Fotografische Bildgestaltung: Das Handbuch für starke Bilder [2 ed.] 9783864909337, 9783969109779

Bildgestaltung von A bis ZDie grundlegenden Elemente Akzent, Linie, Fläche verstehen und gekonnt einsetzenBildmodelle nu

181 108 69MB

German Pages 342 [341] Year 2023

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Recommend Papers

Fotografische Bildgestaltung: Das Handbuch für starke Bilder [2 ed.]
 9783864909337, 9783969109779

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

Frank Dürrach [email protected] Lektorat: Rudolf Krahm Copy-Editing: Alexander Reischert, www.aluan.de Layout und Satz: Frank Dürrach Herstellung: Stefanie Weidner, Frank Heidt Titelbild: Chantal Wolf, www.chantalwolf.de Umschlaggestaltung: Helmut Kraus, www.exclam.de Druck und Bindung: Firmengruppe APPL, aprinta Druck, Wemding Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN: Print 978-3-86490-933-7 PDF 978-3-96910-977-9 2., erweiterte Auflage 2023 Copyright © 2023 dpunkt.verlag GmbH Wieblinger Weg 17 69123 Heidelberg Hinweis: Dieses Buch wurde mit mineralölfreien Farben auf FSC®-zertifiziertem Papier aus nachhaltiger Waldwirtschaft gedruckt. Der Umwelt zuliebe verzichten wir zusätzlich auf die Einschweißfolie. Hergestellt in Deutschland. Schreiben Sie uns: Falls Sie Anregungen, Wünsche und Kommentare haben, lassen Sie es uns wissen: [email protected]. Die vorliegende Publikation ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Die Verwendung der Texte und Abbildungen, auch auszugsweise, ist ohne die schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und daher strafbar. Dies gilt insbesondere für die Vervielfältigung, Übersetzung oder die Verwendung in elektronischen Systemen. Es wird darauf hingewiesen, dass die im Buch verwendeten Soft- und Hardware-Bezeichnungen sowie Markennamen und Produktbezeichnungen der jeweiligen Firmen im Allgemeinen warenzeichen-, markenoder patentrechtlichem Schutz unterliegen. Alle Angaben in diesem Buch wurden vom Autor mit größter Sorgfalt kontrolliert. Weder Autor noch Verlag können jedoch für Schäden haftbar gemacht werden, die im Zusammenhang mit der Verwendung dieses Buchs stehen. 543210

Coypright und Urheberrechte: Die durch die dpunkt.verlag GmbH vertriebenen digitalen Inhalte sind urheberrechtlich geschützt. Der Nutzer verpflichtet sich, die Urheberrechte anzuerkennen und einzuhalten. Es werden keine Urheber-, Nutzungs- und sonstigen Schutzrechte an den Inhalten auf den Nutzer übertragen. Der Nutzer ist nur berechtigt, den abgerufenen Inhalt zu eigenen Zwecken zu nutzen. Er ist nicht berechtigt, den Inhalt im Internet, in Intranets, in Extranets oder sonst wie Dritten zur Verwertung zur Verfügung zu stellen. Eine öffentliche Wiedergabe oder sonstige Weiterveröffentlichung und eine gewerbliche Vervielfältigung der Inhalte wird ausdrücklich ausgeschlossen. Der Nutzer darf Urheberrechtsvermerke, Markenzeichen und andere Rechtsvorbehalte im abgerufenen Inhalt nicht entfernen.

Frank Dürrach

Fotografische Bildgestaltung

Das Handbuch für starke Bilder 2., erweiterte Auflage

Frank Dürrach, geboren und aufgewachsen in Nürnberg, lebt aktuell in Köln. Er ist Mitgründer der Fotoschule-Koeln und seit 2008 einer der Hauptdozenten und Leiter der Fotoakademie-Koeln. Hier betreut er die berufliche Ausbildung von etwa 75 Studierenden. Er unterrichtet Fächer wie Bildgestaltung, Elektronische Bildbearbeitung, Geschichte der Fotografie und Fotobuch. Zu Fotografie und Gestaltung kam er früh durch die Werbeagentur seiner Eltern. Fotografisch liegen seine Schwerpunkte auf Straßenfotografie und Reportage. Er knipst aber auch gern, was ihm so vors Handy kommt und was er für interessant hält. Er ist Mitglied in der Deutschen Gesellschaft für Photographie (DGPh) und tritt mit dem »Fotobuch-Quartett« auf. Zu seinen Interessen zählen Politik, Philosophie, Literatur (Romane, Comics, Science Fiction), Kunst und Brettspiele.

Vorwort des Autors Was das Buch bietet Die Fotografie wird in ein paar Jahren ihren 200. Geburtstag feiern. Sie war schon früh nach ihrer Erfindung wichtig, aber seit der Digitalisierung und der globalen Vernetzung gehört sie unbestritten zu den wichtigsten Medien, über die Menschen kommunizieren und sich kreativ ausdrücken. Umso erstaunlicher ist, dass es nur sehr wenige umfassende und systematische Darstellungen der Gestaltungsmittel gibt, derer sich die Fotografie bedient. Und was nach meiner Recherche völlig fehlt, ist ein Ansatz, der die unterschiedlichen Stilrichtungen und Genres berücksichtigt. Das möchte dieses Buch ändern. Hier soll die Fotografie in ihrer ganzen aktuellen Bandbreite gezeigt und in ihrer Wirkungsweise verständlich gemacht werden. Das Buch arbeitet dazu mit einer Fülle an Bildern, die zu den unterschiedlichsten Zwecken entstanden sind – etwa aus den Bereichen Fotojournalismus, freie Kunst, Werbung, Mode, Porträt, Dokumentarfotografie, Reisefotografie. Entsprechend breit aufgestellt sind auch die vertretenen Stilrichtungen von Sachlichkeit über »Fine Art« oder »Trash« bis zu Surrealismus und Abstraktion, um nur einige zu nennen. Auch im Hinblick auf die verwendete Aufnahmetechnik ist das ganze Spektrum vertreten: Das Buch enthält natürlich viele Bilder, die mit digitalen Spiegelreflexkameras entstanden sind, daneben analoge Fotografie, Groß- und Mittelformat sowie eine große Menge Handyfotos – aktuell der am meisten genutzte Kameratyp der Welt. Aus meiner persönlichen Erfahrung schlage ich vor, sich auch auf Genres und

Stile einzulassen, die einem zunächst nicht so liegen. Mir selbst ist mittlerweile klar geworden, dass es uninteressante Fotos im Grunde nicht gibt, denn aus der Art, wie ein Bild gelungen oder eben weniger gelungen ist, kann man immer Nutzen für das Verständnis und für die eigene Fotografie ziehen. Genau das wären auch die beiden ehrgeizigen Ziele dieser Bildgestaltungslehre: Sie möchte umfassend und klar darstellen, wie gute Fotos funktionieren. Zusätzlich soll das Buch die Fotografie der Leserinnen und Leser voranbringen, indem es in Beispielen und Tipps ganz konkret zeigt, wie man Bildgestaltung für starke Bilder nutzt. Ach so: Spaß machen sollen die Lektüre und die Betrachtung der Bilder natürlich auch. Ich habe deshalb versucht, unterhaltsam (und möglichst geschlechtsneutral) zu schreiben, dabei aber präzise zu bleiben. Der Aufbau des Buches Die genannten Ziele verfolgt das Werk durch zwei grundsätzlich verschiedene Arten von Kapiteln. Es werden zum einen die drei Bestandteile von Fotografien (Akzente, Linien und Flächen) ausführlich vorgestellt und in ihrer Wirkung analysiert. Diese drei »atomaren« Bildelemente zu kennen, ist zunächst einmal hilfreich, aber sie mit der Kamera in der Hand zu nutzen, ist ein darüber hinausgehender, nicht ganz einfacher Schritt. Deshalb gibt es zum anderen acht Kapitel mit sogenannten Bildmodellen, die Standards zeigen, welche das fotografische Leben erleichtern. »Einakzenter«, »Zweiakzenter«, »Strukturbilder«, »Die Bühne«, »Vielschichtigkeit«, »Schablonierung«, »Bild im Bild« und »Blasser 5

 Dennis Wilhelms

6

Akzent« heißen diese Modelle. Ihnen folgen sehr viele Fotografien – ganz gleich, ob ihre Urheberinnen und Urheber die Theorie nun gekannt haben oder nicht. In dieser Gestaltungslehre beschreiben die Bildmodelle also einerseits die zeitgenössische Fotografie, sie sollen aber auch der Entfaltung eigener Kreativität dienen. Das Schöne an diesen Bildmodellen ist nämlich, dass man nach ihren Rezepten fotografieren und sie als Motor für die eigene Produktion starker Bilder nutzen kann. Noch besser ist aber, dass sich diese Modelle auch jederzeit modifizieren, kombinieren oder ignorieren lassen. Sie wollen Startbahn, nicht Endstation sein. Den Hauptteilen sind im Buch Kapitelfarben zugeordnet. Rot bezeichnet Kapitel über die Bildelemente, Grün gehört zu den Bildmodellen, hinzu kommt Blau für die Stilistik der Fotografie; alle übrigen Kapitel, etwa zu Themen wie Farbe, Bildkomposition, Zuschnitt, Objektivwirkung oder zum Kamerastandpunkt, er­scheinen in Gelb. In welchem Kapitel man sich gerade befindet, sagt einem jeweils das Register am linken Seitenrand. Jede normale Doppelseite des Buches behandelt einen in sich geschlossenen Aspekt. Die Bilderleisten im oberen Seitendrittel illustrieren das Thema der beiden Seiten, hinzu kommt natürlich der Text mit einer hervorgehobenen Seitenthese. Grafiken ergänzen das Ganze. Dankeschön Wie es sich für ein Buch über Fotografie gehört, soll die Gestaltungslehre nicht nur beschrieben, sondern vor allem gezeigt werden. Das machen erst die vielen Bilder möglich, die mir ganz überwiegend von Absolventinnen und Absolventen sowie den Studierenden der Fotoakademie-Koeln zur Verfügung gestellt wurden. Diese Fotos machen das

Buch erst aktuell und vielseitig; ebenso verdanke ich der Arbeit mit den Studierenden und den Teilnehmenden meiner Kurse zur Bildgestaltung unzählige Erkenntnisse, die hier aufgeschrieben sind. Herzlich danken möchte ich auch meinem Kompagnon Oliver Rausch, der mit mir im Jahr 1999 die Fotoschule-Koeln und 2008 die Fotoakademie-Koeln gegründet hat. Ich bin stolz und dankbar, dass wir die Akademie gemeinsam zu einer der erfolgreichsten privaten Ausbildungsstätten für Fotografie in Deutschland machen konnten. Seinem genialen Blick für Fotos und seinem Charisma als Fotolehrer verdanke ich die meisten Anstöße zu den Inhalten dieses Buchs. Ich danke auch dem dpunkt.verlag und insbesondere meinem Lektor Rudolf­ Krahm für seinen allzeit guten Rat. Schönen Dank auch an Alen Ianni, der mir viele seiner exzellent gestalteten Bilder überlassen hat und an meine ehemalige Studentin Chantal Wolf, die das wunderbare Titelbild geschossen hat. Einige Fotos zu speziellen Themen fand ich in Online-Datenbanken; herzlichen Dank auch an deren Fotografinnen und Fotografen. Ebenso an die vielen Menschen, die auf den hier gezeigten Fotografien erscheinen. Ich habe versucht, keine Bilder aufzunehmen, die jemandes Gefühle verletzen könnten. Es handelt sich hier um ein Lehrbuch, und da spielen Bilder mit Menschen naturgemäß eine Hauptrolle. Last, not least Kuss an meine Familie und Freunde und an Sergey für die Liebe, Unterstützung und Geduld mit mir. Liebe Leserinnen und Leser ... nun hoffe ich, dass die Lektüre Spaß macht, Erkenntnisgewinn bringt und zu neuen fotografischen Ufern führt. Lob bitte an die Netzwerke, Kritik gern an mich ([email protected]). 7

0 Info und Inhalt

 Marvin Hüttermann

Die Kapitel des Buches folgen einem Farbsystem, das die Orientierung erleichtern soll. Kapitel über die drei Bildelemente Akzent, Linie und Fläche sind rot gekennzeichnet. Die acht hier vorgestellten Bildmodelle erscheinen grün. Das Kapitel über die Stilistik der Fotografie hat Blau als Farbkennzeichen. Weiteren Themen wie Farbe, Objektivwirkung, Kamerastandpunkt oder Bildschnitt ist Goldgelb zugeordnet. Die einzelnen Kapitel haben am Rand der linken Buchseite ein Register, welches das Thema des Kapitels und das der Doppelseite nennt.  Die Bilder sind durchweg nummeriert und mit den Namen der Fotografinnen und Fotografen versehen. Im Text erscheinen die Nummern , wo auf die entsprechenden Bilder Bezug genommen wird.

5 Vorwort | 8 Info | 9 Inhaltsverzeichnis 8

1 Akzente Zu Beginn werfen wir einen Blick auf das wichtigste der drei Bild­ elemente.

14 Intro: Bildakzente | 16 Grundlagen und Eyetracking | 20 Gruppierung von Akzenten | 22 Positionierung von Akzenten | 28 Intro: Akzentarten | 30 Farbakzente | 34 Schärfeakzente | 38 Helligkeitsakzente | 42 Gesichter und Körperteile | 46 Text, Symbole, Zahlen | 50 Formakzente | 52 Perspektivenakzente | 54 Größenakzente | 56 Abweichungsakzente | 59 Zusammenfassung

3 Zweiakzenter Hier geht es um ein Bildmodell, welches zwei Blickfänge aufweist.

70 Intro | 72 Erzählerische Fotografien | 74 Kontraste und Wiederholungen | 76 Gruppenakzente und Strukturen | 78 Galerie | 81 Zusammenfassung

2 Einakzenter Das erste Bildmodell behandelt Bilder mit genau einem Blickfang.

60 Intro | 62 Klarheit und Konzentration | 64 Gestaltungsmittel und Nebenakzente | 66 Galerie | 69 Zusammenfassung

4 Linien ... prägen Bilder inhaltlich und ästhetisch. Das Kapitel zeigt die Linienarten und ihre Funktionen. 82 Intro: Linienarten | 84 Optisch, durchgezogen, stark, dünn | 86 Gerade, geometrisch, frei | 88 Vertikal, horizontal, diagonal, flach, tief | 90 Galerie | 92 Intro: Linienfunktionen | 94 Gliedern | 96 Trennen, einsperren, distanzieren | 98 Galerie | 100 Verbinden | 102 Dynamik erzeugen | 104 Galerie | 106 Blickführung | 109 Steigende und fallende Linien | 110 Raumtiefe erzeugen | 112 Galerie | 114 Linien als Ornament | 116 Galerie | 118 Linien und Bildaussage | 122 Galerie | 125 Zusammenfassung 9

5 Strukturfotos Diese häufig zu findenden Bilder haben keine oder nur unbedeutende Akzente und es dominieren Muster oder Ornamente.

Das wichtigste Bildmodell der »Sachlichen Fotografie« wird hier vorgestellt.

126 Intro | 128 Grundlagen | 130 Strukturen als Bildinhalt | 132 Galerie: Strukturen | 134 Galerie: Muster | 137 Zusammenfassung

138 Intro | 140 Grundlagen | 142 Galerie | 144 Dokumentarisches und Inszeniertes | 147 Zusammenfassung

9 Schablonierung Hier bildet eine Fläche ein Sichthindernis im Bild, was subjektivere, visuell starke, aufgeräumte Fotos ermöglicht.

188 Intro | 190 Subjektiver Blick | 192 Abwechslung im Bildraum | 194 Aufgeräumte Bilder | 196 Galerie | 199 Zusammenfassung 10

6 Die Bühne

10 Farbe In diesem Kapitel werden die Grundlagen einer fotografischen Farbenlehre dargestellt und wirkungsvolle Kontraste und Gleichklänge empfohlen. Auch geht es um die Schwarzweißfotografie. 200 Intro | 202 Grundlagen | 204 Farb­ mischung | 206 Farbkombinationen und ihre Wirkung | Farb­schemata: 208 Monochrom, analog | 210 Komplementär | 212 Triadisch | 214 Kalt und warm | 216 Galerie | 218 Quantitätskon­ trast | 220 Sättigungskontrast | 222 Gebrochene Farben | 224 Farbe auf Schwarz oder Weiß | 226 Galerie | 228 Schwarzweißbilder | 233 Zusammenfassung

7 Flächen

8 Vielschichtigkeit

Das letzte der drei fotografischen Bildelemente, welches gewöhnlich den meisten Bildraum einnimmt.

In diesem Bildmodell durchdringen sich zwei oder mehr Bildebenen und die Fotografie zeigt sich von ihrer kreativsten Seite.

148 Intro | 150 Galerie: Kreis, Dreieck, Viereck und Verwandte | 152 Arten von Flächen | Funktionen: 154 Dynamik | 158 Tiefenwirkung | 160 Hervorheben, verbergen | 162 Abgrenzen, verbinden | 164 Aufräumen, beruhigen | 166 Galerie | 168 Zusammenfassung

170 Intro | 172 Visuelle und erzählerische Kraft | 174 Vereinfachung durch Filterung | 176 Komplexität durch Spiegelung | 178 Galerie: Sonderfälle | 180 Bildinhalte auf mehreren Ebenen | 182 Galerien | 187 Zusammenfassung

11 Bild im Bild Ein Bildmodell mit einem selbsterklärenden Namen. Inhaltlich funktioniert es ähnlich wie Bilder mit zwei Akzenten.

234 Intro | 236 Kontrast und Wiederholung | 238 Galerie: Menschenbilder | 240 Zusammenspiel der Ebenen | 242 Architektur und Stadtlandschaft | 244 Galerie | 246 Zusammenfassung

12 Der blasse Akzent Ein Bildmodell mit einem rätselhaften Namen. Ganz anders als sonst geht es hier darum, den Bildgegenstand nicht allzu deutlich zu zeigen, um das Interesse der Betrachtenden anzufachen.

248 Intro | 250 Sperrige Bilder | 252 Galerie | 254 Zeigen und verstecken | 256 Galerie | 259 Zusammenfassung 11

13 Stilistik Die Fotografie hat – wie die Malerei – ihre Stilrichtungen. Die Entscheidungen der Fotografinnen und Fotografen bezüglich Kriterien wie Tonwerte, Farbe, Schärfe, Licht, Kamerastandpunkt, Bildausschnitt, Brennweite und Bildbearbeitung schaffen unverkennbare Bildstile.

260 Intro | 262 Matrix der Bildgestaltung | Stile: 264 Sachlichkeit | 266 Trash | 268 Reportagestil | 270 Surrealismus | 272 Intimer Stil | 274 Alternativweltstil | 276 Galerie | 278 Abstraktion | 281 Nachbetrachtung

15 7 Sünden, 7 Tipps

14 Bildaufbau Ein Sammelkapitel zum Thema Objektivwirkung, Schärfe, Kamerastandpunkt, Vordergrund und Hintergrund, Bildformate und Zuschnitt.

282 Intro | 284 Weitwinkel- und Teleobjektive | 288 Schärfe und Unschärfe | 290 Vordergrund und Hintergrund | 292 Galerie | 294 Form, Restform, Silhouette | 298 Galerie: Porträts | 300 Kamerastandpunkt | 302 Bildformate | 304 Regeln des Bildzuschnitts | 308 Zusammenfassung

Anhang

Das Schlusskapitel stellt die häufigsten und abträglichsten Gestaltungsfehler zusammen und gibt gut umsetzbare Tipps, die eigene Fotografie zu verbessern.

310 Intro | 312 Mangelnde Akzentkontrolle | 314 Unklare Formen | 316 Bühnenhaftigkeit | 318 Gleichförmigkeit | 320 Schlechtes Licht | 322 Falsche Helligkeit und Sättigung | 324 Technikmängel | 326 Nutzung von Bildfläche und -tiefe | 328 Abstraktion und Stilwechsel | 330 Variation und Inspiration | 332 Ausblick 12

338 Bildnachweise | 340 Index

 Kary Barthelmy

 Merle Hettesheimer (Fotografiert, gedruckt, aufgebaut, erneut fotografiert – die Welt als Bild.)

13

Bildelement: Akzente

Was ist ein Akzent?

Im ersten Kapitel geht es um den wichtigsten Bestandteil von Bildern, den Bildakzent. Akzente sind keine Gegenstände oder Personen, vielmehr sind es kleinere Bildbereiche, die den Blick von Betrachterinnen und Betrachtern immer wieder oder für längere Zeit anziehen. Es sind Bildstellen, die als informativ, auffällig, rätselhaft, kurz als interessant wahrgenommen werden. Bilder bestehen aus Akzenten, Linien und Flächen – mehr nicht. Gute Fotografien zeichnen sich durch ökonomische Verwendung von Bildakzenten aus. Bildwichtiges soll akzentuiert, Ablenkendes möglichst nicht vorhanden oder wenigstens visuell schwächer sein als der Kern des Bildes. Die Akzentlehre ist grundlegend für dieses Buch, weil sie sich direkt darauf bezieht, wie wir Bilder betrachten. Im Folgenden soll zunächst eine fundierte Definition geliefert werden, was Akzente sind. Dann folgt eine Übersicht zur Gruppierung und Platzierung von Akzenten.  In dem meisterhaft inszenierten Bild rechts sind die stärksten Akzente das Gesicht und die Kugel. Schwächere Nebenakzente dürften die rechte Hand und die Füße der Frau darstellen.

14

 Carsten Nichte

Akzente | Grundlagen und Eyetracking I

Wir betrachten Bilder nicht in ihrer Gesamtheit, sondern selektieren punktuell, was uns interessiert, und springen dann im Bild umher. Solche Zonen unseres Interesses nennt man Bildakzente.

16

Am Anfang steht ein genialer Wurf: Der sowjetische Psychologe Alfred Yarbus arbeitete seit den 1950er Jahren an einer umfangreichen wissenschaftlichen Untersuchung, wie wir Menschen den Blick wandern lassen, wenn wir Gegenstände, Bilder und Texte wahrnehmen. Er hat seinen Probanden dabei viel abverlangt: Ihre Köpfe wurden fixiert und auf ihren Augen saugte er Gummikappen fest mit Spiegelchen darauf; deren Lichtreflexe wurden fotografisch aufgezeichnet. So erhielt er eine Kartografie der menschlichen Blickführung. Dabei ging er so klug und systematisch vor, dass er in seiner epochemachenden Doktorarbeit von 1965 die wesentlichen Erkenntnisse über die Wahrnehmung von Bildern darlegen konnte – jedenfalls was das Auge betrifft. (Was im Gehirn abläuft, ist eine weit darüber hinausgehende Frage.) Einer seiner Untersuchungsgegenstände war das Gemälde »Unerwartete Heimkehr« des berühmten Malers Ilja Repin . Durften seine Versuchspersonen das Bild drei Minuten lang frei ansehen, so versuchten diese keineswegs, alle Bereiche des Bildes gleichermaßen zu erfassen. Vielmehr fixierten sie bestimmte Bereiche, auf denen ihr Blick länger ruhte und zu denen er immer wieder zurückkehrte . Vor allem die Gesichter der sieben Protagonisten Repins waren offenbar attraktiv. Darüber hinaus wurde zum Beispiel auf die Stiefel des Besuchers und aus dem Fenster geblickt. Beides ist natürlich interessant, denn es erzählt über Tageszeit, Ort und Jahreszeit sowie über das, was der Heimkehrer hinter sich hat. Mit anderen Worten: Wir

führen bei Bildern eine Auswertung nach Informationen durch, die uns relevant erscheinen, und gelangen so zu einem ersten Verständnis des Gesehenen. Bilder (also Gemälde in realistischem Stil ebenso wie Fotografien) sind vor allem eine Form der Darstellung von Informationen: visueller Informationen, also Erkenntnisse über Größe, Form, Lage, Farbe von Gegenständen, aber zum Beispiel auch solcher über Alter und Stimmungen von Personen. Hierzu sind natürlich die Gesichter die beste Informationsquelle. Stellte Yarbus Fragen oder gab er Aufgaben, so veränderte sich dementsprechend der Gang des Blickes . Als Yarbus seine Betrachtenden bat, einzuschätzen, wie lange der Heimkehrer weg gewesen sei, offenbarte sich daran nicht nur die eigene Genialität, sondern auch die des Malers. Denn nun wurde vor allem in die Gesichter des Mannes, der älteren Frau, der Mägde und der Kinder geschaut . Tatsächlich kann man an deren Gesichtern diese Frage beantworten. Der Mann sieht angespannt aus, denn er kehrt an diesem Tag aus langer Verbannung durch den Zaren zurück. Seine Mutter ist noch fassungslos, die Mägde vergessen ihren Benimm und glotzen neugierig ins Zimmer. Aber vor allem: Der Sohn freut sich, während die Tochter fremdelt – sie erkennt den Vater nicht mehr. So lange war er also verbannt. Das Bild enthält zahlreiche starke Akzente . Geht man vom normalen Betrachten aus, so sind alle Gesichter Akzente, dazu kommen mindestens die stützende Hand der schwächelnden Mutter sowie die Hand und die dunklen Stiefel des Mannes (betont durch die helle Bodenfläche) und das Fenster. Mich persönlich ziehen die gut sichtbar dargestellten Stiefel der Tochter an. Durch die Beinhaltung verstärkt Repin geschickt den verunsicherten Blick des Mädchens.

Text  Ilja Jefimowitsch Repin (1844–1930): Unerwartete Heimkehr (1884–88)

 nach Alfred L. Yarbus (1914–1986): drei Minuten freies Betrachten

 Aufgabe: Beschreibung der Kleidung  Frage: Dauer der Abwesenheit

 Aufgabe: Position der Objekte erinnern  Akzentskizze nach 

17

Seit Yarbus hat sich die Art der Datenerhebung zum Glück stark vereinfacht. Um Dauer und Gang des Blickes auf einem Bild zu erfassen, arbeitet man heute mit speziellen Brillen, die die Augenbewegung präzise messen und dann mittels Software eine sogenannte »Heatmap« erstellen. Eine solche zeigt das Bild . Dabei werden Bereiche, die lange oder immer wieder betrachtet werden, rot dargestellt und dann abgestuft gelb und grün. Auch wenn die Technik sich weiterentwickelt hat, die grundlegenden Erkenntnisse sind dieselben geblieben:

Akzente | Grundlagen und Eyetracking II

Bildakzente sind keine Gegenstände, sondern Bereiche mit hoher Informationsdichte, die für uns deshalb zum Blickfang werden. Ob ein Bildgegenstand zu einem Akzent oder sogar zu mehreren Akzenten wird, hängt vor allem davon ab, wie inhaltlich und visuell interessant er erscheint und wie groß er im Bild dargestellt ist.

