu beachten, dass das Gelingen eines Sprechaktes bzw. die performative Sprachhandlung zwischen einem Sprecher und einem Hörer dadurch zustande kommt, dass der eine den anderen „… dazu bringt, seine Absicht, diese Wirkung zu erzielen, zu erkennen…“ (Searle 2002, S. 100). Dabei ist die Kenntlichkeit und damit die Bedeutung der in Rede stehenden Absicht neben einigen grundlegenden Bedingungen27 abhängig davon, dass die z.B. im Versprechen in Aussicht gestellte Handlung einer aufrichtigen Absicht des
27 Diese sind: Erstens, dass der propositionale Gehalt konsistent ist. Versprechen kann man z.B. nur eigene und nur zukünftige Handlungen. Zweitens, dass die in Rede stehende Absicht für den Sprecher und den Hörer gleich zu verstehen ist. Eine versprochene Handlung z.B. muss gewünscht sein; wäre sie befürchtet, wäre ein diesbezügliches Versprechen kein Versprechen, sondern eine Drohung. Und drittens, dass die Funktion der Aussage nicht offensichtlich ist. „Ein glücklich verheirateter Mann, der seiner Frau verspricht, dass er sie nicht in der nächsten Woche schon verlassen wird, wird wahrscheinlich mehr Angst als Trost erzeugen.“ (Searle 2002, S. 98). 54
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Sprechers entspricht bzw. dass dieser die Verantwortung dafür übernimmt, mit dem Versprechen eine bestimmte Absicht einzuräumen. Searle nennt dies die „Aufrichtigkeitsbedingung“ (ebd., S. 99). Dieser Aspekt verweist zusammen mit dem Konzept der Verständigung (Blumenberg) darauf, wie sprachlich geteilte bzw. gemeinsame Bedeutungen zwischen Gesprächspartnern entstehen. Durch sprachliche Äußerungen werden Verantwortungen erzeugt. Oder, um es metaphorisch auszudrücken: Sprechakte bilden Wahrscheinlichkeitsräume, die über diese Äußerungen hinaus bestehen und beiden Gesprächspartnern als gemeinsamer bzw. geteilter Bezug zur Verfügung stehen. Die Sprechakttheorie ist hier einerseits hilfreiche Referenz, weil sie ein Verständnis von Sprechen als Handeln grundsätzlich ermöglicht; andererseits verführt sie zu einer linguistischen Sichtweise, in der unter Umständen mehr nach der Regelhaftigkeit von Sprachhandlungen gefragt wird als nach intersubjektiv-sprachlich vollzogenen bildungsbedeutsamen Erfahrungsprozessen. Ein solches Interesse muss neben der Frage, wie Sprechen als Handeln funktioniert, auch berücksichtigen, wie sprachliches Handeln als performatives Handeln neuen Sinn hervorbringt. Es geht also v.a. auch darum, wie im Gespräch aus der Verständigung über etwas die Emergenz von etwas Neuem werden kann. Hier lohnt ein zweiter Blick auf die Performativität von (Sprach-)Handlungen. Wenn man die Laborbedingungen der Sprechakttheorie verlässt, haben performative Handlungen – auch in sprachlicher Form, weil sie die Bereiche begrifflicher Exaktheit überschreiten, indem sie z.B. mit dem Bezug auf neue Kontexte Gegenstände in einem neuen Licht erscheinen lassen oder indem sie etwas auf eine bestimmte (z.B. semantische oder syntaktische) Art zum Ausdruck bringen – immer ein Surplus an sich. „Diese Mehrdeutigkeit ist keine der Polysemie, sondern der Dissemination.“ (Zirfas 2001, S. 79). Es geht in der performativen Mitteilung um „... Kontexte, die nicht auf einen Sinn reduziert werden können“ (Derrida nach Zirfas, ebd.). Sinn erfährt im Performativen gleichsam eine Streuung. Dieser Streuung liegen grundsätzliche Mechanismen der Kommunikation zugrunde. Das Funktionieren sprachlicher Äußerungen hängt davon ab, dass sie nachvollziehbar sind, dass man sie also wiederholen kann und sie in ihrer Wiederholung Bedeutung beibehalten. In dieser mimetischen Verfasstheit ist aber zugleich die Möglichkeit der Bedeutungsverschiebung angelegt (vgl. Zirfas 2001, S. 80). Insofern ist die Veränderbarkeit des kommunizierten „… Codes … gleichursprünglich mit dessen kommunikationstheoretischen Grundlagen.“ (ebd.; vgl. dazu auch Derrida 1999a und 1999b). Die Praxis des Miteinander-Sprechens ist also nicht nur eine Form des Verhaltens zueinander, sie ist auch ein Ort der Hervorbringung neuer Bedeutung.
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Verständigung und Verstehen als Praxis Bislang sind Aspekte benannt worden, die die Handlungsförmigkeit von Sprache und Sprechen beleuchten. Sprache wird aber nicht nur gesprochen, sondern auch verstanden. Intersubjektive Situationen lassen sich auf die spezifische soziale Ordnung hin, die in ihnen sprachlich erzeugt wird, betrachten. „Wer … in der intersubjektiven Situation eine performative Einstellung einnimmt, geht damit eine intersubjektive Beziehung ein, die an … Verständigung interessiert ist.“ (Göhlich/Zirfas 2001, S. 63.). Sprachliches Verhalten zueinander geht also einher mit dem Interesse am Gelingen einer gemeinsamen kommunikativen Praxis. Die spezifische Form dieser Praxis (die z.B. hierarchisch oder gleichberechtigt sein kann), oder, anders ausgedrückt, wie man miteinander umgeht, wirkt sich maßgeblich darauf aus, welche subjektive Bedeutung einzelne Interaktionen in intersubjektiven Situationen erhalten. In dieser Dimension, im Verstehen bzw. der subjektiven Aneignung von Sinn, ist Performativität zunächst auf einer sehr grundsätzlichen Ebene mit der Diskursivität von Sprache gegeben (vgl. Langer 1965, S. 86 ff.). Darüber hinaus ist beim Verstehen jedoch nicht nur die subjektive Leistung einer semantischen und syntaktischen Rekonstruktion relevant. Verstehen ist nicht nur in der Form der Interpretation, sondern auch im alltäglichen Verstehen immer auch eine subjektive Neuordnung von Bedeutungen. „Verstehen oder Wahrnehmen … ist etwas Aktives. Es ist kein passives Widerspiegeln, sondern vielmehr ein aktives Strukturieren dessen, was wir antreffen.“ (Shusterman 1996, S. 82). Ein methodischer Zugriff auf solche Prozesse fällt schwer, solange sie intrasubjektiv geschehen. Insbesondere ein intersubjektives Verstehen allerdings, das sich auf Sprache bezieht und das sich rückversichern bzw. mitteilen will, wie es im Gespräch der Fall ist, drängt selbst zur Versprachlichung. Diese Art der Interpretation „…hebt charakteristischerweise auf sprachliche Formulierung ab, darauf, einen bedeutungsvollen Ausdruck in einen anderen zu übersetzen.“ (ebd., S. 97). Das Miteinander-Sprechen impliziert insofern das gegenseitige Verstehen als Antwort, als performativen Akt im Sinne eines „präzisierenden Selbstdeutens“ (Göhlich 2001, S. 34).
Freundschaft als Praxis Auch Freundschaft lässt sich als Praxis beschreiben (vgl. Lemke 2000, S. 81 ff.). In Freundschaft: Strukturmerkmale sind einige Aspekte benannt, die die Prozessualität von Freundschaft bedingen (z.B. Vertrauen, Respekt, Zeitlichkeit). Freundschaft ist nicht etwas, das man hat, sondern etwas, das man macht. Dazu finden sich bei Derrida wichtige Hinweise. Derrida greift ein Aristoteleszitat bei Montaigne auf: „O meine Freunde, Freunde gibt es nicht!“ 56
ZU METHODOLOGIE UND METHODE
(Derrida 1999b, S. 179). Ausgehend von diesem scheinbaren Paradoxon wendet er sich gegen ein Verständnis von Freundschaft als Gegebenheit. Für Derrida ist der Akt der Bezeichnung begeleitet von der Übernahme einer Verantwortung (das erinnert an entsprechende Ausführungen Searles zu Sprechakten). Diese Verbindlichkeit wurzelt in einem umfassenden Kräftefeld, das allein schon durch die Begegnung mit dem Anderen entsteht. „Bevor wir auch nur für irgendeine gegebene Bejahung Verantwortung übernommen haben, sind wir bereits in einer Art asymmetrischer Krümmung des sozialen Raums eingefangen, genauer in die Beziehung zum Anderen…“ (ebd., S. 182). Weil die Beziehung zum Anderen „in asymmetrischer Vorhergängigkeit“ (ebd., S. 191) schon da ist, ist die Anrede „O meine Freunde …“ nicht nur Anrede, sondern auch Appell: „Seid meine Freunde, denn ich liebe euch oder werde euch lieben, hört mir zu, seid empfänglich für mein Klagen, versteht und seid verständnisvoll; ich bitte euch um Sympathie und Einverständnis, werdet die Freunde, nach denen ich strebe.“ (ebd., S. 184) Bei diesem Akt der „Bitte“ (ebd.) handelt es sich um einen „… Diskurs nach der Art eines Performativs, der weder wahr noch falsch ist…“ (ebd.). An dieser Stelle löst sich das Paradoxon auf und Freundschaft tritt als das Begehren einer spezifischen Beziehung hervor. Im Zuge des Appells an den Anderen, den gemeinsamen Beziehungsraum in freundschaftlicher Weise zu gestalten, erscheint Freundschaft als dauerhafter Horizont dieser Beziehung, nicht als der Zielort, an den sie verlagert wird. Freundschaft wird damit zu einem gewissen Grad fiktional – zu einer Fiktion, die gleichwohl Wirklichkeit zeitigt. Derrida verschiebt die Freundschaft gleichsam in die Zukunft, beschreibt sie als Zukunftsentwurf. „Wie könnte ich dein Freund sein und dir meine Freundschaft erklären – und letzteres besteht mehr im Lieben als im Geliebtwerden –, wenn Freundschaft nicht etwas bliebe, das erst noch geschieht, noch zu begehren, zu versprechen ist?“ (ebd., S.184 f.). Und noch eindringlicher: „Freundschaft ist niemals etwas Gegenwärtiges; sie gehört zur Erfahrung des Wartens, des Versprechens oder der Verpflichtung. Ihr Diskurs ist der des Gebets, und zur Debatte steht hier das, was die Verantwortlichkeit in die Zukunft öffnet.“ (ebd., S. 185). Insofern ist das freundschaftliche Gespräch nicht als ein Ort zu verstehen, an dem zwar ein Verhältnis zwischen zwei Personen zum Vorschein kommt, das im Übrigen aber vorgängig und übergeordnet ist und das demzufolge das Gespräch gleichsam als Effekt nach sich zieht; die Rede unter Freunden ist vielmehr ein Raum, in dem sich die Gesprächspartner selbst, gemeinsam und gegenseitig als Freunde immer wieder neu hervorbringen. Dieses Verständnis freundschaftlichen Redens und Erzählens dient methodischen Überlegungen zur Materialgewinnung und -interpretation als Orientierung.
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Zum methodischen Vorgehen Zur Erhebung der untersuchten Gespräche Fragen und Beobachten Aus den Vorüberlegungen zu Sprache und Freundschaft als Praxen ergibt sich, dass eine Untersuchung, die sich auf Bildung im Gespräch unter Freunden bezieht, sich nicht darauf beschränken kann, danach zu fragen, was den Freunden ihre Beziehung reflexiv bedeutet; sie muss auch versuchen, diese Beziehung als Praxis zu beobachten. Daraus ergeben sich Anforderungen an die Vorbereitung, Rahmung und Durchführung der Gespräche. Den befreundeten Gesprächspartnern muss Spielraum dafür angeboten werden, sich im Gespräch als Freunde zueinander zu verhalten – sie können dies nicht tun, wenn ihnen die Gesprächsituation eine Rolle als Antwortgeber auf vorgängige Fragen vorschreibt. Ein verbindlicher Fragenkatalog ist also nicht hilfreich. Vielmehr ist während der Gespräche darauf zu achten, eine entsprechende Gesprächssituation herzustellen und zu wahren. Die zu diesem Zweck erforderliche Feinfühligkeit und Flexibilität kann nicht darin bestehen, sich möglichst passiv zu verhalten. Notwendig ist auch eine assoziative Aufmerksamkeit, um im Gespräch aktiv eingreifen zu können (etwa um bestimmte Themen ins Gespräch zu bringen oder um durch ein deutlich nicht formelles Verhalten die Freunde zu einem Degagement zu ermutigen, also dazu, nicht wie in einer offiziellen Befragung zu agieren); diese Aufmerksamkeit ist aber auch dafür erforderlich, sich beizeiten (wenn die Freunde in Sequenzen der freien Unterhaltung untereinander gefunden haben) zurückzuhalten und die Freunde erzählen zu lassen. Die Konkretisierung dieser methodischen Entscheidungen setzt bei einer Skepsis gegen übermäßig standardisierte methodische Verfahren an, weil diesen „… etwas entgeht, was diejenigen Forscher immer gewusst haben, die ihren Gegenstand mit größtem Respekt behandelt haben und einen Blick hatten für die quasi unendlichen Subtilitäten der Strategien, die die gesellschaftlichen Akteure in ihrem gewöhnlichen Alltagsleben anwenden.“ (Bourdieu 1998, S. 779). Um eine Gesprächssituation zu schaffen, in der sich diese Strategien zeigen, ist eine Vorbereitung der aufgezeichneten Gespräche wichtig. Vorgespräche mit den Freundespaaren erfüllen dazu einen doppelten Zweck. Sie dienen der Sammlung von speziellen Sachverhalten zwischen den Freunden (so teilt z.B. ein Freundespaar (Hannes und Roland) eine gemeinsame Vergangenheit in der jugendkulturellen Szene der Teds, bei einem weiteren Freundespaar (Volker und Matthias) leiht sich der eine regelmäßig Schallplatten aus der großen Sammlung des anderen, das dritte Freundespaar (Robert und Jürgen) versucht sich bei Gelegenheit gemeinsam als DJs etc.). Außer58
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dem schaffen die Vorgespräche eine Gesprächssituation, die von Nähe und Vertrauen geprägt ist. Jede Interviewsituation beginnt mit einem „Eindringen und Sicheinmischen“ (ebd., S. 781). Denn es „… ist der Interviewer, der das Spiel beginnt und die Spielregeln bestimmt.“ (ebd.). Es geht also darum, die Gesprächssituation so zu gestalten, dass sich die im Frageinteresse stehenden Gesprächsformen entwickeln können. Die Gesprächspartner können sich darauf nur einlassen, wenn ihnen möglichst wenig fremde Regeln, Formen und Gegenstände vorgeschrieben werden und sie darüber hinaus darauf vertrauen können, dass sie mit ihren Äußerungen nicht Gegenstand einer Übermächtigung durch fremden Sinn werden.
Zur Auswahl der Freundespaare Daran knüpft die Entscheidung an, die Gesprächspartner in einem Umfeld zu suchen (im Kundenkreis eines Schallplattenladens), zu dem es auf Forscherseite selbst persönliche Beziehungen gibt. So „… kann sich der Befragte aufgrund dessen, dass einer am Platz des anderen stehen könnte, davor sicher fühlen, dass seine subjektiven Beweggründe nicht auf objektive Ursachen … reduziert werden. Zweitens ist in diesem Fall außerdem sichergestellt, dass ein unmittelbares und ständig neu bestätigtes Einvernehmen hinsichtlich der Vorverständnisse zu den Inhalten und Formen der Kommunikation besteht.“ (ebd., S. 783). Die Auswahl von männlichen Freundespaaren beruht auf einer ähnlichen Überlegung. Freundschaften, die sich um gemeinsame äußere Aktivitäten formieren, eröffnen über diesen Kontext einem Dritten (zumal männlichen Interviewer) einen Zugang, der für die eher face-to-face-strukturierten Beziehungen von weiblichen Freundespaaren (vgl. Wright 1982; siehe auch Freundschaft und Geschlecht) so nicht zu erwarten ist. Die Auswahl gleichgeschlechtlicher männlicher Freundespaare, bei denen beide Freunde ein ausgeprägtes Interesse für Popmusik haben und dieses Interesse ein gemeinsames Thema der Freundschaft ist, folgt also einem geschlechtsspezifischen Beziehungsmuster, das in der Literatur oft festgestellt wird (s.o.). Als Freunde wurden solche Paare ausgewählt, die sich selbst auch als Freunde bezeichnen. Im Sinne des für diese Arbeit grundlegenden offenen Verständnisses von Freundschaft als einer Beziehungspraxis, die die Freunde selbst gestalten (siehe Zum Stand der Forschung), wurden keine weitergehenden Kriterien in Bezug auf die Art der Freundschaft (etwa die Dauer oder eine subjektiv empfundene Intensität) festgelegt. Auch das Alter der Gesprächspartner ist auf das methodische Vorgehen abgestimmt. Für eine Gesprächssituation, die die Gesprächspartner möglichst wenig hemmt, erscheint eine zu große Altersdistanz unzweckmäßig. Einem erwachsenen Interviewer werden jüngere Freundespaare wohl nur bedingt und mit größerer Vorsicht Einblick in ihr Verhalten untereinander geben. Als Un59
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tergrenze bei der Suche nach Gesprächspartnern waren deswegen 18 bis 20 Jahre angesetzt. Die tatsächliche Altersspanne der Freunde, mit denen Gespräche geführt wurden, erstreckt sich von Mitte zwanzig bis Mitte dreißig. Diese Altersgruppe steht gegenüber Kindern und Jugendlichen weniger im Fokus pädagogischer Forschung. Erziehungs- und entwicklungstheoretisch, z.T. auch aus einer institutionellen Perspektive ist nachvollziehbar, weshalb erziehungswissenschaftliche Forschungsinteressen derart gelagert sind; eine bildungstheoretische Perspektive muss allerdings über eine dominante Ausrichtung auf frühe Lebensphasen hinausgehen. Bildung ist ein lebenslanger Prozess. Insbesondere die biographietheoretische Orientierung dieser Arbeit (siehe Zur bildungstheoretischen Perspektive der Untersuchung) bedingt eine Aufmerksamkeit nicht nur für im Moment des Gesprächs vollzogene Erfahrungsprozesse, sondern auch für die Thematisierung von Biographie in diesen Erfahrungen bzw. für deren Wirksamwerden in den Biographien der Freunde. Das macht eine retrospektiv-erinnernde Anlage der Gespräche notwendig, wozu es förderlich erscheint, dass die Freunde ein gewisses Alter erreicht haben. Als Materialgrundlage dienen der Untersuchung Gespräche mit drei Freundespaaren. Die Art der Gesprächsführung (s.u.) bedingt zwar, dass es nur teilweise zu Phasen der freien Unterhaltung zwischen den Freunden kommt; das vorhandene Material bietet für das Untersuchungsinteresse jedoch mehr als ausreichend Substanz.
Freundschaft und Popmusik Eine Grundüberlegung des methodischen Vorgehens ist es, Freundschaften nicht unmittelbar, also als ‚reines‘ Beziehungsgeschehen zu befragen, sondern durch eine Betrachtung der Auseinandersetzung von Freunden mit einem Gegenstand ihres gemeinsamen Interesses zu versuchen, den gemeinsamen Erfahrungsraum der freundschaftlichen Beziehung beschreibbar zu machen. Über diese indirekte Annäherung kann ein Zugang zur Gestaltung der freundschaftlichen Beziehung durch die Freunde gefunden werden, um diese Beziehung in ihrer Bildungsbedeutsamkeit greifbar zu machen. Allemal werden die Freundespaare über eine thematische Annäherung (die Reflexionen der Freunde über ihre Beziehung nicht ausschließt) davon entlastet, unmittelbar von sich selbst sprechen zu müssen; dieser Zugang gibt ihnen aber die Möglichkeit, trotzdem ihre Freundschaft – über das, was sie trägt, worum sie kreist – zu thematisieren.
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ZU METHODOLOGIE UND METHODE
Die Auswahl von Popmusik28 als Gegenstand des gemeinsamen Interesses beruht auf mehreren Gründen. Auf der Hand liegt die ausgeprägte Präsenz von Popmusik. Forschungspraktisch von Belang ist auch ein eingehendes Interesse für Popmusik auf Forscherseite; die Vertrautheit mit dem Feld macht es leichter, sich als Beobachter sicher zu bewegen und sie signalisiert den Gesprächspartnern ein gemeinsames „Vorverständnis“ (Bourdieu 1998, S. 783; s.o.). Trotz dieser Sachdienlichkeit ist die Auswahl von Popmusik als Fokus der Untersuchung beileibe nicht zwingend. Allerdings verfügt das Erfahrungsfeld Popmusik als funktionales Element im methodischen Zusammenhang der vorliegenden Untersuchung über eine weitere entscheidende Qualität. Musiksoziologische Untersuchungen (Frith 1996 und 1999) und Beiträge zur ästhetischen Bildung (Dietrich/Schubert 2002) belegen konvergent, dass die Rezeption von Popmusik als selbstreflexive Erfahrung verläuft, in der die Subjekte sich nicht nur mit durchlaufenen Musikerlebnissen auseinandersetzen, sondern im Zuge dessen – ob ausdrücklich oder nicht – auch neue Selbstbilder hervorbringen. Dabei spielen die Entwicklung und der Austausch von Urteilen oder auch Erfahrungsbeschreibungen eine tragende Rolle, d.h. die Erfahrung von Popmusik bezieht sich nicht nur auf ein momentanes Erlebnis, sondern entwickelt sich performativ weiter durch die sprachliche Auseinandersetzung, in die sich die Subjekte begeben. Für Frith ist das freundschaftliche Gespräch über Popmusik in diesem Zusammenhang eine paradigmatische Praxis (vgl. Frith 1996, S. 4).
Zum Ablauf der Gespräche Neben der Intention, in einer Atmosphäre von Nähe und Vertrautheit und durch das Vermeiden des „Aufdrängens einer Problematik“ (Bourdieu 1998, S. 782) den Freundespaaren einen annähernd alltäglichen Gesprächsrahmen zu bieten, besteht auch eine bestimmte Frageabsicht (im Hinblick auf die Themen Freundschaft und Popmusik). Dafür werden bei der Materialerhebung Anleihen bei Strategien des problemzentrierten Interviews (vgl. Witzel 1985) gemacht. Eine Reihe von Aspekten ist inhaltlich von großem Interesse und wird in die Gespräche eingebracht, was deren Ablauf auch grob thematisch vorstrukturiert. Dazu zählen v.a. (1.) Entstehung, Dauer und Stationen der Freundschaft, (2.) die Entwicklung einer gemeinsamen bzw. unterschiedlichen ‚Geschmackskarriere‘, (3.) besondere Erfahrungen mit Popmusik und ihr Zusammenhang zur Entwicklung und Gestaltung der freundschaftlichen Beziehung sowie (4.) eine Einschätzung der biographischen Bedeutung von 28 Der Begriff Popmusik ist hier sehr weit gefasst. Er unterstellt weder, dass es sich um ‚Pop‘ (also nicht um Beat, Blues, Punk etc.) handelt, noch dass es um populäre Musik in dem Sinne geht, dass sie allgemein bekannt ist. 61
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Erfahrungen mit populärer Musik und der freundschaftlichen Beziehung. Im Hinblick auf das Interesse an konkreten Erfahrungen mit Popmusik wurden die Freunde in den Vorgesprächen ermuntert, entsprechende Musikbeispiele mitzubringen bzw. vor Ort (die aufgezeichneten Gespräche fanden immer bei einem der Freunde statt) bereit zu halten, um auch ein gemeinsames Musikhören im Rahmen der Gespräche zu ermöglichen. Für ein spezifisches Interesse sieht das problem- bzw. themenzentrierte Interview die „Kommunikationsstrategien … Gesprächseinstieg, allgemeine Sondierungen, spezifische Sondierungen und Ad-hoc-Fragen“ (Witzel 1985, S. 245) vor. Dabei ist für den Gesprächseinstieg – im Vergleich zu der Gestalt und Funktion, die ihm im problemzentrierten Interview zugedacht sind – in Bezug auf das Frageinteresse dieser Arbeit eine Differenzierung notwendig. Für Witzel geht es darum, „… eine narrative Gesprächsstruktur aufzubauen, deren inhaltliche Abfolge und Gliederungspunkte möglichst weitgehend vom Befragten entwickelt werden, d.h. in Inhalt … und Form … der Explikation vom Befragten abhängig gemacht werden.“ (ebd.) Demgegenüber ist im Hinblick auf das Gelingen eines Gespräches von Freunden vor einem Dritten mehr darauf zu achten, dass nicht eine narrative Haltung der Gesprächspartner auf den Forscher hin, sondern eine dialogische Gesprächshaltung der Freunde untereinander entwickelt wird. Dies schließt eine ausdrückliche Aufforderung zur Rede, zu Fragen und Antworten untereinander, zur Selbstgestaltung des Gesprächs ein sowie das Einbringen von Themen, auf die beide jeweils nicht nur für sich und für den Interviewer eingehen können, sondern die von gemeinsamer Bedeutung für die Gesprächspartner sind und darüber deren Austausch untereinander anstoßen können. Die bereits angesprochenen Vorgespräche sind dazu eine wichtige Grundlage. Wieder nahe am themenzentrierten Interview ist die Bezugnahme auf Erfahrungsbeispiele und -konkretisierungen, um einen „Originaltext der Erfahrung [zu] stimulieren“ (ebd., S. 247). Mit dem Bereich der spezifischen Sondierung, wozu im problemzentrierten Interview „Rückspiegelung, Verständnisfrage und Konfrontation“ (ebd.) vorgesehen sind, ist nun ein Punkt auszumachen, an dem die Form des Interviews, der Abfrage – wie viel Antwortspielraum sie auch gewährt – dem Interesse der Arbeit nur mehr bedingt weiterhilft. Weil es auch darum geht, Sequenzen der freien Unterhaltung der Freunde untereinander, des gegenseitigen bzw. gemeinsamen Erzählens zu beobachten und nicht nur Reaktionen und Antworten auf Fragen einzuholen, sind Anregungen in der Feldforschung zu suchen. „Der Forscher muss … versuchen, eine Gesprächssituation herzustellen, in der er möglichst viel erfährt. … Das Ideal wäre, wenn der Forscher den Gesprächspartner, der ja für ihn Experte ist, dazu bringt, ihn als jemanden anzusehen, dem man etwas erzählen und erklären ‚muss‘. Die Rolle des Forschers wird zu der des Zuhörers, dem der andere sich darstellen und öffnen 62
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will.“ (Girtler 2001, S. 162). Witzel schlägt diesbezüglich für das problemzentrierte Interview vor, dem Befragten das Gespräch zunächst einmal als seine Erzählung zu überlassen; darin liegt auch die Anforderung an den Interviewer, sich selbst zurückzunehmen. Ein Interesse, das auch auf das sprachliche Verhalten der Gesprächspartner bezogen ist, muss ein entsprechendes Verhalten fördern; dies kann nicht nur durch einen entsprechenden Impuls und eine anschließende Zurückhaltung geschehen, es bedarf dazu eines spezifischen Engagements im Gespräch. Hier dient das von Girtler entwickelte „ero-epische Gespräch“29 (Girtler 2001) als wichtige Anregung. Dabei nimmt der Forscher selbst teil an einer Unterhaltung, die an alltägliche Gesprächssituationen anknüpft. So kann zweierlei entstehen: die persönliche Nähe als Grundlage eines Gesprächs in beiderseitigem Vertrauen und die Nähe zur Alltagssituation. Das „ero-epische Gespräch“ versucht dabei nicht, Authentizität zu fingieren, es versucht, sich ihr anzunähern; und zwar darüber, dass es seitens des Forschers eine ausdrückliche Offenheit in Bezug auf „…seine Arbeitsweise und seine Interessen [gibt], wobei er darauf achtet, dass in demjenigen, von dem er etwas wissen will, Interessen geweckt werden und dieser schließlich auch selbst zu erzählen beginnt.“ (Girtler 2001, S. 152). Zu dieser Offenlegung der eigenen Interessen gehört auch, während des Gesprächs nicht zum stummen Zuhörer zu werden, sondern selbst so mitzureden, dass sich darüber ein gleichberechtigter Kommunikationsaustausch entwickeln kann. Dies ist wichtig, weil „… erst dadurch das Gespräch aufgelockert wird und aus einem einseitigen Prozess, bei dem der Gesprächspartner von sich aus, ähnlich wie bei einem Psychiater, alles mögliche erzählt, eine echte kommunikative Situation wird, in der auch der Gesprächspartner sich selbst gerne engagiert.“ (Girtler 2001, S. 159). Diese reflektierte Teilnahme an einer paritätischen Kommunikationssituation steht in einer konstruktiven Nähe zu der empathischen Haltung des Forschers im Gespräch, die Bourdieu „aktives und methodisches Zuhören“ (Bourdieu 1998, S. 782) nennt. Dieses Sich-Hineinversetzen in den anderen (vgl. ebd., S. 786) besteht nicht darin, das eigene „… Selbst auf den anderen zu projizieren …“ (ebd.). Vielmehr geht es darum, „… über die Selbstvergessenheit zu einer wahren Konversion des Blickes zu gelangen, den wir unter den gewöhnlichen Umständen des täglichen Lebens auf den anderen richten.“ (ebd., S. 788; H.i.O.). In der besonderen Situation des Interviews provoziert der Forscher die Befragten und hilft ihnen in gewisser Weise zugleich, ihre Belange zur Sprache zu bringen. „Die ‚sokratische‘ Arbeit der Unterstützung beim Zum-Ausdruck-Bringen versucht, Angebote zu machen, ohne etwas
29 „Im Eigenschaftswort ‚ero-episch‘ stecken die altgriechischen Wörter ‚Erotema‘ und ‚Epos‘. ‚Erotema‘ heißt die ‚Frage‘ … ‚Epos‘ bedeutet ‚Erzählung‘ …“ (Girtler 2001, S. 150). 63
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aufzuzwingen, Vorschläge zu formulieren, die manchmal auch explizit als solche präsentiert werden … und darauf ausgerichtet sind, den Äußerungen des Befragten, seinen Zweifeln und seiner Suche nach dem richtigen Ausdruck vielfältige und offene Anschlussmöglichkeiten zu bieten.“ (ebd., S. 792). Hier sind einige Anmerkungen angebracht: Die methodische Anlage der Gespräche zielt darauf ab, Auskunft über freundschaftliches Verhalten zu erhalten, aber eben auch Zeuge dieses Verhaltens zu werden. Trotzdem handelt es sich nicht um ‚teilnehmende Beobachtung‘. Das Anliegen dieser Forschungsweise ist es, durch die eigene Teilhabe am Feld dieses Feld zu verstehen: „… weil Sie im selben Schlamassel wie die anderen stecken, werden Sie auch einfühlsam genug sein, das zu erspüren, worauf sie reagieren.“ (Goffman 1996, S. 263). Als Forscher bei Freunden zu sein und sich persönlich ins Gespräch mit ihnen einzubringen – auch wenn dies in einer vertraulichen Atmosphäre stattfindet –, ändert nicht die Grundkonstellation, dass sie die Freunde sind und der Forscher der Dritte. Die Teilnahme beschränkt sich also gewissermaßen auf ein Rahmengespräch der Unterhaltung zweier Freunde. Die freundschaftliche Beziehung lässt sich nur beobachten. Deutliche Überschneidungen ergeben sich allerdings zu rekonstruktiven Verfahren der Gruppendiskussion, die darauf abzielen, Kommunikationsverläufe in Gruppen in der prozesshaften Entfaltung ihrer „Eigenstrukturiertheit“ (Bohnsack 2000a, S. 380) nachzuzeichnen (vgl. auch Bohnsack 2000b, S. 34 ff. und S. 123 ff.). Dazu gehört, die „Selbstläufigkeit der Diskurse“ (Bohnsack 2000b, S. 34) zu wahren.30 „Die Fragen und Nachfragen der Diskussionsleitung haben primär die Funktion, diese Selbstläufigkeit zu initiieren und zu ermuntern.“ (ebd.). Zur Interpretation werden dann neben für das jeweilige Forschungsinteresse thematisch relevanten Passagen v.a. solche Sequenzen ausgewählt, die eine „hohe interaktive und metaphorische Dichte“ (ebd., S. 35) aufweisen und so eine Rekonstruktion der Kommunikationsprozesse ermöglichen.31 Schließlich ist festzuhalten, dass die skizzierte Gesprächsführung durchaus nicht in Anspruch nimmt, einen Gesprächsverlauf zu erzeugen, der sich 30 Lamnek spricht in diesem Zusammenhang von der „Naturalistizität“ (Lamnek 1998, S. 46) als einem Prinzip der Gruppendiskussion. 31 Trotz dieser Nähen dienen rekonstruktiv angelegte Gruppendiskussionen nach Bohnsack der vorliegenden Untersuchung nur zur Orientierung und werden nicht als Methode übernommen. Dies hängt v.a. damit zusammen, dass es sich bei Gesprächen unter Freunden um ein in stärkerem Maße als privat geltendes Verhalten handelt als das z.B. für das Kommunikationsverhalten in größeren Gleichaltrigengruppen der Fall ist. Und um zu einem solchen eher privaten Verhalten vor Dritten zu ermuntern, erscheinen andere Strategien angebracht als die tendenzielle Zurückhaltung, an der sich die Leitung von Gruppendiskussionen orientiert (vgl. Bohnsack 2000a, S. 380 ff.). 64
ZU METHODOLOGIE UND METHODE
eins zu eins auch in einer Unterhaltung ergeben könnte, bei der die Freunde ganz unter sich sind. Wenigstens anteilig inszeniert die methodische Anlage der Gespräche auch deren Verlauf. Dieses Problem ist aus zwei Richtungen zu relativieren. Zunächst rechtfertigt die Orientierung an Gütekriterien qualitativer Forschung (vgl. Steinke 2000, S. 319 ff.) die Annahme, dass das entsprechende Bias begrenzt ist. Es ist aber auch auf die Performativität der Gespräche zwischen Freunden zu verweisen, die dem Miteinander-Reden als einem Teil des „Freundens“ (Lemke 2000, S. 91) eigen ist. Performative Handlungen – als „praktisches Vollziehen“ (Göhlich 2001, S. 30), als „körperlicher Ausdruck“ (ebd., S. 32) – vollziehen sich zwar situativ, beziehen sich in ihrer mimetischen Anlage aber auch auf entsprechende Handlungsmuster, auf eine „Vorlage“ (ebd., S. 33). Weil es also nicht immer gänzlich neu entwickelt werden muss, ist bei einer entsprechenden Gestaltung der Gesprächssituation durchaus davon auszugehen, dass freundschaftliches Verhalten auch vor einem beobachtenden Dritten möglich ist.
Zur Interpretation der Gespräche Text und Handlung Die praxeologische Perspektive auf Freundschaft insgesamt und das Gespräch unter Freunden insbesondere legen nahe, die Freunde nicht primär nach reflexiven Bedeutungen zu befragen, die sie ihrer Beziehung zuschreiben, sondern v.a. ihr Verhalten zueinander zu beobachten. Die Gespräche mit den Freundespaaren werden allerdings nur als Text transkribiert. Während eine über Tonaufzeichnungen hinausgehende Videographie aus nahe liegenden Gründen nicht durchgeführt wurde (Kameraaufzeichnungen können im Vergleich zu Tonaufnahmen ein deutlich stärkeres Gefühl des Beobachtet-Werdens erzeugen und so die angestrebte Gesprächsatmosphäre unterlaufen), wurde auch auf eine begleitende, detaillierte Beobachtung verzichtet. Zwar gehen stellenweise einzelne Beobachtungen in die Transkription ein (z.B. Handlungen der Freunde, die für das Verständnis der jeweiligen Sequenzen wichtig sind). Eine durchgehende Beobachtung in einer Detailliertheit, die die Gesprächstranskription systematisch ergänzen könnte – also auf der Ebene einzelner Gesprächsäußerungen – wäre jedoch nicht zu leisten gewesen, ohne die eigene Teilhabe am Gespräch (s.o.) zu behindern. In Bezug auf die Interpretation der Gespräche stellt sich also die Aufgabe, den aufgezeichneten Text auch in seiner Handlungsdimension zu erschließen. Ein hermeneutisches Konzept, das die Handlungsförmigkeit von Texten aufgreift und die Interpretation der Gespräche maßgeblich stützt, findet sich bei Paul Ricoeur. Ricoeur geht von zentralen Parallelen zwischen Texten und 65
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Handlungen aus und entwickelt auf dieser Grundlage einen spezifischen hermeneutischen Ansatz. Zunächst weist er auf wesentliche Grundzüge von Sprachereignissen hin, die auch für Texte gelten. Das sind (1.) die zeitliche Fixierung eines Diskurses. Während „… das Sprachsystem virtuell ist und sozusagen außerhalb der Zeit liegt…“ (Ricoeur 1972, S. 153), ist die einzelne sprachliche Äußerung immer zeitlich gebunden. Sie ist (2.) zudem auch immer an ein Subjekt gebunden, wodurch sich zugleich eine Distanz zwischen objektiven Wortbedeutungen und subjektiven Intentionen auftut (vgl. ebd., 254). Sie steht (3.) außerdem stets in einem lebensweltlichen Zusammenhang. Es „…dreht sich der Diskurs immer um etwas Bestimmtes. Er bezieht sich auf eine Welt, die zu beschreiben, auszudrücken oder zu repräsentieren er beansprucht.“ (ebd.). Und schließlich (4.) richtet sich die sprachliche Äußerung immer an einen Anderen, einen Adressaten (vgl. ebd.). Diese vier Momente korrespondieren mit entsprechenden Grundzügen sozialer Handlungen. Zunächst (1.) hat „… das Handlungsereignis … eine ähnliche Dialektik zwischen seinem zeitlichen Status, nämlich als ein in Erscheinung tretendes und wieder entschwindendes Ereignis, und seinem logischen Status…“ (Ricoeur 1972, S. 262 f.); d.h., es selbst ist zwar zeitgebunden, betrachtet man es jedoch als Konstituierung eines bestimmten „Sinn-Gehalts“ (ebd., S. 262), so bleibt etwas quasi-substantielles bestehen: „Wir sagen, dass ein bestimmtes Ereignis seine Spuren in seiner Zeit hinterlassen hat.“ (ebd., S. 263; H.i.O.). Dann besteht (2.) zwischen dem Sinn und der Intention einer Handlung eine ebensolche Dialektik wie zwischen Wortbedeutung und Sprecherintention. Besonders deutlich wird dies in historischen Dimensionen, wenn retrospektiv einzelne Handlungen in einem anderen Zusammenhang gesehen werden als das im Moment ihres Vollzugs möglich war. „Dank der Sedimentierung der sozialen Zeit werden menschliche Taten zu ‚Institutionen‘ in dem Sinn, dass ihre Bedeutung nicht mehr mit den gedanklichen Intentionen der Akteure übereinstimmt.“ (ebd., S. 265). Darüber hinaus konstituieren Handlungen (3.) nicht nur Bedeutung, weil sie in einem bestimmten Zusammenhang geschehen, sondern sie sind ihrerseits auch in der Lage, diesen lebensweltlichen Kontext zu verändern (vgl. ebd., S. 266). Schließlich ermöglichen Handlungen (4.) angesichts der aufgezählten Eigenschaften auch ein Verstehen von außerhalb ihres Ursprungskontexts. Sie stehen „… der praktischen Interpretation durch die gegenwärtige Praxis offen. Menschliches Handeln ist sozusagen jedem zugänglich, der lesen kann.“ (ebd., S. 266 f.; H.i.O.).
Strukturale und inhaltliche Interpretation Aufbauend auf diese Analogie entwirft Ricoeur eine Hermeneutik, die Texte in ihrer Handlungsförmigkeit begreift. Er verwirft den Anspruch, mit der Interpretation in vermeintliche Wirklichkeitsbereiche hinter dem zu verstehen66
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den Ereignis vorzudringen. „Es gibt … nichts Derartiges wie eine Übertragung aus dem einen Wirklichkeitsbereich in einen anderen – sagen wir, aus dem Bereich der ‚Tatsachen‘ in den Bereich der ‚Zeichen‘…es ist derselbe Bereich, innerhalb dessen sich Verstehen und Erklären gegenüberstehen.“ (ebd., S. 268). Ricoeur zeigt zwei Richtungen auf, in denen sich Erklären und Verstehen ergänzen können. Einmal begegnen Texte als „Totalität“ (ebd., S. 270). „Deshalb ist die für Texte als Texte so kennzeichnende ‚Mehrstimmigkeit‘ etwas anderes als die Mehrstimmigkeit der einzelnen Worte der Umgangssprache und die Zweideutigkeit einzelner ihrer Sätze. Diese positive Mehrstimmigkeit ist typisch für den als Ganzes zu betrachtenden Text, und sie steht verschiedenen Lesarten und verschiedenen Sinnkonstruktionen offen.“ (ebd., S. 271). Vor diesem Hintergrund fungiert die Erklärung des Sinngehalts eines Textes als Validierung eines zuvor auf dem Weg des „Hypothesen-Erfindens“ (ebd., S. 269) zustande gekommenen Verständnisses durch die Gegenprobe des Herantragens dieser Deutung an den Text. Das Ergebnis eines solchen Vorgehens der Überprüfung einer subjektiven Lesart am Material kann freilich nur eine begründete Wahrscheinlichkeit, nie endgültige Bestätigung sein. Zudem kann derselbe Text anders erscheinen, „… wenn wir den umgekehrten Weg gehen: vom Erklären zum Verstehen.“ (ebd., S. 275). Ein wenig komplexer beginnt dieses Verfahren mit einer Analyse der immanenten Strukturen eines Textes; d.h. entsprechend der Vorgehensweise einer strukturalistischen Linguistik wird einzelnen Elementen von „Zeichenfolgen“ (ebd., S. 276) und ihrer jeweiligen Konstellation eine bestimmte Funktionalität zugesprochen. Ricoeur weist darauf hin, dass eine derartige Erklärung lediglich formale Beschreibungen von Bedeutungsfunktionen leisten kann, nicht aber die Herstellung eines Sinnzusammenhangs. Doch trotz ihrer Tendenz zu einem „sterilen Spiel“ (ebd., S. 278) dient eine strukturale Erklärung als wichtige „Zwischenstufe“ (ebd.), weil sie einen Ausgangspunkt dafür bereitstellt, von der inneren Struktur eines Textes zu seinem weiteren Zusammenhang zu gelangen. „Einen Text verstehen heißt, seiner Bewegung vom Sinn zum Bezug, von dem, was er sagt, zu dem, wovon er handelt, folgen.“ (ebd., S. 279). Im Sinne der von Ricoeur vorgeschlagenen Ergänzung von strukturaler und inhaltlicher Interpretation werden Sequenzen aus den Gesprächen mit den Freundespaaren nicht nur inhaltlich, also aus dem spezifischen bildungstheoretischen Interesse der Untersuchung, sondern auch auf den funktionalen Zusammenhang der einzelnen Äußerungen hin betrachtet. Diese strukturale Prüfung stützt sich auf ein Modell von Jakobson, der sprachlichen Äußerungen eine Reihe von Faktoren zuordnet, die in ihrem jeweiligen Verhältnis die Funktionsstruktur des entsprechenden Aktes ausmachen. Es handelt sich dabei um sechs Komponenten: „Der Sender macht dem Empfänger eine Mitteilung. Um wirksam zu sein, bedarf die Mitteilung eines Kontexts…; erforderlich ist ferner ein Kode, der … dem Sender und dem Empfänger gemeinsam 67
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ist; schließlich bedarf es auch noch eines Kontakts,… der es den beiden ermöglicht, in Kommunikation zu treten und zu bleiben.“ (Jakobson 1960, S. 88; H.i.O.). Mit diesem Modell lässt sich beschreiben, wie sich die Freunde in den einzelnen Sequenzen sprachlich auf einander beziehen. Zusätzlich ist wichtig, welches Verhältnis sie zwischen sich als Sprecher formieren. Sie können sich dialogisch aufeinander beziehen, der eine kann dem anderen etwas erzählen (bzw. beide Freunde können einander oder gemeinsam erzählen) und es kann auch ein Freund stellvertretend für den anderen sprechen; schließlich sind auch Sequenzen zu beobachten, in denen die Sprecher zwar abwechselnd, aber doch mit der gleichen Intention sprechen. Die Poetik kennt dafür den Begriff des Wechsels bzw. Wechselgesangs (vgl. Bauer 1977, S. 133 ff.). Die einzelnen Formen des Verhältnisses zwischen den Freunden als Sprechern lassen sich allerdings nicht mehr nur formal angeben, sondern sind erst im Zusammenhang mit dem Gehalt der Äußerungen zu bestimmen. Die strukturale Analyse der einzelnen Gesprächsausschnitte stellt ein wichtiges Komplement dafür dar, um in einer inhaltlichen Interpretation Hypothesen zur Bildungsbedeutsamkeit der freundschaftlichen Beziehung zu entwickeln und zu überprüfen. Zwischen strukturaler und inhaltlicher Interpretation sind dabei Zusammenhänge in zwei Richtungen möglich: „vom Verstehen zum Erklären“ (Ricoeur 1972, S. 269) und „vom Erklären zum Verstehen“ (ebd., S. 275). Die Herausarbeitung der möglichen Zusammenhänge von freundschaftlichem Gespräch und Bildung, also auch der Verschränkungen von subjektiver und intersubjektiver Bildung, ist eine Interpretationsleistung, die dadurch möglich wird, dass das im Gespräch formierte intersubjektive Verhältnis in Bezug zur Konstruktion persönlicher bzw. gemeinsamer bildungsbedeutsamer Erfahrungen gesetzt wird. Dieses Vorgehen in der Interpretation wird in der Darstellung allerdings nicht immer detailliert und bei jeder Szene voll expliziert. Mitunter sind manche der methodisch aufeinander folgenden Interpretationsschritte im Hinblick auf eine bessere Lesbarkeit in der Darstellung zusammengefasst. Das heißt jedoch nicht, dass nicht großer Wert auf die Nachvollziehbarkeit der Interpretationen gelegt wird; das ist nicht nur aus einer methodologischen, sondern auch einer forschungsethischen Perspektive heraus geboten. Bourdieu spricht in diesem Zusammenhang von der „Demokratisierung der hermeneutischen Haltung“ (Bourdieu 1998, S. 801).32 32 Auch die Transkription der Gesprächsausschnitte wird davon berührt. Dabei wird auf eine lautgetreue Wiedergabe verzichtet. Um beispielsweise die klangliche Breite dialektaler Vokale und Diphtonge adäquat wiederzugeben, wäre die Verwendung von Lautschrift notwendig, was die Lesbarkeit der Gesprächsausschnitte unverhältnismäßig eingeschränkt hätte. Ebenso wird weitestgehend darauf verzichtet, Versprecher oder sprachliche Füllsel (in der Art von „ähm“ oder „hm“) zu reproduzieren. Für eine Untersuchung, die sich nicht auf das sprach68
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Insgesamt sollen die in der Interpretation der einzelnen Gespräche gewonnenen Erkenntnisse dazu dienen, die sie tragenden bildungstheoretischen Konzepte zu bestätigen, zu erweitern oder zu berichtigen. Die Intention der Interpretation ist in diesem Sinne nicht nur die Deskription eines bildungsbedeutsamen Erfahrungsraumes, sondern auch die Reflexion von Theorie. Es ist der Anspruch des folgenden Kapitels, theoretisch anschlussfähige Darstellungen spezifisch freundschaftlicher Hervorbringungen von Bildung zu skizzieren, die sich theoretischen Konzepten dabei aber nicht andienen, sondern sich einem „Hinzufinden des richtigen Begriffs“ (Mollenhauer 1985b, S. 430) öffnen. Hier ergeben sich Nähen zur methodologischen Anlage von Fallstudien. „Die eigentliche wissenschaftliche Leistungsfähigkeit von Fallstudien für allgemeine Erkenntnisse besteht … darin, diese zu erweitern, gegebenenfalls zu korrigieren, besteht mithin in der Theoriebildung.“ (Fatke 1995, S. 684; H.i.O.). Fallstudien zielen auf eine bestimmte „individuelle Allgemeinheit des Falls“ (ebd., S. 693) ab und sind deshalb meist vergleichend aufgebaut. In diesem Sinn gehen die Interpretationen der drei Gespräche nicht unmittelbar in die abschließende bildungstheoretische Diskussion über; zuvor werden in einem systematischen Resümee signifikante Beobachtungen und erste abstrahierende Thesen festgehalten. Dieser Vergleich macht eine systematische Darstellung der einzelnen Gespräche notwendig. Als ein dafür geeignetes Raster – woran sich auch die Auswahl einzelner Sequenzen aus den Gesprächen für die eingehende Interpretation orientiert – hat sich im Zuge der Interpretationsarbeit herausgestellt, zunächst auf die freundschaftliche Beziehung zwischen den Gesprächspartnern einzugehen: (a) Worin zeigt sich die Performativität dieser Beziehung? (b) Welche (impliziten) Konzepte haben die Freunde von ihrer Beziehung entwickelt? Und (c): Wie gehen sie mit Popmusik als einem Gegenstand ihres gemeinsamen Interesses um? Danach werden zunächst bildungsbedeutsame Erfahrungen einzelner Freunde in den Blick genommen, die sie im Gespräch mit ihrem Freund entfalten (d und e). Schließlich werden solche Erfahrungen thematisiert, die die Freunde gemeinsam entfalten (f). Dieses systematische Raster ermöglicht die Vergleichbarkeit der Gespräche. Die Interpretation der einzelnen Gespräche geht allerdings auch auf deren spezifischen Verlauf ein, so dass sich innerhalb dieses äußeren Rahmens auch Unterschiede in der Darstellung der drei Gespräche ergeben.
gestische Verhalten (Lautstärke, Intonation etc.) bezieht oder eine detaillierte konversationsanalytische Rekonstruktion intendiert, sondern den gesprochenen Text als Form des Verhaltens der Freunde zueinander in den Blick nimmt, stellen diese Entscheidungen keine Einschränkungen dar. Zumal es sich bei der Transkription gesprochener Sprache immer um eine Transformation handelt, die wesentliche Dimensionen nicht umsetzen kann: „…die Stimme, die Aussprache …, die Betonung, den Sprachrhythmus …, die Mimik und Gestik sowie sämtliche körperlichen Ausdrucksformen usw.“ (Bourdieu 1998, S. 798). 69
3. Erzählte Bildung – Mome nta ufnahme n von drei Fre undsc hafte n
Hannes und Roland Hannes und Roland sind seit dem Kindergarten miteinander befreundet. Als Gesprächspartner wurden die beiden u.a. deshalb ausgewählt, weil sie als Jugendliche gemeinsame Erfahrungen im subkulturellen Milieu der so genannten Teds bzw. Rockabillys33 gemacht haben. Diese Jugendkulturen sind in hohem Maße auf Musik (Rock’n’Roll-Spielarten im Stil der 1950er- und 1960er-Jahre) bezogen, sodass die beiden Freunde über entsprechende Erfahrungen in diesem Zusammenhang erzählen können. Für die Fragestellung dieser Untersuchung ist außerdem interessant, wie sich die beiden jetzt – aus einem gewissen Abstand, den sie dazu entwickelt haben – auf diese gemeinsamen Erfahrungen beziehen. Hannes ist 28 Jahre alt. Er ist in A-Stadt (Kleinstadt mit 60 000 Einwohnern) aufgewachsen. Nach drei Klassen Gymnasium wechselt er auf die Realschule und macht anschließend an der Fachoberschule Abitur. Danach absolviert er in einem örtlichen Betrieb eine Schreinerlehre. Für seinen Zivildienst geht Hannes nach C-Stadt. Derzeit studiert er an der Fachhochschule im nahe gelegenen B-Stadt Architektur. Roland ist ebenfalls 28 Jahre alt. Auch er wächst in A-Stadt auf. Nach der Realschule macht er eine Ausbildung zum Einzelhandelskaufmann. Nach seinem Zivildienst, den er in A-Stadt leistet, beginnt er einem Verlag zu arbeiten, der Bücher und elektronische Medien aus dem Bereich Naturkunde und Umweltschutz vertreibt. Diese Stelle hat er bis heute inne.
33 Teds und Rockabillys lassen sich als Jugendkulturen durchaus voneinander unterscheiden. Für Roland und Hannes scheint diese Differenz allerdings nicht von großer Bedeutung zu sein. Sie sprechen mal von Teds und mal von Rockabillys, wenn sie ihre jugendkulturellen Erfahrungen beschreiben (zu der v.a. britisch geprägten Szene der Teds bzw. Teddyboys, die sich musikalisch eng auf den amerikanischen Rockabilly bezieht, ihn aber modisch um einige Elemente erweitert vgl. Savage 1991, S. 45 ff.). 71
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Beide Freunde lassen sich schnell auf das Vorhaben ein. Schon im Vorgespräch zeigt sich, dass sie recht auskunftsfreudig sind und dass sie die Gesprächssituation nicht nur als Befragung, sondern auch als einen Anlass geselligen Beisammenseins verstehen. Das aufgezeichnete Gespräch fand dann auch im Rahmen eines ausführlichen gemeinsamen Kochens und Abendessens bei Hannes statt.
Zur Performativität der Beziehung Hannes und Roland wirken sehr vertraut. Sie zeigen nur wenig Anzeichen von Reserviertheit und finden sich schnell als Freundespaar ins Gespräch ein. Immer wieder nehmen sie das Gespräch selbst in die Hand und erzählen oder fragen sich gegenseitig zu Themen auch abseits der Interviewfragen und Gesprächsimpulse. Allerdings finden sich nur wenig Sequenzen, in denen die beiden auf eine, wenn man so will, allgemein freundschaftliche Weise miteinander reden. Sie wissen sehr viel übereinander und natürlich speist sich dieses Wissen aus ihrer sehr langen Freundschaft, ebenso wie es diese Freundschaft selbst trägt. Es scheint so, dass ihnen ihre Vertrautheit selbstverständlich ist und sie sie nicht erst herstellen müssen. Durchgängig entbehrlich ist ihnen diese grundsätzliche Ebene jedoch nicht. In den Vorgesprächen stellt sich heraus – und dieser Punkt taucht auch im aufgezeichneten Gespräch wieder auf –, dass Roland und Hannes, nachdem sie lange einen weitgehend übereinstimmenden Musikgeschmack hatten, sich darin mittlerweile durchaus deutlich voneinander unterscheiden. An diesen Aspekt schließt die folgende Szene an:
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DK: Wie ist das denn jetzt so, ihr habt ja jetzt nicht mehr so den gleichen Musikgeschmack, ist das jetzt so, dass es mal mehr und mal weniger zusammenpasst? So, dass es mal so Streitfälle oder gegenseitige Vorschläge oder so Nachfragen: ‚Was hast denn du zuletzt gehört?‘ oder so was gibt? Roland: Ich glaube, das ist eher, wenn man sich trifft, dass da halt dann einer irgendwie... da läuft halt dann was und wenn mir das gefällt, frag ich nach, was das ist, bloß vergesse ich’s dummerweise dann wieder ziemlich schnell. Hannes: Das ist eh meistens so, wenn ich zu dir komm oder du zu mir, dann läuft halt gerade was. ‚Aha, das hört der gerade momentan.‘ Roland: Genau. Hannes: Und wenn es einem gefällt, dann fragt man nach.
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Roland: Genau. Dann wird’s Thema, und wenn nicht, dann nicht. Ja, und wenn es einen nervt, dann vielleicht leiser. (lacht) ‚Was hörst denn du für einen Scheiß!?‘ Hannes: Das haben wir eigentlich nie gesagt. Roland: Wenn die Musik... Hannes: Haben wir das schon mal gesagt? Roland: Weiß nicht. Vielleicht bei einer Techno-Scheibe mal. Hannes: Hab schon das Gefühl manchmal, dass wir da vorsichtig sind. Roland: Ja? Hannes: Da sind wir schon immer vorsichtig, glaub ich. Roland: ‚Was hörst denn du da!?‘ (Hannes und Roland lachen) DK: Ja, kann man das so einfach sagen ‚Hey, das ist aber Scheiße.‘? Roland: Nein, direkt ‚Scheiße‘ nicht. Hannes: Obwohl man’s eigentlich sagen könnte... Roland: Anstrengend, anstrengend. Also ‚anstrengend‘ hab ich glaub ich schon mal gesagt. Zu irgend so einem Technosound. Der war anstrengend, einfach. Oder für mich in dem Moment. Hannes: Klar. Roland: Aber halt dann nicht irgendwie so: ‚Du bist ein Depp, du hörst blöde Musik.‘, (Hannes lacht) also das ist ja überhaupt nicht Thema.
Roland beschreibt, dass er und Hannes Popmusik nicht mehr bewusst als „Thema“ (Z. 15) ansteuern, sondern allenfalls aus einem sich situativ ergebenden Interesse heraus thematisieren. Auch Hannes’ Bemerkung – „Aha, das hört der gerade momentan.“ (Z. 11 f.) – verdeutlicht, dass Popmusik für ihn und seinen Freund nicht mehr zu den zentralen gemeinsamen Beschäftigungen gehört und gegebenenfalls eher en passant zur Kenntnis genommen wird. Roland spricht dann einen Sonderfall dieser Aufmerksamkeit an, die jeweils im Moment entsteht: Es kann vorkommen, dass die Musik des Freundes stört. Er spielt ironisch eine drastisch abwertende Reaktion vor (vgl. Z. 16 f.) und deutet damit an, dass eine solche direkte Umgangsweise zwischen den beiden nicht üblich ist. Hannes schließt das daraufhin auch explizit aus. Jetzt kommen die Freunde auf ein Beispiel zu sprechen, bei dem ihnen geschmackliche Differenzen begegnen. Roland verweist auf eine „Techno-Scheibe“ (Z. 21), die er bei Hannes gehört hat. Bevor dieser konkrete Fall aber weitergeführt wird, macht Hannes noch eine allgemeine Bemerkung; er stellt fest: „Hab schon das Gefühl manchmal, dass wir da vorsichtig sind.“ (Z. 22 f.) Nach der sinngemäßen Wiederholung dieser Bemerkung auf Rolands Nachfrage hin mimt der noch einmal eine recht brüske Art, geschmackliches Missfallen auszudrücken: „Was hörst du denn da!?“ (Z. 26); das bringt die beiden Freunde 73
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zum Lachen. Roland bestätigt damit spielerisch Hannes’ Beobachtung zum Umgang mit geschmacklichen Unterschieden zwischen ihnen. Die besondere Sensibilität, die die beiden diesbezüglich hier einräumen, ist in diesem Gesprächsausschnitt allerdings nicht nur Gegenstand ausdrücklicher Reflexion; implizit findet hier auch ein Aushandlungsprozess statt, in den mimetische Anteile einfließen. Denn die beiden Freunde bringen unterschiedliche Aspekte ein. Es ist Roland, der zuerst allgemein und dann auch mit einem Beispiel auf geschmackliche Fremdheit zwischen ihm und seinem Freund hinweist. Und es ist ebenfalls er, der in drei jeweils zwar nicht im Wortsinn geäußerten, sondern – um den gemeinsamen Umgang davon abzugrenzen – ironisch vorgespielten abschätzigen Aussagen geschmackliche Entfremdung zwischen sich und Hannes inszeniert. Demgegenüber stellt Hannes einen vorsichtigen Umgang der beiden Freunde miteinander bei solchen Gelegenheit fest. Nun ist es nicht angebracht, zu unterstellen, dass Roland hier gewissermaßen unter dem Deckmantel der Ironie einem tatsächlichen Unbehagen Raum gibt, aber es lassen sich verschiedene Rollen der beiden Freunde beobachten: Roland markiert spielerisch das Problem, wenn man es denn so nennen will, Hannes verweist auf die Strategie einer entsprechenden Vorsicht. Dieser Hinweis, den Hannes wiederholt einbringt, kann insofern auch intentionalen Charakter haben. Dann würde es darum gehen, dass er es für wichtig hält (und er einen entsprechenden Appell an seinen Freund bzw. an die gemeinsame Beziehung richtet), dass es einen behutsamen Umgang mit geschmacklichen Differenzen gibt. Dadurch, dass er seine Bemerkung ausdrücklich als seinen subjektiven Eindruck von einem gemeinsamen Verhalten formuliert, impliziert er eine Anfrage an seinen Freund, ob der diese Wahrnehmung teilt. Und diese implizite Anfrage (die auf eine Rückversicherung bzw. Bestätigung der eigenen Sichtweise zielt) lässt sich nicht nur auf die konkret bestehende Praxis, sondern auch auf die Einstellung gegenüber dieser Praxis beziehen. Hannes würde dementsprechend nicht nur darauf anspielen, was freundschaftliche Praxis zwischen Roland und ihm ist, sondern auch wie diese Praxis sein soll. Dazu passt, dass Roland am Ende der Sequenz seinen quasiszenischen Modus zwar noch ein drittes Mal aufnimmt, ihn aber dann reflexiv bricht und eine reflexive Erklärung anfügt, die zwar nicht mit Hannes’ Sichtweise identisch ist, sich mit dieser aber doch zu einem einvernehmlichen Arrangement fügt: für Hannes geht es um Vorsicht oder Zurückhaltung, Roland hält das ganze „Thema“ (Z. 37) nicht für wichtig. In dieser Sequenz kommt zudem auch zur Sprache, wie die Freunde im Rahmen dieser grundlegenden Rücksichtnahme einander zeigen, wenn ihnen Musik von bzw. bei ihrem Freund nicht gefällt. Auf meine Zwischenfrage, ob sich die beiden einen so unverhohlenen Ton, wie ihn Roland parodiert, untereinander tatsächlich erlauben, meint dieser, dass sie das so „direkt“ (Z. 29) nicht tun. Hannes’ Anmerkung, dass er das für grundsätzlich vorstellbar hält, 74
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schließt hier auf interessante Weise an. Denn damit stellt er die zuvor selbst beschriebene Vorsicht in Frage. Im Zusammenhang mit dem Ablauf und dem Gegenstand der ganzen Sequenz zeigt sich hier die Offenheit der freundschaftlichen Beziehung, in der immer auch die Möglichkeit besteht, sich anders zu verhalten. Eben damit geht die Notwendigkeit einher, sich in offenen oder impliziten Aushandlungsprozessen darauf zu verständigen, welches mögliche Verhalten miteinander verwirklicht werden soll. Wenn Roland also den „Technosound“ (Z. 32), den er bei Hannes gehört hat, als „anstrengend“ (Z. 31) bezeichnet, dann findet er damit eine Form der Bezeichnung geschmacklicher Differenzen, die der von Hannes als Muster des Verhaltens zwischen den Freunden beschriebenen Vorsicht entspricht. Er stellt so zwar Fremdheit fest, diskreditiert aber nicht den Geschmack seines Freundes, sondern macht lediglich darauf aufmerksam, dass er Hannes’ Wertschätzung für besagten Sound nicht nachvollziehen kann. Geschmacksunterschiede werden so zwar eingeräumt, aber eher mit rechtfertigendem Gestus. Schließlich macht Roland auch explizit, was dieser Zurückhaltung zugrunde liegt: die Differenzierung zwischen der Person und dem Geschmack des anderen. Diese Differenzierung und die von Hannes festgestellte Vorsicht stellen sich sozusagen als Ertrag im Zuge einer Reflexion und Aushandlung ein, die die beiden Freunde nicht nur diskursiv-begrifflich führen, sondern in die auch mimetische Anteile eingehen. Hannes und Roland machen ihre Beziehung zu einer freundschaftlichen Beziehung, nicht nur, indem sie sie so beschreiben; sie handeln – implizit und mimetisch – auch aus, wie diese Beziehung sein soll. Dabei zeigt sich die Performativität von Freundschaft: In ihrer spezifisch freundschaftlichen Gestalt ist die Beziehung von Roland und Hannes nicht einfach gegeben, sondern formiert sich in einem entsprechenden Verhalten der beiden zueinander. Darüber hinaus zeigt sich, dass sich dieses performative Verhalten auch auf Konzepte bezieht, die sie von ihrer Freundschaft haben, und dass es selbst solche Konzepte hervorbringt. Wenn hier also einerseits ein performatives Verhalten zu beobachten ist, das im Sinne eines „präzisierenden Selbstdeutens“ (Göhlich 2001, S. 34) im Handeln Bedeutung aufgreift und weiterentwickelt, so lässt sich andererseits auch eine teils eher implizite, z.T. aber auch explizit benannte „Vorlage“ (ebd., S. 33) erkennen, in Bezug auf die sich die Freunde verhalten.
Zum spezifischen Freundschaftskonzept von Hannes und Roland: Freundschaft als Rhythmus In den Vorgesprächen mit Hannes und Roland wird deutlich, dass sie (auch aufgrund des langen Bestehens ihrer Beziehung) eine besonders enge Freundschaft haben. Daneben stellt sich auch heraus, dass Roland in einer festen Partnerschaft lebt. Die folgende Sequenz geht von einer Frage nach dem Ver75
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hältnis zwischen diesen beiden Beziehungen aus. Es zeigt sich, dass Liebesbeziehung und Freundschaft nicht etwa in einem Konkurrenzverhältnis zueinander stehen. Hannes und Roland beschreiben ihre Freundschaft als eine Beziehung, die ihnen beiden in einem gewissen Rhythmus Nähe und Distanz gewährt.
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DK: Noch mal eine Freundschaftsfrage, keine Frage zur Popmusik. Macht das was aus, dass also bei dir jetzt schon lange jemand Dritten gibt? Also deine Freundin? Roland: Meine Freundin? ... (wendet sich an Hannes) Das musst eher du beantworten als ich. Hannes: Ja, ich meine, es gibt zwar so Zeiten, wo ich mir denke, da macht er vielleicht was mit seiner Freundin, aber es ... oder dachte ich mir vielleicht ursprünglich eher, aber eigentlich ist das... also Spannungen oder so ergeben sich auf keinen Fall für mich. Man trifft sich halt da mal oder ... Also ich glaube, dass ich da mal sage: ‚Der Arsch hat eine Freundin!‘, das irgendwie nicht. Roland: Nein, also außerdem, wenn es bei mir die Bella ist, dann wär es bei dir die Architektur. Hannes: Meine Freundin. (Alle lachen) Roland: Genau. Deine Freundin, die Architektur. Wo es dann genauso ist... Aber so was darf eine Freundschaft ja nicht bedrohen. Sonst wär es ja schon lange nicht ... DK: Ja, da gibt’s halt so dieses Klischee, dass sich der Freund nicht verträgt mit der Freundin, die man hat. Hannes: Nein. Das sind ja total verschiedene Ebenen. Roland: (lacht) Das glaub ich auch. Hannes: Die Ebene, die wir davor gehabt haben, wo noch keiner eine Freundin gehabt hat, die hat sich durch Zeiten durchgezogen, wo wir beide eine Freundin hatten oder wo nur einer eine Freundin hat, und das war immer dieselbe Ebene. Roland: Ja. Und was dann auch irgendwie nicht entscheidend ist für eine Freundschaft. Weil das ist irgendwie so dieses eine, da gibt es irgendwie so diese Hochs und Tiefs oder ob da jetzt einer ewig lang eine Beziehung hat und dann Single ist oder kein Single oder wo es dann einfach so passt, und das ist ja bloß so ein Teil von diesem ... Leben. Ist zwar ein brutal wichtiger, natürlich, aber kann ja in jeder Freundschaft irgendwie so mit gelebt werden. Hannes: Ja. DK: Ja, dann habt ihr quasi so ein ganz entspanntes Dreiecksverhältnis. Also, nicht so von wegen: ‚Seit er eine Freundin hat, sieht man ihn nicht mehr.‘ Hannes: Nein.
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Roland: Nein. (lacht) So nicht. Nein, außerdem hat das, glaub ich, überhaupt nichts mit der... auch wenn es so wäre, hätt es ja nichts mit der Freundin in dem Sinn zu tun, sondern bloß irgendwie, wie der andere ... Das wär bloß irgendwie ein Zeichen dafür, dass da irgendwie die Scheiße beim anderen am Dampfen ist. Also wenn du dich jetzt bei mir nicht mehr melden würdest, dann würde ich... also erst würd ich vielleicht denken: ‚Mensch, du Dösel!‘ Und dann irgendwie so mal abwarten, aber bist du ja irgendwie hinterher, das herauszufinden, was da dann abginge, glaub ich. Hannes: Ja. Roland: Also, dieses einfach aus den Augen verlieren, das geht gar nicht mehr. So dieses ‚Jetzt hab ich schon dreimal angerufen, und der hat nicht angerufen, dann ruf ich halt nie mehr an. Arschlecken.‘ (lacht) So dieses Prinzip. Oder: ‚Da warte ich jetzt, bis er anruft.‘ Und: ‚Nein, da hab ich mich jetzt schon so oft gemeldet und da hat er keine Zeit gehabt und da ...‘ Also so eine Denkweise, das hast du eher bei Bekannten, glaub ich, wenn überhaupt. Hannes: Ja, oder... da kennen wir uns einfach zu lange, glaub ich. Ich meine, man denkt einfach nicht, ‚Jetzt hat der ... Jetzt hab ich schon zweimal angerufen ...‘ Also ... Ich ruf doch eh an, wenn ich selber mag. Roland: Also da gibt’s ja keine, ja glaub ich auch, da gibt’s keine Regeln dafür. Das passt halt einfach, und wenn man dann mehr miteinander zu tun hat, ist es O.K., und wenn man weniger miteinander zu tun hat, dann ist es auch O.K. Also wichtig ist halt, glaub ich, dieses... dass man halt einfach so ehrlich ist oder so. Wenn in der Freundschaft irgendwas wäre, wo man sich denkt so: ‚Häh!?‘, dass man halt da dann nachfragt, wenn so was der Fall wäre, aber sonst sind ja Freundschaften da immun gegen so Zeitdinger und mehr oder weniger Telefonieren oder Treffen oder was weiß ich was... Es gibt halt dann auch Zeiten, wo man da mehr gemeinsam erlebt und dann auch Zeiten wo man eher nur über seine Erlebnisse spricht.
Die Frage am Beginn der Sequenz ist ein wenig suggestiv: „jemand Dritten“ (Z. 3) – das unterstellt eine Reihenfolge der angesprochenen Beziehungen. Roland weist recht entschieden darauf hin, dass die Frage nach dem Verhältnis zwischen seiner Freundschaft zu Hannes und seiner Partnerschaft mit seiner Freundin Hannes beantworten soll. Dieser Hinweis setzt seinerseits ein bestimmtes Verhältnis zwischen diesen beiden Beziehungen, denn Roland leitet diese Frage an Hannes weiter, der nur aus der Sicht des Freundes sprechen kann. Das entspricht auch der Formulierung der Frage; als „Freund77
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schaftsfrage“ (Z. 1) richtet sie sich an die freundschaftliche Beziehung von Hannes und Roland. Roland verstärkt diese Ausrichtung. Er lenkt das Gespräch so, dass es um seine und Hannes’ Freundschaft geht, die (nicht gestellte) Frage, ob es zwischen den beiden Beziehungen auch in der anderen Richtung Wechselwirkungen gibt, also in Bezug auf seine Liebesbeziehung, schließt er damit implizit aus. Seine Weiterleitung der Frage versieht diese auch mit einem bestimmten Bezug. Hannes ist nun nach seiner subjektiven Sicht gefragt; es geht nicht um die Beschreibung gemeinsamer Arrangements, sondern um Hannes’ persönliche Perspektive. Hannes meint, dass er sich als Freund keinen „Spannungen“ (Z. 9) ausgesetzt sieht. Nach dieser Einschätzung seines Freundes zieht Roland einen Vergleich, mit dem er andeutet, dass auch Hannes durch sein Studium der „Architektur“ (Z. 15) in eine Sphäre involviert ist, zu der er seinerseits keinen Zutritt hat. Hier liegen Assoziationen zu Simmels Konzept der „differenzierten Freundschaft“ (Simmel 1968, S. 269) nahe. Wie bereits angesprochen (siehe Abschnitt Zum historischen Wandel des Verständnisses von Freundschaft) formieren sich Freundschaften in differenzierten Gesellschaften nach einem „Prinzip der Grenzkonstruktion als Spannung zwischen Nähe und Distanz“ (Nötzoldt-Linden 1994, S. 150). Roland weist durch die Parallele, die er aufzeigt, auf eine in diesem Sinne differenzierte Beziehung zwischen ihm und Hannes hin. Im Anschluss an den tentativen Hinweis, dass sich zwischen verschiedenen Bezugspersonen auch Spannungen ergeben können, umreißen Hannes und Roland ein Schema ihrer Freundschaft, das solche Schwierigkeiten ausschließt. Hannes macht eine Unterscheidung zwischen verschiedenen „Ebenen“ (Z. 20). Dass die Ebene der Freundschaft hier von anderen Beziehungen so deutlich unterschieden wird, rückt dieses Modell wiederum sehr nahe an das Muster einer differenzierten Freundschaft. Allerdings trennt Hannes hier nicht nur zwischen verschiedenen Ebenen, er deutet auch eine gewisse – zunächst zeitliche – Ordnung an und beschreibt seine und Rolands Freundschaft als „immer dieselbe Ebene“ (Z. 25). Es sind die jeweiligen Liebesbeziehungen der Freunde, die hinzutreten. Auch Roland bezieht sich auf die Freundschaft zu Hannes als eine grundlegende und sehr stabile Beziehung. Für ihn gehören zu „eine[r] Freundschaft … so diese Hochs und Tiefs“ (Z. 27 f.). Mit diesem quasi-natürlichen Rhythmus spricht er der Beziehung zu Hannes eine besondere Beständigkeit zu. Das bezieht sich retrospektiv auf ihre lange Dauer, das drückt aber auch die Erwartung aus, dass sich die entsprechenden Phasen auch in Zukunft einstellen werden; eine Einstellung, in der Erfahrung und Zuversicht ineinander greifen. Darüber hinaus ist für ihn auch eine Liebes„Beziehung … bloß so ein Teil von diesem Leben … [der] in jeder Freundschaft irgendwie so mit gelebt werden…“ (Z. 29 ff.) kann. Aus Rolands Sicht ist eine freundschaftliche Beziehung offen dafür, die in ihr verbundenen Personen mit verschiedenen und sich verändernden Bereichen ihres Lebens auf78
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zunehmen. Insofern entwickelt auch Roland hier ein Verhältnis differenzierter „Interessen- und Gefühlsgebiete“ (Simmel 1968, S. 269), bei dem er, wie sein Freund vor ihm, einerseits deren verträgliches Nebeneinander konstatiert und andererseits seiner Freundschaft zu Hannes eine besondere Stabilität zuschreibt. Nach der nächsten Nachfrage gewinnt im dritten Teil der Sequenz das Moment des Rhythmus noch einmal an Bedeutung. Mit seiner Antwort schließt Roland zunächst an das davor von ihm und Hannes umschriebene Nebeneinander ihrer Freundschaft und anderen Beziehungen, die sie führen, an. Diese beiderseits anerkannte Pluralität der Lebensbereiche des Anderen schließt ein Deutungsmuster der Konkurrenz aus. Für Roland hätte es eben „nichts mit der Freundin in dem Sinn zu tun“ (Z. 41), wenn der Kontakt zum Freund abbricht. Er sieht vielmehr Anlass, nach einer ersten, aber nicht dauerhaften Irritation selbst die Problemlage des Freundes zu eruieren, die er als Ursache eines derartigen Verhaltens annimmt. Im klassischen Vokabular des philosophischen Diskurses über Freundschaft gesprochen überwiegt hier die Sorge um den Freund gegenüber der Ausrichtung auf eigenen Lustgewinn. Roland konturiert seine Einstellung weiter, indem er sie von einer „Denkweise“ (Z. 56) abgrenzt, die er allenfalls gegenüber „Bekannten“ (Z. 56) für angebracht hält. Er persifliert ein Beziehungsverständnis, das ein zeitnah einzuhaltendes symmetrisches Verhalten fordert. Hannes beschreibt den gemeinsamen Umgang fast identisch. Es ist unerheblich, dass Roland von drei, und er, wenn man so will, von zwei Anrufen auf der Haben-Seite ausgeht, um ein Gefühl der Benachteiligung zu parodieren und eine entsprechende Einstellung als irrelevant zu markieren. Zentral ist die Übereinstimmung darin, dass auch er die Zuwendung zum Freund als eigenes Bedürfnis beschreibt: „Ich ruf doch eh an, wenn ich selber mag.“ (Z. 60 f.). Beide Freunde erläutern also, dass es keine „Regeln“ (Roland in Z. 63) gibt, nach denen sie diesen Aspekt ihrer Freundschaft gestalten. Beide erklären, dass sie nicht darauf warten, vom Anderen angesprochen oder angerufen zu werden, sondern sich aus eigenem Interesse am Anderen melden und – das expliziert zumindest Roland – gegebenenfalls nach den Gründen für eine eventuelle Zurückhaltung des Freundes fragen. Wenn man nun genauer beobachtet, wie diese Maxime von beiden präsentiert wird, dann zeigt sich, dass, obwohl beide ihr persönliches Interesse anstelle von „Regeln“ setzen, sie ihr Arrangement im Zuge einer formalen Übereinkunft entwickeln. Zuerst spricht Roland für sich und stellt Hannes eine Art Verhaltensentwurf vor (vgl. Z. 44 ff.). Zu beachten ist, dass er dies vorsichtig und am Ende auch schon verallgemeinernd tut: „… aber bist du ja irgendwie hinterher, das herauszufinden, was da dann abginge, glaub ich.“ (Z. 44 ff.). Dieses behutsam verallgemeinernde „du“ zeigt an, dass Roland sein Verhalten nicht nur subjektiv versteht, sondern auch Hannes davon berührt sieht und von ihm eine Erwiderung bzw. 79
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Bestätigung erwartet. Nachdem Hannes Rolands Entwurf knapp aber klar zustimmt, formuliert Roland mit einem erhöhten Geltungsanspruch und verweist auf den Entwicklungsstand der Freundschaft zu Hannes: „Also, dieses einfach aus den Augen verlieren, das geht gar nicht mehr.“ (Z. 50 f.). Mit dieser indikativischen Formulierung unterstreicht er die Gültigkeit seiner Aussage und er spricht für sich und Hannes. Nur am Ende seiner Erklärung signalisiert er noch einmal – nuanciert – Unsicherheit (vgl. Z. 55 ff.). Hannes beschreibt für sich die gleiche Haltung. Rolands anschließende letzte Fassung – denn seine Äußerungen lassen sich als durch wiederholte Rückversicherung in ihrer Bestimmtheit gefestigte Fassungen eines Verhaltensentwurfs verstehen – ist dann die, in der der höchste Anspruch auf Verbindlichkeit durchscheint. Er spricht nun davon, wie „man“ (u.a. in Z. 67, Z. 68 und Z. 71) in der Freundschaft miteinander umgeht. Mit dieser Erweiterung des grammatikalischen Subjekts geht eine weitere inhaltliche Verallgemeinerung einher. Zudem trifft er nicht nur eine deskriptiv-prognostische Aussage, wie er das eben getan hat, sondern er macht normative Aussagen über zentrale Leitmotive und angemessene Verhaltensformen in der Freundschaft. Obwohl sich dieser Entwurf als Absage an ein taktgemäßes Verhalten (wie es die Höflichkeit nahe legen könnte) gibt, so mündet er doch auch in eine deutliche Vorstellung einer rhythmisierten Beziehung, in der sich Phasen häufigeren und weniger häufigen Kontakts sowie aktive und reflexive Phasen finden (vgl. Z. 63 ff. und 71 ff.). Diese Rhythmisierung stellt sich in der Praxis einer Beziehung ein, in der die Freunde je für sich Freiraum haben und (räumliche, lebensweltliche) Distanz zwischen sich einräumen, diese aber auch überbrücken können. Auf einer ganz praktischen Ebene hat das mit einem Wechsel von An- und Abwesenheit des Freundes zu tun. Doch allein mit räumlicher Nähe muss sich freundschaftliche Vertrautheit nicht automatisch einstellen. Bei Kracauer findet sich eine Stelle, die im Zusammenhang mit dem Wiedersehen von Freunden auf diese Dialektik von Distanz und Verbundenheit hinweist. „Sie haben es leichter und schwerer als fremde Menschen, gleich zum Wesentlichen vorzudringen; leichter, denn sie sind sich bereits zugeneigt und blicken auf gemeinsam verlebte Zeiten des Vertrauens zurück; schwerer, denn sie tragen ein Bild voneinander in sich, von dem es ungewiß ist, ob es noch der Wirklichkeit entspricht. … Man ist dem Bilde des Freundes zunächst näher, als dem Freunde selbst. Dieser Zusammenhang des sich gleichzeitig Ferne- und Naheseins erzeugt Befangenheit.“ (Kracauer 1971, S. 62). Rolands Entwurf zeigt ein ähnlich gelagertes Wechselverhältnis. Wenn sich er und Hannes auch Distanz voneinander einräumen, so geht es für sie zugleich immer wieder um die Re-/ Konstruktion freundschaftlicher Nähe.
