Bilder des Privaten: Das fotografische Interieur in der Gegenwartskunst [1. Aufl.] 9783839417782

Der private Raum ist seit den 1980er-Jahren wieder ein zentrales Bezugsfeld in der Kunst. Es sind zuvorderst Fotografien

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German Pages 358 Year 2014

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Table of contents :
Inhalt
Einleitung
1 Das fotografische Interieur in der Gegenwartskunst
2 Die kulturwissenschaftliche Perspektive der Studie
3 Aufbau der Untersuchung und Struktur der Abhandlung
4 Stand bisheriger Forschungen und Reflexionen
5 Quellenlage
1 Psychische Innenräume
1.1 Geschützte Selbstreflexion
1.2 Räume der Melancholie
1.3 Öffnungen zur Außenwelt
1.4 Introspektionen des Subjekts
2 Räume der Kindheit und Adoleszenz
2.1 Räume eigener Erfahrung
2.2 Familiäre Konflikträume
2.3 Soziokulturelle Orientierung
2.4 Emanzipation vom Elternhaus
2.5 Sozialisierung im Privaten
3 Familiäre Räume
3.1 Familiäre Ordnung im (Bild-)Raum
3.2 Bedrohung des familiären Raums
3.3 Hausgemeinschaft (er-)leben
4 Räume der Repräsentation
4.1 Kritik repräsentativer (Bild-)Räume
4.2 Historische Geltungsansprüche
4.3 Distinktionen über Räume
5 Geschlechterverhältnisse im Raum
5.1 Geschlechterordnung im (Bild-)Raum
5.2 Interferenzen zwischen Arbeits- und Wohnwelten
5.3 Geschlechtsspezifische Hierarchisierungen
6 Die Räume der ‚Anderen‘
6.1 Vereinnahmung des ‚Anderen‘
6.2 Selbstentwurf im Schutz des Privaten
6.3 Vertrautes in fremden Räumen
6.4 Das Eigene behaupten
7 Sehnsuchtsorte und Krisenräume
7.1 Sehnsüchte im (krisenhaften) Alltag
7.2 Räume verhinderter Intimität
7.3 Krisen im privaten Idyll
7.4 Der unheimliche Raum
7.5 (De-)Konstruktionen des Heims
8 Räume der Erinnerung
8.1 Individuelle Erinnerungsräume
8.2 Raum als ‚kulturelles Gedächtnis‘
8.3 Vergegenwärtigungen von Herkunft
Schlussbetrachtungen
1 Das Interieur als Fotografie
2 Themen und Motive des fotografischen Interieurs
3 Raumfragen in der Gegenwartskultur
4 Gattungen in der Kunst der Gegenwart
5 Bilanz der kulturwissenschaftlichen Betrachtung
Bildnachweis
Literaturverzeichnis
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Bilder des Privaten: Das fotografische Interieur in der Gegenwartskunst [1. Aufl.]
 9783839417782

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Lars Spengler Bilder des Privaten

Image | Band 23

Lars Spengler (Dr. phil.) ist freier Autor und Kurator. Er war wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Bildende Kunst und Kunstwissenschaft an der Universität Hildesheim. Seine Arbeits- und Forschungsschwerpunkte sind Kunst und Fotografie im 20. Jahrhundert.

Lars Spengler

Bilder des Privaten Das fotografische Interieur in der Gegenwartskunst

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2011 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Tina Barney: Mom’s Dinner Party, 1982. © Tina Barney, Courtesy Janet Borden, Inc., New York Lektorat: Barbara Lauterbach, Sara Strüßmann Satz: Lars Spengler Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1778-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Einleitung | 7

1 2 3 4 5

Das fotografische Interieur in der Gegenwartskunst | 7 Die kulturwissenschaftliche Perspektive der Studie | 12 Aufbau der Untersuchung und Struktur der Abhandlung | 15 Stand bisheriger Forschungen und Reflexionen | 24 Quellenlage | 35

1

Psychische Innenräume | 37

1.1 1.2 1.3 1.4 2

2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 3

3.1 3.2 3.3 4

4.1 4.2 4.3 5

5.1 5.2 5.3

Geschützte Selbstreflexion | 39 Räume der Melancholie | 46 Öffnungen zur Außenwelt | 52 Introspektionen des Subjekts | 56 Räume der Kindheit und Adoleszenz | 59

Räume eigener Erfahrung | 63 Familiäre Konflikträume | 69 Soziokulturelle Orientierung | 71 Emanzipation vom Elternhaus | 90 Sozialisierung im Privaten | 92 Familiäre Räume | 95

Familiäre Ordnung im (Bild-)Raum | 98 Bedrohung des familiären Raums | 108 Hausgemeinschaft (er-)leben | 115 Räume der Repräsentation | 117

Kritik repräsentativer (Bild-)Räume | 120 Historische Geltungsansprüche | 127 Distinktionen über Räume | 133 Geschlechterverhältnisse im Raum | 135

Geschlechterordnung im (Bild-)Raum | 136 Interferenzen zwischen Arbeits- und Wohnwelten | 142 Geschlechtsspezifische Hierarchisierungen | 153

6

6.1 6.2 6.3 6.4 7

7.1 7.2 7.3 7.4 7.5 8

8.1 8.2 8.3

Die Räume der ‚Anderen‘ | 157

Vereinnahmung des ‚Anderen‘ | 158 Selbstentwurf im Schutz des Privaten | 168 Vertrautes in fremden Räumen | 177 Das Eigene behaupten | 186 Sehnsuchtsorte und Krisenräume | 189

Sehnsüchte im (krisenhaften) Alltag | 190 Räume verhinderter Intimität | 207 Krisen im privaten Idyll | 227 Der unheimliche Raum | 252 (De-)Konstruktionen des Heims | 263 Räume der Erinnerung | 265

Individuelle Erinnerungsräume | 268 Raum als ‚kulturelles Gedächtnis‘ | 296 Vergegenwärtigungen von Herkunft | 309

Schlussbetrachtungen | 311

1 2 3 4 5

Das Interieur als Fotografie | 311 Themen und Motive des fotografischen Interieurs | 314 Raumfragen in der Gegenwartskultur | 317 Gattungen in der Kunst der Gegenwart | 321 Bilanz der kulturwissenschaftlichen Betrachtung | 323

Bildnachweis | 325 Literaturverzeichnis | 327

Einleitung

1

D AS

FOTOGRAFISCHE I NTERIEUR

IN DER

G EGENWARTSKUNST

Fotografien privater Räume, die im kunstgeschichtlichen Sinne als Interieurs bezeichnet werden können, sind seit Anfang der 1980er Jahre im westlichen ‚Kunstbetrieb‘1 auffallend präsent. Die traditionell enge Bindung von Interieurs an „die Welt des Alltäglichen und Privaten, des Gegenständlichen und Zuständlichen“2 wird in fotografischen Raumbildern noch durch die besondere Nähe des Mediums zur Wirklichkeit gesteigert. Gemäß der klassischen Aufgabenteilung zwischen den Bildgattungen markiert auch das fotografische Interieur in der Gegenwartskunst den Ort, an dem der Einzelne3 sich selbst und der Welt

1

Der Begriff ‚Kunstbetrieb‘ bezeichnet hier das gesamte Feld der Produktion, Vermittlung, Vermarktung und Rezeption von Kunst und soll nicht zuvorderst ökonomische Strukturen in diesen Bereichen betonen oder implizit kritisieren.

2

Kemp, Wolfgang: „Beziehungsspiel. Versuch einer Gattungspoetik des Interieurs“. In: Schulze, Sabine (Hg.): Innenleben. Die Kunst des Interieurs. Vermeer bis Kabakov (anlässlich der gleichnamigen Ausstellung, Städelsches Kunstinstitut und Städtische Galerie, Frankfurt a.M., 24.09.199810.01.1999). Ostfildern: Hatje Cantz 1998, S. 17-29: 17.

3

Der Autor ist sich der Bedeutung von Sprache für die (Re-)Produktion von Geschlechterdifferenzen und -hierarchien bewusst. Zugunsten der besseren Lesbarkeit verzichtet er in der folgenden Abhandlung aber darauf, immer auszuweisen, dass sich Personenbezeichnungen im generischen Maskuli-

8 | B ILDER DES P RIVATEN

begegnet. 4 In großer Vielfalt reflektieren die fotografischen Einzelbilder und Bildserien den privaten Raum als alltäglichen Lebensbereich und als kulturelles Vorstellungsbild, als Metapher für die psychische Innenwelt der Bewohner oder als Medium der Erinnerung. Sie thematisieren die soziokulturelle Strukturierung des Heims durch Familie, Geschlecht oder Lebensstil und fokussieren auf Erfahrungen, Vorstellungen und Repräsentationen von Geborgenheit und Entfremdung, Sehnsucht und Krise, Schutz und Bedrohung im häuslichen Bereich. Im Zentrum der vorliegenden Abhandlung steht die kunstwissenschaftliche Analyse fotografischer Interieurs in der Gegenwartskunst in Hinblick auf die verhandelten Themen, die formal-ästhetischen Eigenheiten und die fotografische Verfasstheit der Bilder. Ziel der Untersuchung ist es zu klären, welche Bedeutungen privaten Räumen beigemessen werden, die das moderne Subjekt in einzigartiger Weise prägen und die es zugleich selbst hervorbringt. Dabei wird gefragt, was die Interieurs über den Selbst- und Weltentwurf des Menschen sowie die soziokulturellen Bedingungen seiner Existenz in einer Epoche vermitteln, die sich eher über (heterogene) Raumbezüge als über einen zeitlichen Fortschritt erfährt. 5 Ermittelt wird, inwiefern die Fotografien ein aktuelles Raumverständnis spiegeln, demzufolge Räume nicht mehr als absolut, substanziell und kontinuierlich, sondern als relational, so-

num meistens auch auf weibliche Personen (die Einzelne, die Künstlerin, die Bewohnerin) beziehen. 4

Vgl. Söntgen, Beate: „Interieur – Das kritische Potential der Gegenwartskunst“. In: Diers, Michael / Kudielka, Robert / Lammert, Angela / Mattenklott, Gert (Hg.): Topos Raum. Die Aktualität des Raumes in den Künsten der Gegenwart (Dokumentation des gleichnamigen Symposiums, Akademie der Künste Berlin, 17.-20.11.2004). Nürnberg: Verl. für Moderne Kunst 2004, S. 363-375: 363.

5

Vgl. Foucault, Michel: „Andere Räume“ (Vortrag 1967, publiziert 1984). In: Moravánszky, Ákos (Hg.): Architekturtheorie im 20. Jahrhundert. Eine kritische Anthologie. Wien: Springer 2003, S. 549-556: 549; Ott, Michaela: „Raum“. In: Barck, Karlheinz (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Bd. 5. Stuttgart: Metzler 2003, S. 113-149: 115.

E INLEITUNG | 9

zial konstituiert und unbeständig begriffen werden. 6 Ferner gilt es, die Bilder im Kontext gesellschaftlicher Prozesse zu reflektieren, die unmittelbar mit Raumfragen verbunden sind, wie dem Rückzug ins Private, 7 der Pluralisierung von Lebensstilen 8 und der Entgrenzung von privaten und öffentlichen Räumen 9. In der Kunstgeschichte bezeichnet der Begriff Interieur nicht den architektonischen Innenraum, sondern dessen (bildliche) Darstellung im Sinne der gleichnamigen Gattung. Als Subkategorie der Genremalerei zeigen Interieurs ebenfalls privates Leben, im Unterschied zu dieser allerdings „unter den Bedingungen des Innenräumlichen“10. Aus gattungstheoretischer Perspektive konstatiert Wolfgang Kemp, dass die Bildprogramme Milieuschilderung, Stillleben und Porträt zwar am Ausdruckspotenzial des Räumlichen partizipieren können, in ihrer Betonung des typischen Geschehens, der Objektwelt und des Subjekts aber grundsätzlich andere Schwerpunkte setzen.11 In diesem Sinne konzentriert sich die vorliegende Abhandlung auf Fotografien, deren Sujets vom ‚Innenräumlichen‘ dominiert werden. Das Ordnen von Kunstwerken nach der Kategorie Gattung fußt auf der kunstgeschichtlichen Aufgliederung der Welt der Immanenz in die Verhältnisse des Menschen zur Geschichte, zum alltäglichen Leben, zur Natur, zur Objektwelt und zu sich selbst. Kemp hat auf das strukturelle Problem hingewiesen, dass die Kunstpraxis sich gerade nicht durch das Ziehen von Grenzen, sondern durch das Stiften von Zusam-

6

Vgl. Schroer, Markus: Räume, Orte, Grenzen. Auf dem Weg zu einer Soziologie des Raums. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005, S. 44ff und Löw, Martina: Raumsoziologie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001, S. 263ff.

7

Vgl. Rössler, Beate: Der Wert des Privaten. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001 oder Schmidt-Lauber, Brigitta: Gemütlichkeit. Eine kulturwissenschaftliche Annäherung. Frankfurt a.M.: Campus 2003.

8

Vgl. z.B. Hradil, Stefan: Soziale Ungleichheit in Deutschland. Wiesbaden: Verl. für Sozialwissenschaften 2005 (Nachdruck der 8. Auflage 2001; Originalausgabe Bolte, Karl Martin / Kapper, Dieter / Neidhardt, Friedhelm: Soziale Schichtung. Opladen: Leske 1966), S. 437.

9

Vgl. Sennett, Richard: Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität. Frankfurt a.M.: Fischer 1993 (erste dt. Ausgabe 1983; Originalausgabe The fall of public man, New York (NY): Knopf 1977).

10 Kemp 1998, S. 17. 11 Vgl. ebd.

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menhängen auszeichne.12 Demnach kann in einem Interieur auch gattungstheoretisch Ausgeschlossenes, wie z.B. die menschliche Beziehung zu sich selbst, zur Natur oder zur Geschichte, thematisiert werden. Die vorliegende Abhandlung folgt seiner Forderung, bei der Analyse einer Gattung immer auch „den historischen Stand der Vermittlung zwischen dem Ein- und Ausgegrenzten“13 zu berücksichtigen. Zudem wird in Anlehnung an die kritischen Anmerkungen von Norman Bryson davon ausgegangen, dass sich Gattungen und ihre Grenzen mit jedem Neuzugang verändern.14 Demzufolge muss die Gattung als zeitabhängiges Diskursphänomen verstanden werden, das neben der Kunstliteratur auch von der Kunstpraxis geprägt wird, die Werke in Anlehnung an bestehende ‚Reihen‘15 hervorbringt. Es kann und soll im Folgenden also nicht darum gehen, einem dogmatischen Gattungsbegriff zur Durchsetzung zu verhelfen. Zudem kann und soll die Entwicklungsgeschichte des Interieurs hier nur partiell fortgeschrieben werden, da der Rahmen dieser Forschungsarbeit eine Berücksichtigung von Darstellungen privater Räume in anderen Medien der Bildenden Kunst kaum erlaubt. Die Bezüge zu historischen Interieurs, die in den Bildbetrachtungen hergestellt werden, dienen vornehmlich dazu, gattungsspezifische Ausdrucksmittel zu benennen und die Tradition bestimmter Fragestellungen aufzuzeigen. Die Revitalisierung von Bildgattungen in der Gegenwartskunst, die im Zuge der Moderne ihren hohen Stellenwert im Kunstbetrieb bereits verloren zu haben schienen,16 erfolgt zuvorderst über Fotografien.17

12 Vgl. ebd. 13 Ebd. 14 Vgl. Bryson, Norman: Stillleben. Das Übersehene in der Malerei. München: Fink 2003 (Originalausgabe Looking at the Overlooked. Four Essays on Still Life Painting. London: Reaktion Books 1990), S. 10. 15 Den Begriff ‚Reihe‘ führt Bryson in seiner epochenübergreifenden Untersuchung zu Stillleben ein, um „Familienähnlichkeiten“ als verbindendes Element der Bilder gegenüber den „spezifischen Merkmalen“ einer Gattung zu behaupten, deren Existenz er anzweifelt (vgl. Bryson 2003 (1990), S. 10). 16 Vgl. z.B. Belting, Hans: Das Ende der Kunstgeschichte. Eine Revision nach zehn Jahren. München: Beck 1995, S. 22. 17 Vgl. Tietenberg, Annette: „Wiedersehen mit Alten Meistern. Zur Verwendung der Fotografie in der zeitgenössischen Kunst“. In: Heller, Heinz B. /

E INLEITUNG | 11

Die Isolation von fotografischen Interieurs im Rahmen dieser Studie ermöglicht die medienspezifische Untersuchung des Phänomens. Ausgegangen wird vom besonderen Ausdruckspotenzial der Fotografie mit ihren spezifischen Bezügen zur Wirklichkeit, die über ihre indexikalische Referentialität, ihre vielfältigen Gebrauchsweisen und ihre kulturelle Omnipräsenz bestehen. Wie kein anderes Medium erlauben Fotografien Künstlern, Räume zu dokumentieren, sich direkt auf alltägliche Raum- und Bilderfahrungen des Betrachters zu beziehen sowie über die raumzeitliche Ausschnitthaftigkeit und die Bildhaftigkeit des Mediums eine eigenständige Sicht zu formulieren. Dabei ist der vermeintlich analogische Wirklichkeitsbezug nicht wesenhaft, sondern beruht auf einer tradierten gesellschaftlichen Annahme, die den Diskurs der Fotografie seit der öffentlichen Präsentation des Verfahrens begleitet. 18 Einige Künstler nutzen diese Zuschreibung, die sowohl für distanziert beschreibende, scheinbar objektive wie für atmosphärisch angelegte, vermeintlich subjektive Fotografien gelten kann, und betonen die Wahrhaftigkeit und historische Beweiskraft ihrer Fotografie bisweilen noch über Bildtitel oder Textbeiträge. Zugleich zählt zu ihren künstlerischen Strategien, Zweifel am dokumentarischen Charakter ihrer Fotografien zu säen und das wirklichkeitskonstituierende Potenzial des Mediums zu thematisieren. Diese produktive Verunsicherung wird beispielsweise über Bildansichten eingeleitet, die sich nicht mit dem zentralperspektivischen Blick decken, oder über Raumkonstellationen, die für die Fotografie modifiziert wurden. Andere Künstler gehen andersherum vor, indem sie Räume alleinig für die Aufnahme konstruieren und inszenieren. Häufig beziehen sie sich dabei auf bereits existierende, mitunter in anderen Medien entworfene Bildwelten, um deren Inhalte, Konstitution und Funktionen zu befragen. Im Gegensatz zu Fotografien, die vornehmlich über ein Thema, ein spezifisches Milieu oder eine historische Situation

Kraus, Matthias / Meder, Thomas / Prümm, Karl / Winkler, Hartmut (Hg.): Über Bilder sprechen. Positionen und Perspektiven der Medienwissenschaft. Marburg: Schüren 2000, S. 151-167: 160. 18 Vgl. Krauss, Rosalind E.: „Die diskursiven Räume der Photographie“. In: dies.: Das Photographische. Eine Theorie der Abstände. München: Fink 1998 (Originalausgabe Le photographique. Pour une théorie des écarts. Paris: Macula 1991), S. 40-58.

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informieren, 19 zeichnen sich die fotografischen Bilder, die im ‚Kunstbetrieb‘ rotieren und im Folgenden Gegenstand der Betrachtung sind, schließlich meist durch die Reflexion der eigenen medialen Bedingungen und die symbolische, überindividuelle Bedeutung der Motive aus.

2

D IE KULTURWISSENSCHAFTLICHE P ERSPEKTIVE DER S TUDIE

Die fotografischen Interieurs in der Gegenwartskunst werden in dieser Abhandlung aus der Perspektive einer kulturwissenschaftlichen Kunstgeschichte betrachtet. Die Untersuchung beruft sich damit auf die Forschungspraxis Aby Warburgs und seine Prinzipien der Interdisziplinarität sowie des heterogenen Quellenkorpus. Im Sinne Warburgs gilt es, „neben Bild- und Wortquellen aller qualitativen Grade und medialer Formen, auch soziale Rituale, Lebensstile, habituelle Muster des Agierens und Objekte materieller Kultur“20 bei der Bildbetrachtung zu berücksichtigen. In den folgenden Analysen werden daher ebenso kunstund fotohistorische Referenzen, private Gebrauchsweisen der Fotografie oder populäre Horrorfilme und -romane in ihrer Bedeutung für Struktur, Genese und Rezeption der Fotografien reflektiert wie politische Konstellationen, spezifische Esskulturen, unterschiedliche Wohn-

19 Hierzu zählen Herlinde Koelbls (*1939) Aufnahmen von Deutschen in ihrem Wohnzimmer (Herlinde Koelbl. Das deutsche Wohnzimmer. Luzern / u.a.: Bucher 1980) und von Bewohnern verschiedener Metropolen in ihrem Schlafzimmer (Herlinde Koelbl. Schlafzimmer. London, Berlin, Moskau, Rom, New York, Paris. München: Knesebeck 2002), Martin Rosswogs (*1950) Interieurs traditioneller Wohnhäuser im ländlichen Europa (vgl. Ländliche Innenräume. Photographien von Martin Rosswog (anlässlich der Ausstellung „Ländliche Innenräume in Europa“, Bergisches Freilichtmuseum Lindlar, 28.04.-27.05.1996). München: Schirmer/Mosel 1996) oder die Bilder privater Räume von Robert Polidori (*1951) aus Havana (Culbert, Elizabeth (Hg.): Robert Polidori. Havana. Göttingen: Steidl 2001) und New Orleans nach der Flutkatastrophe (Robert Polidori. After the Flood. Göttingen: Steidl 2006). 20 Böhme, Hartmut: „Aby M. Warburg (1866-1929)“. In: Därmann, Iris / Jamme, Christoph (Hg.): Kulturwissenschaften. Konzepte, Theorien, Autoren. München: Fink 2007, S. 243-267: 249.

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und Lebensstile sowie der kulturelle und soziale Stellenwert einzelner Einrichtungsgegenstände, wie z.B. von Tischen, Porzellanfiguren und Spiegeln. Der interdisziplinäre Ansatz der Untersuchung äußert sich darin, dass nicht nur auf Ergebnisse kunstgeschichtlicher Forschungen, beispielsweise zum Interieur bei Jan Vermeer van Delft, 21 zu den Zimmerbildern des Biedermeier22 oder zu Privatheit als Thema künstlerischer Praxis in den 1970er Jahren,23 rekurriert wird, sondern auch auf soziologische Studien zum privaten Wohnen, 24 auf Untersuchungen zur geschlechtsspezifischen Struktur privater Räume25 oder auf kulturwissenschaftliche Abhandlungen zur Gedächtnisfunktion von Räumen und Dingen 26. Um die medialen Bedingungen der Interieurs bestimmen zu können, werden fototheoretische Arbeiten berücksichtigt, die das Medium als Stifter von Identität und Erinnerung 27 sowie in seiner Bedeutung für die Konstruktion des Anderen 28 thematisieren.

21 Z.B. Greub, Thierry: Vermeer oder die Inszenierung der Imagination. Petersberg: Imhof 2004. 22 Z.B. Schoch, Rainer: „Repräsentation und Innerlichkeit. Zur Bedeutung des Interieurs im 19. Jahrhundert“. In: Mein blauer Salon. Zimmerbilder der Biedermeierzeit (anlässlich der gleichnamigen Ausstellung, Germanisches Nationalmuseum Nürnberg, 11.05.-20.08.1995). Nürnberg: Verl. des Germanischen Nationalmuseums 1995, S. 11-16. 23 Z.B. Bismarck, Beatrice von: „Performing Home – Performing Art“. In: Schäfer, Julia (Hg.): Trautes Heim (anlässlich der gleichnamigen Ausstellung, Galerie für Zeitgenössische Kunst, Leipzig, 07.09.2003-09.11.2003). Köln: König 2003, S. 3-67. 24 Z.B. Häußermann, Hartmut / Siebel, Walter: Soziologie des Wohnens. Eine Einführung in Wandel und Ausdifferenzierung des Wohnens. Weinheim / u.a.: Juventa 2000. 25 Z.B. Dörhöfer, Kerstin / Terlinden, Ulla: Verortungen. Geschlechterverhältnisse und Raumstrukturen. Basel / u.a.: Birkhäuser 1998. 26 Z.B. Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München: Beck 1992. 27 Vgl. Busch, Bernd: „Das fotografische Gedächtnis“. In: Hemken, Kai-Uwe (Hg.): Gedächtnisbilder. Vergessen und Erinnern in der Gegenwartskunst. Leipzig: Reclam 1996, S. 186-204. 28 Vgl. Rosler, Martha: „Drinnen, Drumherum und nachträgliche Gedanken (zur Dokumentarfotografie)“ (1981). In: Breitwieser, Sabine (Hg.): Martha Rosler. Positionen in der Lebenswelt (anlässlich der gleichnamigen Aus-

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Die kulturelle Kontextualisierung der Kunstwerke dient der „Rekonstruktion konkreter historischer Situationen [...], in denen und für die bildnerische Leistungen erbracht werden“ 29. Den Nachvollzug historischer und kultureller Lagen, die empirisch verifizierbar sind, hat Rainer Donandt als idealtypisches Erkenntnisinteresse kulturwissenschaftlich orientierter Kunstgeschichte ausgewiesen.30 Angesichts der engen Verzahnungen der Gattung Interieur und des Mediums Fotografie mit konkreten Lebenswirklichkeiten ist gerade dieser kulturwissenschaftliche Ansatz geeignet, die fotografischen Interieurs als differenzierte und kritische Reflexionen zeitgenössischer Alltagserfahrungen, gegenwärtiger Subjektentwürfe und aktuellen Welterlebens zu verstehen. Die Ausweisung zahlreicher Referenzen darf allerdings nicht über den Umstand hinwegtäuschen, dass sich Werke der Gegenwartskunst nicht auf eine verbindliche Symbolsprache beziehen (können), die Künstlern wie selbstverständlich die Kommunikation mit (bestimmten) zeitgenössischen Betrachtern ermöglicht. Der (post-)moderne Künstler hat sich mit der Fokussierung auf das (wahrnehmende) Subjekt und der Konstruktion eigenständiger, subjektiv kodierter (Bild-)Welten gerade in Abkehr von programmatischen und formalen Bildtraditionen etabliert. Die ikonografisch angelegten Analysen werden daher durch die Kontextualisierung des Einzelbildes oder der Serie im Gesamtwerk des jeweiligen Künstlers ergänzt, um so auch die individuelle Bildund Zeichensprache nachvollziehen und die Interieurs angemessen deuten zu können. Zudem werden die Interieurs als Kunstwerke untersucht, die individuelle ästhetische Erfahrungen des Betrachters herausfordern. Erforderlich ist daher auch eine Berücksichtigung von rezeptionsästhetischen Aspekten, wie z.B. bildinternen Rezeptionsvorgaben31. Im Kontext dieser Untersuchung gilt es allerdings nicht, Sinn-

stellung, Generali Foundation Wien, 12.05.-08.08.1999 / u.a.). Köln: König 1999, S. 104-148. 29 Donandt, Rainer: „Kunstgeschichte als Geisteswissenschaft und als Kulturwissenschaft“. In: Pfisterer, Ulrich (Hg.): Metzler Lexikon Kunstwissenschaft. Ideen, Methoden, Begriffe. Stuttgart: Metzler 2003, S. 199-203: 200. 30 Vgl. ebd. 31 Dazu zählen Figuren oder Dinge, die im Bild als Stellvertreter des Betrachters fungieren, die perspektivische Anlage des Bildes im Verhältnis zum Betrachterraum, Mittel der Distanzierung sowie Leerstellen, die nach Be-

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lichkeit und Sinngehalt der Bilder möglichst ausführlich und facettenreich darzustellen bzw. auszulegen, da primär interessiert, welche künstlerischen, kulturellen und sozialen Bedeutungen die Interieurs privaten (Bild-)Räumen beimessen.

3

A UFBAU DER U NTERSUCHUNG S TRUKTUR DER A BHANDLUNG

UND

Aus der Zeitgenossenschaft des Autors einer kunstwissenschaftlichen Analyse zum Gegenstand seiner Untersuchung resultieren immer spezifische Problemstellungen, die diese Studie zu bewältigen und produktiv zu wenden versucht. Drei der von Verena Krieger dargestellten Herausforderungen für eine ‚Historisierung der Gegenwart‘ sind für die vorliegende Abhandlung von besonderer Relevanz. 32 So ist es schwierig, kulturelle Prozesse, die das Kunstwerk hervorbringen, zu erkennen und zu benennen, wenn diese noch nicht abgeschlossen sind. Zudem ermöglicht die eigene Teilhabe an der Gegenwartskultur zwar ein „ausgeprägtes Verständnis oder sogar Empathie für aktuelle Tendenzen“33, allerdings besteht zugleich die Gefahr, das allzu Vertraute in der Analyse zu übergehen. Es gilt also, das paradoxe Verhältnis von unmittelbarer Nähe und professioneller Distanz in der Betrachtung zeitgenössischer Phänomene in Kunst und Kultur so auszugleichen, dass stets von beiden Perspektiven profitiert werden kann. Ferner erfordert der im Vergleich zu historischen Forschungen sehr große Umfang an verfügbaren Informationen zu Kunst und Kultur der Gegenwart eine strenge Systematisierung und Selektion relevanten Materials. Der Gegenstandsbereich der Studie wurde über umfangreiche Recherchen in der zeitgenössischen Kunstliteratur erschlossen und über

stimmung durch den Rezipienten verlangen (vgl. Kemp, Wolfgang (Hg.): Der Betrachter ist im Bild. Kunstwissenschaft und Rezeptionsästhetik. Berlin: Reimer 1992 (erw. Neuausgabe; Originalausgabe Köln: DuMont 1983)). 32 Vgl. Krieger, Verena: „Zeitgenossenschaft als Herausforderung für die Kunstgeschichte“. In: dies. (Hg.): Kunstgeschichte & Gegenwartskunst. Vom Nutzen & Nachteil der Zeitgenossenschaft. Köln / u.a.: Böhlau 2008, S. 5-25. 33 A.a.O., S. 7.

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exemplarische Analysen von repräsentativen Interieurs untersucht. Die Bestandsaufnahme erfolgte vor allem anhand der Durchsicht von führenden Zeitschriften, einschlägigen Anthologien und Begleitpublikationen maßgeblicher Ausstellungen, die in ihrer Gesamtheit einen Großteil des etablierten westlichen ‚Kunstbetriebs‘ der letzten 30 Jahre abbilden und als Akteure prägen.34 Im Sinne einer deduktiven Ableitung von allgemeinen Kennzeichen der Gattung auf spezielle Bilder im Feld der Gegenwartskunst wurden relevante Werke identifiziert. Über eine vergleichende Betrachtung wurden die wesentlichen Themen und Mo-

34 Gesichtet wurden in unterschiedlichen Ländern verlegte Periodika zu Kunst und Fotografie, wie z.B. Artforum International (Denville (NJ): artforum), Flash art International (Mailand: Politi), Kunstforum International (Ruppichteroth: Kunstforum), Camera Austria (Graz: Camera Austria), Eikon (Wien: Eikon) und European Photography (Göttingen: European Photography). Auch die untersuchten Übersichtsdarstellungen repräsentieren heterogene Perspektiven und Gegenstandsbereiche, wie beispielsweise die von den Verlagen Phaidon und Taschen im Abstand von wenigen Jahren veröffentlichten Reihen Cream und Art Now, die von Karin Thomas (Kunst in Deutschland seit 1945. Köln: DuMont 2002) oder Susan Bright (Art Photography Now. London: Thames & Hudson 2005) angestellten Betrachtungen sowie die von Lothar Romain und ab 2005 von Detlef Bluemler herausgegebene Textsammlung verschiedener Autoren zu Gegenwartskünstlern (Künstler – Kritisches Lexikon der Gegenwartskunst. München: Zeit-Verl. (ab 03/2005; zuvor München: WB-Verl.) 1988ff (Losebl.Ausg.)). Zu den zahlreichen Katalogen bedeutender Kunst- und Fotoausstellungen, die für die Bestandsaufnahme berücksichtigt wurden, zählen u.a. die Publikationen zur Documenta 7 bis 12, zu den jährlich veranstalteten Rencontres de la Photographie Arles und zu den Internationalen FotoTriennalen Esslingen sowie Kataloge von Ausstellungen, wie Metropolis (Joachimides, Christos M. (Hg.): Metropolis. Internationale Kunstausstellung (anlässlich der gleichnamigen Ausstellung, Martin-Gropius-Bau Berlin, 20.04.-21.07.1991). Ostfildern: Ed. Cantz 1991), Sensation (Sensation. Young British Artists from the Saatchi Collection (anlässlich der gleichnamigen Ausstellung, Royal Academy of Arts, 18.09.-28.12.1997). London: Thames & Hudson 1997) und Click Doubleclick (Weski, Thomas (Hg.): Click Doubleclick. Das dokumentarische Moment (anlässlich der gleichnamigen Ausstellung, Haus der Kunst, München, 08.02.-23.04.2006 / u.a.). Köln: König 2006).

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tive der Fotografien herausgearbeitet sowie ein Bündel an Positionen und Bildern zusammengestellt, die für die inhaltlichen und formalen Merkmale der Gesamtheit der fotografischen Interieurs in der aktuellen Kunst stehen. Die Feinanalyse dieser repräsentativen Fotografien führt im induktiven Schluss zur genaueren Bestimmung von zentralen Themen, die in fotografischen Interieurs in der Kunst der Gegenwart verhandelt werden. Die vorliegende Abhandlung bildet diese letzte Phase der Untersuchung ab. Diese Vorgehensweise ist mit der strukturellen Problematik behaftet, dass künstlerische Arbeiten zu komplex und einzigartig sind, als dass sie sich auf einzelne Aspekte reduzieren ließen oder andere Kunstwerke repräsentieren könnten. Um dennoch das heterogene Feld an fotografischen Interieurs in der Gegenwartskunst angemessen darstellen und annäherungsweise charakterisieren zu können, stehen immer die Werke im Mittelpunkt der Analysen und Schlussfolgerungen. Zudem wurde eine sehr große Anzahl an Bildern und Serien betrachtet, die ein breites Spektrum an unterschiedlichen Bildsprachen, Motiven und Inhalten, künstlerischen Strategien, Künstlerbiografien, kulturellen Einflüssen und Rezeptionen des ‚Kunstbetriebs‘ spiegelt. Die Untersuchung bezieht sich auf den Teil der künstlerischen Praxis in der westlichen Welt, der wenigstens auf nationaler, aber meistens auch auf internationaler Ebene von der Kunstkritik und dem etablierten Ausstellungsbetrieb wahrgenommen wurde. Zu den ausgewählten Künstlern zählen solche, die wie Nan Goldin und Jeff Wall seit zwei Jahrzehnten intensiv rezipiert und als stilbildend bezeichnet werden, aber auch weniger bekannte, junge Künstler, die wie Daniela Rossell und Wiebke Loeper erst in den letzten Jahren an internationalen Themenausstellungen teilgenommen haben. Die biografischen und kulturellen Hintergründe der Künstler sind sehr unterschiedlich, über die Hälfte hat allerdings ihren Lebens- und Arbeitsmittelpunkt in Deutschland, den USA oder England. Die Künstler entstammen Geburtenjahrgängen zwischen 1945 und 1973, die Hälfte von ihnen wurde in den 1960er Jahren geboren. Fast alle haben an einer Kunsthochschule studiert. Die Interieurs sind zwischen Ende der 1970er und Anfang der 2000er Jahre entstanden, der Großteil wurde in den 1990er Jahren hergestellt. Im Werk einiger Künstler ist das Interieur als Einzelbild oder im Rahmen einer Serie einmalig, bei anderen hingegen handelt es sich um ein wiederkehrendes bzw. durchgängig bearbeitetes Sujet. Über die Hälfte der Künstler arbeitet in eigens betitelten Serien,

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die als sinnstiftende Einheit berücksichtigt werden müssen; aber auch Bilder, die in der autonomen Form eines Fotobuchs veröffentlicht wurden, erfordern eine Beurteilung im Kontext vorangestellter und nachfolgender Fotografien. Bei der Auswahl der Interieurs wurde schließlich auch beachtet, dass die wesentlichen fotografischen Strategien und Stile der Zeit repräsentiert sind. Die Interieurs zeigen daher sowohl Inszenierungen von Personen in privaten Räumen als auch Räume, die nur für die Aufnahme konstruiert worden sind. Sie sind als dokumentarische Bilder oder als Live-Fotografien entstanden und wurden ebenso nüchtern beschreibend wie atmosphärisch suggestiv angelegt. Motivisch bringen die Interieurs schließlich private Räume zur Ansicht, die bisweilen auch Personen, Tiere, Dinge und Natur einhegen. Die vorliegende Abhandlung ist nach den zentralen Themen gegliedert, die die fotografischen Interieurs in der Gegenwartskunst verhandeln. Diese inhaltlichen Fragestellungen werden jeweils aus exemplarisch analysierten Fotografien und Serien abgeleitet, wobei am Kapitelanfang meist auf die kunst- bzw. fotohistorische Tradition der jeweiligen Themen sowie gattungsspezifische Ausdrucksmittel verwiesen wird. Die Bestimmung der Bilder als Interieurs mit einem spezifischen thematischen Schwerpunkt schließt selbstverständlich andere Zugänge, Bedeutungen und Zusammenhänge nicht aus. Viele der ausgewählten Interieurs könnten im Rahmen dieser Untersuchung zur Veranschaulichung unterschiedlicher Aspekte angeführt werden. Um den Gegenstandsbereich annähernd repräsentativ abbilden zu können, werden aber möglichst viele verschiedene Interieurs berücksichtigt. Dennoch sollen auch Arbeitsschwerpunkte einzelner Künstler zu privaten Räumen angemessen abgebildet werden, so dass der Großteil der siebzehn zentralen Positionen nur einem der acht Themenkomplexe zugeordnet wurde, Bilder von Nan Goldin und Gregory Crewdson aus unterschiedlichen Serien (und Jahrzehnten) aber in verschiedenen Kapiteln angeführt werden. Die Abfolge der Kapitelthemen und der dort aufgerufenen Interieurs markiert den gattungsspezifischen Blick auf die Verhältnisse des Menschen zu sich und zur Welt als ‚Zoom-out‘ durch Raum und Zeit. Die Darstellung der Forschungsergebnisse beginnt mit der Naheinstellung des Interieurs auf die Innenwelt des (Wohn-)Subjekts. Sie wechselt zur Totalen, um die sozialen und kulturellen Bedingungen seiner Existenz, die sich im Privaten abzeichnen, erfassen zu können. Die Ausführungen schließen mit der Vergegenwärtigung vergangener

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Raumnutzungen durch das Interieur, die auf die zeitliche Orientierung des Subjekts in der Welt verweist. Im ersten Kapitel „Psychische Innenräume“ werden Interieurs betrachtet, die Figuren und Personen in innerer Einkehr zeigen.35 Der private Raum figuriert in diesen Bildern als Ort geschützter Selbstbeobachtung; er bietet der Selbstreflexion lebensweltliche Bezugspunkte und erscheint gleichsam als Metapher für die psychische Innenwelt. Diese Bestimmung wird zum einen aus der Analyse einiger Fotografien aus Goldins Fotobuch The ballad of sexual dependency 36 abgeleitet, wobei hier insbesondere das aus kunstgeschichtlicher, semiotischer und psychoanalytischer Perspektive untersuchte (Bild-)Motiv des Spiegels interessiert.37 Als Beleg dienen zum anderen Interieurs aus der Serie EARLY WORK (1986-1988) von Crewdson, in deren Zentrum weibliche, introspektiv konzipierte Bildfiguren stehen. In der Analyse werden die Bilder in Beziehung gesetzt zu künstlerischen, psychologischen und philosophischen Konzepten von Melancholie. 38 Öffnungen zur Außenwelt markiert eine fotografische Bildinszenierung von Teresa Hubbard / Alexander Birchler aus der Serie STRIPPING (1998), bei der vor allem filmische Anleihen berücksichtigt werden.39 Wie in allen Kapiteln werden jeweils im letzten Unterkapitel die Ergebnisse der vorangegangenen Analysen zusammenfassend dargestellt.40 Auf diesen Einstieg zu Introspektionen des Subjekts folgt die Beschäftigung mit Interieurs, in denen der Mensch in seinem Verhältnis zu sozialen und kulturellen Umräumen reflektiert wird, die die private Sphäre durchwirken.41 Die Charakterisierung der Beziehungen zwischen Subjekt und Raum changiert hier zwischen Identifikation, Widerstand und Emanzipation. In vielen dieser Fotografien repräsentiert der private Raum soziokulturelle Ordnungssysteme, wie Familie, Le-

35 Vgl. Kap. 1. 36 Nan Goldin. The ballad of sexual dependency. Aperture: New York (NY) 1986 (dt. Ausgabe Nan Goldin. Die Ballade von der sexuellen Abhängigkeit. Frankfurt a.M.: Zweitausendeins 1987). 37 Vgl. Kap. 1.1. 38 Vgl. Kap. 1.2. 39 Vgl. Kap. 1.3. 40 Vgl. Kap. 1.4. 41 Vgl. Kap. 2 - Kap. 6.

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bensstil und Geschlecht; in anderen steht er für gelebte Abweichungen von vorherrschenden Werten und Normen. Um die zentrale Bedeutung des privaten Raums für die Identitätskonstruktion des Subjekts zu betonen, werden im Kapitel „Räume der Kindheit und Adoleszenz“ zunächst Interieurs von Gregory Crewdson, Sarah Jones, Daniela Rossell und Teresa Hubbard / Alexander Birchler untersucht, die die sozialisierende Wirkung des sozialen, kulturellen und materiellen Nahraums thematisieren.42 Die Bilder operieren mit der Figur des Heranwachsenden und dessen vordringlichem Bedürfnis, sich in der Welt sozial und kulturell zu orientieren. Die durchweg inszenierten Fotografien stammen bei Crewdson aus mehreren Serien, 43 bei Jones aus der Serie M ULBERRY LODGE / FRANCIS PLACE (19961999), bei Rossell aus der Serie THIRD WORLD BLONDES HAVE MORE MONEY (1994-2001)44 und bei Hubbard/Birchler aus der Serie S TRIP45 PING (1998) . Die Untersuchung in dem Kapitel rekurriert auf Erkenntnisse aus der Soziologie zur Lebensphase Jugend, aus der Länderkunde zur Geschichte und Kultur Mexikos sowie aus den Kulturwissenschaften zur populären Kultur. In die Thematisierung des Interieurs als bildnerische Reflexion für „Familiäre Räume“ wurden sowohl kulturgeschichtliche Untersuchungen zur Sozialform Familie einbezogen als auch Betrachtungen zur kulturellen Funktion von Familienfotografien.46 Ferner galt es, Bezüge zum US-amerikanischen Mythos vom suburbanen Heim und dessen (De-)Konstruktion im populären Film zu eruieren. Exemplarisch untersucht werden in diesem Kapitel Fotografien von Familien, die für Thomas Struth im privaten Raum posiert haben, 47 sowie narrative Familienszenen aus verschiedenen Serien von Gregory Crewdson. 48 Im Kapitel „Räume der Repräsentation“ wird vorab herausgearbeitet, dass sich die kulturelle Zuschreibung, nach der private (Bild-)Räume die Individualität ihrer Bewohner, deren Lebensstil und gesellschaftlichen Status repräsentieren, u.a. im traditionellen Bildprogramm

42 Vgl. Kap. 2. 43 Vgl. Kap. 2.1 und Kap. 2.2. 44 Vgl. Kap. 2.3. 45 Vgl. Kap. 2.4. 46 Vgl. Kap. 3. 47 Vgl. Kap. 3.1. 48 Vgl. Kap. 3.2.

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des ‚Interior Portrait‘ ablesen lässt. 49 Für die kritische Inblicknahme elitärer Selbstdarstellung über den privaten Raum stehen sowohl Bilder, die Tina Barney in ihrem Fotobuch Theater of Manners50 veröffentlicht hat, als auch Fotografien von Patrick Faigenbaum, die zwischen 1983 und 1991 im Rahmen dreier Serien entstanden sind. Während Barneys Bilder den gehobenen Wohnstil ihrer Familie und Freunde an der US-amerikanischen Ostküste markieren, 51 beziehen sich Faigenbaums Fotografien 52 auf historische Palazzi der italienischen Aristokratie. In dem Kapitel „Geschlechterverhältnisse im Raum“53 wird die Dichotomie in einen privaten weiblichen und in einen öffentlichen männlichen Raum aus der Perspektive der Kulturgeschichte, der Soziologie und der Geschlechterforschung hergeleitet.54 Die Diskurse bilden den Hintergrund für die Analyse der Serie FEMALE POWER STATIONS: QUEEN BEES (1996-2000), mit der Jacqueline Hassink die geschlechtsspezifische Struktur von Arbeits- und Wohnwelten thematisiert.55 Ihre dokumentarisch konzipierte Arbeit wird dabei auch in den Zusammenhang mit Kunstwerken aus der Romantik und den 1970er Jahren gestellt, die etablierte Vorstellungen von der geschlechtsspezifischen Rollenverteilung im Privaten reproduziert bzw. kritisch kommentiert haben. Angesichts der grundlegenden Strukturierung privater Räume durch die Kategorie Geschlecht wird dieser Aspekt in vielen Bildanalysen auch in anderen Kapiteln berücksichtigt. Im Kapitel „Die Räume der ‚Anderen‘“56 wird zunächst die fotografische Konstituierung und Stabilisierung der Kategorien des Eigenen und des Fremden anhand von Bildern problematisiert, die nachhaltig wirksame Fotografen wie Jacob August Riis, Walker Evans und Diane Arbus vom privaten Leben und Wohnen am ‚Rand der Gesell-

49 Vgl. Kap. 4. 50 Tina Barney. Fotografien. Von Familie, Sitte und Form. Zürich / u.a.: Scalo 1997 (engl. Titel Theater of Manners). 51 Vgl. Kap. 4.1. 52 Vgl. Kap. 4.2. 53 Kap. 5. 54 Vgl. Kap. 5.1. 55 Vgl. Kap. 5.2. 56 Kap. 6.

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schaft‘ vorgelegt haben.57 Gegen deren hegemoniale Blicke wenden sich Künstler wie Nan Goldin und Tom Hunter, indem sie in ihren Interieurs alternative Lebens- und Wohnkonzepte aus der Perspektive von ‚beobachtenden Teilnehmern‘ zeigen. In diesem Themenfeld interessieren vor allem Goldins Interieurs mit Drag Queens, die sie in dem Fotobuch Die Andere Seite58 vorgestellt hat, 59 und Hunters inszenierte Bilder aus der Serie PERSONS UNKNOWN (1997)60 mit ihren Bezügen zu Interieurs von Jan Vermeer van Delft. Auf die Kapitel zu soziokulturellen Räumen folgen im Kapitel „Sehnsuchtsorte und Krisenräume“ Analysen von fotografischen Interieurs, die existenzielle Erfahrung von Ambivalenz über private Räume spiegeln.61 Diese Bilder entwerfen das Häusliche in der Dialektik von Glücksversprechen und Krisenlage, Intimität und Entfremdung, Geborgenheit und Bedrohung. Da Jörg Sasse in den dokumentarischen Fotografien der Serie PRIVATE RÄUME (1983-1994) und Richard Billingham in den Live-Fotografien des Fotobuchs Ray’s a laugh62 auf Sehnsuchtsmotive als Teil der Wohnungseinrichtung fokussieren, wird im ersten Unterkapitel der Wohnstil als Produkt soziokultureller Prägung und individuellen Ausdrucks soziologisch bestimmt. 63 Im zweiten Unterkapitel gilt es, Intimität als Zustand zu kennzeichnen, der eng mit dem privaten Raum verbunden ist.64 Als Bildbeispiele für die Beschäftigung mit intimer Nähe im Privaten werden hier Fotografien aus Bade- und Schlafzimmern angeführt, in denen Goldin die prekäre Dreiecksbeziehung zwischen sich, den fotografierten Freunden und dem Betrachter verhandelt. Larry Sultan hingegen reflektiert in seinen Bildern von alltäglichen Wohnräumen, in denen Pornofilme gedreht werden, häusliche und körperliche Intimität zwischen suburbaner Idyl-

57 Vgl. Kap. 6.1. 58 Nan Goldin. Die Andere Seite 1972-1992 (anlässlich der gleichnamigen Ausstellung, DAAD Galerie Berlin, 08.09.-04.10.1992). Zürich / u.a.: Scalo / Parkett 1992. 59 Vgl. Kap. 6.2. 60 Vgl. Kap. 6.3. 61 Vgl. Kap. 7. 62 Richard Billingham. Ray’s a laugh. Zürich / u.a.: Scalo 2000 (2. Auflage; Originalausgabe 1996; dt. Titel: Ray is’n Witz). 63 Vgl. Kap. 7.1. 64 Vgl. Kap. 7.2.

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le und sexueller Phantasie bzw. kommerzialisiertem Voyeurismus.65 Dass die Schutzfunktion des privaten Raums in Interieurs auch grundlegend zur Disposition gestellt wird, belegen im anschließenden Unterkapitel Fotografien von Richard Billingham, Nan Goldin, Gregory Crewdson und Jeff Wall. 66 Die Räume rahmen hier nicht nur soziale Erfahrungen von Entfremdung, Einsamkeit und Gewalt, sondern sie werden in den Bildern selbst als krisenhaft dargestellt, da sie keine Intimität, keine Orientierung und keine Geborgenheit (mehr) bieten. So wie die Analyse der Bilder von Crewdson, insbesondere aus der Serie DREAMHOUSE (2002), die nähere Beschäftigung mit US-amerikanischen Filmen erfordert, muss Walls Interieur The Destroyed Room (1978) im Spiegel des Historienbildes La Mort de Sardanapale (1827) von Eugène Delacroix betrachtet werden. Die Bezüge von Crewdson zu Filmen, aber auch zur populären Horrorliteratur, werden im vierten Unterkapitel in Hinblick auf Motive des Unheimlichen ausführlicher spezifiziert. 67 Die enge Verzahnung des Heims mit dem Unheimlichen lässt sich über entsprechende Einlassungen von Sigmund Freud aufzeigen. Während der unheimliche Charakter vieler Bilder von Crewdson auf unterdrückte Affekte und Animismus verweist, beziehen andere ihre (narrative) Spannung aus der Präsenz von deplatzierter Natur im Innenraum. Schließlich werden literatur- und kunstgeschichtliche Untersuchungen konsultiert, um das von Crewdson zitierte Motiv einer im Wasser treibenden Frau auslegen zu können. Im abschließenden Kapitel „Räume der Erinnerung“ werden Interieurs betrachtet, die die zeitliche Orientierung des Subjekts in der Welt thematisieren.68 Sie reflektieren den privaten Raum als Medium einer individuellen Erinnerung oder als Akteur in der Ausbildung eines ‚kollektiven Gedächtnisses‘. Zimmerbilder des Biedermeier dienen hier der kunstgeschichtlichen Kontextualisierung der memorialen Funktion von privaten (Bild-)Räumen. Kulturwissenschaftliche Diskurse zur Konstitution und kulturellen Bedeutung von Erinnerungsräumen werden ebenso eingebunden wie fototheoretische Betrachtungen. Fragen nach dem Potenzial von Räumen, Dingen und Fotografien Bewohner zu vergegenwärtigen, stellt Miriam Bäckström in der do-

65 Larry Sultan. The Valley. Zürich / u.a.: Scalo 2004. 66 Vgl. Kap. 7.3. 67 Vgl. Kap. 7.4. 68 Vgl. Kap. 8.

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kumentarischen Serie ESTATE OF A DECEASED PERSON (1992-1996).69 Laurenz Berges’ atmosphärische Fotografien von bereits ausgeräumten Zimmern, die er in dem Fotobuch Etzweiler70 zusammengefasst hat, stehen für Interieurs, die mit Leerstellen an die Imagination der Betrachter appellieren. Zudem wird in diesem ersten Unterkapitel das Fotobuch Moll 3171 von Wiebke Loeper angeführt, um daran die bildnerische Reflexion der Verschränkung einer individuellen mit einer kollektiven Erinnerung zu diskutieren, deren Auslöser der private (Bild-)Raum ist. Andere Interieurs thematisieren die Entstehung eines ‚kulturellen Gedächtnisses‘ und die institutionelle Stabilisierung eines Geschichtsbildes mittels Raumdarstellungen in Filmen und Museen, wie über die Serien M USEUMS, COLLECTIONS AND RECONSTRUCTIONS (1998-1999) und SET CONSTRUCTIONS (1995-2000) von Bäckström im zweiten Unterkapitel veranschaulicht wird.72

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S TAND BISHERIGER F ORSCHUNGEN UND R EFLEXIONEN

Das fotografische Interieur in der Gegenwartskunst stand bisher nicht im Zentrum kunst- oder kulturwissenschaftlicher Forschung, gleiches gilt im Übrigen für Fotografien privater Räume in der Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts. Im Ausstellungsbetrieb haben lediglich vereinzelte Präsentationen zu dem Gegenstandsbereich stattgefunden. So wurde am Museum of Modern Art in New York bereits Anfang der 1990er Jahre konstatiert, dass die fotografische Exploration des häuslichen Lebens ein kohärentes Phänomen in der Kunst der Gegenwart sei.73 In der umfangreichen Ausstellung „Pleasures and Terrors of Domestic Comfort“ (1991) stellte man Fotoarbeiten von 63 US-ameri-

69 Vgl. Kap. 8.1. 70 Laurenz Berges. Etzweiler. München: Schirmer/Mosel 2005. 71 Wiebke Loeper. Moll 31. Berlin / u.a.: Ed. Heckenhauer 2005 (Originalausgabe als Künstlerbuch 1995). 72 Vgl. Kap. 8.2. 73 Vgl. Galassi, Peter: „Introduction“. In: Pleasures and Terrors of Domestic Comfort. Contemporary American Photographs (anlässlich der gleichnamigen Ausstellung, Museum of Modern Art, New York, 26.09.-31.12. 1991). New York (NY): Abrams 1991, S. 6-25: 6.

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kanischen Fotografen vor, die sich in den 1980er Jahren mit dem Thema Häuslichkeit auseinandergesetzt hatten. Peter Galassi, der die Ausstellung kuratiert hat, grenzt die Bilder gegen die Fotografien ab, die zwischen den 1950er und 1970er Jahren ihr Sujet im öffentlichen Raum gefunden hatten und vorwiegend sozialkritisch ausgerichtet waren. Der jüngeren Generation bot der häusliche Bereich Themen und Ausdrucksmöglichkeiten, die bis dahin kaum jemand bearbeitet hatte. Dazu zählt Galassi eine Bildsprache, die an Knipserfotografie angelehnt ist, und Sujets, die nicht auf das glückliche Heim, sondern auf die dunklen Seiten und den Stress des häuslichen Lebens verweisen, wie er an Bildern von Tina Barney 74, Larry Sultan 75, Gregory Crewdson76 und Nan Goldin 77 erläutert. Im Laufe der 1990er Jahre haben sich neben Barney und Sultan insbesondere Crewdson und Goldin weiter intensiv auf private Räume bezogen, so dass sie mit ihren unterschiedlichen Serien von Interieurs in der vorliegenden Studie eine zentrale Position einnehmen. Die Konjunktur künstlerischer Fotografien von Innenräumen in den 1990er Jahren war einige Jahre später auch im deutschsprachigen Raum Anlass für eine größere Ausstellung. Über die Kombination von Innenansichten mit Bildern von Außenräumen wurde mit „Insight Out“ (1999) im Kunstraum Innsbruck die These vertreten, dass beide Sujets, das Interieur und das Landschaftsbild, ein phänomenologisches Interesse an der Schilderung der äußeren Realität von Räumen verbände.78 Das fotografische Interieur stehe für konkrete soziokulturelle Bezüge, während im fotografischen Landschaftsbild vornehmlich kulturelle Vorstellungen von Natur angesprochen würden, führt Barbara Hofmann in ihrem Katalogbeitrag aus.79 Der Großteil der vorgestellten Fotografien von Innenräumen bezieht sich allerdings nicht auf private,

74 Z.B. Sheila and Moya, 1987. 75 Fotografien aus der Serie PICTURES FROM HOME (1983-1991). 76 Fotografien aus der Serie NATURAL WONDER (1992-1997). 77 Z.B. Nan and Brian in Bed, New York City, 1983. 78 Vgl. Hofmann, Barbara: „Insight Out. Landschaft und Interieur als Themen zeitgenössischer Photographie“. In: dies. (Hg.): Insight Out. Landschaft und Interieur als Themen zeitgenössischer Photographie (anlässlich der gleichnamigen Ausstellung, Kunstraum Innsbruck, 20.02.-08.05.1999 / u.a.). Zürich / u.a.: Ed. Stemmle 1999, S. 9-18: 9. 79 Vgl. a.a.O., S. 12.

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sondern auf öffentlich genutzte Räume. Die Serie S ET CONSTRUCTIONS (1995-2000) von Miriam Bäckström, die private Räume zeigt und in der folgenden Abhandlung näher analysiert wird, nimmt in Ausstellung und Katalog daher eine Außenseiterposition ein. Auch im Rahmen der wissenschaftlichen Forschung zur Fotografie in der Gegenwartkunst findet das Interieur nur wenig Beachtung. Fotografien von privaten Räumen werden insbesondere in Studien zu einzelnen, prominenten Werken beleuchtet, allerdings meistens nicht aus gattungsspezifischer Perspektive. So widmet sich Peter Kruska in seinen Betrachtungen zur Fotografie von Nan Goldin und von fünf weiteren zeitgenössischen Künstlern den subjektiven Anteilen in deren vermeintlich dokumentarischen Bildmodi. Für die vorliegende Abhandlung ist vor allem Kruskas Befund bedeutsam, demzufolge die Erwartung an die Objektivität von Goldins Fotografie stets von der ausgestellten Subjektivität ihres Blicks durchkreuzt wird. Letztlich würden alle sechs Künstler nicht nur ein Bild bestimmter Milieus entwerfen, sondern zugleich immer auch die „künstliche Natur von Repräsentationen“80 reflektieren. Von seinen Einzelanalysen zu Innenraumbildern kann nur teilweise profitiert werden, da sich nur wenige auf private Räume, andere hingegen auf Hotelzimmer und Arbeitsräume mit ihren jeweils spezifischen Bezügen, Bildtraditionen und Bedeutungen beziehen. 81 Schließlich erwähnt Kruska Intimität, Sex und Erinnerung als Bildthemen nur am Rande; stattdessen interessiert er sich für die Kontextualisierung der Bilder, um aufzeigen zu können, dass über bildinterne Verweise und die Bildtitel immer auch auf die Person hinter der Kamera und damit auf den subjektiven Blick verwiesen wird. Der Tagungsbeitrag von Barbara Lange zu Goldins Fotobuch The ballad of sexual dependency ist für diese Arbeit auch ohne eine Fokussierung auf Interieurs von Interesse. 82 Lange begreift das Buch als Teil

80 Kruska, Peter: Der subjektive Blick in den Fotografien der ‚Boston School‘. Marburg: Tectum 2008 (Diss., Univ. Leipzig 2006), S. 174. 81 Näher betrachtet werden Kleenex Room, Brothel, New York City, 1979; Empty Beds, Boston 1979; Cookie and Vittorio’s Living Room, New York City, Christmas 1989; Cookie and Max, New York City, September 16, 1989 sowie David’s Darkroom, New Haven 1997. 82 Vgl. Lange, Barbara: „Soap zwischen Buchdeckeln. Nan Goldin: Die Ballade von der sexuellen Abhängigkeit (1986)“. In: Schade, Sigrid / Thur-

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der visuellen Massenkultur und hebt Goldins Rekurs auf etablierte Bilder und Erzählungen hervor; so würde die Künstlerin in diesem Fotobuch beispielsweise etablierte Vorstellungen der Geschlechterdifferenz reproduzieren. Dass Goldin gerade auch Figuren, Räumen und Praktiken zur Darstellung verhilft, die von vorherrschenden Werten und Konventionen abweichen, belegen die folgenden Analysen von Interieurs, die sie in der Publikation Die Andere Seite zusammengefasst hat.83 In ihrer kunstwissenschaftlichen Untersuchung des Werks von Jeff Wall spürt Sandra Abend dem Wahrheitsgehalt seiner Fotografien nach, die trotz ihrer offensichtlich künstlichen Genese und Konstitution glaubwürdige Aussagen über die Wirklichkeit treffen könnten.84 Nur ein Interieur, Insomnia (1994), wird in diesem Zusammenhang erwähnt und nicht vertiefend analysiert. Für die vorliegende Forschungsarbeit sind die Betrachtungen von Abend daher vor allem hinsichtlich der Bildsprache Walls relevant. Gleiches gilt für die kunstgeschichtlichen Darstellungen von Valerie Hammerbacher zum Gesamtwerk Walls, die über andere Referenzen zu ähnlichen Ergebnissen kommt.85 Sie argumentiert, Wall würde das fotografische Paradigma überlisten, um eine „fiktionale Lesart“86 seiner Bilder anzuregen. Neben anderen Fotografien bezieht auch sie sich auf Insomnia. Beide resümieren, dass Walls Fotografien ihr künstlerisches Potenzial gerade über die Spannung zwischen medialer und thematischer Wirklichkeitsnähe sowie zwischen Evidenz und Fiktion entfalten würden.

mann-Jajes, Anne (Hg): Buch – Medium – Fotografie (anlässlich der Ausstellung „Ars Photographica. Fotografie und Künstlerbücher“, Neues Museum Weserburg Bremen, 01.12.2002-09.03.2003). Köln: Salon-Verl. 2004, S. 119-128. 83 Vgl. Kap. 6.2. 84 Vgl. Abend, Sandra: Jeff Wall. Photographie zwischen Kunst und Wahrheit (Diss., Univ. Düsseldorf 2005). Online unter: http://deposit.ddb.de/cgi-bin/dokserv?idn=976873087 (10.11.2009), S. 201. 85 Vgl. Hammerbacher, Valerie: Das arrangierte Bild. Strategien malerischer Fiktion im Werk von Jeff Wall (Diss., Univ. Stuttgart 2004). Online unter: http://elib.uni-stuttgart.de/opus/frontdoor.php?source_opus=2483 (10.11.2009). 86 A.a.O., S. 12.

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Für Betrachtungen von fotografischen Phänomenen in der Gegenwartskunst am Beispiel unterschiedlicher Positionen stehen die Forschungsarbeiten von Christine Walter zur inszenierten Fotografie als künstlerischer Darstellungsweise, 87 von Ralf Christofori zur Fotografie von modellierten Räumen und Orten 88 sowie von Christina Pack zu Dingen in der Fotografie.89 Alle drei Autoren beziehen sich auf Werke, die in den letzten 20 bis 30 Jahren entstanden sind, allerdings auf keine, die zum engeren Gegenstandsbereich der hier vorgestellten Untersuchung fotografischer Interieurs zählen.90 Dennoch erweisen sich einzelne Ergebnisse ihrer Forschungen als hilfreich. So deckt sich Packs Feststellung, dass Alltagsgegenstände in Fotografien der Gegenwartskunst als Spuren des Subjekts konstituiert und zugleich relativiert werden,91 mit der nachfolgenden Bewertung der künstlerischen Reflexion von Dingen als Teil der Wohnungseinrichtung.92 Ferner liegt den Analysen in der vorliegenden Arbeit ein Begriff von inszenierter Fotografie zugrunde, den Walter im Rekurs auf theaterwissenschaftliche Betrachtungen herausgearbeitet hat. Merkmale einer inszenierten Fotografie sind demnach eine schrittweise realisierte Bildidee, die szeni-

87 Vgl. Walter, Christine: Bilder erzählen! Positionen inszenierter Fotografie. Eileen Cowin, Jeff Wall, Cindy Sherman, Anna Gaskell, Sharon Lockhart, Tracey Moffatt, Sam Taylor-Wood. Weimar: VDG 2002 (Diss., Univ. München 2001). 88 Vgl. Christofori, Ralf: Bild – Modell – Wirklichkeit. Repräsentationsmodelle in der zeitgenössischen Fotografie. Oliver Boberg, James Casebere, Thomas Demand, David Levinthal, Lois Renner, Laurie Simmons, Edwin Zwakman. Heidelberg: Das Wunderhorn 2005 (Diss., Univ. Heidelberg 2003). 89 Vgl. Pack, Christina: Dinge. Alltagsgegenstände in der Fotografie der Gegenwartskunst. Berlin: Mann 2008 (Diss., Humboldt-Univ. Berlin 2006). 90 Allein Walter führt Jeff Wall und Tracey Moffatt an, um an deren Werken zu zeigen, wie sich Künstler in den 1970er/1980er bzw. 1990er Jahren mit der Inszenierung narrativer Szenen beschäftigt haben. Im Zentrum der Analyse stehen allerdings nicht die Interieurs der Künstler, die im Rahmen der vorliegenden Untersuchung interessieren. 91 Vgl. Pack 2008, S. 276. 92 Vgl. vor allem Kap. 4 und Kap. 8.1.

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sche Ausstattung, die Ausrichtung des gesamten Bildraums auf den Betrachter sowie die (implizit) narrative Struktur. 93 Im Mittelpunkt der Ausstellungen, Forschungsprojekte und Kunstkritiken, die sich in den letzten Jahren dem Interieur in der Gegenwartskunst angenommen haben, standen meist Malereien, Objekte oder Installationen und keine Fotografien. In zahlreichen Vorträgen und Aufsätzen hat sich insbesondere die Kunsthistorikerin Beate Söntgen mit Interieurs in der Kunst beschäftigt.94 Anlässlich der Tagung „Topos Raum“ vertrat sie die These, dass das Interieur vor allem in den 1990er Jahren wieder zum Thema in der Kunst geworden sei. 95 Das kritische Potenzial aktueller Interieurs basiert ihrer Meinung nach auf der Verschränkung gattungsspezifischer Reflexionen über die Selbst- und Weltwahrnehmung des Subjekts mit der Frage nach der medialen und materiellen Bedingtheit von Kunst. Während sie sich in diesem Beitrag auf installative und filmische Werke bezieht, fokussiert sie in anderen Aufsätzen auch auf fotografische Interieurs, wie die von Goldin und Billingham96 oder Hubbard/Birchler. 97 Von ihren For-

93 Vgl. Walter 2002, S. 52ff. 94 Ihre Forschungsschwerpunke liegen dabei auf der holländischen Malerei des 17. und der Kunst des 19. bis 21. Jahrhunderts (vgl. z.B. Söntgen, Beate: „Eine Frage der Perspektive. Vertiefung ins Innere bei Pieter de Hooch“. In: Schweidler, Walter (Hg.): Weltbild – Bildwelt (Ergebnisse und Beiträge des Internationalen Symposiums der Hermann-und-MarianneStraniak-Stiftung, Weingarten 2005). Sankt Augustin: Academia 2007, S. 79-82; Söntgen, Beate: „Frauenräume – Männerträume. Interieur und Weiblichkeit im 19. Jahrhundert“. In: Schulze 1998, S. 203-211 sowie Söntgen 2004, S. 363-375. 95 Vgl. Söntgen 2004, S. 363. 96 Vgl. Söntgen, Beate: „Bei sich sein. Szenen des Privaten in den Fotografien von Richard Billingham und Nan Goldin“. In: Brandstetter, Gabriele / Diekmann, Stefanie / Brandl-Risi, Bettina (Hg.): Hold it! Zur Politik der Pose zwischen Bild und Performance (anlässlich der gleichnamigen Tagung, Hebbel am Ufer, Berlin, 17.-18.02.2007). (In Vorbereitung). 97 Vgl. Söntgen, Beate: „Bühnen des Innen. Die entkleideten Interieurs von Teresa Hubbard und Alexander Birchler“. In: Walther, Silke (Hg.): Carte Blanche. Mediale Formate in der Kunst der Moderne. Berlin: Kadmos 2007, S. 201-212.

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schungen kann in der folgenden Studie an verschiedenen Stellen profitiert werden. In der Publikation Not at Home haben sich vor allem US-amerikanische Architekturtheoretiker, Historiker und Kunstwissenschaftler zur Häuslichkeit als Thema von Architektur und Kunst in der Moderne geäußert.98 Im letzten Aufsatz des Bandes wird die Postmoderne als Ära identifiziert, in der sich Künstler und Architekten von der ambivalenten bis antagonistischen Beziehung der Moderne zur Häuslichkeit abgegrenzt und sich (wieder) auf die spezifische Erfahrungs- und Vorstellungswelt des Heims konzentriert hätten. 99 Dabei hätten sie in ihren Arbeiten die Einsicht, dass der häusliche Bereich auch als Ort der Unterdrückung und des Stillstands sowie der Ermächtigung und des Wechsels gelten muss, einfließen lassen. Beispielhaft angeführt werden hier u.a. die Fotografien Goldins, die über den privaten Raum alternative Lebensformen artikulieren. Zum Interieur in der Gegenwartskunst wurden in den vergangenen zehn Jahren zahlreiche Ausstellungen realisiert, so dass der Eindruck entsteht, es handle sich dabei um ein aktuelles und dringliches Thema, das von Künstlern intensiv und facettenreich bearbeitet wird. Auch wenn fotografische Arbeiten dabei nur vereinzelt gezeigt wurden, sind einige der Perspektiven, Thesen und Textbeiträge, die in diesen Zusammenhängen vermittelt werden, für die nachfolgende Abhandlung von Interesse. Drei Beispiele veranschaulichen die unterschiedlichen Ansätze in den kuratorischen Konzepten. 100 Im Zentrum der Ausstel-

98

Vgl. Reed, Christopher (Hg.): Not at Home. The Suppression of Domes-

99

Vgl. Haar, Sharon / Reed, Christopher: „Coming Home. A Postscript on

ticity in Modern Art and Architecture. London: Thames & Hudson 1996. Postmodernism“. In: Reed 1996, S. 253-273. 100 Weitere Ausstellungen waren beispielsweise „Home Sweet Home“ in den Deichtorhallen Hamburg mit der Pop Art als kunsthistorisches Bezugsfeld und Bildern von Richard Billingham als Exponaten (vgl. Felix, Zdenek (Hg.): Home Sweet Home (anlässlich der gleichnamigen Ausstellung, Deichtorhallen Hamburg, 20.06.-28.09.1997). Köln: Oktagon 1997), „Come-in“ (2001) als Ausstellung des Instituts für Auslandsbeziehungen mit Interieurs von 25 Künstlern aus Deutschland (vgl. Come-in. Interieur als Medium der zeitgenössischen Kunst in Deutschland (anlässlich der gleichnamigen Ausstellung des Instituts für Auslandsbeziehungen, Stuttgart 2001). Köln: König, 2001) oder „Revisiting Home“ in der Neuen

E INLEITUNG | 31

lung „Trautes Heim“, die die Galerie für Zeitgenössische Kunst Leipzig im Jahr 2003 realisiert hat, standen künstlerische Arbeiten zu privaten Räumen, Privatsphären in öffentlichen Räumen sowie Architektur- und Einrichtungsmodelle des 20. Jahrhunderts. 101 Neben Installationen, Zeichnungen und Filmen wurden auch Fotografien aus der Serie MUSEUMS, COLLECTIONS AND RECONSTRUCTIONS von Bäckström präsentiert, die im Rahmen dieser Forschungsarbeit allerdings weniger unter dem Aspekt der Standardisierung von Innenraumgestaltung, sondern vielmehr aus der Perspektive des ‚kulturellen Gedächtnisses‘ betrachtet werden.102 Im Katalog hat die Kunsthistorikerin Beatrice von Bismarck über den häuslichen Innenraum als Bezugspunkt für Künstlerinnen in den 1970er Jahren geschrieben, die in ihren performativen Werken über die Bedingungen künstlerischer Existenz reflektiert haben. Ihre Ausführungen helfen, in der anschließenden Betrachtung die Serie FEMALE POWER STATIONS: QUEEN BEES von Jacqueline Hassink zur geschlechtsspezifischen Strukturierung privater und öffentlicher Räume (historisch) zu bewerten. 103 Die Ausstellung „Personal Affairs“ am Museum Morsbroich in Leverkusen (2006) basierte auf der Annahme, dass auf die Hochzeit künstlerischer Auseinandersetzung mit veröffentlichten Bildwelten in den 1980er Jahren eine Hinwendung der Kunst zum realen Leben folgte.104 Analog zum gesellschaftlichen Rückzug ins Private würden sich die Künstler der Gegenwart weniger mit dem öffentlichen oder politischen Leben befassen, sondern vielmehr mit den privaten und intimen Beziehungen der Menschen. 105 Dabei hätten sie die skeptische Haltung

Gesellschaft für Bildende Kunst mit Werken zum Wohnen als ‚Schnittstelle‘ zwischen Individuum und Gesellschaft (vgl. Revisiting Home. Wohnen als Schnittstelle zwischen Individuum und Gesellschaft (anlässlich der gleichnamigen Ausstellung, Neue Gesellschaft für Bildende Kunst, Berlin, 08.09.-15.10.2006). Berlin: NGBK 2006). 101 Vgl. Schäfer, Julia: „Einführung“. In: dies. 2003, S. 25-41: 31. 102 Vgl. Kap. 8.2. 103 Vgl. Kap. 5.2. 104 Vgl. Heinzelmann, Markus: „Die Ränder der Intimität“. In: ders. (Hg.): Personal Affairs. Neue Formen der Intimität (anlässlich der gleichnamigen Ausstellung, Museum Morsbroich, Leverkusen, 03.12.2006-18.02. 2007). Köln: DuMont 2006, S. 17-20: 20. 105 Vgl. Heinzelmann, Markus: „Vorwort“. In: ders. 2006, S. 11-12: 11.

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der Postmoderne gegenüber einer unvermittelten Wirklichkeit in der Kunst verinnerlicht und würden statt der eigenen die Intimität anderer distanziert thematisieren. Präsentiert wurden u.a. die intimen Einblicke von Laurenz Berges, die er mit seiner Fotografie verlassener und ausgeräumter Wohnungen vermeintlich gewährt,106 sowie Nan Goldins künstlerische Verarbeitung von persönlichen Schicksalsschlägen und Krisen in der Multimediaprojektion Sisters, Saints and Sybils, 2004.107 Jüngst wurden im Kunstmuseum Wolfsburg in der Ausstellung „Interieur / Exterieur“ (2008) Kunstwerke zum Thema Wohnen mit stilbildenden Designobjekten kombiniert, um die Annäherung zwischen Kunst und Gestaltung in Hinblick auf den Ideenaustausch und die gegenseitige Adaption von Arbeitsmethoden als ungebrochenes Projekt der Moderne zu belegen.108 Darüber hinaus war die Präsentation durch thematische Schwerpunkte strukturiert, wie das Unheimliche im privaten Raum oder die Sexualisierung des Interieurs, die sich teilweise auch in der vorliegenden Untersuchung wiederfinden.109 Zu den fotografischen Arbeiten der Ausstellung gehörten Bilder aus der Serie MULBERRY L ODGE / FRANCIS PLACE von Sarah Jones110 sowie Foto-

106 Z.B. Etzweiler, 2001 (#1763); vgl. Kap. 8.1. 107 In der Multimedia-Dreifachprojektion kombiniert Goldin Bilder der Heiligen Barbara mit Fotografien von ihrer durch Freitod im Alter von achtzehn Jahren verschiedenen Schwester sowie mit Foto- und Filmaufnahmen, die während zweier Aufenthalte der Fotografin in einer Psychiatrie in London 2002 entstanden sind. Da diese Arbeit kaum Interieurs umfasst, wird sie im Folgenden nicht näher betrachtet. 108 Vgl. Brüderlin, Markus / Lütgens, Annelie (Hg.): Interieur / Exterieur. Wohnen in der Kunst. Vom Interieurbild der Romantik zum Wohndesign der Zukunft (anlässlich der gleichnamigen Ausstellung, Kunstmuseum Wolfsburg, 29.11.2008-13.04.2009). Ostfildern: Hatje Cantz 2008. 109 Vgl. Kap. 7.2 und Kap. 7.4. 110 Während die Kuratoren der Wolfsburger Ausstellung in den Fotografien vor allem das psychische Innenleben der inszenierten Heranwachsenden gespiegelt sehen, fokussiert die nachstehende Analyse auf das Lebensalter der Figuren sowie ihre zwischen Individualisierung und Integration oszillierenden Posen im Kontext eines spezifischen soziokulturellen Wohnumfeldes (vgl. Kap. 2.3).

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grafien aus der bereits erwähnten Serie von Miriam Bäckström,111 die beide in den folgenden Ausführungen näher analysiert werden. 112 Das Interieur in historischen Epochen der Kunst wurde sowohl in Überblicksausstellungen als auch in Einzeluntersuchungen facettenreich beleuchtet; eine kunstwissenschaftliche oder gattungstheoretische Gesamtdarstellung zum Interieur in der Kunst wurde bisher allerdings nicht vorgelegt. 113 Epochenübergreifend und in einem großen Spektrum von Fragestellungen hat die umfangreiche Ausstellung „Innenleben“ (1997) am Städelschen Kunstinstitut und in der Städtischen Galerie in Frankfurt a.M. das Bildmotiv vermittelt. 114 Im Mittelpunkt standen hier die Epochen und Kunstlandschaften, in denen das Interieur eine innovative Rolle gespielt hat, so dass neben Genreszenen in der holländischen Malerei des 17. Jahrhunderts115 auch französische Boudoirdarstellungen des 18. Jahrhunderts, 116 Bilder karger Zimmer von deutschen Künstlern des frühen 19. Jahrhunderts117 sowie Rauminstallationen des 20. Jahrhunderts118 präsentiert wurden. Fundierte Katalogbeiträge widmen sich dem Gattungsbegriff119, dem engen Verhältnis zwischen Interieur und privatem Leben bzw. Wohnen 120 sowie der Bedingtheit von Interieur und Weiblichkeit 121. Von den Collagen Richard Hamiltons abgesehen fand Fotografie als Medium bzw. Material der Kunst in der Ausstellung keine weitere Beachtung.

111 Vgl. Kap. 8.2. 112 Darüber hinaus wurden Martha Roslers (*1943) Fotografien von Fotocollagen aus der Serie BRINGING THE WAR HOME. HOUSE BEAUTIFUL (1967-1972) sowie Bilder aus der eher soziologisch motivierten Fotoarbeit DAS DEUTSCHE WOHNZIMMER von Herlinde Koelbl gezeigt. 113 Vgl. auch Kemp, Wolfgang: „Gattung“. In: Pfisterer 2003, S. 108-110. 114 Vgl. Schulze 1998. 115 Z.B. Nicolas Maes (1634-1693): Das Geheimnis (1657). In: A.a.O., S. 33. 116 Z.B. François Boucher (1703-1770): La Toilette (1742). In: A.a.O., S. 79. 117 Z.B. Georg Friederich Kersting (1785-1847): Am Stickrahmen (1827). In: A.a.O., S. 135. 118 Z.B. Ilya Kabakov (*1933): Im Wandschrank (1998). In: A.a.O., S. 417. 119 Vgl. Kemp 1998, S. 17-29. 120 Vgl. Gramaccini, Norberto: „Die Freuden des privaten Lebens. Das Interieur im historischen Wandel“. In: Schulze 1998, S. 90-109. 121 Vgl. Söntgen 1998, S. 203-211.

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Auch Nils Ohlsen weist in seiner Untersuchung Skandinavische Interieurmalerei zur Zeit Carl Larssons einen engen Zusammenhang zwischen den Bildwelten und der zeitgenössischen Alltagserfahrung nach.122 Bemerkenswert sei vor allem die gesellschaftliche Bedeutung der Interieurs im Kontext der skandinavischen Wohnreform um 1900. Ohlsen stellt in seiner Arbeit die Bedingungen dar, die in einem Interieur ein bestimmtes Bild vom Menschen und seinem unmittelbaren Lebensraum vermitteln. Er analysiert dabei insbesondere die Ambivalenz zwischen Innen- und Außenraum sowie die Bedeutung weiblicher Figuren im Interieur, die auch im Zentrum der vorliegenden Betrachtungen steht. Dass Interieurs nicht nur häusliches Glück vorführen, sondern gerade auch auf Ängste, Spannungen und Konflikte verweisen, hat Felix Krämer in seiner Forschungsarbeit Das unheimliche Heim aufgezeigt. 123 Am Beispiel der Interieurdarstellungen von Paul Signac (1863-1935), Edvard Munch (1863-1944), Edouard Vuillard (18681940), Félix Vallotton (1865-1925), Vilhelm Hammershøi (18641916) und Pierre Bonnard (1867-1947) hat er nicht nur die Motive, sondern auch die Darstellungsverfahren ausgewiesen, die ein Unbehagen zum Ausdruck bringen. Wie in Krämers Arbeit werden auch in den folgenden Analysen sowohl (historische) Quellen genutzt wie die Ausführungen Freuds zum Unheimlichen als auch andere akademische Disziplinen, um die disparaten Strukturen der Interieurs offenlegen zu können. Obwohl die Überlegungen zu Interieurs als Malerei und Installation sowie die Forschungen über Interieurs aus historischen Epochen nicht immer direkt für die Analysen von fotografischen Interieurs in der Gegenwartskunst fruchtbar gemacht werden können, sind sie dennoch wichtige Bezugspunkte der nachstehenden Betrachtungen. In Ermangelung einer umfangreichen, epochenübergreifenden Theoretisierung des Interieurs in der Kunst konnten auf diesem (Um-)Weg gattungsspezifische Bildkonzepte, Fragestellungen und Bedeutungsfelder isoliert und in ihrer Bedeutung für den eigenen Gegenstand überprüft werden. So kann gezeigt werden, dass viele fotografische Arbeiten auf

122 Vgl. Ohlsen, Nils: Skandinavische Interieurmalerei zur Zeit Carl Larssons. Berlin: Reimer 1999 (Diss., Freie Univ. Berlin 1997). 123 Vgl. Krämer, Felix: Das unheimliche Heim. Zur Interieurmalerei um 1900. Köln / u.a.: Böhlau 2007 (Diss., Univ. Hamburg 2005).

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Kompositionen, Themen und Motive rekurrieren, die dem traditionellen Bildprogramm Interieur entstammen. Die folgende Abhandlung ist als Beitrag zur kunstwissenschaftlichen Diskussion um das Interieur zu verstehen, da sie direkt an die einschlägigen Forschungen in diesem Bereich anschließt. Darüber hinaus nimmt sich die Untersuchung über ihren Gegenstand und ihre Methode gleich in dreifacher Weise Forschungsdesideraten zum künstlerischen Interieur an. Zwar existieren vereinzelte Analysen von Fotografien privater Räume in der Kunst, aber erst diese Studie stellt das Phänomen fotografischer Interieurs in der Gegenwartskunst umfassend und strukturiert dar, reflektiert die mediale Verfasstheit der Bilder explizit und ermittelt über die kulturwissenschaftliche Perspektive die kulturellen Bezüge, Bedeutungen und Bedeutsamkeiten der fotografischen Raumbilder.

5

Q UELLENLAGE

Neben den erwähnten Sekundärtexten bezieht sich die Untersuchung auf Primärquellen, die aus den betrachteten Interieurs und aus Gesprächen mit den Künstlern124 bestehen. Ein Großteil der Bilder wurde in der vom Künstler ursprünglich realisierten Gestalt in Augenschein genommen, wobei es sich dabei sowohl um fotografische Aufsichtsbilder (C-Prints, Cibachrome oder Silbergelatine-Abzüge) als auch um projizierte Diapositive (mit Tonspur) oder um eigenständige Fotobücher handeln kann.125 Nur wenige Bildanalysen stützen sich nicht auf ästhe-

124 Lediglich von Sarah Jones und Patrick Faigenbaum liegen keine Selbstäußerungen vor. 125 Die Fotoserie THE BALLAD OF SEXUAL DEPENDENCY von Nan Goldin existiert sowohl als Fotobuch als auch in Form einer Ton-Dia-Schau, die stetig modifiziert wird und jüngst in Berlin im Rahmen der Ausstellung „Poste Restante“ (c/o Berlin, 10.10.-06.12.2009) präsentiert wurde. Autonome Fotobücher haben zudem Tina Barney, Laurenz Berges, Richard Billingham, Jacqueline Hassink, Wiebke Loeper, Daniela Rossell und Larry Sultan vorgelegt. Lediglich Loeper hat die Fotografien ihres Fotobuchs Moll 31 nur exklusiv in dieser und nicht noch in einer anderen Form, beispielsweise als fotografisch (re-)produziertes Einzelbild, veröffentlicht.

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tische Erfahrungen am Original, sondern rekurrieren auf Beschreibungen und Deutungen Dritter oder leiten die Beschaffenheit und mögliche Wirkung der Interieurs von anderen Bildern aus der gleichen Serie oder vergleichbaren Arbeiten aus dem Werk des Künstlers ab. Jede Einzeluntersuchung konnte sich auf qualitativ hochwertige Reproduktionen in Fotobüchern, Monographien oder Ausstellungskatalogen stützen. Auch wenn nicht immer alle Parameter, die das Wesen der Bilder ausmachen und deren Wahrnehmung und Interpretation beeinflussen,126 explizit erwähnt werden, wurde durchgehend versucht, sie bei der Analyse zu berücksichtigen.

126 Zu den Einflussgrößen zählen das Format, die Rahmung, die Art der Präsentation, die Qualität der Verarbeitung, die Oberflächengestaltung, die Farbgebung in Hinblick auf Farbtöne, Helligkeit und Sättigung, die Tonwerte und die Kontraste bei Schwarzweißabbildungen sowie die Kombi–nation mit anderen Bildern.

1

Psychische Innenräume

Im Interieur wird außer der Beziehung des Subjekts zur Welt auch sein Verhältnis zu sich selbst thematisiert. Viele Interieurs verweisen weniger auf den gesellschaftlichen Außenraum, sondern vielmehr auf den psychischen Innenraum und die emotionale Verfasstheit der Bewohner. Es waren Künstler wie Félix Vallotton (1865-1925), Pierre Bonnard (1867-1947), Édouard Vuillard (1868-1940) und Edvard Munch (1863-1944), die im Zuge des gesteigerten Interesses am Innenleben des Menschen und neuer Erkenntnisse über die Struktur der Psyche um 1900 begannen, sich in Interieurs intensiv auf eben diese Innenwelt des Subjekts zu konzentrieren. „In der geheimnishaften Atmosphäre der Zimmer werden Situationen evoziert, die dem Seelenzustand der Bewohner nachspüren“1, konstatiert Ursula Perucchi-Petri in Hinblick auf Innenraumbilder der Künstlergruppe Nabis. Die „Poesie des inneren Lebens“ entstehe durch die Wechselbeziehung zwischen der Raumatmosphäre und der Gestimmtheit der darin dargestellten Figuren, die sie als „meditative Selbstversunkenheit“2 beschreibt. Die Harmonie zwischen den Bewohnern und ihrem Umfeld, die Perucchi-Petri in den von ihr betrachteten Bildern erkennt, spricht Susan Sidlauskas hingegen Arbeiten der Nabis sowie weiteren Schlüsselbildern des späten 19. Jahrhunderts ab. Sidlauskas betont, dass viele Interieurs in dieser Zeit gerade Zustände psychischen Unbehagens, der Entfremdung

1

Perucchi-Petri, Ursula: Intime Welten. Das Interieur bei den Nabis. Bon-

2

Ebd.

nard, Vuilard, Vallotton. Bern: Benteli 1999, S. 77.

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zwischen den Geschlechtern und der Isolation von Kindern zeigten.3 Entscheidend sei, dass diese Themen nicht (mehr) in einer Bildgeschichte über narrative Details und Symbole verhandelt, sondern vor allem über die spezifische Anlage der Figur-Raum-Beziehung vermittelt werden. 4 Über Asymmetrien und Verzerrungen seien die verstörenden Bildinhalte unmittelbar sinnlich erfahrbar. Auch in der Gegenwartskunst ist das Interieur – nach dem Porträt – die bevorzugte Bildgattung für die Reflexion des Innenlebens des (Wohn-)Subjekts. Fotografische Interieurs von Nan Goldin, Gregory Crewdson und Teresa Hubbard / Alexander Birchler rekurrieren dabei vornehmlich auf das Motiv der Introspektion, indem sie Figuren in privaten Räumen mit starrem Blick vorführen, die in sich versunken erscheinen oder sich im Spiegel betrachten. Ausdrucksträger sind hier sowohl die Alltagsräume in ihren lebensweltlichen Funktionen als auch die formalen Anlagen der Bildräume. So zeigen viele Fotografien Bäder und Schlafzimmer als Lebensräume, die die Intimsphäre der Bewohner schützen und eine konzentrierte Innenschau ermöglichen. Zwar erscheinen viele der Porträtierten den räumlichen Umfeldern entrückt, aber manche alltägliche Szenerie lässt sich bisweilen dennoch als Anlass für die indizierte Autoreflexion interpretieren. Dass die Bildkomposition die Wirkung der Selbstbeobachtung strukturiert, ist besonders in den Bildern evident, in denen die Figuren zu ihrem Spiegelbild in ein Verhältnis von Nähe oder Distanz gerückt werden. Die Interieurs mit dem Spiegel-Sujet können schließlich als Sinnbilder für grundlegende Fragen nach der Konstituierung des Subjekts und der Ausbildung von Identität, d.h. dem Versuch eines Individuums, die als Selbst erlebte innere Einheit der eigenen Person (wieder) herzustellen,5 verstanden werden. In anderen Bildern überwiegen melancholische Motive, die Verlusterfahrungen, unerfüllte Sehnsüchte oder Todesahnungen aufrufen.

3

Sidlauskas, Susan: „Psyche and Sympathy. Staging Interiority in the Early

4

Vgl. a.a.O., S. 68.

5

Vgl. Straub, Jürgen: „Personale und kollektive Identität. Zur Analyse eines

Modern Home“. In: Reed 1996, S. 65-80.

theoretischen Begriffs“. In: Assmann, Aleida / Friese, Heidrun (Hg.): Identitäten. Erinnerung, Geschichte, Identität. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998, S. 73-104: 91.