18

In dem schönen Porträt eines kleinen Jungen  ist der größte Teil des Bild­ raums mit Strukturen gefüllt: Pflastersteine, eine Hauswand und ein gemusterter Stoff. Wir konzentrieren uns daher weitgehend auf ihn, allerdings gilt nicht etwa, dass ein Bildgegenstand (»Junge«) gleich einem Akzent ist. Das Eyetracking  zeigt vielmehr, dass wir uns auf sein Gesicht, die Texte auf seiner Kleidung und auf seine Füße konzentrieren. Insbesondere Körperteile sind gewöhnlich Akzente. Auch hier tragen sie dementsprechend viel der Bildinformation, nämlich eine leichte Verlegenheit des Porträtierten, die in seinem Blick, der Körper- und Fußhaltung zum Ausdruck kommt. Man kann also von zwei inhaltlich wichtigen Akzenten ausgehen, dazu kommen die Texte auf der Kleidung und zwei überflüssige kleinere Hingucker, nämlich der Gully und der weiße Müll im Hintergrund.

Das Gesicht des Jungen war in Bild  also ein Akzent. Würden wir den Bildausschnitt auf das Gesicht verengen (durch ein Teleobjektiv oder Vergrößerung des Bildausschnitts oder durch Herangehen mit der Kamera), dann ergäben sich mehrere neue Akzente, denn wir würden beginnen, Details in dem Gesicht zu betrachten. Das geschieht in Bild , denn dieser witzige Schnappschuss konzentriert sich ganz auf die ausdrucksstarke Mimik der beiden Frauen. Entsprechend »zerfallen« die Gesichter in Unterakzente. Würden wir ein Makrofoto eines einzelnen Auges machen, dann zerfiele selbst dieses in Unterakzente, denn wir könnten die Zeichnung der Iris so detailliert sehen, dass sich Akzente ergäben. In Bild  sind wir weiter weg, sodass sich ein Bild aus mehreren Akzenten (die vier Gesichter, die Hand rechts, die Hand mit der Flasche und vielleicht die Schuhe und das Signet auf dem T-Shirt) ergibt. Der Rest sind Linien und dunkle Flächen. Wichtig: Linien sind keine Akzente (sondern Linien) und Flächen sind keine Akzente (sondern Flächen). Das Bild folgt keinen klassi­schen Kompositionsregeln, die Gesichter befinden sich alle am Rand, manche hart angeschnitten. Genau das passt aber zum Thema: das Spielerische, Regeln Brechende der jungen Menschen. Wir befinden uns auf einem Spielplatz, gleichwohl wird Bier getrunken. Alle sind durch die Linien der Seile verbunden – ein kleines Netzwerk von Freundschaften. Die Personen sind individuell in ihrer Körperhaltung und ihrem Gesichtsausdruck. Eine sehr intensive Momentaufnahme unterschiedlicher Mitglieder einer Gruppe. Im letzten Bild  sind wir noch weiter entfernt und somit distanzierter. Die Person in Rückenansicht ist in einer Umgebung von Flächen und Strukturen nur ein einzelner, ferner Akzent.

Text

,  und  Tuba Ay – Ausgangsbild, »Heatmap«, Akzentskizze  und  Katharina Rösch – Ausgangsbild und Akzentskizze

 Julika Hardegen

 Michaela Grönnebaum

19

 Pixabay

Akzente | Gruppierung von Akzenten

 Pixabay

20

Akzente lassen sich gewöhnlich in Unterakzente zerlegen, sind also oft Gruppenakzente. Umgekehrt lassen sich Akzente durch die Prinzipien Nähe und Ähnlichkeit zusammenfassen, also gruppieren. Bild  dürfte allgemein als eine aufgeräumte Fotografie empfunden werden – und das, obwohl eine Unmenge Flamingos zu sehen sind. Das hat damit zu tun, wie wir die Bildinformation auswerten. Wir fassen kurzerhand alle Flamingos zu einer »Schar« zusammen, das heißt, wir gruppieren die einzelnen Akzente und beschäftigen uns fortan nicht mehr mit den unterschiedlichen Elementen. Das funktioniert nur bei einem der Tiere nicht, denn dieses fliegt, ist anders platziert und hat eine andere Form. Es wird als gesonderter Akzent wahrgenommen. Der Fall der Quietscheentchen  ist noch extremer, sodass man das Bild in Sekundenbruchteilen aufnehmen kann.

 Frank Dürrach

 Sabine Füermann

Nun ist man entweder fertig damit und schaut woanders hin oder man beginnt Enten zu suchen, die irgendeine Besonderheit aufweisen. In  ist die Möwe ein Akzent und die Männer sind ein Gruppenakzent, sie werden nicht einzeln betrachtet (allenfalls der Mann rechts steht etwas zu weit abseits und könnte so Aufmerksamkeit auf sich ziehen). Zum Gruppieren sind also Nähe und ein ähnliches Aussehen erforderlich. Trüge einer einen gelben Hut, würde er zu sehr herausstechen, um in der Gruppierung aufzugehen. In Bild  geschieht die Gruppierung entlang der Boote. Bei den Mönchen  ist man durch deren Ähnlichkeit und auch durch die Sitzordnung zunächst versucht, diese als eine Struktur zu sehen. Allerdings sind die Köpfe doch so groß im Bild, dass man sie individuell mustert. Das würde man bei einer echten Struktur – etwa einer Backsteinmauer – nicht tun.

 Pixabay  Pixabay

 Pixabay

 Pixabay

Bei den drei Herren  kann man nichts mehr gruppieren, denn durch ihre Größe im Bild werden sie in ihren Details betrachtet. Der Gruppenakzent »Kopf« wird also in Unterakzenten wie »Auge«, »Mund«, »Nase« und »Ohr« wahrgenom-

 Pixabay

men. Bei den Badenden  werden die Werfer weitgehend gruppiert, der Fliegende wird in seinen Einzelteilen wahrgenommen. Bei den letzten beiden Bildern lassen sich die Erdmännchen  und die Tauben  nur schwer gruppieren (das Flugzeug ohnehin nicht), denn sie sind in ihren Haltungen recht individuell.  Die Gruppierungsregeln: Grafik  weist zunächst sechs Akzente auf (einer davon ein Paar), nach dem Arrangement nur noch einen Gruppenakzent. Das Bild wurde vereinfacht. : Zeigt man Bildgegenstände größer im Bild, so werden deren Unterakzente sichtbar. Aus »Hunde« werden individuelle Merkmale, die einzeln betrachtet werden und die neue Akzente sind. Ganz anders beim Zoom auf Akzente ohne Binnenstruktur : Sie werden Flächen und verschwinden daher als Akzente. Eher gleichförmige Gegenstände kann man zu Strukturen  gruppieren oder zu Linien »rhythmisieren« . 21

 Pexels

Akzente | Positionierung von Akzenten I

 Pixabay (zugeschnitten)

22

Hat man sehr ruhige Bilder, insbesondere solche mit nur einem Bildakzent, spielt die Positionierung eine große Rolle für die Bildwirkung. Besonderheiten ergeben mittige und gerade nicht mittige Positionen, ebenso die Bilddiagonalen und Bildränder. Zunächst bitte ich um Entschuldigung für die etwas einfachen Bilder der folgenden Seiten. Es sind klare Fotos, gut geeignet, um die Regeln der Lage von Akzenten und ihrer Zusammenfassung (Gruppierung) zu zeigen. Ich habe die Bilder zu diesen Zwecken stark bearbeitet und immer wieder neu zugeschnitten. In Bild  ist der Hauptakzent »Heißluftballon« mittig positioniert. Akzente in der Bildmitte finden sich in sehr vielen Fotografien – teils mit gutem Grund, teils einfach weil man den wichtigsten Bildgegenstand beim Fotografieren ins Zentrum des Suchers oder des Displays

 Pexels (zugeschnitten)

 Uta Konopka (stark bearbeitet)

genommen hat. Man sollte sich klarmachen, dass mittige Hauptakzente im fertigen Bild eine bestimmte Wirkung haben. Vor allem wird so die Wichtigkeit eines »zentralen« Bildgegenstands betont. Hinzu kommt noch eine gewisse Statik. Zudem geben sie Betrachtenden immer schon vor, was diese im Bild sehen sollen. Mittige Akzente haben wenig Bewegung, denn sie geben keiner Richtung den Vorzug und haben keinen Weg hinter oder vor sich. Deutlich ist das in Bild  und sogar in , obwohl der Schwan doch eindeutig eine Schwimmrichtung hat. Positiv wiederum ist, dass Mittenakzente häufige Ruhe ausstrahlen. Ein anderer Aspekt ist die Platzierung von Akzenten leicht außerhalb der Bildmitte. Beispiele sind die Bilder  und  (die ich beide neu zugeschnitten habe). Auf die meisten Menschen, die so ein Bild ansehen, wirkt das »veränderungsbedürftig, ungekonnt, irritierend« – ei-

 Pixabay (zugeschnitten)

 Uta Konopka (stark bearbeitet)

 Pixabay (zugeschnitten)

nige der Adjektive, die ich dazu immer wieder höre. Man sollte also auch hier überlegen, ob man die jeweilige Bildwirkung erzielen möchte. Irritation durch gerade nicht völlig mittig platzierte Akzente ist ja nichts grundsätzlich Schlechtes, sie sollte nur zum Bildinhalt passen.  In die Grafik unten sind die mittige (Punkt) und die gerade nicht mittige Platzierung (Kreis) eingetragen. Weiter wirken im Bild zwei sogenannte» Bilddiagonalen«. Beide finden sich ebenfalls in der

 Arnd Cremer (zugeschnitten)

Grafik und in den Bildern  bis . In Bild  ist der Ball auf der aufwärts führenden Diagonalen positioniert, daher wirkt es eher so, als verabschiede sich dieser in Richtung rechter oberer Bildecke. Ganz anders in dem horizontal gespiegelten Bild , hier scheint der Ball direkt in die Arme zu fliegen. Dieser Effekt ergibt sich in Kulturen mit Leserichtung von links nach rechts. In Kombination mit den Bilddiagonalen erschafft das eine »steigende« und eine »fallende« Bilddiagonale. Daher ist es in Bild  recht schwer, sich den Ballon steigend vorzustellen; eher geht fallend. Umgekehrt ist das bei . Ebenfalls in die Grafik eingetragen ist die unterschiedliche Durchlässigkeit der vier Bildränder (siehe unten). Wegen der Leserichtung ist der rechte Bildrand durchlässiger, der linke eher eine Barriere. Aufgrund unserer Alltagserfahrung ist der untere Bildrand (als Boden) geschlossener als der obere (wie der Himmel). 23

 Pexels

Akzente | Positionierung von Akzenten II

 Arnd Cremer

Auf der vorangegangenen Doppelseite haben wir eine Reihe besonderer Platzierungen kennengelernt: mittig, leicht außermittig und auf einer der beiden Bilddiagonalen. Alle Positionen bringen Besonderheiten wie »Statik, »Ruhe«, »Irritation«, »steigend« oder »fallend« mit sich. Wo liegt nun die Position, die einfach nur gut aussieht? Das wäre sicherlich die Platzierung von Akzenten nach der Drittelregel. Teilt man Bilder horizontal und vertikal in Drittel, so ergeben sich an den Teilungslinien harmonisch wirkende Positionen für Linien und Akzente. Man braucht dabei das Dritteln nicht so genau zu nehmen; ebenso ist es mit dem »Goldenen Schnitt«. Ein schönes Beispiel ist das Landschaftsbild , in dem die kleine Hütte im doppelten Drittel positioniert ist. Doppelt, weil sie im Schnittpunkt einer vertikalen

24

 Frank Dürrach

 Cord Richert

und einer horizontalen Drittellinie liegt. Die Grafik unten auf der gegenüberliegenden Seite  zeigt das und darüber hinaus, dass es im Bild vier solcher Punkte gibt. Davon liegen zwei auf der steigenden, zwei auf der fallenden Diagonalen. Ob das bei der Bildwirkung eine Rolle spielt, hängt stark von der Art des Akzents und vom Hintergrund ab. Im Fall der kleinen Hütte spielen die Diagonalen keine Rolle, aber das Gebäude wirkt wohlplatziert. Nicht anders das Boot . Horizontal liegt es wiederum im Drittel, vertikal etwas unterhalb, eher im Viertel. Das stört nicht, viel wichtiger ist, dass das Boot in Bewegungsrichtung ausreichend Platz zum Fahren hat. Der berühmte, seit der Antike bekannte »Goldene Schnitt« ist nicht identisch mit der Drittelregel. Genau genommen teilt man eine Strecke im Goldenen Schnitt so, dass die Gesamtstrecke in demselben Verhältnis zur größeren

 Pixabay (zugeschnitten, gespiegelt)

 Pixabay (zugeschnitten)

 Alen Ianni (retuschiert)

 Christof Jakob (zugeschnitten)

Teilstrecke steht wie der größere Teil zum kleineren. Man kommt dabei auf grob 62 zu 38 Prozent, aber mathematische Präzision ist beim Gestalten nicht nötig. Bei dem Heiligen auf dem Dach  habe ich mich – seiner Bedeutung entsprechend – für eine (horizontal) genau mittige Platzierung entschieden, vertikal aber liegt er im Drittel/Viertel. Der filigrane Turm in Bild  folgt nicht exakt der Drittelregel, sondern ist jeweils eher im Viertel platziert. Man merkt das

 Alen Ianni (Original)

als leichte Verschiebung, aber es sieht immer noch gut aus. Und noch einmal Schwäne, diesmal in Randposition. Vergleicht man die Bilder  und , bemerkt man rasch die Bedeutung der Leserichtung. Der untere Schwan macht klar den Eindruck, das Bild nach rechts zu verlassen, der obere wirkt irgendwie nicht gut platziert, obwohl es sich einfach nur um das gespiegelte Bild  handelt. Der rechte Bildrand ist also durchlässiger (ebenso der obere). Zu nah und nicht gut platziert wirkt das Schiff in Bild , zumal es nach links fährt (Entschuldigung an den Fotografen, ich habe es extra so zugeschnitten). Bild  erscheint wegen des mittigen Vogels etwas langweilig. Das liegt aber wiederum an mir, denn ich habe die Umgebung wegretuschiert. Bild  ist das Original und wirkt viel besser. Also kann die Akzentwirkung bei gleicher Platzierung stark vom Hintergrund abhängen. 25

 Andrei Ionescu-Cartas

Akzente | Positionierung von Akzenten III

 Adrei Ionescu-Cartas (zugeschnitten)

 Andrei Ionescu-Cartas (zugeschnitten, gespiegelt)

Wir starten mit einem schönen Bild einer Hundefreundschaft. Im Original  hat die Fotografie ein Panoramaformat. Der extrem breite Zuschnitt macht das Bild schon alleine zu einer Fotografie, die als etwas Besonderes wahrgenommen wird. Zusätzlich kommuniziert der freie Platz für die Hunde eben genau das: Freiheit und Raum zum Austoben. Konkurrenz bekommen die Helden allerdings durch einen ablenkenden Randakzent über ihren Köpfen. Randakzente, die nichts zur Bildaussage beitragen, werden beim Fotografieren oft übersehen, weil man sich auf das Zentrum mit den Bildgegenständen konzentriert. Sofern man eine Bildbearbeitungssoftware beherrscht und Retuschen nicht als ungehörigen Eingriff in die Wahrheit des Bildes ablehnt, würde ich empfehlen, solche Randakzente verschwinden

26

 Christian Palm

zu lassen. Am besten macht man das schon beim Fotografieren – aber das geht natürlich nicht immer. Schneidet man das Bild neu zu, so kann man die Hunde aus der Mitte nehmen. Dann wird zwar der Bewegungsraum kleiner, aber die beiden bekommen mehr Dynamik. Denn wie gesagt, in der Mitte platzierte Akzente sind eher statisch, weil sie meistens keinen Weg hinter und keinen vor sich haben. In diesem Bild ist der Effekt weniger stark, denn man kann die Laufrichtung der beiden Vierbeiner erkennen und durch die Körperhaltung und das bewegte Fell ergibt sich ohnehin eine gewisse Dynamik. Bild  funktioniert meiner Ansicht nach nicht gut, denn es entsteht jetzt eine starke Irritation aufgrund der Bewegung entgegen unserer Leserichtung. (Übrigens: Bewegungen von rechts nach links machen in unserer Kultur auch oft den Eindruck einer Bewegung in die Vergangenheit, von links

 Alen Ianni

 Tobias Müller

 Frank Dürrach

 Frank Dürrach (zugeschnitten, bearbeitet)

nach rechts in Richtung Zukunft.) Recht gut funktioniert der Schnitt in Bild . Nummer  zeigt, dass es »absolut richtige« Gestaltungsregeln nicht gibt. Das Bild ist schräg und unheimlich und zusätzlich irritiert es durch die Platzierung des kleinen Baumes. Dieser ist weder horizontal noch vertikal im Drittel/Viertel, sondern in Richtung Mitte verschoben. Wie erwähnt, hängt die Wirkung einer Akzentplatzierung auch vom Hintergrund ab. In Bildern mit einförmigen Hintergründen (große Flächen oder Strukturen) spielt die Platzierung eine große Rolle, weil man diese deutlich wahrnimmt. In  ist der Akzent leicht außermittig, was eigentlich zu einer Irritation (»den sollte man in die Mitte oder weiter weg schieben«) führen müsste. Im Fensterrahmen ist der Vogel aber horizontal mittig und vertikal im Drittel und wirkt wohlplatziert. Ablenkende Randakzente sind einer der größten Feinde eines guten Bildes.

 Tobias Müller (gespiegelt)

In Bild  taucht rechts am Rand noch eine etwas angeschnittene Dame auf. Außerdem weist das Chaos der Plastikwannen vor dieser eine Lücke auf und gibt den Blick auf ein gelbes Gitter frei. In der Bearbeitung  habe ich mich ganz auf die Frau im Vordergrund konzentriert, die Kontraste etwas erhöht und die Bild­ränder abgedunkelt. Die wesentliche Geschichte wird jetzt klarer: Der menschliche Körper (vor allem der Arm der Frau) wird in einen Kontrast zu der künstlichen Umgebung gesetzt. Der interessante Bruch dabei ist, dass die Tonne, die sie kauft, in der Farbe bestens zu ihr selbst und ihrer Kleidung passt. Zum Schluss sehen wir noch eine Taube, die über das Ruhrgebiet marschiert – ein Bild aus einer Fotoreportage. Beide Versionen –  und  – sind in Ordnung. Möchte man das Vögelein aber Richtung Zukunft marschieren lassen, so muss man spiegelverkehrte Texte in Kauf nehmen. 27

 Chantal Wolf

Bildelement: Akzente

Arten von Akzenten In diesem Kapitel geht es darum, die Akzentlehre zu vertiefen. Wir hatten eingangs gesagt, dass Akzente (erstens) Bildstellen sind, die (zweitens) einen Blickfang darstellen, indem sie (drittens) mit ihrer Umgebung kontrastieren. Es gibt unterschiedliche Arten, wie Akzente kontrastieren. Die stärksten »Hingucker« sind Farbakzente, Schärfeakzente und Helligkeitsakzente. Hinzu kommen Gesichter und Körperteile (insbesondere Hände) sowie Symbole, Texte und Zahlen. Das wären die fünf wichtigsten, weil stärksten Akzentarten. Diesen werde ich hier noch vier etwas weniger bedeutende hinzufügen: Form­ akzente, Perspektivenakzente, Größenakzente und Abweichungsakzente.  In diesem durch Licht, Farben und Formen reizvollen Stillleben wird der Blick durch (Un-)Schärfe gelenkt. Hintergrund und Vordergrund verlieren viel ihrer potenziellen Information, entsprechend konzentrieren wir uns zunächst auf den Schärfeakzent – den Polyeder, der als Verschluss der roten Flasche dient. Bildakzente gehören selten nur einer Gruppe von Akzenten an. Meist kontrastiert ein Blickfang durch zwei oder mehr Kriterien. Hier hebt sich der Verschluss zudem durch seine Form und die geringere Helligkeit auf seiner Unterseite ab. 29

 Antonia Lange

Akzente | Farbakzente I

 Frank Dürrach

30

Auf dieser Doppelseite geht es um Farb­ akzente. Und damit alles etwas Stil bekommt, habe ich mich dabei zuerst einmal auf rote konzentriert. Bild  ist kein großartiges Foto, erfüllt hier aber seinen Zweck, indem es geradezu prototypisch zeigt, wie (und dass) Farbakzente funktionieren. Hier liegen einige alte Spielsteine auf einem liegenden Bildschirm als Hintergrund. Wenn es um Akzente geht, würde ich an dieser Stelle ein kleines, aber nicht einfaches Spiel anregen: »Liebe Leserinnen und Leser, versucht euch selbst zu beobachten, wie ihr ein Bild anschaut.« Es ist klar, dass man dabei etwas die Unbefangenheit verliert, aber oft lässt sich unmittelbar nach dem ersten Blick schon rekonstruieren, was einen zuerst angezogen hat. In diesem Bild dürfte es in den meisten Fällen der einzige rote Stein gewesen sein. Er ist anders und das macht ihn interessant. Wer zuerst auf den Stein mit

 Sven Philipp

 Kary Barthelmey

den vier Ausgängen (links oben) geblickt hat oder auf einen der Steine mit einer halben oder gar keiner Welle (rechts unten) – nun, hier gilt natürlich dasselbe. Auch diese kontrastieren durch Andersartigkeit und sind daher »informativ«. Farben sind sicher das bekannteste und eines der stärksten Mittel, Gegenstände oder bestimmte Bereiche in Fotografien hervorzuheben. In Bild  sind die Schuhe nicht nur ein Hingucker, sondern diese Hervorhebung markiert auch (anders als in dem ersten Bild) einen inhaltlich wichtigen Bildgegenstand. Das schrille Rot der hochhackigen Schuhe, die nackten Unterschenkel, das gelbe Kleid kennzeichnen eine aufreizend gekleidete Frau. Im Verein mit dem Pflaster und der Beleuchtung eines Autoscheinwerfers würde man vielleicht sagen, es geht um Erotik – sei es

 Annika Rabenschlag

 Annika Rabenschlag

 Horst Mumper

gegen Bezahlung oder als Spiel oder nur so. Dazu passt auch der Schnappschuss­ charakter des Bildes (es ist schief, unscharf und hat einen ungewöhnlichen Schnitt). Übrigens wird durch das flache Licht auch das Blatt auf dem grauen Pflaster zu einem kleinen Farbakzent. Interessant ist auch die Kutte auf der roten Wand . Sie ist hier der Blickfang, obwohl sie doch farblich ungleich blasser ist als die Wand. Das heißt, Farbe wird nicht automatisch zum Akzent, sondern ihr abweichender Charakter. In einer knallbunten Umgebung wird Grau zum Akzent. Die Wand wiederum ist für einen Akzent zu groß; sie ist eine Fläche (und Flächen sind keine Akzente, denn sie funktionieren ganz anders als diese). Das witzig inszenierte Bild  gibt Rätsel auf: Warum das Tuch und wer hat geküsst und selbiges mit einem Mund versehen? Der rote BH lässt sich als Summenakzent wohl in die Körbchen

 Holger Klöter

und das Schleifchen zerlegen. Aber das kommt darauf an, wie genau man guckt. Ein schönes Spiel mit Akzenten sind die Bilder  und . Der Apfel ist oben zunächst ein Formakzent (siehe unten), der zweite Apfel musste gestrichen werden, weil er ja seltsamerweise weiß war, und ist jetzt zudem ein Farbakzent. Eine böse und geniale Parodie auf das berühmte Bild eines von Terroristen Entführten von 1977 ist : Hier wird auf einmal Weihnachten daraus, der RAF-Stern mutiert und die Texttafel wird zu einem Geschenk. Der Gesichtsausdruck sagt: Auch Weihnachtsterror macht unfroh. Im letzten Bild  gibt es viele unterschiedliche Akzente: Die Gesichter und die Hände ziehen den Blick stark an. Zusätzlich akzentuieren Rot und Magenta noch die Lippen, die Blume und den Bären. Bär, Blume, Kleid und Zöpfe lassen eigentlich ein unbeschwertes Kinderbild erwarten ... eigentlich! 31

 Snezhana von Büdingen

Akzente | Farbakzente II

 Julika Hardegen

32

Die Bilder dieser Seite haben alle einen etwas surrealen Touch – und Farbakzente. Zunächst erwartet uns am Ende eines eher schmucklosen Korridors eine goldene Darstellung  des drachentötenden Heiligen Georg. Alles weist auf diesen auch farblich abgehobenen Akzent: die Zentralperspektive, der starke Kontrast des dämm­ rigen Flurs zur erleuchteten Skulptur, der warmgoldene Glanz gegen die eher grauen Wände. So prachtvoll ist der Heilige, dass sein Licht weit in den Gang hineinstrahlt. Trotz der großen Distanz beherrscht das Kunstwerk die Szene – das wäre für mich auch die Idee dieses Bildes, denn schließlich hätte man auch eine Nahaufnahme machen können. Der Reiz liegt aber gerade in dem großen Abstand und der trotzdem spürbaren Kraft der Skulptur. Bild  nenne ich »Die unheimliche Gasse«, weil die Damengruppe irgendwie so wirkt, als traue sie sich nicht hin-

 Frank Dürrach

 Manuel Koch

ein. Der rote Farbakzent der Maastrichter Kirche korrespondiert mit dem Kleid der rechten Frau. Das ist für die seltsame Stimmung im Bild förderlich, denn es betont bei aller Distanz doch, dass die Gruppe eigentlich zu der Tür gehen sollte. (Übrigens: In meinen Handyfotos hebe ich durch die Schiefstellung oft das autonome, von der »Realität« abgelöste der Bilder hervor. In diesem Fall fände ich das Bild mit geradem Horizont wohl besser – habe ich aber nicht gemacht.) Das stilistisch starke Bild  lebt unter anderem von dem großen Kontrast seiner hellen Cyanfärbung zu den rotbraunen, roten und weinroten Bildteilen. Das Einschussloch über dem Wangenknochen ist nicht zu übersehen – eine inhaltliche Akzentuierung durch Farbe. Vollends surreal wirken die eigentlich banalen Gießkannen . Ihre grüne Farbe wird durch die schwarzweiße Umgebung intensiviert. Die vier Gießkannen

 Peter Joester

 Anne Barth

 Tuba Ay

kann man schwerlich zu einem Gruppenakzent zusammenfassen, denn sie sind durch die Lage, den Abstand und die Aufkleber zu verschieden. Man fragt sich, was für ein seltsamer, nächtlicher (?) Laden diese Produkte wohl präsentiert. Farbakzenten kann man sich kaum entziehen. Sie betonen oft inhaltlich wichtige Bildteile. Nun kurz zu Ess- und Trinkbarem. Eine sehr gelungene Umsetzung niederländischer Stilllebenmalerei des 17. Jahrhunderts in die zeitgenössische Fotografie ist dieses Arrangement . Das Gemüse ist nunmehr aber nicht kunstvoll-beiläufig auf einem Tisch angerichtet, sondern hängt direkt vom Faden ins Bild. Es wird also verraten, dass hier eine exakt komponierende Hand am Werk war, die die Positionen genau nach ihrer Wirkung festgelegt hat. Die pflanzlichen Zutaten,

 Zuzana Gajdosikova

der hölzerne Rahmen und der dunkle, aber strukturierte Hintergrund sind aber klassisch. Wie in den Vorbildern finden sich kleine Geschichten, etwa die Form der Karotten (der Hauptakzent) oder die heruntergefallene Cocktailtomate. Die sehr souverän im Studio fotografierten »Drinks« lassen sich wegen der unterschiedlichen Farben nicht zusammenfassen . Anders ist das bei Gemüse und Obst dieser »Food Photography« . Man schaut eher nicht die neun Gegenstände einzeln an, sondern die drei Gruppen. Einen »umgekehrten« Farbakzent enthält das letzte Bild . Das blasse »Spiegelei« hebt sich vom roten Untergrund ab und wird zum Akzent. Darin wiederum fällt das »Eigelb« ins Auge. Das Bild stammt aus einer Serie, die tierische Lebensmittel mit rein vegenen Produkten umsetzt – hier mittels Blumenkohl und Zitrone. 33

 David Henselder

Akzente | Schärfeakzente I

 Christian Palm

34

Indem man den Fokus (die Bildschärfe) auf bestimmte Bildbereiche legt, kann man akzentuieren. Je unschärfer das übrige Bild, desto stärker die Akzentuierung. Bild  ist eine recht gute Veranschaulichung dieser bekannten Tatsache. Der Fotograf hat den Fokus hier auf den Steg der Geige gelegt – bei einem Musikerinnenporträt schon etwas ungewöhnlich. Aber das macht den Reiz des Bildes aus oder besser: einen der Reize, denn das Bild lebt von interessanten Kontrasten. Die Geige ist nah, die Musikerin eher fern; das Instrument wird uns statisch entgegengehalten, während der Kopf in einer Drehbewegung ist; von links kommt warmes Kunstlicht, von rechts eher Tageslicht. Der hautfarbene Hintergrund macht das Bild sehr ruhig und betont die Bildteile, die eben nicht hautfarben sind, nämlich Haare, Mund, Auge sowie die polierte Geige.

