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German Pages 182 Year 1980
Schriftenreihe zur Rechtssoziologie und Rechtstatsachenforschung
Band 47
Die Befolgung von Gesetzen Empirische Untersuchungen zu einer rechtssoziologischen Theorie
Von
Andreas Diekmann
Duncker & Humblot · Berlin
ANDREAS DIEKMANN
Die Befolgung von Gesetzen
Schriftenreihe zur Rechtssoziologie und Rechtstatsachenforschung Herausgegeben von Ernst E. Hirsch und Manfred Rehbinder
Band 47
Die Befolgung von Gesetzen Empirische Untersuchungen zu einer rechtssoziologischen Theorie
Von
Dr. Andreas Diekmann
DUNCKER &
HUMBLOT I
BERLIN
Alle Rechte vorbehalten
© 1980 Duncker & Humblot, Berl1n 41
Gedruckt 1980 bei Buchdruckerei A. Sayffaerth - E. L. Krohn, Berl1n 61 Printed in Germany
ISBN 3 428 04687 4
Vorwort In der Rechtssoziologie und in der Kriminologie existiert eine umfangreiche Literatur, die sich mit 'zwei Fragen befaßt: Führt Recht zu sozialem Wandel? Wirken Strafen abschreckend? Die Antwort auf beide Fragen ist wenig befriedigend. Sie lautet: Zuweilen ja, zuweilen nein. Oft sind unbefriedigende Antworten dadurch bedingt, daß die Fragen unzweckmäßig gestellt sind. Dies gilt auch für die heiden genannten Fragen. Wenn sich zeigt, daß Recht zuweilen sozialen Wandel verursacht, zuweilen aber auch nicht, liegen folgende Fragen nahe: Unter welchen Bedingungen verursacht Recht sozialen Wandel? Unter welchen Bedingungen wirken Strafen abschreckend? Will man diese Fragen beantworten, benötigt man Theorien, d. h. generelle Aussagen, die darüber informieren, welche Variablen - außer bestimmten rechtlichen oder gesetzlichen Regeln - sozialen Wandel oder die Befolgung von Gesetzen beeinflussen. Bei der Formulierung derartiger Theorien sind zwei Vorgehensweisen sinnvoll: 1. Vorliegende Hinweise in der Literatur oder auch Primärerfahrungen des Forschers werden herangezogen. 2. Aus vorliegenden allgemeinen Theorien werden Theorien, die über die genannten Zusammenhänge informieren, abgeleitet. Man wird sich nicht damit zufriedengeben, entsprechende Theorien zu formulieren. Man wird sie vielmehr strengen empirischen Prüfungen unterziehen. Insbesondere wird man alternative Theorien miteinander konfrontieren, um herauszufinden, welche dieser Theorien sich besser bewährt. Dieses hier nur sehr grob skizzierte Forschungsprogramm mag manchem Leser geradezu evident erscheinen. Eine Durchsicht der einschlägigen Literatur zeigt jedoch, daß normalerweise nicht in der skizzierten Weise vorgegangen wird. Die vorliegende Arbeit kann als ein wichtiger Beitrag zur Realisierung des beschriebenen Forschungsprogramms betrachtet werden. Die Frage, zu deren Beantwortung der Autor einen Beitrag Leistet, lautet: Unter welchen Bedingungen werden Gesetze in welchem Maße befolgt? Eine Beantwortung dieser Frage impliziert eine Beantwortung der beiden genannten Fragen. Wenn nämlich mit der Befolgung von Gesetzen sozia-
6
Vorwort
ler Wandel- was immer damit genau gemeint sein mag - erreicht werden soll, dann kann eine Theorie der Gesetzesbefolgung erklären, unter welchen Bedingungen sozialer Wandel auftritt. Die Frage, unter welchen Bedingungen Strafen abschreckend wirken, kann so verstanden werden: Unter welchen Bedingungen werden Gesetze, die Strafen androhen, befolgt? Ausgangspunkt des Autors ist eine vorliegende Theorie der Gesetzesbefolgung, die auf der Grundlage von Hinweisen aus der rechtssozi0logischen Literatur formuliert wurde. Diese Theorie modifiziert Diekmann. Er befaßt sich dann mit Problemen, die bei der überprüfung dieser Theorie auftreten. Es handelt sich hier, nebenbei bemerkt, um Probleme, die man auch bei der überprüfung einer Vielzahl anderer rechtssoziologischer Theorien findet. Nach einer auch für den in der Statistik nicht bewanderten Leser verständlichen Darstellung des verwendeten statistischen Verfahrens (Kausal analyse) werden die Ergebnisse von drei Untersuchungen, die zur überprüfung der Theorie durchgeführt wurden, dargestellt und ,diskutiert. Der Autor zieht zur Beurteilung der Theorie weitere Untersuchungsergebnisse heran und konfrontiert die Theorie mit einer allgemeinen Theorie, die üblicherweise in der Ökonomie angewendet wird. Das vorliegende Buch gehört zu den wenigen soziologischen Arbeiten, in denen eine Theorie mehrfach empirisch überprüft und darüber hinaus mit einer allgemeinen Theorie konfrontiert wurde. Trotzdem bleibt eine Reihe von Problemen ungelöst, worauf der Autor selbst hinweist. Es ist zu hoffen, daß die von Diekmann begonnene Arbeit sowohl empirisch als auch theoretisch fortgesetzt wird. Diekmanns Arbeit hat einige weitere Vorzüge, die - leider - insbesondere bei Schriften, in denen empirische Forschungsergebnisse berichtet werden, selten sind. Die Argumentation zeichnet sich durch besondere Klarheit und Verständlichkeit aus. Da der Autor u. a. in die Struktur von Theorien, in Kriterien zu ihrer Beurteilung und in die angewandten statistischen Verfahren einführt (vgl. die Teile I und IV), kann die Arbeit auch von Nicht-Sozialwissenschaftlern gelesen werden. Es wäre auch möglich, sie als eine exemplarische Einführung in die Rechtssoziologie oder in die Soziologie des abweichenden Verhaltens zu benutzen: Der Student lernt am Beispiel einer Theorie. wie Theorien beurteilt werden, wie sie zur Lösung praktischer Probleme angewandt werden können, welche Probleme bei ihrer überprüfung bestehen usw. Die im Anhang abgedruckten Fragebögen können schließlich verwendet werden, um Probleme des Interviews bzw. der Befragung zu diskutieren. Karl-Dieter Opp
Inhaltsverzeichnis Einleitung. . .. . . . . . . . . . . .. . .. . . . .. . . ..... . . . . . .. .. . . . . . . . . . . .. . . . . . ....
11
I.
Die Rolle von Theorien in der Rechtssoziologie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
15
1.
Probleme der Rechtssoziologie und die Rolle von Theorien ........ Problem 1: Sozialplanung ........................................ Problem 2: Erklärung und Prognose .............................. Problem 3: Die Evaluierung von Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Problem 4: Alltagstheorien und Ideologiekritik. " . . .... . .. . .. . . ... Problem 5: Kritik von Normen ...................... , . . .... .. .. ...
15 15 18 19 20 21
2.
Die Struktur einer Theorie der Gesetzesbefolgung und die Formulierung "komplexer" Theorien als Kausalmodell ..................
22
3.
Einige Kriterien zur Bewertung von Theorien ....................
25
4.
Eine Kritik der Forschungspraxis ................................
28
ß.
Die Theorie von Opp zur Befolgung von Gesetzen. . . . . . . . . . . . . . . . . ..
32
1.
Die Variablen erster Stufe .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
33
2.
Die Variablen zweiter Stufe ......................................
36
3.
Kritik und Modifikation der Theorie ..............................
38
3.1 3.2 3.3
Die Variable "Informiertheit" .................................... Weitere Variablen erster Stufe. ... . .. . . ... . .... .... .... .... . . . . ... Kollektive und individuelle Variablen ............................
39 40 42
m.
Probleme der empirischen Vberprüfong . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
44
1.
Das Forschungsdesign:Querschnittsdaten und Kausalhypothesen ..
44
2.
Die Brauchbarkeit amtlicher Statistiken zur Hypothesenprüfung und die Validität von Umfragedaten über abweichendes Verhalten .... 46
3.
Einige Einwände gegen die Überprüfung einer Theorie an "Kavaliersdelikten" und "willkürlich" gezogenen Stichproben... . . .. .. . .. 50
4.
Probleme beim Test der "kollektiven" Version der Theorie ........
52
IV. Das statlstisclle Verfahren der Kaosalanalyse.. . . . . . . . . . . . . . . . . . .. ..
54
1.
Die "Übersetzung" von Kausalmodellen in die "Sprache" linearer Gleichungssysteme ....... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54
8
Inhaltsverzeichnis
2.
Die Schätzung der Regressions- oder Pfadkoeffizienten an empirischen Daten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
57
3.
Erklärte und unerklärte Varianz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . .. . . . . . .. ..
61
4.
Die Überprüfung der Kausalstruktur ............................. ,
62
5.
Einige Modellannahmen ..........................................
64
6.
Nicht-rekursive Modelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
67
7.
Direkte und indirekte Beziehungen ..............................
68
8.
Einige Kriterien zur Beurteilung von Kausalmodellen . . . . . . . . . . . . . .
69
V.
Empirische 'Uberprüfung 1: "Schwarzfahrer" .. . . . . . . . . . . . .. . . . . .. ..
72
1.
Einige Angaben zum Delikt ................. . ....................
72
2.
Die Stichprobe und die Befragungstechnik ........................
73
3.
Die Messung der Variablen ...................... . . . .............
74
4. 4.1 4.2
Einige deskriptive Merkmale der Stichprobe ............... . ...... Die soziale Zusammensetzung der Stichprobe ...... .......... ..... . Die Verteilung des abweichenden Verhaltens und die Häufigkeit der Sanktionen ...... .. ..................................... ... ...... Die Geltungsstruktur der Norm. . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . .. ... . . . . .. Die Durchschnittswerte der Attitüden und die Verteilung der Antworten zu einigen Statements ...... . . ... ..... .... .. .. .... .. .. .. ..
77 77
5. 5.1 5.2 5.3
Die Überprüfung der einstufigen Modelle . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . Das einstufige Modell der OPP-Theorie .... . ...... .. ....... .. ... . Die modifizierte Theorie ... ................. . ...... . ..... .. .'. . . . . . Ein Modell mit der Variablen "Netto-Nutzen" ...... . .............
83 83 86 88
6.
Ein mehrstufiges Modell ... ..... .. ..... .. . .. . .. ............ . ......
89
7. 7.1 7.'2
Einige Kritikpunkte von Simon und Kunow ....... . ....... .... ... Die Linearitätsannahme ..... . .. ...... . .............. . ............ Die Korrelation zwischen NA und PSB ... ... . .. .. .................
91 92 94
8.
Nicht-rekursive Modelle ............. . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
96
9.
Zusammenfassung
98
4.3 4.4
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
77 80 80
VI. Empirische 'Uberprüfung 2: Steuerhinterziehung. . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 100 1.
Einige Angaben zum Delikt ........ . . ... .... . .................... 100
2.
Die Stichprobe und die Befragungstechnik ... . .. ........ .......... 101
3.
Die Messung der Variablen .......... ... ... . . . ..... . ...... .. ..... 101
4.
4.1 4.2
Die Überprüfüng dereinstufigen Modelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. .. 104 Das einstufige Modell der OPP-Theorie .... . ..... ......... ... ... . 104 Die modifizierte Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 105
5.
Ein mehrstufiges Modell .... . . .....•.. . .... '. ' . .. . . . . . . .. . . . . . . . . .. 107
6.
Zusammenfassung
109
Inhaltsverzeichnis
9
VII. Empirische tJberprüfung 3: Rauchverbot ........................... 111 1.
Die Normverletzung .............................................. 101
2.
Die Stichprobe und die Befragungstechnik ........................ 111
3.
Die Messung der Variablen ...................................... 112
4. 4.1 4.2 4.3
Die überprüfung der einstufigen Modelle ........................ Das einstufige Modell der OPP-Theorie .......................... Die modifizierte Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Ein Modell mit der Variablen "Netto-Nutzen" ....................
5.
Ein mehrstufiges Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 117
6.
Zusammenfassung
114 114 115 116 120
VIII. Empirische Befunde und Weiterentwicklung der Theorie. . . . . . . . . . .. 122 1.
Ein Vergleich der drei Untersuchungen .......................... 122
2. 2.1
Andere empirische Untersuchungen .............................. Untersuchungen, in denen die "normative Abweichung" eine Rolle spielt ............................................................ Empirische Resultate der Sanktionsforschung .................... Die wichtigsten Resultate und weitere Forschungsaufgaben . . . . . . ..
2.2 2.3
126 126 128 132
3.
Die Theorie zur Befolgung von Gesetzen und die "ökonomische Theorie der Kriminalität" ............................................ 134
4.
Kriminalität als dynamischer Prozeß ...................... . . . ... 140
IX. Einige rechtspolitische Konsequenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 142 1.
Die Notwendigkeit von Anschlußtheorien ........................ 143
2.
Die Rolle negativer Sanktionen .................................. 144
3.
Alternativen zur Strafe ............................... . ...... . ... 150
4.
Kosten-Nutzen -Analysen
152
Anhang 1: Abkürzungsliste der Variablennamen ............ . . . ...... . ... 154 Anhang 2: Korrelationsmatrizen ........................................ 155 Anhang 3: Die Messung der Variablen ................................... 158 Literaturverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 176
Einleitung Die "Effektivität des Rechts" ist ein Thema, das bei Rechtssoziologen, Juristen und Vertretern der verschiedenen Nachbardisziplinen zunehmend Resonanz findet. Besondere Aufgeschlossenheit gegenüber der Frage nach der Wirksamkeit von Rechtsnormen ist von denjenigen zu erwarten, die Gesetze als Instrumente sozialen Wandels begreifen. Wohl kaum umstritten dürfte sein, daß zahlreiche Gesetze nur in sehr geringem Grade befolgt werden. So beziffert Erwin Küster von der Stuttgarter Steuerfahndung das Volumen der Steuerhinterziehung auf 16 Milliarden DM jährlich. Der Generalstaatsanwalt beim Bamberger Oberlandesgericht Rudolf Grasse vermutet gar, daß dem Fiskus pro Jahr 70 bis 80 Milliarden Mark durch Steuerhinterziehung verloren geheneine Größenordnung, die bei Steuerehrlichkeit der Zensiten erlauben würde, daß alle deutschen Steuerzahler ein Drittel weniger Steuern zu bezahlen brauchten1• Auch wenn es sich hierbei nur um eine grobe Schätzung handelt, dürfte deutlich sein: Der gesetzlich in der Abgabenordnung (§ 392) negativ sanktionierte Tatbestand der Steuerhinterziehung wird nicht unterbunden: Im Gegenteil kann behauptet werden, daß das besagte Gesetz in seiner Wirkung stark eingeschränkt ist. Diese Kennzeichnung läßt sich auf eine Vielzahl von anderen Gesetzen übertragen. Zu nennen wären das Jugendarbeitsschutzgesetz, das Immissionsschutzgesetz und das Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb. Dagegen existieren aber auch Gesetzesvorschriften, die relativ wirkungsvoll sind, die also von dem weitaus überwiegenden Teil der Bevölkerung befolgt werden. Man denke z. B. an den § 211 StGB (Mord) oder an den § 249 StGB (Raub). Es stellt sich somit die Frage, wie es dazu kommt, daß bestimmte Vorschriften relativ gut eingehalten werden, andere dagegen nicht. Für den Gesetzgeber müßte die Beantwortung dieser Frage von erheblicher Bedeutung sein. Dies ist zumindest dann der Fall, wenn man davon ausgeht, daß der Gesetzgeber mit dem Erlaß von Verordnungen und Gesetzen (bzw. auch mit ihrer Aufhebung) in der Mehrzahl der Fälle soziale Veränderungen herbeiführen will, daß er bestimmte Verhaltensweisen, die als negativ oder gesellschaftsschädigend angesehen werden, 1 Vgl. das Nachrichtenmagazin "Der Spiegel", 26/1976 und "Die Zeit" Nr. 32 vom 2. 8. 1974, S. 27. Vorsichtigere Schätzungen werden von Kaiser 1976, S. 301 ff. berichtet.
12
Einleitung
verhindern oder zumindest reduzieren und andere, die als positiv oder gesellschaftsfördernd betrachtet werden, verstärken will. Die Gesetzgebung (im weitesten Sinne) wird also nicht als Selbstzweck angesehen; Gesetze sollen nicht nur auf dem Papier stehen, sondern sollen auch die beabsichtigte Wirkung erzielen 2 • Der Gesetzgeber dürfte somit ein Interesse an der Einhaltung von Gesetzen haben3 • Die eben angeführten Beispiele zeigen jedoch, daß es offensichtlich nicht genügt, Gesetze zu formulieren, zu beschließen und zu verkünden. Der Wille des Gesetzgebers zur Einhaltung ist keine hinreichende Bedingung dafür, daß die Gesetze auch faktische Geltung haben. Als Problem stellt sich daher konkret: Es müssen die Bedingungen herausgefunden werden, die die Einhaltung von Gesetzen begünstigen oder gar gewährleisten. Eine Antwort auf die Frage nach den Bedingungen der Befolgung von Gesetzen ist jedoch nur dann möglich, wenn man über geeignete und bewährte Theorien verfügt. Auch der Gesetzgeber geht - wenn dies auch nicht allen am Gesetzgebungsprozeß beteiligten Personen bewußt sein mag - faktisch von Theorien aus, wenn von gesetzgeberischen Maßnahmen, etwa der Androhung einer Freiheitsstrafe bei bestimmten Delikten vermutet wird, daß hierdurch die Rechtsnorm eher befolgt wird, als wenn die Strafandrohung unterbleibt. Die Theorien des Gesetzgebers haben jedoch zumeist nur den Status ungeprüfter "Alltagstheorien", die keiner systematischen Kontrolle an der Erfahrung unterzogen wurden. Sie basieren nicht selten einzig auf der subjektiven "Lebenserfahrung" von Politikern oder Ministerialbeamten. Derartige Theorien sind nun häufig falsch oder gelten nur unter einer Reihe zusätzlicher Annahmen. Die Konsequenz einer weitgehend "intuitiv" vollzogenen Gesetzespraxis auf der Basis ungeprüfter Alltagstheorien ist, daß viele Maßnahmen des Gesetzgebers sich als ineffektiv herausstellen oder daß Neben- und Spätfolgen gesetzgeberischer Maßnahmen nicht beachtet werden. Sozial2 Daß Gesetze überhaupt Wirkung erzielen können, daß vom Recht überhaupt als gesellschaftsverändernder Kraft gesprochen werden kann, erscheint auf den ersten Blick als selbstverständlich und kaum der Rede wert. Im marxistischen Lager jedoch wird im Rahmen der Basis-Überbau-Diskussion eine eigenständige Rolle des Rechts in Zweifel gezogen. Das Recht als Überbauphänomen konnte nur als Reflex der ökonomischen Basis begriffen werden, heißt es dort. In der neueren Diskussion wird diese rigide Position jedoch häuflg verlassen und durch eine Argumentation ersetzt, die von einer "relativen Unabhängigkeit" des Rechts spricht, die also im Sinne einer Wechselwirkung behauptet, daß das Recht zwar durch die ökonomische Basis beeinflußt würde, daß es aber auch eigene (Rück-)Wirkungen ausstrahle, die ihrerseits die ökonomische Basis beeinflussen. Vgl. dazu Basso 1973 und Negt 1973. 3 Daß die faktische Einhaltung von Gesetzen keineswegs immer ein Ziel des Gesetzgebers sein braucht, wird bei Aubert 1967 deutlich. Auf sogenannte "Kompromißgesetze" oder Gesetze mit Symbolcharakter macht auch NollI973, S. 157 f. aufmerksam.