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1.1

G ESCHÜTZTE S ELBSTREFLEXION

Die Fähigkeit zur Selbstbeobachtung ist nach Nan Goldin 6 eine der herausragenden Kennzeichen ihrer „Familie von Freunden“7, dem wichtigsten Bezugspunkt ihrer künstlerischen Live-Fotografie8. Von einer Lust am Sehen und Gesehenwerden zeugen zuvorderst ihre Bilder von Drag Queens, die beim aufwändigen Präparieren für den öffentlichen Auftritt und beim Flirt mit der Kamera gezeigt werden. Das Interesse am eigenen Bild und an Goldins empathischer Sicht auf die Szene äußerte sich auch im Gebrauch der Fotografien, die zunächst vor allem den unmittelbar Beteiligten im Rahmen von Ton-DiaSchauen in Clubs gezeigt wurden. Der Titel von Goldins erster Retrospektive „I’ll be your mirror“ ist daher insbesondere für ihre Fotogra-

6

Nan Goldin wurde 1953 in Washington D.C. (USA) geboren. Sie studierte an der School of the Museum of Fine Arts / Tufts University, Boston (MA), absolvierte dort 1977 einen Bachelor of Arts und 1978 ein 5th Year Certificate. Heute lebt und arbeitet sie zwischen New York, Paris und London (vgl. http://www.matthewmarks.com/index.php?n=1&a=128&b=1 (10.11.2009)).

7

Goldin, Nan: „Die Ballade von der sexuellen Abhängigkeit“. In: Nan Gol-

8

Den Begriff Live-Fotografien verwenden Petr Tausk und Walter Ko-

din 1987 (1986), S. 6-9: 6. schatzky in ihren fotohistorischen Abhandlungen für Fotografien, die als lebensnahe Momentaufnahmen im ‚entscheidenden Augenblick‘ einer beobachteten Situation entstanden sind (vgl. Tausk, Petr: Die Geschichte der Fotografie im 20. Jahrhundert. Von der Kunstfotografie bis zum Bildjournalismus. DuMont: Köln 1977, S. 77ff; Koschatzky, Walter: Die Kunst der Fotografie. Technik, Geschichte, Meisterwerke. München: Dt. Taschenbuch-Verl. 1987 (Originalausgabe Salzburg / u.a.: Residenz 1984), S. 196). In Anlehnung an diese Bestimmungen, aber ohne die Kategorie nur historisch gelten zu lassen oder exklusiv an den Bildjournalismus zu binden, wird in dieser Abhandlung Live-Fotografie als eine Fotografie verstanden, die in einer vermeintlich ungestellten raumzeitlichen Situation stattfindet und sich scheinbar direkt und spontan auf die sichtbare Wirklichkeit bezieht. ‚Live‘ wirken diese Fotografie also nicht aufgrund ihrer Themen oder Gebrauchsweisen, sondern allein wegen ihrer spezifischen Motive und formalen Anlage.

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fie in den 1980er Jahren programmatisch zu verstehen.9 Mit ihrem anfänglich geäußerten Anspruch, eine „wirkliche“ und „ungeschönte“10 Darstellung ihres sozialen Umfelds zu zeigen, bezieht sie sich auf (historische) Vorstellungen von der Fotografie als unhintergehbarem Spiegelbild der Wirklichkeit, als „Spiegel mit einem Gedächtnis“11, wie Oliver Wendell Holmes Mitte des 19. Jahrhundert Stereofotografien bezeichnet hat.12 Die Vielzahl an fotografierten Spiegeln in ihrem Frühwerk verweist auf dieses künstlerische Selbstverständnis, gerade da sie sich und ihre Freunde sowohl in ekstatischen Höhenflügen als auch an schmerzvollen Tiefpunkten des Lebens fotografiert hat. Die

9

Mit dem Ausstellungstitel zitiert Goldin den Titel eines Liedes (1966) von Velvet Underground, das zum Soundtrack der Diaschau gehört und als Kapitelüberschrift in der Ballade genutzt wird. In dem Liedtext behauptet ein sprechendes Ich, sein Gegenüber sei blind, wenn es sich als ‚pervers‘ (twisted) und ‚grausam‘ (unkind) wahrnehmen würde; vielmehr sei es eine Schönheit, wie das Ich zeigen könne, wenn das Gegenüber sich nur nicht verbergen würde (vgl. http://www.tsrocks.com/v/velvet_underground_ the_texts/ ill_be_your_mirror.html (21.03.2007)).

10 Nan Goldin 1987 (1986), S. 6. 11 Holmes, Oliver Wendell. In: „Das Stereoskop und der Stereograph (1859)“. In: Kemp, Wolfgang (Hg.): Theorie der Fotografie I. 1839-1912. München: Schirmer/Mosel 1980, S. 114-121: 116. Die spiegelnde Oberfläche der Daguerreotypien lassen diese als Vexierbilder erscheinen, die je nach Perspektive das fotografische Bild oder das eigene Spiegelbild zeigen (vgl. Stiegler, Bernd: Bilder der Photographie. Ein Album photographischer Metaphern. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006, S. 201). 12 Bereits kurz nach der Erfindung der Fotografie wird das Verhältnis der Fotografie zur Wirklichkeit auch differenzierter beschrieben. Aus semiotischer Perspektive hat Umberto Eco nachgewiesen, dass die Fotografie im Gegensatz zum Spiegel als Zeichen gelten muss. Denn im Unterschied zur Fotografie könne im Spiegelbild der Referent nicht abwesend sein, so dass „das Spiegelbild nicht zum Lügen benutzt werden [kann]“ (Eco, Umberto: Über Spiegel und andere Phänomene. München: Dt. Taschenbuch-Verl. 1995 (ungekürzte dt. Ausgabe, 4. Aufl.; Originalausgabe Sugli specchi e altri saggi. Milano: Bompiani 1985), S. 56). Wenn die Fotografie im zeichentheoretischen Sinne als Spur verstanden wird, die für die Übersetzung in ein anderes Medium steht, weckt sie stets den Verdacht zu lügen, indem sie etwas zeigt, was nicht unbedingt dagewesen sein muss.

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biografische Rezeption ihrer Bilder wird befördert durch Interviews und Texte, in denen Goldin wiederholt anführt, dass manche der Porträtierten sich erst über ihre Bilder selbst „wirklich kennen gelernt“13 hätten. Auch ihr hätten insbesondere die Selbstporträts geholfen, „um schwer aushaltbare Krisen zu überstehen und brenzlige Situationen zu meistern“14. Expliziert thematisiert wird dieser Prozess der Selbstreflexion allerdings nur in einigen frühen Bildern, die in Goldins erster Publikation The ballad of sexual dependency veröffentlicht wurden, und in wenigen der Selbstporträts, die sich durch das gesamte Werk ziehen. Die in sich oder in ihr Spiegelbild versunkenen Personen werden dabei meist in Raumgefügen dargestellt, die die introspektive Ausrichtung der Bilder wesentlich beeinflussen. Diese Fotografien weisen drei im Grundsatz verschiedene Bildanlagen auf, wie die folgende Analyse exemplarischer Bilder offenbart. In Suzanne on her bed, New York City 1983 umrahmen an der Wand hängende Bilder, Zettel und Objekte sowie auf dem Boden liegende Kleidungsstücke die zentrale Szenerie (vgl. Abb. 1). Die Fotografie deutet ein Schlafzimmer an, das als einer der intimsten privaten Räume das Ablegen aller schützenden (Kleidungs-)Hüllen ermöglicht, Geborgenheit suggeriert und hier ansatzweise auf die Persönlichkeit seiner Bewohnerin verweist. Bildbestimmende Elemente sind die weibliche Figur und das Bett, auf dessen Kante sie aufrecht sitzt und das fast die Hälfte der Bildfläche einnimmt. Durch die perspektivische Aufsicht erscheint es in einer tiefen räumlichen Ausdehnung und umfängt den Körper der dargestellten Person fast vollständig. Die kompositorische Einheit zwischen Frau und Bett wird auch durch die Ausrichtung der Oberschenkel zur vorderen Bettkante im Bildvordergrund hergestellt, die die Öffnung des Körpers in Dreiviertelansicht zum Betrachter und zur vermuteten Lichtquelle hervorhebt. Auf der zentralen vertikalen Achse des Bildes wird ein Schwebezustand zwischen Blöße

13 Nan Goldin im Gespräch mit Heinz-Norbert Jocks: „Der Glamour der Queer-Sicht oder ,warum ich mich wie ein schwuler Mann in einem weiblichen Körper fühle‘“. In: Kunstforum International, Bd. 154/2001, S. 294313: 296; Nan Goldin im Gespräch mit David Armstrong und Walter Keller: „On Acceptance: A Conversation“. In: Nan Goldin. I'll be your mirror (anlässlich der gleichnamigen Ausstellung, Whitney Museum of American Art, 03.10.1996-05.01.1997 / u.a.). Zürich: Scalo 1996, S. 447-454: 449. 14 Nan Goldin im Gespräch mit Heinz-Norbert Jocks 2001, S. 297.

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und Bekleidung verdichtet dargestellt. Berücksichtigt man noch die Art der Kleidung – ein um den Kopf geschlungenes Handtuch und ein langer Morgenmantel – und die Haltung sowie den Blick der dargestellten Person, ergibt sich das Bild einer Schwellensituation. Die Person liegt zwar nicht im Bett, ist aber auch nicht ganz aufgestanden. Sie ist nur spärlich bekleidet, hat möglicherweise gerade geduscht, scheint aber noch nicht für die nächste Handlung bereit. Sie verharrt, leicht in sich zusammengesunken, und schaut in die Ferne, in Richtung des Lichts, das tageszeitlich kaum bestimmbar ist, aber ebenso ein Außen repräsentiert wie die implizit anwesende Fotografin. Es bleibt unklar, ob die Dargestellte die Intimität des Betts, des Schlafs oder des Traums hinter sich lassen will zugunsten eines ‚sozialen Auftritts‘ oder gerade im Begriff ist, sich zurückzuziehen. Ihr abwesender, starrer Blick suggeriert innere Einkehr. Auch verschwindet ihr zarter Körper eher unter dem schweren Mantel und dem großen Frottée-Turban als dass er kommunikativ hervortreten würde. Abbildung 1 (O.i.F.). Nan Goldin: Suzanne on her bed, New York City 1983

Die direkt vorangestellten und nachfolgenden Bilder in der Ballade mit der aufreizend posierenden Lynelle15 und den sinnlichen Duschund Badeszenen16 erzeugen einen Kontrast, der die kontemplative

15 Lynelle on my bed, New York City 1985. In: Nan Goldin 1986, S. 32. 16 Z.B. Suzanne in the shower, Palenque, Mexiko 1981. In: Nan Goldin 1986, S. 35; Käthe in the tube, West-Berlin 1984. In: Nan Goldin 1986, S. 36.

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Ausstrahlung des Bildes hervorhebt. Denn vorgeführt wird nicht eine erotische Boudoir-Situation, sondern ein Moment des Innehaltens. Suzanne on her bed, New York City 1983 kann daher geradezu als Sinnbild für den Entwurf des modernen Subjekts zwischen einem psychischen Innen und einem soziokulturellen Außen begriffen werden, insofern das Interieur wesentliche Instanzen und Funktionen der Psyche adressiert wie Gedanken, Träume und Triebe, aber auch äußere Realitäten, Anforderungen und vergangene wie künftige Handlungen.17 Abbildung 2 (O.i.F.). Nan Goldin: Suzanne with Mona Lisa, Mexiko City 1981

Die Fotografie von Suzanne auf ihrem Bett ist einem Kapitel der Ballade zugeordnet, das Aufnahmen von einzelnen Frauen umfasst, die ihr Äußeres im Badezimmerspiegel prüfen, in Wohnumfeldern selbstbewusst in die Kamera blicken sowie auf Betten oder Sofas sitzen oder liegen. In dieser Reihe tritt Suzanne noch einmal selbstreflexiv in Erscheinung. In Suzanne with Mona Lisa, Mexiko City 1981 sind die wenigen Bildelemente an zwei Fluchten ausgerichtet, die in einem Spiegel zusammenlaufen (vgl. Abb. 2). Die Verbindung zwischen der in den Spiegel schauenden Suzanne, ihrer gespiegelten Frontalansicht und der Reproduktion von Leonardo da Vincis (1452-1519) Mona Lisa (1503-1505) wird damit betont. Da die gespiegelte Suzanne dem Be-

17 Vgl. Freud, Sigmund: „Das Ich und das Es (1923)“. In: Sigmund Freud. Gesammelte Werke. Werke aus den Jahren 1920-1924. Bd. 13. London: Imago 1955 (Nachdruck; Originalausgabe 1940), S. 235-289.

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trachter ebenso zugewendet ist wie die von da Vinci porträtierte Frau, besetzt der Rezipient einen der Eckpunkte eines Blickdreieckes. Nach Umberto Eco liegt die Magie des Spiegels darin begründet, dass wir uns in diesem so sehen, wie uns andere sehen.18 Der Spiegel ist demnach der Ort, an dem die eigene Sicht des Selbst auf die Wahrnehmung durch andere trifft. Dass die Beziehung zwischen Selbst-Bild und Fremd-Bild seit der Renaissance immer wichtiger wurde, hat Thomas Kleinspehn herausgestellt. 19 Der neuzeitliche Mensch richtet „sein Verhalten am anderen aus“ und versucht „vorherzusehen, was andere von ihm erwarten könnten“20. Hinsichtlich des Blicks in den Spiegel schlussfolgert Karlheinz Kopanski, dass „sich selbst im Spiegel zu spiegeln heißt, dies gleichzeitig im anderen zu tun.“21 Und weiter: „Die Ausrichtung an dem Bilde, das andere von einem haben, findet deshalb im Vergleich mit dem Spiegelbild seinen treffendsten Ausdruck.“22 Während in Suzanne on her bed, New York City 1983 das Außen der Anderen als Gegenpol zur eigenen Innenwelt nur indirekt thematisiert wird, wird es hier über die (Spiegel-)Blicke explizit als Instanz vorgestellt, die Einfluss auf die Konstituierung des Ichs nimmt. Es gelingt dem Betrachter aber kaum, sich ein klares Bild von der Frau im oder vor dem Spiegel zu machen, zu sehr ist sie ins Rot des (Bild-) Raums eingetaucht. Auch sie selbst scheint sich fremd zu bleiben, wie die angespannte Haltung und der unsichere Blick in den Spiegel andeuten; die halluzinatorisch bedrohliche Bildatmosphäre unterstützt den Eindruck einer krisenhaften Selbstwahrnehmung. Über das MonaLisa-Motiv wird die Identitäts-Problematik schließlich (auch) als grundlegendes Thema bildlicher Repräsentation ausgewiesen, indem es an den populärsten Fall einer prekären Beziehung zwischen Bild und Subjekt erinnert.

18 Vgl. Eco 1995 (1985), S. 56. 19 Vgl. Kleinspehn, Thomas: Der flüchtige Blick. Sehen und Identität in der Kultur der Neuzeit. Reinbek: Rowohlt 1989. 20 A.a.O., S. 56. 21 Kopanski, Karlheinz: Der männliche Blick in den Spiegel. Eine motivgeschichtliche Untersuchung. Münster / u.a.: LIT 1998 (Diss., Univ. Kassel 1997), S. 112. 22 Ebd.

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Abbildung 3 (O.i.F.). Nan Goldin: Self-portrait in blue bathroom, London 1980

Auch in einigen der Bilder, in denen Goldin sich selbst darstellt, wird der Raum so wirkmächtig, dass er den Ausdruck der Aufnahmen maßgeblich beeinflusst und diese als Sinnbilder für innere Prozesse erscheinen lässt. In Self-portrait in blue bathroom, London 1980 dominiert das kühle Blau der Badezimmerwände und kontrastiert mit dem warmen Hautton Goldins, die lediglich als kleines Brustbild im Spiegel abgebildet ist (vgl. Abb. 3). Der kahle Raum wirkt abweisend und selbst die angedeutete Badewanne, die in vielen anderen Bildern Goldins mit körperlichem Wohlbefinden verbunden ist, lädt nicht zur Entspannung ein. Wieder lassen sich Bilddiagonalen ausmachen, die den Blick auf das zentrale Bildelement lenken: die im Vergleich zur Gesamtfläche des Bildes und Spiegels verschwindend kleine Frontalansicht von Goldins beleuchtetem Gesicht und Dekolleté. Die durch Leisten und Badewannenrand bezeichneten Fluchtlinien binden ihr Konterfei in das Raumgefüge ein. Verstärkt wird so der Eindruck einer Entfremdung, der Konfrontation der skeptisch blickenden Frau mit sich selbst als einer Anderen. Die reale Person ist von ihrem Spiegelbild durch einen weiten und unwirtlichen Raum getrennt. Sie kann sich im Spiegel nur undeutlich und fragmentarisch sehen. Das Spiegelbild ist dabei paradoxerweise an einem Ort körperlos, der gerade der Pflege des eigenen Körpers gewidmet ist. Eine ganzheitliche Selbstwahrnehmung des Ichs mit allen Sinnen ist in dieser Konstellation nicht möglich. Die Erfahrung des Unterschieds zwischen realem Ich und SpiegelIch beim (frühkindlichen) Blick in den Spiegel steht im Zentrum der

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Konzeption des ‚Spiegelstadiums‘ als einer grundlegenden Entwicklungsstufe des Ichs durch Jacques Lacan. 23 Demnach wird in frühester Kindheit über den Spiegelblick eine Diskrepanz zwischen dem unvollkommen und ‚zerstückelt‘ erfahrenen Körper und einem Wunsch-Ich wahrgenommen, das im Spiegelbild als vollkommene Einheit erscheint. Noch der Erwachsene werde mit dieser Abweichung konfrontiert, denn nach Lacan gelänge es auch ihm nicht, sich mit dem Idealbild im Spiegel zu identifizieren, da „das projektive Selbstbild imaginären Ursprungs ist“24, wie Kopanski zusammenfasst. In diesem Sinne wird in Goldins Fotografie über die zögerliche Annäherung einer Figur an einen Spiegel der Versuch vorgeführt, eine (bildliche) Vorstellung davon zu entwickeln oder wieder aufzurufen, was ein wünschenswertes Selbstbild sein könnte.

1.2

R ÄUME

DER

M ELANCHOLIE

In-sich-gekehrt wirken auch viele der Figuren, die Gregory Crewdson25 seit Mitte der 1980er Jahre in seinen Fotografien inszeniert hat. Im Gegensatz zu den narrativen und mysteriösen Szenen der Serien, die seit Mitte der 1990er Jahre entstanden sind, figuriert er in vielen Bildern seiner ersten Serie E ARLY WORK26 Personen und Wohnberei-

23 Vgl. Lacan, Jacques: „Das Spiegelstadium als Bildner der Ich-Funktion, wie sie uns in der psychoanalytischen Erfahrung erscheint (1949)“. In: ders.: Schriften I. Olten: Walter 1973 (Originalausgabe Écrits. Paris: Editions du Seuil 1966), S. 61-70. 24 Kopanski 1998, S. 132. 25 Gregory Crewdson wurde 1962 in New York geboren (vgl. http://i1.exhibite.com/luhringaugustine/6a1130d8.pdf (10.11.2009)). Er beendete 1985 sein Studium an der State University of New York (NY) mit einem Bachelor of Arts und absolvierte 1988 einen Master of Arts an der Yale School of Art / Yale University, New Haven (CT). 1993 wurde er an die Yale School of Art berufen und ist dort Professor für Fotografie (vgl. http://art. yale.edu/GregoryCrewdson (10.11.2009)). 26 Wie in den folgenden Serien auch tragen die Einzelbilder keine eigenen Titel. Die Serie EARLY WORK (1986-1988) ist während der Examensarbeit von Crewdson entstanden und gilt als seine erste vollwertige Serie (vgl. Siegel, Katy: „Die reale Welt“. In: Berg, Stephan (Hg.): Gregory Crewd-

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che in Nahsicht und in unverdächtiger Alltäglichkeit. Nur die nächtlich geöffneten Fenster, das Halbdunkel im Wohnzimmer oder der Blick eines Hundes in den Keller suggerieren, dass etwas Unerwartetes oder Ausgesperrtes die häusliche Ordnung und Ruhe stören könnte. Handlungen werden kaum direkt vorgeführt, sondern nur angedeutet, z.B. über zwei demonstrativ im Wohnzimmer platzierte Koffer. Bereits in dieser frühen Serie werden die Vorstellung und der etablierte Bilderkosmos eines sicheren und intakten Heims bemüht und visuell ausformuliert, um das Idyll mit Spannungen und Irritationen zu konfrontieren. Erst in den folgenden Arbeiten wird der „Einbruch des Verdrängten, Unheimlichen, Nicht-Erklärbaren“27 als Hauptthema des Werkganzen explizit und variantenreich in Szene gesetzt. In einigen Bildern der E ARLY WORK-Serie sind ältere Frauen erfasst, deren Gesichtsausdrücke auf innere Einkehr schließen lassen (vgl. Abb. 4-6). Sie werden in alltäglichen Wohnsituationen dargestellt, zu denen auch ein Mann mit Zeitung und ein laufender Fernseher gehören. Kommunikation und Unterhaltung werden ihnen aber vorenthalten, denn der Mann ist in seine Lektüre vertieft und das TVGerät zeigt nur ein gestörtes Bild. Diese ‚sozialen‘ Ebenen der Bilder gehen in den dunklen und unfokussierten Bildhintergründen auf, denn zum einen korrespondieren die Streifen des Störbilds mit den ebenfalls horizontal ausgerichteten Lamellen der Jalousie, und zum anderen wird der Mann auf dem Sofa durch die Schmuckvorhänge eingefasst. Zwar setzen sich die Frauen dadurch vom umgebenden Raum ab, sie werden aber dennoch als integraler Bestandteil ihres Umfelds eingeführt. Stil, Muster und Farben ihrer Kleidung harmonieren mit der Einrichtung und bilden mit dieser eine Einheit, wie sie für eine verhalten wohlhabende weiße Mittelschicht in den USA in den 1980er Jahren plausibel erscheint.

son 1985-2005 (anlässlich der gleichnamigen Ausstellung, Kunstverein Hannover, 03.09.-30.10.2005 / u.a.). Ostfildern: Hatje Cantz 2005, S. 8493: 84 und Gregory Crewdson im Gespräch mit Magdalena Kröner: „Nur weil es niemals geschehen ist, bedeutet es nicht, dass es nicht real ist“. In: Kunstforum International, Bd. 169/2004, S. 174-185: 174). 27 Berg, Stephan: „Die dunkle Seite des amerikanischen Traums“. In: Berg 2005, S. 10-20: 10.

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Abbildungen 4 / 5 / 6 (alle O.i.F.). Gregory Crewdson: o.T. (aus der Serie EARLY WORK (1986-1988))

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Die Wohnräume vermitteln das Gefühl von Geborgenheit und erfülltem Leben. Sie werden zwar nur im Ausschnitt gezeigt, aber als hermetischer Raum entworfen, denn alle Öffnungen sind geschlossen oder ausgeblendet. Kein Außen bedroht die Szenerie. Die Zimmer sind in ein warmes, gleichmäßiges Licht getaucht, das sich in den Brauntönen der Tapeten, Teppiche und Möbel beruhigend bricht. Die Sessel, Sofas und Decken laden zum entspannten Verweilen ein. Das Blumendekor auf Bezügen und Kissen wie auch das angedeutete Blumenbesteck auf dem Couchtisch versöhnen die Bewohner mit der ausgesperrten Natur, indem sie diese in idealisierter Form als Bild oder Gebinde in den Innenraum integrieren. Ein Foto auf dem Fernseher markiert vielleicht einen erinnerungswürdigen Moment in der eigenen Biografie; der Mann auf dem Sofa könnte auf eine Partnerschaft verweisen. Das Alter der Frauen lässt vermuten, dass sie nicht (mehr) die Versorgung einer Familie verantworten und auch nicht (mehr) im Beruf stehen. Sie könnten in ihrem geschützten, gepflegten und gemütlichen Heim ihren Lebensabend genießen. Allerdings wenden sie sich von diesem ab, werden durch ein zusätzliches Licht dezent aus dem räumlichen Kontext gelöst und dem Betrachter mit einem introspektiven Gesichtsausdruck vorgeführt. Ihre Mimik und Haltung steht im deutlichen Spannungsverhältnis zur Umgebung. Sie befinden sich nicht im Einklang mit der beschaulichen häuslichen Welt. Suggeriert wird, dass sie sich gedanklich an einem anderen Ort befinden; es sind offensichtlich keine beglückenden Tagträume, denen sie nachhängen, vielmehr erscheinen die Frauenfiguren in trauriger oder geradezu melancholischer Grundstimmung. Das Desinteresse an der Außenwelt, der Verlust an Liebesfähigkeit und die Untätigkeit werden von Sigmund Freud als Kennzeichen für Trauer und für Melancholie beschrieben. 28 Beide „tief schmerzliche[n] Verstimmung[en]“29 sind nach Freud als Reaktion auf den realen oder ideellen Verlust eines geliebten Objekts zu verstehen. Ein entscheidender Unterschied zwischen der normalen Trauer und der psychopathologischen Verhaltensform Melancholie bestehe allerdings darin, dass der an Melancholie leidende Mensch im Gegensatz zum temporär

28 Vgl. Freud, Sigmund: „Trauer und Melancholie (1916)“. In: Sigmund Freud. Gesammelte Werke. Werke aus den Jahren 1913-1917. Bd. 10. London: Imago: 1949 (Nachdruck; Originalausgabe 1946), S. 427-446. 29 A.a.O., S. 429.

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Trauernden nicht benennen könne, was er verloren habe. „Er leidet unter chronischem Grübeln, das durch bleibende Verbitterung, Schuldgefühle und Hoffnungslosigkeit gekennzeichnet ist, mithin an einer krankhaften Trübsinnigkeit, die heute eher als Depression bezeichnet werden würde“30, fasst Thomas Trummer den Zustand des Melancholikers zusammen. Da sich in den Interieurs keine deutlichen Hinweise auf die Ursache des Trübsinns der dargestellten Frauen finden, erscheinen sie weniger traurig als vielmehr melancholisch, d.h. von unbekanntem aber dauerhaftem Verlustempfinden geplagt. Zudem weisen die Bilder einige Verbindungen zu dem traditionellen Melancholie-Topos auf, wie er sich in der Kunst in der Nachfolge des Kupferstichs Melancholia I (1514) von Albrecht Dürer (14711528) etabliert hat. Peter-Klaus Schuster spricht Dürer zu, „optische Grundmetaphern“ für „menschliche [...] Grundbefindlichkeiten“ gefunden zu haben, um „die ganz widersprüchlichen Aspekte einer Melancholieorientierung von Trägheit über Trauer, Schwermut, Wahnsinn bis hin zur genialen Begabung“31 darzustellen. Einige der von Dürer geprägten Motive für Melancholie-Darstellungen finden sich in Fotografien von Crewdson wieder, wie beispielsweise das fortgeschrittene Alter der Figuren sowie die durch die zugehängten Fenster angedeutete Nacht oder eben die resignative Mimik der Frauen. Allerdings fehlt den Crewdson-Figuren das Problem, dessen Lösung verzweifelt herbeigesehnt wird, oder die Not, zwischen den guten und den schlechten Gaben, der Tugend und dem Laster, der irdischen Welt und den geistigen Sphären entscheiden zu müssen. Ihr Trübsinn ist zielloser und eher vergleichbar mit vielen Bildfiguren bei Edward Hopper (1882-1967),

30 Trummer, Thomas: „Trauer. Bilder und Texte“. In: ders. (Hg.): Trauer (anlässlich der gleichnamigen Ausstellung, Atelier Augarten, Zentrum für Zeitgenössische Kunst der Österreichischen Galerie Belvedere, 16.04.27.07.2003). Wien: Passagen-Verl. 2003, S. 10. 31 Schuster, Peter-Klaus: „Melencholia I. Dürer und seine Nachfolger“. In: Clair, Jean (Hg.): Melancholie. Genie und Wahnsinn in der Kunst (anlässlich der gleichnamigen Ausstellung, Galeries Nationales du Grand Palais, Paris, 10.10.2005-16.01.2006 / u.a.) Ostfildern: Hatje Cantz 2006, S. 90103: 102.

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denen Margaret Iversen das Temperament von Melancholikern attestiert. 32 Nach den Lehren der Humoralpathologie, der von der Antike bis in die frühe Neuzeit zugesprochen wurde, die Persönlichkeitsstruktur der Menschen erklären zu können, verdankt sich die Melancholie als eines von vier Temperamenten der Vorherrschaft eines schwarzen, von der Galle produzierten Saftes im menschlichen Organismus. Der Melancholiker galt demnach als griesgrämig, trübsinnig und ungesellig.33 Roland Lambrecht hat herausgestellt, dass die Melancholie als einziges der vier Temperamente reflexiv angelegt war: „Denn wenn das sanguinische, das cholerische oder das phlegmatische Temperament traditionellerweise ein jeweils verschiedenes Verhältnis zur Welt zum Ausdruck bringen sollte, dann ist demgegenüber das des Melancholikers wesentlich ein Verhältnis zu sich selbst.“34 Die Melancholie spiegelt auch heute noch „als ein nicht aus der Welt zu schaffendes Phänomen menschlichen Wirkens und Empfindens“ ein „grundsätzliches Spannungsverhältnis der menschlichen Psyche“35 wider, das entsteht, wenn die Sehnsucht, ein Ziel zu erreichen, in einem Ungleichgewicht steht zu der Hoffnung auf Sehnsuchtserfüllung. Lambrecht nennt in seiner Untersuchung zu den philosophischen Anteilen der Melancholieproblematik zwei Extremfälle melancholischen Befindens: die Melancholie könne sich zu einer existenziellen Krise und Lebensgefahr ausweiten oder vor dem Hintergrund von fehlenden Zielen, Erwartungen und Idealen auch in Langeweile und Überdruss münden. Diese zweite Begründung von Melancholie scheint die Wirkung der Frauenfiguren aus der EARLY WORK-Serie zu erklären. Es gibt in den Interieurs keine Hinweise auf ein erstrebenswertes Ziel: die (wenigen) potenziellen Angebote von Liebe (Mann auf dem Sofa) oder geistiger Betätigung (Bücher auf dem Beistelltischchen) interessieren

32 Vgl. Iversen, Margaret: „Hoppers melancholischer Blick“. In: Wagstaff, Sheena (Hg.): Edward Hopper (anlässlich der gleichnamigen Ausstellung, Tate Modern, London, 27.05.-05.09.2004 / u.a.) Ostfildern: Hatje Cantz 2004, S. 53. 33 Vgl. ebd. 34 Lambrecht, Roland: Der Geist der Melancholie. Eine Herausforderung philosophischer Reflexion. München: Fink 1996 (Diss., Univ. Giessen 1992), S. 12. 35 A.a.O., S. 242.

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nicht, sondern verschwinden im Bildhintergrund. Vielmehr dominieren mit dem materiellen Wohlstand, der Geborgenheit des Heims, der Vitalität, die die Kleidung den Frauen unterstellt, Werte den (Bild-) Raum, die den Figuren offenbar keine Befriedigung mehr bieten. Die auf dem Boden liegende Frau hat sich am weitesten von einem alltäglichen Verhalten entfernt (vgl. Abb. 6). Von dem Freiheitsversprechen des Vogels auf dem Kissen hat sie sich ebenso abgewendet wie von dem Schuh, der sowohl auf einen vorangegangenen Sturz wie auf einen anstehenden Aufbruch verweisen kann. Sie greift nach einer Decke, als wolle sie sich nun „schicksalsergeben“36 auf dem Boden einrichten und in einer Situation der resignierten Einkehr erstarren.

1.3

Ö FFNUNGEN

ZUR

A U SS ENWELT

Auch einige der Darsteller in den Fotoinszenierungen von Teresa Hubbard und Alexander Birchler 37 sind gedanklich abwesend oder in sich gekehrt ins Bild gesetzt. In einer Fotografie der fünfteiligen Serie STRIPPING (1998) wird eine introspektiv konzipierte Frauenfigur in einer Situation des räumlichen wie zeitlichen Übergangs gezeigt (vgl.

36 Siegel 2005, S. 84. 37 Teresa Hubbard wurde 1965 in Dublin (IRL) geboren; sie ist mittlerweile US-amerikanische und schweizerische Staatsbürgerin. Hubbard hat von 1985 bis 1992 an vier verschiedenen Hochschulen Kunst studiert und mit einem Master of Arts abgeschlossen (1985-1988: University of Texas, Austin (TX); 1987: Skowhegan School of Painting and Sculpture, Skowhegan (CT); 1988: Yale School of Art / Yale University, New Haven (ME); 1990-1992: Nova Scotia College of Art and Design, Halifax (CDN)). Seit 2000 ist sie Professorin am Department of Art & Art History an der University of Texas. Alexander Birchler wurde 1962 in Baden (CH) geboren. Zwischen 1983 und 1987 besuchte er die Schule für Gestaltung in Basel, studierte 1985 an der University of Art and Design in Helsinki und beendete sein Studium an der Nova Scotia College of Art and Design in Halifax (1990-1992) ebenfalls mit einem Master of Arts (vgl. http://www.bthumm.de/www/artists/ hubbard/bio.php (10.11.2009)). Seit 1990 schaffen Hubbard und Birchler fotografische, filmische und skulpturale Kunstwerke in enger Zusammenarbeit.

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Abb. 7); zudem werden hier ein psychisches Innen mit einem physischen Außen ebenso verbunden wie ein Vorher mit einem Nachher.38 Das narrative Potenzial aller Bilder der Serie – wie im Großteil der Arbeiten des Künstlerpaars – entsteht in der Wechselwirkung zwischen den posierenden Akteuren und den dargestellten Räumen.39 Während sich in vier Fotografien von STRIPPING die Darstellerinnen auf ein bestimmtes Ziel oder eine Handlung zu konzentrieren scheinen, ruht in dem einen Bild die Bildfigur hingegen ganz in sich. Die komplexe Raumdarstellung ist in dieser Konstellation der Resonanzkörper für die introspektive Haltung und den psychischen Zustand der Frau. Für Shamim M. Momin ist der Raum noch bedeutender für den Ausdruck des Bildes, denn sie konstatiert: „[...] often the architectural spaces rather than the actors take on psychological expression“40. Das Bild zeigt eine vitale Frau von der Seite, die mit ausgestreckten Beinen auf dem Boden vor einer nahezu parallel zur Bildebene verlaufenden Wand sitzt. Der angedeutete Raum wird über eine gemusterte Tapete dem Wohnbereich zugewiesen. Durch das Fenster in der Wand sind der obere Teil eines einfachen Bretterzauns und ein Stück blauer Himmel zu erkennen. Das Gesicht der Frau bildet das Zentrum der Bildkomposition, da zum einen die Ecke des Fensterrahmens direkt auf den Kopf der Sitzenden deutet und dieser zum anderen

38 „Wenn wir eine narrative Struktur erfinden, gehört dazu in den meisten Fällen auch, dass wir einen physischen Raum konstruieren. Einen Raum, der eine psychische Spannung suggeriert, in dem es gleitende Übergänge zwischen Innen und Außen oder Vergangenheit und Gegenwart gibt.“ (Teresa Hubbard und Alexander Birchler im Gespräch mit Martin Hentschel. In: Hentschel, Martin (Hg.): Teresa Hubbard / Alexander Birchler. Wild Walls (anlässlich der gleichnamigen Ausstellung, Museen Haus Lange und Haus Ester, Krefeld 09.09.-04.11.2001 / u.a.). Bielefeld: Kerber 2001, S. 74-87: 76). 39 „Letzten Endes geht es immer darum, eine Geschichte zu erzählen.“ (Teresa Hubbard und Alexander Birchler im Gespräch mit Martin Hentschel 2001, S. 76). 40 Momin, Shamim M.: „Single Wide“ (Erstveröffentlichung in: Single Wide. Teresa Hubbard / Alexander Birchler (anlässlich der gleichnamigen Ausstellung, Whitney Museum of American Art at Altria, New York, 22.07.22.10.2004). Online unter: http://www.hubbardbirchler.net/texts/essays. html (01.03.2007).

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in der Mitte einer fallenden Bilddiagonale liegt, die von einer schräg vor dem Fenster angebrachten Latte und einem Außenwasserhahn in der rechten unteren Bildecke markiert wird. Besondere Aufmerksamkeit erfährt so ihr Blick, der leicht gesenkt und ein wenig dem Betrachter zugewendet gegendiagonal den leeren Raum durchmisst, aber kein Ziel zu haben scheint. Die Frau vermittelt den Eindruck, als sei sie auf sich und die eigene Gedankenwelt konzentriert. Ihre Haltung ist weder entspannt noch verweist sie auf einen Aufbruch. Mantel und Schuhe schützen sie vor der Unwirtlichkeit des Raums mit seinen nackten Holzdielen, der stellenweise abgerissenen Tapete, den zerbrochenen Scheiben und dem mit einem Bretterkreuz gesicherten Fenster. In diesem Haus wohnt niemand (mehr), kein Möbelstück lädt zum Verweilen ein, kein persönliches Objekt weist auf ehemalige Bewohner hin. Der Raum wirkt ähnlich karg, ungemütlich und abweisend wie der Außenraum. Abbildung 7 (O.i.F.). Teresa Hubbard / Alexander Birchler: o.T. (aus der Serie STRIPPING (1998))

Dieses Außen wird durch das Fenster angedeutet und im rechten Bildviertel in unverstellter Ansicht gezeigt. Innen- und Außenraum werden durch einen vertikal durch das Bild verlaufenden schwarzen Balken getrennt. Über den Zaun, der sowohl direkt als auch durch das Fenster zu sehen ist, wird eine räumliche Kohärenz behauptet, die so in einer Fotografie von einem geschlossenen Raum nicht möglich ist. Auch

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andere Indizien sprechen für den Modellcharakter der Szenerie und weisen die Raumecke als Kulisse aus, deren orthogonal zum Betrachterraum stehende Wand im Querschnitt gezeigt wird. Auch der Hintergrund offenbart sich als zweidimensionales Bild einer aus dem frühen Film bekannten Rückprojektion.41 Diese Stilmittel verleihen dem Bild eine filmische Aura und rücken es in die Nähe einer Standbildfotografie. Dementsprechend lässt sich der Balken auch als Teil des apparativ bedingten Rahmens zwischen zwei aufeinander folgenden Belichtungen auf einem fotografischen Filmstreifen imaginieren.42 Diese Anleihen evozieren die zeitliche Erweiterung der Bilderzählung auf eine Handlungsfolge und damit auf einen narrativen Rahmen. Die Ödnis und Weite des Außenraums verbannt den Innenraum an den Rand der Zivilisation und unterstreicht den Zustand seiner Verlassenheit und Leblosigkeit. Der Zaun als Grenzlinie zwischen Kultur und Natur weist Löcher auf; die vertrocknete Vegetation am Haus indiziert, dass durch den Außenhahn lange kein Wasser geflossen ist. Der Mensch scheint den Kampf gegen die Naturgewalten aufgegeben zu haben. An der Grenzlinie zu diesem unwirtlichen Außenraum lehnt die junge Frau, „mit einem Lächeln, das der Erinnerung an einen anderen Raum anzugehören scheint“43, wie Beate Söntgen konstatiert. Philip Kaiser weist darauf hin, dass sie sich insbesondere durch die Nähe zum dunklen Balken, der (auch) als „Zeichen einer (interpretativen) Leerstelle“ verstanden werden kann, an zwei Orten zugleich befindet, „einem psychischen und einem physischen Ort“44. Hängt sie dort Erinnerungen an bessere Zeiten nach, als das Haus noch ein Heim und ein Vorposten der Zivilisation war? Folgt sie gedanklich der Fährte, die im Innen- oder Außenraum aufscheint? Oder sinniert sie angesichts der kargen Umgebung über existenzielle Fragen, möglicherweise ihre eigene Situation, ihre Isolation oder Verletzbarkeit? Steht der Verfall des

41 Vgl. Kaiser, Philipp: „An den Grenzen der Photographie. Kinematographische Aspekte im Werk von Teresa Hubbard / Alexander Birchler“. In: Hentschel 2001, S. 88-141: 102. 42 Manche Autoren weisen den Balken als unbelichtete Stelle zwischen zwei Einzelbildern eines Filmes aus, was allerdings der vertikalen Laufrichtung des Filmstreifens im Filmprojektor widerspricht (vgl. z.B. Kaiser 2001, S. 118). 43 Söntgen 2007, S. 201-212. 44 Kaiser 2001, S. 122.

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Umfelds im Kontrast oder in Korrespondenz zu ihrer eigenen Verfassung? Der Betrachter rückt zwar nah an sie heran, er durchdringt buchstäblich Wände, begibt sich auf Augenhöhe mit der Figur und hat einen größeren Überblick als sie, bleibt aber dennoch ausgeschlossen, ihrer Gedankenwelt fern und muss eigene Antworten finden. In diesem Sinne lässt sich auch der Titel der Serie mit dem deutschen Ausziehen unterschiedlich übersetzen. Er bezeichnet sowohl den Akt des Auszugs aus einem Haus wie die Entkleidung und Entblößung einer Person, mit der auch die psychologische Spielart des ‚Seelen-Striptease‘ konnotiert ist.45 Während die Trennung zwischen dem physischen Außen- und Innenraum für den Betrachter überwunden werden kann, bleibt die Grenze zum psychischen Innenraum allerdings undurchlässig. Für die Frau bildet die Wand in ihrem Rücken eine nicht leichthin überwindbare Barriere. Sie trennt den geschichtsträchtigen, verfallenen, abgeschlossenen Innenraum vom bedrohlichen aber schier grenzenlosen Außenraum mit seiner Vielzahl an Handlungsofferten. Ihr Rückzug endet hier, nun bleibt nur die ‚Flucht nach vorne‘, der Übergang von Innen nach Außen – räumlich wie gedanklich –, von der Rückschau in die Gegenwart, vom Verfall zum Leben. 46 So verweist ihre oszillierende Position in Raum und Zeit auf eine psychische Disposition, denn „[...] maybe she herself is in a state of change“47.

1.4

I NTROSPEKTIONEN DES S UBJEKTS

Die hier angeführten Interieurs markieren psychische Innenräume, indem die gestischen wie mimischen Anlagen der Bildfiguren Zustände existenzieller Selbstbeobachtung indizieren. Insbesondere die leeren Blicke und intensiven Selbstbetrachtungen in Spiegeln stehen für eine Versenkung in die eigene Gedankenwelt. Die privaten Räume, die die Figuren umgeben, betonen die introspektive Ausrichtung der Sujets,

45 Vgl. a.a.O., S. 118. 46 Vgl. Teresa Hubbard im Gespräch mit Lilian Pfaff und Philipp Kaiser (Erstveröffentlichung in Imago. Encuentros de fotografia y video (anlässlich der gleichnamigen Ausstellung, Junta de Castilla y Leon and El Centro de Fotografia, Salamanca 2002)). Online unter: http://www.hubbard birchler.net/texts/essays.html (01.03.2007). 47 Ebd.

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indem sie Orte alltäglichen Wohnens bezeichnen, die im Gegensatz zu öffentlichen, allen zugänglichen Räumen dazu bestimmt sind, die ungestörte Beschäftigung mit den eigenen Angelegenheiten zu ermöglichen. Im Privaten ist das (Wohn-)Subjekt bei sich und mit sich allein. Die Interieurs von Goldin, Crewdson und Hubbard/Birchler bringen zwar das für Außenstehende gemeinhin Verborgene zur Darstellung, sie dringen aber nicht bis zu den mentalen Innenwelten der Figuren vor, auf die diese sich konzentrieren. Das Innenleben erweist sich hier als der eigentlich private Raum, von dem der Betrachter ausgeschlossen bleibt. Allerdings werden über die spezifische Anlage der Figuren, der Räume und der Figur-Raum-Beziehungen Hinweise auf Struktur und Ausrichtung des Denkens und Fühlens der Bildsubjekte gegeben. In den Fotografien von Goldin stiften insbesondere die Anordnung der Figuren, die Betonung einzelner Bildelemente (Bett, Bild, Spiegel) sowie die Atmosphäre, die mittels Farbgebung und Lichtführung evoziert wird, Bedeutung. Die Bilder lassen sich so als bildnerische Reflexionen des Subjekts im Spannungsfeld von innerer und äußerer Realität, von Wunsch-, Selbst- und Fremdbild verstehen. Die melancholische Disposition der Bildfiguren von Crewdson wird vor allem über deren Haltung im räumlichen Kontext des detailreich bezeichneten, soziokulturellen Umfelds herausgestellt. Hubbard/Birchler gelingt der Entwurf einer zwischen Innen und Außen, Vorher und Nachher oszillierenden Figur zuvorderst über die Gestaltung des Raums. Diese Interieurs zeigen keine harmonische Verbindung von Figur und Raum; die Dargestellten wirken hier ebenso wenig geborgen, wie sie eins mit sich erscheinen. Ihre prekäre Beziehung zum ‚trauten Heim‘ versinnbildlicht ihr eigenes psychisches Unbehagen, ihr gestörtes Verhältnis zu sich selbst. Die Bilder verweisen auf die Suche nach einer (neuen) inneren Einheit, sie stehen für das existenzielle Empfinden von Verlust oder Mangel oder antizipieren Wandel und Umkehr. Sie zeigen die Figuren gerade an dem Ort besonders heimat- und orientierungslos, der sie bergend umfangen sollte, an dem sie ganz bei sich sein könnten. Interieurs wie das von Hubbard/Birchler weisen aber auch in eine Zukunft, die verspricht, eine andere, eine bessere zu werden.

2

Räume der Kindheit und Adoleszenz

Viele fotografische Interieurs in der Gegenwartskunst beziehen sich auf das familiäre Heim als einen soziokulturellen Raum, der wie kein anderer das moderne Subjekt in Kindheit und Jugend umfängt und prägt. Im Modell der bürgerlichen Kernfamilie als primärer Sozialisationsinstanz ist das private Zuhause Schauplatz für die erste Orientierung in der Welt, für soziale Interaktion im Generationsverbund und für Prozesse der Individuation und Integration in der Adoleszenz. In fotografischen Interieurs werden sowohl Entwicklungsprozesse und familiäre Konstellationen im Kontext von Zeit, Kultur und Schicht als auch kulturelle Vorstellungen von Kindheit und Jugend thematisiert. Im Spannungsfeld von Empirie und Projektion reflektieren Künstler das Heim als originären Raum der Geborgenheit, der Fürsorge und des Schutzes, aber auch der Bedrohung und der Krise. Es überwiegen Fragen nach der ambivalenten Beschaffenheit der Räume, in denen sich mediale Außen- und psychische Innenwelten überlagern und die Übergänge zwischen Ideal und Wirklichkeit sowie Traum und Alptraum fließend sein können. Abbildung 8. Annelies trba: Samuel, Linda und Sonja, 1980

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In diesem Kapitel werden Interieurs von Gregory Crewdson, Sarah Jones und Daniela Rossell als repräsentative Arbeiten zu diesem Themenfeld exemplarisch untersucht. Um die äußeren Pole des Bedeutungsspektrums der Bildthemen zu markieren, werden zuvor zwei Fotoserien angeführt, die private Räume aus der Perspektive von Heranwachsenden als reinen Schutz- bzw. Krisenraum vorführen. Eine Vielzahl an Live-Fotografien des Alltäglichen, die Annelies trba1 in dem Fotobuch Shades of Time2 veröffentlicht hat, zeigt häusliches Leben der drei, später vier Generationen ihrer Familie seit Ende der 1970er Jahre bis Mitte der 1990er Jahre. 3 Das teil- und zeitweise gemeinsam bewohnte Haus erscheint mit seinem chaotischen Gewimmel aus Kleidungsstücken, Puppen, Büchern und Töpfen als großzügige Spielwiese. Den Eindruck, dass dieses alte Haus in seiner „natürliche(n) Armut und Anmut“4 den Kindern nicht nur Spielanregungen, sondern auch familiäre Geborgenheit bietet, vermitteln insbesondere die Bilder, in denen sie schlafend und vom häuslichen Umfeld schützend umfangen zu sehen sind (vgl. Abb. 8). „Die vermeintliche Beiläufigkeit ihrer Bildfindungen“5 und die sanfte Unschärfe entziehen den Fotografien ein spezifisches Hier und Jetzt; „durch größtmögliche Intimität“ erreichten trbas Bilder „das Verbindlich-Allgemeine“6, stellt Georg Kohler fest.

1

Annelies trba wurde 1947 in Zug (CH) geboren. Sie lebt und arbeitet im schweizerischen Richterswil (vgl. http://www.strba.ch (25.02.2009)).

2

Annelies trba. Shades of Time. Baden: Müller 1997.

3

In der Publikation sind die Bilder in assoziativer Abfolge, in der Diaschau, die in Ausstellungen gezeigt wird, hingegen in chronologischer Reihenfolge zu sehen. In beiden Formen werden knapp 300 Interieurs, Porträts, Stadt-, Reise- und Landschaftsbilder präsentiert.

4

Rakusa, Ilma: „Fünf Annäherungen an A. .“. In: Annelies trba 1997, S.

5

Mauerer, Simon: „Annelies trbas hellseherische Kunst“. In: Annelies

301-322: 307. trba. NYIMA (anlässlich der gleichnamigen Ausstellung, Helmhaus Zürich, 06.06.-27.07.2003). Basel: Christoph Merian Verl. 2003: 145-163: 153. 6

Georg Kohler 1990. Zitiert nach Mauerer 2003, S. 147.

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Abbildung 9 (O.i.F.). Tracey Moffatt: Heart Attack, 1970 (aus der Serie SCARRED FOR LIFE (1994))

Die Serie SCARRED FOR LIFE (1994) von Tracey Moffatt7 hingegen thematisiert traumatische Erlebnisse im Leben von Kindern. Im Zentrum der inszenierten Bild-Text-Arbeiten stehen Erfahrungen mit physischer und psychischer Gewalt in der Familie. In Heart Attack, 1970 beispielsweise hat Moffatt einen nackten Mann im Schlafzimmer inszeniert, der nach einem auf dem Bett sitzenden Mädchen greift (vgl. Abb. 9). Im Text wird von einer Tochter berichtet, die einen Blick auf ihren Vater erhaschte, als er das Nachbarskind schlug; am gleichen

7

Tracey Moffatt wurde 1960 in Brisbane (AUS) geboren. Bis 1982 studierte sie Visuelle Kommunikation am Queensland College of Art in Brisbane. Sie lebt und arbeitet in Sydney und New York City (vgl. Lehmann, Ulrike: „Tracey Moffatt. Zwischen Wirklichkeit und Fiktion“. In: Grosenick, Uta (Hg.): Women Artists. Künstlerinnen im 20. und 21. Jahrhundert. Köln: Taschen 2005, S. 214-219: 214).

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Tag sei dieser an einem Herzinfarkt gestorben. Über die Verknüpfung von Bild und Text offenbart sich das zweifach indizierte Ereignis als Missbrauchsszenario; zudem wird ein kausaler Zusammenhang zwischen der Beobachtung und dem Tod des Täters suggeriert. Die euphemistische Umschreibung im Text verweist sowohl auf die Naivität eines Kindes als auch auf Verdrängungsmechanismen von Erwachsenen. Die Datierung der Ereignisse und das Zeitkolorit der Bilder behaupten die Arbeit als Rückschau; die Perspektive des Bildes auf das Geschehen entwirft die Zeugin als Kind und evoziert zugleich eine Identifikation des Betrachters mit der Beobachtenden. In der Serie wird ein „Archiv möglicher Traumata“ vorgeführt, resümiert Martin Hentschel, „die sich unterschwellig und unberechenbar unter der Oberfläche scheinbar konstanter menschlicher Beziehungen eingenistet haben“8. Die Kinder, die Gregory Crewdson in einigen Bildern der Serie EARLY WORK in behüteten Verhältnissen zeigt, konzentrieren sich auf vergleichsweise harmlose Räume des Spiels und der Medien. Während in diesen Fotografien – wie auch in Bildern der Serie TWILIGHT – eine Emanzipation der Lebenserfahrungen von familiären Räumen suggeriert wird, rekurrieren einzelne Bilder der Serie DREAMHOUSE auf intergenerative Konflikte, die mit der körperlichen Reifung der Heranwachsenden verbunden werden. Die Spannungen zwischen einer sich entwickelnden Individualität und den Erwartungen an die soziale Integration führen sowohl Sarah Jones (M ULBERRY LODGE / FRANCIS PLACE) als auch Daniela Rossell (T HIRD WOLRD BLONDES HAVE MORE MONEY) in umfangreichen Serien variantenreich vor. Indem sich beide Künstlerinnen auf weibliche Jugendliche beziehen, thematisieren sie auch geschlechtsspezifische Aspekte in der Sozialisation. In den Bildern ihrer Serien, in denen Bilderwartungen enttäuscht oder Rollenklischees parodiert werden, trägt das spielerische Posieren der Jugendlichen bisweilen rebellische Züge. Die physische Emanzipation vom schützenden Heim markiert schließlich ein aus dem Fenster nach draußen kletterndes Mädchen in der Serie STRIPPING von Teresa Hubbard und Alexander Birchler.

8

Hentschel, Martin: „Embleme der Entblößung. Die Serie Scarred for Life, 1994“. In: ders. / Matt, Gerald (Hg.): Tracey Moffatt (anlässlich der gleichnamigen Ausstellung, Kunsthalle Wien, 10.04.-07.06.1998 / u.a.). Ostfildern: Hatje Cantz 1998, S. 26-30: 30.

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2.1

R ÄUME

EIGENER

E RFAHRUNG

Wie bereits angeführt wurde, 9 zeichnen sich die Räume, die Gregory Crewdson in seiner ersten vollwertigen Serie EARLY WORK (19861988) entworfen hat, durch eine narrative Spannung aus, die zwischen der Demonstration einer Wohnidylle in US-amerikanischen Vorstadtsiedlungen sowie der Suggestion einer Erosion der bestehenden Ordnung besteht. In dieser frühen Serie hat Crewdson auch Kinder inszeniert; zwei von ihnen werden in unterschiedlichen Bildern in Konzentration auf etwas im Raum gezeigt, das für den Betrachter unsichtbar bleibt. Das bläulich schimmernde Gesicht eines Jungen lässt auf ein Fernsehbild schließen, das er möglicherweise fixiert (vgl. Abb. 10); in einer anderen Fotografie schaut ein Mädchen in das beleuchtete Innere eines großen Puppenhauses (vgl. Abb. 11).10 Abbildung 10 (O.i.F.). Gregory Crewdson: o.T. (aus der Serie EARLY WORK (1986-1988))

Die Räume, auf die die Kinder ihr Augenmerk richten, haben für die (kindliche) Wahrnehmung von Welt elementare Bedeutung. Das Fernsehen ist als Leitmedium nicht nur dominante „Schaltstelle der All-

9

Vgl. Kap. 1.2.

10 Während der mediale Raum tendenziell eher nach außen gerichtet ist, spiegelt das Puppenhaus eher das häusliche Umfeld. Die traditionelle Bindung der öffentlichen Sphäre an das männliche, der häuslichen an das weibliche Geschlecht wird durch die entsprechend geschlechtsspezifische Besetzung reproduziert (vgl. auch Kap. 5.1).

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tagskultur und des Alltagswissens“11, sondern prägt auch maßgeblich Strategien der Wahrnehmung von Realität. Das Spiel, bei dem Realität experimentell und sanktionsfrei simuliert wird, kann hingegen noch eindeutiger im Kontext der Einübung sozialer Normen, Rollen und Erwartungen verstanden werden. 12 Über beide Erfahrungsräume vermitteln sich zudem Erzählungen und Erzählweisen, die dem Individuum den Anschluss an ein ‚kollektives Gedächtnis‘ ermöglichen. Indem Crewdson Kinder in diesen Bezugssystemen vorführt, thematisiert er sowohl die kulturelle Vorprägung des Betrachters als auch eine wesentliche Referenzebene seines Werks, denn viele seiner Inszenierungen, insbesondere der folgenden Serien, beziehen sich auf etablierte Motive und Bildmuster aus Filmen. Abbildung 11 (O.i.F). Gregory Crewdson: o.T. (aus der Serie EARLY WORK (1986-1988))

Thema vieler seiner filmischen Vorbilder ist der befremdliche Einbzw. Ausbruch des Unerwarteten, Außergewöhnlichen und Unerklärlichen im Alltäglichen, Idyllischen und Familiären. So werden in Filmen der US-amerikanischen Filmemacher Stephen Spielberg (*1946) oder David Lynch (*1946) suburbane Familienidyllen als „Ikonen des amerikanischen Alltags“13 in ihren Grundfesten erschüttert. 14 Zwar in-

11 Kreimeier, Klaus: „Fernsehen“. In: Hügel, Hans-Otto (Hg.): Handbuch Populäre Kultur. Stuttgart: Metzler 2003, S. 177-184: 177. 12 Vgl. Haase, Henning: „Spiel“. In: Hügel 2003, S. 416-421: 417. 13 Vgl. Gregory Crewdson im Gespräch mit Magdalena Kröner 2004, S. 174. 14 In dem Horrorfilm Poltergeist (USA 1982; Regie: Tobe Hopper; Buch: Steven Spielberg) beispielsweise wird ein harmonisches Familienleben in einer neu errichteten amerikanischen Vorortsiedlung durch spukhafte Er-

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korporiert Crewdson die dramatische Spannung des Unheimlichen in seine Inszenierungen; Edgar Schmitz betont aber, dass der Künstler dabei nicht direkt an die filmischen Erzählungen anschließen würde. Vielmehr reflektiere er deren Bildmuster, indem er sie nutzt und gleichsam vorführt.15 Insbesondere die ausgefeilte Lichtkomposition, die mit großem technischem Aufwand wie am Set eines Filmes produziert wird, verdeutlicht den konstruierten Status der Szene und die filmästhetischen Anleihen. Der „Moment des Wiedererkennens, den die Betrachtung der Crewdson’schen Bilder“ auslöse, verweist darauf, „dass wir uns längst daran gewöhnt haben, Welt wesentlich über ihre zeichenhaften Surrogate wahrzunehmen“16, erläutert Stephan Berg. Die beiden Aufnahmen mit dem Jungen und dem Mädchen führen zudem geistige Räume vor, die unabhängig von ihren Eltern existieren und in denen sie sich ohne deren Führung bewegen. Die hier angedeuteten Räume sind allerdings zwiespältige Zeichen der Emanzipation, denn beiden sind auch die Wertvorstellungen der Elterngeneration ein-

scheinungen gestört, die sich zunächst über das verrauschte Bild des Fernsehers bemerkbar machen. Die Lage eskaliert, als das jüngste Familienmitglied in eine Kammer gezogen wird und in einem geheimnisvollen Zwischenreich verschwindet. Der Familie gelingt es schließlich, „den unheimlichen Gefahren zum Trotz, emotionale Geschlossenheit“ zu demonstrieren und dem Haus zu entkommen bevor dieses komplett „ins Jenseits gezogen wird“ (Pusch, Harald: „Poltergeist“. In: Stresau, Norbert / Wimer, Heinrich (Hg.): Enzyklopädie des phantastischen Films. Meitingen: Corian-Verl. 1986ff (2. Erg.-Lfg. 1986), S. 1-6: 4f). Lynch konfrontiert seine Hauptfigur in dem Film Blue Velvet (USA 1986; Buch und Regie: David Lynch) mit einer düsteren und mysteriösen Welt, die hinter der malerischen Fassade einer freundlichen amerikanischen Kleinstadt bedrohlich lauert. Der Protagonist lässt sich hineinziehen in eine Halbwelt der Perversion, des Sadismus und der Gewalt. Erst nachdem er über seine eigene dunkle Seite obsiegt hat, gelingt ihm auch die Befreiung vom Bösen in Gestalt seines Gegenspielers (vgl. „Blue Velvet“. In: Nash, Jay Robert / Ross, Stanley Ralph (Hg.): The Motion Picture Guide. Annual. New York, NY / u.a.: Baseline, 1987-1999 (anfangs Chicago: Cinebooks), S. 33-35: 34). 15 Vgl. Schmitz, Edgar: „Gregory Crewdson: Twilight“. In: Kunstforum International, Bd. 160/2002, S. 431-432: 431. 16 Berg 2005, S. 20.

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geschrieben, obwohl deren Repräsentanten nicht oder nur im Bildhintergrund gezeigt werden. Das Fernsehprogramm vermittelt ebenso die Perspektive der Erwachsenen, wie das Puppenhaus für deren Wohnideale und Normen steht.17 Zudem sind die Kinder kaum als Autoren der Erzählungen ins Bild gesetzt. Sie mögen die narrativen Angebote zwar zu eigenen Geschichten formen, aber sie werden nicht im freien Spiel vorgeführt, sondern zum einen als passive Rezipienten eines existierenden televisionären Programms. Zum anderen scheint auch das Puppenhaus ein (phantastisches) Eigenleben zu führen, dem das Mädchen nur gebannt zuschauen kann. Abbildung 12 (O.i.F). Gregory Crewdson: o.T. (aus der Serie TWILIGHT (1998-2002))

17 Aufgrund der strukturellen Ähnlichkeit des Puppenhauses bei Crewdson mit Puppenstuben des 19. Jahrhunderts lässt sich die These, die Gottfried Korff in Hinblick auf die historischen Exemplare aufgestellt hat, im Grundsatz auf das vorliegende Modell übertragen; demzufolge handelt es sich bei den Häusern „nicht einfach um Miniaturbilder der Wirklichkeit“, sondern um „Auslegungen von Wirklichkeit, und zwar solche, die nach den Regeln der Erwachsenenwelt erfolgen“ (Korff, Gottfried: „Puppenstuben als Spiegel bürgerlicher Wohnkultur“. In: Niethammer, Lutz (Hg.): Wohnen im Wandel. Beiträge zur Geschichte des Alltags in der bürgerlichen Gesellschaft. Wuppertal: Peter Hammer 1979, S. 28-43: 29).

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In Bildern der Serie TWILIGHT (1998-2002) zeigt Crewdson hingegen Heranwachsende in höherem Alter als frei und selbständig Handelnde. In dieser Serie entwirft Crewdson den Kern seines Motivrepertoires, aus dem er in den folgenden beiden Serien DREAMHOUSE (2002) und BENEATH THE ROSES (2003-2005) schöpft, indem er Motive neu kombiniert und variiert. Dazu zählen das Dämmerlicht, die Nacht und der quellenlose Lichtstrahl von oben, die Kleinstadt, die Einfamilienhaussiedlung und deren Häuser, Bade-, Schlaf- und (zerstörte) Wohnzimmer, führerlose Autos und Schulbusse auf einsamen Straßen, staatliche Autoritäten, Nachbarn, die Familie, Kinder und Jugendliche, Paare, nackte und schwangere Frauen, Tiere und Insekten im oder am Haus sowie Pflanzen, die im oder am Haus aufgetürmt werden. Gerade die befremdliche Präsenz der Natur im häuslichen Umfeld prägt den Charakter dieser Serie wie auch die Kombination aus Nahsichten und Totalen aus deutlich erhöhter, ‚auktorialer‘ Perspektive. In einer Fotografie sind es zwei Wölfe, die an der Schwelle einer geöffneten Haustür im Dämmerlicht im Garten stehen und so symbolisch die Verbindung zur Natur (wieder) herstellen (vgl. Abb. 12). Im Bildvordergrund wird ein Junge gezeigt, der im Hausinneren mit nacktem Oberkörper vor einem auf dem Boden liegenden Mädchen sitzt und eine Hand mit gespreizten Fingern über ihren nackten Bauch hält. Auf diesem Bauch ist ein kreisförmiger Wulst zu erkennen, den Darcey Steinke als Narbengewebe identifiziert hat. 18 Beide Akteure haben die Augen geschlossen und scheinen ganz auf ihr ‚Spiel‘ konzentriert. Ihre pubertäre Ernsthaftigkeit gepaart mit den nackten Körperpartien, dem Kreis19 und der Anwesenheit der Tiere, die das Naturhafte, Wilde und Kreatürliche repräsentieren, nimmt der Szene jede Anmutung von kindlicher Naivität, sondern verleiht ihr etwas Rituelles, Mystisches und Bedrohliches. Das Haus ist hier nicht mehr schützender Raum des unverbindlichen Spiels, in dem sich Kinder unbekümmert tummeln,

18 Vgl. Steinke, Darcey: „Dream of Life“. In: Gregory Crewdson. Dream of Life. Salamanca: Ed. Univ. de Salamanca 2000 (2. Aufl.; 1. Aufl 1999), S. 9-15: 14. 19 Angesprochen auf den Kreis als wiederkehrendes Symbol in seinen Inszenierungen, entgegnet Crewdson, dieser sei für ihn „a metaphor for obsession, some kind of possibility or non-possibility“ (Gregory Crewdson im Gespräch mit Bradford Morrow. In: Gregory Crewdson 2000 (1999), S. 17-30: 27).

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nicht mehr zivilisierter Raum, in dem die Natur nur in domestizierter und verklärter Form vorkommt, wie die Landschaftsidylle an der Wand und die Topfpflanze daneben zeichenhaft vergegenwärtigen. Der rationale Raum wurde hier bildlich geöffnet zu einer Welt des Magischen und Übersinnlichen, die über den Charakter eines Spiels hinaus die bestehende Ordnung infrage stellt. Abbildung 13 (O.i.F). Gregory Crewdson: o.T. (aus der Serie TWILIGHT (1998-2002))

Für die Kontaktaufnahme mit dem Unterbewussten und Verdrängten steht hingegen das Bild, das einen Jugendlichen in Unterhose in einem aseptischen Badezimmer zeigt, der mit seinem Arm durch das Ausgussloch einer Dusche in ein dunkles Untergeschoss mit Installationen greift (vgl. Abb. 13). Diese metaphorische Lesart und psychoanalytische Deutung wird befördert durch das Alter, das der Darsteller repräsentiert. In keiner anderen Lebensphase setzt sich das Subjekt so intensiv mit seinen körperlichen und psychischen Grundstrukturen auseinander wie in der Adoleszenz.20 Insbesondere Jugendliche sind gefordert, die eigenen Anlagen und ihre Veränderung wahrzunehmen und das eigene Handeln darauf abzustellen. In dieser Phase ist der

20 Vgl. Hurrelmann, Klaus: Lebensphase Jugend. Eine Einführung in die sozialwissenschaftliche Jugendforschung. Weinheim / u.a.: Juventa 2004 (7., vollst. überarb. Aufl.; 1. Aufl. 1985), S. 64.

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Triebschub, der mit der Geschlechtsreife einhergeht, entscheidend, stört er doch nachhaltig das fragile Gleichgewicht zwischen dem ‚Ich‘ als Kontrollinstanz und dem ‚Es‘ als Triebpol des psychischen Apparats. Um „das alte Kräfteverhältnis wieder herzustellen“21, bedient sich das ‚Ich‘ u.a. der Verdrängung als Abwehrmethode, wie Anna Freud herausgearbeitet hat. 22 In dem Bild ist es allerdings nicht der Junge, der verdrängt; ganz im Gegenteil sucht er mit einigem Aufwand die Verbindung zum bisher Nicht-Bewussten. Wenn das Badezimmer in seiner klinisch sauberen Form die kulturellen Konventionen eines nüchtern verwaltenden Umgangs mit dem eigenen Körper symbolisiert, erscheint das Untergeschoss als deren Kehrseite, als Ort des Verdrängten, all dessen, was ‚oben‘ keinen Platz hat: Schmutz und Geheimnis, Unterbewusstes und Triebhaftes. Für Michael Stoeber wird in diesem Interieur dem puritanischen Amerika sein Gegenbild vorgehalten.23 Demnach repräsentiert der Junge die neue Generation, die gezielt die Auseinandersetzung mit dem von den Eltern Verdrängten und Tabuisierten sucht.

2.2

F AMILIÄRE K ONFLIKTRÄUME

Einen Konflikt mit den gesellschaftlichen Konventionen bzw. mit den Eltern als deren Vertreter, in denen dem Körper einer heranwachsenden Frau eine besondere Bedeutung zukommt, hat Crewdson in einem Bild der Serie DREAMHOUSE (2002) in Szene gesetzt, in der eine junge von einer älteren Frau zur Rede gestellt wird (vgl. Abb. 14). Wie im Großteil der Fotografien dieser Serie wird hier eine wahrscheinliche Situation und eine zwischenmenschliche Spannung vorgeführt. In einer Wohnzimmerszene ist eine junge Frau zu sehen, die einer älteren, auf einem Sofa sitzenden Frau gegenübersteht, die ihr zwar den Kopf zuwendet, den Rest des Körpers aber von ihr abgedreht hat. Die Haltung der jungen Frau, die nur Unterwäsche trägt, ist defensiv, sie

21 Göppel, Rolf: Das Jugendalter. Entwicklungsaufgaben, Entwicklungskrisen, Bewältigungsformen. Stuttgart: Kohlhammer 2005, S. 18. 22 Vgl. Anna Freud: „Das Ich und die Abwehrmechanismen (1936)“. Verweis nach Göppel 2005, S. 18. 23 Vgl. Stoeber, Michael: „Gregory Crewdson 1985-2005“. In: Kunstforum International, Bd. 178/2005, S. 307-309: 308.

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schaut schamhaft zu Boden und lässt die Schulter hängen. Sie ist von leeren Sesseln umringt, die weitere Zuschauer vorstellbar machen; auch das große unverhängte Fenster öffnet die Szene für weitere Betrachter. Die ältere Frau, die ihre Mutter sein könnte, blickt sie streng, vorwurfsvoll, aber auch ein wenig ängstlich an; Anlass oder Grund für das halböffentliche Tribunal werden nicht ausgewiesen. Auf und vor dem Couchtisch suggerieren allerdings Spuren eine vorgängige Handlung: Zigarettenkippen im Aschenbecher, ein halbgeleertes Glas, rotbefleckte Kosmetiktücher neben Nagellack und Rouge sowie Highheels vor einem Kissen, auf dem sich am Tisch sitzen ließe. Wurde die junge Frau also beim verbotenen Rauchen, Trinken und Schminken erwischt? Aber warum ist sie fast nackt und hat erdige Füße? Wie im Großteil der Bilder von Crewdson lassen sich die vielen narrativen Fäden nicht zu einer kohärenten Geschichte verbinden, entscheidend ist vielmehr die spannungsreiche Konstellation der Inszenierung: Sie verweist auf das Machtverhältnis zwischen der älteren Frau, die die Ordnung des bürgerlich häuslichen Umfelds vertritt, und der Jugend, die untergeordnet und verletzlich erscheint. Allerdings offenbart der nur wenig bekleidete, durch einen Spiegel von zwei Seiten präsentierte Körper auch die geschlechtliche Reife der jungen Frau, die ebenso zur ödipalen Bedrohung werden kann, wie er auch die endgültige Abnabelung von den Eltern erahnen lässt. Im Raum der behüteten Kindheit finden sich allerlei Anzeichen für eine Orientierung der jungen Frau nach außen: die schmutzigen Füße, das Make-Up, die nicht verhängte Terrassentür und das durch sie fallende, lockende Scheinwerferlicht in der Dämmerung. Vorgeführt wird eine komplexe und widersprüchliche Beziehung zwischen Mutter und fast erwachsener Tochter, deren Einbettung in diesen spezifischen Raum eine grundlegende Veränderung ihres Verhältnisses suggeriert. Wie so häufig hat Crewdson auch hier eine dramatische Situation, einen „single frame movie“24 inszeniert, deren narratives Vorher und Nachher zwar rätselhaft bleibt, die aber den Eindruck erweckt, als hätte sie als entscheidender Augenblick für die Figuren essenzielle, wegweisende Bedeutung und als sei danach nichts mehr so, wie es mal war. Die in diesem und dem vorstehenden Kapitel angeführten Interieurs von Crewdson behaupten das familiäre Heim als entscheidenden Erfahrungsraum für Kinder und Jugendliche, die u.a. über die dort

24 Gregory Crewdson. Zitiert nach Berg 2005, S. 14.

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stattfindende Konfrontation mit der sozialen Ordnung, mit phantastischen Gegenwelten und der eigenen Triebstruktur ihre ‚Unschuld‘ verlieren und zu jungen Erwachsenen heranreifen. Diese verschiedenen Erfahrungsräume werden nicht nur durch Handlungen wie Handauflegen oder Gegenstände wie einem Fernsehgerät angesprochen, vielmehr werden sie auch durch die dargestellten Raumkonstellationen symbolisiert. So stehen fast alle Räume der idealisierten Einfamilienhäuser für die Werte und Normen der Eltern, deren Verschränkung mit der Ordnung des gesellschaftlichen Außenraums beispielsweise über die Transparenz der Terrassentür verdeutlicht wird. Die kühle Badezimmereinrichtung kann hier auf eine körperfeindliche Einstellung verweisen, während der schummrige Keller in der gleichen Aufnahme als Gegenbild den Ort des ‚oben‘ Verdrängten markiert. Die geöffnete Tür deutet Erfahrungen an, die nur außerhalb des Schutzes des familiären Raums möglich sind und die die Heranwachsenden mit der Natur, mit Magie oder mit Gefahren der Außenwelt konfrontieren. Abbildung 14 (O.i.F). Gregory Crewdson: o.T. (aus der DREAMHOUSE (2002))

2.3

S OZIOKULTURELLE O RIENTIERUNG

In ihrer Serie MULBERRY L ODGE / FRANCIS PLACE, die über 60 Aufnahmen umfasst, hat Sarah Jones25 zwischen 1996 und 1999 drei he-

25 Sarah Jones wurde 1959 in London geboren, wo sie auch lebt und arbeitet. Zwischen 1978 und 1996 studierte sie am Goldsmiths College / University

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ranwachsende Mädchen in der häuslichen Umgebung zweier ländlicher Anwesen der englischen Mittelklasse fotografiert. In den formal strengen und unspektakulären Inszenierungen setzt sie die Individualität der jungen Frauen gegen austauschbare Posen und Kleidungsstücke sowie ein unpersönliches aber soziokulturell determiniertes Umfeld. Gefragt wird hier nicht nur nach den familiären und gesellschaftlichen Einflüssen auf die Sozialisation der Porträtierten, sondern auch nach den Konventionen der Darstellung von Individuen, deren nähere Charakterisierung in den Bildern verweigert wird.26 Bei den Räumen, in denen die Jugendlichen posieren, handelt es sich um geschmackvoll eingerichtete Wohn-, Ess- und Gästezimmer, die Ausdruck des Lebensstils der Elterngeneration sind. Es dominieren historische Möbel, dekoratives Porzellan und Silber, Perserteppiche und repräsentative Ölgemälde. Die gepflegte Einrichtung lässt sich nicht nur der wohlhabenden Mittelklasse zuordnen, sondern kann aufgrund der farbenfroh gestalteten Wände, der geblümten Vorhänge und Sesselbezüge und der vereinzelten Jagdbilder auch als ‚typisch englisch‘ bezeichnet werden. Chris Townsend hat zudem pointiert herausgestellt, dass sich in dem innenarchitektonischen Rekurs auf die familiäre und nationale Vergangenheit bei weitestgehender Verweigerung von modernen Einflüssen 27 eine nachimperialistische „Sehnsucht nach

of London (vgl. Sarah Jones. Farbfotografien (anlässlich der gleichnamigen Ausstellung, Museum Folkwang, Essen, 19.12.1999-27.02.2000 / u.a.). Essen: Museum Folkwang 1999, S. 120). 26 Bereits in der vorangegangenen Serie ACTOR hat Sarah Jones den Grenzen des konventionellen Porträtbegriffs nachgespürt, indem sie die emotionslosen Posen der Figuren aus Piero della Francescas (1420-1492) Altarbild von Schauspielern nachstellen ließ. Angesichts der „leeren Figuren“ (Slyce, John: „Zeit und Erzählung. Performativer Realismus in den Fotosequenzen von Sarah Jones“. In: Sarah Jones 1999, S. 28-50: 38) in neutraler Kleidung vor weißem Hintergrund bleibt dem Betrachter jeder narrative Kontext verwehrt. 27 Townsend meint damit das Bekenntnis zum kulturellen und politischen Wandel und Fortschritt, wie er sich z.B. in der europäischen Integration äußert (vgl. Townsend, Chris: „The Photographs of Sarah Jones“. In: Sarah Jones. Salamanca: Ed. Univ. de Salamanca 1999, S. 13. Zitiert nach Schumacher (2002a), Rainald: „Sarah Jones“. In: ders. / Winzen, Matthias (Hg.): Die Wohltat in der Kunst. Post/Feministische Positionen der Neun-

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Sicherheit, Stabilität und Reichtum“28 äußern würde. In ihrer Erscheinung, Pose und Kleidung fügen sich die jungen Frauen in diese von Tradition, Stil- und Klassenbewusstsein geprägten Räume scheinbar perfekt ein. Die vorgeführte Verschränkung von Raum und Figur offenbart, dass die „[...] jungen Frauen [...] alle Erwartungen der bürgerlichen Mittelklasse-Gesellschaft verinnerlicht und ihr Aussehen und sich selbst entsprechend dieser Vorgaben gestaltet“29 haben, meint Rainald Schumacher. Abbildung 15 (O.i.F). Sarah Jones: The Dining Room (Francis Place) (I), 1997 (aus der Serie MULBERRY LODGE / FRANCIS PLACE (1996-1999))

ziger Jahre aus der Sammlung Goetz (anlässlich der gleichnamigen Ausstellung, Staatliche Kunsthalle Baden-Baden, 14.09.-10.11.2002). Köln: König 2002, S. 77). Auf der Ebene der Dinge fällt auf, dass in den Bildern moderne Einrichtungsgegenstände wie elektrische Lampen, Heizkörper oder Fernsehgeräte nur selten und peripher gezeigt werden. 28 Townsend 2002, S. 77. 29 Schumacher 2002a, S. 76.

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Abbildungen 16 / 17 / 18 (alle O.i.F.). Sarah Jones: The Dining Room (Francis Place) (II / VI / III), 1997 / 1998 / 1997 (alle aus der Serie MULBERRY LODGE / FRANCIS PLACE (1996-1999))

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In der Tat spiegelt sich ihr gepflegtes Äußeres ebenso metaphorisch wie buchstäblich in den polierten Oberflächen der dunklen Möbel. Ihre unauffällige Kleidung orientiert sich weder an aktuellen Moden noch an einer spezifischen Jugendkultur. Die dezenten Schnitte stellen ihre Körper nicht übermäßig aus; stattdessen stehen die fast ausschließlich einfarbigen Kleidungsstücke für einen farblichen Akzent, der in allen Bildern optimal mit den Einrichtungstönen harmoniert. Dass Kleidung hier keine individuelle Persönlichkeit beschreibt, wird im Vergleich der Bilder deutlich, in denen die gleichen Oberteile von unterschiedlichen Mädchen getragen werden. 30 Auch die Räume charakterisieren die Mädchen nicht näher, denn zum einen wurden sie nicht von ihnen eingerichtet. Zum anderen mangelt es hier an Dingen, Spuren oder einer (Un-)Ordnung, die lebendiger Ausdruck einer spezifischen Persönlichkeit oder eines persönlichen Interesses sein könnten. Als drittes Zeichensystem steht schließlich auch die Pose gegen eine eindimensionale Interpretation der Bilder als (soziologisch motivierte) Porträts individueller Frauen.31 So wird die gleiche Haltung von verschiedenen Mädchen in unterschiedlichen Bildern eingenommen. Sie erscheint nicht als authentischer und individueller Selbstausdruck, sondern als von der Fotografin vorgegeben, angeleitet und inszeniert. In den Aufnahmen, in denen die Gesichter der Mädchen von Haaren verdeckt werden, gelingt schließlich nicht einmal mehr ihre eindeutige Identifizierung. Dennoch sind die jungen Frauen nicht beliebig austauschbar. Gerade in der vergleichenden Betrachtung, die sich über die Einheit des Raums und des Kleidungsstils aufdrängt, zeigen sich individuelle Unterschiede im körperlichen Ausdruck. Am gleichen Tisch sitzend, den Kopf auf die Hand gestützt und den Blick ziellos den Bildraum durchmessend wirkt das Mädchen in The Dining Room (Francis Place) (I), 1997 verträumt, das Mädchen in The Dining Room (Francis Place)

30 Vgl. z.B. The Sitting Room (Francis Place) (IV), 1999. In: Sarah Jones 1999, S. 89 und The Dining Room (Francis Place) (VII), 1999. In: A.a.O., S. 91 oder The Spare Room (Francis Place) (V), 1999. In: A.a.O., S. 76 und The Spare Room (Francis Place) (III), 1998. In: A.a.O., S. 77. 31 Schumacher hingegen favorisiert diese Lesart. Bereits am Anfang seiner Ausführungen unterstellt er den Bildern implizit einen Porträtcharakter, indem er im Gegensatz zu den unpersönlich gehaltenen Bildtiteln die Vornamen der Abgebildeten preisgibt (vgl. Schumacher 2002a, S. 76).

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(II), 1997 leicht genervt und das Mädchen in The Dining Room (Francis Place) (VI), 1998 nachdenklich (vgl. Abb. 15-17). Ausschlaggebend sind hier neben den Differenzen in der physiologischen Anlage und im Einsatz von Lidschatten und Lippenstift auch jene in der Gestik, denn mal liegt der Unterarm leicht, mal schwer und im dritten Bild gar nicht auf dem Tisch; oder der Kopf wird auf der ganzen Hand abgelegt, rutscht beinahe am Handballen ab oder schmiegt sich nur leicht an die Hand an. Aber nicht nur im Vergleich von Fotografien, die kurz hintereinander aufgenommen wurden, zeichnen sich Individuen ab. Da die Serie in einem Zeitraum von mehreren Jahren entstanden ist, bezeugt sie auch das Heranwachsen der Mädchen zu jungen Frauen und deren Individuation. Gesichtszüge werden markanter, Make-up hat zwischenzeitlich einen hohen Stellenwert, und wechselnde Frisuren verändern die äußere Erscheinung. Die Turnschuhe, die eine Jugendliche in einigen Fotografien trägt, fallen gegen die barfüßige Bildexistenz der Mädchen in den anderen Aufnahmen sofort auf.32 Äußert sich hier trotzig Individualität im Widerstand gegen das strenge Konzept der Künstlerin, oder sind die jugendlichen Laufschuhe als Metapher für die Lösung aus dem familiären Raum, den Aufbruch in die Selbständigkeit zu verstehen? Insbesondere die sich qualitativ verändernden Posen und räumlichen Positionierungen der Heranwachsenden über die Jahre markieren ein verändertes Verhältnis zum physischen wie sozialen Raum. In frühen Bildern von 1997 haben die Mädchen meist Positionen bezogen und Haltungen eingenommen, die sie als künftige Bewohner eines ähnlichen, wenn nicht des gleichen Hauses entwerfen. So sitzt ein Mädchen in The Dining Room (Francis Place) (III), 1997 aufrecht am Esstisch und blickt den Betrachter selbstbewusst an (vgl. Abb. 18). Ihr Oberkörper ist dabei in gleicher Dreiviertelansicht und durch die Tischkante in ähnlichem Anschnitt zu sehen wie die Frau mittleren Alters in dem Brustbild, das zentral über der Stirnseite des Tisches hängt. Über die kompositorisch hergestellte Beziehung und gestische Korrespondenz zwischen Mädchen und Bild wird sie unmittelbar in die Generationsfolge eingereiht. In The Dining Room (Francis Place) (I), 1997 steht das Mädchen am gleichen Tisch, hier allerdings in Haltung und Position des (männlichen) Familienoberhauptes vor dem repräsen-

32 Vgl. The Dining Room (Francis Place) (VII), 1999. In: Sarah Jones 1999, S. 91.

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tativen Kamin und unter dem von Jagdbildern flankierten Porträt eines männlichen Ahnen (vgl. Abb. 15).33 Ebenso wenig wie ihre Anspannung passen allerdings der eingeknickte Körper und der gesenkte, abwesende Blick eines anderen Mädchens an gleicher Stelle in The Dining Room (Francis Place) (II), 1997 zur Rolle eines Patriarchen (vgl. Abb. 16). Auch in anderen Fotografien verbinden sich die Jugendlichen zwar mit dem Raum- und Möbelangebot, sie verweigern sich aber der Rolle von Erben, die wie selbstverständlich die Nachfolge der Eltern antreten. Schumacher schlussfolgert daher: „Sie warten, scheinbar endlos gelangweilt und untätig. Noch ist unklar, ob sie die Familientradition weiterführen, ebensolche Häuser haben oder radikal mit ihrer Vergangenheit brechen werden.“34

In Bildern aus dem Jahr 1998 haben die Jugendlichen die etablierten und funktionalisierten Orte im Haus geräumt und besetzen stattdessen deren ‚Negativformen‘ und die Passagen zwischen ihnen. Unter dem Esstisch kauernd, hinter einem Treppengeländer sitzend oder ausgestreckt unter einem Bett scheinen sie auf spielerische Weise die ungenutzten Potenziale des Raums zu ergründen (vgl. Abb. 19). Die Fotografien, die sie in den ummauerten Gärten zeigen, führen hingegen die Grenzen des erweiterten häuslichen Raums vor Augen. Nur in The Hallway (Mullberry Lodge) (I), 1998 symbolisiert eine geöffnete Tür die Möglichkeit der Überwindung des Heims und den Austritt aus der Adoleszenz (vgl. Abb. 20). In Aufnahmen aus dem Jahr 1999 hat sich das Verhältnis zwischen Figur und Raum zugunsten der Porträtdarstellung verschoben. In diesen Bildern stehen oder liegen die jungen Frauen im Bildvordergrund

33 An der Gestaltung des Speiseraums, der einen der zentralen Schauplätze von Jones’ Inszenierungen darstellt, lässt sich eine Strukturierung des Raums nach Geschlecht ablesen, denn das Porträt der Frau ist über der schmucklosen Durchreiche zur Küche, das des Mannes hingegen über dem repräsentativen Kamin positioniert. Analog zur traditionellen Rollenverteilung wird sie also in die Nähe versorgender häuslicher Tätigkeiten gerückt, er in die Nähe repräsentativer Aufgaben und außerhäuslicher Aktivitäten (vgl. auch Kap. 5.1). 34 Schumacher 2002a, S. 75.

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ohne direkte Beziehung zu Möbeln oder zur Raumstruktur.35 Während sich die Kompositionen zuvor an den räumlichen Gegebenheiten orientiert haben, richtet sich die Ganzkörperdarstellung aus Bauchnabelperspektive nun an den Personen aus. Sinnbildlich erscheinen die jungen Frauen hier in einer ersten Lösung von ihrem familiären Hintergrund. Abbildung 19 / 20 (alle O.i.F). Sarah Jones: Camilla (I), 1998 / The Hallway (Mulberry Lodge) (I), 1998 (alle aus der Serie MULBERRY LODGE / FRANCIS PLACE (1996-1999))

35 Z.B. The Sitting Room (Francis Place) (V), 1999. In: Sarah Jones 1999, S. 95; The May Tree (Francis Place) (II), 1999. In: A.a.O., S. 93.

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Die Ambivalenz der Personendarstellung zwischen inszenierter Pose und individuellem Ausdruck spiegelt die entwicklungspsychologische Situation der Heranwachsenden, sich als eigenständige Persönlichkeiten in sozialen Systemen positionieren zu müssen. Metapher für die „gesellschaftlichen, familiären und traditionellen Zwänge“36 ist hier nicht zuvorderst die Inszenierung seitens der Künstlerin, sondern die räumliche Situation, die ein „[...] eigenes Netz von Verpflichtungen, beladen mit Tradition und Haltungs-, Kleidungs- und Verhaltenskodizes im und nach dem elterlichen Zuhause webt.“37 Auch in der Serie THIRD WORLD BLONDES HAVE MORE MONEY von Daniela Rossell 38, die zwischen 1994 und 2001 entstanden ist, repräsentieren private Wohnräume Lebensbedingungen und Sehnsüchte von Familien aus einer spezifischen Schicht, hier der wohlhabenden weißen Oberschicht Mexikos. Deren teilweise opulent und phantasievoll eingerichteten Häuser bieten zahlreiche Bezugspunkte für die Selbstinszenierungen der Bewohner. Rossell hat vor allem die hier aufwachsenden jungen Frauen fotografiert,39 die sich in elitären Räumen in ein – bisweilen selbstironisches – Spiel mit kulturellen Bildern von Weiblichkeit, Status und Reichtum verwickeln. Bereits mit dem Titel der Fotoserie wird ein ironisch-provokativer Ton angeschlagen, indem der ethnisch und ökonomisch herausragende Status der Porträtierten hervorgehoben wird. Als ‚blondes‘ bezeichnet man in Mexiko Angehörige der mehrheitlich hellhäutigen Oberschicht, auch wenn ihnen dunkle Haare wachsen. Indem Rossell diese Elite, die sie im Serientitel der wirtschaftlich weniger entwickelten ‚dritten Welt‘ zuordnet, in einem internationalen Wettbewerb mit ökonomisch höher entwickelten Ländern um den größten Reichtum platziert, unterstellt sie ihr einen Minderwertigkeitskomplex und unkultiviertes Prot-

36 Schumacher 2002a, S. 75. 37 Slyce 1999, S. 48. 38 Daniela Rossell wurde 1973 in Mexiko City geboren. Sie lebt und arbeitet in New York City. Rossell studierte 1989 Theater an der American School Foundation und 1993 Malerei an der Escuela Nacional de Artes Plásticas, beides in Mexiko City (vgl. Daniela Rossell. Ricas y Famosas. México D.F.: Ed. Oceano de México / Madrid: Turner 2002, o.S. und http://www. greenenaftaligallery.com (14.10.2005)). 39 Es posieren nur wenige Frauen und noch weniger Männer aus der Elterngeneration sowie nur vereinzelt Kinder und junge Männer.