 Klaus Dyba

 Corinna Granich

Das Kinderporträt hat einen ganz ähnlichen Aufbau . Hier bleibt das Gesicht ebenfalls immer noch ein wichtiger Blickfang, obwohl durch die Fokussierung die Hände damit durchaus konkurrieren können. Ich vermute stark, dass das die Geste von Spider-Man ist, wie er sein Netz verschießt. Auf jeden Fall werden hier die Hände zu Akzenten. Wegen der Schärfe und Nähe (Größe) schauen viele sogar die einzelnen Finger an, meine ich. Und natürlich zieht auch der entschlossene Blick des Nachwuchshelden den unseren auf sich. Ganz klassisch kommt das Hundeporträt  daher, denn der Fokus liegt auf den Augen (hier vor allem auf dem linken). Die Schnauze ist derart lang, dass die Nase schon wieder unscharf ist. Das Bild stammt aus einer Serie namens »City Dogs« und der Hauptdarsteller wirkt nicht ganz so selbstbewusst wie Spider-Man. Die starke Unschärfe des Hin-

 Maya Claussen

tergrunds ist hier überaus wichtig, sonst würde der Text völlig dominieren. Buchstaben sind informativ, daher für uns Betrachtende immer von hohem Reiz; diese sind sogar noch leuchtend und bunt. Den Hintergrund nehmen wir natürlich wahr und schauen auch auf die Lichter und Buchstaben. Aber so kommen wir immer wieder auf den scheuen Blick des Hundes zurück, der sich offenbar mit dem verwirrenden Treiben des sündigen »Vegas« konfrontiert sieht. Auf die Spitze getrieben ist die Herstellung eines Akzents durch Bildschärfe in Nummer . Nur noch das Auge des Plakates zählt, der Rest ist von der Jalousie abgedeckt. Und diese ist so unscharf, dass sie zu einer nur noch angedeuteten Struktur wird. Auch mit den beiden reizvoll ineinander verlaufenden Farben geht das Bild sehr weit in die Abstraktion. Umso mehr hebt sich der Blick eines Menschen davon ab, auch wenn es

 Carsten Nichte

hier nur der eines Bildes ist. Wir blicken durch die Jalousie und es wird scheinbar zurückgeschaut. Bild  arbeitet ähnlich wie Bild . Das Straßenfoto eines älteren Mannes in Indien ist sehr eindringlich, das ausdrucksvolle Gesicht, die Kopfbedeckung, der Bart und – vor allem – das blaue Auge rechts mit den Äderchen sind in allen Details zu erkennen. Der Hintergrund lenkt nicht ab, wir erkennen nur noch schwach ein Bein in kurzer Hose. So wird das Auge geradezu zu einem Teil, der als Symbol für das Ganze steht: schön, aber vom Leben gezeichnet. Wieder umgekehrt ist der Fokus bei dem inszenierten Porträt . Thematisch aber arbeitet es ähnlich. Hier werden nun die Kratzer auf der Scheibe zu einem Sinnbild für das, was das Leben so anstellt. Es bleibt ein ruhiges, gelassenes Porträt – das sagt die Haltung der Frau; gleichzeitig erzeugt das Glas Distanz. 35

 Cord Richert

Akzente | Schärfeakzente II

 Corinna Granich

36

 Andrea Dummer

Wie die beiden vorangegangenen Seiten gezeigt haben, kann Tiefenunschärfe Akzente beseitigen oder schwächen. Umgekehrt führt die Konzentration der Bildschärfe zu gesteigertem Interesse an der betreffenden Stelle, also zur Akzentuierung. In Bild  ist das gut zu sehen. Die Bildschärfe liegt auf dem beschädigten Eck, was sinnvoll ist, denn das spricht Bände über den Zustand dieses doch ziemlich heruntergekommenen Arbeitsplatzes. Das Schalt­pult und die Telefon­ anlage sind sicher auch Bildakzente, aber durch die Unschärfe nicht mehr so stark, als dass man den kaputten Bezug übersehen könnte. Bild  ist skurril. Hier lenkt aber nicht Tiefenunschärfe den Blick, sondern Bewegungsunschärfe. Die Belichtungszeit war ausreichend lang, um den Körper in seiner Bewegung verwischen zu lassen. Dadurch werden die Informationen in dem Bereich extrem reduziert; wir erken-

 Michaela Wissing

nen nur noch grob den Schnitt und die Farbe des Kleides. Neben der Hand wird vor allem der Stiefel zum Blickfang, also zum Akzent. Das rechte Bein hatte sich offenbar in der Dauer der Belichtung am wenig­sten bewegt. Auch Bewegungsunschärfe und den Blick verschleiernde Medien (wie Milchglas, Stoff oder Folie) können zur Akzentsetzung beitragen. In der Tiefenstruktur handelt es sich bei  und  um sehr ähnliche Bilder. Die meisten Menschen sind durch Bewegungsunschärfe verwischt und so werden die beiden bewegungslosen »Personen« zum wesentlichen Blickfang. Das erste Bild ist auch sonst völlig auf den Protagonisten zugeschnitten: Die Bildränder wurden abgedunkelt und die Fluchtlinien führen auf das Gesicht hin. Diese Gestaltung sagt, dass es sich bei dem Porträtierten

 Frank Dürrach

 Sylvia Mielcarek (bearbeitet)

 Sabine Tenta

um eine starke Persönlichkeit handelt, die sich aus der Masse heraushebt. Dazu passen auch die Requisiten Kopfhörer (Abschließen von der Umgebung) und Zigarette (Coolness). Die »Nike von Samothrake« im Louvre erzielt diesen Eindruck sogar ohne Kopf, denn sie steht zentral in ihrer Nische über den Häuptern der kurzlebigen Besucherinnen und Besucher, die an ihr vorbeiströmen. Arten von Unschärfe: In vielen Fotogra-

fien zu sehen ist eine geringe Tiefenschärfe, die besonders bei offener Blende, durch Teleobjektive und im Nahbereich entsteht. Dann gibt es Verwischungen, hervorgerufen durch Bewegung der Kamera oder der Objekte beim Belichten. Schließlich kann man durch Medien wie Milchglas oder durch beschlagene Scheiben fotografieren.

Das Schaufensterbild  ist hier vor allem von Interesse, weil der Milchglaseffekt der Folie viele Akzente im Ladeninneren beseitigt oder schwächt. Es bleiben allerdings genug Blickfänge übrig. Die Fotografien vom Rummel  und  könnten kaum unterschiedlicher sein. Beim ersten Bild wurde die Kamera mitgezogen, um die lachenden Gesichter halbwegs scharf abzubilden. Der Rest geht in wilder Dynamik unter, die noch durch die diagonale Teilung des Bildes verstärkt wird. In dem großartigen Bild  ist der Junge der Hauptakzent. Er kontrastiert dunkel auf dem hellen Rechteck und hebt sich auch sonst völlig von den dynamisch-verwischten (und daher als Akzente recht schwachen) Fahrern ab. Als ob er gerade auf einem Pfad aus dem merkwürdigen Wald gekommen wäre, der den Hintergrund bildet. Auch seine Haltung ist interessant: Er sieht zu, aber der Körper ist weggedreht. 37

 Britta Strohschen

Akzente | Helligkeitsakzente I

 Christin Schnittke

Auf den folgenden beiden Seiten geht es um die dritte »starke« Akzentart: Helligkeit. Es liegt auf der Hand, dass man den Blick von Betrachterinnen und Betrachtern auf bestimmte Bildstellen konzentrieren kann, indem man diese ins Licht rückt, während der Rest in Dunkelheit versinkt. In Bild  hat das die Fotografin auf einer Minigolfanlage getan und machte diese damit trickreich zu einem unheimlichen Ort. Der Akzent selbst ist hier übrigens kein »Gegenstand« im Sinne eines Objekts, sondern reines Licht, das aus dem kleinen Tor fällt. Helligkeitsakzente können aus hellen Stellen in dunklen Bereichen bestehen oder umgekehrt aus dunklen Akzenten auf hellerem Grund. Im Grunde ist Helligkeitsregie die stärkste Methode der Akzentsetzung, denn man kann mit ihr die Information weiter

38

 Raffaele Horstmann

 Anna Louisa Belz

Bildteile fast auf null reduzieren – nämlich wenn diese schwarz oder weiß ohne Durchzeichnung werden (im Fotografenjargon als »abgesoffen« beziehungsweise »ausgefressen« bezeichnet). Ähnlich stark ist nur die Unschärfe, aber auch in komplett unscharfen Bereichen bleiben gewöhnlich ein paar wolkige Eindrücke zurück. Ziemlich radikal arbeitet Bild . Die drei dunklen Akzente »Feuerwehrmann«, »Hund« und »Bäume« befinden sich am äußersten Rand, der Rest ist die Schneedecke mit ihren dunklen Punkten. Die Akteure sind denkbar weit auseinandergerückt, aber der Mann sieht zum Hund und der Hund zu den Bäumen und so entsteht doch eine Verbindung. Wie stark Helligkeitsakzente sind, zeigt auch das ungewöhnliche Modefoto mit der »Wasserleiche«. Neben der Figur (die ein Gruppenakzent aus mehreren einzelnen Punkten von Interesse ist) wird auch das im Wasser treibende Teil links zu

 Frank Dürrach

einem starken Akzent. Beleuchtung und Motiv weisen das Bild  als stilistisch zur Trash-Fotografie gehörig aus. Der grelle Lichtkegel kommt aus Richtung der Kamera und macht den Eindruck von Autoscheinwerfern oder eines Polizeieinsatzes. Dass die Figur trotz des hellen Vordergrunds so deutlich ist, liegt an der (gut gewählten) weißen Kleidung. Visuell attraktiv ist auch der Farbverlauf des Bildes von Dunkelblau über Dunkelrot nach Mittelbraun. Die fernen Lichter spiegeln sich im Rhein und tragen zusätzlich zur Stimmung zwischen Idylle und Tatort bei. Das Nachtbild einer gewaltigen Fahrbahn  folgt in seinem Aufbau dem Minigolf-Bild. Der Reiz liegt im Spiel der Linien, Formen und strukturierten Betonflächen. Der helle, tropfenförmige Durchblick unten links wird zum Hauptakzent. Bild  wurde in einem Raum des Museums Ludwig in Köln aufgenommen – rechts der Dom und links das Rö-

 Uwe Müller

 Peter Joester

misch-Germanische Museum. Der Witz liegt nach Ansicht des Fotografen darin, dass die Glühbirne die Sicht auf den Fluchtpunkt verstellt. Diese ist ein Helligkeitsakzent und zudem ein starker Form­ akzent, dessen Rundung sich von den vielen Ecken im Bild abhebt. Ein wunderbar grafischer Schnappschuss ist das in den USA entstandene Bild  einer Straßenszene. Das Licht von rechts trifft den Herrn (und vor allem den weißen Hut) in voller Härte und schafft einen starken Kontrast zur dunklen Wand. Ebenso kontrastiert auf der inhaltlichen Ebene der elegante Hut mit der Kappe. In dem schön gestalteten Treppenhaus wird das ferne Oberlicht zum Hauptakzent . Es ist ein heller (farbloser) Punkt, der sich deutlich abhebt und auf den die spiralige Windung der Treppe hinführt. Die Neonröhren könnten der seltene Fall sein, dass auch Linien wie ein Akzent wahrgenommen werden. 39

 Sabine Tenta

Akzente | Helligkeitsakzente II

 Alen Ianni

40

Deutlich kontrastierendes Hell und Dunkel setzt in Bildern Akzente. Auch wenn dadurch nicht immer ein Akzent entsteht, markiert die Helligkeit häufig interessante und weniger interessante Bildbereiche. Völlig minimalistisch kommt Bild  daher: Allein die mittig aufgenommene Sonne durchbricht die Düsternis. Aber sie kann sich in diesem Bild nicht gegen den grauen Himmel und das spärliche schwarze Laub durchsetzen. Ein seltsame, gedrückte Stimmung entsteht. Das ist auch bei dem Blick  auf eine Fassade der Fall. Alle Fenster sind durch Jalousien oder Vorhänge unzugänglich, nur eines gibt den Blick auf eine Deckenlampe frei. Die Lampe erhellt aber für uns nichts, nur sich selbst und eben die Zimmerdecke. Unsere Position ist die eines Beobachters von der Straße aus. Ein etwas melancholisches Bild ist das. Hier wohnt (mindestens) eine Person, aber sie

 Kai Schubert

 Ulf Frohneberg

ist nicht erreichbar. Die Einfachheit des Bildes ist auch seine Poesie: das Leben der anderen ... Das Kircheninnere ist hier ebenfalls reduziert, aber sehr reizvoll eingefangen . Das stehende Bildformat betont die Höhe des Kirchenraums und sperrt gleichzeitig viel von der Möblierung aus, die sich ja meist auf Bodenhöhe befindet. Wir sehen vier Arten von Licht: den hellen Himmel durch das Glasfenster, den Schein der Lampen an der Wand und auf dem Block, die Kerzen und ihren Schein sowie schließlich das sanfte, blaue Licht, das den Wänden im Foto eine gewisse Durchzeichnung verleiht. Das Blau kontrastiert mit dem Gelb des Kunstlichts und der Kerzen. Alles ist still und eine nun abwesende Person hat einen Strauß Blumen aufgestellt. Um einen völlig anderen Ort handelt es sich gewiss bei einem Stahlwerk. Es gibt in der Serie, aus der das Bild 

 Michaela Wissing

 Carsten Nichte

 Matthias Aust

stammt, auch typische Bilder, in welchen die Funken sprühen. Hier aber bestimmen der dunkle Haken als Akzent und der Kopf des Arbeiters die Szene – auch wenn im Hintergrund das Feuer lodert. Genial grafisch ist die spätabendliche Szenerie . Dunkle und helle Flächen (darunter viele Dreiecke) wechseln einander ab, dazu kommen feine Linien. Helligkeit lenkt den Blick: Bei der Auf-

nahme oder bei der »Postproduktion« (der Nachbearbeitung in einem Bildbearbeitungsprogramm) sollte man stets eine kurze »Helligkeitskontrolle« machen. Gibt es Stellen im Bild, die inhaltlich unwichtig oder ablenkend, dabei aber heller sind als die Bereiche, um die es eigentlich geht? Falls dem so ist, sollte man das durch Lichtsetzung, Standpunktänderung, Abwarten oder Bildbearbeitung ändern.

 Alen Ianni

Der Kamerastandpunkt ist so gewählt, dass zwei Straßenlampen als helle Akzente in die schwarzen Flächen ragen, ohne jedoch viel ausrichten zu können. Thematisch aufgeladen wird das Bild durch die Elemente »Kirche«, »Haus«, »Satellitenschüssel«, »Baum«, »Stromleitung« – die Requisiten der Vorstadt.  ist eine Fotocollage aus zwei Fotografien eines Gebäudes im anthroposophischen Stil. Innen und Außen kommen hier zusammen, die Lampe ist klar der stärk­s­te Akzent. Das Bild lebt von den ungewöhnlichen Strukturen und Farben. Der Ballon  wiederum ist ein dunkler Akzent vor hellem Grund – der Sonne. Die Farbe und die sanften Verläufe machen die Stimmung aus. Im letzten Bild kontrastieren die hellen Möwen, in deren Gefieder sich das Sonnenlicht fängt, mit dem massiven Block des Hauses . Die beiden durchbrechen spielerisch die Geometrie der Fassade. 41

 Frank Dürrach

Akzente | Gesichter und Körperteile I

 Frank Dürrach

42

Weil Akzente visuell oder inhaltlich interessante Bildstellen sind, müssen Gesichter (und deren Bestandteile) fast immer zu starken Akzenten werden. Für uns Menschen gibt es nichts, was mit vergleichbarer Intensität analysiert wird wie Gesichter. Ein respektabler Teil des Gehirns der meisten Menschen ist dem Wiedererkennen von Gesichtern und der Interpretation der Mimik anderer Menschen (und einiger Tierarten) gewidmet. Ob ein Gesicht dabei in dem hier beschriebenen Sinne ein Akzent ist oder mehrere aufweist, hängt meist nur davon ab, wie groß es abgebildet ist. In der Fotografie dieser Museumsinstallation  wird jeder Kopf zu einem Akzent. Wir erfassen ihn jeweils mit einem Blick und lösen ihn bei der hier gegebenen Größe der Reproduktion wohl nicht weiter auf. Anders ist das in den Bildern  und , die einander ähnlich, aber auch

 Jenny Ahr

 Marlitt Schulz

wieder ganz unterschiedlich sind. Soweit erkennbar, werden Augen, Münder, Nasen, Ohren und andere Partien der Köpfe einzeln angeschaut.  Die Grafik rechts veranschaulicht das: Im oberen Bild sind die Gesichter der Frau und des Hündchens Akzente sowie die Hände; im unteren Bild ist die vordere Skulptur so groß dargestellt, dass die einzelnen Elemente Akzente werden. Gesichter sind also eigentlich immer Gruppenakzente (und Menschen auch). Allerdings gilt das für die meisten Gegenstände. Werden sie vergrößert, zerfallen sie entweder in Einzelakzente oder – falls sie keine Details aufweisen – werden zu Flächen. Bild  macht wegen des Realismus der Gesichter und deren Losgelöstheit vom Körper einen starken Eindruck. Die Leere des Raums steigert das noch. Dagegen setzt das Foto eines Plakats auf Effekte . Auch hier sind die Gesich-

 Klaus Dyba

 Alen Ianni

 Dieter Faustmann

ter isoliert, aber diesmal zeigen sie Grimassen, sind dramatisch beleuchtet und kontrastieren in ihrer Größe.

 Uta Konopka

Die Schaufensterpuppen irritieren durch den Realismus ihrer Details . Endlich eine reale Person. In diesem schönen Porträt machen Licht, Ort, Blick, Haltung (der Fuß), Modell und die Requisiten (der Hund) die Magie . Auch weiterhin schaut niemand in die Kamera. Der Blick nach links bei diesem eingefärbten Poolbild  passt nicht so recht zu dem Genussmoment mit der Kirsche. Auch so entsteht Spannung. Wie in Bild  die Puppen scheinen auch die beiden römischen Skulpturen in einer Beziehung zu stehen . Während der Herr  wohl den Äther nach höheren Botschaften abhört ... Einen herrlichen Shopping-Moment hat die Fotografin in diesem »Streetfoto« eingefangen . Mit der sich spiegelnden Puppe ergibt sich für die Kamera eine Dreiergruppe, deren Reiz wieder einmal in den Kontrasten liegt, die hier geboten werden. 43

 Alen Ianni

Akzente | Gesichter und Körperteile II

 Frank Dürrach

44

Dass nicht nur reale und menschliche Gesichter unsere Aufmerksamkeit fesseln, ist klar und man konnte das schon auf der vorangehenden Doppelseite sehen. Hier  ist es das projizierte Gesicht eines Roboters. Dieses beinahe menschliche Gesicht auf der Maschine zu sehen, schafft eine Irritation. Jedenfalls bis man sich an den Anblick gewöhnt haben wird. »Hundeblick« – das Wort sagt alles. Den Gesichtern vieler Haustiere kann man sich schwer entziehen . Hier ist der Kamerastandpunkt sehr klug gewählt, nämlich tief. Wir sind auf der Ebene des Hundes (sie heißt »Ivy«), was unsere Sympathie bekundet. Ein zweiter Akzent ist die Dame, die im Hintergrund unscharf, aber schön gerahmt vorbeiwischt. In diesem Kampfsport-Foto  würde ich drei Akzente annehmen: den Kopf und die beiden Füße. Durch geringere Helligkeit und ihre Form treten sie klar hervor und heben sich (etwa von dem

 Angela Graumann

 Corinna Granich

faltenreichen Anzug) klar ab. So stark kontrastieren müssten sie gar nicht, denn neben Gesichtern finden wir auch die meisten anderen Körperteile – also etwa Hände und Füße – interessant und sehenswert. Das Bild ist sehr souverän fotografiert und ebenso geschnitten. Dadurch, dass die Figur überall die Bildränder berührt, scheint sie in einer Explosion von Kraft und Bewegung geradezu den Rahmen zu sprengen. Mir gefällt auch die Spannung, die durch das große, leere Rechteck links und die L-förmige Überfülle oben und rechts entsteht. Kung-Fu Fighting! Außer Gesichtern werden auch andere Teile von Körpern oft zu Akzenten, so sie im Bild zu sehen sind. In einer schlimmen Situation befindet sich dieser Kopf . Wie das nächste Bild  stammt dieses aus einer Reportage

 Corinna Granich

 Frank Dürrach

 Frank Dürrach

über eine Manufaktur für Schaufensterpuppen. Die Fotografin hat daraus eine surreale Serie gemacht. In Gips versunken wird der Eindruck vermittelt, man sähe nur die Spitze des Eisbergs, es verberge sich also eine ganze »Person« in der Wand. Die anderen Bildgegenstände aber sind alltäglich, was heißt, dass sich niemand um das Drama kümmert. Das außergewöhnliche Gesicht steht neben banaler Normalität. Dasselbe Prinzip wirkt auch bei dem seltsamen Schlüssel­ anhänger , einem Bild mit zwei Akzenten. Eine abgetrennte Hand an einer Schnur an einem Schlüssel ist eben eine starke Verfremdung. Hinzu kommt die Geste der Hand. Auch hier hat man den Eindruck, dass sie ein Zeichen geben möchte. Vielleicht fehlt ihr ein Körper? Auf einem weiteren Roboter-Bild  gibt es zwei bis null Gesichter, je nachdem, wie man zählt. Der Roboter scheint angstvoll in eine Ecke gedrückt, ihm ge-

 Alexandra Klapperich

genüber der Schatten meines Kopfes mit Kappe. Das harte Licht dramatisiert die Szene. Der wie zum Schrei geöffnete Mund und das Fehlen von Armen kommen hinzu. Falls er Angst vor Menschen hat, ist er ganz schön schlau. Auf jeden Fall wird hier sogar der Schatten eines Kopfes im Profil zu einem (von vielen) Akzenten des Bildes. Unser Hang zur Gesichtserkennung führt dazu, dass wir sogar Gegenstände als Gesichter interpretieren. Das Internet ist voll von lustigen Beispielen. Die beiden Punkte und der Strich eines Smileys reichen aus, zahlreiche Emotionen darzustellen, und die Designer versehen alle Automobile mit werbewirksamen »Gesichtern«. Dieser rote Kasten  befand sich an einer Hauswand und scheint ein seltsames Antlitz zu zeigen. Im letzten Bild klappt das durch die vertikale Spiegelung; die Achsensymmetrie eines finsteren Gesichts entsteht . 45

 Frank Dürrach

Akzente | Text, Symbole, Zahlen I

 Verena Kara

46

 Frank Dürrach

Was kommt an informativer Qualität Gesichtern gleich? Genau: Texte, Symbole und Zahlen. Sie sind gewissermaßen Gestalt gewordene Information und dementsprechend werden sie auf jeder Fotografie zu einem starken Akzent. Niemand, der arabische Ziffern versteht, kann das erste Bild betrachten, ohne die Ziffer »13« zu lesen . Wie bitte? Ach so, sie haben natürlich schon bemerkt, dass es eine »14« ist. Und auch eine Person, die die Ziffern nicht versteht, interessiert sich dafür, weil hier ein Zeugnis menschlicher Kultur vorliegt. Die gelbe 14 dürfte in dem Bild nicht fehlen. Sie ist genauso unperfekt hingepinselt wie der fleckige rote Fassadenanstrich und passt zu dem narbigen Asphalt und dem abweisend geschlossenen Rollladen. Die eher frohen Farben bilden einen Kontrast dazu. Wörter stellen die Akzenttheorie dieses Buches scheinbar vor ein Problem. Ist ein ganzes Wort von durchschnittli-