Einleitung
13
wissenschaftliche Theorien über die Befolgung von Gesetzen und die Wirkung gesetzgeberischer Maßnahmen, die mit den Mitteln der empirischen Sozialforschung streng getestet wurden, können daher einen nicht zu unterschätzenden Beitrag zur Erhöhung der Rationalität der Gesetzgebung leisten. Insbesondere wer Gesetze als Instrumente der Sozialreform betrachtet, dürfte an Theorien interessiert sein, die die Wirkungsweise gesetzgeberischer Maßnahmen erhellen und die darüber informieren, welche Bedingungen in erster Linie vom Gesetzgeber realisiert werden müssen, um die faktische Geltung eines Gesetzes - etwa des Jugendarbeitsschutz- oder des Berufsausbildungsgesetzes zu garantieren. Viel zu selten nun werden auch in den Sozialwissenschaften Theorien strengen und wiederholten empirischen Tests mit dem geeigneten methodischen Instrumentarium unterzogen. Eine Theorie über die Bedingungen der Befolgung von Gesetzen einer solchen Bewährungsprobe durch die Konfrontation mit den empirischen Fakten auszusetzen, um einen vorläufigen Beitrag zur Schließung dieser Lücke zu leisten, ist ein Hauptanliegen der vorliegenden Arbeit. Daneben verfolgt dies Buch den Zweck, eine problemorientierte Darstellung der Vorgehensweise bei der empirischen überprüfung einer Theorie mit all den dabei auftretenden Mängeln und Schwierigkeiten zu geben. Es wird somit auch ein Einblick in die Praxis der Sozialforschung vermittelt. Im ersten Kapitel wird noch einmal das Problemlösungspotential von rechtssoziologischen Theorien skizziert. Welche Rolle können Theorien z. B. bei der Sozial planung, bei der Evaluation von Maßnahmen, bei der Erklärung von sozialen Tatbeständen spielen? Darüber hinaus werden einige Bewertungsmaßstäbe zum Vergleich von Theorien diskutiert. Im zweiten Kapitel wird die Theorie von Opp zur Erklärung der übertretung von Rechtsnormen vorgestellt. Es werden ferner einige Modifikationsvorschläge und Erweiterungen der Theorie diskutiert, die die theoretische Grundlage bilden für die empirischen Untersuchungen der Kapitel V - VII. Im dritten Kapitel wird auf einige methodische Probleme bei der überprüfung von Kriminalitätstheorien eingegangen. Diskutiert werden Probleme des Forschungsdesigns, der Erhebungsmethode und der Stichprobenauswahl der empirischen Studien. In vielen sozialwissenschaftlichen Arbeiten begnügt man sich mit der Analyse bivariater Zusammenhänge, d. h. von Beziehungen zwischen zwei Variablen. Die Daten der hier diskutierten empirischen Studien wurden hingegen mit multivariaten statistischen Verfahren ausgewertet. Die Technik der Kausalanalyse, die simultane Analyse mehrerer in Beziehung zueinander stehender Variablen, ist einer "komplexen Wirk-
14
Einleitung
lichkeitsstruktur" gewiß angemessener, als die relativ anspruchslose Analyse "isolierter" Zusammenhänge zwischen zwei Variablen. Die genannten Verfahren gehören keineswegs zum Standard-Repertoire der meisten Sozialwissenschaftler. Diese Verfahren werden daher im vierten Kapitel möglichst anschaulich erläutert, um jene methodischen Grundlagen zu schaffen, die eine Interpretation der Forschungsergebnisse erleichtern. Im fünften, sechsten und siebten Kapitel schließlich werden die Ergebnisse der empirischen überprüfung der in Kapitel zwei behandelten Theorie präsentiert. Die Erklärungskraft der Theorie wurde an den drei Normverletzungen "Schwarzfahren in öffentlichen Nahverkehrsmitteln", "Steuerhinterziehung" und an der übertretung des "Rauchverbots" in Universitätsveranstaltungen getestet. Die am Institut für Soziologie der Universität Hamburg entstandenen Arbeiten wurden von Dieter Gnahs ("Steuerhinterziehung"), Walter Schraub ("Rauchverbot") und vom Verfasser ("Schwarzfahren") durchgeführt. Kapitel VIII dient der Diskussion der empirischen Befunde und dem Vergleich mit den Ergebnissen anderer Studien. überblicks artig wird der Stand der "Sanktionsforschung" referiert und der Zusammenhang der Theorie über die Befolgung von Gesetzen mit der ökonomischen Theorie der Kriminalität aufgezeigt. Angesprochen werden darüber hinaus einige Gesichtspunkte der Weiterentwicklung der Theorie in Richtung eines dynamischen Kriminalitätsmodells, und abschließend werden in Kapitel IX einige Zusammenhänge zwischen der Gesetzgebungspraxis und den rechtssoziologischen Hypothesen erörtert. Ich möchte nicht versäumen, zuallererst den interviewten Personen zu danken, die sich unentgeltlich für die Befragungen bereit erklärt haben und ohne deren Mithilfe die empirischen Untersuchungen nicht zustande gekommen wären. Herrn Dieter Gnahs und Herrn Dr. Walter Schraub gilt mein Dank dafür, daß sie die Hauptergebnisse ihrer Untersuchungen, die bisher nicht veröffentlicht wurden, für diese Publikation zur Verfügung stellten. Darüber hinaus konnte ich auf zahlreiche Anregungen und kritische Diskussionsbemerkungen von Dieter Gnahs und Walter Schraub zurückgreifen. Die Verantwortung für die Art der Darlegung und die Interpretation der Ergebnisse sowie verbleibende Mängel trägt jedoch allein der Verfasser. Herrn Prof. Dr. Manfred Rehbinder und Herrn Prof. Dr. Karl-Dieter Opp möchte ich me,inen besonderen Dank für die nachdrückliche Unterstützung und Förderung dieser Publikation aussprechen. Bei der Hamburgischen Wissenschaftlichen Stiftung bedanke ich mich für einen großzügigen Beitrag zu den Druckkosten, und Frau Klaffke-Meurer möchte ich schließlich für -die sorgfältige Abschrift des Manuskripts und Frau Thomazine von Witzleben für die Anfertigung der Graphiken danken.
Kapitel I
Die Rolle von Theorien in der Rechtssoziologie In einer Vielzahl von empirischen Studien zu rechts- und kriminalsoziologischen Problemen besteht die Zielsetzung primär darin, soziale Sachverhalte zu beschreiben. Derartige deskriptive Studien mögen zwar auf soziale Probleme hinweisen, jedoch informieren sie nicht über praktische Maßnahmen zu ihrer Lösung. Im Mittelpunkt der vorliegenden Arbeit steht dagegen der empirische Test einer Theorie. Wenn man sich nicht nur für die Beschreibung, sondern auch für die Lösung sozialer Probleme interessiert, benötigt man Theorien, die möglichst viele "Bewährungsproben", d. h. Konfrontationen mit empirischen Daten, überstanden haben. Ferner dürften Theorien unentbehrlich zur Lösung einer Reihe weiterer Probleme sein, mit denen sich Rechtssoziologen befassen. In diesem Kapitel soll erstens darauf aufmerksam gemacht werden, welchen Beitrag Theorien zur Beantwortung einiger wichtiger Fragestellungen der Rechtssoziologie leisten. Zweitens diskutieren wir, wie rechtssoziologische Theorien der Gesetzesbefolgung bzw. Kriminalitätstheorien beschaffen sind und wie derartige "komplexe" Theorien mit mehreren Variablen als Kausaldiagramm formuliert werden können. Drittens wäre zu fragen, welche Anforderungen an eine "gute" Theorie zu stellen sind. Schließlich sollen einige Kritikpunkte an der traditionellen Forschungspraxis im Bereich der Rechts- und Kriminalsoziologie erörtert werden. 1. Probleme der Rechtssoziologie und die Rolle von Theorien Problem 1: Sozialplanung Eine wichtige Aufgabe der Rechtssoziologie dürfte die Mitwirkung an der Sozialplanung und der Lösung sozialer Probleme z. B. durch Beratung des Gese~gebers sein. Welche Voraussetzungen müssen nun erfüllt sein, um praktische Maßnahmen zur Lösung eines sozialen Problems vorschlagen zu können? Dieser Fragestellung soll im folgenden etwas genauer nachgegangen werden.
16
1. Die Rolle von Theorien in der Rechtssoziologie
In einer Reihe von Untersuchungen über abweichendes Verhalten, insbesondere in Studien über "Randgruppen", werden soziale Sachverhalte beschrieben, die im Widerspruch zu bestimmten Wertmaßstäben stehen. Diese Diskrepanz zwischen sozialen Fakten und Normen wollen wir als soziales Problem bezeichnen. Dazu ein Beispiel: Verschiedene empirische Untersuchungen schildern Umfang und Ausmaß der Wirtschaftskriminalität sowie die relativ geringe Verfolgungsintensität der Polizei und der Staatsanwaltschaft gegenüber "White-Collar-Delikten", obwohl die Schäden häufig Millionenhöhe übersteigen und den Schaden eines einfachen Diebstahls um ein Vielfaches übertreffen1 • In diesen Untersuchungen werden deskriptiv Art und Häufigkeit bestimmter sozialer Erscheinungen erforscht. Weiterhin wird in einigen Studien entweder explizit oder" unterschwellig" deutlich gemacht, daß der faktische Zustand mit einer akzeptierten Norm unverträglich ist. So könnte man im Fall der Wirtschaftskriminalität die Norm vertreten, daß Gesetzesverletzungen unabhängig vom sozialen Status des Täters verfolgt werden sollten. Tatsächlich zeigen aber empirische Untersuchungen ein anderes Bild, nämlich daß die Norm verletzt wird. Man wird dies als soziales Problem empfinden. Deskriptive empirische Untersuchungen, d. h. Untersuchungen, die sich mit der Klassifikation und Beschreibung, der Erfassung von Art und Häufigkeit sozialer Sachverhalte beschäftigen (technisch gesprochen: deskriptive Untersuchungen berichten singuläre Aussagen2 ), leisten daher einen wichtigen Beitrag zu einer objektiven Diagnose sozialer Probleme. Nun wird man sich jedoch nicht nur mit der Diagnose sozialer Probleme begnügen wollen. Wenn ein sozialer Zustand als unbefriedigend oder ungerecht empfunden wird im Sinne einer Diskrepanz von akzeptierter Norm und sozialen Fakten, besteht zweifellos ein Interesse an Informationen darüber, wie ein positiv bewerteter Zielzustand verwirklicht werden kann. Anders ausgedrückt: man wünscht eine soziale Situation zu verändern und benötigt Informationen darüber, welche Maßnahmen geeignet sind, um bestimmte Ziele zu erreichen. Deskriptive Untersuchungen haben den Mangel, daß sie auf diese Fragen keine Antworten geben können. Eine Antwort erhält man jedoch dann, wenn man eine geeignete Theorie zur Verfügung hat. Theorien machen nämlich Aussagen darüber, Vgl. z. B. Zybon 1972 oder Tiedemann 1972. Mit singulären Sätzen sind Aussagen über raum-zeitlich fixierte Ereignisse gemeint. Ein Beispiel ist: "In Hamburg studierten im Sommersemester 1976 25 000 Studenten." Synonym sprechen wir auch von deskriptiven Sätzen. Theorien sind dagegen hypothetische Sätze, von denen zumeist noch raum-zeitlich unbegrenzte Gültigkeit, d. h. der Charakter von All-Sätzen gefordert wird. Vgl. zu den verschiedenen Satzarten und ihren Charakteristika die sehr klare Darstellung bei Prim und Tilmann 1973, S. 63 ff. 1
2
1. Probleme der Rechtssoziologie und die Rolle von Theorien
17
unter welchen Bedingungen bestimmte soziale Ereignisse auftreten. Wir verstehen dabei unter einer Theorie - grob gesprochen - eine Aussage (oder eine Aussagenmenge) über die Verknüpfung von (mindestens) zwei Merkmalen bzw. Variablen, die in der geläufigen "wenn-dann" oder "je-desto-Form" geschrieben werden kann. Die "wenn-Komponente" bzw. die unabhängige Variable nennt nun die Bedingungen, unter denen das von der "dann-Komponente" oder abhängigen Variablen bezeichnete soziale Ereignis auftritt. Kennt man die Bedingungen, die für ein soziales Ereignis relevant sind, so kann man diese Informationen für sozialtechnologische Zwecke nutzbar machen. Unter der Voraussetzung, daß die Werte der unabhängigen Variablen manipulierbar sind, ist es möglich, bestimmte Werte der abhängigen Variablen zu realisieren (bei den Variablen der Theorie kann es sich um dichotome Variablen mit nur zwei Ausprägungen wie etwa die Variable Befolgung/übertretung von Gesetzen oder um quantitative Variablen, z. B. "Grad krimineller Aktivitäten", handeln). Anders formuliert: Eine Theorie mit praktischem Informationsgehalt (dazu I, 3) enthält unabhängige Variablen, die über Maßnahmen zur Realisierung bestimmter Ziele informieren. Zur Illustration mag das folgende Beispiel des wirtschaftskriminellen Delikts der Steuerhinterziehung dienen: Verschiedenen Untersuchungen zufolge entsteht der öffentlichen Hand jährlich ein enormer Elinnahmeausfall durch die Umgehung einschlägiger Bestimmungen der Steuergesetze3 • Offensichtlich ist auch, daß gutverdienende Personen aus oberen Sozialschichten von Steuerhinterziehungen in erster Linie profitieren. Man wird diesen Zustand daher in doppelter Hinsicht als negativ bewerten: Erstens entsteht dem Staat durch die VerletllUng der Gesetze ein hoher Verlust, so daß z. B. dringende soziale Projekte oder infrastrukturelle Maßnahmen nicht in dem Umfang verwirklicht werden können, wie es bei der Einhaltung der Steuervorschriften möglich wäre. Zweitens haben privilegierte Personen weitaus größere "kriminelle Chancen", so daß soziale Ungleichheiten eher verstärkt aLs abgebaut werden. Zu diesem Urteil wird man gelangen, wenn man die Ergebnisse der diesbezüglichen deskriptiven Untersuchungen zur Kenntnis nimmt, d. h. die sozialen Fakten, und wenn man bestimmte Normen akzeptiert, z. B. die Norm, soziale Ungleichheiten abzubauen und nicht zu verstärken. Der Schritt von der Diagnose zur "Therapie" ist jedoch - wie gesagt - nur auf der Grundlage einer Theorie möglich, die (veränderbare) Bedingungen für die Verletzung von Steuergesetzen nennt4 • Eine sehr einfache (und in dieser Form unzutreffende) Theorie lautet, daß Gesetze in um so geringerem Maße übertreten werden, je größer die vom GesetzVgl. die in der Einleitung erwähnten Schätzungen. Natürlich ist das Vorhandensein einer Theorie nur notwendige, nicht aber hinreichende Bedingung für die Sozialplanung. Vor allem gestattet nicht jede Theorie die Ableitung praktischer Maßnahmen (vgl. I, 3.). Außerdem werden bei der Sozialplanung neben theoretischen auch deskriptive Informationen benötigt. 3
4
2 Diekmann
18
I. Die Rolle von Theorien in der Rechtssoziologie
geber vorgesehenen Sanktionen gegenüber delinquenten Personen sind. Explizit formuliert lautet die Hypothese oder Theorie: H 1:
Je größer die angedrohten Sanktionen gegenüber den Verletzungen eines Gesetzes sind, desto geringer ist die übertretungsrate.
Der Grad der angedrohten Sanktionen ist die unabhängige Variable der Theorie, die Ubertretungsrate ist die abhängige Variable. Will man gemäß der "Abschreckungshypothese" Hl die Verletzung von Steuergesetzen reduzieren, so müßte der Gesetzgeber die Maßnahme "Erhöhung der Sanktionen" durch eine entsprechende Gesetzesnovellierung verwirklichen. Allerdings wird die Maßnahme des Gesetzgebers nur dann zu dem gewünschten Erfolg führen, wenn die Theorie, aus der sie abgeleitet wurde, "wahr" ist. Im Falle von Hl ist dies höchst zweifelhaft: vermutlich sind nicht die angedrohten, im Gesetz verankerten Sanktionen relevant, sondern die erwarteten Sanktionen. Gerade bei dem Delikt Steuerhinterziehung dürfte die Dunkelziffer der nicht entdeckten Normbrüche ausgesprochen hoch sein, so daß Personen, die dieses Delikt verüben, kaum mit einer Bestrafung rechnen werden auch wenn im Gesetz eventuell drakonische Strafen angedroht werden. Zudem dürften noch - wie wir sehen werden - eine Reihe weiterer Variablen, die in Hl nicht enthalten sind, für die übertretungsrate von Bedeutung sein. Ob nun Hl bzw. generell eine Theorie empirisch zutrifft oder nicht, kann natürlich nicht vom Schreibtisch des Sozialforschers oder politischen Planers aus durch "Gedankenexperimente" entschieden werden, sondern nur durch empirische Untersuchungen. Da falsche Theorien in der Regel zu ungeeigneten Maßnahmen führen, erscheint es besonders bedeutsam, daß Theorien systematisch an Erfahrungsdaten überprüft und kontrolliert werden. Das geeignete Instrumentarium hierzu sind die Methoden der empirischen Sozialforschung. Problem 2: Erklärung und Prognose
Rechtssoziologen beschäftigen sich häufig mit der Erklärung sozialer Ereignisse. So kann man z. B. fragen, warum Steuerhinterziehungen in besonders hohem Maße verübt werden. Weiterhin interessieren sich Wissenschaftler und Praktiker für die Prognose sozialer Ereignisse, etwa für die Frage, ob die Rate der Steuerhinterziehungen in Zukunft steigen wird oder nicht. Beide Fragen sind nur zu beantworten, wenn geeignete Theorien zur Verfügung stehen. Dies sei an dem sogenannten "Erklärungsmodell" von Hempel und Oppenheim und der Hypothese Hl demonstriert5 • 5 Die Rekonstruktion der Logik einer Erklärung wurde zuerst von Hempet und Oppenheim 1948 vorgenommen. Vgl. hierzu die Darstellungen bei Opp 1970, S. 29 ff., oder Prim und Titmann 1973, S. 100 ff.
1. Probleme der Rechtssoziologie und die Rolle von Theorien
19
Abbildung 1 In der Bundesrepublik sind die gesetzlichen Sanktionen für Steuerhin- RANDBEDINGUNG terziehung gering. Je größer (geringer) die angedrohten Sanktionen, desto geringer (größer) THEORIE ist die übertretungsrate {Htl.