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zen im Stil von ‚Neureichen‘. Über die Adaption des Titels der Telenovela Ricas y Famosas für das Fotobuch,40 in dem die Serie veröffentlicht wurde, benennt sie ein weiteres Bezugsystem für ihre Bilder: den televisionären Entwurf einer Welt von Reichen und Berühmten. Rossell indiziert mit diesen Referenzen, dass sie nicht die (sozialkritische) Dokumentation eines spezifischen Lebensstils interessiert, sondern die Frage, inwiefern sowohl über den dinglich-räumlichen als auch über den performativen Bezug zu populären Vorstellungen vom Leben der Eliten Identität konstruiert wird. Abbildung 21 (O.i.F.). Daniela Rossell: o.T. (Alicia, Oscar (1999); aus der Serie THIRD WORLD BLONDES HAVE MORE MONEY (1994-2001))

Entgegen den Erwartungen, die der Titel weckt, leben längst nicht alle Familien, deren Töchter, Wohnungen und Häuser Rossell fotografiert hat, in Reichtum und Überfluss. Einige Bilder offenbaren vergleichsweise bescheidene Raumgrößen und gewöhnliche Einrichtungen (vgl. Abb. 21). Auch sind nur zwei der Porträtierten über den engeren Kreis ihres sozialen Umfeldes hinaus bekannt, nämlich als Tänzerin und Schauspielerinnen in Filmen bzw. Fernsehserien. 41 Insbesondere die jungen Frauen bemühen sich jedoch darum, zusammen mit der Fotografin eine Illusion von Glamour zu imitieren, wie sie von Telenove-

40 Daniela Rossell 2002. 41 vgl. Medina, Cuauhtémoc: „The Stage and the Stereotype. Daniela Rossell’s Ricas y Famosas“. In: Anastas, Rhea / Brenson, Michael (Hg.): Witness to Her Art. Art and Writings by Adrian Piper, Mona Hatoum, Candy Noland, Jenny Holzer, Kara Walker, Daniela Rossell and Eau de Cologne. Annandale-on-Hudson (NY): Bard College 2007, S. 310-327: 319.

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las, Yellow Press und Werbung entworfen wird. Gerade die sentimentalen Fernsehserien liefern ebenso stereotype wie „einflussreiche Vorbilder für das Selbstbild der Frauen in Südamerika“42, wie Rainald Schumacher konstatiert. 43 Im Großteil der Fotografien erscheinen die Porträtierten in körperbetonter, bisweilen tief dekolletierter (Abend-) Kleidung, meist mit geöffnetem Mund und rot gefärbten Lippen in selbstbewussten, erotisch aufgeladenen und dem Betrachter zugewandten Posen. Sie bemühen das Zeichenrepertoire einer ‚femme fatale‘44 und beziehen sich damit auf das Bild einer „dämonischen Verführerin“45, die erotische Macht über Männer besitzt. In vielen Fotografien rekurrieren aber nicht nur die Posen, sondern auch die Diener und Dienerfiguren sowie das wohlhabende bis luxuriöse Umfeld auf eine Bildwelt der Reichen und Berühmten, die sowohl die Porträtierten als auch die Rezipienten als Raum der Fiktion, der Träume und der Sehnsucht aus verschiedenen Medien kennen. Zu dieser künstlichen Welt, die auf die Aufmerksamkeit eines Publikums ausgerichtet ist, passen die unnatürlich intensiven Farben der Fotografien, das fast randlose Buchlayout mit den überbordenden Bildräumen und die Größe der Ausstellungsbilder, die jeweils mehrere Quadratmeter Bildfläche messen.

42 Schumacher (2002b), Rainald: „Daniela Rossell“. In: ders. / Winzen 2002, S. 144. 43 Telenovelas zählen in Mexiko zu den am meisten gesehenen Fernsehsendungen. Kennzeichen des Genres sind die weiblichen Hauptdarstellerinnen, die Liebesgeschichte im Zentrum der Handlung, die melodramatische Erzählstruktur und ihr fiktionaler Charakter. Erfolgreiche Telenovelas beziehen sich auf symbolische Repräsentationen von gesellschaftlichen Werten und Institutionen, so dass Handlungen und Figuren einfach und eindeutig statt vielschichtig und vage konzipiert werden (vgl. Lizaur, Blanca de: „Telenovelas“. In: Werner, Michael S. (Hg.): Concise Encyclopedia of Mexico. Chicago (IL). / u.a.: Fitzroy Dearborn 2001, S. 743-745: 743). 44 Im vierten Bild des Fotobuchs, das eine dekorativ auf einem Sofa ausgestreckte Frau in einem edlen Morgenmantel zeigt, ist an exponierter Stelle ein Buch mit dem Titel „Femme fatale“ abgebildet. Größe, Umfang und Umschlag stehen für einen kunstgeschichtlichen Bildband. Die Vermutung liegt also nahe, dass zumindest diese Frau das Vorbild für ihre Pose nicht nur in den Medien, sondern auch in der Bildenden Kunst gefunden hat. 45 Hilmes, Carola: „Femme fatale“. In: Hügel 2002, S. 172-177: 172.

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Die Inszenierungen erscheinen so einerseits authentisch, weil sie dem Bild entsprechen, das Bewohner und Betrachter sich von der Lebenswelt der Privilegierten machen.46 Anderseits könnten sie auch als Auszug aus der fiktionalen Welt des Films oder der Werbung interpretiert werden. Um Missverständnisse zu umgehen, bemerkt Rossell daher am Anfang ihres Buches, dass die Bilder sich auf existierende Räume bezögen, die ‚fotografischen Subjekte‘ sich selbst repräsentieren würden und jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Ereignissen nicht zufällig sei. 47 Das umgekehrte Zitat einer Erklärung, die bei Filmen üblich ist, die auf ‚wahren Begebenheiten‘ beruhen, denen aber aus rechtlichen (und ästhetischen) Gründen ein fiktionaler Status bescheinigt wird, verweist auf die komplexen Verwicklungen zwischen Fiktion und Realität. Rossell ist über ihre ersten künstlerischen Arbeiten, in denen sie sich mit der identitätsstiftenden Funktion der Architektur von Wohnhäusern auseinandergesetzt hat, dazu gekommen, das Verhältnis der Bewohner zu ihrer Einrichtung im Innenraum zu untersuchen. Während sie zunächst mit Bildern von Fassaden und Mauern operierte, die in Wohngegenden der Mittel- und Oberschicht die öffentliche Erscheinung der Anwesen prägen, 48 hat sie für die bald darauf folgende Serie THIRD W ORLD BLONDES HAVE M ORE MONEY in den privaten Räumen der wohlhabenden Familien fotografieren können. Da sie selbst aus einer dieser Familien stammt, war es ihr nicht nur möglich, in dieser üblicherweise abgeschirmten Sphäre zu arbeiten, sondern auch die Bewohner zu ihren (exhibitionistischen) Selbstinszenierungen zu bewegen. Die Porträtierten hätten freiwillig in einer entspannten und angenehmen Atmosphäre posiert, betont Rossell;49 sie hätten Aufnahmeort, Kleidung und Pose gemeinsam mit ihr ausgesucht und „ihre ganz per-

46 „Rather than providing imagistic references that might inform a typology of the ruling classes, the series articulates a set of class fantasies that ring true because they enfold an iconography of the idea of privilege that is shared by Rossell, her subjects and the collective.“ (Medina 2007, S. 320). 47 „The following images depict actual settings. The photographic subjects are representig themselves. Any resemblance with real events is not coincidental.“ (Daniela Rossell 2002, o.S.). 48 Vgl. Medina 2007, S. 314. 49 Vgl. Rossell, Daniela: „Statement for Presentation of Ricas y Famosas (2002)“. In: Anastas / Brenson 2007, S. 331.

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sönliche Phantasie“50 spielerisch ausgelebt. Den dienenden Aspekt ihrer Rolle betont die Künstlerin in der letzten Fotografie des Buchs, indem sie sich unter das Personal eines der Häuser gemischt hat, das für ein Gruppenporträt aufgereiht wurde. Nichtsdestotrotz ist der Einschätzung von Cuauhtémoc Medina zuzustimmen, dass Rossell sich sehr wohl auch des ironischen Potenzials der Situation bewusst war,51 in der die Phantasien der Frauen auf die Wertvorstellungen treffen, die der Einrichtung eingeschrieben sind. Viele Frauen richten sich in ihren Posen so übertrieben deutlich nach dem Rollenangebot, das ihnen der materialistisch, sexistisch und hierarchisch strukturierte Raum vorgibt, dass ihre Inszenierungen im Bild geradezu karikierende Züge annehmen. Nicht immer ist allerdings klar, ob die Darstellerinnen die Differenz zwischen dem Gemeinten und dem Gezeigten intendiert haben oder ob Rossell diese vor allem über Bildausschnitt, Perspektive und Lichtführung konstruiert hat. Einige Bilder hingegen vermitteln den Eindruck, dass die Porträtierten sich gegen die Ordnung, die der (elterliche) Raum repräsentiert, rebellisch in Szene setzen. Verschiedene Inszenierungen einer jungen schwarzhaarigen Frau, die über das gesamte Buch verteilt sind, fallen aufgrund ihres widerständischen Rollenverhaltens besonders auf. Eine Fotografie zeigt sie als Brautjungfer beim Naschen von Hostien, eine andere hingegen beim Lachen über ein Dackelpaar, das vor dem Altar einer (privaten) Kapelle kopuliert. In einem Land, in dem die katholische Kirche großen gesellschaftlichen Einfluss hat, 52 besitzen diese Szenen des respektlosen Umgangs mit kirchlichen Symbolen und Räumen eine provokative Kraft. Gegen die väterliche bzw. staatliche Autorität scheint sich eine andere Inszenierung zu richten, in der die Frau auf einem aufgebockten Sattel sitzt, der auf einem repräsentativen Schreibtisch steht (vgl. Abb. 22). Vor den gemalten Augen des offiziellen Gründungsvaters des modernen Mexikos, Emiliano Zapata, dessen großformatiges Porträt an der Wand hinter dem Schreibtisch hängt, mar-

50 Daniela Rossell im Gespräch mit Julia Chaplin. In: V Magazine 18/2002. Zitiert nach Schumacher 2002b, S. 145 51 Vgl. Medina 2007, S. 315. 52 Jean Meyer konstatiert, die katholische Kirche sei seit Ende der 1970er Jahre eine der ‚Schlüsselinstitutionen‘ in der mexikanischen Zivilgesellschaft (vgl. Meyer, Jean: „Catholic Church 1910-1996“. In: Werner 2001, S. 91-94: 91).

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kiert die junge Frau demonstrativ und mit kokettem Blick das Abstreifen ihrer Zigarettenasche. Sie deutet an, einen Tisch zu beschmutzen, der wie kein anderes häusliches Objekt die öffentliche Machtposition des Vaters repräsentiert. Dass er eng mit der politischen Elite verbunden ist und deren Überzeugungen teilt, deuten zwei Fotografien auf dem Schreibtisch an, die einen Mann als Kandidaten der über Jahrzehnte herrschenden ‚Partei der institutionalisierten Revolution‘ (PRI) ausweisen und einen anderen, möglicherweise auch den gleichen Mann vor dem Porträt eines Kämpfers zeigen. Die Krokodilstrophäe auf dem Tisch komplettiert das Bild männlicher Potenz und (All-) Macht, das der Raum vermittelt. Mit dem Aufstellen ihres Fußes auf das präparierte Tier behauptet die junge Frau eine Dominanz, die allerdings in zweierlei Weise interpretiert werden kann. Denn in dieser machtvollen Pose und der von knapper Kleidung und dramatischem Licht betonten Körperlichkeit rekurriert sie gleichsam auf erotische Phantasien von Spielen mit Dominanz und Unterwerfung zwischen den Geschlechtern. Das Bild kann daher sowohl als Ausdruck einer individuellen, kritischen Meinung und einer Distanzierung von etablierten Autoritäten verstanden werden als auch als Zeichen der (unbewussten) Reproduktion kultureller Vorstellungen und Bilder. Die jugendlich rebellische Geste verharrt auf diese Weise in der symbolischen Ordnung, gegen die sie sich zu wenden scheint. Auf dieses Dilemma zwischen Individuation und Integration, das gerade die heranwachsenden Frauen tangiert, weist Rossell in einem Gespräch hin: „Die Frauen spielen auch ein Spiel. Sie machen Dinge, die ihnen Macht verleihen. [...] Viele sind ziemlich kluge Frauen, die eher zynisch über die Tatsache denken, dass sie so privilegiert sind, aber sie wollen auch nichts ändern.“53

Ein selbstkritisches Bewusstsein für die eigene Rolle innerhalb der nationalen Elite wird in einem Bild angedeutet, in dem eine junge Frau ihren Objektstatus sowohl überzeugend in Szene setzt als auch indirekt als solchen benennt. In einem Ensemble aus barocken Möbeln, prunkvollen Kristallvasen und großformatigen Frauenporträts erscheint sie als Mitglied einer wohlhabenden Familie. Sie ist in Tenniskleidung zu

53 Daniela Rossell im Gespräch mit Julia Chaplin. In: V Magazine 18/2002. Zitiert nach Schumacher 2002b, S. 145.

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Abbildung 22 / 23 (alle O.i.F.). Daniela Rossell: o.T. (Paulina, Fathers Desk (1999) / Paulina and Lion (1999); alle aus der Serie THIRD WORLD BLONDES HAVE MORE MONEY (1994-2001))

sehen und hat ihren Fuß auf dem Kopf eines ausgestopften Löwens abgestellt (vgl. Abb. 23). Ihre Imitation der Siegerpose eines Großwildjägers nach geglückter Tötung signalisiert allerdings nicht (männliche) Überlegenheit; vielmehr rücken ihre nackten Beine durch die sportlich ambitionierte Geste ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Mit herausforderndem Blick bietet sie sich dem (männlichen) Betrachter als Objekt der (sexuellen) Begierde an. Die Aufschrift „Peep Show $ 1.00“ auf ihrem Oberteil bezeichnet und karikiert gleichsam dieses Subjekt-Objekt-Verhältnis, indem der begehrende Blick auf ein gedrucktes Schlüsselloch auf Brusthöhe gelenkt wird. In zynischer Zu-

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spitzung verweist die Preisangabe auf die Käuflichkeit von Körpern auch außerhalb der einschlägigen Etablissements. Ein kleinformatiges Bild, das im Fotobuch noch hinter das Impressum gesetzt wurde, kann ebenfalls als ironischer Kommentar des zuvor facettenreich vorgeführten Lebensstils gelten. Es zeigt eine Jugendliche, die auf dem Tresen einer (privaten) Bar eine goldene Tafel präsentiert, in der die Aussage eingraviert wurde, dass die Person, die mit den meisten Spielsachen stirbt, gewinnt.54 Es bleibt aber letztlich unklar, ob diese schriftliche Erklärung als selbstironische Kritik an einer materialistischen Lebensführung oder im Gegenteil als selbstbewusste Lebensmaxime interpretiert werden muss. Abbildung 24 (O.i.F.). Daniela Rossell: o.T. (Paulina, Bed Photos (1999); aus der Serie T HIRD WORLD B LONDES HAVE MORE MONEY (1994-2001))

Bei den meisten Inszenierungen bemühen sich die Beteiligten um den ungebrochenen Entwurf einer Welt des Glamours, indem sich die jungen Frauen als begehrenswerte Objekte mit der Einrichtung der Erwachsenen verbinden. In ihren eigenen, vergleichsweise gewöhnlich eingerichteten Zimmern wirken sie hingegen eher wie Pubertierende im Rollenspiel (vgl. Abb. 21, 24). Die hier präsentierten persönlichen und alltäglichen Dinge verleihen ihnen zudem Individualität und biografische Tiefe. In diesen Räumen sind es noch nicht die Statussymbole der Erwachsenen, sondern die Kuscheltiere, die als Liebesobjekte dienen, emotionale Geborgenheit bieten und in ihrer massenhaften

54 „He who dies with the most toys wins.“

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Präsenz wohl Kauflust, Besitzerstolz oder Sammelleidenschaften befriedigen. Abbildung 25 (O.i.F.). Daniela Rossell: o.T. (Angelica, Zapata (1999); aus der Serie THIRD WORLD BLONDES HAVE MORE MONEY (1994-2001))

Im Großteil der repräsentativen Räume markiert ein opulentes Potpourri aus ausgestopftem Großwild, Dienerskulpturen, barocken Möbeln und Gemälden sowie großflächigen Wandbildern koloniale, exotische bis phantastische Welten. Diese Einrichtungen stehen nicht für einen erlesenen Geschmack, einen kohärenten Stil oder eine generationsüberspannende Tradition.55 Medina hat die Räume vielmehr als „pseudo-aristocratical tropical Disneylands“56 beschrieben, mit denen

55 In einer ethnologischen Untersuchung hat Hugo G. Nutini herausgearbeitet, dass sich die mexikanische Aristokratie heute nicht mehr durch Lage oder Form ihrer Anwesen von denen der nichtaristokratischen Elite unterscheide, sondern vor allem durch deren Einrichtung mit Kunstwerken, Möbeln, Kunstgewerblichem und exquisiten Haushaltsgegenständen, die aus den drei Jahrhunderten ihrer Herrschaft stammen (ca. 1580 bis 1910). Dieser ‚Schrein für die Vorfahren‘ im Privaten erinnere sie an die Macht und den Wohlstand früherer Generationen und diene als Zuflucht vor dem, was die Aristokraten für die feindliche Welt halten (Nutini, Hugo G.: The Mexican Aristocracy. An Expressive Ethnography, 1910-2000. Austin (TX): Univ. of Texas Press 2004, S. 105). 56 Medina, Cuauhtémoc: „Private Worlds, Public Delusions (2002)“. In: Anastas / Brenson 2007, S. 332.

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eine elitäre Gruppe verzweifelt versuche, sich von der Mittelschicht abzugrenzen. Diese Familien, die einige Rezensenten als ,Neureiche‘ charakterisieren, 57 hätten eskapistische Räume geschaffen, ohne jeglichen Bezug zur urbanen, industriellen oder sozialen Wirklichkeit des zeitgenössischen Mexikos.58 Der Eindruck wird kompositorisch durch den weitgehenden Verzicht auf Öffnungen in den Außenraum unterstützt. Es sind in den Interieurs nur wenige Fenster und Türen erfasst; die wenigen deuten entweder einen Garten an oder entpuppen sich als malerische Illusion. Auch in den wenigen Bildern, in denen Mädchen am Rande eines Außenpools oder am Fenster einer Hochhauswohnung im Zentrum einer Großstadt posieren, verharrt das (sub-)urbane Treiben in unsichtbarer Ferne. Zwar bleibt die soziale Wirklichkeit Mexikos ausgesperrt, in manchen Bildern finden sich aber zumindest vereinzelte Verweise auf nationale Kultur und Geschichte. Gezeigt werden folkloristische Ponchos und Puppen, die dekorativ platziert wurden, oder Ausschnitte aus der Bildwelt der ‚Staatspartei‘ 59 PRI. Die Porträts des revolutionären Führers Emiliano Zapata wirken in diesem herrschaftlichen Umfeld seltsam deplatziert, wenn man bedenkt, dass dieser am Anfang des 20. Jahrhunderts gegen die Ausbeutung der armen (Land-)Bevölkerung durch die damals übermächtigen Großgrundbesitzer angetreten war. Deren hegemoniale Position bekleiden am Ende des Jahrtausends Oligarchen,60 die sich zwar symbolisch auf ihn berufen, die aber im Gegensatz zur überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung61 vom autokratischen politischen System oder von der neoliberalen Wende in der Wirtschafts- und Sozialpolitik Mitte der

57 Vgl. Biesenbach, Klaus: „Eine Ausstellung über die Wechselkurse von Körpern und Werten“. In: Mexico City. An Exhibition about the Exchange Rates of Bodies and Values (anlässlich der gleichnamigen Ausstellung, P.S. 1 Contemporary Art Center, Long Island (NY), 30.06.-02.09.2002). Long Island (NY): P.S. 1 Contemporary Art Center 2002, S. 143-144: 143. 58 Vgl. Medina 2007 (2002), S. 332. 59 Vgl. Garrido, Luis Javier: „Partido Revolutionario Institucional (PRI)“. In: Werner 2001, S. 571-576: 571. 60 Vgl. Schwabsky, Barry: „Daniela Rossell“. In: Daniela Rossell 2002. 61 Mehr als die Hälfte der Mexikaner leben unter der Armutsgrenze (vgl. Schumacher 2002b, S. 141).

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1980er Jahre profitiert haben. 62 Indem eine junge Frau ein großformatiges Porträt von Zapata als Hintergrund für eine verführerische Pose auf einem Tisch nutzt, offenbart sie den Gebrauch dieser Ikone als Ausweis einer privilegierten gesellschaftlichen Stellung und entlarvt damit (unfreiwillig) die Entfremdung von den Idealen und politischen Zielen des Porträtierten (vgl. Abb. 25). Dass die Machtverhältnisse sich zwischen den Besitzenden und den Besitzlosen nicht grundlegend geändert haben, signalisiert die uniformierte, gesichtslose und putzende Bedienstete im Bildhintergrund als anonyme Vertreterin der dienenden Klasse. Abbildung 26 (O.i.F.). Daniela Rossell: o.T. (Inge with Maid (1999); aus der Serie THIRD WORLD BLONDES HAVE MORE MONEY (1994-2001))

In den meisten Bildern harmonieren die Frauen mit den luxuriösen Einrichtungen, indem sie sich in Pose und Kleidung den hedonistisch, eskapistisch und sexistisch strukturierten Räumen anpassen. So glänzt ein Kleid wie die Sofakissen (vgl. Abb. 26) oder weist Streifen auf wie das Zebrafell auf dem Boden; es werden herrschaftliche Haltungen aus Gemälden zitiert oder eine komplette Haremsszene aus einem Wandbild reproduziert. „Die Frauen sind Teil der Dekoration“, konstatiert

62 Vgl. Schütze, Stephanie: „Politische Kultur(en) und Demokratisierung“. In: Bernecker, Walther L. / u.a. (Hg.): Mexiko heute. Politik, Wirtschaft, Kultur. Frankfurt a.M.: Vervuert 2004 (3., vollständig neu bearb. Aufl.; 1. Aufl. 1992), S. 241-268.

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Rossell, „so wie die zerbrechlichen Straußeneier in einer Schale oder die seltenen afrikanischen Kunstobjekte.“63 In ihren an medialen Vorbildern geschulten Selbstinszenierungen erscheinen sie als jugendliche, makellose und luxuriöse Objekte männlicher Begierde. Sie führen einen Lebensstil und eine Werteordnung spielerisch, überzeugend oder überhöht vor, die ihr räumliches Umfeld z.T. vorgibt und die mit kulturellen Bildern vom Leben der Reichen und Berühmten korrespondieren. Der private Raum ermöglicht die Performance als Probehandlung und repräsentiert dennoch auch die herrschenden Machtverhältnisse. Einige Bilder deuten eine kritische Haltung der jungen Frauen gegenüber der Adaption vorgezeichneter Rollen und die Integration in die bestehende Ordnung an. Rossell thematisiert in ihrer Serie gerade die Ambivalenz jugendlicher Selbstdarstellung und Identität zwischen Anpassung und Individuation, Ideal und Wirklichkeit, Kindheit und Erwachsenenwelt.

2.4

E MANZIPATION

VOM

E LTERNHAUS

Die zwiespältige Position Jugendlicher zwischen heimischer Geborgenheit und der Befreiung von Abhängigkeiten haben Teresa Hubbard und Alexander Birchler in einem Bild ihrer fünfteiligen Serie STRIPPING inszeniert. Zu sehen ist eine junge Frau, die beim Verlassen eines Zimmers durch ein Fenster auf der Schwelle innehält (vgl. Abb. 27). Ihr Oberkörper ist dem Betrachter zugewendet, wird aber halb von einem schwarzen Balken verdeckt, der den Querschnitt einer Wand markiert und den Bildraum in ein Innen und ein Außen teilt. Da ihr rechter Oberschenkel auf einer Höhe im Innenraum hängt, die ihn anatomisch vom Rest des im Außenraum tiefer aufsitzenden Körpers trennt, wird zudem eine zeitliche Abfolge zwischen diesen beiden Bildteilen suggeriert. 64 Gemäß abendländischer Leserichtung und traditioneller Erzählzeit zeigt die linke Innenaufnahme die Frau zu einem früheren Zeitpunkt als die rechte Außenaufnahme, in der sie ihren

63 Daniela Rossell im Gespräch mit Julia Chaplin: In: V Magazine 18/2002. Zitiert nach Gebbers, Anna-Catharina: „Daniela Rossell“. Online unter: http://www.produzentengalerie.com/site/no_flash/exhibitions/exhibition.ph p?id=51 (31.10.2008). 64 Vgl. auch Kap. 1.3.

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Körper noch eine Spur weiter aus dem Zimmer herausbewegt hat. Sie verlässt den Innenraum also, hat den dynamisch begonnen Vorgang aber unterbrochen und verharrt nun in aufrechter Position auf dem Fensterbrett mit einem geradeaus in unbestimmte Ferne gerichteten Blick. Im Innenraum ist nur der Lichtfleck zu sehen, den eine Art fahles Mondlicht in Form des Fensters an die Wand wirft. Über den Schatten, den der Lichtschein von der Figur ins Innere des Zimmers wirft, wird die Verbindung zwischen Figur und Raum ebenso betont, wie sie als flüchtige Erscheinung charakterisiert wird. Abbildung 27 (O.i.F.). Teresa Hubbard / Alexander Birchler: o.T. (aus der Serie STRIPPING (1998))

Der Außenraum wird geformt durch kahle Äste im Bildhintergrund, einen grün bewachsenen Boden im Vordergrund sowie die Außenwand einer Hütte mit Wellblechdach und Fenster im Mittelgrund. Die Hütte steht auf der horizontalen Achse, auf der sich die Frau aus dem Raum schält, und hat eine ähnlich warme Farbe wie ihre Oberbekleidung. Neben dieser farblichen Korrespondenz erscheint die Hütte auch über ihre zentrale Position im Bild als wichtiger Bezugspunkt. So könnte sie auf den (sozialen) Raum verweisen, dem die junge Frau entstammt und den sie im Begriff ist zu verlassen. Das Fenster in der Hütte mit den geschlossenen Vorhängen verdeutlicht aber auch die Heimlichkeit ihrer Aktion und die Option, doch noch beobachtet zu werden. Hält sie deswegen inne? Realisiert sie ihre unentrinnbare Zu-

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gehörigkeit zu diesem häuslichen Umfeld, scheut sie die Gefahr der Entdeckung und die damit verbundenen Sanktionen oder die Unwirtlichkeit der Außenwelt? Die eher häusliche Kleidung kann aber auch darauf hinweisen, dass sie nur die Option zum Ausstieg, zum ‚Auszug‘65 prüft und sich (noch) nicht weiter hinaus wagt. In diesem Sinne kann die Fotografie als Metapher für eine Emanzipation vom elterlichen Raum verstanden werden, die nie vollständig gelingen kann, da grundlegende Bindungen und Prägungen bestehen bleiben.

2.5

S OZIALISIERUNG IM P RIVATEN

Die hier exemplarisch analysierten Interieurs stehen für fotografische Raumbilder, die die Lösung Heranwachsender von den behüteten Räumen ihrer Kindheit thematisieren. Das Elternhaus erscheint in den Bildern als der Ort, der den Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen geschützte Erfahrungen mit der Außen- und der eigenen Innenwelt ermöglicht. Meist werden sie hier mit familiären und gesellschaftlichen Ordnungen konfrontiert, die den privaten Räumen eingeschrieben sind und die auf diese Weise deutlich markiert werden. Bei Gregory Crewdson kontrastiert die von Adoleszenten indizierte Welt des Magischen, Naturhaften und Sexuellen mit dem elterlichen Ideal eines rationalen, aseptischen und puritanischen Heims. In der Serie von Sarah Jones wird die nachfolgende Generation in einer ambivalenten Haltung zum traditions- und klassenbewussten Lebensstil ihrer Eltern gezeigt. Über die geradezu karikierende Darstellung junger mexikanischer Frauen, die lustvoll bis selbstironisch in den luxuriösen Anwesen ihrer Familien posieren, offenbart Daniela Rossell die materialistische und sexistische Ausrichtung einer gesellschaftlichen Elite sowie eines globalisierten Medienimages. Teresa Hubbard und Alexander Birchler verweisen auf die zwiespältige Lage des Subjekts, das sich vom Elternhaus emanzipieren, seine Herkunft aber nicht verleugnen kann. Jugend ist in diesen Bildern ebenso Indikator vorherrschender Wertvorstellungen wie Symbol für die Infragestellung bestehender Ordnungen. Diese Interieurs sind daher immer auch Metaphern für die

65 Wie bereits erläutert, steht der Titel der Serie STRIPPING nicht nur für das Ausziehen von Kleidung, sondern auch für das Ausziehen aus einem Raum (vgl. Kap. 1.3).

RÄUME DER K INDHEIT | 93

Suche des modernen Subjekts nach Orientierung in sozialen Räumen, deren etablierte Regeln zu Abgrenzung, Kritik und Widerstand herausfordern.

3

Familiäre Räume

Aufgrund der engen Bindung des privaten Wohnraums an die Institution Familie ist das Interieur prädestiniert für künstlerische Reflexionen familiärer Verhältnisse. Über die Jahrhunderte betrachtet spiegeln die Bilder dabei den Wandel, den die Idee des privaten Raums und der Familie in ihrer Abhängigkeit von zeitgeschichtlichen und soziokulturellen Bezugssystemen erfahren hat. Während das Private und Familiäre beim Adel öffentlichen Status besaß und in der arbeitenden Klasse meist durch Erwerbsarbeit fast aller Familienmitglieder strukturiert wurde, wird es in der bürgerlichen Kleinfamilie gerade in Abgrenzung zu den öffentlichen Funktionen von sozialer Repräsentation und gewerblicher Produktion definiert.1 Seit dem 18. Jahrhundert setzte sich das bürgerliche Modell der Familie mit der Lebens- und Wohngemeinschaft zwischen Eltern und ihren leiblichen Kindern als Lebensideal durch; aber erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde die moderne Kernfamilie, in der die Mitglieder aus individuellen Privatsphären heraus miteinander interagieren können, zur vorherrschenden Lebensform. Im Zuge der Individualisierung der Lebensgestaltung und der Pluralisierung der Lebensmodelle seit Mitte der 1960er Jahre etablierten sich zahlreiche weitere Familienformen. Wie die bürgerliche Variante sind diese alternativen

1

Vgl. Prost, Antoine: „Grenzen und Zonen des Privaten“. In: ders. / Ariès, Philippe / Duby, Georges (Hg.): Geschichte des privaten Lebens. Vom Ersten Weltkrieg zur Gegenwart. Bd. 5. Frankfurt a.M. / u.a.: S. Fischer 1993 (Originalausgabe Body-Gendrot, Sophie / Ariès, Philippe / Duby, Georges (Hg.): Histoire de la vie privée. De la Première Guerre mondiale à nos jours. Paris: Éd. du Seuil 1987), S. 15-151.

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familiären Gemeinschaften viel stärker durch den Glauben an „Liebe, Emotionalität und affektive Solidarität“2 als wesentlichem Merkmal familiärer Beziehungen geprägt als die vormodernen Modelle. Das familiäre Heim war und ist allerdings nie nur ein Ort, an dem sich das Individuum vor äußeren Konflikten geschützt in einer Gemeinschaft aus liebenden, solidarischen und fördernden Familienmitgliedern frei entfalten kann. Vielmehr war und ist die Familie immer auch durch Machtstrukturen geprägt, die zu Spannungen, Gewalt, Missbrauch oder Depressionen führen können.3 Gerade in der Bildenden Kunst, der Literatur, im Theater oder Film wird die moderne Familie im Spannungsfeld von Utopie, Konflikt und Verfall dargestellt.4 Zentrale Themen von Interieurs, die sich auf familiäre Räume beziehen, sind die Verfasstheit der Gemeinschaft, die Beziehungen zwischen den Mitgliedern und Generationen sowie die grundlegenden soziokulturellen Vorstellungen von Familie. Im Gegensatz zu Familienbildnissen werden die Fragen nach den familiären Verhältnissen und der Bedeutung von Familie im Interieur weniger über Gruppenkonstellationen als vielmehr über räumliche Dispositionen gestellt. Über die spezifische Anlage der (Bild-)Räume können mit der Sozialform Familie assoziierte Werte wie Zusammenhalt, Geborgenheit, Intimität, soziale, kulturelle und generative Orientierung ebenso konstituiert wie desavouiert werden. So wurde in Interieurs der Biedermeierzeit der Familienalltag im Sinne bürgerlicher Ordnung idealisiert, während Künstler im ausgehenden 19. Jahrhundert Spannungen, Konflikte und Krisen im (Bild-)Raum des Privaten betont haben. 5 In den vorangegangenen Analysen zur familiären Sozialisation von Jugendlichen im Raum wurde bereits herausgestellt, dass das soziale und mediale Konstrukt Familie ebenso im fotografischen Interieur der Gegenwartskunst kritisch reflektiert wird.6 Da es sich bei der Familie

2

Peuckert, Rüdiger: „Zur aktuellen Lage der Familie“. In: Ecarius, Jutta (Hg.): Handbuch Familie. Wiesbaden: Verl. für Sozialwiss 2007, S. 36-56: 36.

3

Vgl. z.B. Sibley, David: Geographies of Exclusion. Society and Difference

4

Vgl. z.B. Frölich, Margrit / Middel, Reinhard / Visarius, Karsten (Hg.):

5

Vgl. Gramaccini 1998, S. 104.

6

Vgl. Kap. 2.

in the West. London / u.a.: Routledge 1995. Family Affairs. Ansichten der Familie. Marburg: Schüren 2004.

F AMILIÄRE RÄUME | 97

um eines der zentralen Referenzsysteme des privaten Raums und des (fotografischen) Interieurs handelt, werden in den folgenden Kapiteln auch familiäre Traditionen der sozialen Repräsentation über Räume,7 geschlechtsspezifische Strukturierungen des familiären Heims, 8 alternative Familienleben 9 sowie Sehnsüchte und Krisen Einzelner im familiären Kontext 10 beleuchtet. Die Bedeutung des privaten Raums als Medium der Erinnerung gerade für die Vergegenwärtigung der Familiengeschichte ist zudem ein wesentlicher Aspekt der Untersuchung im letzten Kapitel.11 Diese Ausführungen ergänzend wird im vorliegenden Kapitel auf Interieurs fokussiert, bei denen familiäre Konstellationen im Privaten vorherrschendes Motiv und Thema sind. Dazu gehören zum einen Vorstellungen vom idyllischen Familienraum und Alltagsleben, die z.B. in den Inszenierungen von Gregory Crewdson (de-) konstruiert werden. Zum anderen haben zahlreiche Künstler insbesondere seit Ende der 1970er Jahre direkt in familiären Räumen fotografiert und geben in umfangreichen Serien mit verschiedenen inhaltlichen Schwerpunkten Einblicke in das Familienleben unterschiedlicher Milieus. 12 So hat Tina Barney über Jahre hinweg ihre Familie und darüber hinaus Verwandte und Freunde anfänglich in Live-Fotografien und später in (nach-)gestellten Alltagsszenen oder Porträtposen fi-

7

Vgl. Kap. 4.2.

8

Vgl. Kap. 5.2.

9

Vgl. Kap. 6.2.

10 Vgl. Kap. 7.1 und Kap. 7.3. 11 Vgl. Kap. 8.1. 12 Viele haben sich dabei nicht auf die Räume, sondern auf die Personen und deren Handlungen konzentriert, wie z.B. Annelies trba oder der englische Künstler Nick Waplington. trba stellt das unkonventionelle Leben ihrer eigenen Familie in einem alten Haus dar, das mit seinen gebrauchten Möbeln und der kargen Einrichtung in ihren schnappschussartigen Fotografien nicht ärmlich sondern anmutig, geheimnisvoll und atmosphärisch wirkt (vgl. Annelies trba 1997 und Kap. 2). Waplington fokussiert mit seinen Fotografien auf das turbulente Familienleben zweier englischer Arbeiterfamilien, die er über vier Jahre hinweg immer samstags aufgesucht hat. Da er den Familienmitgliedern mit der Kamera physisch sehr nahe gekommen ist, betonen seine Bilder deren Körperlichkeit, gerade auch in der alltäglichen Interaktion (vgl. Nick Waplington: Living Room. Frankfurt a.M.: Zweitausendeins 1991).

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xiert.13 Ihre hintergründig komponierten Bilder führen die wohlhabenden Familien in distinguiert eingerichteten Räumen zwischen selbstbewusster Pose und emotionaler Anspannung vor. Für Patrick Faigenbaum und Thomas Struth hingegen haben die von ihnen in Italien bzw. in Europa, Asien und Amerika aufgesuchten Familien ihren Alltag unterbrochen, um im eigenen Wohnraum für ein familiäres Gruppenbild zu posieren. Aufgrund des stark repräsentativen Charakters der Räume in den Fotografien von Barney und Faigenbaum werden deren Serien erst im anschließenden Kapitel 14 analysiert. Im Folgenden wird die bildnerische Reflexion der Beziehung zwischen Familie und privatem Raum im fotografischen Interieur anhand der Familienporträts Struths und der Wohnzimmerbilder Crewdsons exemplarisch erörtert.

3.1

F AMILIÄRE O RDNUNG IM (B ILD -)R AUM

Die meisten Familienporträts von Thomas Struth 15, die seit 1985 parallel zu anderen Motiven entstanden sind, wurden in privaten Räumen aufgenommen. In vielen Bildern der Serie werden Erscheinung und Wirkung der Fotografien maßgeblich von der Perspektivierung des Raums beeinflusst. Im Kontext dieser Untersuchung steht Struths Serie nicht nur für die Auseinandersetzung mit familiären Räumen, sondern auch für den fließenden Übergang zwischen den Gattungen Interieur und Porträt. Die Bilder, zu denen auch Einzel- und Paarporträts zählen, zeigen Personen aus verschiedenen Städten und Kontinenten, wie den Bildtiteln entnommen werden kann. Die Porträtierten sind Struth mehr oder weniger eng verbunden und haben die Fotografien im Dialog mit dem

13 Vgl. Tina Barney 1997. 14 Vgl. Kap. 4. 15 Thomas Struth wurde 1954 in Geldern geboren. Zwischen 1973 und 1980 hat er an der Kunstakademie Düsseldorf zunächst bei Gerhard Richter und dann vor allem bei Bernd Becher studiert. Er lebt und arbeitet in Düsseldorf (vgl. „Thomas Struth“. In: Der Kontrakt des Fotografen (anlässlich der gleichnamigen Ausstellung, Akademie der Künste, Berlin, 12.11.200607.01.2007 / u.a.). Nürnberg: Verl. für Moderne Kunst 2006, S. 188).

F AMILIÄRE RÄUME | 99

Künstler entwickelt. 16 So wurde beispielsweise der Aufnahmeraum gemeinsam ausgewählt. Dieser musste allerdings einige Bedingungen erfüllen: er sollte eine zentrale Bedeutung im Alltagsleben der Bewohner besitzen, der Gruppe genügend Platz bieten und die Szene mit Tageslicht erhellen können. Für die Gruppierung und die individuelle Haltung vor der Kamera waren die Porträtierten selbst verantwortlich. Welche Bilder vergrößert und veröffentlicht wurden, haben wiederum beide Seiten gemeinsam bestimmt. Die Fotografien sind daher weder von Struths Kommentar zu den Personen und ihren Verhältnissen dominiert, noch stehen sie für eine grundlegende Kritik am Wirklichkeitsversprechen der Fotografie. Vielmehr gründen die Bilder auf der Vorstellung, Fotografie könne wahrhaftige Aussagen über Individuen treffen und der einzelnen Person zu einer für den Moment gültigen Selbstdarstellung verhelfen. Dennoch verweisen die Fotografien immer auch auf die Bedingungen, Funktionsweisen und Grenzen des Mediums. Die komplexe Struktur von Struths Familienbildern ist das Resultat eines künstlerischen Ansatzes, den er in Hinblick auf seine Fotografie von Menschen folgendermaßen beschreibt: „In meinen Arbeiten geht es um verschiedene Situationen, in denen Menschen sich selbst finden. [...] Um Privatpersonen vor der Kamera und dem Fotografen: wie individuelle Charaktere sich selbst darstellen; was sich aus ihnen herleiten lässt. Um Familien und Paare: welches ihre Beziehungen sein könnten, ihre Rollen, ihre Geschichte; wie die Begegnungen zwischen dem Künstler und den Portraitierten an genau dem Tag war, als die Aufnahme gemacht wurde.“17

16 Vgl. Weski, Thomas: „Der Kontrakt des Fotografen“. In: Thomas Struth. Portraits (anlässlich der gleichnamigen Ausstellung, Sprengel-Museum Hannover, 14.12.1997-22.02.1998). München: Schirmer/Mosel 1997, S. 57: 6. 17 „Thomas Struth. Artist’s Statement“. In: Cooke, Lynne (Hg.): Carnegie International 1991 (anlässlich der gleichnamigen Ausstellung, The Carnegie Museum of Art, Pittsburgh, PA 19.10.1991-16.02.1992). New York: Rizzoli 1991, S. 126. Zitiert in: Goldstein, Ann: „Portraits der Selbstreflexion“. In: Thomas Struth 1977-2002 (anlässlich der gleichnamigen Ausstellung, Dallas Museum of Art, 12.05.-18.08.2002 / u.a.) München: Schirmer/Mosel 2002, S. 166-172: 168.

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Eine „romanhafte Lektüre“18 der Familienporträts, die „ohne Erklärungen jedem Betrachter zugänglich sind“19, wird durch die Klarheit der Komposition, den Detailreichtum der Großbildfotografien, die Fülle an bedeutungsstiftenden Zeichen und die vergleichende Betrachtung innerhalb der offenen Serie ermöglicht. Kleidung, Anordnung, Gestik und Mimik der Porträtierten sind ebenso deutlich zu erkennen wie die im Bild erfasste Einrichtung der Räume. Die Arbeiten verführen dazu, die Familienstruktur, die Persönlichkeit der einzelnen Mitglieder und ihre Beziehungen untereinander zu bestimmen; verlässlich davon berichten können sie nicht. Norman Bryson resümiert, dass die Vermutungen, die der Betrachter über die Identität der Bildgegenstände anstellen würde, letztlich nur Auskunft über ihn selbst gäben, da seine Schlussfolgerungen auf „rhetorischen Gemeinplätzen“20 beruhten. Würde der Rezipient ausschließlich kulturelle Stereotype bestätigt sehen, wie den von Bryson aufgerufenen „Eigensinn der Schotten“ oder die „formelle Harmonie der Japaner“21, ist der Einschätzung zuzustimmen. Bereits die Vielfalt an familiären Formationen im selben Kulturkreis verhindert allerdings eine derartig oberflächliche Sichtweise. Vielmehr laden die Bilder dazu ein, sowohl über die Komplexität familiärer Beziehungen, kulturelle Unterschiede und das Konstrukt Familie nachzudenken als auch über Konventionen und Bedeutungen von fotografischen Familienporträts. Dass die Räume für die Einschätzung der Familienmitglieder dabei eine zentrale Bedeutung besitzen, betont Julian Heynen, indem er sie als „Folien ihrer Beziehungen untereinander wie zum Leben überhaupt“22 bezeichnet. So lassen die Räume, in denen die Familien fotografiert wurden, zum einen auf den familiären Wohn- und Lebensstil schließen, ohne dass immer geklärt werden würde, wer von den Porträtierten den Raum überhaupt bewohnt. Zum anderen organisieren die Räume

18 Bryson, Norman: „Das Nicht-Wissen in der Portraitfotografie von Thomas Struth“. In: Thomas Struth 1997, S. 126-134: 129. 19 Weski 1997, S. 6. 20 Bryson 1997, S. 133. 21 Ebd. 22 Heynen, Julian: „Als ihre eigenen Schauspieler (Familienformeln – Lebensweisen)“. In: Thomas Struth. Portraits (anlässlich der gleichnamigen Ausstellung, Museum Haus Lange, Krefeld, 23.02.-26.04.1992). Krefeld: Krefelder Kunstmuseen 1992, S. 54-60: 57.

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die Anordnung der Gruppe und beeinflussen den Eindruck von den Hierarchien, Allianzen, Abgrenzungen und Konflikten innerhalb der Familie. Abbildung 28. Thomas Struth: Familie Hirose, Hiroshima, 1987

Die Überfüllung des kleinen Raums in Familie Hirose, Hiroshima, 1987 mit Büchervitrinen, Schreibtischen, Kunstwerken und gestapelten Schriftstücken lässt die neun Mitglieder der Familie, die im Bildzentrum um ein einzelnes Sofa gruppiert zu sehen sind, optisch noch enger zusammenrücken (vgl. Abb. 28). Dieser Raum zwingt der Gruppe die gewählte Formation physisch geradezu auf. Metaphorisch ausgelegt konstituiert der von Texten und Bildern bezeichnete kulturelle Raum die soziale Struktur der Familie. Diese Interpretation wird bestärkt durch die geschlechtsspezifische Gliederung der Gruppe, in der die weiblichen Mitglieder mit den Kindern auf der Sitzfläche des Sofas, die beiden männlichen Erwachsenen hingegen auf dessen Armlehnen Platz genommen haben. Die Differenzierung zwischen der herausragenden Stellung der Männer und der untergeordneten Position der Frauen reproduziert traditionelle Rollenmuster, bei der die Väter den Familien vorstehen und die Mütter die Versorgung der Kinder verantworten. Die Familie tritt in dieser Rangordnung nach Geschlecht und Alter geschlossen auf; zwischen den einzelnen Mitgliedern ist keine Spannung zu erkennen. Die vermeintliche Selbstverständlichkeit, mit der sich die Gruppe dieser Ordnung fügt und sich der körperlichen Nähe aussetzt, suggeriert einen großen

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familiären Zusammenhalt. Das fotografische Schwarzweiß unterstützt die Verschmelzung der individuellen Besonderheiten zu einem vielköpfigen Kollektivkörper. Bryson bezieht diese demonstrative Eintracht auf die Aussicht, fotografiert zu werden: „Fast entsteht der Eindruck, sie begrüßten die Kamera als willkommene Gelegenheit für die Familie, die Grundakkorde der eigenen Harmonie für sich selbst zu proben.“ 23 Damit bezieht er sich auf eine Funktion fotografischer Praxis, die Pierre Bourdieu Ende der 1960er Jahre als Ergebnis seiner empirischen Untersuchungen zur sozialen und kulturellen Gebrauchsweise der Fotografie herausgestellt hatte. Demnach würde die Familienfotografie dazu dienen, „die Integration der Familiengruppe zu verstärken, indem sie immer wieder das Gefühl neu bestätigt, das die Gruppe von sich und ihrer Einheit hat“24. In anderen Bildern Struths wird diese familiäre Einheit weniger ausgeprägt behauptet bzw. über die spezifische Bild- und Raumanlage gezielt hintertrieben. So wird in dem Bild Familie Ayvar, Lima, Peru, 2005 die Familie im Wesentlichen zwar auch als solidarischer und harmonischer Verbund vorgestellt, dennoch sind leichte Dissonanzen erkennbar (vgl. Abb. 29). Die spärliche Einrichtung des Wohnraums verweist zum einen auf die kulturellen und ökonomischen Bedingungen; zum anderen betont sie die klare Formation der Gruppe, die im geschlossenen Halbrund um einen Tisch herum versammelt ist. Da in der bezeichneten Raumecke kein weiterer Wandschmuck existiert, tritt das einzige an der Wand hängende Bild deutlich hervor. Ein Lichtreflex auf diesem Bild, das die heilige Familie zeigt, lenkt die Aufmerksamkeit nachdrücklich auf die Darstellung, die als Indiz für den religiösen und kulturellen Hintergrund der Familie gelten kann. Das derart exponierte Bild verleiht der realen Familie religiöse Legitimation und transzendentale Größe. Der gelbliche warme Ton der Wandfarbe dominiert Struths Fotografie und lässt eine freundliche Raumatmosphäre assoziieren; über die hellen, gedeckten Farben ihrer Kleidung fügen sich die Familienmitglieder stimmig in die Gruppe und ins Zimmer ein.

23 Bryson 1997, S. 129. 24 Bourdieu, Pierre: „Kult der Einheit und kultivierte Unterschiede“. In: ders. / u.a.: Eine illegitime Kunst. Die sozialen Gebrauchsweisen der Photographie. Hamburg: Europ. Verlagsanst 2006 (Originalausgabe Un art moyen. Essai sur les usages sociaux de la photographie. Paris: Ed. de Minuit 1965), S. 25-84: 31.

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Wie in der Familie Hirose herrscht offenbar auch in der Familie Ayvar eine geschlechtsspezifische Hierachie. Zwei Männer, die Vater und Sohn sein könnten, haben als einzige die Hände auf dem Tisch gefaltet und markieren mit dieser Geste eine Vormachtstellung in der Gemeinschaft und im Raum. Ihre Armhaltung spiegelt zudem das Halbrund der Familienaufstellung, so dass sie als die Personen erscheinen, die den Zusammenhalt der Familie beschwören. Die Imitation der Geste durch den vermeintlichen Sohn verweist schließlich auf die generative Weitergabe der Rolle des männlichen Familienoberhaupts. Abbildung 29 (O.i.F.). Thomas Struth: Familie Ayvar, Lima, Peru, 2005

Während die um sie herum sitzenden Personen keine Zeichen des Widerspruchs erkennen lassen, schert der Jugendliche am Rande der Gruppe aus der Gemeinschaft fast unmerklich aus. Als Einziger hat er die Arme vor der Brust verschränkt und signalisiert so leichtes Unbehagen. Nicht nur gestisch, sondern auch räumlich nimmt er eine Außenseiterposition im Gruppenkontext ein, denn im Gegensatz zu den anderen wird sein Körper nicht von Angehörigen oder Möbeln verdeckt. Indem Struth den Jungen zudem als Einzigen vor einer Wandfläche ohne ablenkende Details zeigt, hat er die skeptische Frage nach der Durchsetzung und dem Fortleben des familiären Selbstverständnisses motivisch wie inhaltlich ins Zentrum des Bildes gestellt. Über die spezifische Anordnung der Familienmitglieder und deren Position im Raum hat Struth in anderen Bildern noch deutlicher fami-

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liäre Strukturen und Spannungen suggeriert. In Familie Richter 1, Köln, 2002 teilt die Komposition die vierköpfige Familie in zwei Fraktionen, die auch durch die Verbindung mit konträren Attributen eher gegen- als nebeneinander gestellt werden (vgl. Abb. 30). Abbildung 30 (O.i.F.). Thomas Struth: Familie Richter 1, Köln, 2002

Im Unterschied zur frontalen Ausrichtung der bisher erwähnten Familien präsentieren sich die beiden erwachsenen Richters in Dreiviertelansichten; auf getrennten Möbeln sitzend blicken sie zwar in die Kamera, wenden sich aber körperlich jeweils dem anderen zu. Diese Haltung signalisiert zwar eine stärkere Wahrnehmung des Gegenübers und eine größere Bereitschaft zur Kommunikation als der ‚Schulterschluss‘ bei Familie Hirose und Familie Ayvar; augenfällig ist aber vor allem der beträchtliche Abstand zwischen beiden, der eher den Eindruck emotionaler Distanz vermittelt. Zudem füllen die Kinder diesen Raum teilweise aus und behindern so den Kontakt zwischen den Eltern. Die Beziehung der Eltern zu ihrem Sohn bzw. ihrer Tochter wird hingegen als engere Bindung vorgestellt. Durch ihre Platzierung auf den Sitzmöbeln direkt vor dem Elternteil des jeweils gleichen Geschlechts sind sie ihnen zum einen körperlich sehr nahe; zum anderen bestehen innerhalb der jeweiligen Paare große Ähnlichkeiten bei Kleidungsstil und -farbe. Die streng hierarchische Struktur der Familie offenbart sich schließlich insbesondere in der räumlichen Bildanlage; während die männlichen Familienmitglieder auf dem Sessel und vor zwei Kunstwerken zu sehen sind, sitzen die weiblichen Angehörigen auf dem Fußteil des Sessels vor einem Blumenstrauß und einem Baum. Ebenso

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wie die unterschiedliche Platzierung die ungleiche Wertigkeit männlicher und weiblicher Rollen im Privaten spiegelt, folgt auch die Zuordnung des Kulturellen zum Mann und des Naturhaften zur Frau traditionellen Geschlechterbildern. 25 Diese beiden geschlechtsspezifischen Sphären sind nicht nur durch den großen Abstand zwischen den Personen voneinander getrennt, sondern auch durch den Vorhang im Hintergrund, der die Fotografie in zwei fast ausgewogen komponierte Bildräume bzw. eigenständige Paarporträts teilt. Abbildung 31 (O.i.F.). Thomas Struth: Familie Schäfer, Meerbusch, 1990

In Familie Schäfer, Meerbusch, 1990 führt Struth schließlich die Zergliederung der Familie in ihre Grundeinheiten vor (vgl. Abb. 31). Die Fotografie zeigt vier Personen aus zwei Generationen, die nur über den Titel und gewisse physiognomische Ähnlichkeiten als Familie ausgewiesen werden, sich im Bild aber als eigenständige Persönlichkeiten ohne sichtbare Beziehung zueinander vorstellen. Weder Berührungen, gestische Zeichen oder eine übergeordnete Formation verbinden die vier miteinander; vielmehr stehen oder sitzen sie nebeneinander und

25 Vgl. Braun, Christiane von: „Gender, Geschlecht und Geschichte“. In: dies. / Stephan, Inge (Hg.): Gender Studien. Eine Einführung. Stuttgart: Metzler 2006 (2., aktualisierte Auflage; Originalausgabe 2000), S. 10-51: 14.

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halten Abstand zueinander. Ihre räumliche Position verstärkt den Eindruck der Vereinzelung, denn jedes Familienmitglied ist mit einem anderen Raumelement verbunden. Aufgrund der ähnlichen Farbigkeit verschmilzt das Jackett des Vaters mit dem Bild, vor dem er steht; dessen Außenkante, die sein Arm optisch verlängert, bildet die eine, die Außenlinie des stehenden Sohnes die andere Begrenzung einer weißen Wandfläche, die die Mutter einrahmt. Der Abstand zum jungen Mann neben ihr wird betont, da dieser sich nicht vor die Wand, sondern vor deren Anschnitt gestellt hat; von den anderen grenzt er sich auch durch das leuchtende Orange seines Pullovers ab. Am deutlichsten wird dem Jüngsten eine eigene Sphäre im Bildraum zugesprochen, indem ihn ein großer Sessel, in dem er sitzt, vom räumlichen Umfeld trennt. Die Beobachtung, die Bryson in Bezug auf Struths Fotografie der Familie Smith 26 notiert hat, trifft daher erst recht auf dieses Bild zu: „Jeder der Portraitierten scheint von einem unsichtbaren Kokon aus persönlichem Raum umgeben, der sich weit um den Körper erstreckt und in dem er oder sie eine relativ autonome und freistehende Persönlichkeit präsentiert.“ 27 Im Unterschied zur Fotografie der Familie Smith, in der Sessel und Bilder wenigstens noch formale Bezüge zwischen den Individuen herstellen und eine Raumecke die Familie einrahmt, unterstützt der offen, kühl und minimalistisch konzipierte Durchgangsraum im Bild von Familie Schäfer die Vereinzelung der Mitglieder. Ihre Körper sind vor allem deshalb so klar konturiert und von den anderen abgrenzbar, weil sie sich vom Weiß des Bodens, der Wände und der Sitzgruppe deutlich abheben. Kein Bild, Teppich oder Möbelstück verbindet sie miteinander oder strahlt häusliche Wärme und Geborgenheit aus. Da sie sich zudem vor einer räumlichen Passage aufgestellt haben, wirkt ihre Formation und damit auch die familiäre Bindung flüchtig und fragil. Die Familien in Struths Bildern oszillieren zwischen dem Verbindenden und dem Trennenden, dem Individuellen und dem Kollektiven, Emanzipation und Unterordnung. Der Großteil der Fotografien bezeichnet jeweils beide Pole und verweist damit auf spezifisch familiäre Verhältnisse und Dynamiken, denn die „Weitergabe von sozialem,

26 Vgl. Familie Smith, Fife 1989. In: Thomas Struth 1992, S. 31. 27 Bryson 1997, S. 129.

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kulturellem [...] Kapital an die nachfolgende Generation“28 als zentrale Aufgabe der Familie gelingt keinesfalls reibungslos. In diesem Sinne verweisen Struths Familienbilder vor allem auf die Existenz und die stete Wiederkehr von Freuden und Konflikten im Familienverbund, meint Eric Konigsberg, der selbst von Struth im Kreise seiner Familie fotografiert wurde: „Sie zeigen Familien an einem bestimmten Ruhepunkt zwischen dem, was die Einzelpersonen entzweit und wieder zusammengebracht haben mag, und dem, was zwangsläufig zukünftige Freuden und Probleme schaffen wird. ,Es sind Momentaufnahmen eines unsicheren Friedens‘, sagt [... Struth, LS].“ 29

In diesen Familienfotografien spiegelt sich die ambivalente Beziehung der Porträtierten zu ihren Familien vor allem in ihrem Verhältnis zum privaten Raum. Über die Kleidung, Haltung und körperliche Zurichtung verbinden sie sich mit dem Stil des Wohnraums und damit mit dem familiären Raum – oder eben nicht. Auch die Ordnung in der Gruppe und die Position der Bewohner im Raum stärken sowohl die Binde- als auch die Fliehkräfte in der familiären (Bild-)Gemeinschaft. Dem Betrachter vermitteln sich die Besonderheiten der Kompositionen und die Unterschiede in der Bildwirkung insbesondere im direkten Vergleich mit den anderen Fotografien der Serie. Dass der Rezipient die Familienporträts von Struth mit den eigenen Familienfotografien in Beziehung setzt, ist naheliegend und vom Künstler intendiert. 30 Ein derartiger Vergleich kann für (un-)beabsichtigte Zeichen sensibilisieren, die auch in Knipserbildern auf bestimmte familiäre Verhältnisse schließen lassen. Zuvorderst aber entlarven Struths spannungsreiche Bilder die konventionelle Familienfotografie in ihrer Funktion, familiäre Einheit zu behaupten und Familie zu ver-

28 Rendtorff, Renate: „Geschlechteraspekt im Kontext der Familie“. In: Ecarius 2007, S. 94-111: 95. 29 Konigsberg, Eric: „Die Familienportraits von Thomas Struth“. In: Thomas Struth. Familienleben (anlässlich der gleichnamigen Ausstellung, Die Photographische Sammlung / SK Stiftung Kultur, Köln, 10.01.- 20.04.2008). München: Schirmer/Mosel 2008, S. 71-75: 75. 30 Vgl. Thomas Struth im Gespräch mit Hans Rudolf Reust: „Gesichter, allover. Über die Aufnahme von Differenzen“. In: Kunstforum International, Bd. 144/1999, S. 246-257: 251.

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herrlichen.31 Ohne das Konstrukt Familie im Grundsatz infrage zu stellen, beteiligt sich Struth mit seinen Bildern an einer kritischen Reflexion familiärer Ordnung und Ideologie gerade zu jenem historischen Zeitpunkt am Ende des 20. Jahrhunderts, an dem die bürgerliche Kleinfamilie in ihre größte Krise geraten ist und im geknipsten Familienporträt womöglich eine letzte Zuflucht findet.

3.2

B EDROHUNG DES

FAMILIÄREN

R AUMS

Der private Raum in den Fotografien von Gregory Crewdson ist immer auch ein familiärer Raum, da sich fast alle seine Serien motivisch wie thematisch auf den US-amerikanischen Traum von ‚Suburbia‘ beziehen, in dessen Mittelpunkt die Familie steht. Das US-amerikanische Idealbild vom Leben im Vorort, das maßgeblich nach dem Zweiten Weltkrieg geprägt wurde und im Kern noch heute existiert, ist bestimmt von der Vorstellung, fernab von der Stadt optimale Wohn- und Lebensbedingungen für die Familie vorzufinden. Demzufolge würde das kulturell und sozial heterogene Umfeld der Metropolen, deren Kriminalität, Lärm und Enge gegen eine soziokulturell homogene Nachbarschaft, mehr Sicherheit, mehr Wohnraum und mehr politische Partizipation im Suburbanen eingetauscht werden.32 Der größere Einfluss auf die Ausbildung der Kinder, das breite Angebot an Gärten und Gleichaltrigen sowie die gesteigerte Aufmerksamkeit der Mutter als Hausfrau sollten vor allem dem Wohle der nachwachsenden Generation dienen. In der suburbanen Lebenswirklichkeit führte die Reaktivierung von Geschlechterrollen und von Konzepten der Häuslichkeit, die aus dem 19. Jahrhundert stammen, allerdings ebenso zu sozialen und familiären Problemen wie die Isolation der Familien und der forcierte Statusdruck. Die Auflösung von „normativen Vorstellungen von sozialem Zusammenhalt, Eltern-Kind-Be-

31 King, Barry: „Über die Arbeit des Erinnerns. Die Suche nach dem perfekten Moment“. In: Wolf, Herta (Hg.): Diskurse der Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters. Bd. II. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, S. 173-214: 177. 32 Vgl. Meyers, Debra: „Suburbanization“. In: Hawes, Joseph M. (Hg.): The Family in America. An Encyclopedia. Bd. 2. Santa Barbara (CA) / u.a.: ABC-CLIO 2001, S. 865-871.

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ziehung und Partnerschaft“33 wurde schließlich zu einem populären Thema in US-amerikanischen Filmen der 1980er und 1990er Jahre. Die Filme, die sich dabei auf suburbane Idyllen beziehen, nutzt Crewdson wiederum als Referenz für seine eigene bildnerische Arbeit. In den vorangegangenen und nachfolgenden Kapiteln werden Interieurs von Crewdson unter Aspekten untersucht, die eine Fokussierung auf einzelne Figuren im Familiengefüge, wie Kinder und Jugendliche 34 oder Mütter35 und Paare36, erfordert. Die Analyse in diesem Kapitel bezieht sich auf Motive, die die Familie als Gruppe bzw. in ihrem gemeinsamen Familienleben zeigen. Wie im Großteil seiner Interieurs wird auch hier die Vorstellung eines friedvollen suburbanen Heims über stereotyp eingerichtete Alltagsräume heraufbeschworen und zugleich über suggestive Stimmungen und Situationen destabilisiert. Bei den Räumen in diesen Bildern handelt es sich um Wohn- oder Esszimmer und damit um die Orte im Haus, die der Familie für Zusammenkünfte und gemeinsame Unternehmungen dienen. Sie unterscheiden sich von den Räumen im Bilderkosmos von Crewdson, die Privatsphären einzelner Familienmitglieder markieren und für ein eigenes, von familiären Interessen meist unabhängiges Leben stehen. In den dargestellten Gemeinschaftsräumen hingegen kommt die Familie aus Anlass einer Abendmahlzeit oder des kollektiven Fernsehens zusammen; die Situationen stehen eher für alltägliche Rituale als für außergewöhnliche Ereignisse. Analog dazu lässt auch die bürgerliche Einrichtung der Räume keine besonderen Merkmale wie z.B. ästhetische Wagnisse oder zeitgenössische Technik erkennen, sondern markiert eine Alltäglichkeit, die auf eine unbestimmte jüngere Vergangenheit verweist. Der Wohnstil ist getragen vom Bemühen um Einheitlichkeit und Bequemlichkeit; die historisierten Möbel behaupten den Sinn für Tradition. Trotz detailreicher Ausstattung wirken die Räume nicht so, als spiegelten sie reale Lebenskontexte; ihre unpersönliche Erscheinung erinnert eher an die simulierte und typologisierte Welt des Films. Diese Referenz wird auch über den suggestiven Einsatz des Lichts und über einzelne, aus Filmen vertraute Motive hergestellt. Im

33 Spielmann, Yvonne: „Split Family. Die Wirklichkeit der Familie in neueren Filmen“. In: Frölich / Middel / Visarius 2004, S. 23-36: 24. 34 Vgl. Kap. 2.1. 35 Vgl. Kap. 2.2. 36 Vgl. Kap. 7.3.

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Zusammenspiel von bildräumlicher Atmosphäre und angedeuteter Handlung hat Crewdson verschiedene Szenarien der Bedrohung familiärer Einheit entworfen, was in diesem Kapitel an Bildern aus drei Serien exemplarisch erörtert wird. Abbildung 32 (O.i.F.). Gregory Crewdson: o.T. (aus der Serie BENEATH THE R OSES (2003-2005))

Ein Bild aus der Serie BENEATH THE ROSES (2003-2005) zeigt eine Frau mittleren Alters und einen Jungen, der ihr Sohn sein könnte, an einem Esstisch, der für vier Personen und eine warme Mahlzeit eingedeckt wurde (vgl. Abb. 32). Die beiden sitzen vor gefüllten Schüsseln, aber unbenutzten Tellern und scheinen jeweils eigenen Gedanken nachzuhängen. Die melancholische Grundstimmung des Bildes gründet vor allem auf ihrer Mimik, ist aber auch von den Spuren der Abwesenheit zweier Personen und vom Stillstand in einer potenziell lebendigen Konstellation geprägt.37 Die Gesichtsfelder der zwei sind zu einem großen Stück Fleisch ausgerichtet, das auf einem Teller serviert wurde; dieser Teller ist allerdings zu klein und zu hoch, um den Braten problemlos zerlegen zu können. Das Fleisch wirkt mit dem dunkelroten Anschnitt zu roh, um essbar zu sein; der unfertige Zustand des Bratens wird noch durch die blutige Schliere am äußeren Rand des Tellers und im Kontrast zum sauberen und akkuraten Umfeld betont. Auf diese Weise führt das Bild ein Scheitern in zweifacher Hinsicht vor, denn zum einen gelingt es der Familie nicht, sich zur gemeinsamen Mahl-

37 Vgl. auch Kap. 1.2.

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zeit zu versammeln. Zum anderen ist die zentrale Komponente der Mahlzeit kaum zum Verzehr geeignet; die Zubereitung des Fleisches ist misslungen oder noch nicht erfolgt und die Verpflegung der Familie damit zum Zeitpunkt der Aufnahme nicht gewährleistet. Über einen möglichen Zusammenhang zwischen dem unfertigen Braten und der Abwesenheit zweier Familienmitglieder oder über die Verantwortung für das doppelte Scheitern kann nur spekuliert werden. Offensichtlich hingegen ist, dass das Bild Zeichen familiärer Dysfunktionalität einschließt, deren Bedeutungsspektren über die Staffelung des Bildraums in der Tiefe noch erweitert werden. So ermöglicht die gleichmäßig helle Beleuchtung der Küche Arbeiten, deren Verrichtung der Mutter zugesprochen wird, denn sie ist es, die im Bildzentrum von den Grün- und Gelbtönen der Küche (und der Tischdecke) eingerahmt wird. Ohne die giftigen Farben im Hintergrund könnte das gedämpfte Licht im Esszimmer eine behagliche Atmosphäre schaffen; in der dargestellten Perspektive mahnt die Küche im mittleren Raum allerdings Aktivität an und lässt die Schatten hier noch dunkler und bedrohlicher erscheinen. Das angedeutete Zimmer im Bildvordergrund schließlich weist in seiner Rahmung der Szene nicht nur das Esszimmer als Bild und als Bühne aus, sondern suggeriert zugleich den Auf- bzw. Abtritt von Personen. Abbildung 33 (O.i.F.). Gregory Crewdson: o.T. (aus der Serie TWILIGHT (1998-2002))

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In einem ähnlich angelegten Bild aus der Serie T WILIGHT (1998-2002) wird der Zerfall familiärer Ordnung weniger über das Motiv der Abwesenheit, sondern über das deviante Verhalten eines einzelnen Mitglieds vorgeführt. Wieder sitzen Familienmitglieder, diesmal ein Mann mit zwei Jugendlichen, die seine Kinder sein könnten, an einem gedeckten Tisch beieinander, während ein Platz unbesetzt ist (vgl. Abb. 33). Ohne weitere Rahmung öffnet sich der Bildraum dem Betrachter und lenkt seine Aufmerksamkeit über die leicht diagonale Position des Esstischs im Bildzentrum zu einer nackten Frau, die im Rücken des Mannes an der geöffneten Haustür steht. Die Haare kleben ihr am Kopf, die Füße sind schmutzig, in den Händen hält sie etwas Organisches, direkt um sie herum liegen Erde und Reste von Blumen auf dem Boden, ihren entrückten Blick hat sie gesenkt. Der Junge ist ihr als Einziger zugewandt und schaut sie ungläubig und geschockt an. Der vermeintliche Vater, der ihm gegenüber sitzt, reagiert irritiert auf den Ausdruck seines ‚Sohnes‘; die Haltung der ,Tochter‘ wirkt, als würde sie sich fremdschämen. Wie in dem Bild mit einer pflanzenden Frau38 überzeichnet Crewdson auch hier das Versprechen ‚Suburbias‘ nach Naturnähe, allerdings nicht über die Anlage einer Blumenwiese im Hausinneren, sondern durch das unverhüllte Auftreten und den körperlichen Kontakt mit organischem Material. Insbesondere die Nacktheit der vermeintlichen Mutter, in der sie ihrer Familie begegnet und in der sie sich vermutlich auch im öffentlichen Raum bewegt hat, markiert einen Bruch mit bürgerlichen Konventionen einer sittsamen Verhüllung des eigenen Körpers. Ihre Erscheinung, ihre Haltung und ihr Verhalten entfernen sie sowohl vom familiären Ritual des gemeinsamen Speisens als auch von der emotionalen Beziehung zu ihrer Familie. Zwar bricht sie nicht mit dem traditionellen Geschlechterbild, nach dem das Weibliche mit dem Naturhaften und Körperlichen verbunden ist, 39 sie enttäuscht aber das Rollenbild der Mutter als altruistisch sorgendem Familienmenschen und der Partnerin als einer attraktiven Frau; denn weder scheint sie in die Zubereitung der Mahlzeit involviert gewesen zu sein, noch entfaltet sie in gebeugter Haltung und in einem von vergangenen Jahrzehnten gezeichneten Körper eine der pflanzenden Frau vergleichbare erotische Verführungskraft. Vielmehr weckt sie Assoziationen an hexen-

38 Vgl. Kap. 7.4 und Abb. 89. 39 Vgl. von Braun 2006 (2000), S. 14.

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hafte Frauenfiguren, die ohne Rücksicht auf gesellschaftliche Normen in obsessiver Manier und mystischer Verbindung zur Natur magische Dinge vollbringen. In einer Fotografie aus der Serie DREAMHOUSE (2002) begegnet die Familie dem Mysteriösen in Gestalt eines Lichtstrahls, der durch eine kleine Öffnung in der Decke ins Esszimmer eindringt und scheinbar unheilvolle Wirkung in der zum Essen versammelten familiären Gemeinschaft entfaltet (vgl. Abb. 34). Am Tisch fehlt offensichtlich niemand, denn sowohl den zwei Erwachsenen als auch den beiden Kindern ist ein Gedeck zugeordnet. Der Braten ist gar und bereits angeschnitten, die Gläser und Teller sind gefüllt, und die stehende Frau mit der Hand an der Schüssel mit dem Gemüse suggeriert, dass ihr als Mutter die Ernährung der Familie obliegt und gelingt. Offenbar wurde sie aber in ihrer ursprünglichen Aktivität abgelenkt, denn einzelne Erbsen und Möhren sind auf die Tischdecke gepurzelt; ihr Blick fixiert stattdessen die ominöse Deckenöffnung, aus der am anderen Ende des Tisches Licht in das wenig beleuchtet Zimmer fällt. Abbildung 34 (O.i.F.). Gregory Crewdson: o.T. (aus der Serie D REAMHOUSE (2002))

Fast direkt unter diesem ‚Lichtschacht‘ sitzt der mutmaßliche Familienvater und schaut sie herausfordernd an. Seine angespannte Haltung wirkt bedrohlich, denn unter dem Tisch hält er eine Gabel fest umklammert, vor ihm steckt ein Messer griffbereit im Geflügel und sein Stuhl ist vom Tisch weggedreht, so als wolle er im nächsten Moment aufspringen. Ihn scheint das Licht nicht zu irritieren, vielmehr lässt die

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Konstellation Szenen aus phantastischen Horror- oder Science-FictionFilmen assoziieren, in denen metaphysische oder extraterristrische Energien durch Licht markiert werden und durch den Kontakt mit Menschen deren Denken und Handeln unheilvoll beeinflussen. 40 Die beiden Kinder, die eng am Tisch und sich gegenüber sitzen, sind untätig; ihre Köpfe haben sie zu ihren Tellern gesenkt, der Ausdruck des Mädchens verrät Langeweile. Kompositorisch betrachtet bilden sie eine Achse, die den Bildraum in der Tiefe in zwei Hälften teilt; so grenzen sie den Raum der Mutter mit der Türöffnung zu einem anderen Zimmer und dem Tischchen mit Bildern und Blumengestecken vom Raum des Vaters ab, zu dem das große Fenster in seinem Rücken zählt. Während die Mutter also mit der familiären Versorgung und dem Haus verbunden wird, ist die Bildexistenz des Vaters an das fremde und rätselhafte Lichtphänomen und den vermeintlich gefahrvollen Außenraum gekoppelt. Wieder unterstützt das künstliche Dämmerlicht die suggestive Spannung des Bildes, indem es eine beklemmende Atmosphäre schafft, die den Raum banaler Alltäglichkeit für die Welt des Unerklärlichen, des Verdrängten, der Träume und Ängste öffnet. Die Bedrohung der Familie kommt in diesen Bildern, die sich auf familiäre Konstellationen beziehen, weniger von außen, sondern geht vielmehr von einzelnen Mitgliedern aus. Die unerwartete Abwesenheit, der Bruch mit Rollen oder das abweichende bis latent aggressive Verhalten gegenüber den nahen Verwandten gefährden die familiäre Ordnung. Unheil wird vor allem durch beängstigende Raumatmosphären und rätselhafte (Licht-)Phänomene heraufbeschworen, die auf die dunkle Seite der menschlichen Psyche sowie Motive aus einschlägigen Filmen rekurrieren. Die Vorstellung von der bürgerlichen Kleinfamilie im suburbanen Milieu, die ihren Mitgliedern Schutz, Solidarität und Orientierung bietet, wird auf diese Weise grundlegend infrage gestellt. Edgar Schmitz hat die Bedrohungslage folgendermaßen beschrieben: „Immer wieder mutiert bei Crewdson gerade das, was eigentlich als Schutzwall und Abwehrsicherung gedacht war: [...] die Kernfamilie als Garant bürgerlicher (Sexual- und Körper-)Moral, die Kinder und Beziehungen gleichermaßen schützend einzufangen bestimmt ist.“41

40 Vgl. z.B. Poltergeist (vgl. Kap. 2.1, Fußnote 14). 41 Schmitz 2002, S. 432.

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Die familiären Räume erscheinen in den Fotografien von Crewdson nicht als (vermeintlich) produktives, schützendes, sondern als instabiles, autoaggressives System. Insbesondere bei diesem Sujet wird der Betrachter stimuliert, die Leerstellen des Bildes zu füllen, d.h. Handlungsansätze weiterzudenken und Bedeutung zu stiften, denn über Lichtstimmungen, Gesten und Figurenkonstellationen werden neben eigenen Erfahrungen mit familiären Situationen unweigerlich Erinnerungen an die zahllosen filmischen oder literarischen Familiendramen im ‚kollektiven Gedächtnis‘ aufgerufen. Und indem Crewdson den theatralen und konstruierten Charakter seiner Bildwelten ausstellt, rücken diese kulturellen Entwürfe und Dekonstruktionen familiärer Räume selbst ins Zentrum seiner bildnerischen Reflexionen.

3.3

H AUSGEMEINSCHAFT ( ER -) LEBEN

Familiäre Räume zählen zu den zentralen Themen und Motiven des fotografischen Interieurs. Diesen privilegierten Status verdankt das Sujet dem Umstand, dass die Familie mit dem privaten Raum so eng verbunden ist wie mit keinem anderen. So tritt die moderne Familie fast ausschließlich über das gemeinsame Wohnen in Erscheinung, während sie außerhalb des Heims in Individuen zerfällt, die sich in getrennten Räumen und Sozialverbünden bewegen. Wie das Konzept Familie entspringt auch der familiäre Raum der Wechselbeziehung zwischen sozialen Praktiken und kulturellen Vorstellungen. Es wundert daher nicht, dass fotografische Interieurs in der Gegenwartskunst nicht nur konkrete Wohnzimmer, sondern auch einschlägige Bildwelten als maßgebliche Faktoren für die Konstituierung und Strukturierung familiärer Räume thematisieren. Über filmische Referenzen verschaltet beispielsweise Gregory Crewdson die von ihm inszenierten Auflösungsprozesse in familiären Gruppen mit einer kritischen Reflexion der Mythologisierung von Familie und Heim. Die Vorstellung von der bürgerlichen Kleinfamilie im suburbanen Milieu, die ihren Mitgliedern Schutz, Solidarität, Orientierung bietet, wird hier grundlegend infrage gestellt. Thomas Struth thematisiert in seinen Interieurs das Bildprogramm des Familiengruppenbildes in seiner Funktion als Stifter familiärer Einheit. Zudem nutzt er reale Räume und authentische Formationen, um unterschiedliche Vorstellungen und Konstellationen von Familie in

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verschiedenen Kulturen und Milieus zu reflektieren. Entscheidenden Einfluss auf den Ausdruck der Bilder hat die spezifische Anlage der Räume im Bild; über sie können Wohnideale, Lebenslagen und Wohnstile angezeigt, Affinitäten oder Animositäten zwischen Familienmitgliedern suggeriert oder Bildfiguren mit symbolträchtigen Dingen der Einrichtung verbunden werden. Die hier angeführten Interieurs entwerfen den familiären Raum als ambivalenten Ort, der ebenso von Gemeinsinn, Zusammenhalt und individueller Entfaltung wie von (struktureller) Gewalt, Vereinzelung und Entfremdung geprägt ist. Sie betonen die Bedeutung fotografischer Praktiken und filmischer Erzählungen für die Ausbildung und (kritische) Reflexion kultureller wie individueller Vorstellungen von Familie und Heim.

4

Räume der Repräsentation

Das Interieur etablierte sich als populäres Sujet und als eigenständige Bildgattung in einer Zeit, in der wohlhabende Bürger sich selbst und ihren sozialen Status vermehrt über den privaten Raum und dessen Darstellung demonstrieren wollten. 1 Es sind insbesondere die Porträts, Interieurs und Zimmerbilder des Biedermeier, die sich auf die Vorstellung der „verräumlichte[n] Biographie“2 beziehen und dem häuslichen Umfeld größte Aufmerksamkeit schenken. Bilder, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts über Wohnräume mit oder ohne Bewohner „the values of [...] bourgeois way of life, the status and characters of the sitters, and the pleasure of living in this manner“3 behaupten, subsumiert Frances Borzello unter dem Sammelbegriff „Portrait Interior“. Dass diese Interieurs damit sowohl im sozialen wie im semiotischen Sinne des Wortes als repräsentativ angesehen wurden, hat Rainer Schoch am Beispiel des biedermeierlichen Zimmerbildes ausgeführt.4 Demzufolge verweisen detailgenaue Darstellungen der Paraderäume und Salons gut situierter Bürger sowohl auf deren (außerbildliche) Existenz und Individualität als auch auf ihre gesellschaftliche Position bzw. ihr Bemühen um Partizipation an einem spezifischen Wohn- und Lebensstil. 5

1

Vgl. z.B. Gramaccini 1998, S. 90-109.

2

Schulze 1998, S. 11.

3

Borzello, Frances: At Home. The Domestic Interior in Art. London: Thames & Hudson 2006, S. 81.

4

Vgl. Schoch 1995, S. 11-16 und Kap. 8.

5

Über den zeitgemäßen Wohnstil haben bereits zu dieser Zeit zahlreiche Magazine für Inneneinrichtung informiert (vgl. Schoch 1995, S. 12).

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Diese doppelte Aussagekraft, die im populären Diskurs auch heute noch privaten Räumen und deren Beschreibung (im Bild) unterstellt wird und nicht zuletzt die Attraktivität von ‚Homestories‘ über das Wohnumfeld von Reichen und Berühmten in Boulevardmedien erklärt,6 haben viele Gegenwartskünstler zum Anlass fotografischer Reflexion genommen. Einige beziehen sich dabei auf vormoderne Bildmuster repräsentativer Interieurs, um die damit verbundenen und zum Teil nach wie vor wirksamen Zuschreibungen auszustellen. Indem ihre Interieurs thematisieren, wie Bewohner über repräsentative Räume Identität und Status behaupten, spiegeln sie sowohl traditionelle und alltagskulturelle Auffassungen vom privaten (Bild-)Raum als auch ein historisches Subjekt- und Raumverständnis, das sich seit Ende des 19. Jahrhunderts radikal gewandelt hat. 7 Letztlich gründen die Bilder auf modernen Vorstellungen von Räumen und Identitäten als sozial und kulturell konstituierte und veränderliche Konstrukte. Am Ende des 20. Jahrhunderts thematisieren Künstler nicht (mehr) die vorgeblich authentischen Subjekte, die sich aus Wohnräumen oder Porträts vermeintlich destillieren lassen, sondern vor allem die Strukturen, Funktionen und Gebrauchsweisen von Repräsentationen, über die sich das (Wohn-)Subjekt modellhaft entwirft und die sein Denken und Handeln beeinflussen. In diesem Sinne fragen Daniela Rossell und Sarah Jones mit ihren Interieurs, inwiefern der private Raum Ausdruck einer soziokulturellen Ordnung ist und inwiefern er Heranwachsende in ihrer Sozialisation prägt.8 Andere Künstler fokussieren auf die Ambivalenz der Dinge im Wohnumfeld, die nicht nur persönliche Biografien, Vorlieben und Sehnsüchte markieren, sondern immer auch Zeichen zeitge-

6

In ihrer Suggestion von Nähe und Distanz entsprechen ‚Homestories‘ der Struktur kommerziell erfolgreicher Berichte über das (Medien-)Leben von Reichen und Berühmten. Zum einen behaupten die in Kollaboration mit den Stars entstandenen Interieurserien über das Wohnumfeld eine Nähe zur porträtierten Person, da Rezipient, Medien und Porträtierte dem privaten Raum zusprechen, Aussagen über die Person treffen zu können (und die Stars als Wohnende menschlicher erscheinen als auf dem roten Teppich). Zum anderen betont das luxuriöse Umfeld die Distanz zur Erfahrungswelt des Publikums und erweitert die Projektionsfläche der Medienfigur für eigene Sehnsüchte.

7

Vgl. z.B. Straub 1998 und Schroer 2005.

8

Vgl. Kap. 2.3.

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nössischer Kultur und kollektiver Identität sind.9 Ferner reflektieren viele Interieurs (verlassene) Wohnräume in ihrer Bedeutung als Medien der individuellen und kollektiven Erinnerung an verstorbene Bewohner oder vergangenes Leben.10 Im Zentrum dieses Kapitels stehen Interieurs, die primär die Selbstdarstellung von Eliten in und mit ihren privaten Räumen kritisch perspektivieren. Die Wohnräume dienen den Wohlhabenden zur Demonstration eines distinguierten und exklusiven Wohnstils, der sich deutlich von Wohnkulturen ‚unterer‘ Schichten und deren Ausrichtung an Konventionen, am Notwendigen oder am Mangel abheben soll.11 Dass elitäre Räume nicht zwangsläufig für gesellschaftliche Progression stehen, hat Jacqueline Hassink in ihrer Serie FEMALE POWER STATIONS: QUEEN BEES in Hinblick auf die geschlechtsspezifische Strukturierung der privaten Esszimmer weiblicher Führungskräfte gezeigt. 12 Ergänzend zu diesen Ausführungen werden im Folgenden Interieurs von Tina Barney und Patrick Faigenbaum erörtert, die in repräsentativen Räumen und Posen elitärer Familien nicht nur die selbstbe-

9

Vgl. Kap. 7.1 und Kap. 8.1.

10 Vgl. Kap. 8. Ein Großteil der Zimmerbilder der Biedermeierzeit diente der Erinnerung an Freunde oder Verwandte, deren Wesen man eher im alltäglich genutzten Wohn- als im halböffentlichen Repräsentationsraum gespiegelt sah (vgl. Lukatis, Christiane: „Zimmerbilder. Entwicklung und Charakter des Genres“. In: Mein blauer Salon 1995, S. 17-26). 11 Vgl. Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1987 (Originalausgabe La distinction. Critique sociale du jugement. Paris: Les Éditions de Minuit, Paris 1979), S. 60ff. In dieser empirischen Untersuchung hat Bourdieu aufgezeigt, wie kulturelle Praktiken und Vorlieben, d.h. ‚Habitus‘ und ‚Geschmack‘ sozialer Gruppen, Klassen- und Herrschaftsstrukturen stabilisieren. Bourdieu bezieht sich hier zwar auf die französische Gesellschaft der 1960er und 1970er Jahre, beschreibt aber gesellschaftliche Funktionsmechanismen, die sich „durch neuere Entwicklungen des Erwerbssystems, der Soziallagen, des Warenkonsums und der Alltagskultur nicht aufgelöst haben“ (Bremer, Helmut / Lange-Vester, Andrea / Vester, Michael: „Die feinen Unterschiede“. In: Fröhlich, Gerhard / Rehbein, Boike (Hg.): Bourdieu Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart: Metzler 2009, S. 289312: 311). 12 Vgl. Kap. 5.2.

120 | B ILDER DES P RIVATEN

wusste Behauptung eines gesellschaftlichen Status gesehen haben, sondern auch Spannungen, Dissonanzen und Brüche.

4.1

K RITIK

REPRÄSENTATIVER

(B ILD -)R ÄUME

Tina Barney 13 hat Anfang der 1970er Jahre begonnen, ihre Familie und die von Freunden in ihrem häuslichen Umfeld zu fotografieren; seit 1983 werden ihre Bilder öffentlich gezeigt. Anlass für ihre bildnerische Praxis sei der Wegzug von der Ostküste ins weit entfernte Idaho und die damit verbundene Erfahrung soziokultureller Andersartigkeit gewesen.14 Über viele Jahre kehrte sie jeweils im Sommer nach New England zurück und fotografierte dort Freunde und Verwandte im Rahmen von Familientreffen, Familienfesten oder allein in ihren Häusern, um das Bedürfnis zu befriedigen, vertraute und in der Fremde vermisste Personen, Orte, Dinge, Sitten und Umgangsformen im Bild festzuhalten. Über Selbstporträts will sie zeigen, „dass diese Bilder und diese Leute Teil meines Lebens sind“15. Zwar werden die Fotografien von der persönlichen Motivation der Künstlerin getragen, über die großen Formate und die wenig narrative Zusammenstellung betont Barney allerdings die überindividuelle Geltung der Bilder. So thematisieren die Fotografien sowohl soziale und kulturelle Besonderheiten als auch die Verfasstheit personaler und räumlicher Repräsentationen, über die Identität und Individualität behauptet wird. In dem nachfolgenden Projekt THE EUROPEANS hat Barney ihre Untersuchung der Verhältnisse zwischen Menschen und ihren privaten Räumen auf europäische Eliten ausgedehnt. 16

13 Tina Barney wurde 1945 in New York City geboren. Sie belegte zwischen 1974 und 1983 Kurse am Sun Valley Center for the Arts and Humanities in Idaho (vgl. Barney, Tina (1997a): „Dank“. In: Tina Barney 1997, S. 255). Sie lebt und arbeitet in Watch Hill, Rhode Island (vgl. „Tina Barney“. In: Der Kontrakt des Fotografen 2006, S. 175). 14 Vgl. Barney, Tina (1997b): „Von Familie, Sitte und Form“. In: Tina Barney 1997, S. 8-11: 8f. 15 Barney 1997b, S. 10. 16 Vgl. Tina Barney. The Europeans (anlässlich der Ausstellung „The Europeans. Photographs by Tina Barney“, Barbican Art Gallery, London, 17.02.-02.05.2005). Göttingen: Steidl 2005.