 Sabina Mazur

cher Länge nun ein Akzent oder ist jeder Buchstabe ein Akzent? Als erfahrene Lesende lesen wir nicht mehr die Buchstaben, sondern erkennen Wörter an ihrem Buchstabenbestand. So kann man Wörter gut lesen, acuh wnen dei Bcshuteban vlilög dunachreinedr gaetern snid. Das wäre unmöglich, würde man Buchstabe für Buchstabe lesen, wie ein Kind es macht, das lesen lernt. So reichen der korrekte erste und letzte Buchstabe zur Worterkennung. Ich gehe also davon aus, dass ganze Wörter Gruppenakzente sind, die in Unterakzente zerfallen, wenn sie sehr groß werden. Diese Regel gilt aber für fast alle Akzente, sei es ein Mensch, ein Hund, ein Auto, eine Familie oder ein Handy. In Bild  dürften allerdings zahlreiche Akzente vorliegen. Einzelne kleine Flächen oder die Taubenabwehrstäbe sind interessant genug. Ich mochte an dieser Apothekenreklame, dass hier die Buchstaben – sonst oft

 Carsten Nichte

 Michaela Wissing

 Michaela Wissing

reine, flache Information – körperlich, schmutzig, leuchtend werden. Auch das etwas rätselhafte »Plus« wird zum (hier konkurrenzlosen) Akzent . In seiner schwarzweißen Einfachheit passt es zu dem Waldrand – eine Verstärkung durch Gleichklang. Buchstaben, Wörter, Zahlen und Symbole werden aufgrund ihres hohen Informa­ tionswerts immer zu Akzenten. Manchmal stehen aber auch Uhren im Gehölz . Alle Zifferblätter werden zu Akzenten, sie lassen sich wegen ihre Unterschiede und aufgrund der Zwischenräume nicht gruppieren. Sie gehörten eigentlich auf einen Bahnhof; in diesem poetischen Kunstwerk schauen nicht wir auf sie, sondern sie scheinen alle gemeinsam auf einen fernen Punkt zu blicken. Das Werk spielt übrigens auch mit der Information selbst, denn unter die-

 Sven Sester

sem Gesichtspunkt sind alle Uhren bis auf eine überflüssig. Schilder können Geschichten erzählen: Die gelb verkleidete Seite der Versicherung sieht besser in Schuss aus als die »Borngasse« mit ihren Aufklebern . Hier werden Porträt und Symbol kombiniert. Das Gegenlicht, welches sich im Haar fängt, macht das Bild visuell stark. Es stellt die Frage nach der Befindlichkeit der Porträtierten . Der Smiley-Mund wird vorgehalten wie eine kleine Maske, die eine Stimmung nur vorgibt. Nummer : Symbol und Text kombinieren sich in diesem kontrastreichen Schwarzweißbild. Der Pfeil scheint eher auf die Wand zu zeigen. Das und die Kürze des Befehls »(r)aus« erzeugen eine gewisse Heiterkeit. Zu diesem wunderbaren Straßenfoto  verkneife ich mir jeden Kommentar (weise aber doch auf den verletzten Ellenbogen rechts hin). 47

Akzente | Text, Symbole, Zahlen II

 Frank Dürrach

48

Genau wie (vermutlich) die Bar arbeitet das Bild  mit »Spezialeffekten«. So nenne ich alles, was Bildern zu besonderer visueller Attraktivität verhilft. Das können starke Farbkombinationen, Farbverläufe, aber auch reizvolle Unschärfen sein, ebenso Dynamik oder andere wirksame Bildgestaltungsideen. Das erste Bild lebt von dem Glühen der Neonreklame in der Nacht. Die Röhren und Buchstaben selbst sind dabei fast weiß, nur leicht pastellig gefärbt. Aber um die Elemente herum entstehen die kräftigen Farben, die hier in die Nacht strahlen und die Hausfassade in Varianten von Rot leuchten lassen. Die Perspektive ist die eines Besuchers, der vor dem Etablissement steht und sich fragt, ob im Inneren auch alles so strahlt und leuchtet. Völlig anders das Bild mit der Straßenszene in Lissabon . Das harte Licht und die Schwarzweißumwandlung haben ein kontrastreiches Bild im Stil der

 Edgar Olejnik

 Sebastian Eichhorn

40er Jahre ergeben. Ein Mann steht offenbar der Straßenbahn im Weg, die gerade um die Kurve gekommen ist. Dieser Weg wird durch die Linien gekennzeichnet. Das Bild ist geteilt in den dunklen Vorder- und den hellen Hintergrund. Die Schienen sind das Einzige, was vorne zu sehen ist; zum Glück werden sie vom Licht erfasst und zeigen so ganz deutlich, dass der Mann zwischen den Gleisen marschiert. Er scheint nichts zu merken oder er ist cool. Er wird in dem Bild äußerst ökonomisch wiedergegeben, so als wäre er gezeichnet und alles Überflüssige weggelassen. Nur ein Teil des Kopfes ist sichtbar, der Schatten geht quer über sein schon gealtertes Gesicht. Der ganze Rest ist nur eine große schwarze Form, lediglich ein Stück Hemd und Krawatte sind zu sehen. Zu einem starken Bildakzent werden die Nummer der Straßenbahn und ihr Zielort – den sie auch erreichen würde, wenn der Herr beiseiteträte.

 Frank Dürrach

 Monika Probst

 Frank Dürrach

Texte und Symbole reichern Bilder oft inhaltlich an, indem sie ihre Bedeutung (oder ihre Rätselhaftigkeit) einbringen und so mit anderen Bildelementen zusammenwirken. Ein schönes Detail bei Bild  ist, dass die Farbe der Zahl und der Anzüge übereinstimmt. Das stärkt den Bezug dieser Bildgegenstände zueinander. Ansonsten stehen sie eher in einem Kontrast: Dient die Zwölf eher der Ordnung, so ist der Inhalt im Spind offenbar eher dem Chaos verpflichtet. Etwas derangiert schaut die Gasmaske hervor – besser, wir schließen diese Tür wieder. Das Fragezeichen und den Mann muss man sofort in Beziehung setzen . Das ist typisch für Bilder mit klaren Akzenten, wie wir später noch sehen werden. Vielleicht ist es die Haltung, vielleicht auch der Blick, der das so zwingend macht. Der Herr weilt auf einer Ausstellungser-

 Frank Dürrach

öffnung und das Zeichen dürfte ein Werk sein. Die Kunst spielt sich hier aber im Rücken der kleinen Gruppe ab. Auch die folgenden Handyfotos spielen mit Zeichen und Text. Die beiden Schilder  kontrastieren in ihrem Blau schön vor einer Häuserfassade in Moskau. Sie scheinen sich zu widersprechen. Heiter ist das Bahnhofsbild . Den Ort habe ich gekennzeichnet, indem ich die Oberleitung mit ins Bild genommen habe. Es gibt einen sehr amtlichen Text und – wie eine grüne Unterschrift darunter – einen illegal aufgesprühten. Beide sind dem Uneingeweihten rätselhaft. Und schließlich sonnt sich eine augenlose (aber gut gestylte) Puppe  im Licht eines gewaltig vergrößerten Zeichens für eine Warenmarke. Das pfauenartige Muster im Hintergrund verstärkt die Strahlkraft dieses Zeichens noch. Das Gesicht bleibt aber leer. Ich frage mich, was in den Dekorateuren so vorgeht. 49

 Alexandra Klapperich

Akzente | Formakzente

 Alen Ianni

50

Formakzente findet man selten in Reinform. Aber vieles, was sich in Farbe, Schärfe, Helligkeit abhebt, und fast alle Symbole und Zeichen kontrastieren zusätzlich durch ihre Form mit der Umgebung. Nach den Bildern  und  musste ich recht lange suchen. Hier kontrastieren die Akzente sehr weitgehend über ihre Form. Typischer ist da Fotografie , denn hier kommen zu den Formen noch Helligkeitswerte und Farben. Der Falke, der hier auf dem glänzenden Boden fliegt , hebt sich weder farblich noch in der Schärfe von der Umgebung ab. Zugegeben, er ist ein Helligkeitsakzent, denn er ist dunkel auf hellem Grund – aber sonst könnte man die Form ja überhaupt nicht erkennen. Und man mag einwenden, dass solch ein Vogelumriss auch als Symbol gesehen werden kann. Dann wäre es also auch in

 Frank Dürrach

 Bruno Trematore

 Frank Dürrach

diesem Bild nichts geworden mit dem »reinen« Formakzent, also einem Hingucker, der ausschließlich in seiner Form kontrastiert. (Vielleicht bin ich dem ja im Bild  nähergekommen, das ich eigens zu diesem Zweck aufgenommen habe.) Wenn man den Vogel als Symbol nimmt, dann kontrastiert seine Freiheit mit den vielen Linien, die ihn wie Gitterstäbe eines Käfigs gefangen halten. In seiner Tiefenstruktur sehr ähnlich ist Bild . Hier ist der inhaltliche Reiz die Spannung zwischen dem Mann einerseits und der Ferne und dem Formalismus der Architektur andererseits. Daher könnte man wiederum sagen, dass Menschen – auch als Schattenriss – immer zum Akzent werden. Und auch hier ist ein großer Helligkeitsunterschied nötig, um den Akzent überhaupt zu definieren. Ganz verspielt und gleichzeitig streng zeigt sich das Stillleben . Es ist eines aus einer größeren Serie, die ähnlich ar-

 Manuel Koch

beitet. Das Strenge vermittelt die Anordnung, die verrät, dass hier kein zufälliges Aufeinandertreffen von Gegenständen eingefangen wurde, sondern ein sorgfältiges Arrangement vorliegt. Das Bild lässt viele Deutungen und Assoziationen zu, die Betrachtende mit einbringen können. In einer Serie wird der Inhalt durch Bezüge zwischen den Bildern dann meist eindeutiger und somit leichter lesbar. Die Bilder  und  habe ich nur als Experiment gemacht. Oben ist wohl die Kreuzform der stärkste Akzent, dann käme der gefüllte, weiße Zylinder. Beides sind sicher auch Helligkeitsakzente. Im unteren Bild ist nach meiner Ansicht die Kugel ein ziemlich reiner Formakzent. Das Stillleben aus Gläsern und einer Birne  ist eine wirklich gut gemachte Studiofotografie. Die Birne nimmt die Form der Gläser auf, hebt sich als Schatten und durch ihre Neigung und den Stil aber doch spannungsreich ab. Ein

 Edgar Olejnik

sehr guter Trick meines Kollegen Oliver Rausch beim Arrangieren von Stillleben besteht darin, sich die Gegenstände als menschliche Darsteller in einer Filmszene vorzustellen. So könnte die Idee mit der Birne, die sich vor dem gläsernen Paar verneigt, zustande gekommen sein. Genial gesehen ist das letzte Bild . Das Teleobjektiv komprimiert die Tiefe des Hafens zu einem Wald aus Masten und lässt das Kolumbus-Denkmal nicht zu klein werden. Die Farbigkeit ist reduziert und der Standpunkt sorgfältig gewählt, damit das Standbild nicht übersehen werden kann. Es ergibt sich ein satirisches Foto, in dem der Entdecker mit seinem ausgestreckten Arm die Richtung befiehlt, aber die Boote der Flotte keine Neigung zeigen, Segel zu setzen. Der Bug der vorderen Schiffe zeigt in die entgegengesetzte Richtung. Kolumbus bildet für mich hier einen Akzent, der vor allem in seiner Form kontrastiert. 51

 Alen Ianni

Akzente | Perspektivenakzente

 Pia Berger-Bügel

 Pia Berger-Bügel

Wie schon mehrfach erwähnt, sollte man Bildakzente nicht mit abgebildeten Gegenständen gleichsetzen. Denn: Werden Gegenstände und Lebewesen groß dargestellt, weisen sie gewöhnlich mehrere Akzente auf. (Es sei denn, sie waren vorher eine kleine, leere Fläche, dann werden sie einfach eine große, leere Fläche.) Ein paar Seiten weiter werden wir sehen, dass oft gerade das Fehlen eines Gegenstandes ein Akzent werden kann. Auf dieser Doppelseite finden sich Bilder mit Blickfängen, die ebenso weitgehend von »Dingen« entkoppelt sind. Fluchtpunkte und Stellen, auf die mehrere Linien zulaufen, scheinen uns meist so attraktiv, dass sie zum Akzent werden (»Perspektivenakzente«). Das Bild eines Containerhafens besticht durch seine Raumtiefe . Hier wird durch das Zusammenlaufen vieler

52

 Edgar Olejnik

Linien in einem fernen Punkt und durch die Größenabnahme der Gegenstände die Zweidimensionalität der Fotografie überwunden. Wir schauen (unter anderem) auf das Zentrum dieses zentralperspektivischen Bildes – obwohl hier nur ein dunkler Fleck zu erkennen ist. Die illusionistische Abbildung von Räumlichkeit durch perspektivische Darstellung ist eine Entdeckung der Malerei der Renaissance. Sehr gefördert wurde sie ironischerweise durch die Verwendung der Camera obscura – eines Vorläufers unserer heutigen Kameras. In unserem Hafenbild gibt es natürlich weitere Blickfänge; zum Glück sind die Texte schwer bis nicht lesbar, was ihre Anziehungskraft minimiert. So entfalten die bunten Säulen und die Container mit ihrem Kontrast zu dem tristen Himmel und dem ebensolchen Boden ihre Wirkung. Auch die Fotocollage derselben Fotografin  arbeitet mit einem tiefen Raum.

 Marvin Ruppert

 Frank Dürrach

 Alen Ianni

Diesmal ist das Zentrum aber mit einem Gegenstand ausgestattet – ein gerahmtes Stück Himmel. Die ganze Zusammenstellung ist vom Surrealismus inspiriert. In den folgenden Architekturbildern folgt unser Blick ebenfalls den in die Tiefe laufenden Linien. In dem überdachten Innenhof aus Glas und Metall  ist die Besonderheit, dass wir nicht nur auf einen Punkt gelenkt werden: Neben der Stelle, wo die drei großen Flächen zusammentreffen, scheint die vertikale Linie interessant. Das Bild hat sonst kaum akzentuierte Stellen, sondern besteht aus Linien, Flächen und Strukturen. Im nächsten Bild  sorgt die Spirale der prächtigen Treppe für die Blickführung. Wir landen unweigerlich bei der Säule am Boden, zumal diese auch hell umrandet ist. Ich schaue auch ein wenig auf die Frau mit der weißen Bluse – ein kleiner Helligkeitsakzent. Bild  zeigt, dass auch Linien unseren Blick führen

 Sabine Tenta

können, die keine Geraden sind. Bild  wiederum ist ganz konventionell und arbeitet wie seine Vorgänger. Ähnlich ist es mit der kontrastreichen Nachtaufnahme . Hier arbeiten die Linien trotz Unterbrechungen. Der helle Lichtstreifen vermag mich sogar mit um die Ecke zu nehmen: Ich folge dem Verlauf abknickend nach rechts. Die letzten beiden Bilder sind wichtig, denn sie funktionieren anders. Hier sind es keine perspektivischen Linien, die in eine Raumtiefe führen. Gleichwohl wird die Spitze des Mastes  ein Akzent, weil die Drähte auf ihn hinführen. Ganz allgemein ist es so, dass uns Stellen, wo Linien zusammenlaufen, interessant (also informativ) erscheinen. Das wird uns später noch beschäftigen. In diesem Porträt  ist die Kreuzung der Seile sogar so stark, dass sie es vermag, mit Augen, Ohren und Nase eines Schafes zu konkurrieren. 53

 Michaela Wissing

Akzente | Größenakzente

 Julia Berlin

54

Der vorletzte der weniger bedeutenden, weil eher selten vorkommenden Akzentarten ist der Größenakzent. Unter anderem durch seine Größe wird der gelbe Ballon zum stärksten Blickfang . Aber es gibt viel zu sehen auf diesem Bild. Die erdigen Farben der Landschaft lassen die bunten Ballone hervortreten. Das Gegenlicht erzeugt schwarze Schlagschatten am Boden, was wiederum die Farbwirkung intensiviert. Bild  entstammt einer größeren, völlig abstrakten Fotoserie. Die Fotografin hat dabei unterschiedlich eingefärbte Flüssigkeiten gemischt, hinzu kommen Lufteinschlüsse. Als extreme Nahaufnahmen und mit dem richtigen Licht entstanden fremdartige, aber faszinierende Miniaturwelten. Hier ist der große, dunkelrote »Planet« sicher der erste Blickfang. Vielleicht ist er auch der einzige, denn die kleinen Bläschen sind so gut verteilt, dass man sie schon als eine

 Edgar Olejnik

 Matthias Aust

Struktur betrachten könnte. Jedenfalls bietet sich kaum ein zweiter Punkt von Interesse an. Zurück aus der Mikrowelt sind wir in einer Straßenszene . Das Mädchen ist ein Helligkeitsakzent (dunkel auf hellem Grund) und ein Formakzent (menschlicher Umriss), aber sicher kontrastiert es auch in seiner (geringen) Größe mit den umgebenden Häusern. Das Bild hat viele interessante Aspekte: zum Beispiel der harte Kontrast zwischen den sonnenhellen und den schwarzschattigen Stellen; oder die horizontale Teilung des Bildes in einen unteren grauen, von Markierungen geprägten Teil und in einen oberen, der ein großer Schattenriss ist; oder etwa die Platzierung der Person in der Bildmitte, auf der Linie sowie ihre Beinhaltung. Es sieht nicht so aus, als liefe sie einfach über die Straße. Vielmehr macht (auf mich) alles den Eindruck einer Inszenierung, mit sorgfältig gesetzten Effekten.

 Frank Dürrach

 Sabine Tenta

 Frank Dürrach

Das Bild  stammt wieder aus der Serie mit dem anthroposophischen Gebäude und ist eine Fotocollage aus zwei Bildern. Einmal wird eine graue Betontreppe gezeigt, dagegen gesetzt ist der Blick in das ungewöhnlich geschnittene, rote Treppenhaus. Die unterste Lampe wird darin der stärkste Akzent. Größenakzente fndet man eher selten in Reinform. Meist kontrastieren solche Akzente zusätzlich durch andere Merkmale (wie etwa Helligkeit). Das Foto  mit den Monstern aus einem Spiel habe ich für das Buch angefertigt. Hier ist gleichzeitig ein Kontrast verwirklicht, den die Lehrenden des Bauhauses »Quantitätskontrast« nannten, also einer/eines gegen viele. Schnell erkennt man, dass die kleineren Typen sich wiederholen, also schaut man auf den großen Bösen oder auf den bösen Großen.

 Christof Jakob

Ein Blick für Details lohnt sich in der Fotografie. In  hat die Fotografin den ganz kleinen Baum gesehen, der vor einem ausgewachsenen Exemplar steht. Hoffentlich wird etwas aus ihm – ein winziger Größenakzent ist er ja schon. Das »heiter-besinnliche« Museumsbild  ist ein durch eine App recht brutal bearbeitetes Handyfoto. Es enthält viele Akzente, darunter einen Größenkontrast der verschiedenen Elemente. Zum Schluss ein sogenannter »Lucky Shot«, also ein Bild, das in einem Moment entstand, als einfach alles stimmte . Die große Möwe ist der erste Hingucker (und besteht aus Unterakzenten wie Auge, Schnabel und Beine). Ihre Position und Haltung sind perfekt. Das Blitzlicht sorgt dafür, dass sie und ihre Kolleginnen hell vor schwarzem Hintergrund erscheinen. Sehr gut ist, dass alle Formen klar zu erkennen sind, weil es kaum Überlappungen gibt. 55

 Alen Ianni (bearbeitet)

Akzente | Abweichungsakzente

 Sven Sester

Wie schon gesagt, werten wir beim Bildersehen gezielt die Stellen aus, die uns informativ und daher interessant erscheinen. Strukturen zeigen dabei eine flächendeckende Wiederholung desselben Elements und sind dementsprechend leicht zu erfassen. Interessant wird daher die Abweichung. Abweichungsakzente sind Bildstellen, an denen eine Struktur unterbrochen oder eine Erwartung unterlaufen wird. Im ersten Bild kann es etwas dauern, bis man die Abweichung bemerkt, denn die Vögel sind nicht sonderlich groß . Einer fliegt gegenläufig (jedenfalls tut er das, seit ihn Photoshop von dieser Flug­ richtung überzeugt hat). Hat man ihn erst einmal entdeckt, wird er zum Akzent – wenn auch zu einem eher schwachen. Sehr interessant ist das Dokumentarfoto  aus einer Serie über einen Herrn,

56

 Frank Dürrach

 Edgar Olejnik (bearbeitet)

 Frank Dürrach

der Glasaugen herstellt. Hier zeigt sich erneut, dass wir nicht nach Gegenständen, sondern nach Information Ausschau halten. (Auch wenn dieselbe meistens an Bildgegenstände gebunden ist.) Wie anders wäre zu erklären, dass das leere Fach der stärkste Akzent wird? Und danach folgen die in der Farbe abweichenden Augen, also etwa das braune in Zeile vier und Spalte fünf. Da Augen für uns nicht irgendein Gegenstand sind, sondern vielfach mit Erinnerungen und Emotionen besetzt, wird aus dieser Augenstruktur ein seltsames Blickmonster. So subtil wie  ist . Auch hier fehlt (nur im Bild) ein Fenster. Wenn man das entdeckt, wird die Stelle seltsam attraktiv und folglich zum Blickpunkt. In diesem Bild einer Gasse in Marrakesch sieht es so aus, als sei etwas eingeschlagen . Die regelmäßige Struktur der Pflastersteine wird durch den Einschlag (oder das Absinken) unterbrochen

 Frank Dürrach

 Julika Hardegen (bearbeitet)

und somit zum Akzent. Neben der Abweichung kontrastiert die Stelle auch in der Helligkeit und vielleicht in der Form. Das Schöne an dem Bild ist die Stille der nächtlichen Gasse, die so gar nichts mehr von dem zerstörerischen Ereignis hat. Immer eine starke Abweichung ist natürlich das Fehlen eines Gesichts . Hier machte gerade niemand von der Fotowand Gebrauch und die Hochhäuser dahinter kamen zum Vorschein. Es prallen barocke oder biedermeierliche Kostüme mit moderner Architektur aufeinander. Ein Geständnis: Das Bild von dem Eingangstor  habe ich ebenfalls manipuliert – und zwar mit Photoshop und nicht mir der Eisensäge. Ich meine, es zeigt jetzt sehr schön, wie Abweichungen vom Regelmaß zu einer informativen Stelle werden und zum Akzent. Tatsächlich finde ich das Foto mit der kleinen Bruchstelle noch besser. Schließlich hat die ganze Szene etwas von einem alten

 Ulf Frohneberg

Edgar-Wallace-Film: das herrschaftliche Tor, die schwarze Nacht, die nur durch Autoscheinwerfer erhellt wird, dazu die Schwarzweißumsetzung mit einer leichten Brauntönung. Da ist der gebrochene Gitterstab eine interessante Störung. Bild  ist ein Bildschirmfoto, das sehr gut die starke Anziehungskraft von Abweichungen zeigt. Hier in Gestalt des einen Rings, der etwas aus der Reihe tanzt. Im letzten Foto  ist natürlich das Gesicht des etwas skeptisch blickenden jungen Mannes der Hauptakzent. Mit seiner Kappe, dem Shirt und der Kette ist er ein interessanter Typ. Beinahe genauso interessant erscheint aber der Hintergrund. Ist das eine Struktur aus Stromoder Wasserzählern (die fast aussieht wie dekorative Kacheln)? Und hier wiederum zieht die eine fehlende Apparatur rechts den Blick stark an. Dahinter kommt eine wenig vertrauenerweckende Installation zum Vorschein. 57

 Jutta Holtkamp

Zusammenfassung

Akzente

Bildakzente sind Stellen, • die immer wieder oder länger den Blick der Betrachtenden anziehen, • die mit ihrer Umgebung im Bild kontrastieren • und die eher klein sind. Solche Blickfänge entstehen, weil wir keinesfalls alle Bildbereiche gleich intensiv erfassen (das wäre sehr unökonomisch), sondern nach Bereichen suchen, die uns visuell oder inhaltlich interessant erscheinen. Einteilen lassen sich die Akzente dementsprechend nach der Art, wie sie mit ihrer Umgebung kontrastieren. Kontrastiert eine Bildstelle nicht, so wird sie schlecht wahrgenommen oder sogar übersehen und ist schwerlich ein Akzent (seltene Ausnahmen gibt es). Dabei sollte aber klar sein, dass ein und derselbe Bildakzent gewöhnlich in mehrere Kategorien passt, da er sich typischerweise auf mehrere Arten abhebt. So wäre zum Beispiel eine rote »7« auf einer weißen Wand ein Farbakzent, ein Formakzent und eine Ziffer. Die hier unterschiedenen Kategorien sind die folgenden: • Farbakzente: die bekannteste Akzentart, nämlich die Hervorhebung durch Abweichung eines Punktes von seiner Umgebung durch seine Farbigkeit und/oder Sättigung.