EXPLANANS
In der Bundesrepublik tritt Steuer- EXPLANANDUM hinterziehung häufig auf.
Eine adäquate Erklärung ist gegeben, wenn man zeigen kann, daß der zu erklärende Sachverhalt (das Explanandum) logisch aus dem Explanans, d. h. der Theorie und den Randbedingungen, abgeleitet werden kann. Man muß also erstens nachweisen, daß die Randbedingung vorliegt. Hierfür benötigt man deskriptive Informationen. Zweitens ist eine zutreffende Theorie erforderlich, deren Variablen gewissermaßen die Randbedingung mit dem Explanandum verbinden. Umgekehrt verfährt man bei einer Prognose: Kennt man die Randbedingung, d. h. weiß man, daß die Sanktionen für Steuerhinterziehung gering sind, kann man auf der Grundlage von Hl eine hohe übertretungsquote prognostizieren. Die Voraussetzung ist natürlich, daß die Theorie empirisch zutreffend ist, was im Falle von Hl - wie gesagt - fragwürdig sein mag. Auch unsere überlegungen zur rationalen Lösung sozialer Probleme sind mittels des obigen Schemas rekonstruierbar. Bei der Sozialplanung werden die Randbedingungen verändert, indem bestimmte Maßnahmen ergriffen werden. Aufgrund der Theorie ist dann zu erwarten, daß die angestrebten Ziele realisiert werden. In diesem Fall ist "Randbedingungen" durch "Maßnahmen" und "Explanandum" durch "Ziele" zu ersetzen. Problem 3: Die Evaluierung von Maßnahmen
Eine bedeutsame Aufgabe von Rechtssoziologen in Zusammenhang mit der Sozialplanung könnte in der Bewertung des Erfolgs politischer Maßnahmen, etwa der Verabschiedung eines bestimmten Gesetzes, bestehen. Die Beurteilung der Wirksamkeit bzw. des Erfolgs einer Maßnahme wird als Evaluierung bezeichnet6• Benötigt man nun zur Evaluierung von Maßnahmen Theorien? Die Antwort lautet ja, denn zur Kontrolle des Erfolgs eines politischen Programms ist es erforderlich, neben den eingeleiteten Maßnahmen eine Reihe weiterer Faktoren oder Variablen zu e Eine gute Einführung in die Evaluierungsforschung ist das Buch von Weiss 1974. 2*
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I. Die Rolle von Theorien in der Rechtssoziologie
kontrollieren, die eventuell ebenfalls das Planungsziel beeinflußt haben könnten. Welche Variablen kontrolliert werden sollten, list nur auf der Grundlage einer Theorie entscheid bar. So wäre z. B. ein Forschungsdesign, das den Erfolg der probeweisen Einführung von "Tempo 130" auf einigen Autobahnabschnitten nur an dem Rückgang der Unfallziffer bemißt, wenig aussage kräftig. Es könnte ja der Fall sein, daß eine Reihe anderer Faktoren oder Variablen zur Senkung der Unfallziffer geführt haben und nicht die neue Verkehrsvorschrift. Umgekehrt wäre es möglich, daß die Geschwindigkeitsbegrenzung eine wirksame Maßnahme zur Unfallverhütung darstellt, obwohl die Unfallziffer nach Einführung der Vorschrift gleich geblieben oder gar gestiegen ist. Ohne Geschwindigkeitsbegrenzung hätte man in diesem Fall einen noch stärkeren Anstieg der Unfallziffer erwartet. Dagegen wäre die Evaluierung einer Maßnahme dann möglich, wenn die Werte anderer relevanter Variablen - in unserem Beispiel die Verkehrsdichte, der Straßenzustand, das Wetter etc. - erhoben und bei der Auswertung mit multivariaten statistischen Verfahren (vgl. Kap. IV) berücksichtigt werden, um den "reinen" Effekt der zu evaluierenden Maßnahme zu ermitteln.
Problem 4: Alltagstheorien und Ideologiekritik Ein weiterer Gesichtspunkt, der dafür spricht, in der rechtssoziologischen Forschung nicht nur deskriptiv Daten zu sammeln, sondern Theorien explizit zu formulieren und zu testen, ist, daß auch der Gesetzgeber bzw. andere Institutionen, die sich mit Sozialplanung befassen, faktisch Theorien anwenden, auch wenn dieser Sachverhalt den Entscheidungsträgern häufig nicht bewußt zu sein scheint. Die von Politikern und Sozialplanern angewandten "Alltagstheorien" sind jedoch häufig empirisch unzutreffend, so daß in diesem Fall ungeeignete Strategien eingeschlagen werden, um soziale Probleme zu lösen. Das könnte etwa für die Hypothese H1 gelten, die sich ja offenbar bei einer großen Zahl von Politikern und Juristen einer erheblichen Popularität erfreut. Um so notwendiger erscheint es, derartige Alltagstheorien einer empirischen Kontrolle zu unterziehen und mit anderen in der Rechts- und Kriminalsoziologie kursierenden Theorien zu konfrontieren. Die Kritik von Alltagstheorien im Lichte geprüfter Theorien oder anhand empirischer Daten hat auch einen ideologiekritischen Aspekt. Besonders im politischen Raum wird häufig von Parteien und Verbänden zur Stützung ihrer Argumentation auf angeblich existierende empirische Zusammenhänge verwiesen, um damit bestimmte propagandistische Ziele plausibel zu machen. So berichtet z.B. die "Frankfurter Rundschau" über die Pressekonferenz des Vorsitzenden der CSU: "Strauß meinte, die Liberalisierung des Strafrechts vor einigen Jahren habe sich negativ aus-
1. Probleme der Rechtssoziologie und die Rolle von Theorien
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gewirkt. Nachteilig sei zum Beispiel, daß schwerer Diebstahl kein Verbrechen mehr, sondern nur noch ein Vergehen seF." Vermutlich ist mit "negativ ausgewirkt" gemeint, daß die Kriminalitätsrate gestiegen ist und die Ursache hierfür in der Liberalisierung des Strafrechts gesehen wird. Die zitierten Bemerkungen ließen sich als empirische Theorie rekonstruieren, die ähnlich wie die "Abschreckungstheorie" Hl lauten könnte. Eine Kritik der rekonstruierten Theorie bestünde darin, diese mit sozialwissenschaftlichen Theorien über die Befolgung von Gesetzen zu konfrontieren. Da des öfteren zur Stützung von Argumentationen angebliche empirische Zusammenhänge behauptet werden, die häufig nur Produkt ideologischer Phantasie sind, hat man in sozial wissenschaftlichen Theorien ein wichtiges Instrument, um ideologische Argumentationen einer Kritik zu unterziehen.
Problem 5: Kritik von Normen Während sich die empirischen Sozialwissenschaften vorwiegend mit Tatsachenfragen befassen, hat es die Rechtswissenschaft im wesentlichen mit normativen Problemen zu tun. Normative Sätze sind bekanntlich aus Tatsachenaussagen nicht logisch deduzierbar; erweckt man dennoch den Anschein der Ableitbarkeit, so würde man dies im Anschluß an Moore als naturalistischen Fehlschluß bezeichnen8 • Es wäre jedoch reichlich voreilig, aufgrund der Unmöglichkeit logischer Ableitungen von Werten aus Tatsachen zu postulieren, daß auch zur Diskussion und Begründung von Wertentscheidungen empirisches Wissen über Tatsachen und Zusammenhänge nichts beitrüge. Wäre dies der Fall, so hätten sich Rechts- und Sozialwissenschaften weitaus weniger zu sagen; insbesondere die Rechtssoziologie im Schnittfeld beider Wissenschaften würde wesentlich an Aussagekraft einbüßen9 • Tatsächlich werden Werte jedoch auf dem Hintergrund empirischen Wissens diskutiert. Zumindest kann man die meisten Diskussionen über Wertprobleme, d. h. über die Frage, ob eine bestimmte Norm befolgt werden soll oder nicht, in der Weise rekonstruieren, daß von dem Proponenten der Norm als Argument die positiven Konsequenzen der Verhaltensweisen, die die Norm vorschreibt, genannt werden. Umgekehrt würde der Opponent der Norm das Argument ins Feld führen, daß eine Befolgung der Norm negative Konsequenzen hat. Wenn jedoch Aussagen über die Wirkung von Normen bzw. bestimmter Verhaltensweisen gemacht werden, benötigt man empirische Theorien, deren unabhängige Variable die diskutierte Norm ist. Frankfurter Rundschau vom 23. 4. 1974. Vgl. Frankena 1972, insbesondere S. 117 ff. t Dies Thema behandelt Lautmann 1971, besonders S. 26 ff., siehe auch Rottleuthner 1973, S. 245 ff. 7
8
22
1. Die Rolle von Theorien in der Rechtssoziologie
So wird man z. B. in der Diskussion um die Reform bzw. Aufhebung des § 176 des StGB ("sexueller Mißbrauch mit Kindern"), der "sexuelle Handlungen" an Kindern unter 14 Jahren mit Freiheitsstrafen von sechs Monaten bis zu zehn Jahren bedroht, geltend gemacht, daß häufig die strafrechtliche Verfolgung mit schwerwiegenderen Schäden für die betroffenen Kinder verbunden ist als die Tat selbst. Darüber hinaus werden eine Reihe weiterer Konsequenzen des § 176 behauptet, die man im allgemeinen als negativ bewerten würde 1o . Statt "Behauptung von Konsequenzen" könnte man auch sagen, es wird eine Theorie behauptet, z. B. über den Zusammenhang einer das Opfer belastenden Vernehmung im Rahmen der Strafverfolgung und bleibenden psychischen Schädigungen des betroffenen Kindes. Es zeigt sich somit generell, daß zur Erfüllung der zentralen Aufgaben der Rechtssoziologie, nämlich der Empfehlung praktischer Maßnahmen für die Sozialplanung und Gesetzgebung, der Erklärung und Prognose rechtssoziologischer Tatbestände, der Evaluierung von Maßnahmen der Sozialplanung und Gesetzgebung, der Kritik von Alltagstheorien und Ideologien und der Kritik von Normen, ein Instrumentarium geeigneter und überprüfter Theorien unumgänglich ist. Einzig wenn man sich mit der Deskription, der Klassifikation und Beschreibung rechtsrelevanter Tatbestände begnügt, dürften rechtssoziologische Theorien von geringerem Interesse seinl l • Nichts spricht jedoch dafür, daß sich die Rechtssoziologie hiermit bescheiden soll. 2. Die Struktur einer Theorie der Gesetzesbefolgung und die Formulierung "komplexer" Theorien als KausalmodelI Wir haben uns bisher allgemein mit der Rolle von Theorien in der Rechtssoziologie beschäftigt. Gehen wir nun der spezielleren Fragestellung nach, welche Struktur eine Theorie haben muß, die Aussagen über die Befolgung von Gesetzen (bzw. die übertretung) und die Wirkung von Maßnahmen des Gesetzgebers machen kann. Will man etwas über die Bedingungen der Gesetzesbefolgung erfahren, so benötigt man eine Theorie, deren dann-Komponente oder abhängige Variable die Befolgung/Nicht-Befolgung bzw. den Grad der B.efolgung eines Gesetzes bezeichnet. Entsprechend der Fragestellung von Einige Argumente nennt Prahm 1976. Auch diese Aussage gilt nicht uneingeschränkt: Zwar werden bei der Erhebung deskriptiver Daten nicht unbedingt rechts soziologische Theorien benötigt, dagegen aber Beobachtungstheorien, z. B. eine Theorie über das Antwortverhalten beim Interview. Zur Rolle von Beobachtungstheorien und der Kritik an einem "naiven Empirismus" vgl. Bohnen 1972. 10
11
2. Die Struktur einer Theorie der Gesetzesbefolgung
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Kriminalitätstheorien können wir auch vom Grad der Vbertretung eines Gesetzes sprechen. Es würde dann nur die Skalierung geändert werden, d. h. die Befolgungsskala wird gewissermaßen "umgedreht". Die unabhängigen Variablen der Theorie geben nun Auskunft über die Bedingungen der Befolgung oder übertretung. Möchte man weiterhin Informationen haben über die Wirkungen von Maßnahmen des Gesetzgebers in Hinblick auf die Befolgung einer Gesetzesnorm, so müßte die Befolgungstheorie das zusätzliche Kriterium erfüllen, daß einige der unabhängigen Variablen der Theorie Maßnahmen des Gesetzgebers bezeichnen. In diesem Zusammenhang läßt sich auch der Begriff "Wirkung von Gesetzen" definieren. Wir können sagen, ein Gesetz ist in dem Grade wirksam, in dem die gesetzlichen Maßnahmen das Verhalten gegenüber der vom Gesetz vorgeschriebenen Norm beeinflussen. Effektivität eines Gesetzes wird somit als kausaler Beitrag eines Gesetzes zum Verhalten verstanden. Diese Definition erscheint zweckmäßiger als das übliche Verständnis der Wirksamkeit von Gesetzen, demzufolge ein Gesetz als unwirksam bezeichnet wird, das selten befolgt wird (vgl. z. B. das Zitat von Garrn in Noll 1972). Unserem kausalorientierten Standpunkt nach kann selbst ein Gesetz, das relativ selten eingehalten wird, in dem Sinne effektiv sein, daß die Gesetzesnorm ohne gesetzliche Regulierung in noch geringerem Maße befolgt werden würde. Anders herum gesehen, kann ein Gesetz, das so gut wie immer befolgt wird, höchst unwirksam sein; dann nämlich, wenn das gesetzeskonforme Verhalten gleichgültig ob das Gesetz eX'istiert oder nicht - ohnehin ausgeführt wird. Beziehungen zwischen einer unabhängigen und einer abhängigen Variablen bezeichnet man als bivariate Hypothesen. Kriminalitätstheorien und Theorien der Gesetzesbefolgung enthalten in der Regel jedoch mehrere unabhängige Variablen. Anschaulich formuliert: Die Befolgung oder übertretung eines Gesetzes hängt nicht nur von einer "Ursache" ab, sondern hat mehrere Gründe. Derart "komplexe" Beziehungen, die der Realität offenbar weitaus angemessener sind als monokausale Beziehungsannahmen, können als multivariates Modell bzw. als Kausalmodell formuliert werden. In Kausalmodellen ist es auch möglich, mehrere kausale Stufen und mit der kausalen Hierarchie direkte und indirekte Beziehungen zu berücksichtigen. Bei unseren bisherigen überlegungen zur Struktur einer Befolgungstheorie wurde nur von direkten Einflüssen der unabhängigen Variablen auf die abhängige Variable Grad der übertretung eines Gesetzes ausgegangen. Für die unabhängigen Variablen lassen sich nun Anschlußtheorien konstruieren, d. h. Theorien, die den unabhängigen Variablen der Befolgungstheorie gewissermaßen "vorgeschaltet" werden. Anschlußtheorien und Befolgungstheorie können in einer gemeinsamen Theorie integriert werden, wie es das folgende Kausalmodell veranschaulicht:
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1. Die Rolle von Theorien in der Rechtssoziologie Abbildung 2: Struktur einer mehrstufigen Theorie der Gesetzesbefolgung
Anschlußtheorie
,--_--'J.'--_---,
Maßnahmen { des Gesetzgebers
r-----~~~--______~.~~--~--------------,
G) ~~~~5~--------~
r---~--~
~____
X
'----------l.. ~
Grad der Befolgung bzw. Ubertretung eines Gesetzes (X 7 )
)-______~ @--____--.. . . L------------------'
Die Pfeile repräsentieren Kausalbeziehungen zwischen den Variablen Xl bis X7. Direkte Beziehungen bestehen z. B. zwischen X4, X5, X6 und X7, während z. B. von Xl nur ein indirekter Effekt auf X7 ausgeübt wird. Natürlich können in Kausalmodellen auch mehr oder weniger als sieben Variablen berücksichtigt werden. Auch die Zahl der kausalen Stufen kann durch weitere Anschlußtheorien vergrößert werden. Außerdem sind beliebige andere Pfeilstrukturen denkbar 12 • Welche Form ein Kausalmodellletztlich hat, hängt von der postulierten Theorie ab. Schließlich handelt es sich bei einem Pfeildiagramm wie in Abbildung 2 um nichts anderes als die "übersetzung" einer zumeist verbal formulierten Theorie in die Sprache eines Diagramms. Da die verbale Fassung von Theorien jedoch häufig sehr unklar ist, sind Kausaldiagramme ein ausgesprochen hilfreiches Instrument zur Veranschaulichung und Präzisierung komplexer Beziehungsstrukturen. Der Gewinn an Anschaulichkeit und Präzision ist allerdings nur ein Nebeneffekt der Formulierung von Theorien als Kausalmodell. Die Beziehunl!sstruktur in Abbildung 2 kann nämlich weiterhin als System linearer Gleichungen geschrieben werden. Durch geei,gnete Umformungen der Gleichungen können anhand empirischer Daten Regressionsund Pfadkoeffizienten berechnet werden, die ein Maß für die Einflußrichtung und Stärke des Effekts einer Variablen darstellen. Diese Maße geben Aufschluß darüber, ob die postulierte Theorie mit den empirischen Daten vereinbar ist. Wir werden das statistische Verfahren der Regressions- bzw. Pfadanalyse zum Test von Theorien noch genauer in Kap. IV behandeln.
11 Das Modell in Abbildung 2 gehört zudem zu einer bestimmten Klasse von Kausalmodellen: es handelt sich um ein rekursives Modell. Rekursive Modelle haben die Besonderheit. daß die Kausalbeziehungen hierarchisch verlaufen und somit keine Rückbeziehungen oder zirkuläre Beziehungen vorhanden sind. Vgl. dazu genauer Kap. IV. Dort finden sich auch Hinweise auf Literatur zur Kausalanalyse und multivariaten statistischen Verfahren.