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Während Barney anfangs noch mit Kleinbildkameras gearbeitet hat, markierten der Wechsel zum Großformat 1981 und die Beteiligung eines Assistenten bei der Aufnahme zwei Jahre später die Aufgabe einer spontanen Live-Fotografie. Seitdem führt sie Menschen gezielt vor der Kamera zusammen, lässt beobachtete Alltagsszenen wiederholen und bittet dafür einzelne Personen stillzuhalten, derweil andere sich unkontrolliert bewegen. Daher wirken viele der Großbildaufnahmen wie Schnappschüsse, die Personen verstellt oder im Anschnitt zeigen sowie schiefe Horizontlinien und Fokussierunschärfen aufweisen. Selbst einige der Fotografien von menschenleeren Räumen besitzen diesen Charakter. Während die schnappschussartige Bildanlage eine direkte Reaktion auf gelebtes Leben und eine unmittelbare Nähe zum Geschehen suggeriert, ermöglicht das Großformat die präzise Darstellung von Farbnuancen und Details der Einrichtung bzw. der äußeren Erscheinung der Personen. Außer über die Fülle an Bildinformationen werden die Räume vor allem über die weiten Bildwinkel und die relativ großen Abstände zwischen der Fotografin und den von ihr Porträtierten betont. Nichtsdestotrotz behaupten Korrespondenzen zwischen Farben und Mustern der Innenarchitektur zu denen der Kleidung der Bildfiguren eine enge Beziehung zwischen den Räumen und den in ihnen dargestellten Personen. Motivischer Schwerpunkt der Bilder, die Barney in dem umfangreichen Fotobuch Theater of Manners17 1997 zusammengefasst hat, sind schließlich Personengruppen im privaten Ambiente von Gärten, Veranden und Wohnräumen. Nur wenige Bilder zeigen Räume, Terrassen oder Außenansichten von Häusern ohne Figuren; lediglich vereinzelt finden sich hier Aufnahmen von (halb-)öffentlichen Räumen in der Stadt, im Büro oder im Museum. Die große Aufmerksamkeit, die der private Raum in ihrem Werk erfährt, erklärt sich aus der existenziellen Bedeutung, die die Künstlerin diesem beimisst und die sie im einleitenden Text des Fotobuchs wie folgt erläutert: „Das Haus ist das Herz, das Zentrum unserer selbst, das Nest, der Kern der Familie, die Hoffnung, die Fortsetzung, das Band der Familie und ihrer Mitglieder. Die Räume verbinden sie wie Adern.“18 An diesem zentralen Ort der Subjektwerdung, der familiären Gemeinschaft und Tradition reflektiert Barney ihre Beziehung zu Freunden und Verwandten, das soziale Ver-

17 Tina Barney 1997. 18 Barney 1997b, S. 10.

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halten von Familienmitgliedern, das repräsentative Verhältnis zwischen Bewohnern und Räumen sowie Veränderungen der Menschen und ihrer Beziehungen zueinander, zur Kamera und zum Raum über die Jahre hinweg. Hierfür konzentriert sie sich auf Posen der Porträtierten, das Verhältnis ihrer Kleidung zum Umfeld sowie ihre Position im Raum und zur Kamera. Sie folgt damit einer von ihr wie folgt formulierten Fragestellung: „Ob die Größe, die Verhältnisse und die Farbe eines Raumes, in dem eine Familie sich trifft, die Art und Weise festlegt, beschreibt und erklärt, in der wir uns emotional und sozial ausdrücken?“19 Nur oberflächlich betrachtet bringt ihre Fotografie elitärer Räume dabei ein „Paradies aus Privilegien“20 zur Ansicht. Vorgeführt werden zwar ausgedehnte Anwesen und Wohnräume mit distinguierter Inneneinrichtung, in denen sich gut gekleidete und offensichtlich gesunde Menschen dem Müßiggang hingeben. In polemischer Zuspitzung sieht Ulf Erdmann Ziegler darin „pompöse Ausformungen eines weißen, selbstgerechten Amerikas“21. Allerdings vermitteln die Bilder auch ein „Unbehagen“22, das sich zum einen in Selbstporträts zeigt, in denen Barney beklommen posiert, und zum anderen in Mimiken und Kompositionen äußert, die auf emotionale Spannungen zwischen Porträtierten und Fotografin, zwischen Eltern und ihren Kindern, in Paarbeziehungen sowie auf Anspannungen Einzelner verweisen. Angedeutet werden soziale Beziehungen und psychische Verfassungen, die den repräsentativen Posen und Räume widersprechen und diese als bemühte Fiktionen von Sorg- und Makellosigkeit entlarven. Dass Barney diese Widersprüche in ihrer Fotografie bewusst sucht und nicht nur zufällig und unbeabsichtigt darstellt, wie Grundberg in seinem aus rezeptionsästhetischer Perspektive verfassten Essay vermutet,23 belegen Aufnahmen, in denen die repräsentative Ausrichtung von Räumen und Po-

19 A.a.O., S. 12. 20 Grundberg, Andy: „Tina Barney. Ein Nachwort“. In: Tina Barney 1997, S. 250-254: 254. 21 Ziegler, Ulf Erdmann: Fotografische Werke. Köln: DuMont 1999, S. 107. 22 Grundberg 1997, S. 254. 23 „Möglicherweise weiß Barney selbst nicht genau, wie radikal ihre Bilder sind und wie sehr sie sich eine postmoderne Vorstellungsweise zu eigen machen, demzufolge Wahrheit und Realität etwas Provisorisches und Zufälliges sind.“ (Grundberg 1997, S. 254).

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sen ganz offensichtlich durch die Bildanlagen hintertrieben werden. Im Folgenden werden drei Fotografien mit unterschiedlichen Bildbeständen – ein Interieur ohne und eines mit Figur sowie ein Selbstporträt im Raum – diesbezüglich exemplarisch untersucht. Nur zwei Interieurs in Theater of Manners kommen ohne Bildfiguren aus; ihre Position im Buch markiert motivisch den Übergang von den ersten zehn Aufnahmen, die vor allem Personen in Urlaubssituationen am Pool oder am Meer zeigen, zu den darauf folgenden häuslichen Räumen. In dieser doppelten Sonderstellung wirken sie wie die eigentlichen Eröffnungsbilder, mit denen Barney die Räume vorstellt, die in den nachgeordneten Bildern von Figuren besetzt werden. Die Bildräume dieser beiden Interieurs öffnen sich allerdings kaum dem Betrachter, sondern halten ihn mittels optischer Barrieren im Bildvordergrund eher auf Distanz. Der verschlossene Eindruck kontrastiert mit der Anlage der Räume, die z.B. in Jill’s Interior, 1980 mit einem stimmig gestalteten Ensemble aus Mobiliar, Accessoires und Wandfarben deutlich auf Außenwirkung abzielt (vgl. Abb. 35). Neben der warmtonigen roten Wandfarbe verleihen ein altes Telefon und eine großformatige Zeichnung an der Wand, die auf einer historischen Fotografie basiert,24 dem ansonsten mit modernen Möbeln ausgestatteten Raum ein atmosphärisches Gegengewicht. Die Einrichtung lässt einen mutigen und fortschrittlichen Bewohner assoziieren, der seinen Besuchern gegenüber (s)einen Sinn für Ästhetik, Design und Tradition ausdrücken will. Das Sofa im Bildvordergrund verhindert diesen Eindruck allerdings in vielfacher Hinsicht. Zuvorderst verdeckt es das Sideboard und raubt ihm so die gebührende Aufmerksamkeit. Das Tuch auf der Couch stört zudem die symmetrische Komposition der Einrichtung, denn es kann das Möbelstück nicht ganz abdecken und lenkt den Blick auf die freiliegende Armlehne; ferner wirft es Falten, die mit keiner Linie im Raum korrespondieren, und weist ebenso wie das Sofa ein florales Dekor auf, das im ornamentfreien Raum als Fremdkörper erscheint. Entgegen der ursprünglichen Absicht, die Couch zu verhüllen und vergessen zu machen, wird über dieses Tuch die Aufmerksamkeit des Betrachters auf eben diese Stelle im Bild gelenkt und die Deplatzierung des verdeckten Möbelstücks erst recht betont. Das Ensemble

24 Das Bild zeigt den Vater und Großvater Tina Barneys und ihrer Schwester Jill, die als elegant gekleidete, selbstzufriedene Flaneure ebenfalls auf ihre Außenwirkung bedacht zu sein schienen (vgl. Grundberg 1997, S. 250).

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hätte perfekt ausbalanciert sein können, eine einzelne Eigentümlichkeit verhindert aber, dass der Raum gemäß den innenarchitektonischen Vorgaben wirkt. Die inkorporierte räumliche und bildliche Disharmonie beeinflusst ebenso die Vorstellung vom Lebensstil der Bewohner, die einen derartigen ästhetischen Fauxpas tolerieren, wie die Vorstellung von der distanzierten Haltung der Fotografin, die auf diese Irritation nicht verzichten wollte. Schließlich werden über die Störung des repräsentativen Raumeindrucks die hier angewandten Strategien der räumlichen Repräsentation ausgestellt und in ihrer Aussagekraft befragt. Abbildung 35 (O.i.F.). Tina Barney: Jill’s Interior, 1980

Für diese Brüche in den Bildräumen stehen auch die Fotografien, die Personen in einem häuslichen Umfeld zeigen. In Self-portrait, 1983 beispielsweise liegt die Künstlerin selbst in einer Raumecke auf einer Chaiselongue und verbindet sich wie ein Chamäleon mit der Farb- und Mustervorgabe der Einrichtung: die blaugrüne Farbe ihres Rocks harmoniert mit dem Blaugrün des Lampenfußes, des Glases auf dem Beistelltisch, der Auslegware und der impressionistischen Landschaftsdarstellung (vgl. Abb. 36). Die Bluse wiederum weist ein ähnlich kleingepunktetes Muster auf wie das Liegesofa, die Gardinen und das Korbgeflecht des Tischchens. Der Faltenwurf des Rocks verkoppelt dessen Trägerin mit der gerafften Gardine und der Bordüre des Kanapees. Die Pastelltöne, die Blumenmotive und die lichtdurchfluteten Fenster evozieren eine lieblich-zarte Raumatmosphäre. Die suggerierte Leichtigkeit und Unbeschwertheit wird allerdings konterkariert durch

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den schweren Teppich, dessen großformatige Motive und kräftige Farben kaum zum Raumganzen passen; einen deutlichen Bruch stellt aber vor allem die angespannte Haltung und der verkniffene Gesichtsausdruck der Porträtierten dar. Zudem entzieht sich Barney dem visuellen Zugriff des Betrachters, da sie sich hinter dem Tisch platziert hat. Indem sie trotz der Intimität der Aufnahmesituation und der ästhetischen Korrespondenzen eine Distanz zum Betrachter und zum Raum aufrechterhält, kann sie vorführen, wie die Wirkung einer personalen Repräsentation durch Posen und Bekleidung über eine dazu passende Einrichtung gesteigert wird und wie umgekehrt die räumliche Disposition die (Selbst-)Darstellung und Außenwahrnehmung der Bewohner prägen kann. So stellt sich auch in dieser Fotografie die Frage nach der Verfasstheit von Identität in ihrer Abhängigkeit von Bildern, denen das Subjekt entsprechen will, und Räumen, die es prägen. Abbildung 36 (O.i.F.). Tina Barney: Self-portrait, 1983

Wie in diesem Bild hat Barney in vielen Fotografien Barrieren im Bildvordergrund genutzt, um ein zentrales Motiv im Mittelgrund schützend einzuhegen und zugleich auf Abstand zu sich als Fotografin und zum Betrachter zu halten. Dieses Stilmittel hat sie z.B. in der mit Mom’s Dinner Party 1982 betitelten Aufnahme eingesetzt, die ihre Stiefmutter im repräsentativen Esszimmer hinter einem festlich gedeckten Tisch zeigt (vgl. Abb. 37). Die Porträtierte figuriert hier als Hausherrin, die eher mit dem materiellen Raum verbunden wird als mit dem herzlichen Empfang von Gästen. Ihre reservierte Mimik drückt keine persönliche Regung aus,

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und durch die zusätzliche Einfassung ihres festlich gewandeten Oberkörpers von Kerzen und der Hinterfangung des Kopfes von einem Bildrahmen wirkt ihre Haltung noch statuarischer und formeller. Die Figur erscheint lediglich als dekorativer Teil der Einrichtung. Auch der große Bildwinkel, der den Vorhängen und der Decke fast die Hälfte der Bildfläche zuspricht, schmälert den Stellenwert menschlicher Emotionalität, Aktivität oder Anwesenheit im Raum. Abbildung 37 (O.i.F.). Tina Barney: Mom’s Dinner Party 1982

Dass der Raum kaum Geborgenheit, Prestige oder Gastfreundschaft ausstrahlt, sondern vielmehr eine beklemmende Atmosphäre vermittelt, hat Barney zudem kompositorisch provoziert. Indem sie die horizontalen und vertikalen Linien des Raums mit denen des Bildrahmens nicht parallelisiert, sondern gegeneinander verdreht hat, konterkariert sie das Bemühen der Bewohnerin um Ordnung, Symmetrie und Balance. Durch den schiefen Bildhorizont und die zugespitzte Raumflucht hat Barney den Bildraum dynamisiert, so dass die Dinge optisch in Bewegung geraten. Dass sich die ausgewogene Raumgestaltung und die intendierte Raumillumination mit warmem, indirektem Licht nicht ungebrochen über das Bild vermittelt, liegt vor allem an der Überbetonung der Deckenlampe und des hellen Lichtflecks, den diese an die Decke wirft. Für dieses Bild gilt, was Grundberg vielen Fotografien der US-Amerikanerin zugesprochen hat: „[...] die Ordnung der Kompositionen scheint kurz vorm Zusammenbrechen und Auseinanderfallen zu sein, obgleich die darin porträtierten Personen sich dieser Ge-

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fahr dem Anschein nach nicht bewusst sind“25. Die Diskrepanz zwischen intendiertem Ausdruck und vermitteltem Eindruck kulminiert in diesem Bild im Widerspruch zwischen dem einladend angelegten Arrangement des Raums und der Darstellung der Figur. Der abweisende Charakter des Bildraums wird noch durch die zugezogenen Vorhänge betont. Gerade diese Abschottung nach allen Seiten lässt die Figur isoliert und einsam erscheinen. Diese psychosoziale Verfassung indiziert Barney ebenso in Bildern von Personengruppen, in denen sie auf von Einzelnen gehaltene Posen fokussiert und diese damit vom lebhaften Umfeld abtrennt. Auf diese Weise stellt sie grundlegende Fragen nach dem Platz des Einzelnen im umgebenden Sozialgefüge und in der Welt im Allgemeinen. Barneys Interieurs zeigen das Bemühen einer Elite um Repräsentation. Indem die Fotografin die Anstrengungen aus distanzierter Perspektive betrachtet und auf Dissonanzen, Spannungen und Widersprüche fokussiert, entlarvt sie diese Selbstdarstellungen als überaus brüchige Behauptungen.

4.2

H ISTORISCHE G ELTUNGSANSPRÜCHE

Deutlicher als Barney rekurriert Patrick Faigenbaum26 in seinen Bildern von italienischen Adelsfamilien auf Formen und Bedeutungen des traditionellen ‚Interior Portrait‘, um die aristokratischen Selbstdarstellungen im häuslichen Umfeld kritisch zu kommentieren. Im Gegensatz zur US-Amerikanerin konzentriert sich der Franzose allerdings nicht auf Widersprüche zwischen einem von den Porträtierten gewollten Schein und einem von der Künstlerin registrierten Sein, sondern auf die Historizität der (privaten) Welt einst mächtiger Adelsgeschlechter.

25 Grundberg 1997, S. 251. 26 Patrick Faigenbaum wurde 1954 in Paris geboren. Er studierte von 1968 bis 1973 Malerei und Zeichnung. Fotografie begann er sich 1973 autodidaktisch anzueignen (vgl. Chevrier, Jean-François: „Patrick Faigenbaum“. In: Patrick Faigenbaum. Roman Portraits (anlässlich der gleichnamigen Ausstellung, Art Institute of Chicago, 19.11.1988-05.02.1989). Chicago: Art Institute of Chicago 1988, S. 27-28: 27). Faigenbaum lebt und arbeitet in Paris (vgl. „Biografie/Bibliografie“. In: Weski 2006, S. 310).

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Diese hätten sich in Italien mehr familiäre Tradition bewahrt als anderswo, konstatiert Jean-François Chevrier. 27 Abbildung 38. Patrick Faigenbaum: Familie Niccolini, Florenz 1985

Für seine italienische Trilogie hat Faigenbaum in den Jahren zwischen 1983 und 1991 Angehörige (einst) berühmter aristokratischer Familien in Florenz, Rom und Neapel in ihren altehrwürdigen Palazzi fotografiert. Sein Interesse an der Beziehung zwischen Menschen und ihrem privaten Umfeld, mithin an der Bildtradition des ‚Interior Portrait‘, hat seinen Ausgang in der Fotografie seiner eigenen Familie, von Verwandten und Freunden genommen, die er in den 1970er Jahren in Paris jeweils in ihrer häuslichen Umgebung porträtiert hat. Auch die signifikante Bildsprache hat er zu dieser Zeit entwickelt; so finden sich bereits in den frühen Bildern die frontale Perspektive, das formal strenge

27 Chevrier, Jean-François: „Familienbilder und städtische Architektur“. In: Patrick Faigenbaum. Fotografien. Florenz, Rom, Neapel, Bremen (anlässlich der gleichnamigen Ausstellung, Neues Museum Weserburg Bremen 24.01.-14.03.1999). Bremen: Neues Museum Weserburg 1999, S. 164-173: 169.

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Arrangement von Personen und Dingen, deren präzise fotografische Beschreibung sowie das markante schwarzweiße Chiaroscuro. Innerhalb dieses formalen Rahmens hat Faigenbaum seine Fotografien variiert und analog zu den unterschiedlichen historischen und soziokulturellen Situationen in den Städten drei Gruppen mit charakteristischen Erscheinungsbildern geschaffen. Die Bilder aus Florenz werden vorwiegend von dunklen, bedrückenden (Bild-)Räumen beherrscht. Für die Fotografie Familie Niccolini, Florenz 1985 beispielsweise wurden vier Familienmitglieder in zwei Räumen positioniert, von denen das vordere, bildbeherrschende Zimmer das vorhandene Licht fast vollständig absorbiert (vgl. Abb. 38). Die Abgeschlossenheit des Bildraums wird durch eine Perspektive unterstrichen, die dem Betrachter jedes Fenster vorenthält und den einzigen sichtbaren Ausgang in seiner doppelten Verriegelung durch Tür und Vorhang im Bildzentrum betont. Die geringe Tiefe der Räume im Bild und die vergleichsweise opulente Einrichtung forcieren zudem den klaustrophobischen Gesamteindruck. Wie in anderen Bildern der Serie wird auch hier die Gruppe der Personen, die während der Fotografie leibhaftig anwesend waren, um Personen erweitert, die von Gemälden und Büsten repräsentiert werden. Die Nähe zwischen den Bildfiguren erster und zweiter Ordnung wird u.a. durch die Ähnlichkeit der formellen Posen und beider Einfassung durch Raumelemente wie Türstürze, Vorhänge oder Stuhllehnen bzw. Bildrahmen hergestellt. Daneben fördert die Vermeidung von Farbe in der Fotografie die formale Verbindung der zeitgenössischen Personen mit den historischen Figuren, Bildern und Räumen. Die schwarzweiße Anlage des Bildes rückt die Fotografie in eine unbestimmte Vergangenheit, in der fotografische Farbe noch nicht entwickelt war bzw. für (Porträt-)Fotografien nicht eingesetzt wurde, und verringert auf diese Weise den zeitlichen Abstand zwischen den doppelt zum Bild geronnenen Personen mit den einfach Porträtierten. Obwohl die unterschiedlichen Bildelemente offensichtlich auf verschiedene Jahrhunderte verweisen, verschmelzen 28 sie in Faigenbaums Fotografie zu einer kohärenten, transhistorischen

28 Für Barkan sind die Bilder ‚transhistorisch‘, weil sie die Distanz zwischen der altertümlichen römischen Aristokratie, die sich seit Jahrhunderten in ihren Häusern eingemauert habe, und dem zeitgenössischen Fotografen überbrückten (vgl. Barkan, Leonard: „Roman Family Portraits“. In: Patrick Faigenbaum 1988, S. 5-8: 8).

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und unzeitgemäßen Welt familiärer Tradition und aristokratischer Repräsentation. Abbildung 39. Patrick Faigenbaum: Familie Massimo, Rom, 1986

In den Interieurs, die in Rom entstanden sind, wirken die Familien in ihren Villen räumlich wie zeitlich weniger geborgen. In den weitläufigeren, offeneren und helleren Räumen erscheinen sie insgesamt verlorener, was auch auf die individuellen Positionierungen und raumbetonenden Kompositionen zurückzuführen ist, die sich weniger am familiären Verbund, sondern eher an architektonischen Gegebenheiten ausrichten. Auch der museale Charakter der Räume, der in der Serie über die römischen Palazzi herausgestellt wird, unterstützt diese spannungsreichere Konstellation zwischen Räumen und Figuren. In einem Interieur einer Subserie an Fotografien, die mit Familie Massimo, Rom, 1986 betitelt sind und wechselnde Familienmitglieder in unterschiedlichen Konstellationen in verschiedenen Räumen des einst von dem Architekten (und Maler) Baldassare Peruzzi (1481-1536) erbauten Familienpalastes zeigen,29 ist dieser Kontrast besonders evident

29 Vgl. Chevrier 1999, S. 170.

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(vgl. Abb. 39). Hier sind ein Mädchen und ein Mann vor einer Wand mit einer stellenweise freigelegten Malerei zu sehen, die eher eine archäologische Stätte als einen Wohnraum assoziieren lässt. Die große Säule, die am Ende einer tiefen Raumflucht aufscheint und die sich in einem anderen Bild als Teil einer Galerie erweist, unterstreicht die repräsentative bzw. öffentliche Funktion der Räume. Der große Kandelaber im Bildvordergrund komplettiert die historisch-museale Raumatmosphäre, die die Personen kühl umgibt. Beide drücken mit ihrer melancholischen Mimik eine „resignative Trauer“ aus, die Thomas Deecke bei allen Figuren aus Faigenbaums Bildern ausmacht und die der Betrachter auf das Erleben der Historisierung ihres aristokratischen Wohn- und Lebensstils bezieht: „Sie tragen [...] die Last der Vergangenheit, die Schönheit eines langsamen Dahinlebens schon jenseits der Dekadenz, des allmählichen Verschwindens, einer Nostalgie aus unauslöschlichen Erinnerungen an ein immer ferner rückendes Damals in zu Museen gewordenen Räumen.“30

Die Personen in den Bildern aus Neapel scheinen weniger mit ihrem Schicksal zu hadern. Ihre Haltung ist meist entspannter und freier, die Räume sind kleiner und einfacher eingerichtet, und die Bilder wurden noch heller angelegt. Diese Unterschiede in der Ästhetik, den Posen der Bewohner und der räumlichen Situation können zum Teil mit der besonderen historischen Situation erklärt werden, in der viele Familien des neapolitanischen Adels gezwungen waren, ihre Villen zu verlassen und sich in bürgerlichen Wohnverhältnissen einzurichten. 31 In dem Bild Familie di Somma del Colle, Neapel, 1991 beispielsweise manifestieren sich familiäre Tradition, Wohlstand und Status nicht mehr im räumlichen Ensemble eines Palazzos, sondern lediglich in der historischen Möblierung einer Wand, vor der zwei ältere Männer in formeller Kleidung unverkrampft sitzen (vgl. Abb. 40). Dadurch, dass sie nicht von der Größe und Geschichte eines ganzen Raumes umgeben sind, wirken sie gegenwärtiger, d.h. näher am Erfahrungsraum des Betrachters. Die enge Beziehung zu traditionellen Statussymbolen wie den kunstvoll gestalteten Möbeln, Vasen und Skulpturen behauptet Fai-

30 Deecke, Thomas: „Fremd im Gegenwärtigen“. In: Patrick Faigenbaum 1999, S. 174-178: 176. 31 Vgl. Chevrier 1999, S. 171.

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genbaum allerdings auch in diesem Bild, da er die Figuren nach Maßgabe der repräsentativen Wandmöblierung porträtiert hat. So verbinden sich die beiden nicht nur über das einheitliche Bildgrau mit dem Hintergrund, sondern richten sich in ihrer Platzierung auch nach der räumlich angelegten Symmetrie. Durch die optische Einrückung des einen Mannes in ein Regalfach, das sich direkt auf Höhe seines Kopfes unmittelbar hinter ihm befindet, wird ihre Integration in die szenischen Gegebenheiten allerdings auch ironisch gewendet. Abbildung 40. Patrick Faigenbaum: Familie di Somma del Colle, Neapel, 1991

Faigenbaums Fotografien ähneln historischen Porträts von Adeligen, die sich seit dem 17. Jahrhundert vermehrt in häuslicher Umgebung darstellen ließen. Sie verbindet die bildparallele Aufspannung der Bildräume, die stets selbstbewusst und distanziert dem Betrachter zugewandten Bildfiguren sowie die Betonung von Räumen und Einrichtungsdetails, die familiäre Herkunft, gesellschaftlichen Status und materiellen Wohlstand anzeigen. Im Unterschied zu bürgerlichen ‚Interior Portraits‘, die sich zwar an der Bildsprache der Herrschaftsporträts orientierten, aber heitere, kommunikative und alltägliche Szenen der Genremalerei inkorporierten, werden die aristokratischen Interieurs von einer symbolischen Kodierung dominiert, die sich eher an der His-

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torienmalerei ausrichtet.32 In Anlehnung an die Adeligen in historischen Porträts stehen Faigenbaums Figuren in ihrer Raumorientierung und ihren formellen Posen damit eher für die Repräsentation eines elitären Wertesystems als für einen individuellen Selbstausdruck. Über die Verschattung und Musealisierung der (Bild-)Räume historisiert Faigenbaum die gestischen, materiellen und ikonischen Zeichensysteme und soziokulturellen Geltungsansprüche dieser „aus der Geschichte ausgetretenen Geschlechter“33.

4.3

D ISTINKTIONEN

ÜBER

R ÄUME

Fotografische Interieurs in der Gegenwartskunst, die sich auf Selbstdarstellungen von gesellschaftlichen Eliten im Privaten beziehen, vermitteln meist eine kritische Sicht auf deren Bemühungen um Repräsentation und Distinktion. Die Bilder von Tina Barney über den exklusiven Wohnstil von Verwandten und Freunden an der US-amerikanischen Ostküste wie auch Fotografien von Patrick Faigenbaum über Vertreter der italienischen Aristokratie in ihren historischen Palazzi fokussieren auf Spannungen, Verunsicherungen und Brüche im elitären Selbstentwurf. Barney interessiert die Diskrepanz zwischen Absicht und Wirkung, Faigenbaum die Historisierung des adeligen Wohn- und Lebensstils; beide Fotografen suchen die ironische Brechung der distinguierten Inszenierungen. Indem sie „pictures of pictures“34, also distanzierte Reflexionen kalkulierter Repräsentationen vorgelegt haben, offenbaren Barney und Faigenbaum neben der identitätsstiftenden Bedeutung auch die konstruierte Struktur und fragile Konstitution repräsentativer Posen und Räume.

32 Vgl. West, Shearer: Portraiture. Oxford: Oxford Univ. Press 2004, S. 84. 33 Deecke 1999, S. 175. 34 Barkan 1988, S. 7.

5

Geschlechterverhältnisse im Raum

Wie das soziokulturelle Konstrukt Familie zählt auch die Kategorie Geschlecht zu den zentralen Motiven des Interieurs, da sie den privaten Raum maßgeblich strukturiert. Aufgrund der großen Nähe der Bildgattung zu Lebenswirklichkeiten werden bestehende Vorstellungen vom geschlechtsspezifischen Leben und Wohnen in Interieurs entweder (unreflektiert) reproduziert oder kritisch thematisiert. Die realen wie symbolischen Zuweisungen, Bedeutungen und Wertigkeiten von weiblichen und männlichen Sphären, auf die Interieurs in der Gegenwartskunst rekurrieren, basieren trotz veränderter gesellschaftlicher Bedingungen auf Vorstellungen, die im 18. Jahrhundert geprägt wurden. Die grundlegende Differenzierung und Hierarchisierung der Lebenswelten von Mann und Frau etablierte sich im Zuge der Herausbildung einer bürgerlichen Gesellschaftsschicht und sollte als kulturelles Leitbild der westlichen Welt bis in die 1970er Jahre Bestand haben. Die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung, die mit der Auflösung der vorbürgerlichen und vorindustriellen Hausökonomien einherging, führte den bürgerlichen Mann aus dem Haus in die Erwerbsarbeit, während für die bürgerliche Frau der Haushalt, d.h. insbesondere die Reproduktionsarbeit und die Versorgung der Familie, zum zentralen Lebensinhalt wurde. Begleitet wurde dieser Prozess von einer Neubewertung des Hauses als Rückzugsraum, der als Gegenpol zur Arbeitswelt und zur Öffentlichkeit die neuen Werte Privatheit, Erholung und Gemütlichkeit sowie den angestrebten bzw. den erreichten gesellschaftlichen Status repräsentieren sollte. Diese bürgerliche Ideologie des Wohnens bezog sich allerdings allein auf die männliche Erfahrungswelt, denn für Frauen war das Haus vor allem Arbeitsplatz und nicht Refugium.

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Da sich ein Großteil der fotografischen Interieurs in der Gegenwartskunst auf Modelle bürgerlichen Lebens und Wohnens bezieht (oder sich bewusst davon abgrenzt)1 und damit auf Strukturierungen des privaten Raums durch die Kategorie Geschlecht trifft, werden im folgenden Kapitel die Entstehungsbedingungen, Formen und Implikationen der geschlechtsspezifischen Differenzierung und Hierarchisierung bürgerlicher Räume ausführlicher dargelegt. Darauf folgt ein kurzer Abriss zu künstlerischen Arbeiten, die in den 1970er Jahren die Geschlechterverhältnisse gerade auf der Folie privater Räume offengelegt haben, um bei der Analyse jüngerer, fotografischer Werke sowohl die Tradition des Ansatzes als auch die Verschiebung der Perspektive benennen zu können. Im anschließenden Kapitel wird eine Serie von Jacqueline Hassink als Beispiel für Interieurs angeführt, die Raumfragen im Spannungsfeld der Emanzipation und des Fortlebens von geschlechtsspezifischen Praktiken und Prägungen reflektieren.

5.1

G ESCHLECHTERORDNUNG IM (B ILD -)R AUM

Die bürgerliche Differenzierung von männlichen und weiblichen Räumen in der westlichen Welt ging einher mit einer neuen Begründung von Geschlecht und Geschlechterrollen, konstatieren Kerstin Dörhöfer und Ulla Terlinden. Merkmale der ‚Natur der Frau‘ seien nach bürgerlicher Vorstellung die Nähe und das Private, während sich die ‚Natur des Mannes‘ in der Weite und dem Öffentlichen zeigen würde. 2 Entsprechend wurde am Anfang des 20. Jahrhunderts in der populär- und fachwissenschaftlichen Literatur verkündet, dass die Frau zur bürgerlichen Gattin, Mutter und Hausfrau geboren und dass das Heim von ihren „besonderen Fähigkeiten und Interessen, Gefühlsweisen und Intellektualität“3 geprägt sei. Die geschlechtsspezifische Strukturierung und Bewertung der Lebenswelten von Mann und Frau sehen Dörhöfer und Terlinden in den Wohnformen der Jahrhundertwende gespiegelt. So nahmen die Reprä-

1

Vgl. Kap. 6.2.

2

Vgl. Dörhöfer / Terlinden 1998, S. 51.

3

Simmel, Georg: „Philosophie der Geschlechter“. In: Philosophische Kultur. Gesammelte Essais. Leipzig: Klinkhardt 1911, S. 84. Zitiert nach Dörhöfer / Terlinden 1998, S. 52.

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sentationsräume die größte Fläche im bürgerlichen Haus und in der bürgerlichen Wohnung ein; sie waren zudem am aufwendigsten dekoriert. Das fixierte und zentral ausgerichtete Mobiliar markierte periphere und herausragende Plätze, wobei die Letzteren nur vom männlichen Hausvorstand eingenommen wurden, wie z.B. am Kopfende des Tisches. 4 Dass gerade die Räume, die speziell dem ‚Herren‘ bzw. der ‚Dame des Hauses‘ vorbehalten waren, den vorherrschenden Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit entsprachen, hat Sabine Pollak anhand von zeitgenössischen Bauanleitungen und Handbüchern herausgearbeitet.5 Die abgeschiedene Lage der Räume für Frauen markierte demnach sowohl deren untergeordnete Stellung im Haus als auch die Vorstellung von deren besonderer Schutzbedürftigkeit. Die zierliche Einrichtung und die verspielte Dekoration dieser Räume, die ganz der Zurichtung des weiblichen Körpers gewidmet waren, kontrastierte zur kargen Einrichtung des ‚Herrenzimmers‘, das an zentraler Stelle im Haus Stolz, Würde und Unabhängigkeit des ‚Hausherren‘ ausdrücken sollte. Diese Formen der räumlichen Separierung, die eng verbunden sind mit visuellen Kontrollmöglichkeiten der Aktivitäten im und am Haus, hat Dörte Kuhlmann als die wesentlichen räumlichen Muster benannt, die bestehende Geschlechter- und Machtverhältnisse ausdrückten.6 Gegen die überladenen bürgerlichen Wohnungen des 19. Jahrhunderts traten die Architekten des ‚Neuen Bauens‘ an. Ihr Plädoyer für Sachlichkeit und Zweckmäßigkeit in der Baukunst markierte zwar einen ästhetischen Paradigmenwechsel, im Grundsatz aber orientierten sie sich an bürgerlichen Lebens- und Wohnformen, die nach wie vor die traditionellen patriarchalischen Gesellschaftsstrukturen repräsentierten. 7 Immerhin konnten einige Maßnahmen zur Rationalisierung der Hausarbeit, wie z.B. die ‚Frankfurter Küche‘, die Hausfrau entlasten. In dem raumgreifenden Einsatz von Glas erkennt Pollak hingegen nicht die propagierten Ansätze zur Überwindung der häuslichen Isolation der Frau und den Zugewinn von Freiheit, sondern die Installierung

4

Vgl. Dörhöfer / Terlinden 1998, S. 70.

5

Pollak, Sabine: Leere Räume. Weiblichkeit und Wohnen in der Moderne. Wien: Sonderzahl 2004, S. 19.

6

Vgl. Kuhlmann, Dörte: Macht, Raum & Differenz. Genderstudien in der Architektur. Wien: Ed. Selene 2003, S. 204.

7

Vgl. Dörhöfer / Terlinden 1998, S. 72.

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des männlichen Blicks auf das zuvor verborgene Weibliche und damit allein die Befriedigung männlichen Begehrens. 8 Die massenhafte Zunahme der weiblichen Erwerbstätigkeit nach dem Zweiten Weltkrieg ermöglichte Frauen zwar den sozialen Aufstieg und führte zu größerer gesellschaftlicher Anerkennung, die Hausund Reproduktionsarbeit oblag aber nach wie vor ausschließlich ihnen. Erst der wirtschaftliche und soziale Umbruch zur post-industriellen Gesellschaft seit den 1970er Jahren brachte neue Lebens- und Wohnformen hervor, die sich von den traditionellen Rollenmustern der Hausfrau, Mutter und Gattin und der bürgerlichen Wohnkultur mit ihren festen Regeln lösten. Kennzeichen der veränderten Lage ist der Zuwachs an Singles und Alleinerziehenden, an unverheirateten und berufstätigen Paaren sowie häufigere Wechsel zwischen verschiedenen Lebensformen. Die Pluralisierung der Lebensstile manifestiert sich nicht nur in der „Verweiblichung der Haushaltsvorstände“9, sondern auch in der Flexibilisierung der Einrichtung, beispielsweise im Einsatz beweglicher und austauschbarer Möbel.10 Der private Bereich ist auch für Frauen zunehmend zu einem Ort der Selbstverwirklichung und zu einer der Arbeitswelt entgegengesetzten Sphäre geworden, obwohl sie nach wie vor die Hauptlast der Reproduktions- und Hausarbeit tragen. Radikale architektonische Alternativentwürfe, die helfen könnten, die Bindung der Frau an das Haus, die Hausarbeit, die Familie und die Kinderbetreuung zu überwinden, wurden bisher kaum realisiert. 11 Nichtsdestotrotz wurden die traditionellen Geschlechterstrukturen – gerade auch im Privaten – im Zuge der verschiedenen Emanzipationsbewegungen des 20. Jahrhunderts als diskriminierend erkannt, und Frauen konnten sich neue Zugänge zu fast allen öffentlichen, ihnen zuvor verschlossenen Gesellschaftsbereichen erkämpfen. Heute finden sich kaum noch Räume, die explizit nach „feminin oder maskulin konnotierten Normen“12 gestaltet werden. Dennoch trügen viele, auch neue Gebäude immer noch Spuren von ästhetischen wie sozialen Prak-

8

Vgl. Pollak 2004, S. 221.

9

Dörhöfer / Terlinden 1998, S. 62.

10 Vgl. a.a.O., S. 77. 11 Auch die dazugehörigen alternativen Partnerschaftsmodelle, in der z.B. die Reproduktion an die Wissenschaft und die Aufzucht der Kinder an das Kollektiv delegiert wird, bleiben die Ausnahme. 12 Kuhlmann 2003, S. 146.

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tiken, die auf einer Geschlechterhierarchie gründen, bemerkt Kuhlmann. 13 Sie verweist exemplarisch auf die verbreitete Unterscheidung von privaten und öffentlichen Bereichen in der Wohnung sowie auf die Tradition der ‚Herrenzimmer‘, deren asketischer Stil in Konferenzräumen großer Unternehmen fortlebe und somit ungebrochen, wenn auch subtil, männliche Exklusivität signalisiere. Die geschlechtsspezifische Strukturierung privater Räume hat auch in der Kunst ihren Niederschlag gefunden, und gerade die Gattung Interieur ist prädestiniert für künstlerische und kunstwissenschaftliche Reflexionen zu zeitgenössischen Vorstellungen von Geschlecht und Machtverhältnissen zwischen den Geschlechtern. So legitimierte das Interieur Künstler über Jahrhunderte, den weiblichen Körper „scheinbar entallegorisiert“14 in seinen alltäglichen Lebensräumen mehr oder weniger entblößt als verfügbares Objekt darzustellen, resümiert Beate Söntgen. Die ästhetische Bindung der bürgerlichen Frau ans Haus fand ihren Höhepunkt in der deutschen Romantik, die Weiblichkeit und Häuslichkeit als symbiotische Einheit entworfen hat. Einige Jahrzehnte später figurierte die Frau in vielen Bildern als „Zerstörerin eben dieser Ordnung“15. Weibliche Sexualität wurde als bedrohlich und das ehemals ‚traute Heim‘ als „Ort des Unheimlichen“16 dargestellt.17 Erst im Zuge der feministischen Gesellschaftskritik der 1970er Jahre wurden schließlich grundlegende Fragen nach den Machtverhältnissen im Privaten und im Interieur kritisch reflektiert. Der häusliche Bereich erscheint in Werken, die in verschiedenen (neuen) Medien formuliert wurden, nicht mehr als Sphäre, die dem öffentlichen und politischen Raum unter- oder nachgeordnet ist, sondern vielmehr als Spiegel und Austragungsort wesentlicher gesellschaftlicher Konflikte. So haben sich Cindy Sherman (*1954) oder Laurie Simmons (*1949) im Kontext ihrer Beschäftigung mit Bildwelten der Massenmedien in den Serien UNTITLED F ILM STILLS (1976-1980) bzw. INTERIORS (1976) auf Darstellungskonventionen von Frauen im Privaten bezogen. Vorbilder für die fotografischen Inszenierungen ihrer eigenen Person bzw. von Modellfiguren waren Klischeebilder von sorgenden, lockenden

13 Vgl. ebd. 14 Söntgen 1998, S. 204. 15 Ebd. 16 Ebd. 17 Vgl. Kap. 7.4.

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oder bedrohten Hausfrauen aus TV- und Kinofilmen sowie der Werbung der 1950er und 1960er Jahre, die die Vorstellungen von Geschlecht und Geschlechterrollen dieser Generation maßgeblich geprägt haben. Ferner problematisierten Künstler zu dieser Zeit über das Thema Häuslichkeit ihren eigenen Status als geschlechtliche und privilegierte Autoren, wie Beatrice von Bismarck am Beispiel von Performance-Kunst aufgezeigt hat. 18 So entlarvt Lynda Benglis (*1941) in ihrem Video Enclosure (1973) über die Inszenierung eines Mannes, der im häuslichen Ambiente weibliche Posen und Positionen einnimmt, die geschlechtliche und hierarchische Struktur des (künstlerischen) Blicks ins Private. Die moderne Vorstellung vom (männlichen) Künstler als einem restlos in der Kunst aufgegangenen Subjekt stellt Martha Rosler (*1943) in Arbeiten wie Backyard Economy (1974) zur Disposition, indem sie (weibliche) Hausarbeit zu einer künstlerischen Tätigkeit erklärt hat. Für die 1980er und 1990er Jahre haben Sharon Haar und Christopher Reed zwei Hauptrichtungen kritischen Arbeitens im Themenbereich Häuslichkeit identifiziert. Zum einen hätten Künstler die Nostalgie, die den populären Diskurs um das Heim zeitweise beherrscht habe, reflektiert, und zum anderen hätten sie die neue Vielfalt der (privaten) Lebensweise artikuliert. 19 Für beide Ansätze ist die Geschlechterfrage im privaten Wohnen und Leben relevant. Das gilt in besonderer Weise für die fotografischen Interieurs, da sich diese auf häusliche Lebens- und Bildräume beziehen, in denen Männer und Frauen unterschiedliche Positionen einnehmen, oder die durch tradierte mentale und mediale Vorstellungen von einem spezifisch weiblichen oder männlichen Verhalten im Privaten durchwirkt sind. Daher wird bei der Untersuchung der Interieurs in den Kapiteln, die sich primär mit anderen Bedeutungsfeldern der Bildgattung befassen, immer auch die geschlechtsspezifische Funktion, Tradition und Bildgeschichte der dargestellten Räume, Posen und Referenzen berücksichtigt. So rekurrieren Nan Goldin und Gregory Crewdson in Bildern, in denen sie den privaten Raum als Resonanzkörper für Introspektionen von Frauen angelegt haben, auch auf traditionelle Vorstellungen von einer symbiotischen Relation zwischen Weiblichkeit und Häuslichkeit, die sie in ihren Sinnbildern existenzieller Selbstreflexion und tiefer

18 Vgl. von Bismarck 2003, S. 3-67. 19 Vgl. Haar 1996, S. 260.

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Melancholie allerdings kritisch kommentieren.20 In sich versunkene Männer zeigt Goldin dagegen fast ausschließlich in nicht-privaten Zimmern beim Blick in öffentliche, weite (Natur-)Räume. Der private Raum als entscheidender sozialer und kultureller Bezugspunkt für die geschlechtsspezifische Sozialisation von Mädchen und jungen Frauen ist ein wesentliches Thema der Interieur-Serien von Sarah Jones und Daniela Rossell. 21 Auch in der kritischen Befragung des soziokulturellen Konstrukts Familie durch Thomas Struth ist die oppositionelle Konzeption von Weiblichkeit und Männlichkeit virulent; über die physische und emotionale Verdichtung des familiären Raums in den (Familien-)Bildern tritt dieses bipolare Kraftfeld mit seinen einenden und trennenden Faktoren deutlich hervor. 22 In Goldins Bildern von gesellschaftlichen Außenseitern fungiert der Wohnraum als geschützter Ort, an dem u.a. auch die geschlechtliche Identität abweichend vom bürgerlichen Modell experimentell entworfen werden kann. 23 Mit ihren Aktdarstellungen kehrt sie die tradierte Geschlechterhierarchie zwischen dem aktiven männlichen Blick und der passiven weiblichen Muse um, da sie sowohl Frauen als auch Männer als begehrenswerte Geschöpfe fotografiert.24 Wenn Larry Sultan männliche Voyeure am Set von pornografischen Filmen zeigt, stellt er das männliche Begehren aus, das diese Produkte hervorbringt.25 Dass die Verletzung der Idylle ‚trautes Heim‘ zuvorderst weibliche Bewohner betrifft, ist eine lebensnahe Assoziation, die vor allem Jeff Walls Darstellung einer zerstörten Zimmereinrichtung provoziert. 26 Crewdson erweitert das Bedeutungsspektrum seiner unheimlichen Bildräume um geschlechtsspezifische Dimensionen, indem er sich in einzelnen Interieurs auf den Flora- und den Ophelia-Mythos bezieht, also suburbanen Hausalltag mit historisch-mythischen Vorstellungen von Weiblichkeit verschränkt. 27 Eher implizit verdeutlicht Wiebke Loepers Arbeit über die individuelle und kollektive Erinnerung an ein untergegangenes Land, in der sie u.a.

20 Vgl. Kap. 1.1 und Kap. 1.2. 21 Vgl. Kap. 2.3. 22 Vgl. Kap. 3.1. 23 Vgl. Kap. 6.2. 24 Vgl. Kap. 7.2. 25 Vgl. Kap. 7.2 und Hamner Drive, 2002. In: Larry Sultan 2004, S. 27. 26 Vgl. Kap. 7.3. 27 Vgl. Kap. 7.4.

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Schnappschüsse ihres Vaters vom häuslichen Familienleben verwendet hat, dass traditionell die Männer die familiäre Einheit fotografisch behauptet haben, was ihnen Deutungshoheit verlieh und ihre machtvolle Position nach innen und außen stärkte.28 Da diese kursorisch angeführten Fotografien und Serien zuvorderst andere Themenfelder tangieren, werden sie primär aus diesen Perspektiven betrachtet. Im Folgenden interessieren hingegen Interieurs, bei denen die Reflexion des privaten Raums als Ausdruck von geschlechtsspezifischen Machtverhältnissen im Zentrum steht. Künstlerinnen wie Jacqueline Hassink gehen dabei nicht mehr von einer strengen Dichotomie des Raums in Arbeits- und Wohnwelt, männlich und weiblich aus, sondern registrieren neben Kontinuitäten auch Veränderungen in den Raumstrukturen.

5.2

I NTERFERENZEN ZWISCHEN A RBEITS - UND W OHNWELTEN

Seit 1993 hat sich Jacqueline Hassink29 in verschiedenen Fotoprojekten mit der Repräsentation von kollektiver und personaler Identität sowie den Grenzen zwischen Öffentlichkeit und Privatheit in politischen und ökonomischen Machtzentren der Gegenwart befasst. 30 Ihr vorherrschendes Sujet ist dabei die Welt multinationaler Konzerne; hier interessiert sie sich vor allem für die Rolle der Frau im interkulturellen Vergleich, sei es als Topmanagerin in den USA, Japan oder Deutschland (FEMALE POWER STATIONS: QUEEN BEES (1996-2000)) oder als Model bei Automessen in Detroit, Tokyo oder Frankfurt (CAR GIRLS (2002-2007)). Selten zeigt Hassink die Menschen selbst, vielmehr fo-

28 Vgl. Kap. 8.1. 29 Jacqueline Hassink wurde 1966 im niederländischen Enschede geboren. Sie studierte von 1985 bis 1988 Modedesign an der Art Academy of Rotterdam, von 1988 bis 1991 ‚textile art‘ an der Royal Art Academy in Den Haag und von 1991 bis 1992 Bildhauerei an der Art Academy in Trondheim (N). Seit 1997 lebt Hassink in New York (vgl. „Chronology“. In: Jacqueline Hassink. The Power Book (anlässlich der Ausstellung „The Power Show“, Huis Marseille, Museum for Photography, Amsterdam, 01.12.2007-24.02.2008 / u.a.). London: Chris Boot 2007, S. 10). 30 Vgl. Jacqueline Hassink 2007.

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kussiert sie auf das materielle Arbeits- und Wohnumfeld und thematisiert Macht- und Geschlechterverhältnisse zuvorderst über die Fotografie von Privat- und Geschäftsräumen. Das Verhältnis von (weiblicher) Macht und Raum im Spannungsfeld von Arbeitswelt und privater Sphäre reflektiert Hassink vor allem in ihrer Serie FEMALE POWER STATIONS: QUEEN BEES, indem sie Aufnahmen von Besprechungstischen weiblicher Führungskräfte und Ansichten ihrer häuslichen Esstische als Bildpaar zeigt. Der Tisch als Symbol für privates und öffentliches Leben31 sowie als Kulminationspunkt für ungeschriebene Regeln32 stand bereits im Zentrum ihrer ersten Serie THE T ABLE OF P OWER (1993-1995), für die sie 21 Konferenztische der 40 größten Unternehmen in Europa ins Bild gerückt hat. Darauf folgte 1996 der Auftakt zur Werkgruppe FEMALE POWER STATIONS mit Fotografien von Tischen, die europäische Königinnen genutzt haben bzw. noch nutzen (FEMALE POWER STATIONS: QUEEN TABLES (1996)). An dem Projekt QUEEN BEES haben 14 Frauen teilgenommen, die 1996 in einem der 500 weltweit führenden Unternehmen in den USA, Japan und Europa in leitender Funktion tätig waren. 33 2005 hat Hassink das Projekt fortgeführt und für ARAB DOMAINS (2005-2006) Besprechungs- und Esstische in den Arbeits- und Privaträumen arabischer Top-Managerinnen fotografiert.34 Die sachlichen, stilistisch nüchternen Farbfotografien der Serie FEMALE POWER STATIONS: QUEEN BEES folgen nicht nur inhaltlich, sondern auch formalästhetisch einem strengen Konzept. Die weitwinkligen und zentralperspektivischen Fotografien sind aus Augenhöhe aufgenommen worden und zeigen im Bildzentrum stets die Tische sowie Ausschnitte des räumlichen Umfelds. In Ausstellungen werden die

31 Vgl. Barents, Els: „Jacqueline Hassink. Els Barents and Frits Giersberg in Dialogue“. In: Jacqueline Hassink 2007, S. 7. 32 Vgl. Giertsberg, Frits: „Jacqueline Hassink. Els Barents and Frits Giersberg in Dialogue“. In: Jacqueline Hassink 2007, S. 7. 33 Die Angaben zur Stellung der Unternehmen hat Hassink einer Liste entnommen, die das Wirtschaftsmagazin Fortune jährlich veröffentlicht (vgl. „Project Descriptions“. In: Jacqueline Hassink 2007, S. 155-158: 155). 34 Im Gegensatz zu den Serien QUEEN TABLES und ARAB DOMAINS wurde QUEEN BEES in einem eigenständigen Fotobuch veröffentlicht (vgl. Jacqueline Hassink. Female Power Stations: Queen Bees. Amsterdam: van de Koppel 1999).

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Raumbilder im Großformat gezeigt, so dass die Bildräume aus vertrauter Perspektive geradezu körperlich erfahrbar werden und einzelne Bildelemente gut erkennbar sind. Durch das direkte Nebeneinander der Fotografien von den Arbeitsräumen und den Privatzimmern in Ausstellung oder Buch wird der Rezipient angehalten, die unterschiedlichen Bildräume direkt aufeinander zu beziehen; die Wahrnehmung der einen beeinflusst unmittelbar die Rezeption der anderen Fotografie. Die vergleichende Betrachtung wird durch die ähnliche Komposition und die verbindende Rahmung des Bildpaars noch befördert. Die Bilder an sich stiften allerdings kaum Bedeutung, wie Sarah Anne McNear konstatiert: „While much is described, much in terms of causality is left open to interpretation“35. Integraler Bestandteil aller Serien Hassinks sind daher die erläuternden Texte zum Konzept und zu den Bildern.36 Im Gegensatz zum Ausstellungsformat wird in der Publikation Female Power Stations: Queen Bees noch das Thema ‚Frauen in Führungspositionen‘ vertieft, indem über eine Liste die Unternehmen, die Top-Managerinnen beschäftigen, ins Verhältnis gesetzt werden zur Übermacht der Firmen mit männlichen Führungskräften.37 Ferner informiert hier die Wirtschaftswissenschaftlerin Nancy J. Adler in einem Essay über Forschungsergebnisse zur spezifischen Situation von weiblichen Führungskräften, ihre Wege an die Spitze und einen vermeintlich weiblichen Führungsstil. In einem eigenen Text erläutert Hassink ihr künstlerisches Konzept. Indem sie an dieser Stelle auch auf die Absagen hinweist, die sie auf ihre Anfragen nach Fotoerlaubnis erhalten hat,38

35 McNear, Sarah Anne: „Mindscapes: Charting the Private and the Public through the Photographs of Jacqueline Hassink“. In: Jacqueline Hassink. Mindscapes (anlässlich der gleichnamigen Ausstellung, Huis Marseille, Foundation for Photographie, Amsterdam, 01.03.-01.06.2003). Basel / u.a.: Birkhäuser 2003, S. 190-195: 192. 36 Vgl. auch Barents, Els: „Mapping Spheres of Influence“. In: Jacqueline Hassink 2003, S. 4-9. 37 Von den ca. 4.000 Mitgliedern der Führungsgremien der 500 größten Unternehmen der Welt hat Hassink 51 Frauen recherchieren können. 38 Von den 51 recherchierten Top-Managerinnen haben 37 nicht an dem Projekt teilgenommen. Zwei der zunächst 14 Beteiligten haben ihre Zusage später wieder zurückgezogen, so dass Hassink Tische von 12 Führungskräften fotografieren konnte. Als Gründe für die Absage wurden angeführt:

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provoziert sie Spekulationen über die Gründe für die verweigerte Projektteilnahme: Soll das Machtzentrum verborgen bleiben, wollen diese Top-Managerinnen nicht über ihr Geschlecht auffallen oder besteht Skepsis gegenüber den Absichten der Künstlerin? Drei der Teilnehmerinnen haben Hassink zwar in ihrem Unternehmen fotografieren lassen, nicht aber zu Hause. Die fehlende Fotografie wird im Buch durch eine Vakatseite markiert. Auf diese Weise wird auf die individuell wie kulturell unterschiedliche Bedeutung verwiesen, die die Geschäftsfrauen dem Privaten beimessen. Für die Rezeption der einzelnen Bilder in Ausstellung und Buch sind die Angaben zentral, die die Frauen in einem Fragebogen der Fotografin gemacht haben und die jedem Bilderpaar beigestellt sind.39 Insbesondere diese z.T. verweigerten Informationen der Frauen zu ihrer Person, ihrem Familienstand, ihrer Karriere, ihrer Stellung im Unternehmen, den Räumen und Tischen liefern zahlreiche Bezugspunkte für die Bildbetrachtung.40 Einen Großteil der Aufnahmen hat Hassink noch um eigene Kommentare erweitert, in denen sie auf kaum oder nicht sichtbare Einrichtungsgegenstände, das räumliche Umfeld, die

Abneigung, Privates in der Öffentlichkeit zu zeigen, Zeitmangel, ein dichtes Reiseprogramm und das Interesse, nicht aufzufallen (vgl. Jacqueline Hassink 1999, S. 33). 39 Gefragt wurde nach dem Namen, dem Geburtsort, der Nationalität, dem Hauptwohnsitz, dem Familienstand, Kindern, dem Alter der Kinder, der Position im Unternehmen, dem Umsatz des Unternehmens 1996, dem Beginn der Tätigkeit im Unternehmen und der Einnahme der aktuellen Position sowie der Anzahl der Personen im Vorstand. Nicht alle Projektbeteiligten haben auf alle Fragen geantwortet. 40 So erfährt der Betrachter, dass sich unter den Geschäftsfrauen ‚Executive vice presidents‘, ‚General managers‘, ‚Senior vice presidents‘, ‚Chief executive officer‘, ‚Directors‘, ‚Senior managing directors‘ befinden, die im Alter zwischen 36 und 63 Jahren sind. 33 von ihnen arbeiten in den USA, sechs in Großbritannien, vier in Frankreich, drei in Japan, zwei in Kanada und je eine in Deutschland, in der Schweiz und in Spanien. Acht sind verheiratet, zwei Singles, eine ist geschieden und eine hat keine Angaben gemacht, auch nicht zu Kindern. Acht der Geschäftsfrauen haben Kinder, drei von ihnen führen zwei bzw. drei an und insgesamt vier haben zu dieser Frage keine Antwort gegeben.

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Kleidung der Frauen, ergänzende Erläuterungen von ihnen oder die Aufnahmesituation41 hinweist. Die Geschäftsfrauen wurden gebeten selbst auszuwählen, welche Konferenztische Hassink fotografieren sollte. Standen ihnen mehrere Tische für Besprechungen zur Verfügung, sollten sie den benennen, der ihre Person am ehesten repräsentieren würde.42 In vielen Begleittexten wird darauf hingewiesen, dass die gewählten Konferenzzimmer auch von anderen Führungskräften genutzt werden. Unklar bleibt, ob die Frauen die Gestaltung und Möblierung dieser Räume beeinflusst haben, inwiefern sich hier also ein individueller oder spezifisch weiblicher Ausdruck zeigt, dem Hassink mit ihrer Arbeit nachspüren will.43 Nur in zwei Fällen wird darüber Auskunft gegeben. So weist Ann D. Logan darauf hin, dass sie seit drei Jahren in einem Büro mit Objekten44 sitzt, die fast alle von dem männlichen Vorbenutzer stammen. Catherine A. Rein hingegen hat ihr Büro, in dem sie kleinere Besprechungen abhält, noch vor Bezug nach eigenen Vorstellungen „kreativ und originell“45 umgestaltet. Neben ‚Geschäftstrophäen‘ finden sich hier auch Dinge, die sie von Geschäftsreisen mitgebracht hat, sowie zahlreiche Familienfotos (vgl. Abb. 41). Mit dieser spezifischen Büroeinrichtung demonstriert sie sowohl geschäftlichen Erfolg und die internationale Ausrichtung ihres Unternehmens als auch distinguierten Geschmack und Familiensinn. Insbesondere die persönlichen Objekte, zu denen auch die Kinderzeichnungen im Büro von Ann D. Logan zählen, stellen die Verbindung zum Privatleben der Geschäftsfrauen her. Das Büro repräsentiert so nicht mehr nur die kollektive Identität des Unternehmens, sondern in Ansätzen auch die personale Identität der Nutzerin. Dem Betrachter stellt sich die Frage, ob die Dekoration des eigenen Büros mit privaten Dingen in dem jeweiligen Unternehmen üblich oder ungewöhnlich ist, ob sich hier Unterschiede zwischen den Geschlechtern zeigen und wie die Büros der anderen Managerinnen des

41 Sie erwähnt z.B., welche Getränke (Kaffee, grüner Tee, Cola) auf welche Weise (Pappbecher, Tasse) gereicht wurden. 42 Vgl. Hassink, Jacqueline: „Female Power Stations: Queen Bees“. In: Jacqueline Hassink 1999, S. 34. 43 Vgl. Hassink 1999, S. 33. 44 Dabei handelt es sich vor allem um gläserne ‚Geschäftstrophäen‘. 45 Jacqueline Hassink 1999, o.S.

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Projekts eingerichtet sind, die nicht fotografiert wurden. Diese Grenzverwischung zwischen privaten und öffentlichen Bereichen im Geschäftsalltag von Führungskräften in den USA und Japan hat Hassink in ihrem Projekt 100 CEOS – 10 ROOMS, USA & JAPAN näher untersucht.46 Zu den zehn Räumen, die Hassink in Geschäftszentralen großer Unternehmen in den USA und in Japan fotografiert hat bzw. fotografieren wollte, zählen neben der Lobby, dem Archiv, dem Garten und dem Firmenwagen auch das Büro einer Führungskraft, das sie aus Sicht einer am Schreibtisch sitzenden Person aufgenommen hat. Hierbei interessierten sie allerdings weniger geschlechtsspezifische Aspekte als vielmehr kulturelle Unterschiede in der Bewertung von Privatheit. Abbildung 41 (O.i.F.). Jacqueline Hassink: Meeting table of the financial services executive and senior vice president of Metropolitan Life Insurance; May 29, 1998; 4:20 PM; New York / Dining table at Ms Rein’s home; May 29, 1998; 2:40 PM; New York (aus der Serie FEMALE POWER STATIONS: QUEEN BEES (1996-2000))

Der Großteil der Tische der Serie QUEEN BEES steht in eigens dafür vorgesehenen Konferenzräumen, in denen keine Spuren privaten Lebens zu sehen sind. Größe, Gestaltung und Dekoration des Raums, Art, Qualität und Anordnung der Einrichtungsgegenstände sowie Bilder von Produkten oder angeschlagene Leitsätze verweisen mehr oder weniger deutlich auf das Unternehmen, seine Geschichte, seine Produkte und sein aktuelles Selbstverständnis. So vermitteln einige Räume in ihrer hellen Ausstrahlung, der einfachen Gestaltung und funktionalen Möblierung Modernität und Effizienz, während andere mit dunklen

46 Jacqueline Hassink 2003.

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Holzpanelen, schweren Ledersesseln und Porträtmalereien vorheriger Direktoren die Tradition, die Größe und die Bedeutung des Unternehmens betonen (vgl. Abb. 42, 43). Bei Letzteren handelt es sich um elitäre Räume, die gestalterisch in der Nachfolge der ‚Herrenzimmer‘ des 19. Jahrhunderts stehen.47 In diesem Sinne repräsentieren sie eine männliche Domäne, die für Männer und ein spezifisch männliches Verhalten, z.B. einen hierarchischen Führungsstil,48 realisiert wurde. Abbildung 42 (O.i.F.). Jacqueline Hassink: Meeting table at Ms Uchinaga’s corporation; May 23, 1997; 4:40 PM; Yamato city, Tokyo / Dining table at Ms Uchinaga’s home; May 23, 1997; 7:00 PM; Machida city, Tokyo (aus der Serie FEMALE POWER STATIONS: QUEEN BEES (1996-2000))

Ebenso wie die Bilder von den Büroräumen die Frage nach dem Einfluss der Frauen auf die Gestaltung aufwerfen, regen sie an, darüber zu sinnieren, welchen Platz die Geschäftsfrauen am Konferenztisch und – dadurch symbolisiert – im Unternehmen einnehmen. Den beigestellten Angaben ist zu entnehmen, dass einige von ihnen noch Vorgesetzte haben, andere Mitglieder in Aufsichtsgremien sind und viele erst in den letzten Jahren ihre Führungsposition eingenommen haben. Offen bleibt, ob sie die ersten Frauen auf dieser Stelle waren, inwiefern ihr

47 Vgl. Kuhlmann 2003, S. 185. 48 Vgl. Adler, Nancy J.: „Women leaders. The Image, the Reality“. In: Jacqueline Hassink 1999, S. 5-16: 14. Adler verweist dabei auf die Untersuchung von Alice Eagly und Blair T. Johnson „Gender and Leadership Style. A Meta-Analysis“ (in: Psychological Bulletin 108/1990, S. 233-256. Zitiert in: Vinnicombe, Susan / Colwill, Linda L.: The Essence of Women in Management. London / u.a.: Prentice Hall 1995, S. 32).

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Geschlecht bei der Karriere genützt oder geschadet hat, ob es einen spezifisch weiblichen Werdegang an die Spitze gibt, welche Vor- und Nachteile Frauen in Führungspositionen persönlich und für das Unternehmen haben und ob sich ein spezifisch weiblicher Führungsstil erkennen lässt – und inwiefern sich dieser in der Sitzordnung äußert. Zu erfahren ist immerhin, dass die Hälfte der Frauen keinen festen Platz am Tisch hat. Die anderen geben im Fragebogen an, dass sie feste Plätze einnehmen würden. Meist demonstrieren die Frauen hier eine Machtposition, indem sie sich auf nationale Hoheitszeichen wie die US-amerikanische Flagge beziehen, indem sie sich von den anderen am Kopfende des Tisches absondern oder als Einzige den Zugriff auf den Schreibtisch oder den Blick für Neuankömmlinge besitzen. Einige Tische bzw. Tischordnungen bieten hier mehr Möglichkeiten für exponiertes Sitzen und machtvolle Präsenz als andere. Fraglich ist allerdings, ob der runde Konferenztisch und die freie Platzwahl tatsächlich flache Hierarchien, Teamgeist und Gleichberechtigung markieren oder nur behaupten und im Widerspruch stehen zu dem tatsächlichen Machtgefüge und der existierenden Unternehmenskultur. Untersuchungen jedenfalls haben ergeben, dass weibliche Manager einen demokratischeren und partizipatorischeren Führungsstil pflegen als ihre männlichen Kollegen. 49 Dieser kann, muss sich aber nicht zwangsläufig in der Raumgestaltung, der Tischform oder der Sitzordnung niederschlagen. Für die Fotografie des privaten Esstischs wurden die Frauen gebeten, diesen „mit dem schönsten Tischschmuck zu dekorieren und ihren ganz persönlichen Geschmack zur Geltung zu bringen“50. Meist besteht die Dekoration aus Tischtüchern, frischen Blumengestecken und speziellen Gedecken (vgl. Abb. 43). Der private Raum wird so als Ausdruck der Identität seiner Bewohnerin und gleichsam als traditioneller Machtbereich der Frau in Bild und Text ausgewiesen bzw. geradezu überdeterminiert. Zwar sind es vielfach Haushälterinnen, die die Tische eindecken, doch stets nach genauen Anweisungen durch die ‚Frau des Hauses‘. Auch lassen die Erläuterungen der Geschäftsfrauen zu der Einrichtung, den Tischen oder der Wahl des Schmucks keinen Zweifel daran aufkommen, dass sie es sind, die die Gestaltung dieser

49 Vgl. ebd. 50 Hassink, Jacqueline: „Machtzentren. Power Stations“. In: European Photography, 64/65, 1998/1999, S. 46-47: 46.

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Räume verantworten. 51 Vielfach werden hier besondere Möbel, Kunstwerke oder Vitrinenobjekte präsentiert (vgl. Abb. 41, 42). Es ist davon auszugehen, dass die wohlhabenden Frauen sich vor allem nach den eigenen Wünschen einrichten können und nicht primär auf die finanziellen Mittel oder auf rein funktionale Aspekte der Einrichtung achten müssen. Die vor allem klassisch und elegant gestalteten Räume von überschaubarer Größe vermitteln zwar nicht den Eindruck von exorbitantem Luxus, sie stehen aber dennoch fast alle für einen hohen Lebensstandard, erlesenen Geschmack und die Weltgewandtheit ihrer Bewohnerinnen und Bewohner. Abbildung 43 (O.i.F.). Jacqueline Hassink: Meeting table of the executive vice president and general manager of the Kraft Foods Cheese Divsion; October 3, 1997; 1:00 PM; Glenville, Illinois / Dining table at Ms Holden’s home; October 3, 1997; 3:00 PM; Chicago area, Illinois (aus der Serie FEMALE P OWER STATIONS: QUEEN BEES (1996-2000))

Betont wird die repräsentative Funktion dieser ‚guten Stuben‘ in der Bildpaarung mit den besonders prachtvollen Konferenzräumen (vgl. Abb. 43). An den akkurat gedeckten Esstischen nehmen nicht nur Familienmitglieder, sondern vor allem auch gute Freunde oder besondere Gäste Platz. 52 Über die Gegenüberstellung der Bilder wird suggeriert,

51 So notiert Hassink beispielsweise, dass Francine Newman spezielles spanisches Geschirr gedeckt hat, Marie-Claude Peyrache das Arrangieren von Blumen während ihres Einsatzes in Japan gelernt hat und der Tisch bei Betsy deHaas Holden nach deren präzisen Anweisungen vom Kindermädchen dekoriert wurde (vgl. Jacqueline Hassink 1999, o.S.). 52 Vgl. Hassink 1998/1999, S. 47.

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dass die Schnittstelle zwischen Privatsphäre und Außenwelt vor allem der Aufnahme, Pflege oder Vertiefung geschäftlicher Beziehungen dient. In diesem Sinne werden die professionellen Repräsentationsbedürfnisse, die durch viele der dargestellten Konferenzräume befriedigt werden, in den privaten Vorzeigeraum ausgedehnt. Das Private erscheint auf diese Weise zu geschäftlichen Zwecken funktionalisiert. In der traditionellen, bürgerlichen Vorstellung von Geschlechterrollen in den drei hier vertretenen Kulturkreisen wird das Esszimmer als halböffentliche Zone im Privaten vom männlichen Hausvorstand beherrscht, während die Frau vornehmlich die Ausrichtung seines Auftritts verantwortet. In den dargestellten Konstellationen fällt es schwer, sich die erfolgreichen Geschäftsfrauen als dienende Hausfrauen vorzustellen. Zu fragen ist, welche geschlechtsspezifischen Machtverhältnisse den Raum und das Verhalten in ihm strukturieren. Welche Funktion besitzen die Räume für wen? Welche Rolle nehmen die Männer der Geschäftsfrauen bei offiziellen Essen ein, welche die Frauen? Wer sitzt wo? Wie sind die „sorgenden, nährenden und hütenden Tätigkeiten“53 im häuslichen Bereich zwischen den Geschlechtern gerade auch in Hinblick auf die Kinder verteilt? Offensichtlich scheint, dass sich die Frauen trotz aller Erfolge bei der Besetzung von Führungspositionen in männlichen Machtbereichen nicht von der traditionellen Aufgabe emanzipiert haben, die Gestaltung des privaten Raums zu verantworten. Möglicherweise würden diese Frauen den Befund von Pauline Boudry, Brigitta Kuster und Renate Lorenz bestätigen, dass die zunehmende Präsenz von Frauen in Führungsetagen von Wirtschaft, Politik und Wissenschaft die traditionellen Geschlechterrollen nicht erschüttern konnte.54 Die Begleittexte zu den Fotografien verweisen weniger auf einen fairen Lastenausgleich zwischen den Geschlechtern als vielmehr auf eine Doppelbelastung der Frauen, die sich sowohl um ihre Karriere als auch um ihre private Inneneinrichtung und darüber hinaus möglicherweise auch um den gesamten Haushalt und die Familie kümmern müssen.

53 Söntgen 1998, S. 203. 54 Vgl. Boudry, Pauline / Kuster, Brigitta / Lorenz, Renate (Hg.): Reproduktionskonten fälschen. Heterosexualität, Arbeit & Zuhause. Berlin: bbooks 2004. Zitiert nach Becker, Jochen: „Jacqueline Hassink. „Queen Bees“ – Weibliche Machtzentren“. In: Kunstforum International, Bd. 156/2001, S. 450-451: 450.

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Thema von Hassinks komplexer Fototextarbeit sind die Wechselwirkungen zwischen Macht, Geschlecht und Raum sowie zwischen privatem Leben und Arbeitswelt. Die Bilder der Konferenzzimmer verdeutlichen, dass die Raumstrukturen nicht nur die kollektive Identität eines Unternehmens repräsentieren, sondern auch Machtstrukturen in der Firma konstruieren. Im Vordergrund steht dabei die Frage nach der spezifischen Position der Frau. Über die Paarung mit Fotografien von repräsentativ ausgerichteten Privaträumen indiziert die Künstlerin den Widerspruch zwischen der zunehmenden Gleichberechtigung von Frauen in ökonomischen Führungseliten und deren traditioneller Rolle im Privaten, nach der sie alleinig für die Ausgestaltung der Privaträume verantwortlich sind. Ausschlaggebend für diese Lesart sind nicht nur die Selbstaussagen der Geschäftsfrauen, sondern auch die geschlechtsspezifischen Konnotationen der dargestellten Räume, die auf tradierten Vorstellungen und historischen Vorbildern basieren. Gerade die Bilder der ‚guten Stube‘ verweisen auf die identitätsstiftende Bedeutung von Räumen. Sie zeigen zudem, dass dieser halböffentliche Raum auch geschäftlichen Zwecken dient. Andersherum werden am Arbeitsplatz auf unterschiedliche Weise Bezüge zum Privaten hergestellt und genutzt. Angedeutet werden hierbei auch die individuellen wie kulturellen Unterschiede in der Bewertung der privaten Sphäre. So stehen einige Bildpaare für die Durchdringung von Privatem und Geschäftlichem, während andere eine klare Trennung dieser Sphären zu erkennen geben, die sich u.a. auch in der Verweigerung einer fotografischen Darstellung äußert. Hassink führt in ihrer Serie vor, dass eine dogmatische Dichotomie von Lebensräumen in geschäftlich und privat sowie männlich und weiblich in dem von ihr betrachteten Bereich kaum auszumachen ist; sie offenbart aber auch, dass traditionelle Einstellungen zu Differenzierungen und Hierarchisierungen zwischen den Geschlechtern nach wie vor ihren Niederschlag in entsprechend strukturierten Praktiken und Räumen finden. Zweifel an einer zügigen Durchsetzung von gleichberechtigter Teilhabe an Herrschaft im Geschäftlichen und Verantwortung im Privaten säht die Serie allemal, nicht zuletzt auch vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Machtposition dieser von Männern dominierten Elite.

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5.3

G ESCHLECHTSSPEZIFISCHE H IERARCHISIERUNGEN

Viele fotografische Interieurs in der Gegenwartskunst problematisieren geschlechtsspezifische Strukturen privater Räume, familiärer Beziehungen und kultureller Vorstellungen vom häuslichen Leben. Indem die Fotografien Wohnungseinrichtungen oder Posen von Bewohnern zeigen, in denen nach wie vor traditionelle Rollenbilder aufscheinen, ermöglichen sie die kritische Reflexion eines hierarchisch geprägten sozialen und kulturellen Gefüges. Sarah Jones’ Fotografien beispielsweise zeigen in der ‚guten Stube‘ eines englischen Mittelklasse-Haushaltes einen weiblich konnotierten Bereich, der von einem kleinen Frauenporträt, Wandtellern und einer Durchreiche markiert wird; ein großes Männerporträt, Jagdstücke und ein repräsentativer Kamin bezeichnen dagegen die männliche Sphäre. 55 Diesen räumlich manifesten Rollenerwartungen begegnen die von Jones fotografierten Mädchen mit Posen, die zwischen Anpassung und Abgrenzung changieren. Auf die traditionelle Bindung sorgender Tätigkeiten an die (Haus-)Frau und repräsentativer Aufgaben an den männlichen Familienvorstand verweisen auch einige familiäre Formationen in den Gruppenbildern von Thomas Struth.56 Im Kontext der Serie werden Unterschiede in der (familiären) Stellung der Frau in verschiedenen Familien und Kulturen sichtbar. Über die Konfrontation von Konferenz- mit Esszimmertischen suggeriert Jacqueline Hassink in ihrer Fototextarbeit, dass erfolgreiche Geschäftsfrauen im beruflichen Alltag emanzipiert sind, im privaten Alltag aber traditionelle Geschlechterrollen reproduzieren.57 Daniela Rossell überhöht in ihren Bildern die formelhafte Selbstinszenierung junger Mexikanerinnen als luxuriöse Objekte männlicher Begierde und damit als Teil der prunkvollen Dekoration.58 Während sie Privatpersonen vorführt, die medial vermittelte Bilder von Weiblichkeit imitieren, zeigt Larry Sultan professionelle Darstellerinnen, die über ihre Besetzung in pornografischen Filmen sexistische Figuren und Handlungen (re-)produzieren.59 Das

55 Vgl. Kap. 2.3. 56 Vgl. Kap. 3.1. 57 Vgl. Kap. 5.2. 58 Vgl. Kap. 2.3. 59 Vgl. Kap. 7.2.

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private Heim erscheint in Sultans Bildern als Ort doppelter Illusion, denn weder die männliche Phantasie sexuell höriger Frauen noch das Ideal familiärer Eintracht und häuslichen Glücks ist hier real. Die Interieurs konstatieren aber nicht nur die Existenz und Persistenz geschlechtsspezifischer Machtstrukturen, sondern thematisieren auch die Auflösung traditioneller Rollen im Privaten. So legt die Fototextarbeit von Hassink zwar nahe, dass die Geschäftsfrauen die Ausgestaltung ihrer privaten Räume verantworten, zugleich nährt sie aber die Vorstellung von Top-Managerinnen, die (auch) im repräsentativen Esszimmer geschäftliche Beziehungen pflegen. Ausbrüche aus der ehelichen, familiären oder häuslichen Ordnung markieren Frauen, die Gregory Crewdson im suburbanen Wohnidyll inszeniert hat. Entweder erscheinen sie dem privaten Alltag melancholisch entrückt,60 oder sie konterkarieren die Idee der hütenden (Haus-)Frau z.B. über eine raumgreifende Pflanzaktion.61 Den spielerischen Entwurf von Identitäten fernab vom zweigeschlechtlichen und heterosexuellen Modell bürgerlicher Tradition hat Nan Goldin in diversen Subkulturen vorgefunden, gelebt und dokumentiert. 62 Zudem steht ihre Fotografie für eine Abkehr von der tradierten Konstellation des männlichen Blicks auf die weibliche Muse, da sie als Frau beide (biologischen) Geschlechter als begehrenswert zeigt.63 Wie bereits in den 1970er Jahren bezieht sich das fotografische Interieur auch in der Gegenwartskunst auf privates Leben und Wohnen als besonders prägnanten Ausdruck einer immer noch bestehenden geschlechtsspezifischen Hierarchie in der Gesellschaft. Zudem wird nach wie vor die Bedeutung filmischer, medialer oder kunsthistorischer Vorbilder für die kulturelle Vorstellung von Weiblichkeit thematisiert; verschoben hat sich allerdings die Perspektive der Betrachtung. Während die älteren Werke auf der Ebene eben dieser Bildwelten argumentierten, beziehen sich viele aktuelle Arbeiten auf konkrete Lebenswirklichkeiten und indizieren hier die alltägliche Relevanz von (familiären) Traditionen, Medienimages und Filmen für die Konzeption von Geschlecht. Dieser Unterschied verweist auf einen Wandel im gesellschaftlichen Selbstverständnis, nach dem das Subjekt mehr als je zuvor

60 Vgl. Kap. 1.2. 61 Vgl. Kap. 7.4. 62 Vgl. Kap. 6.2. 63 Vgl. Kap. 7.2.

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in der Lage ist, den Entwurf des eigenen Selbst und des eigenen Lebens zu beeinflussen. Daher sind in den Interieurs nicht mehr Künstlerinnen zu sehen, die über Selbstinszenierungen die Wirkmacht von Weiblichkeitsklischees vorführen, sondern vor allem Privatpersonen im lustvollen, ironischen oder kritischen Rekurs auf bestehende Rollenangebote. Das kritische Potenzial der fotografischen Interieurs in der Gegenwartskunst liegt also weniger in der Aufklärung über geschlechtsspezifische Machtstrukturen, sondern vielmehr in der Darstellung von Visionen und Praktiken, die für spielerische Adaptionen, kritische Infragestellungen sowie pragmatische Erweiterungen bestehender Vorstellungen von Geschlecht stehen.

6

Die Räume der ‚Anderen‘

Das ‚Andere‘, das über die Differenz zum Eigenen, d.h. zur Erfahrungswelt der Fotografen und ihres Zielpublikums, konstituiert wird, zählt zu den etablierten Themen des fotografischen Interieurs. Der private Raum diente und dient insbesondere im Rahmen dokumentarischer Projekte als anschaulicher Bezugspunkt, um Lebensverhältnisse zu zeigen, die vom Milieu der bürgerlichen Mehrheit abweichen. Neben den repräsentativen Räumen der gesellschaftlichen Elite1 interessiert dabei vor allem das Leben von Unterprivilegierten am Rande der Gesellschaft.2 „Die Fotografie ließ sich stets von den Höhen und Tiefen des sozialen Spektrums faszinieren“3, konstatiert Susan Sontag und präzisiert, dass vornehmlich soziales Elend „die im Wohlstand Lebenden stets unwiderstehlich zum Fotografieren angeregt“4 hat. Während eine Fotografie von Herrschaftsräumen dazu tendiert, die ihnen eingeschriebene Machtposition ihrer Bewohner vorzuführen und diese damit zu bestätigen, stellt sich eine Fotografie von sozial prekären Verhältnissen meist in den Dienst der Aufklärung, Anklage und Reform. Dass diese Art sozialdokumentarischer Fotografie nicht selten das Gegenteil vom ursprünglich Beabsichtigten bewirkt, wurde aus medienkritischer Perspektive seit den 1970er Jahren verschiedentlich heraus-

1

Vgl. auch Kap. 2.3, Kap. 4 und Kap. 5.2.

2

Vgl. auch Kap. 7.3.

3

Sontag, Susan: Über Fotografie. Frankfurt a.M.: Fischer 1999 (11. Aufl.; Originalausgabe On Photography. New York (NY): Farrar, Straus & Giroux 1977), S. 57 .

4

Ebd.

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gearbeitet.5 Demnach werden gesellschaftliche Strukturen und kulturelle Stereotype eher reproduziert und verstärkt, als dass sie grundsätzlich infrage gestellt werden, wenn der Fotograf das ikonische Individuelle eines Missstandes statt der nicht-visuellen Ursachen betont oder die dargestellten Menschen auf einen Opferstatus reduziert und diese allein dem Voyeurismus der Betrachter aussetzt. Gegen eine hegemoniale Bemächtigung des Lebens gesellschaftlicher Außenseiter haben Fotografen immer wieder auch alternative ästhetische und politische Programme formuliert. Dazu zählen die Selbstrepräsentationen sozialer Minderheiten, wie sie seit den 1970er Jahren vermehrt und in den 1990ern vielfach artikuliert und wahrgenommen wurden. Viele dieser Projekte bemühen sich nicht um kritische Exploration, objektive Dokumentation oder fotografische Berichterstattung, sondern stehen für affirmative Darstellungen von ausgegrenzten Subkulturen und für komplexe künstlerische Reflexionen. Auf den privaten Raum als geschützten bzw. bedrohten Ort alternativen Lebens, der zudem als wesentliches Bildelement in eigensinnige Kompositionen eingebunden ist, haben sich insbesondere Nan Goldin in ihrer Fotografie von Drag Queens in Boston und New York sowie Tom Hunter in seinen verweisintensiven Inszenierungen von Hausbesetzern in London bezogen. Vor der Analyse dieser privaten, aus einer Innensicht thematisierten Räume der ‚Anderen‘ werden in diesem Kapitel drei stilbildende historische Positionen exemplarisch angeführt, um die angedeutete Problematik des hegemonialen Blicks auf das (private) Leben der ‚Anderen‘ zu veranschaulichen, der Goldin und Hunter mit ihren Serien begegnen und explizit zu entgehen versuchen.

6.1

V EREINNAHMUNG

DES

‚A NDEREN ‘

Als eines der ersten Fotoprojekte, das Marginalisierte im privaten Umfeld thematisiert, kann die Arbeit von Jacob August Riis (1849-1914)

5

Vgl. z.B. Rosler 1999 (1981), S. 104-148 oder Solomon-Godeau, Abigail: „Wer spricht so? Einige Fragen zur Dokumentarfotografie (1986)“. In: Wolf 2003, S. 53-74.

DIE RÄUME DER ‚ ANDEREN‘ | 159

an seinem Buch How the other half lives6 gelten. Im Zentrum dieser Publikation und vieler seiner folgenden Zeitschriftenartikel und DiaVorträge stehen die schlechten Wohn- und Arbeitsbedingungen, mit denen sich die Mehrheit der Einwohner New Yorks am Ende des 19. Jahrhunderts arrangieren musste. Riis’ fotografische Praxis steht am Anfang einer sozialdokumentarischen Fotografie,7 die im Rahmen eines umfangreichen, über das Einzelbild hinausreichenden Projekts einer Öffentlichkeit soziale Missstände vermitteln und für deren Bekämpfung werben soll. 8 Abbildung 44. Jacob A. Riis: Lodgers in a crowded Bayard Street tenement – „Five cents a spot“, ca. 1889

Der 1870 in die USA immigrierte Däne Riis kannte die prekären Verhältnisse, die vor allem die vielen neuen Immigranten an der Lower

6

Riis, Jacob A.: How the other half lives. Studies among the tenements of New York. New York: Charles Scribner's Sons 1890.

7

Vgl. z.B. Brauchitsch, Boris: Kleine Geschichte der Fotografie. Stuttgart:

8

Die reformistische Absicht, die „Adressierung einer Öffentlichkeit“ sowie

Reclam 2002, S. 65. die „Idee eines Projekts“ (Solomon-Godeau 2003 (1986), S. 61) kennzeichnen nach Abigail Solomon-Godeau die ‚üblichen‘ Definitionen von sozialdokumentarischer Fotografie, die in der Nachfolge Riis’ betrieben wurde und wird.

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East Side betrafen, aus eigener Erfahrung, denn er hatte in diesem Viertel selbst drei Jahre ohne Arbeit und Obdach gelebt. In dicht aneinander gebauten Mietskasernen hausten die Menschen auf engstem Raum. Vor allem die dunklen Hinterhäuser ohne sanitäre Einrichtungen seien als menschlicher Wohnraum eigentlich ungeeignet gewesen, hat Charles A. Madison notiert. 9 Neben Arbeits- und Obdachlosigkeit zählten Kinderarbeit, Prostitution, Gewalt und Kriminalität zu den größten Problemen im Stadtteil. Als Polizeireporter und Journalist für die New Yorker Tagespresse hatte Riis diese desolaten Zustände beschrieben und Verbesserung eingefordert. In der Erfindung des Blitzlichts 1887 erkannte er als einer der ersten die Möglichkeit, auch visuell „in die finsteren Winkel“ vorzudringen und vom Leben in den „völlig heruntergekommenen Mietskasernen“10 zu berichten. Nach drei Jahren Vorarbeit legte er mit How the other half lives. Studies among the tenements of New York ein Buch vor, das neben seinen anklagenden Texten 11 auch offizielle Statistiken, Grundrisszeichnungen und Fotografien umfasste. Die fotografischen Abbildungen zeigen belebte Straßenzüge, inszenierte Gruppen in düsteren Hinterhöfen sowie einzelne Männer, Frauen und Kinder, die auf der Straße, aber auch in engen Mietswohnungen, einfachen Kellerkneipen und schäbigen Nachtasylen für die Kamera posieren sowie arbeitend und schlafend dargestellt werden (vgl. Abb. 44). Bei den sowohl in Auftrag gegebenen als auch von Riis selbst angefertigten Bildern handelt es sich nach Thilo Koenig vielfach um „spontane, kaum noch nach konzeptionellen oder bildkompositorischen Kriterien

9

Vgl. Madison, Charles A.: „Preface to the Dover Edition (1970)“. In: Jacob A. Riis. How the other half lives. Studies among the tenements of New York. New York (NY): Dover 1971, S. v-viii: vi.

10 Riis, Jacob August: The Making of an American. New York: Harper & Row 1966 (Originalausgabe New York: Macmillan 1901), S. 267. Zitiert nach Rosler 1999 (1981), S. 106 . 11 Bonnie Yochelson und Daniel Czitrom haben herausgearbeitet, dass sich Riis in den Texten bemüht, die Neugierde, den Humor und die Religiosität der Leser anzusprechen sowie Gefühle von Furcht und Schuld zu evozieren, um die Leser für sein Anliegen einzunehmen (vgl. Yochelson, Bonnie / Czitrom, Daniel: Rediscovering Jacob Riis. Exposure Journalism and Photography in Turn-of-the-century New York. New York (NY) / u.a.: New Press 2007, S. xv).

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aufgenommene Fotos von großer Direktheit“, die „die Welt der Armen [...] in zuvor kaum gekannter Unmittelbarkeit“ 12 schildern. Riis hat zwar für eine Verbesserung der Verhältnisse gestritten, aber nicht auf die Verantwortung der Gesellschaft für Armut, Ausbeutung und Marginalisierung hingewiesen, kritisiert Martha Rosler. Zudem appelliere er in seinem Buch „nicht nur an das Mitgefühl für die Armen, sondern ebenso an die Furcht, die mit der Armut einhergehenden Verheerungen – Verbrechen, Unmoral, Prostitution, Krankheiten, Radikalismus – könnten das Wohl und die Sicherheit der zivilisierten Gesellschaft bedrohen“. 13 Es sei also letztlich im Eigeninteresse des privilegierten Publikums, das „gefährliche Brodeln in den unterprivilegierten Klassen“14 durch Wohltätigkeit abzustellen, um so die bestehende Ordnung zu stabilisieren. Zugespitzt lässt sich konstatieren, dass Riis im Zusammenspiel von Bild und Text die ‚andere Hälfte der Gesellschaft‘ in einer passiven Opferrolle fixiert; die Bewohner der Lower East Side erscheinen als Gefangene ärmlicher Verhältnisse, denen sie sich bewusstlos und abgestumpft ergeben haben. 15 Insbesondere die Interieurs behaupten anschaulich, dass sich die Menschen in diesen Verhältnissen mental wie räumlich eingerichtet haben. Die Bilder binden die Bewohner an das prekäre Umfeld; Subjekt und Raum werden als Einheit vorgeführt, die durch die Fotografie sichtbar gemacht, aber nicht infrage gestellt wird. Es werden weder Hoffnungen und Erwartungen der Betroffenen thematisiert noch individuelle Aussichten auf den sozialen Aufstieg, wie er Riis geglückt ist. Auch eine Kritik an den strukturellen Ursachen für die problematischen Wohn-, Lebens- und Arbeitsbedingungen und die Ausgrenzung der Einwanderer bleibt größtenteils aus. Obwohl Riis selbst mittelloser Immigrant gewesen war, bezieht er nicht ihre Position, sondern festigt mit seiner BildText-Arbeit die Vorstellung von der sozialen und kulturellen Differenz

12 Koenig, Thilo: „Die andere Seite der Gesellschaft. Die Erforschung des Sozialen“. In: Frizot, Michel (Hg.): Neue Geschichte der Fotografie. Köln: Könemann 1998 (Originalausgabe Nouvelle histoire de la photographie. Paris: Bordas S.A. 1994), S. 346-357: 355. 13 Rosler 1999 (1981), S. 108. 14 Ebd. 15 Vgl. Stein, Sally: „Making connections with the camera. Photography and social mobility in the carrier of Jacob Riis“. In: Afterimage Nr. 10/1983, S. 9-16. Zitiert nach Solomon-Godeau 2003 (1986), S. 63.

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zwischen den Slumbewohnern und den Bessergestellten, zu denen er sich – nicht zuletzt auf diese Weise – bekennt. Auch Walker Evans’ (1903-1975) Fotoserie, die fünfzig Jahre nach How the other half lives in dem Buch Let us now praise famous men 16 veröffentlicht wurde und sich auf verarmte Pächterfamilien und ihre ärmlichen Behausungen im Süden der USA in den 1930er Jahren bezieht, zeigt soziales Elend aus privilegierter Perspektive. Statt die Notleidenden in der Tradition Riis’ als die ‚Anderen‘ zu zeigen, verbindet Evans in seinen Bildern die Personen und deren Wohnräume mit bürgerlichen Werten wie Ordnung, Reinlichkeit und Souveränität. 17 Die Publikation ging aus einer Kooperation mit dem Schriftsteller James Agee über das ausbeuterische Pachtwesen in den Südstaaten hervor, die das Magazin Fortune in Auftrag gegeben hatte. Statt im Magazin wurde die Reportage fünf Jahre nach Beginn der Arbeit als erweiterte Buchfassung veröffentlicht. Diese umfasst in einem ersten Teil 31 unkommentierte Fotografien von Evans18 und in einem zweiten Teil den Text von Agee, den Gero von Wilpert als eine „Mischung von

16 Agee, James / Evans, Walker: Let us now praise famous men. Three tenant families. Boston: Houghton Mifflin Company 1941. 17 Michael Leicht hat gezeigt, dass Evans eine der drei Familien, die im Buch vertreten sind, nicht in der gleichen Weise ästhetisch und moralisch ‚adelt‘, sondern als das ‚unzivilisierte Andere‘ ins Bild gesetzt hat (Leicht, Michael: Wie Katie Tingle sich weigerte, ordentlich zu posieren und Walker Evans darüber nicht grollte. Eine kritische Betrachtung sozialdokumentarischer Fotografie. Bielefeld: transcript 2006, S. 104ff). 18 Den Abbildungen in dem Buch wurden keine Titel zugeordnet; im Folgenden werden die Titel verwendet, die John T. Hill in seiner kenntnisreichen Publikation ausweist (Hill, John T. (2006a): Walker Evans. Lyric Documentary. Selections from Evans' Work for the U.S. Resettlement Administration and the Farm Security Administration 1935-1937. Göttingen: Steidl 2006). Im Übrigen beziehen sich die folgenden Ausführungen auf die erste Veröffentlichung von Let us now praise famous men aus dem Jahre 1941. Die nur noch von Evans verantwortete Neuauflage von 1960 umfasst die doppelte Anzahl an Bildern, aber einige Motive nicht mehr und manche in veränderten Ausschnitten (vgl. Trachtenberg, Alan: „Let us now praise famous men“. In: Hill 2006a, S. 222-233).