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Popmusik als Gegenstand der Beziehung Popmusik spielt immer wieder eine Rolle in der Freundschaft von Hannes und Roland. Sie erzählen z.B., wie sie als Sechsjährige gemeinsam Radio gehört und mitgeschnittene Pop-Songs zum Gegenstand eines Spiels gemacht haben, bei dem sie in die Moderatorenrolle geschlüpft sind oder sich durch eigenes Mitsingen zu den Interpreten der Songs gemacht haben. Auch die gemeinsamen Erlebnisse in der subkulturellen Szene der Teds und Rockabillys stellen einen wichtigen Abschnitt in der Geschichte ihrer Beziehung dar. Seit einigen Jahren haben die Freunde jedoch ihren Musikgeschmack und ihr Interesse für Popmusik unterschiedlich weiterentwickelt. Nachdem sie als Jugendliche beide viel 50er- und 60er-Jahre-Rock’n’Roll gehört haben und sich etwa ab ihrem achtzehnten Lebensjahr auch für die Musik interessierten, die sie bei gemeinsamen Discobesuchen kennen gelernt haben, beginnt Hannes sich vor einigen Jahren intensiver für Spielarten der Rockmusik zu interessieren, die er als „Gitarren-Musik“ bezeichnet. Gegenwärtig tritt neben diese Ausrichtung eine Affinität zu aktueller elektronischer Tanzmusik. Roland stellt sein Interesse für Popmusik als im Allgemeinen nicht mehr so ausgeprägt dar. Er spricht davon, dass Musik bei ihm oft im „Hintergrund“ läuft und nennt als gegenwärtige geschmackliche Präferenz „Easy Listening“, eine GenreBezeichnung, die von so genannter Fahrstuhlmusik bis zu InstrumentalAdaptionen von Schlagern eine Bandbreite gewollt seichter Musik zusammenfasst. Diese geschmackliche Distanz wird zwischen den Freunden zum Thema. Roland wirft eine recht rigorose Selbsteinschätzung ein:
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Roland: Das ist erschreckend bei mir. Ich bin ein extrem schlechter Hörer geworden. Hannes: Ja, das ist mir auch aufgefallen. Du hast früher irgendwie, hast du eigentlich immer ziemlich viel, zum Beispiel die Cypress Hill oder dann, wie heißen die anderen… na ja, ist ja egal. Da hast du immer was gehabt. Und das hat eigentlich abgenommen. Roland: Ja, total. Extrem schlechter Hörer.
„Das ist erschreckend bei mir.“ (Z. 1) Regelrecht betroffen räumt Roland ein, dass seine Hörgewohnheiten „schlechter“ (Z. 2) geworden seien. Hannes bestätigt diese Einschätzung ganz unumwunden und erläutert sie dann auch. Er spricht eine nicht mehr gegebene Beständigkeit an, mit der sich Roland „früher“ (Z. 3) auch für aktuelle Popmusik interessiert hat. So wie Roland hier sein geschmackliches Verhalten charakterisiert, deutet sich an, dass es impliziten Maßstäben nicht mehr genügt. Über die Art dieser Maßstäbe, also darüber, was einen ‚guten Hörer‘ ausmacht, lässt sich seiner Aussage nichts ent81
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nehmen. Es ist Hannes, der die Selbsteinschätzung seines Freundes erläutert. Neben dem inhaltlichen Argument, dass Roland Beschäftigung mit Popmusik „abgenommen“ (Z. 7) hat, ist hier auch der Zusammenhang mit der Gesprächssituation aufschlussreich. Die Thematisierung von Rolands Geschmacksentwicklung durch Hannes verweist darauf, dass es um einen Vergleich mit früheren und für die Beziehung der beiden relevanten Interessenlagen geht. Oder anders ausgedrückt: Es geht hier auch um eine Verlustgeschichte. Ob Roland wirklich ein „schlechter Hörer“ (Z. 2) ist (was auch immer das wäre), ist hier nicht die Frage; die beiden Freunde stellen fest, dass Rolands Interesse für Popmusik, so wie es früher in der Freundschaft zu Hannes sichtbar und bedeutsam war, in dieser Form nicht mehr gegeben ist. Die kurze Sequenz zeigt damit bereits, dass Popmusik für die beiden Freunde zwar Thema ist (nicht zuletzt in biographischer Perspektive), dass sie aber als Gegenstand eines gemeinsamen Interesses nur mehr bedingt relevant ist. Roland zeigt im Gespräch an anderen Stellen eine markt- und medienskeptische Haltung, die sich als Hintergrund seiner zurückhaltenderen Einstellung gegenüber Popmusik verstehen lässt. Mehrmals, auch mit Bezug auf eigene berufliche Erfahrungen, spricht er über Mechanismen der Musikvermarktung. Beispielhaft dafür sei die folgende Einlassung wiedergegeben:
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Roland: Ja, man durchschaut das halt. Also man weiß mittlerweile selber... oder wenn man’s auch noch macht, also ich mach’s halt auch noch... du durchschaust halt einfach auch, was da abgeht. Und wie die Medien irgendwelche Trends da festlegen und wie das alles funktioniert. Und dann, dann kannst du ja überhaupt nicht mehr mitmachen. Also du hast ja eigentlich überhaupt keine Chance, außer du bist total auf den Kopf gefallen... Also es ist ja alles so, so durchschaubar mittlerweile, also dass man genau weiß, woher’s kommt. Also ich merk ja selber, wenn du da irgendwie fünf coole Presseberichte hast, dann kommen die Bestellungen und wenn ich das jetzt mal tausend nehmen würde und da irgendwie ne Popgruppe nehm, dann kann ich die schon durchpeitschen, dann krieg ich die auch rein in die Top Ten. Wenn ich genug… genug Kohle einfach im Hintergrund hab und halt dann vielleicht auch den Zahn der Zeit treff durch irgend nen Sound oder durch den neuen Sommerhit oder so.
Roland schildert, wie die Einsicht in ökonomische Interessen und Strategien, die Popmusik als Markt prägen, sie für ihn als Gegenstand einer unvoreingenommenen Auseinandersetzung disqualifiziert: „… dann kannst du ja überhaupt nicht mehr mitmachen.“ (Z. 5 f.) Ausgehend von eigenen professionellen Erfahrungen hält er „Trends“ (Z. 4) in ihrer Erzeugung durch spezifische 82
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Medienstrategien für „durchschaubar“ (Z. 8). Diese Herstellung von Popularität und die ökonomische Bedingtheit populärer Musik führt dazu, dass sie – zumindest in ihren kulturindustriellen Dimensionen – für ihn ihren Reiz verloren hat. An anderer Stelle scheint ein zweites Moment der kritischen Distanz in Rolands Haltung zur Popmusik auf. Auf die Frage, ob Popmusik für die Freunde eher als besondere oder als alltägliche Erfahrung bedeutsam ist, kommt Roland darauf zu sprechen, dass aus seiner Sicht der vermehrte Gebrauch selbst gebrannter CDs den Umgang mit Musik verändert.
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DK: Ja, ist es noch ein Feld, in dem man besondere Erlebnisse hat … oder ist es eher so alltäglich und immer da? Also so was, das man in jeder Stimmung und in jeder Situation machen kann? Roland: Also es ist schon sehr stimmungsabhängig, auch was man auflegt natürlich, das schon. Aber es ist nicht irgendwie so dieses... also die Momente sind nicht so oft, dass ich mir jetzt für die Momente Musik besorgen muss, sondern für die Momente hab ich dann komischerweise dann doch immer die richtige Musik, auch wenn ich jetzt schon lange nichts mehr gekauft habe. Bei mir hat das Brennen jetzt Einzug gefunden. Zum Kotzen! Hannes: Ja. Aber es ist einfach... Roland: Nein, das hab ich echt irgendwie... Ach! Hannes: Ja klar, aber das ändert sich halt. Also durch die Technik, die da ist. Und du kannst, du hast viel mehr mögliches Zeug. Ich hab... Roland: Aber das ist auch der Grund, warum man dann in keinen Plattenladen mehr kommt. Also meine Freundin hat das jetzt extrem betrieben und ich hab’s dann auch ausgenützt, von einem Bekannten dann einfach echt so... Du kriegst die dann auch geschenkt, weil er findet es gut: ‚Hier, die gebrannte.‘ Und dann kaufst du dir auch keine mehr. Hannes: Aber dadurch kommt man zu viel mehr Musik irgendwie. Roland: Ja, aber ich setz mich damit aber auch nicht so auseinander, mit einem gebrannten Ding... Hannes: Das stimmt. Roland: ...wie wenn ich mir, wenn ich in den Plattenladen geh... Hannes: Du wirst fast zugeschüttet. Roland: ...und eine kauf. Hannes: Und du hörst dir gar nichts richtig an. Du denkst dir: ‚Das gefällt mir zwar nicht hundertprozentig, aber wenn ich’s hab, ist ja nicht schlecht.‘ Und dann kann man da gar nicht mehr so richtig... Roland: Nein, du setzt dich auch nicht... du hast kein Booklet, du 83
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setzt dich damit überhaupt nicht auseinander. Das ist halt einfach irgendwie so ein ‚Zack, Zack! Hier mal schnell Musik!‘ Und genauso kommt’s dann auch an, egal was jetzt drauf ist.
Roland lässt sich „nicht so oft“ (Z. 6) auf Popmusik ein; das entspricht der eher distanzierten Haltung, die auch zuvor schon deutlich wurde. Wenn er aber etwas „auflegt“ (Z. 5), achtet er auf eine gewisse Passung zwischen der jeweiligen Hörsituation und der Musik. Diese Passung findet er allerdings schnell: „…für die Momente hab ich dann komischerweise dann doch immer die richtige Musik.“ (Z. 7 ff.) Das hört sich so an, als ginge es Roland darum, eine passende Atmosphäre um die eigene Stimmung zu legen. Bei Adorno ist ein Hörer-Typus beschrieben, zu dem es hier strukturelle Parallelen gibt, insofern er „… nicht von der Relation zur spezifischen Beschaffenheit des Gehörten, sondern von der gegenüber dem Objekt weithin verselbständigten eigenen Mentalität sich bestimmen läßt: der des emotionalen Hörers.“ (Adorno 1980, S. 185). Verfolgt man Rolands Anmerkungen weiter, zeigt sich, dass es eine aus seiner Sicht mit dem Gebrauch von selbst gebrannten CDs einhergehende Beliebigkeit von Musikauswahl und Musikhören ist, die ihn stört. Hannes bietet Roland zunächst eine alternative Bewertung des Mediums an. Er betont, dass man über selbst gebrannte CDs auf „viel mehr“ (Z. 14) Musik zugreifen könne. Als Roland aber mehrfach auf seiner Kritik besteht, schließt er sich dessen Sicht an. So wie Roland argwöhnt er dann (ebenfalls mit einem verallgemeinernden „du“ (Z. 30)), dass die Rezeption von Musik verflacht, wenn sie nicht durch ein originäres geschmackliches Interesse motiviert ist, sondern sich aus einer Art Bequemlichkeit mehr oder weniger zufällig momentan greifbare Musik zum Gegenstand nimmt. Hier zeigt sich eine latente Ambiguität. Einerseits beschreibt sich Roland als relativ genügsamer Stimmungshörer. Andererseits zeichnet sich ex negativo aus seiner Kritik an überlagernden Marktmechanismen und format-spezifischen Wahrnehmungsmustern eine ästhetische Norm ab, die auf eine bewusste Auseinandersetzung mit der Eigenheit der Musik abzielt. Hannes’ Verhältnis zur Popmusik stellt sich anders dar. Er verknüpft die Beschreibung seiner aktuellen geschmacklichen Vorlieben mit Anmerkungen zu seinen Hörgewohnheiten, die sich deswegen geändert haben, weil er sich neue Lautsprecher angeschafft hat.
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Hannes: Hm... ja, immer mehr so in die elektronische Richtung. Und jetzt hab ich grad so einen Schub, weil ich hab die neuen Boxen und da war halt nur Musikhören, Musikhören, Musikhören. Und dann auch Musik, wo man viel hört. Ob das gut aufgenommen ist, das war mir halt wichtig, und das ist halt oft dann elektronische Musik, wenn man einen guten Klang haben
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will, weil bei Gitarrenmusik ist es oft ein Geschrammel, dann kommt das nicht so rüber. Aber wie gesagt, die elektronische Musik auch mit dem... wie sich meine Boxen so anhören. Einfach lauschen eigentlich. So ein bisschen ein equipmentlastiger Musikgeschmack. (alle lachen) Und sonst, ich merk bei mir, dass ich aus vielen verschiedenen Musikrichtungen mir irgendwelche Sachen rausziehe, die mir halt einfach irgendwie gefallen.
Ins Auge fällt das Wortspiel: „…Musikhören. Und dann auch Musik, wo man viel hört.“ (Z. 4). Hannes erläutert diese Unterscheidung zwischen dem Musikhören als Tätigkeit und einem Hören, das sich auf eine bestimmte Art von Musik bezieht: es geht ihm um „einen guten Klang“ (Z. 6). Den kann er besonders in elektronischer Musik finden; nicht dagegen in den von ihm „Gitarrenmusik“ (Z. 7) genannten Rockmusik-Spielarten. Deren „Geschrammel“ (Z. 7) lässt den Faktor „Klang“ nicht zur Geltung kommen. Dabei leitet Hannes diesen Befund nicht aus einem bloßen technischen Mangel in Bezug auf die Aufnahmequalität der Musik ab. Ins Zentrum seiner Erläuterung stellt er seine Art zu hören: „Einfach lauschen eigentlich.“ (Z. 9 f.) Diese Grundhaltung entfaltet er vor dem Hintergrund seiner Unterscheidung von „Geschrammel“ und „Klang“. Ersteres verweist als metaphorische Beschreibung auf hastig-kratzig gespielte Gitarrenakkorde; auf diese Art des Musizierens nimmt Hannes Bezug, um die klanglichen Qualitäten von „Gitarrenmusik“ zu veranschaulichen. Man könnte seinen Ausführungen also die Auffassung zuschreiben, dass im Falle von „Gitarrenmusik“ der Gestus der Musik ihren Klang überlagert. Damit gehen eine grundsätzliche Differenzierung zwischen diesen Ausdrucksdimensionen von Musik und eine geschmackliche Verortung dazu einher. Hannes’ Selbstbeschreibung seiner Rezeptionshaltung („Einfach lauschen…“ (Z 9 f.)) macht deutlich, dass Musikhören für ihn primär nicht ein Akt des Verstehens ist, sondern ein Akt der aufmerksamen Wahrnehmung. Hannes legt seine ästhetische Einstellung weiter dar: Er sucht Geschmackserlebnisse auch bewusst jenseits von Genrekategorien (vgl. Z. 11 ff.). Das Lauschen, das er für sich beschreibt, konturiert sich so als konzentriertes Erleben der Eigenheit der Musik. Insofern, auch wenn diese Assoziation mit einer gewissen begrifflichen Konversion einhergeht, erinnert er an den von Adorno so genannten Typus des „guten Zuhörers… er hört übers musikalisch Einzelne hinaus; vollzieht spontan Zusammenhänge, urteilt begründet, nicht bloß nach Prestigekategorien oder geschmacklicher Willkür.“ (Adorno 1980, S. 183). Es wird deutlich, dass die beiden Freunde mittlerweile recht unterschiedliche Rezeptionshaltungen entwickelt haben. Das kann der Grund sein, warum sich im Gespräch mit ihnen kaum gemeinsame Reflexionen über konkrete aktuelle Geschmackserlebnisse entwickeln. Meist sprechen Hannes und Ro-
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land dann für sich und der jeweils Andere hält sich im Hintergrund.34 Wie die erste in diesem Abschnitt wiedergegebene Sequenz allerdings zeigt, hat Popmusik für beide und für ihre Freundschaft durchaus Bedeutung. Auch wenn sie also nicht mehr Gegenstand eines geteilten Interesses ist, ist sie gleichwohl Thema zwischen ihnen. Vergegenwärtigt man sich im Zusammenhang mit der Hörhaltung von Hannes noch einmal das zuvor bei Roland sichtbar gewordene Spannungsverhältnis zwischen Rezeptionspraxis und -anspruch, so spiegelt sich darin die dialektische Relevanz wieder, die Popmusik in der Freundschaft der beiden hat. Implizit wird hier auch die unterschiedliche Einstellung der Freunde gegenüber Popmusik thematisiert. Roland räumt einerseits ein, dass sich eine Beschäftigung mit Popmusik über sein skeptisch-genügsames Interesse hinaus lohnt, andererseits hebt er seine Praxis gegen die damit angedeuteten Ansprüche ab. In diesem Sinne würde es für ihn gar nicht darum gehen, diese Ansprüche auch selbst einzulösen, vielmehr darum, dass er anerkennt, dass andere Umgangsweisen und Interessenlagen in Bezug auf Popmusik mindestens ebenso sinnvoll sind wie seine eigene.
Bildungsbedeutsame Erfahrungen von Roland Insgesamt ist Popmusik, wie gerade gezeigt, kaum mehr Gegenstand einer gemeinsamen Beschäftigung für Roland und Hannes und hat dennoch eine wichtige biographische Bedeutung für die beiden. Der nachfolgende Ausschnitt knüpft an der Frage danach an, ob sich diese Bedeutung reflexiv fassen lässt.
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DK: … also wenn man sich das so überlegt, was das alles so war..., also die „Rocktasche“ [eine Radiosendung, in der ausschließlich Oldies gespielt wurden und die die Freunde regelmäßig gemeinsam gehört haben] und die Ted-Zeiten und dann die Gitarrenmusik und das Easy Listening, was das damals und heute für Bedeutungen hat, habt ihr den Eindruck, dass man das überhaupt mit Reden oder mit Worten vermitteln kann? Hannes: Mit Worten kann man das schwer irgendwie erklären. Roland: Ich glaube, das ist einfach so ein Erwachsen-Werden irgendwie. Also wenn du jung bist, da kommst du das erste Mal damit in Kontakt und egal mit was du in Kontakt kommst, du verarbeitest es irgendwie auf deine Art und Weise. Also dass du quasi aus dem Radio aufnimmst, schon allein des Aufnehmens willen und dann dazu singst, dementsprechend wie du dazu singst, könntest du jetzt bestimmt im Nachhinein merken, ob es
34 Eine solche gemeinsame Reflexion findet sich an einer Stelle, an der Roland von einem Konzertbesuch berichtet (siehe den folgenden Abschnitt). 86
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dir getaugt hat oder nicht. Wenn du jetzt total Scheiße dazu gesungen hast, kannst du davon ausgehen, dass du es irgendwie nicht gut gefunden hast. Hast aber trotzdem aufgenommen und irgendwann sagst du halt: Nee, die Art gefällt mir gut, und dann hörst du nur noch das, total eingefahren, weil in der Pubertät ist schon wichtig, wenn irgendwie so bisschen eingefahren ist, weil sonst bist du so’n Spätzünder, das ist auch Scheiße. (lacht) ...und dann wirst du halt wieder offener und irgendwann wirst du erwachsen, wo du dann so ganz mit Distanz zu allem sagen kannst: ‚Das gefällt mir und das gefällt mir nicht. Und wenn’s mir schlecht geht, hör ich das und wenn’s mir gut geht, hör ich das an.‘, und so weiter... also da weißt du einfach, was du willst irgendwie. Und dementsprechend kaufst du auch dann Musik ein. Also, bist auch nicht mehr so beeinflussbar durch Charts oder sonstiges... obwohl wir das noch nie waren. Durch das, dass wir in der Zeit, wo man eigentlich Charts kauft, total auf Oldie fixiert waren. Weil normalerweise kauft man in dem Alter dann wirklich das, was irgendwie... ja, was in den Top Ten ist und das haben wir eigentlich versäumt.
Während Hannes es für „schwer“ (Z. 8) hält, macht sich Roland recht bestimmt daran, eine entsprechende Reflexion zu entfalten. Er gibt seinen Überlegungen ein Leitmotiv: „… das ist einfach so ein Erwachsen-Werden…“ (Z. 9). Dieses Thema rollt er nun in mehreren Stufen auf. Mit seiner Rückschau auf erste spielerische Berührungen mit Popsongs, die darin bestehen, „dass du ...aus dem Radio aufnimmst ... und dann dazu singst...“ (Z. 12 ff.), entwirft Roland nicht nur ein bemerkenswertes Verhältnis zwischen dem gehörten Song und dem begleitenden Singen und er beschreibt dieses Verhalten auf eine sehr selbstsichere Weise. Er spricht nicht von sich, sondern im Modus eines allgemeinen „du“. Diese Formulierung deutet an, dass er das entsprechende Verhalten eher als Teil einer quasi-natürlichen Entwicklung versteht denn als besondere individuelle Erfahrung. Persönliches Gefallen zeigt sich daran, „wie du dazu singst“ (Z. 14 f.). Maßgeblich wäre demnach nicht ein rein subjektives Erleben, sondern die Weise, in der sich Musik und eigenes Singen „dazu“ entsprechen. Oft wird die im ästhetischen Erleben sich einstellende Selbstaufmerksamkeit im Sinne eines „Selbstgesprächs“ (Mollenhauer 1996, S. 29) verstanden. Auch Roland beschreibt eine selbstreflexive Haltung, weniger jedoch in der Form einer Selbstbefragung, stattdessen in der eines Experiments. Er entgegnet dem Song zunächst seinen Gesang, um „im Nachhinein“ (Z. 15) zu beobachten, wie das Angebot des Songs und seine Reaktion zusammenpassen. Strukturell ergibt sich auf diese Weise so etwas wie eine gestufte Erfahrung, in der Aktivität und Passivität oder, wenn man so will, Antwort und Frage im „Selbstgespräch“ (Mollenhauer) voneinander geschie87
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den sind und in der vor die Selbstwahrnehmung eine versuchsweise Selbstdarstellung tritt. Der Verlauf und die Bedingungen (die Überprüfung der eigenen Erwiderung: „ob es dir getaugt hat oder nicht“ (Z. 15 f.)) dieser Erfahrung verweisen auf ein zugrunde liegendes Schema: Roland sucht nach Passungen. Nicht die Begegnung mit dem ästhetischen Material als eine Angelegenheit mit offenem Ausgang ist hier fokussiert, sondern die Klärung grundsätzlicher Nähe bzw. Distanz. Nicht was oder wie etwas gefällt, leiten ein solches Interesse, sondern die Frage, „ob“ etwas gefällt. Im Anschluss an diese Selbstreflexion über frühe Geschmackserfahrungen schildert Roland das Zustandekommen erster musikalischer Präferenzen: „...und irgendwann sagst du halt, nee, die Art gefällt mir gut, und dann hörst du nur noch das...“ (Z. 18 ff.). Beachtenswert ist die Begründung, die Roland für die dargestellte Entscheidung gibt: „… weil sonst bist du so’n Spätzünder, das ist auch Scheiße“ (Z. 21 f.). Um im Vergleich mit der Altersgruppe nicht abgewertet zu werden, bedarf es „in der Pubertät“ (Z. 20) einer geschmacklichen Festlegung. Der Ausdruck „Spätzünder“ impliziert erneut, dass es sich dabei um eine Entwicklungsaufgabe handelt, die in einer bestimmten Lebensphase zu bewältigen ist. Musikgeschmack, genauer Musikgeschmack und seine nach außen sichtbare Markierung werden hier als Zeichen bzw. Nachweis einer normal durchlaufenen Entwicklung genutzt. Schließlich entwirft Roland eine dritte Stufe der Entwicklung seines Verhältnisses zur Musik: „...und dann wirst du halt wieder offener und irgendwann wirst du erwachsen, wo du dann so ganz mit Distanz zu allem sagen kannst: ‚Das gefällt mir und das gefällt mir nicht...‘“ (Z. 25). Hier ist ein wichtiger Aspekt, dass die Freiheit des Geschmacksurteils an eine Distanzierung geknüpft wird. Diese Distanzierung muss nun nicht unbedingt als Reserviertheit zu verstehen sein. Es ist nicht von großer oder gar zu großer Distanz die Rede, sondern von einer klaren Positionierung gegenüber dem Material. Ein erwachsener Umgang mit einem ästhetischen Angebot besteht für Roland also darin, ein Geschmacksurteil gemäß der eigenen Befindlichkeit gegenüber dem ästhetischen Gegenstand zu finden. Betrachtet man Rolands Geschichte vom „Erwachsen-Werden“ (Z. 9) daraufhin, welches Verhältnis zwischen dem Subjekt der Erfahrung und seinem Erfahrungsgegenstand in ihren drei Abschnitten jeweils enthalten ist, zeigt sich eine Verlagerung der Dominanz vom Material zum urteilenden Subjekt. Zuerst ist der Song für Roland die gegebene Größe, zu dem sich eine Passung einstellt oder auch nicht. Danach entwickelt sich zwar ein eigener Geschmack; dieser ist aber auf äußere Anforderungen ausgerichtet. Er wird zu einem Medium der Distinktion bzw. Zugehörigkeit. Schließlich stellt Roland die eigene Reaktion auf das ästhetische Material ins Zentrum der Erfahrung. Eine darauf aufbauende Erfahrung ist nicht mehr an Anschauungen wie ‚Dazu passe ich.‘ oder ‚Damit will ich assoziiert werden.‘ orientiert, sondern von einer entwickelten Selbstreflexivität geleitet. Die dazu notwendige Distanz88
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findung als Gewinn des Erwachsen-Werdens konturiert sich hier als HörHaltung. Rolands obige Schilderung bezieht sich auf die Entwicklung seines Verhältnisses zur Musik im Allgemeinen. Vor dem Hintergrund ihrer unterschiedlichen Geschmacksentwicklung stellen sich zwischen Roland und Hannes wie gesagt kaum gemeinsame Reflexionen der beiden zu aktuellen Erfahrungen ein. Eine Ausnahme stellt eine Schilderung Rolands dar, bei der es um einen Konzertbesuch geht.
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Roland: … Obwohl ich vor kurzem auf einem Konzert war von... ich bin so schlecht mit Namen! Die Richtung, das ist so 60er70er-Jahre, aber irgendwie auch so Keyboard... Hannes: Sehr elektronisch was ich gehört hab. Roland: ... und 80er-Jahre-Einflüsse. Ja so elektronisch. Hannes: Jimi Tenor. Roland: Ja genau. Genial. Supergeil. Hannes: Ja, aber ist das nicht so ein bisschen Elektronik, so Techno? Roland: Doch es ist schon so ein bisschen Elektronik, das find ich aber irgendwie ganz cool. Hannes: Aber vermischt mit, also ich hab nur das eine Lied gehört, das hat so ein bisschen 80er-Jahre und... Roland: Genau, das ist aber noch elektronischer. Also beim Konzert war das noch mehr mit Jazzeinflüssen, also Elektronik und Jazz. Und diese Kombination, die hab ich genial gefunden... […] Roland: Also, das eine Lied von diesem... Name noch mal? DK: Jimi Tenor? Roland: Jetzt ist es gemerkt, das muss ich dir unbedingt... Hannes: Das, was du mir das letzte Mal vorgespielt hast? Roland: Genau. Das wenn du über normale Boxen hörst, weil im Auto hat das total dumpf geklungen, aber das ist so ein dermaßen geiler Bass, weil der vibriert irgendwie so ganz komisch nach, also der geht voll unter die Haut, das ist der Hammer. Und dann kommen immer mehr Instrumente dazu, aber der Rhythmus bleibt irgendwie, aber es ist kein Techno oder irgendwie ein GoaSound oder was, sondern es bleibt total locker, obwohl es einfach total stur durchgeht. Also das ist total genial. Musst du dir unbedingt anhören, weil das macht einfach total Spaß, da zuzuhören. Bei dem Konzert war dann auch ein Orchester dabei, also so Jazzmusiker, und es war halt der Hammer, was da für eine Geräuschkulisse da auf dich eingefallen ist, aber die doch immer irgendwie so durchgegangen ist. Obwohl es unglaublich viel verschiedene Instrumente waren, die eigentlich gar nicht so 89
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zusammengepasst haben, aber das Elektronische hat da irgendwie so die Dominanz angegeben und das andere dazu, das war halt einfach total spannend. Und eine geile Dia-Show. So schön! Hannes: Was war da, was für Bilder? Roland: Die haben so vier Diaprojektoren und einen SuperachtFilm auf eine Leinwand geworfen und vor den Diaprojektoren waren so Ventilatoren, die sich so langsam gedreht haben, wodurch immer wieder Sachen abgedunkelt wurden. Und dann sind die Bilder echt so supergeil ineinander übergegangen... Hannes: Das hat dann so was von einem alten Film bekommen? Roland: Ja, und so einen unglaublichen 3-D-Effekt einfach auch, also der Hammer, das hat voll genial ausgesehen. Also voll 60erJahre und dann mit dem Super-8-Film und dann drüber immer Dias, vier gleichzeitig, immer wieder so kommend, gehend, kommend, gehend…
Der Ausschnitt zeigt Rolands Begeisterung über das beschriebene Konzerterlebnis. Zunächst sollen zwei Aspekte aus seiner Erfahrungsbeschreibung herausgegriffen werden. Das ist zum einen der Eindruck einer sehr heterogenen „Geräuschkulisse“ (Z. 33), die aber nicht als Chaos begegnet, sondern als „total spannend“ (Z. 38) empfunden wird, zum andern das Moment einer als gelungen wahrgenommenen Rhythmisierung sowohl in der Musik als auch im visuellen Anteil des Erlebnisses. Der angesprochene Song „… bleibt total locker, obwohl es einfach total stur durchgeht.“ (Z. 28 f.). Die Bilder der „DiaShow“ (Z. 38) sind „supergeil ineinander übergegangen“ (Z. 44), und zwar „immer wieder so kommend, gehend, kommend, gehend…“ (Z. 49 f.). Beide Momente, das Übergehen von einander zunächst als widersprüchlich erlebten Elementen in einen ganzheitlichen Zusammenhang und die Gleichzeitigkeit, mit der die einzelnen Elemente einer Erfahrung für sich stehen, sich aber auch in einen übergeordneten Rhythmus fügen, sind Momente, die Rolands Erfahrung als eine ästhetische Erfahrung kennzeichnen. Für John Dewey gehört wesentlich zu einer ästhetischen Erfahrung, dass sie sich als einheitliche Erfahrung einstellt und zugleich in ihren einzelnen Elementen aus einer inneren Vielfalt auf diese Einheit verweist: „Jede integrale Erfahrung besitzt Form, weil sie eine dynamische Organisation ist. Die Organisation nenne ich dynamisch, weil es zu ihrer Vollendung der Zeit bedarf, weil sie Wachstum bedeutet. In ihr liegen Beginn, Entwicklung und Erfüllung.“ (Dewey 1988a, S. 70). Das ist ein Prozess, der sich nicht einfach linear sukzessiv vollzieht, sondern der in seinem Ablauf ein dynamisches, rhythmisches Verhältnis zwischen Aktivität und Passivität, zwischen Spannung und Integration entwickelt. „Die Aufeinanderfolge von Schritten im Rhythmus der Erfahrung ermöglicht Bewegung und Vielfalt…“ (ebd., S. 71). In der von Roland beschriebenen Wahrnehmung der „spannend[en]“ (Z. 38) Beziehung der einzelnen Instru90
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mente und Stilelemente (Jazz und elektronische Musik) ebenso wie in dem als treffend empfundenen Zusammenspiel der einzelnen Dias scheint eine ganz ähnliche Simultanität von Vielfalt und Einheit durch. In diesem Zusammenhang ist darauf zu verweisen, dass in Rolands Schilderung wiederholt Metaphern fallen, die räumliche Assoziationen eröffnen: z.B. „Geräuschkulisse“ (Z. 33), „auf dich eingefallen“ (Z. 33), „unglaubliche[r] 3-D-Effekt“ (Z. 46). Das deutet darauf hin, dass hier eine Erfahrung beschrieben ist, die dem Schema nahe kommt, das Roland in seinem Stufenmodell vom „Erwachsen-Werden“ entwirft, das sich auch im Musikgeschmack zeigt (siehe den vorangegangenen Gesprächsausschnitt). Als dessen letzte Stufe beschreibt er eine entwickelte Selbstreflexivität, die auf einer distanzierten (nicht teilnahmslosen) Rezeption beruht. Die Beschreibung seiner Konzerterfahrung birgt in den eingewobenen Raumbildern eine entsprechende Distanz. Damit würde es in seiner Erfahrungsbeschreibung auch um das Machen von Erfahrungen gehen. Diese Selbstreferentialität ist ein oft begegnendes Motiv in der Theorie ästhetischer Erfahrung. Auch Dewey weist darauf hin: „In einer eindeutig ästhetischen Erfahrung sind Eigenschaften dominierend, die in anderen Erfahrungen unterdrückt werden; die untergeordneten, d.h. jene Eigenschaften, kraft derer die Erfahrung eine integrierte, ganzheitliche, aus sich selbst heraus bestehende Erfahrung ist, haben Kontrollfunktion.“ (Dewey 1988a, S. 71). Rolands Reflexion des Konzerterlebnisses durchläuft mehrere Dimensionen. Seine oben angesprochenen Impressionen (der Zusammengehörigkeit heterogener Musikelemente und ihrer stimmigen Rhythmisierung, die sich auch im optischen Eindruck bestätigt findet) generieren sich nicht zuletzt vor dem Hintergrund bisheriger geschmacklicher Gewohnheiten, von denen die beschriebene Musik abweicht. Eine wichtige Rolle spielt die dominante Basslinie, ein typisches Stilelement elektronischer Tanzmusik; sie ist allerdings nicht so dominant wie sie es in „Techno“ (Z. 27) oder „Goa“ (Z. 27) wäre, zwei Genres, die Roland offensichtlich nicht schätzt. Angesichts dieses Grenzbereichs des eigenen Geschmacks treten die besonderen Eigenheiten der erlebten Situation zu Tage. Rolands kurze Erzählung formiert sich schließlich zu einem Versuch, den erlebten Eindruck aufzuklären. Wenn man Hannes’ Zwischenbemerkungen in Rolands Schilderung in den Blick nimmt, dann wird sichtbar, dass er dessen Reflexionsbewegung begleitet. Er macht das in einer gestuften Weise: Zuerst knüpft er an sein Wissen über Roland und seinen bisherigen Geschmack an (Roland hält elektronische Musik bislang eher für „anstrengend“ (siehe Hannes und Roland – Popmusik als Gegenstand der Beziehung). Dann streut er zwei Nachfragen ein, die sich auf den jeweiligen Gegenstand von Rolands Bericht beziehen (den beschriebenen Song und die Diaprojektion im Rahmen des Konzerts). Seinen letzten Einschub schließlich kann man auch als Vorschlag lesen, den er Roland für dessen Beschreibung 91
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der Wirkung des Konzerterlebnisses macht. Insgesamt erscheinen Hannes’ Anmerkungen als eine behutsam unterstützende Teilnahme an der Reflexion Rolands, die das in Rede stehende Erlebnis in den entsprechenden Bezügen aufgreift. Die Dynamik seiner Beschreibung, die darin gebrauchten räumlichen Metaphern und die tentativen Berührungen mit den Grenzen des eigenen Geschmacks lassen sich nun nicht mehr ohne weiteres mit dem von Roland zuvor entworfenen Modell einer distanzierten Rezeption zur Deckung bringen. In der von ihm beschriebenen Erfahrung wird Roland auch ergriffen, er lässt sich auf die Dynamik der verschiedenen Elemente der Situation ein. Das freundschaftliche Gespräch zeigt sich hier als ein Erfahrungsraum, in dem die eigenen Einstellungen und Erfahrungen noch einmal fraglich werden und sich in der Reflexion vor und mit dem Freund neu formieren können. Bei Kracauer findet sich ein Gedanke, der von dieser Sichtweise aus kritisch weiterentwickelt werden kann. In unseren Interessen sieht Kracauer charakterliche Grunddispositionen ausgedrückt, die den „Typus“ (Kracauer 1971, S. 44) unserer Persönlichkeit ausmachen und er hält das Vorhandensein ähnlicher Interessen für eine wichtige Voraussetzung von Freundschaften: „Wahrhafte Freundschaft besteht in der Pflege ähnlicher Gesinnungen und setzt gemeinsame Entwicklung in den Bereichen des typischen Erkennens voraus.“ (ebd., S. 45 f.). Gerade die Kunst benennt er als einen Bereich, in dem nur „… typische Erkenntnisse … möglich [sind], solche, die auf Grund jener unveränderlichen seelischen Voraussetzungen mit zwingender Notwendigkeit gedacht werden müssen.“ (ebd., S. 44). Eine so rigide Auffassung von der Kontinuität persönlicher Identität erscheint aus heutiger Sicht fraglich. Angesichts umfassender Pluralität (z.B. von Lebensformen und Wertvorstellungen, aber auch in immer weniger linear sich entwickelnden Einzelbiographien) erscheint die Wahrung eines „einheitsstiftenden Sinn[s]“ (Mollenhauer 1994, S. 158) eher als fortwährende Aufgabe denn als Gegebenheit. Insofern ist die „gemeinsame Entwicklung in den Bereichen des typischen Erkennens“ (Kracauer 1971, S. 45) wohl weniger als eine Voraussetzung von freundschaftlichen Beziehungen anzusehen, sondern vielmehr als ein Geschehen in diesen Beziehungen selbst. Eben dies ist zwischen Roland und Hannes zu beobachten; wobei sich die Reflexion und Entwicklung des eigenen Geschmacks auch als ein Prozess im Rahmen freundschaftlicher Praxis zeigt, der sich wesentlich aus den Differenzen zwischen den Freunden speist.
Bildungsbedeutsame Erfahrungen von Hannes Die geschmacklichen Differenzen zwischen Roland und Hannes kommen auch zum Tragen, als dieser auf eine bestimmte Platte zu sprechen kommt 92
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und sie vorspielt. Roland lässt seinem Freund dabei zunächst nur bedingt Aufmerksamkeit zukommen. Bevor darauf eingegangen wird, wie sich schließlich doch ein Artikulationsraum für Hannes öffnet, sind anhand eines anderen Ausschnitts noch einmal die unterschiedlichen geschmacklichen Einstellungen der beiden Freunde anzusprechen.
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DK: Und wenn es dann da so Veränderungen gegeben hat: der Hannes steht mehr auf Gitarrensound und du bist halt irgendwie anders unterwegs, stehst auf so nicht seichtere, aber so gemütlichere Sachen, die nicht so anstrengend sind, war das... muss man sich da rechtfertigen dafür? Oder ist das irgendwie... Roland: Nee, man kann sich halt ganz gut damit verarschen zur rechten Zeit. Aber rechtfertigen nicht. Ich mein, jeder muss die Musik hören, die ihn dann irgendwie vorwärts haut oder... dementsprechend wie die Stimmung ist, legst du ja in der Regel auch auf und das ist halt bei mir möglichst... also jetzt auch nicht mehr so, jetzt ist es mir irgendwie zu anstrengend geworden wieder, also weil es nur diese Berieselung, aber ich hab es schon genossen, dass ich so ne Berieselung hab. Und Gitarrenmusik ist für mich nicht Berieselung gewesen, sondern da muss ich mich konzentrieren drauf... und ich will halt eher so was im Hintergrund, was ich irgendwie auch so vordergründig hören kann.
Auf eine entsprechende Frage erläutert Roland zunächst die Art und Weise, wie die Freunde mit geschmacklichen Unterschieden umgehen. Rechtfertigungen hält er in diesem Zusammenhang nicht für erforderlich. Allerdings kommt es durchaus dazu, dass sich die Freunde „…damit verarschen zur rechten Zeit.“ (Z. 6 f.). Im Rahmen eines entwickelten Taktgefühls kann der Geschmack des Freundes beizeiten also zum Gegenstand eines ironischen Spotts werden. Diese knappe Bemerkung deutet bereits eine Grundstruktur an: die Freunde lassen geschmackliche Fremdheit zwischen sich zu. Geschmackliche Differenzen irritieren sie nicht ernstlich, aber sie verstehen sie auch nicht primär als Anregung; trotzdem legen sie ihnen gegenüber eine gewisse Behutsamkeit an den Tag. Nur im richtigen Moment erlauben sie sich ironische Bemerkungen gegenüber dem Freund. Im zweiten Teil seiner Erläuterung schildert Roland dann noch einmal seine Hörgewohnheiten. Er skizziert zum einen wieder ein Verhalten, das ihn als „emotionalen Zuhörer“ (Adorno 1980, S. 185) zeigt: „… dementsprechend wie die Stimmung ist, legst du ja in der Regel auch auf…“ (Z. 9 f.). Zum andern unterscheidet er ein Hören, das sich in Form einer „Berieselung“ (Z. 12) vollzieht, von einem Hören, das Konzentration verlangt (vgl. Z. 13 ff.). Zentral ist für ihn dabei, dass der „Easy-Listening-Sound“, auf den er sich dabei 93
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bezieht (siehe Hannes und Roland – Popmusik als Gegenstand der Beziehung), atmosphärisch nur den „Hintergrund“ (Z. 16) einnimmt. Roland schließt mit einer doppeldeutigen Bemerkung; er hebt hervor, dass er die Musik, die er als Hintergrundstimmung genießt, „…irgendwie auch so vordergründig hören kann.“ (Z. 16 f.) Dieses vordergründige Hören kann nun einerseits ein nur oberflächliches Hören meinen, es kann aber auch ein Hören meinen, das seinen Gegenstand aus dem Hintergrund in den Vordergrund hervorholt und damit ins Zentrum der eigenen Aufmerksamkeit rückt. Die hier implizierten räumlichen Verhältnisse deuten an, dass es Roland nicht gefällt, wenn ihm Musik nicht die Wahl lässt, sich von sich aus auf sie einzulassen. Ob er aufmerksam zuhört oder nicht, das will er selbst entscheiden (siehe dazu auch seine Geschichte vom „Erwachsen-Werden“ im vorangegangenen Abschnitt). Diese räumlich strukturierte Aufmerksamkeit ist ein wichtiger Hintergrund bei der Betrachtung des nächsten Gesprächsausschnitts; es handelt sich um die eingangs erwähnte Szene, in der Hannes seine Begeisterung für eine bestimmte Platte schildert, Roland dem zunächst aber scheinbar kaum Teilnahme zukommen lässt. Hannes legt eine Schallplatte der amerikanischen Band Fugazi auf. Auf einen vorsichtigen Impuls hin entwickelt er die folgende Schilderung.
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DK: Es ist vielleicht eine Platte, die man jetzt besonders, also die halt jetzt gerade für die Situation ‚Spiel etwas vor, was dir gefällt.‘ taugt. Hannes: Ja. Also... ja. Und ich mag sie besonders gern, weil kein Gesang dabei ist. Und weil sie zwar auch mit richtigen Instrumenten gespielt ist und ich kenn die Band ja auch, wo sie wirklich loskrachen können, aggressiv und laut und reingeplärrt, aber dass die halt auch so etwas spielen können, was so filigran manchmal ist und ganz wenig und irgendwie so... Und manchmal hat es nämlich auch, nicht bei dem Lied jetzt unbedingt, aber vom Schlagzeug her so fast elektronische Einflüsse, vom Rhythmus fast wie, wie heißt das, ‚Ambient‘? DK: ‚Ambient‘ ist so ruhige, ganz ruhige elektronische Musik. Hannes: Ja, dann ist es das vielleicht doch... Oder manchmal sind auch so Breakbeats drin, die es vielleicht auch schon früher in der Rockmusik gegeben hat, aber die halt in elektronischer Musik oft auch kommen. Und das gefällt mir eben so. Die Verbindung von dem Klassischen, dass die sich aber auch mit der Zeit irgendwie bewegen und sich das Gute raussaugen – ich weiß nicht, ob sie es so machen – aber das gefällt mir wahnsinnig gut. Und jetzt hören wir es einfach an. (lacht) DK: Gefällt dir das?
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Roland: Ich setz mich gerade brutalst damit auseinander. (lacht) Nein, ich genieß es grad, ja. DK: Kennst du die? Roland: Nein. Ja. Ich weiß nicht. Hannes: Doch, die hab ich dir... die kennst du bestimmt. Bestimmt. Roland: Legst du wahrscheinlich meistens auf, wenn es gerade so eine Atmosphäre hat. Ja, da kann man sehr abgleiten bei der Musik. Das ist schon eine Musik, die einen so mitzieht. Hannes: Also, die andere Seite kennst du bestimmt. Leg ich mal die auf. (steht auf und will ins Nachbarzimmer gehen, als der nächste Song auf der LP beginnt) Nein, halt, den Song, der ist so... den mag ich so gern. Bei dem Song denk ich mir immer, die Band spielt irgendwie jetzt gerade im Moment los und weiß vielleicht selber noch gar nicht was wird, weil die das so, so… Roland: ...so zusammenwürfeln. Hannes: Zusammenwürfeln. Genau.
Die LP35, die Hannes auflegt, beginnt mit dem Stück „Pink Frosty Demo“. Zwei E-Gitarren tasten sich in ein kurzes Vorspiel. Die eine zupft gedämpft durchgehend ein und denselben Ton, während die andere in jedem Takt dieser Tonfolge einmal einen zwar recht lauten, weil abgedeckt gespielt aber auch relativ tonlosen Akkord schlägt. Auf den Rhythmus dieser Akkorde setzt das Schlagzeug mit leise gespielten Becken ein. Kurz setzen Schlagzeug und zweite Gitarre aus und nur die erste Gitarre tickt weiter. Dann beginnen beide Gitarren zusammen mit der Bassgitarre parallel mit dem Thema des Songs. Dieses Thema besteht aus nur wenigen Tönen eines Moll-Akkords: aus einer großen Terz zweier abwechselnd angeschlagener Töne wird durch Erhöhung des ersten Tons eine kleine Terz. Danach folgen drei Töne, die wiederum eine große Terz bilden und die in einer Abfolge vom höchsten Ton absteigend gespielt werden. Der letzte Ton dieser Terz entspricht dem ersten Ton der zuvor gespielten kleinen Terz. Dieses kreisförmige Wechselspiel wird nun einige Male wiederholt, sodass sich insgesamt eine Art Wellenbewegung ergibt. Ein kurzes Zwischenspiel, das sich im Wesentlichen auf den ersten Teil des Themas bezieht, transponiert diesen in eine etwas höhere Tonlage. Damit (Thema und Zwischenspiel) ist das Instrumentalstück in seiner Grundstruktur schon komplett. Insgesamt besteht es aus drei Sequenzen, in denen das Thema jeweils kaum moduliert wird, und zwei Zwischenspielen. Der Song bleibt bis auf zwei Ausnahmen sehr ruhig. Im zweiten Zwischenspiel ist eine Gitarrenrückkopplung zu hören, die mit viel Hall belegt ist, sodass ein fast querflötenartiger Klang entsteht und in der dritten Thema-Sequenz wirft das Schlag35 Fugazi: Instrument Soundtrack, 1999, Dischord Records 95
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zeug, das sich sonst auf eine einfache rhythmische Untermalung beschränkt, einen einzelnen, losen Trommelschlag ein. Dieser wirkt – ebenfalls mit viel Hall belegt – wie ein Pistolenschuss. Es scheint, als wollte das Stück eher einen Klangraum beschreiben, der solchen gestischen Elementen – oder entsprechenden Imaginationen auf Seiten der Hörer – Platz gibt, als dass mit seiner einfachen Gestaltung eine originäre Ausdrucksabsicht verbunden wäre. Hannes spricht diese sphärische Anmutung an, indem er auf eine Spielart elektronischer Musik verweist („Ambient“ (Z. 12), die durch ein konzentriertes Spiel mit nur geringfügigen Melodie- und Klangmodulationen ähnliche Stimmungen aufbaut. Der von Reduktion und Konzentration geprägte Song schmiegt sich insofern Hannes’ oben eingeholter Hörhaltung an, als er gerade mit der Differenz von Klang und Gestus spielt, die in Hannes’ „Lauschen“ impliziert ist (siehe Hannes und Roland – Popmusik als Gegenstand der Beziehung). Es geht um einen Klangraum, nicht darum, einer Haltung Ausdruck zu verleihen oder gar eine Geschichte zu erzählen. Ebenso signalisiert die Bemerkung: „Und jetzt hören wir es einfach an“ (Z. 20 f.), dass Hannes neben einer reflexiv-deutenden Perspektive, die auch in der Gesprächssituation begründet ist, ein aufmerksames Zuhören selbst als eine zentrale Rezeptionsdimension versteht. Die Haltung, die Hannes der Band zuschreibt (nicht als Ausdruck des Songs, sondern als ihr ästhetisches Konzept), ist ein zentraler Aspekt seiner Beschreibung. „Die Verbindung von dem Klassischen… sich aber auch mit der Zeit … bewegen und sich das Gute raussaugen…“ (Z. 17 ff.).36 Mit Frith, für den ästhetische Wertschätzung die Form einer ethischen Zustimmung annimmt, und zwar einer Zustimmung zu Gestaltungs-Motiven, die der Rezipient für das Entstehen des ästhetischen Gegenstandes unterstellt (vgl. Frith 1999, S. 158), lässt sich das nicht nur als Geschmacksurteil, sondern auch als Selbst-Entwurf verstehen. Hannes verknüpft mit der Berufung auf einen gewachsenen Geschmack dessen kontinuierliche, aber auch selbstbestimmte Weiterentwicklung. Kanonische Beständigkeit und situative Veränderung gehen dabei Hand in Hand. Hannes bezieht hier auf die „Zeit“, was er an anderer Stelle mit Bezug auf seinen Umgang mit der Pluralität verschiedener Musikstile formuliert: „…ich merk bei mir, dass ich aus vielen verschiedenen Musikrichtungen mir irgendwelche Sachen rausziehe, die mir halt einfach irgendwie gefallen.“ (siehe Hannes und Roland – Popmusik als Gegenstand der Beziehung). Auf eine persönlich-biographische Ebene ließe sich dieses 36 Damit trifft Hannes die Entwicklung von Fugazi ziemlich genau. Während die Band in den 1980er Jahren zu den führenden Formationen des USamerikanischen Hardcore-Punks zählte, griff sie in den 1990er Jahren auch offenere und komplexere Stilelemente auf, die im Genre des sog. Post Rock aufkamen (vgl. dazu Andersen/Jenkins 2006; zum Begriff Post Rock Bruckmaier 1999, S.94). 96
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Muster der bricolage so beziehen, dass Hannes es für wichtig hält, sowohl Kontinuität zu bisherigen Erfahrungen und Intentionen zu wahren, als auch zu einer selbstständigen Erneuerung und Erweiterung dieser Erfahrungen und Intentionen bereit und in der Lage zu sein. Das ist eine fast klassisch anmutende Bildungsambition; sie kommt dem Konflikt zwischen „Stabilitätszumutung“ (Mollenhauer 1994, S. 158) und „Veränderungszumutung“ (ebd.) sehr nahe, den Mollenhauer als unauflösliche Grundstruktur der Selbstvergewisserung der Subjekte über ihre Identität beschreibt. Für Rolands Beteiligung an Hannes’ Reflexion ist festzuhalten, dass er sich zunächst der Teilnahme an der Reflexion seines Freundes enthält (seine Äußerungen werden durch Nachfragen im Interview angestoßen). In seiner ersten, merklich ironischen Einlassung (vgl. Z. 23 f.) scheint zudem durch, dass er sich mit dem Musikstück, das Hannes vorspielt, nicht wirklich auseinandersetzt. Er hält sich, um auf die Raumdimensionen seiner oben angesprochenen Hörhaltung zurückzugreifen, in einer deutlichen Distanz. Als Hannes ihn jedoch darauf anspricht, dass er die LP „bestimmt“ (Z. 27) kennt, geht er etwas näher auf den Song ein. Dabei greift er allerdings augenscheinlich auf das Muster eines der eigenen Stimmung gemäßen Hörens zurück, das er vorhin für sich beschrieben hat. Wobei sein Hinweis auf die „Atmosphäre“ (Z. 30) und das mögliche „[A]bgleiten bei der Musik“ (Z. 30 f.) durchaus auch auf den von „Pink Frosty Demo“ eröffneten Klangraum eingeht. Als Hannes dann beim Beginn des zweiten Stücks der laufenden Platte noch einmal seine Begeisterung betont, nimmt Roland nicht nur im Modus des Dialogs an dessen Beschreibungsversuch teil, er selbst führt Hannes’ Reflexion zu einem auch für seinen Freund treffenden Begriff. Auch das zweite Stück („Lusty Scripps“) ist wie das vorangegangene eine live (allerdings ohne Publikum) eingespielte Instrumentalnummer. Auf eine fast stur wirkende Basslinie legen sich nach und nach die beiden Gitarren und das Schlagzeug. Zuerst wirkt das Zusammenspiel der Instrumente recht disparat. Aber gerade dadurch, dass alle Instrumente ihre eigene Gangart beibehalten, stellt sich nach einigen Takten ein zwar leicht verschobener, aber doch stabiler Groove ein. In seiner fragilen Dialektik von Asynchronizität und Rhythmus erinnert das Stück an ein eher versuchsweises Spiel der Band, ganz so wie es sich im heimischen Proberaum ergeben könnte. Wenn Hannes und Roland das also als einen offenen Prozess deuten, der in eine momentane Passung mündet, dann antworten sie damit einerseits auf die spezifische Materialität des Musikstücks, sie schließen aber auch an den von Hannes zuvor entwickelten bricolage-Gedanken an. Obwohl eingangs zu beobachten war, dass sich Roland einer Beteiligung an Hannes’ Reflexionen größtenteils enthält (s.o.), so zeigt sich hier, dass er aus einer (mit geschmacklichen Differenzen zusammenhängenden) eher distanzierten Haltung auch heraustritt und im Dialog sowie auf synchrone Art 97
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und Weise an Hannes’ Reflexion teilnimmt. Diese Zuwendung aus einer distanziert zuhörenden Haltung in ein zwar nicht ausgreifendes, nichtsdestotrotz aber prägnantes Mitvollziehen der Selbstreflexion des Freundes macht einen Erfahrungsraum sichtbar, in dem beide zwar nur wenig dialogisch oder gemeinsam über Musik reflektieren, der jedoch insoweit ein gemeinsamer Raum ist, als Roland „zur rechten Zeit“ (so wie die Freunde auch ihren Spott dosieren, s.o.) die Perspektive seines Freundes mit übernimmt. Roland zeigt im freundschaftlichen Gespräch mit Hannes eine Flexibilität, die dem von ihm zuvor entfalteten Gedanken der räumlichen Flexibilität seiner Aufmerksamkeit entspricht. In Bezug auf die von Hannes am ästhetischen Material entwickelte Bedeutung, oder um es kurz zu sagen, in Bezug auf seine Erfahrung, deren zentraler bildungsbedeutsamer Aspekt das biographische Muster der bricolage ist, bleibt festzuhalten, dass Roland hierzu zwar quantitativ wenig spezifische Impulse beisteuert; anhand seiner pointierten Teilhabe an Hannes Reflexion wird jedoch deutlich, dass er mit seinem Freund gleichwohl eine spezifisch freundschaftliche Sphäre aufrecht erhält, die beiden als Artikulationsraum für ihre Erfahrungen dient.
Gemeinsame bildungsbedeutsame Erfahrungen von Roland und Hannes Auf die Frage, wie sie sich kennengelernt haben, entwickeln Hannes und Roland eine ausführliche Erzählung. Es zeigt sich nicht nur deutlich, dass die beiden eine besonders dauerhafte Freundschaft führen; zudem verknüpft sich die Geschichte ihrer Freundschaft auf bemerkenswerte Weise mit ihren Biographien.
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DK: Eine Frage zur Freundschaft und nicht zur Musik. Es würde mich einfach interessieren, seit wann ihr euch kennt. Hannes: Seit dem vierten Lebensjahr. Dreieinhalb bis vier. Haben uns im Kindergarten kennengelernt. Roland: Bei den Schlümpfen. Hannes: Genau. DK: Ja, wisst ihr das noch, wie das war... Roland: Nein, aber ich glaube, der Hannes hat mehr Schlümpfe gehabt. (Hannes und Roland lachen) Hannes: Ja du hast... Roland: ...es ging immer um den kleinen schwarzen Schlumpf. Das war irgendwie der coolste. Hannes: Genau. Roland: Frag mich aber nicht, ob ich den gehabt hab oder du. Hannes: Du.
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Roland: Ich. Und den wolltest du mir wegnehmen wahrscheinlich. Hannes: Nein, der war nur cool, weil du gesagt hast, der ist cool. (Alle lachen) Roland: Aber ich weiß nicht, ob ich den hab... ja beim Schlümpfe-Spielen, genau. In der Spatzengruppe bei Hanni. DK: Das war dann dieselbe Kindergartengruppe auch? Hannes: Ja. Aber, also anscheinend, laut Erzählungen haben wir uns schon mal beim Spazierengehen getroffen. Deine Eltern und meine Eltern. Roland: Echt? Hannes: Ja, das war kurz bevor wir in den Kindergarten gekommen sind. Roland: Und die Eltern waren sich einig, dass wir uns da angelächelt haben vom Kinderwagen aus. (lacht) Hannes: Nein, laut Erzählungen haben wir uns beim Gehen irgendwie so geschubst. Roland: Ah ja. Das ist aber üblich in dem Alter. Da schubst man gern. Hannes: Ja klar: ‚Was ist das für einer? Schauen wir erst mal, wie stark der ist.‘ (Alle lachen) DK: Und die Grundschule war dann auch die gleiche? Roland: Ja. DK: Man kann sich ja in die gleiche Klasse einschulen lassen. War das... Hannes: Ich weiß nicht, ob die Eltern da irgendwas gesagt haben. Roland: Nein, das war durch das, dass wir beide in der Spatzengruppe waren. Und ich war ziemlich geil auf die Schule. Ich hab extra so einen Einstellungstest machen müssen, weil ich im Juli geboren bin und musste irgendwelche Autofarben zusortieren oder so und dann bin ich auch früher rein gekommen. Hannes: Ja, aber dass wir in eine Klasse gekommen sind... Roland: Nein, das war Zufall. Hannes: ...war nicht ausgemacht. Roland: Ja stimmt, da haben wir Glück gehabt. DK: Und nach der Grundschule? Hannes: Bin ich aufs Gymnasium. DK: Und du ... Roland: Ja, ich bin durchgefallen beim Aufnahmetest. (lacht) Das war herzzerreißend. Da hab ich total gelitten. Die hat erst gesagt, ich hab’s geschafft, und dann hat sie gesagt, ich hab’s nicht geschafft. Und dann bin ich total durcheinander gekommen. Hannes: Ah, das ist blöd. […] DK: Und du auf dem Gymnasium… 99
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Hannes: Ja, genau, das war dann auch dramatisch. DK: Bist du durchgefallen? Hannes: Nein, nicht durchgefallen, sondern von der Schule gegangen. 65 Roland: Ja. Hannes: Ich hätte zwar die siebte noch mal machen können, aber... ich glaube, meine Eltern haben gesagt: ‚Geh halt lieber auf die Realschule. Das bringt einfach mehr.‘ Und... ich weiß nicht, ob ich von mir aus gesagt hätte, ich mach die siebte noch mal, 70 keine Ahnung. DK: Und du warst dann auch auf der Realschule? Roland: Ja, nein, erst auf der Hauptschule. Du musst ja zwei Jahre Hauptschule machen, bevor man in die Realschule kann. Und da hab ich mich dann durchquälen müssen, das war die 75 Hölle. DK: Und dann? Roland: Dann ist der Hannes in die Realschule, von der siebten in die siebte... Hannes: Und du warst in der achten. 80 Roland: ...und ich war in der achten. Hannes: Genau. Und in der neunten... Roland: ...da hab ich dann freiwillig wiederholt. Hannes: ...sind wir in die selbe Klasse gekommen. Da waren wir dann wieder in einer Klasse. 85 Roland: Genau. Das war irgendwie so, da hab ich schon gewusst, der Hannes ist eins unter mir, und selber war ich da auch grad nicht besonders hinterher und ... (lacht) Hannes: Das passt eh gerade. (lacht) Roland: ...dann hab ich gedacht, jetzt wiederhol ich, das eine 90 Jahr, das gönn ich mir... Hannes: Aus Solidarität! Roland: ...weil ich schon mit sechs Jahren in die Schule gekommen bin. Und dann eine Klasse, das war natürlich dann hervorragend, unschlagbar, sozusagen. (Hannes lacht) Außerdem 95 dann doch... (lacht) einer von den Deppen, den Älteren schon in der Klasse... Hannes: Ja, obwohl, da waren zwar welche wie der Moser, zum Beispiel bei der Abschlussfahrt... Roland: Ja, also in der Klasse vorher, da war ich der absolut 100 Jüngste, aber dann das Jahr später, da waren wir dann schon eher, klar... Hannes: Stimmt, da waren wir dann schon die Älteren. Roland: Da haben uns schon Mädchen besucht, in der Realschule. Das war für die anderen ja, das war für die der Wahn-
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105 sinn. Und eine Farbige war auch dabei. (Hannes und Roland lachen) Hannes: Und Rockabilly? Wie passt das? (Alle lachen) DK: Das geht eigentlich nicht zusammen. Roland: Genau. Ja, das haben die nicht gewusst, Gott sei Dank. 110 Das haben wir selber nicht gewusst. Hannes (lacht): Ja. DK: Ja, und dann, nach der Realschule? Hannes: Nach der Realschule hat der Roland die Ausbildung gemacht beim... 115 Roland: [Name von Rolands Ausbildungsbetrieb]. Hannes: Und ich die Schreinerlehre. Roland: Und dann ist der Hannes auf die FOS gegangen und ich hab Zivildienst gemacht. Hannes: Genau. 120 Roland: Und dann hat der Hannes Zivildienst gemacht und ich hab mich schon selbstständig gemacht. Hannes: Genau. Roland: Und dann bist du auf die FOS. Hannes: Ja, und dann hab ich Zivildienst in Nürnberg gemacht. 125 Roland: Noch mal? Oder hast du nach der FOS... Hannes: Ne, auf die FH, auf die FH! Roland: Ach ja. Hannes und Roland erzählen mir bzw. einander gemeinsam, wie sie sich kennen gelernt haben. Ihre jeweiligen Äußerungen sind eng und stringent miteinander verknüpft. Bevor diese sprachliche Struktur hier näher betrachtet wird, ist zunächst ein anderer Aspekt in der Erzählweise anzusprechen. Hannes und Roland erzählen die Geschichte ihrer Freundschaft nicht nur so, dass sie dabei bestimmte Inhalte mitteilen, an manchen Stellen zeigt sich, dass sie ihrer Darstellung auch eine besondere erzählerische Form geben. Die „Schlümpfe“ (Z. 5 und 8) markieren für beide die Situation ihres Kennenlernens. Sie sprechen nicht nur den Anlass an, bei dem sie sich im Kindergarten kennen gelernt haben, sie sprechen vor allem über die Spielfiguren, die dabei eine wichtige Rolle spielen. Sie beziehen sich damit auf dieses Spielen bzw. diese Spielfiguren als wichtige Erinnerungsträger im Zusammenhang mit ihrer Freundschaft. Als zentrale Requisiten verweisen die „Schlümpfe“ auf die Situation ihres Kennenlernens. Ein Gegenstand oder eine Situation, die in der Literatur auf diese Weise in Erscheinung treten (den Sinn einer Erzählung mittragend, ohne im Eigentlichen an ihrem Fortlauf beteiligt zu sein und ohne anders als zeichenhaft auf ihn zu verweisen) bezeichnet man als Motiv. Ebenso bringt Roland die „Schlümpfe“ ins Spiel – und Hannes geht wie selbstverständlich darauf ein. Beiden genügt es, auf ein Detail zu verweisen, um damit die Situation in 101
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ihrer Bedeutung einzuholen. Insofern kann man hier die „Schlümpfe“ auch als Motiv verstehen. Dabei geht es allerdings weniger um eine begriffliche Einordnung; vielmehr ist von Belang, welche Implikationen mit der entsprechenden Art zu erzählen einhergehen. Roland und Hannes geben durch ihre motivgestützte Erzählweise ihrer Geschichte eine besondere Verbindlichkeit. Sie führen sie als entwickelt bzw. gegeben vor, ohne sie auszuformulieren – so, als sei das gar nicht mehr nötig. Diese Selbstverständlichkeit scheint auch in einem zweiten Phänomen in der abgedruckten Sequenz auf. Hannes kommt gleich nach dem Abschnitt zu ihrem Kennenlernen auf eine Anekdote zu sprechen, die zeitlich noch weiter zurückliegt und die die Freunde dann in ein bemerkenswertes Verhältnis zu ihrer Freundschaft setzen. Hannes spricht die erste Begegnung mit Roland an: „… laut Erzählungen haben wir uns schon mal beim Spazierengehen getroffen.“ (Z. 23 f.). Und Roland kommentiert das: „Und die Eltern waren sich einig, dass wir uns da angelächelt haben vom Kinderwagen aus“ (Z. 29 f.), obwohl er zunächst von Hannes’ Anmerkung überrascht ist (vgl. Z. 26). Damit implementieren die Freunde im erzählenden Rückgriff auf die Zeit vor der eigenen Erinnerung Gegebenheiten, über die sie nicht direkt verfügen können (eben weil sie keine Erinnerung daran haben), in einen eigenen Bedeutungszusammenhang. Oder, kurz gesagt, Roland und Hannes nehmen eine quasimythologische Ordnung vor. Hannes’ Anekdote entwirft eine gemeinsame Geschichte, die, wenn man so will, noch vor dem eigenen Bewusstsein beginnt. Und Rolands Entgegnung skizziert ein Bild, in dem sich schicksalhafte Begegnung und eine Art arrangierter Freundschaft („die Eltern waren sich einig“) überlagern. Auch als Roland und Hannes von ihren Schullaufbahnen berichten, legen sie nahe, dass deren jeweiliger Verlauf ihrer Freundschaft entgegen kommt; womit implizit diese Freundschaft auch als ihren Schullaufbahnen übergeordnet und nicht durch sie (mit-)bedingt erscheint. Mit der gemeinsamen Einschulung haben Hannes und Roland „Glück gehabt“ (Roland in Z. 50) und Rolands Wiederholung der neunten Klasse Realschule „passt eh gerade“ (Hannes in Z. 88). Ob sich Hannes’ und Rolands Freundschaft ohne einen gemeinsamen Schulbesuch ähnlich entwickelt hätte, darüber braucht hier nicht spekuliert zu werden. Entscheidend ist, dass beide eine Sicht entwerfen, in der ihre Freundschaft als Grundordnung gegeben ist, an die sich äußere Umstände anpassen. Eine parallele Struktur (Rolands und Hannes’ Freundschaft als ordnungstiftende Konstante, die verschiedene Lebenssituationen verbindet) lässt sich entdecken, wenn man die oben abgedruckte Szene auf das Verhältnis hin betrachtet, das Hannes und Roland zwischen ihren Biographien und der Geschichte ihrer Freundschaft entwickeln. Nach der Episode ihres Kennenlernens antworten die Freunde auf einige biographisch ausgerichtete Nachfragen, zunächst mit Bezug auf gemeinsame biographische Stationen, dann aber 102
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auch zu ihren verschiedenen Schullaufbahnen. Hier zeigt sich, dass die beiden ihre Biographien auch dann gemeinsam erzählen, wenn sie sich nicht auf gemeinsame Erfahrungen beziehen. Das gilt für die verschiedenen Schulwege ebenso wie für ihren jeweiligen Berufsweg. Besonders die Erzählweise von Roland und Hannes am Ende der Sequenz zeigt, dass die beiden ihre Lebensgeschichten verknüpfen: in erstaunlicher Symmetrie und in einer auffällig rhythmischen Gliederung schildern sie – auch einander (Roland: „Dann bist du auf die FOS.“ (Z. 123)) – ihre Bildungswege (vgl. Z. 113 ff.). Obwohl sie natürlich von zwei Lebensläufen erzählen, teilen sie sich dafür eine biographische Erzählung. In dieser Verbindung zeigt sich die Freundschaft von Hannes und Roland als bestimmendes Element: die Geschichte ihrer Freundschaft wird hier zu ihrer Lebensgeschichte. An diesem Punkt ist auf das oben angesprochene gemeinsame Erzählen von Hannes und Roland einzugehen. Wenige und knappe Frageimpulse genügen, um eine zunächst dialogische Erzählung der beiden anzustoßen, die sie weitgehend alleine bestreiten. Roland und Hannes verknüpfen ihre Sprecherperspektiven auch durch den Gebrauch eines geteilten Erzählmotivs (die „Schlümpfe“) und sie spielen am Ende der Sequenz geradezu Pingpong mit ihren Lebensläufen. Zwar wechseln sich die beiden Freunde auch hier als Sprecher ab, sie reihen dabei aber nicht Rede und Gegenrede aneinander. Insofern liegt kein gewöhnlicher Dialog vor. Hannes und Roland ergänzen einander in einer gemeinsamen Schilderung. Obwohl sie abwechselnd sprechen, beziehen sie sich auf einen gemeinsamen Gedankengang, zu dem sie beide einzelne Teile beitragen. Wieder hilft ein Blick in die Literaturwissenschaft. Die Poetik kennt als eine Form des Dialogs den Wechsel bzw. Wechselgesang. Neben einer Nähe zu zeremoniellen und bewusst kunstvollen Redeformen (nicht nur die obige Szene legt nahe, dass Roland und Hannes miteinander zu sprechen ‚gelernt‘ haben) fungiert der Wechsel v.a. als Ausdruck von Geselligkeit (vgl. Bauer 1997, S. 133). „Das Mustergültige [des] Wechselgesangs liegt darin, dass er das Verhältnis der Sprecher genau, aber nicht direkt ausdrückt: Er zeigt es nur in einem gemeinsamen, im einzelnen auch konkurrierenden Spiel der beiden mit der Sprache…“ (ebd., S. 134). In der Tat erscheint die angesprochene Szene als ein zusammengehöriger Erzählstrang, an dem sich zwar zwei Sprecher beteiligen, die aber nicht zwei verschiedene Perspektiven vertreten, sondern sich gemeinsam für dieselbe Perspektive für verantwortlich halten. Dagegen spricht nicht, dass sich die beiden Freunde an diesen Stellen oft ins Wort fallen und einander oft unterbrechen. Gerade dieses wechselseitige Einfallen in den vom Anderen gesprochenen Satz verweist darauf, dass beide ein Wissen darüber beanspruchen, worauf der Andere hinaus will und dass sie sich nicht nur für grundsätzlich berechtigt halten, den Anderen zu ergänzen, sondern sich auch als mit dafür zuständig verstehen, seine Aussage adäquat weiterzuführen. Diese gemeinsa103
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me Erzählhaltung geht sogar so weit, dass den beiden Freunden eine Art gemeinsamer Fehler unterläuft: Roland verwechselt Fachober- und Fachhochschule und Hannes knüpft an diese Aussage ohne jeden Vorbehalt an; erst dann fällt den beiden ihr Irrtum auf (vgl. Z. 125 ff.). Hannes und Roland erzeugen durch ihr gemeinsames Erzählen eine Synchronisierung ihrer Biographien. Beide übernehmen jeweils nicht nur für sich, sondern auch für den Freund biographische Verantwortung: sie sprechen einander zu, wie ihre Biographien verlaufen sind. Hier könnte eingewendet werden, dass Hannes und Roland von Sachverhalten (Schullaufbahn, Berufsweg) sprechen, die eher den äußeren Rahmen der Biographie ausmachen, aber nicht im Kern einer individuellen Bedeutungszuschreibung durch das biographische Subjekt zu verorten sind. Mit Loch lässt sich hier unterscheiden: Hannes und Roland sprechen von ihren Lebensläufen, nicht von ihren Lebensgeschichten (vgl. Loch 1979, S. 14 ff.). Das bedeutet aber nicht, dass sie damit in einer biographischen Dimension bleiben, die die persönliche Lebensgeschichte nicht affiziert. Zwar ergibt sich ein subjektiver Sinnzusammenhang nicht allein aus gesellschaftlichen Präskripten, aber er ergibt sich auch nicht ohne sie. Lebenslauf und Lebensgeschichte sind dabei nicht zwei Stufen in einem Prozess der sukzessiven biographischen Sinnerschließung, sondern ineinander verschränkte Dimensionen einer Biographie. Der Lebenslauf gehört zur Lebensgeschichte, diese ist ohne ihn nicht denkbar. Wenn Roland und Hannes mit ihren Lebensläufen also gemeinsam in der oben beschriebenen Weise umgehen, dann impliziert das auch, dass sie sich als biographische Subjekte gegenseitig stützen. Durch diese gegenseitige Mitverantwortung schaffen sie die Möglichkeit der Konstruktion einer gemeinsamen Lebensgeschichte. Und dass die beiden sich nicht nur diese Möglichkeit grundlegen, sondern davon auch spezifischen Gebrauch machen, zeigt der nächste Ausschnitt. Es geht um ihre ersten Kontakte zur lokalen Szene der Teds.
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Hannes: Ja, da haben wir uns irgendwann einmal den... also, ich glaube, für das war der Ausschlag echt der Wanderer-Film. Roland: Ja. Hannes: Irgendwie... Roland: Bei mir war auch einer in der Klasse, der Tino. Hannes: Stimmt. Der Tino. Roland: …der schon Ted war. Und der uns dann mal ne Kassette aufgenommen hat. Und dann hat’s „Schnack!“ gemacht. Und dann haben wir gewusst, jetzt, das ist’s. Und haben dann natürlich auch die coolen Plätze besucht, wo lauter 25-jährige alte Suffköpfe rumgestanden sind. (Alle lachen.) Und der Hannes war der erste, der dann begrüßt wurde. Mit Handschlag. Vom Hockie. Müllfahrer. Zwei Meter groß. Der dann gemeint hat: „Servus!“
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Hannes: Ich hab zuerst gemeint, ich krieg eine gefotzt, aber... (Alle lachen.) Roland: Ab dem Moment haben wir gewusst: Wir sind drin! Jetzt: Gang! Und, wie alt waren wir da? 15, 16, 15? Hannes: 15, 16 so. Mhm. Roland: Und ab dem Moment: Ted! Hannes: Mhm. (nickt) Roland: Und dementsprechend dann die Musik ausgebaut. Hannes: Und der Traum von einer Gang, aber das ist leider nie was geworden. (Alle lachen.) Oder vielleicht auch Gott sei Dank. Roland: Ja, weil wir nicht zu den „Rebels“ wollten. Die waren komisch. Hannes: Das waren Lutscher. Roland: Wir wollten die „Wanderer“ Jacken, aber die hat’s nicht gegeben. Hannes: Ja, so war das.
Betrachtet man, wie die beiden Freunde hier miteinander sprechen, also worauf sie Bezug nehmen, was sie mitteilen und in welcher Form sie das tun, so sind vor allem der Kontext der Äußerungen (Hannes’ und Rolands Aufnahme in die ‚Szene‘) und die Mitteilungen, die Hannes und Roland in diesem Zusammenhang machen, zu beachten. Dabei besteht der Kontext zuerst im Interesse, wann und wie der Kontakt zu den „Ted[s]“ (Z. 7) vonstatten ging. Schon die erste Einlassung von Roland (Z. 5), der auf den Einfluss eines Klassenkameraden verweist, schließt ergänzend auch an den Erklärungsansatz von Hannes (Z. 1 f.) an, für den ein amerikanischer Kinofilm37 „der Ausschlag“ (Z. 2) war. Roland führt seine Schilderung (Z. 7 ff.) also in einem doppelten Kontext aus: sie ist Fortführung und Ergänzung der von Hannes angefangenen Erklärung. Als sich Hannes wieder zu Wort meldet (Z. 14), geschieht das im Kontext der Schilderung von Roland. Schließlich mündet diese Schilderung in die wechselseitige Erläuterung (Z. 21 ff.) der Effekte, die mit dem Eintritt in die Gruppe der Teds zusammenhängen. Dabei beziehen sich Hannes und Roland jeweils auf die Erklärungen des Anderen. Insgesamt tendiert der Kontext aus einem äußeren Zusammenhang (das o.g. Interesse) in einen für Roland und Hannes gemeinsamen, inneren Zusammenhang (ihre Erinnerung). Die Mitteilungen der beiden sind zunächst deutlich auf den Kontext ausgerichtet. Mit seiner Äußerung in den Zeilen 12 ff. verändert Roland dann das Verhältnis zwischen Kontext und Mitteilung. Indem er die Schlüsselszene seiner Schilderung in sechs kurzen, markant aneinander gereihten Wortfolgen wiedergibt, tritt die Mitteilung selbst, also die spezifische sprach37 „The Wanderers“: amerikanischer Kinofilm aus 1979, der die Geschichte rivalisierender Jugend-Gangs erzählt. 105
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liche Form der Äußerung, gegenüber dem Kontext der Äußerung hervor. Schulze sieht in solchen sprachlichen Veränderungen Hinweise für eine herausgehobene biographische Bedeutung des geschilderten Ereignisses: „Die Darstellung wechselt vom Epischen ins Dramatische. Der ereignishafte und situative Charakter wird betont. Gleichzeitig scheint die Einstellung der Erinnerung an Schärfe zu gewinnen.“ (Schulze 1979, S. 61) Rolands Darstellung verweist hier nicht mehr nur auf den Ablauf der von ihm erinnerten Begebenheit, sie signalisiert in ihrer besonderen Gestaltung auch, dass es um etwas Wichtiges geht. Mit dieser Verschiebung (der Kontext verschwindet nicht, aber die Mitteilung selbst kommt deutlicher zum Vorschein) gerät dann auch der Aspekt des Empfängers in Bewegung. Beziehen sich Hannes und Roland zu Beginn dieser Sequenz deutlich auf das in der Interviewsituation vorgebrachte Interesse, so lösen sie sich an dieser Stelle von dieser Ausrichtung ihrer Mitteilungen und beziehen sich immer deutlicher aufeinander, bis sie sich am Ende nicht nur ergänzen, sondern auch gegenseitig begründen. Neben der Art, wie die einzelnen Äußerungen von Roland und Hannes ineinandergreifen, ist auch das Gesamtgefüge zu betrachten, in dem sie zusammenfinden. Hier zeigt sich ein bemerkenswerter Wandel des Verhältnisses der Sprecher zueinander. Während Hannes anfangs seine Sicht einbringt, greift Roland diese mit auf und spricht für sich und Hannes. Schließlich sprechen Hannes und Roland abwechselnd, aber gemeinsam für sich gemeinsam; erneut liegt hier, in poetologischem Vokabular ausgedrückt, eine Art Wechsel bzw. Wechselgesang vor. Dabei fügen sich die beiden Freunde (natürlich ohne ihr jeweiliges Subjektsein tatsächlich aufzugeben) sprachlich gleichsam in dieselbe Subjektivität.38 Bis auf den ironischen Einwurf von Hannes (Z. 14) sprechen beide Freunde nach der Schlüsselstelle der Sequenz auch nicht mehr in der ersten Person Singular. Etwas vorausgreifend könnte man sagen: es spricht das Freundschafts-Subjekt. Hannes und Roland sprechen von derselben Begebenheit und tragen dazu einander wechselseitig ergänzend einzelne Bausteine bei. Die Art, in der sie von ihrem gemeinsamen Erlebnis sprechen, verweist darauf, dass dieses Erlebnis für beide jeweils nicht eine individuelle, sondern eine gemeinsame Bedeutung hat. Das Besondere der vorliegenden Sequenz ist insofern, dass Roland und Hannes eine gemeinsame Erzählung schaffen. Darauf verweist auch die Rahmung der Sequenz durch die Erwähnung des Films „The Wanderers“ (durch Hannes) und der Jacken, die in diesem Film getragen wurden (durch Roland). Hier zeigt sich wie im vorangegangenen Gesprächssausschnitt eine motivgestütze Erzählweise der beiden Freunde, durch die sie ihrer Geschichte eine „spezifische Mehrstimmigkeit“
38 Zur Unterscheidung zwischen dem Aussage-Subjekt (dem Sprecher) und der Subjektivität einer Aussage (ihrem „polaren Bezug auf Objektivität“) vgl. Hamburger 1971, S. 41 ff. 106
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(Ricoeur 1972, S. 272) geben. Sie signalisieren, dass ihre Äußerungen mehr bedeuten, als an der Oberfläche sichtbar ist. Durch ihre enge Verflechtung in der Erzählung entwickeln Hannes und Roland in der intersubjektiven Sphäre der Sprache eine gemeinsame Erfahrung. Das ist ein zentraler Aspekt ihres gemeinsamen Erzählens: sie erzählen nicht von je individuellen Erfahrungen, sondern von einer Erfahrung, die ihnen als Freunde gemeinsam ist. Wenn man nun danach fragt, welche biographische Bedeutung Roland und Hannes in ihrer gemeinsamen Erzählung dem geschilderten Erlebnis zuweisen, worin hier also ihre bildungsbedeutsame Erfahrung besteht, so drängt sich ein Aspekt auf: Die Aufnahme in die Gruppe der Teds ist leicht als Initiationsereignis zu lesen. Es lässt sich die Unsicherheit der Schwellenphase („Ich hab zuerst gemeint, ich krieg eine gefotzt...“ (Hannes in Z. 14.)) ebenso wiederfinden wie ein unmittelbarer Identitätsgewinn („Und ab dem Moment: Ted!“ (Roland in Z. 19)). Mit der Aufnahme in die Gemeinschaft der Peergroup verweist die kleine Szene jedoch auch auf eine umfassendere Passage. Als subkultureller Raum erfüllt die Szene der Teds im Kleinen jene Bedingungen wie sie im Großen für das Jugendmoratorium bestehen. Friebertshäuser trägt verschiedene Sichtweisen auf Jugend als Initiation in gesellschaftliche Strukturen zusammen und hält im Anschluss an Erikson fest: „In modernen Gesellschaften umschreibt … der Begriff des Moratoriums das, was in archaischen Kulturen als Teil des Initiationsritus gefasst wurde, die Zwischenphase, in der die NovizInnen sich sozusagen ‚zwischen den Welten‘ befinden.“ (Friebertshäuser 1992, S. 41). Betrachtet man den Ausschnitt als metaphorische Erzählung zur Adoleszenz, also der Schwellenphase zum Erwachsenenalter, dann zeigt sich, dass sich beide Freunde deutlich jenseits dieses Übergangs sehen. Die lakonische Bemerkung von Roland („Suffköpfe“ (Z. 11)) macht klar, dass das Bild der Gemeinschaft außerhalb der Gesellschaft entzaubert ist; die einst beeindruckende Pose ist profan geworden. Bemerkenswert ist allerdings, wie die beiden ihre Erinnerungen zur Sprache bringen. Roland beschreibt nicht, wie sich die neue Zugehörigkeit auf ihr Selbstverständnis ausgewirkt hat, er formuliert mimetisch: „Und ab dem Moment: Ted!“ (Z. 19); damit greift er ziemlich direkt auf den angesprochenen Moment zurück. Auch Hannes spricht zuerst die einstige Enttäuschung darüber an, dass aus dem „Traum von einer Gang“ (Z. 22) nichts geworden ist, bevor er eine distanziertere reflektierende Bemerkung anschließt. Diese Momente verweisen nicht nur darauf, dass Roland und Hannes sich als Erwachsene verstehen, die sich von Formen jugendtümlichen Verhaltens emanzipiert haben. Sie zeigen auch Verhaltensweisen „subjektiver Anverwandlung“ (von Hentig 2004, S. 118), mit denen sie auf ihre Jugend zurückgreifen und sie spielerisch gegenwärtig werden lassen. Damit inszenieren sie sich in gewisser Weise zugleich als Jugendliche und Erwachsene. Das ist dabei weniger eine ambivalente Verortung zwischen diesen Lebensabschnitten als vielmehr eine 107
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Haltung, in der das Erwachsensein bewusst von der Jugend unterschieden wird. Die beiden Freunde führen einander implizit vor: ‚So ist es nicht mehr.‘ Und mit dem Ausdruck dieser Haltung in ihrer gemeinsamen Erzählung erzeugen (oder verfestigen sie mindestens) diesen Anspruch. In dieser Szene lässt sich zwischen Roland und Hannes also mit Bezug auf die gemeinsame Konstruktion eines Stücks Lebensgeschichte beobachten, was sich zuvor mit Bezug auf ihre Lebensläufe gezeigt hat. Die zum Ende des Ausschnitts hin immer stringenter wechselseitig fortgeführten Äußerungen fügen sich zu einem Erzählstrang, an dem sich beide als Sprecher beteiligen, dabei aber nicht zwei verschiedene Perspektiven vertreten, sondern gemeinsam dieselbe Perspektive einnehmen. Die Reziprozität der Beiträge macht deutlich, dass beide ein entsprechendes Wissen über den Anderen haben und im Gespräch darauf zurückgreifen. In der Bestimmtheit des Ineinandergreifens der wechselseitigen Beiträge wird die Verbindlichkeit ersichtlich, die beide Freunde ihrer gemeinsamen Erfahrung und deren biographischer Bedeutung zusprechen. Beide übernehmen jeweils nicht nur für sich, sondern auch für den Freund biographische Verantwortung und spielen einander sprachlich zu, wie ein Teil ihrer Biographien verlaufen ist. Diese spielerische Vergegenwärtigung eröffnet Roland und Hannes einen Artikulationsraum, in dem sich eine Erfahrung formiert, die für beide Freunde dieselbe ist und die ohne ihr spezifisches Zustandekommen so für keinen der beiden greifbar wäre. Kracauer beschreibt eine „Wirkung“ (Kracauer 1971, S. 48) von Freundschaft, die dieser gemeinsamen Bildungsbewegung ziemlich genau entspricht: „Freundschaft erweitert die Seele. … Sind die Freunde zusammen, so fliegen im Gespräch Funken hinüber und herüber und ihre Gemeinschaft erzeugt oft entscheidende Gedanken und Taten. …und so schwillt das Dasein über das Ich hinaus und jeder lebt zwei Seelen.“ (ebd., S. 49). Die bildungstheoretische Bedeutung dieses Gedankens liegt darin, dass er Bildung originär in der Sphäre der Sozialität verortet.