3. Einige Kriterien zur Bewertung von Theorien
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3. Einige Kriterien zur Bewertung von Theorien In der rechtssoziologischen Literatur werden verschiedene Hypothesen über die Bedingungen der Befolgung von Gesetzen diskutiert. Insbesondere wird danach gefragt, welchen Einfluß vom Gesetzgeber angedrohte Sanktionen auf gesetzesloyales Verhalten haben und welche Rolle Tradition und Sitte in Hinblick auf die Befolgung von Gesetzen spielen. Auch in der Kriminalsoziologie wird eine Vielzahl von Theorien zur Erklärung der übertretung von Gesetzesnormen erörtert. Somit existieren in der sozialwissenschaftlichen Literatur zahlreiche Theorien, deren Gemeinsamkeit zumindest darin besteht, daß die abhängige Variable dieser Theorien die Befolgung bzw. übertretung von Gesetzen oder aber bestimmter einzelner Rechtsnormen bezeichnet. Wenn mehrere Theorien in Anspruch nehmen, die gleichen sozialen Tatbestände zu erklären oder wenn mehrere Theorien sich in ihrem Erklärungsanspruch überschneiden, wäre es sinnvoll, statt eines "friedlichen Nebeneinanders" so etwas wie eine Konkurrenz von Theorien zu organisieren. Mit anderen Worten: Wir plädieren dafür, Theorien miteinander zu konfrontieren. Die Vielzahl von Theorien dürfte auch für den Praktiker höchst verwirrend sein. Wenn man etwa im Strafvollzug eine Kriminalitätstheorie benötigt, um Strategien zur Resozialisierung von Strafgefangenen zu entwickeln, kann man - wenn man keine Kriterien zur Beurteilung von Theorien hat - allenfalls würfeln, um eine Entscheidung zwischen alternativen Theorien zu fällen. Als Praktiker wird man in dieser Situation, die auf das Schuldkonto der Wissenschaft geht, in der Regel auf hausbackene Alltagstheorien zurückgreifen und damit möglicherweise auf - beim gegebenen Stand des Wissens optimale Reformstrategien verzichten. Um nun Theorien miteinander konfrontieren zu können, benötigt man Bewertungskriterien. Natürlich sind solche "Gütekriterien" keineswegs unumstritten. Ihre Auswahl hängt zweifellos davon ab, welche Ziele man mit der Konstruktion von Theorien verfolgt. Auf jeden Fall ist es aber sinnvoll, diese Kriterien explizit zu erörtern, weil nur dann eine rationale Kritik möglich ist. Konsens besteht vermutlich darüber, daß Theorien möglichst wahr sein bzw. eine möglichst gute Annäherung an die Wahrheit darstellen sollen. Anders formuliert: Von Theorien wird verlangt, daß es mit ihrer Hilfe gelingt, möglichst viele zutreffende Prognosen zu machen. Ob dies der Fall ist, kann beim empirischen Test von Theorien (unter bestimmten Annahmen) geprüft werden13 • Kriterium 1 lautet daher: 13 Theorien, die zahlreiche Überprüfungen erfolgreich bestanden haben, werden häufig als bewährt bezeichnet. Wissenschaftstheoretikern ist es jedoch
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1. Die Rolle von Theorien in der Rechtssoziologie
Kriterium 1: Theorien sollen eine möglichst gute Annäherung an die Wahrheit darstellen, d. h. eine gute Theorie sollte möglichst viele empirisch zutreffende Voraussagen machen können. Nun gibt es aber Theorien, die Kriterium 1 maximal erfüllen, d. h. immer wahr sind, die uns jedoch nicht über die Realität informieren. Dies ist bei Tautologien der Fall. Ein Beispiel für eine tautologische "Kriminalitätstheorie" wäre folgende "Theorie": "Wenn eine Person der Unterschicht angehört, dann wird diese Person kriminell oder sie verhält sich gesetzes treu. " Die Theorie erfüllt zwar Kriterium 1 maximal, d. h. sie ist mit empirischen Daten aller Art vereinbar (die Menge ihrer Falsifikatoren ist leer), dennoch würden wir die Theorie als völlig unbrauchbar einstufen. Die Theorie käme weder für die Sozialplanung noch zur Aufstellung von Prognosen in Frage. Von Popper wurde daher das Kriterium des Informationsgehaltes vorgeschlagen14 • Anschaulich formuliert besagt das Kriterium, daß eine Theorie um so informativer ist, je genauer sie uns über Ereignisse der Realität informiert, d. h. je spezifischere Voraussagen sie gestattet, und je größer ihr Anwendungsbereich ist. Eine Kriminalitätstheorie z. B., die Prognosen über die Verletzung bestimmter Gesetze gestattet, ist somit informativer, als eine Theorie, die nur generell über das Auftreten von Kriminalität Aussagen machen kann. Weiterhin hätte eine Kriminalitätstheorie, die auf alle Menschen anwendbar ist, einen höheren Informationsgehalt, als eine Theorie, die z. B. für alle Amerikaner gilt - vorausgesetzt die Theorien unterscheiden sich nicht im Gehalt der dann-Komponente, d. h. der Grad der Genauigkeit ihrer Prognosen ist gleich. Wenn man nun möglichst allgemein anwendbare Theorien, die dennoch gen aue Vorhersagen gestatten, als positiv beurteilt, wird man von Theorien fordern, daß sie einen möglichst hohen Informationsgehalt haben sollten. Eine positive Folge des Kriteriums Informationsgehalt ist auch, daß die oben skizzierte unbrauchbare tautologische" Theorie" einen Gehalt von null hat. Kriterium 2 lautet daher: Kriterium 2: Theorien sollen einen möglichst hohen Informationsgehalt haben. M. a. W.: Theorien sollten einen möglichst großen Anwendungsbereich haben und möglichst genaue Prognosen erlauben. bisher noch nicht gelungen, eine befriedigende Definition des Bewährungsgrads einer Theorie zu finden. Vgl. zu einigen Vorschlägen in dieser Richtung StegmüHer 1969, S. 467 ff. 14 Technisch gesprochen wird der Informationsgehalt eines Satzes mit der Menge seiner potentiellen Falsifikatoren gleichgesetzt. Vgl. Popper 1971, S. 84. Einfachere Darstellungen finden sich bei Prim und Tilmann 1973, S. 70 ff. oder Opp 1970, S. 166 ff. Der Informationsgehalt kann allein durch logische Analyse ermittelt werden. Allerdings gibt es beim Vergleich von Theorien hinsichtlich ihres Gehalts verschiedene Probleme, insbesondere wenn es sich um statistische Theorien handelt. Einige Probleme werden in der zitierten Literatur näher diskutiert.
3. Einige Kriterien zur Bewertung von Theorien
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Aus Kriterium 2 folgen eine Reihe weiterer Anforderungen an Theorien. So sollten Theorien präzise formuliert sein, weil unscharfe Begriffe zur Verminderung des Gehalts einer Theorie beitragen. Wünschenswert wäre es auch, bei quantitativ formulierten Theorien den gen auen Funktionsverlauf der Beziehung zwischen zwei Variablen anzugeben. Eine einfache Je-desto-Hypothese ist weniger genau als etwa die Spezifizierung einer linearen oder quadratischen Funktion zwischen zwei oder mehreren Variablen. Schließlich dürfte man eine (probabilistische) Theorie als informativer bewerten, wenn die erklärte Varianz (vgl. Kap. IV) größer ist. Theorien, die den Bedingungen 1 und 2 genügen, sind zwar in der Regel von prognostischer Relevanz, sie sind jedoch nicht immer brauchbar für die Sozialplanung. Praktische Maßnahmen sind nämlich nur dann aus Theorien ableitbar, wenn die unabhängigen Variablen instrumentell sind, d. h., wenn sie praktisch beeinflußbare Größen darstellen. Eine Theorie deren unabhängige Variablen nur Attitüden bezeichnen (die nicht direkt beeinflußbar sind), informiert nicht über praktische Maßnahmen - es sei denn, man verfügt über Anschlußtheorien, die etwas über die Beeinflussung von Attitüden aussagen. Im Interesse der Sozialplanung sind somit Theorien positiv zu bewerten, die die Ableitung praktischer Maßnahmen gestatten. Man kann diese Eigenschaft von Theorien als praktischen Informationsgehalt bezeichnen l5 . Unter denjenigen Theorien, die einen hohen praktischen Gehalt haben, wird man als Praktiker diejenige Theorie vorziehen, deren Maßnahmen am kostengünstigsten sind, die die geringsten negativ bewerteten N ebenwirkungen und Spätfolgen haben und die den größten Effekt auf die Zielvariable ausüben. Dies bringt Kriterium 3 zum Ausdruck:
Kriterium 3: Für die Sozialplanung sind - ceteris paribus - Theorien vor-
zuziehen, die einen hohen praktischen Informationsgehalt haben, wobei die Maßnahmen, über die die Theorie informiert, unter Vermeidung von negativ bewerteten Neben- und Spätfolgen möglichst kostengünstig und effektiv sein sollen.
Betrachten wir schließlich noch einen letzten Gesichtspunkt: Auch Theorien, die Kriterium 1 - 3 in relativ hohem Maße erfüllen, können erhebliche Schwierigkeiten bei der Anwendung für Zwecke der Erklärung, Prognose und Sozialtechnologie bereiten, wenn die Meßoperationen zur Ermittlung der Variablenwerte ausgesprochen kompliziert sind lG • Vgl. Opp 1973 a. Dies gilt beispielsweise für eine bestimmte Art sozialpsychologischer Theorien, nämlich für die Lerntheorien. Für genaue Prognosen müßte man nämlich die diskriminierenden Stimuli und die genauen Verstärkereigenschaften verschiedener in einer Situation wirksamer Stimuli kennen, was in Situationen außerhalb des Labors faktisch kaum möglich ist. M. a. W.: Es ist nicht 15
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I.
Die Rolle von Theorien in der Rechtssoziologie
Angenommen man möchte eine Prognose über die Rückfälligkeit von Strafgefangenen machen. Ceteris pari bus wird man dann eine Theorie vorziehen, deren unabhängige Variablen leicht zu erheben sind - im Gegensatz zu einer Theorie, die für Prognosen die Anwendung umfangreicher Testbatterien erfordert. Außerdem wäre zu verlangen, daß bei der Messung möglichst geringe Meßfehler auftreten und die Meßoperati on relativ klar und eindeutig festgelegt ist. Kriterium 4 lautet daher: Kriterium
4: Die Messung der Variablen einer Theorie sollte möglichst genau festgelegt und möglichst einfach sein. Das Risiko von Meßfehlern sollte möglichst gering sein.
Aufgrund der formulierten vier Kriterien ist natürlich nicht immer eindeutig entscheidbar, welche Theorie die" bessere" ist. Erstens können zwei miteinander konfrontierte Theorien die Kriterien in mehr oder minder hohem Grade erfüllen, so daß eine Gewichtung der Kriterien erforderlich wäre. Zweitens dürfte nicht immer ohne weiteres entscheidbar sein, in welchem Grade eine Theorie einem bestimmten Kriterium gerecht wird. Vor allem bei Kriterium 1, aber auch bei der Ermittlung des Informationsgehalts besteht diese Schwierigkeit. Drittens hängt die Bewertung einer Theorie auch von den Zielen ab. Ist man z. B. nur an Prognosen interessiert, kann man Kriterium 3 als irrelevant abtun. Viertens könnte man behaupten, daß die Liste der Kriterien nicht erschöpfend sei 17 • Beim gegenwärtigen Stand der Wissenschaftstheorie gibt es für diese Probleme leider noch keine unumstrittenen Lösungsvorschläge. Wir halten es jedoch auf jeden Fall für gerechtfertigt und zweckmäßig, Kriterien explizit zu formulieren, auch wenn diese vorerst nur Orientierungsmaßstäbe darstellen. Dieser Weg scheint uns immer noch besser zu sein, als auf der Basis impliziter Kriterien im "Hinterkopf" von Wissenschaftlern in einen Theorienvergleich einzutreten, ohne daß die Kriterien der Kritik zugänglich wären.
4. Eine Kritik der Forschungspraxis Wir wollen unsere bisherigen überlegungen nun zusammenfassen und dabei auf einige Kritikpunkte an der traditionellen Forschungspraxis in der Rechtssoziologie aufmerksam machen. möglich, alle relevanten Randbedingungen zu erheben. - Die Meßprobleme sprechen natürlich nicht generell gegen eine praktische Anwendung der Lerntheorien, z. B. in der Verhaltenstherapie. Einen überblick über die Lerntheorien findet man bei Hilgard und Bower 1970. Zur Anwendung der Skinnerschen Variante der Lerntheorie in der Soziologie vgl. Opp 1972. 17 Einige weitere Kriterien, die mitunter genannt werden, sind Einfachheit und gesellschaftliche Relevanz. Zumindest teilweise dürften diese Kriterien jedoch den Kriterien 2 und 3 zuzuordnen sein.
4. Eine Kritik der Forschungspraxis
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Wir sahen, daß zahlreiche, gesellschaftliche bedeutsame Probleme der Rechtssoziologie ohne geeignete und überprüfte Theorien nicht lösbar sind. Demgegenüber steht die vorwiegend deskriptive Orientierung in weiten Bereichen der Rechtssoziologie. Polemisch könnte man sagen, daß viele Soziologen sich noch in der "Steinzeit der Wissenschaft", der Phase der "Jäger und Sammler" von Daten und Fakten, befinden. Statt dessen wäre es wünschenswert, wenn neben der deskriptiven Forschung in verstärktem Maße Theorien einem systematischen und wiederholten Test an empirischen Daten unterzogen werden. Wenn mehrere Theorien miteinander konkurrieren, sollten Entscheidungsexperimente arrangiert werden. D. h. es sollten Testsituationen ausgewählt werden, die eine Entscheidung darüber erlauben, welche Theorie sich besser an den empirischen Daten bewährt. Außerdem wäre es wünschenswert, die gleiche Theorie wiederholt in verschiedenen sozialen Kontexten zu überprüfen. Leider sind Replikationsstudien, obwohl dringend erforderlich, in der Soziologie nicht sonderlich beliebt, da sie offenbar nicht dem Originalitätsbedürfnis vieler Wissenschaftler entsprechen. Werden Hypothesen einem empirischen Test unterzogen, so sind häufig die folgenden Mängel feststellbar: Die Theorien sind "komplex" formuliert, d. h. es werden Aussagen über Zusammenhänge zwischen mehreren Variablen gemacht, bei der empirischen überprüfung werden jedoch nur bivariate Hypothesen berücksichtigt1 8 • Gewissermaßen wird die Theorie also vor dem Test in einzelne isolierte Hypothesen zerlegt und somit nicht mehr die ursprüngliche Theorie getestet. Daher hat der Test auch weniger Aussagekraft bezüglich der Bestätigung oder Falsifikation der Theorie. Mit muItivariaten statistischen Verfahren ist es dagegen möglich, Theorien mit mehreren Variablen simultan zu überprüfen: Die Beziehung zwischen jeweils zwei Variablen wird bei gleichzeitiger Kontrolle der übrigen Variablen analysiert (zu diesen Techniken vgl. Kap. IV). Anstelle der überprüfung einzelner bivariater Hypothesen wäre es daher zweckmäßig, Theorien mit mehreren Variablen - wie unter I, 2 gezeigt - als Kausalmodell zu formulieren und mit multivariaten statistischen Verfahren zu analysieren. Ein weiterer Mangel bei der empirischen überprüfung von Theorien besteht darin, daß die Verfahren zur Messung von Variablen relativ willkürlich erscheinen. Nur selten werden Meßskalen sorgfältig konstruiert und mit den zur Verfügung stehenden Techniken überprüft. In der psy18 Der skizzierte Mangel macht sich z. B. in der Beobachtungsstudie über die Hauptverhandlung im Strafprozeß von Schumann und Winter 1973 bemerkbar. In der Untersuchung der beiden Autoren werden zwar multikausale Zusammenhänge postuliert, jedoch nur bivariate Korrelationskoeffizienten berechnet.
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I.
Die Rolle von Theorien in der Rechtssoziologie
chologischen Literatur werden zahlreiche Skalierungsmodelle diskutiert und in der Diskussion über statistisch-kausal analytische Techniken wird auf die Vorteile der Messung von Variablen durch mehrere Indikatoren mit bestimmten Eigenschaften hingewiesen19 • Es scheint, daß von einer Reihe geeigneter Methoden, die in der rechtssoziologischen Forschung äußerst hilfreich sein könnten, nur sehr sparsam Gebrauch gemacht wird. Zur überprüfung von Theorien kommen verschiedene Forschungsdesigns und Erhebungstechniken in Frage. üblicherweise werden Feldstudien durchgeführt und Daten mit Fragebögen erhoben - wie auch in der vorliegenden Untersuchung. Seltener schon werden Techniken der Beobachtung angewandt. Dagegen sind Erhebungsverfahren wie die Inhaltsanalyse von Texten oder gar nichtreaktive Verfahren und andere Designs wie etwa experimentelle Situationen die Ausnahme20 • Alle Erhebungstechniken und Forschungsdesigns haben je nach Fragestellung ihre Vorteile und Schwächen. Offenbar wird jedoch bestimmten Methoden der Vorzug gegeben, ohne im einzelnen zu fragen, ob nicht alternative Techniken der jeweiligen Fragestellung angemessener sind. Besonders beim Test von Theorien bieten kontrollierte Experimente einige Vorteile 21 • Die Attitüde gegenüber bestimmten Forschungsdesigns, die man im wahren Sinne des Wortes mit der Devise "nur keine Experimente" belegen kann, dürfte sich daher auf den Erkenntnisfortschritt eher hemmend als förderlich auswirken. Wurden Theorien systematisch mit Erfahrungsdaten konfrontiert, so wäre auf der Grundlage dieser und weiterer Informationen ein Vergleich von Theorien möglich. Dabei sollten - wie wir sahen - bevor Theorien miteinander konfrontiert werden, explizit Bewertungskriterien formuliert und diskutiert werden. Um Mißverständnisse zu vermeiden, sei abschließend noch auf folgendes hingewiesen: Einem einzelnen Forscher dürfte es natürlich kaum gelingen, alle Standards der empirischen Sozialforschung optimal zu erfüllen. In der Forschungspraxis sind schon aus technischen und forschungsökonomischen Gründen Kompromisse die Regel. Es wäre aber sinnvoll, wenn sich die empirisch verfahrende Rechtssoziologie als kol10 Vgl. z. B. zu einigen Skalierungsverfahren den überblick von Scheuch und Zehnpfennig 1974 im "Handbuch der empirischen Sozialforschung". Dort finden sich auch weitere Literaturangaben. Kausalanalytische Meß-Modelle werden von Costner 1971 und Hauser und Goldberger 1971 diskutiert. 20 Vgl. hierzu Lehrbücher der empirischen Sozialforschung, z. B. Friedrichs 1973. 21 Eine gute Einführung in die Technik experimenteller Versuchsanordnungen ist das Buch von Zimmermann 1972. Eine Diskussion über Vor- und Nachteile experimenteller Techniken in der Soziologie findet sich bei Opp 1973b.
4. Eine Kritik der Forschungspraxis
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lektiver Forschungsprozeß an bestimmten Standards orientiert und mögliche Mängel einer Untersuchung bzw. eines Theorietests durch weitere Tests anderer Forscher kompensiert werden.
Kapitel II
Die Theorie von OPP zur Befolgung von Gesetzen Wir wollen in diesem Kapitel Opps rechts soziologische Theorie vorstellen sowie einige Modifikationen und Erweiterungen der Theorie 1• Den Teil der Theorie, der sich auf die Variablen bezieht, die direkt das Verhalten gegenüber der Gesetzesnorm bestimmen, wollen wir als "Theorie erster Stufe" bezeichnen. Die "Theorie zweiter Stufe" umfaßt dann diejenige Menge von Anschlußhypothesen, die direkte oder indirekte Effekte auf die unabhängigen Variablen der Befolgungstheorie postulieren. Die formale Struktur der von Opp vorgeschlagenen Theorie entspricht in den Grundzügen dem im vorigen Kapitel entwickelten Modell (vgl. Kap. I, 2). Man könnte insofern die Opp-Theorie als "inhaltliche" Interpretation dieses Modells bezeichnen. Die Theorie folgt der rechtssoziologischen Tradition. Mit ihr wird der Versuch unternommen, einige Variablen, die verschiedene Autoren als relevant für die Befolgung von Gesetzen nennen, zu einer einheitlichen Theorie zusammenzufassen. So weist Sumner besonders auf die Bedeutung von "Brauch" und "Sitte" für die Befolgung von Gesetzen hin; Aubert nennt als wichtige Variable die Informiertheit einer Person über das Gesetz; Chambliss zeigt in einer Studie, daß nicht nur die Androhung von Sanktionen, sondern ihre Schwere und die Sicherheit, mit der eine Person nach einer Normverletzung mit der Sanktion rechnen kann, auf die Befolgung von Gesetzen einen Einfluß ausüben; Schwartz und Orleans machen in einer Untersuchung über Steuerhinterziehung auf "moralische Gründe" aufmerksam, die für die Einhaltung von Steuergesetzen relevant sind 2 • Die angedeuteten Variablen werden von Opp expliziert, relativ präzise definiert und in einer Theorie über die Befolgung von Gesetzen zusammengefaßt. Sie stellen - in Anlehnung an unsere Ausführungen über 1 Die Theorie ist in Opp 1973 c, S. 190 - 207 enthalten. Eine erste Fassung der Theorie findet sich in Opp 1971. Vgl. zum folgenden Opp 1973 c. ! Vgl. Aubert 1967; Sumner 1906; ChambZiss 1966; Schwartz und Orleans 1967. Vgl. auch Opp 1973 c, S. 193 ff.