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Reportage, Autobiographie und lyrischer Meditation“19 charakterisiert hat. Bild und Text beziehen sich vor allem auf drei weiße Pächterfamilien, die in äußerst ärmlichen Verhältnissen lebten. Im Auftrag der Farm Security Administration hatte Evans bereits in den Südstaaten fotografiert, um die Notwendigkeit und den erhofften Erfolg staatlicher Maßnahmen, die zur Überwindung der ‚Großen Depression‘ angestrengt wurden, zu dokumentieren. Den Kern der Fotoserie bilden die nach Familien geordneten Einzelporträts der Eltern und Kinder, Gruppenbilder der Familien sowie Interieurs, die in ihren Wohnhäusern entstanden sind. Anders als bei Riis dominiert im Großteil der Fotografien der Mensch und nicht sein Wohn- oder Arbeitsumfeld; Evans’ Aufmerksamkeit gilt der Individualität der Farmer und weniger dem spezifischen sozialen Kontext. Die meisten Personen werden in Frontalansichten direkt vor einem klar strukturierten Hintergrund gezeigt. Im Zusammenspiel mit den ernsten aber entschlossenen Gesichtsausdrücken erscheinen die Farmer zwar distanziert, aber auch souverän, kooperativ und selbstbewusst. Das hier vermittelte Menschenbild bekräftigt nach Leicht „Selbstverantwortung“ und „streicht das individuelle Schicksal der Abgebildeten gegenüber den politischen Verhältnissen heraus“20. Die Bretterwände im Hintergrund der meisten Porträts verbinden die Dargestellten mit dem Haus und die Einzelpersonen untereinander. Auf diese Weise wird das Haus zu einem Ort, der familiäre Gemeinschaft stiftet. Die Abfolge der Bilder sowie das Arrangement der Gruppenporträts reproduziert die traditionelle Hierarchie zwischen den Geschlechtern und zwischen Erwachsenen und Kindern. Ästhetisch wie moralisch ‚geordnete Verhältnisse‘ werden auch in den streng komponierten Interieurs vorgeführt. Dass diese und andere Räume von Evans verändert wurden, um sie seinen Vorstellungen von Ordnung anzupassen, hat James Curtis aufgezeigt.21 Insbesondere im Abgleich mit den akribischen Raumbeschreibungen durch Agee wird deutlich, dass Betten und Stühle verrückt, Gegenstände entfernt oder hinzugefügt und Raumeindrücke mit fotografischen Mitteln in ihr Ge-

19 Wilpert, Gero von (Hg.): Lexikon der Weltliteratur. Bd. 1. Stuttgart: Kröner 1975 (2., erw. Aufl.; 1. Aufl. 1963), S. 17. 20 Leicht 2006, S. 123. 21 Vgl. Curtis, James: Mind’s Eye, Mind’s Truth. FSA Photography Reconsidering. Philadelphia (PA): Temple Univ. Press 1989, S. 21-44.

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genteil übersetzt wurden. Während Agee eine Küche als klein, heiß und schmutzig ausweist, erscheint derselbe Raum in Evans’ Fotografie kühl, geräumig und ordentlich (vgl. Abb. 45). Diese Transformation gelang Evans, indem er für die Aufnahme alle Dinge bis auf eine Öllampe vom Küchentisch entfernte, einen großen Krug im Bildhintergrund auf das Küchenbuffet stellte und so einen Glanzpunkt auf der zentralen Bildachse setzte, sowie die Bildstandarte seiner Großbildkamera verschob, um sowohl die Waschschüssel an der Außenwand als auch große Teile des nun eher luftig wirkenden Innenraums zeigen zu können. Dass auch bereits dokumentierte Zustände verändert wurden, verdeutlicht die Fotografie eines Bettlakens mit Flecken und Fliegen, die zwar im Negativ erfasst sind, in der Buchveröffentlichung aber fehlen;22 erst in späteren Versionen des Bildes wird der Schmutz wieder ausgewiesen.23 Abbildung 45. Walker Evans: Farmer's kitchen. Hale County, Alabama, 1936

22 Über diese Manipulation existieren widersprüchliche Angaben. James Curtis behauptet, Evans habe über die Verstärkung der Hell-Dunkel-Kontraste in der Dunkelkammer das Ungeziefer getilgt, während John T. Hill auf den Setzer verweist, der die Fliegen in der Druckvorlage entfernt habe, angeblich sehr zum Missfallen Evans’ (vgl. Curtis 1989, S. 38 und Hill, John T. (2006b): „The Exhibition, the Book, and the Printed Page“. In: Hill 2006a, S. 33). 23 Vgl. Walker Evans: Bed, Tenant farmhouse. Hale County, Alabama, 1936. In: Hill 2006a, S. 181.

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Von der Ordnung, Reinheit und Klarheit, die insbesondere die Interieurs formal wie inhaltlich vermitteln, schließt Curtis, wie andere Autoren vor und nach ihm, auf die Würde der Pächter, die sie sich trotz großer Armut bewahrt hätten. 24 Implizit wird damit behauptet, dass Armut mit Unordnung und Dreck verbunden sei, und dass es in diesen Verhältnissen eigentlich kein würdevolles Leben geben könne. In diesem Sinne sei Evans’ Fotografie als humane Geste zu werten, da er sich mittels Bildsprache und Manipulationen um ein positives Image der Pächter bemüht habe. Diese Rezeption projiziert die eigenen Vorstellungen vom ‚richtigen‘ Leben auf das Leben der ‚Anderen‘; sie verlagert „den sozialdokumentarischen Impuls eines Aufzeigens der desolaten Verhältnisse und deren Ursachen hin zu einer Demonstration der Existenz ‚ewiger‘ bürgerlicher Wertvorstellungen auch bei den Unterprivilegierten“25, schlussfolgert Leicht. Diane Arbus’ (1923-1971) Fotografien von gesellschaftlichen Außenseitern zeigen Marginalisierte weder als passive Opfer prekärer Verhältnisse noch primär als Projektionsfläche für eigene Wertvorstellungen, sondern vermitteln die Faszination für körperliche oder soziale Besonderheiten. Arbus stellt in ihren unsentimentalen Porträts Eigentümlichkeiten bei Menschen heraus, die sich für ‚normal‘ halten, so dass „uns alle ihre Fotografien in einen Vortex hineinziehen, in dem Fremdes vertraut und Vertrautes fremd wird“26, wie Elisabeth Bronfen formuliert hat. Im Gegensatz zu einer (vorgängigen) sozialdokumentarischen Fotografie, die gesellschaftliche Missstände aufdecken will, zielen Arbus’ Fotografien auf persönliche Realitäten. In ihrer Fokussierung auf Spannungen, Ambivalenzen und Widersprüche sind viele

24 „By enobling the tenants, by focusing on their strength and not their frailties, their dignity and not their defects, he tried to show how they created a world of order in the midst of poverty. Evans was not fabricating or lying, he was simply uncovering the potential he believed the sharecroppers possesed. The public could see that potential very clearly, for they, too, believed that a life of order and simplicity was necessary to endure in the face of hard times.“ (Curtis 1989, S. 44). 25 Leicht 2006, S. 147. 26 Bronfen, Elisabeth: „Wunden der Verwunderung“. In: Goetz, Ingvild / Meyer-Stoll, Christiane (Hg.): Nobuyoshi Araki – Diane Arbus – Nan Goldin (anlässlich der gleichnamigen Ausstellung, Sammlung Goetz, München, 24.03.-26.09.1997). München: Sammlung Goetz 1997, S. 7-29: 10.

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ihrer Bilder gleichsam Ausdruck tiefer gesellschaftlicher Verunsicherung in den 1960er Jahren. 27 Arbus’ besonderes Interesse galt Menschen, die am Rande der Gesellschaft stehen und in der zeitgenössischen öffentlichen Wahrnehmung (noch) keine Rolle spielten, wie beispielsweise Erotiktänzerinnen und Zirkusleute aufgrund ihrer Arbeit, Transvestiten und Nudisten wegen ihres sozialen Verhaltens oder klein- und großwüchsige sowie geistig behinderte Menschen aufgrund ihrer körperlichen Disposition. Der private Raum hat in den Fotografien dieser „von der Norm abweichende[n] Individuen“28 eine entscheidende Funktion. Indem sie die Personen, denen sie (zunächst) als Fremde begegnet ist, in ihrem privaten Umfeld zeigt, stellt Arbus eine vertrauliche Nähe zu den Porträtierten her. Fotografin und Betrachter gehen davon aus, dass gerade die ‚abnormen‘ Menschen im eigenen, geschützten Raum mehr von sich mitteilen als im öffentlichen Leben, in dem sie unsichtbar bleiben oder als ‚Freaks‘ erscheinen. Zudem verbindet die Fotografin die Außenseiter über die Interieurs mit Institutionen wie Familie oder Heim, die im bürgerlichen Zentrum der Gesellschaft hoch angesehen sind. „It is as if she’s trying to normalize her odd subjects by giving these mundane references or locations“29, bemerkt John Pultz. Offensichtlich ist allerdings, dass Arbus weniger am kohärenten Selbstbild der Personen interessiert ist, als vielmehr an der „Kluft zwischen Absicht und Wir-

27 Anlässlich der richtungweisenden Ausstellung „New Documents“ (1967), die neben Arbus mit Lee Friedlander und Gary Winogrand zwei weitere zeitgenössische ‚Rebellen‘ der Dokumentarfotografie vorstellte, resümierte der Kurator John Szarkowski: „Their aim has been not to reform life, but to know it. Their work betray a sympathy – almost an affection – for the imperfection and the fragilties of society.“ (Zitiert nach Phillips, Sandra S: „The Question of Belief“. In: Diane Arbus. Revelations (anlässlich der gleichnamigen Ausstellung, San Francisco Museum of Modern Art, 25.10.2003-08.02.2004 / u.a.). München: Schirmer/Mosel 2003, S. 50-67: 37). 28 Sontag 1999 (1977), S. 38. 29 Pultz, John: „Searching for Diane Arbus’s ,Family Album‘ in her Box of Ten Photographs, Monograph, and Esquire Work“. In: ders. / Lee, Anthony W.: Diane Arbus. Family Albums (anlässlich der gleichnamigen Ausstellung, Mount Holyoke College Art Museum, 16.09.-02.11.2003) New Haven (CT) / u.a.: Yale Univ. Press / u.a. 2003, S. 1-20: 9.

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kung“30 sowie den jeweiligen körperlichen oder sozialen Eigenheiten, die sie in ihren Fotografien auch über räumliche Situationen betont. Abbildung 46. Diane Arbus: A Jewish giant at home with his parents in the Bronx, New York 1970

So verdeutlicht beispielsweise das Bild, das ein Nudistenpaar in seinem bürgerlichen Wohnzimmer in traditionell geschlechtsspezifischer Pose zeigt, die Konsequenz ihres Bekenntnisses zur Freikörperkultur und zugleich den geringen Grad der Abweichung von konventionellen Lebensentwürfen. 31 In der Fotografie eines großwüchsigen Mannes und seiner Eltern nutzt Arbus eine Raumflucht, um den distanzierten Blick der Mutter auf ihren Sohn und das Vorbeischauen des Vaters hervorzuheben (vgl. Abb. 46). Die Scham der Eltern und eine familiäre Entfremdung werden auch durch die zugezogenen Vorhänge suggeriert, die das Wohnzimmer als vor der Öffentlichkeit geschützten Raum vorführen. Für die Veröffentlichung wählte Arbus aus der Serie an Aufnahmen diese Belichtung aus und nicht eine, in denen die drei in harmonischer Eintracht zu sehen sind.32

30 Diane Arbus. Zitiert in: Arbus, Doon / Israel, Marvin (Hg.): Diane Arbus. Eine Monographie. Frankfurt a.M.: Zweitausendeins 1984 (dt. Erstausgabe; Originalausgabe Diane Arbus. An Aperture Monograph. Millerton (NY): Aperture 1972), S. 1 31 Vgl. Diane Arbus: Retired man and his wife at home in nudist camp one morning, New Jersey 1963. In: Arbus / Israel 1984 (1972), o.S. 32 Vgl. Kontaktbogen #6882. In: Diane Arbus 2003, S. 209.

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Die zahlreichen Porträts, die in Schlafzimmern entstanden sind, legen eine noch persönlichere Sicht auf die Dargestellten nahe und operieren bisweilen mit Konnotationen von intimen Begegnungen. So offenbart ein Transvestit vor einem Bett seinen männlichen Körper, indem er nackt posiert (vgl. Abb. 47). Das Gesicht ist (noch) weiblich geschminkt, der Penis ist zwischen den zusammengepressten Schenkeln versteckt und die Haltung verweist auf eine klassische VenusPose. Während diese Person in anderen, unveröffentlichten Aufnahmen in eindeutig männlich bzw. weiblich besetzten Aufmachungen gezeigt wird,33 thematisiert dieses Bild eine disparate geschlechtliche Identität. Durch den zurückgeschlagenen Vorhang vor dem Bett wird das Schlafzimmer zur Bühne und die Maskerade zum Spiel; die Ernsthaftigkeit des Porträtierten und das schäbige Umfeld verankern die Darstellung allerdings in einem realen Leben und deuten eine existenzielle Bedeutung der geschlechtlichen Ambivalenz an. Abbildung 47. Diane Arbus: A naked man being a woman, New York 1968

6.2

S ELBSTENTWURF

IM

S CHUTZ

DES

P RIVATEN

Nan Goldin hat erklärt, dass Arbus sie „durch ihre inspirierende fotografische Vision“34 und die Intensität ihrer Bilder beeinflusst habe.

33 Vgl. Kontaktbogen # 5634 Bild #3. In: Diane Arbus 2003, S. 195. 34 Goldin, Nan: „Diane Arbus“. In: Goetz / Meyer-Stoll 1997, S. 87-94: 87.

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Beider Blicke auf das ‚Andere‘ unterscheiden sich aber grundlegend voneinander. Arbus war zwar fasziniert von den Außenseitern, die sie fotografiert hat, sie wurden für sie aber nicht zu Mitgliedern einer erweiterten Familie wie für Goldin. Goldin fotografiert aus ihrem Leben heraus, Arbus’ Fotografie hingegen formierte sich in Projekten. Während Arbus die Spannungen zwischen Nähe und Distanz zu den Porträtierten sowie die Diskrepanzen zwischen deren Selbst- und Fremdbildern gesucht hat, bemüht sich Goldin um große emotionale Nähe zu ihrem Sujet und einen sympathisierenden Blick auf ihre Freunde. Unterschiede zu Arbus’ Fotografie und Kennzeichen Goldins eigener Konzeption offenbaren insbesondere ihre Fotografien von Drag Queens. So berichtet Goldin, dass man in ihrem Freundeskreis von ‚Arbus’schen Tagen‘ spräche, „wenn wir zu sehr hinter die Fassaden der anderen blicken können und das Grauen kein Ende zu kennen scheint“35. Diese Art der Demaskierung, u.a. von Transvestiten, die nach Meinung Goldins zu Arbus’ harten, glanzlosen und verletzenden Bildern geführt hätte, lehnten die mit Goldin befreundeten Drag Queens und Transsexuellen ab.36 Sie favorisierten Goldins Fotografien, die sie so zeigten, wie sie selbst gerne gesehen werden wollten: in einem lustvollen Spiel mit kulturellen Zeichen geschlechtsspezifischer Zuschreibungen. „Nie sah ich sie als Männer, die sich als Frauen verkleideten, sondern als das ganz Andere, als ein drittes Geschlecht, das mehr Sinn zu machen schien als die beiden anderen. Ich nahm sie so wie sie sich selber sahen und spürte kein Verlangen, sie mit meiner Kamera zu demaskieren.“37

Neben der geglückten Illusion und der selbstbewussten Präsentation in der Öffentlichkeit fotografierte Goldin persönliche Begegnungen und Zwischenstufen der Verwandlung im Privaten. Der private Raum umfängt allerdings nicht nur die Drag Queens, die Goldin Anfang der 1970er in Boston und Anfang der 1990er in New York aufgenommen hat und deren Bilder in dem Band Die Andere Seite 1972-199238 veröf-

35 Goldin 1997, S. 93. 36 Vgl. Goldin 1997, S. 87. 37 Goldin, Nan: „Dies ist ein Buch über Schönheit. Und die Liebe zu meinen FreundInnen“. In: Nan Goldin 1992, S. 5-7: 5. 38 Nan Goldin 1992.

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fentlicht wurden. Auch im Fotobuch The ballad of sexual dependency erscheint der private Raum durchgängig als Schutzraum für ein alternatives Leben, das sich über ein intimes, körperliches und sexuelles Miteinander in der Gemeinschaft ebenso auszeichnet wie über die Offenheit gegenüber verschiedenen geschlechtlichen Identitäten und Ausrichtungen sowie den Konsum und die Abhängigkeit von Drogen. Das, was diese „Bilder vom ‚Anderen‘“ zeigen, ist als „Gegenentwurf zur Konvention des weißen Mittelstandes der euroamerikanischen Gesellschaft“39 zu verstehen, konstatiert Barbara Lange. Die erste Fotoserie von Transvestiten entstand zwischen 1972 und 1974 in Boston, nachdem Goldin mit zwei von ihnen in eine gemeinsame Wohnung gezogen war. In einem Interview führt Goldin aus, dass Drag Queens zu dieser Zeit noch Außenseiter gewesen seien, auf die die „heterosexuelle Gemeinschaft“40 mit Entsetzten und Empörung reagiert habe. Sie hätten nicht arbeiten oder tagsüber auf die Straße gehen können, ohne belästigt zu werden. So traf man sich nachts in der Bar „The Other Side“, in der einmal in der Woche die schönste Queen gekürt wurde. Rund die Hälfte der Fotografien, die Goldin für Die Andere Seite im Kapitel „The Other Side. 1972-1974“ zusammengestellt hat, wurden in Bars und auf nächtlicher Straße aufgenommen, während auf den anderen Bildern des Kapitels Personen in privaten Räumen zu sehen sind. Goldin fotografierte, um den Drag Queens zu huldigen und um zu zeigen, wie schön sie sind. 41 Stilistisch orientierte sie sich (noch) am Glamour traditioneller Starfotografie eines Cecil Beaton oder Baron de Meyer sowie an der kühlen Erotik zeitgenössischer Modefotografie, wie sie Helmut Newton repräsentiert hat.42 Doch anders als diese Fotografen inszenierte Goldin die Modelle nicht als entrückte Idealfiguren; vielmehr zeigt sich in diesen frühen Schwarzweißfotografien bereits Goldins spezifischer Ansatz, das Alltägliche gegenüber dem Besonderen zu betonen und eine Nähe zu ihren Modellen als real existierende Personen und als Freunde herzustellen. An drei Bildern der Serie lässt sich diese Bildsprache besonders gut veranschaulichen; sie zeigen leicht bis kaum bekleidete Personen in festlicher

39 Lange 2004, S. 123. 40 Nan Goldin im Gespräch mit Norbert Jocks 2001, S. 299. 41 Vgl. Goldin 1992, S. 5. 42 Vgl. Sussmann, Elisabeth: „In / of her Time: Nan Goldin’s Photographs“. In: Nan Goldin 1996, S. 25-44: 27.

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Aufmachung, die in häuslichen Umfeldern fotografiert wurden. Die Interieurs thematisieren die geschlechtsspezifische (Selbst-)Darstellung als selbstbewusste Pose, die sich aus dem kulturellen Bildrepertoire speist und den Blick von Betrachtern antizipiert.43 Abbildung 48. Nan Goldin: Marlene at home with Venus of Milo, Boston 1974

Die Grundkonstellation von Marlene at home with Venus of Milo, Boston 1974 ähnelt der oben erwähnten Aufnahme eines Transvestiten durch Arbus (vgl. Abb. 47), denn auch hier ist ein weiblich geschminkter Mann in einem privaten Alltagsraum zu sehen (vgl. Abb. 48). Wie der nackte Mann in Arbus’ Bild scheint die Person ihr biologisches Geschlecht zu offenbaren, da sie ihren Oberkörper entblößt hat. Ansätze weiblicher Brüste und die beidhändig verdeckte Scham nähren allerdings Zweifel an der Grundannahme von einer männlichen Geschlechtsanlage; ‚Marlene‘ bewahrt das Geheimnis um ihr biologisches Geschlecht. Dass es mit einem Blick auf seine/ihre Scham gelüf-

43 Vgl. Silverman, Kaja: „Dem Blickregime begegnen“. In: Kravagna, Christian (Hg.): Privileg Blick. Kritik der visuellen Kultur. Berlin: Ed. IDArchiv 1997, S. 41-64: 49.

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tet werden könnte, deutet die demonstrative und kokette Geste des Verdeckens derselben an. Wie bei Arbus suggeriert die Situierung der Szene im Privaten auch hier den Blick hinter die Maskerade und die Offenlegung eines vermeintlich ‚wahren‘ Selbst, zumal ‚Marlene‘ auf einer Truhe sitzend keine repräsentative Haltung eingenommen hat. Die Fotografie wirkt ungestellt, die erfasste Situation könnte auf eine kurze Unterbrechung eines An- oder Ausziehens schließen lassen, denn neben der Person liegen noch zwei Kleidungsstücke. Dennoch gelingt eine glaubhafte Inszenierung von glamouröser Weiblichkeit im Zusammenspiel zwischen dem kühl-erotischen Blick, der durch die schweren Lidschatten und die stark geschminkten Lippen betont wird, dem offenen langen Haar, das Kopf und Schultern umschmeichelt, der leicht gespannten Haltung, die Brust und Po akzentuiert, sowie der glitzernden Strumpfhose und den glänzenden High Heels. Im Gegensatz zum Transvestiten in der Darstellung durch Arbus strahlt ‚Marlene‘ keineswegs Unsicherheit oder Verletzlichkeit aus; selbstbewusst präsentiert sie sich der Kamera und damit auch dem Bildbetrachter. Den Rezipienten holt Goldin ins Bild und hält ihn gleichsam auf Abstand zu ‚Marlene‘, indem mit dem angeschnittenen Möbelstück in der linken unteren Bildecke sowohl ein Stellvertreter für den Betrachter als auch eine Barriere zwischen Betrachter- und Bildraum installiert wurde. Nähe stellt die Fotografin über den privaten Raum und die intime Situation her. Distanz wahrt sie räumlich und psychologisch, denn ‚Marlene‘ ist weniger in ihrer Individualität, sondern vielmehr in ihrer Ausrichtung auf (Vor-)Bilder in Szene gesetzt. Auch ohne entsprechend eindeutige Pose wird eine Verbindung zum Bildrepertoire von Weiblichkeit hergestellt, da zum einen Vorname und Mimik auf die deutsche Schauspielerin Marlene Dietrich verweisen; zum anderen steht die kleine Statue der Venus von Milo am rechten Bildrand durch ihre Positionierung im Fluchtpunkt zweier Bilddiagonalen und durch ihre Erwähnung im Bildtitel im Zentrum des Interesses. Sie symbolisiert sowohl einen Idealtyp des weiblichen Körpers als auch das Ideal einer lebendigen künstlerischen Darstellung. So mag die Statue auf Goldins Absicht verweisen, den Transvestiten in ihrer Fotografie als makellose Schönheit mit erotischer Ausstrahlung zu feiern. Noch deutlicher wird das Bildhafte der Pose in Colette at home, Boston 1974 thematisiert, denn das Bild zeigt ‚Colette‘ über die Reflexion und in der Rahmung eines Spiegels (vgl. Abb. 49). Frisur, Schmuck, Make-Up und weibliche Brüste weisen ‚Colette‘ als Frau

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aus, die sie im biologischen Sinne möglicherweise nicht (immer gewesen) ist, was ihre dokumentierte Teilnahme an Schönheitswettbewerben im „The Other Side“ nahelegt. Fast nackt auf einem Bett zwischen übergroßen Federn sitzend hat sie ihren Körper auf den eigenen Blick hin ausgerichtet und schaut sich im Spiegel einer großen Kommode an. Der Bildbetrachter beobachtet sie beim kontrollierten Posieren, das zwar (noch) nicht ihm gilt, aber durch die Rahmung des Spiegels dennoch bereits als Bild (im Bild) zu verstehen ist. Im Schutz des Privaten wird hier eine Pose geprobt, die einem Gegenüber oder einem größeren Publikum präsentiert werden kann. In der Fotografie bleibt der Bildbetrachter als Voyeur ausgesperrt, denn er sieht ‚Colette‘ nur aus größerer Entfernung. Auch die (mögliche) Öffentlichkeit im Außenraum kann durch das teilweise verhängte Fenster nur einen kleinen, rückwärtigen Ausschnitt der Szene wahrnehmen. Als Bildklischee wird diese Geste einer verführerisch auf dem Bett posierenden Frau aber nicht nur durch die distanzierte Perspektive sowie das Bild-imBild-Motiv ausgestellt, sondern auch durch den Kontrast zum privaten, bürgerlichen Alltagsraum, der mit Strickjacke und Nippesfiguren kaum eine zur Pose passende erotische Atmosphäre evoziert. Abbildung 49. Nan Goldin: Colette at home, Boston 1974

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Abbildung 50 / 51 (O.i.F.). Nan Goldin: Naomi under the palm tree, Boston 1973 / Misty putting on makeup, Paris 1991

In Naomi under the palm tree, Boston 1973 kontrastiert das populäre Sehnsuchtsmotiv einer stilisierten Landschaft mit Palmen vor untergehender Sonne, das als großformatiges Bild die eine Bildhälfte belegt, mit einem unruhigen, mit allerlei banalen Dingen angefüllten Alltagsraum in der anderen Bildhälfte (vgl. Abb. 50). Auch die porträtierte Person erscheint ambivalent, denn sie sitzt zwar knapp mit Netzstrümpfen und Hotpants bekleidet vor dieser Traumlandschaft, hat aber den Blick introspektiv gesenkt, ein Bein vor die Brust gezogen und ihre Arme davor schützend verschränkt. Die Haltung widerspricht der erotischen Ausrichtung des Outfits, ohne dass allerdings die Integrität des

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Transvestiten, der an anderen Tagen durchaus lieber ‚Frankie‘ war, 44 infrage gestellt werden würde, wie in Arbus’ Fotografie (vgl. Abb. 47). Einen ähnlichen Moment des Innehaltens, mit dem Zweifel, Selbstreflexion oder Melancholie assoziiert werden können,45 hat Goldin in Misty putting on makeup, Paris 1991 festgehalten (vgl. Abb. 51). Das Bild gehört zu einer Serie an Farbfotografien, die in Die Andere Seite im Kapitel „Hi Girl! New York, Paris und Berlin 1990-1992“ zusammengefasst sind. Sie beziehen sich auf eine Gruppe von Drag Queens, die Goldin in New York kennen gelernt hatte und die sie nach Beendigung der Fotografie der Bostoner Queens46 erstmals wieder dazu angeregt haben, Transvestiten und Transsexuelle intensiv zu fotografieren.47 Wieder ist knapp die Hälfte der veröffentlichten Bilder in privaten Räumen und in anonymen Hotelzimmern entstanden, während die andere Hälfte die Drag Queens und ihre Freunde in Clubs oder am Tage auf Paraden im Außenraum zeigen. An der Vielzahl der öffentlichen Schauplätze kann die gestiegene Akzeptanz der Drag Queens nicht nur in der Homo-Szene abgelesen werden. 48 Die Innenaufnahmen zeigen fast ausschließlich Zurichtungen der Körper für den Auftritt außer Haus, das Bild von der sich schminkenden ‚Misty‘ ist in diesem Sinne exemplarisch. Der private Raum wird in diesen Bildern vor allem als geschützter Bereich inszeniert, der Intimität zwischen den Porträtierten sowie Prozesse des Übergangs zwischen Mann und Frau sowie Person und Pose ermöglicht. Nur wenige Bilder verwickeln den Betrachter in Reflexionen über die Ambivalenz der Geschlechtsidentitäten, die Verfasstheit der Pose, das Verhältnis zum Betrachter oder die Sehnsüchte der Dargestellten, wie es die oben beschriebenen Schwarzweißfotografien vermögen. In ihrer kritischen Bewertung von Die Andere Seite hebt Verena von Gagern die nachdenklichen Bilder positiv hervor:

44 Vgl. Goldin 1992, S. 5. 45 Vgl. auch Kap. 1.2. 46 Goldin gibt an, nach dem Besuch der Kunstakademie keinen Anschluss mehr an die Szene gefunden zu haben; sie sei zur Außenseiterin geworden (vgl. Goldin 1992, S. 6). 47 Vgl. Goldin 1992, S. 7. 48 Vgl. ebd.

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„Nur manche Bilder dieses Buches entstanden nicht im Rampenlicht, sondern in jener Zwischenzone, in der die Menschen sich suchend bewegen und begegnen, zweifeln, fragen, verlieren und gewinnen. Diese Bilder sind die stärkeren, denn sie erzählen von dem eigentlichen Zwielicht der Zwischenzone, von der Suche nach dem Bild von sich selbst als Bild, von dem introvertierten Augenblick vor und nach dem Auftritt auf den Bühnen der Szene, wo von dem Erträumten nur das Klischee zur Schau gestellt wird.“49

Das Sujet des ‚Anderen‘ scheint in Goldins Fotografien vor allem als Abweichung von gesellschaftlich sanktionierten Definitionen von Geschlechterrollen auf, die am augenfälligsten von den Drag Queens gelebt wird. Selbst in diesem gegenkulturellen Milieu verankert, stellt Goldin das für den bürgerlichen Betrachter Fremdartige aus empathischer Nahsicht dar.50 Dabei stigmatisiert sie die Transvestiten und Transsexuellen weder als diskriminierte Opfer, noch instrumentalisiert sie sie für die eigene ideologische bzw. politische Agenda oder führt deren geschlechtliche Ambivalenz als Makel vor. Vielmehr inszeniert Goldin ihre Freunde als begehrende und begehrenswerte Menschen,

49 Gagern, Verena von: „Nan Goldin. Die andere Seite 1972-1992“. In: European Photography, 53/1993, S. 60-61. 50 Goldin war nicht die erste Künstlerin, die Bilder sexueller Devianz gegen deren Nichtrepräsentanz im kulturellen Mainstream setzte. Unmittelbarer Vorgänger und wichtige Bezugsgröße der Künstlerin war Andy Warhol (vgl. Nan Goldin im Gespräch mit Norbert Jocks 2001, S. 302). Warhol hatte in den 1960er Jahren „mit Crossdressing, Drag und nichtheterosexuellem Begehren Norm und Normalität verlacht“ (Nord, Cristina: „Queer Culture“. In: Butin, Hubertus (Hg.): DuMonts Begriffslexikon zur zeitgenössischen Kunst. Köln: DuMont 2006 (überarb. Neuausgabe; Originalausgabe 2002), S. 261-266: 263). Repräsentationen von gleichgeschlechtlicher Liebe hat es in der westlichen Kunst seit der griechischen Antike immer wieder gegeben; inspiriert durch Mythologie, Religion und Geschichte waren die Darstellungen selten anstößig (vgl. z.B. Cooper, Emmanuel: The Sexual Perspective. Homosexuality and Art in the last 100 Years in the West. London: Routledge 1994 (2. Aufl., 1. Aufl. 1986)). Es kann zwar nicht von einer breiten Akzeptanz mit den Sujets der Homosexualität und des Transvestismus im kulturellen Diskurs in den 1970er Jahren ausgegangen werden, es handelte sich dabei aber ebenso wenig um neuartige Provokationen.

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„die ihr Wohlsein ausdrücken, was ihr Geschlecht betrifft“51. Der Betrachter schaut nicht als Voyeur auf die fremde (Bild-)Welt, sondern mit dem huldigenden Blick der ‚beobachtenden Teilnehmerin‘ Goldin auf ihre selbstbewusst posierenden Freunde. Sie zeigt sie dabei immer wieder auch in intimen Situationen, in denen sie zweifelnd, suchend und verletzlich erscheinen. In diesen Bildern steht die Privatheit der Räume nicht nur für den Schutz, den sie alternativen, öffentlichen Anfeindungen ausgesetzten Lebensentwürfen bietet, sondern auch für die Möglichkeit des experimentellen Selbstentwurfs und der kritischen Selbstreflexion. 52 Gerade diese Bilder sind nicht nur als dokumentarische (Selbst-)Darstellungen einer spezifischen Subkultur zu lesen; vielmehr thematisieren sie die Konstituierung von Identität zwischen Selbst-, Wunsch- und Fremdbild. Wie Peter Kruska in seiner Analyse von Goldins Werk betont, hinterfragen ihre Bilder der ‚Anderen‘ nicht nur die idealen und normativen Vorstellungen der visuellen Kultur, sondern sind „gleichzeitig als Versuch zu verstehen, Teile dieser Erzählung zu ändern“53.

6.3

V ERTRAUTES IN FREMDEN R ÄUMEN

Das Werk des englischen Künstlers Tom Hunter54 ist in ähnlicher Weise politisch motiviert. Seine inszenierten Fotografien von gesellschaftlichen Außenseitern wie Hausbesetzern und Travellern 55 konzi-

51 Goldin 1992, S. 7. 52 Vgl. auch Kap. 1.1. 53 Kruska 2008, S. 175. 54 Tom Hunter wurde 1965 in Bournemouth (GB) geboren. Er studierte von 1991 bis 1994 am London College of Printing (BA) und machte 1997 seinen Master of Arts am Londoner Royal College of Art. Hunter lebt und arbeitet in London (vgl. Tom Hunter. Living in Hell and Other Stories (anlässlich der gleichnamigen Ausstellung, National Gallery, London 07.12. 2005-12.03.2006). London: National Gallery 2005, S. 76). 55 Als ‚Traveller‘ werden vor allem in Irland, Großbritannien und den USA lebende soziokulturelle Gruppen verstanden, die sich im Gegensatz zu den ursprünglich aus Indien stammenden Gruppen der Roma auf eine europäische Abstammung beziehen, aber wie diese eine nomadische und freischaffende Tradition besitzen (vgl. Taylor, Becky: A Minority and the Sta-

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piert er in Reaktion auf deren Stereotypisierung, Ausgrenzung und Kriminalisierung. Wie Goldin rekurriert auch er in einigen seiner Serien auf das kollektive Bildrepertoire, um ihm Nahestehende zu nobilitieren; im Unterschied zu ihr sind es aber nicht selbst gewählte Posen oder Ähnlichkeiten zu Motiven aus Mode und Film, die er einsetzt, sondern Adaptionen kompletter Bildprogramme aus der Kunstgeschichte. So zitiert er in der Serie PERSONS UNKNOWN (1997) Interieurs des niederländischen Malers Jan Vermeer van Delft (1632-1675). Hunters Thema ist hier nicht der Prozess der Identitätskonstruktion wie bei Goldins Transvestiten-Bildern oder etwa die Dekonstruktion bildgestützter Wahrnehmungsmuster56, sondern die Würde von Marginalisierten und ihre enge Verbundenheit mit häuslichen und spezifischen vorstädtischen Orten.57 Die acht Interieurs der Serie PERSONS UNKNOWN zeigen Menschen und Räume aus einer Szene von Hausbesetzern und Künstlern, die wie Hunter selbst Mitte der 1990er Jahre in Hackney, einem der ärmsten Stadtteile Londons, lebten. Erste Einblicke in die Lebens- und Wohnverhältnisse dieser kreativen Gemeinschaft gewährte Hunter mit einer frühen Arbeit, für die er eine Reihenhauszeile als dreidimensionales Modell nachgebaut und die Fenster mit Dias der Innenräume bestückt hat. Ghetto als sarkastischer Titel dieser Objektarbeit von 1994 verweist auf die damalige Stigmatisierung des Stadtteils als ein „vom

te. Travellers in Britain in the Twentieth Century. Manchester / u.a.: Manchester University Press 2008, S. 4). 56 Diesen medienreflexiven Ansatz, nach dem die Bilder vor allem „die Ambivalenz von Bild und Realität, von Aneignung und Verwandlung, Kopie und Kreation“ reflektierten, unterstellt Jan Nicolaisen der Serie (Nicolaisen, Jan: „Kunstgeschichte als Spiegel der Gegenwart“. In: Luckow, Dirk / Schmidt, Hans-Werner (Hg.): Malerei ohne Malerei (anlässlich der gleichnamigen Ausstellung, Museum der Bildenden Künste Leipzig, 31.01.07.04.2002). Leipzig: Seemann 2002, S. 38-41: 39); der soziokulturelle Hintergrund der Sujets und der politische Ansatz Hunters spielt in seiner Argumentation keine Rolle. 57 Für die Serie LIFE AND DEATH IN HACKNEY (1999-2001), die sich an Landschaftsbilder der Präraffaeliten anlehnt, hat Hunter Freunde aus Hackney z.B. im Brachland am alten Hafen des Stadtteils inszeniert.

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Verbrechen zerrütteltes, verfallenes Ghetto“58. Auch mit der anschließenden Serie TRAVELLER SERIES (1996-1998), für die Hunter Traveller in den Wohnräumen ihrer ausgebauten Busse, Last-, Zirkus- oder Bauwagen fotografiert hat, zeichnet er mit deutlicher Sympathie ein differenziertes Bild von alternativen Lebensstilen. Wieder war das Projekt eng mit dem eigenen (Er-)Leben verknüpft, denn die Aufnahmen entstanden während einer Reise, die ihn selbst ein Jahr lang in einem britischen Doppeldeckerbus quer durch Europa führte. 59 Während in diesen beiden Projekten die Dokumentation im Vordergrund stand, weist die Serie PERSONS UNKNOWN aufgrund ihres Bezugs zu ikonischen (Vor-)Bildern über die fotografisch referierte Realität hinaus. Hunter schließt dabei kaum an Themen oder (malerische) Darstellungsweisen an, die Vermeer in seinen Werken verhandelt hat, sondern kreuzt seinen spezifischen Gegenstand zuvorderst mit den populären Vorstellungen, die von den Interieurs des Niederländers in der Gegenwart existieren. Unter Ausklammerung der komplexen reflexiven und ambivalenten Bildstruktur gelten Vermeers Bilder als Werke, die „Stimmungen von größter Feinheit enthalten“60 sowie „stille Häuslichkeit“61 und bürgerliche Idylle widerspiegeln. In Woman reading a possesion order zitiert Hunter Vermeers Brieflesendes Mädchen am offenen Fenster (um 1659), indem er ebenfalls eine junge, in die Lektüre eines Briefes vertiefte Frau im Profil vor einem Fenster zeigt (vgl. Abb. 52, 53). Wie die Akteurin in Vermeers Bild ist sie eingefasst in eine räumliche Situation, die von einer Raumecke und einem Möbelstück im Bildvordergrund markiert wird. In beiden Bildern leuchten Gesicht, Hände und der Brief im warmen Tageslicht; bei Hunter wird zudem ein Baby angestrahlt, das im Bildvordergrund an einer Stelle liegt, an der Vermeer eine Obstschale platziert hat. Zentrales Bildmotiv ist jeweils das stille Lesen eines Briefes.

58 Diese Charakterisierung stammt von einer Lokalzeitung (zitiert nach Haworth-Booth, Mark: „Einführung“. In: Scherf, Jone Elissa / Andrews, George St. (Hg.): Making your dreams come true. Young British Photography. Ostfildern: Hatje Cantz 2001, S. 60-64: 63). 59 Vgl. Pietsch, Hans: „Galerie der Anarchisten“. In: art 6/2004, S. 58-70: 68 und Haworth-Booth 2001, S. 60-64: 63. 60 Olbrich, Harald (Hg:): Lexikon der Kunst. Bd. 7. Leipzig: Seemann 2004 (2., unveränd. Aufl.; 1. Aufl. 1994), S. 605. 61 Greub 2004, S. 195.

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In der niederländischen Kunst des 17. Jahrhunderts steht die Briefkultur für die Herausbildung von Subjektivität und die Selbstreflexion eines selbstbewussten Bürgertums; genauso können nicht näher spezifizierte Briefe im Bild aber auch Konnotationen von Liebesbeziehungen haben.62 In jedem Fall stellen sie den Bezug zur Außenwelt her. Bei Hunter ist der Brief als Räumungsbescheid Zeichen der Bedrohung von außen, da er die erzwungene Auflösung der Einheit von Frau, Kind und Heim annonciert. Abbildung 52 (O.i.F.). Tom Hunter: Woman reading a possesion order (aus der Serie PERSONS UNKNOWN (1997))

Zu den wesentlichen Bildelementen in Vermeers Interieur Brieflesendes Mädchen am offenen Fenster zählen zwei Vorhänge, die den Betrachter in Reflexionen über die Wahrnehmung eines Bildes verwickeln, das sowohl enthüllt als auch verhüllt. 63 So indiziert der zurück-

62 Vgl. Schulze, Sabine: „Standortbestimmung und Ausstellungsrundgang“. In: dies. (Hg.): Leselust. Niederländische Malerei von Rembrandt bis Vermeer (anlässlich der gleichnamigen Ausstellung, Schirn Kunsthalle Frankfurt, 24.09.1993-02.01.1994). Ostfildern: Hatje Cantz 1993, S. 9-22: 19. 63 Vgl. Greub 2004, S. 85.

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geschlagene Fenstervorhang das einfallende Licht als Voraussetzung für die Sichtbarkeit des (Bild-)Raums. Da zudem das Fenster geöffnet ist, erscheint der private Raum in visueller und geistiger Verbindung zum gesellschaftlichen (Außen-)Raum. In der Helligkeit des Tageslichts kann die Frau den Brief problemlos entziffern, der Betrachter bleibt hingegen über Inhalt, Absender und Adressat(in) im Dunkeln. Die Sicht auf die dargestellte Szene gibt überhaupt erst ein weiterer, im Bildvordergrund parallel zur Bildebene platzierter Vorhang frei. Der als ‚trompe l’œil‘ angelegte ‚Blickfang‘ zitiert die zeitgenössische Praxis, Bilder aufgrund ihres Wertes, ihrer Schutzwürdigkeit oder der Anstößigkeit ihres Inhaltes zu verhüllen und nur bei passenden Anlässen freizulegen.64 Mit diesem Bildelement betont Vermeer zum einen den Status seiner Darstellung als Bild, zum anderen unterstellt er der Szene eine schützenswerte Intimität, die das Motiv ohne diesen nicht zwingend suggerieren würde. Da der Vorhang mehr als ein Viertel der Bildfläche verdeckt, lädt er ferner zu Spekulationen über dahinter Verborgenes ein. Einerseits werden dem Betrachter Bildraum und Bedeutung vorenthalten, anderseits werden ihm nicht vorgesehene Einblicke gewährt, zu denen auch die fragmentarische Spiegelung einer Frontansicht der Frau im Fensterglas zählt, das eigentlich ihn selbst abbilden müsste. Abbildung 53 (O.i.F.). Jan Vermeer van Delft: Brieflesendes Mädchen am offenen Fenster (um 1659)

64 Vgl. ebd.

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Hunter verzichtet in seiner Adaption auf diese Bildzeichen des Enthüllens bzw. Verhüllens sowie auf Reflexionen über das (Bild-)Sehen an sich; das Fenster in seiner Fotografie ist geschlossen, Vorhänge wurden ausgespart und über den Inhalt des Briefes gibt der Titel eindeutig Auskunft.65 Auch die formalen Kontraste, beispielsweise zwischen den bewegten Faltungen der Vorhänge und des Teppichs und den ruhigen Wandflächen bzw. der klaren Fenstergliederung, die Vermeers Bild „zum Schwingen“66 bringen, finden bei Hunter keine Entsprechungen. Über diese motivischen Auslassungen und formalen Beruhigungen steigert er die Atmosphäre ‚stiller Häuslichkeit‘, die im Mittelpunkt seines Vermeer-Zitats steht. Beide Künstler evozieren diese Bildstimmung, indem sie in ihren Kompositionen auf den stummen Dialog mit einer abwesenden Person fokussieren, die Frauen fest im (Bild-)Raum verankern und diesen über den Lichteinfall in warmen Farbtönen modulieren. Über die Hinzufügung des Kindes, die die Frau als Mutter behauptet, konstituiert Hunter den Raum zudem als Heim einer kleinen Familie. Hier, weich gebettet, von der Sonne beschienen und der Mutter nahe, erscheint das hilflose Wesen geborgen. Die Mutter-KindBeziehung hat Hunter ins Zentrum seiner Komposition gerückt, indem der Blick der Mutter und die Ausrichtung des Gesichts des Babys eine Diagonale bezeichnen, die das Bild mittig durchmisst. Den direkten Blickkontakt verhindert allerdings der Brief, den die Frau in ihren Händen hält. Diesen hat Hunter genau in der Bildmitte positioniert, während bei Vermeer an dieser Stelle der Kopf der Frau zu sehen ist. Die Aufmerksamkeit wird also nicht wie bei Vermeer zuerst auf den Ausdruck der Frau gelenkt, sondern auf den Brief in ihren Händen. Wäre der Kindsvater der Absender, hätte er einen festen Platz im harmonischen Gefüge zwischen Mutter, Kind und Heim. Ausgewiesen als offizieller Bescheid zur Räumung eines besetzten Anwesens stellt das Schreiben aber die ganze Konstellation infrage. Mit dem Wissen um

65 In der Publikation Tom Hunter (Ostfildern: Hatje Cantz 2003) ist der Serie die Reproduktion eines Briefes von der „Queen’s Bench Divison“ des „High Court of Justice“ an „Persons Unknown“ vorangestellt, der die Räumung eines von Unbekannten besetzten Hauses und Grundstückes in der Ellington Road, London, ankündigt. Hier wird suggeriert, dass dieser oder ein Brief mit ähnlichem Inhalt in Woman reading a posession order gelesen wird. 66 Greub 2004, S. 85.

DIE RÄUME DER ‚ ANDEREN‘ | 183

den Inhalt des Schreibens erscheint die Frau nun als Hausbesetzerin, der Raum als widerrechtlich angeeignet, aber zugleich auch als Heim, das Mutter und Kind bald verlieren werden. Das Bild offenbart so eine Ambivalenz zwischen den Konnotationen bürgerlicher Werte von Häuslichkeit, Heim und Familie67 sowie einem antibürgerlichen Selbstverständnis, das sich in der illegalen Erschließung von ungenutzten Räumen äußert. Die Inszenierung der bürgerlichen Idylle gelingt dabei nicht über den Raum, der keine entsprechenden Insignien wie bei Vermeer vorhält, sondern allein über die motivische Anlehnung an das ikonische ‚Vorbild‘. Hunter erläutert seine Strategie folgendermaßen: „[...] by using Old Masters you are attaching to values associated with the works; those of beauty, dignity, wisdom“68. Mit diesem Transfer von positiven Werten begegne er der verbreiteten Vorstellung, nach denen Hausbesetzer ebenso wie besetzte Häuser grundsätzlich hässlich seien. Er wolle das Stereotyp von Hausbesetzern als Opfer auflösen, das sich üblicherweise in sozialdokumentarischen Schwarzweißfotografien äußere. 69 Hans Pietsch hat in Hunters Bildaneignungen eine Doppelstrategie ausgemacht; demnach bricht „in vertraute, idyllische Motivwelten [...] die soziale Realität unserer Gegenwart ein“, während „zugleich [...] das gesellschaftlich stigmatisierte Milieu in der Kunst eine überzeitliche Würde und Aura“70 erhielte. Hunter intendiert nicht die ironische Brechung der bürgerlichen Sehnsucht nach Familie, Häuslichkeit und Heim, sondern konfrontiert dieses Ideal mit einer äußeren Bedrohungssituation. Er inszeniert eine Umkehrung realer Verhältnisse, indem er bürgerliche Sehnsüchte von Menschen repräsentieren lässt, die gemeinhin als außerhalb der sozialen Ordnung Stehende gesehen werden. In seiner Serie werden diese Außenseiter gerade von denen daran gehindert, eben diese Ideale zu leben, die gemeinhin als deren Verfechter auftreten. In diesem Sinne sind die Bilder ebenso subversiv wie politisch, da sie – die Repräsentationsstrategien des kulturellen ‚Mainstreams‘ adaptierend – bürgerliche Werte vertreten und so helfen, die ideologische Konstruktion der

67 Vgl. auch Kap. 3. 68 Tom Hunter im Gespräch mit Jean Wainwright. In: Tom Hunter 2003, o.S. 69 Vgl. ebd. 70 Pietsch 2004, S. 67.

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Hausbesetzer als ‚die Anderen‘ infrage zu stellen, denn letztlich scheint im ‚Anderen‘ das Eigene auf. Abbildung 54 (O.i.F.). Tom Hunter: Girl writing an affidavit (aus der Serie PERSONS UNKNOWN (1997))

Abbildung 55 (O.i.F.). Jan Vermeer van Delft: Briefschreiberin und Dienstmagd (um 1670)

Die übrigen Bilder der Serie folgen diesem Konzept. Auch deren Kompositionen sind an Interieurs von Vermeer in einer Weise ange-

DIE RÄUME DER ‚ ANDEREN‘ | 185

lehnt, die das Vorbild, seine Aura und seine aktuelle Bedeutungszuschreibung assoziieren lässt, ohne als bloße Kopie zu erscheinen und ohne die möglichen moralischen und kunstreflexiven Ansätze Vermeers zu reproduzieren. Transferiert werden die bürgerlichen Werte von Heim und Häuslichkeit; sie kontrastieren mit einem alternativen Lebensstil, der sich zuvorderst über die unkonventionelle Einrichtung der zum Teil baufälligen Räume vermittelt. So erscheinen die Zimmer schlicht und das einfache Mobiliar meist stark gebraucht, aber bunte Tücher, farbige Wände sowie Pflanzen und Bilder stehen für individuelle, kreative Aneignungen und evozieren wohnliche Atmosphären. Die Bedrohung des Idylls ist nur in Girl writing an affidavit noch einmal explizit Thema eines Bildes, in dem das Formulieren einer eidesstattlichen Erklärung vorgeführt wird (vgl. Abb. 54).71 Dieses und zwei weitere Interieurs deuten zudem über nachdenklich nach draußen gerichtete Blicke an, dass zur Lebensrealität der Hausbesetzer ein hohes Maß an Reflexion über (die eigenen) Wohn- und Lebensbedingungen gehört sowie die stete Sorge vor einer Räumung. In Vermeers Briefschreiberin und Dienstmagd (um 1670) hingegen schaut die wartende Dienstmagd eher verträumt als sorgenvoll nach draußen (vgl. Abb. 55); sie erscheint als Botin und nicht als Vertraute der Briefschreiberin. Während Vermeer in Herr und Dame beim Wein (16581660)72 auf den Akt des Trinkens fokussiert, indem er das Gesicht der Wein trinkenden Frau hinter dem Weinglas versteckt, hält die Frau in Hunters The glass of wine73 den Kelch lediglich in der Hand und schaut introspektiv Richtung Fenster. Diese Abweichungen von der zitierten Vorlage verstärken die Geste und betonen die Verschiebung der

71 Während bei dem Vermeer-Vorbild Briefeschreiberin und Dienstmagd der Brief vermutlich als Reaktion auf ein auf dem Boden liegendes Schreiben aufgesetzt wird, erscheint das Aufsetzen einer eidesstattlichen Erklärung bei Hunter, der auf diesen ‚ersten‘ Brief verzichtet, in der Logik der Serie als Replik auf den Empfang des Räumungsbescheids in Woman reading a possesion order. Es besteht allerdings kein direkter narrativer Zusammenhang zwischen den Einzelbildern, denn Räume und Personen unterscheiden sich sehr stark voneinander und die dargestellten Handlungen sind bis auf diese Ausnahme in sich geschlossen. 72 Vgl. Lietdke, Walther: Vermeer. The Complete Paintings. Ghent: Ludion 2008, S. 86. 73 Vgl. Tom Hunter 2003, o.S.

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Bildbedeutung. Hunters Akteure können nicht (mehr) auf stabile Wohnverhältnisse vertrauen, sie leben im Wissen um ihre prekäre Situation und den transitorischen Charakter ihres Heims. Im Spiegel bürgerlicher (Repräsentations-)Ideale erscheint das Wohnen der ‚Anderen‘ schließlich würdevoller als gemeinhin vermittelt und entpuppt sich zugleich als weniger different von bürgerlichen Wohn- und Lebenskonzepten als vielfach behauptet.

6.4

D AS E IGENE

BEHAUPTEN

Die privaten Räume in den hier angeführten Interieurs sind aufs Engste mit einem Leben in Opposition zu Werten und Normen der Mehrheitsgesellschaft verbunden. Bei Nan Goldin ermöglicht erst der räumliche Schutz der Privatsphäre einen Lebensstil, der in Hinblick auf das ‚Spiel‘ mit Geschlechtsidentitäten im öffentlichen Raum der 1970er angefeindet wurde. Bei Tom Hunter sind die Räume an sich schon Ausdruck einer Ablehnung gesellschaftlicher Normen, da sie von den dargestellten Bewohnern widerrechtlich besetzt worden sind. Im Gegensatz zu den Fotografien von Jacob August Riis und Walker Evans stehen diese Bilder nicht für eine Außenperspektive, die am Leben der ‚Anderen‘ das Befremdliche und die Differenz zu den eigenen Ansichten und Überzeugungen betont. Goldin und Hunter sind nicht im sozialwissenschaftlichen Sinne als ‚teilnehmende Beobachter‘ in eine fremde Kultur eingetaucht 74 oder haben diese aus der Distanz als (appellierende) Sozialdokumentaristen untersucht. Vielmehr haben sie als ‚beobachtende Teilnehmer‘ Freunde fotografiert, die zur Subkultur gehörten wie sie selbst. Diese Interieurs zeigen eine Innensicht auf gesellschaftliche Außenseiter, die nicht als passive Opfer, als Gefangene von prekären Räumen erscheinen wie bei Riis, sondern als mündige Akteure und kreative Gestalter ihres Wohnumfelds. Auch wurden auf ihre Lebensumstände nicht bürgerliche Wertvorstellungen projiziert wie in Evans’ Fotografie. Vielmehr nutzen sowohl Goldin und ihre Drag Queens als

74 Vgl. Lüders, Christian: „Teilnehmende Beobachtung“. In: Bohnsack, Ralf / Marotzki, Winfried / Meuser, Michael (Hg.): Hauptbegriffe Qualitative Sozialforschung. Ein Wörterbuch. Opladen: Leske + Budrich 2003, S. 151153.

DIE RÄUME DER ‚ ANDEREN‘ | 187

auch Hunter mit seinen Bildaneignungen etablierte Zeichensysteme für Geschlechterrollen bzw. tradierte Vorstellungen von Häuslichkeit, Familie und Heim, um deren exklusive Bindung an bürgerliche Lebensmodelle und biologische Geschlechtsidentitäten zu dekonstruieren. Mit ihren Konfrontationen der Lebensräume der ‚Anderen‘ mit denen des soziokulturellen Mainstreams schließen sie an Arbus’ fotografischen Ansatz an, im vermeintlich ‚Anderen‘ das ‚Eigene‘ aufscheinen zu lassen. Arbus’ Faszination galt vor allem den Spannungen zwischen dem ‚Normalen‘ und dem Außergewöhnlichen sowie den Diskrepanzen zwischen Selbst- und Fremdbildern, die sie in ebenso ambivalenten wie distanzierten Bildern abgebildet hat. Goldin und Hunter äußern ihre Kritik an Stereotypen und Vorurteilen der Mehrheitsgesellschaft hingegen subtiler und subversiver; über ihre empathischen Bilder unterstellen sie den Ausgegrenzten Würde, Integrität und Schönheit und schaffen so positive Gegenbilder zum dominanten Diskurs.

7

Sehnsuchtsorte und Krisenräume

Die komplexen Beziehungen des Subjekts zu sich und zur Welt werden im Interieur ebenso über Konnotationen und Darstellungen von Sehnsüchten und Idealen wie von Krisen und Konflikten reflektiert. In der Gegenwartskunst sind diese gegensätzlichen Besetzungen des Raums bei vielen fotografischen Bildern oder Serien zum privaten Leben und Wohnen spannungsreich miteinander verwoben. Wesentliche Bezugsgrößen sind dabei kulturelle Vorstellungen, die den privaten Raum als ‚trautes Heim‘ der Geborgenheit, Intimität und Selbstentfaltung oder als Ort der Bedrohung, Entfremdung und Gewalt entwerfen. Manche der ambivalenten Interieurs nutzen Fiktionen und Bildmuster von Filmen, um Motive des Häuslichen in ihrer kulturellen Bedeutung kritisch zu befragen. Zu den populären Bildmotiven, die seit den 1970er Jahren intensiv bearbeitet wurden, zählt die US-amerikanische Idylle des Einfamilienhauses im suburbanen Raum. Indem Gregory Crewdson oder Larry Sultan diesen kollektiven Sehnsuchtsort in ihren fotografischen Interieurs aufrufen, aber unheimlich werden lassen bzw. ihn mit sexueller Spannung aufladen, thematisieren sie die dunklen Seiten des amerikanischen Traums.1 Andere Künstler haben sich direkt auf authentische Einrichtungspraxen oder Lebensweisen bezogen; in ihren Interieurs wird das Private als Schutzraum vorgeführt, in dem sich intimes Glück ebenso wie krisenhafte Lagen ungestört entfalten können.2 So werden beispielsweise in der Serie PRIVATE RÄUME von Jörg Sasse oder im Fotobuch Ray’s a laugh von Richard Billingham dekorative Sehn-

1

Vgl. Kap. 7.2 und Kap. 7.4.

2

Vgl. Kap. 7.2 und Kap. 7.3.

190 | B ILDER DES P RIVATEN

suchtsmotive mit einem nüchternen Wohnumfeld bzw. einer prekären Lebenssituation konfrontiert. 3 Auch viele der Interieurs im Werk von Nan Goldin zeugen von der Zerrissenheit des Subjekts zwischen Wunsch und Wirklichkeit, da sie sowohl auf das Begehren nach intimen, körperlichen Begegnungen als auch auf subjektive Krisen und zwischenmenschliche Konflikte verweisen. 4

7.1

S EHNSÜCHTE

IM ( KRISENHAFTEN )

A LLTAG

Der Wohnstil des Einzelnen ist eine „Gemengelage aus individueller Geschichte, notwendigen Funktionen, schichtspezifischen Mustern und Vorgaben von Geldbeutel, Wohnungsangebot und Möbelindustrie“5, erklären Hartmut Häußermann und Walter Siebel in ihrer Soziologie des Wohnens. Dass gegenwärtige Wohnformen nicht nur von der persönlichen Wohnbiografie und einem kollektiven Wohngedächtnis geprägt sind, sondern auch von Bildern, „die ins Namenlose der Vorgeschichte kultureller Erfahrung führen“6, betont Gerd Selle in seiner Untersuchung Zur verborgenen Geschichte des Wohnens. Auch Elisabeth Katschnig-Fasch hat in ihrer Studie über Städtische Wohn- und Lebensstile die zentrale Bedeutung kulturell erworbener Muster für den Lebensstil im Wohnen herausgestellt und den Einfluss von „Selbstbestimmung“ als „überraschend gering“7 bezeichnet. Allerdings erkennt sie in individuellen Wohnkulturen auch „ein Potential der kreativen Aneignung und der Widerständigkeit“8. Demnach bilden „Heimwelten“ nicht nur soziokulturelle Prägungen ab, sondern sind zugleich „Ausdruck und Inszenierung eines Bildes“, das auch aus „Widerstand oder aus Hoffnungen und Ambitionen“9 entsteht.

3

Vgl. Kap. 7.1.

4

Vgl. Kap. 7.2.

5

Häußermann / Siebel 2000, S. 48.

6

Selle, Gert: Die eigenen vier Wände. Zur verborgenen Geschichte des Wo-

7

Katschnig-Fasch, Elisabeth: Möblierter Sinn. Städtische Wohn- und Le-

8

A.a.O., S. 15.

9

A.a.O., S. 19.

hnens. Frankfurt a.M. / u.a.: Campus 1993, S. 17. bensstile. Wien / u.a.: Böhlau 1998, S. 18.

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In Interieurs, die auf die dingliche Dimension des Wohnens fokussieren, zeugt das Ensemble aus Raumstruktur und Raumgestaltung, fester Installation und privatem Möbel, funktionalem Gerät, persönlichem Ding und dekorativem Gegenstand neben der kollektiven Identität auch von der Individualität der Bewohner. „Die Anordnung der Dinge, die das Subjekt umgibt, stellt für das Ich das primäre Vehikel dar, sich selbst, seine oder ihre Werte, Innerlichkeit und Individualität darzustellen“10, konstatieren Gisela Ecker und Susanne Scholz. Auf die Komplexität des Verhältnisses zwischen Bewohnern und der Gegenstandswelt ihres Wohnumfeldes haben Gert Selle und Jutta Boehe in Fallstudien zu Anpassung und Eigensinn im Alltag des Wohnens hingewiesen. So ginge es im Prozess der individuellen ‚Aneignung‘ von Dingen „nicht nur um die Realisation der historischen Werkzeuglichkeit oder der sozialen Funktion des Gegenstands [...], sondern auch um den Wert der Sache im Rahmen von Subjektivität, Ich-Geschichte, Einzelbewusstsein“11. Unter ‚Aneignung‘ verstehen die Autoren die „lebenslange Auseinandersetzung mit dem Gegenstand – von seinem ersten Auftauchen als psychisch wirksamer Bedeutungsträger bis zu seinem Verblassen in der Erinnerung“12. Was die Dinge für ihre Nutzer bedeuten, erschließe sich daher erst im Kontext der Biografie der Bewohner, die auch deren Kindheit sowie unbewusste Sinnzusammenhänge umfasse.13 Im Zentrum des künstlerischen Interieurs steht nicht die individuelle Aneignungsgeschichte; an den Dingen der Wohnwelten interessiert vielmehr ihre überindividuelle Zeichenhaftigkeit. Beispielsweise erscheinen die Möbel, Bilder und Einrichtungen in den Interieur-Serien von Daniela Rossell und Sarah Jones zuvorderst als materielle Sozialisationsinstanzen.14 Die in Posen vorgetragene, zwischen Anpassung und Widerstand, Spiel und Sehnsucht oszillierende Beziehung der Jugendlichen zum elterlichen Lebensstil wird so zur Metapher einer reflektierten Orientierung im sozialen Raum.

10 Ecker, Gisela / Scholz, Susanne: „Einleitung. Umordnungen der Dinge“. In: dies. (Hg.) Umordnungen der Dinge. Königstein: Helmer 2000, S. 10. 11 Selle, Gert / Boehe, Jutta: Leben mit den schönen Dingen. Anpassung und Eigensinn im Alltag des Wohnens. Reinbek: Rowohlt 1986, S. 50. 12 A.a.O., S. 51. 13 Vgl. a.a.O., S. 53. 14 Vgl. Kap. 2.3.

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In den meisten Bildern dieser Serien zeigen Rossell und Jones Räume, die nach der traditionellen Dreiteilung von klassenspezifischen Geschmacksformationen den distinguierten Gout der Oberklasse repräsentieren. Im Gegensatz zum ‚bildungsbeflissenen‘ Geschmack des Kleinbürgertums15 und dem „Geschmack am Notwendigen“16, der der Arbeiterklasse eigen sei, zeichne sich dieser durch einen ausgeprägten „Sinn für Distinktion“17 aus, resümiert Pierre Bourdieu in seiner Studie Die feinen Unterschiede. Zwar hat sich die „Sprache der Wohnausstattung“18 im Zuge der Pluralisierung von Lebensstilen seit den 1970er Jahren deutlich ausdifferenziert, aber die Dinge hätten „die Kraft der Distinktion des Geschmacks nicht verloren“19, bemerkt KatschnigFasch; Dinge seien auch heute noch im Kontext sozialer Zuordnung und Abgrenzung wirksam. Die privaten Räume der Interieur-Serien von Rossell und Jones sowie Sasse und Billingham werden zwangsläufig auch aus dieser soziokulturellen Perspektive wahrgenommen und bewertet. Während die Wohnwelten bei Sasse auf einen kleinbürgerlichen Habitus20 verweisen, der sich um Erfüllung von Konventionen bemüht, ermöglicht das Habitat bei Billingham Rückschlüsse auf den Habitus der Arbeiterklasse, bei dem Nützlichkeitsdenken ästhetische Gesichtspunkte übergeht.21 Die dokumentierten Wohnstile rufen beim Betrachter klischeehafte Vorstellungen vom Lebensstil der Bewohner auf, die Sasse und Billingham allerdings mit widersprüchlichen Hinweisen auf individuelle Wohn- und Lebensweisen in ihren Bildern irritieren. So zeigen sie Figuren, Bilder, Wandschmuck und Tiere, die für die Sehnsucht nach Erlebnissen stehen, die das vorherrschende Wohnumfeld offensichtlich nicht ermöglicht. Die kitschigen Bilder und Objekte industrieller Massenproduktion zählen zwar zum klassenspezifi-

15 Vgl. Bourdieu 1987 (1979), S. 585ff sowie Kap. 4, Fußnote 11. 16 A.a.O., S. 405. 17 A.a.O., S. 500. 18 Katschnig-Fasch 1998, S. 18. 19 A.a.O., S. 337. 20 Im Sinne Bourdieus verbindet sich im Habitus individuelles Handeln mit Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsmustern, die von Klassenlagen geprägt werden (vgl. Vogt, Ludgera: „Pierre Bourdieu“. In: Kaesler, Dirk / dies. (Hg.): Hauptwerke der Soziologie. Stuttgart: Kröner 2007 (2., durchges. Aufl.), S. 58-67: 60). 21 Vgl. Bourdieu 1987 (1979), S. 588 .

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schen Repertoire von Wohnaccessoires, sie verweisen aber ebenso auf individuelle Bedürfnisse nach Schönheit, Sentiment, Trost und Alltagsflucht. In diesem Sinne reflektieren die Interieurs den Wohnstil auch als Ausdruck einer „Therapiestrategie“, mit der auf Erfahrungen des „Ausgeliefertseins und der erlebten Hilflosigkeit“22 gegenüber banalen bzw. prekären Wohn- und Lebensbedingungen reagiert wird. In seiner Serie PRIVATE RÄUME23 (1983-1994) bringt Jörg Sasse24 Details der Einrichtung von Innenräumen zur Ansicht.25 Ein Großteil der 230 Fotografien der Serie fokussiert auf einzelne Objekte, Pflanzen oder Installationen sowie Kombinationen von zwei bis drei Gegenständen oder Anschnitte von Fliesen, Böden und Möbeln; Sehnsuchtsmotive finden sich in dem Fünftel der Bilder, die komplexere, narrative Dingensembles zeigen. 26 Die Perspektiven in den Bildern wechseln zwischen nüchtern sachlichen Frontal-, Unter- und Aufsichten; sie vermitteln stets den Eindruck, alltägliche, den Blick auf zufällig entstandene oder von den Bewohnern absichtsvoll komponierte ObjektRaum-Konstellationen freizugeben. Dabei überführt Sasse die Farben, Formen und Strukturen der Räume in eigenständige Kompositionen,

22 Katschnig-Fasch 1998, S. 19. 23 Vierzig Bilder der Serie wurden 1992 in einem Ausstellungskatalog veröffentlicht (vgl. Jörg Sasse. Vierzig Fotografien 1984-1991 (anlässlich der gleichnamigen Ausstellung, Museum Künstlerkolonie Darmstadt, 12.03.20.04.1992). München: Schirmer/Mosel 1992). Alle Bilder der Serie sind auf der Homepage des Künstlers zu sehen (vgl. http://www.c42.de/suche. php?gruppe=2 (07.01.2011)). 24 Jörg Sasse wurde 1962 in Bad Salzuflen geboren. Er studierte von 1982 bis 1987 an der Kunstakademie Düsseldorf und war 1987 Meisterschüler bei Bernd Becher. Zwischen 2003 und 2007 war er Professor für Dokumentarfotografie an der Universität Duisburg-Essen. Heute lebt und arbeitet er in Düsseldorf und Berlin (vgl. http://wilmatolksdorf.de (23.04.2009)). 25 Aufgrund der Ausschnitthaftigkeit vieler Bilder können nicht alle Räume eindeutig als Wohnräume identifiziert werden. Wenigstens in einem Bild weist das Werkzeug eines Zahnarztes den Bildraum als Arbeitsraum aus (vgl. W-89-08-01, Düsseldorf 1989. Online unter: http://www.c42.de/ suche.php?gruppe=2 (17.11.2009)). 26 Die jüngeren Fotografien der Serie weisen weniger Bildelemente auf als die älteren. Die komplexen Ensembles wurden sukzessive von Objektstudien und diese von fragmentarischen Ansichten abgelöst.

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deren Ordnungsprinzip in formalen Kontrasten, Reihungen und Korrespondenzen besteht. Zudem definiert er seine Fotografien nicht allein über Ausschnitt und Perspektive, sondern immer wieder auch über die Veränderungen einzelner Fluchten im Bild.27 Auf diese Weise wird z.B. die Frontal- mit der Seitenansicht eines Objekts verbunden und damit eine Abbildung geschaffen, die keiner empirischen Anschauung entspricht.28 Der Künstler erklärt, es sei „eben nicht die Beschäftigung mit Inneneinrichtung, sondern die mit dem Bild“29, die ihn interessiere. Die Wirklichkeit liefere lediglich das Ausgangsmaterial für seine Kompositionen. Folgerichtig geben die Bildtitel weder Hinweise auf seine Intentionen noch auf die Lokalität der Aufnahme; einzig Entstehungsdatum und Serienzugehörigkeit lassen sich aus ihnen ableiten. Auch Thomas Lange betont, dass Sasse das Sehen wichtiger sei als die Suche nach der Bedeutung des Gesehenen: „Der Antrag an die Gegenstände der Alltagswirklichkeit ist kein erkennendes Verstehen mehr, sondern ein wahrnehmendes Erfahren ihrer primären Qualitäten, der Beschaffenheit ihrer Oberflächen, der Strukturen ihres Materials oder der Spuren ihres Gefertigtseins, der Farben, Formen, Linien und Flächen.“30

Allerdings ist auch Gerda Breuer zuzustimmen, die konstatiert, dass die formal gelösten Fotografien sehr wohl mit der Identität ihrer Referenten verbunden bleiben und Bedeutung stiften: „Es sind also Kalküle, Module, Konstruktionen der Wahrnehmung, die dem Werk einen eigenen Werkcharakter geben, einen ästhetischen Sinnkontext, der sich abhebt von der semantischen Identitätsfläche, mit dieser aber in Korrespondenz steht.“31

27 Die Veränderung der Perspektiven ist im Aufnahmeprozess mit einer Kamera möglich, bei der das Objektiv gegen die Filmebene verschoben werden kann, wie z.B. bei einer Großformatkamera. 28 Vgl. z.B. W-90-02-01, Gießen 1990. Online unter: http://www.c42.de/ suche.php?gruppe=2 (17.11.2009). 29 Jörg Sasse im Gespräch mit Matthias Lange (Erstveröffentlichung in Pakt 7/1995). Online unter: http://www.c42.de/mlinterview.html (09.09.2009). 30 Lange, Thomas: „Zur Sache. Sehen“. In: Jörg Sasse 1992, S. 97-106: 104. 31 Breuer, Gerda: „Die Wirklichkeit der Dinge. Jörg Sasses Photographien 1984-1991 (1992)“. In: dies. (Hg.): Außenhaut und Innenraum. Mutma-

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Demzufolge verweist die Serie immer auch auf kleinbürgerliche Wohnstile der 1960er bis 1990er Jahre in der Bundesrepublik Deutschland. Industriell gefertigte Massenwaren indizieren populäre Designmoden; funktionale Installationen wie Waschbecken oder Rohre sprechen von der einfachen Grundausstattung der Räume; Pflanzen, Lampen, Vasen stehen für die individuelle Aneignung der Wohnräume. Das Gesamtarrangement spiegelt schließlich den Versuch, „mittels hausbackener Kreativität und zeitgeschichtlichen Vorgaben ein Stück Wohnfeld zu verschönern“32. Persönliche oder anekdotische Perspektiven bieten vor allem Bilder aus den 1980er Jahren, in denen über Bilder, Notizen, Figuren auf sammelnde, dekorierende und erinnernde Bewohner geschlossen werden kann. Sie rekurrieren auf die Sehnsucht der Wohnsubjekte nach Tradition und Geschichte, Ordnung und Gestaltung, Atmosphäre und Gefühl. In den 1990er Jahren hat sich Sasse auf Anschnitte und Abstraktionen verlegt, so dass die Symbolik der Dinge in seinen Bildern an Bedeutung verloren hat. Zu den ausdrucksstärksten Fotografien zählen solche, die die Banalität der Wohnräume spannungsreich mit prägnanten Sehnsuchtsmotiven konfrontieren. In einigen Bildern erscheinen diese Motive auf diese Weise als Ausdruck eines unbefriedigten Verlangens der Bewohner nach Unerreichbarem, Traumhaftem. In W-90-05-03, Gießen 1990 trägt ein kleines Brustbild, das Marilyn Monroe in Verführungspose zeigt, die Vorstellung von Erotik und Glamour in eine ansonsten eher nüchtern strukturierte Raumecke (vgl. Abb. 56). Der enge Raumausschnitt, den Sasse vorführt, wird von zwei weißen Wänden, einer herabgelassenen Jalousie sowie einer vielblättrigen Palme bezeichnet und besetzt. Die Raumattribute vermitteln ein ebenso modernes wie funktional unpersönliches Raumambiente. Struktur und Materialität der Jalousie sind geometrisch klar und technisch kühl; dagegen steht der lebendige Organismus der Palme, die mit ihren spitzen Blättern aber nicht Wohnwärme sondern Unwirtlichkeit ausstrahlt. Da es sich bei ihr um eine sehr verbreitete Art handelt, verleiht sie dem Raum keine unverwechselbare Erscheinung. Auch formal ist das Bild von starken Kontrasten geprägt: die parallellineare Ord-

ßungen zu einem gestörten Verhältnis zwischen Photographie und Architektur. Frankfurt a.M.: Anabas 1997, S. 64-71: 68. 32 Lange 1992, S. 98.

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nung der Lamellen trifft auf das strahlenförmige Chaos des Palmenwuchses, und beide Strukturen kontrastieren mit den runden Formen im Porträt. Die Komposition wirkt aber nicht unruhig sondern ausgewogen, denn die Bildkanten des Brustbildes korrespondieren mit der fluchtenden Rasterstruktur der Jalousie; zudem stellt eine Bilddiagonale, die u.a. vom nackten Oberarm der Schauspielerin bezeichnet wird, die optische Verbindung zur Mehrheit der Blätterspitzen her, wie auch der Komplementärkontrast zwischen dem Rot des Bildes und dem Grün der Pflanze beide Bildelemente ausbalanciert. Abbildung 56 (O.i.F.). Jörg Sasse: W-90-05-03, Gießen 1990 (aus der Serie PRIVATE RÄUME (1983-1994))

Das kleinformatige Porträt ist zwar ins Gesamtarrangement eingefasst, bildet aber gleichsam das Zentrum der Komposition. Im Vergleich zur ursprünglich fotografischen Vorlage ist dieses Bild Monroes in den Tonwerten stark reduziert und farblich verfremdet worden, so dass der Zeichencharakter der Darstellung deutlich hervortritt. Das Porträt repräsentiert keine reale Person, sondern steht für eine spezifische Zusammensetzung diverser kultureller Bilder, zu denen verführerische Weiblichkeit, unnahbare Schönheit, glamouröse Scheinwelt und die Tragik eines Starlebens zählen. Die Präsenz dieser weltlichen Ikone im Raum könnte Ausdruck einer subjektiven Faszination für diese Vor-

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stellungsbilder sein. In diesem Sinne stärkt deren Einbettung in die ansonsten kühle Raumatmosphäre die auratische Ausstrahlung des Bildes. Die Nähe zu einer populären Wohnrequisite wie der Palme betont allerdings auch die Warenförmigkeit des Bildes, das über den inflationären Gebrauch in Kunst, Kultur und Werbung längst zu einem weit verbreiteten und weitestgehend sinnentleerten Dekorationsstück geworden ist. In seiner spezifischen formalen Anlage verweist W-90-0503, Gießen 1990 sowohl auf die Sehnsucht nach Teilhabe an einer anderen, glanzvolleren Welt als auch auf das Verlangen nach ästhetischer Gestaltung eines Raums in den Grenzen etablierter Formen. Abbildung 57 (O.i.F.). Jörg Sasse: W-84-04-05, Düsseldorf 1984 (aus der Serie PRIVATE RÄUME (1983-1994))

Für dieses doppelte Verlangen stehen auch zwei andere Fotografien der Serie. In W-84-04-05, Düsseldorf 1984 wird wieder eine Raumecke vorgeführt, die über eine gekachelte Wandfläche, einen angeschnittenen Spiegelschrank und hängende Handtücher in einem Badezimmer verortet werden kann (vgl. Abb. 57). Fast ein Drittel der Bildfläche wird von einer Reproduktion des Gemäldes Le bal au Moulin de la Galette (1876) von Pierre-Auguste Renoir (1841-1919) belegt, der berühmten impressionistischen Darstellung einer Vielzahl von tanzenden und schauenden Menschen unter Bäumen und Laternen. Im Ge-

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gensatz zur kontrastreichen Anlage in W-90-05-03, Gießen 1990 erscheinen hier gemalter und fotografierter Bildraum ineinander verschränkt, denn in beiden Räumen wiederholen sich dominante Farbwerte. So ähnelt das Blaugrau der Schatten, einzelner Kleidungsstücke und eines Tischs in der Reproduktion sehr stark dem Blaugrau der Wandfarbe und der Kacheln im Badezimmer; aber auch das Gelb mehrerer Hüte entspricht in etwa der Farbe zweier Handtücher. Einzelne Haarfarben, die Farbanlagen eines Baumstamms und einer Hose korrespondieren mit den Brauntönen des Handtuchornaments, wie auch das Grün der Bäume in dem Muster eines anderen Handtuchs sowie im Deckel einer Cremedose wieder auftaucht. Eine weitere Verzahnung der Räume gelingt über die Reflexion eines Bildausschnitts in den Spiegeltüren des Hängeschränkchens. Über diese farblichen Korrespondenzen wird das Badezimmer zum Resonanzraum für die heitere Vergnügungsszene. Diese ist bestimmt von der öffentlichen Begegnung der Geschlechter, die über Blicke, Gespräche und Tänze facettenreich vorgeführt wird. Vier Einzelszenen hat Renoir auf einer Diagonalen im Bildraum von der vorderen rechten Bildkante bis zur hinteren linken Bildecke gestaffelt: die eines interessiert zu einer Frau herüberblickenden Mannes, die der Kommunikation zwischen zwei Frauen und einem Mann, die eines eng umschlungen tanzenden Paares und die einer Frau, die sich von einem Mann abwendet. Sasses Fotografie suggeriert, dass Personen, die vor dem Spiegelschrank stehen, sowohl aufgrund ihrer unmittelbaren Nähe zu Renoirs Bild als auch über die Verschränkung des impressionistischen Bildraums mit dem fotografierten Badezimmer in das Spiel des Sehens und Gesehenwerdens und die Flirts zwischen Mann und Frau indirekt mit einbezogen werden. Sasses Fotografie verdichtet somit eine Raumkonstellation, in der die tägliche Zurichtung des eigenen Körpers auf die (traumhafte) Teilhabe an einer heiteren und sozial anregenden Situation ausgerichtet scheint. Das Bild verweist damit auf den Wunsch und die Sehsucht nach ästhetischer wie geistiger Abkehr vom engen und banalen Alltagsraum. In W-90-12-04, Bad Salzuflen 1990 verlängert Sasse eines der einschlägigsten Sehnsuchtsmotive, das Bild eines Sonnenuntergangs über dem Meer mit Strand und Palme, direkt in den Wohnraum hinein (vgl. Abb. 58). Das Landschaftsidyll ist als Motiv einer wandfüllenden Fototapete im engen Bildausschnitt ebenso fragmentarisch erfasst wie eine Tischdecke mit floralem Muster und ein Stuhl. Die drei Einrichtungsgegenstände teilen sich eine auf warme Braun-, Orange- und

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Gelbtöne reduzierte Farbpalette. Im rechten Fünftel der Bildfläche markiert die Reflexion des Sonnenlichts im Wasser eine Bildvertikale, die ihre Fortsetzung in der senkrechten Achse der Deckenrosette findet. Diese aus der Bildmitte gerückte Vertikale wird erst durch die Verschiebung der Objektiv- gegen die Filmebene in der fotografischen Aufnahme möglich; sie kann weder von einer starren Kamera noch vom menschlichen Auge vor Ort wahrgenommen werden. Über diese Perspektivverschiebung verschränkt Sasse das Tapetenmotiv mit dem Tischdekor beinahe vollständig zu einem neuen flächigen Muster. Die räumliche Ausdehnung des Ensembles wird erst über den weißen Keil nachvollziehbar, der sich am linken Bildrand zwischen Tapetenende und Tischkante zeigt. Der eine Raum durchwirkt hier den anderen: das Deckendekor wird zum Bild, der Sonnenuntergang zum Ornament; beide Bilder addieren sich zu einer autonomen ‚Allover-Struktur‘. Bewohner sind in dieser Anordnung nicht vorgesehen; auf sie wird über die Lehne eines Stuhls zwar verwiesen; dieser ist allerdings zu sehr zwischen Wand und Tisch eingeklemmt, als dass er zum Sitzen einladen würde. Mit der formalen Verschmelzung der beiden Motive zu einer Metastruktur der im Ornament und im Idyll domestizierten Natur werden auch die mit ihnen verbundenen Sehnsüchte nach Naturverbundenheit, Romantik, Sentiment und Schönheit zusammengeführt und in der Übertreibung ironisch gebrochen. Abbildung 58 (O.i.F.). Jörg Sasse: W-90-12-04, Bad Salzuflen 1990 (aus der Serie PRIVATE RÄUME (1983-1994))

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Diese drei Fotografien aus Sasses Serie PRIVATE RÄUME werden von populären Bildern dominiert, die sowohl auf den Versuch der ästhetischen Gestaltung eines Wohnumfeldes verweisen als auch als kulturelle Manifestationen verschiedener Sehnsüchte – Glamour, Romanze, Romantik – gelesen werden können. Über Kompositionen, die eher der Logik einer Komposition als der Evidenz des Sichtbaren folgen, betont Sasse die Konnotationen dieser Sehnsuchtsmotive und behauptet deren Wirkkraft im Wohnraum. Seine bildnerischen Verdichtungen und Verschränkungen von Disparatem, von Bedeutsamem und Banalem, Vorgefertigtem und Angeeignetem, Kitsch und Kunst, weisen dabei auch karikierende Züge auf. Abbildung 59 (O.i.F.). Richard Billingham: o.T.

Auch die Fotoserie von Richard Billingham33, die seine Eltern in ihrer Wohnung zeigt, umfasst einige Bilder mit Sehnsuchtsmotiven; quantitativ dominiert wird sie allerdings von Aufnahmen aus dem vorwiegend trostlosen Wohnalltag des alkoholabhängigen, antriebslosen Vaters und der übergewichtigen, resoluten Mutter. Dennoch prägen die wenigen Sehnsuchtsmotive das ambivalente Gesamtbild von der Wohn- und Lebenssituation der Billinghams; ihre Bedeutung vermittelt sich insbesondere in der Abfolge der Bilder im Fotobuch Ray’s a

33 Richard Billingham wurde 1970 in Cradley Heath (GB) geboren. Er studierte von 1991 bis 1994 an der University of Sunderland Bildende Kunst. Billingham lebt in Birmingham (vgl. http://www.anthonyreynolds.com (11.4.2009)).

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laugh34, in dem viele der Fotografien veröffentlicht wurden. Im Kontrast zur ärmlichen Einrichtung und zum krisenreichen und konfliktträchtigen Familienleben stehen sowohl Szenen der Freude und harmonischen Eintracht als auch Nippes und fröhliche Tapeten sowie einzelne Bilder von Vögeln im Grünen. Während einige Fotografien also von Anteilnahme, Gestaltungswillen und Sehnsucht im ansonsten desolaten Umfeld künden, markieren die Tieraufnahmen eine Gegenwelt des Außenraums, der Natur und der Unversehrtheit. Abbildung 60 (O.i.F.). Richard Billingham: o.T.

Das Fotobuch enthält vor allem Bilder, die den Vater des Künstlers, Raymond (Ray), zeigen. Es handelt sich dabei meist um Aufnahmen aus unmittelbarer Nahsicht, wobei Ray wie seine Frau Elisabeth (Liz) und der jüngere Sohn Jason nur in wenigen Fotografien direkt in die Kamera schaut oder für diese zu posieren scheint. Der Großteil der Live-Fotografien suggeriert, dass der fotografierende Sohn Richard nicht weiter beachtet wurde und so ungestellten Alltag im Bild bannen konnte. Die Unschärfen, Über- und Unterbelichtungen in den Fotografien unterstützen diese Rezeption, da sie nahelegen, dass die Aufnahmen spontan und weitestgehend unkontrolliert entstanden sind. Auch aufgrund einiger maskierter bzw. doppelt belichteter Bildteile, kleiner Flecken und unnatürlicher Farbwerte, die auf technische Fehler, mangelhaftes Material und sorglose Verarbeitung schließen lassen, erinnern die Bilder formal an private Schnappschüsse von Knipsern. Die

34 Richard Billingham 2000 (1996).

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Farbverfremdung führt Richard Billingham als Beispiel an, um das Bemühen um Abgrenzung von einem (sozial-)dokumentarischen Ansatz zu verdeutlichen: „It would look too documentary, if the colours were recorded exactly as they are.“35 Die krude Bildästhetik spiegelt und stärkt den Eindruck der Nachlässigkeit, Erschöpfung und Versehrtheit, die die Figuren im Bild vermitteln. Ray ist in vielen Aufnahmen unrasiert und unfrisiert, Falten verweisen auf sein fortgeschrittenes Alter, Tätowierungen auf seine Zugehörigkeit zur Arbeiterklasse; meist erscheint er abwesend, berauscht oder lethargisch. Die Bilder offenbaren eine Resignation, die nach dem Beginn seiner Arbeitslosigkeit eingesetzt habe, wie Richard Billingham berichtet: „He didn't do too much after that. He used to say, ,I'm just going to lie on my back and be dumb‘, and that's what he did, more or less.“36 Einige Bilder zeigen Ray zudem als Opfer von handgreiflichen Auseinandersetzungen mit seiner Frau; Aufnahmen von Stürzen legen nahe, dass (auch) diese zu seinen blutigen Gesichtsverletzungen geführt haben könnten, die in manchen der Bilder dokumentiert sind. Zwar haben sich das soziale Umfeld und der Lebenswandel auch in Liz’ übergewichtigem Körper mit seinen Tätowierungen, den fleckigen Zähnen und den Narben eingeschrieben, aber im Gegensatz zu Ray erscheint sie in den Bildern aktiv, selbstbewusst und lebensfroh. Jeweils ein Bild verbindet sie mit versorgenden Aktivitäten des Einkaufs, der Essenszubereitung und der Tierfütterung; ein weiteres zeigt sie beim konzentrierten Puzzeln. Farben und Muster ihrer Kleider sind bunt und auffällig; sie verbinden Liz mit einem räumlichen Umfeld, das von ornamentierten und farbigen Tapeten, bunten Figuren, schillernden Masken, disparaten Mustern auf Decken, Polstern und Kissen oder dem bunten Chaos ausgebreiteter Puzzleteile geprägt ist. So bedarf es kaum des Hinweises auf der Rückseite des Fotobuchs, um ihre Vorliebe für „things that are decorative“37 zu erkennen und ihr die

35 Richard Billingham im Gespräch mit James Lingwood: „Family Values“, In: tate, 15/1998, S. 54. 36 Richard Billingham. Zitiert nach: Perkin, Corrie: „Shooting his Family, Other Animals“ (Erstveröffentlichung in The Australian, 17.12.2007). Online unter: http://www.theaustralian.news.com.au/story/0,25197,2293363716947,00.html (11.3.2009). 37 Richard Billingham 2000 (1996), o.S.

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Verantwortung für den schmückenden Teil der Inneneinrichtung zuzuschreiben. Abbildung 61 (O.i.F.). Richard Billingham: o.T.

Ray wirkt in diesem heiteren Ambiente wie ein Fremdkörper, was sowohl auf das blasse Blaugrau seiner Kleidung als auch auf seine defensive bis entrückte Haltung zurückgeführt werden kann (vgl. Abb. 59). Im Gegensatz zu seiner Frau wird er nur selten vor den dekorativen Hintergründen dargestellt; der Großteil der Fotografien, in denen er allein zu sehen ist, zeigt ihn in ruhigen (Bild-)Räumen mit wenigen Einrichtungsdetails. Die Braun-, Beige-, Rosa- und Rottöne der Wände, der Decken und der Möbel korrespondieren in diesen Bildern meist mit der Farbigkeit seiner Haut oder seiner Kleidung; Ray wird von diesen Räumen regelrecht absorbiert (vgl. Abb. 60). Der schlichte, triste bis schäbige Charakter der Wohnräume beeinflusst dabei ebenso die Wahrnehmung seiner Person, wie sein derangierter und resignativer Zustand auf die Wohnräume ausstrahlt, so dass sich Raum und Bewohner in ihrer trostlosen Erscheinung gegenseitig stärken (vgl. Abb. 61). Die Unterschiede in den Raumbeziehungen von Liz und Ray lassen sich auch bildhaft beschreiben: „Ray drains the color out of the flat, seeming to live in a fog – gray jumpers, nicotine hair, brown liquid – oblivious of his surroundings. His wife Liz, ho-

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wever, injects color back into the home with her vibrant dresses and collections of porcelain knick-knacks.“38

Die Mehrheit der Bilder in Ray’s a laugh offenbart eine einfache, funktionale und ungestaltete Einrichtung, die aufgrund diverser Abnutzungs- und Schmutzspuren vor allem Nützlichkeitsdenken, Armut und Nachlässigkeit assoziieren lässt. Während diese Räume meist Darstellungen von Raymond Billingham hinterfangen, verweisen in anderen Bildern Dekorationsstücke auf die (Ko-)Existenz eines anderen Lebensstils, der mit Elisabeth Billingham verbunden wird. Eine Sammlung von possierlichen Kinder- und Tierfiguren aus Porzellan, eine Motivtapete, die einen phantastischen Luftgarten zeigt, sowie kleine venezianische Masken und Bildchen von weinenden Clowns stehen für das Bemühen, das Wohnumfeld ästhetisch zu gestalten. In einem früheren Wohnzimmer der Billinghams, das das zweite Bild des Buchs überblickartig vorführt, sind keine derartigen Wohnaccessoires ausgestellt (vgl. Abb. 62). Möglicherweise gehört der solide, saubere und ordentlich eingerichtete Raum zu dem Haus, das die Familie nach der Entlassung des Vaters aufgeben musste.39 Ein Vergleich der Einrichtungen suggeriert, dass erst die wirtschaftlich, sozial und gesundheitlich prekäre Situation der Billinghams, die der Rest der Fotografien andeutet, die liebliche Dekoration hervorgebracht hat. Abbildung 62 (O.i.F.). Richard Billingham: o.T.