Robert und Jürgen Robert und Jürgen sind schon einige Male gemeinsam als DJs aufgetreten. Anfangs mit einem bunt gemischten Programm, das für ein breites Publikum tanzbar war, zuletzt auch in spezielleren Veranstaltungen, bei denen sie ausschließlich elektronische Musik gespielt haben (v.a. solche etwas verspielteren Stücke, die man unter ‚Electro‘ oder ‚House‘ einordnen könnte, kaum minimalen und v.a. auf Wiederholungen aufbauenden ‚Techno‘). Ein Anlass, Robert und Jürgen als Gesprächspartner auszuwählen, war also zu hören, was die beiden über ihre gemeinsamen Auftritte erzählen.
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Robert ist 29 Jahre alt. Er ist in A-Stadt aufgewachsen. Nach Realschule, Fachoberschule und Zivildienst in einem örtlichen Altenheim geht er nach DStadt, um an der dortigen Fachhochschule Architektur zu studieren. In DStadt lernt er Christina kennen; auch sie studiert Architektur. Vor drei Jahren, noch während des Studiums, kommt Sohn Martin zur Welt. Nach dem Studium ziehen Christina und er gemeinsam zurück nach A-Stadt. Hier hat Robert eine Anstellung in einem Architekturbüro. Jürgen ist 36 Jahre alt. Auch er ist in A-Stadt aufgewachsen. Er schließt die Schule mit der mittleren Reife ab und absolviert eine Ausbildung zum Schauwerbegestalter. Nach seinem Wehrdienst findet er eine Anstellung in einem örtlichen Großbetrieb, bei dem er bis heute tätig ist. Als Mitarbeiter in der Werbeabteilung betreut er u.a. die Messeauftritte des Unternehmens. Den Wunsch zu einem Interview habe ich zuerst Robert gegenüber angesprochen. Robert meinte, das sei „... doch kein Problem, weil man da ja nichts falsch machen kann.“ Bei einem ersten Termin zu dritt stimmen Robert und Jürgen auch gemeinsam schnell und bereitwillig zu. Das aufgezeichnete Gespräch wurde vier Tage nach diesem Vorgespräch bei Jürgen geführt.
Zur Performativität der Beziehung Auf die Frage, wie er und Robert sich kennengelernt haben, meint Jürgen, dass er Robert öfter in einer Kneipe gesehen habe. Aus einer Bekanntschaft „vom Sehen“ habe sich eine engere Beziehung dann nicht auf einmal, sondern in einem „fließenden Übergang“ ergeben. In diesem Zusammenhang spielt Robert auf eine Anekdote an, die er als wichtig ansieht: ein Gespräch über „Frauen“ bei einem Besuch in einer Diskothek markiert für Robert einen wichtigen Moment.
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Robert: Es gibt aber noch was Jürgen, also weiß ich nicht, das ist vielleicht meine Sicht der Dinge, aber es gibt schon noch was, wo ich für mich im Endeffekt sagen würde: ‚Hey, jetzt eigentlich...‘ Wie soll man sagen? Jürgen: ‚Eigentlich ist er doch nicht so blöd.‘ (alle lachen) Robert: Mein Gott... ‚Der interessiert mich doch noch mehr‘, oder so. Oder es ist, nein, so darf man das nicht sagen, das klingt so, als ob man da was wollen würde. Also da entwickelt sich dann noch ein bisschen mehr, und das war, wo wir mal im [Name der Diskothek] waren, Jürgen. Wo du auf so eine Tante gestanden bist, die wo... ‚die wo‘! Und da haben wir uns dann das erste Mal über Frauen unterhalten. Jürgen: Das kann sein, ja. Robert: Und das fand ich schon irgendwie, das war so... Jürgen: War die so toll oder was? 109
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Robert: Ob die so toll war? Jürgen: Oder warum hat dir das... Robert: Hat nicht schlecht ausgeschaut. Die hast du schon gekannt. Erinnerst du dich gar nicht? Da warst du besoffen wahrscheinlich. Jürgen: So eine Schwarzhaarige? Robert: Ja. Jürgen: Dann weiß ich schon, wen du meinst. Robert: Und da warst du dann ganz fertig, nein fertig warst du nicht, aber ziemlich angeknackst. Jürgen: Die hab ich da zu dem Zeitpunkt da das erste Mal seit langer Zeit wieder gesehen gehabt oder so, ja. Kann sein. Ich weiß, was das für ein Abend war. Robert: Und auf jeden Fall, haben wir uns da dann recht gut unterhalten über... Dinge, sag ich jetzt mal, die ein bisschen tiefer gehen. Jürgen: Ja schau, ich hab dich vorher schon ins Herz geschlossen, sonst wär ich gar nicht mit dir ins [Name der Diskothek] gefahren. Robert: Na, ich hab da erst... Jürgen: Ach, du bist da immer ein bisschen vorsichtiger. Robert: Ja, ja. Genau. O.K. ...also mehr weiß ich da auch nicht.
Robert und Jürgen erinnern sich an das Gespräch in der Diskothek, ohne den Namen der Frau zu nennen, die Anlass des Themas „Frauen“ (Z. 12) war, oder sie näher zu beschreiben. Knapp fragt Jürgen: „So eine Schwarzhaarige?“ (Z. 21). Roberts Bestätigung genügt ihm: „Dann weiß ich schon, wen du meinst.“ (Z. 23). Die Freunde versichern sich gegenseitig ihr Wissen über die entsprechende Situation. Es wird deutlich, dass sie über ein Wissen verfügen, dessen Vorhandensein sie in der gegebenen Gesprächssituation zwar zeigen, das sie aber nicht benennen. Diese Zurückhaltung zeigt eine Diskretion der beiden Freunde, die hier ein persönliches Thema vor Dritten nicht offen besprechen. Aber nicht nur in diesem Punkt ist eine spezifische Vertraulichkeit zwischen ihnen zu beobachten. Robert unterlässt auch auf Jürgens Nachfragen hin eine weitergehende Konkretisierung der besagten Situation (vgl. Z. 15 ff.). Jürgens Nachfragen, die sich auf Roberts persönliche Sichtweise beziehen, können eine Tendenz implizieren, die für ihn – wie sich erst danach herausstellt – unangenehme Erinnerung auszublenden. Robert jedenfalls deutet die für seinen Freund unangenehme Situation erst dann an, als die beiden im Gespräch auf ihr weiterreichendes Wissen verwiesen haben, ohne es auszusprechen. Zunächst vollzieht sich hier also, wie Simmel es erläutert, das „...tendenziöse Verstecken und Maskieren, jene sozusagen aggressive Defensive gegen den Dritten, die man erst eigentlich als Geheimnis bezeichnet.“ 110
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(Simmel 1968, S. 272). Damit geht eine soziale Strukturierung einher: „Das Geheimnis bietet sozusagen die Möglichkeit einer zweiten Welt neben der offenbaren...“ (ebd.). Jürgen und Robert zeigen, dass sie für sich eine Sphäre der Nähe haben, zu der sie Dritte nicht zulassen. Und erst nachdem sie auf diese Weise ihre freundschaftliche Nähe herausgestellt bzw. hergestellt haben, geht Robert darauf ein, dass Jürgen „ziemlich angeknackst“ (Z. 25) war. Damit ist hier eine wohl nicht zufällige Analogie zu beobachten. Jürgen und Robert sprechen nicht nur davon, wie sich ihre Freundschaft entwickelt hat, parallel dazu inszenieren sie ihr freundschaftliches Verhältnis auch durch die Art und Weise, wie sie miteinander reden. Eine spezifisch freundschaftliche Art des Miteinander-Redens lässt sich auch in einem anderen Zusammenhang beobachten. Als Robert und Jürgen schildern, wie sie gemeinsam Platten auflegen (siehe Zum spezifischen Freundschaftskonzept von Robert und Jürgen), ergibt sich die Frage, wie die beiden mit den für sie wahrnehmbaren Unterschieden umgehen und ob solche Unterschiede zu „Streitfällen“ werden können. Beide beharren darauf, dass geschmackliche Differenzen für sie keinen Anlass zu einer Auseinandersetzung darstellen, sondern gegebenenfalls als Anregung wahrgenommen werden. Dabei verstehen beide den Ausdruck „Streitfälle“ eher im Sinne ernsthafter Meinungsverschiedenheiten; die Möglichkeit, im Rahmen eines gemeinsamen Interesses jovial unterschiedliche Sichtweisen zu diskutieren, nehmen beide auch nach einer entsprechenden Nachfrage („… man kann sich ja auch für dasselbe interessieren und es gut finden, muss aber nicht der selben Meinung sein drüber …“) nicht für sich in Anspruch. Entgegen dieser Selbsteinschätzung kommt es zwischen den beiden im Gespräch durchaus zu einer Meinungsverschiedenheit: Als Robert den Verlauf seiner Geschmacksbiographie schildert, setzt er seine ersten Berührungen mit elektronischer Musik bei Erfahrungen mit ‚Industrial‘ (oft elektronisch bearbeiteter, aggressivmonotoner Rockmusik) an. Dabei entwickelt sich die folgende Szene.
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Robert: […] Ja, also so Computer, Electro... und wie war das dann? Ja, durch so ein paar Konzerte... also ich sag jetzt einfach mal Industrial. Also Industrial, Elektronik, elektronische Musik. DK: Ministry und so? Robert: Genau. Ministry. Eine der besten Platten immer noch: „The mind is a terrible thing to taste.” DK: Ja, Ministry ist eine krasse Band. Die haben früher doch so Disco-Zeug gemacht. Jürgen: Hab ich auch da. Hab ich live, also hab ich mir damals gekauft, auf Vinyl, hab es sogar gut gefunden. DK: Waren die vorher schon bekannt? Robert: Ja, die haben ja so 80er Pop gemacht. Jürgen: Elektropop. 111
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Robert: Wie Underworld im Endeffekt. Die waren ja auch so. Jürgen: Ja, das kannst du jetzt nicht vergleichen. Robert: Ja, aber vom Prinzip her schon. Die haben vorher auch so 80er-Sachen gemacht. Jürgen: Ja, ja. Robert: Ja, von der Musik her kannst du es nicht vergleichen, die sie nachher gemacht haben. KLF war noch... Jürgen: Ja, ich finde, mit Underworld kannst du das nicht vergleichen. Robert: Das Prinzip kannst du vergleichen, die Musik von mir aus nicht. Jürgen: Wieso, welches Prinzip? Robert: Das Prinzip, dass die irgendwann mal, wo sie groß rausgekommen sind, irgendwie so eine ganz andere Musik gemacht haben eigentlich wie vorher. Also Ministry hat ja vorher kein Industrial… keine hammerharte Heavyrockmusik gemacht. Und Underworld hat vorher auch keinen Heavy-Techno gemacht. Jürgen: Weil’s es noch nicht gegeben hat. Robert: Eben. Und das ist vergleichbar. Na ja, egal. Also Industrial, Elektronik, elektronische experimentelle Musik... (Jürgen steht auf und holt LPs von Underworld und Ministry aus seinem Regal.)
Jürgen nimmt kurze Zeit später das Thema noch einmal auf:
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Jürgen: Kennst du die Underworld bevor sie das gemacht haben, was sie jetzt machen? Robert: Nein. Jürgen: Aber du weißt, dass sie was anderes gemacht haben. Robert: Nur vom Cover. Und ich glaube, ich hab es mal gehört. Aber ich kann mich nicht mehr erinnern. Jürgen: Ich hab’s vorher, ich hab die... Robert: Ich hab’s mir irgendwo mal angehört, in irgendeinem Plattenladen. Jürgen: Ich hab zwei Scheiben davon. Robert: Das war irgend so ein Disco... Jürgen: Nein, das war... Robert: Das war nicht unähnlich dem Ministry... Jürgen: Die hat es sogar vorher schon gegeben, die haben Froer geheißen, da haben sie einen Single-Hit gehabt, das kennt man vielleicht auch vom Hören. Robert: Nein, weiß ich nicht, kann ich jetzt nicht sagen. (Steht auf und geht in die Küche, um sich ein Getränk zu holen.) Jürgen: Na ja, ist ja jetzt auch egal.
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Zu Beginn der Szene beziehen sich Robert und Jürgen nicht direkt aufeinander. Die Verbindungsstellen, an denen sie einhaken, sind die gestellten Nachfragen (vgl. Z. 4, Z. 7 f. und Z. 11). Als sie dann in einen direkten Dialog treten (Z. 12 ff.), ergibt sich eine Kontroverse über Parallelen zwischen zwei Bands (Ministry und Underworld). Zunächst stellen die Freunde ihre unterschiedlichen Sichtweisen gegeneinander. Robert begründet seinen Vergleich mit einem Prinzip, das er in der Entwicklung beider Bands sieht: „Die haben vorher auch so 80er-Sachen gemacht.“ (Z. 16 f.). Jürgen hakt bei dieser Erklärung ein und meint, dass die Veränderung, die Robert für Ministry eng mit deren Erfolg und Popularität verknüpft (vgl. Z. 26 ff.), bei Underworld so nicht gesehen werden könne. Die Musik, mit der Underworld erfolgreich wurde, habe es zuvor „noch nicht gegeben“ (Z. 31). Hier zeigt sich, dass es nicht nur inhaltlich unterschiedliche Sichtweisen zwischen den beiden gibt, es deutet sich auch eine implizite Konstellation an: wenn man so will, ist Ministry Roberts Band, die er „immer noch“ (Z. 5) sehr schätzt und die ihm in seinem Vergleich als Referenz dient. Underworld dagegen ist gewissermaßen Jürgens Band, die er für nicht vergleichbar mit Ministry hält und zu der er (das wird im zweiten Teil der Sequenz deutlich) über ein besonders Wissen verfügt. Roberts und Jürgens jeweilige Argumentation mündet nun nicht in eine Übereinkunft; beide halten an ihrer Position fest. Interessant ist auch, dass Robert das Thema auf eine fast paradoxe Art abbricht. Er kehrt Jürgens Einwand in ein Argument für seine Sicht um (Z. 32) und erklärt gleich darauf die Angelegenheit für nicht so bedeutend: „Na ja, egal.“ (Z. 32). Damit hat er (vorerst) das letzte Wort. Jürgen lässt die Angelegenheit indes nicht aus den Augen. Er holt LPs der beiden Bands aus seinem Plattenregal und kommt nur wenig später darauf zurück. Nachdem die Unstimmigkeit zuvor mit Ministry ihren Anfang nahm, setzt Jürgen jetzt bei Underworld an. Seine Nachfragen beziehen sich nicht direkt auf Roberts Vergleich, sondern auf dessen Wissen über Underworld (vgl. Z. 36 f. und Z. 39). Roberts Antworten bleiben größtenteils ausweichend (vgl. Z. 38 und Z. 40 f.); dann bringt er noch einmal seinen Vergleich ein (vgl. Z. 48). Auch auf diesen wiederholten Vergleich geht Jürgen nicht direkt ein, er stellt stattdessen sein Wissen über Underworld heraus, indem er detaillierte Informationen anführt: „Die hat es sogar vorher schon gegeben, die haben Froer geheißen, da haben sie einen Single-Hit gehabt…“ (Z. 49 ff.). Dieser Teil der Sequenz endet wie der erste, nur dass es diesmal Robert ist, der aufsteht und Jürgen, der meint, dass die Angelegenheit nicht so wichtig sei. Obwohl zwischen erstem und zweitem Teil dieser Episode etwa anderthalb Minuten liegen, erscheint sie deutlich zusammengehörig. Das liegt nicht nur an der Wiederholung des Themas. Gleich ist auch die Argumentationsform von Robert und Jürgen: ihre Erklärungen dienen nicht in erster Linie der Überzeugung des Anderen, sondern der eigenen Rechtferti113
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gung. Die Übereinstimmung zwischen den Schlussfiguren der Abschnitte ist offensichtlich. Dabei kann „Na ja … egal“ von Jürgen und Robert jeweils zweierlei bedeuten. Einerseits, dass das Thema nicht so wichtig ist, dass man sich darüber streiten müsste. Andererseits, dass die Meinungsverschiedenheit selbst „egal“ ist. Dann ginge es nicht um den Verzicht auf die eigenen Argumente und deren Gewicht, sondern darum, die Widersprüche zwischen den verschiedenen Standpunkten stehen zu lassen. Auffällig ist auch, dass es einmal Robert und einmal Jürgen ist, der ein solches Enden des Themas herbeiführt. So wie das Ende geradezu gespiegelt erscheint, zeichnet sich die gesamte Sequenz insgesamt durch eine bemerkenswerte Symmetrie aus. Auch wenn das ein wenig paradox klingen mag, geben Jürgen und Robert hier dem Aneinander-Vorbei-Reden eine gemeinsame Form und verhalten sich in ihrer Uneinigkeit übereinstimmend. Denn wenn inhaltlich die Fragestellung, ob man denn nun die eine mit der anderen Band vergleichen darf, nicht durch einen Austausch von Argumenten bearbeitet wurde (die Gegenüberstellung der Argumente bleibt ergebnislos), so ist sie formal doch von beiden gleich behandelt worden. Jürgen und Robert reden sozusagen miteinander aneinander vorbei. Diese Symmetrie im Umgang der beiden mit ihrer Unstimmigkeit zeigt, dass sie in ihrer Freundschaft eine spezifische Streitkultur entwickelt haben. In deren Vollzug finden sie zwar keine inhaltliche Einigung oder einen Kompromiss, aber sie praktizieren ein Verhalten, das sich als Verhaltensform, also als „Vorlage“ (Göhlich 2001, S. 33) in ihrer Beziehung entwickelt hat; und dadurch aktualisieren sie dieses gemeinsam entwickelte Präskript ebenso wie ihre Beziehung.
Zum spezifischen Freundschaftskonzept von Robert und Jürgen: Freundschaft als Teamplay Wie bereits angesprochen, war ein Punkt von besonderem Interesse im Gespräch mit Robert und Jürgen, was die beiden über ihre gemeinsamen Auftritte als DJs erzählen würden. Über die Frage danach, wie sie ihr Programm für solche Auftritte arrangieren, ergibt sich die folgende Sequenz.
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DK: Wie ist das dann, muss man sich da einigen? Robert: Wir nicht. (Robert und Jürgen lachen.) DK: Ist das von vornherein da? Robert: Wir haben das immer vermieden, wir haben gesagt: ‚Du legst das auf. Du legst deines auf und egal.‘ Oder? Jürgen: Ja. Robert: So kann man das eigentlich sagen. Also wir haben schon irgendwie geredet, also ich sag jetzt mal so: ‚Was legst du ungefähr auf? Was hast du dabei?‘ Oder so.
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Jürgen: Was bei uns glaub ich ganz gut war, war dass wir ähnliche Musik hören, aber jeder doch was anderes gekauft hat. Wir haben also selten irgendwie genau die gleichen gehabt. Robert: Stimmt, das hat sich immer gut ergänzt. [...] DK: Ja, wenn es dann nicht unbedingt immer das gleiche ist und wenn man einen Abend gemeinsam auflegt, dann gibt es da dann doch auch Unterschiede, oder? Jürgen: Ja. Robert: Ja. Man hat das schon gemerkt, wann wer aufgelegt hat. Jürgen: Wir haben das gemerkt. Ob die anderen das gemerkt haben, weiß man nicht. Robert: Ach so, das stimmt. Ja. DK: Und unter euch, wie ist das dann so? Robert: Wie? DK: Ja, unter euch beiden. Also wenn man das nach außen vielleicht nicht unbedingt so gehört hat, aber ihr das schon immer rausgehört habt, wann der eine auflegt und wann der andere… Robert: Nein, das ist eigentlich eher so gemeint, dass beim Jürgen schon immer so diese, war eben immer so diese BritRock-Pop-Schiene mit drin, da gibt es ja auch so Remixes und so. Und das ist ja bei mir überhaupt nicht zum Beispiel. Und ich hab halt ein bisschen mehr so Disco-House-Sachen aufgelegt oder so. Und gut, für die Leute war das vielleicht ein homogener Prozess innerhalb von dieser Disco und für uns war das eigentlich eine klare Trennung. DK: Ja, sind diese Unterschiede, akzeptiert man das und sagt: ‚Der legt das halt auf und ich kann damit leben.‘ Oder sind das Streitfälle, wo man... Robert: Nein. Jürgen: Nein, überhaupt nicht. Robert: Nein, nein. Jürgen: Das ist ja... Robert: Ich muss sagen, wir haben ja, im Frühjahr haben wir aufgelegt und ich muss sagen, das war zwar nicht viel, aber ich freu mich jedes Mal, wenn der Jürgen irgendwas geiles auflegt, das ich nicht kenne, oder irgendwie so. Jürgen: Hätt’ ich jetzt auch so gesagt. Robert: Wobei man auch sagen muss, die Herangehensweise von uns, wenn wir Disco machen, das ist ja eigentlich absolut unprofessionell in Anführungsstrichen und das ist ja eigentlich gut. Jürgen: Das ist ja das Schöne daran. Robert: Das ist ja das. Völlig egal. Jürgen: Aber mir geht das genauso, da denk ich mir: ‚Hey, was 115
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ist das jetzt? Was spielt er da schon wieder?‘ Und muss mir das dann anschauen. Das ist also schon gut.
Robert meint zunächst, dass er und Jürgen sich in Bezug auf ihr Programm nicht abstimmen, dass ihnen sogar wichtig ist, genau das nicht zu tun: „Wir haben das immer vermieden…“ (Z. 4); er schildert, dass Jürgen und er einander die Freiheit einräumen, ihre jeweilige Auswahl nach eigenen Vorstellungen zu treffen. Für diese Erläuterung, die – in der ersten Person Plural formuliert (vgl. Z. 2 und Z. 4) – auch für Jürgen gelten soll, holt er kurz die Bestätigung seines Freundes ein und beschreibt dann noch einmal, allerdings mit einer etwas anderen Perspektive, wie die beiden über die Platten sprechen, die sie auflegen wollen. Was sie durchaus interessiert, ist, was der Freund zum gemeinsamen Musikauflegen mitgebracht hat: „Was legst du ungefähr auf? Was hast du dabei?“ (Z. 8 f.). Jürgen ergänzt Roberts Erklärungen schließlich mit dem Hinweis darauf, dass Robert und er zwar „ähnliche Musik“ (Z. 11), aber nicht „genau die gleichen“ (Z. 12) Platten hören. In diesem ersten Teil der Sequenz sind einige Aspekte zu beobachten, die im weiteren Verlauf von Belang sind. Roberts Paraphrase der losen Absprache der Freunde („Du legst deines auf…“ (Z. 5) impliziert, dass er und Jürgen bei der Auswahl von Musik für einen gemeinsamen Auftritt nicht nur große Freiheiten einräumen, sondern dass sie in einem gewissen Maß auch antizipieren, welche Musik der jeweils Andere spielen wird. Die lockere Vereinbarung genügt ihnen auch deshalb, weil sie (aufbauend auf ihrem Wissen übereinander) erwarten, dass der Freund ‚seine‘ Musik auflegen wird. Diese Offenheit füreinander hat eine weitere Dimension. Robert und Jürgen gewähren sich untereinander nicht nur Freiraum für die jeweils eigene Musik, sondern sie interessieren sich auch dafür, wie der Freund diesen Freiraum nutzt. Dieser Aspekt zeigt sich dann vor allem am Ende der Sequenz (vgl. Z. 43 ff. und Z. 54 ff.). Als eine wichtige Bedingung für die von Robert geschilderte, sich quasi von selbst ergebende Kooperation macht Jürgen eine grundsätzliche geschmackliche Nähe zwischen ihm und Robert aus, bei der sich Unterschiede (in der Auswahl von Platten) als Differenzierungen im Rahmen einer primären Ähnlichkeit darstellen (vgl. Z. 10 ff.). Robert bestätigt diese Sichtweise: „Stimmt, das hat sich immer gut ergänzt.“ (Z. 13). Angesprochen auf musikalische Unterschiede, die sich beim gemeinsamen Auflegen ergeben, stellt Jürgen dann fest, dass zwar er und Robert „gemerkt“ (Z. 20) hätten, wer von ihnen welche Musik spielt, dass das für ihre Zuhörer aber so nicht unbedingt zu unterstellen sei. Jürgen unterscheidet zwei Perspektiven: die Wahrnehmung des Publikums und die von Robert und ihm. Implizit geht damit auch eine Wertung der Unterschiede zwischen der von ihm und der von Robert gespielten Musik einher; diese Unterschiede sind so fein, dass zwar Robert
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und er sie feststellen können, dass das aber für das Publikum nicht mehr mit Sicherheit gesagt werden kann. Auf eine Nachfrage hin ergänzt Robert diese Deutung. Er erklärt, was Jürgen (!) „gemeint“ (Z. 28) hat: Unterschiede seien zwar auch „für die Leute“ (Z. 33) hörbar; diese Unterschiede würden aber als Etappen in einem „homogene[n] Prozess“ (Z. 33) wahrgenommen werden, auch wenn er und Jürgen eine „klare Trennung“ (Z. 35) sehen können. Jürgen und Robert entwickeln ein klares Schema: Wir – und das Publikum. Sie nehmen in Anspruch, in ihrem gemeinsamen Programm musikalische Unterschiede ausmachen und diese persönlich zuordnen zu können.39 Das Publikum indes, so ihre Mutmaßung, kann diese Unterscheidung nicht machen; vielmehr habe das Publikum den Eindruck einer homogenen Präsentation. Mit dieser Differenzierung stellen Robert und Jürgen nicht nur ihre freundschaftliche Verbundenheit heraus – indem sie sich in Bezug auf ihr Publikum als Einheit darstellen, als ein Team, das eine konvergente Leistung erbringt – sie akzentuieren zugleich eine interne Differenziertheit. Dass diese nach außen nicht sichtbar, genauer gesagt, hörbar wird, macht sie zu einer Art Geheimnis. Simmel – darauf wurde schon Bezug genommen – macht das Geheimnis als eine Grundfigur sozialer Beziehungen aus. „Es charakterisiert jedes Verhältnis zwischen zwei Menschen oder zwischen zwei Gruppen, wieviel Geheimnis in ihm ist.“ (Simmel 1993, S. 317). Robert und Jürgen sprechen sich ein Unterscheidungsvermögen zu, dessen Fehlen sie bei ihrem Publikum unterstellen. Ihr Arkanum besteht also nicht in einer Information, sondern, so stellen es die beiden dar, in einer Fähigkeit, nämlich jener Aufmerksamkeit, die (zusammen mit der Kenntnis, die beide voneinander haben) ihnen ermöglicht, untereinander zu differenzieren. Insgesamt entwickeln Robert und Jürgen also ein Muster, bei dem sich Perspektive und Bewertung verknüpfen: nach außen zeigt sich Homogenität, untereinander scheinen Differenzen auf. Diese Perspektivendynamik verweist auf eine fundamentale Verschränkung von Individualität und Sozialität. Mead weist in Bezug auf die Perspektivenübernahme auf die Dialektik sozialer Beziehungen hin, in denen der Einzelne „… in sich selbst die Einstellung des anderen hervorruft, so zu sich Stellung nimmt und damit sich selbst zum Objekt, mit anderen Worten ein ‚Selbst‘ wird …“ (Mead 1972, S. 107). Sozialität ist damit Bedingung des Zustandekommens eines Selbstbezugs. Dieser Gedanke spielt in der Diskussion des Begriffs der Identität immer wieder eine wichtige Rolle. Auch bei Mollenhauer: „Der Entwurf, den ich mir von mir mache – und den ich mir unter dem Eindruck der Entwürfe, die anderer sich von mir machen, mache –
39 Diese Deutung bezieht sich auf Unterschiede, die man allein durch Zuhören ausmachen kann. Natürlich können Jürgen und Robert ihre jeweiligen Handlungen (wer welche Platte auflegt) auseinander halten. 117
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und mein Verhältnis zu ihm, im Hinblick auf das, was ich sein könnte, ist mir ein Problem.“ (Mollenhauer 1994, S. 159). Doch eben dieses Problem – und die zu seiner Lösung immer wieder neu entwickelten Selbst-Bilder sind wichtige Elemente von Bildungsprozessen. Robert und Jürgen entfalten implizit ein strukturparalleles Verhältnis. Sie begreifen sich in ihrer Individualität als einander ergänzend; jeder spielt seine Musik und doch ergibt sich Homogenität. Zugleich projizieren sie damit Erwartungen auf den Freund, die sich aus vorangegangen Erfahrungen und einem erworbenen Wissen übereinander speisen. Mit ihrer Beschreibung des gemeinsamen Auflegens entwerfen sie eine Struktur, die Gemeinschaft und Eigentümlichkeit zugleich ermöglicht. Die Gleichzeitigkeit von Zusammengehörigkeit nach außen und Differenzierung nach innen macht beide in ihrer Individualität zum integralen Bestandteil der Beziehung – keiner kann den anderen in seiner Besonderheit ersetzen. Die Synchronizität von individueller Besonderheit und sozialer Zugehörigkeit steht mit einem weiteren Aspekt des Gesprächsausschnitts in Verbindung. Robert und Jürgen beanspruchen mit ihrer „Herangehensweise“ (Robert in Z. 48), die sie als „absolut unprofessionell“ (Robert in Z. 49 f.) verstehen, ausdrücklich nicht, hohen Erwartungen gerecht zu werden. So etwas ist ihnen „völlig egal“ (Robert).40 Ihre, wenn man so will, Arbeitshaltung besteht in der gegenseitig versicherten Offenheit und einer Aufmerksamkeit für das, was sie beim Anderem an Neuem entdecken. Sie spielen nicht nur Musik für ein Publikum, sondern auch für einander. Daraus ergibt sich ein dialektisches Verhältnis aus aufeinander gerichteten Erwartungen und ausdrücklichem Interesse. Davon sprechen die Freunde hier nicht ausdrücklich. Dennoch mutet die obige Szene, deckt man ihre inhaltliche Struktur auf, an wie ein Konzept ihrer Beziehung – Zusammengehörigkeit nach außen, Differenzierung nach innen. Robert und Jürgen sind sich in ihrem Musikgeschmack (v.a. was elektronische Musik betrifft) ähnlich, der Geschmack des Anderen interessiert sie jedoch auch dann, wenn sie ihn inhaltlich (noch) nicht teilen, er interessiert sie als Geschmack des Freundes, aus dem sie jeweils willkommene Anregungen schöpfen. Dieses ausdrückliche Interesse schafft eine Atmosphäre der gegenseitigen Anerkennung und Erwartung, in der das Sich-Zeigen nicht nur erlaubt, sondern auch gefragt ist. Dabei geht es um eine aufeinander abge40 Das gemeinsame Auftreten ist für Robert nicht belanglos. „[E]gal“, dieser Ausdruck fällt zu Beginn (Z. 5) und zum Ende der Szene (Z. 53), gleichsam als motivische Rahmung. Er zielt nicht nur auf eine Absicherung gegen überhöhte Ansprüche an das gemeinsame Auflegen; „egal“ lässt sich hier auch als Verdichtung von Gleichwertigkeit verstehen. Dann wäre Roberts Ausdruck so zu deuten, dass die Verschiedenheit zwischen ihm und Jürgen nicht problematisch, sondern akzeptabel und willkommen ist. Insofern würde sich „egal“ nicht nur auf eine gewisse Indifferenz gegenüber der Situation beziehen (Robert schafft sich und Jürgen Entlastung, indem er Möglichkeiten des Scheiterns minimiert), vielmehr auch auf die Egalität von Unterschieden zwischen ihm und Jürgen. 118
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stimmte Differenzierung, die Variation und Veränderung ermöglicht, aber sich eben auch – nach außen – zu einem konvergenten Auftritt fügt. Diese Deutung lässt sich durch einen Blick auf die Redeformen in der Sequenz weiter stützen. Bis auf das Ende der Szene lenken Nachfragen, auf die Robert oder Jürgen antworten, den Verlauf der Unterhaltung. Es fällt auf, dass der jeweils Antwortende entweder explizit den anderen fragt, ob seine Aussage auch in seinem Sinn ist bzw. dass diese Repräsentativität vom jeweils zunächst nicht Antwortenden bestätigt wird (vgl. u.a. Z. 6 und Z. 47). Robert und Jürgen beziehen sich deutlich auf die Nachfragen, sie lösen sich kaum aus der Interviewsituation in einen Dialog untereinander. Ihre Äußerungen fungieren insofern als Antworten und gegenseitige Rückversicherung/ Bestätigung der Richtigkeit dieser Antworten. Die beiden Freunde sprechen stellvertretend füreinander. Diese Übereinstimmung wird im Lauf des Ausschnitts noch enger; sie wird auch formal zur Einstimmigkeit. Robert beginnt seine Einlassung mit der Äußerung „Nein, das ist eigentlich eher so gemeint …“ (Z. 28) und nimmt damit in Anspruch, Jürgens vorangegangene Bemerkung zu erklären. Nachdem auf eine Nachfrage noch einmal beide identisch antworten, ergreift Robert wieder das Wort und Jürgen stimmt ihm diesmal nicht nur inhaltlich zu, sondern bekräftigt auch, dass Robert auch im Ausdruck ganz seine Intentionen trifft: „Hätt’ ich jetzt auch so gesagt.“ (Z. 47). Und an Roberts nächste Äußerung schließt er sich dann so an, als hätte er sie selbst gesagt (vgl. Z. 52). Während Jürgen und Robert über den ersten Teil des Ausschnitts also so etwas wie Ko-Referenten sind, rückt Robert im zweiten Teil stärker in eine für beide Freunde repräsentative Position. Im Zusammenhang mit den Inhalten des Gesprächsauschnitts zeigt sich nun, dass bezeichnender Weise diejenigen Äußerungen evozierend wirken, die aus dem Schema der Einstimmigkeit herausragen und Ergänzungen oder Erweiterungen intendieren. Das sind Jürgens Einwürfe zum ähnlichen Musikgeschmack, innerhalb dessen die Freunde aber unterschiedliche Platten wählen (vgl. Z. 10 ff.) und dazu, dass das Publikum die von ihm und Robert gespielte Musik möglicherweise anders hört als die beiden selbst (Z. 20 f.). Und das ist Roberts Betonung, dass er sich freut, „…wenn der Jürgen irgendwas geiles auflegt“ (Z. 45). Im Rahmen ihres im Gespräch hergestellten Einverständnisses bringen Robert und Jürgen thematische Modifikationen ein und just diese feinen Verschiebungen entwickeln das Gespräch weiter. Diese Praxis einer übergreifenden Übereinkunft, innerhalb derer gewissermaßen weiterverhandelt wird, spiegelt den impliziten Entwurf von Robert und Jürgen für ihre Beziehung wider, der in der obigen Szene vom gemeinsamen Plattenauflegen aufscheint. Es zeigt sich, dass Robert und Jürgen nicht nur davon sprechen, nach außen hin homogen zu wirken und sich untereinander Differenzierung einzuräumen, sondern dass sie das auch in ihrer Redeweise intendieren.
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Popmusik als Gegenstand der Beziehung Auf die Frage, wie sie sich kennen gelernt haben, kommen Robert und Jürgen darauf zu sprechen, welche Rolle Popmusik dabei gespielt hat und inwiefern ihr Interesse für Popmusik gegenwärtig in ihrer Beziehung von Belang ist.
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Robert: Ja gut, wie lernt man sich kennen? Also es hat eigentlich mit Musik jetzt nichts zu tun. Oder, oder... Jürgen: Ja, natürlich, in der Disco. DK: Also, wenn ich vorher gemeint habe, dass Musik irgendwie auch ein soziales Ding ist, dann muss man sich da ja nicht drüber kennen- lernen, das kann ja hinterher dann wichtig werden. Robert: Genau. Jürgen: Aber es war zumindest irgendwie immer mit dabei. Robert: Die Grundstimmung passt halt dann. Ja. Sonst würde man ja nicht miteinander ins [Name einer Diskothek] gehen, wenn man da das nicht hören kann zum Beispiel. Jürgen: Das sowieso. DK: Also war es vielleicht erst mal so ein, wie sagt man, so ein Soundtrack, das war halt dabei, aber es war nicht unbedingt zentral. Jürgen: Ja, du musst halt, es ist vielleicht auch was anderes, ob du jetzt 16, 17 bist, oder ob du vielleicht schon um die 30 bist. Du musst dich ja dann nicht gleich, ich glaube, wenn du jünger bist, dann musst du dich über so was auch, versuchst du dich auch mehr zu identifizieren. Und wenn du älter bist, dann ist das irgendwie nicht mehr so, dann bist du in deiner Persönlichkeitsstruktur wahrscheinlich schon ein bisschen gefestigter und musst dann nicht jetzt irgendwie wie ein Teenie: ‚Was hörst du?‘ und ‚Toll! Das mag ich auch.‘ Also ich glaube, das läuft dann ein bisschen anders ab. Robert: Ja. DK: Aber gibt’s nicht doch so was? Also wie ich gefragt habe, ob wir das Interview machen können, da war ja so die Rückfrage, ob das jetzt Popmusik sein muss, oder ob es nicht auch Rock oder so was sein kann. Jürgen: Das hat der Robert gefragt, ja. DK: Da war das halt irgendwie nicht so ganz klar und dann hast du gesagt: ‚Du weißt ja, was unseres ist.‘ Also muss es ja auch was Gemeinsames geben. Jürgen: Ja, gibt es ja auch…also, was unseres ist, ist also zumindest schon mal das gemeinsame Interesse für Sachen, die jetzt nicht in der Hitparade laufen, oder die du nicht auf MTV (Jürgen spricht den Sendernamen deutsch aus: „EmTeVau“.)
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siehst, oder solche Sachen. Das gemeinsame Interesse ist ja schon mal, dass man spezialisiert ist auf irgendwelche Sachen. Oder? Sag auch was dazu. Robert: Ja, wobei ich’s... ich würd es gar nicht so sagen. Ist es wirklich das? Das klingt ja gerade so, als ob man gerade deswegen eine bestimmte Art von Musik nicht hört, weil sie in der Hitparade ist. Also es ist oft lei... oft ist es halt so. Jürgen: Ich meine damit bloß, das ist wie bei vielen Sachen, wenn du dich mit irgendwas ein bisschen beschäftigst, dann, dann, oder ein bisschen an der Oberfläche kratzt, dann entdeckst du halt noch andere Sachen. Robert: Es ist vielleicht die gleiche... Was du meinst, ist irgendwie so das gemeinsame Interesse, dass man irgendwo sich mit was oder im speziellen mit Musik tiefer beschäftigen will. Also dass man sich nicht zufrieden gibt mit irgendeiner Ebene, sondern dass man halt im Anderen halt genau das Gleiche oder das Ähnliche sieht: ‚Hey, der ist auch irgendwie, der bohrt auch irgendwie nach. Der lässt sich, der geht auch unter die Oberfläche.‘ Das ist... das muss jetzt nicht Musik, das kann genauso Kunst, oder bei irgendwelchen Darstellungssachen sein oder so. Das ist vielleicht eher ein Wesenszug. Jürgen: Eben.
Robert meint eingangs, dass Musik „eigentlich“ (Z. 1) keine Rolle dabei gespielt habe, als er und Jürgen sich kennen lernten. Jürgen hält dem entgegen, dass das „in der Disco“ (Z. 3) durchaus der Fall war. (Hier ist an das Gespräch am Beginn ihrer Freundschaft zu erinnern, auf das Robert hinweist; siehe Robert und Jürgen – Zur Performativität der Beziehung) Auf eine Erläuterung der Frage (dass Musik als Element sozialer Beziehungen nicht gleich am Beginn dieser Beziehungen bedeutsam sein muss, sondern das auch in deren weiterem Verlauf noch werden kann) wiederholen die Freunde diese nuanciert unterschiedlichen Sichtweisen. Robert stimmt der Erläuterung zu (vgl. Z. 7), während Jürgen anmerkt: „Aber es war zumindest irgendwie immer mit dabei.“ (Z. 8). Das greift Robert auf und meint, dass geschmackliche Nähe, wie sich z.B. in einem gemeinsamen Discobesuch zeigt, zu einer passenden „Grundstimmung“ (Z. 9) beiträgt. Auf die Nachfrage, ob Musik am Beginn der Freundschaft von Jürgen und Robert eine eher periphere, begleitende Bedeutung gehabt habe, erklärt Jürgen, dass man sich mit „um die dreißig“ (Z. 17) „nicht mehr so“ (Z. 21) über Musik „zu identifizieren“ (Z. 20) versucht, weil man dann in der „Persönlichkeitsstruktur wahrscheinlich schon ein bisschen gefestigter“ (Z. 22 f.) ist. Der Dialog, den er zur Illustration seiner Aussage karikiert (vgl. Z. 24), verweist darauf, dass Jürgen damit nicht (musikalischen) Geschmack per se als ein (für ihn) unwichtiges Persönlich121
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keitsmerkmal versteht, sondern dass sich für ihn persönliche Nähe nicht aufgrund der Übereinstimmung mit anderen bzw. der Bestätigung durch andere in diesem Bereich einstellt. An seiner Erklärung fällt auf, dass Jürgen nicht nur von sich spricht, sondern ein allgemeines „Du“ (z.B. in Z. 16, Z. 17 und Z. 20) verwendet. Es geht ihm also um eine allgemeine Entwicklung. Auch der fiktive Dialog, den er nacherzählt, verweist auf einen weitergehenden Anspruch, der mit seiner Erklärung verbunden ist; Jürgen hält einen solchen Umgang mit Popmusik – auch in seiner Freundschaft mit Robert – für nicht mehr angemessen. Auf eine sondierende Nachfrage zur Art der geschmacklichen Gemeinsamkeit, die die beiden für sich in Anspruch nehmen,41 benennt Jürgen als eine solche Gemeinsamkeit zunächst das „Interesse für Sachen, die jetzt nicht in der Hitparade laufen“ (Z. 36 f.) und, „…dass man spezialisiert ist auf irgendwelche Sachen.“ (Z. 40). Ganz sicher ist er sich bei diesem Aspekt aber nicht bzw. will er nicht alleine für eine entsprechende Erklärung einstehen und fordert Robert zu einer Stellungnahme auf. Der bringt einen Einwand an: er hält die von Jürgen angedeutete Distinktion für eine zu formal beschriebene Einstellung. Darauf erläutert Jürgen sein Argument; er meint, dass eine bewusste Auseinandersetzung mit Musik, bei der man „an der Oberfläche kratzt“ (Z. 48), zur Entdeckung „andere[r] Sachen“ (Z. 49) führt, also das eigene Interesse über das nächstliegende Angebot hinaus erweitert. Das greift Robert auf und interpretiert bzw. erklärt (er spricht seinen Freund an: „Was du meinst, ist…“ (Z. 50)) die von Jürgen beschriebene Einstellung als eine Art der Auseinandersetzung mit kulturellen Gegenständen, die einem „Wesenszug“ (Z. 59) entspringt. Die allgemein gehaltenen Formulierungen beider Freunde – Jürgen gebraucht ein allgemeines „du“ (vgl. Z. 47 und Z. 49), Robert spricht davon, „dass man halt im Anderen halt genau das Gleiche oder das Ähnliche sieht…“ (Z. 54 f.) – verweist auf eine ambivalente sprachliche Ausrichtung der Freunde in diesem Ausschnitt des Gesprächs; teils beziehen sich die beiden auf die an sie gerichteten Nachfragen, teils aufeinander. Hier lässt sich – auch im Rückgriff auf das im vorangegangenen Abschnitt beschriebene Schema von Differenzierung nach innen und Homogenität nach außen (siehe Zum spezifischen Freundschaftskonzept von Robert und Jürgen) – eine Gleichzeitigkeit von Innen- und Außenperspektive feststellen. Das steht auch im Zusammenhang mit der Rolle, die Popmusik für die Freundschaft der beiden spielt. Denn Jürgen und Robert sprechen ihrem Interesse für Popmusik auf mehreren Ebenen eine – teils mittelbare, teils unmit41 Das geht auf die im obigen Gesprächsausschnitt zitierte Aussage Jürgens aus dem Vorgespräch zurück. Dort kam es zu einer kurzen Irritation über den Ausdruck „Popmusik“. Robert war unsicher, ob sich das auf „Pop“ als Genrebezeichnung bezieht oder ob damit alle Spielarten populärer Musik gemeint sind (also z.B. auch Rock, Punk oder Techno). 122
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telbare – integrative Funktion zu. Grundsätzlich trägt ihre geschmackliche Nähe für sie zu einer Atmosphäre bei, die ein näheres Kennenlernen möglich macht. Darüber hinaus tritt für beide in ihrem spezifischen Umgang mit Musik eine Haltung zu Tage, in der sie sich als ähnlich erkennen. Insofern zeigt sich in der obigen Sequenz folgende Figur: Obwohl Jürgen hervorhebt (und sich Robert ihm darin anschließt), dass geschmackliche Übereinstimmungen nicht automatisch zu persönlicher Nähe führen, artikuliert sich im Dialog der beiden doch die Ansicht, dass sich im Umgang mit Popmusik ein „Wesenszug“ (Robert in Z. 59) zeigt, an den sie ihre Zusammengehörigkeit knüpfen. Der Ablauf der Sequenz, in der in der Innenperspektive zwischen Robert und Jürgen auch die Aushandlung einer Bedeutung sichtbar wird, die sie dann beide ihrem gemeinsamen Interesse für Popmusik beimessen, verweist darauf, dass sie genau genommen nicht eine Ähnlichkeit zwischen sich vorfinden, sondern diese herstellen. Das spiegelt sich auch in Roberts abschließender Anmerkung wider (Z. 50 ff.). Er leitet seine Erläuterung, wie bereits angesprochen, als Erklärung von Jürgens vorangegangenem Argument so ein: „Was du meinst, ist…“ (Z. 50). An seinen ersten erklärenden Ansatz schließt er eine Reihe von weiterführenden (Um-)Deutungen an (zunächst beginnend in Z. 55, dann in Z. 57, zuletzt in Z. 59 mit der Konklusion: „Das ist vielleicht eher ein Wesenszug.“), und wechselt damit vom Erklären zum Verstehen. Er beginnt mit einer objektiven Zuschreibung und geht dann dazu über, diese selbst verstehend nachzuvollziehen. Dadurch stellt er performativ Übereinstimmung her. Er kommt dem Argument von Jürgen zuerst erklärend entgegen und eignet es sich dann subjektiv an, nicht ohne es dabei umzuschreiben. Dem nun gemeinsamen Argument schließt sich Jürgen dann ausdrücklich an. Die Freunde sehen in ihrem ähnlichen Musikgeschmack also einerseits eine wichtige Grundübereinstimmung, die auch für ihre Beziehung wichtig ist, andererseits beziehen sie sich auf Popmusik, um daran Gemeinsamkeiten zu entwickeln. Dass Popmusik für Robert und Jürgen ein wichtiges Element ihrer Freundschaft ist, das Gemeinsamkeit stiftet, durch das sich aber auch, worauf ihre entwickelte Streitkultur (siehe Robert und Jürgen – Zur Performativität der Beziehung) verweist, Differenzen ergeben, das zeigt sich nicht nur in der oben dokumentierten selbstreflexiven Betrachtung der Freunde, sondern auch in der nachfolgenden Szene, in der es nicht maßgeblich um die reflexive Entwicklung von Bedeutung geht, sondern um eine eher spielerische Auseinandersetzung zwischen den Freunden. Beim gemeinsamen Musikhören am Ende des Gesprächs fällt Robert eine Band ein, die er noch vorspielen möchte. Als er die CD einlegen will, ergibt sich folgendes:
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Robert: Also die hab ich mir, die hab ich rauf und runter gehört. Also ist schon eine meiner Lieblings-CDs. Killing Joke ist das, die muss man schon erwähnen. DK: Super, dann haben wir auch noch so ein bisschen alten Progressiv-Kram dabei. Robert: Ja, die gibt es schon ewig. Das sind ja auch... Killing Joke, jeder, der so intellektuelle Krachmusik macht... Jürgen: Beruft sich auf Killing Joke? Robert: Beruft sich auf die, ja. Jürgen: Also ich hab von denen nichts. Robert: Ich hab von denen fast alles… ich mach das mal rein (will seine CD einlegen, doch die CD-Schublade schließt sich bevor er dies tun kann – Jürgen hat die Open/Close-Taste der Fernbedienung gedrückt.) Halt! (Jürgen lacht.) Jetzt hat er einfach zugemacht. Jürgen: Vielleicht mag er die CD nicht. Robert: (Hat die CD im zweiten Anlauf untergebracht.) Das kann schon sein. Wo muss ich jetzt da einschalten? ... Ist das zu laut? DK: Hören wir doch erst mal zu. (Die CD läuft relativ laut an. Wir hören etwa eine halbe Minute zu.) Wenn du das jetzt hörst, kann das ähnliche Stimmungen auslösen wie sonst? Robert: Das kann das schon ja. Aufgrund dessen, weil man das hört, wenn man in der entsprechenden Stimmung ist. Also ich bin jetzt grad nicht in der Stimmung, aber wenn man das jetzt hört, dann sät das ein bisschen was. Schon. Also das ist schon belegt. Also ich könnte jetzt zum Beispiel aggressiv werden, weil es mich stört, dass ich überhaupt nicht in der Stimmung bin, weil ich es eigentlich gar nicht hören will. Und von daher... (Jürgen schaltet per Fernbedienung den CD-Spieler aus.) Du Sau! (Alle lachen.) Jürgen: Ja, das ist schon eine ganz... das musst du schon leiden können, weil sonst geht es dir schnell auf den Wecker. Also mir kann so was schnell auf den Wecker gehen. Robert: Klar. Jürgen: Soll ich es wieder einschalten? Robert: Nein. Jürgen: Was ich auch wahnsinnig schwierig zum Anhören finde, ist Muse. Robert: Find ich gut zum Anhören. Jürgen: Ja. Ich find’s ja auch gut zum Anhören, das sind richtig gute Platten. Aber lass dich mal einen Moment ein bisschen weniger drauf ein und das stört total. Robert: Ja, du musst... Jürgen: Da könnt ich so aggressiv werden. Wenn dir das dann zuwider läuft, dann muss das Ding gleich raus.
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Robert: Klar. Ja, das stimmt. Jürgen: Aber es ist brillant. Robert: Also du kannst es in bestimmten... größtenteils deines Lebens kannst du es eigentlich nicht hören. Jürgen: Ja. Das wollt ich damit sagen. Es ist super Musik, aber... Robert: Aber wenn es richtig ist, dann ist es spitze.
Augenscheinlich stößt die von Robert ausgewählte Band bei Jürgen auf Ablehnung. Interessant ist die subtile Art und Weise, in der dies zum Ausdruck kommt. Zunächst stellt er lakonisch fest, dass er von der von Robert als besonders einflussreich benannten Band „nichts“ (Z. 10) hat. Dann sabotiert er das Einlegen der CD und unterstellt dem CD-Spieler, dass „er“ (Z. 16), also der CD-Player, die CD nicht „mag“ (ebd.). Darüber setzt sich Robert noch hinweg und spielt den relativ lauten und aggressiven Rocksong trotzdem an. Auf die Nachfrage, ob das Stück bei ihm eine bestimmte Stimmung auslöst, entwickelt Robert eine fast paradoxe Antwort. Er spricht die Diskrepanz zwischen seiner aktuellen Stimmung und dem Song an und meint: „ich könnte… aggressiv werden, weil es mich stört, dass ich überhaupt nicht in der Stimmung bin…“ (Z. 26 ff.). Einerseits räumt er dem Song damit ein, durchaus eine gewisse Gestimmtheit hervorzurufen, andererseits entsteht diese Stimmung gerade daraus, dass er sich nicht auf sie einlassen will. Diesen Augenblick nutzt Jürgen, um den CD-Spieler abzuschalten. Auch Robert hat jetzt ein Einsehen und lässt die Musik aus. Indirekt, indem er eine andere Band anspricht, und doch auch unmissverständlich auf die von Robert gerade vorgestellte Band bezogen, erklärt Jürgen nun sein zwiespältiges Verhältnis zu Musik, die atmosphärisch so vereinnahmend ist, dass man sie nur dann hören kann, wenn man ganz bei der Sache ist. So etwas ist für ihn „wahnsinnig schwierig zum Anhören“ (Z. 38), auch wenn er es für „brillant“ (Z. 47) hält. Robert ist bei dieser doppelsinnigen Argumentation einverstanden mit Jürgen, er unterstreicht dabei allerdings: „Aber wenn es richtig ist, dann ist es spitze.“ (Z. 51). Insgesamt treten in dieser Sequenz zwei atmosphärische Tendenzen zutage. Einerseits gewahrt Robert Aggression im Gestus des Songs, andererseits will er darauf nicht eingehen, zumal Jürgen seinen Widerwillen, wenn auch spielerisch, recht klar zeigt. Auf die im obigen Ausschnitt sichtbar werdende spielerische Art einigen sich die beiden Freunde darauf, welche dieser atmosphärischen Tendenzen sie aufrechterhalten. Atmosphäre stellt sich zwischen den Freunden also nicht quasi natürlich ein, sie tragen aktiv Sorge für eine verträgliche Atmosphäre und stellen eine gemeinsame Stimmung auch über die spielerische Aushandlungen von Differenzen her; der entsprechende Umgang mit Musik kann, wie im Ausschnitt oben, Element dieser Gestaltung sein.
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Bildungsbedeutsame Erfahrungen von Robert Auf die zu Beginn des Gesprächs gestellte Frage nach ihren jeweiligen „Geschmacksbiographien“ holt Robert weit aus. Seine Schilderung wird hier mit zentralen Ausschnitten wiedergegeben. In seiner „Kindheit“, damit bezieht Robert sich auf ein Alter von „… vier, fünf…“ Jahren, spielen die Schallplattensammlung der Eltern sowie „Kinderhörspiele“ und „Kindersendungen“ mit ihrer „Erkennungsmelodie“ eine Rolle, die Musik steht dabei aber nicht im Vordergrund. Das ändert sich etwas später. Aus der Peergroup kommen neue kulturelle Einflüsse. Robert: …dann war ich Ministrant mit neun, dann waren da größere und ich glaube, da… doch da habe ich angefangen, das erste Mal Musik zu hören, in Anführungsstrichen. Zeltlager und so… Später lernt Robert in dieser Gruppe einen Freund kennen, der ihm Musikkassetten (oft von Hardrockgruppen) leiht, die er sich dann kopiert. Darüber hinaus entwickelt sich Popmusik für ihn zum Medium einer reflexiven Distinktion: 5
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Robert: …da hab ich im Endeffekt bei den Ministranten einen Freund gehabt, mit dem hab ich mich von den anderen dadurch unterschieden, dass wir diese Musik gehört haben. Also das hat sich nicht widersprochen … Nein also im Gegenteil, also man hat damals schon das Bewusstsein gehabt, dass da ja irgendwas Bigottes dabei ist und die, die diese Musik machen, ja eigentlich die wahren Guten sind, die die Welt richtig sehen und nicht so verblendet.
Nach einem „harten Break“, so meint Robert dann, beginnt er mit „14, 15, 13 … gleich Punk-Musik“ zu hören. Das ist für ihn eng mit seiner Pubertät verknüpft, darüber hinaus führt ihn sein diesbezügliches Interesse von nun an oft in den Plattenladen am Ort. Über Punk lernt er dort weitere Musikstile kennen.
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Robert: Ja, halt irgendwie so aggressive, pubertierende, aggressive, pubertätsbegleitende Musik. Und dann, also in die Richtung hat sich das dann halt irgendwie entwickelt. Also dann PunkMusik, der Plattenladen… und dann hört man sich halt mal alles Mögliche an und dann gefällt einem halt was anderes und dann ist man halt irgendwann, hört man dann Independent-Musik. [Independent(-Rock): Sammelbegriff für eine nicht an markt-
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gängigen Formen orientierte Rockmusik, deren Vertreter i.d.R. bei sog. Independent-Labels unter Vertrag stehen, also bei meist kleinen Musikverlagen, die, weil zu keinem Konzern gehörig, ihr Programm relativ frei und oft mit einem gegen Massenkompatibilität gerichteten ästhetischen Anspruch gestalten.]
Mit der nächsten Differenzierung kommt Robert dann in der Gegenwart an.
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Robert: Ja, O.K. Gut, das Independent-Zeug fächert sich natürlich total auf. Bis, sag ich jetzt mal von der Sparte her, das ist schon sehr in der Jetzt-Zeit, sag ich mal, von Sigur Ros, Wim Mertens oder was bis eben Hardcore. Also ganz unterschiedliche Pole. Bleib ich jetzt mal bei dem... ja gut, das deckt das eigentlich schon ab.
„Independent-Zeug“ (Z. 26): dieser Zweig seines Musikgeschmacks „fächert sich … total auf.“ (Z. 26 f.) Einerseits in betont ruhige Spielarten; neben der skandinavischen Band Sigur Ros nennt Robert auch den niederländischen Minimal Music-Komponisten Wim Mertens (vgl. Z. 28 f.), später auch noch das Chicagoer Ensemble Rachel’s (Z. 33) und andererseits in betont aggressive und komplexe Formen des Punk („Hardcore“ in Z. 29). Allerdings, schränkt Robert ein, ist sein Interesse für diese zweite, die laute und aggressive Seite mittlerweile zur Ruhe gekommen. Er meint dazu an anderer Stelle: „… die Platten, die ich habe, reichen mir und wenn ich es mal wieder hören will, dann gefällt es mir auch noch.“ Die „ruhigen Sachen“ (Z. 32 f.) jedoch regen ihn an, von seiner jüngsten Entdeckung, der „Klassik“ (Z. 35), namentlich von Glenn Gould, zu sprechen.
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Robert: Ja, Independent, wenn ich dann erst die ruhigen Sachen… wenn wir da bei Sigur Ros sind, oder Rachel’s, weiß ich nicht, ob man die Independent... gut, da spinnt es dann den Bogen schon wieder zu was anderem. Nämlich zur Klassik. Was mich momentan sehr interessiert. Oder was heißt momentan, also über die Jahre, dass sich das irgendwie so entwickelt, also da... taste ich mich ein bisschen ran. Und zwar ist das Glenn Gould. Weil der Gould ist nämlich wirklich gut und irgendwie denk ich mir… Also wie der das irgendwie auch spielt, das ist auch irgendwie Rock. Das ist Wahnsinn … das hat mich gestern beschäftigt. Ist eigentlich das aktuellste, was mich beschäftigt.
An den Schluss seiner Geschmacksbiographie stellt Robert sein Interesse für elektronische Popmusik. Auf diese Musik haben ihn Stilelemente bestimmter 127
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Ausprägungen der Rockmusik neugierig gemacht. (Diese Sequenz war in Teilen auch oben schon Gegenstand der Interpretation – siehe Robert und Jürgen – Zur Performativität der Beziehung)
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Robert: ... das muss ich eigentlich unbedingt noch sagen, weil das eigentlich schon wichtig ist. Also das ist ja im Endeffekt auch die Beziehung zum Jürgen dann. Weil zur Punk-Musik haben wir da keine Beziehung. Und Auflegen und Discos und das ist ja schon eine Parallelsache, die schon auch wichtig ist. Jetzt hab ich das andere alles mit so... mit so Lebensabschnitten verbunden… Und wie bin ich auf das Elektro-Zeug gekommen? Gute Frage. Jetzt wart mal... Ja, also so Computer, Electro... und wie war das dann? Ja, durch so ein paar Konzerte... also ich sag jetzt einfach mal Industrial. Also Industrial, Elektronik, elektronische Musik.
An Roberts Schilderung fällt zunächst auf, dass sie, wie er selbst sagt, nach „Lebensabschnitten“ (Z. 48) gegliedert ist. Robert beginnt mit der (früheren) „Kindheit“, danach kommt die Zeit „bei den Ministranten“ (Z. 5) und im „Zeltlager“ (Z. 3) – typische Landmarken später Kindheit und früher Jugend – schließlich die Pubertät. Im weiteren Verlauf seiner Schilderung verzichtet Robert dann auf eine so deutliche Segmentierung. Nach seinem in der Pubertät aufflammenden Interesse für Punk entwirft er nun eine auffallend kontinuierliche Geschmacksentwicklung. Sein Interesse erweitert sich quasi organisch von Punk auf Independent-Musik, er spricht von einer Entwicklung in einer „Richtung“ (Z. 15). Ruhige Independent-Spielarten eröffnen ihm einen „Bogen … zur Klassik.“ (Z. 35). Schließlich entwickelt er auch für sein Interesse an elektronischer Musik, das in der „Beziehung zum Jürgen“ (Z. 45) eine wichtige „Parallelsache“ (Z. 47) darstellt, eine Genealogie, bei der er in Rockmusik aufgefundenen Elementen nachgeht: „Also Industrial, Elektronik, elektronische Musik.“ (Z. 53). Insgesamt entwirft Robert eine Darstellung der Entwicklung seines Musikgeschmacks, die eine große Spannbreite verschiedener Interessen entfaltet und zwischen den sehr differenten Ausrichtungen (von Punk bis Glenn Gould) zugleich einen organischen Zusammenhang herstellt. So vielfältig sein Geschmack auch ist, es hängt doch alles zusammen. Damit entwickelt Robert auch ein biographisches Muster. Er erzählt seine Lebensgeschichte, soweit sie sich in der Entwicklung seines Geschmacks widerspiegelt. Beim autobiographischen Erzählen geht es, so Schulze, um die „Organisation und Neuorganisation von Erfahrungen“ (Schulze 1979, S. 59). Roberts Schilderung akzentuiert zwei Aspekte, die komplementär aufeinander bezogen sind. Die Pluralität, die seinen Geschmack auszeichnet, entsteht dadurch, dass er neue Interessen nicht anstelle alter setzt, sondern aus ihnen heraus entwickelt. Auf der Folie dieser geschmacklichen Diversität wird der im-
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plizite Zusammenhang seiner Geschmacksentwicklung umso deutlicher. Robert beschreibt diese Entwicklung in ihrem Verlauf über einen längeren Zeitraum und mehrere Genregrenzen hinweg, wobei er im Rahmen der Beschäftigung mit jeweils aktuellen geschmacklichen Präferenzen auf neue Genres aufmerksam wird, die für ihn aber – mal lose, mal ausdrücklich – immer mit seinem gegenwärtigen Interesse in Verbindung stehen. Dieses Muster ist vielleicht am wenigsten deutlich beim Weiterstöbern im Plattenladen (vgl. Z. 16 ff.), es ist umso augenfälliger bei Glenn Gould, der „auch irgendwie Rock“ (Z. 40 f.) spielt und der elektronischen Musik, die Robert in einem Subgenre der Rockmusik entdeckt (vgl. Z. 50 ff.). Der Bildungssinn bzw. das Potential „längerfristigen menschlichen Lernens“ (Schulze 1979, S. 51), wie Schulze formuliert, liegt bei der lebensgeschichtlichen Reflexion darin, dass sich in ihr neben der Erinnerung auch ein Anspruch artikuliert. Sein Leben zu erzählen impliziert auch, einen Entwurf davon zu machen, wie man es führen will. Denn in solchen Erzählungen „…ist die Organisation von Erfahrung als Lebensgeschichte vorwärtsgewandt, also prospektiv und nicht nur rekonstruierend, sondern konstruktiv auf eine bestimmte Fortführung des eigenen Lebens gerichtet.“ (ebd., S. 59; vgl. dazu auch Alheit u.a. 2001). In Roberts Schilderung geht es insofern nicht nur darum, wie sich sein Geschmack entwickelt hat, sondern auch darum, dass die Kontinuität und Vielfalt, die er dabei entwickelt hat, für ihn weiterhin wichtige Bedingungen sind. Während Robert erzählt, bringt Jürgen immer wieder an, dass er ganz ähnliche Erfahrungen wie Robert gemacht hat. Dafür sind im Folgenden drei Beispiele wiedergegeben. Zunächst geht es um frühe Erfahrungen Roberts mit Musik. Die „Kindersendungen“, die dabei eine Rolle spielen, wurden oben schon erwähnt.
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Robert: … Ja gut, also was noch … so Kinderhörspiele. Und da ist natürlich immer eine Erkennungsmelodie dabei. Pumuckl, Räuber Hotzenplotz, Die Drei Fragezeichen. DK: Das war ja dann schon fast Popmusik. Jürgen: Ich wollte gerade sagen, das hat doch mit Musik nichts zu tun. Robert: Doch, da ist immer am Anfang so eine Melodie. […] Robert: Ja, und Timm und Struppi. Das ist eher so, wie sagt man da? Jürgen: Ich hab mich auch immer gefreut, wenn Wickie im Fernsehen gekommen ist. Das war eine schöne Melodie dazu. Robert: Fernsehserien, genau. Jürgen: Das hör ich heute noch gerne. Ich hab mir erst letztes Jahr einen Sampler, den hab ich im Internet gesehen, den hab ich
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mir dann bestellt, da sind lauter solche, du kennst den ja, lauter so Melodien drauf, so Kindersendungen. Robert: Genau, das ist eigentlich auch... Kindersendungen. Gut, muss man ja nicht detaillieren jetzt. Jetzt wart mal, was fällt mir zu... Also ich glaub wirklich, Musik an sich, das sind die ElternSchallplatten. Was war da noch? Man muss auch dazu sagen, dass dazu irgendwie auch wichtig ist, wie die Eltern Musik gehört haben. Und da muss ich sagen, die haben eigentlich nicht Musik gehört. Jürgen: Wie bei mir. Robert: Die haben irgendwie so Scheiß gehabt und das haben sie früher mal gehört und da muss man auch sagen, die haben eine Scheiß-Plattensammlung. Also lauter so, so Schmarren. Na ja, wobei man auch sagen muss, mein Vater interessiert sich überhaupt nicht für Musik. Jürgen: Ja, meiner auch überhaupt nicht. Null. Robert: Für den, der hört sich im Endeffekt alles an und hat dafür null Sinn. Jürgen: Wie bei mir! (klatscht sich auf den Oberschenkel)
Auch Roberts Erfahrungen mit der Peergroup kann Jürgen gut nachvollziehen. Als Robert von seiner Zeit bei den Ministranten erzählt, ist ihm das kurz ein wenig unangenehm. Der folgende Ausschnitt schließt direkt an die erste in diesem Abschnitt wiedergegebene Sequenz an. 35
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Robert: … Zeltlager und so… Das wird ja richtig peinlich jetzt. (lacht) Jürgen: Bei jedem das Gleiche. Robert: Und was war da, was war da gut, was hat mir gefallen? Also eine meiner ersten Kassetten, die ich mir aufnehmen hab lassen, ich glaube, das war Def Leppard. Jürgen: (lacht) Das wird doch peinlich.
Schließlich kann Jürgen Roberts Überzeugung, nach der Pubertät einige Platten verkaufen zu müssen, genauso verstehen wie dessen gegenwärtiges Missbehagen, eben das gemacht zu haben.
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Robert: Ich hab irgendwann mal diese ganzen Sachen verkauft... Jürgen: Ich hab auch mal welche... Robert: ...weil ich mir gedacht habe... Jürgen: Braucht man nicht mehr. Robert: ...ich hab die Pubertät jetzt überwunden und jetzt muss ich’s verkaufen, um das abzuschließen. Jürgen: Ouh!
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Robert: Irgendwie so glaub ich ist da der Hintergrund. Jürgen: Ja, dann hast du nicht anders können. Robert: Ja, das war ein Scheiß. Das war ein Schmarren.
Jürgens Einwürfe verweisen darauf, dass er sich in Roberts Erzählung wiedererkennt (vgl. u.a. Z. 25, Z. 34, Z. 37 und Z. 43). Dieses aktive Zuhören signalisiert jedoch nicht nur, dass Jürgen seine eigene Biographie während der Schilderung seines Freundes reflektiert, es wirkt auch auf Roberts biographisches Erzählen zurück. Jürgen zeigt, dass er Roberts Reflexion mit vollzieht, indem er immer wieder Verweise auf eigene, zum Teil geradezu deckungsgleiche Erfahrungen einflicht. Er drückt – auch durch seine ironische Anmerkung (vgl. Z. 41) – Empathie aus, als Robert meint, „peinlich[e]“ (Z. 35) Begebenheiten anzusprechen. Und er zeigt Verständnis für Roberts Entschluss, Schallplatten zu verkaufen, indem er seine eigene Entscheidung in einer entsprechenden Situation paraphrasiert: „Braucht man nicht mehr.“ (Z. 45). In seiner aktiven Begleitung der Erzählung von Robert unterstützt Jürgen die Reflexionsbewegungen seines Freundes dadurch, dass er deren sprachliche Entfaltung auf eigene Erfahrungen ausweitet und sie insofern gewissermaßen beglaubigt. Die intersubjektive Unterstützung bei der lebensgeschichtlichen Reflexion führt dazu, dass Robert seine Schilderung in einer Atmosphäre entwickeln kann, in der die in seiner Erzählung artikulierten Erfahrungen auch von Jürgen im Zuge von dessen tätiger Anteilnahme geteilt werden. Robert erzählt zu einem gewissen Grad also nicht nur von und für sich; er erzählt auch für Jürgen. Dessen aktive Begleitung ist für ihn Aufforderung und Zustimmung zugleich. Die hier aufscheinende sinnfördernde „Stimmung“ (Ricoeur 1986, S. 225) entsteht nicht durch eine nachträgliche, reflexive Zustimmung, sondern dadurch, dass Jürgen sich im Moment von Roberts Erzählung dieser anschließt, sodass es (wie in Z. 31 ff. oder 42 ff.) nahezu zur Gleichzeitigkeit der Artikulation von Erfahrung durch beide Freunde kommt. Einerseits kommt Robert durch Jürgens Verhalten also eine besondere unterstützende Aufmerksamkeit zu, zugleich geschieht so etwas wie eine Inanspruchnahme seiner Erzählung durch Jürgen. Insofern liegt hier kein intersubjektives Verhältnis vor, bei dem auf eine (implizite) Aufforderung eine entsprechende Reaktion erfolgt. Intersubjektivität begegnet hier als die Überschneidung von Subjekten. An dieser Stelle ist ein kurzer Exkurs angebracht. Pädagogische Kernkategorien wie Bildsamkeit und Selbsttätigkeit werden gemeinhin entelechisch verstanden; d.h., sie werden als Fähigkeiten, die zu entfalten sind, im Individuum verortet (vgl. Benner 2001, S. 59 ff., Mollenhauer 1994, S. 78 ff.). In dieser Tendenz erscheint Bildung als individuelle Auseinandersetzung mit objektiven Bedingungen durch einzelne Subjekte bzw. als Ertrag dieser Auseinandersetzung (die beispielsweise Aneignung oder Emanzipation ermöglicht). Nach einer maßgeblichen Begründungsfigur 131
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der Idee der Bildsamkeit bewährt sich diese dabei als „Prinzip“ (Benner 2001, S. 71) einer Haltung bzw. als handlungsorientierende „Fiktion“ (Mollenhauer 1994, S. 102) gegenüber Subjekten, die am Beginn von Bildungsbewegungen verortet werden und deren Bildsamkeit hervorzubringen ist. Das Mandat der Bildsamkeit liegt nach dieser Auffassung nicht allein bei den Subjekten, sondern fußt auch in objektiven Anlässen (Aufforderungen, Situationen etc.). Mit Blick darauf, wie sich Roberts Reflexion im Zusammenhang mit Jürgens teilnehmendem Zuhören entwickelt, lässt sich an dieser Stelle eine Differenzierung anschließen. Zwischen Freunden besteht kein pädagogisches Verhältnis, die Rollen sind hier nicht so klar verteilt. Jürgen lässt seinem Freund durch sein selbstreflexives Zuhören Unterstützung zukommen. Und Roberts Erzählung greift nicht nur dessen eigene Erfahrungen auf, sondern gewinnt durch Jürgens Bestätigungen auch für ihn Bedeutung. Mit dem Modell eines von außen in Bewegung gesetzten individuellen Bildungsprozesses lässt sich nur unscharf beschreiben, was zwischen Jürgen und Robert geschieht. Denn das Verhalten beider Freunde ist zugleich selbstreflexiv und wirkt für den jeweils anderen sinnstiftend. Roberts lebensgeschichtliche Erzählung vollzieht sich als Bildungsbewegung nicht in einer individuell-subjektiven, sondern in einer gemeinsamen, in einer intersubjektiven Praxis entwickelten Reflexion. Denn auch wenn die Anteile, die die beiden Freunde daran haben, ungleich sind, wenn Robert derjenige ist, der biographische Erfahrungen inhaltlich artikuliert und Jürgen dies atmosphärisch unterstützt, so haben doch beide Anteil daran, dass sich Roberts Erzählung in ihrer konkreten Gestalt formiert; biographische Bildung vollzieht sich zwischen den Freunden also als gemeinsame Tätigkeit. Jürgens Kommentierung „Wie bei mir!“ verweist auf einen weiteren Aspekt. Der Freund als zweites Ich ist ein gängiger Topos im Diskurs über Freundschaft. So heißt es etwa schon bei Aristoteles: „wenn … der Tugendhafte wie zu sich selbst ebenso auch zum Freund sich verhält, der ja sein anderes Ich ist, – nun denn, so wird, wie das eigene Dasein von jedem begehrt wird, ebenso oder ähnlich das Dasein des Freundes von ihm begehrt.“ (Aristoteles 1983, S. 228). Jürgen begleitet Roberts lebensgeschichtliche Erzählung durch ein – im Wortsinn – reflektierendes Verhalten. Das Besondere dieser Unterstützung besteht in ihrer Form; sie kommt nicht dadurch zustande, dass Jürgen ein reflexives Urteil ausspricht, sondern dadurch, dass er sich als Träger einer gleichen/ähnlichen Biographie zeigt. Dadurch wird sich Robert in seiner Selbstdarstellung außerhalb seiner selbst sichtbar – er sieht sich gespiegelt. Die Begegnung mit dem eigenen Bild, zumal auf eine Weise, bei der man sich nicht selbst vor den Spiegel stellt, um sich – gemäß eigener Erwartung – wiederzuerkennen, sondern in der der Spiegel sich gewissermaßen selbst aktiv zeigt, verweist auf ein wesentliches Moment der Ich-Bildung. „Das Ich hat … von Anfang an einen fiktiven Charakter, es ist eine Illusion, 132
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die gestiftet wird von einem Heterogenen, vom Spiegelbild her. Diese imaginäre Dimension bleibt in der Beziehung zum Anderen, der das Ich in seinen Bildern und Verhaltensweisen spiegelt, lebendig. Ich-Bildung bleibt narzisstische Intersubjektivität…“ (Meyer-Drawe 2000a, S. 124). Jürgens „Wie bei mir!“ zeigt Robert keine bloße Wiederholung der eigenen Erfahrungen an, sondern widmet ihm Anerkennung und fungiert als unterstützende Anstiftung, indem es – während Robert seine Erzählung entfaltet – synchron Ähnlichkeit projiziert. Für Robert ergibt sich daraus kein nachträgliches Wiedererkennen, vielmehr erfährt er Bestätigung im Prozess der Selbstreflexion. Diese gemeinsame Artikulation von Erfahrung verweist darauf, dass sich intersubjektive Bildung nicht nur in dialogischer, sondern auch in synchroner Form vollzieht. Im Begriff des „sozialen Synkretismus“ (Meyer-Drawe 2001, S. 190) findet sich bei Meyer-Drawe ein theoretischer Bezug, der hier hilfreich ist. Die Verschränkung und Überschneidung von Subjekten ist eine Grundbedingung der Persönlichkeitsentwicklung. „Meine Erwartung des Anderen lässt mich teilhaben an seinem Ich, wie umgekehrt seine Erfahrungen von mir teilhaben an meinem Ich.“ (ebd., S. 180). Intersubjektivität ist damit nicht nur eine Sphäre, in die Subjekte eintreten und aus der sie wieder austreten können, sie ist auch eine innersubjektive Dimension. „Selbst ist … ein Beziehungsbegriff und keine Instanz.“ (Meyer-Drawe 2000a, S. 124).
Bildungsbedeutsame Erfahrungen von Jürgen Nachdem im vorangegangenen Abschnitt zu sehen war, wie Jürgen die biographischen Reflexionen Roberts begleitet, geht es im Folgenden um biographische Erfahrungsprozesse von Jürgen. Jürgen beginnt die Schilderung seiner Geschmacksbiographie mit der Erinnerung daran, wie er auf seinem „Kassettenrecorder“ Musiksendungen aus dem Radio aufnimmt.