• Schärfeakzente: das Herausstellen durch Tiefen(un)schärfe, Bewegungsunschärfe, Milchglas (und Ähnliches); kann sehr stark wirken. • Helligkeitsakzente: Betonung durch Licht oder Dunkelheit; gegebenenfalls auch sehr stark. • Gesichter und Körperteile, da sie für uns gewöhnlich interessant sind. • Symbole, Text, Zahlen, weil sie sehr informativ sind – besonders dann, wenn man sie lesen kann. • Formakzente: die Akzentuierung durch Abweichung in der Form; tritt meist in Kombination mit anderen Kontrastarten auf. • Perspektivenakzente: Fluchtpunkte und zusammenlaufende Linien. • Größenakzente: Sie treten ebenfalls selten in »Reinform« auf. • Abweichungsakzente. Aufräumen: Eine solche Einteilung soll in diesem Buch keinesfalls dazu dienen, Fotografien in Schubladen einsortieren zu können oder die Magie der Bilder zu zerstören. Es geht vielmehr darum, • wie man Bildstellen hervorhebt, die für Aussage und Stimmung in einem Bild erwünscht sind, • und wie man ablenkende Bildakzente, die Inhalt oder Stimmung stören, erkennt und vermeidet. 59

 Carsten Nichte

Bildmodell

Einakzenter Ein Bild mit genau einem Akzent ist so etwas wie »der Aussagesatz der Fotografie«. Der Akzent ist hier der Star des Bildes: Er beherrscht die Bühne und dementsprechend hängt viel von seiner Qualität ab – und natürlich auch einiges davon, wie diese Bühne gestaltet ist. Einakzenter sind klar, gut erfassbar und das Bildmodell ist für Porträt-, Produkt- und Reportagefotografie von herausragender Bedeutung. Auf der anderen Seite sollte man einen Fotoabend im Kreis seiner Lieben möglichst nicht mit 150 Einakzentern bestreiten, denn das könnte etwas langweilig werden. Es sei denn, man hat in punc­ to visueller Kraft bei den Bilder wirklich viele gute Einfälle gehabt.  In diesem inszenierten Bild zeigt der Fotograf wenig und lässt daher der Fantasie des Publikums großen Raum. Was ist das für eine Umgebung? Ein Sanatorium? Ist es intakt (wie die frische Wandfarbe nahelegt) oder verlassen (siehe die schmutzigen Böden)? Was macht die Barfüßige hier? Sie ist die »Störung« im Bild, denn die nackten Füße, das Kleid und die Diagonale des Beins stehen in Kontrast zur Umgebung. Weitere Hinweise gäben die anderen Bilder der Serie. (Das Bild passt übrigens auch in ein später noch behandeltes Bildmodell, denn es hat einen »blassen Akzent«.) 61

 Frauke Stärk

Einakzenter | Klarheit und Konzentration

 Joshua Hoffmann

62

 Volker Plein

Wir starten mit einer Reihe von Tierbildern – ich rechne Miss Piggy mal großzügig dazu. Bilder bestehen aus den Elementen Akzent, Linie und Fläche. In  dominieren Flächen und Linien auf Kosten unseres Hauptdarstellers, der sehr verloren wirkt. Das Äffchen ist klein, eher am Rand, ganz weit entfernt, die leere blassgrüne Fläche im Vordergrund schafft viel Distanz, das große Quadrat aus Lochblech steigert noch das Künstliche dieses Tiergeheges. Die Einfarbigkeit betont die Monotonie. Am Schnittpunkt – und Tiefpunkt – der Linien sitzt der Einwohner und sieht aufmerksam zu uns herüber. Gerade das wirkt traurig, denn der Blick möchte anscheinend den Abstand zu uns überwinden. In diesem scheinbar einfachen Einakzenter lenkt nichts von dieser starken Bildaussage ab. Was für ein Kontrast hingegen, wenn Piggy (als Bonbonspender) auf der Bühne unter ihren Scheinwerfer tritt . Eine

 Britta Bartel

Harmonie in rosa Verläufen, durchbrochen nur von den großen blauen Augen und dem blonden Haar. Die Figur ist mittig, groß und dominiert die Szene. Auch hier ist sehr viel getan, um das Bild stark zu machen, nur eben in Richtung auf Präsenz des Stars statt auf Marginalisierung wie im Bild vorher. Würde das Bild größer dargestellt, entstünden aus dem Gruppenakzent »Gesicht« einzelne Unterakzente wie Mund oder Nase. Die Stärke von Bildern mit einem Akzent liegt in ihrer Klarheit und Einfachheit. Die Art des Akzents und die Mittel der Bildgestaltung sind dabei sehr wichtig. Bei dem Gorilla im Käfig  spielen Linien eine Hauptrolle. Sie laufen leicht schräg vertikal und kontrastieren mit dem Körper, der eher horizontal liegt, etwa 90 Grad gedreht zu diesem. Auch hier wird so der Eindruck einer unpassenden, et-

 Sabine Tenta

 Ulf Frohneberg

was unnatürlichen Umgebung durch die Bildgestaltung verstärkt. Das Taubenbild  ist als Einakzenter ein Kuriosum, schließlich sind 19 Tauben zu sehen – wenn man die Köpfe zählt. Ich würde jedoch die Tiefenstruktur des Bildes mit »ein Akzent und eine Struktur dahinter« benennen. Es ist aber klar, dass man auch jede einzelne Taube anschaut, wenn das Bild groß gezeigt wird und man Zeit hat. Die Fotografin hat den Moment durch den Blitz mit seiner kurzen Belichtungszeit genial eingefangen. Wenn man es abstrakt sieht, ist das witzige Schachbild  ganz ähnlich. Die Figuren würde ich mal als Flächen betrachten, das »echte« Pferdchen ist der dominierende Akzent. Beim Einakzenter muss man sich für ein gutes Bild etwas ins Zeug legen. Das Licht, die Verzerrung (durch ein spezielles Objektiv oder Photoshop), der Fokus auf dem vorwitzigen Pferd, die Linie, die in die Tiefe führt: All

 Markus Schüller

 Frank Dürrach

diese Elemente machen das Bild zu einem sehr gut gestalteten Hingucker. Im Fall des Herings  besorgt das die Verfremdung durch den deplatzierten Gegenstand. Formal ist das Bild äußerst streng, denn es ist beinahe farblos; es gibt fast nur zu den Bildkanten parallel laufende Geraden, und das schön gefaltete, »gute Hemd« steht inhaltlich eher für das »Normale«, das Bürgerliche – ein subversiver Kontrast. Die Raupe wiederum ist für sich genommen einfach ein interessanter Akzent , haarig und gekrümmt, wie sie so federleicht auf dem seltsamen Untergrund liegt. Ein solcher Bildgegenstand braucht nicht viel zusätzlichen Aufwand, um ein Bild tragen zu können. Bei dem dritten Affen  könnte man davon ausgehen, dass das uns so ernsthaft anblickende Gesicht der Hauptakzent und die übereinandergelegten Hände und Füße Nebenakzente sind. 63

Einakzenter | Gestaltungsmittel und Nebenakzente

 Uwe Müller

64

Auch für Einakzenter gilt, dass Fotos für uns Menschen vor allem auf drei Ebenen attraktiv werden können: durch visuelle Kraft, interessante Informationen und ansprechende Emotionen. Das dürfte es sein, bisher sind mir noch keine weiteren Kategorien begegnet. Das klingt etwas nüchtern, aber zum Glück ist es dann doch ungeheuer vielfältig, in welcher Gestalt und Kombination diese drei auftreten können. Bild  arbeitet vor allem auf visueller und emotionaler Ebene. Der Gesichtsausdruck des jungen Mannes zeigt eine eher vieldeutige Emotion. Ich würde darin eine gewisse Sehnsucht und Hoffnung lesen. Der Blick scheint in eine unbestimmte Ferne gerichtet. Die Gestaltung des Bildes unterstützt diese gefühlsmäßige Wirkung: Das Bild ist unscharf, die Person etwas an den unteren Rand gerutscht, es ist eine Bewegung eingefangen. All das sagt (oder suggeriert) uns, dass hier niemand posiert und

 Tobias Müller

 Cord Richert

inszeniert, sondern dass ein authentischer Moment eingefangen ist. Das harte Licht beleuchtet den Jugendlichen, als stünde er auf einer Bühne. Der Hintergrund wird dadurch dunkel und wirkt kalt und leer wie der Weltraum. Völlig anders wirkt das Bild eines okkultistisch im Zimmer schwebenden Sitzmöbels . Das ist ganz offensichtlich eine inszenierte Fotografie, gleichwohl liegt auch hier die Qualität in einer schlauen Gestaltung. Durch die Hereinnahme der geöffneten Tür wird uns eine Beobachterperspektive zugewiesen – das Bild wird subjektiver und emotional stärker. Die stürzenden Linien entstehen durch das Weitwinkelobjektiv und durch die von oben blickende Kamera; sie verstärken den Eindruck einer Welt aus den Fugen und kontrastieren mit dem Stuhl. Eine seltsame Welt zeigt auch das Landschaftsfoto . Die beiden großen leeren Flächen dominieren gleichbe-

 Ian Dylewski

 Frank Dürrach

 Salima Kehr

rechtigt das Bild; alles Leben scheint verschwunden. Der Horizont ist mittig, es gibt ja auch nichts mehr zu betonen. Der minimale Schiefstand irritiert. Aber die Industriestadt arbeitet unbeirrt weiter. In der Ferne wiederholt sich das – ein Nebenakzent, der die Aussage verstärkt. Ähnlich wie im ersten Bild spielt auch in  das Licht eine wichtige Rolle; es bringt das Gefieder der lässigen Möwe zum Leuchten. Der vordere Bildteil ist sehr ruhig und reduziert, aber der Hintergrund ist ein kleines Wimmelbild. Man muss es mit der Frage, ob wirklich nur ein einziger Blickfang im Bild ist, nicht so genau nehmen. Einakzenter sind eher ruhige Bilder, die ganz überwiegend von einem einzigen Gesichtspunkt oder Bildgegenstand geprägt werden. Traumhaft wirkt der Spaziergang im Wald . Die nicht ganz passend ge-

 Joshua Hoffmann

kleidete junge Frau scheint sich ebenso aufzulösen wie die Ferne. Die poetische Einfachheit und die subtile Farbigkeit machen das Bild zu einer Art inszeniertem Gegenstück zu Bild . Hier scheint es um die Zukunft, um den Lebensweg eines Menschen zu gehen. Farblich verwandt, aber eher aus dem Bereich der Bildreportage ist das visuell starke Foto mit einem Einrad . Nur das Rad ist zu sehen, der Rest wurde geschnitten. Damit geht unsere Aufmerksamkeit von der Person auf das Spiel der Schatten, Farben und Linien über. Geprägt von Linien ist auch das Badewannenfoto . Hier wurde einiges getan, um einen gewissen Horroreffekt zu erzielen: vor allem die Reduktion der Bildschärfe auf einen Punkt (die Hand) und die grünbraune, fleckige Einfärbung des Bildes. Das alles setzt die gekrümmte Hand, den behaarten Arm und die fies geflieste Umgebung bestens in Szene. 65

Galerie: Einakzenter

Inhalt, Aussehen und Platzierung des Akzents spielen in diesem Bildmodell natürlich eine tragende Rolle – schließlich dient das Bild hier häufig diesem einen Punkt, der den Blick lange und immer wieder anzieht. Hinzu kommt das Zusammenspiel mit der Umgebung des Akzents, die immer aus glatten () oder strukturierten () Flächen und Linien besteht. Viele Akzente werden durch die umgebende Szenerie gestalterisch und erzählerisch unterstützt (); visuell herausragende Akzente kommen auch ohne aus ().

 Tobias Müller   Volker Plein  Britta Strohschen

 Edgar Olejnik  Edgar Olejnik  Maya Claussen  Ulf Frohneberg

 Frank Dürrach

 Ian Dylewski  Kary Barthelmey

 Maya Claussen

Zusammenfassung

Einakzenter Bilder mit genau einem starken Akzent sind häufig anzutreffen und werden daher hier als Bildmodell vorgestellt. Auf einer Fotografie nach diesem Modell sollte sich nur ein Hauptakzent befinden. Gibt es mehr als einen wichtigen Blickfang, ist das nicht negativ, nur liegt dann halt ein anderes Bildmodell vor (zum Beispiel ein »Zweiakzenter«). Wie ist die Wirkung? Einakzentige Bilder werden oft als klar, ruhig und deutlich empfunden. Sie sind eher feststellend als erzählerisch – besonders wenn man sie mit Modellen wie »Zweiakzenter« oder »Vielschichtigkeit« vergleicht (siehe unten). Das Bildmodell wird oft in der Porträt- und in der Produktfotografie verwendet – das ist naheliegend. Auch in der Reportage wird so die Aufmerksamkeit auf einen wichtigen Gegenstand gelenkt. Die Kehrseite der ruhigen Bildwirkung ist, dass Einakzenter schnell langweilen können. Es empfiehlt sich im Normalfall auch nicht, ganze Fotoserien aus Einakzentern bestehen zu lassen; diese sind einfach zu schnell erfassbar. Und sie zwingen Betrachtende, genau das zu sehen, was die Fotografin oder der Fotograf im Sinn hatte. Auf die Dauer beschränkt man damit zu sehr den Freiraum seines Publikums, was Ärger geben kann.

Was macht einen guten »Einer« aus? • Der Akzent ist sehr prominent in diesem Bildmodell; auf ihn bezieht sich hier gewöhnlich der Bildinhalt. Da ist es nicht schädlich, wenn er für die Betrachter von einem gewissen inhaltlichen Interesse ist. Visuelle Qualitäten (Form, Farbe) helfen ebenso. • Der Lage des Akzents kommt eine große Bedeutung zu. Mittig platzierte Akzente verstärken die Ruhe und die schnelle Erfassbarkeit noch; man sollte sich immer fragen, ob das tatsächlich zum Bild­inhalt passt. • Nebenakzente – das sind optisch unscheinbare, den Hauptakzent wiederholende oder inhaltlich weniger interessante Akzente – können das Bild auflockern. Man sollte sich aber immer überlegen, ob andere Bildstellen, die ebenfalls Aufmerksamkeit auf sich ziehen, die Bildaussage stärken oder ob sie störend sind. • Der restliche Bildraum ist beim Ein­ akzenter stets mit glatten oder strukturgefüllten Flächen sowie mit Linien besetzt. Verstärken diese durch Gleichklang oder durch Kontrastierung die Aussage? Was tragen Farben und Formen bei, hat das Bild eine schöne Unschärfe, gibt es eine Staffelung in die Tiefe (»Vordergrund macht Bild gesund«)? 69

 Volker Plein

Bildmodell

Zweiakzenter Begegnen sich zwei dominierende Akzente in einem Foto, dann bestimmen sie das inhaltliche Geschehen. Akzente werden von Betrachtern fast immer zueinander in Beziehung gesetzt – man kann sich dem kaum entziehen. Daher sind zweiakzentige Bilder oft lebendig, witzig, interessant und erzählerisch. Und sie stellen damit ein Bildmodell dar, das unerschöpfliche Varianten produzieren kann. Deshalb findet man diesen Prototyp in allen Genres, etwa in der Fotokunst, der Werbung, der Straßenfotografie und natürlich in Fotoreportagen.  Hier ein Kollege von Miss Piggy, denn das Bild stammt ebenfalls aus der Serie mit PEZ-Spendern (siehe oben). Der Dino hat wohl auf vegetarisch umgestellt, denn die Freude über den Apfel ist ihm ins Gesicht geschrieben. Den Apfel umhüllt der Schein eines begehrten Guts, er hängt bestimmt in Nachbars Garten. Aber es gibt eine andere Lesart, denn es könnte alles auch eine Falle sein und der Zaun ein Käfig und der Apfel am Strick der Köder. Denkt man so, dann wirkt das Grinsen plötzlich naiv und der Held marschiert blind ins Unglück. Wie gesagt: Zweiakzenter sind erzählerisch.

71

 Marvin Ruppert

Zweiakzenter | Erzählerische Fotografien

 Jennifer Wolf

72

Akzente sind bekanntlich visuell attraktive Bildstellen. Wenn sie zudem inhaltlich interessant – also informativ – sind, dann tragen sie wesentlich zum Inhalt des Bildes bei. Ganz wie im richtigen Leben wird die Sache besonders interessant, wenn zwei sich begegnen. Dann stellen wir als Betrachter nämlich nahezu immer eine Verbindung zwischen diesen beiden Akzenten her. Klären wir die Grundlagen anhand einiger Bilder, in denen fliegendes Personal eine tragende Rolle spielt. Das erste Bild kommt so einfach daher, dass es geradezu der Prototyp unseres Bildmodells sein könnte : ein unscheinbarer Hintergrund, ein Flugzeug und ein Vogel. Aber interessant ist es doch, schließlich sehen wir am Boden Gebliebene eine ferne Begegnung am Himmel. Vogel und Flugzeug sind zum Verwechseln ähnlich geworden, denn im Gegenlicht erscheinen sie schwarz und durch die unterschiedliche Entfernung

 Britta Bartel

sind sie ähnlich groß. Das macht den Reiz aus: Die seltsame Gleichheit führt Unterschiede und Gemeinsamkeiten vor Augen. Solch einfache Bilder mit einem gewissen Tiefgang werden als poetisch empfunden. Mehr im komischen Genre spielt die Taube, die offenbar nichts auf Vorschriften gibt , und ebenso das Pferd, das vor dem kleinen, ganz unbeteiligt vorüberfliegenden Hubschrauber scheut . Typisch, denn sehr viele witzige Bilder sind zweiakzentig. Der Witz besteht oft in der Konfrontation zweier unpassender Elemente (die Taube kann nicht lesen, das Pferd flieht nicht, es ist ein Standbild). Spaßig wird es auch, wenn ein Akzent eine Parodie des anderen darstellt. Besteht in einem Bild zu große Ähnlichkeit zwischen den Akzenten, so entfaltet sich zwischen ihnen eher keine Geschichte . Das Foto mit den Tauben ist dank des hervorragend eingefangenen

 Tobias Müller

Moments trotzdem sehenswert. Es besteht keine Spannung zwischen Akzenten, sondern es kommt zu einer Verstärkung durch Wiederholung, denn beide Tauben blicken ganz ähnlich ins Blitzlicht. Bilder mit zwei Akzenten sind häufig sehr lebendig und erzählerisch. Recht lustig ist auch der Auftritt des Pfaus . Eine gewisse Komik erschließt sich sofort, aber wenn man genauer überlegt, merkt man: Sie entsteht auf den verschiedensten Ebenen. Der Pfau scheint für die Kamera des Mannes zu posieren, ganz der »eitle« Vogel. Die Familie würde ich insgesamt als den zweiten Akzent sehen, auch wenn das eigentlich nicht stimmt. Schließlich ist der Mann voll aufs Display konzentriert, das Kind interessiert sich offenbar gar nicht für Pfauenräder und die Frau schaut leicht genervt. Die Erwartungen an eine Gruppe, der

 Anja Grauenhorst

so ein Schauspiel geboten wird, werden also unterlaufen – keine beeindruckten Gesichter. Vielleicht wären ja wir als Betrachterinnen und Betrachter des Fotos interessiert, aber wir bekommen nur die Rückseite geboten. Was auch wieder einen absurden Effekt hat, zumal dieses Hinterteil dank Weitwinkelobjektiv fast das ganze Bild einnimmt, während die Menschen zu kleinen Randexistenzen geworden sind. Hier ist gut erkennbar, dass man es mit der Akzenttheorie nicht akribisch genau nehmen sollte, will man sich nicht selbst beschränken. Das Bild funktioniert trefflich als ein Zweiakzenter aus »Pfau« und »Familie«. Würde man ein Eyetracking vornehmen, könnte man feststellen, dass der Summenakzent »Familie« in »Frau«, »Mann«, »Kind« zerfällt, die alle einzeln den Blick anziehen. Das macht das Bild interessanter, tut aber der logischen zweiakzentigen Grundstruktur keinen Abbruch. 73

Zweiakzenter | Kontraste und Wiederholungen

 Vildan

74

Im Idealfall kontrastieren die beiden Akzente stark, sind aber visuell in einzelnen Eigenschaften verbunden. Im ersten Foto sind die Hauptakzente die beiden Köpfe. Beide unterscheiden sich deutlich, sind aber visuell durch die Sonnenbrille verbunden . Mit dem Bild von Taube und Schild hatten wir schon ein Akzentpaar nach dem Muster »unpassend«. Hier ein Beispiel für »Parodie« . Die beiden Personen weisen zahlreiche Unterschiede auf wie: elegant – schluffig, groß – klein, oben – unten, Abbild – real, cool – konzentriert, schwarz – weiß. Gleichzeitig sind sie auf mehrere Arten verklammert: etwa durch die Farbe der Tasche und des Mantels, durch ihre Hüte sowie durch ihre Ausrichtung nach rechts und die Platzierung auf den Enden einer Bilddiagonalen. Solch eine Mixtur aus Ähnlichkeiten und Unterschieden schafft bei Betrachtenden

 Manuel Koch

 Monika Probst

Spannung und beschäftigt das Denken. In der »Street Photography« kann man Glück immer gebrauchen; hier besteht es natürlich darin, dass beide telefonieren. Miteinander? Das geht natürlich nicht, denn der Mann ist ja nur ein Plakat. Auf semantischer (inhaltlicher) Ebene sehr ähnlich aufgebaut ist dieser  Schnappschuss aus einem Kölner Museum. Der eine muss leiden und wird in einem dramatischen Licht präsentiert, Besuchern wird dagegen ein bequemes Hockerchen hingestellt. Die Farbe verbindet wieder beide Objekte, das kunstvolle, hohe, religiöse, mit dem simplen, niederen, profanen. Das können in diesem Bild nur wir sehen, denn durch die Wand »ahnen« beide nichts voneinander. Genau, Zweiakzenter sind erzählerisch, dabei bringen Betrachter ihre Fantasie (sofern vorhanden) mit ein. In diesem brillant inszenierten Foto  haben wir streng genommen erneut mehr

 Maya Claussen

als zwei Akzente, das Notausgangsschild ist ein kleiner, aber unbedeutender Hingucker und – vor allem – das Paar kann man eigentlich nicht gruppieren. Dafür ist das Verhalten zu unterschiedlich, sie teilen nicht die »gleiche Geschichte«, denn er blickt nicht auf die Leinwand. Ich möchte aber hier keine komplizierten Erweiterungen der Akzentlehre vornehmen, nur damit die Theorie möglichst fehlerfrei (aber unpraktikabel) wird. Wie bei der Familie im Pfauenbild denke ich einfach, dass hier links ein Mann im Kino sitzt und dazu ein Paar – also zwei Akzente. Das Paar kann man aber weiter auflösen, was sich – wie bei der Familie – hier auch lohnt. Das jedoch ist normal für Akzente, das kann man zum Beispiel auch bei unserem Dressman in Bild  machen, denn man schaut sicherlich gesondert auf Hut, Brille, Krawatte und so weiter. Im Fall unserer Kinoszene ergibt sich passenderweise eine Art

 Frank Dürrach

Film in einem Bild. Warum beobachtet der eine Mann den Ahnungslosen zwei Reihen davor? Was ist die Vorgeschichte, was passiert als Nächstes? Typisch Kino: Wir werden als Zeugen in das Geschehen verstrickt, welches einige der Akteure gar nicht bemerken. Worum mag es gehen? Begehren, Eifersucht? Beides ist konfliktträchtig. Eindeutiger ist die Situation im Aquarium . Das Bild lebt nicht von der Spannung seiner Fabel, sondern von Gegensätzen, die sich im Bild finden. Auf der sichtbaren Ebene wären das etwa hell – dunkel, oben – unten, scharf – unscharf, Einzelner – Gruppe oder Rückenansicht – Seitenansicht. All das arbeitet der Bildaussage zu: Eine Gruppe älterer Japanerinnen ist fasziniert von der Dynamik und Lebenskraft eines Thunfischs. Die Verbindung wird hier durch die Blicke der mittleren beiden Damen hergestellt, die zum Fisch aufsehen. 75

Zweiakzenter | Gruppenakzente und Strukturen

 Alen Ianni

76

Das Bildmodell funktioniert mit zwei Einzelakzenten. Akzente können aber auch durch Gruppenakzente oder Strukturen vertreten werden. »Der Anführer der Marienkäfer spricht zum Volk.« Ein wunderbar minimalistisches Bild , das punktet, weil es erzählerisch ist und mit fotografischen Qualitäten aufwartet: kräftiges Rot und Schwarz auf lichtem Weiß, eine schöne Unschärfe mit Fokus auf dem Oberkäfer, ein Quantitätskontrast (einer gegen viele). Gut ist, dass das Treffen nicht auf einer Ebene stattfindet, sondern auf einem irgendwie hügeligen Untergrund. Die Masse ist auf den Einen ausgerichtet, nur ein Käfer im Vordergrund schaut nicht hin. Für unseren Zweck ist das Bild so interessant, weil hier ja keineswegs zwei klassische Akzente aufeinandertreffen, also zwei kleinere, kontrastive Bildbereiche, die ein Blickfang sind. Nummer zwei ist durch einen

 Frank Dürrach

Gruppenakzent oder durch eine Struktur ersetzt. Zur Erinnerung: Ein Gruppenakzent ist ein Bildakzent, der sich in Unterakzente zergliedern lässt, also etwa »Paar« in »Frau« und »Mann«. Bild  arbeitet zum Beispiel mit zwei Gruppenakzenten. Im Fall unserer Käfer würde ich dazu tendieren, die Ansammlung als Struktur zu interpretieren. Hier sagt die Definition: Eine Struktur besteht aus der Wiederholung desselben Elements auf einer Fläche. Das ist im Grunde natürlich eine völlig akademische Diskussion. Gute Fotos werden eher nicht durch die möglichst akkurate Befolgung von Regeln erzeugt. Wichtig ist nur: Zweiakzentige Bilder funktionieren auf der erzählerischen Ebene mit echten Akzenten, aber auch mit Summenakzenten und Strukturflächen. Das zeigt auch das Handyfoto aus einem Moskauer Museum . Der junge Mann musste sich setzen, hat die Brille

 Holger Klöter

abgenommen und hält sich den Kopf – Akzent Nummer eins. Wegen der Einwirkung von Akzent zwei, dieses überaus farbenfrohen, dynamischen Gemäldes? Für unsere Geschichte sehen wir dieses einfach als einen der beiden Akteure an. Der Raum und das ganze Gemälde stürzen bedrohlich und dessen linke untere Ecke bedrängt den Besucher schon fast. Ein klassischer Akzent ist das Kunstwerk aber nicht. Es zerfällt in viele Unterakzente, ist also ein Gruppenakzent. Würde die Wanderung unseres Blickes über das Foto durch Alfred Yarbus aufgezeichnet, so ergäbe das über dem jungen Mann einen dichten Knoten, weil wir hier lange und immer wieder hinsehen. Wohingegen wir bei dem Gemälde viele solche »Blickknoten« erhielten. Auf der erzählerischen Ebene haben wir jedoch einen klassischen Zweiakzenter. Mit anderen Worten: Der Gang des Blicks ist hier weniger wichtig als die Bedeutung des ab-

 Klaus Dyba

gebildeten Gegenstands. Die stressige Beziehung des Mannes zum Gemälde besteht freilich in Wahrheit nicht, aber die Fotografie legt sie nahe. In Bild  haben wir es, wie gesagt, mit zwei Gruppenakzenten zu tun: den beiden Paaren. Interessant ist auch, dass sich die eher ruhige Geschichte weniger zwischen diesen entspinnt, sondern zwischen dem Vordergrund und der Landschaft. Wir sind eingeladen, uns in die Personen zu versetzen und den (etwas nebeligen) Ausblick zu genießen. Heiter wirkt schließlich der Vergleich zwischen dem kleinen (aber wachsamen) Hund und dem Tiger . Im Bild gibt es noch weitere Akzente, etwa den Kopf der Person oder die Hand mit der Uhr. Wer mag, kann auch das Raubtier mit der nicht ganz so katzenhaften Person in Beziehung setzen. Dieses sehr schlaue Bild lässt viele Möglichkeiten zu, es zu sehen; das Bildmodell übrigens auch. 77

 Frank Dürrach (viele Akzente, zwei Protagonistinnen)  Sebastian Bänsch

 Sven Philipp  Sebastian Eichhorn (zwei Hauptakzente plus Nebenakzente)

 Andrei Ionescu-Cartas

Zweiakzenter

Ein paar Bilder aus den Bereichen Mode (), Reportage- und Straßenfotografie () und Inszenierung (), deren Akzente auf unterschiedliche Art erzählerisch oder charakterisierend zusammenwirken. Letzteres ist etwa in Bild  der Fall, wo die Hände eine zusätzliche Information darstellen.