38 Http://www.eyestorm.com/artist/Richard_Billingham_biography.aspx (13.10.2005). 39 Vgl. Perkin 2009 (2007).

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Abbildung 63 / 64 (alle O.i.F.). Richard Billingham: o.T.

Der Großteil der Bilder, in denen Einrichtungsschmuck erfasst wurde, weist Szenen der Entfremdung, Aggression und Gewalt auf, die mit der Idylle und kitschigen Schönheit des Wand- und Figurenschmucks kontrastieren. In der Fotografie, die Liz mit blutiger Nase neben Ray mit einer Verletzung an der Augenbraue zeigt, spiegeln die Eheleute zwar das Paar auf der Tapete, da auch sie einander zugewandt erscheinen und farblich ähnliche Oberbekleidung tragen (vgl. Abb. 63); während das Paar auf der Tapete aber entspannt den Ausführungen eines Dritten lauscht und (weitere) Attraktionen wie den Seiltanz erwartet, werden Liz und Ray als Akteure einer Szene vorgestellt, die offenbar einen gewalttätigen Höhepunkt hatte. Für diese Diskrepanz zwischen Bild- und Alltagswelt steht auch die Konfrontation von Liz’ massigem Körper mit den idealisierten Körpern einer Putte und einer Amazone, die sie als Wandschmuck einrahmen (vgl. Abb. 59). In einer anderen

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Fotografie trifft die machtvolle und bedrohliche Ausstrahlung eines Tigers im Bild auf einen schwach und abwesend wirkenden Ray (vgl. Abb. 60). Über diese vielfältigen Kontraste zwischen Bildidylle und Wohnalltag erscheint die Dekoration als Ausdruck eines ebenso dringlichen wie (fast) hoffnungslosen Verlangens nach Schönheit, Stärke und Harmonie sowie nach Trost und Realitätsflucht. Die Spannung zwischen Sehnsuchtsmotiven und desolaten Lebensund Wohnbedingungen hat Richard Billingham auf der Ebene der Bildabfolge reproduziert, indem er Nahaufnahmen seiner lachenden bzw. sich umarmenden Eltern sowie drei Tierbilder in die Serie eingebunden hat (vgl. Abb. 64). Wie schon bei den ‚Familienbildern‘ zeigen auch die Außenaufnahmen mit Vögeln und einer Ente Lebewesen in Eintracht mit ihrem (natürlichen) Habitat. Als harmonische Darstellungen gesunder Natur markieren sie aber vor allem die Antithese zu den kruden Bildern dysfunktionaler Zivilisation, zu der im Übrigen auch die Haustiere zählen. Verteilt über das Buch unterbrechen zwei der drei Bilder eine Abfolge von Fotografien, die Ray in besonders misslichen Situationen vorführen. Als eine Art ‚Pausenbild‘ ermöglichen sie die Distanzierung vom Sog der ‚Schreckensbilder‘ und steigern die Konzentration für das Nachfolgende. Als Idyllen symbolisieren sie schließlich auch die Sehnsucht nach einem anderen, gesünderen, natürlicheren, freieren, unbekümmerten Dasein. Eine Sehnsucht, die im Wohnalltag der Billinghams, wie ihn Richard in seinen Fotografien vermittelt, keinen Ausdruck findet, denn hier bleiben nach einer einführenden Aufsicht auf eine Straßenkreuzung mit angrenzenden Reihen- und Hochhäusern 40 sowohl städtische als auch naturhafte Außenwelt demonstrativ ausgesperrt. In vier Bildern werden Fenster gezeigt, die aber entweder durch Gardinen verhangen sind oder aufgrund von Überbelichtungen ein Außen nicht oder nur schemenhaft zu erkennen geben. Die grenzenlose Freiheit eines horizontlosen Himmels verspricht lediglich die Zigarettenpackung, die in einer Nahaufnahme von Liz auf dem Tisch liegt und mit tiefem Blau, vereinzelten Wölkchen und dem Markennamen ‚Sky‘ lockt. Wie die anderen, dekorativen Dinge markiert auch dieses standardisierte Produkt industrieller Mas-

40 Da auf dieses sonnige Bild die nüchterne Aufnahme des aufgeräumten Wohnzimmers folgt (vgl. Abb. 62), wird suggeriert, dass sich beide Bilder auf die Wohnsituation der Billinghams vor dem Verkauf des eigenen Hauses und damit auf eine im wirtschaftlichen Sinne bessere Zeit beziehen.

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senproduktion einen Ausgangs- und Bezugspunkt träumender Abkehr von einem banalen Wohnalltag. Indem Sasse und Billingham die häuslichen Sehnsuchtsmotive in komplexe Bilder einbinden, thematisieren sie nicht nur deren alltagsweltliche Funktion; vielmehr stellen sie über das Klischee auch Fragen nach der kulturellen Bedeutung von Dingen und Bildern, der gesellschaftlichen Relevanz der repräsentierten Sehnsüchte sowie dem Stellenwert des Wohnraums als Schnittstelle zwischen dem Individuum und der Welt, d.h. zwischen persönlichen Bedürfnissen, sozialen Interaktionen, ökonomischen Verhältnissen und soziokulturellen Bedingungen.

7.2

R ÄUME

VERHINDERTER I NTIMITÄT

Wie kein anderer Raum ermöglicht der Wohnraum intime Beziehungen zwischen Menschen. Das Bedürfnis des bürgerlichen Subjekts nach Intimität habe überhaupt erst zum kulturellen Motiv der Häuslichkeit geführt, resümiert Witold Rybczynski.41 Dass der private Raum nicht nur als eine wesentliche Vorraussetzung von Intimbeziehungen verstanden werden muss, sondern diese auch nachhaltig prägt, hat Abraham de Swaan am Beispiel von Familien herausgestellt: „Die Wohnung [...] bildet die notwendige materielle Voraussetzung für die Verwirklichung von Intimität. Sie erst ermöglicht die kontrollierte Enthüllung persönlicher Eigenarten gegenüber dem anderen. Die Wände, die uns umgeben, und die Türen, die uns miteinander verbinden – sie haben auch unsere Persönlichkeit und unsere Beziehungen zu anderen Menschen mitgeformt.“42

Intimität bedeutet allerdings nicht nur, dass Mitbewohner Informationen, Gefühle, Aktivitäten und Orte miteinander teilen, sondern auch, dass andere aus dieser besonderen Beziehung ausgeschlossen wer-

41 Vgl. Rybczynski, Witold: Wohnen. Über den Verlust der Behaglichkeit. München: Kindler 1987, S. 252. 42 Swaan, Abraham de: „Die Inszenierung der Intimität. Wohnverhältnisse und Familienleben“. In: Buchholz, B. Michael (Hg.): Intimität. Über die Veränderung des Privaten. Weinheim: Beltz 1989, S. 41-57: 55.

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den.43 Mit der zunehmenden Anerkennung des Rechts auf ein eigenes privates Leben in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts konnten Privatsphären in fast allen sozialen Milieus nicht nur nach außen, sondern auch innerhalb der Familie behauptet werden, konstatiert Antoine Prost.44 Diese persönlichen Sphären werden räumlich wie zeitlich hergestellt, wenn z.B. Kinder und Eltern getrennte Zimmer beziehen und das Badezimmer nacheinander genutzt wird. Am Ende des 20. Jahrhunderts offenbart man sich in Familien oder Wohngemeinschaften seinen ‚Mitbewohnern‘ gegenüber freiwillig und nicht mehr zwangsläufig aufgrund der äußeren Umstände. Viele Interieurs beziehen sich auf Wohnräume als Schauplätze von Intimbeziehungen der Bewohner; nicht selten wird dabei auf Konflikte fokussiert, wie bereits diskutiert wurde45 bzw. noch ausgeführt werden wird.46 Im Zentrum der folgenden Analyse stehen positiv besetzte intime Begegnungen zwischen Personen im Privaten, die auf der Ebene der Körper und Blicke stattfinden und im Bild reflektiert werden. Gerade den intimen Interieurs könnte Obszönität unterstellt werden, die nach Beate Söntgen allen Präsentationen von Innenräumen innewohne, da sie das ausstellen, „was verborgen sein sollte“47. Sowohl Nan Goldins intime Fotografien von Freunden wie auch Larry Sultans Aufnahmen von Pornodarstellern und Sexszenen in Privathäusern basieren allerdings auf der Kollaboration mit den Porträtierten sowie auf deren Einverständnis und Wissen um den Betrachterblick. Die Bilder gründen auf der Bereitschaft zur Exhibition seitens der Fotografierten und sprechen den voyeuristischen Rezipienten an. Vor allem verwickeln die intimen Interieurs den Betrachter aber in Reflexionen über Beziehungen, Intimität und Begehren in Hinblick auf dargestellte, eigene und kulturelle Sehnsüchte und Ängste.

43 Vgl. de Swaan 1989, S. 52. 44 Prost, Antoine: „Grenzen und Zonen des Privaten“. In: Prost / Ariès / Duby 1993 (1987), S. 15-151: 87. 45 Die intimste Beziehung unterhält das Subjekt zu sich selbst. Da gerade der private Raum die Besinnung auf dieses Verhältnis ermöglicht, ist er eine wichtige Referenz für Interieurs, die auf die psychische Verfassung des Subjekts fokussieren (vgl. Kap. 1.1). 46 Vgl. Kap. 7.3. 47 Söntgen 2004, S. 367.

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„Meine Fotos entstehen aus Beziehungen, nicht aus Beobachtungen“48, erläutert Goldin ihren künstlerischen Ansatz. Demnach basiert ihre Fotografie auf der emotionalen Nähe zu den Menschen, die sie aufnimmt; sie sei eher Ausdruck einer kommunikativen Situation als Bestandteil einer distanzierten Analyse. Im Moment der Aufnahme bestehe zwischen ihr und der Bezugsperson eine Komplizenschaft. Niemand würde ohne Einverständnis von ihr fotografiert werden; falls sich aber jemand im Nachhinein in den Bildern bloßgestellt fühle, würde sie die fraglichen Fotografien nicht (mehr) verwenden.49 Dass der Großteil der Aufnahmen diese vertrauensvolle Beziehung zwischen beiden Parteien spiegelt, hängt auch mit den intimen Räumen und Situationen zusammen, in denen viele der Fotografien entstanden sind. Die Bilder von nackten Menschen im Bett, in der Badewanne oder beim Sex, die zu den stetig wiederkehrenden Sujets in ihrem Werk zählen, beziehen sich am offensichtlichsten auf Orte, Zustände und Handlungen, von denen Beobachter üblicherweise ausgeschlossen sind. Auch viele der dokumentierten körperlichen und emotionalen Verfassungen, die sowohl von Verletzungen und Selbstzerstörung als auch von Leidenschaft und Ekstase zeugen, werden gemeinhin nur in Intimbeziehungen mitgeteilt. Goldin fokussiert dabei nicht nur auf die Erfahrungen der anderen, sondern offenbart sich auch immer wieder selbst. Sie betont, dass sie direkt aus ihrem Leben heraus fotografiere, dass die Kamera zu ihrem „täglichen Leben wie Reden oder Essen oder Sex“50 gehöre und dass sie sich in ihrer Fotografie genauso sehr enthülle, wie sie andere enthülle. 51 Der Eindruck der unmittelbaren und spontanen Entstehung der Aufnahmen als Live-Fotografien des Alltäglichen wird durch die Schnappschussästhetik der Fotografien mit hartem Blitzlicht, den Unschärfen, den satten Farben und der vermeintlich ungestalteten Komposition unterstützt. Viele Bilder aus verschiedenen Werkphasen scheinen den Wunsch Goldins und ihrer Freunde nach einem intimen Zusammenleben zu veranschaulichen, das dem in einer Familie ähnelt. Statt Abstammung

48 Goldin 1987 (1986), S. 6. 49 Vgl. Nan Goldin im Gespräch mit Ingvild Goetz: „Als würde ich jemanden berühren“. In: Goetz / Meyer-Stoll 1997, S. 102-115: 102. 50 Goldin 1987 (1986), S. 6. 51 Vgl. Nan Goldin im Gespräch mit Ingvild Goetz 1997, S. 103.

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verbinde sie eine ähnliche Lebenseinstellung, „das Bedürfnis, ganz für den Augenblick zu leben, Zweifel an der Zukunft, ein Sinn für Ehrlichkeit, der Wunsch, das Limit zu erhöhen und eine gemeinsame Geschichte“52. Damit skizzieren die Fotografien meist auch einen alternativen Lebensstil, der sich von dem der gesellschaftlich dominanten Milieus mit ihren traditionellen Vorstellungen von Familie, Partnerschaft und Geschlechteridentität unterscheidet. 53 Wie Goldin das Interieur einsetzt und inszeniert, um Intimität zu behaupten und darüber Bedeutung zu stiften, wird im Folgenden an einigen wesentlichen Merkmalen ihrer Raumkonstruktionen herausgearbeitet. Betten und Badewannen zählen zu den Komponenten, die in Goldins Werk auffallend häufig intime Räume markieren. Nirgends sonst sei der Mensch mehr bei sich und gleichsam außer sich als im Bett, hat Gert Selle notiert.54 Den anthropologischen Stellenwert des Betts beschreibt er wie folgt: „[...] das Bett ist der im Grunde unteilbare Raum des Ich im Stadium seiner Zurückgezogenheit vom Leben und allen anderen; Alleinsein, Zwiesprache mit Gott in Hoffnung oder Verzweiflung, Traum, Krankheit, Tod binden nicht nur ‚ans Bett Gefesselte‘ in diesen kleinen Raum im Raum, sondern bezeichnen Stadien der Bewusstlosigkeit, Schwäche, Ekstase (Sex) oder auch des Wachseins, die zugleich banale und extreme Situationen des Alltäglichen bedeuten.“55

Mit diesem Spektrum intimer menschlicher Erfahrung sind auch die Betten in Goldins Interieurs verbunden, denn in ihnen wird ebenso geliebt und geschlafen wie gelitten und gestorben. Krankheit, Sucht und Tod stehen in Goldins Werk meist im Zusammenhang mit nüchternen Klinikbetten, während Schlafstätten in unpersönlichen Zimmern Reisen oder Liebessdienste assoziieren lassen. Der Großteil der Betten wird von Einzelpersonen oder Paaren genutzt; einige sind nicht ‚besetzt‘, verweisen aber über zerwühlte Laken auf einen vergangenen 56

52 Goldin 1987 (1986), S. 6. 53 Vgl. Kap. 6.2. 54 Vgl. Selle 1993, S. 119. 55 Ebd. 56 Vgl. Empty beds, Boston 1979. In: Nan Goldin 1986, S. 139.

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oder über ein umfangreiches Sortiment an Cremes und Papiertüchern auf dem Nachtisch auf einen künftigen Gebrauch. 57 Abbildung 65 (O.i.F.). Nan Goldin: Tony’s back, Cambridge, Massachusetts 1977

Die wenigsten Bettbilder stellen ein einsames, zurückgezogenes Subjekt vor; meistens teilt sich die Anwesenheit der Fotografin über die Ausrichtung der Porträtierten oder Goldins empathische Nähe zu ihnen mit. So hat sich der Mann in Tony’s back, Cambridge, Massachusetts 1977 zwar von der Fotografin abgewendet, indem Goldin aber seine Rückenansicht zeigt, die vom weichen Tageslicht plastisch moduliert wurde, erscheint diese sinnlich attraktiv und verrät den begehrenden Blick der Fotografin (vgl. Abb. 65). Die erotische Wirkung von Körper und Szene wird sowohl durch formale Korrespondenzen zwischen Raum und Rücken als auch durch Requisiten befördert, die die Phantasie des Betrachters anregen. Indem sich die vielen Falten des Lakens an die linke Flanke des Mannes anschmiegen, wird diese akzentuiert; über die Spiegelung der runden Form von Bettvorleger und Aschenbecher in den Gesäßbacken der Bildfigur wird ein Körperteil mit starkem erotischem Reiz betont. Die zerknüllte Hose und die Zigarettenkippen vor dem Bett wecken Assoziationen an eine vorgängige, intime Handlung, bei der Goldin als ‚beobachtende Teilnehmerin‘ eine Rolle gespielt haben könnte. In diesem wie auch in anderen Interieurs stärkt

57 Vgl. Empty bed in a whorehouse, New York City 1979. In: Nan Goldin 1986, S. 96.

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das räumliche Umfeld über formale Korrespondenzen und Kontraste58 die intime (Blick-)Beziehung zwischen Fotografin, Betrachter und Bildfigur. Die Personen, die Goldin im intimen Raum des Badezimmers fotografiert hat, erscheinen im Vergleich mit dem Großteil der im Bett lagernden Freunde weniger kommunikativ und stärker auf sich selbst konzentriert. In seiner Kennzeichnung von Wohngemeinschaften hat Johann August Schülein das Bad als einen „Ort von Nacktheit, Körperpflege, materieller Auf- und Abrüstung“59 beschrieben. „Sich hier zu begegnen“ bedeutet vor allem, „sich gegenseitig in Situationen sozialer Schwäche und Unkorrektheit zu begegnen.“60 Dass viele von Goldins Fotografien hier entstanden sind, vermittelt den Eindruck von vertrauensvollen Beziehungen zwischen ihr und den duschenden, badenden und ihre Notdurft verrichtenden Frauen und Männern, die sich bereitwillig von ihr bei intimen Routinen beobachten lassen. Goldins Fotografie intimer Räume stellt aber nicht nur Formen alternativen Zusammenlebens vor, sondern destilliert auch Anmut und Schönheit aus alltäglichen Situationen und wendet intime Handlungen metaphorisch. Während die Bilder, die Frauen vor Spiegeln darstellen, rationale Selbstbefragung indizieren,61 verweisen die Bilder von Frauen, die in Badewannen liegen, zuvorderst auf sinnliche Genüsse. Noch weniger teilbar als der Raum eines Bettes umrahmt der Wannenraum ausschließlich die Badende und dient vor allem der ichbezogenen „körperlichen Grunderfahrung von Entspannung und Wärme“62. Goldin unterstreicht in den Badebildern zuvorderst die sinnliche Ausstrahlung der Körper, indem sie darstellt, wie diese von Wasser und Schaum teilweise ver- und enthüllt werden.

58 So bildet der nackte, ausgestreckte Körper in Kenny in his room, New York City 1979 (in: Nan Goldin 1986, S. 62) eher einen Gegenpol zum dinglichen Chaos auf Bett, Boden und Regal; er figuriert als Zentrum des Bildes, in dem der überreizte Betrachterblick zur Ruhe kommt. 59 Schülein, Johann August: „Intimität und neue Formen des Zusammenlebens. Das Beispiel Wohngemeinschaft“. In: Buchholz 1989, S. 149-164: 158. 60 Ebd. 61 Vgl. Kap. 1.1. 62 Selle 1993, S. 88.

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Abbildung 66 / 67 (alle O.i.F.). Nan Goldin: Caterina in the tube in the golden light, Turin 2000 / Butch in the tube, New York City, 1988

So werden sowohl in Caterina in the tube in the golden light, Turin, 2000 als auch in Butch in the tube, New York City, 1988 über diese Umspülungen die runden Bäuche schwangerer Frauen effektvoll betont (vgl. Abb. 66, 67). Der Vergleich der motivisch ähnlichen Bilder verdeutlicht die wirkungsmächtigen Unterschiede in der Komposition. Während sich in dem 1988 aufgenommenen Bild eine geschwungene Körperlinie von der Wasseroberfläche abzeichnet und die Volumen von Po, Bauch und Brust zu einem kohärenten Körper vereinen, fehlt diese Verbindung in der Aufnahme von 2000; schattige Oberschenkel, kugeliger Bauch sowie Brust-, Schulter- und Kopfpartie ragen relativ zusammenhangslos aus dem schaumigen Badewasser. Auch Mimik und Gestik unterscheiden sich, denn ein zufriedenes, selbstbezügliches Lächeln trifft auf einen abwesenden, melancholischen Gesichtsausdruck; zudem steht eine Selbstumarmung gegen gebeugte Arme, die nicht den Oberkörper umschließen, sondern jeweils nur sich selbst berühren. Schlussendlich kontrastiert das helle, klar strukturierte Bad in New York mit dem dunklen, akzentuiert beleuchteten Badezimmer in

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Turin sowie die Fokussierung in der einen mit der leichten Unschärfe in der anderen Fotografie. Im Zusammenspiel von Haltung, Raum und Bildästhetik ergeben sich gegensätzliche Eindrücke der emotionalen Zustände der Frauen: Während das eine Bild eine Frau zeigt, die eins mit sich und ihrem Zustand zu sein scheint, deutet das andere Bild Zweifel und Entfremdung vom eigenen Körper an. Insbesondere der intime Raum der Badewanne in seiner alltagsweltlichen Bedeutung als Ort der Besinnung auf sich und den eigenen Körper stellt die Verbindung her zwischen der psychischen Verfassung der Frauen und der physischen Erfahrung der Schwangerschaft. Die Bilder schließen dabei auch an die Bildtradition der (künstlerischen) Darstellung von Frauen bei der Toilette an, die vielfach als Vorwand zur voyeuristischen Feier der Sinnlichkeit nackter weiblicher Körper diente.63 Abbildung 68 (O.i.F.). Nan Goldin: Siobhan at the A-House: nude, Provincetown, 1990

Die unbekleidet auf einer Bettkante sitzende Frau in Siobhan at the AHouse: nude, Provincetown, 1990 hingegen schaut direkt in Goldins Kamera und verweigert damit dem Betrachter die Heimlichkeit seines

63 Vgl. Söntgen 1998, S. 208.

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Schauens, das kaum mehr als voyeuristisch im engeren Sinne bezeichnet werden kann (vgl. Abb. 68). Da die Mimik der Figur unergründlich, fragend und ihre Haltung leicht angespannt, befangen und abweisend wirkt, übt sie wenig erotische Anziehungskraft aus. Ihren linken Arm hat sie so auf dem Oberschenkel abgelegt, dass er ihre Scham verdeckt. Indem sie den rechten Arm angewinkelt vor ihrem Bauch hält, erscheint er als Rahmen für ihren Oberkörper, der auf diese Weise zum Bild im Bild, zum Brustbild im Interieur, wird. Damit markiert sie in doppelter Hinsicht eine Barriere zwischen sich und dem Betrachter. Der rechtwinkelig gebeugte Arm sticht auch deswegen hervor, weil die hintere Bettkante mit einem Türpfosten ebenfalls einen rechen Winkel formen. Wären diese Schenkel Begrenzungen eines Bildes, würden sie ein Kopfporträt der Frau vor der gemusterten, grünen Tapete einfassen. Statt die Figur „ganz nah an die Grenzlinie zum Raum des Betrachters treten“64 zu lassen, was Goldins üblicher Bildpraxis entspräche, betont sie über die (angedeutete) dreifache Rahmung eine Distanz zwischen sich und der Frau, die sich auf den Betrachter überträgt. Zugleich thematisiert die Künstlerin über diese Komposition den Prozess der Bildwerdung selbst. Schließlich leitet ein unidentifizierbares schwarzes Ding im Bildmittelgrund den Betrachterblick von der Person bzw. ihrem schwarzen Haupt- und Schamhaar über zu den dunklen Beschlägen der Tür im Bildhintergrund. Da zudem das Fußende des Bettes zur Tür fluchtet, wird diese in einem ansonsten spärlich beschriebenen Raum zu einem wesentlichen Bezugspunkt. Denn die Tür steht für die mögliche Öffnung des Raums, hier für einen Ein- oder Austritt und damit für den Abbruch der intimen Beziehung zwischen Betrachter und Betrachteter. Dieses Interieur eines intimen Raums führt dessen räumliche wie soziale Grenzen vor. Deutlich wird, dass ein Raum nur exklusiv sein kann, solange er für andere geschlossen bleibt oder von keinem verlassen wird, und dass die Beziehung nur intim ist, solange sie auf Offenheit und Teilhabe basiert. Das Bild korreliert mit den konkreten Lebenserfahrungen Goldins, die in ihrer Liebesbeziehung zu der britischen

64 Lebovici, Elisabeth: „An den Rändern des Bildes.“ In: Parkett, 57/1999, S. 64-67: 65.

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Künstlerin Siobhan Lidell über Jahre wiederholt Trennungen und Versöhnungen erlebt hat. 65 Die Ambivalenz von Beziehungen hat Goldin immer wieder auch in Bettszenen mit Paaren thematisiert. Meist handelt es sich dabei um hetero- oder homosexuelle Begegnungen zwischen Männern und Frauen sowie Goldin und wechselnden Liebhabern und Liebhaberinnen. Während sich in The ballad of sexual dependency, die auf das „Wesen von Beziehungen“ als „Kampf zwischen Autonomie und Abhängigkeit“66 fokussiert, ebenso viele Motive der Leidenschaft wie der Verzweiflung finden, dominiert in den folgenden Jahren der Austausch von Zärtlichkeiten in Goldins Fotografien. Ende der 1990er Jahre sind häufiger auch Kinder im Bett als Ort der körperlich-sinnlichen Kommunikation zu sehen; in diesen Bildern zeigt Goldin neben oder statt der Intimität in Paarbeziehungen (auch) familiäre Vertrautheit.67 Die harmonischen Bettszenen seit Anfang der 1990er Jahre zeichnen sich durch warme Töne, weiches Tageslicht und leichte Unschärfen aus, die die Oberflächen glätten und die Handlung dynamisieren; häufig rückt das räumliche Umfeld dadurch in den Hintergrund. Die Reduzierung von Bildelementen und der subtilere Umgang mit Licht markieren einen Stilwechsel, den Goldin nach einem Drogenentzug und längeren Aufenthalten in Europa vollzogen hat. Zuvor hatte sie vor allem nachts fotografiert; ihr frontales, hartes Blitzlicht leuchtete die Figuren und Räume so deutlich und umfassend aus, dass sich meist eine Fülle an Details in die Bilder eingeschrieben hat. Goldin offenbart mit diesem Blitzlicht Dinge, die zuvor in den Schatten der Nacht verborgen waren; häufig dringt der Betrachter über die präzise Darstellung des Gegenstands noch tiefer die Intimsphäre der Porträtierten ein. Das gilt insbesondere für die Sequenz dreier Bilder, die eine der intimsten Szenen in Goldins Werk am direktesten beschreibt: Im ersten Bild küssen sich ein nackter Mann und eine Frau in Unterwäsche auf dem Bett, im nächsten krümmt sich der Mann, dessen Penis von einer Frauenhand umschlungen wird, zur Kamera, und im

65 Vgl. Garratt, Sheryl: „The Dark Room“. In: The Observer, 06.01.2002, S. 10. 66 Goldin 1987 (1986), S. 7. 67 Vgl. z.B. Aurèle bent over to kiss Joana, New York City 1999. In: Goldin, Nan / u.a. (Hg.): The Devil's Playground. London: Phaidon 2003 (dt. Titel Luzifers Garten), S. 170.

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letzten Bild liegt er entspannt und allein vor feuchten Flecken, die sich auf dem Laken abzeichnen (vgl. Abb. 69). Abbildung 69 (O.i.F.). Nan Goldin: My hand on Brian’s dick, New York City, 1983

Die Beschaffenheit der Körper und der (veränderte) Zustand des Raums werden detailreich und aus großer Nähe vorgeführt; in ihrer Wirkung verstärken sie sich gegenseitig. Das Ursprüngliche des stark behaarten Männerkörpers spiegelt sich in dem rauen Ambiente des Raums mit den unverputzten Wänden, der schirmlosen Lampe und dem banalem Krimskrams auf der Fensterbank. Die unwirtliche räumliche Atmosphäre korrespondiert mit der Erfahrung eines aus der Distanz ermöglichten sexuellen Höhepunktes. In dieser Wechselwirkung zwischen Körper, Raum und Handlung entsteht der Eindruck einer rohen Triebabfuhr, die eher auf eine körperlich-sexuelle als auf eine psychisch-emotionale Intimbeziehung verweist. Die dargestellte Beziehung erscheint zwar leidenschaftlich, aber nicht einträchtig, wenn die doppelte Distanzierung Goldins in My hand on Brian's dick, New York City, 1983, die sich sowohl der engen Umarmung als auch (größtenteils) dem Bildraum entzogen hat, metaphorisch gelesen wird (vgl. Abb. 69). Darüber hinaus thematisiert Goldin in diesem Bild das Verhältnis zwischen Bildwelt und Betrachterraum: Indem sie weder in ihrer üblichen Position als Bildfigur noch als Beobachterin hinter der Kamera erscheint, spricht sie den Bildbetrachter als Adressaten der Fotografie an. Über die demonstrative Ausrichtung der manuellen Befriedigung auf den Betrachter betont die Künstlerin, dass sie ihm einen direkten Blick auf ihre Welt intimer Begegnungen und intensiver Er-

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fahrungen bietet. Das Bild steht somit auch für die (provokante) Konfrontation des Rezipienten mit Goldins Fragen nach dem „Wesen von Beziehungen“ und die Überzeugung, dass diese auch ihn selbst betreffen könnten: „Meine Fotos zeigen ganz bestimmte Menschen und Umgebungen, doch ich glaube, die Fragen, mit denen ich mich auseinandersetze, sind universal.“68 Das Motiv der sexuellen Interaktion findet sich auch in den Interieurs von Larry Sultan 69, die 2004 in dem Fotobuch The Valley70 veröffentlicht wurden. Die Bilder sind seit 1998 bei Dreharbeiten zu pornografischen Filmen entstanden und zeigen Darsteller in bürgerlichen Einfamilienhäusern. Sultan thematisiert körperliche Intimität allerdings weniger als soziale Erfahrung, sondern vielmehr im Kontext kultureller Kommunikation. Da er vornehmlich an Filmsets fotografiert hat, die in realen Wohnwelten bei Los Angeles realisiert wurden, reflektieren seine Interieurs zuvorderst die US-amerikanische Idealvorstellung des suburbanen Heims. In seinen Bildern trifft die Vorstellung von einem Raum familiärer Harmonie sowie persönlicher Erfüllung auf die Illusion von sexueller Dauererregung und -befriedigung. Über die Konzentration auf das räumliche Umfeld offenbart Sultan zum einen die Bedingungen dieses speziellen Genres von Pornofilmen, das sich über die Opposition zu idealisierten Vorstellungen von Familie, Heim und Suburbanität definiert und tabuisierten Phantasien über spezifische Spielarten von häuslichem Sex Ausdruck verleiht. Zum anderen entlarvt er in vielen Bildern die Theatralik der existierenden Einrichtungen, die im Scheinwerferlicht bisweilen ebenso künstlich wirken wie die Filmkulissen, in denen ebenfalls gedreht und von Sultan fotografiert wurde. Seine Fo-

68 Goldin 1987 (1986), S. 7. 69 Larry Sultan wurde 1946 in New York geboren, 1949 zog seine Familie nach Los Angeles. Er schloss sein Studium der Politikwissenschaft an der University of California 1968 mit einem Bachelor of Arts ab und studierte bis 1973 am San Francisco Art Institute (vgl. http://www.mocp.org/ collections/permanent/sultan_larry.php (04.09.2009)). Von 1989 bis zu seinem Tod 2009 war er Professor für Bildende Kunst am California College of Arts and Crafts und lebte in der Nähe von San Francisco (vgl. http:// galeriezander.kunstmarkt.com (22.04.2009) und Liebs, Holger: „Unten im Tal“. In: Süddeutsche Zeitung, 15.12.2009, S. 12). 70 Larry Sultan 2004.

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tografien zeigen, dass nicht nur die pornografischen Vorstellungswelten, sondern auch die suburbanen Wohnräume als bloße Simulationen einer Welt des Wohlstands, des Glanzes und des (häuslichen) Glücks und damit zuvorderst als Repräsentationen von Sehnsüchten verstanden werden müssen. Einige Fotografien scheinen schließlich die gegensätzlichen Idealisierungen von Intimität miteinander zu versöhnen, indem sie attraktive Darsteller in Drehpausen in ebenso freizügiger wie entspannter Haltung im geschützten Raum suburbaner Privatheit zeigen. Die ersten drei Abbildungen im Buch führen in die unterschiedlichen Realitäts- bzw. Bildebenen ein, die die Serie prägen. In der ersten Fotografie mit dem Titel Encino, 2002 ist ein Einfamilienhaus inmitten einer üppigen Vegetation zu sehen. Aufgrund seiner moderaten Größe, dem kleinen Vorgarten, der grünen Lage und der Existenz von Nachbarschaft figuriert es als Ideal eines suburbanen Heims, das nach Jon C. Teaford lange Zeit den ‚Amerikanischen Traum‘ repräsentierte.71 Dolores Hayden hat aufgezeigt, dass das naturnahe Einfamilienhaus in der US-amerikanischen Kultur seit über zweihundert Jahren klassenübergreifend idealisiert wird und u.a. für das Versprechen nach Freiheit, sozialer Harmonie und innerem Frieden steht: „It is a landscape of the imaginiation where Americans situate ambitions for upward mobility and economic security, ideals about freedom and private property, and longings for social harmony and spiritual uplift.“72

Heute leben mehr US-Amerikaner in suburbanen als in städtischen Räumen; zur Realität von ‚Suburbia‘ zählten allerdings schon immer auch Probleme wie Zersiedlung, Isolation, Gewalt oder Privatinsolvenz. 73 Anders als beispielsweise Robert Adams, der sich in den 1970er Jahren mit den äußeren Effekten der Gründung von Einfamilienhaussiedlungen befasst hat, wie der massiven Veränderung der Landschaft oder der architektonischen Standardisierung von Wohn-

71 Vgl. Teaford, Jon C.: The American Suburb. The Basics. New York (NY) / u.a.: Routledge 2008, S. 159. 72 Hayden, Dolores: Building Suburbia. Green Fields and Urban Growth 1820-2000. New York (NY): Pantheon Books 2003, S. 3. 73 Vgl. z.B. Teaford 2008, S. xiiiff sowie Kap. 3.2.

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träumen, 74 ist Sultan am Leben im Inneren der Häuser interessiert. Bereits in seinem Fotobuch Pictures from Home75 thematisiert er interne Spannungen, die zwischen dem Ideal und der Wirklichkeit suburbanen Lebens auftreten. Es ist Ergebnis eines Projekts, für das sich Sultan aus Anlass der frühen Verrentung seines Vaters mit der Geschichte seiner Eltern, mit deren Erwartungen, Routinen und Enttäuschungen im suburbanen Alltag, beschäftigt hat. Über die Kombination seiner Fotografien vom Vater und von seiner Mutter mit zahlreichen Bildern aus den Alben und Filmen der Familie sowie textlichen Erinnerungen sowohl von sich selbst als auch von seinen Eltern, deren Kommentare zum Projekt in den Jahren seiner Entstehung ebenfalls fortlaufend notiert wurden, verschränkt Sultan seine (retrospektive) Sicht mit dem Selbstbild der Eltern zu einer spannungsreichen Arbeit über Familie, ‚Suburbia‘ und Erinnerung.76 Auf das Bild der suburbanen Idylle folgt in The Valley die Fotografie des Modells einer Villa mit Rundbögen, Türmchen, Auffahrt und Limousine. Model Home, Sepulveda Boulevard, 2002 steigert die Vorstellung eines idealen Heims ins Fiktive des Entwurfs und leitet damit gleichsam über in die Welt der filmischen Illusion. Mit der dritten Fotografie schließlich wechselt die Außen- zur Innenperspektive, und zur Ansicht kommt ein großer, repräsentativer Innenraum, in dem fünf Frauen in sommerlichen Kleidern in Richtung einer Frau schauen, die ein Brautkleid und einen Schleier trägt, aber nur über die Spiegelung im Fenster angedeutet wird. Bei genauerer Betrachtung von Mulholland Drive #3, 2001 irritiert, dass die Blicke der Frauen größtenteils unterschiedliche Punkte fixieren und nicht der Braut gelten; auch die seitliche Ausleuchtung des Raums, die gerade im Bildvordergrund zu großen Schatten führt, lässt eine bewusste Inszenierung von Figuren und Raum vermuten (vgl. Abb. 70). Im Kontext der Serie wirkt die Hochzeitsfeier wie die Szene eines Films und die Figuren wie Darsteller, die vor der Kamera auf den unmittelbar bevorstehenden Drehbeginn warten.

74 Vgl. Robert Adams. The New West. Landscapes along the Colorado Front Range. Boulder (CO): Colorado Associated Univ. Press 1974. 75 Larry Sultan. Pictures from Home (anlässlich der gleichnamigen Ausstellung, San Jose Museum of Art, California, 25.10.1992-31.01.1993). New York (NY): Abrams 1992. 76 Vgl. auch Kap. 3.2 und Kap. 8.1.

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Wie dieses sind die meisten der Bilder in The Valley während der Dreharbeiten für Pornofilme entstanden, die in Anwesen von Zahnärzten, Anwälten oder Immobilienmaklern realisiert wurden.77 Die Häuser stehen im San Fernando Valley bei Los Angeles, dem Zentrum der US-amerikanischen Sexfilmindustrie.78 Für die wenigen Tage der Anmietung werden die alltäglichen Wohnräume, Schlafzimmer, Gärten und Poolbereiche in Bühnen, Ruhezone und Garderoben verwandelt. Abbildung 70 (O.i.F.). Larry Sultan: Mulholland Drive #3, 2001

Im Gegensatz zu Ken Probst, der sich an Drehorten von Pornofilmen vor allem für die Präparation der Darsteller und ihre Interaktion mit dem Filmteam interessiert hat, 79 blendet Sultan in seinen Bildern die filmische Technik weitestgehend aus. Seine Fotografien stellen weniger Filmteams und Pornodarsteller vor, als dass sie leicht oder gar nicht bekleidete Männer und Frauen zeigen, die sich in privaten Räumen bewegen, entspannen oder sexuell betätigen. Allerdings verweisen immer wieder Stative, Scheinwerfer und vor allem das Licht, das

77 Vgl. Sultan, Larry: „Nature is Strange in the Valley“. In: Larry Sultan 2004, S. 7-10: 9. 78 Vgl. Kreye, Andrian: „Hinter den Hügeln beginnt Babylon.“ In: Süddeutsche Zeitung, 24.08.2001, S. 13. 79 Vgl. Ken Probst. (pôr'no-graf'ik). Santa Fe (NM): Twin Palms Publ. 1998.

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unnatürlich hell, gleichmäßig und horizontal angelegt dem pornografischen Prinzip maximaler Sichtbarkeit zur Durchsetzung verhilft,80 auf den eigentlichen Anlass der Handlungen. Die expliziten Sexszenen haben den geringsten Anteil an der Serie; wenn sie im Bild erscheinen, werden sie aus der Perspektive des Bildbetrachters meistens durch Möbel, Rücken oder Gegenstände verdeckt. Viele Positionen, die nackte Frauen und Männer auf Betten, Böden oder Sofas einnehmen, deuten vorgängige oder nachfolgende sexuelle Interaktion nur an; noch indirekter verweisen verhängte Fenster, Gleitmittel und Dildos in menschenleeren Räumen auf intime Kontakte. Sultan „hat nicht die Szenen gesucht, in denen der Heile-Welt-Illusion im Valley eine weitere hinzugefügt wird, die vorgetäuschte Dauerlust von Pornodarstellern in Aktion“81, konstatiert Holger Liebs. Aufgrund der Distanzierung von Sexszenen und Nahaufnahmen von Genitalien, die im Zentrum von Pornofilmen stehen,82 werden pornografische Bilder nicht reproduziert, sondern können vielmehr in Hinblick auf die Inszenierung, das Setting und deren Zusammenspiel beurteilt werden. Auf diese Weise enthüllen die Fotografien nicht nur die handwerklichen Konstruktionen hinter den gefilmten Höhepunkten, sondern offenbaren auch die narrativen Strukturen dieser Gattung von Sexfilmen, die im privaten Ambiente ebenso auf Konventionen des Genres wie auf das kulturelle Muster des Heimidylls verweisen. So konfrontiert eine Fotografie mit dem Titel Kitchen, Santa Clarita, 2001 zwei nackt vor einem Küchentresen kauernde Frauen mit eingelegten Früchten und einem Apfelkuchen, die demonstrativ auf diesem Tresen platziert wurden (vgl. Abb. 71). Während die Lebensmittel die nährende Funktion des Heims repräsentieren, damit den Bereich weiblicher Hausarbeit markieren und im Allgemeinen für geordnete Häuslichkeit stehen, verweisen die beiden Frauenfiguren auf (männliche) Phantasien von unverbindlichen Sexabenteuern mit unterwürfigen, attraktiven und willigen ‚Gespielinnen‘. Diese Konfrontation ge-

80 Vgl. Williams, Linda: Hard Core. Macht, Lust und die Traditionen des pornographischen Films. Basel: Stroemfeld 1995 (dt. Erstaufl.; Originalausgabe Hard Core: Power, Pleasure, and the ‚Frenzy of the Visible‘, Berkeley (CA) / u.a.: Univ. of California Press 1989), S. 132. 81 Liebs, Holger: „Eine Ballade von Sex und Verzweiflung“. In: Süddeutsche Zeitung, 14.10.2004, S. 16. 82 Vgl. Williams 1995 (1989), S. 132.

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gensätzlicher Sphären stärkt die sinnliche Erfahrung im Spiegel des jeweils anderen Genusses und betont den doppelten Tabubruch, der in der sexuellen Begegnung außerhalb der Ehe und innerhalb des familiären Heims besteht. Auch wenn die Frauen in ihrer Nacktheit und ihrer Position im Kontext der Serie zuvorderst an die Darstellung einer Sexszene denken lassen, fällt auch auf, dass sie offenbar im Moment der fotografischen Belichtung nicht für die Filmkamera agiert haben. Im Bild lachen sie ungezwungen, und ihre Haltung ist eher abwartend; sie erscheinen als individuelle Personen, während der historisierte Tresen mit den dekorativen Lebensmitteln ungleich künstlicher wirkt. Angesichts der ‚Natürlichkeit‘ der Darsteller wird die Einrichtung als formelhaft und leblos entlarvt. Das „Haus als Privattheater“83 sei typisch für die US-amerikanische Mittelklasse, hat Sultan angemerkt. Auch in anderen Bildern erinnert die pompöse Einrichtung, die primär den Eindruck vom ‚guten Leben‘, von Wohlstand und Geschmack84 vermitteln soll, an deren oberflächliche Simulation im Filmstudio, die in einigen Fotografien explizit vorgeführt wird.85 Abbildung 71 (O.i.F.). Larry Sultan: Kitchen, Santa Clarita, 2001

83 Larry Sultan im Gespräch mit Eva Karcher: „Larry Sultan über Pornographie“. In: Süddeutsche Zeitung, 6.5.2006, S. V2/8. 84 Vgl. Sultan 2004, S. 7. 85 Vgl. z.B. Larry Sultan: West Valley Studio #3, 1998. In: Larry Sultan 2004, S. 65.

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In anderen Aufnahmen sind tatsächliche Kulissen vielfach kaum als Konstruktionen zu identifizieren, wie z.B. in West Valley Studio #13, 2003 (vgl. Abb. 72). Das Bild zeigt einen Kamin, eine bogenförmige Raumöffnung und zahlreiche Stillleben, Objekte und Skulpturen. Über seine bemüht kunstsinnige und geschmackvolle Einrichtung ästhetisiert das Wohnzimmer eine Formation unbekleideter Frauen, von denen sich vier um die gespreizten Beine einer fünften gruppiert haben. Im Umfeld der künstlerischen Kompositionen fällt die achsensymmetrische und gleichsam dynamische Anordnung der Figuren auf; die Formation erscheint als ein ‚Tableau vivant‘, das Anspruch auf Aufnahme in die Galerie der umgebenden Kunstwerke erhebt. Auch formal verbindet sich die Gruppe mit der Raumdekoration, denn der Spagat korrespondiert mit den gestreckten Schenkeln eines Glasobjekts auf dem Kaminsims und die zentrifugale Ausrichtung der Figurengruppe mit den direkt hinter ihr sternförmig angeordneten, blühenden Zweigen. Ein diagonal in den Bildraum und auf die Gruppe weisendes, unbesetztes Sofa leitet den Blick des Betrachters und fungiert als dessen Stellvertreter. Das Bild lässt keinen Zweifel daran, dass das dokumentierte Spektakel nur für den voyeuristischen Blick existiert. Indem die Fotografie die Frauen mit den Kunstwerken analogisiert, thematisiert sie deren Status als (ästhetische) Objekte in der Fiktion eines genussorientierten, dekadenten und stimulierenden (Wohn-)Umfelds. Abbildung 72 (O.i.F.). Larry Sultan: West Valley Studio #13, 2003

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In einigen Bildern werden intime Räume nicht durch die Nacktheit von Figuren in angedeuteten sexuellen Haltungen konstituiert, sondern fast ausschließlich durch einzelne Requisiten und die Einrichtung der Zimmer. Beispielsweise zeigt Child’s Bedroom, Calabassas, 2001 in Nahsicht ein Bett und eine über ihm präsentierte, umfangreiche Puppensammlung (vgl. Abb. 73). Als Bewohner ist ein weiblicher Teenager vorstellbar. Im Spiegel an der Stirnseite des Bettes ist eine langhaarige Person in Rückenansicht zu sehen, die auf der Ecke der Schlafstatt sitzt. Gut erkennbar sind auf dem Bett gestapelte Kleidungsstücke, eine Trinkflasche, Vibratoren und Dildos in einer transparenten Tüte. Auch wenn die Aufnahme kein eigentliches Filmmotiv darstellt und in diesem Raum möglicherweise gar nicht gedreht wurde, erinnert sie dennoch an einschlägige Erzählmuster des Genres, wie z.B. der Jugendlichen, die ihre erwachende Sexualität (zunächst) im Eigenstudium erkundet. Im Zusammenhang der Serie und in der Fotografie Sultans erscheinen auch vermeintlich harmlose, alltägliche Räume als intime, sexualisierte Sphären. Die Bilder vermitteln damit einen Eindruck, den Sultan an den Filmsets gewonnen hat: „The event of filming creates a sexualized zone in which the gestures, rituals and scenes of suburban domestic life take on a peculiar weight and density.“86 Abbildung 73 (O.i.F.). Larry Sultan: Child’s Bedroom, Calabassas, 2001

86 Sultan 2004, S. 9.

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Im Großteil der Fotografien trägt die entspannte Freizügigkeit, in der die Darsteller in Drehpausen im und am Haus gezeigt werden, zur erotischen Aufladung der (Bild-)Räume bei. Diese Bildwirkung erzielt Sultan auch, indem er die Körper meist von warmem und weichem Licht erhellt präsentiert, über Unschärfen den Betrachterblick auf die Figuren lenkt und über starke Helldunkel-Kontraste banale Situationen dramatisiert. Zudem steigert er die Attraktivität der Bilder und die Präsenz der Sujets sowohl im Buch als auch in Ausstellungen durch große Formate und hochglänzende Oberflächen. Abbildung 74 (O.i.F.). Larry Sultan: Topanga Skyline Drive #1, 1999

So wird in Topanga Skyline Drive #1, 1999 die sinnliche Ausstrahlung eines jungen, nackten Mannes, der auf die Arbeitsfläche einer Küche gestützt entspannt aus dem Fenster schaut, sowohl durch das indirekt einfallende, warme Sonnenlicht ermöglicht, das den Körper zum Leuchten bringt, als auch durch den Kontrapost, durch den seine rechte Gesäßbacke dem Betrachter wie zufällig dargeboten wird (vgl. Abb. 74). Den Akt umfängt eine wohnliche Atmosphäre, die vor allem die warmen Farbtöne der Fliesen und der Holzfronten der Küchenschränke evozieren. Der Arbeitsplatz Küche erscheint als intimer Raum, in dem der Betrachter sich in den visuellen Genuss der Gestalt versenken kann wie der Mann in den Blick nach draußen. Die Aussicht auf wuchernde Natur im Verbund mit der üppigen Grünpflanze im Kücheninneren

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runden die Vision paradiesischer Zustände im suburbanen Einfamilienhaus harmonisch ab. In vielen Bildern gewinnt das häusliche Ambiente eine sinnliche Intimität, die der Utopie eines natürlichen, freien und friedvollen Lebens in US-amerikanischen Vorortsiedlungen zu entsprechen scheint. In anderen Fotografien dominiert hingegen der sexuelle Trieb, der zu Phantasien und Handlungen animiert, die dem Idealbild eines monogamen Ehe- und puritanischen Familienlebens widersprechen. Die Serie The Valley thematisiert damit den privaten Raum als einen Ort, der im kulturellen Diskurs ebenso mit idealisierten wie mit tabuisierten Vorstellungen von Intimität verbunden ist. Indem Sultan intime Räume sowohl in Inszenierungen und Kulissen als auch in realen Einrichtungen und ungestellten Situationen zeigt, reflektiert er die gegensätzlichen Vorstellungen suburbaner Heime nicht nur in ihrer ambivalenten Beziehung zueinander, sondern jeweils auch im Spannungsfeld von Wunsch und Wirklichkeit. Goldin hingegen rekurriert in den hier erwähnten Interieurs kaum auf kollektive Mythen oder bildkulturelle Phänomene. Sie nutzt ihre Interieurs, um Begegnungen zwischen Menschen und nicht die Verschränkung von gegensätzlichen Phantasien zu thematisieren. Die intimen (Bild-)Räume interessieren sie als Sphären, in denen enge und komplexe Beziehungen von Bildfiguren zu sich selbst, zu anderen oder zum Bildproduzenten bzw. -rezipienten verhandelt werden können. Während Sultan das räumliche Umfeld im Bild als Illusionsraum oder Projektionsfläche reflektiert, setzt Goldin in ihren Kompositionen Betten und Badewannen, Fenster und Türen in ihrer alltagsweltlichen und ikonografischen Bedeutung ein, um am Beispiel von Freunden grundsätzliche Fragen nach der Verfasstheit von Intimbeziehungen zu stellen.

7.3

K RISEN IM PRIVATEN I DYLL

Die Betrachtungen in den beiden vorangegangenen Kapiteln haben gezeigt, dass Interieurs, die Sehnsüchte ihrer Bewohner oder Intimität im Privaten thematisieren, zugleich auch auf Krisenlagen verweisen können. So wird die kompensatorische Bedeutung des Wand- und Vitrinenschmucks in den Fotografien von Richard Billingham gerade durch die Darstellung eines Alltagslebens behauptet, das vornehmlich für das

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Gegenteil von Harmonie, Ordnung und Schönheit steht. Die intime Nähe, die Nan Goldin in ihren Interieurs herstellt, vermittelt zwar primär Zustände der Bewunderung, Vertraulichkeit und Begierde, aber eben auch Ansätze des Zweifels und der Distanzierung. Und schließlich bezeichnet Larry Sultan die pornografische Inszenierung von Intimität in suburbaner Heimidylle, die er in seinen Bildern reflektiert, als „Illusion von Sexualität und Genuss, wo in Wirklichkeit Frustration und Mangel“87 herrsche. Im Zentrum der folgenden Untersuchung stehen nun jene Interieurs, in denen Krisen im Privaten nicht nur angedeutet, sondern als eigentliches Bildthema verhandelt werden. In Abgrenzung zu den vorherigen Analysen interessieren in diesem Kapitel Krisen weniger als grundlegende Orientierungsprobleme im Rahmen fortlaufender Identitätsarbeit, 88 sondern vornehmlich als Infragestellung elementarer Funktionen des privaten Raums. In diesen Interieurs geht es erstens um die (Eigen-)Gefährdung eines gesicherten Lebens, das den Wohnraum zum Zentrum hat, zweitens um die Bedrohung von Intimbeziehungen, die insbesondere im Privaten ermöglicht werden, und drittens um tätliche Angriffe auf den Schutz, den das Haus gemeinhin bietet. Dass Richard Billingham in seinem Fotobuch Ray’s a laugh89 keine heile Familienwelt, keinen geordneten Haushalt und nicht nur glückliche Bewohner vorführt, zeichnet sich bereits in den ersten Bildern des Buches ab. Aber ebenso wenig zeigt er seine Eltern ausschließlich als Opfer zerrütteter Verhältnisse in einer trostlosen Sozialwohnung, denn neben Armut, Gewalt und Rausch finden sich in den Fotografien auch Zeichen von Sehnsucht, Freude und Zärtlichkeit.90 Die Serie vermittelt ein komplexes und ambivalentes Bild des Soziallebens im Hause Billingham. In dieser Bildwelt repräsentiert vor allem der Vater des Fotografen den krisenhaften Pol. Im Großteil der Bilder wird Ray betrunken, apathisch oder als passives Ziel gewalttätigen Verhaltens anderer dargestellt. Der private Raum bietet ihm keinen Schutz vor Gefahrenlagen, die seine psychische und physische Gesundheit bedrohen. Ganz im Gegenteil betont der Kontrast seiner bildlichen Existenz zu den Sehnsuchtsmotiven und fürsorglichen Aktivitä-

87 Larry Sultan im Gespräch mit Eva Karcher 2006, S. V2/8. 88 Vgl. vor allem Kap. 1.1 sowie Straub 1998, S. 86. 89 Richard Billingham 2000 (1996). 90 Vgl. Kap. 7.1.

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ten, die in einigen Fotografien exklusiv mit seiner Ehefrau verbunden werden, sogar noch seine Misere. Die Bilder entziehen sich allerdings einer eindimensionalen Lesart; sie vermitteln zwar einen Einblick in das elende Leben eines resignierten Alkoholikers, gleichsam ermöglichen sie aber die Distanzierung von der sozialen Realität des Alkoholmissbrauchs, der Depression und der häuslichen Gewalt, da sie auch auf paradoxe Konstellationen, surreale Situationen und rätselhafte Zeichen fokussieren. „There is a current of nonsense which runs through these pictures which resists any simple allegorical reading“, 91 konstatiert Mark Sladen in seiner Buchrezension. Insbesondere Bilder mit einem scheiternden Ray entfalten eine tragikomische Kraft, die die Figuren fiktionalisiert und so den Schock für den Betrachter abmildert, den er angesichts der bezeichneten Beschädigungen und Krisen erfährt. In diesem Sinne synthetisieren die Fotografien elementare Gegensätze, da sie als Dokumentation und zugleich als Fiktion verstanden werden müssen, wie David Brussel bemerkt. 92 So zeigt eine Blitzlichtaufnahme den vom Sessel fallenden Ray genau in dem Moment, in dem sein Körper nicht mehr auf dem Sitzmöbel ruht und noch nicht auf dem Boden aufgeschlagen ist (vgl. Abb. 75). In diesem schwebenden Zustand wird Ray nicht nur durch die Belichtung im entscheidenden Augenblick gehalten, sondern vor allem durch die Parallelisierung der wesentlichen Körperachsen mit einem Raster aus Linien, die von der Einrichtung im Raum, wie z.B. der gestreiften Tapete, dem fluchtenden Sideboard und der Rückenlehne eines Stuhls, gebildet werden. Der artistische Charakter der Szene widerspricht der eigentlichen Ursache des Sturzes; der ursprüngliche Verlust von Kontrolle erscheint hier geradezu in ein anmutiges Gegenteil verkehrt. Eine selbstreflexive, tragikomische Pointe enthält die Fotografie noch mit der Leinwand, die vor dem Sessel mit nach unten weisender Bildseite liegt und auf die Rays Körper fällt. Vielleicht wollte Ray das Bild aufheben, bevor er das Gleichgewicht verloren hat. Unbeabsichtigt, aber mit ganzem körperlichem Einsatz strebt er nun auf die weiße Leinwand zu, d.h. durch das (vergebliche) Bemühen

91 Sladen, Mark: „A Family Affair. Richard Billinghams Ray's a laugh“ (Erstveröffentlichung in Frieze, 28/1996). Online unter: http://www.frieze. com/issue/article/a_family_affair (11.03.2009). 92 Vgl. Brussel, David: „Richard Billingham“. In: Sensation 1997, S. 193.

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um ein Bild wurde er selbst zu einem. Rays unbewegter Gesichtsausdruck erschwert die mitleidige Einfühlung in seine missliche Situation, in die er selbst emotional oder mental nicht involviert zu sein scheint. Abbildung 75 / 76 (alle O.i.F.). Richard Billingham: o.T.

Daher wirkt auch die geblitzte Fotografie, die ihn in einem engen Toilettenraum neben einer schmutzigen Kloschüssel sitzend zeigt, weniger schockierend als vielmehr grotesk (vgl. Abb. 76). Statt den Ekel zu spiegeln, den der Betrachter angesichts der Kotspuren empfinden mag, strahlen seine Mimik und Gestik eine Gelassenheit aus, als entspanne er sich auf einem Sofa. Auch die ebenso lässige wie ansehnliche Bekleidung mit Sakko und Turnschuhen, die er in diesen Fotografien trägt, kontrastiert mit dem Kontrollverlust, für den beide Situationen stehen. Diese gleichmütige Haltung bewahrt ihm eine Würde, die im

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Widerspruch steht zu einem Verhalten, das massive (Alkohol-)Probleme erahnen lässt und dessen bildliche Fixierung in einer anderen Ausprägung denunzierend wirken könnte. Auch die vom Weitwinkelobjektiv der Kamera hervorgerufene perspektivische Verzerrung der Aufnahme, die zu einer grotesken Vergrößerung der Schuhe im Verhältnis zum Torso geführt hat, schafft eine Distanz zum eigentlichen Geschehen. Indem Richard Billingham die Bemerkung seines Bruders, der Vater sei urkomisch,93 für den Buchtitel übernimmt, legt er dem Betrachter die Rezeptionshaltung nahe, Rays Bildexistenz als Tragikomödie zu bewerten. Abbildung 77 (O.i.F.). Richard Billingham: o.T.

In anderen Fotografien von Ray kommen Resignation, Rausch und körperlicher Verfall direkter, ungebrochener und damit verstörender zur Darstellung. In vielen dieser Bilder ist seine Gestalt aufgrund von Unterbelichtungen, großflächigen Schatten und Unschärfen nur undeutlich zu erkennen. Diese atmosphärisch düsteren Bildräume lassen Dämmerzustände assoziieren, zu denen Fotograf und Betrachter kaum Zugang finden. Der rätselhafte Schlüssel auf der Schlafzimmerkommode, auf den Richard Billingham für eines dieser krisenhaften Interieurs fokussiert hat, kann als Symbol dafür verstanden werden, dass anderen die Welt seines Vaters, aus der er selbst keinen Ausweg (mehr) findet, verschlossen bleibt (vgl. Abb. 77). Im Bild wird dieser

93 „Jason says Ray’s a laugh but doesn’t want to be like him.“ (Richard Billingham 2000 (1996), o.S.).

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eingeschränkte ‚Erfahrungsraum‘ von einem Bett markiert, das in der Serie als Rays bevorzugter Rückzugsort behauptet wird, sowie von Lebens- und Genussmitteln, die seine leiblichen Bedürfnisse vermeintlich hinreichend befriedigen: eine Spirituosenflasche, ein Stapel Schnittbrot und Zigaretten. Abbildung 78 (O.i.F.). Richard Billingham: o.T.

In den Fotografien, in denen Ray allein abgebildet ist, korrespondiert die Trostlosigkeit des Raums mit der Hoffnungslosigkeit der Figur, so dass sich beide Zustände im Bild gegenseitig zu Krisenräumen steigern.94 Die Aufnahmen, in denen er in einem eher heiteren Ambiente zu sehen ist, sind hingegen kontrastreich strukturiert.95 Meist erscheint er hier nicht als integriertes Familienmitglied, sondern als Außenstehender, der nicht auf dem gemütlichen Sofa sitzt, sondern auf dem klapprigen Campingstuhl Platz genommen hat, der den diversen Haustieren ablehnend begegnet und häufig geistesabwesend wirkt. Seine prekäre Position im Familienverbund ist in den Bildern evident, die ihn als Opfer von Gewalt seitens seiner Frau und seines jüngsten Sohnes zeigen; widerstandslos und fatalistisch erträgt er ihre Drohungen und Angriffe. In einem Bild wirkt er dabei fast so verletzlich wie die Porzellanfiguren im Schrank hinter ihm, der ihn optisch

94 Eine Ausnahme stellt das letzte Bild im Buch dar, das Ray zwar wieder in einem dunklen Raum, aber diesmal von Sonnenlicht beschienen und lachend zeigt (vgl. Richard Billingham 2000 (1996), o.S.). 95 Vgl. Kap. 7.1.

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ebenfalls einrahmt (vgl. Abb. 78). Da die Sammlung über seinem Kopf hier aufgrund ihrer intensiven und unruhigen Farbigkeit ein dominantes Bildelement darstellt, lässt sie ihn optisch schrumpfen und drückt ihn geradezu aus dem Bild heraus. Die rechte Bildhälfte hingegen wird vom massigen und vitalen Körper seiner Frau beherrscht. Ihre geballte Faust hat sie auf ihren Mann ausgerichtet; der angespannte Oberarmmuskel, der sich in beeindruckender Größe abzeichnet, lässt eine große Schlagkraft vermuten. Andere Fotografien geben zu erkennen, wie eine solche, hier nur angedeutete Attacke ausgeführt wird, oder deuten an, welche Verletzungen häusliche Konflikte verursachen können (vgl. Abb. 63). Nicht jeder feindselige Übergriff schockiert den Betrachter in gleicher Weise,96 denn manches Bild appelliert offensichtlich an seinen (schwarzen) Humor. In einem der Bilder ist beispielsweise zu sehen, wie die Hauskatze durchs Wohnzimmer fliegt (vgl. Abb. 79). Rays abwehrende Geste legt nahe, dass sie sich in seine Richtung bewegt und damit zum Werkzeug eines tätlichen Angriffs geworden ist wie zuvor schon ein Tennisball. Der ironische Bezug zur englischen Redewendung, nach der in einem kleinen Raum kein Platz sei, um darin eine Katze zu schwenken, ist offensichtlich.97 Im Großteil der Interieurs, die das Fotobuch Ray’s a laugh aufweist, werden Krisenlagen vorgeführt, in der die physische und psychische Gesundheit der titelstiftenden Hauptfigur Ray gefährdet scheint. Der private Raum kann Ray weder vor sich selbst, seiner Resignation und Alkoholsucht, noch vor den Anfeindungen und Übergriffen seiner Familie schützen. Vielmehr mutet es an, als hätten sich Krankheit und häusliche Gewalt gerade in der Abschottung der Räume gegenüber sozialer Kontrolle etabliert. Indem die Schutzfunktion des privaten Raumes zur Disposition steht, strukturiert dieser nicht nur die Krisen seiner Bewohner, sondern wird selbst krisenhaft. Aber auch im Zustand der Krise bieten die privaten und familiären Räume dem Vater

96 Einen tragischen Zug nehmen die Tätlichkeiten an, wenn man sie als verzweifelten Versuch der Ehefrau versteht, ihren Mann vom Trinken fernzuhalten. So reagiert Liz in dem fast 50-minütigen Film Fishtank (1998), den Richard Billingham über das Leben in der elterlichen Wohnung gedreht hat, wiederholt äußerst aggressiv auf das Suchtverhalten ihres Mannes. 97 „There really is no room to swing a cat in here, and the image shares the comic sadism of that phrase, with its combination of the practical and the pointless.“ (Sladen 2009 (1996)), o.S.

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und Ehemann offenbar immer noch eine elementare Orientierung und Geborgenheit, denn weder vermerkt der Fotograf in seinen Bildern eine grundsätzliche Verwahrlosung noch einen endgültigen Bruch oder eine existenzielle Verzweiflung. Gerade im Zusammenspiel mit den anderen Aufnahmen der Serie, die neben Szenen alltäglichen oder zärtlichen Miteinanders in der Familie auch Anzeichen von Sehnsucht nach Harmonie, Lieblichkeit und Schönheit registriert haben, entsteht ein widersprüchliches Bild der Wohn- und Lebensbedingungen der Billinghams. Ein schwebender Mann, eine fliegende Katze oder symbolträchtige Alltagsdinge in einzelnen Fotografien verwischen zudem die Grenzen des vermeintlichen Dokumentarischen zu surrealen, fiktiven Bildsituationen. Abbildung 79 (O.i.F.). Richard Billingham: o.T.

Auch die von Goldin fotografierten Räume sind ambivalent, denn einerseits ermöglichen sie Freiheiten im Umgang mit Geschlechtsidentitäten, Beziehungen und Drogenkonsum, die im zeitgenössischen öffentlichen Raum kaum toleriert wurden; andererseits verbinden sie sich mit Lebenskrisen, Einsamkeit und Gewalt. Der private Raum in ihrem Werk als Resonanzboden für Selbstzweifel und Beziehungskrise wurde bereits in vorherigen Kapiteln erörtert. 98 Die Bilder, die sich auf eine Misshandlung durch ihren damaligen Liebhaber beziehen, reflektieren zwar eine einschneidende Krisenerfahrung, da sie aber zuvorderst Goldin zeigen und Räume nur andeuten, können sie kaum als In-

98 Vgl. Kap. 1.1 und Kap. 7.2.

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terieurs gelten.99 In diesem Kontext interessieren vielmehr zwei Bilder, in denen zwischen personalen Krisenlagen und (Bild-)Raumgefügen eine Wechselwirkung besteht. Nan at her bottom, Bowery, New York City, 1988 stellt die Fotografin dar, wie sie in ihrem schäbigen Loft auf dem Bett sitzend angespannt telefoniert (vgl. Abb. 80); in David on my pink sofa, Bowery, New York City, 1983 ist ein offensichtlich berauschter Mann zu sehen, der sich auf einem großen Sofa kaum aufrecht halten kann (vgl. Abb. 81). Abbildung 80 (O.i.F.). Nan Goldin: Nan at her bottom, Bowery, New York City, 1988

Die beiden Bilder wurden in der Publikation Ein doppeltes Leben100 zusammen auf einer Seite präsentiert. Das Fotobuch umfasst Fotografien von Goldin und ihrem langjährigen Freund David Armstrong und zeigt die zwei als eigenständige Bildautoren sowie als Hauptfiguren in den eigenen und den Aufnahmen des jeweils anderen. Über die Gegenüberstellung der Bilder wird eine Analogie zwischen den dargestellten Erfahrungen hergestellt, die sich aus den Fotografien selbst kaum ableiten lässt. Während der Mann in David on my pink sofa, Bowery, New York City, 1983 in derangierter Kleidung, Haltung und Mimik offenbar die Kontrolle über seine äußere Erscheinung verloren hat, ist die Frau in Nan at her bottom, Bowery, New York City, 1988

99

Vgl. z.B. Nan after being battered, 1984. In: Nan Goldin 1986, S. 83.

100 Nan Goldin / David Armstrong. Ein doppeltes Leben. Zürich / u.a.: Scalo 1994.

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ordentlich gekleidet, wach und in der Lage zu telefonieren. Obwohl sie keine offensichtlichen Anzeichen einer Lebenskrise zeigt, soll das Bild dennoch den Tiefpunkt einer kritischen Phase im Leben der Fotografin markieren, wie sie im Titel und in Gesprächen betont. 101 Das Bild ist auf das Jahr datiert, in dem Goldin das erste Mal einen stationären Drogenentzug unternommen hat; die Einweisung in eine Klinik beendete eine zweijährige Lebensphase, in der ihr Heroinkonsum stetig zugenommen hatte und in der sie kaum mehr fotografieren konnte. Bereits einige Jahre zuvor ist das Bild von Armstrong entstanden, das ihn als den Alkoholiker entlarvt, zu dem er geworden war, wie Sussmann formuliert. 102 Abbildung 81 (O.i.F.). Nan Goldin: David on my pink sofa, Bowery, New York City, 1983

In David on my pink sofa, Bowery, New York City, 1983 offenbart Goldin trotz oder gerade wegen der intimen Freundschaft zu Armstrong in schonungsloser Deutlichkeit die abstoßende Kehrseite seines Rauschzustandes. Das harte Blitzlicht bringt die negativen Auswirkungen eines umfassenden Kontrollverlustes zur detailgenauen und tiefenscharfen Ansicht; kein Einrichtungsdetail lenkt von der erschütternden Szene ab, in der Armstrong droht, in dem Sofa, auf dem er sich nur mühsam aufrecht halten kann, zu versinken. Über die Zuordnung des Bildes zu der Fotografie der eigenen Lebenskrise erklärt

101 Vgl. z.B. Nan Goldin im Gespräch mit Heinz-Norbert Jocks 2001, S. 297. 102 Vgl. Sussmann 1996, S. 40.

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Goldin den dargestellten Zustand zum Symptom einer krankhaften Sucht in krisenhaftem Ausmaß. Dass Armstrong auf einem Sofa ‚versackt‘, das über den Titel zudem noch dem privaten Raum der Bildautorin zugeschlagen wird, suggeriert zum einen die Geborgenheit des Privaten und die Fürsorge einer Freundin. Zum anderen erhält die Situation in dieser Konstellation eine therapeutische Anmutung, nach der Goldin als ‚beobachtende Teilnehmerin‘ agiert und mit ihrer Fotografie Prozesse der Selbstoffenbarung und -reflexion anregen will.103 In jedem Fall behauptet dieses Interieur einen privaten Raum als Ort einer Intimbeziehung, die es ebenso ermöglicht, eine Krise zu bekennen wie das verwundbare Subjekt zu schützen. Obwohl Goldin im eigenen Schlafraum viel geborgener sein müsste als Armstrong auf einem ‚fremden‘ Sofa, wirkt sie in Nan at her bottom, Bowery, New York City, 1988 doch einsamer und verzweifelter als ihr Freund. Zunächst suggeriert ihre wache und angespannte Erscheinung, dass sie sich ihrer Krisenlage bewusster ist als Armstrong (oder auch als Raymond Billingham). Aber ihr Ausdruck lässt keine eindeutigen Rückschlüsse auf richtungweisende Einsichten zu; erst die prekäre Figur-Grund-Beziehung stützt die Aussage des Titels. Da ihre Konturen aufgrund einer Fokussierunschärfe verschwimmen, ihre Bildpräsenz mithin diffus ist, wirkt ihre Verbindung zum Raum gestört. Goldins Auftritt erscheint flüchtig, sie selbst eher ab- als anwesend. Dem Betrachter wird ein Zugang zu ihr verweigert, ähnlich wie zu Raymond Billingham in den schummrigen Bildräumen. Der Raum, der sie umgibt, zeichnet sich hingegen deutlich ab. Er wird dominiert von einem schweren Holzgitter, dessen Streben in der gewählten Perspektive so eng zusammenrücken, dass eine dahinter liegende Öffnung nur vermutet werden kann. Es verschließt das Zimmer und betont die klaustrophobische Wirkung des engen Raumausschnitts. Die wenigen, am und um das Gitter herum verstreut angebrachten persönlichen Dinge, wie z.B. eine Maske, Bilder, ein Kruzifix und Rosen, können dagegen kaum die Geborgenheit einer individuellen Erinnerung oder einer sakralen Transzendenz ausstrahlen. Dafür konkurrieren sie zu stark mit den nackten, grell leuchtenden Glühbirnen und den funktionalen

103 „Ich will ihnen [den Betrachtern, LS] genau zeigen, wie meine Welt aussieht, ohne Beschönigung oder Glorifizierung. Es ist keine trostlose Welt, sondern eine, die Schmerzen kennt und fähig ist zur Selbstbeobachtung.“ (Goldin 1987 (1986), S. 6). Vgl. auch Kap. 1.1.

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Dingen, wie einem Wecker, einem Scharnier, Pillendosen und einer halb geleerten Bierflasche. Die Einrichtung verweist eher auf die Abwesenheit eines Ambientes, in dem man sich zu Hause und wohl fühlen kann. Der Eindruck eines abweisenden räumlichen Umfelds korreliert mit der Suche Goldins nach einem Anschluss außerhalb des dargestellten Raums; hier findet sie offenbar nicht den Austausch, die Sicherheit und die Beruhigung, die sie benötigt. Indem der private Raum in diesem Interieur keine Orientierung (mehr) bietet, sondern eher feindselig wirkt, leistet er der Krise Vorschub, die Goldin dem Anschein und dem Titel nach befallen hat; wie in den Interieurs von Billingham erscheint der private Raum an sich krisenhaft. Während die personalen Krisen, die Billingham und Goldin in ihren Serien thematisieren, auf extreme Erfahrungen von Gewalt, Sucht und Depression gründen, bezieht sich Jeff Wall104 in vielen seiner ‚cinematografischen‘ Fotografien105 auf weniger einschneidende Erlebnisse und weniger spektakuläre Situationen, die aber ebenso von Span-nungen, Konflikten und Krisen zeugen. Der Großteil dieser Alltagsdramen, die in den 1980er Jahren und Anfang der 1990er als Einzelbilder entstanden sind, wurde in öffentlichen Außenräumen inszeniert; einige Fotografien hingegen zeigen Figuren auch in Innenräumen, aber nur in wenigen besitzt der private Raum einen so bedeutsamen Stellenwert wie in The Quarrel (1988) und Insomnia (1994). Im

104 Jeff Wall wurde 1946 in Vancouver (CAN) geboren, wo er auch lebt und arbeitet. Zwischen 1964 und 1970 studierte er Kunstgeschichte an der University of British Columbia in Vancouver. Zwischen 1970 und 1973 absolvierte er ein Nachdiplomstudium am Courtauld Institute of Art an der University of London (vgl. „Biografie“. In: Vischer, Theodora / Naef, Heidi (Hg.): Jeff Wall. Catalogue Raisonné. 1978-2004 (anlässlich der Ausstellung „Jeff Wall. Photographs 1978-2004“, Schaulager Basel, 30.04.-25.09.2005 / u.a.) Göttingen: Steidl 2005, S. 487). 105 Im Werkverzeichnis werden nach Angabe des Künstlers alle Fotografien als ‚cinematografisch‘ bezeichnet, bei denen der Künstler im Gegensatz zu seinen ‚dokumentarischen Fotografien‘ „Eingriffe am Ort oder an der Situation“ („Vorbemerkungen“. In: Vischer / Naef 2005, S. 273) vorgenommen hat. Der Begriff steht für den Bezug der Bilder zum Film und damit auch für das Bemühen Walls, seine Bilder im Unbestimmten zwischen dem Faktischen und dem Imaginären zu halten (vgl. Wall, Jeff: „Frames of Reference (2003)“. In: Vischer / Naef 2005, S. 446-450: 450).

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Interieur The Destroyed Room (1978), das am offiziellen Anfang von Walls künstlerischem Werk steht, rückt der Raum selbst ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Da dieses Bild nicht mehr nur eine individuelle Krisenlage, sondern eine existenzielle Bedrohung von Raum und Bewohner reflektiert, wird es im Sinne einer Zuspitzung der Argumentation auf die Eskalation von Krisenszenarien im Interieur erst am Ende des Kapitels erörtert. Abbildung 82 (O.i.F.). Jeff Wall: Insomnia, 1994

In Insomnia bringt Wall einen einfach eingerichteten Küchenraum in einer Halbtotale zur Ansicht und gibt den Blick frei auf einen auf dem Boden unter einem Tisch liegenden Mann (vgl. Abb. 82). Die geringe Größe der Küche wird nicht nur durch seine Position verdeutlicht, sondern auch durch den kleinen Tisch in der Raummitte, dessen Ecken auf die Fronten des Herdes, der Spüle und des Kühlschranks weisen müssen, um zwei Personen am Tisch Platz zu bieten. Auch wegen der fehlenden Fenster und Türen, die einen Weg nach draußen bezeichnen könnten, wirkt der Raum klaustrophobisch. Sein abweisender Charakter basiert aber vor allem auf der giftigen Farbigkeit der gelben Wände und der hellgrünen Schränke sowie der Ausleuchtung durch das kühle Neonlicht der Deckenlampe. Die Küche zählt zu den Wohnräumen, in denen man gemeinhin kaum nach einem Schlafplatz suchen würde; insbesondere der Küchenraum in Walls Fotografie ist in seiner spezifischen Möblierung, Größe und Beleuchtung für die Nachtruhe wenig

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geeignet. Dass die Küche zwar das existenzielle Bedürfnis nach Nahrungsaufnahme ermöglicht, aber (damit) das ebenso lebenswichtige Verlangen nach Schlaf verhindert, lässt die Lage des Mannes noch misslicher erscheinen und betont seine Deplatzierung. Chantal Pontbriand hat in Hinblick auf Insomnia Schlaflosigkeit als „Zustand des Unwohlseins, des Leidens“106 beschrieben; sie ist „Ausdruck von Stress“ und „die Kehrseite des Schlafs und des Glücks“107. Dieser angespannt und gestresst wirkende Mann entspringt Walls Ensemble an Figuren, die angefüllt sind mit unterdrückten Gefühlen. Die meisten von ihnen repräsentieren Verlierer des kapitalistischen Systems, die der Künstler in Situationen zeigt, die sowohl auf ihre Beschädigung verweisen als auch auf die Möglichkeit, ein besseres Leben zu führen. In diesen Bildern werden Krisenzustände bis zu dem Punkt dramatisch verdichtet, an dem die Personen sie selbst und gleichzeitig nicht mehr sie selbst sind; sie handeln wie erwartet und weisen doch auch über die Situation hinaus. Wall hat diese dialektische Bildstrategie wie folgt erläutert und begründet: „I think it’s possible [...] to infuse the photographic medium with this dialectic of identity and non-identity. And the reason I want to do this is to represent both the surface of damaged life, and it’s opposite, the possibility of another life, one which will come out of this one as its negation. [...] We can imagine it, we can make pictures of it. So when we experience the picture, we experience a kind of dissociation. [...] In it, we see both our actual existence for what it is and, at the same time, catch a glimpse of something extremly different. Something better.“108

Indem er den inszenierten Charakter seiner Bilder subtil andeutet, regt Wall den Betrachter an, sich von der Evidenz des scheinbar Faktischen in der Fotografie zu distanzieren und das vermeintlich Unabänderliche, eigene Gewissheiten oder etablierte Ordnungen infrage zu stellen. In Insomnia verliert die Szene an Plausibilität aufgrund der deplatzierten

106 Pontbriand, Chantal: „Die Nicht-Orte des Jeff Wall“. In: Parkett, 49/1997, S. 103-109: 108. 107 Ebd. 108 Jeff Wall im Gespräch mit Els Barents: „Typology, Luminescence, Freedom“. In: Jeff Wall. Transparencies. New York (NY): Rizzoli 1987, S. 95-104: 102f.

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Position des Schlafsuchenden und der auffällig altmodischen Einrichtung. Die Gestalt des Raums rückt das Bild in die Nähe eines Films, der sich um ein historisches Ambiente bemüht. Über diese Referenz wird die dargestellte Situation fiktionalisiert, sie entlarvt sich als konstruiertes Alltagsdrama; eine schlüssige Erzählung lässt sich aber kaum imaginieren. Vielmehr offenbart die rätselhafte Konstellation eine allegorische Qualität, denn die Spannungen im Raum und in der Figur sowie zwischen Raum und Figur kulminieren in einem Bild ‚ruheloser Passivität‘. Demnach verweist die Küche ebenso auf den alltäglichen Gebrauch wie auf die aktuelle Ruhephase, und auch der Mann wird in einem Zustand gezeigt, der ebenso sein Bemühen um Entspannung wie seine innere Unruhe vermittelt. Raum und Figur sind (äußerlich) inaktiv, aber längst nicht vom Zwang zur (Einbindung in) Aktivität befreit. Für Wall stellt sich der Zustand der ‚ruhelosen Passivität‘ immer dann ein, wenn man zu lange mit der vibrierenden Beleuchtung durch Neonlampen konfrontiert ist. Dieses in Küchen und Badezimmern oder Schulen und Büros gebräuchliche Licht erschwere es, zu arbeiten oder zu entspannen.109 Die ‚ruhelose Passivität‘ passe zu den Rollen, die Menschen in diesen Räumen und Institutionen angehalten werden einzunehmen. Auch Fernsehbilder wiesen eine Ähnlichkeit zur Leuchtstofftechnik auf und versetzten ihr Publikum in diesen Zustand. Über den Einsatz von Neonlampen in der Präsentation seiner Fotografie als Großbilddia im Leuchtkasten ermöglicht Wall dem Ausstellungsbesucher, diesen Effekt nachzuvollziehen. Auch in der illuminierten Fotoarbeit Insomnia indiziert Wall den Zustand ‚ruheloser Passivität‘ rezeptionsästhetisch, vor allem aber thematisiert er ihn über das Bildmotiv eines schlaflosen Mannes in einer von Neonlicht erhellten Küche. Diesen Mann entwirft er als Figur, die in ärmlichen Verhältnissen, täglichen Routinen und psychischem Stress gefangen ist und (noch) keine Entspannung, keinen erlösenden Schlaf und letztlich keinen Ausweg aus ihrer prekären Lage gefunden hat. Aufgrund der strukturellen Diskrepanz zwischen der originären Funktion des Raums und dem akuten Bedürfnis des Mannes erscheint seine Situation noch verfahrener, krisenhafter und tragischer. In The Quarrel kommt der dargestellte Raum einer seiner originären Bestimmungen nach, indem er als Schlafzimmer die intime Be-

109 Vgl. Wall 2005 (1979), S. 440.

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gegnung zweier Menschen in einem Doppelbett ermöglicht (vgl. Abb. 83). Allerdings dominieren auch hier psychosoziale Spannungen eine Situation, die als krisenhaft bezeichnet werden muss. Indem das Interieur das Bett aus Nahsicht und im Anschnitt zeigt, ist der Abstand zwischen dem Betrachter und dem im Bett liegenden Mann und der auf der Bettkante sitzenden Frau unwesentlich größer als der zwischen den Figuren selbst. Dieser intime Raum strahlt mit dem warmtonigen Licht der Nachttischlampe, den Decken und Kissen eine Geborgenheit aus, die im Widerspruch zur Haltung des Paares steht. Beide kehren sich jeweils den Rücken zu und wirken angespannt. Der Mann hat sich so sehr in seine Decke eingewickelt, dass nur noch der Kopf hervorlugt. Er lehnt eher aufrecht gegen das Kissen, als dass er entspannt darauf liegen würde; sein wacher Blick ist nach innen gerichtet. Mit der Decke scheint er sich demonstrativ von der Frau in der anderen Betthälfte abgrenzen zu wollen. Diese ist ebenfalls in eine Decke eingeschlagen, die dem Betrachter zugewandte Hälfte ihres Oberkörpers liegt aber frei. Da sie ein ärmelloses Nachthemd trägt, ist ihr gesamter, leicht angehobener Arm mit den ausgestreckten Fingern gut zu sehen. Da auch die Frau in unbestimmte Ferne blickt, wirkt diese Geste ziellos und unwillkürlich; sie vermittelt sich als Ausdruck einer Anspannung, für die auch die Falten auf der Stirn der jungen Frau stehen. Abbildung 83 (O.i.F.). The Quarell, 1988

Diese Figuren scheinen etwas zu unterdrücken, was sie (einander) nicht mitteilen wollen; stattdessen sprechen ihre Körper, der Raum und die wenigen Requisiten. Das benutzte Papiertuch vor der Papiertuchbox auf dem Nachtisch verweist auf die Aufnahme von Körperflüssig-

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keiten, die ebenso im Zuge eines sexuellen Höhepunkts wie als Ausdruck von Schmerz, Trauer und Verzweiflung angefallen sein könnten. Die gespannte Decke zwischen ihnen, die der Mann zu sich zieht, derweil die Frau darauf sitzt, steht sowohl für die Abwendung voneinander, den Liebesentzug und den titelstiftenden Zank als auch für das nach wie vor Verbindende, ihre Beziehung und die geteilte Geschichte. Ohne diese Decke würde sich eine Kluft zwischen ihnen auftun, die sie räumlich noch stärker separiert; der von Bett- und Bildkante markierte Ausstieg aus der gemeinsamen Szene wären dann räumlich wie narrativ naheliegender als die (erneute) Begegnung. Über die atmosphärische und perspektivische Verdichtung des intimen Raums tritt das Trennende zwischen den (ehemals) Liierten zwar noch deutlicher hervor, zugleich aber evoziert die Konstellation auch eine Vorstellung von besseren Tagen und mit ihr die Hoffnung auf Versöhnung. Ganz ähnlich komponiert ist das Interieur Nan and Brian in bed, New York City, 1983 von Goldin, das die Fotografin im Bett mit ihrem damaligen Liebhaber Brian zeigt (vgl. Abb. 84). Auch in diesem Bild wird dem Betrachter ein intimer Bettraum durch Nahsicht geöffnet, der durch seine fast monochrome Darstellung in warmen Gelbtönen Geborgenheit ausstrahlt. Allerdings hat sich – wie in der Fotografie von Wall – eine der Figuren von der anderen abgewendet; hier ist es Brian, der auf der Bettkante sitzt und gedanklich abwesend, aber entspannt an einer Zigarette zieht. Hinter ihm liegt Goldin und schaut ihn mit einem Ausdruck an, der zwischen Hingabe, Zweifel und Angst changiert. Ihre Körperhaltung ist geschlossen und wirkt eher abweisend; der reservierte Eindruck wird noch verstärkt durch den Kontrast ihres bekleideten Körpers zum nackten Torso Brians. Hinter ihr an der Wand hängt ein Porträt von Brian, in dem er auf dem (gleichen) Bett liegend ebenfalls mit nacktem Oberkörper und einer (noch nicht angezündeten) Zigarette im Mund zu sehen ist, wie er herausfordernd direkt in die Kamera und damit zu Goldin schaut. Durch diese Analogien lässt sich zwischen beiden Bildräumen ein narrativer Bogen spannen, der die Bild-im-Bild-Szene als gleichberechtigten Auftakt-Flirt und die gemeinsame Bettszene als ambivalenten, asymmetrischen Abschluss vorstellen lässt. Was zwischendrin passiert sein könnte, bleibt der Imagination des Betrachters überlassen. In Nan and Brian in bed, New York City, 1983 werden viele der Themen angesprochen, die Goldin im Rahmen ihres Fotobuchs The

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ballad of sexual dependency verhandelt: sexuelle Begegnungen als zentrale Aktivität in Beziehungen, Partner zwischen Autonomie und Abhängigkeit, der Einfluss von Geschlechterrollen, der Glamour der Selbstzerstörung. 110 Wie in The Quarell wird auch in Goldins Interieur eine Störung des Vertrauensverhältnisses zwischen den Bildfiguren behauptet, im Unterschied zu Walls Bild verbindet sich mit dieser krisenhaften Intimität aber nicht die Aussicht auf Besserung. Das Nebenbzw. Nacheinander von sinnlicher Attraktion und emotionaler Distanz, das die Fotografie vorführt, scheint für Brian kein und für Goldin (noch) kein großes Problem darzustellen. So entwirft das Interieur ein hoffnungsloses Bild von einer ambivalenten und asymmetrischen Intimbeziehung mit destruktivem Potenzial. Abbildung 84 (O.i.F.). Nan Goldin: Nan and Brian in bed, New York City, 1983

Die Interieurs, in denen Crewdson die Bedrohung von Intimbeziehungen thematisiert, geben ebenfalls kaum Anlass zur Hoffnung, dass die dargestellte Krisenlage aufgelöst werden könnte. Auch er nutzt das Schlafzimmer und das Doppelbett als idealisierten Ort der innigen Zuwendung, um diesen mit wenigen irritierenden Eingriffen nachhaltig zu destabilisieren. Mit seinen stereotypen Raumkonstruktionen ruft er die mythologisierte Welt des suburbanen Einfamilienhauses auf und stärkt so die Assoziation eines harmonischen und erfüllten Intimle-

110 Daher verwundert es nicht, dass ein Ausschnitt dieses Motivs als Titelbild des Fotobuchs fungiert und als Substrat von dessen Inhalt gelten kann.