1. Die Variablen erster Stufe
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die allgemeine Struktur einer mehrstufigen Theorie der Gesetzesbefolgung - die "Variablen erster Stufe" dar, also jene Variablen, die direkt auf die abhängige Variable "Befolgung eines Gesetzes" einwirken.
1. Die Variablen erster Stufe Ausgangspunkt von Opps überlegungen ist ein Aufsatz von Aubert (1967), der die Wirkung des norwegischen Haushaltsangestelltengesetzes von 1948 untersucht. In dieser Arbeit wird die mangelnde Einhaltung des Gesetzes (nur 10 - 15 % der getesteten Arbeitsverhältnisse erfüllten die Anforderungen des Gesetzes vollständig) wesentlich auf den Grad der Informiertheit der betroffenen Personen (Hausangestellte und Hausfrauen) zurückgeführt. Opp umreißt nun schärfer, was der Begriff "Informiertheit" beinhalten soll, indem er diese Variable in zwei Teilaspekte zergliedert.
Zum einen geht es um die Kenntnis des Gesetzestextes oder, weiter gefaßt, um die Kenntnis der Norm, die im Gesetz kodifiziert worden ist. Während Aubert nur jene Personen als "informiert" betrachtet, die sich auf direktem Wege, also durch Lesen des Gesetzes oder durch Hören vom Gesetz, die entsprechenden Kenntnisse verschafft haben, bezieht Opp auch jene ein, die über Dritte, also indirekt, ohne ausdrückliche Nennung der Normenquelle erfahren haben, daß eine bestimmte Norm gilt. Zum anderen wird darauf abgestellt, daß die Kenntnis des bloßen Wortlauts eines Gesetzes allein noch nicht genügt, um als "informiert" gelten zu können. Vielmehr kommt es auf die Fähigkeit an, bestimmte Tatbestände unter den Gesetzestext zu subsumieren. Vom Standpunkt eines Beobachters aus müssen konkrete Verhaltensweisen danach klassifiziert werden können, ob sie vom Gesetz verboten oder erlaubt sind oder überhaupt nicht vom Gesetz berührt werden. Zusammenfassend definiert Opp den Grad der Informiertheit (Inform)3:
"Der Grad der Informiertheit einer Person über ein Gesetz ist um so höher = df. je genauer eine Person vom Standpunkt eines Beobachters aus konkrete Verhaltensweisen danach klassifizieren kann, ob sie vom Gesetz verboten bzw. geboten sind oder ob sie vom Gesetz nicht berührt werden, vorausgesetzt: die Person klassifiziert die Verhaltensweisen aufgrund dessen, daß sie entweder das Gesetz selbst gelesen, über das Gesetz gelesen, vom Gesetz gehört hat oder indirekt über das Gesetz informiert worden ist." 3 Im Text und insbesondere in den Abbildungen werden häufig auch die Abkürzungen der Variablennamen verwandt. Eine Abkürzungsliste zum Nachschlagen findet sich im Anhang.
3 Diekmann
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H. Die Theorie von OPP zur Befolgung von Gesetzen
Als weitere Bedingung, die für die Wirkung von Gesetzen relevant ist, nennt Opp den "Grad der normativen Abweichung" (NA). Dahinter steht die Annahme, daß die Einhaltung eines Gesetzes durch eine Person von dem Grad abhängen wird, in dem diese Person andere Normen als die Gesetzesnorm akzeptiert. Weiterhin läßt sich sagen, daß der Grad der Einhaltung davon abhängt, wie weit die für verbindlich gehaltene Norm von der gesetzlich vorgeschriebenen abweicht. Auch hier faßt Opp seine überlegungen in einer Definition zusammen: "Der Grad der normativen Abweichung einer Person P von einem Gesetz ist um so höher = df. je höher der Grad ~st, in dem die Person P andere als die Gesetzesnormen für verbindlich hält und je stärker dies-e anderen Normen von den Gesetzesnormen abweichen." Als dritte Variable werden die "erwarteten negativen Sanktionen" (NSü) genannt. Diese Dimension läßt sich in zwei Teildimensionen aufspalten: Subjektive Sanktionswahrscheinlichkeit und perzipierte Sanktionshärte. Der ersten Teildimension liegen überlegungen zugrunde, die in folgende Richtung laufen: Je wahrscheinlicher eine Gesetzesabweichung negativ sanktioniert wird, desto häufiger dürfte das Gesetz eingehalten werden. Die zweite Teildimension dagegen bezieht sich auf die empfundene Schwere der Sanktion: Je härter die erwarteten Sanktionen bei einer Gesetzesübertretung die Person P treffen werden, desto eher wird sie bereit sein, das Gesetz zu befolgen. Als Definition zusammengefaßt ergibt sich: "Der Grad der erwarteten negativen Sanktionen einer Person bei der Nichteinhaltung eines Gesetzes ist um so höher, je sicherer die Person mit negativen Sanktionen bei der übertretung rechnet und je schwerer diese Sanktionen für die PersQn sind. " Es sollte deutlich sein, daß der Wert der Teilvariable "perzipierte Schwere der Sanktion" bei gleichem "objektivem" Strafmaß von verschiedenen Personen unterschiedlich hoch eingeschätzt werden kann. Die Bewertung der Härte einer bestimmten Geld- oder Gefängnisstrafe z. B. wird vermutlich individuell erheblich schwanken. Dabei ist anzunehmen, daß die subjektiv empfundene Schwere der Sanktion einen direkten Einfluß auf das Verhalten hat. Da es das Ziel der Theorie ist, ein bestimmtes Verhalten zu erklären, empfiehlt es sich von der Bedeutung gesetzlicher Sanktionen im "subjektiven" Sinne Gebrauch zu machen. Demnach würde sich ein Meßverfahren zur Ermittlung der perzipierten Sanktionshärte als unbrauchbar erweisen, das z. B. den numerischen Wert der Geldstrafe oder die Länge einer Gefängnisstrafe als Indikator verwendet.
35
1. Die Variablen erster Stufe
Zudem beinhaltet die Teilvariable nicht nur die perzipierte Härte der gesetzlichen Sanktion, sondern auch etwaige soziale Sanktionen durch die Reaktion anderer Personen, die von der Gesetzesverletzung Kenntnis erhalten. In einer späteren Fassung der Theorie fügt Opp (1973 c) noch eine weitere Variable erster Stufe hinzu, die einer lerntheoretischen überlegung entspricht: Es erscheint plausibel, daß Gesetze eher befolgt werden, wenn dies mit positiven Sanktionen (Belohnungen) verbunden ist. Demgemäß lautet die Definition der positiven Sanktionen bei Befolgung (PSB): "Der Grad der erwarteten positiven Sanktionen einer Person bei der Einhaltung eines Gesetzes ist um so höher, je sicherer die Person mit positiven Sanktionen bei der ~folgung rechnet und je positiver diese Sanktionen von der Person bewertet werden." Die Theorie erster Stufe mit den vier dargestellten unabhängigen Variablen kann nun folgendermaßen zusammengefaßt werden: "Je höher der Grad der Informiertheit einer Person über ein Gesetz ist, je geringer der Grad der normativen Abweichung einer Person von einem Gesetz ist, je höher der Grad der erwarteten negativen Sanktionen bei einer Nichtbefolgung des Gesetzes ist, je höher der Grad der erwarteten positiven Sanktionen bei einer Befolgung des Gesetzes ist, desto eher wird die Person das Gesetz einhalten." In Abbildung 3 sind die hypothetischen Zusammenhänge noch einmal graphisch dargestellt. Abbildung 3: Das Opp-Modell erster Stufe
Grad der Informiertheit
Grad der normativen Abweichung
--- - - - ..
Grad der erwarteten negativen Sanktionen
Grad der erwarteten positiven Sanktionen
-+ positive Beziehung
- - -+ negative Beziehung
Grad der Befolgung
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II. Die Theorie von opp zur Befolgung von Gesetzen
2. Die Variablen zweiter Stufe Mit den Variablen zweiter Stufe lassen sich Hypothesen formulieren, die als Anschlußtheorien die Haupttheorie, die Theorie erster Stufe, zu einem mehrstufigen Kausalmodell erweitern. Im folgenden sollen nur die Variablen zweiter Stufe explizit erläutert werden, die beim empirischen Test der Theorie Berücksichtigung finden. Es handelt sich dabei um die sechs Variablen Anzeigeneigung (ANZ), soziale Stigmatisierung (STIG), Aujklärungsquote (AUF), Kompetenz des Gesetzgebers (KOMP), Zielrelevanz(ZIEL) und Sichtbarkeit (SICHT)4. Unter "Anzeigeneigung" wird dabei verstanden: die Bereitschaft von über ein Delikt informierten Personen, Anzeige zu erstatten. "Soziale Stigmatisierung" ist ein Ausdruck für das faktische Sanktionsverhalten der sozialen Umwelt, für die Reaktionen der Verwandten und Freunde, der Nachbarn und Passanten bei Bekanntwerden einer Gesetzesverletzung. Die "Aufklärungsquote" wird definiert als das Verhältnis der aufgeklärten zu der Gesamtzahl der Gesetzesverletzungen. Mit der "Kompetenz des Gesetzgebers" wird die moralische und fachliche Autorität umschrieben, die Personen dem Gesetzgeber bei seinen Entscheidungen zubilligen. Die "Zielrelevanz" wird wie folgt definiert (Opp 1973 c, S. 205): "Je mehr eigene Ziele in der Perzeption einer Person durch die Befolgung eines Gesetzes in um so höherem Grade realisiert werden und je stärker die Person an der Realisierung dieser Ziele interessiert ist", desto höher ist die perzipierte Zielrelevanz eines Gesetzes. Unter der "Sichtbarkeit einer übertretung" schließlich wird die Zahl der Personen verstanden, die davon Kenntnis haben, daß ein Delikt begangen wurde. Ein Delikt mit einem hohen Grad der Sichtbarkeit wäre etwa ein überfall auf offener Straße5 • Mit den sechs Variablen zweiter Stufe und den unabhängigen Variablen der Theorie erster Stufe werden dreizehn Hypothesen formuliert. Die Hypothesen lauten einzeln aufgelistet6 :
4 Die übrigen vier Variablen sind Privatheit der Situation, in der eine Gesetzesverletzung stattfindet, die Verständlichkeit des Gesetzestextes, das Ausmaß der Verbreitung durch Massenkommunikationsmittel und die "objektive" gesetzliche Sanktion. Vgl. dazu opp 1973 c. 5 Die Variablen zweiter Stufe sind bei opp Merkmale von Kollektiven. Dieser Punkt wird noch ausführlicher in Abschnitt 3.3 diskutiert. e Alle Hypothesen beziehen sich dabei auf ein bestimmtes Gesetz.
2. Die Variablen zweiter Stufe
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Hypothese 1
Je höher die soziale Stigmatisierung, desto höher der Grad der Informiertheit. Hypothese 2
Je höher die soziale Stigmatisierung, desto geringer der Grad der normativen Abweichung. Hypothese 3
Je höher die soziale Stigma1Jisierung, desto höher der Grad der erwarteten negativen Sanktionen. Hypothese 4
Je höher die soziale Stigmatisierung, desto höher die Anzeigeneigung. Hypothese 5
Je höher die soziaLe Stigmatisierung, desto höher die Auffidärungsquote. Hypothese 6
Je höher die Anzeigeneigung, desto höher der Grad der erwarteten negativen Sanktionen. Hypothese 7
Je höher die Anzeigeneigung, desto höher die Aufklärungsquote. Hypothese 8
Je höher die Aufklärungsquote, desto höher der Grad der erwarteten negativen Sanktionen. Hypothese 9
JE höher die perzipierte Kompetenz des Gesetzgebers, desto höher der Grad der Informiertheit. Hypothese 10
Je höher die perzipierte Kompetenz des Gesetzgebers, desto niedriger der Grad der normativen Abweichung. Hypothese 11
Je höher die perzipierte Kompetenz des Gesetzgebers, desto höher die Anzeigeneigung. Hypothese 12
Je höher die perzipierte Zielrelevanz, desto geringer der Grad der normativen Abweichung. .. t Hypothese 13
Je höher der Grad der Sichtbarkeit, desto größer die erwarteten negativen Sanktionen.
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H. Die Theorie von OPP zur Befolgung von Gesetzen Verbunden mit der Theorie erster Stufe lassen sich die Hypothesen wie
in Abbildung 4 als mehrstufiges Kausalmodell darstellen: Abbildung 4: Das mehrstujige Modell
/
/
/
IZielre~evanz
ichtbarkeit
3. Kritik und Modifikation der Theorie7 Wir wollen in diesem Abschnitt jene Kritikpunkte behandeln, die unmittelbare Relevanz für die empirische überprüfung besitzen. Bevor wir jedoch mit der Kritik beginnen, soll noch ein kleiner "Kunstgriff" vorgenommen werden: In übereinstimmung mit dem Sprachgebrauch von Kriminalitätstheorien soll nicht mehr von der "Befolgung von Gesetzen" als abhängiger Variablen gesprochen werden, sondern von "Vbertretung". Der Aussagewert der Opp-Theorie wird dadurch in keiner Weise verändert: Schließlich ist ein relativ ho her Grad von Befolgung ein relativ geringer Grad von übertretung und umgekehrt. Die Änderung ist rein formaler Natur und führt dazu, daß eine vorher positive (negative) Beziehung zwischen der abhängigen und der unabhängigen Variablen jetzt negativ (positiv) wird; wenn man so will: eine Art" Umpolung". 7 Vgl. zu diesem Abschnitt auch die Diskussion im Kriminologischen Journal mit den Aufsätzen von Diekmann 1975, opp 1975, Simon und Kunow 1975 und
Diekmann 1976.
3. Kritik und Modifikation der Theorie
89
3.1 Die Variable "Injormiertheit" Der Theorie zufolge wird der "Grad der Informiertheit" einer Person auf den Gesetzestext als direkte oder indirekte Quelle der Informiertheit bezogen definiert. Da das primäre Interesse der Erklärung bestimmter Verhaltensweisen gilt, soll vorgeschlagen werden, die restriktive Bedingung fallenzulassen, nur dann einer Person das Merkmal "informiert" zuzuschreiben, wenn ihre Kenntnisse auf den Gesetzestext rückführbar sind. Das Gesetz als direkte oder indirekte Informationsquelle soll also nicht Definitionsbestandteil der Variablen "Informiertheit" sein. Darüber hinaus hat sich gezeigt, daß für die empirische Untersuchung diese Unterscheidung keine große Rolle spielt, da, von einigen Ausnahmen abgesehen, sich bei fast allen Personen der Grad der Informiertheit auf das Gesetz oder die Rechtsnorm direkt oder indirekt zurückführen läßt. Der Kern der Oppschen Definition bezieht sich auf die Fähigkeit einer Person, Verhaltensweisen danach zu klassifizieren, ob sie vom Gesetzgeber erlaubt oder verboten sind. Nun kann eine Person diese Fähigkeit in sehr geringem Maße besitzen, folglich nach der Definition in geringem Grade informiert sein, und dennoch erscheint es sehr plausibel anzunehmen, daß die Person das Gesetz um so eher befolgen wird. Ein Beispiel macht das auf den ersten Blick paradox klingende Argument anschaulich: Ein Autofahrer glaubt irrtümlich, mehr als 0,5 Promille Alkohol am Steuer sei gesetzlich verboten. Er wird dann die Verhaltensweise "ein Autofahrer hat 0,6 Promille Alkohol und fährt einen Wagen" als nicht erlaubt klassifizieren. Nach der Definition müßte der befragten Person ein geringerer Grad an Infurmiertheit zugeschrieben werden aIs einer Person, die exakt über die 0,8 Promille-Grenze informiert ist. Von einer Person, die irrtümlich rigidere Vorstellungen von der Gesetzesnorm hat als der Gesetzgeber, wäre kaum anzunehmen, daß sie das Gesetz eher überschreitet als jemand, der nach der Definition der Theorie maximal informiert ist. Die Definition sollte daher in der Weise korrigiert werden, daß eine Person dann als in geringem Grade informiert bezeichnet werden soll, wenn diese Person irrtümlich Verhaltensweisen als erlaubt bezeichnet, die der Gesetzgeber verbietet, nicht aber wenn eine Person umgekehrt Verhaltensweisen als verboten bezeichnet, die der Gesetzgeber erlaubt. Neben der Kritik an der Zweckmäßigkeit der Definition soll noch auf ein empirisches Plausibilitätsargument zur Kritik der vermuteten Be-
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II. Die Theorie von OPP zur Befolgung von Gesetzen
ziehung zwischen der Variablen Informiertheit und der Befolgung bzw. übertretung von Gesetzen hingewiesen werden. Die Relevanz der Variablen "Informiertheit" demonstriert Aubert
(1967) an einem norwegischen Hausangestelltengesetz. Bei anderen Ge-
setzesverstößen erscheint es aber keineswegs überzeugend, daß eine positive Beziehung zwischen der Befolgung von Gesetzen und dem Grad der Informiertheit besteht, Gesetze also gewissermaßen aus Unkenntnis übertreten werden. Man denke nur an Wirtschaftskriminelle, etwa an Steuerbetrüger, die über Hunderte von Paragraphen der Steuergesetze und Steuererlasse um ein vielfaches besser informiert sind als ihre loyalen Mitbürger. Die gleichen überlegungen könnten auf weite Bereiche "professioneller" Kriminalität zutreffen. Zumindest ist bei einigen Personen und Gesetzen anzunehmen, daß die Beziehung zwischen dem Grad der Informiertheit und der Befolgung von Gesetzen im Gegensatz zur theoretisch erwarteten Beziehung steht. Natürlich ist die Plausibilität einer Vermutung noch kein Beweis und kein Ersatz für die empirische überprüfung. über diese Modifikation hinaus lassen sich aufgrund von Plausibilitätsannahmen weitere Variablen formulieren, die die vier "Variablen erster Stufe" der Opp-Theorie sinnvoll ergänzen können. 3.2 Weitere Variablen erster Stufe
So fällt als erstes auf, daß zwar mit den erwarteten negativen Sanktionen die eine Gesetzesübertretung "hemmenden Kräfte" genannt sind, nicht jedoch die "treibenden Kräfte", die eine übertretung erst "motivieren". Daß eine Gesetzesübertretung für den Delinquenten auch positive Seiten haben kann, wird ausgeklammert: Jeder nicht ertappte Steuerhinterzieher oder Schwarzfahrer spart Geld, jeder Falschparker kann auf die gesparten Parkgroschen oder den vermiedenen Ärger bei der Parkplatzsuche verweisen. Dies alles sind erwartete positive Sanktionen bei übertretung, die des öfteren die erwarteten negativen Sanktionen ausgleichen bzw. sogar überkompensieren können. Als Quintessenz solcher überlegungen läßt sich eine neue Variable formulieren: "Die erwarteten positiven Sanktionen einer Person bei der übertretung .einer Norm (PSü) sind um so größer, je sicherer die Person die positiven Sanktionen erwartet und je höher sie die positiven Sanktionen einschätzt."