 Jennifer Wolf

 Snezhana von Büdingen  Anja Grauenhorst

 Frank Dürrach  Antonia Lange

 Andrea Roeper

Zusammenfassung

Zweiakzenter Bilder mit zwei Akzenten ... sind oft erzählerisch, da wir zwischen den Akzenten einen Bezug konstruieren. • Aus dem Verhältnis der Akzente ergibt sich oft eine Geschichte. • Oder ein Akzent charakterisiert den anderen näher. • Es kommen auch Akzente vor, die andere zu parodieren scheinen. • Manchmal liegen auch Vergleiche nahe (siehe das Bild  links). Akzente können ersetzt werden Man benötigt dabei nicht immer klassische Akzente. Gruppenakzente, die sich wieder in Unterakzente zerlegen lassen, funktionieren ebenfalls sehr gut. Hin und wieder treten auch andere Bildelemente wie etwa Flächen, Strukturflächen oder (sehr selten) Linien an die Stelle eines Akzents und tragen zum Bildinhalt bei. Drei oder mehr Akzente? Man muss sich auch nicht unbedingt auf zwei Akzente beschränken. Drei funktionieren oft nicht weniger gut. Gibt es noch mehr Blickfänge, dann werden die Geschichten nicht stärker oder differenzierter, sondern unklarer – Ausnahmen sind möglich. Ein häufiger Irrtum lautet übrigens »ein Objekt = ein Akzent«. In einem Porträt können zum Beispiel Gesicht und Hände separate Akzente sein,

sind aber Teile desselben Körpers. So modifizieren oder unterstreichen Handhaltungen oft den Gesichtsausdruck. Andere Bildelemente ... können das Verhältnis der Akzente modifizieren. So kann zum Beispiel eine Linie die Akzente trennen und so die komplette Geschichte ändern. Unterschiede und Ähnlichkeiten ... machen Akzentpaare besonders spannend. Ob die Bildelemente wirklich etwas miteinander zu tun haben, ist für ein interessantes Bild eher Nebensache. Ist der Zusammenhang zu banal oder lassen sich die Akzente durch zu große Ähnlichkeit und räumliche Nähe im Bild zusammenfassen, so wird es langweilig. Ideal sind visuell stark kontrastierende Akzente, die trotzdem über einige Eigenschaften wie etwa Farbe, Form oder Ausrichtung verbunden sind. Praxistipp Es lohnt sich, beim Fotografieren ganz bewusst nach Zweiakzentern zu suchen oder diese zu inszenieren. Auch wenn man beim Auslösen zunächst noch gar nicht durchschaut was vorgeht, so finden sich beim Sichten der Ausbeute dann oft unerwartet lebhafte, lustige, spannende, inhaltlich interessante Bilder. 81

 Raffaele Horstmann

Bildelement: Linien

Arten von Linien Dieses Kapitel hat zwei Abschnitte, und es soll in ihnen um das – nach den Akzenten – wichtigste Bildelement der Fotografie gehen: um Linien. Zunächst werden die Arten der Linien in einem kleinen Überblick dargestellt. Danach folgt ein zweiter, tiefergehender Abschnitt zu den vielfältigen Funktionen von Linien in Bildern. Linien lassen sich nach ihrer Lage im Bild klassifizieren: horizontale, vertikale und diagonale Linien sowie Fluchtlinien. Hinzu käme die Einteilung nach ihrer Beschaffenheit, nämlich in dünne und starke Linien sowie in gerade, geometrische und freie Linien. Zudem kann man auch in durchgezogene und unterbrochene Linien unterscheiden; letztere werden gemäß der Lehren der wichtigsten Kunsthochschule der 1920er Jahre – des Bauhauses – auch als »optische« Linien bezeichnet.  In dieser poetischen Arbeit, die eine Mischung aus Fotografie und Zeichnung darstellt, wären die Äste freie Linien. Die Hand, die mit ihrer Haltung einem Fresko von Michelangelo entstammen könnte, würde ich als eine große Diagonale betrachten (aber darauf bestehe ich natürlich nicht).

83

 Alen Ianni

Linien | Optisch, durchgezogen, stark, dünn

 Monika Probst

 Frank Dürrach

Im übernächsten Abschnitt wollen wir uns der Vielzahl wichtiger Funktionen widmen, die Linien in Fotografien ausüben. Der guten Ordnung halber folgt in diesem Teil aber zunächst eine Übersicht, in welche Arten wir Linien unterteilen können. Das Bauhaus unterschied durchgezogene Linien von unterbrochenen, die es »optische Linien« nannte, und natürlich dicke (»starke«) von dünnen Linien. Im ersten Bild sehen wir beides: durchgezogene Linien und optische Linien . Der Bildgegenstand ist recht einfach, nämlich eine Deckenbeleuchtung. Allerdings hat das Bild einen gewissen ornamentalen Reiz. Die hellen, kurzen Linien der Leuchtkörper stehen den runden Lichtflecken an der Decke gegenüber; ebenso die dicke, klare, graue Mittellinie den beiden nicht ganz so perfekten opti-

84

 Anna Louisa Belz

schen Linien, die durch jeweils fünf Lampen gebildet werden. Dass diese von jeweils zwei Stangen gehalten werden, scheint eine etwas altmodisch anmutende Konstruktion zu sein. Bild  zeigt ein Stück der Moskwa von einem Ausflugsboot aus. Dem dicken Geländer gegenüber stehen die hellen Linien der Uferbefestigung und die unterbrochene Linie der Liegestühle (siehe die Grafik ) mit ihren aktuellen

 Kai Schubert

 Frank Dürrach

 Frank Dürrach

Besitzern darauf. Das Bild ist minimalistisch und abstrakt und zeigt doch gleichzeitig etwas von Land und Leuten. Großartig fängt das Bild  eine der Eigenschaften des Kölner Doms ein: Er ist so hoch, dass die Spitzen seiner Türme ziehende Vogelschwärme teilen. Der massive, aber abwechslungsreiche Bau im linken Eck und die Vögel, die sich nach der »Umgehung« noch nicht wieder ganz organisiert haben. Dazu der Himmel mit den hellen Wolken: alles sehr poetisch. Bei Bild  kann man am unteren Rand gerade noch feststellen, dass es während einer Autofahrt aufgenommen wurde. Die Pfeile nach links scheinen einen Irrweg zu weisen, nämlich mitten in die warnende, rot-weiße Absperrung hinein. Hier ein sehr gut eingefangenes Porträt eines Dirigenten . Die durchgezogene Linie des Geländers gibt ihm Halt, während die drei optischen Linien der Saalbeleuchtung ihm eine Art Heiligen-

 Dennis Wilhelms

schein verpassen – sehr passend zur Kleidung und zu dem zufrieden-entrückten Gesichtsausdruck. Interessant ist auch der »unterlegene« Kamerastandpunkt, der uns zu ihm aufschauen lässt. Der Sonnenuntergang in Georgien zeigt Linien verschiedener Lage, Farbe und Stärke . Diese werden im Gegenlicht zu einem Schattenriss. Bild  hat keinen großen Inhalt, es ist eine Meditation aus einem japanischen Wald mit Blattstrukturen sowie hellen und dunklen Linien in unterschiedlicher Stärke und Farbe. In der Inszenierung  sehen wir einen spießig gekleideten Mann, der in einem Geflecht gefangen ist. Die roten Linien (die nicht immer reale Anfangsund Endpunkte haben) halten ihn wie ein Spinnennetz im Griff und haben ihre Entsprechung im Pullovermuster und in den Schuhbändern. Das geschlossene Gerüst betont die symbolhafte Inszenierung. 85

Linien | Gerade, geometrisch, frei

 Edgar Olejnik

86

Eine andere Unterscheidungsmöglichkeit im Reich der Linien bilden die Gerade, die geometrische und die freie Linie. Bild  hat zwei von drei zu bieten. Die wichtigsten Geraden sind die der Brückenkonstruktion und die Geraden, die durch die Langzeitbelichtung aus den Lichtern der Autos entstanden sind. Eine geometrische Linie ist der große, tragende Bogen der Brücke. (In der Zeichnung rechts gegenüber  sind oben verschiedene Arten von Geraden  zu finden. Geometrische Linien  nenne ich alle Linien, die nicht gerade sind, die man aber verbal gut beschreiben kann, wie zum Beispiel »Zickzack«, »Wellenlinie« oder »Bogen«. Eckiges oder kreisendes Gekrakel, wie man es zum Beispiel beim Telefonieren auf einem Notizblock hinterlässt, wären »freie Linien« .) Auch dieses Bild zieht seine visuelle Kraft aus dem Nebeneinander gegensätzlicher

 Lenny Lavrut

Elemente: die Lichtfülle der roten und weißen Geraden gegen die dunklen Linien der Brückenkonstruktion und gegen die nächtliche Szenerie; die Dynamik, die die Lichter ausstrahlen, im Kontrast zur Ruhe des Hintergrunds und des sanft geschwungenen Bogens ... Bei dem Anglerfoto  dominiert eine geometrische Linie, an die sich eine feine Gerade anschließt. Der unter starker Spannung stehende Bogen der Angelrute läuft vertikal durchs Bild und durchschneidet dabei Horizont, Wald und Himmel. Interessant ist, dass der Angler nicht in die Richtung schaut, aus der sein Fang den Zug ausübt. Das kühle Blau und die braunen Bildteile geben dem Bild seine Stimmung. Der Hintergrund ist leicht unscharf und liegt unter dem typischen bläulichen Schleier entfernter Landschaftsteile. So wird der Angler im Vordergrund sehr präsent. Gefangen wurde übrigens ein fetter Karpfen.

 Horst Mumper

 Frank Dürrach

 Sabine Tenta

Die Achterbahn in Bild  besteht größtenteils aus Geraden und geometrisch geschwungenen Linien. In dieser Foto-

 Oksana Briclot

grafie wird sie ihrer Funktion und Umgebung beraubt und derart isoliert zu einer Art Linienskulptur. Das Handyfoto  entstand in einem nächtlichen Park. Unsere Wahrnehmung wird hier stark reduziert, es dominieren die Äste, die sich wie dürre Finger in den Nachthimmel strecken – das Set für einen grausigen Vampirfilm. Weniger unheimlich, aber unheimlich ähnlich ist die folgende Szene , in der sich das Gewirr der schwarzen Äste stark von der nüchternen, weißen Architektur mit ihren grünen, geometrischen Elementen abhebt. Und schließlich ist die sachlich-gerade Konstruktion des Fahrstuhls in einem Museum in Düsseldorf  ein Kontrast zu den Bögen der alten Architektur, zu der sie hinzugekommen ist. Die Spiegelung, das viele Weiß, die Diagonalen der Oberseite und die zarten Grüntöne machen das Bild visuell attraktiv. 87

Linien | Vertikal, horizontal, diagonal, flach, tief

 Alen Ianni

88

Schließlich lassen sich Linien ganz einfach anhand ihrer Lage in Horizontalen, Vertikalen und Diagonalen einteilen. Manchmal werden diese drei Arten noch danach unterschieden, ob sie in die Tiefe zu führen scheinen oder ob sie flach im Bild angesiedelt sind. Die Bilder  und  werden von Horizontalen geprägt. Beim Bild mit den Spitzen des Kölner Doms ist zunächst bemerkenswert, was man alles nicht sieht. Vom Dom ist nicht viel übrig geblieben – wie die Ohren einer Katze oder die der Maske von Batman lugt er über die dicke, schwarze Mauer. Außer dieser gibt es noch viele horizontale Linien, nämlich am Boden und als Geländer über der Mauer. Das Bild ist so streng komponiert, dass der »Fehler« des verdeckten Doms schon wieder heiter wird. Auch die Linien und Schleier am Himmel kontrastieren mit der Strenge der Architektur.

 Britta Bartel

 Cord Richert

Ganz ähnlich arbeitet das beeindruckende Bild einer Industrieanlage . Hier ist der Vordergrund ebenfalls geprägt von Horizontalen: von den durch die lange Belichtungszeit zu Linien gezogenen Lichtern der Autos. Die Straße, die Lichtstreifen und der Zaun bilden den distanzierenden Vordergrund, der mit einer dicken, roten Linie abschließt. Dahinter liegt die Anlage, auf die wir als Zaungäste aus der Ferne schauen. Deren Beleuchtung und weitere horizontale Linien verbinden sie mit dem unteren Bilddrittel. Die eigentlichen visuellen Sensationen stellen aber die vielen (oft punktförmigen) Lichter dar, die mit den Linien kontrastieren. Hinzu kommen die subtilen Farben und schließlich – wie beim Dombild – die Spannung der technischen Geometrie zu den Dampfschwaden, die hell in den dunklen Himmel ausgreifen. Das Bild hat viel zu bieten, wenn man genau hinsieht. Auch dass ein laub-

 Alen Ianni

 Andreas Horsky

 Frank Dürrach

loser Baum ziemlich genau die Fläche des großen, kugeligen Gebäudes rechts bedeckt, ist ein Hingucker. Gleiches gilt für den orangeroten Streifen, der die Straße vom Werksgelände trennt. Die Fotografie mit der Antenne ist dagegen sehr minimalistisch . Sie stammt aus einer Serie mit Gegenständen, die in den Himmel ragen. Aber auch hier dominiert wieder der Kontrast zwischen der strengen Geometrie der vertikalen Antenne und der diagonalen Halteseile und Stufen einerseits sowie den weichen Streifen des Himmels andererseits. Das Treppenhaus wirkt wie die Umsetzung eines Gemäldes von Mondrian in Architektur . Es bietet zahlreiche graue Vertikalen und einige Diagonalen auf weißem Grund, dazwischen ein paar farbige Flächen in Grün oder Blaugrau. Interessant ist, dass die Abstände zwischen den Streben gewiss ganz regelmäßig sind, sich aber durch deren Schich-

 Frank Dürrach

tung in die Tiefe in dieser Fotografie ein ziemliches Linienchaos ergibt. Da ist das Hochhaus  klarer, welches optisch von einem diagonalen Kondensstreifen »durchschossen« wird – aber nach dem 11. September 2001 auch etwas makaber. Noch ärger wird es, wenn man die auf das Gebäude gedruckten Flugzeuge entdeckt. Die Bahn-Bilder  und  enthalten vor allem eine ungeheure Menge an Diagonalen. Im Fall des Bahnsteigs führen diese meist auf einen Fluchtpunkt zu (mehr dazu unten), deshalb entsteht ein starker Eindruck von Raumtiefe. Die Schiefstellung verstärkt noch die Lösung vom Motiv und den Sog in die Ferne. Die Oberleitungen und Kräne wiederum weisen nicht in eine Tiefe, sondern leicht aufsteigend nach schräg rechts oben. Die Spiegelungen der Beleuchtungskörper des Abteils bilden in Stärke und Helligkeit einen Kontrast zu den Leitungen. 89

 Anna Louisa Belz  Frank Dürrach

 Sebastian Bänsch  Frank Dürrach

 Sven Philipp

 Edgar Olejnik

Liniert ... Hier einige linienstarke Bilder: dünn, dick, gerade, frei, geometrisch, flach, tief, vertikal, diagonal, horizontal, durchgezogen, optisch, inhaltlich, ornamental, allein und im Team. (Bild  ist eine Inszenierung mit einem Spielzeuggewehr.)

 Frank Dürrach  Frank Dürrach

 Christof Jakob  Volker Plein

⑪ Pixabay

Bildelement: Linien

Funktionen von Linien Als eines der wichtigsten Gestaltungsmittel erfüllen Linien viele Funktionen im Bild. Sie gliedern den Bildraum, trennen und verbinden. Sie führen den Blick – über die Fläche des Bildes oder scheinbar in die Tiefe. Sie können Bilder statisch oder dynamisch machen. Manchmal wirken Linien einfach als Ornament und mitunter tragen sie wesentlich zum Bild­ inhalt bei.  Das ist auch in dieser etwas unheimlichen Nachtaufnahme so. Der knorrige und kahle Baum wurde vom Fotografen angeblitzt und steht nun da wie ein Gespenst. Die unterschiedlichen Lichtquellen machen das Bild interessant: das Blitzlicht, das schwache Licht des Himmels, die erleuchteten Fenster und der Schein der Parkbeleuchtung. Vielfach kontrastiert der Baumstamm mit dem Haus: Natur gegen Architektur, freie Linie gegen Quader, Grau gegen farbig, anscheinend tot gegen belebt. Das helle Licht und der Schlagschatten heben den Vordergrund stark vom Haus ab, sodass alles etwas kulissenhaft wirkt.

92

 Klaus Dyba

Linienfunktionen | Gliederung des Bildraums

 Jutta Holtkamp

94

Linien gliedern den Bildraum, indem sie Flächen erzeugen und verschiedene Bildbereiche voneinander trennen. Laufen sie dabei horizontal oder vertikal, also pa­ ra­l lel zu den Bildkanten, unterbinden sie meist die Dynamik im Bild. Das (scheinbar) einfachste Bild  vorneweg. Diese Fotografie einer Rheinlandschaft ist überaus grafisch komponiert. Die beiden schmalen Aufschüttungen laufen fallend diagonal und etwa parallel durchs Bild. Interessant ist, dass die Wellenmuster der drei Flächen, die sie bilden, jeweils anders aussehen. Der obere Bildteil hebt sich davon ab, hier gibt es mehrere Flächen, zwei Akzente (Bäume) und insgesamt ist seine Richtung gegenläufig – steigend – zum Vordergrund. Schön, dass sich an den Seiten der Fläche zwei Kreise andeuten und dass im rechten oberen Eck der Vordergrund fortgesetzt wird. Die Verwendung einer

 Alen Ianni

langen Brennweite (135 mm) macht das Bild flach (Genaueres dazu später). Winzig klein kann man eine Frau in der Ferne entdecken und unter dem großen Baum vielleicht ein oder zwei Schwimmer. Zu einem ganz anderen Schauplatz führt das kontrastreiche Architekturbild . Die drei hellen Betonsäulen teilen die Szenerie in zwei etwa gleich große Hälften. Die rechte ist gerahmt und weiß hinterlegt und zeigt zwei Männer als Schattenrisse. Ihnen ist durch das Gitter – auch dieses besteht vor allem aus vertikalen Linien – der Zutritt verwehrt. Wir Betrachter sehen da mehr – und auch wieder nicht; denn die Mauern der Ruine liegen in tiefer Schwärze. Vielleicht ein Hinweis auf die Unmöglichkeit, in der Gegenwart das Vergangene wirklich erfassen zu können. Das Bild selbst ist aber mit seinen Hell-dunkel-Kon­trasten, Linien und Flächen ein Nachfahre der abstrahierenden Fotografie der 50er Jahre.

 Sebastian Bänsch

 Frank Dürrach

 Frank Dürrach

Es geht hier ja unter anderem um die Funktion des Trennens, die Linien in Bildern ausführen. Bild  ist dazu ein Sonderfall, denn hier werden keine Flächen erzeugt, sondern die Linien trennen den Vordergrund vom Hintergrund; zudem tritt hier statt einer einzelnen Linie gleich eine Struktur aus Linien auf. Das Bild wurde in einem Museum in Le Havre gemacht. Die großartige Skulptur (Charles Cordier, 1851) kann so vor einem großen Fenster gezeigt werden, ohne dass die Außenwelt zu sehr stören würde. Das Linienraster halbiert quasi deren Einfluss. Noch ein Sonderfall ist das inszenierte Bild , welches das Verhältnis zweier Nachbarn auf witzige Weise behandelt. Die trennende Wand ist so dick, dass man entweder von einer sehr dicken Linie oder gleich von einer Fläche sprechen könnte. Genau genommen handelt es sich bei der Trennlinie um ein ganzes Bündel von Vertikalen – man kann min-

 Annika Rabenschlag

destens acht zählen. Dazu kontrastieren die horizontal gehaltenen Gläser, die freilich in diesem Moment keine Signale von dem Menschen hinter der Mauer auffangen werden. Auch eine Besonderheit ist das marokkanische Strandbild . Es ist selbstverständlich, dass mehrere Linien gemeinsam Formen wie Rechtecke, Dreiecke, Kreise bilden können. So entstehen Rahmungen und Flächen. Hier entsteht sogar ein geometrischer Körper: ein Quader, der durch seine Außenkanten (plus ein paar Zugaben) umrissen wird. Klassischer ist dieses Porträtfoto eines jungen Künstlers in seinem Atelier . Die Schräge könnte der Rahmen eines Spiegels sein. Jedenfalls entsteht durch die Linie eine breite Sphäre, die den Maler, einige Werke, Bücher und andere Utensilien zeigt, sowie ein schmaler Bereich mit einer Art grober Skizze. Entwurf und Realisierung stehen also nebeneinander. 95

 Uwe Müller

Linienfunktionen | Trennen, einsperren, distanzieren

 Angela Graumann

96

 Nadine Saupper

Linien können im Bild eher grafischen Zwecken dienen, aber sie bestimmen oft auch die Bildaussage mit. Die naheliegendste Linienwirkung ist dabei das Trennen, Einsperren, Distanzieren ... Ein Disco-Gefangenenlager, ein Tanzabend in der Hölle? Auf jeden Fall ein Bild , das ganz von seiner visuellen Kraft, also von der Bildgestaltung lebt. Das monochrome Rot und die Auflösung der Körper in Schatten und Nebel wären für eine gute Fotografie schon ausreichend. Die Zugabe, die ein gutes von einem sehr guten Bild unterscheidet, ist die etwas unpassende Absperrung im Vordergrund. Mit ihren durchgehenden, dünnen und eher horizontalen Linien setzt sie sich gestalterisch ab. Auch inhaltlich gibt sie einer normalen Tanzszene einen Stoß ins Seltsame, denn plötzlich kommen Assoziationen von Gefangenschaft und Barriere hinzu.

 Uwe Müller

In Bild  findet sich eine ganz ähnliche Linie, diesmal ist sie weiß. Wieder ergibt sich hierdurch eine Modifikation einer zunächst einfachen Fotografie (eine Sportlerin, die ihre Liegestütze macht). Es dürfte sich um eine Spielfeldbegrenzung oder eine andere Markierung handeln. Hier wurde sie so ins Bild gesetzt, dass sie uns von der Frau trennt, obwohl die Planken des Parketts auf sie hinführen. Sie verschwindet ohnehin teilweise im Dunkel. Man könnte beim Betrachten des Bildes denken, dass man selbst weniger diszipliniert trainiert, aber diese Auslegung ist recht offen und hängt von der eigenen Persönlichkeit ab. Die Bilder  und  stammen aus einer Reportage zum Thema »So leben die Deutschen«. Hier geht es um irgendein Hundespektakel, und erzählt wird das unter Zuhilfenahme von Linien. Eigentlich sind es ganz normale Veranstaltungsfotos, aber die Trennungen stellen einen

 Peter Joester

(durchaus etwas bösen) Kommentar zum organisierten Vereinsleben dar. Im ersten der beiden Bilder wird das Vereinsheim durch die Gitter zum Gefängnis und der Schäferhund zum Wachhund. Die beiden Männer rahmen die Gefangene ein, die sehnsüchtig in die Freiheit blickt. Schön sind die »Uniformen« der Wärter: mal schwarz-rot-gold, mal Hundestaffel. Das zweite Bild hat einen Aufbau, der verblüffend dem der ehemaligen innerdeutschen Grenze gleicht. Die beiden Gitterlinien trennen zwei Welten, dazwischen liegt ein leerer Streifen Niemandsland. Was sonst so passiert, ist skurill: Die gelben Männer dürfen mit den Hündchen toben, Frauen und Kinder müssen zuschauen und applaudieren. Das war alles wirklich da, aber der Fotograf hat den Standpunkt und den Moment gewählt und so alles verdichtet. Linien können Gitter bilden, aber auch Rahmen . So geschehen in dem Schau-

 Holger Klöter

fenster einer Bar. Das Fotografieren hat wohl etwas gedauert, denn mehrere Insassen gucken mittlerweile kritisch. Das Bildermachen wird so selbst zum Thema. Hier werden Personen fotografiert und »eingerahmt«, genau wie das mit den Szenen an der Wand links bereits passiert ist. Die Rahmen trennen verschiedene Szenen voneinander ab, die doch dasselbe erzählen. Die formale Strenge verstärkt noch die skeptischen Blicke. Im letzten Bild  dient der Rahmen ebenfalls einem klassischen Zweck, nämlich der Hervorhebung. Die Linien trennen die Person von der Umgebung und bewirken damit die Betonung. Stark ist die blaue Farbregie und die Verdoppelung des Rahmens durch Türrahmen und Fensterrahmen. Das hebt das Inszenierte des Bildnisses hervor, während hingegen Mundschutz, Telefon und Beutel suggerieren, dass man eigentlich mitten in der Arbeit im Krankenhaus steckt. 97

 Marc Hupperich  Andrei Ionescu Cartas

 Britta Bartel  Frank Dürrach  Zuzana Gajdosikova

Galerie der »Zonengrenzen« Bilder mit Linien, die trennen, abgrenzen, gliedern, (ein-)teilen, distanzieren, einsperren, isolieren. (Das klingt alles ziemlich negativ, kann aber für viele Bildaussagen sehr sinnvoll sein.)

 Ulf Frohneberg  Frank Dürrach

 Ian Dylewski  Sebastian Bänsch

⑪ Marvin Ruppert  Peter Schwöbel

 Frank Dürrach

Linienfunktionen | Verbinden

 Oliver Rausch

100

Haben die zurückliegenden Seiten das Trennende von Linien gezeigt, so geht es hier um das Verbinden, Zusammenfassen, Verknüpfen, In-Beziehung-Setzen. Sofort klar dürfte das bei Bild  sein. Die drei dicken Tauschlingen fesseln die Protagonisten aneinander. Das »Fesseln« ist eben die Kehrseite des positiver besetzten »Verbindens«. Das Bild zeigt eine Art lebende Skulptur und die ganze Anmutung macht sofort klar, dass hier keine Alltagsszene eingefangen wurde, sondern dass die Fotografie metaphorisch gemeint ist, also nach Auslegung ruft. In der Körpermitte sind die Tänzer (ich nenne sie mal so) aneinandergekettet, aber die Oberkörper streben auseinander, ja, die Fäuste drohen sogar. Gleichzeitig geben sich die beiden anderen Arme Halt. Dasselbe Bild bei den Unterschenkeln: Sie ergeben ein Beinpaar plus eines, das gegeneinander arbeitet. Die Augenbin-

 Pexels

 Christian Beauvisage

den komplettieren das Bild – man ist aneinander gebunden, aber kennt sich nicht. Klingt fast wie ein Familienbild. Bild  habe ich ziemlich stark zugeschnitten, damit alle ablenkenden Randakzente verschwinden. Das Foto sollte möglichst abstrakt werden, denn es geht um ein abstraktes Prinzip der japanischen Gesellschaft: Man hält sich an die Regeln. Das Bild hat eine leere Mitte, nur der Laternenpfahl ragt hinein. Diesen konnte ich auch durch Standpunktwechsel nicht wegbekommen, nun ist er halt eine Verstellung und Irritation in der sonst strengen Geometrie. Die Linien geben hier die Richtung vor, sie ziehen auch die Grenzen, innerhalb derer alle im Dreieck marschieren. Das mit dem Verbinden kann flächig auf einer Bildebene geschehen (wie in den ersten beiden Bildern), aber auch räumlich wie in . Hier wird einfach gezeigt, wo es hingeht: auf den Berg.