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Jürgen: Mit so einem Mikrophon, da hat es keine Kabel gegeben zum direkten Verbinden, das war ein ganz einfaches Gerät, mit so einem Mikrophon und ich glaube, das war halt immer am Freitag um, zwischen sechs und sieben ist die Bayern Drei-Hitparade gekommen. Zehn Songs. Und richtig schön ausgespielt immer, dass man sie halt auch aufnehmen hat können. Robert: Hitparade. Stimmt. Jürgen: Und dann halt eben noch am Fernsehen so... die ersten Sendungen, wo ich mich erinnern kann mit der... „Disco“ hat das geheißen.
In dieser Sequenz zeigt sich, dass sich Robert zu Jürgens Erzählung verhält wie Jürgen zuvor zu seiner. Auch Robert begleitet die Erzählung seines 133
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Freundes und bestätigt die darin sich artikulierende Reflexion durch den Verweis auf entsprechende eigene Erfahrungen: „Hitparade. Stimmt.“ (Z. 7). Das wird auch in der nächsten Szene sichtbar, als Jürgen von seinen ersten Schallplatten erzählt.
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Jürgen: Ja, meine erste Platte war dann glaub ich auch so eine Disco-Platte, das war dann glaub ich Village People… und dann nebenbei halt solche, ja Sampler sagt man heute, Der „Große Preis“ oder solcher Scheiß, wo die Eltern ein bisschen mitgezahlt haben, das wär sonst zu teuer gewesen. Und dann kann ich mich erinnern, ja vielleicht lass ich jetzt auch was aus, aber dann ist so die erste, die erste Phase gekommen, wo man dann mal richtig so Fan von irgendwas geworden ist, und das war dann damals, bei mir in der Zeit war man entweder KISS- oder AC/DC-Fan. Und ich war eigentlich immer KISS-Fan. Und hab dann ein paar KISSPlatten gehabt und da fällt mir ein dazu, die hab ich verkauft, die hab ich nicht mehr. Robert: Schade. Jürgen: Und die hab ich irgendwann dann auch vermisst und dann hab ich mir vorgenommen, ich verkauf nie wieder irgendwelche Platten, weil, gut, das ist jetzt nicht so schlimm, weil die würd ich wahrscheinlich auch irgendwo kriegen, aber ich muss sie auch gar nicht unbedingt haben, weil von der Musik her ist das ja eine Katastrophe. Aber das war so mit 13, 14 so. Die Jungs in der Nachbarschaft, die einen haben KISS gehört und die andern haben AC/DC gehört.
Nach dieser Episode, die sich noch in der „Nachbarschaft“ (Z. 30) abspielt, erzählt er, wie er über neue Bekanntschaften auch neue Musik kennen lernt.
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Jürgen: Ja und dann ist das wohl so irgendwie übergegangen in so diese poppigen Sachen. Das das war dann so ein bisschen so New Wave, so die erste Spandau Ballett und Duran Duran, solche Sachen. Oder Nick Kershaw oder solche Sachen, ja genau… Da hab ich halt dann auch Bärbel kennen gelernt und die hat einen größeren Bruder gehabt und der immer dann ein paar interessante Sachen gehabt, so ABC oder die ersten Simple Minds waren auch, finde ich eigentlich auch heute noch gut, kann ich mir heute noch anhören, verbinde ich halt auch mit der Zeit und das war eine gute Zeit und insofern mag ich die Musik auch heute noch. Ja und dann sind so die ersten, dann ist man auch schon weggegangen, schön langsam, da hat’s dann irgendwie so Franky goes to Hollywood gegeben… Ach, jetzt hab ich noch was vergessen: vorher hat’s auch noch NDW gegeben. Da war ich
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dann, das war auch in der Schulzeit, das war natürlich, Neue Deutsche Welle, war das Ding. Klar. Kann ich mich erinnern, dass Trio dann in A-Stadt im [Name eines Plattenladens] gespielt haben. Danach erlebt er weitere popmusikalische Trends; manches davon gefällt ihm, mit manchem kann er (vorerst) nichts anfangen. 50
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Jürgen: …wo du Punk gesagt hast, ist mir der Dings eingefallen, der Malcom McLaren, ja und dann so nebenbei, das war Pop, das war aber schon ein bisschen mit Electro, das war Ministry, Beloved hat es da gegeben, oder was da richtig so, da würde man heute fast Techno dazu sagen, das ist Clock DVA. Robert: Ja ja, die hab ich auch gehabt. Jürgen: Aber so einen Sound hat es dann eigentlich nicht weiter gegeben irgendwie. Robert: Die ist ja cool. Können wir die mal... Jürgen: Die können wir gerne mal anhören... also das war so Electro, das war so Ende der 80er. Und dann ist doch irgendwie Techno rausgekommen und das hat mich aber überhaupt nicht interessiert. Robert: Da war doch erst diese, da hat’s doch diesen Begriff Rave gegeben. Jürgen: Der hat aber mit Techno nichts zu tun gehabt. Robert: Ja, das hat mit Techno erst mal nichts zu tun gehabt. Jürgen: Nein, das waren die Stone Roses und die Happy Mondays. Robert: Genau. Jürgen: Genau, die hab ich auch gehört. Eines der besten Konzerte, die ich gesehen hab, das war das Happy Mondays Konzert in München, das war spitze. Auch in der Theaterfabrik. Also die ist von 89. Ja, und ich hab mich dann da ausgeklinkt, Techno hat mich nicht interessiert, und dann ist ja eigentlich auch schon Nirvana gekommen. Das war ja dann irgendwie, das war also für mich damals schon noch mal so ein Ding, wo ich das das erste Mal gehört habe, habe ich mir gedacht: ‚Wow! Was ist denn das? Das ist ja ganz was anderes! Das ist ja super!‘ Das hat es da echt noch mal gegeben. Und dann hat man sich die Haare wachsen lassen und hat so Zeug gehört.
Hier (wie auch bei der zuvor zitieren Alternative: „entweder KISS- oder AC/DC-Fan“ (Z. 19)) ist zu beobachten, dass sich Jürgen in seiner erzählten Erinnerung an Musikstilen bzw. Strömungen der allgemeinen popmusikali-
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schen Entwicklung („New Wave“42 (Z. 34), „Rave“43 (eingeworfen von Robert in Z. 64), Grunge, in seiner prototypischen Fassung bei „Nirvana“ (Z. 75) und „Techno“ (Z. 74)) orientiert und seine Geschmacksentwicklung dann als Nähe oder Distanz dazu beschreibt. Damit entwickelt er – wenn auch an einem für einen akademischen Blick ungewöhnlichen Gegenstand – eine Reflexionsfigur, die in der erziehungswissenschaftlichen Biographieforschung hohe Beachtung erfährt. Diese richtet, wie Dietrich/Schubert feststellen, ihre Aufmerksamkeit v.a. darauf, „… wie die Schnittstellen von Struktur … und Subjekt von diesem gestaltet werden.“ (Dietrich/Schubert 2002, S. 329). Jürgens Schilderung stellt mit dem in ihr maßgeblichen Darstellungsmuster nicht nur eine selbstreflexive, lebensgeschichtliche Erinnerung dar; sie impliziert auch eine andere Tendenz. In der dominanten Ausrichtung an allgemeinen popkulturellen Entwicklungen nimmt Jürgens Erzählung auch den Ton eines Zeitzeugenberichts an; z.B. wenn er seine Reaktion auf die Band Nirvana so beschreibt: „Und dann hat man sich die Haare wachsen lassen und hat so Zeug gehört.“ (Z. 79 f.). Das ist nicht nur eine persönliche Erinnerung, sondern, gewissermaßen aus einer Stellvertreterperspektive, auch eine Beschreibung des entsprechenden popmusikalischen Phänomens: Jürgens persönliches Erleben wird zum Teil einer allgemeinen popkulturellen Strömung. Auf dieses Amalgam von Selbstbeschreibung und einer eher objektiven Bezugnahme auf die (pop-) kulturellen Konstellationen wird gleich zurückzukommen sein. Nach Roberts im Gespräch vorangegangener relativ ausführlicher Schilderung berichtet Jürgen weniger lang und detailliert; er thematisiert diesen Vergleich selbst. Bei seinem Einstieg in die Rekonstruktion seiner Geschmacksbiographie meint er: Jürgen: …das weiß ich jetzt nicht, ob ich das jetzt so ausführlich hinkriege wie der Robert.
42 „New Wave“ steht für einen unübersichtlichen Trend in der amerikanischen und britischen Popmusik. Bruckmaier schreibt dazu: „Gerade mal, dass es nicht Punk war. … und die Unschärfe des Begriffs New Wave ist geblieben. Eine Welle gab es tatsächlich: Weltweit meldeten sich unorthodox spielende und aussehende Musiker… So war alles New Wave, was keinen Mohawk trug und keine Sicherheitsnadeln, aber irgendwie nicht nach Eagles klang: Ultravox und Depeche Mode, Talking Heads und B-52’s… So setzte sich um 1980 eine neue Spielart der Popmusik durch, die sich erstmals nicht über musikalische Gemeinsamkeiten, sondern über zeitliche Koinzidenz, einen diffusen Modernismus … definierte.“ (Bruckmaier 1999, S. 126). 43 „Rave“ entwickelte sich in englischen Clubs, „… in denen House, balearische Hits und britischer Independent Sound solange aufeinander knallten, bis sich Gruppen wie Shamen, M/A/R/R/S oder Bomb the Bass der kunterbunten AcidWelt aus Smilies-Stickern und gebatikten T-Shirts verschrieben und England eine nie gekannte, harmonische Spaßkultur bescherten.“ (ebd., S. 102). 136
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DK: Das muss ja gar nicht sein. Jürgen: Nein, na ja, vielleicht würd ich das gerne… Auch zum Abschluss seiner Schilderung macht er zwei Bemerkungen, die diesen Aspekt aufgreifen: „Ja, das war jetzt schon kürzer abgerissen das ganze.“ Und: „Das war jetzt auch nicht so ausführlich.“ Bis hier her lässt sich festhalten, dass Jürgen sich deutlich an kulturellen „Präskripten“ (Dietrich/Schubert 2002, S. 329) orientiert und sich sein individuelles Erleben in seiner Erzählung mit der Darstellung der Zeitläufte verschränkt. Jürgens zuletzt wiedergegebene Bemerkungen erwecken nun den Eindruck, als sei er selbst nicht ganz zufrieden mit seiner Schilderung. Einerseits wirkt hier sicher die Interviewsituation, in der sich Jürgen gegen vermeinte Anforderungen an seine Darstellung verwehrt, andererseits deutet Jürgen aber auch einen gewissen Anspruch an sich selbst an (vgl. Z. 4), sodass es den Anschein hat, dass es vielleicht noch mehr oder anders zu erzählen gäbe als das, was er erzählt hat. Davon allerdings darauf zu schließen, dass die von ihm geschilderten Erfahrungen auf irgendeine Art unfertig sind, wäre falsch. An dieser Stelle ist ein kleiner biographietheoretischer Exkurs vonnöten. Schulze formuliert für autobiographische Texte ein Schema der „Entfaltung einer Erfahrung“ (Schulze 1997, S. 329). Er unterscheidet fünf „Schichten“ (ebd.), durch die sich eine lebensgeschichtliche Reflexion entwickelt. Am Beginn stehen die konkreten „Eindrücke und Ereignisse“ (ebd.), an denen der Einzelne teilhat und die er durch sein subjektives Erfassen zunächst als „Erlebnisse“ (ebd.) erfährt. In der „Erinnerung“ (ebd.) vollzieht sich dann eine retrospektive und vergleichende Vergegenwärtigung des Erlebten, die sich in der „Erzählung“ weiter gliedern und artikulieren kann. Schließlich kann es „besonders in literarischen Autobiographien“ (ebd., 330) zu einer „reflektierten Erkenntnis im Blick auf die sprachliche Äußerung“ (ebd.) kommen. In dieser Progression trägt die Sprache essentiell dazu bei, dass eine Erfahrung für das Subjekt greifbar wird: Im Erzählen geben wir unseren erinnerten Erlebnissen Bedeutung, machen sie zu unseren Erfahrungen und setzen uns zu ihnen in ein spezifisches Verhältnis. Aus dieser theoretischen Perspektive, die das individuell reflektierende Erzählen als zentrale Form der autobiographischen Reflexion fokussiert, ließe sich mit Bezug auf Jürgens Darstellung und seine Kommentare dazu die Annahme formulieren, dass dort Erfahrungsdimensionen unartikuliert bleiben. Eine solche Annahme wäre allerdings stark verkürzt. Denn den Freunden mangelt es nicht an „biographischer Kompetenz“ (Schulze 1999, S. 39). Lebensgeschichtliche Erinnerung, Reflexion und Erzählung findet zwischen den Freunden statt. Biographie ist ein Thema, das zwischen ihnen auch in anderen, fast möchte man sagen: weniger exerzitienhaften Modi zur Artikulation drängt als dem der individuellen Narration.
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Dazu ist noch einmal darauf hinzuweisen, dass Jürgen durch Robert eine ganz ähnliche Begleitung erfährt, wie das zuvor bei Roberts Erzählung der Fall war. Das zeigt sich in der Szene zur „Hitparade“ (Z. 7 im vorvorangegangenen Abschnitt) ebenso wie in dem Abschnitt, in dem Jürgen schildert, wie er Rave, Techno und Grunge erlebt hat. Besonders dort ist zu sehen, dass auch Robert aktiv zuhört und eigene Erfahrungen ebenso einflicht wie er an der Reflexion seines Freundes tätig teilnimmt (vgl. u.a. Z. 55, Z. 58 und Z. 69). Schon hier wird ersichtlich, dass das Modell eines souverän, gleichsam monologisch erzählenden Subjekts für die Konstruktion von Biographie im Gespräch unter Freunden, in dem die gemeinsame Reflexion und entsprechende Redeformen eine wichtige Rolle spielen, nicht recht passt. Noch deutlicher wird dies, wenn man Jürgens Verhalten als Zuhörer bei Roberts Schilderung mit berücksichtigt. Jürgen hört Robert bei dessen biographischem Erzählen nicht nur wohlwollend, sondern auch selbstreflexiv zu. Ohne dass er selbst erzählt, sondern dadurch, dass er sich der Erzählung seines Freundes anschließt, indem er sie auf entsprechende eigene Erlebnisse bezieht und diese Parallelität wiederholt thematisiert, artikulieren sich für ihn in Roberts Schilderung eigene Erfahrungen. Jürgen nutzt für seine biographische Reflexion damit nicht nur die Möglichkeit, selbst zu erzählen, sondern er greift auch auf die Erzählung seines Freundes als Artikulationsraum biographischer Erfahrung zurück, er entwickelt ein biographisches Konzept auf intersubjektivem Terrain. Eigene Erinnerung und Anerkennung gehen ineinander über, wenn er sich bestätigend in Roberts Erinnerung erkennt. So wie ein literarischer Autor nicht auktorial erzählen muss und trotzdem ordnende Instanz seiner Erzählung bleibt, kann „biographische Kompetenz“ (Schulze) auch darin bestehen, sich in ein Verhältnis zur Biographie anderer zu setzen. Im Gespräch mit Jürgen und Robert begegnen insofern intersubjektive Formen der biographischen Selbstvergewisserung, die auch mit dem, was Marotzki als „synchrone“ (Marotzki 1999, S. 64) biographische Reflexion erläutert, nur teilweise beschreibbar sind. Zwar geht dieses Konzept über ein monologisches Erzählen hinaus und nimmt die Notwendigkeit von intersubjektiver Anerkennung im Dialog in den Blick, doch lässt es durch eben diese Fokussierung andere Formen intersubjektiver biographischer Bildungsprozesse außer Acht. Jürgen und Robert hören einander nicht nur aufmerksam und anerkennend zu, sie nehmen aktiv an den Reflexionen ihres Freundes teil und machen diese dadurch zu gemeinsamen Reflexionen. Diese Synchronizität biographischer Reflexion vollzieht sich nicht nur nach dem Schema eines Dialogs, nicht nur als Aktion und Reaktion, sondern auch als Ko-Konstruktion in der Praxis eines gemeinsamen Erzählens. Eine weitere Sequenz ist in diesem Zusammenhang interessant. Eine Frage an die beiden Freunde war, welchen Erlebniswert Popmusik für sie besitzt (ob sie z.B. eher als alltägliche oder als besondere Erfahrung wichtig ist). Da138
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bei kommen Jürgen und Robert darauf zu sprechen, dass sie Diskotheken nicht mehr häufig aufsuchen. Robert meint jedoch, dass dies nichts damit zu tun hat, „… dass man da dann keinen Bezug mehr hätte.“ In der Folge spielt er mit dem Gedanken – und Jürgen steigt schnell darauf ein –, wieder einmal in eine bestimmte Diskothek zu gehen. (Es handelt sich um jene Diskothek, in der auch das Gespräch „über Frauen“ stattgefunden hat – siehe Robert und Jürgen – Zur Performativität der Beziehung.). Schließlich zeigt sich, dass Jürgen doch skeptisch über einen Diskobesuch denkt. So ergibt sich die folgende Szene.
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Jürgen: Mein Pensum [an Diskobesuchen; Erg. DK] ist da glaub ich erfüllt mit solchen Sachen. Ich bin so oft ins [Name der Diskothek] gefahren, bei Wind und Wetter, bei Eis und Schnee und Sturm und umgestürzten Bäumen und heute würd ich sagen: ‚Ja geht’s noch! Geht’s überhaupt noch?‘ Aber das war wichtig und das hat sein müssen, aber ich glaube irgendwie, mein Bedarf ist da irgendwie gedeckt. Robert: Das denke ich mir eigentlich grundsätzlich auch so. Also ich habe kein Bedürfnis aus mir raus, ich habe keine innere Unruhe, dass ich das machen müsste. Jürgen: Null. Robert: Aber ich hab doch noch so ein bisschen, ich weiß nicht, ich finde das einfach interessant. Also es ist schon noch irgendwie... Vielleicht ist das doch noch ein bisschen Unruhe, aber... nein, Unruhe kann man nicht sagen. Jürgen: Ich glaube, ich würde mir jetzt einfach nur blöd und fehl am Platz vorkommen. Robert: Nein, wieso denn? Jürgen: Ja, weil die meisten halt dann doch um die zwanzig rum sind. Robert: Ja und? Dir siehst du dein Alter auch nicht an. Jürgen: Ja, aber ich schau nicht aus wie um die zwanzig. Und insofern komm ich mir dann... Robert: Ja, das nicht, aber du schaust... Jürgen: Und ich weiß, ich weiß selber, wie alt dass ich bin. Robert: Aber du schaust zumindest nicht so aus, als ob die da sagen würden: ‚Hey, von wem bist denn du da der Vater?‘ Jürgen: Ja, O.K. O.K. Gut, aber trotzdem. Ich weiß halt, wie alt dass ich bin und dann würd ich mir von mir aus wahrscheinlich ein bisschen komisch drin vorkommen.
In dieser Szene interferiert Jürgens Selbstreflexion mit der Sicht von Robert auf seinen Freund. Zunächst erläutert Jürgen, dass die Diskothek auf ihn nicht mehr die hohe Anziehungskraft hat wie das früher der Fall war. Er hält sein 139
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„Pensum“ (Z. 1) für „erfüllt“ (Z. 2). Robert beschreibt sich zuerst weitgehend kongruent – auch wenn zwischen der von ihm gebrauchten Wendung „Bedürfnis aus mir raus“ (Z. 9), die stärker auf ein subjektives und dadurch möglicherweise variables Ermessen hinweist und Jürgens Ausdruck, der von einem gleichsam objektiv quantifizierbaren „Bedarf“ (Z. 6) spricht, eine leichte Divergenz aufscheint. Nachdem Jürgen so lakonisch wie eindeutig Übereinstimmung zwischen sich und Robert feststellt, indem er sich an dessen Erklärung anschließt, als sei es seine eigene (vgl. Z. 11), macht Robert eine differenzierende Ergänzung. Für ihn ist ein Besuch im Tanzlokal „… doch noch … interessant“ (Z. 12 ff.). Die Selbsteinschätzung, die Jürgen dem gegenüberstellt, nämlich, dass er sich in der Disco „fehl am Platz vorkommen“ (Z. 16 f.) würde, rückt einen nun deutlichen Unterschied zwischen den Freunden in den Mittelpunkt. Robert erhebt daraufhin Einspruch: „Nein“ (Z. 18) Seine Frage: „… wieso denn?“ (ebd.) zielt nicht auf eine plausible Erklärung für Jürgens Selbstsicht ab, sondern signalisiert, dass es seiner Ansicht nach dafür eigentlich keinen Anlass gibt. Robert rechtfertigt hier also nicht seine eigene Einstellung, er stellt Jürgens Selbstbeschreibung ein anderes Bild gegenüber, das er sich von seinem Freund macht. Jürgen jedoch erklärt, dass er sich aufgrund seines Alters deplaziert fühlen würde. Zu diesem Aspekt gehen nun einige Anmerkungen zwischen den beiden Freunden hin und her. Dabei argumentiert Robert, dass Jürgens Sorge unnötig ist, weil nicht zu erwarten sei, dass der von ihm angesprochene Altersunterschied Dritten wirklich auffallen werde. Diesem Argument – von Robert noch einmal pointiert (vgl. Z. 26 f.) – stimmt Jürgen letztlich zu, doch erläutert er in diesem Zusammenhang auch, dass es ihm gar nicht um den Eindruck Dritter, sondern um seine Selbstwahrnehmung geht (vgl. Z 28 ff.). Diese Szene beginnt mit einer parallelen Selbstreflexion der Freunde, die allerdings nicht zu einer Ko-Konstruktion von Biographie führt – obwohl sich das in Jürgens „Null.“ (Z. 11) kurz anzudeuten scheint –, sondern zur Thematisierung von Differenz. Diese Differenz zeigt sich in zwei Dimensionen; zum einen in Bezug auf die jeweilige Einstellung der Freunde gegenüber einem möglichen Discobesuch. Zum anderen tritt in der gemeinsamen Auseinandersetzung mit dieser Differenz zu Tage, dass es zwischen Jürgens Selbstbild und dem Bild, das sich Robert von seinem Freund macht, einen Unterschied gibt. In Bezug auf die Frage, was zwischen Freunden geschieht, wenn sie nicht zusammen sind, entwickelt Kracauer einen Gedanken, der hier hilfreich ist: „Mag seine [des Freundes; DK] Nähe beglückend sein, die Erinnerung erst gestaltet sein Bild…“ (Kracauer 1971, S. 59). Freunde entwickeln in ihrer Gewöhnung aneinander und durch ihr Wissen übereinander „Entwürfe“ (Mollenhauer 1994, S. 159) voneinander, auf die sie sich in ihrer Beziehung beziehen. Insofern richtet sich das Verhalten von Freunden zueinander nicht nur auf den Freund in seiner konkret erlebten Person, sondern beruht auch auf den 140
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an ihn gerichteten Erwartungen. Diese Projektion ist nun nicht nur in Freundschaften, sondern in jeglicher Interaktion eine Dimension sozialen Verhaltens (vgl. dazu z.B. auch Mead 2002). Der obige Gesprächsausschnitt zeigt jedoch, dass Jürgen und Robert diese Zuschreibungen auch explizit thematisieren. Damit geht einher, dass sich Jürgens biographische Reflexion – er entwickelt Distanz zu einem jugend- und adoleszenztypischen Erlebnisort und verortet sich damit jenseits der entsprechenden Lebensphasen – gerade auch in der Differenz zu Roberts Zuschreibung artikuliert. Im Gespräch unter Freunden entstehen also nicht nur gemeinsame lebensgeschichtliche Erzählungen, es werden auch – als Entgegnung auf entsprechende Entwürfe des Freundes – Differenzen entwickelt.
Gemeinsame bildungsbedeutsame Erfahrungen von Jürgen und Robert Beschreibungen ästhetischer Erfahrungen sind nicht zuletzt wegen ihrer doppelten Ausrichtung (auf das Objekt der ästhetischen Erfahrung und – selbstreflexiv – auf das Subjekt, das diese Erfahrung macht) nur schwer zu formulieren. Eine entsprechende Erwartungshaltung kann, wenn sie unter Freunden eingespielt ist, vielleicht sogar förderlich sein; vor einem Dritten fällt das Reden übers Ästhetische schwer. Das war in Teilen auch im Gespräch mit Jürgen und Robert der Fall. Doch im Verlauf ergeben sich einige Sequenzen, in denen die beiden ihre diesbezügliche Befangenheit ablegen und sich freier einlassen. Zwei entsprechende Abschnitte finden hier Berücksichtigung. Zunächst legt Robert ein Stück des Rappers Ice-T auf. Jürgen meint: „Body Count wär aber besser.“ Body Count ist ein Projekt, bei dem Ice-T textlich z.T. sehr aggressive Raps mit dem harten Sound seiner Begleitband verknüpft, deren Spielweise hauptsächlich von Hard-Rock- und Punk-Elementen geprägt ist. Robert spielt auf die Anregung seines Freundes dann das Stück „Body Count“ des gleichnamigen Projekts.
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(Wir hören dem Vorlauf zum Stück zu: eine Schimpftirade von Ice-T.) Robert: Das ist gut. Der sagt’s uns. (Es folgt ein Intro mit akustischer Gitarre.) Jürgen: Das ist ja bloß der Anfang. Robert: Das hat man damals halt so gemacht, das Intro... damit dann der Schock noch besser kommt. Ganz ruhige GitarrenSachen und dann Gemetzel. (Jürgen imitiert drei Pistolenschüsse. Es folgt die Textzeile „... but you see I live in South Central Los Angeles”.) Jürgen: Ah, das langweilt mittlerweile so was, oder? 141
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Robert: Jetzt lass das doch mal. Jürgen: Nein, ich mein das Prinzip. Robert: Ja. Jürgen: Das Prinzip, das ist halt mittlerweile: ‚Gähn!‘ Robert: Klar, man steigt da gar nicht mehr drauf ein. (Der Rockteil des Stücks beginnt.) Jürgen: Ich hab das geliebt. Das war der Sommer, die Psalm 69 von Ministry, die Body Count und Monster Magnet. Das war... ich hab das gar nicht genug hören können, diese Scheiben, ich hab das echt geliebt. Jetzt sag ich, das wär der Hirntod, wenn ich mir das... Robert: Ja, jetzt hört man sich das halt so an, ja. Jürgen: Ja, vor allen Dingen, es ist halt nicht mehr so, jetzt gibt es halt, hat es halt härtere Bands gegeben, jetzt ist das auch nicht mehr so hart. Das war halt damals auch super hart. Robert: Gut, das ist schon echt gut. Jürgen: Ich war auf dem Konzert sogar...Na ja, was ich meine, es ist halt auch, ich find das ganz schön schwachbrüstig mittlerweile, weißt du. Da gibt es halt wesentlich härtere Sachen mittlerweile. Robert: Ja, klar. Weil jede Provinzband das auch kann, was der da macht. Jürgen: Ja, damals wie das raus gekommen ist war das halt super und mächtig. Und jetzt ist das halt nicht mehr so. (Im Song ist gerade ein ausführlicher Schlagzeugbreak zu hören.) Robert: Stimmt. Wie so eine Zirkusband. So eine schwächliche eigentlich... Jürgen: Ja. Eben, deswegen. Genau.
Das Stück beginnt mit einem fingierten Interviewausschnitt: Ice-T lässt sich aggressiv über an ihn gerichtete Vorwürfe aus, er würde mit seiner HardRock-Band Body Count „weiße Musik“ machen. Diesem fulminanten Auftakt folgt ein Intro mit einer akustischen Gitarre, die ein Dreiklangthema sehr bedächtig variiert. Robert und Jürgen kommentieren diesen Songanfang amüsiert-distanziert und stellen fest, dass es sich um ein gebräuchliches Muster handelt: ein betont ruhiger Anfang, der dem eigentlichen lauten Rocksong vorangestellt wird, um diesen dann druckvoller erscheinen zu lassen. Dann fallen drei Momente zusammen. Auf Roberts Ausdruck „Gemetzel“ (Z. 8) antwortet Jürgen mit einer Geste: er imitiert mit einer Handbewegung und der entsprechenden Lautuntermalung drei Pistolenschüsse. Und im über das Gitarren-Intro gesprochenen Text fällt eine Anspielung auf die dramatischen Rassenunruhen in Los Angeles von 1992 (vgl. Z. 9 f.).44 Auf diese Koinzi44 Von diesen Unruhen war vor allem der Bezirk South Central betroffen. 142
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denz hin, in der die Erwartungen der Freunde prompt bestätigt werden, hakt Jürgen ein und bewertet das „Prinzip“ (Z. 13), dem das Stück seiner Ansicht nach folgt, auch gegen die von Robert zunächst eingebrachte Aufforderung, das Stück erst mal laufen zu lassen (vgl. Z. 12), als langweilig. Robert stimmt ihm dann auch zu: „Klar, man steigt da gar nicht mehr drauf ein.“ (Z. 16). Wieder ist eine bemerkenswerte Synchronizität zu beobachten: der Rockteil des Stückes beginnt. Erst setzt ein Basslauf ein, dessen Thema von einer EGitarre aufgegriffen wird. Mit einem Trommelwirbel kündigt sich das Schlagzeug an – und just als es voll einsetzt, setzt auch Jürgen zu einer Erklärung über sein Verhältnis zu diesem Stück an. Nachdrücklich, fast bewegt erinnert er sich an einen „Sommer“ (Z. 18), in dem er die LP, auf der das gerade laufende Stück enthalten ist, zusammen mit zwei anderen Platten „gar nicht genug“ (Z. 20) hören konnte. Und noch im selben Atemzug distanziert er sich aufs Äußerste von diesem Stück (vgl. Z. 21 f.). Es folgt ein kurzer Dialog, bei dem Jürgen weiter erläutert, weshalb sich seine Haltung zu dem Stück so geändert hat; Robert schließt sich den Äußerungen seines Freundes hier jeweils an. Als nach der ersten Strophe des Stücks schließlich das Schlagzeug zu einem lang gezogenen Break ansetzt und alle anderen Instrumente pausieren, kommentiert Robert das folgendermaßen: „Wie so eine Zirkusband.“ (Z. 37). Offensichtlich liegt hier keine ästhetische Erfahrung vor, stattdessen zeigt sich eine sehr kritische Haltung gegenüber dem Stück. Trotzdem lohnt es sich, den Zusammenhängen zwischen dem gehörten Song und der Art und Weise, in der sich die Ablehnung der Freunde artikuliert, nachzugehen. Ins Auge fallen dabei jene zwei Momente, in denen Jürgen direkt auf den inhaltlichen bzw. formalen Ablauf des Musikstücks antwortet. Vor allem die Erläuterung der Distanz, die er dazu entwickelt hat, fällt mit dem eigentlichen Liedanfang zusammen. Gleichzeitig mit dem Stück, das er eigentlich gar nicht hören will, beginnt er, persönlich Stellung zu nehmen. Das lässt sich so deuten, dass das Stück für Jürgen durchaus Impulskraft besitzt – er stößt sich an diesem Lied und zugleich stößt es ihn an. Diese Ambivalenz ist ein zentraler Aspekt in Jürgens Erfahrungsschilderung. Seine Einlassung korrespondiert deutlich mit dem formalen Ablauf des Songs. Inhaltlich signalisiert er jedoch deutliche Ablehnung und findet für sein Verhältnis zu dem gerade laufenden Song eine drastische Metapher: „... das wär der Hirntod, wenn ich mir das...“ (Z. 21 f.) – man könnte ergänzen: ‚…jetzt ernsthaft anhören sollte.‘ In jedem Fall weist die konjunktivische Formulierung auf eine selbstreflexive Haltung hin. Jürgen knüpft seine Einstellung an die Erinnerung daran, dass er dasselbe Stück, mit dem er ein Repertoire an für ihn vergleichbaren und im selben „Sommer“ (Z. 18) gehörten Bands bzw. LPs verbindet, früher „geliebt“ (Z. 18) habe. Dieses betonte Bekenntnis („...ich hab das echt geliebt...“ (Z. 20 f.))
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und die vehemente Absage an den im selben Augenblick zu hörenden Musiktitel verdeutlichen Jürgens Entfremdung. Es ist aufschlussreich, Roberts Äußerungen im Zusammenhang mit Jürgens sich vollziehender Stellungnahme zu betrachten. Zu Beginn lässt er sich – gerade durch seine leichte Ironisierung – auf den Song ein und interveniert noch gegen Jürgens erste abwertende Bemerkung (vgl. Z. 11). Mit dem darauf folgenden ersten Erklärungsansatz Jürgens, den die entsprechenden Genrekonventionen langweilen, ändert sich das jedoch. Robert lenkt ein und zeigt Verständnis für Jürgens Ansicht (vgl. Z. 16). Als Jürgen dann seine Sichtweise eingehender schildert, zeigt Robert nicht nur Verständnis, dass „man“ (in Z. 16 und Z. 23) so zu dem Song stehen kann, er zeigt durch entsprechende Einwürfe (vgl. Z. 32 f. und Z. 37 f.) auch, dass er Jürgens Standpunkt nachvollzieht und teilt. Mit dem Moment also, als Jürgen eine persönliche Bedeutung des in Rede stehenden Songs für ihn anzeigt und diese darzulegen beginnt, ist Robert gewissermaßen auf seiner Seite. Er unterstützt Jürgen in dessen Beurteilung und schließt sich ihr dabei selbst an. Insgesamt verschränken sich dieser Szene unterschiedliche Modi: Das Musikstück ist einerseits Gegenstand der Reflexion, anderseits antwortet diese Reflexion auf spezifische Appelle des Materials; Jürgens Beschreibung trägt insofern auch mimetische Züge. Und zwischen den Freunden deutet sich zunächst eine Aushandlung an, ihre Unterhaltung mündet jedoch in eine gemeinsame Reflexion. Damit sind formale Aspekte des gemeinsamen Vollzugs von Erfahrungsprozessen beschrieben. In der nächsten, zwar kürzeren, aber nicht weniger aufschlussreichen Szene lässt sich eine gemeinsame Erfahrung der beiden Freunde auch im Hinblick auf ihren Gehalt rekonstruieren. Noch während des Stücks von Body Count erwähnt Robert die Band Danzig. Jürgen zieht darauf eine LP der Band aus seinem Regal, er meint allerdings: „Das ist wahrscheinlich auch so ein Fall.“ Schon vor dem Zuhören signalisiert Jürgen damit eine ähnliche Distanz wie er sie auch gegen das vorangegangene Stück zum Ausdruck gebracht hat, bemerkenswerter Weise nachdem er die Platten unaufgefordert hervorgeholt hat. Als die Platte dann läuft, ergibt sich die folgende Szene.
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(„Mother“ von Danzig läuft etwa 30 Sekunden.) Robert: Hat nicht so viel verloren wie der Ice-T, find ich. Jürgen: Nein. Robert: Ja, das rockt besser. Jürgen: Ja. Robert: Das merkt man halt wahrscheinlich schon, wenn jemand persönlich voll dahinter steht, dann verliert das auch nicht so. Und der ist halt wirklich dabei. Jürgen: Kann sein... Das ist halt einfach auch ein besserer Sound.
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Und es ist nicht so ein Abklatsch. Irgendwie stört’s dann auch nicht, dass das eigentlich auch so ein Angeber ist.
„Mother“ beginnt mit einem einfachen Thema einer E-Gitarre aus drei Akkorden, die zunächst der Reihe nach angeschlagen werden und das später durch einige gezupfte Zwischentöne ergänzt und variiert wird. Die Gitarre wiederholt das Thema durchgängig und wird von einem Schlagzeug begleitet, das anfangs nur die Hi-Hat spielt und peu a peu Basstrommel, Trommeln und Becken folgen lässt. Während sich die Instrumente (eine zweite E-Gitarre, die leicht versetzt das gleiche Thema spielt und ein E-Bass, der sich an eine harmonisch simple Begleitung hält) nach und nach in einem lang gezogenen Crescendo dem Thema der Gitarre anschließen, beginnt der Gesang gleich mit der ersten Strophe des Textes. Zum ersten Refrain fallen dann volle Instrumentation, voll entwickelte Lautstärke und Gesang zusammen. Der Songanfang basiert also auf einer Verschiebung zwischen dem Sänger, der bereits nach wenigen Wiederholungen einsetzt und der Band, die sich um einige Takte mehr (insgesamt eine knappe Minute) Zeit nimmt, sich in den Song einzufädeln. Auch wenn der Song musikalisch im Grunde recht konventionell ist – eine Verbindung aus Hard-Rock- und Blues-Elementen – und der Text kaum ironisierend mit einem durchaus klischeehaften Thema spielt (eine Mutter, später dann auch ein Vater werden gewarnt, ihre Tochter vor dem schlechten Umgang mit dem lyrischen Ich des Songs zu schützen), so ergibt sich dennoch ein eindrückliches Zusammenspiel von Gesang und Band. Der Sänger verfügt über ein (für Rockmusik-Maßstäbe) großes Stimmvolumen und schöpft es auch aus. Seine kehlige Gesangsstimme, aufgrund der er von Kritikern oft als „Evil Elvis“ (Kuhnle 2004) tituliert wird, moduliert er wirkungsvoll und er wirkt auch dann, wenn er mit hoher Lautstärke singt, nicht angestrengt, sondern druckvoll. „Mother“ ist ein Song, der Genrekonventionen bestätigt; allenfalls spielt er ein wenig mit ihnen, wenn zwischen zwei Textzeilen im Refrain kurz die gesamte Band aussetzt, um gleich danach mit dem Sänger zusammen wieder einzusetzen. Es ist gerade diese präzise Handhabung oft gehörter Blues- und Rock-Schemata, die sich mit dem so prätentiösen wie gekonnten Gesang zu einem stolzen Gestus verbindet, auf den dann auch Robert und Jürgen Bezug nehmen. Was den Verlauf ihrer Reflexion zu diesem Stück angeht, so spiegelt sich darin einiges aus der vorangegangenen Szene wider. Wieder signalisiert Jürgen eine gewisse Ambivalenz; für ihn ist Danzig „wahrscheinlich auch so ein Fall“. Und wie schon zuvor lässt Robert eher Aufgeschlossenheit erkennen. Diesmal jedoch ist es Robert, der argumentiert, und Jürgen, der zustimmt bzw. die Sichtweise seines Freundes anerkennt (ob er sie teilt, lässt sich anfangs gar nicht sagen, denn seine Antworten bleiben zunächst sehr knapp). 145
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Als Robert seine Wertung dann begründet, macht er das, indem er dem Sänger eine bestimmte Haltung unterstellt. Hier ist wieder an Frith zu erinnern, für den die geschmackliche Würdigung nicht nur von Musik immer auch „… die Form einer ethischen Übereinstimmung“ (Frith 1999, S. 158) hat. Der Ansicht Roberts schließt sich Jürgen nun an; er differenziert dabei aber auch die Aussage seines Freundes. Für ihn ist der Sänger durchaus „ein Angeber“ (Z. 11), was ihn angesichts des für ihn stimmigen „Sound[s]“ (Z. 9) aber nicht stört. Hier münden die Einlassungen der Freunde in eine dialogische Reflexion, bei der ihre jeweiligen Sichtweisen auf der des Freundes mit aufbauen. Robert hebt seine Wertschätzung für das Stück gegen den in der vorangegangenen Szene artikulierten Verlust von Authentizität ab, während Jürgen Robert zwar grundsätzlich zustimmt, es für ihn aber weniger der Gestus des Stücks ist als vielmehr die Art und Weise, wie dieser Gestus erzeugt wird, die ihn seine von seiner anfänglichen Skepsis abrücken lässt. Mit ihrer ästhetischen Wertschätzung artikulieren die Freunde auch selbstreflexive Aussagen. Denn die Festigkeit persönlicher Überzeugung oder auch die Originalität eines Sounds kann man nur wertend feststellen. Und solche Wertungen involvieren immer auch das Subjekt, das sie vornimmt: „Zwei einander ursprünglich fremde Gegenstandsbereiche, die irgendwie besondere Lebenssituation und das musikalische Werk, treffen in der Metaphernbildung aufeinander, und es kommt zu einer, wie Ricoeur sagen würde ‚semantischen Kollision‘, durch die neue Sinnhorizonte ‚aufblitzen‘ … Beide Bereiche erscheinen im Licht des Anderen: Ich höre das Stück nicht für sich allein, sondern bezogen auf diese bestimmte Situation, und ebenso betrachte ich die Situation nun durchzogen von den musikalischen Eindrücken des Songs …“ (Dietrich/Schubert 2002, S. 341). Beide Freunde entfalten mit ihren Wertungen auch Einstellungen, die nicht nur eine spezifisch geschmackliche, sondern auch eine allgemein persönliche Dimension haben (vgl. noch einmal Frith 1999). Für Robert ist die persönliche Überzeugung, die er am Gesang entdeckt, bedeutsam. Das lässt sich so verstehen, dass sich ihm im Gestus des Songs eine Haltung vermittelt, die er selbst positiv bewertet. Man könnte sagen, dass Robert auch das Selbstbewusstsein des Sängers gefällt, nicht nur der Song. Robert veranschaulicht (bzw. entdeckt am Song), dass für ihn eigene persönliche Überzeugung auch nach außen hin Glaubwürdigkeit und Beständigkeit erzeugt. Jürgen geht es eher um eine Art der (Selbst-) Präsentation, die eine solche Haltung rechtfertigt. Für ihn legitimiert ein sicherer und dabei durchaus selbstbewusster Umgang mit Konventionen (Danzig spielen im Vergleich zu Body Count eben keinen „Abklatsch“ (Z. 10)) deren Gebrauch.
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ERZÄHLTE BILDUNG – MATTHIAS UND VOLKER
Matthias und Volker Matthias und Volker haben zeitweise im selben Mietshaus gelebt. Matthias hat dort ein Ein-Zimmer-Appartement, das zuvor Volker bewohnt hatte, der aus diesem Appartement danach für einige Zeit in eine größere Wohnung im selben Haus gezogen ist. Volker besitzt eine außergewöhnlich große Schallplatten- und DVD-Sammlung. Das gemeinsame Musikhören und Filmesehen bei Volker ist eine zentrale Beschäftigung der beiden Freunde. Matthias leiht sich zudem des Öfteren größere Mengen Schallplatten von Volker aus. Im Zusammenhang der Untersuchung ist das eine interessante Konstellation. Es stellt sich die Frage, wie sich die Freundschaft der beiden um dieses durchaus asymmetrische Arrangement formiert. Volker ist 36 Jahre alt. Er ist in A-Stadt aufgewachsen. Nach dem Abitur leistet er seinen Zivildienst an einem kommunalen Krankenhaus. Danach absolviert er eine Ausbildung zum Krankenpfleger und nimmt eine Stelle am städtischen Klinikum an. Dort schließt er eine Weiterbildung zum Fachkrankenpfleger für Anästhesie und Intensivmedizin an und arbeitet mit dieser Zusatzqualifikation derzeit in der entsprechenden Abteilung des Klinikums. Matthias ist 26 Jahre alt. Auch er ist in A-Stadt aufgewachsen. Nach Abschluss der Realschule macht er eine Ausbildung zum Schreiner und schließt ein Studium an der Fachakademie für Restauratorenausbildung in B-Stadt an. Er arbeitet zurzeit im Meisterbetrieb eines Kunsttischlers im Umland von AStadt. Beide Freunde stellen sich breitwillig als Gesprächspartner zur Verfügung. Die Vorgespräche wie auch das aufgezeichnete Gespräch fanden bei Volker statt, der bei der ersten Anfrage meint: „Komm halt einfach mal dazu.“
Zur Performativität der Beziehung Im folgenden Abschnitt erzählen Volker und Matthias davon, wie sie sich kennen gelernt haben. Dabei sprechen sie nicht nur von ihrer freundschaftlichen Beziehung, diese Beziehung spiegelt sich auch in der Art und Weise wieder, wie die beiden miteinander sprechen.
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Volker: Ja, vom Sehen her kenn ich dich halt aus dem Plattenladen, weil du ab und zu rein gekommen bist. Matthias: Ach so? Ja das ist schon lang her. Volker: Vom Sehen her aber bloß. Matthias: Das muss aber noch gewesen sein, wo der Plattenladen noch in der […]-strasse war. Volker: Wahrscheinlich. 147
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DK: Und hat sich das verändert, jetzt mit deinem Umzug hier her? Weil du wohnst ja noch am […]-platz? Matthias: Eigentlich ist es mehr geworden. Volker: Ja. Schon. DK: Und hat das einen Grund, oder... Volker: (lacht) Vorher war es zu einfach. Zu mir zu kommen. Da hat er nur runter gehen müssen. Das war irgendwie zu banal. (alle lachen) Matthias: Ja, ich weiß auch nicht. Volker: Ja, das war vielleicht ein Konglomerat, Musik und Zusammensitzen. Matthias: Ja, und irgendwie hab ich mir gedacht, dass ich den Kontakt, durch das, dass du ausziehst nicht abreißen lassen wollte. Und dann muss man halt bewusst was ausmachen... Und, ich mein, da wohnt man halt einfach beieinander und so macht man halt was aus und dann hat man, nimmt man sich auch einfach, jeder irgendwie, hat man Zeit zusammen. Und so ist das halt. Ja, anders ist es vielleicht einfach zu einfach. Volker: Ja. Also da haben wir ja nicht ausgemacht, du kommst jetzt dann und dann runter, sondern du bist einfach vor der Tür gestanden. (Volker und Matthias lachen.) Aber ich kann mich noch erinnern, bevor du bei uns im Haus eingezogen bist, da hast du meine alte Wohnung im Stock drüber angeschaut und da war die Angie [Matthias’ Freundin] mit dabei und die Angie war überhaupt nicht begeistert. (lacht) Matthias: (lacht mit) Nein! Volker: Die war da so richtig so, so... (schneidet eine Grimasse). Matthias: Ja: ‚Was ist denn das?‘ Volker: ‚Ähh! Da mag der einziehen!‘ Matthias: Ja, die hat ursprünglich gemeint, dass sie da einzieht. Also, ich hab gedacht, da wird eine Wohnung für sie frei. Volker: Ach, so das war ursprünglich... ach, ich glaube, da war sie einmal da, da warst du nicht dabei und dann hat sie gesagt, dass dir die Bude wahrscheinlich recht gefallen würde. Dann hab ich gefragt, wieso. ‚Ja, wegen den ganzen Platten.‘ Matthias: Aha. Volker: Und da hab ich mir halt gedacht, dass du dich wahrscheinlich recht für Musik interessierst. Aber ich hätte gedacht, dass das ausgeprägter gewesen wäre als es dann wirklich war. Also dass du mehr Platten kaufen würdest, hätt ich gedacht, aber... Matthias: Ein Blender. (lacht) Volker: Nein, nein. Ich hab halt bloß gedacht, der kauft auch Platten oder viele Platten oder mag gern Platten kaufen oder so.
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Matthias: Ja, doch, das mag ich schon gern, aber irgendwie hat es sich nie so ausgeprägt. Volker: (zeigt zu seinem Plattenregal) Ja, das ist ja auch nicht normal da. Matthias: (lacht) Nein. Volker: Also, ich möchte das ja jetzt auch nicht als unnormal hinstellen. (Matthias und Volker lachen.) Das hat auch mit Musikhören überhaupt gar nichts zu tun, ob man jetzt da was daheim hat oder nicht. Matthias: Hm… Volker: Nein, wie man Musik hört, wie gern man Musik hört, hat doch damit nichts zu tun. Matthias: Naja, ob man das da hat oder nicht da hat... Volker: Ja, für mich ist es natürlich eminent wichtig, aber andere brauchen es nicht und hören trotzdem gern Musik. Matthias: Ja, ich hör ja auch nicht zufällig Musik. Also bloß das, was irgendwie da ist. Mit dem Internet ist es jetzt ja viel einfacher. Man kann ja jetzt auch anders drankommen…
Das „Freunden“ (Lemke 2000, S. 90), wie Lemke das „Praktizieren von Freundschaft“ (ebd.) nennt, vollzieht sich hier zwischen Matthias und Volker gleichsam in drei Stufen, die aufeinander aufbauen. Zunächst beziehen sich die beiden auf Phasen, in denen sich ihre Beziehung von einer Bekanntschaft „vom Sehen“ (Z. 1) zu einer persönlichen und dauerhaften Beziehung entwickelt, die sie bewusst pflegen. Nach diesen Erinnerungen spielt Volker auf eine Szene an, die sich ereignet, als Matthias Volkers Ein-ZimmerAppartement besichtigt, weil er auf der Suche nach einer Wohnung ist. Diese Szene spielen beide dann auf eine solche Weise nach, dass deutlich wird, dass es sich dabei um eine für beide wichtige Episode handelt. Am Ende der Sequenz geht diese Erinnerung dann in eine Reflexion dazu über, inwieweit eine große Plattensammlung und ein ausgeprägtes Interesse für das „Musikhören“ (Z. 59) zusammenhängen. Matthias und Volker sehen einen wichtigen Aspekt der Entwicklung ihrer Bekanntschaft zu einer Freundschaft darin, dass sie bewusst Zeit miteinander verbringen. „Musik und Zusammensitzen“ (Z. 17 f.), werden – nachdem Volker aus dem Mietshaus, in dem beide einige Zeit wohnen, in eine neue Wohnung zieht – zu Beschäftigungen, denen nicht mehr en passant nachzugehen ist, sondern die mit Bedacht gesucht werden. Die Freunde nehmen sich füreinander Zeit. Wenn ein Treffen der beiden zuvor ohne eine beiderseitige Vereinbarung zustande kam, ist nun nicht mehr entscheidend, ob die Tagesabläufe der beiden zufällig zusammenpassen. Wenn das Zusammensein solchermaßen aufgewertet wird, dann heißt das, dass diesem Beisammensein eine neue Qualität zugeschrieben wird: die einzelnen Begegnungen werden in 149
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einen übergreifenden Zusammenhang der beiderseitigen Wertschätzung gestellt. Mit den geregelten Treffen geht eine Ausrichtung auf dauerhafte Beibehaltung des Kontakts einher (vgl. Z. 19 ff.). Bei Kracauer findet sich ein Gedanke, der diese besondere Zeitlichkeit von Freundschaft aufgreift. Kracauer grenzt die Bekanntschaft von der Freundschaft u.a. dadurch ab, dass für erstere feststellt: „Ihr Wesen ist Gegenwart…“ (Kracauer 1971, S. 21). Die Freundschaft fungiert dagegen als Beziehung auch in „Zeiten der Trennung“ (ebd., S. 59). In diesem Sinne verweist Volkers und Matthias’ praktische Handhabung ihres Umgangs miteinander auf eine bestimmte Absicht: es geht ihnen nicht mehr nur um einzelne, zufällige Treffen, sondern um eine dauerhafte Beziehung. Diese implizite Absichtserklärung geht über in eine kurze Szene, in der ein besonderer Grad an Nähe in dieser Beziehung aufscheint. Volker unterstreicht gestisch das Unbehagen von Matthias’ Freundin, als dieser mit ihr Volkers Wohnung (in die später Matthias einziehen wird) besichtigt. Er spielt das vermeintliche Missfallen von Matthias’ Freundin mit einem entsprechenden Gesichtsausdruck und dessen Paraphrasierung nach. Damit verortet sich Volker in einer großen persönlichen Nähe zu Matthias. Er tut dies auf eine komplexe Weise: Er zeigt, dass er glaubt, dass seine Wohnung, und damit ein Teil seines Lebensstils, Matthias’ Freundin nicht gefällt. Dass er aber eben dies so freimütig zu erkennen gibt, zeigt auch, dass er seinen Freund gewissermaßen ‚auf seiner Seite‘ glaubt. Das ist nicht unbedingt geringschätzig von Volker; er erlaubt sich aber, seine Einschätzung (nämlich dass Angie seine Wohnung missfällt) Matthias auf eine sehr direkte Art nahe zu bringen. In dieses Spiel der „subjektiven Anverwandlung“ (von Hentig 2004, S. 118) steigt Matthias unmittelbar mit ein. Dass er nicht etwa beschwichtigt, sondern durch sein Mitspielen Volker unmittelbar bestätigt, verweist nicht nur darauf, dass er dessen Einschätzung teilt. Er räumt darüber hinaus auch ein, dass er (zumindest in diesem Fall) Volkers Deutung nicht als Anmaßung, sondern als durchaus willkommene Parteinahme versteht. Diese spielerische Übereinkunft geht aus einer mehrfachen Perspektivenübernahme durch Volker hervor. Er interpretiert nicht nur Angies Reaktion, sondern er erwartet auch, dass Matthias dieser Interpretation folgen kann. Er beansprucht, dass seine Sicht der besagten Situation auch für seinen Freund Geltung hat, er versteht gewissermaßen Angie für Matthias. Damit ist insofern ein Anspruch auf besondere Nähe verbunden, als sich Volker nicht nur Matthias’ Einverständnis sicher glaubt, sondern auch, als er sich damit auf eine andere persönliche Beziehung von Matthias (dessen Liebesbeziehung) bezieht. Dementsprechend dokumentiert dieses Verhalten auch eine Einstellung Volkers, nach der er es für statthaft hält, auch recht persönliche Belange Matthias’ zu kommentieren. Darin wiederum, dass sich Matthias Volkers mimetischer Veranschaulichung anschließt, liegt also nicht nur eine inhaltliche Bestätigung von dessen Sichtwei150
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se. Volkers Geste nachformend legitimiert er auch das Verhalten seines Freundes und bestätigt damit zugleich die besondere Nähe, in die sich Volker zu ihm stellt. Der Ausschnitt mündet schließlich in eine Sequenz, in der sich über die Reflexion eines gemeinsamen Interesses so etwas wie eine inhaltliche Begründung der persönlichen Nähe entwickelt, die die beiden zwischen sich sehen. Volker erwähnt eine Bemerkung von Matthias’ Freundin ihm gegenüber (Z. 42) und erklärt, dass ihn diese Bemerkung zu der Vermutung veranlasst habe, Matthias würde sich „wahrscheinlich recht für Musik“ (Z. 45) interessieren. Allerdings, so sagt er, stellt sich seine Einschätzung als nicht ganz zutreffend heraus. Er präzisiert dies schnell dahingehend, dass er Matthias für einen eifrigeren Plattenkäufer gehalten habe, als dieser „wirklich“ (Z. 46) sei. Im weiteren Verlauf des Gesprächsausschnitts wird diese Differenzierung bedeutsam. Zunächst kommentiert Matthias Volkers Feststellung ironisch und übersteigert sie in das Urteil „Ein Blender.“ (Z. 49). Dieser Witz verdient eine nähere Betrachtung. Matthias entschuldigt sich nicht (wofür auch?); er parodiert eine vermeintliche Enttäuschung Volkers. Damit stößt er einige Bemerkungen Volkers dazu an, dass ein ausgeprägtes Interesse für Musik nicht mit dem Besitz einer großen Plattensammlung einhergehen muss. Mit seiner differenzierenden Betrachtung stellt dieser nun das „Musikhören“ (Z. 59) als einen Hauptaspekt des Interesses für Musik dar. Dabei räumt Volker – bestimmt nicht ohne Stolz – zunächst ein, dass eine so umfangreiche Plattensammlung, wie er sie besitzt, nur selten zu finden ist. Dann unterscheidet er die Dimension des Musikhörens von der Frage, „ob man jetzt da was daheim hat“ (Z. 59 f.). Er bekräftigt dies gleich noch einmal und meint, dass die persönliche Art und Weise des Musikhörens bzw. der Grad an Begeisterung, mit dem man Musik hört, „damit nichts zu tun“ (Z. 63) hat. Und ein drittes Mal relativiert er den Zusammenhang, der für ihn zwischen seiner Neigung, Musik zu hören und seiner Plattensammlung besteht, indem er diesen Zusammenhang für „andere“ (Z. 65) ausdrücklich nicht unterstellt. Schließlich hakt Matthias ein und erklärt, dass auch er „nicht zufällig Musik“ (Z. 67) hört, dass sein Interesse für Musik also nicht davon bestimmt und begrenzt ist, „…was irgendwie da ist.“ (Z. 68). Beide differenzieren zwischen dem Besitz von Tonträgern und einem davon nicht affizierten Interesse am Musikhören. Dadurch heben sie die entsprechende Überschneidung ihrer Interessen gegenüber den zwischen ihnen bestehenden Unterschieden hervor.
Zum spezifischen Freundschaftskonzept von Volker und Matthias: Freundschaft als Salon In den Vorgesprächen mit Volker und Matthias stellt sich schnell heraus, dass Popmusik für Volker eine außergewöhnlich wichtige Rolle spielt. Zum einen 151
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wird deutlich, dass er zu vielen ihrer Genres ein geradezu enzyklopädisches Wissen hat, zum anderen besitzt er eine Schallplattensammlung, die entsprechend ihrer breiten inhaltlichen und historischen Fächerung etliche Regalmeter in seinem Wohnzimmers beansprucht. Aus dieser imposanten Sammlung leiht sich Matthias von Zeit zu Zeit einen „Stoß“ (Z. 51) Platten aus. An diesem Punkt setzt die folgende Sequenz an.
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DK: Also, du leihst dir oft Platten aus vom Volker? Sind das dann Vorschläge vom Volker oder sind das Anfragen von dir? Matthias: Das sind manchmal Anfragen und dann zieht er aber von da was und dann kommt man vom Hundertsten ins Tausendste und... Ja so läuft das. Ja und dann legt er halt Lieder auf, die ihm gefallen. DK: Also so Vorschläge mit Testphase? Matthias: Ja. Oder ich leih mir manchmal auch Platten aus, wo ich nicht so hundertprozentig weiß, ob mir das jetzt gefällt oder nicht, aber die ich irgendwie interessant finde. DK: Weil du die schon gehört hast? Matthias: Nein, weil ich’s... ja, wenn der Volker was rauslegt und die auflegt… dann kommt das so. Volker: Aber das ist nicht ganz uneigennützig, weil das ist für mich, ich mach das öfters mal, dass ich irgendwie mal die Platten durch geh und irgendwas raus such. Genau, dann komm ich gleich selber mal wieder dazu, was zu hören. DK: Und gibt es dann hinterher so was wie eine Besprechung: ‚Wie war das jetzt? Wie hat dir das gefallen?‘ Oder: ‚Die hat mir gefallen, die hat mir nicht gefallen.‘ Oder: ‚Was hörst denn du da für ein Zeugs?‘ Matthias: Manchmal kommt es dazu und manchmal... oder auch nicht über alle Platten, sondern halt dann über spezielle. Aber jetzt groß über die Musik an sich reden wir eigentlich nicht. Also wie das jetzt ist oder so. Eher zu welcher Zeit das vielleicht war, was da vielleicht für Leute dran hängen oder was es da für andere Bands gibt. Was vielleicht noch so ähnlich klingt. So irgendwie... Am meisten erzählt der Volker und ich find es immer sehr interessant. (Matthias und Volker lachen) Ja, weil ich auf dem Gebiet ja eigentlich gar nichts weiß… Obwohl ich auch mal was mitgebracht hab. Aber das hast du bis jetzt noch nicht angehört. (lacht) Volker: Ja, da steht immer noch was da. (lacht) Na ja, das hat nichts damit zu tun, dass ich dem nicht trau, was du mitbringst, sondern du bringst vielleicht das Falsche mit, also rein von der Musikart, an sich und... das ist wie, wenn mir einer einen Film leiht.
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Matthias: Ja. Volker: Ich hab soviel noch zum Aufarbeiten, da schau ich mir dann nicht einen Film an, der mir dann auch gar nicht gehört und der mich vielleicht auch gar nicht so interessiert, weil sonst hätt ich ihn schon lange. Aber ich weiß ja noch nichts dann über den. Und... Matthias: Und leihen kann ich dir eigentlich ziemlich wenig. (lacht) Weil die meiste Musik, die ich kennen lern, die kommt ja schon von dir. (alle lachen) Weil das wird schon sehr zur Gewohnheit, dieses Platten-Leihen. Volker: Schon fast. (lacht) Matthias: Ja. Aber... Volker: Nein, das war ja erst dreimal so ein Stoß, oder? Matthias: Ich, glaube, das ist der vierte jetzt. Weil du hast irgendwann einmal gesagt, dass ich das ja gar nicht, eh nicht so ausnütze. Und dann hab ich mir gedacht, nütz ich es halt mehr aus. Volker: Ach so, nein, das macht mir auch nichts aus. Also so lange du auf das Zeug aufpasst. Was ich mir jetzt mal denke... Anders wär das mit Sachen, die ich vielleicht jetzt auch hören möchte oder in letzter Zeit höre, aber das sind ja nicht so viele. Und das sind ja meistens dann elektronische Sachen, aber du bist ja meistens eher auf... na, ja, das ist unterschiedlich. Aber über die Sachen, die du dir leihst, reden wir eigentlich gar nicht so viel. Matthias: Ja, was soll man auch über jede Platte reden… Volker: Also ich frag jetzt nicht: ‚Wie hat dir die gefallen, die gefallen, die gefallen?‘ Das sagt er dann schon, wenn er was anfangen hat können damit. Und wenn nicht, wenn er nichts damit anfangen hat können, dann sagt er es halt nicht. Könnte er auch sagen, aber... Matthias: Ja, ich hab auch bestimmt schon mit Platten was anfangen können, wo ich dann nichts gesagt hab, weil ich’s dann schon vergessen... Obwohl, nein, das stimmt nicht. Ich weiß gar nicht genau, wie das so ist. (Matthias und Volker lachen.)
Zwischen Matthias und Volker hat sich eingespielt, dass sie sich bei Volker treffen. Neben dessen großer DVD-Sammlung ist v.a. seine noch größere Plattensammlung immer wieder Gegenstand ihrer gemeinsamen Beschäftigung. Das beinhaltet, dass sie Schallplatten auswählen, die sich Matthias dann ausleiht. Von dieser freundschaftlichen Routine ausgehend breiten die beiden in der obigen Szene eine Art Rollenverteilung in ihrer Beziehung aus. Matthias erläutert, dass die Auswahl der LPs, die er sich borgt, oft so von statten geht, dass Volker seine Plattensammlung assoziativ durchstöbert und ihm 153
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dann Stücke vorspielt, „die ihm [d.h. Volker; DK] gefallen“ (Z. 6). Auffällig daran ist nicht, dass Volker Stücke für Matthias auflegt, die seinem eigenen Geschmack entsprechen – eben weil das so ist, wird er die jeweiligen Platten gekauft haben. Dass Matthias Volkers Auswahl aber explizit so beschreibt, ist allerdings bemerkenswert. Denn er impliziert damit auch, dass er vorrangig nicht selbst seinen Geschmack artikuliert, um dann Entsprechendes von Volker empfohlen zu bekommen. Und auch nachdem er die von seinem Freund vorgespielten Platten gehört hat, lässt er sich mitunter noch mit einer geschmacklichen Bewertung Zeit und nimmt die Platten mit nach Hause, um sich dort ein Urteil zu bilden (vgl. Z. 8 ff.). Sein Interesse für diese Platten, entsteht dabei im Zuge von Volkers Auswahl: „wenn der Volker was … auflegt… dann kommt das so“ (Z. 12 f.). Dass er in diese Auswahl damit einiges an Erwartungen und Vertrauen legt, ist ein wichtiger Aspekt des Verhältnisses, das er und Volker anhand und in Bezug auf dessen Plattensammlung zwischen sich formieren. Volker macht Vorschläge, für die sich Matthias interessiert. Diese komplementären Zugangsweisen schlagen sich auch darin nieder, wie die beiden ihr Verhalten untereinander wahrnehmen und verstehen, wenn sie über einzelne Platten sprechen. Matthias erklärt: „Am meisten erzählt der Volker und ich find es immer sehr interessant.“ (Z. 29 f.). Dass diese Verhaltensweisen so eindeutig ausgemacht sind, verweist darauf, dass die beiden in ihrer Beziehung gewissermaßen nicht die gleichen Zuständigkeiten haben. Noch deutlicher gesagt, lässt sich zwischen Volker und Matthias das beobachten, was Willis eine „informelle Geschmackshierarchie“ (Willis 1991, S. 83) nennt. Das wird besonders offensichtlich, als Matthias erwähnt, dass auch er „mal was mitgebracht“ (Z. 31 f.) hat und gleich nachschiebt, dass Volker diese Platten „bis jetzt noch nicht angehört“ (Z. 32) hat. Volker reagiert darauf ambig. Er versichert Matthias einerseits, dass er der von ihm mitgebrachten Musik „trau[t]“ (Z. 35). Andererseits rechtfertigt er sein – man kann es nicht anders nennen – Desinteresse gegenüber Matthias’ Leihgaben damit, dass es sich dabei „rein von der Musikart“ (Z. 36 f.) um „das Falsche“ (Z. 36) gehandelt hat. Volker setzt also zu einer Erklärung an, mit der er seinem Freund eine, wenn man so will, grundsätzliche geschmackliche Verlässlichkeit zusichert. Mit dieser Erklärung verweist Volker jedoch zugleich auf eine Diskrepanz zwischen Matthias’ Tipps und seinen eigenen Interessen. Sein nachfolgender Vergleich verdeutlicht, wie unilateral das Geschmacksfeld zwischen Matthias und Volker strukturiert ist: „…das ist wie, wenn mir einer einen Film leiht.“ (Z. 37 f.). Die spezifische Schwierigkeit, die Volker damit erläutert, besteht darin, dass er „soviel noch zum Aufarbeiten“ (Z. 40) hat, dass ihn also seine eigene Sammlung soweit in Anspruch nimmt, dass er sich darüber hinaus nicht mit noch mehr beschäftigen will. Er führt aus, dass er keinen Film ansehen wolle, der ihm nicht gehöre. Dabei geht es nicht um juristische 154
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Eigentumsverhältnisse; Volker meint, dass er kein Interesse für einen geliehenen Film aufbringen könne, weil er, würde ihn dieser Film interessieren, diesen Film selbst schon besitzen würde. Das ist ein interessanter Syllogismus. Denn natürlich kauft Volker sich Filme und Platten nicht aufs Geratewohl, sondern weil er sich aus dem einen oder andern Grund dafür interessiert. Seine Begründung impliziert insofern eine Entscheidung für eine bestimmte Art, Interesse für Filme (oder Platten) zu entwickeln – nämlich selbständig – und gegen eine andere Art, ein solches Interesse zu bilden – nämlich auf Anregung anderer (einschließlich Matthias). Matthias legitimiert diese Einstellung auf eine so pragmatische wie salomonische Weise. Er wirft ein, dass er Volker ohnehin nur „ziemlich wenig“ (Z. 45) leihen könne, weil er „die meiste Musik“ (Z. 46) ohnehin bei Volker entdeckt. Damit bestätigt er nicht nur inhaltlich die geschmackliche Hierarchie zwischen ihm und Volker; er heißt sie zugleich gut. „Wir haben die Neigung, dem Gedanken zugute zu schreiben, was uns an der witzigen Form gefallen hat, und sind auch nicht mehr geneigt, etwas unrichtig zu finden, was uns Vergnügen bereitet hat, um uns so die Quelle einer Lust zu verschütten.“ (Freud 1958, S. 107). Die gar nicht so informelle Geschmackshierarchie zwischen Matthias und Volker irritiert herkömmliche Vorstellungen von Freundschaften als egalitären Beziehungen. Eigentlich, so könnte man hier einwenden, sollten sich doch beide dafür interessieren, was der Andere kennt und schätzt. Stattdessen beschränkt sich Volker auf seine eigenen Interessen. Bollnow macht als eine Grundfigur des Sich-Interessierens aus, dass man sich dabei aus den Routinen „seines mitgebrachten Verständnisses befreit und offen wird…“ (Bollnow 1988, S. 72). Volkers Einstellung liegt dazu quer; genauso wenig lässt sich jedoch sein ausgeprägtes Interesse für Filme und v.a. Musik in Abrede stellen. Als erfahrener Hörer legt er eine Haltung an den Tag, in der sich zugleich Routine (und damit auch die aufscheinende geschmackliche Unaufgeschlossenheit gegenüber Matthias) und Interesse zeigen. Matthias wiederum geht bereitwillig auf Volkers Tipps ein. Ob er selbst seinem Freund wirklich keine Empfehlungen machen kann, weil sein musikalischer Horizont tatsächlich maßgeblich auf dessen Plattensammlung aufbaut, ist hier nicht zu klären. Es bleibt festzuhalten, dass Matthias mit seinem Witz seine „Gewohnheit“ (Z. 48), sich von seinem Freund Platten zu leihen, so darstellt, dass einerseits klar wird, dass er sich der Einseitigkeit, in der sich diese Gewohnheit vollzieht, bewusst ist; andererseits impliziert seine rhetorische Finesse aber auch, dass ihn das nicht sonderlich stört. Schließlich verweist sein Eingeständnis, dass er sich auch als Nutznießer dieser Konstellation versteht (vgl. Z. 56 ff.), darauf, dass er diesem Umstand durchaus etwas abgewinnen kann. Diese Pragmatik wiederum zeigt, dass Matthias Volkers Vorschlägen nicht ohne eigene Intention begegnet; eben der, ausgiebig mit Plattentipps und Platten versorgt zu werden. Schleiermacher macht als eine wichtige Fähigkeit die „Gewandtheit“ 155
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(Schleiermacher 2000, S. 26) aus, mit der man sich auf Geselligkeit einlässt, um darin eigene Interessen zu wahren und zu entwickeln. Matthias’ Verhalten ist in diesem Sinne durchaus als gewandt zu verstehen. Betrachtet man wie Volker und Matthias hier argumentieren, lässt sich eine bemerkenswerte Figur des „Freundens“ (Lemke) entdecken. Die beiden begründen ihren Umgang miteinander durch die Art ihres Umgangs miteinander. Volker erklärt die eigenwillige Ausrichtung seines Interesses formal zwar so, dass der Eindruck entsteht, er führe eine inhaltliche Begründung an. Eigentlich vollzieht er dabei aber nur einen Zirkelschluss. Matthias, der hilfreich einspringt, begründet das eingespielte Verhältnis zwischen ihm und Volker unter Berufung auf eine wichtige Eigenart dieses Verhältnisses. Beide ziehen zur Erklärung ihrer Haltung bzw. ihres Verhaltens zueinander Bewandtnisse heran, die erst ihr spezifisches Verhältnis zueinander aufwirft. Diese Argumentationsführung vollziehen die Freunde nicht nur jeweils für sich (und nacheinander), ihre Darstellungen greifen dabei auch konstruktiv ineinander. Obwohl man formal also nicht von einer logisch schlüssigen Argumentation sprechen kann, so zeigt die Sequenz doch auch, dass die beiden ihre unterschiedlichen Verhaltensmuster nicht als Schwierigkeit verstehen, sondern sie in eine Passung bringen. Auch Volker versichert Matthias, als der sich als Nutznießer seiner Plattensammlung beschreibt, dass ihn das durchaus nicht stört, dass er sich seinerseits also nicht übervorteilt sieht. Beide legitimieren einander in ihren unterschiedlichen Erwartungen und Verhaltensweisen, sie versichern sich der Kompatibilität dieser unterschiedlichen Perspektiven und stellen im Zuge ihrer Quasi-Argumentation ein formales Einverständnis her. Matthias und Volker entwickeln in ihrer Freundschaft ein komplementäres Arrangement, im Rahmen dessen beide ihre jeweiligen Erwartungen an den Freund und an die gemeinsame Beziehung umsetzen.
Volker und Matthias: Salonfreundschaft Der nachfolgenden Erläuterung von Volker gehen einige Bemerkungen Matthias’ voraus, der darauf anspielt, ob Volker sein ausgeprägtes Interesse und seine intensive Beschäftigung mit Popmusik nicht in der einen oder anderen Form in die Öffentlichkeit tragen könnte. Matthias macht mehrere Vorschläge: „…du kannst ja auflegen oder so.“ Und: „Du könntest auch eine Radiosendung haben.“ Aber Volker kann sich das nicht vorstellen und er begründet dies so: Volker: …Also, wenn ich wüsste, es gäbe einen Kreis, wo alle interessiert wären an dem Ganzen und ich bin mir sicher, die sind interessiert dran, dann könnte ich mir das vorstellen, aber ich hab, also das wäre das Peinlichste überhaupt, wenn man irgendwie so 156
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Perlen vor die Säue schmeißt. Und dann Reaktionen kriegt, wo man sich denkt: ‚Nein, also da ist so viel Herzblut drin und du sagst so einen Scheiß.‘ Irgendwie wirkt so was glaub ich. Also ich, den meisten anderen wäre das vielleicht egal, aber mir persönlich ist das jetzt nicht egal. Das ist mir viel zu intim, Musik hören, das ist für mich was Intimes irgendwie.
Volker spricht das Hören von Musik als intimen Akt an. Er bezieht sich nicht auf die Explikation persönlicher Erfahrungen mit der gehörten Musik oder die Erläuterung daraus hervorgehender persönlicher Bedeutungen, sondern er verortet bereits das Hören von Musik in einer intimen Sphäre. Allerdings kann er sich dazu – in seinem Gedankenspiel – einen „Kreis“ (Z. 1) an Zuhörern vorstellen. Als Bedingung setzt er dabei, dass er sich sicher sein müsste, dass „… alle interessiert wären an dem Ganzen…“ (Z. 1 f.). Volker integriert in den Bereich des Persönlich-Privaten eine Sphäre des tendenziell Öffentlichen, indem er zu dem Bereich des für ihn intimen Musikhörens der Idee nach eine Gruppe von Zuhörern zulässt, sofern diese ein entsprechendes Interesse mitbringen. Diese Verschränkung einer privaten Sphäre mit einer jenseits des Persönlichen auf Sachinteressen bezogenen Semi-Öffentlichkeit und auch der Anspruch, dass entsprechende Begegnungen von einem wohlwollenden Umgang getragen sein müssten, legen es nahe, Volkers Entwurf als eine Art Salon-Modell zu verstehen. Beides sind Elemente, die für den Salon typisch sind (vgl. Seibert 1993, S. 3 ff.). Volker will sich geringschätzigen Reaktionen nicht aussetzen, weil er glaubt, dass mit ihnen eine Wirkung verbunden ist, die ihn persönlich trifft. Diese Vorsicht wird gleich noch einmal aufzugreifen sein; zunächst geht es darum, wie das implizite Salon-Modell, das Volker im obigen Ausschnitt zeichnet, auch in der Freundschaft zu Matthias zum Tragen kommt. Erst einmal ist in diesem Zusammenhang anzuführen, dass die Treffen der beiden fast immer am gleichen Ort stattfinden: bei Volker.45 Aber Volker ist nicht nur den äußeren Umständen nach, sondern auch seinem Verhalten nach Gastgeber, wenn man so will, der maître du salon. „Am meisten erzählt der Volker und ich find es immer sehr interessant“, meint Matthias im vorvorangegangenen Gesprächsausschnitt. Nicht zuletzt passt in das Bild vom Salon, dass sich die Freunde insbesondere mit ästhetischen Gegenständen (Filme und v.a. Musik) beschäftigen. Ihre Gespräche über Schallplatten kreisen dabei zumeist darum, „…zu welcher Zeit das vielleicht war, was da vielleicht für Leute dran hängen oder was es da für andere Bands gibt. Was vielleicht noch so ähnlich 45 Oft wurden die Salons des 18. und 19. Jahrhunderts von Frauen geführt. Diese nutzten die soziale Sphäre des Häuslichen, um in der paritätischen Gesprächskultur der Salons wenigstens situativ einen Bereich der Gleichberechtigung zu finden (vgl. Seibert 1993). 157
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klingt“, so Matthias (s.o.). Die beiden sprechen über popmusikhistorische Zusammenhänge, ihre persönlichen Erfahrungen mit dieser Musik thematisieren sie dagegen eher nicht. Volker verlangt im vorvorangegangenen Ausschnitt ausdrücklich nicht, dass Matthias ihm Rückmeldung darüber gibt, ob und wie ihm einzelne Schallplatten gefallen haben. Er geht auch nicht davon aus, dass Matthias alle Platten gefallen. Matthias’ Antwort wirkt durchaus überrascht, als ihm auffällt, dass er über Gespräche mit Volker über Hörerfahrungen mit einzelnen Platten kaum etwas sagen kann: „Ich weiß gar nicht genau…“ (Z. 72 f. im vorangegangenen Ausschnitt). Diese Überraschung weist darauf hin, dass solche expliziten Gespräche zwischen Volker und Matthias keine zentrale Rolle spielen. Die Beschäftigung mit zeitlichen und stilistischen Bezügen einzelner Musikstücke, Bands oder Platten verbleiben im Vorfeld dessen, was Mollenhauer als subjektive Dimension des „Thematisch-Werdens“ (Mollenhauer 1996, S. 28) und damit als zentrale Figur ästhetischer Erfahrungen beschreibt. Mollenhauer unterscheidet diese Reflexionsfigur von einer eher allgemein-objektiven Perspektive: „Im einen Falle wird die Wahrnehmung und Erfahrung ästhetischer Tätigkeiten und Objekte innerhalb gegebener kultureller Kontexte zum Thema; im andern Fall richtet sich das thematische Reflektieren auf die zwischen Wahrnehmung und Erfahrung eingelagerten inneren Empfindungen. Auch dies ist ein Vorgang, der zwischen Zweifel und Selbstvergewisserung balanciert, aber nun ‚selbst-reflexiv‘.“ (ebd.). Matthias und Volker befassen sich mit Reflexionen der ersten Art. Obwohl die Freunde also eher allgemein über die Musik sprechen, die sie hören, ist das gemeinsame Musikhören für Volker etwas Intimes. Diese persönliche Bedeutsamkeit geht jedoch nicht auf reflexive Bedeutungskonstruktionen im Gespräch über die Musik zurück – dort kann sie für Volker allenfalls missachtet werden; sie ergibt sich bereits im Akt des Hörens. Ohne dass er den subjektiven Prozess ihres Thematisch-Werdens offen legt, ist das Hören von Musik für Volker ein selbstreflexiver Akt. Deswegen legt er auf die besondere Aufmerksamkeit und das Wohlwollen seiner Zuhörer (und er impliziert mit dem obigen Modell ja auch, dass er mit Matthias einen solchen Zuhörer gefunden hat) so großen Wert. Möglicherweise wird Volker die persönliche Bedeutsamkeit (das „Herzblut“ (Z. 6)) der Musik beim Zuhören und v.a. beim gemeinsamen Hören noch einmal fraglich; um sich darauf einzulassen, sind Vertrauen und gegenseitiges Wohlwollen, und beides bietet eine freundschaftliche Atmosphäre, wichtig. Während Volkers Erwartungen also auf Matthias’ verlässliches Interesse und sein Wohlwollen gerichtet sind, ist dessen Part bislang zwar äußerlich beschrieben (er leiht sich gerne Platten von seinem Freund); seine Motive sind indes noch näher zu betrachten, um zu klären, inwiefern auch sie in das Bild der Salonfreundschaft passen. Der folgende Ausschnitt knüpft an der Frage an, welchen Erlebniswert Popmusik für Matthias hat. Es geht darum, ob 158
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Musik für ihn eher in der Form einzelner, besonderer Erlebnisse Bedeutung gewinnt (also als „Schlüsselerlebnis“), oder ob sie für ihn als dauerhafte, gewissermaßen lebensbegleitende Dimension wichtig ist.
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Matthias: Nein, also das waren, also so richtige Schlüsselerlebnisse hab ich eigentlich... glaub ich, kann ich mich an keines erinnern, sondern das ist alles eher so langsam und... Aber ich hab manchmal eine Musik, eine Musikart im Kopf und denke mir manchmal, so was wenn du hören würdest, das wäre, oder so was wenn du jetzt hättest, das wär supergeil. DK: Also, die es noch gar nicht gibt die Musik, oder? Matthias: Nein, nein, die es schon gibt, wo ich irgendwie mal gehört habe, aber nicht weiß, von wem das ist, oder was weiß ich oder wie ich da hinkommen könnte oder was das überhaupt ist und dann, wenn ich dann so eine Platte krieg oder so was hör und das ist dann so in der Art, dann ist das halt supergeil. Also so was wieder finden.