Als Pendant zur Oppschen Variablen "Grad erwarteter positiver Sanktionen bei Befolgung" bietet sich als nächstes die Einführung der Va-
3. Kritik und Modifikation der Theorie
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riablen "Grad erwarteter negativer Sanktionen bei der Befolgung eines Gesetzes" an. Ihre Relevanz sei an einigen Beispielen erläutert: In jugendlichen Banden kann das übertreten von Strafgesetzen ebenso Norm sein wie das "Mogeln" in der Schule. In beiden Fällen wird legales Verhalten in irgendeiner Form (Prügel, Nichtbeachtung, Ausstoß aus der Gruppe) negativ sanktioniert. Es ergibt sich folgende Definition: "Die erwarteten negativen Sanktionen einer Person bei der Befolgung einer Norm (NSB) sind um so größer, je sicherer die Person negative Sanktionen erwartet und je härter sie diese Sanktionen einschätzt." Es erscheint fast selbstverständlich, daß zur Gesetzesübertretung bzw. auch zur Gesetzesbefolgungdie Gelegenheit gegeben sein muß. So können Schulkinder in der Regel keine Steuern hinterziehen, weil sie überhaupt nicht steuerpflichtig sind, so können Nichtautofahrer keine Fahrerflucht begehen usw. Die sprichwörtliche Gelegenheit, die Diebe macht, ist sogar notwendige Voraussetzung für eine übertretung. Explizit definiert lautet diese Variable: "Die Häufigkeit normrelevanter Situationen (NSI) ist um so größer, je häufiger sich eine Person in Situationen befindet, in denen sie zwischen den Verhaltensalternativen Befolgung oder übertretung der Norm wählen kann." Integrieren wir die oben genannten Variablen in die Theorie, so lautet die erweiterte Fassung erster Stufe mithin: "Je geringer der Grad der Informiertheit einer Person über eine Norm, je höher der Grad normativer Abweichung einer Person von der Norm, je geringer der Grad der erwarteten negativen Sanktionen bei einer übertretung der Norm, je höher der Grad der erwarteten positiven Sanktionen bei einer übertretung der Norm, je geringer der Grad der erwarteten positiven Sanktionen bei einer Befolgung der Norm, je höher der Grad der erwarteten negativen Sanktionen bei einer Befolgung der Norm, je größer die Häufigkeit der normrelevanten Situation, desto häufiger wird eine Person die Norm übertreten." In diesem Abschnitt wurde stillschweigend von der übertretung von Normen statt von Gesetzen gesprochen. Dies hat einen guten Grund: Es erscheint nämlich durchaus sinnvoll, die Theorie nicht nur zur Erkliirung von Gesetzesverletzungen heranzuziehen, sondern den Anwendungsbereich generell auf abweichendes Verhalten von sozialen Normen zu erweitern. Da Gesetze nur eine Teilklasse sozialer Normen sind, d. h. spezielle Normen oder Rechtsnormen, wird hierdurch auch der Informationsgehalt der Theorie erhöht.
42
H. Die Theorie von OPP zur Befolgung von Gesetzen
3.3 Kollektive und individuelle Variablen Werden Merkmale einer Personenmehrheit, z. B. einer sozialen Gruppe, zugeschrieben, so spricht man von kollektiven Merkmalen oder Variablen. Bei Eigenschaften einer Person dagegen handelt es sich um individuelle Variablen. Die Variablen Anzeigeneigung, Stigmatisierung und weitere Variablen zweiter Stufe sind nun der Theorie zufolge Merkmale von Kollektiven8 • So kann der Grad der Anzeigeneigung in einem Kollektiv (etwa einer Stadt, einem Staat etc.) definiert werden als das Verhältnis der angezeigten zu der Gesamtzahl der Delikte. Die Hypothesen der Theorie zweiter Stufe machen somit Aussagen über die Beziehungen zwischen kollektiven Variablen. Im Gegensatz hierzu postuliert die Theorie erster Stufe Beziehungen zwischen individuellen Merkmalen, z. B. dem Grad der normativen Abweichung einer Person und dem Grad der übertretung einer Rechtsnorm durch diese Person. Ein dritter Typ von Hypothesen sind "gemischte" Merkmalsbeziehungen, die gewissermaßen die kollektive mit der individuellen Ebene verbinden. Um dies zu ermöglichen, müssen die kollektiven Merkmale zuvor als Kontextmerkmale expliziert werden9 • Darunter ist folgendes zu verstehen: Wie gesagt ist der Grad der Anzeigeneigung ein kollektives Merkmal. Einer Person kann nun das Kontextmerkmal zugeschrieben werden, in einem Kollektiv mit einer bestimmten Ausprägung der Anzeigeneigung zu leben. Eine "gemischte" Hypothese wäre dann die Merkmalsbeziehung, daß Personen, die Mitglied eines Kollektivs mit hoher Anzeigeneigung sind, einen hohen Grad negativer Sanktionen erwarten (vgl. Hypothese 6). Halten wir fest: Die Theorie enthält drei Typen von Hypothesen, nämlich kollektive, gemischte und individuelle Hypothesen. Es ist zu vermuten, daß die Beziehungen zwischen den kollektiven Variablen der Theorie nicht direkter Art sind, sondern über intervenierende individuelle Perzeptionen verlaufen. Der soziale Kontext wird sozusagen durch psychische Variablen "vermittelt". Diese überlegung sei an dem Beispiel der Hypothese 2 demonstriert (vgl. dazu das Schema in Abbildung 5). Zunächst kann der Stigmatisierungsgrad in einem Kollektiv als Kontextmaterial formuliert werden. Die Zuordnung ist eine rein logische Operation, genauer: eine Definition. Die Tatsache, daß eine Person Mitglied eines Kollektivs mit hohem Stigmatisierungsgrad ist, wirkt nun nicht direkt auf den Grad der normativen Abweichung. Dazwischen geschaltet ist die "subjektive" Variable "perzipierter Stigmatisierungsgrad". Nicht der objektive, sondern der perzipierte Kontext beeinflußt gemäß der Hypothese den Grad der normativen Abweichung einer Person und indirekt den Grad der Normverletzung durch die Person. Der 8 Vgl. dazu die Fußnote bei Opp 1973 C, S. 20l. • Vgl. dazu Lazarsfeld und Menzel196l.
3. Kritik und Modifikation der Theorie
43
"Wiederaufstieg" zur kollektiven Ebene ist durch Aggregation der individuellen Merkmale möglich. So kann aus der Kenntnis des übertretungsgrads bei den Mitgliedern eines Kollektivs das aggregierte oder kollektive Merkmal "übertretungsrate in einem Kollektiv" errechnet werden. Ähnlich läßt sich aus den individuellen Werten der normativen Abweichung z. B. ein Durchschnittswert für das Kollektiv bestimmen. Es zeigt sich also, daß die Effekte, über die kollektive Hypothesen Aussagen machen, über individuelle Variablen verlaufen.
Abbildung 5: Kollektive und individuelle Variablen STIG(A)
NA(A)
kollektiv
kollektiv
Zuordnung als Kontextmerkmal STIG(I) Kontext ~~
~I
STIG(I) perzipiert ~
~
UBERTR(A) kollektiv
kollektive Ebene
Aggregation NA(I)
~I
UBERTR(I)
individuelle Ebene
______~y~______~J\~__________~yr____________~j
Anschlußtheorie
"individuelle" Theorie
=== definitorische Zuordnung ,. Kausalbeziehung STIG Stigmatisierungsbereitschaft gegenüber bestimmten Gesetzesverletzungen (1) Individualebene (A) = aggregiertes (kollektives) Merkmal Es erscheint daher aus theoretischen Gründen sinnvoll zu sein, die Variablen zweiter Stufe als individuelle Perzeptionen zu interpretieren. Den Grad der Stigmatisierung, die Anzeigeneigung, die Aufklärungsquote usf. explizieren wir als perzipierte Stigmatisierung durch andere Personen, als perzipierte Anzeigeneigung der anderen Mitglieder einer sozialen Gruppe und als perzipierte Aufklärungsquote. In den empirischen überprüfungen der Theorie wurden die Variablen zweiter Stufe auf diese Weise modifiziert. überprüft wird somit die "individuelle" Theorie entsprechend dem Schema in Abbildung 4. Die vorläufige Beschränkung der empirischen Untersuchung auf den individuellen Teil der Theorie, d. h. der Verzicht auf den Test von kollektiven und gemischten Hypothesen, wird insbesondere durch forschungstechnische Probleme erzwungen. Wir werden diese Probleme noch kurz in Kap. III streifen.
Kapitel III
Probleme der empirischen Überprüfung Zum Test empirisch gehaltvoller Hypothesen kommen mehrere Forschungsdesigns in Frage: Es können z. B. Labor- oder Feldexperimente arrangiert werden, es können Panelstudien durchgeführt werden, die die Erhebung von Daten zu verschiedenen Zeitpunkten erforderlich machen, oder die Daten werden nur zu einem Zeitpunkt im Rahmen einer Querschnittsuntersuchung erhoben, wie dies in den drei Untersuchungen in Kap. V - VII geschehen ist. Weiterhin können die Daten zur überprüfung der Hypothesen mit verschiedenen Methoden gewonnen werden, etwa durch Befragung, durch die Methode systematischer Beobachtung, durch Inhaltsanalyse von Texten usf. Für Kriminologen und Rechtssoziologen stellt sich hier insbesondere die Frage, ob beim Text von Hypothesen auf amtliche Statistiken zurückgegriffen werden kann oder ob es zweckmäßiger erscheint, z. B. durch Befragung von Personen Aufschluß über das "Dunkelfeld" zu erhalten. Ein dritter Punkt bezieht sich auf die Auswahl der Testdelikte und die Stichprobe der Untersuchungseinheiten: Auch hier sind unterschiedliche Verfahrensweisen der Stichprobenziehung denkbar. Die jeweils gewählte Kombination von Methoden hinsichtlich des Forschungsdesigns, der Erhebungsmethode und der Stichprobenziehung wirft immer auch gewisse Probleme auf, von denen wir einige in diesem Kapitel diskutieren wollen. 1. Das Forschungsdesign: Querschnittsdaten und Kausalhypothesen Der Theorie zufolge besteht eine kausale Beziehung zwischen den Attitüden als unabhängigen Variablen und der abhängigen Variable übertretung eines Gesetzes. Das aufgrund bestimmter Attitüdenwerte zu erwartende Verhalten tritt also zeitlich später auf. Die Vermutung über die Zeitsequenz der Variablen ist natürlich keine A-priori-Annahme, sondern eine empirische Frage. Entgegen der Theorie sind auch umgekehrte Zusammenhänge oder Wechselbeziehungen denkbar. So ist es durchaus plausibel, daß die Attitüden ihrerseits als Reaktion auf ein bestimmtes Verhalten Änderungen unterworfen sind.
1. Das Forschungsdesign: Querschnittsdaten und Kausalhypothesen
45
Die Vermutung, daß die Wahl zwischen alternativen Verhaltensweisen die Attitüden beeinflußt etwa im Sinne der "ideologischen Rechtfertigung" einer Normabweichung, wird neben Plausibilitätsüberlegungen auch durch sozialpsychologische Theorien gestützt1• Sollten sich nach der Entscheidung für eine bestimmte Verhaltensweise "Dissonanzen", d. h. kognitive Spannungen, einstellen, so behauptet die Theorie der kognitiven Dissonanz bzw. die Balance-Theorie, daß in diesem Fall eine Person bestrebt ist, die Dissonanz zu reduzieren2 • Ein Beispiel mag die Argumentation veranschaulichen: Eine Hausfrau, die Diebstahl "moralisch" verurteilt ~eine geringe normative Abweichung hat), wird in einem Warenhaus durch das verführerische Angebot verlockt (die Variablen "erwartete positive Sanktionen bei übertretung" und "erwartete negative Sanktionen bei übertretung" haben "kriminogene" Werte) und versteckt unbemerkt eine Ware in ihrer Einkaufstasche, die sie an der Kasse nicht bezahlt. Sie wird sich mögl:icherweise dadurch rechtfertigen, daß sie argumentiert, durch die Wegnahme der Ware würde ohnehin keiner geschädigt, allenfalls die Aktionäre, die hohe Dividenden einstreichen usf. Sie wird also Warenhausdiebstahl aufgrund der Rationalisierungsmanöver nicht mehr so rigide wie vor der Normverletzung verurteilen. Mit anderen Worten: Die Attitüde, speziell der Grad normativer Abweichung, hat sich nach dem Verhalten geändert. Wenn nun mit einem Fragebogen im Rahmen einer Querschnittsanalyse Daten sowohl über die Attitüden als auch über abweichendes Verhalten in der Vergangenheit zum gleichen Zeitpunkt erhoben werden, bleibt dem Sozialforscher die zeitliche Aufeinanderfolge verborgen. Dieser Informationsmangel könnte die negative Konsequenz haben, daß Personen, die entgegen der Theorie trotz geringer normativer Abweichung delinquente Aktivitäten entwickeln, nach der Gesetzesübertretung aber ihre Attitüden ändern und eine hohe normative Abweichung aufweisen, fälschlicherweise als mit der Theorie konforme Fälle interpretiert werden. Die Fehlerquelle könnte somit darin bestehen, daß Falsifikatoren der Theorie irrtümlicherweise als Konfirmatoren gewertet werden. Die eventuelle Fehlerquelle ließe sich durch aufwendigere empirische Untersuchungen beseitigen. Man könnte z. B. Befragungen zu verschiedenen Zeitpunkten durchführen. Bei der ersten Befragung werden die Attitüden ermittelt und nach einem Zeitintervall werden mit einer weiteren Befragung zwischenzeitlich verübte Delikte erhoben. 1 Der von Matza und Sykes geprägte Begriff der "Neutralisierungstechniken" ist für diese Erscheinung zwar naheliegend, aber nicht ganz passend, da die Neutralisierungstechniken schon vor der Handlung zur Verfügung stehen. Die Neutralisierungstechniken dürften sich eher im Wert der normativen Abweichung ausdrücken. Vgl. Matza und Sykes 1974. I Vgl. zur Dissonanztheorie Festinger 1957, zur Balancetheorie (formalisiert mit dem Graphen-Kalkül) Davis 1966 oder Berger u. a. 1967.
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nI. Probleme der empirischen Überprüfung
Technisch kaum durchführbar dürfte die Messung der Attitüden und die anschließende Beobachtung der befragten Personen sein, da Sozialforscher nicht wie Detektive Personen auf "Schritt und Tritt" verfolgen können, von forschungsethischen Gesichtspunkten einmal abgesehen. Diese Vorgehensweise wäre allerdings in experimentellen Situationen möglich. Man könnte etwa die Einstellung von Personen gegenüber Diebstahl ermitteln und sie dann im Experiment unbemerkt beobachten, wenn sie die Möglichkeit haben, sich von der Norm abweichend zu verhalten. Die vorgeschlagenen Forschungsstrategien erfordern natürlich mehr Aufwand als eine einmalige Befragung, auf der die vorliegenden empirischen Untersuchungen basieren. Aber auch bei der gleichzeitigen Erhebung von Daten über Einstellungen und abweichendes Verhalten wäre es möglich, die potentielle Fehlerquelle eventuell dadurch zu eliminieren, daß im Interview eine Frage Berücksichtigung findet, mit der ermittelt werden kann, ob eine Person vor der Praktizierung abweichender Verhaltensweisen andere Einstellungen gehabt hat als zum Zeitpunkt der Befragung. Diejenigen Personen, die angeben, ihre Einstellung nach der übertretung der Norm geändert zu haben, werden dann bei der Auswertung unberücksichtigt gelassen (vgl. dazu Kap. V, 5.1)3. Hinzu kommt, daß es unter bestimmten Bedingungen auch möglich ist, Wechselbeziehungen zwischen Variablen, also z. B. die reziproke Beziehung zwischen dem Verhalten und den Attitüden, an Querschnittsdaten zu überprüfen (Vgl. IV, 6 und V, 8). Wohlgemerkt, die Fehlerquellen können generell immer dann das Ergebnis beeinträchtigen, wenn Kausalhypothesen an Querschnittsdaten überprüft werden, wie es übliche Praxis ist. Es dürfte jedoch vertretbar sein, eine neue Theorie zunächst in weniger aufwendigen Untersuchungen zu testen, zumal die Theorie selbst keine Aussage über Rückbeziehungen macht. 2. Die Brauchbarkeit amtlicher Statistiken zur Hypothesenprüfung und die Validität von Umfragedaten über abweichendes Verhalten
In jüngster Zeit ist die Dunkelzifferproblematik, d. h. daß sich zahlreiche Personen abweichend verhalten, aber unentdeckt bleiben und daher nicht von amtlichen Statistiken erfaßt werden, verstärkt ins Blickfeld der Kriminalsoziologie gerückt. Die hohe Dunkelziffer bei einigen 3 Eine weitere Möglichkeit ist Tittles Strategie, nach dem selbstberichteten zukünftigen abweichenden Verhalten zu fragen. Diese Technik wirft jedoch
auch erhebliche Validitätsprobleme auf. Vgl. Tittle 1977.