 Frank Dürrach

In Bild  dominiert der Bilderrahmen. Er bringt hier den müden Menschen – es ist der Fotograf – mit seinem zombiehaften Zweit-Ich zusammen. Ihren Teil zu dieser Beziehung tragen auch die horizontalen Praxistipp: Viele Fotografinnen und

Fotografen sehen in ihren Bildern vor allem ihr »Motiv«. Motto: »Das Bild ist gut, weil die Katze süß ist.« Das kann klappen. Aber falls nicht, empfehle ich, zunächst mal alles ganz abstrakt zu sehen. Also »reine Bildgestaltung« wie Akzente, Linien, Flächen, Farben, Formen, Verläufe, Unschärfen, Strukturen, oder Durchdringungen zu fotografieren. Das schult enorm den fotografischen Blick. Später nimmt man seine liebsten Bildgegenstände einfach wieder dazu und hat künftig weit ausdrucksstärkere Bilder. Das Kängurubild oben zeigt so etwa, was ich meine.

 Frank Dürrach

Linien des Heizkörpers bei. Sie lassen es fast so erscheinen, als trenne sich die verwischte Gestalt gerade erst von dem Körper des Mannes im Bademantel. Die Aufnahme aus einem naturkundlichen Museum  ist geprägt durch die starke Architektur der Linien, die viele unterschiedliche Bereiche abtrennen. Doch der auf dem Glas aufgeklebte rote Ring fasst die Besucherin und das Känguru zusammen. Überhaupt spiegeln sich in deren dunkler Form diverse Tiere (leider alle ausgestopft). Mensch und Tier sind getrennt, aber hier kommen sie wieder zusammen. Oder überlegt das Känguru in diesem Moment einfach, durch den Ring in die Freiheit zu springen? Das mit dem Zusammenfassen mittels Rahmung geht auch dreidimensional . Die beiden Besucher einer Bibliothek sitzen in einer Art Terrarium der Bildung. Reizvoll ist die Mischung aus Tageslicht und dem orangefarbenen Kunstlicht. 101

 Pixabay

Linienfunktionen | Dynamik erzeugen

 Monika Probst

102

Linien können im Bild Dynamik erzeugen. Dabei sind geschwungene Linien viel dynamischer als gerade. Und bei den geraden sind diagonale wesentlich dynamischer als vertikale und horizontale Linien. Was unterscheidet eine Fotografie von »der Welt«? Das Bild ist flach und die Zeit darauf steht still. Nun, Linien sind eine Antwort der Fotografie auf diese »Schwächen«. Sie können Dynamik erzeugen, wo vorher nur Statik war, und damit eine spezielle Art von zeitlicher Dimension. (Eine andere Art von Dynamik im Bild stellt die Bewegungsunschärfe her. Und was die Flachheit angeht: Linien können Raumtiefe suggerieren, wie wir seit der Renaissance wissen. Dazu unten mehr.) Das erste Bild ist eine Spezialität der Fotografie: Abstraktion durch Verwacklung . Die verwischten Leuchtschriften und die zu Linien gezogenen Lichtpunkte sind ein Zufallsergebnis,

 Alen Ianni

 Joshua Hoffmann

aber auf den Standort, die richtige Zeit und auf die Auswahl gelungener Bilder kommt es dabei an. Hier ist die Wirkung wesentlich durch die roten und weißen Knäuel erzielt und durch das Gegengewicht, nämlich die grünliche Fläche, die an einen unheimlichen Schädel erinnert. Wieso freie oder geschwungene Linien Dynamik suggerieren, ist ziemlich rätselhaft. Mit dem Auge folgt man ihnen nämlich nicht; man fährt also keineswegs mit dem Blick Achterbahn, auch nicht beim Betrachten von Bild . Vielleicht tut man es ja mit dem inneren Auge. Oder man stellt sich vor, wie man schwungvoll solche Linien malt. Oder es ist die Erfahrung, dass man, wenn man sich auf einer Geraden bewegt, kaum etwas spürt (siehe: Autobahnfahrt), aber alles sehr dynamisch wird, wenn man zickzack oder kurvig fährt (siehe: Rummelplatz). Brachiale Richtungswechsel braucht man übrigens nicht, damit so etwas wie

 Markus Schüller

 Britta Strohschen

 Thomas Krämer

Bewegung im Bild entsteht. Selbst die krummen Stämme der Bäume  bringen dieselben ein wenig zum Tanzen. Die Nachtaufnahme  vereint mehrere Faktoren in sich, die Bewegung erzeugen. Die Linien, die sich aus den Rücklichtern der Autos ergeben, biegen größtenteils ab. Damit sind sie Kurven und wirken grundsätzlich bewegt. Es mag auch eine Rolle spielen, dass wir mittlerweile gelernt haben, dass solche Lichteffekte (wie in Bild ) aus Bewegung resultieren. Sicher ist der Dynamik aber förderlich, dass es sich um Diagonalen handelt. Diese entfalten sehr viel mehr Elan als Linien, die parallel zur Bildkante verlaufen. Besonders gut an diesem Bild ist aber sicher, dass das Geschehen auf dem Boden durch die ebenfalls gelben Streifen am blauen Himmel gewissermaßen gespiegelt wird. Die Gebäude bilden die Bildmitte. Sie sind der ruhige Pol, um den hier alles fließt.

Bei diesem Architekturdetail gibt es ebenfalls unterschiedliche Dynamikfaktoren : die diagonale Lage der Linien, die Dreiecke, die sie bilden, die Schwünge und – nicht zuletzt – das Gewirr. Diese Frankfurter Fassade ist fotografiert, als käme eine Welle auf einen zu; was nicht so falsch ist, denn es ist die Außenhaut eines Konsumtempels zu Weihnachten. Die Beine der jungen Tänzerinnen sind durch die kurze Belichtungszeit eingefroren, trotzdem lassen die Diagonalen Bewegung entstehen . Die Gesichter (als potenzielle Akzente) sind ausgespart. Zum Schluss werden alle Register gezogen : gebogene Linien, Diagonalen, Linien, die (abwärts) in einen tiefen Raum führen, und Bewegungsunschärfe. Hinzu kommt auf der inhaltlichen Ebene der Bildgegenstand »Rolltreppe«. An Wänden und Boden entstehen durch das Überschneiden der Linien viele spitzwinklige, dynamische Formen (Rauten). 103

 Joshua Hoffmann  Jutta Holtkamp

 Julia Berlin  Peter Schwöbel

 Christian Palm

Und es bewegt sich doch! Eine Galerie zum Thema Liniendynamik: gekrümmte Linien (), freie Linien (), Diagonalen (). In Kombination mit anderen Gestaltungsmitteln (wie etwa Bewegungsunschärfe) brechen sie das Statische der Fotografie auf. Linien sind keine Akzente und tragen doch oft zum Bildinhalt bei, wie in Bild , wo durch Schiefstellung der anstrengende Weg zur Rehabilitation verdeutlicht wird.

 Kerstin Lehmann  Ian Dylewski

 Sabina Mazur  Frank Dürrach

 Melanie Haberkorn

 Sabine Tenta

Linienfunktionen | Blickführung I

 Rolf Franke

106

Sehr nah verwandt mit der Erzeugung von Dynamik ist die Funktion der Blickführung. Während Dynamik ganz allgemein Bewegung suggeriert, lenkt die Blickführung die Aufmerksamkeit auf eine bestimmte Bildstelle. Gemäß meiner Erfahrung wird bei den meisten Bildern mit blickführenden Linien der Blick in die Tiefe gelenkt. Nicht so hier . Ein junger Mann steht vor einem Gemälde von Salvador Dalí. Die gemalten Strahlen führen auf eine Stelle, die hinter seinem Kopf verborgen ist und auf die er sich stark zu konzentrieren scheint – was heißen könnte, dass er ein Kunstfan ist. Gleichzeitig funktioniert das Ganze umgekehrt: Das Gemälde wirkt anregend und die Ideen strahlen nur so aus seinem Kopf. Die blonden Haare passen sehr gut, denn sie spannen Hinterkopf und Bild zusammen, der schwarze Hoodie bietet einen harten Kontrast.

 Sebastian Eichhorn

 Frank Dürrach

Auch der Mann auf der Treppe  trägt solch ein Kleidungsstück, aber das Bild ist – was die Blickführung angeht – klassischer, denn es geht in die Raumtiefe und in die Höhe. Das Foto stammt aus einer exzellenten Reportage über eine Band. Die Architektur ist brutalistisch, das Porträt des Musikers distanziert – aber eben nicht nur, denn es gibt eine Verbindung durch die Linien (Handlauf und Mauer) und durch den Blick. Und schließlich kann man ja die Treppe nutzen. Ein Geständnis: Bild  ist mehr als Scherz gemeint. Hier hat jemand auf einem offenbar gefärbten Stück Rasen Markierungen angebracht. Und selbst hier funktioniert das mit der Blickführung, denn man möchte sich gerne führen lassen. Nur leider führt das in dem Fall zu nichts und außerdem widersprechen sich die Striche doch irgendwie. Da gibt das Handyfoto  einem doch wenigstens in puncto Eindeutigkeit ein

 Frank Dürrach

gutes Gefühl, denn die goldene Linie führt stracks auf eine Gruppe Ausstellungsbesucher/innen. Ich fand damals, dass diese selbst so etwas wie ein Kunstwerk darstellte. Kleidung, Alter, Haarschnitte, der Umstand, dass das Kollektiv so abgeschlossen in einer recht leeren Halle stand, die gesenkten Köpfe, all das fand ich interessant. Das mit der Linie war natürlich Glück. Aber: »Die beste Kamera ist die, die man immer dabeihat.« Für alle, die schiefe Handyfotos kritisch sehen: Ich habe das Bild auch gerade, finde dieses aber besser, weil alles etwas aus den Fugen geraten zu sein scheint. Schön gerade ist die Landschaft am Toten Meer , dafür laufen die Seile der Bahn diagonal abwärts. An dem Bild funktioniert einiges sehr gut, meine ich: dass die Landschaft überhaupt viele Linien enthält oder der wechselvolle Übergang von Braun zu Blau in der Bildmitte oder der weite Blick (aufgenommen mit

 Frank Dürrach

einem 14-mm-Weitwinkel). Die Seile vermitteln ein starkes Gefühl für die Tiefe. Was die Blickführung angeht, so finde ich es ganz reizvoll, dass die Linien der Stahlseile in der Ferne so fein werden, dass man ihnen kaum zur Talstation (das dunkle Rechteck) hin folgen kann. Vom Toten Meer zum Roten Platz . Auch hier besteht die Spannung unter anderem darin, dass die rot-weiße Linie nicht auf die Kathedrale zuführt, sondern daran vorbei (im rechten Winkel zu den Türmen, die nach oben streben). Von so einem interessanten Bauwerk macht man natürlich mehrere Bilder, wenn es die Zeit erlaubt. Und man experimentiert, geht herum, schaut, was es Interessantes an Details, Nachbarschaften oder Vordergründen gibt. In diesem Bild fand ich das Zusammenspiel der Muster von Barriere und Boden mit dem der Fassade ganz reizvoll. Als hätte sich die Stadtverwaltung mal inspirieren lassen. 107

Linienfunktionen | Blickführung II | Steigen, fallen

 Klaus Dyba

108

Die ersten beiden Bilder gehören zum sogenannten »Trash-Stil« (siehe Stilistik der Fotografie, weiter unten). In beiden spielen blickführende Linien eine Rolle. Der kleine Hund wird uns diesmal ziemlich gnadenlos mit dem Blick eines großen Menschen nach unten präsentiert . Oft werden Hunde (und andere Tiere) mittlerweile mit großem Respekt aufgenommen, ja analog zum Menschenfoto regelrecht porträtiert. (Das macht auch dieser Fotograf gewöhnlich so.) Dieses Bild ist aber keine inszenierte Fotografie, sondern Teil einer Reportage über Hunde und ihre Menschen. Und hier wird ein weniger erhabener Moment im Hundeleben gezeigt. Das Gesicht ist verborgen, der Hund ist leicht gekrümmt und hängt an einer straffen Leine, deren Schatten durch das harte Blitzlicht sogar verdoppelt wird; das Mäntelchen hat Schlamm abbekommen. Fazit: Die Dackel-Skulptur hat es vergleichsweise besser.

 Jutta Holtkamp

 Annika Rabenschlag

Was Bild  bedeuten soll, bleibt (mir) rätselhaft – ich finde es trotzdem sehr interessant. Auch hier schafft der Blitz wieder seine typische Atmosphäre. Unwichtigere Bildteile werden grell erleuchtet (die Decke), andere bekommen dramatische Schlagschatten. Das Modell hat Probleme, man weiß aber nicht, ob Alkohol im Spiel ist oder ein Angreifer. Der silberne Handlauf kommt von rechts ins Bild und beherrscht die Bildmitte. Warum greift sie nicht danach? Die schwarze Linie links würde den Weg weisen. Wieder sehen wir kein Gesicht. Dafür ist die beunruhigende Szene wie zum Hohn zu einen Drittel in Rosa gehalten. Ich denke, das ist das Wirksame an dem Bild, dass es inhaltlich und gestalterisch irritiert, aber keine echte Lösung, keine Entspannung oder Erklärung bietet. Gemein! Bild  wurde übrigens von der jungen Frau auf der Treppe gemacht, die diesmal als Fotografin, nicht als Modell

 Pixabay

 Raffaele Horstmann

unterwegs ist. Auch hier stimmt etwas nicht, aber es ist mehr witzig denn dramatisch. Die Tür ist zu hoch – hoffentlich weiß das jeder, der aus ihr heraustritt. Die Linie führt unseren Blick zu ihr hin. Als Bild  folgt ein kunstvolles Porträt aus dem Grenzbereich von Fotografie, Collage und Malerei. Mit der Digitalisierung haben sich diese Kunstformen wieder stark angenähert; ich finde, die Fotografie ist seither weit malerischer, die Malerei durchaus fotografischer geworden. Ganz unterschiedliche Materialien sind einbezogen worden: Strichzeichnungen und Strukturen, eine Por­ trät­ fotografie und ein ebenfalls fotografierter Hintergrund. Die Linien der Leuchtstoffröhren laufen auf das Gesicht zu; im unteren Bildbereich sind sie mit etwas weniger Deckkraft noch einmal eingespiegelt. Kleidung und auch die Pose zitieren das Porträt eines jungen Königs, gleichzeitig ist moderne Technik zu se-

 Frank Dürrach

hen. Das Bild strahlt eine gewisse Macht und Reichtum aus, gleichzeitig sind Elemente wie das Herz und der Totenkopf vorhanden, die diesen Eindruck poetisch modifizieren. In Kulturen mit Leserichtung von links nach rechts werden Diagonalen entweder als steigend (von links unten nach rechts oben) oder als fallend (von links oben nach rechts unten) empfunden. Der Vollständigkeit halber: Die Bilder  und  sind Treppen-Varianten. Welche aufwärts zu führen scheint und welche abwärts, ist für die meisten Menschen klar. Entsprechend kann man mit solch einer diagonalen Linie Eindrücke und Inhalte vermitteln. Ein Minister, der zurücktritt, sollte tendenziell auf Treppe  laufen, ein Aufsteiger buchstäblich auf der . Die Mitte dabei aber aussparen, denn mittige Akzente wirken statisch. 109

Linienfunktionen | Raumtiefe erzeugen

 Kathrin Kolbow

110

Linien oder Kanten von Körpern, die auf Fluchtpunkte zulaufen, können auf dem flachen fotografischen Bild den Eindruck von Raumtiefe hervorrufen. Wie oben gesagt, können Linien gewisse Defizite des Mediums Fotografie ausgleichen, zum Beispiel für mehr Dynamik sorgen. Hier sind nun Bilder versammelt, die durch Linienführung Raumtiefe gewinnen. Wie suggestiv dieser Eindruck ist, zeigt sich schon daran, dass man versucht ist, von Linien zu sprechen, die »in die Tiefe führen«. Gewiss, die Handläufe der realen Moskauer U-Bahn führen uns in den Untergrund – aber wie die Grafik unter Bild  zeigt, sind die Linien auf diesem tatsächlich doch nur Diagonalen auf einer Fläche, die auf einen zentralen Punkt (den Fluchtpunkt) zulaufen. Solche Linien, die Tiefe suggerieren, enthält auch Bild , nämlich die Schienen der Straßenbahn, die Oberleitungen

 Frank Dürrach

 Frank Dürrach

und die Bordsteine. Hinzu kommen die Kanten und Linienmuster der Gebäude, insbesondere des linken. Das Bild zeigt den Rand der französischen Stadt Le Havre, der sich zum Meer hin öffnet, im Sonnenuntergang. »Aphrodite« heißt Bild  und ist also nach der Göttin der Liebe, Schönheit und sinnlichen Begierde benannt. Die Kamera steht sehr tief und betont so den Fußweg mit seinen Fugen. Diese laufen auf die »Göttin« zu. Hingegen das Auto, das die roten Streifen im Bild hinterlassen hat, fuhr vorbei, in die Tiefe. Die ersten drei Bilder teilen die Eigenschaft, zentralperspektivisch zu sein, also einen einzigen Fluchtpunkt zu haben, auf den alle in der Realität parallelen, von der Kamera weg führenden Linien und Kanten zulaufen. In der Übersichtsgrafik  wäre das der Fall . Auch Bild  ist zentralperspektivisch und zeigt sehr schön, dass mit der Vermittlung der Tiefe

 Peter Joester

 Pexels

 Sven Sester

 Frank Dürrach

oft auch der Eindruck von Dynamik einhergeht. Schließlich folgt man den Linien mit dem (inneren) Auge in den Raum. Deshalb ist diese Funktion von Linien auch sehr nah verwandt mit jener der Blickführung. Tiefeneindruck ohne Blickführung gibt es eher selten – umgekehrt aber weit häufiger. Bild  hat eine »Zwei-Punkt-Perspektive«, genannt auch »Über-Eck-Perspektive«. Das Schema dazu zeigt Grafik . Die »Vogelperspektive« oder »Froschperspektive« hat drei Fluchtpunkte; siehe dazu Bild  und Grafik . Das letzte Bild  ist wieder zentralperspektivisch. Hier wird der Eindruck von Raumtiefe zusätzlich durch die Verringerung der Schärfe und die Größenabnahme der Kerzen verstärkt. Diese müssen über eine schmale Brücke über einem Abgrund wandeln und brennen dabei ab. Das Bild lässt also durchaus eine symbolische Deutung zu. 111

 Anne Barth

 Klaus Dyba  Maurizio Arena

Räumlichkeit ... wird in diesen Bildern durch Linien (und durch Flächen) erzeugt. Die U-Bahn-Zugänge  bis  stammen aus einer Serie und wurden auf den Kopf gestellt, was ziemlich irritierend ist, den Raumeindruck aber stärkt.

 Frank Dürrach  Raffaele Horstmann

 Frank Dürrach  Sebastian Isiyel

⑪ Katharina Rösch

 Frank Dürrach

Linienfunktionen | Linien als Ornament

 Frank Dürrach

»Ornament ist vergeudete Arbeitskraft und dadurch vergeudete Gesundheit«, schrieb Adolf Loos 1908 in seinem berühmten Vortrag »Ornament und Verbrechen«. Ich sehe das anders, denn hinter Verzierungen steht ja das Streben nach Schönheit, und dieses kommt mir positiver vor als das häufig zu beobachtende nach Macht, Ruhm oder Geld. Linien können durch Wiederholungen zu (meist abstrakten) Ornamenten werden. Solche Zier ist eher selten inhaltlich bedeutsam, erhöht aber die visuelle Attraktivität von Gegenstand und Abbild. Genau genommen hat der Unterstand am Toten Meer  gar keine Ornamente. Erst durch das harte Sonnenlicht, das durch die regelmäßigen Lücken des Bretterdachs fällt, entstehen allerlei Muster und Strukturen. Der Boden wird kariert durch das rechtwinklige Aufeinandertref-

114

 Frank Dürrach

fen der Bohlen und der Lichtstreifen. An der Decke wiederum bildet sich ein Muster aus hellbraunen und mittelbraunen Zähnchen. Und schließlich passt das Geländer, welches die Wüste in lauter Streifen zerteilt, sehr gut zu dieser allgemeinen Gestreiftheit. Den großen Kontrast dazu bilden der weite, blaue See und der hellblaue Himmel. Beiden bleibt freilich nur ein schmaler Streifen im Bild. Dieser aber ist ganz frei; die vielen (politischen) Unterteilungen und Grenzen kann man nicht sehen. Bild  spielt zwar in der Kölner U-Bahn, hat aber sehr viel Ähnlichkeit mit dem israelischen Landschaftsbild. Wieder erzeugt das Licht ein starkes Muster auf dem Boden. Und wieder gibt es einen starken Kontrast dazu – diesmal in Gestalt eines Kaffeeflecks, der braun und in Gestalt einer Amöbe den Boden verunziert. Hier konnte jemand seinen Kaffee nicht halten.

 Frank Dürrach

Das russische Verteidigungsministerium in Moskau ist ein ziemlich imposanter Bau . Hell, breit, fein gegliedert und symmetrisch steht es direkt am Ufer der Moskwa. Es hat mich gereizt, es schnell mit dem Handy fotografisch einzufangen. Dabei versuchte ich, dem Gebäude etwas ganz anderes entgegenzusetzen – was dann das dunkle, grobe Geländer wurde, welches ziemlich archaisch wirkt. Manchmal kann man ein wunderbares Bild machen, aber die Leis­t­ung, die das ermöglicht, haben vorab andere für einen erbracht . Das ist bei dem Verschmelzen der wichtigsten Sehenswürdigkeiten von Paris und Köln der Fall. Das Bild ist real und keine Collage, denn zur Eishockey-WM 2017, die in Paris und Köln stattfand, wurde ein kleiner Eiffelturm an der ebenfalls recht bekannten Hohenzollernbrücke aufgestellt. Und so stehen jetzt diese beiden interessanten Konstruktionen aus Eisenfachwerk hier

 Frank Dürrach

tatsächlich nebeneinander – und nehmen den Dom in ihre Mitte. Es ist kurz vor Sonnenuntergang und so verschwinden im schwächer werdenden Gegenlicht die Differenzierungen. Es bleiben schwarze Linienmuster, die sich stark gegen die Wolken und den Himmel abheben. Auf einmal sieht der Eiffelturm ein wenig wie die Mischung aus einem Turm des Doms (Form) und der Brücke (Konstruktion) aus. Das letzte Bild stammt aus einem Langzeitprojekt, bei dem ich meinen eigenen Schatten in möglichst interessanten Zusammenhängen ablichte . Das Handy macht es möglich, denn es ist immer dabei. Das Bild wird interessant durch die Kontraste in Farbe (Blau, Braun), Helligkeit und Form. Mir gefiel, dass die Muster und Strukturen überall sind und das Schattenspiel den ganzen Vordergrund einnimmt, während im oberen Bildteil das Geländer herrscht. 115

 Frank Dürrach  Frank Dürrach

 Edgar Olejnik  Frank Dürrach

 Frank Dürrach

Verzierungen Hier Bilder mit Linienornamenten aus Natur und Kultur. Bild  ist durch Spiegelung in einer Software entstanden.

 Frank Dürrach  Snezhana von Büdingen

 Frank Dürrach  Julian Schievelkamp

 Frank Dürrach

 Alen Ianni

Linienfunktionen | Linien und Bildaussage I

 Sabine Tenta

118

Und nun zur letzten, hier vorgestellten Funktion der Linien. Diese spielte unvermeidbar auf den vorangegangenen Seiten schon eine große Rolle: die Bedeutung von Linien für die Bildaussage. Neben Akzenten bestimmen Linien häufig den Inhalt einer Fotografie. Sie können dabei die Hauptrolle einnehmen oder auch nur Bildaussagen modifizieren. Vollkommen still liegt die Siedlung in der Dunkelheit . Ein Sinnbild für Bodenständigkeit. Es scheint sich um eine eher ländliche Gegend zu handeln oder um eine Reihenhaussiedlung. Der Fotograf hat zwei Drittel des Bildes dem Himmel gewidmet. Neben den sparsamen Schlieren der Wolken dominiert hier der Kondensstreifen eines Flugzeugs. Es ist naheliegend, hier Vergleiche anzustellen: Ruhe – Geschwindigkeit, am Boden – in der Luft, zuhause – auf Reisen.

 Oliver Rausch

 Sylvia Mielcarek

Und noch ein Kondensstreifen . Den Bildwitz kann man erst so recht verstehen, wenn man weiß, dass es sich bei dem Gebäude um eine katholische Kapelle in der Eifel handelt. Die Schwarzweißumsetzung der digitalen Fotografie ist hier sehr kontrastreich und durch eine starke Detailextrahierung deutlich strukturiert. Der Blick geht steil am Bauwerk empor und man kann gerade noch sehen, wie der Heilige Geist seine Spur hinterlässt. Oder eben ein Flugzeug. Noch ein Bild aus der Arbeit, die der Fotograf seine »Seile-Serie« nennt . Selbige spielen hier sicher eine dominierende Rolle, halten sie doch das Paar auf Abstand voneinander. Jeweils vier dicke Taue stellen sicher, dass man nicht zueinander kommen kann. Das Spannende an dem Bild ist aber, dass die Körper gegen den Zug der Seile gar keine Chance haben dürften, schließlich haben sie als Ansatzpunkt nur ihre Zehenspitzen.