„Schlüsselerlebnisse“ (Z. 2) sind für Matthias nicht besonders relevant; er deutet an, dass sein Verhältnis zu Popmusik sich eher „langsam“ (Z. 3) entwickelt. Dann entfaltet er jedoch ein Erlebnisschema, das durchaus besondere Momente beinhaltet. Er will Musik, die er schon einmal gehört hat, „wieder finden“ (Z. 13). Das von Matthias beschriebene Erfahrungsmuster beinhaltet zwei wichtige Aspekte. Es geht ihm zum einen um eine Bestätigung einer verhältnismäßig vagen Vorstellung: „…ich hab manchmal … eine Musikart im Kopf…“ (Z. 4), „…wenn ich dann … so was hör … dann ist das halt supergeil.“ (Z. 11 f.). Zum andern bezieht sich Matthias bei dieser Suche nach einer Passung bezeichnender Weise nicht auf einzelne Musikstücke oder Interpreten, sondern maßgeblich auf die „Art“ (Z. 12) der Musik. Eine von Dewey getroffene Differenzierung kann bei der Deutung dieses Musters helfen. Dewey unterscheidet den Akt der „Perzeption“ (Dewey 1988a, S. 66) von dem des bloßen Wiedererkennens: „Beim Wiedererkennen fallen wir auf ein vorgegebenes Schema zurück wie auf ein Stereotyp. Ein beliebiges Detail oder eine Gruppe von Details dient als Anhaltspunkt zur reinen Identifikation.“ (ebd., S. 67). Perzeption versteht Dewey dagegen als das gestalterische Eingehen auf eine Wahrnehmung. „Es entsteht ein Akt konstruktiven Wirkens, und das Bewusstsein wird frisch und lebendig. … Denn um zu perzipieren muß der Betrachter Schöpfer seiner eigenen Erfahrung sein. … Ohne einen Akt der Neuschöpfung wird der Gegenstand nicht als Kunstwerk perzipiert.“ (ebd., S. 67 ff.). Obwohl Matthias nun sagt, es geht ihm darum, „was wieder [zu] finden“ (Z. 12 f.), so ist das von ihm entwickelte Erfahrungsschema doch nicht auf eine bloße Dublette einer bereits verfestigten Vorstellung ausgerichtet. Er zählt eine Reihe von Bezügen auf, die ihm zu der „Mu159
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sikart“ in seinem „Kopf“ fehlen. Auch wenn er meint, entsprechende Musik schon einmal gehört zu haben, so ist sie ihm in seiner Erinnerung als „Musikart“ (Z. 4) doch nur vage gegenwärtig. Wenn er sie also „wieder finden“ kann, dann geht damit auch eine Vervollständigung seiner Vorstellung einher. Matthias Formulierung „wieder finden“ verweist insofern auf mehr als nur ein Wiederfinden im wörtlichen Sinn. Als Metapher schließt es ein Empfinden von Stimmigkeit als einer zentralen Dimension von Erfahrung ein; eine Stimmigkeit, die sich aber nicht nur in der Identifikation von bereits Bekanntem ergibt, sondern auch als Auffinden von Neuem, das zu vorhandenen Vorstellungen passt. Ein solches Entdecken, ein in diesem Sinn schöpferisches Wiederfinden kann sich nur anhand konkreter Möglichkeiten vollziehen, mittels derer sich die angestrebte Passung einstellt. Matthias sucht nach einer Konkretisierung seiner noch nicht spezifischen Vorstellung. Eben dafür bieten die Art, wie er und Volker bei Volker Platten auswählen, hören und darüber sprechen (s.o.) und auch die Möglichkeit, bei Volker Platten auszuleihen und sie sich dann zuhause für sich anzuhören, die entsprechenden Bedingungen. Wenn für Volker die Freundschaft zu Matthias einem Musikhören Raum gibt, mit dem für ihn die Vergegenwärtigung persönlicher Bedeutung einhergeht, so sind es für Matthias die vielfältigen Anregungen, die ihm Volker bieten kann, die seinen Erwartungen entgegen kommen. Insofern greifen die Erwartungen der beiden Freunde komplementär ineinander: was Volker an entgegengebrachtem Interesse erhofft, entwickelt Matthias in der Suche nach der konkreten Gestalt seiner Vorstellung. So gesehen bilden Matthias und Volker eine Interessengemeinschaft, in der sie ihre unterschiedlichen Intentionen im Rahmen eines gemeinschaftlich entwickelten Verständnisses vom Umgang miteinander verknüpfen. Nach einem scholastischen Verständnis könnte man dies als eine „Nutzenfreundschaft“ (Aristoteles) bewerten. Ein solches Urteil ginge allerdings von einem normativen Freundschaftsideal aus, gegenüber dem die spezifische freundschaftliche Praxis zwischen Volker und Matthias lediglich als Begleiterscheinung der Umsetzung ihrer jeweiligen individuellen Intentionen erscheint. Die Auffassung, dass Freundschaften eine performative Praxis sind, eine Praxis also, die sich erst durch ihren Vollzug in einer je konkreten Gestalt formiert, verweist jedoch darauf, dass Freundschaften Räume und Stoffe brauchen, in denen bzw. mittels derer sie sich praktisch vollziehen können. Wenn Volker und Matthias dementsprechend einander im gemeinsamen Umgang Raum geben, ihre je eigenen Interessen einzubringen, dann ist auch das eine originäre Form von Gemeinschaft, die erst durch den Umgang der beiden miteinander entstehen kann. Aus dieser Perspektive ist eine normative Differenzierung zwischen komplementären und deckungsgleichen Erwartungen an eine praktizierte Beziehung fragwürdig. Beide (und alle denkbaren anderen) Konstellationen bilden sich erst in der performativen Praxis konkreter freundschaftlicher Beziehungen. 160
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Popmusik als Gegenstand der Beziehung „Aber jetzt groß über die Musik an sich reden wir eigentlich nicht.“ Diese Bemerkung von Matthias aus einem bereits kommentierten Gesprächsausschnitt markiert ziemlich genau, wie die Freunde mit Musik umgehen. Sie hören viel gemeinsam und tauschen sich über allgemeine zeitliche und stilistische Bezüge aus. Die Ebene subjektiver Bedeutung sparen sie weitgehend aus. Volker formuliert es ganz ähnlich: „Aber über die Sachen, die du dir leihst, reden wir eigentlich gar nicht so viel.“ (s.o.). Es gibt zwischen Volker und Matthias anscheinend so etwas wie eine differenzierte Politik der Zurückhaltung in geschmacklichen Dingen. Doch es geht den beiden nicht um eine vollständige Vermeidung von entsprechenden Fragestellungen; es finden sich auch Szenen, in denen die Freunde über ihren subjektiven Eindruck von Musikstücken reflektieren. So z.B. in der folgenden Sequenz.
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Volker (Er legt eine Platte von Thomas Bangalter auf.): Das ist von einem von Daft Punk. DK: Und was ist an dem Stück besonders für dich? Volker: Es hat Stimmung und es groovt brutal. Aber es hat eben zugleich noch eine Stimmung, und zwar eine recht monotone, aber trotzdem ist die irgendwie... Ich hab schon oft nach dem Wort gesucht, das oft in der House-Musik, wenn es so melodisch wird, was da so alles drin ist, aber... wie sagt man das? So eine Art Enthusiasmus im Sound, ich kann das aber nicht, irgendein Wort gibt es da. (Geht zum Plattenspieler und nimmt die Patte ab.) Volker: Soll ich noch mal eins drauf tun? DK: Ja, klar. Volker: Das ist auch wieder was Französisches. Die haben das irgendwie raus. Also nicht prinzipiell, aber da gibt es einige Sachen, die richtig gut sind. (Volker legt Etienne De Crezy auf.) Da ist so ein geiler Gesang, das ist so ein bisschen ShirleyBassey-mäßig. Und noch ein gepflegter House dazu. Also nicht wie Shirley Bassey, aber von der Art her. So vom Klang. Matthias: Das ist aber schon auch ein bisschen zahm irgendwo? Also, weil du vorher gemeint hast, der Sound sei enthusiastisch. Volker: Mit enthusiastisch mein ich nicht, dass es abgeht wie Sau, enthusiastisch ist auch der falsche Begriff. Sehnsucht vielleicht. Eher so eine Art Sehnsucht. Aber das sagt es auch nicht. Das war halt in dem anderen Stück drin. Also in dem könnte ich es jetzt gar nicht sagen. Matthias: Also ich kenn ‚enthusiastisch‘ von der Rockmusik, da gibt es manchmal so Lieder, das sind so Magenschwinger und die 161
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schieben, die hauen einen so nach vorne, und so ein bisschen könnte das da vielleicht auch drin sein. Volker: Ja, es war ja bei dem anderen Stück, bei dem, da könnt ich es jetzt nicht so sagen. Matthias: Es ist eigentlich auch ziemlich relaxt, das Stück. Volker: Relaxt aber trotzdem rhythmisch. Und es geht straight dahin. Aber ich könnte es dir im Endeffekt nicht sagen, was das Stück ausmacht. Der Gesang gefällt mir saugut. Und die Musik für sich ist also auch gut. Recht catchy, von der Perkussion her. Und natürlich ein schöner Bass. Aber ich weiß nicht, das kann ich jetzt so nicht... (Es folgt eine Sequenz, in der Matthias und Volker sich einige House-Platten aus Frankreich in Erinnerung rufen; dabei kommt es aber nicht zu einem Vergleich, der die gerade gehörten Stücke oder die neu genannten LPs in ihrer Eigenart näher erschließt. Es bleibt beim Name-Dropping.) Volker: Ach, jetzt! Das Wort, das ich vorhin gesucht habe, das war ‚euphorisch‘. Also diese Musik macht mich euphorisch. Matthias: Obwohl das in der Musik gar nicht drinsteckt? Volker: Doch, doch. Das ist schon drin in der Musik, aber das merk ich nur, wenn ich selber euphorisch bin. Matthias: Aber, das kenn ich schon von dir. Ich glaub, das sagst du oft. Volker: Ja? Ich glaub, ich sag das viel zu wenig, aber… Vielleicht soll man das auch nicht so oft hernehmen, damit es dann noch was heißt. Nicht so: ‚Euphorisch?‘ ‚Ja, ja. Das ist mal wieder euphorisch.‘
Die von beiden Freunden angesprochene Zurückhaltung in der Rede über Popmusik zeigt sich hier auf differenzierte Weise. Das Stück von Thomas Bangalter geht Volker offensichtlich auf eine bestimmte Art nahe. Allerdings gerät der bei seiner ersten Reflexion in eine Sackgasse: er weiß, dass es ein Wort gibt, das sein Hörerlebnis treffend beschreibt, doch dieses Wort will ihm nicht einfallen. Aus diesem Dilemma löst er sich vorerst, indem er die Platte vom Plattenspieler nimmt und vorschlägt bzw. fragt, ob er ein neues Stück auflegen soll. Es fällt ihm leicht, diesen Track von Etienne de Crezy zu beschreiben. Zwar bleibt diese Beschreibung eher sachlich, doch es fällt auf, dass Volker hier, wie auch bei seiner Beschreibung des Stücks von Thomas Bangalter recht unterschiedliche, fast gegensätzliche Eindrücke benennt: „…es groovt brutal. Aber es hat eben zugleich noch eine Stimmung, und zwar eine recht monotone…“ (Z. 4 f.) und Etienne de Crezy findet er „[r]elaxt aber trotzdem rhythmisch…“ (Z. 34). Diese Ambiguität ist nun nicht belastend,
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beide Stücke gefallen Volker und er hört sie gerne.46 Aber zumindest in Bezug auf die Platte von Thomas Bangalter scheint es für Volker mehr zu geben als eine Spannung, die sich aus unterschiedlichen Empfindungen speist; er ist auf der Suche nach dem richtigen Wort für eine Qualität dieses Stücks, die ihn besonders berührt. In Volkers Einlassung zu Etienne de Crezy flicht sich Matthias mit zwei Bemerkungen ein, die zwischen Missverständnis und Denkanstoß changieren. Zuerst stellt er eine Diskrepanz zwischen seinem Eindruck von dem gerade laufenden Stück (von Etienne de Crezy) und der zuvor von Volker gefundenen Annäherung an das Stück von Thomas Bangalter, „eine Art Enthusiasmus im Sound“ (Z. 8 f.), fest. Vielleicht verwechselt Matthias die jeweiligen Bezüge einfach. Doch er geht dem Ausdruck „enthusiastisch“ (Z. 27) weiter nach, auch nachdem Volker klarstellt, welches Stück er damit gemeint hat. Jedenfalls differenziert Volker im Zuge dessen auch seinen zuvor ins Spiel gebrachten Begriff: „Eher so eine Art Sehnsucht.“ (Z. 24). Trotz des vermeintlichen Missverständnisses entwickeln die Freunde eine ineinander greifende Reflexion. Matthias schiebt selbst nach, dass er das Stück von Etienne de Crezy für „ziemlich relaxt“ (Z. 33) hält. Das greift Volker auf und bezieht sich noch einmal auf diesen Track. Er zählt einzelne Elemente des Stücks auf – „Gesang“ (Z. 36), „Perkussion“ (Z.37), „Bass“ (Z. 38) – und hebt deren Qualität heraus, kann aber eben „…nicht sagen, was das Stück ausmacht.“ (Z. 35 f.). Die einzelnen Aspekte fügen sich nicht zu einer Einheit zusammen, die, wie Dewey schreibt, der (Hör-)Erfahrung einen „Namen“ (Dewey 1988a, S. 49) geben könnte. Es geht nun nicht darum, Volkers Reflexion als fragmentarisch oder gar in irgendeinem Sinne als defizitär einzustufen. Was der Vergleich der beiden Beschreibungen jedoch deutlich zeigt, ist, dass sich die Reflexion über ästhetische Gegenstände als Teil der ästhetischen Erfahrung prozesshaft vollzieht.47 Auch das Finden eines „Namens“ (Dewey), die Versprachlichung von Erfahrung, stellt sich nicht unmittelbar ein, sondern prozessual. In der obigen Szene deutet sich an, dass gerade die Zurückhaltung, die die beiden Freunde an den Tag legen, diesen Prozess ermöglicht. Matthias ermuntert Volker allenfalls vorsichtig, seine Reflexionen weiterzuführen. Als Volker schließlich eine für ihn stimmige Metapher findet, geschieht das nicht auf eine Anfrage von Matthias hin, sondern weil ihm das Wort, das ihm länger auf der Zunge gelegen haben muss, doch noch einfällt. Es zeigt sich, dass 46 Diese Offenheit wird oft als strukturelle Eigenschaft ästhetischer Erfahrungen beschrieben. In diesem Zusammenhang spricht z.B. Mollenhauer von einem „fiktiven Spiel mit Bedeutsamkeiten“ (Mollenhauer 1996, S. 31). 47 Insofern verweist die dokumentierte Sequenz auf einen Aspekt, auf den als „Verzögerung der Aussagbarkeit des Sinns“ (Thürnau 1996, S. 192) in der ästhetischen Erfahrung hingewiesen worden ist. 163
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Volker und Matthias durchaus über subjektive Erfahrungen mit Popmusik sprechen. Allerdings über ein sehr behutsames Nachfragen, also eher im Sinne eines Nachvollziehens der Erfahrungsbeschreibung des Freundes, nicht in der Art direkter Fragen (etwa ‚Was bedeutet das für dich?‘), die den Freund zur sprachlichen Reflexion auffordern. Insofern steht hier das Verständnis für den Freund gegenüber der Ko-Konstruktion von Erfahrung im Vordergrund. Volker und Matthias hegen in ihrer gemeinsamen Beschäftigung mit Popmusik also eine Art zunächst unausgesprochenes, aber eben doch präsentes Interesse füreinander, das sich aus seinem, so könnte man sagen, Stand-ByModus erst dann einschaltet, wenn die spezifische persönliche Bedeutung bestimmter Stücke durch den Anderen angedeutet ist An den Ausdruck „euphorisch“ (Z. 46), den Volker schließlich doch findet, knüpft eine interessante Reflexion an. Erst einmal ist festzustellen, dass Volker die euphorische Stimmung in etwas anderer Weise mit dem Musikstück verknüpft als er das bei seinem ersten Reflexionsansatz getan hatte. Da „hat“ (Z. 4) das Stück noch eine bestimmte „Stimmung“ (ebd.), jetzt „macht [es ihn] euphorisch“ (Z. 46). Matthias’ Rückfrage („Obwohl das in der Musik gar nicht drin steckt?“ (Z. 47)) lässt sich einerseits auf dieses Verhältnis von dargestellter und erzeugter Stimmung beziehen, sie kann andererseits aber auch implizieren, dass Matthias einen anderen subjektiven Eindruck hat. Volker nimmt in seiner Antwort Bezug auf den Zusammenhang zwischen seiner Gestimmtheit und der Musik. Dabei entwickelt er ein auf den ersten Blick paradoxes, im Bezug auf ästhetische Erfahrungen aber durchaus sinnvolles Muster. Denn die ästhetische Erfahrung ist kein Effekt, den ihre Objekte zuverlässig auslösen, sondern eine Erfahrung die ihre Subjekte selbst machen. Mollenhauer formuliert dies im Hinblick auf die sprachliche Beschreibung ästhetischer Erlebnisse als Teil ästhetischer Erfahrungen aus: „Die Erfahrung, die das Ich mit sich im Augenblick der ästhetischen Beschreibung macht, ist also kein ‚als ob‘, sondern die Wirklichkeit dieses Ich.“ (Mollenhauer 1990, S. 492). Damit ist eine Art Erkenntnis angesprochen, die sich in der Betrachtung eines ästhetisch wahrgenommenen Gegenstands anhand dessen einstellt, was ihm gegenüber im Betrachter ist. Insofern ist das ästhetische Objekt zwar Anlass der ästhetischen Erfahrung, aber es ist nicht seine Ursache. Vor diesem Hintergrund erscheint der Zirkelschluss von Volker („… das merk ich nur, wenn ich selber euphorisch bin.“ (Z. 48 f.)) durchaus stimmig. Matthias bemerkt nun, dass Volker diesen Ausdruck eigentlich „oft“ (Z. 51) gebraucht. Volker nimmt diesen Impuls auf und gibt ihm eine aufschlussreiche Wendung. Er meint zunächst, dass er den entsprechenden Eindruck „viel zu wenig“ (Z. 52) benennt, schließt aber gleich an, dass er es für ratsam hält, entsprechende metaphorische Ausdrücke „nicht so oft“ (Z. 53) zu verwenden, damit sie sich in ihrer Aussagekraft nicht abnützen. In der Rhetorik gibt es einen äquivalenten Gedanken: die Regression einer Metapher zur Katachrese, 164
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also zu einer Metapher, die konventionell auf eine bestimmte Bedeutung festgelegt ist und darüber ihre eigentlich metaphorische Funktion, die Übertragung von Eigenschaften eines Gegenstandes auf einen anderen, verliert. „Es ist das Los der Katachrese zu verschwinden, wenn sie Erfolg hat.“ (Black 1996, S. 63). Für Volker ist es wichtig, den treffenden Ausdruck nicht zu verschleißen, damit er seine Bedeutung nicht verliert; er stilisiert diesen Verlust von Bedeutung durch Routine durch die Paraphrase eines Dialogs, in dem „euphorisch“ nicht mehr als gehaltvolle Metapher fungiert, sondern als gewohnheitsmäßiges Etikett. Eine scharfzüngige Formulierung von Dewey veranschaulicht diesen Zusammenhang: „Die Gegner der Ästhetik sind … die Langweiler; die Schlaffheit loser Enden; die Unterwerfung unter die Konvention auf praktischem und auf geistigem Gebiet.“ (Dewey 1988a, S. 53).48 Ein – und sei es wiederholt – neu zu findender Ausdruck dient der Konstruktion lebendiger Erfahrung, ein verblasstes Etikett verhindert Erfahrungen. Bemerkenswert an Volkers Absichtserklärung ist auch die Form, in der er sie vorträgt. Er spielt im Gespräch mit seinem Freund einen Dialog mit ihm nach. Damit macht er seinem Freund vor, wie er sich wünscht, mit ihm über Musik zu reden. Der dargestellte Negativentwurf ist also auch ein impliziter Appell an den Freund, ein entsprechendes Verhalten zu vermeiden. Es zeigt sich auch in dieser Gesprächssequenz, dass die komplementären Erwartungen, die Matthias und Volker an ihre Freundschaft richten, auch zu verschiedenen Rollen führen, die die Freunde in ihrem gemeinsamen Umgang mit Popmusik innehaben. Es ist Volker, der über ‚seine‘ Musik reflektiert und Matthias, der nachfragt. Auch hier ist vor einem vorschnellen Rückgriff auf orthodoxe Auffassungen von Freundschaft zu warnen. Nimmt man das grundsätzliche Verständnis, das Matthias und Volker von ihrer Beziehung als Freundschaft haben, ernst – und alles andere wäre akademische Arroganz –, dann geht damit einher, dass man anerkennt, dass sie ihre Beziehung so führen, wie sie sie miteinander führen wollen.
Bildungsbedeutsame Erfahrungen von Volker Als Matthias Volker in der folgenden Sequenz auf eine bestimmte Platte anspricht, nimmt der das zum Anlass für eine bemerkenswerte Erzählung: Matthias: Du hast einmal was erzählt von der „Unbehagen“Platte [„Unbehagen“: LP von Nina Hagen aus 1979], die hast du auch beim Freund von deiner Mutter gehört... 48 Nicht nur hier zeigen sich Schwächen der Übersetzung. Im Original heißt es: „slackness of loose ends“ (Dewey 1989, S. 47). Die fehlende Intentionalität, auf die Dewey damit verweist, ist mit „Enden“ nur schwach wiedergegeben. Zur Frage nach der absichtsvollen Hervorbringung von Erfahrungen siehe Kapitel 5. 165
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Volker: Beim Freund von meiner Mutter? Matthias: Ja, der hat doch so eine Anlage gehabt, so eine gute. Volker: Ach so, dass ich die da mal gehört habe, aber... Ich weiß nicht, ob die ihm gehört hat, ich glaube, die hat meiner Mutter gehört. Aber der ist recht billig an so Ami-Zeug rangekommen und hat so eine Marantz-Anlage gehabt, wo alles, was man damals gehabt hat, das war da dran und dann auch so Boxen, die ziemlich groß waren und ziemlich eindrucksvoll, das war der Hammer, die Anlage und da hab ich aber nicht einfach so rangedurft. Weiß auch nicht wieso. Weil ich hätte das wahrscheinlich auch voll ausgenutzt. Matthias: Hast du die Anlage nicht hernehmen dürfen? Volker: Ja, ich hab das lang nicht dürfen, obwohl ich wahrscheinlich am erwachsensten mit dem überhaupt umgeh, da haben sie, ich weiß noch, wie die damals gesagt haben: ‚Du weißt doch gar nicht mal, was Stereo ist.‘ Kann ich mich noch genau erinnern. Matthias: Haben sie das mal gesagt? Volker: Ja, weil ich ja auch eine Stereoanlage haben wollte. Und da war ja überhaupt kein Geld da. Das erste war ja ein Radiorecorder. Dann hab ich zu dem Radiorecorder, da hat man hinten einen Kopfhörer anstecken können, da hat mir ein Typ, der zwei Stock unter mir gewohnt hat, der damals auch ein paar ganz gute Platten gehabt hat, der hat, wie er seine Anlage gekriegt hat, seine Boxen ausgemustert. Und zwar waren das selber zusammengebaute Boxen, die hat er im Sperrmüll gefunden, also nur die Lautsprecher, hat da irgendwie was dran gemacht, das waren so kleine Kästchen, das war wahrscheinlich ein Scheißsound, aber er hat zwei gehabt und die hat er zusammengeschlossen an einen Adapter wie für den Kopfhörer. Also, du hast das hinten reinstecken können in den Radiorecorder, es war nicht Stereo, aber es waren zwei Boxen. Das war dann das nächste. Matthias: Wow! Das ist gut! Volker: Das ist eine natürliche Entwicklung. Man fängt doch immer mit Scheiße an. Man hat ja nicht von vornherein eine komplette Anlage, sondern: ‚Jetzt fang ich an Musik zu hören.’ Matthias: Ja. Volker: Und das sind dann schon immer Schlüsselerlebnisse gewesen, wenn ich ein Teil von meiner Anlage gewechselt habe. Da hab ich erst einmal alle Platten neu anhören müssen. Matthias: Ja, das hab ich auch gemacht. Volker: Ja, es war halt dann schon eine Steigerung von dem Radiorecorder auf den nächsten, das war so ein Plattenspieler, kein Kofferplattenspieler, sondern ein offener, aber auch nicht
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stereo. Und so nach und nach sind dann Boxen dazugekommen und auf einmal ein Stereo-Dual-Plattenspieler, da hat es doch diese Kombination, ein Verstärker mit einem Plattenspieler obendrauf, vorne diese Knöpfe. Und dann so Stereo-Boxen, das war das erste richtige Stereo, was ich gehabt habe. Und jedes Mal ist halt der Sound geiler geworden. Jedes Mal, das war immer... Wo ich dann das erste Mal einen guten, na ja, heutzutage wär der Scheiße, aber damals war das ein relativ guter Plattenspieler, wo ich den dann gehabt habe und der war dann recht abgenudelt und ich dann die Nadel gewechselt habe, das werd ich nie vergessen, was das Zeug auf einmal für eine Dynamik gehabt hat, die Musik.
Der Ausschnitt enthält eine originelle autobiographische Schilderung. Volker erzählt von seinen ersten Musikwiedergabegeräten, er rollt so etwas wie den Stammbaum seiner Stereoanlagen auf. Der Beschreibung der verschiedenen Geräte ist die Erinnerung an die in der Familie erfahrene Restriktion vorangestellt, die bewunderte Stereoanlage des Lebensgefährten der Mutter nicht selbständig benutzen zu dürfen; ein Umstand, der durch die Erfahrung, mit dem vorgetragenen Wunsch nicht ernst genommen zu werden, eine bittere Einfärbung erhält. Ans Ende seiner Erzählung stellt Volker das für ihn bedeutsame Erlebnis, „die Musik“ (Z. 59) endlich einmal ohne die Beschränkungen einer qualitativ minderwertigen Wiedergabe zu hören. In dieser Rahmung liest sich der Fortschritt vom „Radiorecorder“ (Z. 24) bis zum „relativ gute[n] Plattenspieler“ (Z. 56) auch als die Geschichte langwieriger Bemühungen, das ehedem versagte Interesse zu emanzipieren. Darüber hinaus fällt auf: Volker nennt die sukzessive Erneuerung seiner Wiedergabegeräte „eine natürliche Entwicklung“ (Z. 38) und er spricht davon, dass er „am erwachsensten mit dem [mit HiFi-Gerät; DK] überhaupt umgeh[t]“ (Z. 17), als er die Restriktionen durch seine Mutter und ihren Lebensgefährten schildert. Diese Aspekte verweisen darauf, dass Volker hier implizit auch eine persönliche Entwicklung schildert, in der er gegen die erfahrene Beschränkung seine Ambition eines „erwachsen[..]en“ (ebd.) Gebrauchs der Dinge durchsetzt und dadurch auch eine besondere Sensitivität verwirklicht. Wenn der Ausschnitt auch ein Stück Lebensgeschichte ist, in dem es darum geht, sich Möglichkeiten gewachsen zu zeigen und sie sinnvoll zu gebrauchen, dann ist auch ein Blick darauf angebracht, was Volker über die Art dieser Entwicklung sagt. „Man fängt doch immer mit Scheiße an.“ (Z. 38 f.). Das ist eindeutig: Am Anfang ist Mangel; nicht ein Niveau, das ein kommendes, höheres Niveau vorbereitet oder das in diesem aufgeht, sondern das sich im Vergleich als ungenügend zeigt. Hier begegnet kein organisches Wachstumsmodell, sondern ein Bild von Entwicklung, das die Überwindung von Einschränkung betont. Durch den Zugewinn von entsprechenden Möglichkeiten kann sich das eigene Interesse über seine bis dahin bestehenden Hemmnisse hinaus entfalten und 167
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ermöglicht neue und reichere Erfahrungen. Insofern ist der im Stereo-Effekt wiedergegebene Raumklang und die schrittweise Annäherung an ihn auch als Sinnbild für die jeweils aufgetanen Wahrnehmungsdimensionen zu verstehen. Volker spricht immerhin davon, dass er jeweils „erst einmal alle Platten neu anhören“ (Z. 44) musste. Das rückt die Ausdifferenzierung der eigenen Wahrnehmung in den Vordergrund: Volker hört nicht neue Platten an, sondern seine „Platten neu“ (ebd.). Wenn man nach einer möglichen bildungsbedeutsamen Erfahrung im obigen Ausschnitt fragt, ist es nützlich, einen grundlegenden Aspekt des Umgangs mit autobiographischen Texten in Erinnerung zu rufen. „Der Wert autobiographischer Dokumente für die empirisch gehaltvolle Bildungstheorie liegt darin, dass in ihr die Hervorbringung und Transformation von ‚Bedeutungen‘ in Bezug auf die so genannten Tatsachen des Lebens dokumentiert sind, die Aneignung einer sinnhaft vorstrukturierten Welt, die Konstitution und Aufschichtung der eigenen Erfahrung im Umgang mit den Umständen des Lebens und die Ordnung dieser Erfahrung im Sinne einer retrospektivprospektiven Konturierung des Selbst.“ (Alheit u.a. 2001, S. 11). Erfahrung als Leistung der Subjekte ist in dieser Perspektive eng an Sprache gebunden, sie trägt entscheidend dazu bei, dass eine Erfahrung für das Subjekt handhabbar wird: Im Erzählen geben wir unseren erinnerten Erlebnissen Bedeutung, machen sie zu unseren Erfahrungen und setzen uns zu ihnen in ein spezifisches Verhältnis. Dieses Verhältnis ist nun „retrospektiv“ (ebd.) eines der Selbstvergewisserung bzw. „prospektiv“ (ebd.) eines des Selbstentwurfs. Wir versuchen, uns Fragen der Art zu beantworten: ‚Wer bin ich?‘, und: ‚Wer will ich sein?‘ In den Ausführungen von Volker sind beide Dimensionen wieder zu finden. In seiner Schilderung gibt er der Behauptung gegen erfahrene Vorbehalte Ausdruck. Narrativ entwickelt er ein Bild von sich, mit dem er eine Entwicklung von eingeschränkten Erfahrungsmöglichkeiten hin zu eindrücklichen Erfahrungen nachzeichnet. Doch diese Selbstvergewisserung ist nicht nur die Nacherzählung eines Stücks Lebensgeschichte, als Selbstdarstellung hat sie auch intentionalen Charakter. Volker erzählt nicht nur, wie er zu einer guten Stereoanlage gekommen ist, er erklärt auch, dass er die damit gewonnenen Möglichkeiten für reiche Erfahrungen nutzt. In diesem Zusammenspiel von Erinnerung und Anspruch ist eine Festigung dessen repräsentiert, was man Volkers Erfahrungsfähigkeit nennen könnte. Und eben darin scheint das zu liegen, worin, wen man so will, der Bildungs-Sinn seiner kleinen Erzählung liegen könnte: Volker berichtet nicht nur von erreichtem technischen Fortschritt, er impliziert auch, dass er sich dadurch Erfahrungsräume eröffnet hat, in denen er sich in nachhaltigen Musikerlebnissen erfahren kann.
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Metaphorisches Erzählen Dass hier vom einen (Hifi-Gerät) die Rede ist und das Gespräch zugleich anderes (das Selbstbild) enthält, lässt sich anhand der Funktionsweise der Metapher näher erläutern. Metaphern ergeben sich einerseits aus der Übertragung einer Eigenschaft von einem Gegenstand auf einen anderen. (vgl. Black 1996, S. 60 f.). Mit solchen Metaphern wird eine Bedeutung ausgedrückt, die im Grunde auch nicht metaphorisch hätte benannt werden können.49 Metaphern fungieren aber auch weniger regelhaft. In der Kombination zweier Gegenstände werden die „assoziierten Implikationen“ (ebd., S. 75) des einen Gegenstandes zum Material der „…Konstruktion eines entsprechenden Systems von Implikationen…“ (ebd., S. 72) des anderen Gegenstandes. Eine Verbindung dieser Art schafft neue Beziehungen, bringt neue Aspekte hervor. In ihr erfolgt die „‚Interaktion‘ zweier ‚zusammenwirkender‘ Vorstellungen“ (ebd., S. 70). Wesentlich für solche Metaphern ist die Emergenz neuer Bedeutungen aus der Kombination zweier Begriffe und ihrer Implikationen. Diese Unterscheidung ist für die Beschäftigung mit dem obigen Ausschnitt nützlich, obwohl dort (bis auf „Das ist eine natürliche Entwicklung.“ (so Volker in Z. 38), das in diese Richtung deutet) keine Metapher enthalten ist, die die gewonnenen technischen Möglichkeiten mit einem Selbstkonzept verknüpft. Die Bezüge zu einem nicht wörtlichen Gehalt der Äußerungen sind indes nicht in der Kombination einzelner Ausdrücke zu suchen, sondern in der Redeweise, die sich über den ganzen Ausschnitt entfaltet. Es gibt mehrere Hinweise darauf, dass Volker eine bedeutungsvolle Erzählung entwickelt: Verknüpfung von detaillierten Erinnerungen und raffender Erzählung, die eingeschobene Reflexion des Erzählten anhand eines zugrunde liegenden Musters und der Schluss, der Klimax und Ziel verbindet. Die so signalisierte besondere Bedeutung des Gesagten erzeugt, um mit Ricoeur zu sprechen, eine „Stimmung“ (Ricoeur 1986, S. 225), die einen besonderen, sinnstiftenden bzw. sinnempfänglichen Umgang mit dem Wortlaut verlangt, weil sie die gemachten Ausführungen in ein Licht rückt, in dem diese über eine pragmatisch-wörtliche Bedeutung hinaus weisen. Wenn man die Gesprächssituation aus dieser Perspektive betrachtet, lässt sich in der besonderen Form, die Volker seiner Schilderung gibt, eine quasi-metaphorische Erzählung erkennen, die auf eine besondere Bedeutung verweist. Die ist dort zu suchen, wo die in der Erzählung aufgebaute Ordnung (die sukzessive Aneignung des ehemals vorenthaltenen Stereo-Hörens) Analogien findet (die Eröffnung neuer Erfahrungsmöglichkeiten und die gemachten substantiellen Erfahrungen).
49 „Der Autor substituiert M für L; es ist die Aufgabe des Lesers, diese Substitution umzukehren und dabei die wörtliche Bedeutung von M als Indiz für die beabsichtigte wörtliche Bedeutung von L zu benutzen.“ (Black 1996, S. 62 f.). 169
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Neben den bislang angesprochenen Implikationen des Ausschnitts ist die Gesprächssituation von großer Bedeutung. Das bei Marotzki (1999) erläuterte Konzept einer „synchronen Reflexion“ (ebd., S. 64), die darauf abzielt, „…im Hier und Jetzt…“ (ebd.) für die eigene Person Bestätigung zu finden ist hier hilfreich. Obwohl Matthias nur wenig spricht, tragen seine Bemerkungen doch wesentlich zum Ablauf bei. Es ist seine Anspielung, die Volker den Ansatzpunkt für seine Erzählung gibt. Man könnte sagen: Matthias bietet Volker einen Artikulations-Raum für dessen Erfahrungen an. Es ist wohl kein bloßer Zufall, dass die lebensgeschichtliche Reflexion von Volker hier folgt. In der Anmerkung von Matthias ist angedeutet, dass der von ihm angesprochene Sachverhalt kein beiläufiges Detail darstellt, sondern schon „einmal“ (Z. 1) Gegenstand eines Gesprächs war. In dieser Bezugnahme auf das für Freunde typische Wissen voneinander liegt für Volker ein impliziter Impuls, die von Matthias vermeinte Bedeutsamkeit zu erläutern. Wenn man vom Gespräch unter Freunden von einem Artikulations-Raum für Erfahrungen sprechen kann, dann handelt es sich dabei um einen Raum, der auch dadurch entsteht, dass Freunde ein Wissen voneinander haben, das ihnen im Umgang miteinander situationsübergreifend zur Verfügung steht. Matthias leistet jedoch mehr als eine implizite Erzählaufforderung. Er signalisiert weitergehendes Interesse (vgl. Z. 15 und 21), zeigt Anerkennung für die geschilderte Entwicklung (vgl. Z. 37) oder wirft eine Bestätigung ein (Z. 45). Insgesamt viermal unterstützt er damit die Erzählbewegungen von Volker. Diese aufmunternde Teilnahme weist darauf hin, dass in der vorliegenden Sequenz die Erzeugung einer sinnfördernden bzw. -stiftenden Erzähl-„Stimmung“ (Ricoeur) und die intersubjektive Unterstützung der lebensgeschichtlichen Reflexion ineinander greifen. Die biographische Selbstreflexion von Volker vollzieht sich in ihrer spezifischen Form deshalb, weil sich seine Erzählung und die Mitwirkung von Matthias ergänzen.
Bildungsbedeutsame Erfahrungen von Matthias Gleich nach Volker erzählt auch Matthias von seiner Stereoanlage. In der folgenden Szene geht es zwischen den Freunden u.a. dann auch um die Vergleichbarkeit ihrer jeweiligen Erfahrungen.
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Matthias: Ja, ich hab früher so einen Kassettenrecorder gehabt, wo man aufnehmen kann und dann separat einen Wecker und dann, ich glaube, in der dritten Klasse hab ich eine Stereoanlage zu Weihnachten geschenkt bekommen. Das war so eine Kompaktanlage... Volker: In der dritten Klasse schon! Matthias: Ja, aber das war viel später.
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Volker: Ja, aber vom Alter her war es nicht später. Matthias: Nein, aber ich meine... Volker: Nein, ist ja klar. Du musst dich ja nicht rechtfertigen dafür! (lacht) Matthias: Nein, nein. Volker: Das ist ja nicht: ‚Oh! Jahrzehnte lang bin ich dem nachgelaufen, in meinem Zivildienst ist es losgegangen, dass ich mir das erste Teil von der Anlage gekauft habe und so...‘ Matthias: Ja, aber das war ja Krempel. Es war Universum, also keine Firma. Volker: Ja, Quelle. Matthias: Ah ja. Quelle, genau. Volker: Universum. Matthias: Und halt ein Plattenspieler und so kleine Plastikboxen und... ja genau. Und dann hab ich irgendwie gemerkt, dass das nicht das Wahre ist und dann hab ich mir wieder eine Kompaktanlage gekauft und das war aber auch nichts gescheites und dann hab ich mir irgendwann mal so diese Bausteine gekauft, aber immer bloß gebrauchtes Trödelzeug. Volker: Bis heute. Matthias: Bis heute. Volker: Bis zu den Boxen. Matthias: Genau. Volker: Ja, der Plattenspieler ist auch neu. Matthias: Der Plattenspieler ist neu, der Verstärker ist neu und der Radio ist halt gebraucht. Volker: Aber das ist ein guter Radio. Und einen Radio neu kaufen ist im Grunde ja auch ein Schmarrn. Das nutzt sich ja nicht ab so was. Matthias: Ja, und damit bin ich halt jetzt zufrieden und vielleicht kauf ich mir irgendwann einmal so einen Plattenspieler (Matthias zeigt auf Volkers Plattenspieler), aber mehr brauch ich nicht. Jetzt bin ich endlich da angekommen und… das ist schon wichtig. DK: Hat das neue Hören auch was mit der neuen Musik, also wenn das jetzt viel Elektro-Zeug ist, hat das auch was damit zu tun? Matthias: Ja, mit den Boxen, da kommt halt Elektro-Zeug irgendwie viel besser. Die Sachen sind halt anders aufgenommen, neuer aufgenommen meistens. Volker: Ja, da muss ich auch dazu sagen, also wo ich die neuen Boxen da gekriegt habe, das war eigentlich ungefähr zu der Zeit, wo ich angefangen habe, elektronische Musik zu hören. Nein, ich hab’s schon ein bisschen davor gehört, aber das war dann mein letztes großes Aha-Erlebnis, wie ich von meinen letzten Boxen 171
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auf die hier gewechselt bin und mir die elektronische Musik, die ich schon gehabt habe, noch mal angehört habe. Ich habe noch nie so einen Unterschied wie Tag und Nacht festgestellt wie da. Matthias: Ah, ja. Volker: Weil das war wirklich so ein Unterschied. Und so ein bisschen bin ich auch ein Soundfreak und nicht nur ein Musikfreak, also so Klänge, so ein guter Sound von irgendwas, das kann schon was wett machen, finde ich. Immer mehr ist das geworden. Matthias: Ja, so Musik, das ist ja, das sind alles Sounds, irgendwie.
Beim ersten Lesen dieser Szene fällt ins Auge, dass Matthias recht kongruent zu Volkers vorheriger Erzählung von einer sukzessiven Verbesserung seiner Hifi-Ausstattung berichtet. Auch er schildert einen mehrmaligen Austausch minderwertiger Geräte gegen jeweils bessere und ebenso wie sein Freund ist er mit dem momentan erreichten Standard zufrieden. Für einen im vorliegenden Ausschnitt herauszuarbeitenden bildungsbedeutsamen Erfahrungsprozess von Matthias ist damit zunächst einmal eine mimetische Anlage festzuhalten. Matthias formt seine biographische Erzählung derjenigen von Volker nach. Allerdings zeigt eine genauere Betrachtung der Szene, dass darüber hinaus aber einige andere Aspekte im Zusammenspiel der Äußerungen der beiden Freunde aufscheinen. Es kommt zum einen gleich zu Beginn von Matthias’ Schilderung zu Differenzen zwischen den Freunden darüber, ob Matthias’ Erfahrungen mit denen Volkers vergleichbar sind. „In der dritten Klasse schon!“ (Z. 6) wendet dieser nämlich ein und macht geltend, dass Matthias damit früher als er eine Stereoanlage besitzt. (Aus der Perspektive seiner vorangegangenen Darstellung, zu deren zentralen Aspekten das lange vorenthaltene und aspirierte Stereo-Hören zählte, ist Volkers Einwand an dieser Stelle – Matthias bekommt eine „Stereoanlage… geschenkt“ (Z. 3 f.) – durchaus nachvollziehbar.) Dem kann Matthias kaum etwas entgegensetzen. So ist es Volker, der ihn beruhigt, dass er sich für seine Biographie „nicht rechtfertigen“ (Z. 10) muss. Dann schiebt Volker eine Erläuterung nach (vgl. Z. 13 ff.), die zwei Aspekte akzentuiert. Zum einen weist Volker noch einmal auf biographische Unterschiede hin und baut dadurch eine gewisse Inkommensurabilität auf. Zum andern macht er durch die Art, wie der das tut, auch deutlich, dass er die erfahrene Beschränkung bewältigt hat. Er spielt eine im Präsens gehaltene Klage über eine „Jahrzehnte lang[e]“ (Z. 13) Entbehrung nur vor. Denn so ist es „ja nicht“ (ebd.). Darin ist neben einer Differenzierung zwischen seiner biographischen Erfahrung und der von Matthias auch eine gewisse Billigung für dessen Sichtweise impliziert. Matthias fährt nun nicht einfach in seiner Schilderung fort, sondern geht zunächst noch einmal auf Volkers Anmerkungen ein: „Ja, aber das war ja Krempel.“ (Z. 16). Er führt ein neues 172
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Argument an, mit dem er Volkers Differenzierung seinerseits zugleich akzeptiert und relativiert. Damit behält er die Grundtendenz seiner Erzählung bei und stellt, nachdem sein Freund das nicht ohne weiteres gelten lassen wollte, die eingangs angedeutete biographische Parallelität wieder her. Systematisch lässt sich festhalten, dass über den Aspekt der Mimesis hinaus auch Prozesse der Aushandlung Matthias’ Erfahrungskonstruktion begleiten. Im Fortlauf von Matthias’ Erzählung zeigt sich ein nächster wichtiger Gesichtspunkt. Matthias setzt seine Stereoanlagen-Genealogie fort und schildert den Schritt von einer zweiten „Kompaktanlage“ (Z. 24) zum Erwerb einzelner „Bausteine“ (Z. 25), schränkt aber ein, dass es sich dabei um „gebrauchtes Trödelzeug“ (Z. 26) handelt. Volkers knapper Einwurf, „Bis heute“ (Z. 27), leitet nun eine interessante Teilsequenz ein. „Bis heute“, das ließe sich auch so verstehen, dass Matthias’ Stereoanlage bis in die Gegenwart des Gesprächs hinein aus Second-Hand-Geräten besteht. Durch Matthias wörtliche Wiederholung bleibt diese Ambiguität unaufgelöst. Erst Volkers Ergänzung „Bis zu den Boxen“ (Z. 29) weist darauf hin, dass es „heute“ für Matthias anders ist. Matthias braucht dem nur zuzustimmen (vgl. Z. 30). Volker markiert nun eine weitere Neuerwerbung seines Freundes: „Der Plattenspieler ist auch neu.“ (Z. 31). Wenn sich Volker zu Beginn der Sequenz differenzierend zu Wort meldete, so übernimmt er in diesen Äußerungen die Perspektive seines Freundes. Und Matthias kann augenscheinlich darauf vertrauen, dass Volker seine Schilderung so aufnimmt und fortführt, dass er sie selbst in seinem Sinne wieder aufgreifen kann. Er nimmt Volkers bündige Zuspiele zu einem Zwischenresümee auf und stellt fest, dass er mit seiner HiFi-Ausstattung „jetzt zufrieden“ (Z. 37) ist und dass er (auch wenn, was seine Anspielung auf Volkers hochwertigen Plattenspieler zeigt, noch ein Rest Aspiration bleibt) einen lange avisierten technischen Standard erreicht hat, er ist „endlich da angekommen“ (Z. 40). Es deutet sich zum einen an, dass der Vergleich mit den technischen Ansprüchen und Möglichkeiten seines Freundes eine Rolle spielt. Zum andern scheint durch, dass auch Matthias seine Stereoanlage in diesem Zusammenhang nicht nur als Mittel zur Erfüllung technischer Zwecke versteht, sondern dass sie für auch ihn Katalysator persönlich bedeutsamer Erfahrungen ist: „… das ist schon wichtig.“ (Z. 40 f.). Insgesamt ist in der Sequenz bis hier her zu beobachten, dass es zwischen Matthias und Volker nicht nur um ein äußeres Wissen von Freunden übereinander, also um Informationen geht, sondern dass im Zusammenhang damit den angesprochenen Tatsachen auch spezifische Bedeutungen zugesprochen werden. Wie sich dies vollzieht, und warum Matthias seine Stereoanlage wichtig ist, das deutet sich im zweiten Teil des Gesprächsauschnitts an. Dort entwickelt sich auf die Nachfrage nach einem Zusammenhang zwischen Matthias’ neuer HiFi-Gerätschaft und seinen geschmacklichen Interessen eine gemeinsame Reflexion der beiden Freunde. Zunächst hält Matthias 173
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fest, dass auf seinen neuen Boxen „Elektro-Zeug irgendwie viel besser“ (Z. 45 f.) klingt und er stützt dies mit einem Hinweis auf entsprechende Aufnahmetechniken. Daran knüpft Volker an; er schildert Hörerlebnisse mit elektronischer Musik, die er gerade neu „angefangen [hatte], zu hören“ (Z. 50) und die er sich auf seinen damals neu erworbenen Boxen noch einmal neu anhört. Volker fügt hier verschiedene Elemente zusammen, um seine Erfahrung zu charakterisieren. In seiner Rekonstruktion der zeitlichen Nähe der musikalischen Neuentdeckung „elektronische Musik“ (Z. 50) und der Anschaffung neuer Lautsprecher zeigt sich, dass diese beiden Aspekte für ihn in ihrem Zusammenhang bedeutsam sind. Das neue geschmackliche Interesse und die verbesserten technischen Mittel fügen sich zu einem „Unterschied wie Tag und Nacht“ (Z. 55). In Volkers anschließender Erklärung ist diese Doppelsinnigkeit noch deutlicher. Der Unterschied war für ihn so intensiv, weil sich sein Interesse nicht nur auf „Musik[…]“ (Z. 59), sondern auch auf „Sound[…]“ (ebd.), das meint in diesem Fall wohl klangliche Qualität, bezieht. Matthias greift Volkers Ansicht auf und bekräftigt sie: „Ja, so Musik, das ist ja, das sind alles Sounds, irgendwie.“ (Z. 62 f.). Und so knapp diese Anmerkung ist, richtet sie sich nicht nur bestätigend auf die Ansicht von Volker; sie enthält darüber hinaus auch eine eigene differenzierte Vorstellung. Matthias’ Verwendung von Singular und Plural verweist auf einen Aspekt, den auch Dewey anspricht, wenn er die bewusste Wahrnehmung als „kumulativen Vorgang“ (Dewey 1988a, S. 64) bezeichnet. Ohne die konstruktive Verknüpfung von Einzelelementen, die den Gegenstand einer Erfahrung kennzeichnen, lässt sich keine bewusste Erfahrung machen; man muss „…die Elemente des Ganzen ordnen…“ (ebd., S. 68). Matthias impliziert ein ganz ähnliches Modell: aus der Vielheit von Klangelementen, von „Sounds“ (Z. 62), ergibt sich durch deren Verbindung in ein Ganzes „Musik“ (ebd.). Damit geht er über die Unterscheidung Musik/Sound, so wie Volker sie trifft, hinaus. Sound ist für Matthias mehr als nur die klangliche Güte, in der Musik wiedergegeben wird. Sound ist für ihn die Substanz von Musik. Neben dem Bezug auf Wiedergabequalitäten schließt ein solches Verständnis auch klanglich vermittelte Ausdrucksqualitäten von Musik nicht aus. Für beide Freunde ist ein sensitives Hören (und damit auch die technischen Voraussetzungen dazu) wichtig. Matthias entfaltet diese Haltung im Anschluss und in Anlehnung an Volkers biographische Erzählung, die insofern für ihn auch zum Muster wird. Seine Nach-Erzählung gerät indes beileibe nicht zu einer Kopie, sondern mündet in eine Reflexion der beide Freunde, in der er seinen eigenen Anspruch differenziert begründet. Für die gesamte Sequenz lassen sich damit mehrere Aspekte in Bezug auf eine prozessuale Bedeutungskonstruktion durch Matthias festhalten. Eine zentrale Rolle spielen zunächst mimetische Prozesse. Volkers vorangegangene Erzählung fungiert als eine Art Vorbild, dem Matthias sich anähnelt. Im ersten, eher biographisch 174
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ausgerichteten Teil der Sequenz wird die Kongruenz von Matthias’ und Volkers biographischen Erfahrungen dabei auch zum Gegenstand der Aushandlung zwischen den beiden Freunden. Im zweiten Teil führen die Freunde eine dialogische Reflexion, in der Matthias seine eigene Hörhaltung artikuliert, die derjenigen von Volker verwandt ist, aber eben auch nicht in ihr aufgeht. Im Unterschied zu der autobiographischen Erzählung, die Volker anhand der Geschichte seiner Stereoanlage ausführt, greift Matthias nicht primär lebensgeschichtliche Bezüge auf. Er findet über seine Schilderung mit Volker in eine Reflexion über die Beziehung von Klang und Musik. Auch wenn im Verlauf der Sequenz die explizite Verknüpfung durch eine entsprechende Interviewfrage hergestellt wird, zeigt sich über diese von außen eingebrachte Perspektive hinaus auch ein enger innerer Zusammenhang zwischen den beiden Teilen der Sequenz. Es ist Volker, der sich in Matthias’ Abriss einschaltet und die Qualität der Stereoanlage seines Freundes heraushebt. Und es ist Volker, der im zweiten Teil die Differenzierung zwischen einer auf die Musik und einer auf den Sound gerichteten Aufmerksamkeit einbringt, wofür, wie er anmerkt, eine gute Wiedergabequalität förderlich ist. Nun ist die Reflexion von Volker und Matthias nicht nur von Mimesis getragen; dennoch scheint insgesamt eine Einstellung Matthias’ durch: er stellt sich seinem Freund gegenüber dar. Dessen freundschaftliches Vorbild führt ihn zur Entfaltung eines Verständnisses von Sound als Substanz der Musik und damit zur Reflexion des eigenen Geschmacks.
Gemeinsame bildungsbedeutsame Erfahrungen von Matthias und Volker Während des Gesprächs schildert Matthias, dass sich seine geschmacklichen Interessen von einer früher bestehenden Vorliebe für Rockmusik auf das Feld der elektronischen Musik (also auf Techno, House und deren Spielarten) ausgeweitet bzw. verlagert haben. Die folgende Sequenz nimmt ihren Ausgang in der Frage danach, wie es zu dieser Entwicklung gekommen ist.
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DK (zu Matthias): Ja, noch mal, wenn du früher viel Rock gehört hast und jetzt mehr so elektronische Sachen, wie war das so, wo du dir gedacht hast, das ist ja doch anzuhören? Oder gibt es da irgendwie so einen Anstoß dafür, dass du das jetzt viel hörst? Matthias: Ja, ich hab es halt kennen gelernt durch den Volker. Also da sind halt ab und zu so Sachen gelaufen und manche Sachen haben mir gefallen und manche mehr, manche weniger und dann... (wendet sich an Volker) Also bei mir war das nicht so, dass ich wie bei dir, du bist in eine Kneipe gegangen und hast was gehört und das hat dir gefallen, sondern ich hab mich erst dran gewöhnen müssen. 175
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Volker: An irgendwelche... was meinst du jetzt? Elektronische Musik? Matthias: Ja, so Techno. Du hast ja mal erzählt, wo du in Berlin warst, und in diesen Laden gegangen bist, da hat dir halt was, da war was grooviges. Und bei mir hat das halt länger gedauert, dass ich mich da dran gewöhne oder das entdecke, keine Ahnung… DK: Ah, und wie war diese Gewöhnung? Matthias: Ja, ich hab’s... Na, die Motivation war: ich war beim Volker und da ist das halt gelaufen. DK: Also man hat’s erst einmal aushalten müssen? Volker: (lacht) Echt? Matthias: Ein bisschen vielleicht, aber... ich meine, das war eher noch zu Zeiten, wo du am Ludwigsplatz gewohnt hast. Aber es ist nicht so, das es mich jetzt gestört hätte, so: ‚Da geh ich nicht hin, weil da spielt die Musik.‘ So auch nicht. Volker: Ja, es wäre auch nichts anderes möglich gewesen. (Matthias und Volker lachen.) DK: Ja, wenn man sich an was gewöhnen muss, das einem zuerst nicht gefällt, da ist ja dann oft trotzdem was da, weshalb man sich das anhört. Volker: Ja, meistens nicht bewusst, absichtlich. Man hat das nicht vor, glaub ich. Man wird beschossen. Matthias: Ja. So ungefähr.... Ja und jetzt kann man es sich gar nicht mehr wegdenken. Aber das ist jetzt nicht nur Techno oder so, sondern auch Sachen, die, finde ich, mit der Musik verwandt sind, wie zum Beispiel diese Dance... Disco-Sachen, die du das letzte Mal vorgespielt hast. Aus New York. Da komm ich jetzt irgendwie übern Techno komm ich jetzt irgendwie dann da zu dir, da zu solcher Musik jetzt auch irgendwie wieder hin. Das war bei dir vielleicht... war das bei dir auch so? Dass du die Platte, hast du die vorm Techno schon gehabt? Volker: Nein, die hab ich vorher noch nicht gehabt. Aber ich hab vorher so Sachen gemocht. Schwarze Musik, da hab ich schon immer ein Faible dafür gehabt und ich hab’s immer wieder probiert und hab immer wieder ein paar Sachen rausgezogen. Also, die mir vielleicht vor ein paar Jahren dann noch nicht gefallen haben. Also ich hab es immer... ich wollt’s immer. Und naja, geniale Nummern sind vielleicht relativ wenig. Wenn man sich das überhaupt anschaut, was es an schwarzer Musik gibt, aber die sind halt einfach umso besser und so was hab ich dann immer gesucht. Und deswegen kommt so was wie diese 70er, diese End-70er-Disco-Sachen, die wir da angehört haben, das hat voll was von diesem Flair, von diesem, was weiß ich... Funkadelic und Sly and the Family Stone. Aber es ist halt ein
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bisschen anders, es ist halt rhythmischer. Aber das stört mich überhaupt nicht. Und diese „Riot“-Scheibe [„There’s a riot going on“: LP von Sly and the Family Stone aus 1971], das ist eine so groovige, swingende Scheibe. Da jodelt er sogar. Einmal jodelt er. Und die ist entstanden, da war er gerade voll auf Heroin. Die hört sich nämlich auch so an. Und ich wollte einfach eine, die mir gefällt und ich hab am Anfang zwei Stücke gefunden und dann sind es immer mehr Stücke geworden, die mir gefallen haben. Mittlerweile gefällt mir eigentlich die komplette Scheibe. Aber das macht es einem irgendwie nicht einfach. Soll ich sie mal drauf tun? Matthias: Ja klar. Volker: Also das „Family Affair“, das kennt man ja. Das ist ja der Hit... Matthias (singt leise): It’s a family affair... Das ist geil. Volker: Das hat mich ja damals so berührt, wo ich das gehört habe. Da hab ich mir gedacht, so eine Musik möchte ich, genau so eine Musik möchte ich nur hören. Aber ich kenn kein zweites… (Matthias und Volker hören „Family Affair“ etwa 60 Sekunden zu.) Matthias: (mit dem LP-Cover in der Hand) Das ist ja eine nette amerikanische Fahne... (im Hintergrund läuft die LP) Aber sonst ist die doch nicht so ruhig? Volker: Wieso? Matthias: Ich glaub, die ist schon mehr so gespannt, spannend irgendwie, angespannt irgendwie Volker: Ah, ja. Matthias: Mehr so Funk, halt. So, als dürfte man ihn nicht falsch anreden, weil sonst etwas passiert. Sonst... Volker: Ja vielleicht. Es ist was am Wachsen, es ist noch nicht so ausgegoren. Aber ich weiß nicht… also zum Beispiel James Brown, das ist ja nur noch straight und aggressiv, das ist aggressiv. Matthias: Ja, das stimmt. Volker: Aber das ist, da gibt es so geniale Sachen, da gibt es nichts besseres. Und das (zeigt zur Stereoanlage, die Sly and the Family Stone spielt) ist Musik für immer, die hab ich schon vor zehn Jahren gehört und das kann ich immer noch hören…
Zunächst verweist Matthias darauf, dass Volker bei der Veränderung seines Geschmacks eine ausschlaggebende Rolle gespielt hat. Dabei eröffnen schon seine ersten beiden Sätze eine interessante Ambivalenz. Zum einen meint Matthias, dass er elektronische Musik bei Volker kennen gelernt hat: „... da 177
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sind halt ab und zu so Sachen gelaufen...“ (Z. 6). Zum andern scheint es hier aber nicht nur um einen Ort zu gehen; Matthias lernt „Techno“ (Z. 14) auch „durch“ (Z. 5) Volker kennen. Volker wird als Person bedeutsam, weil er Matthias mit dieser Art von Musik konfrontiert. Dabei deutet Matthias an, dass er sich nicht unmittelbar dafür begeistert: „...manche Sachen haben mir gefallen und manche mehr und manche weniger...“. (Z. 6 f.). Matthias vergleicht nun seine ersten Erfahrungen mit elektronischer Musik damit, was er von Volker über dessen erste Berührungen mit diesem musikalischen Genre weiß. Er stellt damit erst einmal ein wesentliches Moment heraus: im Gegensatz zu Volker war diese Art von Musik für ihn keine überraschende Entdeckung, sondern Gegenstand einer Phase der Gewöhnung. Diese Gewöhnung ist in ihrer Art vorerst zwar nicht näher erläutert, sie geht einem ausgeprägten geschmacklichen Interesse allerdings voran: „... ich hab mich erst dran gewöhnen müssen.“ (Z. 10 f.). Der Vergleich, den Matthias zwischen seiner eigenen Geschmacksbiographie und der von Volker zieht, ermöglicht ihm aber nicht nur, die spezifische Entstehung seines Interesses für elektronische Musik anzudeuten, der Fortlauf der Sequenz zeigt auch, dass damit eine implizite Anfrage an Volker einhergeht, seine diesbezüglichen Erfahrungen noch einmal zu entfalten. Zuvor geht es jedoch in einigen Äußerungen darum, wie sich Matthias an Techno gewöhnt. Es stellt sich heraus, dass Matthias diese Musik zunächst eher als eine Art Begleiterscheinung seiner Besuche bei Volker wahrnimmt, die ihn aber auch nicht „gestört“ (Z. 25) hat. Erst nach und nach also lernt er diese Musik bei seinem Freund schätzen. Schließlich entwickelt er aber ein nachhaltiges Interesse: „…jetzt kann man es sich gar nicht mehr wegdenken.“ (Z. 34 f.). Allerdings steht Techno dabei nicht alleine. Matthias kommt auf „Sachen, die … mit der Musik verwandt sind“ (Z. 36 f.) zu sprechen. Er deutet eine Parallele zwischen seiner Geschmacksentwicklung in Bezug auf Techno und die von ihm so genannten „Dance…Disco-Sachen“ (Z. 37) an. Bei dieser Parallele geht es nun nicht nur darum, dass Matthias die „DiscoSachen“ auf eine vergleichbare Weise kennen lernt (eben bei/durch Volker), es geht auch darum, dass zwischen Techno und Disco seinem Eindruck nach charakteristische Gemeinsamkeiten bestehen. Seine Frage an Volker greift diese wahrgenommene Ähnlichkeit auf: „Da komm ich jetzt irgendwie dann da zu dir, da zu solcher Musik jetzt auch irgendwie wieder hin. … war das bei dir auch so? Dass du die Platte, hast du die vorm Techno schon gehabt?“ (Z. 38 ff.). Bezeichnenderweise spielt Matthias aber nicht auf eine (in diesem Fall durchaus gegebene) pophistorische Entwicklung an. Er fragt Volker nach dessen Geschmacksentwicklung. In diesem Punkt zeigt sich noch einmal, dass für Matthias in der Tat nicht nur die Musik wichtig ist, die er bei Volker hört und die ihm dieser präsentiert, Matthias bezieht sich auch auf den Geschmack Volkers. Er knüpft also eine doppelte Parallele: nicht nur zwischen Techno 178
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und Disco, die er als Stilrichtungen bei Volker kennen und schätzen gelernt hat, sondern auch zwischen seinem und Volkers Geschmack. Ähnlich wie im vorangegangenen Abschnitt überlagern sich hier Anähnelung und Reflexion. Matthias entwickelt und reflektiert seinen Geschmack in Orientierung an Volkers Interessen. Er stellt im Rahmen seiner Freundschaft zu Volker persönliche Nähe als geschmackliche Nähe her. Seine Nachfrage („…war das bei dir auch so?“ (Z. 41)) impliziert die Erwartung, dass sich die von ihm wahrgenommene Verwandtschaft auch in Volkers Geschmacksentwicklung abbildet. Volkers Antwort führt ihn in eine detaillierte Schilderung seiner Erfahrungen mit „schwarze[r] Musik“ (Z. 44). Er spricht von einem „Faible“ (Z. 45), das ihn dazu führt, „so Sachen“ (Z. 44) „immer wieder [zu] probier[en]“ (Z. 45 f.). Im Grunde argumentiert Volker damit ganz ähnlich, wie es Matthias tut, wenn er sich wünscht, Musik, von der er nur eine vage Vorstellung hat, „wieder [zu] finden“ (s.o.). Auch Volker legt seinem Interesse für „schwarze Musik“ eine allgemeine Neigung zugrunde, die sich gegen konkrete geschmackliche Fehlschläge erhält und ihn motiviert, weiter nach „geniale[n] Nummern“ (Z. 49) zu suchen. Darin lässt sich ein bestimmter Anspruch entdecken. Über die LP „There’s a riot going on“ sagt er: „... ich hab am Anfang zwei Stücke gefunden und dann sind es immer mehr Stücke geworden, die mir gefallen haben. Mittlerweile gefällt mir die komplette Scheibe.“ (Z. 62 ff.). Diese Beschreibung belegt einen geschmacklichen Wandel. Nachdem sich die auf Vinyl gepresste Musik nicht ändert, ist es Volker, der an sich eine Veränderung wahrnimmt. Seine Versuche mit „schwarzer Musik“ sind auf eine gewisse Art auch Selbstversuche, in denen er seine Nähe zu einem bestimmten „Flair“ (Z. 54), das ihn anzieht, prüft. Sein Anspruch, man könnte auch sagen sein Entwurf, ist, dazu einen persönlichen Zugang zu finden. Er entwickelt in seiner Beschreibung eine Synchronizität von gelingender geschmacklicher Erfahrung und persönlicher Entwicklung, oder – einfacher ausgedrückt – er beschreibt die Pflege seines Geschmacks. Dieser Gesichtspunkt, der selbstreflexive Umgang mit dem eigenen Geschmack bzw. die aktive Entwicklung des eigenen Geschmacks wird im Folgenden eine wesentliche Rolle spielen, wenn die bildungsbedeutsamen Bezüge der gemeinsamen Reflexion von Matthias und Volker betrachtet werden. Volker legt die LP „There’s a riot going on“ von Sly and the Family Stone auf und spielt das Stück „Family Affair“. In die ersten Takte des Songs hinein singt Matthias leise „It’s a family affair“ und meint: „Das ist geil!“ (Z. 70) Volker schließt gleich darauf an: „Das hat mich ja damals so berührt, wo ich das gehört habe. Da hab ich mir gedacht, so eine Musik möchte ich, genau so eine Musik möchte ich nur hören. Aber ich kenn kein zweites…“ (Z. 71 ff.). Beide, Volker und Matthias, stellen damit ihre Affinität zu dem beginnenden Song heraus: Matthias zeigt durch sein Mitsingen, dass er den Song kennt, 179
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dass er ihn mag und dass er erwartungsfroh zuhört. Diese Aufmerksamkeit und ihr Ausdruck geben dem Song eine besondere Gegenwärtigkeit. Denn Matthias’ Echo greift nicht nur auf seine Erinnerung an den Song auf, er antwortet damit auch darauf, dass dieser Song im Moment anläuft. Volker nimmt noch einmal sein zuvor entwickeltes Motiv des Suchens und Findens auf. „Family Affair“ hat für ihn in diesem Zusammenhang eine herausragende Bedeutung. Dieses Stück hat ihn nachhaltig beeindruckt; es repräsentiert „genau so eine Musik“, wie er sie hören möchte. Diese Erfahrung von Stimmigkeit bleibt dabei in ihrem zeitlichen Bezug („Aber ich kenn kein zweites…“) etwas opak. Dieses Präsens erhellt sich aber, wenn man auf seine vorangegangene Schilderung zurückblickt. Dort zeigt sich, dass dieser Song sehr bedeutsam für Volker ist. Sly and the Family Stone verkörpern das „Flair“, das ihn an „schwarzer Musik“ so anzieht, paradigmatisch. Insofern ist es diese Band, die ihm – insbesondere mit „Family Affair“ – den Zugang zu „schwarzer Musik“ eröffnet. Auch wenn Volker mittlerweile viel „schwarze Musik“ hört, so erlebt er dieses Stück anscheinend immer noch als eine Art Urform, die ihm im Hören gegenwärtig wird. „Family Affair“ setzt mit zwei Takten eines Schlagzeugs ein, das einen leicht synkopierten, recht funk-typischen Rhythmus spielt und von einer EGitarre begleitet wird, die – mit einem Wah-Wah-Effekt belegt – dem Schlagzeugrhythmus folgt. Nach den ersten beiden Takten setzt die volle Instrumentation ein: zu Schlagzeug und Gitarre kommen ein E-Bass und eine elektronische Orgel. Und sofort ist der Song im Refrain: über den Funk-Teppich der Band legt sich eine Frauenstimme und singt zweimal: „It’s a family affair“. Was Rhythmus und Melodie angeht, entwickelt der Song sehr schnell Präsenz. In gerade einmal sechs Takten ist mit einer konzisen Exposition alles da, womit Sly and the Family Stone die nächsten knapp drei Minuten bestreiten. Nach diesem geradlinigen Anfang entwickelt der Song allerdings eine Atmosphäre, die alles andere als simpel ist. Vor die Band schiebt sich jetzt – und zwar eigentlich eher leise und fast müde, auf jeden Fall ohne die zeit- und genretypische Leidenschaftlichkeit – die Stimme des Sängers. Sly Stone singt von zwei Kindern und ihrer Mutter, die beide liebt, obwohl sie eine sehr unterschiedliche Entwicklung nehmen. Keiner der drei kommt der Zusammengehörigkeit aus: one child grows up to be somebody that just loves to learn and another child grows up to be somebody you’d just love to burn blood’s thicker than the mud it’s a family affair
Nach diesem zweiten Refrain und einem kurzen Zwischenspiel – im Grunde setzt dabei nur der Gesang aus, die Band spielt unverändert und etwas selbst180
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vergessen weiter, nur die E-Gitarre baut ihr Wah-Wah-Geplänkel zu einer etwas breiteren Melodie aus – nach diesem Intermezzo folgt die zweite Strophe. Jetzt geht es um eine Ehekrise, ein Dilemma bei dem auch kein Ausweg in Sicht ist: you can’t leave ’cause your heart is there but you can’t stay ’cause you’ve been somewhere else
Songtexte lassen sich nicht als bloße Texte betrachten. Sie stehen immer im Zusammenhang mit dem Song, zu dem sie gehören, und der sie auf spezifische Weise präsentiert. Und oft steht der Song dabei im Vordergrund: „… a song doesn’t exist to convey the meaning of the words; rather the words exist to convey the meaning of the song.“ (Frith 1998, S. 166). Trotzdem lohnt es sich hier, zumindest einen kurzen Blick auf die Thematik des Stücks zu werfen. Es handelt von Verlässlichkeit und Abhängigkeit. Dazu greift es einerseits auf Erfahrungen zurück, die eher konkret und persönlich erscheinen, andererseits zieht es Allgemeinplätze heran. Es fällt auf, dass sich der Text nicht zu irgendeiner Art Moral aufrafft, er endet mit einem Bild der Verzweiflung: you can’t cry ’cause you look broke down but you’re crying anyway ’cause you are broke down
Während der Song textlich wenig Hoffnung aufbringt, vermittelt er musikalisch zunächst eine Art plätschernder Gelassenheit. Er hält sich nach seinem eingängigen Beginn für je zwei Segmente an konventionelle Songstrukturen. Im kurzen Zwischenspiel zwischen erster und zweiter Strophe und nach dem letzten Refrain, nach dem das Stück noch eine gute halbe Minute läuft, wird allerdings etwas anderes hörbar. Was die Band spielt, bestätigt einerseits durchaus Genrekonventionen „schwarzer Musik“ (typische Funk- und SoulElemente lassen sich ausmachen), aber so wie sie es spielt, hat das weder die harmonische Fülle des Soul, noch die rhythmische Pointiertheit des Funk. Es wirkt zugleich unangestrengt und roh. Das Zusammenspiel der einzelnen Instrumente richtet sich nur wenig nach einem gemeinsamen Schema und noch weniger nach Passgenauigkeit untereinander. So kommt es, dass gerade weil sich die einzelnen Instrumente selbst überlassen scheinen, die Band als ganze einen ungeschönten Sound entwickelt, der die mit der Prägnanz der ersten Takte geschaffene Präsenz paradoxer Weise noch intensiviert. Marcus beschreibt das Stück im Vergleich mit anderer „schwarzer Musik“ der Zeit so: „Stimmen ziehen Wörter in die Länge, bis sie ihre ursprüngliche Bedeutung verlieren, während Gitarren, Schlagzeug, Baß, Bläser und Orgel die großartigen Klischees der früheren Musik auf ihr Skelett reduzieren.“ (Marcus 1998, S. 101). Über diesen Sound legt sich die Stimme des Sängers und auch diese 181
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Stimme wirkt ungeschützt. Sly Stone ist ein recht eigentümlicher LeadSänger. Seine Stimme reduziert sich manchmal auf ein fast genuscheltes Sprechen und das im Songtext angedeutete Dilemma ist auch dem Gesang anzuhören. Der gibt sich einerseits souverän und gelassen und zeigt doch zugleich Erschöpfung und Verbitterung. Marcus hält den Sänger für „halb zufrieden, halb verzweifelt“ (ebd., S. 97). Insgesamt ist „Family Affair“ ein Stück, das sich schnell in die gebräuchlichen Muster von Funk und Soul einzupassen scheint, sich bei genauerem Hinhören diesen Mustern aber verweigert und sie mit Ambivalenzen belegt. Diese Ambiguität des Songs ist für die Beschreibungen, die die beiden Freunde aus ihren Eindrücken entwickeln, von großer Bedeutung. Zur Interpretation dieser Beschreibungen, ihres Zusammenhangs und ihrer möglichen Bildungsbedeutung ist noch einmal an den formalen Ablauf der Gesprächssequenz zu erinnern. Obwohl es in den einzelnen Abschnitten zuerst Matthias und dann Volker ist, der über sein je persönliches Verhältnis zur elektronischen Musik und dem, was für ihn damit zusammenhängt, reflektiert, so tun sie das beide doch auch so, dass sie ihren Freund dabei ansprechen. Dadurch gewinnen die Ausführungen von Volker und Matthias zunächst den Charakter des Sich-dem-Freund-Erklärens. Die beiden wenden sich aus dem äußeren Rahmen ‚Interview‘ ausdrücklich jeweils an ihren Freund. Im Laufe der Sequenz verändert sich somit der Kontext ihrer Äußerungen. Zunächst erzählt Matthias und Volker stellt in Bezug auf dessen Schilderung Rückfragen. In Z. 34 ff. nimmt Matthias dann seinen anfangs gegebenen Erklärungsansatz noch einmal auf und entwickelt ihn zu einem Erklärungsmuster weiter (nämlich, dass er auch andere Musik bei Volker kennen gelernt hat und auch diese Musik ihm wichtig wird, gerade weil er sie bei seinem Freund kennen lernt). Mit dieser Aussage entfernt sich Matthias auch inhaltlich von dem am Beginn der Sequenz stehenden Frageinteresse; er spricht jetzt nicht mehr nur über Techno, sondern er rückt die Bedeutung seines Freundes bei der Entwicklung seines eigenen Geschmacks in den Vordergrund. Mit dieser inhaltlichen Verschiebung wandeln sich die Reflexionen von Volker und Matthias. Die beiden sprechen ihren Freund nicht mehr nur an und signalisieren damit, dass sie ihre Erklärungen an ihn richten, sondern sie stellen ihrem Freund jeweils am Ende ihrer Erläuterungen eine Frage (vgl. Z. 41 f. und Z. 65 f.). Im Vorlauf zu Matthias’ und Volkers Einlassungen zu „Family Affair“ entwickelt sich also eine dialogische Reflexion der beiden Freunde. Diese Vorentwicklungen legen nahe, die an sich knappen Bemerkungen zu diesem Song nicht isoliert zu betrachten, sondern als Teil des größeren Bedeutungszusammenhangs, der sich im Gespräch zuvor entfaltet. Zunächst beginnt Matthias nicht direkt über „Family Affair“ zu sprechen, sondern darüber, dass sich sein Eindruck von der LP („There’s a riot going on“) mit dem, den ihm der gerade laufende Song vermittelt, nicht deckt; er 182
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erinnert sich an die LP als weniger „ruhig“ (Z. 79). Auf Volkers Nachfrage versucht er das genauer auszudrücken: „… mehr so gespannt, spannend irgendwie, angespannt irgendwie…“ (Z. 81 f.). Grammatikalisch bezieht sich das natürlich immer noch auf die LP. Allerdings gebraucht Matthias jetzt Adjektive, die nicht mehr äußerliche klangliche Eigenschaften beschreiben – eine Dimension, auf die sich „ruhig“ noch beziehen kann –, sondern auf eine Haltung, die einem entsprechenden musikalischem Ausdruck zugrunde liegt bzw. von einem entsprechenden Klang erzeugt wird. Hier deutet sich an, dass Matthias seine Erinnerung an die LP mit seinem Eindruck von „Family Affair“ in Deckung bringen will. Er fährt fort und formuliert eine dritte Beschreibung. Nach einem knappen Verweis auf Genre-Konventionen („Funk“ in Z. 84) erläutert er seine zuvor gemachten Umschreibungen. Er richtet das Moment der Spannung, das er zuvor umkreist hat, zunächst auf den Sänger des Stücks: Dieser wirkt „… so, als dürfte man ihn nicht falsch anreden, weil sonst etwas passiert.“ (Z. 84 f.). Implizit erläutert Matthias damit auch seine Haltung gegenüber dem Sänger, denn eben wegen der Spannung, unter der dieser wohl steht, ist ihm zumute, als „dürfte“ (dieser Konjunktiv ist wichtig) man den Sänger nicht auf irgendeine Art reizen. Matthias spricht also zugleich über den affektiven Ausdruck des Sängers und über seine eigene Gestimmtheit diesem Ausdruck gegenüber. Er beschreibt diese Gestimmtheit im Konjunktiv; sie ist vorstellbar, sie ist greifbar, aber sie ist nicht unausweichlich oder gar unangenehm. Die Spannung, von der Matthias spricht, ist eine der Faszination, nicht der Anstrengung oder des Misstrauens. Mollenhauer beschreibt Gestimmtheiten dieser Art, die im ästhetischen Erleben manifest sind und zugleich aber nicht faktisch bindend (weil sie sich nach dem oder auch schon im Erleben ändern können: auf Melancholie kann Begeisterung folgen – oder umgekehrt), als einen zentralen Aspekt ästhetischer Erfahrung. Mit ihnen stellt sich ein besonders Verhältnis zur einer alltäglichen, pragmatischen Einstellung ein. „Das Ich im Augenblick der ästhetischen Erfahrung ist ein anders als das, welches die alltägliche Existenznot überstehen muss.“ (Mollenhauer 1990, S. 491). Insofern „… verbinde[t die ästhetische Erfahrung; DK] Selbstgewissheit mit distanzierender Reflexion.“ (ebd., S. 493). Matthias’ Überlegungen lassen sich in diesem Sinn als Dokument einer ästhetischen Erfahrung lesen. Und wenn nun zwar grammatikalisch die LP Objekt von Matthias’ Ausführungen ist, so spricht doch einiges dafür, dass sich diese Ausführungen auch auf den im Moment des Gesprächs laufenden Song beziehen. Matthias’ Vermutung, dass da einiges zurückgehalten wird, unter der Oberfläche aber trotzdem da ist, schmiegt sich eng an das oben skizzierte Spiel des Songs mit Genrevorgaben, unter deren Fassade gerade diese Vorgaben selbst in Zweifel gezogen werden. Im Zusammenhang mit den zuvor von den beiden Freunden angestellten Reflexionen zeigen sich weitergehende Bezüge in Volkers und Matthias An183
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merkungen zu „Family Affair“. Matthias hatte die Entwicklung seines Interesses für elektronische Musik mit seinem Interesse an Volkers Geschmack verknüpft. Volkers Vorlieben und die dazugehörigen geschmacklichen Genealogien sind eine wichtige Orientierung für Matthias. Nachdem er Volker auf seine Geschmacksbiographie anspricht, beginnt der seine Reflexion über sein Verhältnis zu „schwarzer Musik“. Dabei geht es, das wurde bereits benannt, um einen geschmacklichen Nukleus, der – obwohl er, was diesen Teil von Volkers Geschmacksbiographie angeht, nicht am Anfang steht – für Volker doch eine Schlüsselfunktion in Bezug auf sein Verhältnis zu „schwarzer Musik“ innehat (dazu lässt sich popkulturgeschichtlich wie im Zusammenhang des Gesprächsausschnitt auch Techno zählen). Vor diesem Hintergrund (Matthias’ Orientierung an Volkers Geschmack, Volkers Charakterisierung von „Family Affair“ von Sly and the Family Stone als Kernstück seines Interesses für „schwarze Musik“) wird als eine Ebene der Überlegungen der beiden Freunde zu diesem Stück über den Song selbst hinaus auch seine Funktion als Paradigma geschmacklichen Interesses sichtbar. Für Volker geht es um einen wegweisenden Song, der ihm „schwarze Musik“ erschließt, und für Matthias um einen beispielhaften Einblick in die geschmacklichen Interessen seines Freundes. Damit lassen sich Matthias’ und Volkers Einlassungen zu „Family Affair“ weiter interpretieren. Matthias’ erste Spezifizierung „gespannt, spannend irgendwie, gespannt irgendwie“ (Z. 81 f.) weist auf einen Erlebnisaspekt hin, den man bei einem Filmzuschauer wohl Suspense nennen würde. Dazu passen die Erwartung, die der Song auslöst bzw. die er in sich trägt („spannend“), und die fragile Intensität („gespannt“, „angespannt“), die Matthias wahrnimmt. Dann allerdings erläutert er seine Zuschreibungen so, dass das Bild vom Suspense nicht mehr ganz passt: „…als dürfte man ihn nicht falsch anreden, weil sonst etwas passiert.“ (Z. 84 f.). Hier ist auf jene schon angesprochene spezifisch ästhetische Weise die Rede von Zurückhaltung angesichts einer labilen Atmosphäre. Auch dafür, dass etwas nicht passieren darf, lassen sich unzählige filmische Beispiele finden. In einem wichtigen Punkt gerät die cinematographische Parallele hier trotzdem ins Wanken: Matthias bezieht das spezifische Gefallen, das er an „Family Affair“ findet, auf eine Spannung, die sich nicht auflösen soll. Eine solche Haltung würde zumindest vom konventionellen (Erzähl-) Kino wohl enttäuscht. Nicht die Erfüllung oder Enttäuschung einer bestimmten Erwartung (das könnten bei „Family Affair“ ein Wutanfall oder Nervenzusammenbruch sein) stehen als eine Zielperspektive im Zentrum von Matthias’ Erfahrung, es geht gerade um die Aufrechterhaltung der Spannung. Diese Spannung genügt sich selbst. Matthias will – so hat es den Anschein – diese Spannung gewähren lassen und ihr nachspüren, ohne sie aufzulösen. Betrachtet man diesen Gehalt von Matthias’ Reflexion zusammen damit, wie er sich im Gespräch verhält, dann zeigen sich wichtige 184
ERZÄHLTE BILDUNG – MATTHIAS UND VOLKER
Übereinstimmungen. Nachdem Volker in seiner Reflexion über „schwarze Musik“ die zentrale Bedeutung von „Family Affair“ in den Raum stellt, gibt Matthias gleich zu Beginn des Songs durch sein Mitsingen zu erkennen, dass auch er sich auf den Song freut. Dieses Mitsingen signalisiert eine große Nähe zu der Musik, die ihm sein Freund vorspielt, ohne dass damit eine spezifische Bedeutungszuschreibung einhergeht. Matthias überlässt Volker zunächst ‚dessen‘ Song und er lässt ihn seine Haltung dazu soweit entwickeln, bis dieser selbst so etwas wie ein Zwischenfazit gefunden hat. Und als er sich mit einer behutsamen Nachfrage an Volker wendet, ist er nicht nur für sich auf der Suche nach dem treffenden Ausdruck für seinen Eindruck, er versucht dabei zugleich, eine Formulierung zu finden, die auch Volkers Verständnis trifft. So wie er den Song wahrnimmt, als von einer vorsichtig zu begegnenden Spannung getragen, so verhält sich Matthias auch zu Volker. Er fädelt sich behutsam in dessen Gedankengang ein und tastet sich an eine Metapher heran, der auch Volker zustimmen kann. Bezeichnender Weise ist es gerade diese „Gewandtheit“ (Schleiermacher), die Volker zu einer eigenen Metapher in der Beschreibung von „Family Affair“ bringt: „Es ist was am wachsen, es ist noch nicht so ausgegoren.“ (Z. 86 f.). Indem sich Matthias anscheinend bemüht, seinen Eindruck so zu beschreiben, dass er auch Volkers Verhältnis dazu trifft, gibt er seinem Freund den Anstoß dazu, seinen Eindruck zu erläutern. Denn in seiner Antwort auf Matthias Annäherung geht Volker auch darüber hinaus, was er zuvor über „Family Affair“ gesagt hat. Zunächst spricht er ja nur von einer intensiv erlebten Stimmigkeit; woran sich diese Stimmigkeit festmacht, worin die paradigmatische Qualität des Songs besteht, das bleibt noch unbestimmt. Erst in seiner Antwort auf Matthias geht Volker auf diesen Aspekt ein. Seine Metapher und sein Verweis auf den „aggressiv[eren]“ (Z. 88) und insofern auch eindeutigeren – eben „straight“ (ebd.) wirkenden – Stil von James Brown, den er zur Abgrenzung heranzieht, verweisen auf ein Leitmotiv seiner fast schon identifikatorischen Nähe zu „Family Affair“. Das Stück ist deshalb Musik, die er „nur“ und „immer“ hören will und kann, weil es sich nicht an seiner Oberfläche preisgibt, sondern zu sich selbst in einem veränderlichen, nicht festgelegten Verhältnis steht. Für beide Freunde geht es in dieser Sequenz über den konkreten Song hinaus auch ganz allgemein um zentrale Motive ihres Geschmacks. Matthias reflektiert mit seinem Freund, auf dessen Interessen er seinen Geschmack mit aufbaut, grundlegende Qualitäten „schwarzer Musik“. Mit der metaphorischen Beschreibung, die er findet, und in seinem sprachlichen Verhalten entwickelt er eine bemerkenswerte Polysemie: Das, was den Song für ihn anspricht, Einfühlung, Nachspüren, gespannt bleiben, das macht auch sein Verhältnis zu seinem Freund und dessen geschmacklichen Interessen aus. Matthias beschreibt nicht nur den Song, er beschreibt auch paradigmatisch, wie es 185
FREUNDSCHAFT, INTERSUBJEKTIVITÄT UND ERFAHRUNG
ist, wenn ihm Volker einen Song vorspielt. Gespannte Aufmerksamkeit und Gewandtheit, das ist nicht nur die Haltung, die ihm der Song abverlangt, es ist auch die Haltung, aus der er über Volkers Interessen seinen eigenen Geschmack entfaltet. Volkers Sinnbild vom sich entwickelnden Song zeugt ebenfalls von einer Grundhaltung, die sich nicht nur auf „Family Affair“ bezieht. Auch für ihn geht es um etwas, für das dieser Song zwar steht, das sich in ihm aber nicht erschöpft. Volker entwickelt seine Metapher dabei auf eine erklärende, antwortende Art, und doch – oder gerade insofern – im Rahmen von Matthias’ tragender und aufmerksamer Zugewandtheit. Hier zeigt sich, dass diese Sequenz paradigmatisch das Verhältnis zwischen Volker und Matthias vorführt, wie es sich auch an anderer Stelle im Gespräch zeigt (s.o.). Es lässt sich eine Art paritätischer Asymmetrie feststellen, bei der Volker derjenige ist, der das Gespräch inhaltlich führt, und Matthias der, der ihm folgt. Dabei ergibt sich auf eine komplementäre Weise eine gemeinsame Reflexion, die für beide – auf je spezifische Weise – bildungsbedeutsam ist. Für beide geht es um ihren Geschmack und darum, wie sie mit ihrem Geschmack, also auch mit sich selbst, umgehen.