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bens. Viele seiner Fotografien rekurrieren dabei auf die Bildsprache von Filmen, die vom Einbruch des Fremden in das suburbane Heim erzählen, und beschwören so mit der häuslichen Idylle immer auch Konnotationen von deren grundlegender Erschütterung mit herauf. Nicht nur vor diesem Hintergrund gilt für alle seine Bilder, dass sie öffentliche wie private Räume als krisenhaft vorführen. Zwei Bilder aus seinem Werk fokussieren primär auf Störungen in Paarbeziehungen; sie stammen aus verschiedenen Serien und basieren auf unterschiedlichen Konzeptionen des Raums, der Perspektive und der Figuren. Abbildung 85 (O.i.F.). Gregory Crewdson: o.T. (aus der Serie BENEATH THE R OSES (2003-2005))

Eine Fotografie aus der Serie BENEATH THE ROSES (2003-2005) bringt eine Frau und einen Mann mittleren Alters in einem großen Schlafzimmer zur Darstellung; beide kehren sich den Rücken zu (vgl. Abb. 85). In umgekehrter Analogie zu den oben erwähnten Interieurs von Wall und Goldin wird ihre distanzierte Haltung zueinander durch den Abstand gespiegelt, den der Betrachter zu den beiden Figuren einnimmt. Der Bildvordergrund ist unbesetzt, erst im Mittelgrund markieren ein Toilettentisch, ein Hocker und ein Sessel eine Barriere, hinter der zunächst die Frau und noch tiefer im Raum versetzt auch der Mann gezeigt werden. Da beide jeweils in ein eigenständiges Beziehungsgeflecht aus Möbeln und Räumen eingebunden sind, wird ihre Trennung räumlich fixiert. Die stehende Frau wird vom Hocker, dem Toilettentisch und einer Glastür eingerahmt, die nach draußen führt und nicht verhangen ist, sondern sogar einen Spalt weit offen steht. In der anderen Bildhälfte wird der auf der Bettkante sitzende Mann vom Bett,

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vom Sessel und vom hell erleuchteten Toilettenraum eingefasst. Während er mit hängenden Schultern verzagt zu Boden schaut, blickt sie gefasst in Richtung eines kleinen Vogels, der sich auf der Ecke des Frisiertisches niedergelassen hat. In dieser Komposition ist für beide nicht (mehr) das Bett der zentrale Bezugspunkt; im Gegensatz zu den Tischlampen, die sie von vorne in warmes Licht tauchen, wirkt die unberührte Schlafstätte in ihren Rücken im kühlen Blau des Dämmerlichts wenig einladend. Beide Figuren haben sich auf Räume ausgerichtet, die geradezu als Gegenpole zu einem Schlafzimmer und einem Bett verstanden werden können, das intime Zweisamkeit ermöglicht; der Abort bietet nur einer Person Platz, und der Vogel erinnert an die Bewegungsfreiheit außer Haus. Wie in vielen Fotografien von Crewdson stellen hier die eindringende Natur die häusliche Ordnung in ‚Suburbia‘ ebenso infrage wie die Präsenz von Medikamenten (auf Nachtund Toilettentisch) die organische und psychische Gesundheit der Bewohner. Abbildung 86 (O.i.F.). Gregory Crewdson: o.T. (aus der Serie DREAMHOUSE (2002))

Auch in einem Interieur aus der Serie DREAMHOUSE (2002) wird die Intimität eines Mannes und einer Frau von Räumen gestört, die das Schlafzimmer unheilvoll durchdringen (vgl. Abb. 86). Zum einen suggeriert das einfallende Dämmerlicht, das den Übergang von der Klarheit des Tages zum Geheimnisvollen der Nacht markiert, die Freisetzung von „verborgenen Kräften und dunklen Energien einer ungebän-

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digten und unbezähmbaren Natur“111. Dabei kann das vermeintlich Natürliche in den Bildern Crewdsons sowohl in kreatürlicher Gestalt von außen in die Häuser eindringen als auch aus den Menschen triebhaft oder manisch herausbrechen. Zum anderen durchkreuzt ein Lichtkorridor, der von einer geöffneten Tür stammen könnte, den Raum und zieht die Aufmerksamkeit des Mannes auf sich. Dieser sitzt im Schlafanzug auf der Bettkante und hat der Frau, die hinter ihm nur mit einer Unterhose bekleidet auf dem zerwühlten Bett liegt, den Rücken zugekehrt. Dem Betrachter wird die Bettfläche in Aufsicht und in halbtotaler Perspektive rautenförmig dargeboten. Der weibliche Körper ist darauf diagonal ausgestreckt, ruht aber in einer parallelen bzw. orthogonalen Ausrichtung zu den Bildrändern. Ein rechtwinklig abgespreizter Arm unterstreicht die entspannte Haltung der Frau, die sich nicht (mehr) um erotische Verführung bemüht. Gäbe es nicht ihren Blick aus halb geöffneten Augen in eine unbestimmte Ferne, könnte man meinen, alles Leben wäre aus ihr gewichen. Diese Ahnung eines (gewaltsamen) Todes wird befördert durch den „absolut hoffnungslose[n] Gesichtsausdruck“ des Mannes im Bildvordergrund, der auch auf „unterdrückte Wut und Frustration“112 verweist. Die Figur wird dargestellt von dem US-amerikanischen Schauspieler William H. Macy, den Crewdson genau für dieses Mienenspiel engagiert hat. 113 Die gesamte Serie basiert auf dem Ausdrucksvermögen von professionellen Filmschauspielern und deren Repertoire an Charakteren, mit dem sie aufgrund von Besetzungen in populären Filmen verbunden werden. So erinnert die Figurenanlage durch Macy an einen der bekanntesten Filmcharaktere, die er bisher verkörpert hat: den Autoverkäufer in FARGO.114 In der „tiefschwarzen Kriminalgroteske“115 beauftragt dieser Verkäufer zwei Kleinkriminelle, seine Frau zu

111 Berg 2005, S. 14. 112 Gregory Crewdson im Gespräch mit Magdalena Kröner 2004, S. 174. 113 Vgl. ebd. 114 Für seine Darstellung des Jerry Lundegaard in Fargo (USA 1996; Drehbuch: Ethan Coen, Joel Coen; Regie: Ethan Coen) wurde Macy 1997 für den Oscar als bester Nebendarsteller nominiert (vgl. http://www.oscars. org (19.05.2009)). 115 Oetjen, Almut: „Fargo“ (26. Erg.-Lfg., 2007). In: Wacker, Holger (Hg.): Enzyklopädie des Kriminalfilms. Filme, Fernsehserien, Personen, The-

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entführen, um von seinem reichen Schwiegervater Lösegeld zu erpressen, das ihn vor dem finanziellen Bankrott retten soll. Das Vorhaben beginnt als Verzweiflungstat eines ‚Losers‘, verläuft zwischenzeitlich erfolgreich, endet aber im Fiasko mit vielen Toten. Vor dem Hintergrund dieser ‚Vergangenheit‘ ist die Verzweiflung der Hauptfigur im Interieur bei Crewdson kaum mehr mit einer einfachen Midlife-Crisis zu erklären, sondern gewinnt eher die Ausmaße einer Krise, die zwei Figuren in ihrer Existenz bedroht. Abbildung 87 (O.i.F.). Jeff Wall: The Destroyed Room, 1978

Weniger subtil hat Jeff Wall in The Destroyed Room (1978) Gewalt im Privaten thematisiert (vgl. Abb. 87). In frontaler Ansicht zeigt dieses Interieur einen menschenleeren Raum mit durcheinander geworfenen Kleidungsstücken, umgekippten Möbeln, einer aufgeschlitzten Matratze und aufgerissener Wandverkleidung; Fenster und Tür sind mit Brettern versperrt. Das bunte Chaos weist eine formale Struktur auf: Tisch, Matratze und Kleidungshaufen formen eine Diagonale, die den Raum durchmisst und den Blick auf eine Kommode in einer Raumecke lenkt. Auf diesem Möbelstück steht die unversehrte und exklusiv beleuchtete Porzellanfigur einer anmutigen Tänzerin. Da die herumliegenden Pumps, Hüte und Ketten eine Frau als Bewohnerin des Raums suggerieren, erscheint die zerbrechliche Figurine als deren Stellvertreterin. Der Angriff auf den Wohnraum und die Kleidung als schützende Hül-

men /Aspekte. Bd. 1, Teil 1. Meitingen: Corian-Verl. 1995-2008 (Losebl.Ausg.), S. 1-7.

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len des Subjekts kulminiert in der Zerstörung der Matratze; sie markiert einen der Räume im Privaten, an dem das Subjekt am verletzlichsten ist. Indem der Schlitz sowohl auf die Aggression verweist als auch an das weibliche Geschlechtsorgan erinnert, wird eine Verbindung hergestellt zwischen Gewalt und Sexualität. Auch die Dominanz von Kleidungsstücken, die der erotischen Zurichtung weiblicher Körper dienen, befördert Assoziationen von häuslicher Gewalt gegen Frauen. Über die gleichmäßige Hinterleuchtung des Bildes mit Neonröhren stellt Wall zudem einen Bezug zur Inszenierung von Kleidung, Möbeln, Häuslichkeit, Weiblichkeit und Sexualität in Werbewelten her. In seiner ersten Ausstellung war das Bild als großformatiges Diapositiv direkt in die Wand hinter dem Schaufenster des Galerieraums eingelassen und vermittelte so den Eindruck einer Schaufensterdekoration;116 in der späteren Einfassung des Motivs in einem Leuchtkasten besitzt es die Anmutung einer Leuchtreklame. In keiner der folgenden Arbeiten Walls ist die Illumination der Fotografie so unmittelbar mit der Thematik des Bildes verknüpft wie bei The Destroyed Room. In der Verschränkung des schönen Scheins der Warenwelt mit der sozialen Realität von Macht und Gewalt reflektiert er Strategie, Funktion und Bedeutung eines „kommerziellen Spektakels“117, das zwischen der Bestätigung kultureller Ordnung und dem kalkulierten Tabubruch oszillierend um Aufmerksamkeit buhlt. In diesem Sinne ist Walls Bild auch als Reflex auf die destruktive Ästhetik des Punks zu verstehen, mit der die Werbung zur Zeit der Entstehung der Fotografie kokettierte.118 The Destroyed Room beunruhigt, weil es diese Bildsprache zwar überhöht und Bezüge zu furchtbaren Erfahrungen herstellt, aber in der

116 Das Bild wurde 1978 erstmals in der Nova Gallery in Vancouver ausgestellt (vgl. Grögel, Katrin / Hauser, Stephan / Naef, Heidi: „Catalogue Raisonné“. In: Vischer / Naef 2005, S. 269-438: 274). 117 Wall, Jeff: „The Destroyed Room, Picture for Women (1981)“. In: Vischer / Naef 2005, S. 275. 118 „[...] when I made The destroyed room, I worked in reference to the design of commercial window displays of clothing and furniture. I think of these as tableaux morts as opposed to tableaux vivants. At the time, they had become very violent, mainly because of an influence from the punk phenomenon which was quickly filtering into the whole cultural economy.“ (Jeff Wall im Gespräch mit Els Barents 1987, S. 95).

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Attraktivität des rot leuchtenden Raums, der Pracht der Dinge und der Obszönität der Darstellung gleichsam fasziniert. Indem sich der Raum deutlich als konstruierte und eingerichtete Kulisse zu erkennen gibt, erweist sich nicht ein Tathergang, sondern die Struktur des Bildes, mithin die Ambivalenz des Betrachterblicks als eigentliches Bildthema. Ein weiteres Bezugsfeld, in dem sich Wall mit seinen Bildern bewegt, ist die Malerei vor und am Beginn der Moderne. Größe und Leuchtkraft seiner Diapositive orientieren sich eher an Werken aus der Kunstgeschichte als an historischen oder zeitgenössischen fotografischen Vorbildern; für einige Bilder aus seiner frühen Werkphase hat er sich zudem von einzelnen Gemälden inspirieren lassen. Für The Destroyed Room diente ihm La Mort de Sardanapale (1827) von Eugène Delacroix (1798-1863) als ‚Prisma‘, um die eigenen Ideen zu filtern; das eigene Sujet sei dadurch reicher, suggestiver und aggressiver geworden, gibt der Künstler an.119 Das Bild des französischen Künstlers basiert auf der griechischen Sage um den babylonischen König Sardanapal, der angesichts einer bevorstehenden Kriegsniederlage seine Besitztümer, seine Dienerschaft und sich selbst lieber den Flammen übereignet, als alles dem Feind in die Hände fallen zu lassen. Die dargestellte Szene zeigt ihn, wie er als Herrscher über Leben und Tod gleichmütig auf einem Bett thront, während Diener zu seinen Füßen nackte Konkubinen und ein reich geschmücktes Pferd töten. Trotz der Übersetzung des Historienbildes in ein fotografisches Interieur besteht zwischen den beiden Bildern über den diagonalen Bildaufbau, die ähnliche Farbdominante und die vorherrschende Präsenz von Preziosen eine deutliche Verbindung. Auf diese Weise wird eine Lesart gestärkt, nach der Walls Fotografie einen vergleichbar unheilvollen wie faszinierenden Zusammenhang zwischen Macht, Geschlecht, Gewalt und Erotik thematisiert. In seinem Bild betont er schließlich einen krisenhaften Zustand des privaten Raums, auf den das Gemälde von Delacroix an der Schwelle zur Moderne bereits hinführt und der die kommende Epoche im gesellschaftlichen Rahmen so nachhaltig prägen sollte: „I think the Sardanapalus is a very important picture, historically and psychologically, because it shows the eroticized ideal of military glory which charac-

119 Jeff Wall im Gespräch mit Els Barents 1987, S. 95.

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terized the Napoleonic period being turned inward, back toward domestic life at the end of that epoch, at the beginning of modern, bourgeois, neurotic private life.“120

Die in diesem Unterkapitel angeführten Interieurs stehen für Fotografien in der Gegenwartskunst, in denen über krisenhafte Räume die sicher geglaubte Position des Subjekts in der Welt infrage gestellt wird. Sie beziehen sich auf Räume, die im kulturellen Diskurs gemeinhin als Zentren eines gesicherten Lebens, als Orte der intimen Begegnung und der physischen wie psychischen Rekreation idealisiert werden. Viele Künstler schildern über die von ihnen als heimelig, feindlich oder zwiespältig konzipierten Räume Zustände der Anspannung, Verzweiflung und Selbstaufgabe sowie Situationen der Entfremdung und Gewalt. Über die Wechselwirkung zwischen Raumkonstruktion und Figurenanlage thematisieren die Bilder den Verlust an Sicherheit und Orientierung, der sowohl das (Wohn-)Subjekt als auch den privaten Raum betrifft und beide in eine existenzielle Krise stürzt. Viele Live-Fotografien von Billingham und Goldin zeigen, dass der private Raum seine Bewohner nicht vor sich selbst schützen kann, sondern über den Ausschluss sozialer Kontrolle und Fürsorge der Eigengefährdung bisweilen sogar noch Vorschub leistet. Der Wohnraum wird hier zur feindlichen Zone und zur bedrohlichen Falle. Beide Künstler betonen allerdings auch die ambivalente Strukturierung dieser krisenhaften Räume. So wird nicht nur der Verlust der schützenden Bestimmung des privaten Raums ausgestellt, sondern auch auf Zeichen von familiärer Geborgenheit, biografischer Orientierung, sozialer Kommunikation und sinnlicher Intimität hingewiesen. Während einige von Goldins Bildern den Eindruck vermitteln, dass eine schonungslose Reflexion der eigenen Krise zu deren Lösung führen kann, hat sich die Hauptfigur in Billinghams Serie in der dokumentierten Misere eingerichtet. Von der Sorge um deren Gesundheit wird der Betrachter auch deswegen befreit, weil viele Bilder über ihren tragikomischen Charakter eine Distanzierung von der misslichen Lage der Figur ermöglichen. Statt deren Opferstatus zu behaupten, evozieren die Fotografien so eher Konnotationen eines selbst gewählten und nicht durchweg unglücklichen Lebens.

120 A.a.O., S. 96.

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Für die Aussicht auf ein besseres Leben stehen neben Goldins auch einige von Walls inszenierten Krisenräumen. Zwar verstärken hier die Kontraste zwischen den eigentlichen Funktionen der Räume, die in der Befriedigung des leiblichen Wohls und der Ermöglichung intimer Zweisamkeit bestehen, und den prekären Zuständen der in ihnen abgebildeten Figuren den Anschein von personalen Krisen; zugleich ist den Interieurs aber auch eine Hoffnung auf deren Überwindung eingeschrieben. So könnte die ‚ruhelose Passivität‘ des Schlaflosen nach durchwachter Nacht mit neuen Erkenntnissen in ‚konzentrierte Initiativen‘ umschlagen, und die verbliebene Verbindung zwischen dem zerstrittenen Paar könnte sich als Ausgangspunkt für einen Neuanfang in der Beziehung erweisen. In vielen Interieurs von Crewdson hingegen wird die Idylle des privaten Raums grundlegend und nachhaltig erschüttert. Über formale, inhaltliche und personelle Bezüge zu Filmen, die von der Bedrohung der häuslichen Ordnung handeln, ruft er sowohl die Bildgeschichte des sicheren Heims als auch Motive von dessen Gefährdung auf. Seine Raumkonstruktionen evozieren idealisierte Vorstellungen von erfüllten Partnerschaften, harmonischen Familien, einer unschuldigen Kindheit und der zivilisierten Kontrolle über Natur und die eigenen Affekte, um diese zugleich zu destabilisieren. Die von ihm inszenierten Krisensituationen markieren Übergänge vom Vertrauten zum Ungewissen, vom Bewussten zum Unterbewussten, von der Ordnung zu deren Auflösung, für die es kein Ziel und kein Zurück geben kann. Noch augenfälliger ist die Krise des privaten Raums, wenn neben der soziokulturellen Funktion auch seine physische Beschaffenheit angegriffen wird. Mit dem Bild des zerstörten Schlafzimmers einer Frau thematisiert Wall sowohl die Ambivalenz und Verletzlichkeit des häuslichen Schutzraums als auch die kulturelle Faszination für die Verbindung von Macht, Gewalt, Geschlecht und Erotik, wie sie sich in der Kunst oder auch in der Werbung äußert.

7.4

D ER

UNHEIMLICHE

R AUM

Das Interieur sei immer auch der „Ort, an dem modernes Bewusstsein seiner dunklen Seite begegnet, dem Vertrauten, das plötzlich fremd er-

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scheint, und dem anderen, das als verdrängtes Eigenes auftaucht“121, konstatiert Söntgen. Sie bezieht sich damit auf die Bestimmung des Unheimlichen durch Freud, nach der das „Unheimliche [...] jene Art des Schreckhaften [ist], welche auf das Altbekannte, Längstvertraute zurück geht“122. In seinem grundlegenden Aufsatz „Das Unheimliche“ leitet Freud die etymologische Bedeutung des Adjektivs ‚unheimlich‘ zunächst aus dessen Gegenbegriff ‚heimlich‘ ab. Über den Verweis auf Wörterbucheinträge des 19. Jahrhunderts erläutert er die Widersprüchlichkeit des Eigenschaftsworts ‚heimlich‘, das damals sowohl ‚verborgen‘ und ‚versteckt‘ als auch ‚vertraut‘ und ‚behaglich‘ bedeutete, 123 und stellt fest, dass es in der ersten Bedeutung mit der Gegenbildung ‚unheimlich‘ zusammenfalle. Diese Ambivalenz von ‚heimlich‘ veranschaulicht Friedrich Kluge, indem er darauf hinweist, dass sich aus der Ausgangsbedeutung „zum Haus gehörig, einheimisch“ immer auch die zweite Konnotation ergebe, denn „wer sich in das Heim zurückzieht, verbirgt sich vor anderen, vor Fremden“124. Dass ‚unheimlich‘ zudem alles sei, „was ein Geheimnis, im Verborgenen bleiben sollte und hervorgetreten ist“125, hat Freud mit Bezug auf Friedrich Wilhelm Joseph Schellings Philosophie der Mythologie (1835) betont. Weitergehende Erkenntnisse über das Wesen des Unheimlichen gewinnt er über die Analyse der Novelle Der Sandmann (1816) von E.T.A. Hoffmann (1776-1822). Dass etwas als unheimlich empfunden wird, führt er

121 Söntgen 2004, S. 365. 122 Freud, Sigmund. „Das Unheimliche (1919)“. In: Sigmund Freud. Gesammelte Werke. Werke aus den Jahren 1917-1920. Bd. 12. London: Imago 1955 (Nachdruck; Originalausgabe 1947), S. 227-268: 231. 123 Vgl. Freud 1955 (1919), S. 235. Bereits fünfzig Jahre später wurden – wie gegenwärtig auch – ‚heimlich‘ und ‚geheim‘ im Sprachgebrauch nicht mehr mit dem Heim verbunden (vgl. Duden. Bd. 7. Etymologie. Mannheim / u.a.: Dudenverlag 1963, S. 257). 124 Friedrich Kluge 1989. Zitiert nach Masschelein, Anneleen: „Unheimlich / das Unheimliche“. In: Barck, Karlheinz (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Bd. 6. Stuttgart: Metzler 2005, S. 241-260: 243. 125 Freud 1955 (1919), S. 235.

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schließlich im Wesentlichen auf zwei Ursachen zurück:126 Zum einen äußere sich das Unheimliche in der Wiederkehr von Gefühlen, die durch Verdrängung in Angst umgeschlagen sind, und zum anderen im Rückfall in infantile bzw. frühzeitliche Denkformen „wie Animismus, Aberglaube, Angst vor der Wiederkehr von Toten“127. Trotz aller Kritik an seinem Aufsatz hat Freuds Konzeptionalisierung entscheidenden Einfluss für die Etablierung des Unheimlichen als „Standardkonzept“128 in der Literatur-, Kultur- und ästhetischen Theorie. Auch für die vorliegende Untersuchung erweisen sich seine Thesen als fruchtbar und dienen dem tieferen Verständnis der unterschiedlichen Strukturierung und Wirkweisen des Unheimlichen im fotografischen Interieur. Da sich niemand in der Gegenwartskunst der 1980er und 1990er Jahre so intensiv mit unheimlichen Räumen in fotografischen Interieurs befasst hat wie Gregory Crewdson, werden im Folgenden ausschließlich Bilder aus seinem Werk zu diesem Bedeutungsfeld näher und exemplarisch betrachtet. Im Zentrum stehen dabei Interieurs der Serie TWILIGHT (1998-2002), über die Berg im impliziten Rekurs auf Freud bemerkt: „Die schützende Zelle des Hauses hat ihre bergende Funktion verloren und ist zum unsicheren Ort geworden, der von verdrängten Energien und Kräften beherrscht ist.“129 Crewdson hat erklärt, dass sich das Unheimliche in seinen Bildern über die Spannung zwischen den vertrauten „Ikonen des amerikanischen Alltags“130 und mysteriösen Ereignissen einstellt: „In all of my photography I’m very much interested in creating tension; between domesticity and nature, the normal and the paranormal, or artifice and reality, or what’s familiar and what’s mysterious. We could call that an interest

126 Vgl. Dierks, Manfred: „Das Unheimliche“. In: Lohmann, Hans-Martin / Pfeiffer, Joachim (Hg.): Freud Handbuch. Leben, Werk, Wirkung. Stuttgart: Metzler 2006, S. 204-207: 204. 127 Masschelein 2005, S. 245. 128 A.a.O., S. 250. 129 Berg 2005 S. 14. 130 Gregory Crewdson im Gespräch mit Magdalea Kröner 2004, S. 176. Beispielhaft zählt er hier „die weißen Holzhäuser der Vorstädte mit den Autos in den Einfahrten, eine Ranch, die Familie am Esstisch“ zu den Ikonen, deren Gesamtheit er als „American Landscape“ (Gregory Crewdson im Gespräch mit Bradford Morrow 2000 (1999), S. 20) bezeichnet .

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in the uncanny: the terrifying and the familiar. I intentionally ground all these mysterious or unknowable events within a recognizable and iconic situation, which is the American Landscape. Ultimately, I would decribe myself as an American realist landscape photographer.“131

Während Fotografien der Serien EARLY WORK (1986-1988), DREAMHOUSE (2002) oder BENEATH THE ROSES (2003-2005) vornehmlich von subtilen psychologischen Spannungen geprägt sind, beziehen sich viele Bilder der Serie TWILIGHT auf „Motive des Fantastischen und Surrealen, des Märchenhaften und Mystischen“132. Indem im ‚Dämmerlicht‘ der Bildräume vermeintlich übernatürliche Phänomene aufscheinen, wird die Diskrepanz zwischen einem alltäglichen und vertrauten häuslichen Umfeld und einer abnormen, rätselhaften Situation oder Konstellation noch verstärkt. Dass die gewöhnliche häusliche Ordnung Störungen ausgesetzt sein kann, hat Crewdson bereits in der Serie EARLY WORK angedeutet. Ein Bild der Serie präsentiert einen Hund, der in den Keller blickt, einige andere zeigen zum nächtlichen Außenraum geöffnete Fenster. Eine Bedrohungslage wird hier allein über die gegensätzlichen Konnotationen der Haupt- und Nebenräume bzw. der Innen- und Außenräume als sichere und unsichere Orte sowie die fragmentarischen bzw. indirekten Perspektiven behauptet, die immer nur suggerieren und nichts explizit bezeichnen. In den aufwändig inszenierten Fotografien von TWILIGHT verbirgt sich das Unbekannte, Fremde und Bedrohliche hingegen nicht unerkannt im Schatten, sondern tritt z.B. als unerklärliches Lichtphänomen deutlich in Erscheinung. So erzeugt ein schräg vom Himmel fallender Lichtstrahl in einigen Bildern einen Lichtpunkt im Außenraum; in einem anderen Bild ermöglichen Löcher im Wohnzimmerboden ein orthogonales, säulenförmiges Austreten von Licht (vgl. Abb. 88). In beiden Fällen bleiben die Quellen verborgen. In dem Wohnzimmerbild erwecken ein Mann, eine Säge und Späne neben den Löchern den Eindruck, dass die Öffnungen zum Untergeschoss manuell hergestellt wurden. Zusammen mit dem Fernglas im Wandschrank, dem Globus und der Enzyklopädie auf der Anrichte wird die Vorstellung von einem Bewohner mit positivistischem Weltbild evoziert, der beherzt den

131 Gregory Crewdson im Gespräch mit Bradford Morrow 2000 (1999), S. 20. 132 Stoeber 2005, S. 308.

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faktischen Ursachen der Störungen seiner häuslichen Ordnung nachgeht. Wie im Bild von dem Jugendlichen, der durch einen Abfluss im Badezimmer in das Untergeschoss mit Versorgungsleitungen langt (vgl. Abb. 13), steht auch hier das unzugängliche Souterrain für die dunklen Orte des Hauses und im metaphorischen Sinne für das aus dem (Seelen-)Leben eines Menschen Ausgesperrte und Verdrängte. Abbildung 88 (O.i.F.). Gregory Crewdson: o.T. (aus der Serie TWILIGHT (1998-2002))

Dass das Unheil in das bergende Heim über Keller, Dachböden oder Versorgungsleitungen eindringt, ist ein etabliertes Motiv in Horrorerzählungen und -filmen. So werden in vielen Geschichten des USamerikanischen Bestseller-Autors Stephen King (*1947) die Zu- und Abwasserleitungen als „Schwachstelle im zivilisatorischen Gefüge“133 vorgestellt. Über dieses unsichtbare Netz, das unmittelbar an die Wohnzellen anschließt, wird das häusliche Leben bedroht, wie Burkhard Müller resümiert: „An diesen Stellen tritt zutage, wie die einstige Autarkie des Hauses, diese Zuflucht des Subjekts, unterwandert worden ist von technischen Zusammenhängen, deren Funktionieren nicht durchschaut und deren Reichweite nicht über-

133 Müller, Burkhard: Stephen King. Das Wunder, das Böse und der Tod. Stuttgart: Klett-Cotta 1998, S. 11.

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blickt werden kann und die also die intimsten Pforten sind, durch die ein feindliches Prinzip hereindringt.“134

In Kings Erzählungen, die wie die Bilder von Crewdson von der Konfrontation des Alltäglichen mit dem Übernatürlichen handeln, ist der Feind häufig ein todbringendes Wesen, das z.B. in dem Roman It (1986) als Kreatur beschrieben wird, die sich in den Abwasserkanälen einer US-amerikanischen Kleinstadt verbirgt. Auf wen oder was das Licht in den Bildern von Crewdson verweist, bleibt dem Betrachter verborgen. Haltung und Mimik des Mannes auf dem Wohnzimmerboden deuten an, dass er mehr weiß, vielleicht etwas erkannt hat, aber (noch) nicht (wieder) in der Lage ist zu handeln. Wie im Großteil der Fotografien von Crewdson erscheint auch diese Figur angesichts des Einbruchs des Unbekannten und Unerklärlichen wie paralysiert; die Mimik suggeriert, dass das angedeutete Erlebnis für ihn eine einschneidende Erfahrung bedeutet, die alles verändert. Wie in vielen Bildern des Künstlers entsteht der Eindruck, dass die Rückkehr zur ehemaligen, vom räumlichen Umfeld markierten suburbanen Ordnung und Alltäglichkeit ausgeschlossen ist. Die Löcher lassen sich nicht so leicht wieder schließen und im Bildmittelgrund deutet ein Koffer den Rückzug an. Die räumlichen und weltanschaulichen Grundannahmen, die das Wohnzimmer und sein Bewohner repräsentieren, werden durch das übersinnliche Lichtphänomen aus dem vermeintlich unbelebten Untergeschoss nachhaltig irritiert und infrage gestellt. Nur in wenigen Bildern der Serie TWILIGHT nimmt der Ausgangsund Bezugspunkt für die unheimliche Atmosphäre im Bildraum konkrete Gestalt an, wie z.B. in der Fotografie von den Jugendlichen, die in ein Ritual vertieft sind, während Wölfe durch die geöffnete Tür ins Hausinnere blicken (vgl. Abb. 12). Hier wird die bestehende häusliche und kulturelle Ordnung, die ebenso den Ausschluss der ungezähmten Natur wie die Verbannung des Glaubens an das Magische vorsieht, sowohl durch die wilden Tiere als auch durch die mystische Aktivität der Jugendlichen hintertrieben.135 Auch in anderen Fotografien entstehen unheimliche Situationen erst aufgrund des eigentümlichen Verhaltens der Bildfiguren. Diese Bilder inszenieren ebenso sehr die Wieder-

134 Ebd. 135 Vgl. Kap. 2.1.

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kehr des Glaubens an übernatürliche Phänomene wie den Ausbruch von unterdrückten Affekten und Leidenschaften. So zeigt Crewdson in mehreren Bildern Figuren, die auf der Straße, im Garten oder im Haus Blumen, Hausrat oder Rasenstücke zu skulpturalen Formationen auftürmen. Diese Aktivitäten werden nicht rational begründet; die Figuren erscheinen wie hypnotisiert, fremd- oder triebgesteuert bzw. als folgten sie einem inneren Zwang. Die Szenen besitzen daher genauso die Anmutung einer gelebten Obsession wie die eines manischen Schubs. Abbildung 89 (O.i.F.). Gregory Crewdson: o.T. (aus der Serie TWILIGHT (1998-2002))

In einem dieser Bilder ist eine Frau zu sehen, die in einer den Boden einer Küche bedeckenden Blumenwiese kniet und in der Formung eines kleinen Erdhaufens verharrt (vgl. Abb. 89). Sie ist nur mit einem Nachthemd bekleidet; die verschwitzte Haut, der Dreck auf ihrem Körper und die erschöpfte Mimik behaupten sie als Urheberin der Pflanzung. Grelles Licht fällt strahlenförmig in den Raum, zum einen durch das Fenster, das dem Betrachterraum gegenüberliegt, zum anderen unvermittelt von der Seite. Da sie innehält, während das Licht sie und das Beet erhellt, wird ein Zusammenhang zwischen der deplatzierten Pflanzaktion und dem rätselhaften Leuchten hergestellt. Das von außen eintretende Licht könnte auf eine diesseitige Quelle zurückzuführen sein; das andere Lichtphänomen hingegen verweist eher auf das

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Bildprogramm christlicher Symbolik, nach dem sich im schräg von oben in den Bildraum einfallenden Licht das Göttliche manifestiert.136 Zudem lassen sich Begegnungen mit dem Bösen oder Außerirdischen assoziieren, die in einschlägigen Filmen immer wieder auch von blendendem Licht begleitet werden. In phantastischen oder Science-Fiction-Filmen von Steven Spielberg beispielsweise ist das Licht ein Leitmotiv und als solches „ein Element der Differenz“, das ein „Gegenüber des Raums“137 darstellt, wie Georg Seeßlen herausgearbeitet hat. Viele seiner Helden müssten sich zwischen der Welt und einem Licht entscheiden, das sie sowohl aus dem Raum herausführen „oder eben noch in jene Winkel ziehen [könne, LS], in denen [wie in Poltergeist, LS] 138 die Dämonen nur warten“139. Nach einer ersten Begegnung mit einem mysteriösen Licht baut der Protagonist des Spielberg-Films Close Encounters of the Third Kind140 zwanghaft eine Skulptur aus Schrott. Diese erweist sich als Modell eines Tafelbergs, auf dem der Kontakt zu Außerirdischen, die sich hinter den vorangegangenen Lichtphänomenen zu erkennen geben, ein weiteres Mal zustande kommt. Der Familienvater erliegt der Versuchung, ihnen freiwillig zu folgen und die Erde für immer zu verlassen. Seeßlen meint, dass der Protagonist des Films letztendlich an seiner Welt verrückt geworden sei, wobei unklar bliebe, ob der Abschied als selbstbestimmte Flucht oder als erzwungene Vertreibung aus ‚Suburbia‘ interpretiert werden muss.141 Die Pflanzaktionen bei Crewdson lassen an diese Erlösungsgeschichte denken und erscheinen so als verschlüsselte Botschaften aus einer andern Welt. 142 Wie im Film muss diese andere Realität dabei sowohl als übersinnliche oder außerirdische Sphäre außerhalb einer aufgeklärten Welt gedacht wer-

136 Vgl. auch Hochleitner, Martin: „Zur Ikonografie des Lichts im Werk von Gregory Crewdson“. In: Berg 2005, S. 150-159: 150 137 Seeßlen, Georg: Steven Spielberg und seine Filme. Marburg: Schüren 2001, S. 164. 138 Vgl. Kap. 2.1, Fußnote 14. 139 A.a.O., S. 165. 140 USA 1977; Regie und Buch Steven Spielberg. 141 Vgl. a.a.O., S. 168. 142 Crewdson hat wiederholt auf den hohen Stellenwert dieses Films für seine Arbeit hingewiesen (vgl. z.B. Gregory Crewdson im Gespräch mit Magdalena Kröner 2004, S. 184).

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den als auch als unbewusster, verborgener Raum im Inneren der Figuren, der sie in Opposition zur herrschenden Ordnung setzt. In diesem Sinne wirkt auch der Raum im Interieur mit der pflanzenden Frau in zweifacher Weise unheimlich, verquickt er doch ‚verrücktes‘ Handeln mit einer übersinnlichen Erscheinung. Ferner kann die Fotografie auch als ironische Überhöhung eines Bemühens um Naturnähe verstanden werden. Dass der „häusliche Mensch [...] Haustiere und Hauspflanzungen um sich [sammele, LS], sobald eine kulturelle Distanz zur Herkunft“143 bestehe, betont Selle. Gerade in der USamerikanischen Konzeption des vorstädtischen Einfamilienhauses ist die Nähe zur Natur ein wesentliches Element; dabei ist weniger die Präsenz von Topfpflanzen und Hauskatzen gemeint, als vielmehr die periphere Lage des Anwesens und der obligatorische Garten. 144 Die Besetzung von Innenräumen durch gezähmte Natur, die Crewdson in diesem Bild und weiteren Fotografien inszeniert hat, stört das etablierte Verhältnis zwischen Innen und Außen, Kultur und Natur nachhaltig, denn sowohl der Wohnraum als auch der Garten haben hier ihre ursprüngliche Funktion eingebüßt. Die inszenierte Grenzverwischung zwischen Zivilisiertem und Naturhaftem findet nicht nur räumlich statt, sondern wird auch in der Frauenfigur gespiegelt, die sich geradezu libidinös mit dem Mutterboden verbindet. In dieser Haltung scheint auch die Bildgeschichte des antiken Flora-Mythos auf, in der stets die erotische Verführungskraft der Göttin der Blumen, der Gärten und des Frühlings Betonung findet und weibliche Sexualität metaphorisch mit vegetativer Natur verknüpft wird. Ironisiert wird die Sehnsucht des Hausbewohners und Vorstädters nach Naturerfahrung, indem das Interieur die destruktiven Folgen der von ihm forcierten und mythologisierten Nähe zur Natur anschaulich vorführt. Als noch bedrohlicher erweist sich die Begegnung zwischen Mensch und Natur in dem Bild, das eine Frau zeigt, die rücklings auf einer Wasserfläche in einem Wohnzimmer treibt (vgl. Abb. 90). Die Fotografie aus der Serie T WILIGHT rekurriert auf das Bildmotiv der Ophelia, einer sich dem Wasser anverwandelnden, ambivalenten Frauenfigur. Basierend auf der Bildgeschichte weiblicher Wassergeschöp-

143 Selle 1993, S. 164. 144 Vgl. Kap. 3.2.

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fe145 hat sich der Mythos um Ophelia im 19. Jahrhundert etabliert und wurde u.a. im Rückgriff auf die gleichnamige Figur aus William Shakespeares (1564-1626) HAMLET (1603) zwischen den Polen Liebeswahn und Genie, Natur und Zivilisation, Tod und Leben konzipiert.146 Simone Kindler hat gezeigt, dass diese konstitutiven Merkmale der Figur das zeitgenössische binäre Geschlechtermodell reflektieren.147 Auch Anna Maria Stuby betont die geschlechterspezifische Struktur des populären Mythos’, wenn sie konstatiert, dass die „männliche Obsession“, die begehrte Frau als Sterbende darzustellen, auf sexuelle Wunsch- und Abwehrphantasien schließen lasse: „Im reglosen, toten Körper, in seiner völligen Verdinglichung im Bild, sind Besitz und Begehren des männlichen Betrachters gesichert.“148 Crewdson stellt in seinem Bild zwar die erotische Attraktion der Figur heraus, indem er sie als junge Frau in transparentem Nachthemd mit halb geöffnetem Mund zeigt. Bei ihm widersetzt sich die Figur allerdings dem ewigen Begehren, da sie nicht als Untergehende und damit als Sterbende figuriert. Während Ophelia in La Mort d´Ophélie (1838) von Eugène Delacroix (1798-1863) oder in Ophelia (1851/ 1852) von John Everett Millais (1829-1896) in die Tiefe gezogen wird, schwebt die Frauenfigur bei Crewdson auf der Wasseroberfläche. Das seichte Gewässer in der Fotografie kann kaum als Gegenpol zur Zivilisation gelten wie er im Ophelia-Mythos eingeführt wurde; eher steht die leichte Überschwemmung für fehlerhafte Technik und menschliches Versagen. Zwar ist der Körper der Treibenden auffällig entspannt, ihr Blick leer und die Haut blass, aber weder erscheint sie leblos noch droht sie unterzugehen. Ihre Zukunft ist unbestimmt, eine

145 Vgl. Stuby, Anna Maria: Liebe, Tod und Wasserfrau. Mythen des Weiblichen in der Literatur. Opladen: Westdt. Verl. 1992 (Diss., Univ. Bremen 1989), S. 165ff. 146 Vgl. Kindler, Simone: Ophelia. Der Wandel von Frauenbild und Bildmotiv. Berlin: Reimer 2004 (Diss., Freie Univ. Berlin 2002), S. 216. 147 „Sie [die drei Oppositionsgruppen ‚Liebeswahn und Genie‘, ‚Natur und Zivilisation‘, ‚Tod und Leben‘, LS] boten die Folie, vor der das Bild der als naturhaft, leidensfähig und gefühlsdeterminiert klassifizierten Frau entstand, von dem sich die männliche Subjektkonstituierung in den Kategorien ,zivilisiert‘, ,beherrscht‘ und ,vernünftig‘ absetzen konnte.“ (Kindler 2004, S. 216). 148 Stuby 1992, S. 205.

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Auflösung im Wasser und die endgültige Verschmelzung mit der Natur im Sinne des Mythos eher unwahrscheinlich. Abbildung 90 (O.i.F.). Gregory Crewdson: o.T. (aus der Serie TWILIGHT (1998-2002))

Unheimlich wirkt die Szene daher weniger aufgrund der Evokation von Angst vor dem (eigenen) Tod, sondern vielmehr wegen des offensichtlichen Wirkens unnatürlicher Kräfte, die ein plausibles tieferes Eintauchen des Körpers verhindern. Die paranormale Situation kontrastiert mit dem alltäglichen häuslichen Umfeld, in dem sie sich ereignet. Zahlreiche Dinge im Raum regen dazu an, diesseitige Erzählfäden zu assoziieren: die vielen inneren und äußeren Lichtquellen deuten auf Leben im und am Haus hin; ein Männerporträt, Pantoffeln und Treppenstufen werden durch einfallendes Licht akzentuiert und scheinen den Vorlauf zur dargestellten Szene zu markieren; die Bücher im Regal und der abgegriffene Liebesroman 149 auf dem Couchtisch stehen

149 Bei dem abgegriffenen Buch auf dem Tisch handelt sich um Inner Harbor, den letzten Teil einer Trilogie, in dem die Bestseller-Autorin Nora Roberts die Geschichte von drei von Stiefeltern aufgezogenen Brüdern erzählt, die das Rätsel um einen Jungen lösen, dessen Aufnahme in die Familie sie dem Stiefvater an dessen Totenbett versprochen hatten. Neben dem Geheimnis um die Herkunft des Jungen fokussiert der Roman auf Familien- und Liebesbeziehungen. Er bietet damit zahlreiche weitere

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für literarische Fiktionen, deren Einfluss auf die Bildwelt der Fotografie hinsichtlich des Ophelia-Mythos evident ist; und schließlich verweist ein unberührtes Glas Wasser neben einem Medikamentenfläschchen auf eine nicht erfolgte Einnahme von Tabletten, die möglicherweise zur Behandlung einer Depression mit Suizidgefahr erforderlich sind. Auch wenn das ‚Bad‘ im Wohnzimmer an sich keine tödliche Bedrohung darstellt, so erscheint die Treibende doch deutlich und unwiederbringlich von ihrem bergenden Heim abgekoppelt. Sowohl der inhärente Todestrieb als auch der Zauber der Levitation trennen sie von einem vertrauten Raum, in dem sie nunmehr als Fremdkörper vorkommt. Die Heimeligkeit des Wohnzimmers ist für sie und für den Betrachter ins Unheimliche umgeschlagen. Im unheimlichen Interieur hat der private Raum seine Funktion eingebüßt, die Bewohner vor der (feindlichen) Außenwelt zu schützen, da bisher Ausgeschlossenes und Verborgenes im Heim aufscheint und die häusliche Ordnung stört sowie die (geistige) Gesundheit ihrer Bewohner gefährdet. Die Suggestion einer Bedrohungslage gelingt hier über den Rekurs auf kulturelle Vorstellungen von übersinnlichen Kräften, die aus der Natur oder phantastischen bzw. extraterrestrischen Sphären stammen, und auf die Überzeugung, dass verdrängte Erfahrungen, Gefühle und Leidenschaften aus dem Inneren des Wohnsubjekts hervorbrechen und es der ‚normalen‘ Welt entrücken können. Insbesondere Crewdson integriert dabei einschlägige Motive des heimischen Idylls und des häuslichen Unheimlichen aus der Literatur, dem Film und der Bildenden Kunst in seine Bilder, um über Ironisierungen zugleich deren Grundannahmen zur Diskussion zu stellen. Auf diese Weise thematisiert er immer auch Reflexionen der populären Kultur über das Verhältnis des Subjekts zu einer als fremd empfundenen Welt und zu den ‚dunklen‘ Seiten seiner selbst.

7.5

(D E -)K ONSTRUKTIONEN

DES

H EIMS

In den vorangegangenen vier Kapiteln wurde dargelegt, dass fotografische Interieurs in der Kunst der Gegenwart private Räume vielfach im Spannungsfeld von gegensätzlichen Bedeutungen zeigen. Künstler the-

Anknüpfungspunkte für die Imagination des Betrachters an, um sich den Schritt der Frau ins Wasser zu erklären.

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matisieren Schönheit, Sehnsüchte und Intimität gerade an Orten, die vor allem von Funktionalität, Entfremdung und Konflikten geprägt sind; und umgekehrt offenbaren sie Räume als krisenhaft, die primär mit positiv besetzten Werten wie Vertrauen, Sicherheit und Geborgenheit verbunden werden. Auch die unheimlichen Bildräume weisen ambivalente Strukturen auf, da sie die Motive, die Heimeligkeit suggerieren, mit solchen verschränken, die Ängste evozieren. Die Widersprüche in den Interieurs gründen auf kontrastreichen Kompositionen, in denen Räume, die mit spezifischen soziokulturellen Vorstellungen verkoppelt sind, mit Atmosphären, Einrichtungsgegenständen oder Bewohneraktivitäten konfrontiert werden, die diesen Zuschreibungen entgegenstehen. Ein entscheidendes Referenzsystem bilden dabei Bildmuster aus Werbung, Film und Kunstgeschichte mit ihren Konzepten vom privaten Raum als familiärem Heim und naturnaher Idylle sowie als Ort hemmungsloser Promiskuität und unheimlicher Begegnungen. In diesen spannungsreichen Interieurs scheint die Sehnsucht des modernen Subjekts nach einer Abkehr vom Alltag, nach Ordnung, Schönheit und einem anderem, einem besseren Leben auf. Sie spiegeln Wunschträume nach Intimität, Geborgenheit und Freiheit. Zugleich verweisen die Bilder auf existenzielle Krisen des Menschen, der Sicherheit, Kontrolle und Orientierung über sein (privates) Leben verloren hat. Auch dient das Interieur hier als Metapher für die Konfrontation des Subjekts mit der von Ängsten, Trieben und Animismus beherrschten Seite seines Ichs.

8

Räume der Erinnerung

Viele fotografische Interieurs in der Gegenwartskunst thematisieren den privaten (Bild-)Raum als Medium der Erinnerung. Über Dokumentationen realer Einrichtungssituationen wird die Bedeutung von Wohnräumen und deren visuelle Darstellung für die individuelle Erinnerung und das ‚kulturelle Gedächtnis‘1 kritisch reflektiert. Im Gegensatz zu den Zimmerbildern2 des Biedermeier, die auf der Vorstellung

1

Den Begriff ‚kulturelles Gedächtnis‘ haben Jan und Aleida Assmann eingeführt, um die flüchtige mündliche Überlieferung von der stabileren Erinnerung in Texten, Bildern und Dingen, die u.a. von Institutionen wie den Museen verantwortet wird, zu unterscheiden (vgl. Assmann 1992, S. 56).

2

Als eigenständiges Genre tritt das Zimmerbild am Anfang des 19. Jahrhunderts in ganz Europa in Erscheinung. Entstanden als Auftragsarbeit diente das Zimmerbild primär als Gedächtnisstütze, um sich an die Bewohner der Räume besser erinnern zu können. Meistens wurden sie aus Anlass eines Umzugs oder Todesfalls als subtil idealisierte Zeichnung angefertigt, in Reproduktion an Freunde und Verwandte verteilt und in Alben aufbewahrt. Das Interesse an der Erinnerung über die Welt des Materiellen zeigt sich auch in den zahlreichen Andenken, Freundschaftsbildern und getrockneten Blumen, die „in fast jedem Zimmer [...] zu altarähnlichen Inszenierungen zusammengestellt oder in Vitrinen präsentiert“ wurden (Lukatis 1995, S. 26). Das Verschwinden der Zimmerbilder begründet Christiane Lukatis mit der Verbreitung der Fotografie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, gegen die die aufwändige Technik der Zeichnung nicht konkurrenzfähig gewesen sei. Allerdings sind aus der Zeit keine fotografischen Interieurs bekannt, die die Nachfolge der Zimmerbilder angetreten hätten. Das wundert nicht, denn es war mit den zeitgenössischen fotoopti-

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von der häuslichen Einrichtung als „verräumlichte[r] Biographie“3 fußten und daher als erweitertes Porträt der Bewohner begriffen wurden, betonen die aktuellen Interieurs die soziokulturelle Durchwirkung von privaten (Bild-)Räumen 4 sowie den perspektivischen und selektiven Charakter von Erinnerungsprozessen. Die Dichotomie dieses Kapitels spiegelt die unterschiedlichen Referenzen der untersuchten Interieurs, die entweder spezifische Privaträume5 oder öffentlich präsentierte Wohnräume6 zeigen. So beziehen sich die Serie ESTATE OF A DECEASED PERSON von Miriam Bäckström und die Fotobücher Etzweiler von Laurenz Berges sowie Moll 31 von Wiebke Loeper auf (ehemals) individuell bewohnte Räume. Ihr weitestgehender Verzicht auf topographische Kontextualisierung, auf Zuordnungen zu Bewohnern oder textliche Erläuterungen stärkt die symbolische Dimension ihrer Bilder gegenüber den konkreten Lebenswelten. Auf diese Weise entziehen die Künstler die Fotografien dem Gebrauch als ‚private Erinnerungsblätter‘ oder primär kulturhistorisch relevante Bilddokumente. Sie abstrahieren vom konkreten Gegenstand und fokussieren auf die kulturelle Memorialfunktion des Raums, der Dinge, der Spuren und Leerstellen sowie der Fotografie selbst. Den Zusammenhang zwischen persönlicher Erfahrung und kultureller Ordnung markieren auch die Interieurs, die für Filme, Werbung oder Museen konstruierte Räume zur Ansicht bringen. In ihren Serien SET CONSTRUCTIONS und M USEUMS, COLLECTIONS AND RECONSTRUCTIONS führt Miriam Bäckström Raumkonstrukte vor, die aufgrund ihrer Omnipräsenz in der visuellen Kultur bzw. der Autorität der Institutionen, die sie präsentieren, maßgeblich Anteil haben an der Ausbildung eines ‚kulturellen Gedächtnisses‘. Ferner formen diese künstlichen Räume ‚Wohnleitbilder‘, die wiederum die individuelle Einrichtung realer Wohnräume prägen. Im Privaten treffen schließlich konfektionierte Möbel und Konventionen der Raumgestaltung auf subjek-

schen und fotochemischen Verfahren kaum möglich, in Innenräumen zu fotografieren. Es ist daher zu vermuten, dass der Niedergang des Genres auf der Interessenverlagerung der potenziellen Auftraggeber im Zuge des geistesgeschichtlichen Austritts aus der Zeit des Biedermeiers gründet. 3

Schulze 1998, S. 11.

4

Vgl. Kap. 7.1.

5

Kap. 8.1.

6

Kap. 8.2.

R ÄUME DER E RINNERUNG | 267

tive Einrichtungsstile. Diese Wechselwirkungen manifestieren sich gerade auch in privaten Memorabilien, die für das erinnernde Subjekt eine persönliche Bedeutung besitzen, deren Funktion als Erinnerungsträger allerdings kulturell vorbestimmt ist. Die wechselseitige Bedingtheit der individuellen Erinnerung und des ‚kollektiven Gedächtnisses‘ hat Maurice Halbwachs herausgearbeitet. 7 Demnach könne eine Erinnerungsgemeinschaft zwar ein überindividuelles, kollektives Gedächtnis ausbilden, sie sei aber letztendlich auf das „Erleben der Erinnerung“8 durch das Einzelmitglied angewiesen. „Individuen sind stets die Träger kollektiver Erinnerungen“9, paraphrasieren Gerald Echterhoff und Martin Saar den Soziologen. Andersherum formen Gruppen die Erinnerung des Einzelnen, da sich diese überhaupt erst in der Sprache und in der Interaktion mit anderen konstituiert. Aleida und Jan Assmann fassen diese zentrale These von Halbwachs’ Studien zum ‚kollektiven Gedächtnis‘ zusammen, wenn sie ausführen, dass es „[...] keine scharfen Grenzen zwischen eigenen und fremden Erinnerungen [gibt, LS], einmal, weil sie im Prozess alltäglicher Gegenseitigkeit und unter Verwendung gemeinsamer Bezugsrahmen entstehen, und zum anderen, weil jeder Mensch auch Erinnerungen anderer mit sich trägt“10. Dieser grundlegende Zusammenhang wird trotz der getrennten Betrachtung von Interieurs, die sich motivisch auf individuelle Erinnerungsräume oder auf Räume des ‚kulturellen Gedächtnisses‘ beziehen, bei der Bestimmung ihrer Sinngehalte berücksichtigt.

7

Vgl. Halbwachs, Maurice: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen. Berlin: Luchterhand 1966 (Originalausgabe Les cadres sociaux de la memoire. Paris: Alcan 1925).

8

Echterhoff, Gerald / Saar, Martin (Hg.): Kontexte und Kulturen des Erinnerns. Maurice Halbwachs und das Paradigma des kollektiven Erinnerns. Konstanz: UVK-Verl.-Ges. 2002, S. 21.

9

Ebd.

10 Assmann, Aleida / Assmann, Jan: „Das Gestern im Heute. Medien und soziales Gedächtnis“. In: Merten, Klaus / Schmid, Siegfried / Weischenberg, Siegfried (Hg): Die Wirklichkeit der Medien. Eine Einführung in die Kommunikationswissenschaft. Opladen: Westdt. Verl. 1994, S. 114-140: 117

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8.1

I NDIVIDUELLE E RINNERUNGSRÄUME

In den Fotografien der Serie ESTATE OF A DECEASED PERSON (19921996)11 zeigt Miriam Bäckström12 Wohnungen von Menschen, nachdem diese gestorben sind. Sie hat an der jeweiligen Einrichtung nichts verändert und bei Tageslicht ohne weitere Ausleuchtung fotografiert. Entstanden sind dokumentarisch präzise Ansichten von Küchen sowie Wohn- und Schlafzimmern, die größtenteils aus mittlerer Entfernung aufgenommen wurden, so dass sich eine überschaubare Anzahl von Einrichtungsgegenständen deutlich erkennen lässt. In den Bildern, in denen der Betrachtungswinkel etwas weiter ausfällt, sind an den Bildrändern rechts und links Anschnitte von weiteren Möbeln sowie oben und unten von Deckenlampen und Teppichen zu sehen (vgl. Abb. 91). In anderen Aufnahmen wird der Bildraum über Durchblicke zu anschließenden Räumen ein wenig geöffnet. Aber auch in diesen Bildern überwiegt der Eindruck von abgeschlossenen Bildräumen, in denen eher Dingkonstellationen im Raum als komplette Wohnräume vorgeführt werden. Unterstützt wird diese Bildwirkung durch die wiederholte Einfassung von Raumecken, die zu einer optischen Konzentration der Gegenstände in den Bildzentren führt, sowie die verweigerten Ausblicke aus den Fenstern, die nur undurchdringbares Weiß zeigen. Auch die wiederkehrende bildparallele Darstellung von Wänden verhindert, dass der Betrachter eine Vorstellung von den Raummaßen gewinnt.

11 Die Serie ESTATE OF A DECEASED PERSON ist die erste große Arbeit von Miriam Bäckström. Sie hatte sie bereits vor Aufnahme ihres Studiums an der Kunstschule begonnen, einzelne Bilder wurden aber auch noch nach dem erklärten Abschluss der Serie 1996 angefertigt und in die Serie aufgenommen (vgl. Miriam Bäckström (anlässlich der gleichnamigen Ausstellung, Esbjerg Kunstmuseum, 04.02.-05.04.1999 / u.a. Esbjerg: Kunstmuseum 1999, o.S.). 12 Miriam Bäckström wurde 1967 in Stockholm geboren, wo sie auch lebt und arbeitet. Sie hat 1988 und 1989 Kunstgeschichte an der Stockholms Universitet studiert sowie von 1994 bis 1998 das University College of Arts, Crafts and Design Stockholm besucht (vgl. Miriam Bäckström. Moderna Museet projekt (anlässlich der gleichnamigen Ausstellung, Moderna Museet Stockholm, 25.03.-24.05.1999). Stockholm: Moderna Museet 2002, S. 36).

R ÄUME DER E RINNERUNG | 269

Abbildung 91 / 92 (alle O.i.F.). Miriam Bäckström: o.T. (aus der Serie ESTATE OF A DECEASED PERSON (1992-1996))

Da nicht das Einzelbild, sondern nur die Serie betitelt ist, ergänzen sich die Aufnahmen nur in einzelnen Fällen zu einer mehrperspektivi-

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schen Ansicht einer Wohnung; ein Gesamteindruck von einzelnen Wohnungen entsteht dennoch nicht (vgl. Abb. 92). Die Wohnräume sind in unterschiedlichen Zuständen erfasst. Während in einigen Bildern Pantoffeln, ein Brotlaib oder eine Handtasche die Präsenz von Bewohnern suggerieren (vgl. Abb. 91), gibt es in anderen Fotografien mehr oder weniger deutliche Anzeichen für die Auflösung der Haushalte. Hier sind Bücher zu sehen, die aus dem Regal geräumt wurden, in ehemals akkuraten Wohnzimmern liegen die Dinge verstreut herum, im Boden fehlen Dielenbretter und Kartons stehen für den Auszug bereit (vgl. Abb. 93). In anderen Bildern verweisen nur noch großgemusterte Tapeten oder schwere Vorhänge in den ansonsten leeren Räumen auf die ehemalige Nutzung als Wohnraum (vgl. Abb. 94). Abbildung 93 (O.i.F.). Miriam Bäckström: o.T. (aus der Serie ESTATE OF A DECEASED PERSON (1992-1996))

Bäckström hat die Wohnungseinrichtungen fotografiert, bevor sie für immer verschwinden. Sie erläutert, dass der Impuls zu dem Projekt aus einer Zeit stamme, in der sie als Mitarbeiterin eines Auktionshauses häufig mit Hausrat aus Haushaltsauflösungen konfrontiert gewesen sei und registriert habe, dass diese Objekte, nachdem niemand mehr da

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war, der ihre Geschichte erzählen konnte, ihre ursprüngliche Funktion und Bedeutung verloren hatten.13 Hieraus sei der Wunsch erwachsen, die Dinge in ihrem ursprünglichen Kontext, d.h. den Wohnräumen ihrer ehemaligen Besitzer, zu fotografieren. Abbildung 94 (O.i.F.). Miriam Bäckström: o.T. (aus der Serie ESTATE OF A DECEASED PERSON (1992-1996))

Ihre Beobachtungen decken sich mit der Grundannahme kulturwissenschaftlicher Forschung zur kulturellen Bedeutung von Dingen. So gehen u.a. Gisela Scholz und Susanne Ecker davon aus, dass Gegenstände zwar auch ohne den Menschen zu existieren scheinen, sie ihre Bedeutungen aber nur vor spezifischen geschichtlichen und kulturellen Hintergründen entwickeln können. Eine der wesentlichen Funktionen von Dingen bestehe darin, dem Subjekt zu ermöglichen, „sich selbst, seine oder ihre Werte, Innerlichkeit, Individualität darzustellen“14. Gerade im häuslichen Umfeld versichere sich das Subjekt über Souvenirs, Fotografien und andere Dinge seiner eigenen Geschichte und konstituiere damit Identität, betonen Hartmut Häußermann und Walter Siebel aus soziologischer Perspektive. Sie schlussfolgern, eine Wohnung sei daher immer auch ein „Ort des Erinnerns, in dem vergangene Zeit ver-

13 Vgl. „A Conversation between Daniel Birnbaum and Miriam Bäckström“. In: Miriam Bäckström 1999, o.S. 14 Ecker / Scholz 2000, S. 10.

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gegenwärtigt ist“15. Auf die Möglichkeit, über alltägliche Dinge gelebtes Leben fragmentarisch zu rekonstruieren, weist Helga Kämpf-Jansen in ihrer Beschreibung der ästhetischen Forschung der Künstlerin Vesna Stalljohann zum Leben der Ursel P. hin. Kämpf-Jansen appelliert aber auch an die Imagination des Betrachters: „An den Bruchstellen bzw. Rändern enthält das Fragmentarische tausend Möglichkeiten und Versprechen, es zu ergänzen oder zu komplettieren.“16 In der Auseinandersetzung mit der Serie ESTATE OF A DECEASED PERSON von Bäckström gelingt es allerdings nicht, den Dingen ihre Bedeutung zu entlocken oder über sie Aspekte des Lebens ihrer ehemaligen Besitzer zu vergegenwärtigen. Sara Arrhenius konstatiert: „We want the objects to speak to us and maintain contact with the deceased. But what is most striking in these images is the precise opposite – their silence and the inability of the objects to really say anything about the recently deceased.“17

Der Bildbetrachter erfährt nicht, welche soziokulturellen, ökonomischen oder persönlichen Bedingungen zur Einrichtung mit Tapeten, Möbeln und Vorhängen geführt haben, die größtenteils aus den 1950er bis 1970er Jahren stammen könnten. Handelt es sich um Erbstücke, historisierte Nachbauten oder Originale, die nie einer aktuelleren Mode weichen mussten? Möglicherweise haben in den Wohnungen ältere Menschen gewohnt. Aber wurde allein gelebt, gab es einen Partner, und wie häufig waren in den mit Bildern und Blumen geschmückten Wohnzimmern Gäste zu Besuch (vgl. Abb. 93)? Der Außenstehende erfährt nicht, ob die Hundefiguren an ein Haustier erinnern sollten oder ob sie – wie die Elefantenfiguren – Teil einer Sammlung waren (vgl. Abb. 92). Zeigen die Fotoporträts Partner, Eltern oder Freunde? Gab es in der Wohnung noch mehr Bücher, wurden die vorhandenen je gelesen, und um welche Titel handelt es sich bei den erfassten? Angesichts der Landschaftsidyllen an einer Wohnzimmerwand oder der PinUps an der Innenseite einer Wäscheschranktür lassen sich Sehnsüchte nach Naturerfahrungen bzw. erotische Leidenschaften der Bewohner

15 Häußermann / Siebel 2000, S. 44. 16 Kämpf-Jansen, Helga: „Ein oder zwei Dinge, die ich von ihr weiß oder: Wer war Ursel P.?“ In: Ecker / Scholz 2000, S. 259-280: 268f. 17 Arrhenius, Sara: „Lotta’s Tent“. In: Miriam Bäckström 2002, S. 9-13: 10

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vermuten (vgl. Abb. 95).18 Aber letztlich kann der Bildbetrachter nur spekulieren, welche Bedeutung die Dinge für ihre ehemaligen Besitzer hatten, welchen Lebensstil die Bewohner pflegten, wer sie tatsächlich waren. Abbildung 95 (O.i.F.). Miriam Bäckström: o.T. (aus der Serie ESTATE OF A DECEASED PERSON (1992-1996))

Bäckström hat nicht beabsichtigt, (verstorbene) Bewohner wie in einem biedermeierlichen Zimmerbild über deren Wohnungseinrichtung zu porträtieren. Vielmehr offenbart ihre Versuchsanordnung, dass es kaum möglich ist, Vergangenes nur über Dinge bzw. Fotografien von Dingen zu vergegenwärtigen. Die persönlichen Objekte und privaten Räume bleiben dem Fremden unverständlich, wenn deren Bedeutung für die ehemaligen Besitzer und Nutzer nicht erläutert wird. Die fotografische Dokumentation kann zwar die Existenz einer bestimmten dinglichen und räumlichen Konstellation bezeugen, in der fast kontextlosen Konzeption durch Bäckström stiftet sie aber keine Zusammenhänge zwischen den Bildern, Dingen, Räumen und abwesenden Bewohnern. Indem der Glaube an die Aussagekraft der fotografischen In-

18 Vgl. auch Kap. 7.1.

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terieurs und die privaten Wohnräume enttäuscht wird, gelingt die Offenlegung und kritische Reflexion dieser Erwartungshaltung. Die Fotografie als sprachloses Gedächtnis hat die Künstlerin auch in zwei Ausstellungs- bzw. Buchprojekten thematisiert, die nicht fotografische Bilder von Räumen, sondern vor allem von Personen und Situationen präsentieren. In Kollaboration mit Carsten Höller ist 2005 das Buch All Images of an Anonymous Person entstanden, das vorgibt, alle privaten Fotografien zu zeigen, die in 24 Lebensjahren von einer namenlosen Frau angefertigt wurden. 19 Die 3147 unkommentierten Bilder zeigen sie als Baby, Kind und junge Erwachsene, allein und in Gruppen, zu Hause und auf Reisen. Die Abfolge der Bilder im Buch ist nicht chronologisch, sondern entstand aufgrund des Eingangs der Bilder, die z.T. von Freunden und Verwandten der Porträtierten stammen. 20 Die Arbeit exemplifiziert, wie selbstverständlich, allgegenwärtig und rituell die Fotografie am Ende des 20. Jahrhunderts in spezifischen sozialen und kulturellen Kontexten gebraucht wurde. Darüber hinaus verdeutlicht sie, dass weder die Fülle der Fotografien noch die Vielfalt der Motive oder ihre Nähe zu lebensweltlichen Erfahrungen helfen, eine klare Vorstellung von einer Person und ihrer Biografie zu vermitteln. Sie bleibt anonym. Zweifel an der Aussagefähigkeit der Fotografie säht auch die Gemeinschaftsarbeit THE LAST IMAGE von 2004. Sie umfasst 144 Fotografien, die etwas oder jemanden zeigen, bevor er, sie oder es sich für immer verändert hat oder für immer verschwunden ist. Bäckström und Höller hatten die Öffentlichkeit aufgerufen, entsprechende Bilder für eine Ausstellung und ein Buch zur Verfügung zu stellen. 21 Da die Bil-

19 Vgl. Miriam Bäckström / Carsten Höller. All Images of an Anonymous Person (anlässlich der Ausstellung „The Nordic Pavilion“, La Biennale di Venezia 2005, 12.06.-06.11.2005). Stockholm: Moderna Museet 2005. 20 Allen, Jennifer: „On the Project of Miriam Bäckström and Carsten Höller for the Nordic Pavillon, Venice Biennial 2005“. Online unter: http://www. nilsstaerk.dk/stcms/billeder/pdf/2006-07-05-15-55.pdf (20.08.2008). Aufgrund der Anordnung der Bilder in einer gleichmäßigen Gitterstruktur (immer sechs Querformate auf einer Seite) erinnert das Buch weniger an ein privates Fotoalbum, sondern eher an wissenschaftliche oder archivarische Darstellungsformen. 21 Auf der Rückseite der Publikation scheint dieser Aufruf notiert zu sein: „If you have the last photographic image of somebody or something before he,

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der nicht betitelt sind, lässt sich nur bei wenigen benennen, wer oder was auf ihnen zum letzten Mal aufscheint. 22 So verweist die Arbeit nicht nur auf die These, dass die Fotografie kaum mehr bezeugen kann als die Existenz einer sichtbaren Konstellation in der Vergangenheit.23 Über den Hinweis auf die Endgültigkeit des Verlustes gepaart mit dem Scheitern jeder Rekonstruktion, wer oder was verschwunden ist, werden diese Bilder darüber hinaus in beunruhigender Weise mit überindividuellen Erfahrungen von Abschied und Tod, Zufall und Schicksal verbunden. Eine wesentliche Gemeinsamkeit der drei Serien von Bäckström besteht darin, dass sie Bühnen darstellen, denen die Geschichten fehlen.24 Die Serien ESTATE OF A DECEASED PERSON und ALL IMAGES OF AN ANONYMOUS PERSON zeigen Räume, Dinge und Bilder, die für die alltägliche Erinnerungsarbeit, d.h. die Vergegenwärtigung der eigenen Vergangenheit im Dialog mit sich selbst und anderen, eine wesentliche Rolle spielen. Wie auch den Bildern aus THE L AST IMAGE mangelt es ihnen aber an einem sinnstiftenden Text, der die Bedeutung der Dingwelt für die (in-)direkt repräsentierten Personen darlegen würde. Dieses Verhältnis zwischen Bild, Text und Wirklichkeit stellt sich hier so dar, wie es Siegfried Krakauer in Bezug auf die alte Fotografie einer jungen Frau beschrieben hat: „[...] fehlt die mündliche Tradition, aus dem Bilde ließe sich die Großmutter nicht rekonstruieren“25.

she or it changed or disappeared forever, we would be glad to receive it.“ (Miriam Bäckström / Carsten Höller. The Last Image. Stockholm: Moderna Museet 2004). 22 Einzelne Bilder beziehen sich auf Ereignisse, die sich in das kollektive Gedächtnis eingeschrieben haben, wie z.B. die Terroranschläge auf das World Trade Center in New York vom 11.09.2001 oder das Attentat auf John F. Kennedy am 22.11.1963. Andere Bilder zeigen Neugeborene oder alte Menschen. 23 Vgl. Barthes, Roland: Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989 (Originalausgabe La chambre claire. Note sur la photographie. Paris: Éditions de l’Étoile 1980), S. 87. 24 Vgl. Allen 2008. 25 Krakauer, Siegfried: „Die Fotografie (1927)“. In: Kemp, Wolfgang (Hg.): Theorie der Fotografie II 1912-1945. München: Schirmer/Mosel 1979, S. 101-112: 102.

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Bäckström fragt nach den kulturellen Funktions- und Gebrauchsweisen von Wohnräumen und von Fotografien in Erinnerungsprozessen. Ihren besonderen Reiz entfalten die Serien schließlich aufgrund der vielfältigen Angebote, einzelne Spuren zu deuten, Verbindungen zwischen den Bildern herzustellen und Geschichten zu projizieren. Insbesondere die drohende Auflösung in den Serien ESTATE OF A DECEASED PERSON und THE L AST IMAGE fordert geradezu dazu auf, die Bilder als Nachrufe zu lesen. Die verschiedentlich angedeuteten Verluste von Personen und Biografien, Situationen und Konstellationen, deren behauptete Nicht-mehr-Existenz auf das Vergehen allen Lebens und aller Dinge verweist, erzeugen die melancholische Grundstimmung der Serien.26 In ESTATE OF A DECEASED PERSON wird dieser Eindruck durch die historische Aura der Einrichtung noch befördert. Ronald Jones vergleicht die Spannung zwischen An- und Abwesenheit in den Interieur-Serien Bäckströms gar mit dem Kontrast zwischen prallem Leben und angedeutetem Tod, der Vanitas-Darstellungen zugrunde liegt: „As in a vanitas painting, things here hang in the balance – on one side a resplendent life, on the other a common fate where mortal power inevitably curdle.“27 Diese thematische Abstraktion wird angeregt, weil Bäckström in ESTATE OF A DECEASED PERSON die soziokulturelle Wirklichkeit der Bewohner nur andeutet. Indem sie spezifische Dingkonstellationen herausstellt und verschiedene Stadien der Wohnungsauflösung vorführt, problematisiert sie nicht einzelne Biografien, sondern reflektiert die Bedeutung von Wohnungseinrichtungen, die sie für die Konstruktion von Identität und die Rekonstruktion von Vergangenem besitzen. Die Besonderheit dieser konzeptionellen Ausrichtung wird deutlich, wenn man die Serie mit einer motivisch ähnlich angelegten Fotoarbeit von Mieke Van de Voort28 vergleicht, die in ihrer Fotografie die

26 Vgl. auch Arrhenius 2002, S. 10. 27 Jones, Ronald: „Miriam Bäckström and Carsten Höller. Moderna Museet, Stockholm/Sweden“ (Erstveröffentlichung in Frieze, 80/2004). Online unter: http://www.frieze.com/issue/review/the_moderna_exhibition_2006 (20.08.2008). 28 Mieke Van de Voort wurde 1972 in Nijmegen (NL) geboren. (vgl. http:// en.shanghaibiennale.org/content.php?nid=54 (23.09.2008)). Van de Voort hat von 1991 bis 1993 an der University of Witwatersrand, Johannesburg, von 1994 bis 1998 an der Koninklijke Academie van Beeldnde Kunsten in

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soziale Frage herausstellt. Die dokumentarische Serie PEOPLE WHO DIED ALONE (2002-2004) gibt Einblicke in Wohnräume von Menschen, die in Amsterdam gestorben sind und keine Angehörigen hatten, die ihre Angelegenheiten nach ihrem Tod hätten regeln können. So war es die Stadtverwaltung, die die Beerdigung und die Wohnungsauflösung veranlassen musste. 29 Van de Voort hat die Einrichtungen in dem Zustand fotografiert, in dem sie von den Verstorbenen zurückgelassen wurden.30 Abbildung 96 (O.i.F.). Mieke Van de Voort: Hendrik (aus der Serie PEOPLE WHO DIED ALONE (2002-2004))

Ein Großteil der Bilder zeigt Räume, die von einer fast unüberschaubaren Fülle und Vielfalt von Dingen besetzt sind. Über die Anschnitte von Einrichtungsgegenständen wird zudem suggeriert, dass sich die Objektanhäufungen über den gegebenen Bildraum hinaus fortsetzen. Einige Akkumulationen wirken strukturiert, da Bilder, Bücherstapel und Nippes gezielt – wenn auch flächendeckend – an Wänden und auf

Den Haag sowie von 2004 bis 2005 an der Rijksakademie van Beeldende Kunsten in Amsterdam studiert (vgl. Herschdorfer, Natalie: „Mieke Van de Voort“. In: Ewing, William A. / dies. / Blaser, Jean-Christopher: reGeneration. 50 Photographers of Tomorrow (anlässlich der gleichnamigen Ausstellung, Musée d'Elysée, Lausanne, 23.06.-23.10.2005 / u.a.). London: Thames & Hudson 2005, S. 200). Bis zu ihrem Tod Anfang 2011 lebte und arbeitete sie in Amsterdam. 29 Vgl. Herschdorfer 2005, S. 200. 30 Vgl. Van de Voort, Mieke: „I see many things, many colours“. Online unter: http://www.veryrealtime.co.za/rit_mieke.htm (21.9.2008).

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Möbeln untergebracht sind (vgl. Abb. 96). In anderen Räumen herrscht ein formloses Chaos mit verstreut herumliegenden Papieren, Tüten und Kleidungsstücken (vgl. Abb. 97). Wieder andere Wohnungen erscheinen unpersönlicher, da z.B. außer einem an die Wand gepinnten Zeitungsbild kein Ausdruck von Individualität auszumachen ist. Zwar wird durch die Betitelung der Einzelfotografien mit Vornamen angeregt, von den Wohnsituationen auf die ehemaligen Bewohner und ihre individuellen Lebensstile zu schließen. Das gelingt aber kaum, da Van de Voort über die immergleiche Perspektive auf die Einrichtungen vor allem das Verbindende der Interieurs herausstellt. Mit dieser formalen Anlage ermöglicht sie eine vergleichende Betrachtung, über die sich das zentrale Thema der Serie vermittelt: die soziale Problematik urbaner Vereinsamung und häuslicher Verwahrlosung. Abbildung 97 (O.i.F.). Mieke Van de Voort: Cor (aus der Serie PEOPLE WHO DIED ALONE (2002-2004))

Während in Van de Voorts Serie eine Fülle an Bildinformationen vermittelt wird, stehen die verschiedenen Interieur-Serien von Laurenz Berges31 für motivische wie formale Reduktion. In seinen streng komponierten Aufnahmen von menschenleeren Innenräumen sind fast keine Gebrauchsgegenstände oder Möbel zu sehen, vielmehr dominieren kahle Wände, Raumecken und dunkle Türdurchgänge den Bildraum.

31 Laurenz Berges wurde 1966 in Cloppenburg geboren. Er studierte von 1986 bis 1993 Kommunikationsdesign an der Universität Essen, wechselte 1992 an die Kunstakademie Düsseldorf und schloss dort das Studium 1996 als Meisterschüler von Bernd Becher ab. Er lebt und arbeitet in Düsseldorf (vgl. http://wilmatolksdorf.de/index.php?q=artist/view/227 (26.11.2009)).

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Glassplitter, Blätter und Wasserflecken künden hier und da von der schleichenden Verwitterung der Gebäude. Die dokumentarischen Raumbilder führen aber keine zeitlose Leere vor; ohne Ablenkung durch ein vordergründiges Einrichtungsspektakel lenken sie vielmehr den Blick auf die grundlegenden Raumparameter und eine Vielzahl unscheinbarer Details. 32 Tapeten, Bildschatten oder Teppiche, einzelne Waschbecken, Spiegel oder Einbauschränke sowie architektonische Gegebenheiten geben vage Hinweise auf die ehemalige Einrichtung, Möblierung und Nutzung der Räume. Lebensumstände oder gar Identitäten von früheren Nutzern oder Bewohnern lassen sich über die wenigen Informationen nicht rekonstruieren. Es sind schließlich die Werktitel33 und Buchtexte34, die die geografischen, historischen und kulturellen Kontexte klären. Zwischen 1991 und 1995 hat Berges in leer stehenden Kasernen in Ostdeutschland fotografiert, die von der russischen Armee nach der Wiedervereinigung aufgegeben wurden.35 Eine zweite, 2005 im Fotobuch Etzweiler publizierte Serie umfasst Fotografien von ehemaligen Wohnhäusern zwischen Mönchengladbach, Köln und Aachen, die ver-

32 Diese Einschätzung widerspricht der Schlussfolgerung von Thomas Weski, der Entzug an Informationen in Berges’ Bildern führe zu einer Konzentration auf die Bildsprache und erschüttere den Glauben des Betrachters an den dokumentarischen Anspruch seiner Fotografie (vgl. Weski, Thomas: „Das dokumentarische Moment“. In: Weski 2006, S. 35-50: 44). Auch Berges betont, dass er nicht intendiere, sich vom Dokumentarischen zu lösen und Abstraktionen vorzulegen, sondern auch mit seinen reduzierten Fotografien immer noch etwas erzählen wolle (vgl. Berges, Laurenz: „o.T.“ In: Darstellung. Vorstellung. Fotografie aus Deutschland (anlässlich der gleichnamigen Ausstellung, Institut für Auslandsbeziehungen). Köln: König 2007, S. 92). 33 Z.B. Berlin Karlshorst III 1995 oder Garzweiller 2003. 34 Im Ausstellungskatalog Laurenz Berges. Fotografien 1991-1995 klärt Ulrike Bischof den Kontext in einem den Bildern nachgestellten Aufsatz. Im Fotobuch Laurenz Berges. Etzweiler wird der Bildanlass in einem literarischen Text von Michael Lentz, der der Bildstrecke vorangestellt ist, indirekt und im Klappentext explizit vermittelt. 35 Laurenz Berges. Fotografien 1991-1995 (anlässlich der gleichnamigen Ausstellung, Oldenburger Kunstverein, 07.05.-18.06.2000 / u.a.). München: Schirmer/Mosel 2000.

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lassen werden mussten, um den Braunkohletagebau an diesen Stellen zu ermöglichen. In beiden Serien offenbart sich der Versuch, in Räumen, die verschwinden werden, die wenigen verbliebenen Spuren von Vergangenem zu sichern, um darüber die Erinnerung an spezifische geschichtliche Prozesse wach zu halten. Vergegenwärtigt wird das isolierte Leben sowjetischer Soldaten in der DDR und deren Rückzug nach 1990 sowie die Umsiedelung und Zerstörung ganzer Dörfer im Rheinischen Revier. Die Imagination der Betrachter wird auch deswegen angesprochen, weil die reduzierten Fotografien als Bilder komponiert werden, in denen über Korrespondenzen und Kontraste, Linienführung und Flächenverteilung einzelne Bildelemente subtil betont und miteinander verbunden werden. Zudem gelingt es Berges insbesondere über den variantenreichen Einsatz des Tageslichts, die Räume zu modellieren und atmosphärisch zu beleben.36 Abbildung 98 (O.i.F.). Laurenz Berges: Etzweiler 2001 #1804

Im Gegensatz zum Kasernenprojekt, bei dem der Fotograf in bis dahin verborgenes und gemeinhin unbekanntes Terrain vorgestoßen ist, konfrontiert er den Betrachter in Etzweiler mit der eher vertrauten Topographie bürgerlicher Privaträume. Dass vor allem Wohnräume fotografiert wurden, ist an den vielen tapezierten Wänden, Fußbodenleisten und Auslegwaren in den Interieurs zu erkennen. Die wenigen Über-

36 Vgl. auch Bischoff, Ulrich: „Räume aus Licht und Geschichte“. In: Laurenz Berges 2000, S. 83-87.

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blicksbilder37 vom Außenraum verorten die Räume und Häuser in dörflichen Siedlungen, die über große Wiesen und alte Bäume, einspurige Straßen, befestigte Bürgersteige und Straßenlaternen kursorisch beschrieben werden. Wie die Innenräume wirken auch diese äußeren Räume verlassen, denn die Häuser erscheinen fensterlos, mit geschlossenen Jalousien oder von Bäumen verdeckt, kein Mensch oder Tier ist zu sehen, und selbst die Natur verharrt in winterlicher Reglosigkeit. Indem gleich das Eröffnungsbild im Fotobuch nicht nur einen Ausschnitt dieser Umgebung bietet, sondern komplett als Fensterblick erscheint, wird dem Betrachter nahegelegt, die folgenden Bilder der Serie als Innenansichten der angedeuteten Häuser im titelgebenden Dorf Etzweiler zu interpretieren.38 Abbildung 99 (O.i.F.). Laurenz Berges: Etzweiler 2001 #1616

Obwohl offensichtlich verschiedene Häuser und Räume zu sehen sind, ähnelt sich deren Anlage und Gestaltung. Die eingeschossigen Eigenheime mit Satteldach sind schlicht gestaltet und erinnern mit ihrer Innengestaltung durch Motivtapeten, Holzpaneele und ockerfarbene Ka-

37 Z.B. Gesolei 1999 #1338 (in: Laurenz Berges 2005, S. 17), Garzweiler 2002 #1944 (in: A.a.O, S. 27), Altdorf 2001 #1594 (in: A.a.O., S. 37) 38 Dass einige Bilder auch in anderen Dörfern entstanden sind (Gesolei, Altdorf, Inden, Hau, Garzweiler), offenbart sich erst am Ende des Buches anhand einer Liste der Bildtitel, die Ort und Jahr der jeweiligen Aufnahme ausweisen (vgl. Laurenz Berges 2005, S. 105).

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cheln an Einrichtungsstile, die in Westdeutschland in den 1970er Jahren populär gewesen sind. Diese historische Wohnwelt wird auch durch den Text von Michael Lentz aufgerufen, der der Bildstrecke vorangestellt ist. 39 Sein Ich-Erzähler vergegenwärtigt beim Gang durch das mittlerweile leer stehende Elternhaus einige Details der ehemaligen Einrichtung, aber auch Familienrituale und Wohnerlebnisse aus seiner Kindheit in den 1970er Jahren. Gerade seine assoziativen Reflexionen über die frühkindliche Ausbildung eines Wohnideals,40 unheimliche Orte im Haus41 oder über Dinge, die „eine längst verloren geglaubte Erinnerung“42 auslösen können, lassen sich unmittelbar auf Berges’ Interieurs beziehen. Dem Ich-Erzähler dienen vor allem spezifische Objekte43 als Ausgangspunkt für Erinnerungsketten. Der Fotograf hingegen fokussiert nicht auf dingliche Gedächtnisstützen, sondern setzt auf architektonische und materielle Besonderheiten sowie Raumatmosphären, um Erinnerungsprozesse zu stimulieren. So beschwören beispielsweise die schattigen Raumecken und die dunklen Raumöffnungen in einigen Bildern die unheimlichen Orte der Kindheit herauf (vgl. Abb. 98, 99).44 In anderen Interieurs beleben das weiche Licht und die warmen Brauntöne von Tapeten und Teppichen den Raum, so dass sich vorstellen lässt, wie Kinder erst kürzlich die Wandzeichnungen angefertigt haben (vgl. Abb. 100). In gleichmäßiger Ausleuchtung nüchtern registriert werden Regale und Regalhalterungen an weißen, bisweilen unverputzten Kellerwänden oder Nagelformationen auf Wandbrettern, die vormals vielleicht Werkzeuge gehal-

39 Lentz, Michael: „Zellophan“. In: Laurenz Berges 2005, S. 7-15. 40 „In einem weiß gekachelten Keller aufgewachsen wird man immer einen weiß gekachelten Keller suchen.“ (Lentz 2005, S. 9). 41 „Von dem Tag an, als in der Zeitung stand, der Mörder habe die sauber mit einer elektrischen Säge zerteilte Leiche Stück für Stück in Gefriertüten verpackt und in die Gefriertruhe gelegt, um die filetierten Teile Portion für Portion tiefgekühlt und also frisch entnehmen zu können, braten, aufessen, wurde das Öffnen der hauseigenen Gefriertruhe [im Keller, LS] gemieden.“ (Lentz 2005, S. 10). 42 Lentz 2005, S. 14. 43 Zu den erwähnten Dingen zählen eine Türklingel (vgl. Lentz 2005, S. 8), Einweckgläser im Keller (vgl. a.a.O., S. 12) und ein alter „Schrank mit furnierten Wänden aus Pressspan“ (a.a.O., S. 14). 44 Vgl. auch Kap. 2.1 und Kap. 7.4.

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ten haben (Abb. 101). Anstelle von Handlungen sind es nun Dinge, die die Bilder nicht zeigen, die aber über die ehemals für sie vorgesehenen Standorte assoziiert werden. Diese Platzhalter erscheinen als Metapher für die Leerstellen des Bildes, die an die Einfühlung, Erfahrung und Imagination des Betrachters appelliert. Abbildung 100 / 101 (alle O.i.F.). Laurenz Berges: Gesolei 2001 #1504 / Gesolei 2000 #1464

Die unpersönliche aber suggestive Art der Schilderung von Berges, seine typologische und atmosphärisch dichte Fotografie von bürgerlichen Einfamilienhäusern bietet offene Projektionsflächen für eigene Erinnerungen. Die Eigenart von Berges’ Bildern, die zwischen Dar-

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stellung und Vorstellung oszillieren, offenbart sich im Vergleich mit einer Serie von Fotografien, die Natalie Czech 45 zum selben Motiv vorgelegt hat. Auch sie hat um das Jahr 2000 herum verlassene Wohnhäuser in der Nähe des Braunkohlereviers Garzweiler II aufgesucht und zum Teil in den gleichen Räumen fotografiert. Ihre ebenfalls in frontaler Ansicht entstandenen Interieurs der Serie ANDERSWO zeigen allerdings häufiger individuelle Einrichtungsvorlieben wie z.B. einen massiven Kamin, einen gedrehten Eckpfeiler oder gekachelte, gemalte und fotografische Wandbilder (vgl. Abb. 102). Einige Bilder gewähren entweder Einblicke in mehrere, horizontal oder in der Bildtiefe gestaffelte Räume oder verschränken Innen- und Außenraum miteinander. Die spannungsreiche Anlage vieler Bildräume wird orchestriert von kräftigen Farben und dynamischen Mustern auf Tapeten, Gardinen oder Kacheln. 46 Czechs spektakuläre Interieurs wirken auf diese Weise einerseits sehr vital; andererseits wird durch den Kontrast zu den vielfach vorgeführten Zeichen der Zerstörung betont, dass sich individuell eingerichtetes Leben in Auflösung befindet. 47 Für Franz Xaver Baier sind die Interieurs daher vor allem „[...] Gleichnisse für eine jederzeit eintretende Bedrohung der Intimität, der Gewohnheit und des Selbstverständnisses durch Gewalt von außen, sei dies eine Gewalt der Natur oder eine der übergeordneten Politik“48.

45 Natalie Czech wurde 1976 in Neuss geboren. Sie studierte von 2000 bis 2005 an der Kunstakademie Düsseldorf und war dort Meisterschülerin von Thomas Ruff. Sie lebt und arbeitet in Köln und Berlin (vgl. http://www. natalieczech.de (29.09.2008)). 46 Besonders evident ist die unterschiedliche Behandlung der Sujets beim Vergleich zweier Bilder, die die gleiche Wand mit Fenster zeigen: Berges stellt sie in ruhiger, frontaler Ansicht mit versperrter Durchsicht dar, Czech hingegen dynamisch in perspektivischer Verjüngung und unter Einbeziehung des Außenraums (vgl. Natalie Czech: o.T. (01/82), 2001 (in: Natalie Czech 2006, S. 26) und Laurenz Berges: Etzweiler 2000 #1453 (in: Laurenz Berges 2005, S. 49)). 47 Im Gegensatz zu Berges zeigt Czech wiederholt ausgehängte Türen, eingeschlagene Fenster oder sich lösende Tapeten. 48 Baier, Franz Xaver: „ungewohnt“. In: Natalie Czech. Ahoj ouroboros (anlässlich der gleichnamigen Ausstellung, Studiogalerie Kunsthalle Darmstadt, 03.09.-05.11.2006). Frankfurt a.M.: Revolver 2006, S. 9-11: 11. Auch Yilmaz Dziewior und Katrin Sauerländer betonen, dass sich in den

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Abbildung 102 (O.i.F.). Natalie Czech: o.T. (0/02), 2001 (aus der Serie ANDERSWO)

Die Bedrohung der häuslichen Lebenswelt wird in Berges’ InterieurSerie subtiler inszeniert als bei Czech. Zunächst belegen die fotografierten Spuren die Abwesenheit von Dingen und Personen zur Zeit der Aufnahme. Die bisweilen suggestive Atmosphäre der Bildräume regt an, das Abwesende zu vergegenwärtigen und gleichsam dessen Verlust wahrzunehmen. Die Fotografien der Freiflächen werden so zu Sinnbildern für die Vergänglichkeit allen Seins. Die melancholische Grundstimmung der Bilder nimmt in der zweiten Hälfte der durch eine Vakatseite geteilten Bildserie noch zu. Sie umfasst die dunkleren Fotografien mit den großflächigeren Schattenbereichen und den unergründlichen Raumöffnungen (vgl. Abb. 98, 99). Die dezente Unterbrechung des Bilderflusses könnte zudem einen zeitlichen Abstand zwischen den Aufnahmen der beiden Bildstrecken anzeigen. Diesen Schluss lässt zumindest der Vergleich zweier Aufnahmen einer Einbauschrankwand zu, deren Türen zunächst geschlossen und in der zweiten Hälfte leicht

Aufnahmen die Härte und Dramatik einer Evakuierung widerspiegele (vgl. Dziewior, Yilmaz / Sauerländer, Katrin: „ausnahmeorte“. In: ders. (Hg.): Andere Räume – Other Spaces (anlässlich der gleichnamigen Ausstellung, Kunstverein Hamburg, 27.04.-16.06.2002). Frankfurt a.M.: Revolver 2002, S. 4-8: 5). Vgl. auch Kap. 7.3.