2. Die Brauchbarkeit amtlicher Statistiken
47
Delikten hat für die Forschung zur Konsequenz, daß es häufig unmöglich ist, allein anhand offizieller Statistiken verläßliche Angaben über das Ausmaß abweichenden Verhaltens zu machen. Angenommen, die Theorie von Opp soll an Daten über die Attitüden von Schwarzfahrern in öffentlichen Nahverkehrsmitteln überprüft werden. Ein Sozialforscher wählt nun zur überprüfung der Theorie die Technik, eine delinquenzbelastete Gruppe von Schwarzfahrern, gegen die als amtliche notierte "Fahrgeldhinterzieher" Anzeige erstattet wurde, mit einer Kontrollgruppe von Benutzern öffentlicher Verkehrsmittel zu konfrontieren, von denen angenommen wird, daß sie sich nicht abweichend verhalten haben. Bei Berücksichtigung der faktischen übertretung sind dann mehrere Situationen denkbar, die in unterschiedlicher Weise zur irrtümlichen Verwerfung oder Akzeptierung der Theorie verleiten können. a) Die faktische übertretung ist aufgrund hoher Dunkelziffer in der Kontrollgruppe größer als in der "offiziell" delinquenzbelasteten Gruppe. Wenn die Theorie "wahr" ist, müssen die Variablen in der Kontrollgruppe kriminogene Ausprägungen annehmen. Da diese Gruppe als nicht delinquent eingestuft wird, wäre die irrtümliche Falsifikation der Theorie die Folge. Umgekehrt könnte anhand der Daten eine falsche Theorie möglicherweise bestätigt werden. b) Die faktische Delinquenzbelastung ist in beiden Gruppen gleich. Bei einer "wahren" Theorie ergäben die Daten eine Korrelation von null, da dde Variablen in beiden Gruppen die gleichen Werte annehmen würden. Auch in diesem Fall könnte eine Theorie irrtümlicherweise verworfen werden. c) Die faktische Normabweichung ist in der KontroHgruppe geringer. Erst in diesem Fall - der ja keineswegs apriori vorausgesetzt werden kann würde eine "wahre" Theorie auch bestätigt werden, wenn die Unterschiede zwischen den Gruppen genügend groß s~nd. Ist entgegen der Annahme des Sozialforschers allerdings die Delinquenz in der Kontrollgruppe nur geringer, nicht aber gleich null, dann kann das Urteil über die Theorie hinsichtlich der Stärke des &nfiusses der Variablen immer noch verzerrt sein. Es zeigt sich, daß unter Umgehung des Dunkelfeldes keine verläßlichen Angaben über die Falsifikation oder Bestätigung einer Hypothese möglich sind. Die Kontrolle der Dunkelziffer ist eine notwendige Bedingung, um Hypothesen über abweichendes Verhalten einer überprüfung im Lichte empirischer Fakten unterziehen zu können. Eine Möglichkeit zur Erforschung nicht registrierten abweichenden Verhaltens ist die Befragung eines bestimmten Personenkreises 4 • Mit der Frage, inwieweit erfragtes Verhalten ein Indiktor für abweichendes Ver4 Verschiedene Techniken zur Ermittlung der Dunkelziffer und einige Hypothesen, die dabei eine Rolle spielen mögen, werden von Opp diskutiert in Opp 1974, S. 52 ff. Dort finden sich auch zahlreiche bibliographische Hinweise auf relevante Literatur zur Dunkelzifferforschung.
48
Irr.
Probleme der empirischen Überprüfung
halten ist, stellt sich dann jedoch das Problem der Validität der erhobenen Daten5 • Besonders bei schwerwiegenden Delikten dürften Sozialforscher nicht ohne weiteres gültige Antworten auf ihre Fragen nach kriminellen Delikten erhalten, wenn die Probanden negative Konsequenzen befürchten müssen. In den vorliegenden Untersuchungen über die Attitüden von z. B. Schwarzfahrern stellt sich das Problem zwar nicht so kraß, dennoch könnte etwa folgende Hypothese eine Rolle spielen: H 1 : Je geringer die normative Abweichung einer Person und je höher die
perzipierte soziale Stigmatisierung bei der übertretung der Norm, desto größer die Wahrscheinlichkeit, daß eine Person abweichendes Verhalten nicht wahrheitsgemäß angibt.
Sollte die Hypothese empirisch zutreffen, so hätte das für die Validität der Daten erheblich negative Konsequenzen. Personen, die sich trotz geringer normativer Abweichung faktisch abweichend verhalten haben, werden dann eventuell in der Kategorie "gesetzeskonform" erfaßt. Obwohl sie die Norm faktisch übertreten haben, wird ihnen auf der Dimension "übertretung der Norm" der Wert 0 zugeschrieben. Aus einem Falsifikator wird dann bei der Auswertung irrtümlich ein Konfirmator der Theorie. Auch der umgekehrte Effekt kann auftreten. Eine Person hat eine hohe normative Abweichung, jedoch die Norm nie übertreten, gibt aber in der Befragung an, sich häufig abweichend zu verhalten. Es wäre ja möglich, daß diese Person sich an den abweichenden Verhaltensweisen ihrer Bezugsgruppen orientiert und es ihr peinlich ist, dem Interviewer gegenüber gesetzestreues Verhalten anzugeben. Es gilt dann die Hypothese: H9:
Je größer die normative Abweichung einer Person und je größer die
~ perzipierte soziale Stigmatisierung durch die Bezugsgruppe bei einer Be-
folgung der Norm, desto größer die Wahrscheinlichkeit, daß eine Person, die sich faktisch nicht abweichend verhalten hat, dennoch bei einer Befragung abweichendes Verhalten angibt.
Man könnte nun, um die mögliche Fehlerquelle zu eliminieren, den Vorschlag machen, nur diejenigen Personen bei der Auswertung zu berücksichtigen, die eine hohe normative Abweichung haben, nicht aber eine hohe soziale Stigmatisierung bei der Befolgung der Norm befürchten. Umgekehrt werden nur diejenigen Personen mit geringerer normativer Abweichung in den Test miteinbezogen, die keine hohe soziale Stigmatisierung bei der übertretung der Norm perzipieren. Es bestünde allerdings bei dieser Vorgehensweise die Gefahr, daß eine derart ausge5
Vgl. Short und Nye 1974.
2. Die Brauchbarkeit amtlicher Statistiken
49
wählte Teilgruppe zwar möglicherweise die Validität der Antworten erhöhen würde, andererseits aber die Beziehungen zwischen den einzelnen Variablen verzerrt werden könnten. Auf die Realisierung des Vorschlags wurde in den vorliegenden Arbeiten verzichtet. Ein Grund dafür ist auch, daß die den Hypothesen zufolge vermutete Fehlerquelle deshalb möglicherweise eine geringere Rolle spielt, weil die soziale Stigmatisierung durch Bezugsgruppen bei der anonymen Beantwortung eines Fragebogens weniger ausschlaggebend ist. Genauer gesagt kann von folgender Hypothese ausgegangen werden: H3:
Je geringer die perzipierte Wahrscheinlichkeit und Schwere der Sanktion bei wahrheitsgemäßen Angaben über abweichendes Verhalten, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, daß abweichendes Verhalten zugegeben wird8•
Diese Hypothese kann mit H4 verbunden werden: H 4 : Wenn eine Befragung anonym durchgeführt wird, dann wird die perzi-
pierte Wahrscheinlichkeit und Schwere der Sanktion bei wahrheitsgemäßen Angaben über abweichendes Verhalten gering sein.
Aus H3 und H4 kann abgeleitet werden, daß bei einer anonymen Befragung die Wahrscheinlichkeit valider Antworten groß ist, vorausgesetzt, die empirischen Hypothesen H3 und H4 treffen zu. Zudem ist aber besonders bei "Kavaliersdelikten", d. h. wenig stigmatisierten Delikten wie im Fall der drei Untersuchungen der Kap. V - VII, damit zu rechnen, daß die perzipierten negativen Sanktionen sehr gering sind. Zusätzlich kann auch der "Solidaritätseffekt" eine positive Rolle spielen, der möglicherweise dann gegeben ist, wenn Studenten andere Studenten befragen und mit der Befragung Ziele befolgen, die von den befragten Studenten allgemein akzeptiert werden, etwa die Anfertigung einer Dissertation im Unterschied zur kommerziellen Auftragsforschung. Aus den genannten Gründen kann vermutet werden, daß die in dieser Untersuchung erhobenen Daten über abweichendes Verhalten, jedenfalls bezüglich der diskutierten Problematik, hinreichend valide sind7 • 8 Die Variable perzipierte Wahrscheinlichkeit und Schwere der Sanktion müßte wie die erwarteten negativen bzw. positiven Sanktionen eine Produktvariable sein. - Miteinbezogen werden in die Hypothese sollten auch noch die positiven Sanktionen; aus Einfachheitsgründen wurde jedoch auf die Formulierung weiterer möglicherweise relevanter Variablen verzichtet. 7 Das vorwiegend im Rahmen der Kriminalsoziologie diskutierte Problem der Erforschung abweichenden Verhaltens durch Befragung stellt sich nicht nur dort, sondern in nahezu allen empirischen Untersuchungen sozialen Verhaltens mit dem Instrument des Interviews. Da es beinahe eine axiomatische Annahme vieler Soziologen ist, daß soziales Verhalten durch Normen geregelt
4 Diekmann
50
IIr. Probleme der empirischen überprüfung 3. Einige Einwände gegen die Uberprüfung einer Theorie an "Kavaliersdelikten" und "willkürlich" gezogenen Stichproben
Ein Einwand gegen die Vorgehensweise dieser Untersuchung könnte lauten, Kriminalitätstheorien kann man nicht an "harmlosen" Delikten wie "Parken im Halteverbot" oder "Schwarzfahren" etc. überprüfen, sondern nur an Personen, die im "eigentlichen Sinne des Wortes ,kriminell'" geworden sind. Abgesehen davon, daß zunächst ein Kriterium gefunden werden müßte, um zu entscheiden, wann Normverletzungen nicht mehr als "Kavaliersdelikte", sondern als kriminelle Delikte zu bezeichnen sind, kann dem Argument damit begegnet werden, daß offenbar ein bestimmtes Vorverständnis des Begriffs "kriminell" vorschnell mit der Klasse von Verhaltensweisen identifiziert wird, die die abhängige Variable der Theorie beinhaltet. Die Theorie beansprucht jedoch, alle Arten abweichenden Verhaltens erklären zu können, auch die Verletzung bestimmter Rechtsnormen, die man in der Alltagssprache gewöhnlich nicht als kriminelles Delikt bezeichnen würde. Entscheidend ist nicht das Vorverständnis von Begriffen, sondern die Klasse von Verhaltensweisen, auf die die Begriffe der Theorie - nominal definiert - verweisen. Wenn eine Kriminalitätstheorie mit dem Anspruch formuliert worden ist, sowohl Mord oder Bankraub als auch unerlaubtes Parken erklären zu können, dann kann die Theorie an allen Anwendungsfällen überprüft werden - gleich ob die Delikte üblicherweise als "kriminell" oder als "harmlos" eingestuft werden. Man könnte darüber hinaus die überprüfung der Theorie an weniger schwerwiegenden Delikten sogar als besonders "harten" Test bezeichnen. Bei häufig begangenen "harmlosen" Normverletzungen ist anzunehmen, daß die Werte der unabhängigen Variablen nicht-konformer gegenüber den Werten konformer Personen weniger deutlich hervortreten als bei Delikten, die sehr stark stigmatisiert werden. Der Abstand der Skalenpunkte auf den Dimensionen der unabhängigen Variablen ist bei Schwarzfahrern und Nicht-Schwarzfahrern vermutlich geringer als z. B. bei Bankräubern und Nicht-Bankräubern. Eine Theorie, die "empwird, können Sozialforscher ihre Probanden stets in Konflikt bringen zwischen akzeptierter Norm und der wahrheitsgemäßen Angabe praktizierter Verhaltensweisen. Man denke etwa an Umfragen über Lesegewohnheiten, Theaterbesuche oder "Körperkultur". Es ist fraglich, ob beispielsweise ein Studienrat, der die Normen der oberen Mittelschicht akzeptiert, aber im Monat zwanzig Kriminalromane liest und keine andere Literatur, nie ins Theater geht und sich - weit unter dem Durchschnitt der Bundesbürger - nur einmal pro Woche die Zähne putzt, dies bei einer Befragung tatsächlich angibt. Wer daher argumentiert, daß es unmöglich sei, mit einem Fragebogen valide Daten über abweichendes Verhalten zu erheben, der muß sich konsequenterweise grundsätzlich gegen den Fragebogen als Instrument der Sozialforschung wenden.
3. Einige Einwände gegen die Überprüfung von Theorien
51
findlich" genug ist, zwischen den erstgenannten Gruppen differenzieren zu können, ist möglicherweise um so eher in der Lage, die Attitüden von kriminellen Personen im Falle schwerer Kriminalität von den Attitüden loyaler Personen zu unterscheiden. Ein weiteres Argument gegen die Teststrategie der vorliegenden Studie besagt, der Test einer Theorie liefere ein verzerrtes Bild, wenn die überprüfung nicht an einer Zufalls- oder repräsentativen Stichprobe vorgenommen wird. Das Argument beruht offenbar auf einem Mißverständnis über die Vorgehensweise empirischer Sozialforschung beim Test von Theorien. Theorien machen Aussagen über eine unendliche Menge von Objekten. Die Grundgesamtheit der Anwendungsfälle einer Theorie ist raum-zeitlich nicht begrenzt; daher kann aus der Grundgesamtheit keine Zufallsstichprobe gezogen werden. Die Definition einer Zufallsstichprobe besagt ja, daß jedes Element der Grundgesamtheit die gleiche, von null verschiedene Chance haben muß, in die Stichprobe aufgenommen zu werden. Diese Bedingung ist natürlich bei Objekten, über die die Theorie Aussagen machen kann, die aber erst in der Zukunft auftreten, nicht gegeben. Somit ist es nicht möglich, auf alle Anwendungsfälle der Theorie bezogene Zufallsstichproben zu konstruieren8 • Ein Physiker beispielsweise, der das Gravitationsgesetz überprüfen will, wird auch nicht daran denken, eine repräsentative Auswahl von Kugeln eine schiefe Ebene hinab zurollen. An jeder beliebigen, willkürlich gezogenen Stichprobe kann das Gesetz überprüft werden. Einige Sozialwissenschaftler scheinen dagegen Zufallsstichproben für theoretische Zwecke (für deskriptive Studien sind Zufallsstichproben natürlich sinnvoll) überzubewerten. Von einem Test der Theorie kann immer dann gesprochen werden, wenn diese sich in Situationen bewähren muß, in denen sie potentiell falsifizierbar ist. Das aber ist dann der Fall, wenn Theorien - wie in dieser Studie - an Stichproben überprüft werden, die zum Anwen8 Daher verbietet sich auch streng genommen die Anwendung statistischer Signifikanztests (vgl. dazu Galtung 1973, S. 358 ff.). Da die Daten der drei hier präsentierten Untersuchungen nicht auf Zufallsstichproben basieren, wurde davon abgesehen, die berechneten Koeffizienten auf ihre Signifikanz hin zu überprüfen. Beziehen sich die Stichproben beim Test von Hypothesen vorwiegend auf bestimmte sozial homogene Gruppen - etwa Studenten - so kann berechtigterweise eingewandt werden, daß sich beim Test an anderen sozialen Gruppen möglicherweise Unterschiede ergeben. Dies ist jedoch ein anderes Argument, daß auf den Punkt abzielt, daß beim Test an sozial homogenen Gruppen bestimmte relevante Variablen stets konstant gehalten werden. Ob diese Vermutung zutrifft, kann nur dadurch entschieden werden, daß möglichst viele weitere Überprüfungen in den verschiedenartigsten sozialen Gruppen arrangiert werden.
52
II!. Probleme der empirischen Überprüfung
dungsbereich der Theorie gehören und über die somit aus der Theorie abgeleitete Aussagen formulierbar sind, die mit den erhobenen Daten bzw. mit den "Basissätzen" konfrontiert werden können.
4. Probleme beim Test der "kollektiven" Version der Theorie In Kap. II, 3.3 wurde darauf hingewiesen, daß es sich bei den Hypothesen zweiter Stufe der Opp-Theorie um Merkmalsbeziehungen auf der kollektiven Ebene sowie um "gemischte" Hypothesen handelt, die die kollektive- oder Aggregatebene mit der individuellen Ebene verbinden. Bei der überprüfung dieser beiden Typen von Hypothesen ergeben sich zwar keine prinzipiellen Probleme, jedoch ist der forschungstechnische Aufwand enorm. Die Schwierigkeiten der Mehrebenenanalyse seien kurz skizziert: Um Zusammenhänge zwischen den kollektiven Merkmalen überprüfen zu können, müßten die Variablenwerte einer genügend großen Zahl von "Kollektiven" bekannt sein. Da beispielsweise der Grad der Stigmatisierung gegenüber Schwarzfahrern in Hamburg in keiner amtlichen Statistik verzeichnet ist, müßte ein an der überprüfung der Theorie interessierter Soziologe den Variablenwert durch eigene aufwendige Forschungen ermitteln, d. h. er müßte in Hamburg z. B. eine repräsentative Stichprobe auswählen und die Personen befragen, in welchem Grade sie Schwarzfahrer stigmatisieren. Aus diesen Angaben könnte ein Mittelwert berechnet werden, der als Schätzung für den Stigmatisierungsgrad gegenüber Schwarzfahrern dienen kann. Dabei zu berücksichtigen ist natürlich auch noch der Stichprobenfehler für die Schätzung des Mittelwerts der Grundgesamtheit aller Mitglieder des "Kollektivs" Hamburg 9 • Ähnlich müßte in anderen Städten und in bezug auf die anderen Variablen vorgegangen werden, um ein für die statistische Auswertung genügend großes SampIe zu erhalten. Zum Test des Zusammenhangs zwischen dem Stigmatisierungsgrad und dem Grad der Anzeigeneigung in einem Kollektiv etwa müßten die Variablenwerte in mindestens vierzig Städten bekannt sein. Bei anderen Normverletzungen als Schwarzfahren ist die Analyse eventuell noch komplizierter, da die Rechtsnormen sich häufig auf das Rechtsgebiet eines Staates beziehen und zur überprüfung kollektiver Merkmalsbeziehungen zwischenstaatliche Vergleiche erforderlich sind. 9 Noch aufwendiger ist die Ermittlung der Aufklärungsquote, da diese auf die Gesamtzahl aller verübten Delikte bezogen ist. In jedem Kollektiv müßten zur Ermittlung der Aufklärungsquote zuvor Dunkelzifferuntersuchungen vorgenommen werden, da die Zahl der der Polizei bekannt gewordenen Fälle ja keineswegs mit dem Umfang abweichenden Verhaltens identisch ist und somit die der amtlichen Statistik zu entnehmenden Quote für die Zwecke der Untersuchung ungeeignet wäre, es sei denn man geht anders als in der vorliegenden Fassung der Theorie von der amtlich bekannt gegebenen "offiziellen" Aufklärungsquote aus.
4. Probleme beim Test der "kollektiven" Version der Theorie
53
Völlig analoge Probleme entstehen bei der überprüfung "gemischter" Hypothesen, da hier die Varianz der als Kontextmerkmale explizierten Kollektivmerkmale (vgl. H, 3.3) innerhalb eines Kollektivs natürlich null ist, so daß ebenfalls die Erhebung der Variablenwerte in zahlreichen Kollektiven Voraussetzung der empirischen überprüfung ist. Wie man sich demnach vorstellen kann, wäre die überprüfung der Theorie zweiter Stufe in der ursprünglichen Fassung ungeheuer aufwendig und würde im Rahmen einzelner Untersuchungen mit begrenztem Etat aus forschungsökonomischen Gründen von vornherein ausscheiden. Die bisher durchgeführten Untersuchungen haben sich daher aus guten Gründen darauf beschränkt, die aus theoretischen Erwägungen heraus zweckmäßige Modifikation der Theorie - wie in H, 3.3 ausgeführt - auf der individuellen Ebene einem Test zu unterziehen.