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4. Resümee der drei Falldarstellungen
W i c h t i g e As p e k t e d e r f r e u n d s c h a f t l i c h e n Beziehungen Erinnerung Es ist eine der grundlegenden Orientierungen dieser Arbeit, Freundschaft als Praxis zu untersuchen und dazu das Gespräch unter Freunden als einen wichtigen Teilbereich dieser Praxis in den Blick zu nehmen. Die spezifische Auswahl von Gesprächspartnern (Freundespaare, die sich auch selbst als solche bezeichnen) macht indes Freundschaft auch zum Thema der Gespräche. Die primäre Ausrichtung auf gemeinsame Interessen der Freunde schließt Fragen nach der Bedeutung, die die Freunde ihrer Beziehung reflexiv zuschreiben nicht aus und sie kann und soll die Freunde selbstredend auch nicht daran hindern, von sich aus über ihre Beziehung zu sprechen. Robert und Jürgen erinnern sich an ein wichtiges Gespräch „über Frauen“ (Robert) zu Beginn ihrer Freundschaft. Hannes und Roland greifen auf eine Episode aus der „Pubertät“ (Roland) zurück, in der sie beide in das gleiche Mädchen verliebt waren. Und auch Volker und Matthias erzählen davon, wie sich ihre Beziehung verändert hat, nachdem Volker aus dem Mietshaus ausgezogen ist, in dem zuvor Matthias und er je eine Wohnung hatten. In diesen Sequenzen zeigt sich die Erinnerung an wichtige, meist frühe Stationen ihrer Beziehung, wenn man so will an ihre Vorgeschichte, als eine für die Freunde bedeutsame Dimension. Freundschaft hat insofern nicht nur den Charakter eines Versprechens, den ihr Derrida zuschreibt, wenn er sie als „Appell, der in die Zukunft weist“ (Derrida 1999b, S. 184), versteht und damit hervorhebt, dass für Freundschaften die Intention, befreundet sein zu wollen und sich so zueinander zu verhalten, wesentlich ist und nicht etwa ein Anspruch auf ihre Gegebenheit. Freund-
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FREUNDSCHAFT, INTERSUBJEKTIVITÄT UND ERFAHRUNG
schaften tragen sich auch darüber, dass Freunde einander versichern, was sie in ihrer gemeinsamen Vergangenheit vereint hat.
Performativität Immer wieder (auch im Zuge der o.g. gemeinsamen Erinnerung) lassen sich Sequenzen beobachten, in denen die Freunde die freundschaftliche Qualität ihrer Beziehung performativ erzeugen. Matthias und Volker setzen den gerade genannten Ausschnitt mit einer Anekdote fort, in der sie die Reaktionen von Matthias’ Freundin auf Volkers Appartement ironisch nachspielen. Mit dieser Kommentierung geht ein Anspruch an die Qualität der eigenen Beziehung einher: in ihr ist es legitim, sich über wichtige dritte Bezugspersonen lustig zu machen. Roland und Hannes gehen behutsam mit den geschmacklichen Unterschieden um, die sich zwischen ihnen entwickelt haben, und entlasten ihre Beziehung damit von diesen Differenzen. Jürgen und Robert sprechen von dem wichtigen Gespräch am Beginn ihrer Freundschaft so, dass deutlich wird, dass sie über eine detailliertere Erinnerung verfügen als sie im Moment des aufgezeichneten Gespräches preisgeben wollen. Sie wahren Diskretion und machen ihre Freundschaft zu einem Raum besonderen gegenseitigen Vertrauens, indem sie unterscheiden, was zwischen ihnen und was nach außen angemessen ist. Diese Beobachtungen bestätigen die vielerorts begegnende These, dass Freundschaft sich nicht durch bloße Absichtserklärungen einstellt, sondern in einer Praxis des Verhaltens zueinander besteht.50
Freundschaftskonzepte Neben dieser performativen Gestaltung zeigt sich auch, dass die Freunde die spezifische Ausformung ihrer Beziehung nicht nur in ihrem je konkreten Verhalten zueinander erzeugen, sondern dass sie von ihrer Beziehung auch spezifische Vorstellungen haben, auf die sie sich in ihrem Verhalten zueinander beziehen. Die gemeinschaftliche Artikulation dieser gemeinsamen Entwürfe bzw. das komplementäre Ineinandergreifen jeweils individueller Ansprüche der Freunde verweist darauf, dass sie ihre Beziehung nicht nur in permanenter
50 Dieser Aspekt ist schon bei Aristoteles zu finden. Für ihn ist die Freundschaft nicht nur eine Tugend, sondern auch eine Form des Verhaltens: „Wenn die Freunde zusammen leben, so erfreuen sie sich aneinander und tun sich Gutes, wenn sie aber schlafen oder räumlich getrennt sind, so betätigen sie ihre Freundschaft zwar nicht, behalten aber den entsprechenden Habitus.“ (Aristoteles 1983, S. 188 f.). Auch Auhagen versteht Freundschaft „als Prozess“ (Auhagen 1993, S. 224) und Lemke hält diesen Aspekt für so wesentlich für Freundschaften, dass er dafür den Begriff des „Freundens“ (Lemke 2000, S. 90) einführt. 188
RESÜMEE DER DREI FALLDARSTELLUNGEN
Aushandlung formen, sondern auch ein relativ dauerhaftes Konzept dieser Beziehung entwickeln. Robert und Jürgen implizieren beim gemeinsamen Erzählen darüber, wie sie zusammen als DJs auftreten, ein Schema, das sich als ein Sinnbild ihrer Beziehung verstehen lässt. Untereinander erfahren sie Differenz und interessieren sich für das Anders-Sein des Freundes, nach außen („für die Leute“, so Robert) nehmen sie Homogenität und Zusammengehörigkeit für sich in Anspruch. Roland und Hannes reflektieren im Anschluss an die Erinnerung an die o.g. Episode aus der „Pubertät“ darüber, welche Lebensbereiche („Ebenen“, so Hannes) auf welche Weise von ihrer Freundschaft affiziert werden und sehen für ihre Beziehung die Möglichkeit, Distanz voneinander und Nähe zueinander in Balance zu bringen. Im Gespräch mit Volker und Matthias lässt sich eine entsprechende gemeinsame Reflexion oder ein gemeinsam entwickeltes Bild nicht finden. Allerdings formulieren die beiden individuell Erwartungen, die ihrem jeweiligen Zugang zu ihrer Freundschaft innewohnen. Für Volker ist es wichtig, dass er sich beim Musikhören darauf verlassen kann, dass Mithörer ein echtes Interesse an der Musik haben und die Intimität, die er dem Musikhören zuspricht, respektieren. Damit benennt Volker Ansprüche an das gemeinsame Musikhören mit Matthias, das ein zentraler Aspekt in der Freundschaft der beiden ist. Matthias wiederum beschreibt es als ein für ihn wichtiges Erlebnis, wenn er Musik, von der er nur eine vage Vorstellung hat bzw. an die er sich nur blass erinnert, „wieder finden“ kann. Dass dies auch eine Erwartung ist, die er an seine Freundschaft mit Volker richtet, dass er also in dieser Beziehung sein geschmackliches Interesse füllen und erweitern will, zeigt sich z.B. in der Sequenz, in der die beiden Freunde beschreiben, wie sich Matthias von Volker Platten leiht oder in ihrer Reflexion über Sly and the Family Stone. Bei den untersuchten Freundschaften lassen sich damit zwei weiterführende Aspekte aufzeigen: Einerseits finden sich auch innerhalb gemeinschaftlich artikulierter und symmetrischer Entwürfe Differenzierungen (bei Robert und Jürgen geht es z.B. um Unterschiede im Rahmen eines grundlegend ähnlichen Musikgeschmacks, bei Hannes und Roland um einen Rhythmus von Nähe und Distanz); andererseits findet sich daneben – bei Matthias und Volker – ein komplementäres und damit asymmetrisches Muster. Diese Asymmetrie verweist auf einen wichtigen Gesichtspunkt: den Umgang mit Differenz. Prengel entwickelt eine „demokratische Differenzvorstellung“ (Prengel 1993, S. 181), die hier hilfreich ist. „Ausgangspunkt eines demokratischen Differenzbegriffs ist, dass er sich gegen Hierarchien wendet. Es geht um die Entwicklung egalitärer Differenz!“ (ebd.). Dies „…beinhaltet Offenheit für … Inkommensurables.“ (ebd.). Im Verzicht auf ein maßgebendes Drittes liegt die Bedingung für die Gleichberechtigung von Verschiedenen. Zweifelsohne gibt es Unterschiede zwischen Matthias und Volker, beispielsweise eine mehr oder 189
FREUNDSCHAFT, INTERSUBJEKTIVITÄT UND ERFAHRUNG
weniger deutliche Geschmackshierarchie, doch diese Unterschiede werden nicht thematisch; thematisch werden vielmehr die in ihrer jeweiligen Ausprägung zwar verschiedenen, in ihrer allgemeinen Ausrichtung aber übereinstimmenden Intentionen der Freunde: beide wollen in ihrer Beziehung gelingende Erfahrungen machen. In den jeweils beobachtbaren Reflexionen der eigenen Erwartungen an die freundschaftliche Beziehung und an den Freund sowie in einem entsprechenden Verhalten zueinander entfalten Volker und Matthias in ihrer Freundschaft eine Verbindung von Komplementarität und Parität. Freundschaft, so lässt sich verallgemeinernd anschließen, besteht in einem nicht hierarchischen Umgang mit Differenz. In der Unterscheidung zwischen persönlicher und gemeinsamer Perspektive (diese Figur lässt sich in unterschiedlicher Form bei allen drei Freundespaaren entdecken) schaffen die Freunde die Möglichkeit, Differenz in ein gemeinsames Ganzes zu integrieren. Als integraler Bestandteil ihrer Beziehung ist Differenz damit der Funktion einer normativen Distinktion enthoben.
Gegenstände der Beziehung In den untersuchten Freundschaften beziehen sich die Freunde auf die Gegenstände ihres gemeinsamen Interesses auf zwei Bedeutungsebenen. Einerseits sind diese Gegenstände Thema in ihrer Beziehung. Den Freunden geht es z.B. darum, „… zu welcher Zeit das … war, was da … für Leute dranhängen oder was es da für andere Bands gibt. Was vielleicht noch so ähnlich klingt.“ (Matthias, s.o.), sie streiten sich darum, ob man zwei Bands miteinander vergleichen kann oder nicht (Robert und Jürgen), oder sie diskutieren darüber, welche Auswirkungen es hat, vermehrt selbst gebrannte CDs anstatt solcher zu hören, die man sich selbst im „Plattenladen“ (Roland) ausgesucht hat. Andererseits sind die gleichen bzw. ähnliche Gegenstände auch Anlass einer reflexiven Thematisierung ihrer Bedeutung für die Freunde bzw. für ihre Beziehung. Hannes und Roland beispielsweise erinnern sich spielerisch an ihren ersten Kontakt mit der lokalen Szene der Teds und konstruieren darüber ein Stück gemeinsame Biographie. Robert und Jürgen richten beim gemeinsamen Musikhören ihre Aufmerksamkeit darauf, ob „… jemand persönlich voll dahinter steht…“ (Robert) und entwickeln damit auch eine Haltung, die für sie selbst bedeutsam wird. Matthias und Volker schließlich hören gemeinsam französische „House-Musik“ (Volker) und schließen daran eine Reflexion über den Umgang mit Erfahrungsbeschreibungen beim Musikhören an. Diese Unterscheidung zwischen, wenn man so will, transitivem und reflexivem Bezug auf die gemeinsamen Gegenstände hat vorrangig analytische Funktion. In den einzelnen Gesprächssequenzen (einschließlich der gerade genannten) lassen sich damit Tendenzen unterscheiden – auch wenn davon auszugehen ist, 190
RESÜMEE DER DREI FALLDARSTELLUNGEN
dass auch solche Ausschnitte, in denen es um eine vermeintlich objektive Perspektive geht, reflexive Gehalte implizieren. Bei Dewey finden sich zwei Aspekte, die dieser zu den Kerneigenschaften einer ästhetischen Erfahrung zählt und die die hier entworfene Differenzierung weiter konturieren. Zum einen geht es Dewey wie bereits erwähnt um das prozessuale Zustandekommen einer Erfahrung, das sich wesentlich durch Konstruktivität auszeichnet, er spricht von einem „beständigen, kumulativen Vorgang“ (Dewey 1988a, S. 64) und einem „Organisationsprozess“ (ebd., S. 68). Daneben hebt er als Eigenschaft der ästhetischen Erfahrung auch hervor, dass sich in ihr eine besondere Aufmerksamkeit formiert. Dazu trifft er die ebenfalls schon herangezogene Unterscheidung zwischen „Wiedererkennen“ und „Perzeption“ (ebd., S 66). Erst über eine bewusste und reflektierte Wahrnehmung kann es zu neuer Erkenntnis kommen. Diesen Aspekt greift Lehmann-Rommel auf und charakterisiert ihn als Grundgedanken, der sich durch das gesamte Werk von Dewey zieht: „Aufmerksamkeit für Situationen ist für Dewey der Schlüssel nicht nur seiner Ästhetik, sondern auch seiner Logik, Ethik und Gesellschaftstheorie.“ (Lehmann-Rommel 2005, S. 71). Die Bedeutung der Aufmerksamkeit lässt sich also systematisch ausweiten. „Das Unbekannte in konkreten Situationen zu entdecken wird bei Dewey die Quelle von ästhetischer Erfahrung ebenso wie von Lernen.“ (ebd., S. 72 f.). Unabhängig davon, ob in den o.g. Sequenzen dominant ästhetische oder eher biographische Erfahrungen zur Sprache kommen: der reflexive Umgang der Freunde mit ihren Themen zeichnet sich durch eine konstruktive Überschreitung des konkret Gegebenen und das Gewahren neuer Aspekte aus. Allerdings wäre eine Auffassung, die nur solche Erfahrungen wertschätzt, die neue Zusammenhänge hervorbringen, eine Verkürzung. Die Entwicklung von Erkenntnis, das Lernen in Situationen kann nicht unmittelbar geschehen, sondern fußt bei aller dazu nötigen kreativen Konstruktivität auch auf einem Bestand bekannter Zusammenhänge. „In ihrer ‚Unmittelbarkeit‘ sind Situationen zugleich durch und durch bedingt und vermittelt, da sich in ihnen immer frühere Interaktionen niederschlagen.“ (ebd., S. 71). Treffender lassen sich die transitiven und reflexiven Tendenzen der Freunde im Umgang mit den Themen ihrer Beziehung also so verstehen: Im ersten Fall formiert sich der Erfahrungsraum, aus dem – im zweiten Fall – einzelne signifikante Erfahrungen hervorgehen. Mit Bezug auf das für die Untersuchung gewählte Gegenstandsfeld der Popmusik lässt sich schließlich feststellen, dass sich zwar grundsätzlich das Modell von Wright bestätigt, der für männliche Freundespaare eine Ausrichtung „side-by-side“ (Wright 1982, S. 8) beschreibt; darüber hinaus zeichnet sich allerdings das Bild eines Dreiecksverhältnisses mit Variationen ab. Für Roland und Hannes wird Popmusik über die Szene der Teds in ihrer Jugend und Adoleszenz zu einem zentralen Erfahrungsfeld; nachdem sich zwischen ihnen geschmackliche Differenzen entwickelt haben, hat sie gegenwärtig 191
FREUNDSCHAFT, INTERSUBJEKTIVITÄT UND ERFAHRUNG
nicht mehr diese unmittelbare Bedeutung für ihre Beziehung. In der Freundschaft von Matthias und Volker spielt Popmusik dagegen eine sehr wichtige Rolle. Die Dimensionen von Popmusik als Erfahrungsfeld und Beziehungsraum überschneiden sich hier in großen Teilen. Bei Jürgen und Robert ist Popmusik als atmosphärisches Moment auch am Beginn ihrer Freundschaft wichtig, sie bewirkt, dass die „Grundstimmung passt“, so Robert. In ihrer Freundschaft wird sie dann aber auch zu einem zentralen Gegenstand der Beschäftigung, der – so wie sich das in ihrer Reflexion zum gemeinsamen Auftreten als DJs zeigt – für ihre Beziehung von struktureller Bedeutung ist. Verallgemeinert man diese Beobachtungen, werden ganz unterschiedliche Möglichkeiten von side-by-side-Konstellationen sichtbar: Freundschaften können Themen mit einbeziehen und sie wieder aufgeben, sie können sich ganz substanziell auf Themen beziehen und sie können sich an Themen weiterentwickeln.
Freundschaft als spielerische Beziehung Die oben dargelegten Aspekte – (a) das Rekurrieren auf die Vorgeschichte der Freundschaft, (b) die performative Gestaltung der Beziehung, (c) der Bezug auf konzeptuelle Vorstellungen von der freundschaftlichen Beziehung und (d) die Thematisierung gemeinsamer Interessen auf transitive und reflexive Weise sowie die Variabilität des Bezugs auf einen gemeinsamen Gegenstand in der Beziehung – sind nicht nur je für sich von Bedeutung. Sie lassen sich auch in eine umfassende Betrachtungsweise zusammenfügen, die ihrerseits für anschließende bildungstheoretische Überlegungen wichtige Anstöße geben kann: Die untersuchten Freundschaften lassen sich als spielerische Beziehungen verstehen. Zunächst bezieht sich der Begriff des Spiels darauf, dass in Freundschaften pragmatische Bestimmungen insoweit suspendiert sind, als es den Freunden nicht um äußere (theoretische, praktische oder moralische) Zwecke geht, sondern umeinander. Allerdings ist ihr Umgang miteinander durchaus geprägt vom Anspruch, in ihrer Beziehung Erfahrungen zu machen und ein für gut erachtetes Verhalten zueinander zu pflegen. Diese Dialektik entspricht einer bildungstheoretischen Figur, die Schiller prominent entwickelt hat. Ausgehend von der anthropologischen Überlegung, dass der Mensch über dualistische Dispositionen verfügt – eine sinnliche, empfindsame und eine geistige, rationale Seite, die sich in einem „Stofftrieb“ (Schiller 2000, S. 60) und einem „Formtrieb“ (ebd., S. 48) äußern – entwickelt er das Konzept eines „Spieltriebs“ (ebd., S. 60), der aus einem egalitären, ganzheitlichen und zweckfreien Gebrauch beider Vermögen hervorgeht. Schillers Ansatz ist hier hilfreich, 192
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weil er darauf aufmerksam macht, dass zwischen den Erfahrungen, die die Freunde in ihrer Beziehung machen, und der freundschaftlichen Qualität dieser Beziehung gegenseitige Verstärkungen anzunehmen sind.51 Das Moment der Freiheit im Spiel ist ein Aspekt, den auch Winnicott aufgreift (vgl. Winnicott 1997, S. 65), um sein Konzept des potentiellen Raums zu entwickeln. Die „… innere, persönliche psychische Realität und die wirkliche Welt, in der der einzelne lebt…“ (ebd., S. 119), lassen sich für Winnicott nicht als einfacher Dualismus verstehen; für ihn ist es notwendig, einen „dritten Bereich, den der kulturellen Erfahrungen als Derivat des Spiels, anzuerkennen und einzubeziehen.“ (ebd., S. 119; H.i.O.). Im Spiel und im ästhetisch-kulturellen Erleben sind wir weder der mit äußeren Realität verpflichtet, noch sind wir auf unsere psychischen Dispositionen festgeschrieben, sondern befinden uns in einem Zwischenraum der individuellen Erfahrungen und symbolischen Bedeutung. (vgl. ebd., S. 123 ff.). Dieser „potentielle Raum“ (ebd., S. 124) mit seinem besonderen Erfahrungsmodus entwickelt sich für den Psychoanalytiker Winnicott aus der gelingenden Ablösung des Kleinkindes von der Mutter; es geht dabei um die Auflösung einer präobjektiven Einheit und den Aufbau einer vertrauensvollen Mutter-Kind-Beziehung, die dem Getrennt-Sein die Bedrohlichkeit nimmt. Das „... Kind kann dann beginnen, Symbole zu verwenden, die in gleicher Weise für Phänomene der äußeren Welt wie für die des einzelnen Menschen … stehen.“ (ebd., S. 126). Dieser spielerisch-kreative Umgang mit der Welt ist für Winnicott allerdings nicht nur ein kindliches Phänomen; er ist ebenso möglich, „…wenn wir eine Symphonie von Beethoven hören, in eine Gemäldegalerie gehen … [oder bei] Teenagern, die an einer Pop-Veranstaltung teilnehmen.“ (ebd., S. 123). Das Spiel ist indes nicht nur Ort und Modus der Hervorbringung von Bedeutung. Es ist ebenso ein Feld, das regelhaft funktioniert bzw. von Regeln erzeugt wird. Bourdieu vergleicht die spezifischen Codierungen einer sozialen Umgebung mit den Strukturen eines Spiels: „Beim Spiel zeigt sich das Feld (d.h. Spielraum, Spielregeln, Einsätze usw.) eindeutig, wie es ist, nämlich als eine willkürliche und künstliche soziale Konstruktion…“ (Bourdieu 1997, S. 123; zur Metapher des Spiels bei Bourdieu vgl. auch Krais/Gebauer 2002, S. 53 ff. und S. 79 ff.). Allerdings besteht zwischen wirklichen Spielen und sozialen Feldern ein gewichtiger Unterschied. Der Eintritt in ein soziales Feld kann sich fundamental vom dem in ein Spiel unterscheiden. Denn beim wirklichen Spiel „…schließt man gewissermaßen einen bisweilen explizit formulierten Vertrag (olympischer Eid, Aufruf zum fairplay, und vor allem Anwesenheit eines Schiedsrichters) an dessen Einhaltung alle gemahnt werden, die 51 Es soll hier nicht um eine Ästhetisierung von Freundschaft gehen. Schillers Argumentation lässt sich heranziehen, weil er die Erfahrung der „Schönheit“ (Schiller 2000, S. 58), die Gegenstand des Spieltriebs ist, mit einer ethischen Dimension versieht und so auch mit der Sphäre der Sozialität verknüpft. 193
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derart im Spiel aufgehen, dass sie vergessen, dass es sich um ein Spiel handelt… Dagegen entscheidet man sich in sozialen Feldern, die im Ergebnis eines langwierigen und langsamen Verselbständigungsprozesses sozusagen Spiele an sich und nicht länger Spiele für sich selbst sind, nicht bewusst zur Teilnahme…“ (Bourdieu 1997, S. 123.). Doch gerade im Blick auf diese Differenz hat der Vergleich für Bourdieu heuristischen Nutzen. „Man weiß um so weniger von alledem, was man durch seinen Einsatz auf diesem Feld und das Interesse an seinem Vorhandensein und Fortbestand … stillschweigend zugesteht und ist sich aller ungedachter Vorraussetzungen, die das Spiel unablässig produziert, … um so weniger bewusst, je unmerklicher und früher man sich auf das Spiel und die damit zusammenhängenden Lernprozesse einlässt, wobei man im Extrem natürlich in das Spiel hineingeboren, mit ihm geboren wird.“ (ebd., S. 124). Die Subjekte üben sich durch die Teilnahme an einem sozialen Feld also in dieses ein und passen sich ihm (je weniger das Feld für sie als solches sichtbar ist, umso weniger bewusst) in ihren Einstellungen und Verhaltensweisen an. Betrachtet man die freundschaftlichen Beziehungen nun versuchsweise als Feld, so ist schnell ersichtlich, dass es dort nicht nur feldspezifische Verhaltensweisen gibt, sondern dass die Freunde „Vorhandensein und Fortbestand“ (s.o.) ihres Feldes reflektieren und sich aktiv und bewusst an dessen „Verselbständigungsprozess“ (s.o.) beteiligen. In den verschiedenen Formen, in denen die Freunde in ihren Gesprächen über einen Dialog pragmatischer Ausrichtung hinausgehen (durch gemeinsames Erzählen, durch das Sprechen für den Anderen, durch die Wahrung von Diskretion vor Dritten, durch die unterstützende Begleitung, die sie sich beim Erzählen zukommen lassen, durch ihr gemeinsames Nachspielen von Situationen), zeigt sich, dass es wesentlich auch der Umgang der Freunde miteinander ist, in dem sich der besondere Charakter ihrer Beziehung formiert. Diese Ebene der je konkreten, performativen Gestaltung der Beziehung ist auf die Ebene ihrer Kristallisation in Anekdoten und konzeptuellen Entwürfen bezogen wie sich Spielregeln und konkretes Spielen aufeinander beziehen. Mit Blick auf die Dimension ihrer Regelhaftigkeit lässt sich Freundschaft also als reflektiertes Spiel verstehen. Die Freunde entwickeln so nicht nur den besonderen Charakter ihrer Beziehung, sondern sie ermöglichen sich auch die besonderen Erfahrungen, die sie in ihrer Beziehung machen. Ihre Freundschaft wird zu einem Ort der Hervorbringung von Bedeutung. Erfahrungsraum und Erfahrung in den untersuchten Gesprächen stehen in dieser Hinsicht in einem ähnlichen Zusammenhang wie der Spielgegenstand (bei Ballspielen also ein Ball) und seine je situative Signifikanz (also die Position des Balls im Raum, die ganz unterschiedlich bewertet wird). Ob ein Thema zwischen den Freunden zur Artikulation einer wichtigen Erfahrung führt, hängt davon ab, wie die Freunde damit umgehen. So wie bei Ballspielen also nicht nur mit und um den Ball, sondern 194
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auch mit und um den Raum gespielt wird, so beziehen sich auch die Freunde auf die Gegenstände ihrer Interessen. Sie widmen ihnen eher transitive oder eher reflexive Aufmerksamkeit und Bedeutung. Die Dinge und Themen, über die die Freunde sprechen, hängen in ihrer Bedeutung also davon ab, wie die Freunde miteinander über sie sprechen. Insgesamt verdeutlicht eine Betrachtung von Freundschaft als Spiel in den Dimensionen von Regelhaftigkeit und praktischem Vollzug einerseits sowie der Genese von Bedeutung andererseits, dass Freundschaften von den Freunden auf je spezifische Weise – mit eigenen Regeln und Gegenständen sowie deren Reflexion – als sozialer Raum gestaltet und zum Erfahrungsraum werden. Dies steht auch im Zusammenhang mit geschlechtervergleichenden Untersuchungen von Freundschaften, auf die in Kapitel 1 verwiesen wurde. Die geschlechtspezifische Thematisierung von Freundschaft ist eine unerlässliche Korrektur eines einseitigen Verständnisses von Freundschaft als von Männern geführter Beziehung, wie es sich beispielsweise noch bei den „Altsoziologen“ (Sagebiel 1997, S. 45) Simmel und Tenbruck finden lässt. Der Geschlechtervergleich zeigt zudem wichtige geschlechtsspezifische Interaktionsmuster auf; zu erinnern ist nur an Wrights pointierte Unterscheidung, Frauen agierten „face to face“ und Männer „side by side“. In geschlechtervergleichenden Arbeiten zur Freundschaft begegnet darüber hinaus allerdings eine Tendenz, die aus einer Sichtweise von Freundschaft als spielerischer Beziehung fragwürdig erscheint. Auhagen stellt fest: „Insgesamt deuten viele Arbeiten darauf hin, dass Frauen an ihre gleichgeschlechtlichen Freundschaften intimer, holistischer aber auch facettenreicher herangehen als Männer…“ (Auhagen 1993, S. 222). Wenn Freundschaft wie ein Spiel verstanden werden kann, bei dem nach eigenen Regeln und durch eine eigene Praxis ein Erfahrungsraum konstruiert wird, in dem die Freunde je konkrete Erfahrungen machen, so werden demgegenüber Differenzierungen nötig. Nicht nur die Gegenstände der Beziehung und nicht die allgemeine Bestimmung gemeinsamer Aktivitäten, sondern wesentlich auch die konkrete und spezifische Art des Umgangs miteinander und die daraus hervorgehenden subjektiven Erfahrungen sind wichtige Dimensionen von Freundschaften. Ein Vergleich in Perspektive auf vermeintlich objektive Kategorien wie z.B. Intimität hat daher nur begrenzte Aussagekraft. Insofern ist Winstead zuzustimmen, die schreibt: „… perhaps ‚intimacy‘ means one thing to females but something else altogether for males.“ (Winstead 1986, S. 84).
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Bildung – inhaltliche Bezüge Biographie Eine wichtige Rolle in den Gesprächen spielt die biographische Reflexion. In verschiedenen Formen thematisieren die Freunde ihre Lebensgeschichte. Zum einen, indem sie dem Andern von sich erzählen. Eindrücklich ist dies z.B. in der Sequenz zu beobachten, in der Volker Matthias von der sukzessiven Verbesserung seiner HiFi-Ausstattung erzählt und dabei nicht nur von technischem Gerät berichtet, sondern implizit auch von der Überwindung von Herkunftsbedingungen. Beim Erzählen als Form biographischer Reflexion sind verschiedene Aspekte von Bedeutung. Dazu gehört die „Stimmung“ (Ricoeur 1986, S. 225), bei der sich über eine besondere Form der Erzählung eine besondere Aufmerksamkeit für Bedeutungsebenen jenseits des wörtlichen Gehalts des Erzählten einstellt. Dieses Moment scheint auch im Gespräch mit Hannes und Roland auf, besonders in der Sequenz, in der sie sich gemeinsam an ihre ersten Kontakte mit der lokalen Szene der „Teds“ erinnern; ebenso bei Jürgen und Robert, z.B. dann, wenn sie über ihr gemeinsames Auftreten als DJs nachdenken. Dazu gehört aber auch ein aktives Zuhören des Anderen, der durch Nachfragen, Anmerkungen und Kommentare signalisiert, dass er mitdenkt und die Erzählung seines Freundes begleitet. Dieses Echo einer parallelen Reflexion trägt das Erzählen als Form lebensgeschichtlicher Reflexion mit. Eine weitere Form dieser Reflexion in den untersuchten Gesprächen ist da zu beobachten, wo die Freunde ihre individuellen Sichtweisen einander gegenüberstellen. Anschaulich lässt sich das in der Szene nachvollziehen, in der Jürgen und Robert darüber sprechen, ob sie noch Interesse an einem DiscoBesuch haben. Beide Freunde vergleichen zunächst ihr Selbstbild, wobei nach anfänglichen Parallelen Unterschiede zutage treten. In der Thematisierung dieser Unterschiede werden Differenzen zwischen dem Bild, das Jürgen von sich selbst hat, und dem Bild, das Robert von seinem Freund hat, deutlich. Jürgens Befund (bei dem er seine Selbstsicht als entscheidendes Kriterium gegenüber der Einschätzung dritter herausstellt) verweist darauf, dass der Vergleich mit dem Freund nicht nur als Erfahrung von Übereinstimmung, sondern auch in der Erfahrung von Differenz Anlass biographischer Reflexionen ist. Eine dritte Form, in der die Freunde in ihrer Beziehung ihre Lebensgeschichte entfalten, ist die Artikulation gemeinsamer Erfahrungen. Wenn Hannes und Roland gemeinsam von ihrer ersten Begegnung mit den Teds erzählen und sich dabei als Sprecher in dieselbe Subjektivität52 einfädeln, wenn sie 52 Siehe Anm. 38 in Erzählte Bildung – Hannes und Roland. 196
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auf dem Wege „subjektiver Anverwandlung“ (von Hentig 2004, S. 118) das gemeinsam Erlebte noch einmal durchspielen, so ermöglichen sie sich damit einen gemeinsamen Eintritt in die durch dieses Nachspielen erzeugte Gegenwärtigkeit des Erlebten. Gleichzeitig ist ihr Gespräch aber auch Reflexionsraum, in dem das Erlebte kommentiert wird und in dem sich die beiden in ein Verhältnis zum gemeinsam erinnerten Erlebnis setzen. Hier verknüpfen sich die Dimensionen von Freundschaft als Erfahrungsraum und Freundschaft als Ort der Erinnerung zur gemeinsamen Konstruktion von Biographie. Insgesamt zeigt sich, dass die Freunde ihre Beziehung als Raum (zur Entfaltung von Erzählungen) und Medium (über die vergleichende Thematisierung ihrer Biographie und der dadurch sich ergebenden Kongruenz oder Differenz zum Freund) nutzen. Darüber hinaus werden die Freunde auch zu KoAutoren ihrer Biographien, indem sie Teile ihrer Lebensgeschichte gemeinsam entwerfen. Dabei vollzieht sich diese gemeinsame Konstruktion von Biographie nicht nur durch eine gegenseitige Anerkennung, wie sie Marotzki als „synchrone Reflexion“ (Marotzki 1999, S. 64) beschreibt. Lebensgeschichte wird unter Freunden auch in einem originär gemeinschaftlichen Modus der Ko-Konstruktion erzählt.
Freundschaftskonzepte Die Entwürfe, die sich die Freunde von ihrer Beziehung machen, spiegeln sich im Verhalten der Freunde zueinander wider. Insofern lassen sich diese Beziehungskonzepte als spezifisch entwickelte und reflektierte Grundformen verstehen, die aus der Struktur der freundschaftlichen Beziehung ebenso hervorgehen, wie sie sie mit bilden. Dewey charakterisiert dieses Gerinnen von Verhalten als habits, als „aktive Gewohnheiten“ (Dewey 2000, S. 72). Es ist von großer Bedeutung, dass Dewey – anders als Bourdieu in seinem HabitusKonzept – die Individuen in der Lage sieht, ihre habits mitzugestalten. Erst durch das Ausbleiben ihrer Reflexion, also dadurch, dass sie gleichsam anonym werden, schränken Gewohnheiten Verhaltensmöglichkeiten ein. „Gewohnheiten sinken zu Routinehandlungen herab, entarten zu Handlungsweisen, die uns beherrschen genau in dem Grade, in dem sie sich von den Betätigungen der Intelligenz lösen.“ (ebd.). Die verschiedenen Konzepte, die die Freunde in ihren Beziehungen entwickelt haben und auf die sie zurückgreifen, verweisen jeweils auch auf soziale Bedingungen, die für eine gelingende Teilhabe an differenzierten Gesellschaften allgemein relevant sind. Auf die Funktion von Freundschaften als Ort sozialen Lernens wird auch in sozialisationstheoretisch oder interkulturell orientierten Untersuchungen hingewiesen (siehe Zum Stand der Forschung). In den untersuchten Gesprächen zeigt sich,
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dass sich in Freundschaften soziale Dispositionen entwickeln, die der Möglichkeit nach auch in andere soziale Bereiche übertragbar sind. Volkers und Matthias’ Freundschaft formiert sich um die Parität differenter Interessen. In ihrer Beziehung verwirklichen sie damit ein Grundprinzip demokratischen Zusammenlebens. Brumlik betont im Rekurs auf Kohlbergs Stufenkonzept der Moralentwicklung und Selmans Stufenmodell der Entwicklung von Freundschaften die Möglichkeiten, die die Erfahrung von Autonomie und Interdependenz in Freundschaften für die Entwicklung reflektierter moralischer Prinzipien bietet (vgl. Brumlik 1993 und 2002). Matthias und Volker gestalten ihre Beziehung so, dass beide ihre je individuellen Bedürfnisse artikulieren und erfüllen können. Sie gestalten sie damit als eine gerechte Gemeinschaft. Einerseits lässt sich also im Anschluss an Brumlik konstatieren, dass die beiden ihre Beziehung als demokratische Lebensform verwirklichen. Andererseits führen die beiden Freunde ihre Beziehung nicht interesselos; sie haben durchaus inhaltliche Ansprüche und verknüpfen diese so, dass ihre Freundschaft für sie zu einem Raum lebendiger Erfahrung wird. Auf diese Dimension von Demokratie verweist Dewey. „Die Demokratie … ist in erster Linie eine Form des Zusammenlebens, der gemeinsamen und miteinander geteilten Erfahrung.“ (Dewey 2000, S. 121, vgl. dazu auch Jörke 2003, S. 204 ff.). Hier zeigt sich eine wechselseitiger Zusammenhang: die paritätische Gestaltung der Beziehung und deren Qualität als Erfahrungsraum bedingen und, das ist anzunehmen, verstärken einander (siehe dazu auch Freundschaft als spielerische Beziehung). Hannes und Roland entwickeln, wohl auch aufgrund der langen Dauer ihrer Freundschaft, ein Konzept ihrer Beziehung, das im Rahmen einer Differenzierung nach Lebensbereichen Nähe und Distanz ermöglicht. Das erinnert deutlich an Simmels Konzept der „differenzierten Freundschaft“ (Simmel 1968, S. 269). Mit ihrer Reflexion über die verschiedenen „Ebenen“ (Hannes), die ihre Beziehung auf unterschiedliche Weise tangieren, entfalten Hannes und Roland auch die Auffassung, dass sie als individuelle Personen in differenzierte Lebensbereiche involviert sind. Sie entwickeln damit das, was im soziologischen Sprachgebrauch Rollendistanz heißt. Es geht ihnen darum, die unterschiedlichen Erwartungshorizonte, in die sie eingebunden sind, als spezifische Bereiche neben ihrer Freundschaft zu verorten und ihre Beziehung so von inkompatiblen Ansprüchen oder Loyalitätskonflikten zu entlasten. Diese Strategie entspricht dem Sinn, den Goffman der Rollendistanz zuspricht. Rollengemäßes Verhalten bedarf eines Verhaltens zu den zu übernehmenden Rollen, damit auch unterschiedliche und disparate soziale Anforderungen aufzunehmen sind (vgl. Goffman 1973, S. 93 ff.). Dagegen lässt sich bei Roland und Hannes nicht beobachten, was Krappmann für eine wesentliche Funktion der Rollendistanzierung hält: „Rollendistanz ist ein Korrelat der Bemühungen um Ich-Identität.“ (Krappmann 1973, S. 138). Gerade in 198
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der Ablehnung hierarchischer Verhältnisse zwischen den verschiedenen „Ebenen“ (Freundschaft, Liebesbeziehung, beruflicher Werdegang) und in der Entlastung ihrer Beziehung von einem Anspruch auf Ganzheit, entwickeln die beiden Freunde eine Sichtweise, die die unterschiedlichen Lebensaufgaben und Erwartungen in eine – ohne Zentrum – konstruierte Balance bringt.53 Jürgen und Robert entwickeln ein Schema, das ihre Beziehung aus zwei Perspektiven zeigt: Nach außen ergibt sich Homogenität; untereinander, wenn man so will, im Innenraum ihrer Freundschaft, achten sie auf Differenzen. Wiederum hilft ein Begriffspaar von Goffman, dieses Deutungsmuster zu konturieren. Mit dem Vergleich von „Vorderbühne“ und „Hinterbühne“ (Goffman 1969, S. 99 ff.) unterscheidet dieser zwischen Bereichen, in denen ein gleichsam offizielles, an allgemein konventionellen Erwartungen ausgerichtetes Verhalten dominiert, und solchen Orten, an denen diese sozialen Präskripte unmittelbar ausgeblendet sind und man „seine Vorstellung proben“ (ebd., S. 104), aber auch „aus der Rolle fallen“ (ebd., S. 105) kann.54 Für Robert und Jürgen wird auf der Hinterbühne Differenz thematisch. Dort, unter sich, erfahren sich die Freunde durch die füreinander aufgebrachte besondere Aufmerksamkeit und mögliche Vertraulichkeit als ausgeprägt individuell. Allgemein wird Freundschaften ein Charakter von „Nischen, in denen Authentizität … erwünscht und geschützt ist unter Hintanstellung von Zensur“ (Nötzoldt-Linden 1997, S. 8) zugeschrieben. Hier zeigt sich deutlich, dass es nicht eine bloße Suspendierung allgemeiner sozialer Normierung ist, die eine irgendwie echte Person sichtbar macht, sondern dass die Überschreitung von Homogenität auf der „Vorderbühne“ durch nach innen gerichtete Aufmerksamkeit und Vertraulichkeit für Jürgen und Robert Individualität in relationaler Perspektive erzeugt. Bei diesen zu beobachtenden Reflexionen sozialer Strukturen liegt nicht nur eine für das Alter der Gesprächspartner normale Synchronizität der Orientierung des eigenen Verhaltens an besonderem und verallgemeinertem Anderen vor; in der spezifischen Konstellation der Entwicklung von freundschaftlichen Beziehungskonzepten überschneiden sich diese Bezüge auch in der Person des Freundes als signifikantem Anderen (Mead). Er ist konkreter Interaktionspartner und personifiziert zugleich die Erwartungen und Intentionen die das spezifische Beziehungskonzept ausmachen (vgl. dazu auch Nötzoldt-
53 Es ist nicht das Anliegen dieser Arbeit, tiefer in den weitläufigen Diskurs um den Begriff der Identität einzusteigen. Einen Überblick über entsprechende Debatten bieten Klika 2000 und Schubert 2004b. 54 Diese topologische Unterscheidung wird auch in Beziehung zu innerpersonalen Prozessen gesetzt. So geht Mollenhauer von den unterschiedlichen sozialen Sphären von „Vorderbühne“ und „Hinterbühne“ aus, um daran anknüpfend an die bildungstheoretische Bedeutsamkeit des Sich-zu-sich-selbst-Verhaltens zu erinnern (vgl. Mollenhauer 1994, S. 160 ff.). 199
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Linden 1994, 201 ff.). Dadurch gewinnen die entsprechenden Beziehungskonzepte eine besondere Dynamik, in der ihre implizite bzw. explizite Reflexion und ihre je performative Aktualisierung als „Vorlagen“ (Göhlich 2001, S. 33) ineinander greifen. Neben den spezifischen Bezügen sozialer Bildung, die in den drei Konstellationen zu sehen sind (Demokratie, Rollendistanz, Individualität), entwickeln alle drei Freundespaare auch einen eigenen Umgang mit Differenz. Das Anders-Sein des Freundes ist in allen drei Fällen auf je spezifische Weise Teil der freundschaftlichen Beziehung und führt in keinem Fall zu einem besonderen Rechtfertigungsdruck. Das verweist darauf, dass die Attraktivität von Freundschaften möglicherweise nicht darin liegt, dass man dort auf eine vermeintlich authentische Weise sein kann, so wie man ‚eigentlich‘ ist, sondern dass genau das nicht verlangt wird. Freundschaften wären dann nicht als Residuum einer kernhaften persönlichen Identität zu sehen, sondern als Gemeinschaft, die unter von den Freunden gestalteten Bedingungen von der gesellschaftlich vermittelten Anforderung entlasten, den „Ideologen des eigenen Lebens“ (Bourdieu 2000a, S. 76) zu geben.
Geschmack Im Gespräch über einzelne Musikstücke, aber auch an anderer Stelle reflektieren die Freunde über geschmackliche Motive. Geschmacksurteile stellen sich nicht als unmittelbarer Reflex ein, sie entstehen in Reflexionsprozessen. Frith hält als Grundmuster solcher Prozesse eine Verknüpfung ästhetischer und ethischer Beurteilung fest (vgl. Frith 1999, S. 158). Es geht in geschmacklichen Fragen auch um den Grund dafür, weshalb sich etwas ‚gut‘ anhört, inwiefern es ‚richtig‘ gemacht ist. Damit beziehen sich Geschmacksurteile nicht nur auf Eigenschaften rezipierter Objekte, sondern implizieren eine Art Maßstab, anhand dessen diese Eigenschaften beurteilt werden. In den Gesprächen der Freunde werden solche für die geschmacklichen Interessen und Wertungen maßgeblichen Gesichtspunkte – weil sich die entsprechenden Reflexionen im Dialog entwickeln – explizit thematisiert. Robert und Jürgen vergleichen zwei LPs aus Mitte der 90er Jahre und stellen fest, dass die eine „nicht so viel verloren“ (Robert) hat wie die andere. Das machen sie daran fest, dass bei der einen der Sänger den Eindruck vermittelt, dass er „persönlich voll dahinter steht“ (Robert), die andere dagegen nur ein schablonenhaftes „Prinzip“ (Jürgen) bedient. Der Vergleich fällt also zugunsten der wahrgenommenen Haltung (bzw. bei Jürgen, deren stimmiger Präsentation) aus, die die beiden einer vermeintlich schablonenhaften Attitüde vorziehen. Volker artikuliert im Zuge seiner Erzählung über die schrittweise Verbesserung seiner Stereoanlage auch den Anspruch einer differenzierten klanglichen Wahrnehmung. Matthias hebt „Sound“ als Substanz von Musik hervor; damit richtet auch er seine Auf200
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merksamkeit auf die klanglichen Dimensionen der Musik. Roland räumt bei seinem Bericht über ein Konzert, das ihm sehr gefallen hat, auf eine Frage von Hannes („Ja, aber ist das nicht ein bisschen Elektronik, so Techno?“) ein, dass er „so ein bisschen Elektronik … irgendwie ganz cool“ findet, obwohl er diese Art von Musik für „anstrengend“ hält, wenn er sie bei Hannes hört. Hannes wiederum meint, dass es ihm beim Musikhören um „Musik, wo man viel hört…“, geht. Für ihn ist klangliche Vielfalt ein entscheidendes Kriterium. Diese Sequenzen zeigen, dass im Gespräch unter Freunden – im Sichdem-Freund-Erklären – die geschmacklichen Normen, auf die sich die Freunde in ihrem Umgang mit Popmusik beziehen, thematisch werden. Das heißt nun keineswegs, dass Geschmacksbildung in Gänze ein reflexiver Prozess ist. Denn eine habituelle Bedingtheit dieser geschmacklichen Sichtweisen lässt sich damit nicht ausschließen. Insofern ist im Bezug auf die Entwicklung und Artikulation spezifischer geschmacklicher Achtsamkeit zwischen den Freunden anzunehmen, dass diese sich einerseits reflexiv vollzieht, dass die Gespräche der Freunde über Geschmacksfragen und ihre Beziehung aber andererseits auch in übergeordnete soziale Strukturen eingebunden sind. Dabei scheint nun weniger ein feststehender Zusammenhang von sozial vermittelter Disposition und Erfahrung zu bestehen, wie ihn Bourdieu bisweilen nahe legt: „Der Geschmack bewirkt, dass man hat, was man mag, weil man mag, was man hat, nämlich die Eigenschaften und Merkmale, die einem de facto zugeteilt und durch Klassifikation de jure zugewiesen werden.“ (Bourdieu 1984, S. 286). Auch wenn der Geschmack ein Effekt des Habitus ist, so bedeutet das nicht, dass für Spielräume individueller Reflexion kein Platz mehr ist. Als ein „System von Grenzen“ (Bourdieu/Zimmermann 2004, S. 207) gibt er nicht spezifische Handlungen, sondern Handlungsmöglichkeiten vor. Vor diesem Hintergrund lassen sich die angeführten Ausschnitte so verstehen: Die Freunde loten ihre geschmacklichen Möglichkeiten aus. Ob damit habituelle Dispositionen reflektiert, erweitert oder diffus werden, ist eine eher scholastische Frage; mit ihrer geschmacklichen Selbstreflexion entwickeln die Freunde jedenfalls Sensibilität für ihre habits (Dewey), dafür, was ihnen wichtig ist, und setzen sich so in die Lage, befriedigende Erfahrungen zu machen. Die dafür notwendige Aufmerksamkeit stellt sich nicht in Routine ein, sondern vor dem Hintergrund „aktiver Gewohnheiten“ (Dewey). Indem sich die Freunde über ihre geschmacklichen Motive bewusst werden und sie thematisch und damit fraglich werden lassen, ermöglichen sie sich neue Erfahrungen und neue Erkenntnisse.
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B i l d u n g – f o r m a l e As p e k t e Evozierende Atmosphäre Viele Sequenzen der Gespräche zeugen von einer „Stimmung“ (Ricoeur), vor deren Hintergrund sich die jeweils zu beobachtenden Bildungsbewegungen entfalten. Am Zustandekommen dieser Stimmung sind jeweils beide Freunde beteiligt. Auf diese Dimension weist auch Kracauer im Zusammenhang mit dem Schweigen zwischen Freunden hin: „Nur eng vertraute Menschen ertragen es, ohne dadurch bedrückt, geknebelt oder gelangweilt zu sein. Dieses trächtige Schweigen der Fülle tritt mitunter nach anregenden Gesprächen über grundlegende Fragen ein; dann arbeiten die Gedanken weiter, man hält Einkehr in sich und fühlt dabei beglückend die Gegenwart des Freundes. … Fühlen die Freunde sich in solcher Stimmung, wäre ihnen jedes Reden eine Entweihung und schweigend scheiden sie reicher als sie gekommen sind.“ (Kracauer 1971, S. 57). Über einzelne, momentane Interaktionen hinausgehend entwickeln Freunde eine Stimmung, die die beiden Freunde zur Reflexion oder zu einer besonderen Aufmerksamkeit ermuntert. Es fordert nicht einer den andern in instruktiver Absicht auf, noch ziehen sich die Freunde auf eine solitäre Innerlichkeit zurück; beide zusammen rufen eine Atmosphäre wach, die anregend auf sie zurückwirkt. Stellt man dieser Auffassung Deweys Konzept der „sozialen Atmosphäre“ (Dewey 2000, S. 35) zur Seite, werden die bildungstheoretisch bedeutsamen Aspekte der Dimension der Atmosphäre deutlicher. Der umfassende Einfluss der sozialen Atmosphäre beruht nach Dewey auf den in ihr etablierten „Gewohnheiten“ (ausführlich dazu siehe Kapitel 5). „Durch unsere ‚habits‘ bewohnen (‚inhabit‘) wir die Welt, in der wir leben.“ (Neubert 1998, S. 170). In diesem Sinn stellen sich Gewohnheiten und ihre Entwicklung als eine Resonanz zwischen den Subjekten und ihrer Umgebung dar; eine Resonanz, die weniger Wechselwirkung ist als vielmehr lebendige Einheit. In den untersuchten Ausschnitten fügen sich die Einlassungen der Freunde auf eine Weise zusammen, die deutlich macht, dass sich die Freunde auf einer über den Wortsinn ihrer Äußerungen hinausgehenden Ebene begegnen und dass es wesentlich auch diese Ebene ist, die freundschaftliche Atmosphäre, die auf einer habituellen Gemeinschaft beruht, die zum spezifischen Verlauf ihres Gesprächs beiträgt.
Responsive Tätigkeit In den Gesprächen zeigt sich auch, dass die freundschaftliche Gesprächsatmosphäre nicht unmittelbar zu Einsichten führt, sondern dass sie vielmehr als Raum dient, in dem die Freunde Sinnkonstruktionen hervorbringen. Dass die 202
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Aktivität des Subjekts im Bildungsprozess von großer Bedeutung ist, gehört zu den Standardeinsichten der Bildungstheorie. Allerdings implizieren Theoreme wie das der „Fremdaufforderung zur Selbsttätigkeit“ (Benner 2001, 82) auch, dass der Anlass zur Aktivität ein äußerer ist und die Aktivität sich anschließend im Subjekt vollzieht. Ohne diese Einsichten in Frage stellen zu wollen, scheinen bezüglich der ausgelegten Gesprächssequenzen Differenzierungen möglich. Die Freunde sind sich selbst (über die von ihnen erzeugte Stimmung) Anlass zu Sinn-Such-Bewegungen. Diese Bewegungen laufen im Rahmen gemeinschaftlichen freundschaftlichen Verhaltens ab, sie werden gemeinsam gemacht. Bildung zeigt sich hier als die gemeinsame Tätigkeit zweier Personen, die zueinander in paritätischem Verhältnis stehen. Diese Sichtweise von Bildungsbewegungen kommt dem Begriff der Erfahrung bei Dewey sehr nahe. „Das Wesen der Erfahrung kann nur verstanden werden, wenn man beachtet, dass dieser Begriff ein passives und ein aktives Element umschließt, die in besonderer Weise miteinander verbunden sind. Die aktive Seite der Erfahrung ist Ausprobieren, Versuch – man macht Erfahrungen. Die passive Seite ist ein Erleiden, hinnehmen. Wenn wir etwas erfahren, so wirken wir auf dieses Etwas zugleich ein, so tun wir etwas damit, um dann die Folgen unseres Tuns zu erleiden.“ (Dewey 2000, S. 186; H.i.O.). Die Einsicht, dass eine Erfahrung etwas zu Machendes ist, richtet sich gegen Vorstellungen von einer rein begrifflich-geistigen, quasi punktförmigen Erkenntnis. „Die lebendige Einheit zwischen der Betätigung und dem Erleiden, die zur Entwicklung von ‚Bedeutungen‘ führt, wird gelöst; an ihrer Stelle haben wir zwei Bruchstücke; hier bloße körperliche Betätigung, dort den durch unmittelbares Zugreifen des Geistes aufgenommenen ‚Sinn‘.“ (ebd., S. 188). Wieso sollten also nicht zwei Personen, die zusammen ein Feld gemeinsamer ‚Gewohnheiten‘ knüpfen und zusammen eine Tätigkeit vollziehen, sich darüber eine Erfahrung teilen?
Konstruktive Bedeutung Ein drittes Moment zeigt sich in mehreren interpretierten Ausschnitten: sie laufen auf einen Abschluss zu. Volker beendet die Geschichte von der Verbesserung seiner HiFi-Gerätschaft mit einer Klimax und fügt in ihr die verschiedenen Aspekte seiner Erzählung in eine geschlossene Einheit zusammen. Matthias, der auf diese Erzählung seines Freundes hin eine parallele Darstellung entwirft, gibt dieser ein entsprechendes Ende. Auch Hannes und Roland hören bei ihrer Erinnerung an ihre Initiation in die Szene der Teds nicht einfach auf zu erzählen; abschließend billigt Hannes gleichsam das Erzählte als zutreffende Darstellung. Robert und Jürgen finden zu ihrer Meinung beim Vergleich zweier Bands durch Erklärungen, denen der jeweils andere dann 203
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zustimmt. Dass zu Bildungsbewegungen die Entwicklung von subjektivem Sinn gehört, ist indes ebenfalls keine neue Erkenntnis. Auf der Folie der bisher gemachten Beobachtungen und Überlegungen ist aber auch hier eine Differenzierung möglich. Wiederum im Rekurs auf Dewey ist festzuhalten, dass die dargestellten freundschaftlichen Bildungsbewegungen einen Verlauf aufweisen, in dem verschiedene Bedeutungselemente in einer integrativen Sicht zusammengeführt werden. Dewey hebt hervor, „…dass die Erfahrung als ein aktiver Vorgang … Zeit erfordert, und dass die späteren Teile dieses Vorganges die früheren vervollständigen; die späteren Teile bringen Beziehungen ans Licht, die in den früheren Teilen bereits vorhanden und wirksam, aber noch nicht erkannt waren.“ (Dewey 2000, S. 111). Für Freundschaften als Erfahrungsraum heißt das, dass Erfahrungen, die sich dort in gemeinsamer Tätigkeit entwickeln, Bedeutungen hervorbringen, die auch intersubjektiv fungieren. Die benannten Bildungsdimensionen lassen sich analytisch in ihrer Funktion unterscheiden. Obwohl man die Verhältnisse natürlich auch so sehen kann, dass jeweils der eine Freund dem anderen äußerer Anlass ist, scheint doch die Auffassung treffender zu sein, dass die Bildungsbewegungen aus der Gemeinschaft der Freunde und der in ihr wirksamen evozierenden Stimmung hervorgehen. Diese freundschaftliche Atmosphäre bildet einen Raum, in dem die Entwicklung bedeutsamer Einsichten möglich ist und der diese responsive Tätigkeit auf eine förderliche Weise anregt. Dabei müssen entsprechende Aktivitäten der Subjekte weder von individuellen Intentionen ausgehen noch rational-begrifflich ablaufen. Gerade in der Form performativen Vollzugs sind entsprechende Sinnbildungen auch intersubjektiv möglich. Zentraler Bestandteil der beobachteten freundschaftlichen Bildungsbewegungen ist die Entwicklung von Bedeutungen. Aus einer gemeinsamen Atmosphäre erwachsend und gemeinsam hervorgebracht können diese konstruktiven Bedeutungen auch intersubjektiv fungieren. Im freundschaftlichen Beziehungsgeschehen bedingen diese Dimensionen einander und greifen ineinander. Sie bilden keine Stufen, sondern eine integrative Entwicklung. Eine Dimension geht aus der vorherigen hervor und diese bleibt in ihr bestehen. Freundschaftliche Bildungsprozesse lassen sich so ohne eine implizite Konfrontation von Selbstbildung und Fremdbestimmung von ihrem ‚Anfang‘ bis zu ihrem ‚Ende‘ beschreiben. Dabei verschwindet das Subjekt in keiner Weise, die Pointe einer Betrachtung von Bildungsprozessen in den genannten Dimensionen liegt darin, dass sie sich alle auf das Subjekt richten und zugleich über das Subjekt hinaus weisen. Sie ermöglichen es, „…Subjektivität als Formation zu begreifen, die sich innerhalb intersubjektiver Wahrnehmungsfelder konturiert, an deren Strukturen die Gegenstände mitbeteiligt sind.“ (Meyer-Drawe 2000a, S. 44). Eine Sichtweise, die die intersubjektiven Bildungsprozesse in Freundschaften auf das Schema des Dialogs beschränkt und damit als Ruf und Ant204
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wort zweier solitärer Subjekte versteht, ist verkürzt. Intersubjektive Bildung in Freundschaften vollzieht sich als gemeinsame Tätigkeit der Freunde. Sie sind es, die gemeinsam die Prozesse der Reflexion und Artikulation von Erfahrungen initiieren und leisten sowie darüber zu Erkenntnissen kommen, sei es begrifflicher oder metaphorischer Art. Die Verwobenheit der Freunde in ihre gemeinschaftlichen Bildungsbewegungen lässt sich sogar noch weitergehend verstehen. Aus den Elementen einer gemeinsamen Erinnerung, eines geteilten Erfahrungsraumes, aus dem nach gemeinsamen „Gewohnheiten“ (Dewey) gemeinsame bzw. gemeinschaftlich entfaltete Erfahrungen hervorgehen, entsteht ein gemeinschaftlich formiertes Subjekt. Damit gilt im doppelten Sinn: In Freundschaften bildet sich das Freundschafts-Subjekt.
Bildung in Freundschaften als Transfer zwischen unbestimmter und bestimmter Bedeutung Die vorangegangenen Überlegungen zur Formierung von Freundschaften und zu Bildungsprozessen in Freundschaften entwickeln aus verschiedenen Perspektiven eine Figur, die hier noch einmal für sich herausgehoben werden soll. Das Zusammenspiel von transitiver und reflexiver Thematisierung der Gegenstände der Beziehung verweist wie das Hervorgehen von Bedeutung aus der freundschaftlichen Atmosphäre auf ein für die untersuchten Freundschaften wesentliches Ineinandergreifen von Erzählen, Aushandlung und Reflexion einerseits sowie sinnlich-ästhetischem Erleben und impliziten geschmacklich-habituellen Einstellungen andererseits. Freunde entwickeln mit ihrer Beziehung einen gemeinsamen Erfahrungsraum. Ihr Verhalten zueinander, ihre Wahrnehmung, ihr Empfinden, ihr Geschmack, ihre Stimmung fungieren als Dimensionen der freundschaftlichen Atmosphäre dabei vorbegrifflich. In der Praxis ihrer Beziehung entfalten die Freunde einzelne Erfahrungen, sie knüpfen Reflexionsbewegungen an spezifische Elemente aus der Atmosphäre ihrer Beziehung. Diese beiden Ebenen bedingen einander: aus der Beziehung als Erfahrungsraum gehen einzelne Erfahrungen hervor. Diese Erfahrungen wiederum gerinnen zur Erinnerung, erweitern das Wissen der Freunde übereinander und sedimentieren – auf dem Wege der Gewöhnung – zu Grundelementen der Beziehung als Erfahrungsraum. Weil beide Ebenen integraler Bestandteil freundschaftlicher Beziehungen sind, können sich dort Übergänge zwischen ihnen vollziehen. Auf der einen Seite sind Freunde mit ihrer Beziehung so verwachsen, dass sie sich in ihr wie Spieler in einem Spiel instinktiv verhalten können. Auf der anderen Seite erinnern sich die Freunde, nicht zuletzt, weil sie es selbst gestalten, immer wieder daran, wie dieses Spiel funktioniert und worum es dabei geht; sie 205
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flechten Sequenzen der Reflexion ein. Freundschaften sind also zugleich reflektierte Spiele, die einem rationalen Zugriff offen stehen, und Felder, in denen ein „praktischer Glaube“ (Bourdieu 1997, S. 124) waltet. Dass es zu Übertragungen zwischen diesen Ebenen kommen kann, liegt nun nicht nur an der reflexiven Perspektive, oder, wenn man so will, an der Haltung eines aufgeklärten Glaubens, die die Freunde einnehmen können, sondern auch an der Aufmerksamkeit für das Spiel selbst, die sie aufbringen. Freunde entwickeln, um einen Ausdruck des amerikanischen Schriftstellers Thomas Pynchon zu gebrauchen, in ihrem spielerischen Umgang miteinander eine Art „sympathetischer Magie“ (Pynchon 2003, S. 367) und können damit mögliche, noch unbestimmte Bedeutungen antippen und deren Entwicklung zu bestimmten Bedeutungen forcieren. Insgesamt lässt sich damit festhalten, dass Freundschaften sowohl die Selbstverständlichkeit sozialer Felder eignet (Bourdieu) wie das Thematisch-Werden von Gewohnheiten auf dem Weg der Erfahrung (Dewey).
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5 . Bildung je nse its des Subjek ts – As pekte einer sozialen Theorie der Bildung
In diesem Kapitel werden die in der Interpretation der einzelnen Gespräche und im Resümee der drei Falldarstellungen gemachten Beobachtungen und entwickelten Thesen in einen breiteren bildungstheoretischen Zusammenhang gestellt. Das Hauptanliegen dabei ist die Differenzierung verschiedener Aspekte von Bildungsprozessen und die Rekonstruktion der Zusammenhänge und Übergänge zwischen diesen Aspekten. Die bildungsbedeutsamen Erfahrungen, die die Freunde im Gespräch machen, vollziehen sich in einer Sphäre der Intersubjektivität. Die Reflexionen und Erzählungen der Freunde sind indes nicht nur begrifflich-rational ausgerichtet, sondern sie entwickeln sich auch in leibnahen mimetischen, metaphorischen und performativen Anteilen. Diese unterschiedlichen Dimensionen werden im Folgenden in drei Abschnitten diskutiert. Zunächst werden zentrale erziehungsphilosophische Theoreme John Deweys eingeholt; hier steht das Konzept der Erfahrung im Mittelpunkt, in dem die Modi der praktischen Aneignung und der rationalen Erkenntnis in einen umfassenden Begriff zusammengeführt sind. Von großer Bedeutung dafür ist der Grundgedanke, dass Erfahrungen wesentlich soziale Prozesse sind. Im Anschluss werden zwei damit zusammenhängende theoretische Perspektiven verfolgt. Es geht zum einen um die Frage nach den Spielräumen individueller Erfahrung angesichts der sozialen Bedingtheit von Bildung. Zum andern wird Leiblichkeit als eine fundamentale Dimension von Bildung thematisiert; eine Dimension, in der nicht nur soziale Strukturen inkorporiert werden, sondern die auch die Hervorbringung subjektiven Sinns ermöglicht.
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D ew e y a l s P a t e e i n e r s o z i a l e n T h e o r i e d e r B i l d u n g Im Rekurs auf John Dewey lassen sich theoretische Perspektiven entwickeln, die die Unschärfen der begrifflichen Unterscheidung von Sozialisation, Erziehung und Bildung in Bezug auf die Verschränkung dieser theoretischen „Scheinwerfer“ (Schäfer 2005, S. 150) überwinden können. So verbinden sich die mit Bildung und Sozialisation einhergehenden divergenten Betrachtungsweisen einer maßgeblich subjektiven Entwicklung einerseits bzw. eines gesellschaftlich bedingten Prozesses andererseits (vgl. dazu Meyer-Drawe 2000a, Sting 2004) in Deweys Auffassung von education als sozialer Praxis. Er entwickelt eine inspirierende Argumentation zum Zusammenhang von habitualisierten Dispositionen und dem kreativen individuellen Umgang mit diesen habits, durch den auf dem Weg leibgebundener Erfahrung und deren konstruktiver Potentiale für Reflexionsprozesse subjektiver Sinn entsteht. Deweys Erziehungsphilosophie in ihrer Integration von individueller Entwicklung und intersubjektiver Genese von Sinn lässt sich als soziale Bildungstheorie lesen, als eine Theorie, die Bildung als soziale Praxis begreifen hilft.55
Bildung als soziale Praxis Für Dewey ist die „soziale Atmosphäre“56 (Dewey 2000, S. 34) der originäre Ort und der wesentliche Faktor von Erziehung.57 Diesen Kerngedanken ent-
55 Mit dem Import Deweys in bildungstheoretische Überlegungen – und auch mit der in diesem Kapitel folgenden Bezugnahme auf Bourdieu – ist ein Umstand verbunden, der nicht ganz stillschweigend übergangen werden soll. Beide, Dewey und Bourdieu, können bildungstheoretische Positionen in Bewegung bringen. Bei beiden stellt sich allerdings das Problem der Übersetzung – nicht nur inhaltlich, sondern auch sprachlich. Einerseits ist in diesem Zusammenhang auf die nicht durchgehend hohe Qualität vorliegender Übersetzungen zu verweisen. Für Deweys Schlüsselwerk „Demokratie und Erziehung“ beispielsweise liegt nach wie vor nur die Übersetzung von Erich Hylla vor, die rezeptionsgeschichtlich zwar von großer Bedeutung ist, jedoch nicht wenige Unsauberkeiten aufweist (z.B. übersetzt Hylla „experience“ z.T. als „Bildungsvorgang“). Andererseits stellt sich auch hier das grundsätzliche Problem, dass der Diskurs zu „Bildung“ ein spezifisch deutscher bzw. deutschsprachiger Diskurs ist, der, auch aus historischen Gründen, im Französischen und Amerikanischen so nicht geführt wird. 56 Im amerikanischen Original: „social medium“ (Dewey 1966, S. 16). Zum Konzept der Atmosphäre bei Dewey vgl. auch Schubert 2004. 57 Erziehung ist hier in dem weiten Sinn zu verstehen, mit dem Dewey das amerikanische „education“ verwendet. Natürlich unterscheidet auch Dewey verschiedene pädagogische Akteure und Prozesse. Anders als die deutschsprachige Tradition, die (u.a.) nach Erziehung, Bildung und Sozialisation differenziert, be208
BILDUNG JENSEITS DES SUBJEKTS
wickelt er aus zwei Perspektiven. Zum einen kann sich menschliches Leben kulturell und biologisch nur durch Weitergabe an und Fortsetzung durch nachwachsende Generationen erhalten, es bedarf der „Selbsterneuerung“ (ebd., S. 15). Zum anderen ist Sozialität für den Einzelnen immer schon da; sie ist primordiale Bedingung, die jede individuelle Entwicklung erfasst. „Ein Wesen, dessen Tätigkeiten mit anderen in Beziehung stehen, hat eine ‚soziale Umgebung‘. Was es tut und tun kann, hängt von den Erwartungen, Forderungen, Billigungen und Missbilligungen der anderen ab.“ (ebd., S. 20). Menschliches Handeln, Denken und Verhalten entwickelt sich aus dem sozialen Zusammenhang: „… die besondere Umgebung, in der ein Mensch lebt, führt ihn dazu, ein Ding zu sehen, und ein anderes nicht; sie veranlasst ihn, sich gewisse Pläne zu machen, damit er mit den anderen erfolgreich zusammenwirken kann; sie schwächt gewisse Meinungen und verstärkt andere... So erzeugt sie in ihm ein System von Verhaltungsweisen, von Dispositionen zum Handeln.“ (ebd., S. 27). Dewey kommt damit sozialisationstheoretischen Auffassungen nahe; es geht hier jedoch nicht um solche vereinfachenden Äquivalenzen. Erst eine differenzierte Auseinandersetzung mit Deweys pädagogischem Denken erschließt dessen weiterführende Potentiale. Eine zentrale Rolle im Verhältnis zwischen Umwelt und Individuum spielt für Dewey die soziale Verfasstheit des Menschen. Er stellt der sozialen Umgebung nicht ein souveränes Subjekt gegenüber, für ihn geht die Persönlichkeit des Menschen aus der sozialen Atmosphäre hervor. Dewey verwirft Vorstellungen von einer gegebenen oder zu entfaltenden entelechischen Individualität: „…der Gedanke, eine ‚innere‘ Persönlichkeit zu vervollkommnen, ist ein untrügliches Zeichen sozialer Absonderungen. … Was man als Persönlichkeit ist, das ist man in der Beziehung zu anderen, im freien Geben und Nehmen des Austausches.“ (ebd., S. 166). Die soziale Atmosphäre erhält damit umfassende Bedeutung. „Das bloße Vorhandensein der sozialen Atmosphäre, in der das Individuum lebt, sich bewegt, existiert, ist die dauernde und wirksame Macht, die seine Betätigung dirigiert.“ (ebd., S. 48). Allerdings entwickelt Dewey beileibe keine sozialdeterministische Argumentation. Die Aneignung der in der sozialen Umgebung angelegten Dispositionen ist keine passive Anpassung. Eine solche statische Reproduktion ist für „…eine Gesellschaft, die nicht nur im Wandel begriffen ist, sondern diesen Wandel – zum Besseren – als ihren Lebenszweck betrachtet…“ (ebd., S. 113) gar nicht möglich. Vielmehr geht es Dewey darum, zu zeigen, dass unter den Bedingungen einer sich wandelnden Gesellschaft die individuelle Entwicklung sich nicht als bloße Reproduktion vollziehen kann. „Die Tatsache, dass bei der Erlernung einer Handlung Methoden entwickelt werden, die in anderen Situationen trachtet er allerdings individuelle und gesellschaftliche Reproduktion und Entwicklung unter einem umfassenden pädagogischen Leitbegriff. 209
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verwertbar sind, eröffnet die Möglichkeit dauernden Fortschreitens. Wichtiger noch ist die Tatsache, dass das menschliche Wesen die Gewohnheit zu lernen erwirbt: es lernt zu lernen.“ (ebd., S. 69). Erziehung als Wirkung der sozialen Umgebung meint für Dewey „beständige Neugestaltung, dauernden Neuaufbau, unaufhörliche Rekonstruktion“ (ebd., S. 75). Dabei bildet das Individuum „aktive Gewohnheiten“ (ebd., S. 72), es eignet sich die in seiner sozialen Umgebung fungierenden Verhaltens-, Handlungs- und Denkweisen zur eigenen Weiterentwicklung an, so dass diesen Dispositionen eine „Beziehung zu mannigfaltigem und biegsamem Gebrauch und damit zu dauerndem Wachstum“ (ebd., S. 73) innewohnt. Dewey unterscheidet zwei Arten von Gewohnheiten: „Gewohnheiten nehmen teils die Form der Angepasstheit an – d.h. eines allgemeinen und dauernden Gleichgewichts der organischen Tätigkeiten mit der Umgebung –, teils die andere der aktiven Fähigkeit, das eigene Handeln unter neuen Bedingungen abzuändern und ihnen erneut anzupassen. Gewohnheiten der ersten Art bilden den Hintergrund des Wachstums; die der letzten Art sind das Wachstum selbst. Aktive Gewohnheiten schließen in sich Denken, Erfindung und Initiative in der Anwendung von Fähigkeiten auf neue Aufgaben.“ (ebd., S. 79). Doch nicht nur individuelle und soziale Dynamik, sondern auch die Differenziertheit der Gesellschaft sind zu beachten, wenn man das Verhältnis von Individuum und sozialer Umgebung verstehen will: „Jeder einzelne gehört einer Vielheit verschiedener Gruppen an, in denen seine Genossen ganz verschieden sein können.“ (ebd., S. 113). Gesellschaftliche Pluralität ist bei Dewey nicht lediglich Rahmenbedingung, unter der sich die Subjekte entfalten, sie wird zur Substanz ihrer Entwicklung. Hier tritt ein wichtiger Aspekt hervor: die theoretische Überschreitung einer grenzklaren Trennung von Sozialität und Subjekt, durch die sichtbar wird, dass soziale Sinnstrukturen Teil des Subjekts sind. Die Reproduktion und Weiterentwicklung der in der sozialen Umgebung fungierenden Dispositionen im Individuum beschreibt Dewey als Prozesse der Eingewöhnung und Teilhabe. Die spezifische kulturelle Form des Zusammenlebens in der Gruppe versieht die Dinge der Umgebung mit bestimmten Valenzen, die sich als Appelle an den Einzelnen richten. „Genau wie unsere Sinneswerkzeuge wahrnehmbarer Gegenstände bedürfen, von denen sie gereizt werden müssen, so wirken auch die Fähigkeiten des Beobachtens, Behaltens, Feststellens nicht aus sich heraus, sondern werden ausgelöst durch die Forderungen, die die laufenden Betätigungen der Gruppe an den Menschen stellen.“ (ebd., S 35). Die appellativen Kräfte der sozialen Umgebung werden nicht nur passiv aufgenommen, sondern erst im eigenen Nachvollzug wirksam. Dewey verweist auf ein „…Prinzip …, aufgrund dessen die Gegenstände ihre Bedeutung gewinnen, nämlich indem sie in einer mit anderen geteilten Erfahrung oder in einer gemeinsamen Handlung gebraucht werden…“ (ebd., S 34). Es 210
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ist „…der charakteristische Gebrauch, der von dem Dinge gemacht wird, der die Bedeutung bestimmt, mit der der Gegenstand identifiziert wird.“ (ebd., S 50). In diesem performativen Entstehen bzw. Transfer von Bedeutung verflechten sich die aktive individuelle Hervorbringung von Sinn und die Eingewöhnung in Sinnstrukturen der sozialen Umgebung. Was dem Einzelnen ein bewusstes Handeln und Denken ermöglicht, ist die Bedeutung der Dinge; an ihr knüpft die Fähigkeit an, das eigene Tun zu verstehen und es an seiner Bedeutung zu orientieren. Diese Bedeutung wiederum ist keine rein subjektive Zuschreibung und sie ist auch keine soziokulturelle Fremdbestimmung, sie beruht auf den „…Gewohnheiten des Verstehens, die sich bilden, indem Gegenstände in einer Weise gebraucht werden, die dem Verhalten des anderen entspricht…“ (ebd., S 55). Der gemeinsame Gebrauch der Dinge führt zu einem „Gemeingeist“ (ebd., S 52; i. am. Orig.: „common mind“ (Dewey 1966, S. 30)), der den Einzelnen befähigt, „… die Dinge zu verstehen im Hinblick auf den Gebrauch, der von ihnen in einer Sachlage gemacht wird, an der mehrere beteiligt sind.“ (Dewey 2000, S. 55). Mit Blick auf die soziale Stiftung subjektiven Sinns erhalten Intersubjektivität und die Appellfunktion der Dinge bei Dewey grundlegende bildungstheoretische Bedeutung. Er insistiert: „Wir haben bereits hingewiesen auf die Mängel einer Psychologie des Lernens, nach welcher der Einzelgeist sozusagen nackend mit den Dingen der Außenwelt in Berührung kommt, und die glaubt, dass Kenntnisse, Vorstellungen und Glaubensauffassungen aus der Wechselwirkung von Geist und Welt erwachsen… Unsere Erörterung hat gezeigt, dass diese Ansicht eine falsche und unmögliche Scheidung [orig.: „separation“; D.K.] von Menschen und Dingen vornimmt.“ (ebd.). Hier kommt Dewey phänomenologischen Sichtweisen nahe. So legt Meyer-Drawe als einen Grundgedanken phänomenologischer Bildungstheorie einen Begriff vom Subjekt dar, der nicht auf Schemata wie ‚Kern‘ oder ‚Substanz‘ aufbaut. „Es geht vielmehr darum, Subjektivität als Formation zu begreifen, die sich innerhalb intersubjektiver Wahrnehmungsfelder konturiert, an deren Strukturen die Gegenstände mitbeteiligt sind.“ (Meyer-Drawe 2000a, S. 44).