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angelehnt gezeigt werden. 49 Während der ersten Aufnahme noch das Geheimnis eines verborgenen Inneren anhängt, suggeriert die zweite Fotografie, dass jemand nachgeschaut und möglicherweise die Leere vorgefunden hat, die sich hinter der einen weit geöffneten Schranktür zeigt. Auch der Raum im Raum wurde also ausgeräumt und verweist nunmehr vor allem auf die Abwesenheit der Dinge, die er einst barg. Abbildung 103 (O.i.F.). Laurenz Berges: Etzweiler 2002 #1924

Czech behauptet in ihrer Interieur-Serie, dass der Mensch die größte Gefahr für die Integrität der Häuser darstelle, indem sie die Ergebnisse seines zerstörerischen Wirkens zeigt. In der Serie ETZWEILER finden sich hingegen keine Spuren gewalttätigen Handelns, vielmehr wird die Natur als die Kraft in Szene gesetzt, die den Verfall der Zivilisationsbauten befördert. Im ersten Teil ist sie noch in harmloser Gestalt von Spinnenweben und Blättern präsent, die sich im Haus ausbreiten, sowie von Pflanzen, die ungebremst Stufen im Außenbereich überwuchern. 50 Auf den großflächigen Schimmelbefall, die Wasserflecken und den im Inneren verendeten Vogel fokussiert Berges erst im zwei-

49 Etzweiler 2001 #1783 (in: Laurenz Berges 2005, S. 49) und Etzweiler 2001 #1605 (in: a.a.O., S. 73). 50 Gesolei 2000 #1528 (in: Laurenz Berges 2005, S. 21), Etzweiler 2001 #1670 (in: a.a.O., S. 33), Etzweiler 2000 #1433 (in: a.a.O., S. 35).

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ten Teil (vgl. Abb. 103).51 Diese Motive sind vor allem Ausdruck einer Grenzüberschreitung zwischen Innen und Außen, die eine schleichende Zersetzung der Wohnräume durch Wind und Wetter, Flora und Fauna zur Folge haben kann.52 Der Tierkadaver deutet aber auch an, dass am Ende des Prozesses das Terrain keineswegs von der Natur zurückerobert sein wird. Eine Ahnung von einer möglicherweise bevorstehenden Verödung der Landschaft vermittelt insbesondere das letzte Bild, das den Blick aus einem Fenster auf eine brachliegende Kulturlandschaft freigibt. Auch das Fotobuch Moll 3153 von Wiebke Loeper54 steht für die Verschränkung von Erinnerungen an individuelle Wohnbiografien mit kollektiven Erfahrungen und historischen Kontexten. Ebenso wie Berges thematisiert Loeper den Wohnraum als bedrohtes Gedächtnis eines privaten Lebens. Während Berges’ Fotoarbeit auf den westdeutschen Eigenheimtraum und das unversöhnliche Verhältnis zwischen Zivilisation und Natur anspielt, bezieht sich Loeper auf die Utopien vom besseren Wohnen und Leben in der DDR der 1970er Jahre, die Entwertung von DDR-Biografien sowie den Verlust von Zeugnissen der eigenen Geschichte im wiedervereinigten Deutschland. Im Gegensatz zu

51 Etzweiler 2001 #1624 (in: Laurenz Berges 2005, S. 83), Etzweiler 2002 #1841 (in: a.a.O., S. 85), Etzweiler 2002 #1924 (in: a.a.O., S. 77). 52 Das Verhältnis zwischen Natur und Zivilisation in Etzweiler lässt sich allerdings nicht auf die Aspekte der gegenseitigen (finalen) Zerstörung reduzieren. So wird in einigen Bildern auch auf die Domestizierung (Blumenkübel) und Idyllisierung (Blumentapete) von Natur und den tagtäglichen Kampf gegen Moos in Fugen und ‚Unkraut‘ an Wegrändern verwiesen (vgl. dazu Schreier, Christoph: Fotografie aus Nordrhein-Westfalen heute. Laurenz Berges, Renate Brandt, Dunja Evers, Claus Goedicke, Gudrun Kemsa, Brigitta Rohrbach (anlässlich der gleichnamigen Ausstellung, Sendezentrum ZDF, Mainz, 24.09.-26.10.2000). Bonn 2000, S. 15). 53 Moll 31 ist bereits 1995 als Künstlerbuch in einer Auflage von neun (plus vier) Exemplaren erschienen und wurde 2005 in höherer Auflage noch einmal veröffentlicht. (vgl. Wiebke Loeper 2005 (1995), o.S.). 54 Wiebke Loper wurde 1972 in Ost-Berlin geboren. Von 1990 bis 1997 studierte sie Fotografie an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig. 2000 war sie Meisterschülerin bei Joachim Brohm. Seit 2008 ist Loeper Professorin für Fotografie an der Fachhochschule Potsdam. Sie lebt in Berlin (vgl. http://www.lux-fotografen.de/vita.90.html (26.11.2009)).

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Berges basiert Loepers autobiografisches Projekt auf einem strengen Konzept von Bildvergleichen, für die bereits existierende Familienfotografien herangezogen wurden. Abbildung 104 / 105 (alle O.i.F.). Wiebke Loeper: o.T.

Das kleinformatige Buch Moll 31 umfasst Fotografien aus der Wohnung in Ost-Berlin, in der Wiebke Loeper aufgewachsen ist. Einer kurzen Vorbemerkung kann entnommen werden, dass das Jahr ihrer Geburt auch das Jahr der Fertigstellung des Hochhauses in der Mollstraße 31 war und dass die dreiköpfige Familie im 17. Stock wohnte. Im folgenden Bildteil alternieren Familienschnappschüsse aus Loepers Kindheit und Jugend fast immer mit Fotografien, die an gleicher Stelle und aus gleicher Perspektive Mitte der 1990er Jahre von ihr selbst aufgenommen wurden. Zu dieser Zeit hatte das Haus bereits einige Jahre

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leer gestanden. Es wurde im Sommer 1989 geräumt, weil die Stabilität des Gebäudes aufgrund des sandigen Bodens nicht mehr gewährleistet schien, wie Annett Gröschner in einem Text am Ende des Buchs bemerkt.55 Erst 13 Jahre später wurde es abgerissen. Abbildung 106 (O.i.F.). Wiebke Loeper: o.T.

Die privaten Knipserbilder führen Szenen aus dem häuslichen Familienleben vor, in dessen Mittelpunkt die Fotografin in ihren ersten Lebensjahren steht. Sie ist an der Hand der Mutter, auf dem Schoß der Oma, mit einer Person in Weihnachtsmannverkleidung sowie im Kreise anderer Kinder zu sehen und wurde in der Badewanne, am Weihnachtsbaum oder beim Spielen fotografiert. Als Teenagerin erscheint sie nur zweimal im Bild, neben ihrer Mutter auf dem Sofa und auf dem Balkon an der Seite einer Freundin (vgl. Abb. 106). Wie bei Familienschnappschüssen üblich, werden fast ausnahmslos harmonische und friedvolle Momente vorgeführt. 56 Charakteristischerweise bestätigen die Knipserbilder auf diese Weise nicht nur die Einheit der Familie, 57 sondern verherrlichen die Kernfamilie in ihrem

55 Vgl. Gröschner, Annett: „Erinnerungshotel“. In: Wiebke Loeper 2005 (1995), o.S. 56 Vgl. Starl, Timm: Knipser. Die Bildgeschichte der privaten Fotografie in Deutschland und Österreich von 1880 bis 1980. München / u.a.: Koehler und Amelang 1995, S. 23. 57 Vgl. Bourdieu 2006 (1965), S. 33 und Kap. 3.1.

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bergenden und intimen Charakter. 58 Über die Konzentration auf die häusliche Umgebung erscheint das Kind zudem nicht nur in der Familie, sondern auch in der Wohnung behütet.59 Diese Bildwirkung wird unterstützt durch die spezifische Bildanlage, denn zum einen dominiert der warme Gelbton der Wände die Bildräume, zum anderen öffnet sich keiner der dargestellten Wohnräume in ein unbekanntes Außen; viele Türen sind geschlossen und meist umfängt die Dunkelheit der Nacht die Szenerie. Die Intimität des Bildraums wird auch dadurch gewährleistet, dass die Bildformate an private Knipserbilder angelegt sind und die Größe des Buchs mehr der eines persönlichen Tagebuchs als der eines gewöhnlichen Fotobuchs gleicht. 60 Der selbstgenügsame Eindruck, den die Knipserbilder vermitteln, korrespondiert mit einer Bemerkung von Gaston Bachelard, die der Bildstrecke als Zitat vorangestellt ist, wonach das Haus das erste All des Menschen sei.61 Bachelard beschränkt sich in seiner Phänomenologie des imaginären Raums, der die Bemerkung entnommen ist, auf positive Vorstellungen und Darstellungen von Raumerfahrungen; 62 Otto Friedrich Bollnow stellt in seinen philosophischen Schriften hingegen verschiedene, auch schmerzvolle Formen des Verhältnisses zwischen Mensch

58 Vgl. King 2003, S. 177. 59 In doppelter Weise geborgen erscheint Loeper gleich im dritten Bild, in dem ihre Mutter gezeigt wird, die mit ihr schwanger ist. Im Anschluss an zwei Außenaufnahmen stimmt dieses intimste Bild des Buchs auf die private Sphäre ein, die die folgenden Bilder bestimmt (vgl. Abb. 107). 60 Zudem besitzt das Fotobuch keinen Schutzumschlag, auf dem üblicherweise plakativ um die Aufmerksamkeit des potenziellen Käufers gebuhlt wird. Der Buchumschlag ist stattdessen einfarbig gehalten und weist über eine dezente Typographie Autorin und Titel des Werks aus. Ungewöhnlich für Fotobücher ist ferner das satte Gelb des Umschlags, das auch für das Vorsatzpapier und die Textseiten gewählt wurde. Es korrespondiert mit der Farbdominante vieler Bilder, die auf die Wandgestaltung der Wohnung und auf das Kunstlicht bei vielen Belichtungen zurückzuführen ist. Die überwiegend heitere Ausstrahlung der Bilder gründet auf dieser einnehmenden Farbgebung. 61 Vgl. Wiebke Loeper 2005 (1995), o.S. 62 Bachelard, Gaston: Poetik des Raumes. Frankfurt a.M.: Fischer 1987 (Originalausgabe La Poétique de l'espace. Paris: Presses Univ. de France 1957).

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und sozialem Raum dar. Eine der grundlegenden Formen sei das naive Vertrauen zum Raum, das einem Zustand kindlicher Geborgenheit gleiche; der Mensch ist in diesem Fall „mit seinem Raum verschmolzen“63. Im Kontrast dazu steht der Zustand der Heimatlosigkeit, wenn der Raum als unheimlich und fremd wahrgenommen wird. Dieses Gefühl der Entfremdung vom sozialen Raum benennt Loeper als eigentlichen Beweggrund für ihre freien Fotoprojekte64: „Meine Arbeit begann aus dem Gefühl mangelnder Geborgenheit. Weder mit dem Land aus dem ich kam, konnte ich mich identifizieren noch mit dem neu geschaffenen Deutschland. [...]. Zur Klärung meiner eigenen Identität fotografierte ich ‚Lad‘. [...]. Diese Arbeit hat viel mit dem Anerkennen der eigenen Herkunft zu tun.“65

In dem Fotobuch Lad thematisiert Loeper in Fotografien und Texten Erinnerungen an das Leben im öffentlichen Raum in der DDR der 1970er und 1980er Jahre. 66 Sowohl Lad als auch Moll 31 stehen für den Versuch, die eigene Geschichte zu vergegenwärtigen und zu akzeptieren, um (wieder) mit sich selbst identisch zu werden. Ihre Bezugspunkte sind vor allem Räume und Dinge aus der Vergangenheit, die in Deutschland nach 1990 wertlos geworden sind und zunehmend verschwinden. 67 Indem Loeper die bedrohten Zeugen in Fotografien

63 Bollnow, Otto Friedrich: Mensch und Raum. Stuttgart / u.a.: Kohlhammer 1976 (3. Aufl.; 1. Aufl. 1963), S. 307. 64 Während in Moll 31 und Lad die eigene Herkunft im Mittelpunkt steht, rekurrieren die anderen beiden Fotobücher, die Loeper realisiert hat, auf die Biografien ihrer Großeltern (vgl. Wiebke Loeper. Gold und Silber lieb’ ich sehr. Berlin 2006 und Wiebke Loeper. Hello from Bloomer – Viele Grüße aus Wismar. Tübingen / u.a.: Ed. Heckenhauer 2001b). 65 Loeper, Wiebke: „o.T.“. In: Darstellung. Vorstellung 2007, S. 104. 66 Lad enthält Auszüge aus Loepers Diplomarbeit „Wertzeichen und Irrlichter: Der Versuch einer Rücksicht auf Kinder- und Jugendjahre in der DDR, 1972-1989“ (vgl. Wiebke Loeper. Lad (anlässlich der Ausstellung „Goldrausch 12“, Kunstraum Kreuzberg / Bethanien 22.09.-14.10 2001). Berlin: Goldrausch-Künstlerinnenprojekt 2001a, S. 7). 67 Vgl. a.a.O., S. 52.

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fixiert hat, sicherte sie sie für die Erinnerung an ein Land, „das man in seiner Eigenheit nicht mehr begehen und erleben kann“68. Die Wohnung in der Mollstraße 31 ist für Loeper sowohl ein realer als auch ein geistiger Raum, „der kindliche Erinnerung beherbergt“ und an den sie glaubte zurückkehren zu können, um sich „von seiner Substanz zu nähren“69. Er ist vor allem auch mit der Erinnerung an die Mutter verbunden, die Anfang der 1980er Jahre gestorben ist. Die enge Beziehung zwischen Tochter und Mutter illustriert die Fotografie, die die beiden in verblüffend ähnlicher Haltung, Frisur und Kleidung einander zugewandt zeigt (vgl. Abb. 106). Auf der folgenden Seite markiert die Ansicht des Grabsteins von Bärbel Loeper deren Tod, der sie bald nach der Aufnahme ereilt hat.70 Den drohenden Verlust der Wohnung als Gedächtnis führt Loeper aber insbesondere in den Fotografien vor, die Mitte der 1990er Jahre entstanden sind.71 Von Beginn an sind im Buch neuere Fotografien zu sehen, die die Wohnung ohne Türen und Rahmen, mit Resten abgeschlagener Kacheln oder mit Paletten und Kartons zeigen, die auf den professionellen Abtransport von allem Verwertbaren verweisen (vgl. Abb. 105, 108). Im Gegensatz zu Berges’ Bildern lassen sich hier allerdings kaum Spuren entdecken, die auf vergangenes Wohnen schließen lassen, sondern eher solche, die auf eine radikale Räumung verweisen. Übereinstimmungen mit den Wohnräumen in den älteren Fotografien bestehen allein in der größtenteils unveränderten Raumstruktur, den wenigen verbliebenen Kacheln und der gelben Wandfarbe

68 A.a.O., S. 7. 69 A.a.O., S. 35. 70 Vgl. Gröschner 2005 (1995), o.S. Auch der skeptische Blick der jugendlichen Loeper neben ihrer eher fröhlich gestimmten Freundin in den nächtlichen Himmel lässt erahnen, dass sie als Heranwachsende Erfahrungen mit Trauer und Zweifel gemacht hat (vgl. auch Loepers negative Erfahrungen als Jungpionier (Wiebke Loeper 2001a, S. 29-30)). Dieses Bild ist das erste, das auf die Aufnahme mit ihrer Mutter auf dem Sofa folgt, und zugleich das letzte in dem Buch, das sie als Bildfigur zeigt. 71 Schon auf der ersten ‚neuen‘ Fotografie im dunklen, erdigen Grundton ist das Hochhaus hinter den kahlen Bäumen im Bildvordergrund kaum (mehr) zu erkennen. Das gegenüberliegende Bild zeigt die Bäume, kurz nachdem diese gepflanzt wurden. Der Blick auf das Hochhaus ist frei, die Ausstrahlung des Bildes mit Sonnenlicht und Menschen im Mittelgrund positiv.

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(vgl. Abb. 104, 105; 107, 108). Während einige Bilder mit ihren harten Kontrasten und trostlosen Motiven die Unwirtlichkeit einer modernen Bauruine ausstrahlen, wirken andere freundlich und lebendig. Mal konnte Tageslicht das Wandgelb zum Leuchten bringen, mal hat die Sonne lebendige Lichtkorridore auf den Boden geworfen oder wurde eine Raumecke von weichem Licht modelliert. In diesen Aufnahmen könnte die Wohnung für einen Neubau gehalten werden, der für den Erstbezug vorbereitet wird (vgl. Abb. 105). Dieser Eindruck stellt sich insbesondere bei den ganzformatigen Abbildungen ein, die eine größere Autonomie behaupten als die Bilder, die in Paaren auf einer Doppelseite präsentiert werden. Es handelt sich bei den ‚neuen‘ Fotografien also nicht nur um Aufnahmen, die den Verlust beklagen, sondern auch um solche, in denen das Potenzial des Raums, als Wohnung zu dienen, in Erscheinung tritt. Abbildung 107 (O.i.F.). Wiebke Loeper: o.T.

Über die Gegenüberstellung der beiden Bildstrecken, die die gleichen Zimmer zu unterschiedlichen Zeiten zeigen, werden nicht nur die räumlichen und sozialen Veränderungen der letzten Jahre augenfällig. Vielmehr werden Räume und Fotografien in ihrer Bedeutung für die individuelle wie kollektive Erinnerung reflektiert. Im Spiegel der neu-

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eren Aufnahmen wirken die Schnappschüsse und das mit ihnen verbundene Leben noch abgeschlossener, da aufzeigt wird, dass die Räume nicht mehr bewohnt werden und die Vergangenheit auch bald nicht mehr bezeugen können. Andersherum erscheinen die neueren Fotografien neben den Familienbildern teilweise noch lebloser, da deutlich wird, dass die Räume eine Geschichte haben, von der sie (über die Fotografien) in Ermangelung von Einrichtungsgegenständen und von Gebrauchspuren nicht erzählen können. Abbildung 108 (O.i.F.). Wiebke Loeper: o.T.

Was Barry King über Familienbilder notiert hat, lässt sich also auch auf die (leeren) Wohnräume übertragen: Sie sind keine „Behälter für Erinnerungen, sondern lediglich eine von mehreren Ressourcen, mit deren Hilfe man eine selektive Evokation der Vergangenheit für gegenwärtige Zwecke nutzbar machen kann“72. Nach dem Abriss des Hauses verweisen nur noch die Bilder auf die Räume; um von diesen auf die Geschichte eines verschwundenen Landes und seiner nach wie vor lebenden Bürger schließen zu können, bedarf es sprachlicher Erläuterung und weiterer Dokumente. Je weniger physische Räume und

72 King 2003, S. 203.

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Relikte helfen können, Vergangenes darzustellen bzw. zu rekonstruieren, desto größer wird der Einfluss von geistigen Räumen auf Erinnerungsprozesse. Und gerade für die Erinnerung über Fotografien besteht die Gefahr, dass mit fortschreitender Zeit die Erinnerung an Erlebtes von der Erinnerung an die Fotografie des Ereignisses überlagert wird.73 Loeper verbindet mit Moll 31 aber nicht nur Manifestationen des Verlusts, sondern auch Erfahrungen des produktiven Abschieds: „Diese emotionale Erfahrung am Ort der Erinnerung unter neuen Verhältnissen in der Auseinandersetzung mit den alten Bildern fügte ein neues Bild hinzu, das mir den Abschied ermöglichte. So erlaubte die Arbeit die Loslösung vom konkreten Ort, weil ein neues, in mir verwurzeltes Bild von ihm entsteht, das den Verlust mit einschließt.“74

Die Eigenständigkeit der Fotografien von den verlassenen Räumen mag Ausdruck des neuen Bildes sein, das sich Loeper vom Ort ihrer Kindheit gemacht hat. Diese ‚neuen‘ Fotografien ermöglichen es auch dem Betrachter ohne biografischen Bezug, sich die Räume als ehemalige (oder künftige) Wohnräume vorzustellen. Gerade über die älteren und neueren Bilder, die Überblicke über die Wohnräume vermitteln, kann zudem das Wohnungsbauexperiment nachvollzogen werden, das hier veranstaltet wurde. Auf drei Etagen konnten 24 Wohneinheiten über variable Zwischenwände und multifunktionale Baukastenmöbel individuell gestaltet werden. Wie Gröschner berichtet, war Loepers Vater als junger Architekt an dem partizipativen Modellversuch ‚Variables Wohnen‘ im Geist der 1920er Jahre beteiligt. Die Idee der „Wohnung als gelebte [...] Utopie“75 ist Ausdruck einer Zeit, in der die erste in der DDR sozialisierte Generation noch „vom Fortschritt und der Technik träumte“76, „zu alt, um schon bar jeder Hoffnung zu sein, was den Sozialismus anging“77. Die Ergebnisse des Versuchs hatten allerdings keinen Einfluss auf die weite-

73 Vgl. Wiebke Loeper 2001a, S. 40, aber auch Starl 1995, S. 149. 74 Wiebke Loeper 2001a, S. 40. 75 Gröschner 2005 (1995), o.S. 76 Wiebke Loeper 2001a, S. 11. 77 Gröschner 2005 (1995), o.S.

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re Entwicklung des staatlichen Wohnungsbaus in der DDR, wie Herwig Loeper resümiert.78 Die Fotografien von der ausgeräumten Wohnung können als Metapher gelten für das Scheitern einer architektonischen und einer gesellschaftlichen Utopie, das Verschwinden eines Staates sowie den Verlust von Geborgenheit und Geschichte. Über die Gegenüberstellung von Bildern behüteter Räume der Kindheit mit Bildern von Wohnräumen zwischen Auflösung und Neubeginn verweist Moll 31 auf das Verschwinden von Dingen, Räumen und Personen sowie den ambivalenten Versuch, mit Fotografien gegen das Vergessen anzugehen.

8.2

R AUM ALS , KULTURELLES G EDÄCHTNIS ‘

Die vorangegangenen Analysen haben gezeigt, dass individuelle Erinnerungen an privates Leben und Wohnen immer auch mit kollektiven Erfahrungen verschränkt sind. Die fotografischen Interieurs abstrahieren vom Persönlichen und Singulären, um grundlegende Memorialfunktionen zu reflektieren, die Wohnräumen und Fotografien zugesprochen werden. Zudem verweisen sie häufig auf die historischen Situationen, in denen sie entstanden sind, so dass ein Raumbild bisweilen auch als Sinnbild für bestimmte gesellschaftliche Entwicklungen verstanden werden kann. Im Folgenden werden nun Interieurs untersucht, die zuvorderst die Ausbildung, Beschaffenheit und Geltung des ‚kollektiven Gedächtnisses‘ thematisieren. Als Gegenstand der exemplarischen Betrachtungen dienen verschiedene Serien von Miriam Bäckström zu Raumkonstruktionen, die in Museen, Filmen oder Möbelhäusern kollektive Vorstellungen von einer Epoche, einem Milieu oder einer Mode repräsentieren sollen und diese zugleich nachhaltig prägen. In der Serie MUSEUMS, COLLECTIONS AND RECONSTRUCTIONS (1998-1999) bezieht sich Bäckström auf Wohnräume, die für Ausstellungen sowohl in staatlichen Museen als auch in einer firmeneigenen

78 Vgl. Loeper, Herwig: „Industrieller Wohnungsbau für die Zukunft von gestern. Das Wohnungsbauexperiment ‚Variables Wohnen‘ in Ost-Berlin 1970“. In: Fezer, Jesko / Heyden, Mathias (Hg.): Hier entsteht. Strategien partizipativer Architektur und räumlicher Aneignung. Berlin: b_books, 2004, S. 113-121: 120.

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Sammlung installiert wurden. Mehrere Fotografien hat sie den Zimmern gewidmet, die im Stockholmer Stadtmuseum den ärmlichen Einrichtungsstand einer Großfamilie im Jahre 1937 vermitteln sollen (vgl. Abb. 109, 110). Abbildung 109 (O.i.F.). Miriam Bäckström: Stickelbärvägen 7, Stockholm City Museum, 1999 (aus der Serie MUSEUMS, COLLECTIONS AND RECONSTRUCTIONS (1998-1999))

Ihr Aufnahmewinkel ist hier so gewählt, dass die Bild- und damit auch die Wohnräume geschlossen erscheinen. Da zudem die Fenster der Raumkonstrukte entweder den Blick nicht freigeben oder Bäume andeuten, lässt sich der eigentliche Präsentationskontext eines Museums nicht erahnen. Auch aufgrund ihrer Einrichtung mit zeitgenössischen Möbeln und zahlreichen Alltagsgegenständen können die Zimmer zunächst als authentische Wohnräume der 1930er Jahre überzeugen. Die Ausstattung der Räume mit vielen Details – wie z.B. Spielzeug, Kleidung und Büchern – steht für den Versuch, nicht nur eine historische Einrichtung vorzuführen, sondern auch Hinweise auf menschliches Handeln in diesen Räumen zu geben. In ihrer Bildanlage entspricht Bäckström damit dem Bemühen des Museums, einen glaubwürdigen Einblick in eine historische Wohnwelt zu vermitteln. Allerdings offenbart sie die Künstlichkeit der Konstruktionen, indem sie über die präzise fotografische Dokumentation das Fehlen jeglicher Gebrauchsspuren und Lebenszeichen in den Wohnräumen vorführt. Die Räume wirken steril und leblos; es sind offensichtlich nicht (ehemals) bewohnte

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Zimmer aus einer entfernten Vergangenheit. Dem Katalogbeitrag von Sara Arrhenius ist zu entnehmen, dass es sich auch nicht um die Originaleinrichtung einer spezifischen Familie handelt; vielmehr wurden alle Objekte auf Grundlage der Erinnerungen eines Mannes an die Wohnung seiner Kindheit zusammengestellt. 79 Abbildung 110 (O.i.F.). Miriam Bäckström: Stickelbärsvägen 7, Stockholm City Museum, 1999 (aus der Serie MUSEUMS, COLLECTIONS AND RECONSTRUCTIONS (1998-1999))

Dass zwischen dem Erinnern von Individuen und dem Gedächtnis, das Kollektive (z.B. Nationen) und Institutionen (z.B. Museen) ausbilden, wechselseitige Abhängigkeiten sowie grundlegende Unterschiede bestehen, wurde im Rahmen kulturwissenschaftlicher Gedächtnisforschung verschiedentlich herausgearbeitet. Demzufolge ist die individuelle Erinnerung als flüchtig und labil zu charakterisieren, da ihre Inhalte im Laufe der Zeit modifiziert, neu bewertet oder vergessen werden können. Im Gegensatz dazu stützt sich das institutionelle Gedächtnis auf Erzählungen mit klarer Aussage und auf symbolische Zeichen wie Schrift, Bild, Ritus oder Monument, die „die Erinnerung fixieren, verallgemeinern, vereinheitlichen und über die Grenzen der

79 Vgl. Arrhenius 2002, S. 9.

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Generationen hinweg tradierbar machen“80. Gemeinsamkeiten bestehen hingegen in der perspektivischen Ausrichtung und der selektiven Anlage, da sowohl individuelle als auch kollektive Erinnerungen immer einen spezifischen Bezugspunkt haben, weder Beliebiges aufnehmen noch um Vollständigkeit bemüht sind. Um die qualitativen Unterschiede zwischen einem Gedächtnis, das auf Alltagskommunikation beruht, und einer Erinnerung, die an kulturelle Objektivationen gebunden ist, abbilden zu können, haben Jan und Aleida Assmann die Begriffe ‚kommunikatives‘ und ‚kulturelles Gedächtnis‘ eingeführt.81 Demnach umfasst das ‚kommunikative Gedächtnis‘ Erinnerungen, die Zeitgenossen miteinander teilen und mündlich austauschen. Es ist hochgradig veränderlich und zeitlich auf ca. 80 Jahre begrenzt, da die Erinnerung mit seinen Trägern meist „leise und unmerklich“82 vergeht. Das ‚kulturelle Gedächtnis‘ hingegen „transportiert einen festen Bestand an Inhalten und Sinnstiftungen, zu deren Kontinuierung und Interpretation Spezialisten ausgebildet werden“83 (z.B. Archivare, Historiker). Die Kodierung und Speicherung von Daten in Texten, Bildern und Dingen ermöglicht zwar deren Weitergabe über viele Generationen hinweg, aber erst über eine strukturierte Aneignung der Daten kann Sinn gestiftet werden. 84 Der Begriffsbildung Assmanns folgend findet die unsortierte und unbeschränkte Akkumulation von Informationen im ‚Speichergedächtnis‘ statt, während eine kleine Auswahl der Daten im ‚Funktionsgedächtnis‘ aktiviert und aktualisiert wird.85 Insbesondere das ‚Speichergedächtnis‘ ist auf Formen wie die Schrift und Institutionen wie das Museum, die Kunst, die Literatur oder die Wissenschaft angewiesen, die unabhängig von einem unmittelbaren Gebrauch helfen, die kulturellen

80 Assmann, Aleida: „Individuelles und kollektives Gedächtnis. Formen, Funktionen und Medien“. In: Wettengl, Kurt (Hg.): Das Gedächtnis der Kunst. Geschichte und Erinnerung in der Kunst der Gegenwart (anlässlich der gleichnamigen Ausstellung, Schirn Kunsthalle Frankfurt, 16.12.199918.03.2000). Ostfildern: Hatje Cantz 2000, S. 21-27: 22. 81 Vgl. Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung. Stuttgart: Metzler 2005, S. 27. 82 Assmann / Assmann 1994, S. 119. 83 Erll 2005, S. 27. 84 Vgl. Assmann / Assmann 1994, S. 122. 85 Vgl. ebd.

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Informationen als autonome Dokumente zu stabilisieren.86 Das ‚Speichergedächtnis‘ dient als „Reservoir zukünftiger Funktionsgedächtnisse“ und ist so „Bedingung der Möglichkeit kulturellen Wandels“87, da es auch Relativierungen, Widersprüche oder Alternativen zu aktuellen Sinngebungen ermöglicht. Schließlich befähigt das ‚Funktionsgedächtnis‘ Individuen, Institutionen oder Kollektive, über die Vergangenheit zu verfügen und darüber Legitimation zu behaupten oder Identität zu konstruieren. Die musealen Raumkonstruktionen, die Bäckström fotografiert hat, können in diesem Sinne als ‚Funktionsgedächtnis‘ verstanden werden. Dinge, die zuvor möglicherweise im Museumsdepot ungenutzt lagerten (‚Speichergedächtnis‘), wurden aktiviert und in einen aktuellen Zusammenhang gebracht, der ihnen eine spezifische Bedeutung beimisst. Als symbolische Zeichen sind sie nun Teil einer Erzählung über historische Wohnsituationen, die über die Präsentation im Museumskontext fixiert, verallgemeinert und tradiert wird. Die wissenschaftliche Autorität der Institution Museum kann ebenso wie die Evidenz materieller Kultur darüber hinwegtäuschen, dass das ‚kulturelle Gedächtnis‘ genauso perspektivisch und selektiv erinnert wie das individuelle Gedächtnis. Bäckströms Interieurs werfen daher sowohl Fragen nach der Art der Darstellung, der Blickrichtung und den Vorannahmen der Institutionen auf als auch nach den Kriterien des Museums bei der Entscheidung für die (Re-)Konstruktion des einen und gegen die eines anderen Raums. Schließlich kann über das Bild, das ein Kollektiv von seiner Geschichte entwirft, immer auch auf dessen gegenwärtige Wertvorstellungen bzw. die Interessen der erinnernden Institutionen geschlossen werden. Der Vergleich dreier Ausstellungsbauten, deren Präsentationsmodi von Bäckström unterschiedlich ins Bild gerückt wurden, offenbart ihr Interesse an den Zusammenhängen zwischen den Medien des ‚kulturellen Gedächtnisses‘ und ihrer identitätsstiftenden Funktion. Während die Wohnräume einer Familie von 1937 dem Bildbetrachter gegenüber geöffnet werden, bleiben die Räume in den Fotografien der Künstlerwohnung von Carl Larsson (vgl. Abb. 111, 112) sowie das Zelt einer Obdachlosen (vgl. Abb. 113) auf unterschiedliche Weise verschlossen.

86 Vgl. a.a.O., S. 128. 87 Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München: Beck 1999, S. 140.

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So werden die Räume der 1930er Jahre als das vertraute Eigene vorgeführt, die Künstler- und Obdachlosenräume hingegen als das faszinierende bzw. abschreckende ‚Andere‘. 88 Abbildung 111 (O.i.F.). Miriam Bäckström: Karin and Carl, The Nordic Museum, Stockholm, 1999 (aus der Serie MUSEUMS, COLLECTIONS AND RECONSTRUCTIONS (1998-1999))

Die beiden zuletzt genannten Installationen waren im Rahmen von Wechselausstellungen im Nationalen Museum für Kulturgeschichte zu sehen. Wohn- und Arbeitsräume von Carl Larsson (1853-1919) wurden anlässlich einer Ausstellung zu Leben und Werk des populären Künstlers rekonstruiert. Bereits zu Lebzeiten war das Haus der Larssons, ‚Lilla Hyttnäs‘ in Sundborn, über Carl Larssons Aquarelle, Bücher und über Artikel in Einrichtungszeitschriften einem breiten Publikum vertraut und wurde als gelebte Utopie idealisiert.89 Das Haus verband Stile aus verschiedenen sozialen Milieus und unterschiedlichen historischen Epochen in Zimmern, die „Gemütlichkeit, luftige Frische und Farbenfreude“90 ausstrahlten, wie die Sozialreformerin Ellen Key

88 Vgl. auch Kap. 6. 89 Vgl. Facos, Michelle: „The Ideal Swedish Home. Carl Larsson’s Lilla Hyttnäs“. In: Reed 1996, S. 81-91. 90 Ellen Key: „Schönheit für alle“ (1899). Zitiert nach Eriksson, Eva: „Das Haus in Sundborn als schwedisches Einrichtungsideal“. In: Hohenzollern,

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begeistert notierte. Eva Eriksson führt sogar das Einrichtungsideal heller Möbel und klarer Farben, das von der schwedischen Möbelkette Ikea vertreten wird, teilweise auf die Inneneinrichtung von ‚Lilla Hyttnäs‘ zurück. 91 Zahlreiche Darstellungen von Carl Larsson vermitteln zudem ein idyllisches häusliches Leben, in denen sich die neue Wertschätzung für die Kinder um 1900 ebenso spiegelte wie eine harmonische Verbindung zwischen Familie und schöpferischer Arbeit. Arrhenius konstatiert, dass Larssons Heim „a quasi-mythological home in Swedish imaginary“92 sei. Abbildung 112 (O.i.F.). Miriam Bäckström: Karin and Carl, The Nordic Museum, Stockholm, 1999 (aus der Serie MUSEUMS, COLLECTIONS AND RECONSTRUCTIONS (1998-1999))

Die Fotografien von Bäckström zeigen, wie dieser nationale Mythos über die museale Präsentation von Sundborn fortgeschrieben wird: Die Räume sind über Podeste dem Besucherraum enthoben, Balustraden markieren die Grenze und helfen mit, die Installationen als autonomes

Johannes Georg Prinz von (Hg.): Carl Larsson. Ein schwedisches Märchen (anlässlich der gleichnamigen Ausstellung, Kunsthalle der Hypo-Kulturstiftung, 18.11.2005-05.02.2006). München: Hirmer 2006, S.78-101: 88. 91 Vgl. Eriksson 2006, S. 81. 92 Arrhenius 2002, S. 9.

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Bild zu behaupten. 93 Zugleich korrespondiert die Ästhetik des im Museum ausgestellten Raums mit der des Ausstellungsraums, denn in beiden Räumen dominieren freundliche Beigetöne und helle Hölzer (vgl. Abb. 112). Es entsteht der Eindruck, als sei ‚Lilla Hyttnäs‘ Vorbild für die Gestaltung der Museumsräume gewesen. Ferner wird über den grenzenlosen Übergang von Bildpräsentationen zwischen Wohn- und Ausstellungsraum Larssons Heim subtil als Ursprung und als Hort von Kunst behauptet. Abbildung 113 (O.i.F.). Miriam Bäckström: The City – Heaven or Hell? The Nordic Museum, Stockholm, 1999 (aus der Serie MUSEUMS, COLLECTIONS AND RECONSTRUCTIONS (1998-1999))

Im Kontrast dazu steht das Zelt einer obdachlosen Frau, das das Museum anlässlich des Projekts „The City – Heaven or Hell?“ ausgestellt hat, um auf die negativen Aspekte urbanen Lebens hinzuweisen (vgl. Abb. 113). Die zusätzlich gespannte Plane, die das Zelt gegen Regen

93 Dass Podest und Balustrade auch in Sundborn existierten, legt zumindest für ein Zimmer das Aquarell Abend vor der Reise nach England (1909) nahe (in: Köster, Hans-Curt (Hg.): Larssons Welt. Königstein: Langewiesche 1989 (2., durchges. Aufl.; 1. Aufl. 1982), S. 154). Die Korrespondenz zwischen Bild und Rauminstallation authentifiziert ebenso das Bild als mimetische Darstellung, wie es die Raumkonstruktion als künstliches Bildmotiv erscheinen lässt.

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schützen soll, verhindert positive Assoziationen mit einem Zeltlager oder Campingurlaub; vielmehr evozieren sowohl die Dunkelheit des Ausstellungsraums als auch das Ensemble aus grauen Säulen und einer großformatigen Fotografie, das einen städtischen ‚Nicht-Ort‘ markieren soll, eine unwirtliche Raumatmosphäre. Der Standort des Zeltes ist von einem blanken Metallgeländer umgeben, so dass sich Besucher den Gegenständen, die im und am Zelt herumliegen, ebenso wenig nähern können wie dem Zeltinneren selbst. Sie werden räumlich wie emotional auf Distanz gehalten. Die Inszenierung reproduziert auf diese Weise den Status eines Lebens in prekären Wohnverhältnissen am Rande der Gesellschaft mit all seinen negativen Konnotationen wie Armut, Verwahrlosung und Exklusion. Indem das Zelt in der Ausstellungsdialektik den Pol ‚Hölle‘ besetzt und den Besucher als ‚Zaungast‘ vorsieht, steht es ganz im Dienst der Abschreckung. Die Rekonstruktion des Künstlerhauses hingegen feiert einen spezifischen Lebensstil als nachhaltig wirksames, wenn auch kaum erreichbares Vorbild. Die Installation der Wohnung von 1937 erscheint weder als Alptraumraum noch als Sehnsuchtsort, sondern als ärmliche, aber Geborgenheit ausstrahlende Welt des Gewöhnlichen und Alltäglichen. Die Fotografien der Großfamilienwohnung verorten den Bildbetrachter im Zentrum der Zimmer und evozieren so eine Rezeptionshaltung, die vielleicht auch in der Inszenierung des Museums vorgesehen ist. Die suggestive Anlage der Bilder legt zumindest die Identifikation mit einer Familiengeschichte nahe, in der die Eltern- bzw. Großelterngeneration einfachen Verhältnissen entstammt; die Geschichte vom sozialen Aufstieg und vom zunehmenden Wohlstand schließt sich gedanklich an. Die Bilder behaupten, dass die Räume durch die Art und Weise ihrer Inszenierung den Museumsbesuchern als das Eigene, die mögliche eigene Geschichte vorgeführt werden. Sie weisen damit nicht nur auf das Wertesystem hin, dass von der Institution favorisiert wird; angedeutet wird auch, wie das ‚kulturelle Gedächtnis‘ über die Evidenz des Sichtbaren die eher flüchtigen und labilen Erinnerungsbilder des Generationengedächtnisses (der Besucher) schärfen, ergänzen oder überschreiben kann. In dieser Serie interessiert der private Raum als Schauplatz der Wechselwirkungen zwischen der individuellen Erinnerung und dem kulturellen Gedächtnis sowie der Ausbildung einer personalen und einer kollektiven Identität. Inwiefern auch Unternehmen kollektive Vorstellungen vom Wohnen in der Vergangenheit und vom ‚richtigen‘ Einrichten in der Ge-

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genwart prägen, fragt Bäckström mit ihren Aufnahmen aus dem IkeaMuseum, das verschiedene, mit Produkten des schwedischen Möbelherstellers aus unterschiedlichen Jahrzehnten ausgestattete Wohnwelten zeigt. Über die geschichtliche Abfolge wird deutlich, dass trotz stilistischer Unterschiede die in sich homogenen Ensembles für eine kohärente Wohnideologie stehen, die sich Arrhenius zufolge optimal mit Aspekten der nationalen Identität verbindet: „To be Swedish means to be simple and pared down, and to always have the coffee pot and family board games around to provide a sense of security and comfort [...]“. 94 Abbildung 114 (O.i.F.). Miriam Bäckström: Ikea throughout the ages, Ikea corporate Museum, Älmhult, 1999 (aus der Serie MUSEUMS, COLLECTIONS AND RECONSTRUCTIONS (1998-1999))

Die Einrichtungen in den Bildern wirken unprätentiös, geschmackvoll, funktional, kostenbewusst, freundlich und einladend, eben ‚typisch schwedisch‘ (vgl. Abb. 114). Die Vielzahl an Sitzmöbeln suggeriert die vorherrschende soziale Funktion der Räume. Die Idee des Heims, die Ikea anbietet, wird allerdings seit Jahrzehnten nicht nur in Schweden, sondern mit diversen Marktanpassungen auch weltweit erfolgreich verkauft. Ilina Koralova hat darauf hingewiesen, dass „die Menschen sich überall wohl und zu Hause fühlen, wo es Ikea-Möbel, Coca

94 Arrhenius 2002, S. 9.

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Cola und ein Kino mit dem neuesten Hollywoodhit gibt“95. Die globale Präsenz verdankt sich demnach vor allem einem Marketing, das die Vorstellung von modernen, flexiblen und gemütlichen Wohnwelten überzeugend mit der Marke Ikea verbindet und eine (partielle) Integration dieser Welt in das eigene Wohnumfeld als realisierbar erscheinen lässt. Die Fotografien von Bäckström evozieren zahlreiche Fragen nach dem Verhältnis der fiktiven, idealisierten Wohnwelt zum real existierenden Wohnen: Welche Bedeutung haben die von Ikea propagierten Werte in der Wohnwirklichkeit und wie wirkt diese auf die Weiterentwicklung der Ikea-Welt zurück? Wie persönlich, historisch und kulturell spezifisch kann eine Einrichtung sein, die sich am Angebot eines Unternehmens ausrichtet, das seit Jahrzehnten weltweit eine ähnliche Wohnideologie für den Massengeschmack vermarktet? Und welchen Stellenwert haben diese Wohnleitbilder im ‚kommunikativen Gedächtnis‘ der Menschen und welchen im ‚kulturellen Gedächtnis‘ der nicht-privaten, öffentlichen Museen? Abbildung 115 (O.i.F.). Miriam Bäckström: o.T. (aus der Serie SET CONSTRUCTIONS (1995-2000))

Über die Wechselwirkungen zwischen Raumbildern und realen Räumen hat Bäckström bereits in einem vorgängigen Projekt räsoniert. Die

95 Koralova, Ilina: „Ikea throughout the ages. Zur Arbeit von Miriam Bäckström“. In: Schäfer 2003, S. 177-193: 183f.

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Serie SET CONSTRUCTIONS (1995-2000) umfasst dokumentarische Fotografien von „realistisch und überzeugend“96 wirkenden Räumen, die speziell für Werbefilme und Filmfeatures konstruiert wurden. Zwar werden die Bauten aus Perspektiven gezeigt, die der Filmkamera eine illusionistische Raumdarstellung ermöglichen; da für die Fotografie aber ein größerer Aufnahmewinkel gewählt wurde, sind an den Rändern vieler Bilder Scheinwerfer, Reflektoren oder Traversen zu sehen, die die Kulissenhaftigkeit der Szenerie offenbaren. Abbildung 116 (O.i.F.). Miriam Bäckström: o.T. (aus der Serie SET CONSTRUCTIONS (1995-2000))

In den über 70 Bildern der Serie werden verschiedene Raumtypen vorgeführt, wie z.B. eine Bar, eine Gefängniszelle, ein Hausflur, ein Kirchenraum, ein Theatereingang, eine Garderobe, ein Warteraum – aber auch Küchen und Wohnzimmer. Da die Räume unterschiedlich eingerichtet und ausgeleuchtet wurden bzw. die Fotografien verschiedene Zustände des Rückbaus der Räume nach den Filmaufnahmen eingefangen haben, erscheinen einige suggestiver als andere. So könnte in einer vollständig ausgestatteten und in ein warmes Dämmerlicht ge-

96 Miriam Bäckström im Gespräch mit Kate Bush: „Unterschiedliche Wirklichkeiten“. In: Miriam Bäckström. Set Constructions 1995-2000 (anlässlich der gleichnamigen Ausstellung, Sprengel Museum Hannover, 29.03.14.05.2000). Hannover: Sprengel-Museum 2000, o.S.

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tauchten Küche ein frühstückender Bewohner seinen Platz am Tisch, auf dem ein halb geleertes Orangensaftglas und ein angeschnittener Brotlaib warten, gerade erst verlassen haben (vgl. Abb. 115). Schwieriger ist es, handelnde Personen mit einer Küche zu assoziieren, die mit Spüle, Herd, Tisch und zwei Stühlen nur angedeutet wurde und in gleichmäßig kühler Ausleuchtung karg, nüchtern und abweisend wirkt (vgl. Abb. 116). Beide Räume sind allerdings sowohl typologisch als auch atmosphärisch eindeutig definiert, so dass sie die Imagination und Sehnsüchte des Betrachters stimulieren können. Bäckström hat darauf hingewiesen, dass für die Konstruktion von Filmkulissen häufig historische Fotografien, Archivbilder oder Beschreibungen als Vorlage dienen, dass also Bilder der Realität genutzt werden, um eine neue, filmische Wirklichkeit zu schaffen.97 Die Filmräume sind also deshalb so glaubwürdig, weil sie sich auf den Bildspeicher des kollektiven Gedächtnisses beziehen. Die im Film präsentierten Raumbilder können sich wiederum in das kollektive Bildgedächtnis einschreiben und zum Vorbild für nachfolgende Darstellungen werden. Vorstellbar ist eine Referenzebene, auf der nicht mehr zwischen Wirklichkeit und Bild unterschieden werden kann. In dieser Welt des Simulakrums ersetzt „der Effekt des Realen [...] das Reale selbst“98. Die Serie markiert ein aktuelles Welterleben, das nicht zwischen eigener und vermittelter Erfahrung unterscheidet; sie spiegelt damit auch Bäckströms eigene Wirklichkeitsauffassung: „I do not experience a clear limit between my reality and the picture’s reality.“99 In ihren Interieur-Serien reflektiert Bäckström, inwiefern Museen, Unternehmen und Filme die Vorstellungen vom privaten Wohnen und Leben prägen. Am Beispiel der vermeintlich repräsentativen, idealtypischen oder realitätsnahen Darstellungen, mit denen diese einflussrei-

97 Vgl. „A Conversation between Daniel Birnbaum and Miriam Bäckström“ 1999, o.S. Sie selbst hat zwischen 2000 und 2003 im Auftrag einer schwedischen Filmproduktionsfirma bewohnte Apartments fotografiert, die dieser als Vorlage für Filmkulissen dienen (vgl. http://www.nordenhake.com (19.08.2008)). 98 Krauss, Rosalind E.: „Eine Bemerkung über die Fotografie und das Simulakrale“ (1984). In: Amelunxen, Hubertus von (Hg.): Theorie der Fotografie IV 1980-1995. München: Schirmer/Mosel 2000, S. 260-277: 275. 99 „A Conversation between Daniel Birnbaum and Miriam Bäckström“ 1999, o.S.

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chen Institutionen die Idee des Heims fixieren und stabilisieren, untersucht Bäckström die Wechselwirkungen zwischen individueller Erinnerung und ‚kulturellem Gedächtnis‘ sowie zwischen realer Wohnwelt und kollektivem Bilderkosmos. Über die Auswahl ihrer Motive und deren spezifische Darstellung fokussiert sie insbesondere auf die Wertvorstellungen und Mythen, die die Konstruktionen subtil vermitteln. Der private Raum als Sujet betont schließlich die enge Verschränkung zwischen individuellen Erfahrungen des Erinnerns, Einrichtens und Wohnens mit dem kulturellen Gedächtnis der Institutionen. Die Fotografie dient Bäckström als ein Medium, das die öffentlichen Raumbauten und Inszenierungsstrategien zur Anschauung bringt und zugleich die eigene Verstrickung in die Konstruktion eines kollektiven Bildgedächtnisses ausstellt.

8.3

V ERGEGENWÄRTIGUNGEN

VON

H ERKUNFT

Viele fotografische Interieurs in der Gegenwartskunst thematisieren die Bedeutung, die private Räume für die individuelle Erinnerung und die Ausbildung eines kollektiven Gedächtnisses haben. Sie führen die beschränkten Möglichkeiten vor Augen, Vergangenes (lediglich) über Räume, Dinge oder Bilder zu vergegenwärtigen. Zugleich weisen sie Wohnräume als wesentliche Bezugspunkte für die Ausbildung von personaler sowie kollektiver Identität aus, da diese die individuelle Biografie wie auch das soziokulturelle und historische Umfeld des (Wohn-)Subjekts zwar nicht umfassend repräsentieren, aber zumindest partiell markieren. Ein Großteil der Interieurs reflektiert die Wechselwirkungen zwischen der persönlichen und der kollektiven Erfahrung von Wohnräumen sowie der individuellen und der kulturellen Erinnerung an vergangenes Wohnleben. Insbesondere die Fotografien, die in Filmen und Museen präsentierte Raumkonstruktionen zeigen, indizieren, dass sowohl das kommunikative als auch das ‚kulturelle Gedächtnis‘ von gegenwärtigen Interessen und Wertvorstellungen geformt wird. Die Fotografien, die (ehemals) bewohnte Räume vor deren Auflösung zeigen, stehen hingegen immer auch für die substanzielle Bedrohung des individuellen Wohnraums als Speichergedächtnis sowie bisweilen auch als Metapher für den Verlust von Geborgenheit, Identität und Utopie.

Schlussbetrachtungen

1

D AS I NTERIEUR

ALS

F OTOGRAFIE

In der vorliegenden Abhandlung wurde dargelegt, dass sich das fotografische Interieur in der Gegenwartskunst durch eine vielgestaltige Nähe zu kulturellen Vorstellungen und realen Räumen des zeitgenössischen privaten Lebens und Wohnens auszeichnet. Die enge, ebenso motivisch wie thematisch und medial bedingte Verbindung der Fotografien von privaten Räumen zur Wirklichkeit ist dabei immer auch selbst Gegenstand der künstlerischen Reflexion. Fotografische Interieurs können konkrete Räume und alltägliches Leben äußerst glaubwürdig darstellen. Im Modus des Dokumentarischen bringen sie Dingwelten zur Ansicht, die scheinbar unmittelbar spezifische historische und soziokulturelle Situationen markieren. Sie zeigen Figuren, deren Ausdruck – auch als Reaktion auf die Aufnahmesituation – auf vermeintlich authentische Gefühlslagen schließen lässt. Fotografien, die speziell für die Kamera konstruierte Räume und inszenierte Figuren zeigen, entwerfen Fiktionen, die als lebensweltliche Möglichkeit erscheinen oder auf vertraute, im Lebensalltag verankerte Bildwelten verweisen. Über den Rekurs inszenierter und dokumentarischer Interieurs auf mediale Bildwirklichkeiten, wie den Film, die Familienfotografie oder die Sozialdokumentation, wird deren Bedeutung für die Konstituierung kultureller Vorstellungen von Heim, Familie und Identität thematisiert. Andere Arbeiten problematisieren die Rezeptionshaltung, der zufolge Interieurs die voyeuristische Neugier am privaten und intimen Leben anderer sowie am gemeinhin Verborgenen befriedigen; sie widersetzen sich einem hegemonialen Verhältnis zwischen Betrachter und Betrachtetem, das als Voraussetzung

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für die (Re-)Produktion von Geschlechterhierarchien und für den Entwurf des ‚Anderen‘ verstanden wird. Fotografische Interieurs in der Gegenwartskunst, die die kulturelle Bedingtheit und Bedeutung der Betrachterposition, der Kategorien Subjekt, Familie und Heim sowie medialer Bildwelten thematisieren, bewegen sich in der Tradition ‚postmoderner‘ Kunstpraxis. Im Gegensatz zu deren ‚Pionieren‘ konzentrieren sich die in dieser Studie vorgestellten Künstler nicht mehr auf die Kritik modernistischer Konzepte von Autorschaft und Originalität. Auch haben die künstlerischen Verfahren der frühen 1980er Jahre, wie die Bildaneignung oder die Maskerade, an Relevanz verloren. Statt auf Konzepten und Brüchen gründen die hier untersuchten Fotografien auf kohärenten Bildräumen und glaubwürdigen Wirklichkeitsbezügen. Der Großteil der hier analysierten fotografischen Interieurs steht für einen Paradigmenwechsel in der Kunst der 1990er Jahre, den Hal Foster als die ‚Wiederkehr des Realen‘ beschrieben hat. 1 In vermeintlicher Abkehr von poststrukturalistischen Diskursen beziehen sich zahlreiche Künstler mit ihren Werken (wieder) direkt auf reale Körper, soziale Fragen, (vernachlässigte) Objekte und konkrete Orte. Das „Bedürfnis nach ‚authentischer‘ [...] Darstellung“2 wird zuvorderst in der Fotografie mit ihrem „optischen ‚Berührungskontakt‘“3 zur Wirklichkeit sowie im Bild vom versehrten Körper des „fundamental ‚Anderen‘“4 befriedigt, stellt Ursula Frohne fest. Angestrebt wird demnach die „Illusion einer subjektiven, quasi-körperlichen Erfahrung [...], die das Vermittelte unserer Kommunikations- und Lebensstrukturen durchbricht“5.

1

Vgl. Foster, Hal: The Return of the Real. The Avant-Garde at the End of

2

Frohne, Ursula: „Berührungen mit der Wirklichkeit. Körper und Kontin-

the Century. Cambridge (MA): MIT Press 1996. genz als Signaturen des Realen in der Gegenwartskunst“. In: Belting, Hans / Kamper, Dietmar / Schulz, Martin (Hg.): Quel corps? Eine Frage der Repräsentation (anlässlich der Tagung „Bildliche Repräsentation“, Zentrum für Kunst und Medientechnologie, Karlsruhe, 09.-10.02.2001). München: Fink 2002, S. 401-426: 404. 3

A.a.O., S. 403.

4

Ebd.

5

Ebd.

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Insbesondere die autobiografische Live-Fotografie des Alltäglichen von Nan Goldin gilt als Beleg für die Wiederbelebung einer Darstellungspraxis, die am Prinzip der „grenzenlose[n] Nähe“6 ausgerichtet ist. Die vorliegende Analyse ihrer Interieurs allerdings zeigt, dass die ‚Intimität des Blicks‘ weder Selbstzweck ist noch einer „Ideologie der Unschuld und Neutralität von Bildern“7 dient. Vielmehr weckt sie mit ihren subjektiven, emotionalen und intimen Ansichten das voyeuristische Interesse des Betrachters, um ihn in rationale Reflexionen über das (ambivalente) Wesen von Beziehungen, antibürgerliche Lebenskonzepte sowie die Fotografie als Medium der Selbstbehauptung, des Identitätsentwurfs und der Erinnerung zu verwickeln. Gerade die Interieurs in Goldins Werk offenbaren die kalkulierte Anlage und die thematische Ausrichtung ihrer Kompositionen. Wie Richard Billingham, Sarah Jones, Thomas Struth, Patrick Faigenbaum, Tina Barney oder Daniela Rossell nutzt auch Nan Goldin Dinge und Personen in realen Lebensumfeldern, um über deren Positionen bzw. Posen im (Bild-)Raum auf die soziale und kulturelle Bedeutung sowie die konstruktive Verfasstheit von materiellen, ikonischen und personalen Repräsentationen zu verweisen. Die fotografischen Interieurs, die auf konstruierten und inszenierten Räumen basieren, beziehen sich hingegen nicht auf eine vermeintlich unvermittelte Wirklichkeit, um den Einfluss der Massenmedien und ihrer Bilder auf die Gegenwartskultur bzw. den privaten Selbstentwurf zu veranschaulichen. Sie rekurrieren direkt auf die Vorstellung einer Welt als Simulakrum, in der der Effekt des Realen das Reale ersetzt.8 So entwickelt Gregory Crewdson perfekte Illusionen von privaten Räumen, die sich nicht an einem realen Lebensalltag, sondern an fiktiven Raumentwürfen in Filmen und Romanen orientieren. Miriam Bäckström hingegen führt in einer Serie die Beschaffenheit und die Konstruktionsmerkmale realer Filmräume vor. Wie bei den ‚authentischen‘ Interieurs ist auch bei den ‚fiktiven‘ Raumbildern die medienvermittelte Wahrnehmung und Darstellung von Wirklichkeit meist nicht das zentrale Bildthema. Wie selbstverständlich beziehen sich Künstler in den 1990er Jahren auf Bildwelten

6

Bronfen 1997, S. 17.

7

Kravagna, Christian: „Das Wahre, das Schöne, das Normale. Fotografie

8

Vgl. Baudrillard, Jean: Agonie des Realen. Berlin: Merve 1978, S. 9.

nach ihrer Kritik“. In: Springer, Bd. II, Heft 2/1996, S. 29-30: 30.

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als integralem Bestandteil von Gegenwartskultur, um Themen zu verhandeln, deren Diskursivierung am Ende des 20. Jahrhunderts medial bestimmt wird. Im Gegensatz zu ihren direkten Vorläufern inszenieren sie kaum mehr Fotoarbeiten, um grundsätzliche Fragen nach der Konstitution fotografischer Repräsentation zu stellen.9 Vielmehr stehen gerade die konstruierten Bilder für „ein seltsam schillerndes Equilibrium aus verführerischem, suggestiv entwickeltem Bildzauber und seiner kühl analytischen Zerlegung“10, konstatiert Berg. Die jungen Künstler haben die Medienanalysen ihrer Vorgänger, wie z.B. Cindy Sherman, Sherrie Levine oder Barbara Kruger, verinnerlicht und hinter sich gelassen. 11 Ihre Interieurs problematisieren nicht (mehr) grundlegend das Verhältnis zwischen Bild und Wirklichkeit. Sie verweisen zwar auf die Konstruktionsprinzipien und die kulturellen Bedeutungen von (fotografischen) Repräsentationen; zuvorderst nutzen sie aber narrative Strukturen oder Zuschreibungen intimer Wirklichkeitsnähe, um Selbst- und Weltentwürfe des Subjekts über die Darstellung seiner lebensweltlichen Nahräume zu thematisieren.

2

T HEMEN

UND M OTIVE DES FOTOGRAFISCHEN I NTERIEURS

Fotografien von privaten Räumen wurden in dieser Untersuchung als Interieurs im Sinne des kunsthistorischen Gattungsbegriffs betrachtet, da sie motivisch, formal und inhaltlich an die Tradition dieses Bildprogramms anschließen. Wie historische Interieurs zeigen auch aktuelle Fotografien den privaten Wohnraum als konkreten Ort und abstrak-

9

Vgl. auch Walter 2002 S. 170.

10 Berg, Stephan: „Zur Einführung“. In: ders. / u.a. (Hg.): Unschärferelation. Fotografie als Dimension der Malerei (anlässlich der gleichnamigen Ausstellung, Kunstverein Freiburg 26.11.1999-09.01.2000 / u.a.). Ostfildern: Hatje Cantz 1999, S. 8-11: 8. 11 Vgl. Holschbach, Susanne: „Die Wiederkehr des Wirklichen. Pop(uläre) Fotografie im Kunstkontext der 90er Jahre“. In: Schade, Sigrid (Hg.): Konfigurationen. Zwischen Kunst und Medien (anlässlich der gleichnamigen Tagung, documenta X, Kassel 04.-07.09.1997). München: Fink 1999, S. 400-412.

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ten (Bild-)Raum, an dem das Subjekt sich selbst und der Welt im Spannungsfeld von Innenwelt und Außenraum begegnet. Das fotografische Interieur in der Gegenwartskunst thematisiert das moderne Subjekt in seiner Beziehung zu sich selbst, indem es den Raum als Metapher für psychische Innenwelten entwirft oder introspektive Figuren in häuslicher Umgebung vorführt. Diese Interieurs profitieren von der kulturellen Zuschreibung, nach der private Räume dem Einzelnen ermöglichen, sich von anderen zurückzuziehen und sich mit den eigenen Angelegenheiten zu beschäftigen. Viele Interieurs markieren Suchbewegungen zweifelnder Subjekte nach einer (neuen) Einheit zwischen Selbst-, Wunsch- und Fremdbild. Bedeutung stiften diese Bilder insbesondere über spezifische Perspektiven, Lichtstimmungen und Figur-Grund-Beziehungen. In manchen Interieurs verweist die melancholische Anlage der Bildfiguren auf existenzielle Erfahrungen von Mangel oder Verlust. Verschiedenartige Referenzen im (Bild-)Raum suggerieren Zusammenhänge zwischen ihrem psychischen Zustand und sozialen Situationen. Die Interieurs, die sich auf Motive des Mystischen und Unheimlichen beziehen, verweisen auf den von Ängsten, Trieben und Animismus beherrschten Bereich der Innenwelt des modernen Subjekts. Das Verhältnis des Einzelnen zur Welt reflektiert das fotografische Interieur in der Gegenwartskunst über die sozialen und kulturellen Kontexte, die das Private durchwirken und formen. Indem Interieurs private Räume als weitläufig oder eng sowie deren Einrichtungen als distinguiert, ambitioniert oder funktional vorführen, verweisen sie auf Wohn- und Lebensstile verschiedener Zeiten, Kulturen und Milieus. Auch die Posen der Bildfiguren und die inhaltlichen wie bildsprachlichen Bezüge der Interieurs zu existierenden Bildwelten verorten das (Wohn-)Subjekt in spezifischen kulturellen Diskursen. Die soziale Umgebung wird ebenso über räumliche und materielle Anordnungen wie über Bildfiguren markiert. Die direkte Darstellung des städtischen, suburbanen oder ländlichen Außenraums vervollständigt häufig das Bild von elitären, behüteten oder prekären Wohnverhältnissen und von spezifischen historischen Situationen. Davon abgesehen kann das Außen, wie es über Fenster, Türen und Versorgungsleitungen angedeutet wird, auch für Freiheit, Gefahr oder Natur und damit für Unwägbarkeiten stehen, die vom häuslichen Raum gerade ausgeschlossen werden. Im Gegensatz zu journalistisch, soziologisch oder ethnographisch motivierten Raumbildern rekurrieren fotografische Interieurs in der

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Gegenwartskunst nicht auf soziokulturelle Kontexte und individuelle Wohnstile, um ein Ereignis, die Individualität der Bewohner oder die Besonderheiten einer Gruppe von Menschen zu dokumentieren. Vielmehr reflektieren die künstlerischen Interieurs die materiellen, räumlichen und ikonischen Parameter der dargestellten Räume hinsichtlich ihrer grundsätzlichen Verfasstheit und ihrer überindividuellen Bedeutung für die Beziehung des (Wohn-)Subjekts zur Welt. In diesem Sinne fokussieren viele Interieurs auf die kulturelle Funktion der privaten Räume als Medien der sozialen Repräsentation, der Sehnsucht und der Erinnerung. Sie betonen den hohen kulturellen Stellenwert, den die häusliche Umgebung für den Entwurf des eigenen Selbst besitzt. So thematisieren einige Serien die Wechselwirkungen zwischen privaten Räumen des ‚kulturellen Gedächtnisses‘ und der individuellen Erinnerung. Diese Interieurs veranschaulichen, dass beide Formen der retrospektiven Vergegenwärtigung von Wohnräumen als selektiv, perspektivisch und von gegenwärtigen Interessen bestimmt verstanden werden müssen. Andere Interieurs offenbaren gerade die Verschwiegenheit der Dinge und Räume hinsichtlich einer näheren Bestimmung der personalen oder kollektiven Identität ihrer Besitzer und Bewohner. Insofern die Interieurs Wohn- und Lebensstil, Familie und Geschlecht als ebenso konstitutive wie kulturell bestimmte Parameter privater Räume ausweisen, verdeutlichen sie, dass diese Räume sowohl das (Wohn-) Subjekt nachhaltig prägen, als auch durch individuelle Handlungen und Zuschreibungen begründet und verändert werden. Das fotografische Interieur in der Gegenwartskunst offenbart nicht nur, welche Bedingungen das Verhältnis des Subjekts zu sich selbst und zur Welt beeinflussen, sondern stellt diese Beziehungen zudem als problematisch und ambivalent dar. Viele Interieur-Serien indizieren die Abgrenzungen einzelner Wohnsubjekte oder ganzer Lebensstile von Werten und Normen, die die Familie, das umgebende Milieu oder die Mehrheitsgesellschaft vertreten. Zugespitzt dargestellt und exemplarisch ausgetragen werden diese spannungsreichen Beziehungen über Heranwachsende, die sich in entscheidenden Orientierungsphasen befinden, über familiäre Konstellationen sowie über gesellschaftliche Außenseiter mit alternativen Vorstellungen von geschlechtlicher Identität, Familie und Partnerschaft. Ein Großteil der Interieurs bezieht sich auf die bürgerliche Vorstellung, nach der das ‚traute Heim‘ Schutz, Geborgenheit und Intimität gewährleistet und so die Gefahren, die Verlorenheit und die Anonymi-

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tät bannt, die mit dem öffentlichen Raum verbunden werden. Das Bild vom Einfamilienhaus in ‚Suburbia‘ steht für die utopische Überhöhung dieser Ansprüche, indem es ein Leben und Wohnen in Freiheit, Frieden und Einklang mit der Familie, der Nachbarschaft und der Natur verspricht. Fast alle Interieurs bemühen positive ‚Bilder‘ vom privaten Raum, um zugleich Spannungen, Widersprüche und Kehrseiten in der vermeintlich harmonischen Verbindung zwischen Bewohner und Heim aufzuzeigen. So verweisen die Interieurs stets auf Verunsicherungen, Konflikte und Krisen in der Beziehung des (Wohn-)Subjekts zu sich selbst, zu Eltern, Partnern, Familienmitgliedern oder zu den Bedingungen des gesellschaftlichen Umfelds. Fotografische Interieurs in der Gegenwartskunst konzipieren das moderne (Wohn-)Subjekt nicht (mehr) als grundsätzlich in sich ruhendes und in der Welt geborgenes Individuum. Vielmehr ist ihr imaginiertes oder dargestelltes (Wohn-)Subjekt von Selbstzweifeln getrieben, in Machtstrukturen eingebunden, struktureller wie physischer Gewalt ausgesetzt sowie von Vereinzelung, Kontrollverlust und Orientierungslosigkeit bedroht. Damit scheinen die Grenzen zwischen privatem und öffentlichem Raum zu verwischen, da beide ähnliche Gefahrenlagen vorhalten. Diesen Raumbildern zufolge muss der Einzelne seinen (inneren) Frieden, seine soziokulturelle Heimat und seine persönliche Freiheit erst suchen, (wieder) herstellen und stetig neu behaupten. Die hoffnungsvolle Aussicht, dass das moderne Subjekt die Ordnung seines Nahraums beeinflussen und ein versöhnliches Verhältnis zu sich selbst und zur Welt entwickeln kann, vermitteln vor allem die Interieurs, die Lebensfreude in den Räumen der Anderen, Sehnsuchtsorte im Alltag oder den Aufbruch in andere, vermeintlich bessere Lebensräume zeigen.

3

R AUMFRAGEN IN

DER

G EGENWARTSKULTUR

Diese künstlerischen Entwürfe des Subjekts zwischen Innenwelt und Außenraum korrelieren mit der Auf- und Umwertung von Raumbezügen in der Gegenwartskultur und in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen. Demnach spiegeln die Interieurs den Geist einer (postmodernen) Zeit, die sich vom Glauben der Moderne an den zeitlichen

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Forschritt verabschiedet hat und sich in einem räumlichen Nebeneinander von Heterogenem erfährt.12 Während Michel Foucault in seinem Aufsatz zu alternativen Machtstrukturen im gesellschaftlichen Raum, dem diese viel zitierte These entstammt, noch von der Gültigkeit einer klaren Entgegensetzung zwischen Privatem und Öffentlichem ausgeht, beschreibt Richard Sennett einige Jahre später Prozesse der Entgrenzung dieser Räume. Demnach sei der Verfall einer öffentlichen Sphäre zu verzeichnen, „in der es nichtpersonale Bedeutung und nichtpersonales Handeln gab“13, da öffentliche Ereignisse und Institutionen gegenwärtig nur noch von Interesse sind, wenn sie von Personen verkörpert werden. Das Selbst sei zum Grundprinzip der westlichen Gesellschaft geworden und die intime zwischenmenschliche Beziehung zum trügerischen Garanten für Geselligkeit und Wärme. Daher dominiere zum einen eine ‚Persönlichkeitskultur‘ das Gemeinwesen; zum anderen konzentriere sich menschliche Erfahrung zunehmend auf die eigene private Umgebung. Dass die kulturell definierten Grenzen zwischen privat und öffentlich diffuser geworden sind, ist die Folge zahlreicher gesellschaftlicher Entwicklungen, zu denen neben der „Intimisierung der Öffentlichkeit“14 ebenso die gesteigerte Privatisierung von Stadträumen zählt wie die Zunahme personenbezogener Datenerfassung oder die verstärkte Nutzung von Informations-, Kommunikations-, Unterhaltungs- und Überwachungstechnologie im privaten wie im öffentlichen Raum.15 Gerade der technologische Fortschritt ermöglicht die Intensivierung weltweiter Beziehungen in ökonomischer, kultureller, politischer und sozialer Hinsicht. Viele Theoretiker konstatieren angesichts gestiegener Mobilität von Waren, Daten und Menschen16 oder nationalstaatli-

12 Vgl. Foucault 2003 (1967/1984), S. 550. 13 Sennett 1993 (1977), S. 425. 14 Rössler 2001, S. 15. 15 Als weiteren historischen Prozess, der das neu entstandene Interesse am Privaten erkläre, führt Rössler die Umbrüche in den Geschlechterverhältnissen an, die zu einer Umstrukturierung des privaten Raums geführt haben (vgl. ebd.). 16 Vgl. z.B. Virilio, Paul: Geschwindigkeit und Politik. Ein Essay zur Dromologie. Berlin: Merve 1980.

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cher Souveränitätsverluste im Zuge globaler Vernetzungen 17 den Verlust des Raums als ordnender Instanz. In diesem Sinne hat Marc Augé die Verdrängung von Orten durch ‚Nicht-Orte‘ beklagt, die nicht (mehr) „durch Identität, Relation und Geschichte gekennzeichnet sind“18 und an denen das Subjekt folglich nicht (mehr) zu Hause ist. 19 Andere vertreten die These von der steten Raumvermehrung; so argumentiert Schroer, dass zwar ein Bedeutungsverlust des spezifischen Ortes zu beobachten sei, im Gegenzug aber stetig neue, nicht territorial definierte Räume geschaffen und erschlossen werden würden, die ebenfalls soziale Bindungen ermöglichen sowie Identität entwickeln und stiften könnten.20 Konsens besteht in der Einschätzung, dass Raum als „diskontinuierlich, konstituierbar und bewegt erfahren“ 21 wird, „räumliche Bezüge [...] flexibel, kontigent und fragil geworden sind“22 und der „Wunsch nach überschaubaren, relativ stabilen Zuordnungen“23 in der Gegenwartskultur gestiegen ist. Paradoxerweise wird in dieser unsicheren und unübersichtlichen Situation gerade Räumen die Bedeutung zugesprochen, „Kontinuität und Beständigkeit“ zu garantieren und so die gesuchte Orientierung zu bieten, „denn in Raum gegossene soziale

17 Vgl. Beck, Ulrich: Was ist Globalisierung? Irrtümer des Globalismus – Antworten auf die Globalisierung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997, S. 190. 18 Augé, Marc: Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit. Frankfurt a.M.: Fischer 1994 (Originalausgabe Non-Lieux. Introduction à une anthropologie de la supermodernité. Paris: Seuil 1992), S. 92. 19 Vgl. Augé, Marc: „Über ‚Nicht-Orte‘ und das ‚Nicht-Ich‘“. In: Kunstforum International, Bd. 138/1997, S. 50. 20 Vgl. Schroer 2006, S. 129 und 173. Schroer setzt sich mit dieser These von soziologischen Theorien ab, die „immer wieder die Notwendigkeit überschaubarer Verhältnisse, sozialer Beziehungen und Gemeinschaften auf lokaler Basis und die Unverzichtbarkeit von Face-to-Face-Kontakten“ einklagen (Schroer 2006, S. 11). 21 Löw 2001, S. 266. 22 Schroer 2006, S. 13. 23 Bormann, Regina: Raum, Zeit, Identität. Über sozialtheoretische Verortungen kultureller Prozesse. Opladen: Leske + Budrich 2001, S. 237

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Verhältnisse erweisen sich häufig als ebenso flüchtig und kurzlebig wie andere auch“. 24 Das Versprechen einer „ontologische[n] Sicherheit“25 des Raumes gründet auf der traditionellen Auffassung vom konkreten, erfahrbaren Raum, „dem eine eigene Realität jenseits des Handelns, der Körper oder der Menschen zugeschrieben wird“. 26 Dieses Raumkonzept steht neueren Theorien entgegen, nach denen Raum als abstrakte, nur vorstellbare Kategorie gilt, die durch soziale Handlungen konstituiert wird. Die vorliegenden Analysen haben gezeigt, dass für die künstlerischen Reflexionen sowohl absolutistische als auch relationale Konzeptionalisierungen von Raum bedeutsam sind. Interieurs von Jacqueline Hassink, Patrick Faigenbaum oder Daniela Rossell fokussieren auf Werte, Konventionen und Machtstrukturen, die den Wohnräumen materiell eingeschrieben sind und die ein bestimmtes Verhalten der Bewohner nahelegen. Andere Raumbilder betonen hingegen die Möglichkeit der sozialen Konstituierung und Umwertung von konkreten Lebensräumen, indem sie alternative Lebensformen (Nan Goldin), abweichendes Verhalten (Sarah Jones) oder Sehnsüchte (Larry Sultan) und Krisen (Richard Billingham) im (Bild-)Raum vorführen. Interieurs von Gregory Crewdson, Miriam Bäckström oder Wiebke Loeper beziehen sich auf private Räume, die nicht (mehr) physisch existieren, sondern als filmische Illusion oder als Erinnerung kulturelle und individuelle Vorstellungen vom privaten Leben und Wohnen prägen. Meist überlagern sich in den Fotografien verschiedentlich indizierte und ungleichartige Räume, wie beispielsweise private und öffentliche, innere und äußere, individuelle und kollektive, materielle und mediale, reale und fiktive. Indem die Interieurs räumliche Entgrenzungen und Paradoxien sowie die Vorläufigkeit und die Verletzlichkeit der Räume markieren, erscheint das Private nicht länger als stabiles, sicheres und verlässliches Refugium. Vielmehr entwerfen die fotografischen Interieurs den privaten Raum als Metapher für Orientierungsbedürfnisse und -nöte des modernen Subjekts in der komplexen Beziehung zu sich selbst und zur Welt.

24 Schroer 2006, S. 180. 25 Bormann 2001, S. 304. 26 Vgl. Löw 2001, S. 63.

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Der private Raum ist durch alltägliche Erfahrungen, mediale Entwürfe und kulturelle Vorstellungen so grundlegend, vielfältig und widersprüchlich determiniert wie kein anderer. Er dient den Künstlern als besonders markanter, alltagsweltlich bedeutsamer und verständlich kodierter Bezugsrahmen zur kritischen Befragung von Gegenwartskultur. So spiegeln die Interieurs den Bedeutungszuwachs personaler Erfahrungswelten gegenüber öffentlichen Belangen seit den 1970er Jahren und betonen überindividuelle, bisweilen politische Problemstellungen im privaten Leben und Wohnen. Sie reflektieren die zunehmende Pluralisierung westlicher Gesellschaften, indem sie moderne Mythen und elitäre Modelle vom häuslichen Leben als kollektive Leitbilder kritisch kommentieren und eine neue Vielfalt von individuellen Lebensweisen artikulieren. Sie befragen private Räume als Orte der Erinnerung und rekurrieren damit auf ein gesteigertes Interesse in den 1990er Jahren, sich angesichts einschneidender politischer, sozialer und kultureller Umbrüche der eigenen Herkunft und Identität zu vergewissern. Ferner wirken in den Interieurs poststrukturalistische Denkansätze nach, da viele die Konstruktionsbedingungen der Kategorien Raum, Subjekt und Wirklichkeit sowie die Bedeutung von Filmen und Fotografien für die Konzepte Heim, Herkunft oder ‚Suburbia‘ thematisieren. Demnach beziehen sich fotografische Interieurs in der Gegenwartskunst auf den privaten Raum als Metapher, Fiktion oder reale Lebenswelt, um Fragen nach dem Standort des Subjekts in Gesellschaften zu stellen, die vom Primat der Individualisierung, Pluralisierung und Globalisierung gekennzeichnet sind.

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G ATTUNGEN IN

DER

K UNST

DER

G EGENWART

Die Revitalisierung des traditionellen Bildprogramms Interieur als thematisches, motivisches und formales Bezugsfeld für die fotografische Praxis in der Kunst der Gegenwart gründet zum einen auf der Aktualität von Raumfragen am Ende des 20. Jahrhunderts und zum anderen auf der spezifischen Funktion der Fotografie für die Gegenwartskunst. Nicht länger Gegenstand und Werkzeug einer ‚postmodernen‘ Repräsentations- und Institutionskritik, hat sich die Fotografie insbesondere in den 1990er Jahren (wieder) den Verhältnissen des Menschen zur Welt der Immanenz zugewandt, ohne dabei einen regressiven, naiven Repräsentationsmodus zu restaurieren. Vielmehr reflektieren die

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mimetisch angelegten Bilder die eigene mediale Bedingtheit, indem sie die konstruktive Verfasstheit, kulturelle Bedeutung und ordnende Funktion des Fotografischen andeuten oder offensiv thematisieren. Dass die vermeintlich „konservative Reaktionsbildung“ auf die vorangegangene ‚Avantgarde-Kritik‘ auch „zur größeren Differenzierung eines ursprünglich radikalen Ansatzes“ führen kann, hat Benjamin Buchloh in Bezug auf das fotografische Porträt in der Gegenwartskunst angemerkt.27 Gerade die Verstrickung der Fotografie in die kulturellen Entwürfe vom privaten Raum sowie ihre technisch-mediale Anschlussfähigkeit an filmische oder televisionäre Bildwelten, die auch soziokulturelle Vorstellungen vom privaten Leben und Wohnen prägen, prädestinieren das Medium für eine autoreflexive künstlerische Betrachtung der Selbst- und Weltwahrnehmung des Subjekts in der visuellen Kultur der Gegenwart. Über die Kombination der inhaltlichen Bedeutungsfelder mit der wirklichkeitsnahen Darstellungsweise schließen die fotografischen Bilder von privaten Räumen in der Gegenwartskunst fast zwangsläufig an die Bildgeschichte der Gattung Interieur an. Die ebenfalls Jahrhunderte und Kulturen überspannende Geschichte des Stilllebens hat Norman Bryson mit dessen Fähigkeit erklärt, auf eine materielle Existenz zu reagieren, die in Gestalt der Tischkultur trotz aller Veränderungen eine „authentisch selbstbestimmende Ebene des materiellen Lebens“28 darstellt. In diesem Sinne kann auch der private Raum als anthropologische Größe verstanden werden, der in seiner existenziellen Funktion als individuelle Behausung und sozialer Ort zwar beständig ist, aufgrund seiner steten kulturellen Umwertung im historischen Prozess aber immer wieder aufs Neue Künstler herausfordert, ihn als Ausdruck und Austragungsort gesellschaftlicher Fragen und Problemstellungen zu begreifen und zu nutzen.

27 Buchloh, Benjamin: „Portraits/Genre: Thomas Struth“. In: Thomas Struth 1997, S. 150-161. 28 Bryson 2003 (1990), S. 14.

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B ILANZ DER KULTURWISSENSCHAFTLICHEN B ETRACHTUNG

Die vorliegende Untersuchung hat das Spektrum der Themen aufgezeigt, die die Fotografien von privaten Räumen in der Gegenwartskunst verhandeln. Über die enge Verzahnung von kunstwissenschaftlicher Bildanalyse und kulturwissenschaftlicher Kontextualisierung im Sinne einer kulturwissenschaftlichen Kunstgeschichte konnten Kompositionsmuster, kunsthistorische Bezüge (zur Gattungsgeschichte), soziokulturelle Referenzen und die fotografische Konstitution der Bilder erfasst und bewertet werden. Der interdisziplinäre Forschungsansatz hat sich als sehr leistungsfähig erwiesen, um die Kunstwerke sowohl in ihrer ästhetischen und autoreflexiven Anlage als auch in ihrer medialen und motivischen Nähe zur Alltagswirklichkeit adäquat betrachten und begreifen zu können. Dass figurative, an den klassischen Bildgattungen orientierte Fotografien in der Gegenwartskunst oft ausschließlich im traditionellen Sinne ikonografisch analysiert werden, hat Annette Tietenberg konstatiert und kritisiert. Eine Untersuchung, die sich vor allem um die Identifikation von (kunst-)historischen Referenzen bemühe, könne (post-)moderne Bilder, die weder auf einem schriftlich fixierten Programm noch auf „geläufigen kunsthistorischen Schemeta“29 basieren, nicht angemessen auslegen. Zur streng ikonografischen Deutung von Bildern Jeff Walls notiert sie, dass diese „Walls Umgang mit dem technischen Medium ebenso wie die gebrochene Identität der auf den Bildern dargestellten Personen“30 unterschlagen. Das in der vorliegenden Arbeit praktizierte Verfahren steht für die von Tietenberg eingeklagte Vernetzung der Kunstwissenschaft mit der Geschichte und Theorie der Fotografie. 31 Darüber hinaus wurden rezeptionsästhetische Ansätze berücksichtigt und interdisziplinäre Bezüge zu kulturwissenschaftlichen, soziologischen und kulturhistorischen Diskursen hergestellt. Auf diese Weise ist es gelungen, die Bilder als heteronomen

29 Tietenberg 2000, S. 162. 30 A.a.O., S. 162. 31 Vgl. a.a.O., S. 159. Tietenberg stellt hier allerdings weder die Berechtigung ikonografischer Verfahren an sich infrage, noch behauptet sie, dass sich jede kunstwissenschaftliche Betrachtung von Gegenwartskunst in der kritisierten Weise auf diese Methode stütze.

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Ausdruck und kritische Reflexion zeitgenössischer Kultur zu verstehen. Indem mit der Abhandlung nicht nur eine Bestandsanalyse des Spektrums fotografischer Interieurs in der Gegenwartskunst vorliegt, sondern auch eine sowohl aus medienspezifischer als auch aus kulturwissenschaftlicher Perspektive verfasste Betrachtung des Phänomens, konnten gleich in dreifacher Weise Forschungslücken zur Kunst der Gegenwart geschlossen werden. Die Untersuchung hat aber auch verdeutlicht, an welchen Stellen neue Forschungen anschließen können. In weiteren Studien zu klären wäre, was die vorgelegte Methode für die Untersuchung fotografischer Porträts, Stillleben und Landschaften in der Gegenwartskunst leisten kann. Eine vergleichbar enge Verbindung zur Welt des Alltäglichen besteht zumindest bei der Darstellung von Menschen und Dingen; alle drei Sujets sind über Fotografien in alltäglichen Anwendungsbereichen zudem fest in der visuellen Kultur verankert. Nur eine Erweiterung des Gegenstandsbereichs auf andere Medien und Materialien ermöglicht eine umfassende Antwort auf die Frage, inwiefern in der Gegenwartskunst private Räume, das private Leben und Wohnen und die räumliche Orientierung des modernen Subjekts thematisiert werden. Angesichts von Rauminstallationen oder interventionistischen Arbeiten müssten die Kategorien der körperlichen Erfahrung, der zeitlichen Entfaltung der Werke sowie der Umfelder ihrer Realisierung und Wahrnehmung in der Analyse gestärkt werden. Diese Weitung des Blickwinkels wäre auch Voraussetzung für eine Fortschreibung der Entwicklungsgeschichte des Interieurs mit ihren Brüchen, Kontinuitäten und Paradoxien. Eine derartige Kulturen und Jahrhunderte überspannende Betrachtung würde unweigerlich die weitere Aktualisierung und Ausdifferenzierung der Gattungstheorie ebenso ermöglichen wie erfordern; darüber könnten schließlich auch tiefere Einsichten in die anthropologische Bedeutung künstlerischer Praxis gewonnen werden.

Bildnachweis Titelbild: © Tina Barney. Courtesy Janet Borden, Inc., New York Abb. 1-3: © Nan Goldin. Courtesy Matthew Marks Gallery, New York Abb. 4-6: © Gregory Crewdson. Courtesy Gagosian Gallery Abb. 7: Teresa Hubbard und Alexander Birchler 1998, S. 63 Abb. 8: Courtesy Annelies trba Abb. 9: Henschtel / Matt 1998, S. 78 Abb. 10-14: © Gregory Crewdson. Courtesy Gagosian Gallery Abb. 15-20: Courtesy Maureen Paley, London Abb. 21-26: Courtesy Daniela Rossell und Greene Naftali Gallery, New York Abb. 27: Teresa Hubbard und Alexander Birchler 1998, S. 63 Abb. 28-31: © Thomas Struth. Courtesy Galerie Rüdiger Schöttle Abb. 32-34: © Gregory Crewdson. Courtesy Gagosian Gallery Abb. 35-37: © Tina Barney. Courtesy Janet Borden, Inc., New York Abb. 38-40: Patrick Faigenbaum 1999, S. 17 / S. 27 / S. 47 Abb. 41-43: Courtesy Jacqueline Hassink Abb. 44: Courtesy Museum of the City of New York, Jacob A. Riis Collection Abb. 45: Courtesy Library of Congress, FSA/OWI Collection Abb. 46, 47: Arbus / Israel 1984 (1972), o.S. Abb. 48-51: © Nan Goldin. Courtesy Matthew Marks Gallery, New York Abb. 52, 54: Courtesy Tom Hunter Abb. 53: Courtesy Gemäldegalerie Alte Meister, Staatliche Kunstsammlungen Dresden. Foto: Klut / Estel Abb. 55: Foto © National Gallery of Ireland Abb. 56-58: © Jörg Sasse / VG Bild-Kunst Abb. 59, 60, 63, 64: Richard Billingham 2000 (1996), o.S. Foto: Loos Abb. 61, 62: Courtesy Anthony Reynolds Gallery, London

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Abb. 65, 68, 69: © Nan Goldin. Courtesy Matthew Marks Gallery, New York Abb. 66, 67: Goldin / u.a. 2003, S. 92 / S. 93 Abb. 70-74: © The Estate of Larry Sultan. Courtesy Galerie Thomas Zander, Köln Abb. 75-79: Courtesy Anthony Reynolds Gallery, London Abb. 80, 81, 84: © Nan Goldin. Courtesy Matthew Marks Gallery, New York Abb. 82, 83, 87: Courtesy Jeff Wall Abb. 85, 86, 88-90: © Gregory Crewdson. Courtesy Gagosian Gallery Abb. 91, 93-95: Miriam Bäckström 1999, o.S. Abb. 92: Courtesy Nils Stærk, Copenhagen Abb. 96, 97: Courtesy Mieke van de Voort Abb. 98-101, 103: © Laurenz Berges / VG Bild-Kunst. Courtesy Galerie Wilma Tolksdorf, Frankfurt / Berlin Abb. 102: © Natalie Czech / VG Bild-Kunst Abb. 104,105: Courtesy Wiebke Loeper Abb. 106-108: Wiebke Loeper 2005 (1995), o.S. Abb. 109, 110, 113-115: Courtesy Nils Stærk, Copenhagen Abb. 111, 112: Miriam Bäckström 2002, S. 34 / S. 35 / S. 14 Abb. 116: Miriam Bäckström 2000, o.S.

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LITERATURVERZEICHNIS | 353

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Image Thomas Abel, Martin Roman Deppner (Hg.) Undisziplinierte Bilder Fotografie als dialogische Struktur Juni 2011, ca. 280 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1491-6

Elize Bisanz (Hg.) Das Bild zwischen Kognition und Kreativität Interdisziplinäre Zugänge zum bildhaften Denken August 2011, ca. 370 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1365-0

Dietmar Kammerer (Hg.) Vom Publicum Das Öffentliche in der Kunst August 2011, ca. 280 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1673-6

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Christine Nippe Kunst baut Stadt Künstler und ihre Metropolenbilder in Berlin und New York Mai 2011, 380 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1683-5

Susanne Regener Visuelle Gewalt Menschenbilder aus der Psychiatrie des 20. Jahrhunderts 2010, 256 Seiten, kart., 135 Abb., 27,80 €, ISBN 978-3-89942-420-1

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Image Sabiene Autsch, Sara Hornäk (Hg.) Räume in der Kunst Künstlerische, kunst- und medienwissenschaftliche Entwürfe 2010, 304 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1595-1

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Anita Moser Die Kunst der Grenzüberschreitung Postkoloniale Kritik im Spannungsfeld von Ästhetik und Politik Juni 2011, ca. 242 Seiten, kart., ca. 27,80 €, ISBN 978-3-8376-1663-7

Lars Blunck (Hg.) Die fotografische Wirklichkeit Inszenierung – Fiktion – Narration

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2010, 280 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1369-8

Februar 2011, 228 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1635-4

Julia Bulk Neue Orte der Utopie Zur Produktion von Möglichkeitsräumen bei zeitgenössischen Künstlergruppen

Jürgen Stöhr Auch Theorien haben ihre Schicksale Max Imdahl – Paul de Man – Beat Wyss. Eine Einfühlung in die Kunstgeschichtsschreibung der Moderne

Juli 2011, ca. 308 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1613-2

Kirsten Einfeldt Moderne Kunst in Mexiko Raum, Material und nationale Identität 2010, 462 Seiten, kart., zahlr. Abb., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1503-6

2010, 338 Seiten, kart., zahlr. Abb., 31,80 €, ISBN 978-3-8376-1403-9

Lilli Weissweiler Futuristen auf Europa-Tournee Zur Vorgeschichte, Konzeption und Rezeption der Ausstellungen futuristischer Malerei (1911-1913) 2009, 288 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1205-9

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