Kapitel IV
Das statistische Verfahren der Kausalanalyse Im Abschnitt I, 2 wurde darauf aufmerksam gemacht, daß Theorien mit mehreren Variablen als Kausalmodelle formuliert und in Gleichungen "übersetzt" werden können. Die Schätzung der empirischen Parameter oder Koeffizienten der Gleichungen an empirischen Daten und somit die überprüfung der von der Theorie behaupteten Variablenbeziehungen ist mit Hilfe der Pfad- und Regressionsanalyse möglich. Mittlerweile hat sich für dies und verwandte Verfahren zur Analyse nichtexperimentell gewonnener Daten der etwas zu anspruchsvolle Begriff "Kausalanalyse" eingebürgert. Wenn im folgenden von diesem Begriff Gebrauch gemacht wird, so ist damit nicht mehr gemeint als diejenigen multivariaten statistischen Verfahren, die zur "Familie" der Regressionsanalyse zu zählen sind1 • Wir wollen in diesem Abschnitt die genannten Verfahren, die in der empirischen Sozialforschung zunehmend an Popularität gewinnen, aber in der empirischen Rechtssoziologie noch keineswegs zum Allgemeingut der Sozialforschung gehören, etwas genauer darstellen, um die Kritik und das Verständnis der in Kapitel V, VI und VII präsentierten empirischen Resultate zu fördern. Dabei läßt es sich aus Raumgründen nicht vermeiden, daß die Kenntnis der elementarsten statistischen Begriffe vorausgesetzt wird. Diese sind jedoch in jedem einführenden StatistikText (z. B. Benninghaus 1974) nachlesbar. 1. Die "Vbersetzung" von Kausalmodellen in die "Sprache" linearer Gleichungssysteme
Gewissermaßen haben wir es mit zwei Stufen eines übersetzungsprozesses zu tun: Zunächst werden Theorien wie in Kap. II in Kausalmodelle 1 Im wesentlichen handelt es sich dabei um die vorwiegend in der Ökonometrie angewandte multivariate Regressionsanalyse, die von dem Biometriker S. Wright schon frühzeitig entwickelte Pfadanalyse (vgl. Wright 1934) und das von Simon und Blalock vorgeschlagene Verfahren der überprüfung von Kausalbeziehungen mittels Partialkorrelationen (Blalock 1964). Eine leicht verständliche Einführung in die multivariate Pfad- und Regressionsanalyse ist Opp und Schmidt 1976. Etwas weiterführend sind die Texte von Duncan 1975 und Wonnacott und Wonnacott 1970.
1. Die "übersetzung" von Kausalmodellen
55
übersetzt. Sodann werden die Modelle in der Sprache linearer Gleichungen formuliert. Bei beiden Stufen des übersetzungsprozesses wäre jeweils zu fragen, ob die übersetzung adäquat ist. Im folgenden werden wir uns mit der zweiten Stufe des übersetzungsprozesses befassen. Als Beispiel mag das Modell mit drei Variablen in Abbildung 6 dienen.
Abbildung 6 Residuum Grad der normativen Abweichung
Ra
X,
Grad der erwarteten negativen SankX2 tionen
Grad der Ubertretung
X3
Die Abbildung zeigt einen Ausschnitt der in Kapitel 11 diskutierten Theorie. Statt vom Grad der Befolgung ist in dem Modell vom Grad der übertretung die Rede. Die Umkehrung der Skalierungsrichtung der abhängigen Variablen Xa hat zur Folge, daß auch die Vorzeichen der vermuteten Kausaleinflüsse die Richtung wechseln, wie aus der Abbildung zu ersehen ist. Die beiden Koeffizienten ba1 und ba2 sind - wie noch zu zeigen ist standardisierte partielle Regressionskoeffizienten. Der erste Index steht dabei für die abhängige, der zweite Index für die unabhängige Variable. Grob gesprochen können die Koeffizienten als Maß für die Stärke des Effekts, den die betreffende unabhängige Variable auf die abhängige Variable ausübt, interpretiert werden. Die in dem Pfeildiagramm ausgedrückte Kausalstruktur kann folgendermaßen als lineare Gleichung geschrieben werden: (1)
Die abhängige Variable ist dabei eine Linearkombination aus den beiden unabhängigen Prädiktoren oder prädeterminierten Variablen 2 • Aus der Gleichung ist auch ersichtlich, daß die b-Koeffizienten ein Maß für 2 Die unabhängigen Variablen der "untersten Stufe", die von keiner der Modellvariablen beeinflußt werden, nennt man auch exogene Variablen. Alle anderen Modellvariablen heißen endogene Variablen. Da wir von standardisierten Variablen ausgehen (dazu weiter unten) ist es nicht erforderlich, in Gleichung (1) eine Konstante aufzuführen. Diese ist im Falle standardisierter Variablen stets null (vgl. Wonnacott und Wonnacott 1970, S. 150).
56
IV. Das statistische Verfahren der Kausalanalyse
den Einfluß der jeweiligen unabhängigen Variablen auf die abhängige Variable unter Konstanz der anderen unabhängigen Variablen darstellen. Hat b3l z. B. den Wert 0,5 so bedeutet dies, daß bei einer Erhöhung von Xl um eine Skaleneinheit X3 um 0,5 Einheiten zunimmt, wenn der Wert von X2 unverändert bleibt. Gleichung (1) ist ein Ausdruck für eine deterministische Kausalbeziehung. Es ist jedoch kaum anzunehmen, daß der prognostizierte Wert mit dem tatsächlich gemessenen X3-Wert exakt übereinstimmt. In der Praxis werden sich vielmehr im allgemeinen erhebliche Prognose schwankungen ergeben. Um dieser Tatsache gerecht zu werden, führt man in Gleichung (1) einen Fehlerterm oder Residuum ein, das in Abbildung 6 durch Ra symbolisiert wird. Vermutet wird, daß sich jeder gemessene X3-Wert einer Person i (X3i) additiv aus dem prognostizierten Wert der Variablen Xi (dem Schätzwert) und einer Fehlergröße zusammensetzt. Gleichung (1) kann daher für den nicht-deterministischen Fall folgendermaßen erweitert werden: (2)
Der Residualkoeffizient b3a ist ein Ausdruck für die Größe des Einflusses der Fehlervariablen. Den Wert des Residuums Ra kann man sich als Ergebnis von unbekannten, nicht im Modell enthaltenen Variablen, von Meßfehlern und von Zufallseinflüssen vorstellen. Gleichung (2) wird auch als Strukturgleichung des Modells bezeichnet. Generell kann man für jede abhängige Variable eines Modells eine Strukturgleichung schreiben. Eine zentrale Annahme des statistischen Verfahrens lautet, daß das Residuum mit den prädeterminierten Variablen unkorreliert ist. Ra darf also weder mit Xl noch mit X2 korreliert sein. Diese Annahme ist keine Konvention, sondern eine empirische A-priori-Vermutung, die von den Daten erfüllt sein muß. "Inhaltlich" gesehen ist die Annahme ein Ausdruck dafür, daß unbekannte, nicht im Modell enthaltene Variablen, die mit X3 korreliert sind, nicht gleichzeitig mit den unabhängigen Variablen Xl und X2 korreliert sein dürfen. Besteht entgegen der Annahme eine Korrelation zwischen dem Residuum und den unabhängigen Variablen, so sind - abhängig von der Stärke der Korrelation - über- oder Unterschätzungen der b-Koeffizienten die Konsequenz.
2. Die Schätzung der Regressions- oder Pfadkoeffizienten
57
2. Die Schätzung der Regressionsoder Pfadkoeffizienten an empirischen Daten Die b-Koeffizienten in Gleichung (1) und (2) sind empirische Parameter, die anhand von erhobenen Daten geschätzt werden können. In der Pfadanalyse berechnet man die Koeffizienten nach der "Durchmultiplikationsmethode" aus den bivariaten Korrelationskoeffizienten für jede Kombination von zwei Modellvariablen. Es wird sich zeigen, daß die derart berechneten Pfadkoeffizienten identisch sind mit standardisierten partiellen Regressionskoeffizienten. Da die pfadanalytische Methode jedoch anschaulicher und leichter nachvollziehbar ist, wollen wir hier die pfadanalytische Berechnungsweise an unserem Beispiel mit drei Variablen beschreiben. Versieht man Gleichung (2) mit dem Personenindex i, d. h. formuliert man die Gleichung für jede untersuchte Person i, so erhält man folgenden Ausdruck: (3)
Gleichung (3) wird nun mit den prädeterminierten Variablen Xli und nacheinander "durchmultipliziert", für alle Personen i = 1,2 ... N aufsummiert und schließlich durch N, die Anzahl der untersuchten Personen, dividiert. Das Resultat sind die Gleichungen (4) und (5): X2i
N
(4)
~ L XH XSi =
bS1
i=1
N
(5)
~ L X2i XSi =
bS1
i=1
N
N
N
i=1
i=1
i=1
~ L X2 U + bS2 ~ L Xii X2i + b3a ~ L Xu Rai N
N
N
i=1
i=1
i=1
~ L Xli X2i + bS2 ~ L X22i + bSa ~ L X2i Rai
Um die Gleichungen (4) und (5) zu vereinfachen, erinnern wir an die Formel für den bivariaten Pearson-Korrelationskoeffizienten3 : N (6)
rxy
3 xy
i= 1
= - - = --------~.~ ~~
3 Diese oder ähnliche, d. h. entsprechend umgeformte Formeln des PearsonKorrelationskoeffizienten finden sich in nahezu jedem einführenden StatistikText. Vgl. z. B. die sehr verständliche Einführung in die deskriptive Statistik von Benninghaus 1974, S. 223.
IV. Das statistische Verfahren der Kausalanalyse
58
Ferner soll angenommen werden, daß die gemessenen Rohwerte zuvor
standardisiert worden sind, d. h. von jedem Meßwert wurde der Mittel-
wert subtrahiert, und das Resultat durch die Standardabweichung dividiert. Im Falle standardisierter Variablen ist der Mittelwert Mx bzw. My null und die Standardabweichung Sx bzw. Sy hat einen Wert von eins. Setzt man diese Werte in Formel (6) ein, ergibt sich für die Korrelation zwischen den Variablen X und Y: N
(7)
rxy =
~
L XiYi
i=l
Da die Korrelation einer Variablen mit sich selbst immer eins ist, erhält man für den speziellen Fall X = Y:
L N
(8)
r xx
= ~
X2 i = 1
i= 1
Wendet man die Formeln (7) und (8) auf die Gleichungen (4) und (5) an, vereinfachen sich die beiden Gleichungen wie folgt: (9) (10)
Da ja gemäß der diskutierten Annahme das Residuum mit den prädeterminierten Variablen unkorreliert ist, werden die beiden unterstrichenen Produkte Null. Wir erhalten dann zwei Gleichungen mit den zwei unbekannten b-Koeffizienten, die nach der Auflösung der Gleichungen aus den Korrelationen berechnet werden können. Die Auflösungen der Gleichungen nach den Unbekannten b3t und b32 (11) und (12) sind identisch mit den Formeln für die standardisierten partiellen Regressions-
koeffizienten4 :
4 Bezeichnen wir die in Standardwerte transfonnierten Rohwerte als Skalenpunkte einer Standardskala, so ist der standardisierte Koeffizient ein Maß für den Effekt in Einheiten der Standardskala. Der absolute Wert des standardisierten Koeffizienten ist normalerweise dann hoch, wenn die Meßwerte nur in geringem Maße um die Regressionsgerade streuen; d. h. die Prognose ist dann relativ genau. Der standardisierte Koeffizient ist somit eher ein Maß für die Güte der mit der geprüften Hypothese möglichen Vorhersage oder anders ausgedrückt ein Maß für die Erklärungskraft der Variablen. Der unstandardisierte Koeffizient mißt dagegen die Stärke des Effekts (die Steigung der Regressionsgeraden) in Einheiten der Rohwertskala. Der standardisierte Koeffizient b2t kann folgendermaßen in den unstandardisierten
2. Die Schätzung der Regressions- oder Pfadkoeffizienten (11)
b31
(12)
b32
59
r13 - r12 r23 1 - ,.212 r23' r12 r13 1 - r212
Die standardisierten Koeffizienten liegen im bivariaten Fall (Beziehung zwischen zwei Variablen) im Bereich zwischen + 1 und -1. Hat der Koeffizient im bivariaten Fall einen Wert von -1, so handelt es sich um einen perfekten negativen Zusammenhang; ist der Koeffizient + 1, handelt es sich um einen perfekten positiven Zusammenhang. Kein Effekt liegt vor, wenn der Koeffizient null ist. Bei multivariater Analyse (drei oder mehr Variablen wie in Abb. 6) bewegen sich die Werte normalerweise im Bereich zwischen + 1 und - 1. In seltenen Fällen können jedoch auch größere Werte als + 1 (bzw. kleinere Werte als -1) auftreten. Wegen hoher Multikollinearität (dazu weiter unten) sind diese allerdings in der Regel weniger verläßlich. ' Generell entsprechen die nach der "Durchmultiplikationsmethode" berechneten Pfadkoeffizienten denjenigen partiellen Regressionskoeffizienten, die man erhält, wenn in der Regressionsgleichung die unabhängigen Variablen der "durchmultiplizierten" Strukturgleichung berücksichtigt werden. Da Regressionskoeffizienten nach der Methode der "kleinsten Quadrate" berechnet werden, d. h. es wird gefordert, daß die Summe der Quadrate des Fehlers oder Residuums bzw. der Differenz aus Schätzwert Koeffizienten b*21 umgerechnet werden: b*21 = b 21 . s2/s1' wobei sl und s2 die Standardabweichungen sind. Üblicherweise wird empfohlen, beim Vergleich unterschiedlicher Variablen standardisierte KoeHfizienten, beim Vergleich gleicher Variablen in unterschiedlichen Stichproben jedoch unstandardisierte Koeffizienten zu verwenden (vgl. Blalock 1968, S. 189 H.). Im empirischen Teil der Arbeit (Kap. V - VII) werden nur die standardisierten Koeffizienten erwähnt. Dies hat folgende Gründe. Erstens werden vor allem die Effekte unterschiedlicher Variablen verglichen, z. B. der Einfluß der Variablen normative Abweichung im Vergleich mit den negativen Sanktionen. Zweitens geht es bei Theorientests in erster Linie um die "Eklärungskraft" von Variablen, d. h. um die Prognosegüte. Drittens interessiert beim Vergleich von Stichproben das relative Gewicht von Variablen, d. h. wir fragen, ob in der ersten Stichprobe z. B. die normative Abweichung einen höheren Wert hat als die negativen Sanktionen im Vergleich zur zweiten Stichprobe. Viertens geben die unstandardisierten Koeffizienten wenig Aufschluß beim Vergleich von Stichproben, wenn die gleichen Variablen mit unterschiedlichen Indikatoren gemessen werden - wie z. B. in der Schwarzfahrerstudie im Vergleich zur Rauchverbot-Untersuchung. Die genannten Punkte beziehen sich auf quantitative Vergleiche. Beim qualitativen Test von Hypothesen ergeben sich keine Probleme, welche Koeffizienten vorzuziehen sind, da standardisierte und unstandardisierte Koeffizienten stets das gleiche Vorzeichen haben.
IV. Das statistische Verfahren der Kausalanalyse
60
und gemessenem Wert ein Minimum annimmt, trifft dies Charakteristikum auch auf die in der beschriebenen Weise abgeleiteten b-Koeffizienten zu. Geometrisch kann man sich daher die b-Koeffizienten im DreiVariablen-Fall als die Steigungsparameter einer Ebene vorstellen, die nach dem Kriterium der Minimierung der Summe der Fehlerquadrate einem Punkteschwarm von Meßwerten in einem dreidimensionalen Raum angepaßt wird. Anschaulich geht der Sachverhalt - demonstriert an unserem Beispiel - aus Abbildung 7 hervor: Abbildung 7
X3
(Ubertretung)
X1
(Normat. Abweichung)
"Meßwerteschwarm"
X2 (Negat. Sanktionen)
Die schraffierte Fläche, die im Fall standardisierter Variablen durch den Nullpunkt des Koordinatensystems verläuft, ist die nach dem Kriterium der "kleinsten Quadrate" an den Punkteschwarm angepaßte Regressionsfläche. An den Koordinaten Xl, X2 und X3 werden die jeweiligen Skalenwerte der drei Variablen in Standardeinheiten abgetragen. Wie aus der Abbildung hervorgeht, sind die beiden Koeffizienten b3l und bS2 als Steigung der Ebene in Xl bzw. in X2-Richtung zu interpretieren. Die geometrische Interpretation zeigt also sehr anschaulich, daß die b-Koeffizienten als Steigungsparameter einer Schar von Geraden und somit als Maß für die Stärke eines kausalen Effekts unter Konstanthaltung der Werte der anderen unabhängigen Variablen gedeutet werden können. Diese überlegungen gelten auch allgemein für den - graphisch nicht mehr darstellbaren - Fall von mehr als drei Variablen. Gemäß unserem Beispiel übt die normative Abweichung einen positiven und der Sanktionsgrad einen negativen Effekt auf übertretung aus.
3. Erklärte und unerklärte Varianz
61
Sollte die Theorie (in ihrer linearen Fassung) zutreffen, müßten wir für b3l einen positiven und für b32 einen negativen Wert errechnen. Stimmt das erwartete Vorzeichen auch nur in einem Fall nicht mit dem tatsächlichen Vorzeichen des Koeffizienten überein, kann die Theorie zunächst als widerlegt gelten. Weiterhin wird man die Theorie zurückweisen, wenn ein Koeffizient für eine vermutete Kausalbeziehung null oder nahe null ist. Was heißt nun "nahe null"? übliche Praxis ist es, mangels eines besseren Kriteriums die etwas willkürlich anmutende "Daumenregel" zu formulieren, daß der Betrag eines b-Koeffizienten mindestens den Wert von 0,10 haben sollte, damit eine Hypothese als vorläufig bestätigt gelten kann. Allgemein lautet die Regel: Eine Beziehung gilt dann als bestätigt, wenn das Vorzeichen des Koeffizienten der Richtung der Hypothese entspricht und wenn der Betrag> 0,10 ist. Angenommen für unser Beispiel ergäben sich die Werte b3l = 0,17 und b32 = -0,12. Nach der "Daumenregel" könnte das Modell dann als bestätigt akzeptiert werden5 •
3. Erklärte und unerklärte Varianz Die Varianz der abhängigen Variablen läßt sich als Summe der erklärten und unerklärten Varianz darstellen. Dies wird deutlich, wenn man Gleichung (3) mit der abhängigen Variablen multipliziert, über die Personen summiert und wie gezeigt vereinfacht. Das Resultat ist Gleichung (13): r3B = 1
Gesamtvarianz von
(13)
X3 = 1
+ b 32r 23 durch Xl und X 2 erklärte Varianz = R2 b3lr l3
+
b 3ar 3a unerklärte Varianz = b 23a oder l-Rz
Da die Variablen standardisiert sind, hat die Gesamtvarianz von X3 den Wert 1. Die Summe der beiden ersten Produkte auf der rechten Seite der Gleichung entspricht genau dem Quadrat des multiplen Determinationskoeffizienten, der gewöhnlich mit R bzw. in dem Beispiel präziser mit R3.l2 bezeichnet wird. R bzw. R2 kann nur positive Werte im Bereich R 1 annehmen. R2 ist - wie sich nachweisen läßt - ein Maß für
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