Zur Genese von Erfahrungen Gewohnheiten fungieren zunächst anonym. Im Kern von Deweys Denken findet sich jedoch ein Moment, das sie sichtbar machen – und verändern – kann: Erfahrung. So wie Erfahrungen dazu führen, dass sich Gewohnheiten bilden, indem sie gleichsam zu ihnen gerinnen, so hat eine ganzheitliche Erfahrung auch die Kraft, die in bisher gemachten Erfahrungen formierten Haltungen und Einsichten zu verändern und andere Möglichkeiten aufzuzeigen. Wir machen „… eine Erfahrung, wenn das Material, das erfahren worden ist, 211
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eine Entwicklung bis hin zur Vollendung durchläuft. Dann und nur dann ist es in den Gesamtstrom der Erfahrung eingegliedert und darin zugleich von anderen Erfahrungen abgegrenzt.“ (Dewey 1988a, S. 47; H.i.O.). Durch eine bewusste Erfahrung geraten auch unsere Gewohnheiten in Bewegung. Kestenbaum hält diesen Zusammenhang so fest: „The experience is an experience, an integrated unified whole, because in interaction with the world, the habits constituting the self are formed into a new whole or configuration.“ (Kestenbaum 1977, S. 28; H.i.O.). Mit Bezug auf die ästhetische Erfahrung und unter ausdrücklicher Berufung auf Dewey heben auch Alheit/Brandt hervor: „In ihr tut sich nicht etwas ganz anderes auf, es erscheint vielmehr – systematisch und grundsätzlich – das Gewohnte in anderen Umständen.“ (Alheit/Brandt 2006, S. 431). Dies lässt sich auf das Konzept der Erfahrung bei Dewey allgemein übertragen. Die weitgehende Konsistenz zwischen seinen Überlegungen zur Erfahrung allgemein (etwa in „Demokratie und Erziehung“) und jenen zur ästhetischen Erfahrung (v.a. in „Kunst als Erfahrung“) stellen z.B. Kestenbaum (1977) und Lehmann-Rommel (2005) fest. Dewey macht als eine wichtige Bedingung einer Erfahrung aus, dass sie eine wesentliche Qualität hat. „Jede Erfahrung besitzt eine Einheit, die ihr den Namen gibt…“ (Dewey 1988a, S. 49). Diese Evidenz gewinnt eine Situation, in der eine Erfahrung gemacht wird, aber nicht allein aus sich heraus. „Pervasive quality is the outcome of qualification; a situation is pervasively qualified because the past experiences of the organism, embodied in its habits, interact with present conditions. The result is a situation possessing a pervasive quality which is immediately and pre-reflectively, pre-consciously ‚had‘ or ‚felt‘ by the organism. Through habits the funded meanings of past experiences are retained for use in present experiences.“ (Kestenbaum 1977, 32 f.). Unsere Gewohnheiten lenken unseren Blick auf Gegebenheiten und formen aus diesen eine in ihrer Qualität eindrückliche Situation. Das schließt Reflexion und Erneuerung nicht aus. Dewey macht deutlich, dass Denken zur Erfahrung gehört. „Durch Erfahrung lernen heißt das, was wir den Dingen tun, und das was wir von ihnen erleiden, nach rückwärts und vorwärts miteinander in Verbindung bringen.“ (Dewey 2000, S. 187). Und diese Verbindung leistet das Denken. Denn „… das Denken ist die Auseinanderlegung der Beziehungen zwischen dem, was wir zu tun versuchen, und dem, was sich aus diesem Versuche ergibt.“ (ebd., S.193). Das Denken begleitet die Erfahrung. In Korrespondenz mit habituellen Dispositionen, die auf früheren Erfahrungen beruhen und aus den Gegebenheiten einer Situation einen Eindruck destillieren, ordnet es Bedeutung zu. Zu deren Genese ist es alleine aber nicht ausreichend. „Bei einer elementaren Erfahrung ist es nicht möglich, Praktisches, Emotionales und Intellektuelles voneinander zu trennen und die Eigenschaften des einen über und gegen die der anderen zu setzen. Die emotionale Phase fügt die Teile zu einem einmaligen Ganzen zusammen. ‚Intellektuell‘ weist einfach auf die 212
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Tatsache hin, dass der Erfahrung eine Bedeutung innewohnt, ‚praktisch‘ zeigt an, dass der Organismus in einer wechselseitigen Beziehung zu den Dingen und Vorgängen in seiner Umwelt steht.“ (Dewey 1988a, S. 69). Zur Verdeutlichung der Rolle des Gefühls bzw. des Fühlens58 im Prozess der Erfahrung, zieht Dewey zwei Beispiele heran. Zum einen Schauspiel und Literatur: „Das verborgene Wesen des Gefühls offenbart sich in der Erfahrung, die jemand macht, während er ein Bühnenstück sieht oder einen Roman liest. Es begleitet den Gang der Handlung. Und eine Handlung bedarf einer Bühne, eines Raumes zur Entfaltung und der Zeit zur Entwicklung.“ (ebd., S. 54). Zum andern verweist Dewey auf das Phänomen der Liebe auf den ersten Blick (vgl. ebd.). In beiden Fällen hat man es nicht mit einer Art von plötzlicher Erkenntnis zu tun. Eine Szene einer Erzählung oder eines Theaterstücks gewinnt ihre Bedeutung aus dem ihr vorangegangenen bzw. folgenden Kontext. Und auch ein so dichter Moment, wie es ihn zwischen zwei sich auf den ersten Blick Verliebenden geben kann, ergibt sich nicht aus sich selbst heraus. „Their first sight of each other is a union of two histories, histories which are embodied in their respective habitual bodies. … No drama is without a career, and neither is any emotion without a history…“ (Kestenbaum 1977, S. 34). Der Kontext einer Situation (vorangegangene Situationen und Erfahrungen, unsere Gewohnheiten, Intentionen etc.) lenkt unsere Perspektive auf diese Situation. Ihre Eigenart ergibt sich aus einem Zusammenspiel ihrer konkreten Qualitäten mit dem kontextuellen Zusammenhang, aus dem wir sie wahrnehmen. Reflexion kann dieses Zusammenspiel zwar nachvollziehen und in seinem Vollzug Bedeutungen entdecken, aber sie kann es nicht in Gang bringen. Essentielle Dimensionen einer Erfahrung entwickeln sich präreflexiv. Und es gehört zum Wesen der Erfahrung, dass diese Anteile, „the basis of … preobjective sense-giving“ (Kestenbaum 1977, S. 30) und der „Denkbestandteil“ (Dewey 2000, S. 194; i. am. Orig: „thought implied“ (Dewey 1966, S. 145)) sie nur gemeinsam zu einem integrativen Abschluss bringen können. Folgt man Deweys Argumentation, lassen sich Erfahrungen nicht auf dem Wege einer vorgängigen rationalen Intention herbeiführen. Wie aber kommt man zu Erfahrungen, in denen sich ja auch nicht nur bereits erworbene habits reproduzieren? Zu den wichtigen Merkmalen einer Erfahrung zählt es, dass sie die Vielheit der Elemente, die ihren Gegenstand ausmachen, als Einheit erleben lässt. Die Ganzheitlichkeit einer Erfahrung ist zudem bedingt durch 58 Hier ist eine weitere Anmerkung im Zusammenhang mit der Übersetzung des amerikanischen Originals zu machen. Bei Dewey heißt es: „ emotional“ (Dewey 1989, S. 48). Während Velten übersetzt: „Erfahrung ist emotional …“ (Dewey 1988a, S. 54), formuliert Schreier in seiner Übersetzung: „So ist Erfahrung emotionenhaft …“ (Dewey 1994, S. 228). In dieser zweiten Version wird um einiges deutlicher, dass Gefühl bzw. Fühlen auch als Modus der Erfahrung fungiert und nicht nur ein Aspekt ihres Gehalts ist. 213
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einen deutlichen und stimmigen Abschluss, der sie vollendet; wobei Vollendung und Abschluss nicht als „Stillstand“ (Dewey 1988a, S. 53) zu verstehen sind, sondern als Klarheit oder „Reifung“ (ebd.). Eine Erfahrung ist intensiv und ihre Vollendung führt zu emotionaler Befriedigung (vgl. ebd., S. 50). Vor allem aber stellen Erfahrungsprozesse eine eigene Praxis dar: „[M]an macht Erfahrungen. Die passive Seite ist ein Erleiden, ein Hinnehmen. Wenn wir etwas erfahren, so wirken wir auf dieses Etwas zugleich ein, so tun wir etwas damit, um dann die Folgen unseres Tuns zu erleiden.“ (Dewey 2000, S. 186; H.i.O.; siehe auch Bildung – formale Aspekte). Insgesamt beschreibt Dewey die Erfahrung als konstruktiven Prozess, den das Individuum in Wechselwirkung mit seiner Umgebung vollzieht (vgl. ebd., v.a. S. 186 ff. und Dewey 1988a, v.a. S. 47 ff.; vgl. dazu auch Shusterman 1994, S. 57 ff.). Zugleich entwickelt er jedoch auch die oben skizzierte sozialanthropologische Argumentation und betont die Rolle habitueller und damit z.T. vorbewusster Dispositionen bei der Genese von Bedeutung im Zuge des Machens von Erfahrungen. In ihrer Verknüpfung stellen diese beiden Argumentationsstränge vor die Aufgabe, die Suche nach konkreten Erfahrungspraxen auf so etwas wie nicht intentionale Strategien auszurichten.
Zum Umgang mit Erfahrungen Situative Emergenz Eine Konsequenz, die Dewey aus seinem Konzept der aus einer konstruktiven Auseinandersetzung mit der Umgebung erwachsenden Erfahrung ableitet, ist – nicht zuletzt aus pädagogischer Perspektive – so einleuchtend wie elementar. Erfahrungen, die aus einem konstruktiven Prozess hervorgehen, sind nicht vorhersehbar oder auf irgendeine Weise jemand anderem verfügbar als den Subjekten, die sie machen (vgl. Dewey 2000, S. 137 ff.). D.h. nicht, dass sie völlig der Kontingenz preisgegeben sind (die Gegenstände unserer Erfahrungen, unsere Art damit umzugehen, also unsere habits, und auch die „Richtung“ (ebd., S. 139) unserer Unternehmungen stehen durchaus der Gestaltung offen), aber ihr jeweiliger Verlauf und ihr „Endergebnis“ (ebd., S 138) ergeben sich, weil sie an konkrete Vollzüge gebunden sind, in einer spezifischen Eigentümlichkeit. Daraus ergibt sich für Dewey: „Ein Ziel darf demnach nicht starr sein, sondern muss – biegsam – den Umständen angepasst werden können.“ (ebd., S. 143). Diese Orientierung einer Handlung in ihrem Vollzug erfordert die Fähigkeit und Möglichkeit, konstruktiv auf die Potentiale konkreter Situationen einzugehen. Dewey erläutert das: „It must be based upon a consideration of what is already going on; upon the resources and difficulties of the situation.“ (Dewey 1966, S. 104).
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Aufmerksamkeit Zu dieser situativen Konstruktivität bedarf es wie gesagt einer spezifischen Aufmerksamkeit. Mit Bezug auf die ästhetische Erfahrung hält Dewey fest: „… Rezeptivität bedeutet nicht Passivität. … Andernfalls handelt es sich nicht um Perzeption, sondern um Wiedererkennen.“ (Dewey 1988a, S. 66). Um zu Erfahrungen zu führen, darf sich Wahrnehmung nicht auf Routinen beschränken. Erst wenn wir aufmerksam wahrnehmen, „…entsteht ein Akt konstruktiven Wirkens und das Bewusstsein wird frisch und lebendig.“ (ebd., S. 67). Um vorgängige Intentionen in Situationen zu verwirklichen kann es genügen, diese Situationen schematisch zu erfassen, „… so, wie wir jemanden auf der Strasse wiedererkennen und ihn entweder begrüßen oder ihm aus dem Weg gehen.“ (ebd., S. 67 f.). Um aus Gegebenheiten aber zu lernen, um mit ihnen Erfahrungen zu machen, muss unsere Wahrnehmung konstruktiv werden, muss, um es noch einmal in Dewey Worten zu sagen, „…der Betrachter Schöpfer seiner eigenen Erfahrung sein.“ (ebd., S. 68). Auch Lehmann-Rommel hebt diesen Aspekt in ihrer Dewey-Lektüre hervor. Vorgefasste, starre Absichten und die Voreingenommenheit durch unhinterfragte habituelle Denkmuster können den Zugang zu Situationen soweit verengen, dass sich aus ihnen keine neuen Erfahrungen ergeben, weil ihre weiterführenden Möglichkeiten, die nicht im eigenen intentionalen Fokus liegen, unbeachtet bleiben oder unter die vorgefassten Vorstellungen subsumiert werden. Erst durch eine entsprechend weite Aufmerksamkeit werden Situationen fraglich und die in ihnen liegenden Potentiale können aufgegriffen werden (vgl. Lehman-Rommel 2005). In einer „nicht fokussierenden, eher schweifenden Aufmerksamkeit“ (ebd., S. 72) kann sich eine größere Konstruktivität entwickeln, weil sie sich einer Situation in ihrer Breite öffnet. Kunstwerke zeichnen sich als Gegenstände der Erfahrung auch dadurch aus (und sind auch deswegen für Deweys Philosophie der Erfahrung so attraktiv) weil sie zu diesem Schweifen anstoßen: „… a large part of the power of the work of art… is its ability to let loose…“ (Dewey 1988b, S. 367). Für eine konstruktive Aufmerksamkeit ebenso erforderlich ist „Verlangsamung“ (Lehman-Rommel 2005, S. 74). Es geht darum, Situationen in ihrer konkreten Gegenwärtigkeit wahrzunehmen und sich von „routinierten Projektionen“ (ebd.) zu lösen. Diese Betonung der Einstellung auf eine gegebene Präsenz schließt dabei mit ein, dass Situationen und unsere Perspektiven auf sie auf vorangegangenen Situationen und Erfahrungen beruhen und dass in ihnen zukünftige Entwicklungen potentiell angelegt sind. Diese unvoreingenommene und entschleunigte Aufmerksamkeit ist eine zugleich „spielerische und ernsthafte Haltung“ (Dewey 2002, S. 158). Um Situationen in ihren Qualitäten wahrnehmen und dabei über die eigenen Routinen hinausgehen zu können, bedarf es einer wachen und konstruktiven Sensitivität, erst dadurch 215
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kann eine Situation eine eindrückliche Qualität entfalten. Diese Sensitivität bezieht sich auf Spannungsverhältnisse, die sich auf zwei Ebenen eröffnen, und aus denen sich auch die Erfüllung entwickelt, die eine ganzheitliche Erfahrung gewährt und die sich in einem Gefühl der Stimmigkeit, der „emotionalen Befriedigung“ (Dewey 1988a, S. 50) einstellt. Zum einen geht es um das Verhältnis zwischen einer aktuellen Situation und bis dato gebildeten habituellen Dispositionen, die durch die spezifischen Qualitäten der erlebten Situation irritiert werden können (vgl. ebd., S. 9 ff.), zum andern um situationsimmanente Konstellationen, also die verschiedenen Elementen einer Situation und ihr Verhältnis zueinander (vgl. Lehman-Rommel 2005, S. 74). „Equilibrium comes about not mechanically and inertly but out of, and because of, tension.“ (Dewey 1989, S. 20). Es sind also nicht die bekannten Muster (und die offensichtlichen Zusammenhänge, die sie hervorheben), die eine Erfahrung zu einer Erfahrung machen, auch wenn sie richtunggebend in sie eingehen. Dewey misst einer in diesem Sinn aktiven und sich konstruktiv selbst (d.h. die eigenen habituellen Tendenzen) überschreitenden Wahrnehmung sehr hohe Bedeutung bei. „Was eine ästhetische Erfahrung ausmacht, ist die Umwandlung von Widerständen und Spannungen … in eine Bewegung, die auf einen umfassenden, erfüllten Abschluss hinzielt.“ (ebd., S. 70).59 Dazu ist es notwendig, sich auf Situationen jenseits ihres Wiedererkennungswerts einzulassen und dem eigenen Blick nicht fraglos zu folgen.
Reflexion Die für Erfahrungen konstitutive Besonderheit bindet sie an räumlich und zeitlich konkrete Begebenheiten. In Erfahrungen werden – weil sie z.T. darauf aufbauen – habits thematisch, die sich bis zu einem bestimmten Zeitpunkt entwickelt haben; zudem verweisen Erfahrungen auch auf neue Sichtweisen oder Handlungsmöglichkeiten. In ihrer Gebundenheit an Konkretes implizieren sie also ebenso eine mögliche Transponierung. Dieser Punkt ist für Dewey von höchster Bedeutung: „Der Maßstab für den Wert einer Erfahrung liegt in der größeren oder geringeren Erkenntnis der Beziehungen und Zusammenhänge, zu der sie uns führt.“ (Dewey 2002, S. 188). „Beziehungen und Zusammenhänge“ (ebd.) zwischen verschiedenen konkreten Erfahrungen ebenso wie zwischen differenten Erfahrungsräumen lassen sich durchaus als eine Leitperspektive in Deweys Denken verstehen. Mit seinem pluralistischdemokratischen Gesellschaftsverständnis und dem zentralen Konzept des experience entwickelt Dewey ein bildungstheoretisches Konzept, das deutlich 59 An dieser Auffassung, die die integrative Funktion der Erfahrung stark macht, wird bisweilen kritisiert, dass sie den Wert von Paradoxien und Differenzerfahrungen vernachlässige (vgl. dazu Lehmann-Rommel 2005, S. 75). 216
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auf jüngere Überlegungen verweist.60 So stellt z.B. Welsch unter dem Schlagwort „Transversalität“ (Welsch 1998, S. 71) fest: „Denn in der Tat ist es das Problem einer aus hochgradig pluralen Lebensformen zusammengesetzten Gesellschaft, dass sie Wege finden muss, wie diese Formen zu verbinden sind. … Es braucht … positive Hinweise, wie in dieser Pluralität – statt ins ‚anything goes‘ zu verfallen und in Indifferenz zu versanden – Verbindungen, Kooperationen und Auseinandersetzungen möglich werden.“ (ebd., S. 72). Einen ähnlichen gesellschaftlichen Bezug entwickelt Meyer-Drawe aus anthropologischer Perspektive. In ihrer Kritik einer imperialen, verdinglichenden Rationalität warnt sie vor falschen Alternativen: „Verschmelzen mit den Dingen in Unmittelbarkeit ist genauso herrisch wie das bloße Überfliegen in Wesenheiten, die den Dingen ihre widerborstige Realität bestreiten und sie zu überzeitlichen Idealitäten sublimieren.“ (Meyer-Drawe 2000a, S. 40). In der Ausrichtung auf eine „negative Indifferenz, die sich weder in das eine noch das andere Extrem einer Alternative treiben lässt“ (ebd., S. 41) formuliert sie: „Es geht nicht darum, auf Vernunft zu verzichten, sondern sie zu erweitern.“ (ebd., S. 52).
Erfahrung und Denken Gerade zu diesem Punkt, zu einer um die leibliche Erfahrung erweiterten Vernunft, können Deweys Theorien einen wichtigen Beitrag leisten. Die Frage nach dem Übergang von der konkret gebundenen, leibnahen Erfahrung zu einer transponiblen reflexiven Bedeutung bzw. nach dem Verhältnis von Erfahrung und Bedeutung spielt in seiner Philosophie eine zentrale Rolle. Dewey versteht Denken als „Forschung“ (Dewey 2000, S. 198) bzw. als „Erkundung“ (ebd.; i. am. Orig.: „thinking is a process of inquiry…“ (Dewey 1966, S. 144)). Erkenntnis entsteht nicht auf dem Weg einer Abstraktion von Erfahrung als Subsumierung unter Begriffe, sondern durch ein Hinzutreten der Reflexion zur Erfahrung. Dewey hält dazu fünf charakteristische Phasen fest.61 (i) Den Beginn eines Denkakts macht aus, dass man zunächst einer „Schwie60 Deweys Theorien sollen hier nicht mit der Zuschreibung einer vagen Eigenschaft wie ‚Modernität‘ aufgewertet werden. Eine solche Charakterisierung liefe Gefahr, über den Aufweis von Parallelen zu zeitgenössischen Diskursen die besonderen Impulse, die von Dewey ausgehen, zu vernachlässigen (s.o.). Gerade einige moderne (i. S. v. ‚derzeit weit verbreitete‘) pädagogische Denkmuster lassen sich mit Dewey demaskieren; etwa die Tool-Box-Semantik eines bürokratisch kleingearbeiteten Kompetenz-Begriffs oder die Besitzstands-Metaphorik eines Verständnisses von Bildung als Wissen. 61 Dieses schematische Modell aus „Wie wir denken“ entspricht weitgehend dem in „Demokratie und Erziehung“ entwickelten Konzept (vgl. Dewey 2000, S. 201). In Grundzügen ist es ebenfalls in „Die menschliche Natur“ enthalten (vgl. Dewey 2004, S. 144). 217
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rigkeit“ (Dewey 2002, S. 56) begegnet, was „Befremdung, Verwirrung, Zweifel“ (Dewey 2000, S. 201) verursacht. (ii) Das genauere Verstehen dieser Schwierigkeit verlangt erst einmal Zurückhaltung. „Das Wesen des kritischen Urteils besteht in einem Aufschieben des Urteils.“ (Dewey 2002, S. 58). (iii) Mögliche Lösungen gehen aus einem vorerst spekulativen Erproben verschiedener Ansätze hervor; insofern ist es für diesen Sprung in ein „Abenteuer“ (ebd.) besonders förderlich, wenn verschiedene Möglichkeiten ausgelotet werden können. „Da das Aufschieben eines endgültigen Schlusses, um weitere Beweise zu entdecken, teilweise von dem Vorhandensein rivalisierender Vermutungen abhängt, ist es von großer Wichtigkeit, dass das Entstehen zahlreicher verschiedener Einfälle nach Möglichkeit gefördert wird.“ (ebd., S. 59). (iv) Auf diese Weise formt und klärt sich eine „Idee“ (ebd.), die als eine „versuchsweise gebildete, bedingt angenommene“ (ebd., S. 81) Perspektive auf die fragliche Situation gerichtet wird. (v) Erst durch eine praktische Bestätigung kann sich eine solche Perspektive schließlich bewähren. (vgl. ebd., S. 59 f.). Ein solches experimentelles Denken ist prinzipiell unabschließbar, seine Einsichten sind nicht dauerhaft und unabhängig von ihren konkreten Gegenständen gültig; deren Veränderlichkeit bedingt eine beständige Herausforderung konstruktiver Reaktionen (vgl. Neubert 1998, S. 101). Dieses Verhältnis von sinnlich wahrgenommener Qualität einer Situation und ihrer reflexiv entwickelten Bedeutung veranschaulicht Dewey durch die analytische Differenzierung zwischen unmittelbaren und mittelbaren Dimensionen einer Erfahrung. So fungiert diese einmal als „primary experience“ (Dewey 1981, S. 15), zum andern als „secondary or reflective experience“ (ebd., S. 16). Dabei ist es wichtig, die analytisch-erläuternde Funktion dieser Unterscheidung zu beachten. Im praktischen Vollzug einer Erfahrung geben diese Anteile einander wechselseitig Substanz, so dass sie sich nicht von einander lösen lassen. „Denn die ‚sekundären Objekte‘ der Erkenntnis versteht der Pragmatist Dewey nicht als Abbilder einer vorgängigen Wirklichkeit, sondern als Konstruktionen, die auf spezifische und konkrete Handlungskonflikte innerhalb des präreflexiven experience antworten und funktional auf deren Überwindung bezogen sind. Dementsprechend bedürfen sie zu ihrer Verifikation einer Rückwendung auf die konkreten Handlungserfordernisse des ‚primary experience‘…“ (Neubert 1998, S. 73). Die Integration der leibnahen Anteile einer Erfahrung und ihres ‚Denkbestandteils‘ steht im Zusammenhang mit der Frage, wie die Dinge von äußerlichen Objekten zu Gegenständen unserer Erfahrung werden. Einerseits ist unsere Erfahrung ganz nahe bei den Dingen, sie erwecken einen Eindruck in uns, den wir ganz konkret und vor jeder Reflexion von ihnen haben und der sich wie ein Gefühl einstellt. „Denn Dinge sind in viel höherem Maße Objekte, die behandelt, benutzt, auf die eingewirkt, mit denen gewirkt werden soll, die genossen und ertragen werden müssen, als Gegenstände der Erkenntnis. 218
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Sie sind Dinge, die man hat, bevor sie Dinge sind, die man erkennt.“ (Dewey 2007, S. 37; H.i.O.). Andererseits werden dieselben Objekte auch zum Gegenstand unserer Reflexion, wenn wir unsere Wahrnehmungen und Handlungen bewusst vollziehen. Sie sind dann nicht mehr nur Teil der Umgebung, sondern auch in unserer Erfahrung. „Sie erklären die primären Objekte, sie befähigen uns, sie mit dem Verstand zu erfassen, statt einfach nur sinnlichen Kontakt mit ihnen zu haben.“ (ebd., S. 22). In der konkreten Erfahrung gehören diese Dimensionen – der gefühlte Eindruck und unser Bewusstsein für diesen Eindruck – aber untrennbar zusammen. In dieser Hinsicht erscheinen ein nur (irgendwie) gefühlter Eindruck und ein rein begrifflich- rationales Verstehen als Pole, zwischen denen sich Erfahrungen in verschiedenen Konstellationen einstellen, die selbst aber als Form konkreter Erfahrungen nicht in Frage kommen (vgl. Alexander 1987, S.172).62 Die Eigentümlichkeit konkreter Erfahrungen spielt eine wichtige Rolle in ihrem Verhältnis zur Reflexion. Bewusstsein existiert für Dewey nicht aus sich heraus, es ist kein „mythisches Wesen“ (Dewey 2000, S. 142), sondern steht immer in einer transitiven Beziehung: „Bewusstsein ist nicht ein Etwas, das wir besitzen, was die Bühne um uns müßig betrachtet, auf das die Dinge der Welt ‚Eindrücke machen‘; Bewusstsein ist eine Bezeichnung für die Tatsache, dass eine Tätigkeit einem Zweck zustrebt, auf ein Ziel gerichtet und durch ein solches bestimmt ist.“ (ebd.). Hierin zeigt sich erneut die deutliche Nähe Deweys zu phänomenologischem Denken. „Both philosophers [Dewey und Merleau-Ponty; Erg. DK] share a common understanding in their belief that ‚consciousness is not first something in itself and then enters also in relationship to something else. The relationship to the other enters into the very essence of the conscious act.‘“ (Kwant nach Kestenbaum 1977, S. 25). Auch das Denken als Teil des Bewusstseins lässt sich demnach nicht als eine solipsistische Instanz begreifen, die unberührt auf ihre Gegenstände blickt. Es ist vielmehr mit den Dingen über den Gebrauch und die Erfahrungen, die wir mit ihnen machen, verbunden. „Der Anfangszustand jener sich entwickelnden Erfahrung, die wir ‚Denken‘ nennen, ist Erfahrung.“ (Dewey 2000, S. 204; H.i.O.). Neubert hält in diesem Zusammenhang fest: „Grundlegend dabei ist, dass das Erkenntnissubjekt im Paradigma des Experiments selbst unmittelbar in eine Interaktion mit seinem Erkenntnisgegenstand tritt, die tatsächliche Wechselwirkung bedeutet.“ (Neubert 1998, S. 94) Die Art dieser Wechsel62 Vor diesem Hintergrund relativiert sich auch die an Dewey geäußerte Kritik ein Stück weit, dass sein Konzept der (ästhetischen) Erfahrung ihre integrative Funktion gegenüber den Aspekten der Fragmentarität, Negation oder Distanzierung überbetont (siehe Anm. 59). Wenn es verschiedene Formen von (ästhetischer) Erfahrung gibt, die mal leibnäher und mal reflexiver sind, dann schließt das zumindest equilibristische Vorstellungen aus. 219
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wirkung lässt sich nun näher bestimmen. Denken ist auf Erfahrung als Impuls und in seinem Verlauf angewiesen. Erfahrung wiederum kann sich durch Denken ändern oder weiterentwickeln, das geschieht allerdings nicht durch reflexive Präskripte, sondern durch ein sich vorantastendes Denken, das zu einer neuen Perspektive auf Situationen führen kann, aus der heraus dort dann neue Erfahrungen möglich werden. Diese aber werden als Erfahrungen konkret gemacht, sie lassen sich nicht aus einer rationalistischen Intention heraus verfügen. In der konstruktivistischen Lesart Neuberts stellt sich das so dar: „Die kreative und genuine Lösung von Handlungsproblemen [das schließt Erkenntnisaufgaben ein; Erg. DK] beinhaltet im Sinne Deweys gerade die Transzendierung einer bloßen Rekonstruktion im engeren Sinne, d.h. einer im wesentlichen rezeptiven Aneignung symbolisch vorgeordneter Formen von Wirklichkeit, hin zur konstruktiven und erfinderischen Neuerung. Solche Neuerung mag zwar auf die symbolischen Rekonstruktionen vorangegangener ‚experience‘-Situationen angewiesen sein, die sie aufgreifen muss, um auf ihnen aufbauen zu können; grundsätzlich impliziert sie dabei jedoch immer auch ihre konstruktive Erweiterung und Erneuerung im Lichte jedes konkreten ‚experience‘-Geschehens, zu dessen Klärung und Erhellung sie in Anschlag gebracht werden.“ (Neubert 1998, S. 101). Damit lassen sich für Erfahrung und Denken zwei Verhältnisebenen festhalten. Zum einen gibt es für Dewey so etwas wie ein Primat der Erfahrung. An ihr knüpfen Reflexionsbewegungen an, ohne diesen Bezug werden sie leer. Das kann geschehen, wenn „… die Worte, die Bezeichnungen der Begriffe, für die Begriffe selbst genommen… “ (Dewey 2000, S. 192; H.i.O.) werden. Zudem impliziert jede Reflexionsbewegung Intentionalität; sie kann sich nicht ohne ein „Gefühl des Beteiligtseins an den Folgen eines Vorganges“ (ebd., S. 197) entwickeln. Neben diesem grundsätzlichen analytischen Blick auf die Involvierung des Denkens in konkrete Situationen geht es Dewey zum andern um das Zusammentreffen von Reflexionsbewegungen mit Erfahrungsprozessen. Die Präsenz der Erfahrung in der Reflexion spiegelt sich in einer prinzipiellen Beteiligung des Denkens am Vollzug einer Erfahrung wider. „Es gibt keinerlei sinnvolle Erfahrung, die nicht ein Element des Denkens enthielte.“ (ebd., S. 193). Diese wechselseitige Beteiligung darf nicht als eine Art Equilibrismus missverstanden werden. Erfahrung und Denken können sich in verschiedenen Anteilen verbinden und darüber zu ganz unterschiedlichen Erkenntnismodi führen. „In der Herausarbeitung der Einzelbeziehungen zwischen unseren Handlungen und ihren Folgen tritt der Denkgehalt klar hervor, der auch in der durch ‚Probieren auf gut Glück‘ gesammelten Erfahrung liegt. Der anteilige Betrag und Wert des ‚Denkbestandteiles‘ ist bei der ersten Form der Erfahrung wesentlich größer. Mit der Zunahme dieses Anteils des Denkens ändert sich auch der Charakter der Erfahrung, und zwar in so bedeutsamer Weise, dass wir die erste Form der Erfahrung als ‚denkende‘ Erfahrung – 220
BILDUNG JENSEITS DES SUBJEKTS
d.h. denkende in ausgesprochenem Maße – bezeichnen können. Die planmäßige Pflege dieser ‚Denkseite‘ der Erfahrung führt dazu, dass das Denken zu einer besonderen Form der Erfahrung wird.“ (ebd., S. 194 f.). In der beschriebenen Verlagerung von unmittelbarer (leibnaher) Erfahrung hin zu deren reflexivem Nachvollzug und im Verweis auf den graduellen Charakter einer entsprechenden Entwicklung63 wird deutlich, dass Erfahrung und Denken einander in unterschiedlicher Weise durchdringen können, ohne einander dabei aufzuheben. Dewey zielt also nicht auf eine rationale Verfügung über die leibnahe Erfahrung, sondern auf einen aufmerksamen und konstruktiven, gleichsam dialogischen Umgang mit ihr. Gerade auch die ‚denkende Erfahrung‘ bindet er an unsere Lebenspraxis. Der Rekurs auf Dewey bietet damit bedeutende Möglichkeiten für die Aufwertung somatischer Erfahrung und für die Konkretisierung der Praxis einer erweiterten Vernunft. ‚Ganzheitlichkeit‘ stellt sich bei ihm nicht als Assimilation von Erfahrung und Rationalität in die eine oder andere Richtung dar, sondern als die wechselseitige Durchdringung dieser beiden Weltzugänge in ihrem jeweiligen Eigenwert. Dazu bietet Dewey nicht nur ein in seinen anthropologischen wie sozialen Bezügen umfassendes und plausibles Konzept von Erfahrung, um damit auf die Bedeutung und die Potentiale dieses Modus’ aufmerksam zu machen. Er veranschaulicht in diesem Zusammenhang auch, welcher Gestalt eine Vernunft bzw. ein Denken sein können, die sich für die Sinnstiftungen und Potentiale konkreter Erfahrungen offen zeigen. Dazu gehört, dass ein solches Denken als „Forschung“ (Dewey 2000, S. 198) an die Gegenwärtigkeit seiner Bezüge gebunden ist und dass es sich in und an Erfahrungen weiterentwickelt. Indem Dewey so die Zeitlichkeit und praktische Involvierung der Reflexion akzentuiert, betont er zugleich die Performativität des Denkens. In diesem Sinne ‚forschende‘ Denkprozesse lassen sich als ein reflexives Ausprobieren von Erfahrungen charakterisieren. Damit ist keine Vernunft konturiert, die „den Dingen ihre widerborstige Realität“ (Meyer-Drawe 2000a, S. 40) aberkennt und sie einer eigenen Ordnung unterwirft, sondern ein Denken, das sich in einer dialogischen Praxis mit seinen Gegenständen entfaltet. Und das ist nicht nur auch intersubjektiv möglich; intersubjektive Beziehungen bieten dazu einige besonders förderliche Möglichkeiten. Ein Reflektieren, das eigene habituelle Dispositionen thematisieren will, ist auf die Wahrnehmung von tendenziell unbemerkt bleibenden 63 Wobei die ‚denkende Erfahrung‘ nicht für ein Idealbild der Erfahrung für Dewey zu halten ist; so findet sich in „Kunst als Erfahrung“ ein Konzept von Erfahrung, das sich – tendenziell – stärker auf Wahrnehmung als auf Denken bezieht. Dieser Unterschied ist wohl darauf zurückzuführen, dass „Demokratie und Erziehung“ stärker an der Frage orientiert ist, wie eine gesellschaftliche Institution (die Schule) als Erfahrungsraum beschaffen sein sollte, während „Kunst als Erfahrung“ nach der Besonderheit eines bestimmten Erfahrungstypus’ fragt. 221
FREUNDSCHAFT, INTERSUBJEKTIVITÄT UND ERFAHRUNG
Selbstverständlichkeiten angewiesen. Im konkreten Fall freundschaftlicher Beziehungen zeigt sich: Freunde wollen einander auch über die Grenzen des Eigenen verstehen. Gegenseitige kommunikative Anteilnahme (EinanderVerstehen-Wollen und Sich-verständlich-Machen) verlangt das Aufschieben von deduktiv-vorschnellen Zuschreibungen, die einem egozentrischen und gerade darin selbstvergessenen Denken nahe liegen können. Hier führt Intersubjektivität zu einem, wenn man so will, konstruktiven V-Effekt. „Sind … zwei Personen verschiedener Meinung, so müssen sie die Voraussetzungen, von denen sie ausgehen, hervorholen und vergleichen. Was vorausgesetzt wurde, muss genannt werden. Das was unbewusst angenommen wurde, muss beleuchtet werden.“ (Dewey 2002, S. 155). Im Dialog kann sich mehr als eine Sichtweise entfalten; aus ihrer Pluralität können verschiedene Perspektiven eine erste eigene Ansicht fraglich werden lassen und einander konstruktiv bereichern. Gerade das gemeinsame Durchspielen möglicher Bedeutungszusammenhänge durch deren Projektion auf gemeinsame Situationen kann zu einem fruchtbaren Wechselspiel zwischen der Aktualität und den Potentialen von Situationen führen. „Es ist … möglich, spielerische und ernsthafte Haltung zu verbinden, ja, dies ist sogar die ideale geistige Haltung. Im freien Spiel der Gedanken über irgendein Thema manifestiert sich die geistige Neugierde, bewegliches und vorurteilsloses Denken.“ (ebd., S. 158).
Freundschaft und die Dialektik von Habitus und Feld In Deweys Erfahrungsbegriff ergänzen sich soziale und subjektive Dimensionen von Bildung. Das Habitus-Konzept Pierre Bourdieus greift aus soziologischer Perspektive eine analoge Fragestellung auf: „Wie kann man das Individuum als vergesellschaftetes begreifen?“ (Krais/Gebauer 2002, S. 66). In beiden Konzepten ist das Subjekt originär sozial strukturiert. Sie unterscheiden sich allerdings im Hinblick auf das Verhältnis, in das sie das handelnde Subjekt zu diesen sozialen Strukturen setzen. Im Folgenden werden zunächst einige Positionen Bourdieus eingeholt, um dann zu zeigen, dass Deweys Überlegungen (maßgeblich jene zur Entwicklung und Veränderung von habits) Bourdieus Habitus-Konzept gewinnbringend ergänzen können. Dewey kann zwischen dem sozialkritischen Ansatz Bourdieus und der aus pädagogischbildungstheoretischer Perspektive elementaren Frage, „… welche Rolle dem Subjekt im Zusammenhang seiner Praxis zukommen soll…“ (Müller 1998, S. 274) eine verbindende Rolle spielen. Damit können wichtige Impulse für eine soziale Bildungstheorie gewonnen werden.
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BILDUNG JENSEITS DES SUBJEKTS
Bourdieus soziologisches Habitus-Konzept Bourdieus Konzept der sozialen Verfasstheit des Subjekts ist eine konstruktive Herausforderung für ein bildungstheoretisches Nachdenken. So ermutigt Meyer-Drawe (auch im Rückgriff auf Bourdieu) einerseits dazu, „Subjektivität als Formation“ (Meyer-Drawe 2000a, S. 44) zu begreifen – womit sie die soziale Bedingtheit von Bildung hervorhebt – und mahnt andererseits an, darüber das Subjekt als eine zentrale Figur im Bildungsprozess nicht zu vernachlässigen. „Die Instanz der Subjektivität ist unverzichtbar für eine Theorie der Intersubjektivität und Identitätsbildung, weil sie eine verantwortliche Stellungnahme in konkreten Situationen ermöglicht dadurch, dass das Selbst, sogar in extrem fremdbestimmten Lagen, als antwortend und mitwirkend fungiert.“ (ebd., S. 62). Ähnlich argumentiert Müller und fordert die Überschreitung von dualistischen Alternativen: „… hier der Mensch als Subjekt einer inneren Ordnung, die er in Kontakt mit den objektiven Bedingungen seiner Existenz hervorbringt; dort der Mensch als Objekt einer äußeren Ordnung, die sein subjektives Tun bestimmt. Beide Perspektiven bergen die Gefahr in sich, dass sie – absolut genommen – ihren Gegenstand verfehlen. Nur wenn sie trotz ihrer gegenläufigen Richtung den menschlichen Lebensprozess als ihren Konvergenzpunkt im Auge behalten, können sie bildungstheoretisch fruchtbar werden…“ (Müller 1998, S. 270). Mit Bourdieus Habitus-Konzept macht Müller eine wesentliche Referenztheorie für ein solchermaßen die Verschränkungen von Subjekt und Sozialität thematisierendes Denken aus. Allerdings kann das aus pädagogischer Perspektive nicht ohne ein spezifisches Interesse geschehen: „Eine produktive Auseinandersetzung mit seinem [Bourdieus; DK] Denken erfordert deshalb … eine doppelte Aufmerksamkeit: zum einen von der Frage geleitet, wie er sich als Soziologe der Bildungsproblematik nähert, und zum anderen, welchen Nutzen die pädagogische Bildungstheorie selbst aus diesem Zugang ziehen kann.“ (ebd., S. 271). Bourdieu geht nicht von einem autonom das eigene Handeln bestimmenden Subjekt aus, das den Dingen und den Mitmenschen souverän gegenübersteht. Er verortet die Genese von Sinn- und Verhaltensstrukturen im Zusammenwirken von Subjekt und sozialer Umgebung – wobei auch letztere für ihn nicht im Sinne objektiver Tatsachen gegeben ist, sondern durch soziale Praxis hervorgebracht wird. In dieser grundlegenden Orientierung will Bourdieu einen Dualismus von einerseits objektivistischen Sichtweisen, die das menschliche Handeln als Effekt gegebener äußerer Bedingungen verstehen, und andererseits subjektivistischen Auffassungen, die die Autonomie der Subjekte betonen und darüber die soziale und kulturelle Bedingtheit menschlichen Handelns außer Acht lassen, überwinden (vgl. dazu Müller 1998, S. 271 f. und Fröhlich 1994, S. 33 f.). Diese doppelte Aufmerksamkeit ist eine Kernfigur in der Theorie Bourdieus. Auf der einen Seite beschreibt er soziale Struk223
FREUNDSCHAFT, INTERSUBJEKTIVITÄT UND ERFAHRUNG
turen, die dem Subjekt vorgängig und vorgegeben sind: „Da seine Handlungen und Werke Produkt eines modus operandi sind, dessen Produzent es nicht ist und die es bewusst nicht beherrscht, schließen sie … eine ‚objektive Intention‘ ein, die dessen bewusste Absichten stets übersteigt.“ (Bourdieu 1976, S. 178 f.; H.i.O.). Auf der anderen Seite sind diese sozialen Sinnstrukturen selbst nicht einfach gegeben, sondern wiederum Produkt einer sozialen Praxis. Insofern gehen von deren „… modus operatum neue Auslöser und neue Stützen für den modus operandi aus, der sie hervorbringt, dergestalt, dass sein Diskurs sich beständig – wie ein Zug, der seine eigenen Schienen mit sich führt – aus sich selbst nährt.“ (ebd., S. 179; H.i.O.; vgl. dazu auch Krais/Gebauer 2002 S. 5 f. und S. 31 ff.). Dadurch rückt die soziale Wirklichkeit als Praxis ins Zentrum des Bourdieu’schen Denkens – und damit das Interesse dafür, mit welchen Strategien Akteure soziale Positionen einnehmen bzw. wahren und damit zugleich für die von ihnen eingenommenen sozialen Orte Strukturen erzeugen, die dort wiederum bestimmte Verhaltenweisen privilegieren.64 Insgesamt entwickelt Bourdieu einen kritischen Blick darauf, wie sich die soziale Wirklichkeit mit ihren Ungleichverteilungen von Möglichkeiten und Mitteln gliedert und wie sich diese Gliederung einschließlich der Privilegierung bestimmter Gruppen und der Benachteiligung anderer Gruppen reproduziert (vgl. z.B. Bourdieu/Passeron 1971; Bourdieu 1984 und 1997). Zur Erklärung der Genese und Vererbung dieser distinktiven Gliederung zieht Bourdieu einerseits den Begriff des Kapitals heran.65 Andererseits entwickelt er sein Habitus-Konzept, das für die hier angestellten Überlegungen von besonderem Interesse ist. Mit dem Begriff des Habitus beschreibt Bourdieu den tiefgreifenden und weitreichenden Prozess, in dem sich auf dem Wege der körperlichen Gewöhnung und mimetischen Aneignung Verhaltensweisen und Einstellungen in das Subjekt einschreiben. In seiner leiblichen Präsenz in der sozialen Welt ist der Habitus – genauer gesagt: sind die vielen verschiedenen Habitusformen, die sich „in der Geschichte der Akteure“ (Müller 1998, S. 272) entwickeln – einerseits Antwort auf ein Leben in bestimmten sozialen Bedingungen, andererseits bildet der Habitus in den Akteuren jene 64 Zu Bourdieus praxeologischem Zugang vgl. aus pädagogischer Perspektive Müller 1998, S. 270 ff., Liebau 1994. 65 Neben dem ökonomischen Kapital charakterisiert er mit dem sozialen Kapital – „Ressourcen, die auf der Zugehörigkeit zu einer Gruppe beruhen“ (Bourdieu 1983, S. 190 f.) – und dem kulturellen Kapital – der Besitz, aber auch die Fähigkeit eines angemessenen Gebrauchs von kulturellen Gütern sowie institutionalisiert vergebene Bildungs-Titel (vgl. Bourdieu 1983) – zwei weitere Formen von Besitz, dessen spezifische Verteilung über die „Struktur der gesellschaftlichen Welt“ (vgl. Bourdieu 1983, S. 183) entscheidet und – je nachdem, in welchem Umfang man über Kapital der verschiedenen Arten verfügt – mit höheren oder geringeren „Erfolgschancen“ (ebd.) für bestimmte gesellschaftliche Positionen ausstattet (vgl. Bourdieu 1984, S. 193 ff.). 224
BILDUNG JENSEITS DES SUBJEKTS
Dispositionen aus, die als „praktischer Glaube“ (Bourdieu 1997, S. 126) eben jenes Verhalten leiten, das diejenigen Praktiken hervorbringt und erhält, die in bestimmten sozialen Lagen dominieren. „Der Habitus ist Produkt und Produzent von Praktiken zugleich: Frühere Erfahrungen kondensieren sich in den Menschenkörpern als Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata und bleiben so aktiv präsent. Übereinstimmung und Konstanz von Praktiken im Zeitverlauf erklärt sich Bourdieu primär aus der Funktion der vorbewussten und weitgehend kohärenten Habitus-Schemata und weniger aus formalen Regeln und expliziten Normen.“ (Fröhlich 1994, S. 38). Gerade darin, dass der Habitus soziale Normen jenseits einer expliziten Überlieferung erzeugt und sichert, liegt seine Wirkmächtigkeit. Für Bourdieu sind es nicht nur die kategorischen Direktiven (also etwa die Organisation des Bildungssystems, die Lehrpläne von Schulen und Universitäten und deren Didaktik oder gar politische Programme), die die soziale Wirklichkeit strukturieren, sondern gerade auch die schleichende und sozusagen homöopathische Gewöhnung an die eigene soziale Lage mit ihren spezifischen Bedingungen und Praktiken, die „…bewirkt, dass man hat, was man mag, weil man mag, was man hat…“ (Bourdieu 1984, S. 286) Diese Gewöhnung ist ein körperlicher Prozess. Das, was wir für angemessen halten, vom alltäglichen Verhalten bis hin zu biographisch weitreichenden Entscheidungen, folgt einem „praktischen Sinn“ (Bourdieu 1997, S. 122), der sich nicht rational artikuliert und kognitiv erworben wird, sondern der sich in unsere Körper einschreibt. „Der praktische Glaube ist kein ‚Gemütszustand‘ und noch weniger eine willentliche Anerkennung eines Korpus von Dogmen und gestifteten Lehren (‚Überzeugungen‘), sondern … ein Zustand des Leibes.“ (ebd., S. 126; H.i.O.). So sind es (a) wesentlich körperliche Praxen, in denen sich soziale Lagen materialisieren und verankern, und (b) vermeintlich unscheinbare Disziplinierungen des Körpers, denen spezifische soziale Normen und Einstellungen innewohnen und durch die diese implizit und gerade dadurch wirkungsvoll tradiert werden. Zu (a): Über bestimmte Arten zu gehen, zu stehen, zu sitzen, zu sprechen, zu essen, uns zu kleiden, uns einzurichten etc. gewöhnen wir uns an die damit einhergehenden Wertungen und Haltungen, nehmen sie an wie einen „Glauben“ (ebd., S. 124). Bourdieu erläutert dies u.a. am Beispiel des Essens: „Die gesellschaftliche Definition der jeweils angemessenen Speisen und Getränke setzt sich nicht allein durch die quasi bewusste Vorstellung von der verbindlichen äußeren Gestaltung des wahrgenommenen Körpers und zumal seiner Dickleibigkeit oder Schlankheit als Norm durch; vielmehr liegt der Wahl einer bestimmten Nahrung das gesamte Körperschema, nicht zuletzt die spezifische Haltung beim Essen selbst zugrunde.“ (Bourdieu 1984, S. 307). Die Einverleibung der sozialen Lage ist das zentrale Entstehungs- und Erhaltungsprinzip des Habitus. „Der Geschmack: als Natur gewordene, d.h. inkorporier225
FREUNDSCHAFT, INTERSUBJEKTIVITÄT UND ERFAHRUNG
te Kultur, Körper gewordene Klasse, trägt er bei zur Erstellung des ‚Klassenkörpers‘; als inkorporiertes, jedwede Form der Inkorporation bestimmendes Klassifikationsprinzip wählt er aus und modifiziert er, was der Körper physiologisch aufnimmt, verdaut und assimiliert, woraus folgt, dass der Körper die unwiderlegbarste Objektivierung des Klassengeschmacks darstellt, diesen vielfältig zum Ausdruck bringt: zunächst einmal in seinen scheinbar natürlichsten Momenten – seinen Dimensionen (Umfang, Größe, Gewicht, etc.) und Formen (rundlich oder vierschrötig, steif oder geschmeidig, aufrecht oder gebeugt, etc.), seinem sichtbaren Muskelbau, worin sich auf tausenderlei Art ein ganzes Verhältnis zum Körper niederschlägt, mit anderen Worten, eine ganz bestimmte, die tiefsitzenden Dispositionen und Einstellungen des Habitus offenbarende Weise, mit dem Körper umzugehen, ihn zu pflegen und zu ernähren.“ (ebd.). Zu b): So wie sich der Habitus durch spezifische soziale Körperpraxen manifestiert, so trägt gerade auch die Erziehung zur Anpassung an für sich genommen vermeintlich unbedeutende Gepflogenheiten sublim und eben dadurch wesentlich zur Reproduktion genereller Einstellungen bei. „Man könnte in Abwandlung eines Worts von Proust sagen, Arme und Beine seien voller verborgener Imperative. Und man fände kein Ende beim Aufzählen der Werte, die durch jene Substanzverwandlung verleiblicht worden sind, wie sie die heimliche Überredung durch eine stille Pädagogik bewirkt, die es vermag, eine komplette Kosmologie, Ethik, Metaphysik und Politik über so unscheinbare Ermahnungen wie ‚Halt dich gerade!‘ oder ‚Nimm das Messer nicht in die linke Hand!‘ beizubringen und über die scheinbar unbedeutendsten Einzelheiten von Haltung, Betragen oder körperliche und verbale Manieren den Grundprinzipien des kulturell Willkürlichen Geltung zu verschaffen, die damit Bewusstsein und Erklärung entzogen sind…. Die List der pädagogischen Vernunft liegt gerade darin, dass sie das Wesentliche unter dem äußeren Schein abnötigt, nur Unwesentliches, wie z.B. Beachtung der Formen und Formen der Achtung zu erheischen, sichtbarste und zugleich ‚selbstverständlichste‘ Manifestation der Unterwerfung unter die bestehende Ordnung…“ (Bourdieu 1997, S. 128; H.i.O.). In seiner körperlichen Genese und Tradition fungiert der Habitus – das muss im Blick auf Bourdieus gesellschaftskritische Perspektive noch einmal betont werden – vorbewusst. „Der Habitus erzeugt Vorstellungen und Handlungsweisen, die stets genauer, als es den Anschein haben mag, den objektiven Umständen entsprechen, denen sie entstammen. Mit Marx behaupten, dass ‚der Kleinbürger die Grenzen seines Hirns nicht zu überschreiten vermag‘ … heißt feststellen, dass sein Denken denselben Beschränkungen unterliegt wie seine materielle Lage, dass seine Lage ihn gewissermaßen doppelt beschränkt, nämlich einmal durch die materiellen Schranken, die sie seinem Handeln auferlegt, und sodann durch die Schranken, die sie seinem Denken 226
BILDUNG JENSEITS DES SUBJEKTS
setzt … und die ihn dazu bringen, seine eigenen Grenzen zu akzeptieren, ja zu lieben.“ (Bourdieu 1984, S. 378). Im Habitus konvergieren im Subjekt objektive Bedingungen mit subjektiven Erwartungen und Verhaltensmustern. Diese Verschmelzung ist in ihrer spezifischen Ausprägung abhängig von den jeweiligen sozialen Orten, an denen sich die Akteure befinden; in deren spezifischen Gegebenheiten und in den dort dominanten Praktiken formieren sich Verhaltensweisen und Einstellungen, von denen diese Gegebenheiten und Praktiken wiederum erhalten werden. Um diese Komplementarität zu beschreiben, greift Bourdieu auf den Begriff des Feldes zurück und entfaltet ausgehend vom Prinzip der Arbeitsteiligkeit eine räumlich differenzierende Interpretation der Gesellschaft (vgl. dazu auch Krais/Gebauer 2002, S. 55 ff.). Im sozialen Raum haben sich Komplexe entwickelt, in denen nach eigenen Regeln bestimmte Interessen verfolgt werden. Im eigentlichen Sinne sind Felder nicht als Teilbereiche der Gesellschaft zu verstehen, die zusammen ihr Ganzes ausmachen, sondern eher als thematische oder, wenn man so will, kulturelle Schneisen, die sich durch die Gesellschaft wie durch einen dreidimensionalen Raum ziehen und auf verschiedene Sujets ausgerichtet sind. So hat Bourdieu z.B. Schule (2001a) und Universität (1971, zusammen mit Jean-Claude Passeron), aber auch Bereiche wie Literatur und Kunst (2001b) oder Religion (2000b) sowie besonders prominent auch den kulturellen Konsum (1984) als Felder untersucht und beschrieben. Mit dem Feldbegriff gewinnt Bourdieu eine Perspektive, die über Vorstellungen, nach denen sich Klassen oder Milieus wie Erdschichten in einer Art zweidimensionalen Statik übereinander lagern, hinausgeht. Er greift damit auch die quasi physikalischen Kräfteverhältnisse auf, die innerhalb der einzelnen Felder wirken und spezifische Wertungen der verschiedenen Kapitalformen bedingen; ein soziales Feld lässt sich als Kräftefeld verstehen, in dem die Akteure sich mit spezifischen Strategien positionieren, und „… in dem es um einen spezifischen Einsatz geht.“ (Krais/Gebauer 2002, S. 56). Aufgrund ihrer spezifischen sozialen Herkunft sind die Akteure mit einem bestimmten Vorrat an Kapital (in verschiedenen Formen) ausgestattet, der sie für die verschiedenen Felder und deren charakteristische Kraftflussrichtungen mit unterschiedlichen Erfolgschancen versieht. Dieser nach Herkunft und gesellschaftlicher Teilhabe differenzierte Ansatz entwickelt eine hohe Erklärungskraft z.B. für die Frage, weshalb eine bestimmte soziale Herkunft66 mit
66 In „Die Illusion der Chancengleichheit“ richten Bourdieu und Passeron ihr Augenmerk auf die Bildungschancen, die sich aus einer v.a. nach Berufsgruppen der Eltern differenzierten sozialen Herkunft ergeben. Den dramatischen Zusammenhang von sozialer Herkunft und Bildungserfolg haben die (in manch anderer Hinsicht mit Sicherheit fragwürdigen) PISA-Untersuchungen nachdrücklich bestätigt. 227
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signifikanter Wahrscheinlichkeit zu bestimmten Bildungskarrieren führt.67 „Die Logik des Feldes selektiert und sanktioniert tendenziell jeden legitimen Bruch mit der in der Struktur des Feldes objektivierten Geschichte – das heißt jeden Bruch, der aus einer durch die Geschichte des Feldes gebildeten und über sie informierten, also der Kontinuität des Feldes einbeschriebenen Disposition hervorgeht.“ (Bourdieu 2001b, S. 385). Wer also in einem Feld (wie dem der Bildung) erfolgreich sein will, muss dessen Regeln beherrschen und den spezifischen Erwartungen genüge tun (im Falle der schulischen oder universitären Bildung bedeutet das: sich einer bestimmten „Begabungsideologie“ (Bourdieu/Passeron 1971, S. 32) einpassen), die dort vorherrschen. Der Begriff des Feldes ist aus einer zweiten Richtung metaphorisch durchwirkt. Neben dem gerade umschriebenen Bedeutungsgehalt, der sich aus dem Vorstellungsreservoir der Physik speist, versieht ihn Bourdieu mit einer Sinndimension, die dem Sport entlehnt ist. Felder funktionieren für ihn auch nach dem Muster von Spielen. Dieser Aspekt ist bereits angesprochen worden (siehe Kapitel 4). Hier bleibt hervorzuheben, dass das Verhalten der Akteure im Feld zu verstehen ist wie das Verhalten von Spielern im Spiel. „Der gute Spieler, gewissermaßen das Mensch gewordene Spiel, tut in jedem Augenblick das, was zu tun ist, was das Spiel verlangt und erfordert. Das setzt voraus, dass man fortwährend erfindet, um sich den unendlich variablen, niemals ganz gleichen Situationen anzupassen.“ (Bourdieu 1992, S. 83). Diese Gleichzeitigkeit von Assimilation und Kreativität erscheint paradox. Jedoch „… geht es nicht darum, das Problem in Begriffen von Spontaneität und Zwang, Freiheit und Notwendigkeit, Individuum und Gesellschaft zu stellen. Der Habitus als ‚Spiel-Sinn‘ ist das zur zweiten Natur gewordene, inkorporierte soziale Spiel. Nichts ist zugleich freier und zwanghafter als das Handeln des guten Spielers. Gleichsam natürlich steht er genau dort, wo der Ball hinkommt, so als führte ihn der Ball – dabei führt er den Ball!“ (ebd., S. 84; H.i.O.). Das Verhalten von Subjekten ist eines von Mitspielern im Feld. Sie passen sich in ihren Erwartungen und Intentionen den im Feld statthaften Strukturen (Was ist wertvoll?/Was ist angemessen?) an und üben sich in ein entsprechendes antizipatorisches und antwortendes Verhalten ein. Dabei, das ist ein wichtiger Punkt, ergreift nach Bourdieus Vorstellung das Spiel die Spieler, und erzeugt in ihnen einen Glauben (illusio) an seine Verbindlichkeit. Dieser Glaube ist umso fester, und das heißt auch umso weniger als solcher erkennbar, je „…früher man sich auf das Spiel und die damit zusammenhängenden Lernprozesse einlässt, wobei man im Extrem natürlich in das Spiel
67 Diese Differenzierung hat zudem den hohen Wert, dass sich mit ihrer Hilfe Kritik reflektierter üben lässt. Nicht spezifische soziale Milieus sind per se defizitär, sondern die Aufnahme, die ihnen im Feld des Bildungssystems zuteil wird. 228
BILDUNG JENSEITS DES SUBJEKTS
hineingeboren, mit ihm geboren wird.“ (Bourdieu 1997, S. 124; vgl. dazu Krais/Gebauer 2002, S. 59; siehe auch Kapitel 4). Habitus und Feld leisten sich also wechselseitig Beihilfe. Wichtig ist zu ergänzen, dass dieses Verhältnis nicht als statisch und deterministisch aufzufassen ist. So ist zum einen der Habitus nicht unveränderlich: „Der Habitus, Produkt sozialer Konditionierungen, folglich einer Geschichte …, ist in unaufhörlichem Wandel begriffen, sei es, dass er sich verstärkt, und zwar immer dann, wenn die inkorporierten Erwartungsstrukturen auf Strukturen von Chancen stoßen, die mit den Erwartungen objektiv übereinstimmen, sei es, dass er sich grundlegend verändert, wenn das Erwartungsniveau, die Anspruchslage sich erhöht oder aber sinkt …“ (Bourdieu 1989, S. 406 f.). Zum andern bindet der Habitus das Subjekt nicht an ein konkretes Verhalten. „…der Habitus ist ein System von Grenzen. Wer z.B. über einen kleinbürgerlichen Habitus verfügt, der hat eben auch, wie Marx einmal sagt, Grenzen seines Hirns, die er nicht überschreiten kann. Deshalb sind für ihn bestimmte Dinge einfach unmöglich; es gibt Sachen, die ihn aufbringen oder schockieren. Aber innerhalb dieser Grenzen ist er durchaus erfinderisch, sind seine Reaktionen keineswegs immer schon im voraus bekannt.“ (Bourdieu/Zimmermann, S. 206). So meint auch Müller zur Rolle des Subjekts bei Bourdieu: „Ohne sich aus den habituierten und den aktuellen sozialen Ordnungen tatsächlich lösen zu können, kann es sich doch zu ihnen verhalten.“ (Müller 1998, S. 274; H.i.O.). Bourdieu stellt eine große Herausforderung an eine pädagogische Bildungstheorie dar. Einerseits lässt er die Vorstellung eines autonomen Subjekts höchst fraglich werden. Seine Alternative, strategisches Handeln gemäß eines „Spiel-Sinns“ (s.o.) zu verstehen, in dem in sozialer Praxis soziale und individuelle Strukturen verschmelzen, verweist andererseits auf solche Zwischenmöglichkeiten, die die hier herangezogenen bildungstheoretischen Positionen (Meyer-Drawe, Müller) thematisieren, und für die er eine wichtige Referenz ist. Dabei ist allerdings ein wichtiger Unterschied in den Perspektiven zu beachten. „Immer an der Frage orientiert, wodurch die sozialen Unterschiede zwischen gesellschaftlichen Gruppen stets wieder neu hervorgebracht werden, ist der einzelne mit seiner Lebensgeschichte für ihn [Bourdieu; Erg. DK] nur insoweit von theoretischem Interesse, als er ‚sozialer Akteur‘ ist, der den allgemeinen Habitus einer Klasse repräsentiert, also Verhaltensdispositionen erworben hat, die es wahrscheinlich machen, dass er sich in sozialen Situationen auf eine bestimmte Weise verhält.“ (Müller 1998, S. 275; H.i.O.). Während Bourdieu sein Hauptaugenmerk auf die Genese sozialen Sinns im Subjekt richtet, den sich dieses zueigen macht, muss sich eine pädagogische Bildungstheorie auch nach den Möglichkeiten von Individuen fragen, im Rahmen gegebener und sich im Subjekt sedimentierender sozialer Strukturen subjektiven Sinn zu entwickeln. Kurz gesagt, es ergibt sich die Aufgabe einer 229
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ergänzenden Perspektivenumkehr. „So sehr die Theorie der Habitualisierung und Inkorporation sozialen Sinns die pädagogische Bildungstheorie vor dem Irrtum bewahren kann, es gäbe irgendwo einen Erfahrungssachverhalt ‚im‘ Menschen, der von gesellschaftlich-kulturellen Prägungen frei und deshalb als authentischer Kern seines individuellen Wesens dem Ich näher sei, als dem Nicht-Ich …, so wenig kann sie es der Bildungstheorie abnehmen zu erkunden, wie weit der natürliche Organismus seinerseits – mit seiner Eigentümlichkeit, seiner Vitalität, seiner Potentialität und seiner Widerständigkeit – an der Konstitution von Erfahrungen, von Lebensgeschichten, von Selbst- und Weltbezügen beteiligt ist.“ (ebd., S. 276). Aus pädagogischer Perspektive ist also zwischen habituellen Bildungsprozessen und solchen Bildungsprozessen, die den Habitus transformieren, zu unterscheiden – wobei keine dieser Dimensionen als die ‚eigentliche‘ Form von Bildung anzusehen ist. „Für Bourdieu sind ‚Bildung‘ und ‚Habitus‘ dasselbe, weil ihn Bildungsprozesse vor allem unter dem Gesichtspunkt der Genese personaler Dispositionen, ihrer sozialen Funktionalität und ihrer sozialen Präformation interessieren. Doch Bildung lässt sich … darüber hinaus als ein Prozess verstehen, der primär von der Überschreitung des jeweils Gewordenen ausgeht, von der (im weitesten Sinne reflexiven) Distanznahme gegenüber der faktischen Lebenspraxis und vom Sichverhalten zu den eigenen Dispositionen…“ (Müller 2007, S. 147; H.i.O.).
Deweys pädagogisches Habitus-Konzept Bei dieser Konversion des Blicks kann Deweys Theorie des experience und der habits wertvolle Hilfe leisten. Beide, Bourdieu und Dewey, erklären das Entstehen von Sinn aus sozialer Praxis. Für Dewey ist es der gemeinsame Gebrauch, der den Dingen Bedeutung gibt (vgl. Dewey 2000, S. 49 ff.). Auch er betont, wie essentiell Sozialität und Praxis für die menschliche Entwicklung sind. Ansichten, die ein autonomes Erkenntnissubjekt mit einem solipsistischen Bewusstsein ausstatten, hält er unmissverständlich entgegen, dass sie irren, weil sie „eine falsche und unmögliche Scheidung von Menschen und Dingen“ (ebd., S. 55; s.o.) implizieren. Dewey entwickelt seine Erziehungsphilosophie also in der Überschreitung eines Dualismus von Subjekt-/Objekt-Perspektiven und geht damit von einer Grundorientierung aus, die auch Bourdieu zu seinem Konzept der Habitualisierung von sozialem Sinn führt. Neben diesen (und anderen) Kongruenzen zeigt sich zwischen beiden jedoch auch eine zentrale Differenz. Während Bourdieu die Entwicklung eines Habitus als einen sublimen und chronischen Prozess beschreibt, nimmt Dewey mit seinem Konzept der Erfahrung auch singuläre Ereignisse in den 230
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Blick, die zur Entwicklung bzw. Erweiterung von habituellen Dispositionen führen können und dies auch dadurch ermöglichen, dass sie vorhandene habits in einem neuen Licht zeigen. In Erfahrungen kann die Gewahrwerdung von habits mit der Entwicklung habitueller Dispositionen zusammenfallen. Die Aufklärung von Gewohnheiten vollzieht sich im Zuge des Machens von Erfahrungen damit in einer originell gedachten Weise: das Individuum verändert seine Gewohnheiten auf dem Wege, auf dem diese zuvor auch entstanden sind. Habitus bei Dewey ist in dieser bedingten Verfügbarkeit ein anderes Konzept als Habitus bei Bourdieu: Während Bourdieu eine soziologische Habitustheorie entwirft, hat man es bei Dewey mit einer pädagogischen Habitustheorie zu tun. Dabei geht es hier natürlich nicht darum, wer ‚Recht‘ hat. Bourdieu öffnet in einzigartiger investigativ-kritischer Weise den Blick für die habituellen und damit sozialen Dimensionen von Bildung und ihrer Ungleichverteilung – und für die sich daraus ergebenden Aufgaben ihrer Umverteilung. In den pädagogischen Konsequenzen, die Dewey und Bourdieu ziehen, zeigen sich allerdings unterschiedliche Perspektiven, in denen gerade Deweys Akzentsetzung auf einen konstruktiven Umgang mit entwickelten habits durch die Ermöglichung von entsprechenden Erfahrungen eine wichtige Alternative darstellt. Bourdieus pädagogische Konsequenz ist die Forderung einer „rationalen“ (Hochschul-)Didaktik (vgl. Bourdieu/Passeron 1971). „Ein Literaturprofessor darf sprachliche und rhetorische Virtuosität, die ihm nicht ohne Grund eng mit dem Gehalt der Bildung, die er vermittelt, verbunden scheint, … nur dann erwarten, wenn er diese Fähigkeiten als das, was sie sind, ansieht, nämlich als Techniken, die durch Übung erworben werden können [d.h. nicht als Fähigkeiten, die aufgrund von Begabung existent sind oder nicht; Erg. DK], und wenn er es sich gleichzeitig zur Aufgabe macht, allen die Möglichkeit zu ihrem Erwerb zu geben.“ (ebd., S. 87 f.). Bourdieu mahnt – zumal für pädagogische Institutionen – die Vermeidung einer stillen, sich in den fein gesponnenen Kraftfeldern des Habitus vollziehenden Selektion an. Dabei hebt er auch hervor, dass der Habitus die biographisch-soziale Selbstbestimmung der Individuen einschränkt. „Der Habitus, (innerhalb bestimmter Grenzen) durch den Einfluss einer Laufbahn veränderbar, die zu anderen als den ursprünglichen Lebensverhältnissen führt, kann schließlich durch Bewusstwerdung und Sozioanalyse unter Kontrolle gebracht werden.“ (Bourdieu 1989, S. 407). Ohne eine Lotsin in Gestalt einer Rationalisierung des Habitus ist der Einzelne dem Feld preisgegeben – sein Verhalten kann kaum zu Veränderungen in den Strukturen des Feldes führen. Im Lauf der Biographie tendiert dieser Zusammenhang zur Verdichtung: je länger man im Feld agiert (und je besser man dort infolge ‚spielen‘ kann), desto tiefer schreiben sich dessen Strukturen ein.
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Dewey begreift habits nicht als Ballast68, sondern als Ressource. Gewohnheiten stellen für ihn nicht nur sedimentierte soziale Strukturen dar, die unser Verhalten anonym orientieren, sondern eine Grundausstattung an Verhaltensund Denkweisen, die dem Individuum zur eigenen Weiterentwicklung zur Verfügung stehen, weil sie in „Beziehung zu mannigfaltigem und biegsamem Gebrauch und damit zu dauerndem Wachstum“ (Dewey 2000, S. 73) stehen. Weil sie also in ihrer Handhabbarkeit veränderlich und nicht nur durch Veränderung der Umstände mittelbar flexibel sind, versteht Dewey die habits als Substanz gesellschaftlicher wie individueller Entwicklung, sie sind für ihn „das Wachstum selbst“ (ebd., S. 79). Bourdieu dagegen sieht den Habitus als Mechanismus gesellschaftlicher Reproduktion. Von diesem Unterschied her erklärt sich auch die Verschiedenheit der pädagogischen Folgerungen Deweys von denen Bourdieus. Weil dem Subjekt seine Gewohnheiten grundsätzlich zur Verfügung stehen, ist es für Dewey plausibel, Erfahrungsräume zu gestalten, in denen sich Erfahrungen machen lassen, die auf zwei Seiten hin ausstrahlen: Die das Vertraute, das Eigene zum Thema haben und es zugleich fraglich werden lassen. „Wenn … das Vertraute nicht unter Verhältnissen gezeigt wird, die neuartige Faktoren enthalten, so gibt es dem Denken keinen Stoß, drängt zu keiner Erklärung.“ (Dewey 2002, S. 161). Vor allem aber hebt er mit seinem Konzept der Erfahrung Sinnformen jenseits einer rationalistischen Vernunft hervor und macht auf die praktische oder emotionale oder ästhetische Gestalt aufmerksam, die Sinn oder, wenn sich das so sagen lässt, Erkenntnis haben kann. Dewey konturiert eine aus konkreten Situationen hervorgebrachte und mit diesen verknüpfte Erkenntnis, die dem reflexiven Nachvollzug offen steht, mit ihm aber nicht zusammenfällt, sondern ihn allererst möglich macht, weil ihr eigene Sinnpotentiale innewohnen. In der Begriffskette von social medium, habits und excperience ist die so wichtige Differenzierung zwischen Feld und Milieu nicht enthalten, die Bourdieu entwickelt, trotzdem kann Dewey in seiner pragmatistischen Praxeologie fruchtbare Hinweise darauf geben, wie Individuen mit ihrer konkreten Umgebung konstruktiv umgehen können und unter welchen Bedingungen sie das können. Er entwickelt einen mittleren Weg zwischen Aufgehen im Habitus und dessen distanzierter Rationalisierung.
Zum Gebrauch der habits Von Dewey kann man also lernen, mit dem Habitus zu arbeiten – anstatt gegen ihn. Damit ist nicht gesagt – das sei noch einmal betont –, dass die Aufklärung über den Habitus, die Bourdieu für erforderlich hält, nicht sinnvoll
68 Damit ist nicht unterstellt, dass Bourdieu das so einseitig täte. 232
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und notwendig und zumal als Aufforderung zur Selbstaufklärung pädagogischer Institutionen unerlässlich ist. Es geht vielmehr um den Zugewinn einer weiteren Perspektive. Neben einem Bewusst-Machen und Reflexiv-Werden des Habitus im Sinne der Stiftung einer Außenperspektive kann die Stärkung einer Innenperspektive, zu verstehen als Wertschätzung und Förderung der Aufmerksamkeit für die eigenen habits, zu deren Erweiterung durch neue Erfahrungen führen; ein Prozess, dem zugleich Reflexion und Habitualisierung innewohnen. Ein anderer, aufmerksamerer Blick, der sich maßgeblich durch eine geschützte bzw. geförderte Pluralität einstellt, durch die Berührung mit anderen habits, die sich den eigenen zugesellen, kann zur Hervorbringung neuer Erfahrungen führen, die ihrerseits einem experimentellen Nachdenken Anstoß geben und es in neue Zusammenhänge lotsen. In den beschriebenen freundschaftlichen Erfahrungsprozessen lassen sich solche Strategien aufzeigen. Es handelt sich dabei um ineinander greifende Verhaltensweisen, mittels derer die Freunde habituellen Sinn einer reflexiven Bedeutung zuführen.
Improvisation Alle Gespräche verweisen darauf, dass sich unter den Freunden eine eigene Gesprächskultur entwickelt. Sie greifen auf spezifische Umgangsweisen mit Meinungsverschiedenheiten zurück und lassen eine besondere Vertraulichkeit erkennen: Sie thematisieren eindrückliche persönliche Erfahrungen und achten darauf, vor Dritten Diskretion zu wahren. Kurz gesagt, sie führen ihre Gespräche mit Bedacht. Mit Dewey lässt sich das so verstehen: die Freunde haben sich aneinander gewöhnt. Damit sind zwei Aspekte angesprochen. Die Freunde schreiben bestimmten Themen eine spezifische Legitimität zu und achten auf einen angemessenen Umgang mit den Gegenständen ihres Gesprächs. Das spiegelt gemeinsame Gewohnheiten der Freunde wider. Diese gemeinsamen Gewohnheiten implizieren ihrerseits, dass die einzelnen Freunde die Gewohnheiten des Freundes kennen. Denn die freundschaftlichen Beziehungen erschöpfen sich nicht in Homogenität. Zwischen den Freunden gibt es Altersunterschiede, die verschiedene Interessenlagen nach sich ziehen, es gibt Geschmacksunterschiede, die sich im Laufe einer lange währenden Beziehung ergeben haben und es gibt teilweise unterschiedliche Erwartungen, die die Freunde an ihre Beziehung richten. In allen Gesprächen ist zu beobachten, dass die Freunde diejenigen Haltungen ihres Freundes, die sie nicht teilen, auf eine Weise ansprechen, die die Offenheit der freundschaftlichen Beziehung für Differenz zeigt. Die mehrschichtige Gewöhnung aneinander befähigt die Freunde zu einem spielerischen Umgang miteinander. Die gegenseitige Vertrautheit mit den habituellen Hintergrundmotiven des Anderen und das Wissen übereinander versetzen sie in die Lage, bestimmte Begebenheiten im Gespräch zu be233
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rühren, die für eine gemeinsame Entfaltung ihrer Bezüge oder als Erzählimpuls für den Freund besonders anschlussfähig sind (das kann z.B. eine besondere Platte oder ein gemeinsames Erlebnis sein, aber auch die ‚richtige‘ Frage im ‚richtigen‘ Moment). Der Erfahrungsraum der freundschaftlichen Beziehung und die in ihm fungierenden gemeinsamen Gewohnheiten ermöglichen diese Improvisationen. Dabei muss ein solches Antippen von Themen durch die Freunde nicht in der Absicht einer konstruktiven Auseinandersetzung geschehen; schon gar nicht ist es auf ein bestimmtes inhaltliches Ziel hin ausgerichtet. Es ist vielmehr durch ein geübtes Assoziieren bedingt, in dessen Vollzug sich Erfahrungsräume für die Freunde öffnen. Das, was sich aus ihrem Gespräch konstruktiv ergibt, die Erfahrungen, die sie machen, die Bedeutungen, die sie generieren, all das geschieht nicht in der Art, wie man ein festgelegtes Ziel erreicht. Auch wenn es für die Freunde sicher so ist, dass die evozierende und konstruktive Qualität ihrer Gespräche für sie von hohem Wert ist, führen sie ihre Gespräche nicht mit der Intention, dass ihnen bestimmte Gesprächsverläufe gelingen sollen. Was sich zwischen ihnen im Gespräch vollzieht, geht aus dessen konkretem Verlauf hervor. Diese Handlungsorientierung kommt dem Konzept nahe, das in Dewey als Pate einer sozialen Bildungstheorie schon aufgegriffen wurde. Für Dewey ist jede Erfahrung an ihren praktischen Vollzug gebunden; deswegen kann sich eine Erfahrung nicht entlang einer vorgängigen Intention entwickeln; sie „…muss auf dem beruhen, was bereits geschieht.“ (Dewey 2000, S. 142). Den im Gespräch miteinander eingespielten Freunden scheint es vergleichsweise leicht zu fallen, gemeinsam konstruktiv auf Situationen und ihre Möglichkeiten einzugehen. Deutlich wird dieses Ineinandergreifen von situativer Gewandtheit und impliziter Abstimmung nicht zuletzt auch in den Szenen, in denen die Freunde aus einem erzählenden Gesprächston in den Modus eines darstellenden Nachspielens wechseln. In diesen Momenten „subjektiver Anverwandlung“ (von Hentig 2004, S. 118) greifen die Freunde einerseits auf konkret erlebte Situationen zurück und beziehen sich auf habituelle Wahrnehmungsmuster (denn sie erklären die entsprechenden Begebenheiten nicht, sondern stellen sie dar und gehen davon aus, dass der Freund sie ‚richtig‘ auffasst); andererseits gelangen sie über ihren mimetischen Rekurs auch zu neuen, reflexiv entwickelten Bedeutungen. Die Vertrautheit der Freunde mit ihrer Beziehung als Feld führt sie zu ihnen nahe liegenden Berührungspunkten, die sie als situative Möglichkeiten konstruktiv aufgreifen. Dabei tritt ein Aspekt hervor, in dem sich eine zentrale Differenz zwischen Bourdieu und Dewey zeigt. Bourdieu knüpft die Vertrautheit mit Feldern an das Hineinwachsen in sie. Das Spiel ergreift die Spieler (s.o.). Dewey plädiert dagegen für eine auch reflektierte Handhabung von habits. Grundbedingung dafür sind demokratische Strukturen, die eine gleichberechtigte Teilhabe gewährleisten und darüber zur Ko-Konstruktion von Er234
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fahrung befähigen. Als Form „der gemeinsamen und miteinander geteilten Erfahrung“ (Dewey 2000, S. 121) beruht Demokratie dabei darauf, dass „… für den ständigen Neuaufbau der sozialen Gewohnheiten und Einrichtungen dadurch angemessene Vorsorge getroffen ist, dass von gleichmäßig verteilten Interessen mannigfache Anregungen ausgehen.“ (ebd., S. 137). Unter diesen Bedingungen – dazu gehört auch, dass das Feld als Feld thematisch wird, so wie das in den impliziten Beziehungskonzepten der Freunde der Fall ist – ist eine konstruktive Improvisation in Freundschaften möglich und macht als reflektiertes Spiel (siehe Kapitel 4) neue Erfahrungen möglich.
Überraschung Zur Sensibilität der Freunde für Situationen trägt auch bei, dass sie im Gespräch eine spezifische Aufmerksamkeit walten lassen. In einigen Szenen lässt sich ein momentanes Aufmerksam-Werden der Freunde beobachten. Z.B. in Gesprächssequenzen über Musikstücke: Volker hat offensichtlich einen spezifischen Eindruck, den er wiedergeben möchte; seine Beschreibungsversuche stellen ihn nicht zufrieden, bis er den Ausdruck „euphorisch“ gefunden hat. Robert und Jürgen unterhalten sich über ein Musikstück, das ihnen früher gefallen hat, seine Anziehungskraft mittlerweile aber verloren hat. Dieses Urteil bündelt sich in dem Augenblick, in dem Robert die betreffende Band mit einer „schwächlichen Zirkusband“ assoziiert. Eine entsprechende Aufmerksamkeit für den Moment zeigt sich aber auch, wenn die Freunde aus ihrem Gespräch heraus bedeutsame Erzählungen entwickeln; etwa wenn Hannes und Roland eine wichtige Begebenheit ihrer Jugend nachspielen oder Matthias Volkers Erzählung über seine HiFi-Geräte mit einem besonderen, unterstützenden Interesse begleitet. Die Wahrnehmung der Freunde wird der Routine enthoben, weil im gemeinsamen Erfahrungsraum ihres Gesprächs beide darauf achten (müssen), dass ihre habits dem Anderen z.T. zwar vertraut sind, sie aber nicht von deren Selbstverständlichkeit ausgehen können, sondern auch die spezifischen freundschaftlichen habits fungieren. So wird die eigene Wahrnehmung zur Frage, auf die neue Antworten zu finden sind. Im Rückgriff auf einen Gedanken bei Musil könnte man sagen, dass die Verbindung von gegenseitiger habitueller Vertrautheit und suspendierter Selbstverständlichkeit den Freunden zu einem gesteigerten „Möglichkeitssinn“ (Musil 1978, S. 16) verhilft69 und sie 69 Musil zum „Möglichkeitssinn“: „Wer ihn besitzt, sagt beispielsweise nicht: Hier ist dies oder das geschehen, wird geschehen, muß geschehen; sondern er erfindet: Hier könnte, sollte oder müßte geschehen; und wenn man ihm von irgendetwas erklärt, daß es so sei, wie es sei, dann denkt er: Nun, es könnte wahrscheinlich auch anders sein. So ließe sich der Möglichkeitssinn geradezu als die 235
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für das „Überraschungsmoment“ (Lehmann-Rommel 2005, S. 78) in ihrem Handeln öffnet. Die angesprochenen Szenen machen deutlich, dass es sich bei diesen Überraschungen nicht um unmittelbare, passiv erlebte Ereignisse handelt, sondern um die Freude oder Zufriedenheit über neue Einsichten bzw. um die Würdigung bedeutsamer Erzählungen. Die Freunde stellen neue Zusammenhänge her. Sie schaffen in ihrem Gespräch auf der Grundlage ihrer freundschaftlichen habits Situationen, die ihnen zunächst, um es mit Dewey zu sagen, „emotionenhaft“ (Dewey 1994, S. 228) bedeutsam werden; diese gefühlte Bedeutsamkeit ist das Anfangsstadium der Bedeutungen, die die Freunde auf der Grundlage ihrer „aktiven Gewohnheiten“ (Dewey 2000, S. 72) entwickeln. Eine originelle Metapher Deweys, auf die Lehmann-Rommel hinweist, illustriert das Überraschungspotential aktiv gebrauchter habits: „We live … in a haphazard mixture of a museum and a laboratory.“ (Dewey 1984, S. 142). Dabei kann im Laboratorium nicht ohne weiteres Innovation (neue Erfahrungen) entstehen; erst die Vertrautheit mit den Museumsbeständen (habitualisierte Erfahrungen) bewahrt vor deren Reproduktion. „Kreativität im Verständnis Deweys kann ohne die Rekonstruktion des Habitualisierten keine Substanz gewinnen. Sie ist keine ‚geniale‘ Schaffung aus dem Nichts… Neues besteht immer aus Altem, aus Zitaten, Verweisen auf die Traditionen, Modifikationen und Interpretationen des bereits Vorhandenen.“ (LehmannRommel 2005, S. 79). Neue Erfahrungen können sich gerade dann entfalten und werden dann wirksam, wenn sie sich „in partieller Kontinuität mit den bestehenden Strukturen und Mustern“ (ebd.) als Fortschritt ihnen gegenüber vollziehen. Hier zeigen sich erneut Nähen Deweys zu phänomenologischen Positionen. Insbesondere Meyer-Drawe erläutert Lernen als ein Umlernen, das sich auf bereits vorhandene Erfahrungen bezieht und deren Gehalt verändert. „Im Lernen ereignet sich eine Reprise unserer eigenen Geschichte, welche diese Vergangenheit mit einer eigenen Gegenwart ausstattet und damit mit Chancen, die bislang zugunsten anderer, die verwirklicht wurden, unbemerkt und unausgeschöpft blieben.“ (Meyer-Drawe 2003, S. 511; vgl. dazu auch Meyer-Drawe 1984 und 1996).70 Fähigkeit definieren, alles, was ebenso gut sein könnte, zu denken, und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen, als das, was nicht ist. Man sieht, dass die Folgen solcher schöpferischen Anlagen bemerkenswert sein können…“ (Musil 1978, S. 16). 70 Die Differenz, die Göhlich demgegenüber zwischen phänomenologischen Lerntheorien und Deweys Konzeption ausmacht, besteht darin, dass beide Ansätze zwar von einem grundlegenden Dualismus von Aktivität und Passivität des erfahrenden und darüber lernenden Subjekts ausgehen, dass sie das Verhältnis zwischen Aktivität und Passivität aber unterschiedlich verstehen (vgl. Göhlich 2007). Während Göhlich bei Dewey die Aktivität hervorgehoben sieht, findet er in phänomenologischen Positionen die Passivität betont. Diese Unterschiedlich236
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Freundschaft als Körperschaft Der folgende Abschnitt knüpft an die aus der Diskussion von Bourdieu und Dewey gewonnene Frage nach der subjektiven Handhabbarkeit von habits an. Im Mittelpunkt stehen dabei die leiblichen Dimensionen von bildungsbedeutsamen Erfahrungsprozessen. Im Rückgriff auf die in den Gesprächen der Freunde beobachteten Hervorbringungen von Erfahrungen geht es dabei auch um die Wechselbeziehungen von somatischen und reflexiven Erfahrungsanteilen, die zu einer Weiterentwicklung von habits beitragen. Zunächst sollen jedoch einige grundlegende bildungstheoretische Positionen zur Leiblichkeit eingeholt werden. Es wird sich zeigen, dass zwar die anthropologischen Bedingungen der Möglichkeit leiblicher Bildung bzw. leiblicher Anteile in Bildungsprozessen differenziert betrachtet werden, dass dabei aber nur wenig Formen ihres konkreten Vollzugs aufgegriffen werden. Der Bezug auf die Art und Weise, wie die Freunde in den in Kapitel 3 behandelten Gesprächen erzählen, ermöglicht hier eine notwendige Konkretisierung in der Auseinandersetzung mit der leiblichen Fundierung von Bildung. Eine solchermaßen empirisch gehaltvolle Betrachtung der Leiblichkeit kann dabei helfen, die grundlegenden, aber auf einem sehr hohen Abstraktionsniveau angesiedelten Einsichten einer phänomenologischen Bildungstheorie zu leiblichen und – damit verknüpft – intersubjektiven Dimensionen des Bildungsprozesses für pädagogische Theorie und Praxis zugänglicher zu machen. Dabei wird noch einmal die Bereicherung deutlich werden, die von Deweys breiter Auseinandersetzung mit den sozialen und praktischen Dimensionen von Erfahrung ausgehen.
Leiblichkeit: Bildungstheoretische Perspektiven Bei seiner Diskussion des Identitätsbegriffs (Mollenhauer 1994, S. 155 ff.) greift Mollenhauer auf einige Selbstportraits zurück (Dürer, Rembrandt, van Gogh, Beckmann), um die Bildungsbedeutsamkeit des „Umgangs mit sich selbst“ (ebd., S. 159) zu erläutern. Dabei bezieht er sich explizit auf Plessner und dessen Theorem der „exzentrischen Position“ (ebd., S. 29 ff. u. S. 165). Für Plessner gehört zum Wesen des Menschen „…der unaufhebbare Doppel-
keit geht auf ein Konzept von Erfahrung bei Dewey zurück, für das Göhlich eine dominante Funktion der Reflexion rekonstruiert; eine solche Lesart erscheint angesichts der von Dewey selbst als solcher hervorgehobenen analytischen Unterscheidung von primary und secondary experience fragwürdig – diese Dimensionen machen zusammen eine Erfahrung aus. Zum anderen – und das ist auch Göhlichs Argument – handelt es sich bei den unterschiedlichen Perspektiven von Phänomenologie und Pragmatismus um Herangehensweisen, die sich fruchtbar miteinander verbinden lassen. 237
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aspekt seiner Existenz als Leib und Körper.“ (Plessner 2003, S. 367). Der Leib kann als Teil unseres Subjekt-Seins fungieren (bevor oder ohne dass wir uns dazu verhalten, ist unser Leib Träger unserer Wahrnehmung und entwickelt Empfindungen wie Lust, Schmerz, Angst, Aggression etc.), wir können unseren Körper aber auch zum Gegenstand unseres Wahrnehmens, Denkens und Handelns machen. Diese Gedoppeltheit ermöglicht dem Menschen die Entwicklung seiner Subjektivität – und das heißt auch: die Fähigkeit, sich selbst als Subjekt zu verstehen. Der Leib erlaubt die Unterscheidung „InnenAußen“ (Plessner 1982, S. 65), während die Bewegung (des Gesichtsfeldes, des Körpers) es gestattet, „…sich mit anderen Dingen wie ein Ding zu behandeln und seine eingenommene Position … als gegen eine andere Position vertauschbar zu erfahren.“ (ebd.). Die so möglich gewordene Subjekt-ObjektRelation entwickelt sich am „Leitfaden der Sprache“ (ebd.) weiter. Die Sprache bildet unsere Fähigkeit zur „Versachlichung und Abstraktion“ (ebd.), die wir nicht nur auf die Dinge richten, sondern aus einer „exzentrischen Position“ (ebd.) auch auf uns selbst. Wenn Mollenhauer diese Bezüge zunächst noch eher en passant aufgreift, so zeigt „Vergessene Zusammenhänge“ schon sein Interesse für ästhetische und damit auch leiblich fundierte (Selbst-)Erfahrungen, in denen sich für ihn – analog zu phänomenologischen Positionen – eine besondere Verfasstheit des Menschen zeigt. „Er entwirft … ein theoretisches Konzept, das auf die innere Vermittlung von Subjekt und Welt zielt. Maßgebend wird für ihn der Begriff des Leibes… Leib stellt die Kategorie dar, in der wir der ästhetischen Erfahrung innewerden [und] die Struktur des sinnlich Wahrnehmbaren das Ich strukturiert…“ (Winkler 2002, S. 127). Mollenhauers bildungstheoretisches Interesse für den Leib wird explizit in seiner Frage nach „Korrekturen am Bildungsbegriff“ (1987). Er kritisiert, dass dem Leib nur für einen schmalen Ausschnitt des Lebens bildungstheoretisch Aufmerksamkeit geschenkt wird. Es scheint „…als hätten wir … die Leibhaftigkeit des Bildungsprozesses in die frühe Kindheit verbannt. Aber dort lässt sich auch etwas lernen… der Bildungsprozess lässt sich nicht nur so denken, dass sein Fluchtpunkt allemal eine rationalistische Vorstellung von ‚kritischem Bewusstsein‘ ist, sondern auch so, dass er als ein Wechselspiel … von Wissen und Können erscheint. ‚Können‘ ist leibnäher als ‚Wissen‘. … Das Ich des Kindes bildet sich nicht nur in Beziehungskonstellationen, sondern auch in der Auseinandersetzung mit dem, was einerseits organisch, andererseits dinglich gegeben ist; …das Kind ist, was es kann.“ (ebd., S. 9; H.i.O.).71
71 Mollenhauer untersucht in diesem Sinn an anderer Stelle z.B., wie das Kleinkind im Spiel mit Fingererzählungen die Ordnung der Welt an den eigenen Fingern erfährt (vgl. Mollenhauer 1989). 238
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Mollenhauer geht der Frage nach der Bedeutung des Leibes für die Bildung in Lebensabschnitten auch jenseits der Kindheit dann im Moment des Ästhetischen nach. Zum einen im Rahmen seiner Beschäftigung mit Fragen der ästhetischen Bildung. Der Bildungswert der ästhetischen Erfahrung besteht für ihn darin, dass sie den Subjekten einen besonderen Modus erlaubt, in dem sich „Selbstgewissheit mit distanzierender Reflexion“ (Mollenhauer 1990, S. 493) verbindet. In der ästhetischen Erfahrung ist man „von pragmatischen Zumutungen entlastet“ (Mollenhauer 1996, S. 30); intellektuelle, moralische oder praktische Fragen (Was ist richtig? Was ist zu tun?) sind nachrangig, im Kern steht das „Thematisch-Werden von Sinnesereignissen mit Bezug auf ‚Ich‘ und ‚Selbst‘“ (ebd., S. 29). Mollenhauer vergleicht das AufmerksamWerden auf die eigene Wahrnehmung und die Reflexion darüber – über sich als Wahrnehmenden und über die eigene „Gestimmtheit“ (Mollenhauer 1990, S. 493) – mit einem „Selbstgespräch“ (Mollenhauer 1996, S. 29). In dieser spezifischen Selbstreflexion werden Einsichten über die eigene Person und ihr Verhältnis zur Welt, oder, wie Mollenhauer schreibt, „egologische“ (Mollenhauer 1990, S. 484) Erfahrungen möglich. In der ästhetischen Erfahrung fungiert also eine besondere Leiblichkeit: Die sinnliche Wahrnehmung wird in ihrem Eigensinn „thematisch“ (Mollenhauer 1996, S. 26) und die Dimensionen unseres Lebens, die sonst dominieren (rationales Denken, an Normen und Werten orientiertes Verhalten, funktionales Handeln), treten zurück. Zum andern verfolgt Mollenhauer entsprechende Fragestellungen in einigen Beiträgen, in denen er die Leibgebundenheit von Bildungsbewegungen anhand ästhetischer Gegenstände thematisiert. So stellt er, inspiriert von dem im „Zauberberg“ nach Sinn tappenden Hans Castorp, die Frage: „Wie stellen Individuen, gleichviel welchen Alters, einen Kontakt zwischen ihren Körperempfindungen und dem in Sprache sich artikulierenden Bewusstsein von sich selbst her?“ (Mollenhauer 2000, S. 71). Der Leib – in den Empfindungen, die er hervorbringt, in der Fremdheit, mit der er konfrontiert, über die konkrete Umgebung, mit der er verbindet – ist eine grundlegende Dimension von Bildung, „… wenn der Terminus ‚Selbstbewusstsein‘ der Bildungstheorie zugerechnet wird.“ (ebd., S. 56). Ähnliche Hinweise gibt Mollenhauer, wenn er die Leibthematik als Motiv der Musik (z.B. bei Beethoven oder Nono) oder der bildenden Kunst (z.B. bei Donatello oder Goya) erörtert. Im Aspekt des Ausdrucks (in Haltung und Bewegung) zeigt er die Leiblichkeit menschlichen Verstehens auf und verweist darauf, dass Selbstreflexion „…bereits in der präverbalen sinnlichen Erfahrung ihr Medium hat.“ (Mollenhauer 1998, S. 67). In diesem Ineinandergreifen von rationalem Verstehen und leiblicher Verfasstheit spielt die Sinnstiftung durch den Leib als „produktiver Widerspruch“ (ebd., S. 76) eine wichtige Rolle. Mollenhauer gibt einer Auseinandersetzung mit dem Leib als Bildungsorgan wertvolle Anregungen. Sein Blick für die leiblichen Dimensionen von 239
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Bildungsprozessen auch jenseits der Kindheit kann bei der dafür wichtigen Erweiterung der Aufmerksamkeit helfen. Allerdings ist sein Blick auf den Gegenstand auch eng an das Ästhetische gebunden. Ketzerisch ließe sich also einwerfen, dass Mollenhauer der einen bildungstheoretischen Randlage des Leibes eine andere hinzufügt. Neben dessen Bedeutung für das Frühe (das später zum Archaischen wird) tritt seine Beteiligung am Besonderen. (Dem entspräche die nicht wenig distinktive Wahl Mollenhauers bei den von ihm behandelten ästhetischen Gegenständen.) Für den ‚Normalfall‘ kommt er, und damit hat die Häresie ein Ende, scheinbar wenig in Betracht. Eine Autorin, die die grundlegende und damit nicht nur exzeptionelle Bedeutung leiblicher Dimensionen im Bildungsprozess hervorhebt, ist Käte MeyerDrawe.72 Aus ihrer vielfältigen und breiten Auseinandersetzung mit den Zusammenhängen von Leib und Bildung lassen sich (vereinfachend) vier Perspektiven zusammenziehen. (i) In Bezug auf den Begriff des Lernens macht sie darauf aufmerksam, dass dem Lernen gemäß einer (wissenschaftlichen) Fachlogik ein Lernen durch konkreten Umgang mit den Dingen voraus liegt. Wir erfahren die Dinge zunächst in ihrer „Physiognomie“ (Meyer-Drawe 1984, S. 36). Eine neue Sicht der Dinge tut sich auf, wenn wir mit der Unzulänglichkeit unseres bisherigen Wissens konkret konfrontiert werden. Neben der Teilhabe an der Erfahrung als Modus des Lernens hat der Leib noch in weiterer Hinsicht Bedeutung. Er ist (hier schließt Meyer-Drawe an Merleau-Ponty an) Grundbedingung für Intersubjektivität (vgl. Meyer-Drawe 1996, S. 94). Insofern ist auch der Prozess des Lernens nicht als additiver Wissenserwerb eines solitären Subjekts zu verstehen. „Lernen ist ein intersubjektiver Vollzug, in dem sich Erfahrungsmöglichkeiten begegnen und gegeneinander durchsetzen, in dem der Sinnüberschuss, den ich durch die Mehrdeutigkeit meines Sagens und Handelns hervorbringe, vom andern aufgegriffen und in seinem Sinne zur Sprache gebracht werden kann. Darum kann es geschehen, dass ich erst im Sagen und Handeln erfahre, was ich wusste, dass erst die Fragen eines anderen meine Antwortmöglichkeiten hervorbringen und nicht nur abrufen.“ (ebd., S. 95; vgl. dazu auch Meyer-Drawe 2003). (ii) Damit ist ein zweiter Themenschwerpunkt Meyer-Drawes angesprochen. Von zentralem Interesse sind für sie Leiblichkeit und Sozialität als substantielle Grundbedingungen unserer Existenz. Im Rekurs auf den Begriff der „Zwischenleiblichkeit“ (Meyer-Drawe 2001, S. 29), den sie bei MerleauPonty einholt, erörtert Meyer-Drawe das Entstehen und die Entwicklung des
72 Mollenhauer merkt zu Meyer-Drawes Auseinandersetzungen mit der LeibThematik an, dass das Thema „selten aufgegriffen“ (Mollenhauer 1998, S. 57) wird, ihre Arbeiten hier allerdings die „wichtigsten Ausnahmen“ (ebd.) sind. 240
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subjektiven Bewusstseins beim Kind und diskutiert die komplexen Verflechtungen, die sich zwischen Leiblichkeit und Bewusstsein sowie Subjektivität und Intersubjektivität ergeben. Für Merleau-Ponty bedingt unsere unaufhebbare Leiblichkeit73 eine Diffusität des Subjekts für sich selbst. Nie kann man sich so sehen, wie man Andere sieht, weil man sich immer als Beobachtender bzw. Beobachteten sieht, sich als Subjekt also nicht ganz verlassen kann, um sich zum reinen Objekt zu werden. Nur das Verhältnis zum Anderen ermöglicht eine Perspektive, die aus dem Bezug auf sich selbst und auf die Dinge nicht hervorgeht. Der Andere kann zum Objekt werden und ist zugleich unseresgleichen. Das befähigt uns über die geteilte Sphäre des Leibes überhaupt erst zur Intersubjektivität; diese beruht also auf einer Interkorporeität. Denn es ist in einem reinen Bewusstsein, in einem rein „…objektiven Denken für Andere und eine Mehrheit von Bewusstsein kein Platz. Konstituiere ich selbst die Welt, so kann ich kein anderes Bewusstsein denken, denn dieses müsste alsdann gleichfalls die Welt konstituieren, und zumindest für diese andere Weltauffassung wäre ich nicht konstitutiv.“ (Merleau-Ponty 1974, S. 401). Diesen „Skandal“ (ebd., S. 400) überwindet die Tatsache, dass wir als Subjekte leiblich verfasst sind. „Zwischen meinem Bewusstsein und meinem Leib, so wie ich ihn erlebe … und dem des anderen, so wie ich ihn von außen sehe, herrscht ein inneres Verhältnis, welches den Anderen als die Vollendung des Systems erscheinen lässt. Möglich ist die Evidenz des Anderen dadurch, dass ich mir selbst nicht transparent bin und auch meine Subjektivität stets ihren Leib nach sich zieht.“ (ebd., S. 403 f.; vgl. Meyer-Drawe 2000a, S. 36 ff., 2001, S. 133 ff., auch Waldenfels 1998, S. 165 ff.). Das Kind lebt von Anfang an in einer sozialen Welt. Bevor es zwischen sich und den Menschen und Dingen außerhalb seiner selbst unterscheidet, wird es von „primordialer Sozialität“ (Meyer-Drawe 2001, S. 175) ergriffen. Diese fundamentale Sozialität erscheint zunächst als „kollektive Anonymität“ (ebd., S. 183). Die körperliche Entwicklung des Kindes – z.B. die zunächst „diffuse Muskelregulation der Augen“ (ebd., S. 182) oder die allmähliche „Entwicklung des Nervensystems“ (ebd.) – bedingt, dass im „Körperschema“ (ebd.) des Kindes „…eine vorpersonale Synthese von Ich und Gegenstand, eine vorintellektuelle Einheit von Ich und Anderem…“ (ebd.) fungiert. Diese Entität löst sich durch die Verfeinerung der körperlichen Wahrnehmung auf. „Gleichzeitig mit der Differenzierung des Körperschemas bildet sich die Wahrnehmung des Anderen aus.“ (ebd., S. 183). Die ursprüngliche Zwischenleiblichkeit erfährt bald eine weitere Entwicklung. „Ungefähr mit dem dritten Lebensjahr erhält die anonyme Kollektivität ein neues Relief, die synkretische 73 Merleau-Ponty hebt diese anthropologische Grundbedingung mit dem Hinweis auf die „Ständigkeit des Eigenleibes“ (Merleau-Ponty 1974, S. 115) hervor. 241
FREUNDSCHAFT, INTERSUBJEKTIVITÄT UND ERFAHRUNG
Einheit differenziert sich, die situative Verwobenheit wird brüchig, die Polyvalenz der Perspektiven vereinheitlicht sich in zunehmendem Maße.“ (ebd., S. 189). Damit greifen Sozialität und Bewusstsein nicht mehr ungeschieden ineinander und Perspektivenübernahme wird möglich. Das Kind „…versteht sich fortan ausdrücklich aus der Perspektive des Anderen. Dabei ist die unmittelbare Verschmelzung von Ich und Anderem zwar brüchig, aber nicht vollständig aufgelöst.“ (ebd.). In der Kindheit vollzieht sich ein „…Differenzierungsgeschehen, in dem die ursprünglich synkretische Einheit umstrukturiert wird zu einer kritisch-distanzierenden Beziehung zwischen dem Ich und dem Anderen…“ (ebd., S. 191). Leiblichkeit und Sozialität bleiben jedoch auf Dauer substantielle Dimensionen unseres Seins. Wir sind weder nur subjektives Bewusstsein noch nur leiblich der Welt ausgesetzt, sondern immer beides zugleich. In diesem Sinn spricht Meyer-Drawe von einer „ontologischen Ambiguität“ (ebd., S. 148). Diese doppelte (leibliche und rationale) Verfasstheit des Menschen ist ein Kernaspekt im Denken von MeyerDrawe, auf den sie immer wieder rekurriert. Dabei fungiert der Leib meist sublim, „…d.h. wir verstehen uns selbst in unserem Denken und Handeln schwerpunktmäßig als Bewusstsein, da sich unsere Leiblichkeit im Vorbewussten hält als vorreflexive Bedingung der Wirklichkeit unserer Vollzüge.“ (ebd., S. 149). Trotzdem partizipiert der Leib immer an unserem Verhältnis zur Welt. Er verknüpft uns mit konkreten Situationen, in denen wir nicht alleine, sondern mit Anderen sind. Dadurch verflechten sich im Medium des Leibes unser spezifisches Subjekt-Sein und unsere Gemeinschaftlichkeit. „Die Genese von Identität und Sozialität vollzieht sich als dieses lebendige Paradox unserer Existenz. Dadurch, dass ich nie ganz Ich, sondern immer schon mitkonstituiert durch Andere bin, wird ein Überschuss an Nicht-Identität, an nonegologischen Strukturen deutlich, der so etwas wie eine Genese überhaupt erst begreiflich macht.“ (ebd., S. 151). (iii) Diese durch den Leib bedingte Interferenz von Selbst und Sozialität führt zu einem Aspekt, den Meyer-Drawe ebenfalls intensiv diskutiert. Ein soziales Subjekt kann sich nicht als souverän und autonom begreifen, zugleich jedoch geht es nicht in Anonymität verloren, wenn seine Privilegien fraglich werden (vgl. Meyer-Drawe 2000a, S. 25 ff.). „Ist es so, dass man … die Errungenschaften der Moderne aufs Spiel setzt, wenn man an der grundsätzlichen Möglichkeit von Autonomie zweifelt? Oder verhält es sich vielmehr so, dass wir uns heute der Illusionen von Autonomie des Subjekts entledigen müssen, um die Situation der gegenwärtigen Menschen zutreffend beschreiben zu können?“ (Meyer-Drawe 1998, S. 35). Ein „zeitgemäßer Bildungsbegriff“ (ebd.) ist am Realismus einer „bedingten Selbstbestimmung“ (ebd.) zu orientieren. Meyer-Drawe beleuchtet diese „negative Indifferenz“ (Meyer-Drawe 2000a, S. 41) – wir sind weder vollständig autonom noch ohnmächtig – auf vielfältige Weise. Ihr zentrales Anliegen ist es, 242
BILDUNG JENSEITS DES SUBJEKTS
„…Subjektivität als Formation zu begreifen, die sich innerhalb intersubjektiver Wahrnehmungsfelder konturiert, an deren Strukturen die Gegenstände mitbeteiligt sind.“ (ebd., S. 44; s.o.). Sie zeigt, dass wir in unserer Subjektivität, die als ein offener Prozess von Formationen fungiert, von unserer Umgebung abhängig sind und davon, wie andere mit uns umgehen. Das Besondere an ihrer Argumentation ist, dass sie diese sozialisationstheoretische Grundauffassung in bildungstheoretisches Denken integriert. Dazu erläutert sie aus unterschiedlichen Perspektiven (z.B. anhand der Kritik eines identifizierenden Denkens bei Adorno, der Leibphilosophie Merleau-Pontys, des Habitus-Begriffs bei Bourdieu), dass wir keine souveränen Subjekte sind, die ihre Entwicklung selbst bestimmen und betont, dass die ideengeschichtlich und gesellschaftlich dominante Vorstellung einer kognitivrationalistischen Vernunft zu ergänzen ist durch das Prinzip einer „situierten Vernunft“ (ebd., S. 11). Wir sind mit unserem Leib in der Welt und damit in konkreten Situationen verankert. Weil uns diese Welt an unserem Leib ergreift, lässt sich nicht grenzklar zwischen Welt (außen) und Subjekt (innen) unterscheiden. Die gleiche Unschärfe bzw. Überschneidung ergibt sich in intersubjektiven Verhältnissen: Zum einen teilen wir uns Situationen und Erfahrungen. Die sich daraus ergebenden „Gewohnheiten“ (ebd., S. 139), der sich sedimentierende „Habitus“ (ebd., S. 141) bestehen nicht nur in uns, sondern fußen auch in geteilten Begebenheiten. Zum anderen sind wir gerade in unserem Selbstverständnis als Subjekte auf Sozialität angewiesen. Erst durch Wahrnehmung, Anstiftung, Provokation, Fragen etc. Anderer können wir uns als uns selbst verstehen lernen. „Nicht die Privilegierung des Subjekts konstituiert seine Möglichkeitsfelder, sondern die Leere dieses traditionellen Zentrums der Konstitution.“ (ebd., S. 47). Die Dinge in der Umgebung und die Interaktion mit Anderen bilden also nicht nur Bedingungen heraus, zu denen wir uns als Subjekte zu verhalten haben (soweit ginge eine sozialisationstheoretische Argumentation; vgl. dazu Sting 2004), sondern sind Teil unserer Subjektivität. Bildung ist per se ein leiblich und sozial bedingter Prozess. (iv) Damit stellt Meyer-Drawe begriffliche Usancen nicht nur der Pädagogik in Frage. „Selbst- und Weltbeschreibungen des Menschen“ (MeyerDrawe 2007, S. 31) und ihre politischen, kulturellen und technischen Implikate bilden einen vierten Schwerpunkt ihrer Arbeiten. Dabei geht es z.T. unmittelbar um pädagogische Deutungsmuster, z.T. um größere kulturelle Zusammenhänge, die den Hintergrund pädagogischen Denkens und Handelns bilden. Mit Bezug auf pädagogische Ideengeschichte kritisiert Meyer-Drawe Tendenzen, konstituierende Vermögen des Subjekts zu betonen und seine leibliche und soziale Bedingtheit zu vernachlässigen: „Bildung und Identitätsfindung gehen in unserer Zeit einen Pakt ein, in dem eine narzisstische Begegnung des Selbst mit sich im Mittelpunkt steht.“ (Meyer-Drawe 1999, S. 172). Diese Hermetisierung speist sich aus dem engen ideengeschichtlichen Zusammen243
FREUNDSCHAFT, INTERSUBJEKTIVITÄT UND ERFAHRUNG
hang von Bildung und Individualität („Eigentümlichkeit“), in dem sich Formen des Umgangs mit Eigentum auf den Umgang mit sich selbst übertragen (vgl. Meyer-Drawe 1998, S. 46). Besitzdenken und Allmachtsphantasien sind als Subströmungen des Bildungsbegriffs aufzudecken, ohne Autonomie aufzugeben; ihre Funktion allerdings ist zu überdenken. „Autonomie könnte wie der Begriff der Wahrheit auf eine praktische Illusion verweisen, ohne die der Mensch nicht leben kann. Eine solche Illusion erweist sich durch ihre Wirkung, nicht durch ihre Logik.“ (ebd., S. 48; H.i.O.). Schließlich zeigt Meyer-Drawe in einer Analyse des Verhältnisses von Mensch und Maschine (Meyer-Drawe 2007), dass das Selbstverständnis des Menschen wesentlich durch das Spiegel- und Gegenbild der Maschinen bedingt ist und dass technische Entwicklungen (etwa der Künstlichen Intelligenz, der Herstellung von Androiden, auf dem Gebiet der Medizin) zur gegenseitigen Infiltration beider Spezies (zur Menschlichkeit von Maschinen und zur Künstlichkeit des Menschen) führen. Der Leib ist in diesem Zusammenhang einerseits eine der Dimensionen, in denen sich diese Hybridisierung vollzieht, andererseits erweist er sich auch als Ort der Differenz. „Maschinen spiegeln uns eine dürftige Form unseres Verhaltens wider, nämlich die Form, die nach Regeln herstellbar ist, eine Organisation ohne Überraschungen. … Insofern realisieren sie wirksame Selbstbeschreibungen: einsame Ideenmaschinen in gespenstischer Selbstbewegung.“ (ebd., S. 196). Dem steht unsere gebrechliche und sich Bahn brechende Leiblichkeit gegenüber. „Das Lachen und auch das Vergessen sind Demontagen einer Transfiguration des Leibes ins Logozentrische. Sie düpieren die Verwandlung des Fleisches ins Wort.“ (ebd., S. 195). Damit sind Bedingungen benannt (Kreatürlichkeit und Rationalisierung), die auch das pädagogische Feld strukturieren.
Reflexion in der leiblich fundierten und intersubjektiven Praxis des Erzählens Wenn der vorangegangene Abriss auch nicht den Anspruch erhebt, den Stand der bildungstheoretischen Diskussion zur Leiblichkeit vollständig und systematisch wiederzugeben, so zeigen sich doch zwei Aspekte relativ deutlich. Der Leib als Bedingung von Bildung, in seiner Bedeutung für die Genese des Subjekts, in seiner Beteiligung an der Erfahrung/am Lernen und als Gewähr unserer „ontologischen Ambiguität“ (Meyer-Drawe) ist theoretisch differenziert beschrieben; allerdings sind die entsprechenden Überlegungen v.a. bei Meyer-Drawe auf einem sehr hohen Abstraktionsniveau angesiedelt. Der Leib als Dimension konkreter Bildungsprozesse ist weniger ausgiebig untersucht. Mollenhauers Blick ist auf Ausnahmen gerichtet; die von ihm eher essayistisch beleuchteten leiblichen Bildungsprozesse in der Kindheit (vgl. Mollenhauer 1987 und 1989) greifen einen begrenzten Ausschnitt der Lebensalter 244
BILDUNG JENSEITS DES SUBJEKTS
auf, seine breiteren Auseinandersetzungen mit Fragen der Ästhetischen Bildung setzen gerade am exzeptionellen Status ästhetischer Erfahrung an (vgl. z.B. Mollenhauer 1996, S. 20 f.). In der Interpretation der Gespräche mit den Freundespaaren sind Sequenzen zu finden, in denen leibliche Dimensionen eine wichtige Rolle bei der Entfaltung von Erfahrungen spielen. Im Folgenden werden daraus noch einmal einige Aspekte herausgearbeitet. Die Beschreibung des Leiblichen – zumal in der Wissenschaft, die auf die Mittel der erzählenden Literatur weitgehend zu verzichten hat – stellt vor Schwierigkeiten: man hat dafür nur Begriffe (vgl. Meyer-Drawe 2001, S. 149). Gerade die Verknüpfung von Erfahrung und Reflexion, wie sie sich im Gespräch zwischen den Freunden entwickelt, mag hier insofern besonders hilfreich sein; sie macht die „Ambiguität“ von leiblichem Sinn und reflexiver Bedeutung besonders deutlich und darüber konkreter beschreibbar. Hannes und Roland schildern nicht nur, wie sie Aufnahme in eine Gruppe von Teds finden, sie stellen diese Szene in ihrem Gespräch auch nach. Dadurch holen sie sie in ihre Unterhaltung ein und erwirken ihre performative Vergegenwärtigung. Sie öffnen das entsprechende Erlebnis auf diesem Weg für eine dialogische Reflexion, in der sie ihm einen spezifischen biographischen Sinn zuschreiben: die Emanzipation von jugendtümlichem Verhalten. In dieser Sequenz sind leibliches Verhalten (dadurch überschreiten die beiden die Gesprächssituation und verwandeln sie anteilig in die nachgespielte Szene) und Reflexion verknüpft; die distanzierend wertende Stellungnahme zu der selbst inszenierten Situation führt Roland und Hannes zu einer Bildungserfahrung, deren somatische und reflexive Anteile eng verflochten sind. Dabei spielt das Erzählen eine besondere Rolle; es schließt eine gemeinsame Praxis der subjektiven Anverwandlung ein, mittels derer die Freunde nicht nur zeichenhaft auf die jeweils erzählerisch-szenisch dargestellten Bezüge verweisen, sondern diese auch mit einer eigenen situativen Präsenz versehen. Robert und Jürgen beschreiben ihr gemeinsames Auflegen anders und gehen doch auch über diskursive Dimensionen hinaus. Ihre Erzählung trägt mimetische Züge, insofern die beiden ein Verhältnis zwischen sich und ihren Zuhörern darstellen, bei dem sie für ihre Erscheinung nach außen Homogenität beanspruchen, sich untereinander aber für Differenzen sensibel zeigen. Sie entfalten diese Darstellung dabei in einer Form, in der sich dieses Verhältnis widerspiegelt: Sie erzählen gemeinsam und tragen individuelle Reflexionen bei. Diese Gleichzeitigkeit von mimetischer Nacherzählung und Reflexion integriert sprachliches Verhalten und eine reflexive Haltung. Die beiden Freunde spielen nicht explizit nach (das wäre szenisch zu nennen), sondern formen in der Gestalt der Erzählung (quasi episch) nach, was sie dann auch reflexiv zum Ausdruck bringen. Sie vollziehen praktisch und gemeinsam eine intersubjektive Reflexion. 245
FREUNDSCHAFT, INTERSUBJEKTIVITÄT UND ERFAHRUNG
Volker erzählt Matthias von den verschiedenen HiFi-Geräten, die er in seiner Jugend besessen und gebraucht hat. Dass diese Schilderung sich so mehrschichtig entwickelt (und neben ihren technischen Bezügen ebenso auf Volkers Selbstsicht verweist), liegt auch daran, dass Matthias auf unterstützend begleitende Weise daran teilnimmt. Er eröffnet seinem Freund durch seine Anspielung den Raum für seine Erzählung und trägt sie durch sein signalisiertes Interesse und die gezeigte Anerkennung mit. Die besondere Wertigkeit, die die dargestellte Entwicklung und ihre Darstellung dadurch gewinnt, macht sie zur Trägerin nicht nur eines wörtlichen, sondern auch eines darüber hinaus weisenden Gehalts. Das Erzählen unter Freunden zeigt sich hier als die gemeinsame Praxis der Erzeugung von Stimmung, die die Erzählung mit metaphorischer Valenz versieht. In diesem Überblick wird bereits ersichtlich, dass die Reflexionsprozesse, die die Freunde vollziehen, in ihrem Zustandekommen und in ihrem Verlauf substantiell an leibnahe Praxen gebunden sind: an die Erzeugung von Stimmung, an eine mimetische Erzählweise und an die Performativität der szenischen Vergegenwärtigung von Erlebnissen. Das Erzählen unter Freunden zeigt sich als eine komplexe Praxis intersubjektiv-leibnaher Bildung, bei der Reflexivität und Leiblichkeit ineinander greifen. Paul Ricoeur entwickelt mit seinem Konzepts des „Sagen-Könnens“ eine Referenz, an die sich hier gewinnbringend anschließen lässt. (vgl. Ricoeur 2006, S. 120 ff.). Ricoeur geht aus davon, dass „…nach dem berühmten Wort des Philosophen Austin Sprechen bedeutet, etwas mit Worten tun.“ (ebd., S. 126). Damit begründet und erklärt er die Möglichkeit, das Subjekt und sein Verhalten zu sich über seine sprachlichen Vermögen und sein sprachliches Verhalten zu begreifen. „Indem sie regressiv verfährt und von der ‚gegenstandsbezogenen‘ Aussage auf den Aussageakt und dessen Vollzieher zurückgeht, gibt die Sprachpragmatik der Reflexionsphilosophie ein analytisches Instrument von hohem Wert an die Hand.“ (ebd., S. 127). Der Blick auf Sprache im Vollzug durch Sprechakte führt ihn auch dazu, deren grundlegend dialogische Qualität festzuhalten: „Das, was einer ausspricht, ist an einen anderen gerichtet; zudem antwortet er vielleicht auf ein Angesprochenwerden durch den anderen. Die Frage-Antwort-Struktur bildet also die Grundstruktur der Sprechhandlung… Auch die einfache Feststellung des Typs ‚ich behaupte, dass…‘ betont ihren interlokutionären Charakter durch eine unausgesprochene Bitte um Billigung, die sie in ihrer eigenen Überzeugung festigen soll.“ (ebd., S. 128). Damit umreißt Ricoeur die Grundbedingungen dessen, was er „Sagen können“ (ebd., S. 125) nennt. Diese Fähigkeit, in der Sprechen als Handeln fungiert und die sich intersubjektiv entfaltet, ist ihrerseits Grundlage unserer „…personalen Identität, die mit dem Akt des Erzählens zusammenhängt. In der reflexiven Form
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BILDUNG JENSEITS DES SUBJEKTS
des ‚Sich-Erzählens‘ entwirft sich die personale Identität als narrative Identität.“ (ebd., S. 132). Ricoeur beleuchtet den Begriff der Erzählung dabei auf zwei Ebenen; einmal als Kategorie der Poetik und – daraus abgeleitet – als Strategie der Konstruktion und Re-Konstruktion von Identität. In einer literarischen Erzählung geht es darum, „…einer heterogenen Ansammlung von Absichten, Ursachen und Zufällen eine verstehbare Gestalt…“ (ebd., S. 132 f.) zu geben. Dabei kann der Nachvollzug solcher Erzählungen in der Rezeption konstruktiv nur in einer kritischen Ausrichtung und nicht als passive Adaption geschehen. „Dass man lernt, ‚sich zu erzählen‘, könnte der Gewinn sein, der sich aus solch einer kritischen Aneignung ziehen lässt. Lernen, sich zu erzählen, bedeutet auch: lernen, sich anders zu erzählen.“ (ebd., S. 134). Nach diesem dialektischen Muster – Übereinstimmung und Neugestaltung – entfaltet sich auch die personale Identität als narrative Identität: „…am Schnittpunkt der Kohärenz, die die Fabelkomposition74 liefert, und der Diskordanz, die durch die Peripetien der erzählten Handlung bedingt ist.“ (ebd.). Aus dieser Dialektik hebt Ricoeur einen differenzierten Begriff der Identität hervor, der neben der Kategorie der Übereinstimmung (idem) auch die Instanz des Selbst (ipse) als Akteur seiner Identität umfasst (vgl. ebd., S. 135). Diese Instanz (ipse) kann Veränderung integrieren, sie kann die Geschichten anderer (abgewandelt) in die eigene Erzählung aufnehmen und sie kann ihre Geschichte anderen im Hinblick auf deren Verständnis erzählen. Damit tritt die Dynamik des Sich-Erzählens hervor. Die Erzählung, auf literarischer wie auf persönlich-biographischer Ebene, entwickelt sich aus einer Spannung von Identität (der Wahrung einer eigenen persönlichen Perspektive) und Alterität (der Offenheit dieser Perspektive für andere Erzählstränge). Das birgt einerseits zwar „Manipulationspotentiale“ (ebd., S. 138), stellt andererseits jedoch auch den Ermöglichungsgrund der Persistenz einer persönlichen Geschichte gerade durch deren Veränderlichkeit dar. Diese Dialektik entspricht der Spannung, aus der lebendige, also noch nicht in den allgemeinen Sprachgebrauch übergegangene Metaphern ihr Sinnpotential schöpfen. Im Zentrum von Ricoeurs Auffassung der Funktionsweise der Metapher steht die Emergenz neuer Bedeutungen aus dem Zusammentreffen zweier Gegenstandsbereiche und ihrer Implikationen. In dieser Berührung können „…neue Sinnhorizonte ‚aufblitzen‘.“ (Dietrich/Schubert 2002, S. 341). Diese Innovation ist für Ricoeur wesentlich. „Der metaphorische Sinn als solcher ist nicht die semantische Kollision, sondern die neue Pertinenz, die auf die Herausforderung antwortet.“ (Ricoeur 1986, S. 182). Um diesen Sinn zu konstruieren 74 Der Begriff der „Fabelkomposition“ soll verdeutlichen, dass es hier nicht um ein völlig freies Erzählen geht, sondern um eine erzählerische Ordnung von geschehenen Handlungen und gemachten Erfahrungen (vgl. dazu auch die Anmerkung des Übersetzers in Ricoeur 2006, S. 132). 247
FREUNDSCHAFT, INTERSUBJEKTIVITÄT UND ERFAHRUNG
bedarf es eines „…‚Sehen-als‘, d.h. eines ‚Etwas-als-etwas-anderes-Sehen‘. Dieses Etwas-als-etwas-anderes-Sehen stützt sich auf die Suspendierung des unmittelbaren Gegenstandsbezugs in der Poesie.“ (Mattern 1996, S. 141; vgl. hierzu auch Waldenfels 1998, S. 321 ff.). Nun beschäftigt sich diese Untersuchung nicht mit Literatur, sondern mit eher alltäglichen Gesprächen unter Freunden. Dennoch ergeben sich hier wertvolle heuristische Nähen. Für Ricoeur ist für ein Verstehen über die Wortoberfläche hinaus ein Faktor von entscheidender Bedeutung. „Unter dem Namen mood wird ein außersprachlicher Faktor eingeführt, der … das Indiz für eine Seinsweise ist.“ (Ricoeur 1986, S. 225; H.i.O.). Über das Moment der Stimmung – „eine Weise, sich inmitten der Realität zu befinden“ (ebd.) – eröffnet sich die Möglichkeit, „die Perspektive einer durch Suspension von der deskriptiven Referenz befreiten Welt zu schaffen“ (ebd.). Eine solche Rezeptionshaltung „…entzieht die Sprache der didaktischen Funktion des Zeichens, jedoch um den Weg zur Realität im Modus der Fiktion und des Gefühls zu bahnen.“ (ebd., S. 225 f.). Ohne ihre Gespräche mit literarischem Anspruch zu führen, entwickeln die Freunde in diesen Gesprächen gleichwohl Geschichten und gebrauchen vielfältige Erzählweisen, wodurch sie individuelle Perspektiven und intersubjektive Artikulation verknüpfen. Das ist ein bildungstheoretisch wichtiger Aspekt. In den Erfahrungsprozessen, die sich in den jeweiligen Erzählungen formieren, greifen die Freunde biographisch bedeutsame Erlebnisse auf und fädeln sie in ihre Lebensgeschichte ein. Die Konstruktion von Bedeutung ist bereits als eine entscheidende Dimension der in den Gesprächen zu beobachtenden intersubjektiven Bildungsbewegungen festgehalten (siehe Kapitel 4). Dem, was ist (also dem Gegenstand von Erfahrungen oder den erinnerten Erlebnissen), Bedeutung zu geben und sich dabei nicht passiv in Schemata und Routinen zu fügen, verlangt, in Situationen und Gegebenheiten über deren aktuelle, (vermeintlich) objektive Gestalt hinaus auch ihren potentiellen Gehalt zu entdecken. Ein paradigmatischer Ort für eine solche Aufmerksamkeit ist die Dichtung. „Die Dichtung lehrt uns, das, was wir Realität nennen, als etwas Dynamisches zu erkennen, nicht als etwas festes Gegebenes, das es zu erkennen und in einer adäquaten Begrifflichkeit auszudrücken gilt: Sie gibt die Realität in ihrer dynamischen Dimension zu sehen, die in der Kreativität der sie vermittelnden Sprache ihre Entsprechung hat.“ (Mattern 1996, S. 148 f.). Zu einer solchen eigenen Sinnkonstruktion fordern Metaphern besonders heraus. „Das dichterische Gefühl spricht in seinen metaphorischen Ausdrücken die Ungeschiedenheit von Innen und Außen aus.“ (Ricoeur 1986, S. 238). Metaphern ermöglichen die Emergenz subjektiven Sinns aus objektiven Gegebenheiten. In diesem Sinn handeln die Freunde erzählerisch. Sie nähern sich den jeweiligen Gegenständen ihres Gesprächs auch leiblich (über das Miteinander248
BILDUNG JENSEITS DES SUBJEKTS
Reden als Form des Verhaltens zueinander, über das Erzeugen einer spezifischen Stimmung, über die performative Vergegenwärtigung durch subjektive Anverwandlung) und machen das Gespräch dadurch nicht nur zu einem Ort, an dem auf diese Gegenstände verwiesen wird, sondern auch zu einem Raum, in dem diese Gegenstände gegenwärtig werden und erschließen sie dadurch einer Erzählpraxis, in der sie bedeutsame Geschichten entwickeln. Im Erzählen der Freunde greifen Leib und Reflexion ineinander. Das, was die Freunde zum Gegenstand des gemeinsamen Gesprächs machen, holen sie durch leiblich fundierte Erzählpraxen ein und machen es zum Gegenstand eines geteilten Erzählraums, zu dessen Grundbedingungen die Dialektik von Identität und Alterität zählt, so dass die Geschichten, die in ihm entstehen, diese Dialektik gleichsam generisch in sich tragen. Der Leib partizipiert damit im Kern an einer Praxis, in der Gegebenheiten fraglich bzw. metaphorisch werden, um zu neuen Sinnkonstruktionen zu führen. Er ist nicht nur (als Organ der Wahrnehmung) Anlass zu diesen Erfahrungsprozessen, sondern als Medium der Einfädelung in eine intersubjektive Erzählpraxis, als Katalysator der Exploration aktueller Gegebenheiten und ihres potentiellen Gehalts sowie als Dimension der Erzeugung einer sinnförderlichen Stimmung ganz wesentlich auch an ihrem Verlauf beteiligt. Leiblichkeit und Intersubjektivität stellen sich vor diesem Hintergrund als Modi dar, die der Reflexion die Potentiale der Differenz erschließen. Zum Verhältnis von Leib und Rationalität merkt Kubitza in Anlehnung an Plessner an, dass ein rationales, selbstreflexives, exzentrisches Bewusstsein nicht als Dauer-Zustand fungiert. Weil wir über uns in den verschiedenen Modi des Leib-Seins und des Körper-Habens verfügen, auf uns aufmerksam werden, aber auch in unserer Wahrnehmung aufgehen können oder uns an Tätigkeiten verlieren können, ist eher von Exzentrierung und Rezentrierung des Bewusstseins zu sprechen (vgl. Kubitza 2005, S.150). Im Blick auf Bildung rückt der Leib damit in eine andere, nicht mehr nur randständige Bedeutung. Denn es „…erscheint ‚Bildung‘ dann nicht mehr vorrangig als die Akkumulation kultureller Wissensbestände (und somit als ein ‚Besitz‘ des Subjekts), sondern als eine (keineswegs immer bewusst vollzogene) Gestaltung der durch das Subjekt hindurch verlaufenden Differenzen von Körper und Leib, Selbst und Anderem, Innen und Außen, Natur und Kultur, in die es eingebunden bleibt und durch die es sich als Subjekt immer wieder erneut hervorbringt (‚bildet‘).“ (ebd., S. 298).
Zur Sozialität von Erfahrung Das Verhältnis von Leiblichkeit und Reflexion, das sich in der Zusammengehörigkeit der Erfahrung und ihrer sprachlichen (Re-)Konstruktion formiert, 249
FREUNDSCHAFT, INTERSUBJEKTIVITÄT UND ERFAHRUNG
beruht auf einer Verträglichkeit und gegenseitigen Zugewandtheit von Sprache und Erfahrung.75 Ricoeur, mit einer etwas anderen Gewichtung als Dewey, aber im Grundsatz auch die Integration der beiden Modi betonend, weist auf eine grundsätzliche Sagbarkeit der Erfahrung hin. Über die Möglichkeit der sprachlichen Artikulation hinaus geht es für ihn darum, dass die Erfahrung selbst zum Ausdruck drängt. Der Erfahrung Sprache zu verleihen, heißt nicht, sie zu verändern, es ist vielmehr eine originäre Weise ihrer Entfaltung (vgl. Ricoeur 1975, S. 52). Eine differenzierte Betrachtung, die die Besonderheiten und Funktionen des Redens über Popmusik in den Blick nimmt und auf die im Laufe der Arbeit schon mehrfach zurückgegriffen wurde, findet sich bei Simon Frith. Für Frith spielen Kritiken, geschmackliche Wertungen, ästhetische Urteile etc. eine zentrale Rolle bei der Rezeption von Popmusik (vgl. Frith 1996 und 1999). Das hat eine wichtige bildungstheoretische Dimension. Mit den Entscheidungen darüber, was gut und schlecht, richtig oder falsch gemacht ist und warum es das ist, konstituieren wir zugleich unser eigenes Verständnis dafür, nach welchen Kriterien diese Entscheidungen zu treffen sind. Frith zeigt eindrücklich, dass sich Werturteile nicht nur auf objektive Eigenschaften der Musik beziehen, sondern dass deren Bewertung Haltungen impliziert und auch explizit hervorbringt, aus deren Warte diese oder jene Qualität gut oder schlecht erscheint. „Indem wir entscheiden, spielen und hören, was sich richtig anhört …, drücken wir uns aus, unseren Sinn für Richtigkeit, und gleichzeitig stiften wir uns an, verlieren uns in einem Akt der Partizipation.“ (Frith 1999, S. 153, vgl. dazu auch Frith 1996, S. 269 ff.). In dieser doppelten Ausrichtung – auf die Musik, die uns gefällt oder nicht, und auf uns, für die das aus diesem oder jenem Grund so ist76 – wird die
75 Es ist nicht die Aufgabe dieser Untersuchung, zu klären, ob Sprache eine unumgängliche Dimension für das Machen von Erfahrungen ist, oder ob wir nicht auch dann Erfahrungen machen, wenn wir einfach nur ergriffen, verzaubert oder gespannt sind und uns die Worte fehlen, das adäquat auszudrücken oder uns vielleicht auch einfach niemand fragt. Damit wäre zudem die Debatte darüber verknüpft, ob Kunstwerke Gegenstand des Verstehens oder des Genießens sind; eine Frage, die auf eine nicht unwichtige Differenzlinie zwischen hochkulturell und populärkulturell orientierten Positionen der Ästhetik verweist. König betont die sprachliche Verfasstheit der ästhetischen Erfahrung und kommt zu der „…Einsicht, dass die Beschreibung einer ästhetischen Wirkung diese Wirkung selber als Beschreibung ist.“ (König 1978, S. 267). Auch in neueren Beiträgen kehren ähnliche Positionen wieder. Thürnau weist z.B. zwar explizit auf die Rolle des Leibes in der Wahrnehmung von Kunst hin, hält das Fungieren eines „felt sense“ (Thürnau 1996, S. 193) aber für zeitlich begrenzt, bis sich der Sinn eines Kunstwerks semiotisch rekonstruieren und benennen lässt (vgl. Thürnau 1996). Eine prominente Gegenposition nimmt Shusterman ein, für den Freude und Genuss legitime und originäre Spielarten einer ästhetischen Erfahrungspraxis sind (vgl. z.B. Shusterman 1994 und 2005). 76 Frith nennt das „the dialectic of liking things“ (Frith 1996, S. 3). 250
BILDUNG JENSEITS DES SUBJEKTS
wertende Musikrezeption zu einer Praxis der Konstruktion und Rekonstruktion von Identität. Frith knüpft an seine eigenen Erfahrungen mit populärer Musik an: „I … learned something about myself – took my identity – from black music (just as I did later, in the disco, from gay music). What secrets was I being taught? First, that identity comes from the outside, not the inside; it is something we put or try on, not something we reveal or discover.“ (ebd., S. 273). Das Musikerlebnis ist auch das Erleben des Selbst in der Begegnung mit der Musik, die „Erfahrung eines Selbst im Prozess“ (Frith 1999, S. 151; H.i.O.), das sich in der verstehenden und erklärenden Rezeption formiert. „Wenn Narrativität, die erzählende Darstellung, die Basis des musikalischen Genusses darstellt, dann ist sie auch … zentral für unser Empfinden von Identität.“ (ebd., S. 165). Frith geht es also nicht nur um die Musik und darum, wie man sie hört, sondern ganz wesentlich auch um die Haltungen, die sich zu ihr entwickeln und die das in sprachlicher Darstellung und in der Kommunikation mit anderen tun. Einerseits gehört das Geschmacksurteil zur Praxis der Teilhabe an populärer Kultur. „Part of the pleasure of popular culture is talking about it…“ (Frith 1996, S. 4). Andererseits bedarf es für das Gelingen solcher Gespräche ein gewisses geteiltes Grundverständnis: „…aesthetic arguments are possible only when they take place within a shared critical discourse, when they rest on agreement as to what ‚good‘ and ‚bad‘ music mean – the argument, that is to say, is not about the labels but about what should be so labeled.“ (ebd., S. 10). Insofern liegt es nahe, dass entsprechende Diskussionen mit Personen geführt werden, die die eigenen Wertungen prinzipiell, wenn auch nicht in jedem Einzelfall, nachvollziehen können: „Such conversations are the common currency of friendship, and the essence of popular culture.“ (ebd., S. 4). Frith weist auf einen weiteren Aspekt hin, der hier von Bedeutung ist, da er die Rolle des Leibes in der Musikrezeption betrifft. Es geht ihm darum, „…die Bezugnahme auf Musik von der Performanz auf das Hören hin, dem Hören als eine Form der Performanz [zu] erweitern.“ (Frith 1999, S. 153). Er beschreibt das Hören als einen performativen Akt, der sich auch imaginativ und damit außerhalb von Live-Ereignissen vollziehen kann, also auch dann, wenn niemand die gehörte Musik aufführt und so keine spezifische Art übernommen werden kann, mit der Musik umzugehen. „I listen to records in the full knowledge that what I hear is something that never existed, that never could exist as a ‚performance’, something happening in a single time and space; nevertheless, it is now happening, in a single time and space: it is thus a performance and I hear it as one, imagine the performers perform even when this just means a deejay mixing a track, an engineer pulling knobs.“ (Frith 1996, S. 211). In der Verbindung dieser beiden Aspekte konturiert sich folgendes Modell: Die unmittelbare Rezeption der Musik appelliert an einen mimetischen 251
FREUNDSCHAFT, INTERSUBJEKTIVITÄT UND ERFAHRUNG
Nachvollzug, an ein Aufnehmen und Nachformen des gesehenen und/oder gehörten Gestus aus einer persönlichen Perspektive. Dabei kann sich dieser Nachvollzug leiblich-expressiv, etwa im Tanz, vollziehen; er kann sich aber auch symbolisch-erzählerisch entfalten. „If the singer’s voice makes public (makes manifest, makes available) the supposed sound of private (personal, individual) feeling, then these public gestures are consumed privately, fitted into our own narratives, our own expressive repertoires.“ (ebd., S. 211). Gestus, Ausdruck, die Art und Weise, sich zu einer (dargestellten) Befindlichkeit zu verhalten, diese Dimensionen von Popmusik werden zum Material eines persönlichen Aneignungsprozesses, der sich maßgeblich in sozialen, kommunikativen und darin auch reflexiven Dimensionen entwickelt. Dieser Punkt – die soziale Konstruktion von Erfahrung – soll hier abschließend noch einmal mit Dewey hervorgehoben werden. Das ist nicht zuletzt deshalb angebracht, weil Erfahrung durchaus auch anders verstanden wird – als gleichsam private Hervorbringung des Subjekts. Für Mollenhauer macht den Bildungs-Sinn der ästhetischen Erfahrung aus, dass das Aufmerksam-Werden auf die eigene Wahrnehmung, das sich in ihr ergibt, in ein „Selbstgespräch“ (Mollenhauer 1996, S. 29) münden kann, in dem wir uns und unser Verhältnis zur Welt reflektieren (s.o.). Zur Besonderheit dieses IchSelbst-Verhältnisses gehört für ihn auch: „…die Hinsicht auf die Anderen … ist hier suspendiert … ich bin, in dem ausgezeichneten Sinn dieses Wortes ‚privat‘…“ (ebd., S. 26). Diese Auffassung lässt sich kritisieren. Brumlik erkennt in ihr ein „solipsistisches“ (Brumlik 2000, S. 160) Schema und merkt an: „Von der Zustimmung anderer sind wir abhängig, wenn wir bezüglich einer Erfahrung Geltungsansprüche äußern.“ (ebd., S. 159). Soweit muss man nicht gehen. Für Mollenhauer haben „situative Bedingungen“ (Mollenhauer 1996, S. 30) ästhetischer Erlebnisse, „Wissensbestände“ (ebd.), die zum Umgang mit ihnen befähigen, und die spezifischen Qualitäten des Gegenstands, auf deren Wahrnehmung sich die ästhetische Selbstreflexion gründet, durchaus eine wichtige Funktion. Doch damit spielt Sozialität nur mittelbar, also als Dimensionen des Gegenstands der Erfahrung in diese hinein. Sie bleibt als Ort ihrer Hervorbringung unberücksichtigt. Dabei liegt auch das eigentlich nahe. „Wenn wir Freude empfinden, möchten wir sie für gewöhnlich mit anderen teilen. Und wir können unsere ästhetischen Vergnügen genauso teilen, wie wir eine ästhetische Erfahrung teilen können. Obwohl jeder einzelne von uns beim Besuch einer Ausstellung, eines Films oder eines Rockkonzerts nur vermittelt durch sein eigenes Bewusstsein ästhetisches Vergnügen empfinden wird, spricht das noch nicht gegen den gemeinsamen Charakter unserer Freude.“ (Shusterman 2005, S. 58; H.i.O.). Dewey weist auf diesen Punkt hin und erläutert zur Gemeinsamkeit von Erfahrungen: Das „…ist nicht etwas metaphysisch aller Erfahrung Vorausgehendes, sondern es ist eine Weise, in der die Dinge in der Erfahrung 252
BILDUNG JENSEITS DES SUBJEKTS
funktionieren als ein einendes Band zwischen partikulären Ereignissen und Szenen. Der Möglichkeit nach ist alles Beliebige … ‚gemeinsam‘; ob es jeweils tatsächlich gemeinsam ist, hängt von verschiedenen Bedingungen ab, besonders von denen, die den Prozess der Kommunikation beeinflussen.“ (Dewey 1988, S. 334; H.i.O.). Zum Verhältnis von Erfahrung und Kommunikation bei Dewey soll hier nicht eine weitere umfassende Auslegung seiner entsprechenden Ausführungen erfolgen. Ein Kerngedanke aus „Erfahrung und Natur“ soll genügen. Dewey schreibt der Sprache als Medium der Reflexion neben einer benennenden auch eine generative Funktion zu. „Jede Rede, ob gesprochen oder geschrieben, die mehr als ein routinemäßiges Abspulen von Sprechgewohnheiten ist, sagt Dinge, die den überraschen, der sie sagt, oftmals sogar mehr, als sie irgendjemand anderen überraschen.“ (Dewey 2007, S. 152; vgl. dazu Neubert 1998, S. 242 ff.). Damit hängt zusammen, dass es für Dewey nicht nur eine Form von Sinn gibt. Alexander sieht bei Dewey (worauf bereits in Dewey als Pate einer sozialen Bildungstheorie verwiesen wurde) das Konzept eines Spektrums von Gefühl, Sinn und Bezeichnung, innerhalb dessen graduelle Übergänge nicht nur möglich, sondern die Regel sind. Er schreibt: „… it would be better to regard Dewey’s distinction of feeling, sense and signification as matters of degree along a continuum rather than as three separate modes of experience.” (Alexander 1987, S. 172; H.i.O.). Dieses Spektrum ist für Alexander begrenzt von zwei Extremformen, die als eigene Modi von Erfahrung nicht in Betracht kommen, sondern in ihrer jeweiligen Verbindung die spezifische Form konkreter Erfahrungen ausmachen. „For this reason, it is best to regard ‚pure feeling‘ and ‚pure signification‘ as limiting terms, and, in fact, bizarre extremes impossible in themselves, of the continuum of ‚sense‘.“ (ebd.). Dieses Modell verweist auf die Verflechtung somatischer und sprachlicher Anteile bei der Genese von Erfahrung. „Erfahrung ist emotional…“ (Dewey 1988, S. 54). Auch auf diese Feststellung wurde schon einmal Bezug genommen (siehe Dewey als Pate einer sozialen Bildungstheorie). Mit Kestenbaum und im Rückgriff auf die Übersetzung „emotionenhaft“ (Dewey 1994, S. 228) durch Schreier wurde dabei vorgeschlagen, das nicht so zu verstehen, dass Erfahrung sich als Emotion (also als Freude, Spannung, Erschaudern oder dergleichen) einstellt, sondern, dass sie sich modal wie ein Gefühl entfaltet – also wie eine sich konkretisierende Ahnung (vgl. Kestenbaum 1977, S. 29). Dewey erläutert selbst zur Rolle des Gefühls in der Erfahrung: „Das Gefühl ist dabei die bewegende und zementierende Kraft; es wählt das Übereinstimmende aus und verleiht dem Ausgewählten seine Farbe, wodurch es den nach außenhin ungleichen und unvereinbaren Materialien qualitative Einheit verleiht. Somit stellt es in den Bestandteilen und durch die Bestandteile einer Erfahrung eine Einheit her.“ (Dewey 1988, S. 55). Eine nächste wichtige Modulation im Prozess des Ma253
FREUNDSCHAFT, INTERSUBJEKTIVITÄT UND ERFAHRUNG
chens einer Erfahrung ist das rekonstruktive und nach-forschende Verstehen (‚inquiry‘) des präreflexiv wahrgenommenen Sinns (vgl. Kestenbaum 1977, S. 32) in der Art eines Ausprobierens von Bedeutung, einer spielerischen Reflexion (vgl. Dewey 2000, S. 201 und 2002, S. 157 ff.). Diese beiden Dimensionen, der gefühlte Sinn und das Spiel mit Bedeutungen, sind in den beschriebenen leiblich fundierten Erzählpraxen in den freundschaftlichen Gesprächen deutlich wieder zu finden. Die Freunde erzeugen und wahren untereinander eine Stimmung, in der die Gegenstände ihres Gesprächs fraglich/metaphorisch werden, also neue Sinnmöglichkeiten durchscheinen lassen, und sie entfalten diese Potentiale in Erzählungen, deren praktisch-reflexiver Charakter ihnen das gemeinsame Machen von Erfahrungen ermöglicht. Weil Erfahrung als Prozess, ob individuell oder gemeinsam vollzogen, diese Phasen (des unmittelbaren Sinns und der reflektierten Bedeutung) durchläuft, heißt das für gemeinsame Erfahrungen dass sie nicht ausschließlich symbolisch vermittelt werden können; so, als müsste sie jemand nur ‚richtig‘ benennen, damit sie sie auch der andere versteht und als seine Erfahrung annimmt. Ein solcher magischer Transfer ist nicht vorstellbar. Möglich und intersubjektive Praxis sind dagegen gemeinsame Hervorbringungen von Erfahrung, bei denen gemeinsam die Bedeutungspotentiale eines Gegenstands entfaltet werden. Wenn also auch nicht die individuelle Wahrnehmung geteilt werden kann, so kann doch – über die leiblichen Dimensionen des Erzählens – intersubjektiv (d.h. gemeinsam, füreinander oder voreinander) eine gemeinsame Erzählung entwickelt werden. Freundschaft lässt sich insofern also als ‚Körperschaft‘ verstehen, als in ihr zwar die Dimension der Aisthesis individuell bleibt, sie aber Organ der Emergenz ästhetischer, biographischer und sozialer Erfahrungen ist, die aus ihr mittels einer produktiven und leibgebundenen Praxis als gemeinsame Erfahrungen hervorgehen.
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Zum Sc hluss : Ne ue Fra ge n
Die vorangegangenen Überlegungen beschreiben im Rekurs auf Dewey und Bourdieu Erfahrung als eine bildungsbedeutsame soziale Praxis. Die Gegenüberstellung des Habitus-Konzepts von Bourdieu und Deweys Begriff der habits zeigt dabei die hohe pädagogisch-bildungstheoretische Relevanz der pragmatistischen Würdigung von habits als Bildungsressource. Die Stärkung dieser Perspektive, in der die Veränderbarkeit und Weiterentwicklung habitueller Dispositionen auf dem Wege des Machens von Erfahrungen als eine zweite Möglichkeit neben ihrer reflexiven Überwindung sichtbar wird, ist pädagogisch von entscheidender Bedeutung. Erst ein fundiertes und differenziertes Konzept von Erfahrung kann sich gegen Gemeinplätze von Ganzheitlichkeit behaupten. Erfahrung als soziale Praxis vollzieht sich im Fall der Freundschaft in einem Erfahrungsraum, der sich in den Dimensionen von evozierender Atmosphäre, responsiver Tätigkeit und konstruktiver Bedeutung formiert (siehe Bildung – formale Aspekte). In diesen prozessualen Ebenen können sich bildungsbedeutsame Erfahrungsprozesse in unterschiedlichen Formationen von Subjektivität und Intersubjektivität entfalten. Bildung kann auch aus der gemeinsamen Tätigkeit gleichberechtigter Personen hervorgehen. Die Subjekte tragen dabei immer Mitverantwortung für ihre Erfahrung. In Freundschaften als Erfahrungsräumen sind es insbesondere nicht-intentionale Praxen der Improvisation und eine besondere Aufmerksamkeit für das Überraschungsmoment von Situationen, die zur Genese von Erfahrungen beitragen (siehe Freundschaft und die Dialektik von Habitus und Feld). Den Freunden gelingt es, sich selbst zu überraschen. Im Hinblick auf die intersubjektive Hervorbringung von Erfahrungen tritt in den Gesprächen mit den Freundespaaren ein konstruktives Zusammenwirken von leiblicher Sinnstiftung und Reflexion hervor, das zur Hervorbringung von Bedeutung führt. Diese Beobachtung in Bezug auf die somatischen An-
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FREUNDSCHAFT, INTERSUBJEKTIVITÄT UND ERFAHRUNG
teile von Bildung stützt sich auf eine richtungweisende theoretische Grundlage: In der phänomenologischen Bildungstheorie Meyer-Drawes wird Leiblichkeit als primordiale Fundierung von Bildung deutlich. Bildung ist indes nicht nur als Möglichkeit leiblich bedingt, sie ist ein Prozess, der sich immer auch leiblich vollzieht. Im Ineinandergreifen von mimetisch-performativen, aushandlungsbezogenen und reflexiven Erzählweisen der Freunde öffnen sich Übergänge zwischen den habituellen und präreflexiven Dimensionen von Erfahrungen und ihren reflexiven Anteilen. Dabei zeigt sich, dass es nicht die, wenn man so will, Ausweitung der reflexiven Kampfzone ist, die zur „Reifung“ (Dewey 1988a, S. 53) von Erfahrungen führt, sondern wesentlich eine spielerische und eingespielte77, leiblich fundierte Praxis der Freunde, die sie Erfahrungen machen lässt. Der Leib ist insofern nicht nur als das Andere, als ein Surplus von Reflexionsprozessen zu verstehen, sondern auch als ihr Anfang. Diese Interdependenz von Leiblichkeit und Reflexion bzw. von Denken und Handeln ist ein Thema, das auf die vielfältigen und bislang kaum aufgegriffenen Berührungen von Phänomenologie und Pragmatismus und die Möglichkeit einer daraus sich ergebenden wechselseitigen Befruchtung verweist. Mit Kestenbaum (1977) liegt hier ein erster inspirierender Ansatz vor, der unbedingt auszubauen ist. Beide Strömungen können sich gegenseitig bereichern; der Pragmatismus, abgesehen davon, dass Dewey auch werkimmanent einer breiteren und differenzierteren Rezeption und Diskussion bedarf, die über zentrale Stellen zentraler Arbeiten hinausgeht, kann an anthropologischer Differenzierung gewinnen, die Phänomenologie, genauer gesagt die pädagogische Phänomenologie, eine bislang nicht hinreichend entwickelte Nähe zu konkreten Erfahrungspraxen. Die Dignität von Freundschaft als Praxis ist ein Aspekt, der auch in der geschlechtsspezifischen Thematisierung von Freundschaft breiter zu berücksichtigen ist. Wenn Untersuchungen beispielsweise nach einer vermeintlich objektiven Freundschaftsqualität fragen, dann vernachlässigen sie, dass das besondere soziale Potential von Freundschaften gerade darauf beruht, dass sie als Beziehungen in besonderer Weise selbst gestaltet werden müssen und können. Der Diskurs zu geschlechtsspezifischen und geschlechterübergreifenden Aspekten von Freundschaften ist insofern auf eine breitere Basis von geschlechtersensiblen Untersuchungen konkreter Freundschaftspraxen, wie sie z.B. Breitenbach (2000) durchgeführt hat, angewiesen.
77 Dass nicht nur die spielerische Anlage von Freundschaften, sondern ebenso die Sensibilität der Freunde für das Spiel von großer Bedeutung ist, führt auch Bovenschen vor, die zeigt, wie leicht und von welch scheinbar belanglosen Anlässen ausgehend es zu schwerwiegenden Irritationen zwischen Freunden kommen kann (vgl. Bovenschen 2000). 256
ZUM SCHLUSS: NEUE FRAGEN
Nicht zuletzt kommt es in diesem Zusammenhang – und nicht nur hier – aber auch darauf an, die Frage nach der gesellschaftlichen Bedingtheit von Freundschaft zu stellen. Diskursanalytische und empirisch angelegte Arbeiten könnten einen wichtigen Beitrag dazu leisten, die in Bezug auf die Gestaltung freundschaftlicher Beziehungen zwar oft gewürdigte, aber kaum hinterfragte Freiheit von allgemeinen gesellschaftlichen Normen differenzierter zu beleuchten. Das wäre auch hinsichtlich einer möglichen Befangenheit der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Freundschaft von Belang. Es könnte sein, dass der Diskurs zur Freundschaft teilweise Denkformen reproduziert, die von eben jenen gesellschaftlichen Bedingungen geprägt sind, zu denen er Freundschaft in ein Verhältnis setzt. In diesem Sinn kann man es für eine Kippfigur halten, wenn Freundschaften zugeschrieben wird, dass sie in hochgradig individualisierten Gesellschaften als ein Refugium der Verlässlichkeit fungieren. Denn damit bewirken sie nicht nur eine gewisse Kompensation gesellschaftlicher Vereinzelung, sondern tragen auch zu einem Arrangement mit den entsprechenden Lebensbedingungen bei. In einem weiteren Punkt sind Freundschaften als Erfahrungsräume zu wenig untersucht; das betrifft ihre konkrete Praxis in verschiedenen Lebensaltern. Zwar liegt eine Anzahl entwicklungspsychologischer Beiträge zur Entwicklung des Freundschaftsverständnisses vor. Der dominant entwicklungspsychologische Umgang mit diesem thematischen Aspekt und das damit verknüpfte Erkenntnisinteresse, das sich maßgeblich auf die Entwicklung kognitiver Strukturen richtet, ist jedoch durch eine gehaltvollere empirische Forschungslage zu freundschaftlichen Praxen in verschiedenen Altersstufen zu ergänzen. Dabei wäre auch danach zu fragen, ob und wie sich das Verhältnis von leibnahen und reflexiven Anteilen von Erfahrungen, die in Freundschaften gemacht werden, über die Lebenszeit ändert. Ebenso müsste überprüft werden, ob es alterstypische Konstellationen bei der Verschränkung von Subjektivität und Intersubjektivität in freundschaftlichen Erfahrungsprozessen gibt. Freundschaft über die Lebenszeit erfordert außerdem in biographietheoretischer Perspektive weitere Erforschung. Die vorliegende Arbeit beschreibt Freundschaft als einen Raum der Ko-Konstruktion von Lebensgeschichte (siehe Bildung – inhaltliche Bezüge). Das Verhältnis von Freundschaft und Biographie lässt sich allerdings aus (mindestens) zwei Perspektiven betrachten. Einmal ist Biographie ein Thema in Freundschaften. Die Freunde erzählen einander oder gemeinsam ihre Lebensgeschichte. Zum andern können Freunde auch wichtige Figuren in biographischen Erzählungen sein. Untersuchungen, die diesen Aspekt aufgreifen wollen, müssten Erzählungen anstoßen, sammeln und interpretieren, in denen das eigene Leben anhand der freundschaftlichen Begleitung, die man erfahren hat, geschildert wird. Theoretisch ist es dafür notwendig, Biographie nicht nur als reflexive Ordnungs257
FREUNDSCHAFT, INTERSUBJEKTIVITÄT UND ERFAHRUNG
leistung eines souveränen Subjekts zu verstehen (vgl. den Abschnitt zu Biographie in Zur bildungstheoretischen Perspektive der Untersuchung), sondern sie auch als Verstrickung in die Geschichten anderer anzuerkennen. In einem größeren Zusammenhang wirft die mutmaßliche Altersbedingtheit freundschaftlicher Erfahrungspraxen die Frage nach der Möglichkeit einer Entwicklungstheorie der Erfahrung auf. Eine solche Theorie wäre sehr differenziert anzulegen. Denn es ist gerade eine Stärke von Deweys Konzept der Erfahrung, dass er diesen Modus nicht auf einen oder wenige Typen beschränkt, sondern über die intellektuellen, praktischen und ästhetischen Gehalte von Erfahrungen und in eher auf körperliches Erleben oder mehr auf Denken aufbauenden Vollzügen eine Vielfalt möglicher Erfahrungsformen aufzeigt. Und auch aus phänomenologischer Sicht wird Kritik an entwicklungspsychologischen Konzepten geübt; nicht nur an ihrer kognitivistischen Ausrichtung, sondern auch daran, dass sie gesellschaftliche dominante Formen des Umgangs mit Welt als quasi natürliche Entwicklungen darstellen (vgl. Meyer-Drawe 1984). Andererseits liegt auf der Hand, dass Menschen verschiedenen Alters beispielsweise unterschiedlich mit Sprache umgehen, dass sie unterschiedlich spielen oder verschiedene ästhetische Praxen ausüben. Unter Berücksichtigung ihrer gesellschaftlichen Bedingtheit wäre also zu untersuchen, wie sich unterschiedliche Erfahrungsräume auf die Struktur der Erfahrungen auswirken, die Kinder, Jugendliche, Erwachsene und alte Menschen in ihnen machen. Eine noch weiter gefasste Fragestellung betrifft das Verhältnis von Erfahrung und Bildung. Aus diesem komplexen und umfassenden Zusammenhang soll hier zum Abschluss nur ein Aspekt herausgehoben werden. Eine tiefer greifende bildungstheoretische Auseinandersetzung mit Erfahrungen als Modus, in dem sich vorhandene habitualisierte Dispositionen durch konstruktive Irritationen wandeln, in dem also Museum und Laboratorium (vgl. Dewey 1984, S. 142) zusammenwirken, kann dazu beitragen, die komplexen Wechselbeziehungen zwischen Bildung und Habitus bzw. zwischen Bildung und habits differenzierter zu verstehen. Für die pädagogische Bildungstheorie geht es bei dieser Frage auch um ein Verständnis von Bildung, das diese nicht auf revolutionäre Prozesse festschreibt. Bildung ist nicht immer, ist nicht nur die Überschreitung von Herkunft; es ist wichtig, sie theoretisch wie praktisch für subtile Vollzüge offen zu halten, für das gelingende Zurechtkommen innerhalb einer Ordnung, für die Entwicklung von Zugehörigkeit. Bildung im Gespräch unter Freunden jedenfalls gelingt deswegen, weil Freunde einander beides ermöglichen: besondere Vertrautheit und besondere Aufmerksamkeit.
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Da nk
Ich habe in allen Phasen der Arbeit an dieser Untersuchung wertvolle Hilfe bekommen und möchte dafür meinen Dank aussprechen: Prof. Dr. Volker Schubert und Prof. Dr. Meike Baader danke ich für die konstruktive Betreuung und verständige Begutachtung der Arbeit. Prof. Dr. Ernst Cloer hatte im Promotionsverfahren zwar keinen offiziellen Part inne, hat dabei aber doch – gerade am Beginn – eine wichtige Rolle gespielt. Dem Land Niedersachsen gebührt Dank für die Förderung durch ein 10-monatiges Promotionsstipendium im Rahmen der Landesgraduiertenförderung. In die kritische Lektüre und Diskussion einzelner Kapitel waren Olga Remisch und Christin Sager eingebunden. Bei der Erstellung der Druckvorlage hat mich Hannes Viet tatkräftig unterstützt. Auch Marc Schulz stand als Leser und Diskutant zur Verfügung, hat der Arbeit aber noch mehr durch viele freundschaftliche Gespräche geholfen, die mal in engem, mal in losem Zusammenhang mit ihr standen. Natalie Buchholz habe ich für vieles zu danken, an dieser Stelle v.a. für ihre Anteilnahme und Geduld. Es wären noch viele weitere Personen zu nennen, die in der einen oder anderen Form zu dieser Arbeit beigetragen haben; sie mögen mir nachsehen, dass dies nicht der Ort für eine umfängliche Auflistung ist. Nicht unausgesprochen soll aber der Dank an Volker und Matthias, an Hannes und Roland sowie an Robert und Jürgen bleiben, die sich mir so bereitwillig und unkompliziert als Gesprächspartner zur Verfügung gestellt haben.
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Johannes Giesinger Autonomie und Verletzlichkeit Der moralische Status von Kindern und die Rechtfertigung von Erziehung 2007, 218 Seiten, kart., 23,80 €, ISBN 978-3-89942-795-0
Ghodsi Hejazi Pluralismus und Zivilgesellschaft Interkulturelle Pädagogik in modernen Einwanderungsgesellschaften. Kanada – Frankreich – Deutschland Oktober 2009, ca. 350 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1198-4
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Pädagogik Fabian Lamp Soziale Arbeit zwischen Umverteilung und Anerkennung Der Umgang mit Differenz in der sozialpädagogischen Theorie und Praxis 2007, 258 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-89942-662-5
Antje Langer Disziplinieren und entspannen Körper in der Schule – eine diskursanalytische Ethnographie 2008, 310 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-932-9
Christiane Thompson, Gabriele Weiss (Hg.) Bildende Widerstände – widerständige Bildung Blickwechsel zwischen Pädagogik und Philosophie 2008, 228 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN 978-3-89942-859-9
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Pädagogik Autostadt GmbH (Hg.) DENK(T)RÄUME Mobilität Bildung – Bewegung – Halt 2005, 176 Seiten, kart., 17,80 €, ISBN 978-3-89942-357-0
Wiltrud Gieseke, Steffi Robak, Ming-Lieh Wu (Hg.) Transkulturelle Perspektiven auf Kulturen des Lernens Oktober 2009, ca. 250 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1056-7
Britta Hoffarth Performativität als medienpädagogische Perspektive Wiederholung und Verschiebung von Macht und Widerstand April 2009, 270 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1095-6
Ulla Klingovsky Schöne Neue Lernkultur Transformationen der Macht in der Weiterbildung. Eine gouvernementalitätstheoretische Analyse Juli 2009, 234 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1162-5
Peter Kossack Lernen Beraten Eine dekonstruktive Analyse des Diskurses zur Weiterbildung 2006, 218 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-89942-294-8
Thorsten Kubitza Identität – Verkörperung – Bildung Pädagogische Perspektiven der Philosophischen Anthropologie Helmuth Plessners
Felicitas Lowinski Bewegung im Dazwischen Ein körperorientierter Ansatz für kulturpädagogische Projekte mit benachteiligten Jugendlichen 2007, 242 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-89942-726-4
Ruprecht Mattig Rock und Pop als Ritual Über das Erwachsenwerden in der Mediengesellschaft März 2009, 264 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN 978-3-8376-1094-9
Paul Mecheril, Monika Witsch (Hg.) Cultural Studies und Pädagogik Kritische Artikulationen 2006, 322 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-89942-366-2
Christian Schütte-Bäumner Que(e)r durch die Soziale Arbeit Professionelle Praxis in den AIDS-Hilfen 2007, 304 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-717-2
Ellen Schwitalski »Werde, die du bist« Pionierinnen der Reformpädagogik. Die Odenwaldschule im Kaiserreich und in der Weimarer Republik 2004, 394 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-89942-206-1
Robert Stölner Erziehung als Wertsphäre Eine Institutionenanalyse nach Max Weber Juli 2009, 254 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1183-0
2005, 352 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-89942-318-1
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