 Marlitt Schulz

 Joshua Hoffmann

 Ian Dylewski

Trotzdem ist die Anziehung so stark, dass sich die Körper biegen, als gäbe es eine Art Magnetismus zwischen ihnen. Bild  stammt aus einer Modeserie. Eine schöne Idee, ein Schnittmuster über das Bild zu legen. Auf diese Weise kommt der handwerkliche Aspekt ins Bild – vom Entwurf zum fertigen Kleidungsstück. Visuell beleben die transparenten grünen, roten und schwarzen Linien und Zeichen das eher verhalten gefärbte Bild. Das Hundefoto  erklärt sich weitgehend von selbst. Hier wurden in der Umwandlung in Schwarzweiß die hellen Tonwerte abgeschnitten, sodass alles noch trister wirkt. Gleich zwei Schichten Gitterstäbe trennen uns von dem ziemlich traurig aussehenden Kerlchen. Bild  sieht sehr einfach aus, ist aber trickreich. Die dicke Brücke wird von einer Verspannung erstaunlich feiner Linien gehalten. Die Fotografie hält das sehr gut fest, indem sie die Pfeiler ausspart

 Dana Stölzgen

und die Brücke als starke Horizontale sehr nah am unteren Bildrand ansiedelt. Den dünnen Diagonalen wird viel Raum gegeben; alles wirkt luftig. Das findet auch die Frau auf der Brücke, die ihrerseits fotografiert und uns die Größenverhältnisse klarmacht. Coolness ist in Bild  die Botschaft: Sonnenbrille auf und bequem an einen dicken Baumstamm gelehnt. Allerdings nicht am Boden (der ist abgeschnitten, um uns über die mögliche Fallhöhe im Unklaren zu lassen), sondern auf einer eigentlich zu dünnen Slackline. Um eine stille Eroberung geht es im letzten Bild . Aus dem Schatten dunklen Blattwerks heraus kriecht eine Wicke diagonal über den Zimmerboden und greift (eines Tages) nach dem Polstermöbel. Solche Bilder, die einfache Sachverhalte aufzeichnen, wirken oft poetisch. Sie eignen sich sehr für Serien, wo sie zum Inhalt und zur Stimmung beitragen. 119

 Marc Hupperich  Kai Schubert

Linienfunktionen | Linien und Bildaussage II

 Frank Dürrach

120

Und noch eine Doppelseite mit Bildern, die uns Geschichte(n) erzählen. Allerdings diesmal vergleichsweise bewegt, ja chaotisch. Oben links  wird ein Dach gebaut. Aber der junge Mann scheint sich Sorgen zu machen. Und Teile der Konstruktion scheinen recht professionell zu sein – die Linien laufen parallel. Aber die Stange, die ihm (bildgestalterisch) mitten durch den Kopf läuft, ist gewellt und passt nicht recht dazu. Das dürften auch die eher unprofessionellen Stofffetzen bestätigen, die den oberen Bildrand bilden. Das Bild kippt leicht nach links und unser Mann ist ziemlich in eine Ecke gedrängt. Auch das sät Zweifel. Hier wieder einmal ein Beweisfoto , dass Katzen sich nicht gern an Regeln halten. Liebevoll hat jemand das frisch zementierte Stück Weg mit Säcken umstellt und mit Absperrband umzäunt. Die Diagonale verdeutlicht, dass man den Bereich nicht betreten soll. Die Katze

 Frank Dürrach

 Frank Dürrach

versteht das als Einladung, aalt sich auf dem kreisrunden Gullydeckel und fühlt sich wohl. Angesichts der handwerklichen Qualität der Ausbesserungsarbeit kann man ihr aber nicht böse sein. Ich weiß nicht, ob dieser Handwerker an der Stahlkonstruktion  beteiligt war, aber auch sie wirkt wenig vertrauenerweckend. Dazu passen die Bohrhaltung und die unprofessionelle Kleidung des Mannes. Durch die 80 mm Brennweite (also leichtes Tele) werden die Träger und die Fassade im Hintergrund zu einer nur wenig räumlichen Darstellung komprimiert. Zusammen mit den Kabeln, die überall durch das Gerüst laufen, ergibt sich ein chaotisches Bild. Viel minimalistischer ist der Rahmen, an dem der nächste Typ arbeitet . Es scheint gerade der Moment erfasst zu sein, in welchem er auf der Leiter das Gleichgewicht verliert und das schräge Teil Übergewicht bekommt. Dem könn-

 Maya Claussen

te er bei seinem Standpunkt nichts entgegensetzen. Der Schwung der fernen Brücke zeichnet die Bewegung vor. Der Mann links an der Leiter zieht schon mal schützend die Kapuze über den Kopf, den Herrn rechts interessiert das nicht. Im Rahmen sehen wir ein dringend benötigtes pneumatisches oder hydraulisches Gerät. Darauf steht: »Barth und Kipp«! In dem einfachen Handyschnappschuss  geht es wiederum um einen Mann. Er sitzt auf einem dünnen Klappstühlchen, obwohl er (laut Krücke) doch sicher einen bequemen Sessel vertragen könnte. Dieser steht neben ihm, ist im Bild aber von dem dicken Stamm einer gekalkten Palme visuell abgetrennt. Mann und Sessel können nicht zueinander kommen und so wenden sie sich ab. Das brillante Bild  aus einer Fotoreportage wurde in Indien gemacht. Es gliedert sich in vier horizontale Streifen: ein schmales Stück freier Himmel, meh-

 Frank Dürrach

rere, ziemlich verwahrloste Gerüste, Häuser und Menschen auf der Straße. Alles hat etwas ziemlich Deprimierendes, denn Schwaden verschleiern die Sicht und an den Stangen hängen nur noch Fetzen der ehemaligen Werbebotschaften. Die vier Konstrukte stehen mächtig über der Szene, sind aber nunmehr traurig funktionslos. Hat man viele oder sehr expressive Linien, spielen sie die Akzente an die Wand. Die rote Linie des Zuges  sowie die Bewegungsrichtung der Menschen auf dem Bahnsteig laufen rechtwinklig gegen die Linien des Aufzugs. Diesen und den Hell-dunkel-Kontrast fand ich beim Fotografieren gut. Nicht ganz optimal ist die Verteilung der Leute. Mit mehr Glück umschlösse jeder Rahmen eine Person, so wie das bei den Damen rechts der Fall ist. Ich muss es demnächst wiederholen. 121

 Carsten Nichte  Snezhana von Büdingen  Frank Dürrach  Andreas Horsky

 Frank Dürrach

Linien, die Geschichten erzählen ... poetische, klare, vieldeutige, rätselhafte, dünne, starke, schräge, wichtige, nebensächliche, aus dem Leben gegriffene, inszenierte.

 Dana Stölzgen  Antonia Lange

 Sabine Tenta  Frank Dürrach

 Antonia Lange

Zusammenfassung

Linien

Nach den Akzenten sind Linien wohl das zweitwichtigste der drei Bildelemente. Während Akzente der Blickfang sind und häufig den Bildinhalt bestimmen, modifizieren Linien diesen eher. Allerdings können ausdrucksstarke Linien sehr wohl ein Bild dominieren – und schließlich kommen Bilder ja oft auch ohne Akzente aus. Arten: Man kann Linien nach ihrer Gestalt unterscheiden: • nach Lage in Horizontale, Vertikale, Diagonale und Fluchtlinien, • dünne und starke Linien, • durchgezogene und unterbrochene (optische) Linien, • freie Linien, Geraden und geometrische Linien, • bunte und unbunte Linien. Funktionen: Die Aufgaben von Linien im fotografischen Bild sind vielfältig. Insbesondere wären dies: • Linien können den Bildraum gliedern, indem sie Flächen bilden. Das Bild erhält so mehrere Bereiche, in denen das Bildgeschehen ablaufen kann oder die leer bleiben. Die Untergliederung eines Bildes durch Linien schafft gewöhnlich Übersicht. • Sehr nah verwandt ist die Funktion des Trennens, des Ein- oder Aussperrens und des Distanzierens. Das geht









• •

über die reine Bildgestaltung weit hinaus und bestimmt die Aussage der betreffenden Fotografie mit. Dasselbe gilt für die gegenteilige Tätigkeit der Linien: das Verbinden, Zusammenfassen, In-Beziehung-Setzen von Bildgegenständen. Linien sind eines von mehreren Gestaltungsmitteln, um Dynamik zu erzeugen. Insbesondere freie Linien (Schwünge, Zickzack) und Diagonalen schaffen das und gleichen so eine Schwäche des in der Fotografie »eingefrorenen« Moments aus. Ähnlich ist das mit der Bildtiefe. Hier helfen Fluchtlinien und Kanten den Verlust der dritten Dimension in dem flachen Medium auszugleichen. Auch hierbei gibt es weitere Gestaltungsmittel wie etwa Größenabnahme, Tiefenunschärfe und Farbregie, die diese Wirkung unterstützen können. Linien dienen per Blickführung der Orientierung im Bild. Dabei ist erwiesen, dass man Linien nicht direkt mit dem Auge verfolgt – wohl aber bei der Bildverarbeitung im Kopf. Linien können als Ornamente den Sinn für das Schöne erfreuen. Durch die vorangehend beschriebenen Eigenschaften können Linien schließlich die Aussage einer Fotografie tragen oder modifizieren. 125

Bildmodell

Strukturfotos

Wird ein Element kontinuierlich auf einer Fläche wiederholt, entsteht eine Struktur. Genau genommen sind Strukturen also gleichförmig gefüllte Flächen. Strukturen werden von vielen Betrachterinnen und Betrachtern als attraktives Bildelement wahrgenommen. Dementsprechend sieht man häufig Bilder, die Strukturflächen enthalten. Wenn diese Flächen das Bild deutlich prägen, weil Akzente keine oder nur eine untergeordnete Rolle spielen, dann könnte man das als Strukturbild bezeichnen. Das will ich hier auch tun und solche Bilder als ein fotografisches Modell beschreiben. Aufgrund der fehlenden Akzente spielen Linien und andere (glatte) Flächen in Strukturfotos oft eine wichtige Rolle. Strukturen können einfach visuell interessant sein; von Fotokünstlern wie Andreas Gursky, Peter Bialobrzeski oder Edward Burtynsky wird das Modell allerdings auch genutzt, um unsere industrialisierte Massengesellschaft zu thematisieren.  Das klingt auch in dem Bild rechts an, denn hier bilden die Container – Stellvertreter für die industrielle Warenwelt – eine Mauer, deren Ende nicht absehbar ist.

126

 Pia Berger-Bügel

Strukturbilder | Grundlagen

 Frank Dürrach

Strukturen umgeben uns überall in unserer Welt. Die Natur schafft sie und wir Menschen tun das auch. Kein Wunder, denn Strukturen sind ein sehr gutes Organisationsprinzip; dieses schafft auf einfache und effiziente Weise durch Wiederholung Masse. Das zeigen sehr schön die ersten Bilder. Wie andere Wiederholungen auch erleichtern Strukturen das Verständnis des im Bild Gezeigten. Strukturen werden von vielen Betrachtenden als visuell attraktiv empfunden. Auf dem Farnfoto  kann man schwerlich einen Punkt ausmachen, der besonders interessant wäre, der also den Blick immer wieder anzöge oder Betrach­ tende lange beschäftigen würde. Stattdessen schweift man über das Bild und erfreut sich an den unterschiedlichen Grüntönen, die durch Licht und Schatten

128

 Sabine Tenta

 Cord Richert

erzeugt werden. Ab und zu wandert der Blick wahrscheinlich zur Außenkante der Struktur und sucht dort (vergeblich) nach weiterer, interessanter Information. Die Stärke der Strukturbilder, ihre Ruhe, Einfachheit und Konzentration, ist mitunter auch ihre Schwäche. Vom Menschen gemacht ist die Struktur aus Fachwerk auf diesem weit interessanteren Bild . Das Teleobjektiv hat das Bild flach werden lassen; dies liegt daran, dass die Größenabnahme der Gegenstände vom Vordergrund bis in die Tiefe recht gering ist. Wie ein Treffen sich ähnlich sehender Verwandter wirkt das Städtchen. Nichts dominiert, daher beginnen wir zu vergleichen. Auf einmal werden Details wichtig, das ist wiederum eine Stärke des Bildmodells. Einzelne Fachwerkornamente, Diagonalen, ein durch Schieferplatten in Schwarz und Weiß geteiltes Haus, das mehr oder weniger angepasste moderne Gebäude

 Frank Dürrach

 Alen Ianni

 Arnd Cremer

rechts oben im Bild – all das und mehr kann man wahrnehmen, weil kein wesentlicher Akzent die Aufmerksamkeit fesselt und das Bild bestimmt. In Bild  treffen Industrie und industrielle Landwirtschaft aufeinander. Die Strukturen liegen in Bändern übereinander: zuerst die rohe Natur (das Unkraut), dann die gewaltige Menge gebogener Streben, sodann das Gewächshaus und darüber der Himmel. Der Fotograf hat den Standpunkt so gewählt, dass Pflanzen und Halterungen durch die Fensterrahmen des Gewächshauses getrennt werden. Die offenen Klappen lassen Atmosphäre in dessen geschlossene Welt. In diesem Bild werden Strukturen zu aussagekräftigen Zeugnissen der Gewächshauskultur. Der Schleier von Weiß ist in der Landschaftsfotografie ein beliebtes Mittel geworden, um klarzustellen, dass die jeweilige Bildserie einen allgemeingültigen (politischen) Anspruch erhebt.

 Angela Graumann

Der Reiz der Nahaufnahme eines marokkanischen Gestrüpps  liegt im Spiel der Linien, von Licht und Schatten, der Farbnuancen und der Tiefe des Bildes durch die Größenabnahme der Linien. Die unregelmäßige Struktur der Kaulquappen  punktet mit ihrer Bedeutung. Schließlich wird die Struktur hier aus lauter individuellen Lebewesen gebildet. Jedes ist anders als der Nachbar, aber gemeinsam bilden sie einen Schwarm. Formale Strenge kennzeichnet das Gebäudedetail . Der Fotograf setzt durch den Standpunkt eine zentrale Linie, die das Gebäude und das Bild über Licht und Schatten hinweg halbiert. Genau das Gegenteil  ist bei dem Haufen verschrotteter Fahrräder der Fall. Offenbar kann auch aus dem Chaos wieder eine ordentliche Struktur erwachsen. Auf der inhaltlichen Ebene ist in dem Bild die Melancholie ausgedienter Gegenstände präsent. 129

 Frank Dürrach

Strukturbilder | Strukturen als Bildinhalt

 Holger Klöter

130

 Zuzana Gajdosikova

Muster, Ornamente, Strukturen, Rapporte (so werden Muster auf Textilien genannt) lauern überall. Manchmal verleihen die Strukturen einer Fotografie ihre Bedeutung, manchmal sind sie vor allem ornamental, also schön anzuschauen. Eine Gruppe Jesusfiguren in Reih und Glied ist natürlich absurd . Die Einzigartigkeit der Bedeutung der historischen Figur Jesus und ihr revolutionärer Charakter laufen dem Bild zuwider. Hier sind die Statuetten fein säuberlich aufgereiht, das Leiden am Kreuz wird sortiert, strukturiert. Viele Betrachter fühlen sich bei solchen Bildern zum Vergleich zwischen den Elementen eingeladen. Die Dichtungsringe  darf man wohl in einem Baumarkt vermuten. Das Bild ist wirklich simpel, aber es punktet auf mehreren Ebenen. Die Scheiben sind durch ihren Variantenreichtum interessant. Der rote Untergrund hält alles zusammen und kontrastiert schön mit den grünli-

 Joshua Hoffmann

chen oder blauen Objekten. Das kleine Lochmuster ist eine regelmäßige Struktur unter einer unregelmäßigen, stellt also einen weiteren Kontrast dar. Es gibt strenge Strukturbilder, die keine Akzente enthalten; das sind dann gleichzeitig »Nullakzenter«. Ich würde aber auch Bilder zu den Strukturbildern rechnen, die von Mustern oder Strukturen dominiert sind und mindere Akzente aufweisen, die sich auf diese Strukturen beziehen. In diesem Treppenhaus  entstehen die Strukturen aus den Linien des Geländers und aus der Maserung des Betons, die von der Holzverschalung beim Guss stammt. Die Blickrichtung der Kamera ist sehr subjektiv, aber die Szenerie wirkt nüchtern. Die hellblaue Färbung hält das ganze Bild zusammen, obwohl es diagonal geteilt ist in einen von Linien und einen von Flächen geprägten Bereich.

 Jenny Ahr  Simone Hampe

 Simone Hampe

 Frank Dürrach

Strukturfotos  werden interessanter, wenn verschiedene Strukturen aufeinandertreffen. Hier sind es die schön aufgereihten Eier im Karton; demgegenüber sind die Dotter weniger geordnet. Und vor allem ist die Kombination erzählerisch, denn es steckt hier eine kleine Geschichte von »vorher – nachher« oder von »versehrt – unversehrt« darin. Die beiden Details aus Interieurs  funktionieren durch ihre Farbnuancen und durch ihr Licht. Es gelten also die allgemeinen Regeln, was attraktive Bilder ausmacht. Eine Mauer aus Zuckerstückchen . Die Fotografin hat das wirklich klug inszeniert. Das Licht und das leichte Vorund Zurückspringen der »Steine« schafft eine starke Struktur. Das leichte Glitzern der Zuckerkörnchen kommt hinzu. Alles ist in einem tristen Schwarzweiß gehalten – passend, denn das Bild stammt aus einer Serie über Zuckerkrankheit.

 Britta Bartel

Das Bild mit den Seerosen  hingegen arbeitet mit Farben; genauer gesagt mit einer Analogharmonie, die im Farbkreis benachbarte Farben umfasst. Ein interessantes Detail sind die Fressspuren auf den Blättern, also die dicken Linien. Das Reizvollste für mich ist allerdings die Assoziation mit dem Uralt-Computerspiel »Pacman«. Die Blätter selbst scheinen Wesen zu sein, die etwas schnappen wollen. Die gleiche Richtung dieser »Wesen« stärkt den Eindruck, eine Struktur zu sehen, und überspielt somit die Lücken und Unregelmäßigkeiten, die eine Struktur eigentlich nicht aufweisen sollte. Das fotografierte Kunstwerk schließlich schafft einen starken Eindruck von der Kraft dieser Installation. Die Farben des Regenbogens, die Spiegelung an der Wand, der Hell-dunkel-Kontrast und die Entfaltung der Raumtiefe durch die Größenabnahme der Neonröhren machen das Bild  zu einem Hingucker. 131

 Christof Jakob  Sven Philipp

 Michaela Wissing  Cord Richert

 Michaela Wissing  Christof Jakob

Strukturen der modernen Welt Die Natur und das Handeln des Menschen lassen allerorten Strukturen entstehen. Sie sind ein beliebtes Sujet der Fotografie, da sie optisch attraktiv und (manchmal) inhaltlich interessant sind.

 Arnd Cremer

 Stefan Winterstein  Christian Palm

 Sven Philipp  Frank Dürrach

 Andrea Dummer  Frank Dürrach

 Arnd Cremer

 Katharina Rösch

Muster, überall Muster! Die etwas schrillere Variante der Strukturen bilden Muster. Diese sind gewöhnlich vom Menschen entworfen und werden innerhalb der Kulturen weitergegeben; sie sind oft verspielter und bunter als Strukturen, die eher unbeabsichtigt entstehen. Muster können Bilder visuell attraktiv machen (), man kann Muster satirisch einsetzen, indem man Bilder mit ihnen überlädt () oder unverträgliche Muster konfrontiert (). Wenn auf Kuba ein Vorhang eine Mauer kaschiert  oder ein falsches Muster eine Reparatur leisten soll , dann wird es metaphorisch und Muster werden erzählerisch.

 Ulf Frohneberg  Andrej Kleer

 Julian Schievelkamp

 Andrea Dummer

 Christian Beauvisage (Fotocollage aus Handyfotos von Baumkronen und Ästen.)

Zusammenfassung

Strukturfotos Strukturen und Muster Strukturen in der Fotografie sind Flächen, in denen kleinere Elemente ständig wiederholt werden. Die Natur bringt Strukturen hervor und der Mensch und seine Gesellschaften tut das auch (wenn man den Menschen nicht ohnehin der Natur zurechnen möchte). Muster (in dem hier beschriebenen Sinne) sind vom Menschen erfunden. Neben Klassikern wie etwa gepunktet, kariert oder gestreift gibt es eine unübersehbare Menge mehr oder weniger geschmackvoller Flächenornamente. Strukturen und Muster können ziemlich inhaltsleer oder mit Bedeutung und Tradition aufgeladen sein.

Das Bildmodell Man könnte das Modell eng fassen und lediglich Bilder »gelten lassen«, die keine Akzente, sondern nur Strukturen und vielleicht noch Linien und glatte Flächen enthalten. So wäre dann gleichzeitig das Bildmodell »Nullakzenter« definiert. Es schafft allerdings wesentlich mehr kreative Freiräume, wenn man auch hier weite Grenzen zieht und ganz einfach empfiehlt, auf Strukturen als Bildgegenstand zu achten. Weitere Strukturen, Linien, unstrukturierte Flächen und Akzente kann man sehr gut hinzunehmen. Strukturfotos wären demnach Bilder, die wesentlich von Mustern oder Strukturen geprägt sind.

Ihre Rolle in der Fotografie ... ist groß. Das liegt daran, dass der Bild­ raum gefüllt werden muss; und das geht nur mit Akzenten, Linien und Flächen. Dabei haben Flächen zum Glück die angenehme Eigenschaft, große Teile eines Bildes einnehmen zu können, ohne allzu viel Aufmerksamkeit zu binden und Unruhe ins Bild zu bringen. Auf Dauer sind leere, unstrukturierte Flächen allerdings etwas langweilig, deshalb haben in vielen Bildern Strukturen ihren mehr oder weniger großen Auftritt.

Attraktivität von Strukturen Strukturen sind gern gesehene Bildelemente. Das dürfte einerseits daran liegen, dass sie durch die Wiederholung, aus der sie bestehen, schnell und klar erfassbar sind. Hinzu kommt, dass Strukturen das Ergebnis natürlicher oder kultureller Prozesse sind. Insofern haben sie oft einen natur- oder gesellschaftswissenschaftlichen Gehalt. Sie sind also oft auch inhaltlich bedeutsam. Der dekorative Aspekt spielt aber gewiss ebenso häufig eine Rolle. 137

Bildmodell

Die Bühne

Dieses Modell hat in seiner Bildsprache große Überschneidungen mit der »Sachlichen Fotografie«, die in den deutschen Hochschulen und Sammlungen seit Langem die Szene beherrscht. Klassiker wie August Sander , Albert Renger-Patzsch , Heinrich Riebesehl , Wilhelm Schürmann oder Bernd und Hilla Becher und ihre »Düsseldorfer Schule« prägten diesen Stil; international könnte man Robert Adams und Teile des Werkes von Walker Evans und Stephen Shore nennen. Kennzeichen sind ein großer Aufnahmewinkel und eine gerade stehende Kamera, die etwa auf Augenhöhe in eine unverstellte Szenerie blickt. In der dokumentarischen Fotografie soll so vor allem »die objektive Wirklichkeit« zur Geltung kommen – statt die subjektiven Sichtweisen der Fotografierenden auszudrücken. Man wählt Technik, Ort und Moment, tritt aber selbst – bescheiden – hinter seinen Aufnahmegegenstand zurück.  In dieser inszenierten Modefotografie werden ähnliche Mittel genutzt, aber das Ergebnis ist völlig anders, denn schließlich entspringt das gesamte Arrangement der minutiösen Planung einer Fotografin.

138

 Nicole Tersteegen

Die Bühne | Grundlagen

 Raffaele Horstmann

140

Die Bühne dieses Bildmodells kann leer sein. Gibt es aber einen Akteur, so spielt dessen Zusammenwirken mit der umgebenden Szenerie eine wesentliche Rolle für das Bild. Die junge Frau macht einen deplatzierten Eindruck, wie sie in ihrer rosa-seidenen Robe auf dem U-Bahnsteig steht . Kalt lässt uns die Szene aber nicht. Dies ist eines jener Bilder, die nicht nur den Augenblick zeigen, sondern die eine Vorgeschichte und vielleicht auch ein Nachspiel haben. Das würde man gern ergründen, denn dann würde sich vielleicht erklären, was jemand in einem etwas zu billigen Kleid, mit zu viel Schmuck, mit einem Spielzeug und einem solchen Blick hier verloren hat. »In welchem Film bin ich hier?« Die Umgebung ist schäbig und feindlich, das Licht hart. Das Bild ist von horizontalen Linien geprägt, die in die vertikal stehende Figur hineinlaufen

 Edgar Olejnik

oder Barrieren bilden. Immerhin wird die Prinzessin blau hinterlegt, bekommt also wenigstens etwas gestalterischen Respekt. Dass die Fläche freilich oben und unten nicht ausreicht, ist auch wieder etwas armselig. All das sehen wir offenbar vom gegenüberliegenden Bahnsteig aus. Trotz Blickkontakt liegt hierin sehr viel Distanz, was typisch für dieses Bildmodell ist. Es ist mehr registrierend als engagiert – oder jedenfalls tut es so. Auch der nächste Bahnsteig bietet eine theatralische Begebenheit . Das Bild ist ein Schnappschuss, keine fotografische Inszenierung, gleichwohl führt der Zufall ein seltsames Stück auf dieser Bühne auf. Der Fotograf hat allerdings das Buchcover geschwärzt und damit einen zweiten Textakzent beseitigt. Dadurch wird das Element grundsätzlicher: Es wandelt sich von einem bestimmten Buch einfach zu »Buch«. Der Passant ist genau im richtigen Moment festgehal-

 Snezhana von Büdingen

 Vico Leon

ten, so interagiert er mit dem verheißungsvollen Text und dem schwarzen Buch – man könnte ihn für einen Teil der Plakatwand halten. Deren mittelgraue Fläche löst die drei Akteure »Mann«, »Buch« und »Slogan« vom Hintergrund und bindet sie zusammen, ganz ähnlich wie im vorherigen Bild. Dasselbe finden wir in Bild ; zusätzlich wird unser Blick durch die Treppe auf die ferne Frau (eine »Leiche«) gelenkt. Durch diese Blickführung und durch die mittige Position kann es sich das Bild leisten, mit einem so kleinen Akzent zu arbeiten. Das schafft viel Abstand, aber die Person geht in den Linien, Flächen und den Komplementärfarben Rot und Cyan trotzdem nicht unter. Die anderen Bilder arbeiten ohne Menschen, aber nicht ganz ohne Darsteller. Zunächst ist es ein Bett, auf dem man nicht mehr liegen kann . Also ein Sinnbild für den Verfall der einstigen Pracht,

 Marvin Hüttermann

die man in diesem Raum noch erahnen kann. Die Spiegelungen im Vordergrund wiederholen Teile des Bildes, aber alles ist zerrissen. Und alles ist ganz nach den Maßgaben Sachlicher Fotografie aufgenommen: ohne technische Fehler, mit Kamera auf Augenhöhe, geradeaus, zentralperspektivisch, verzeichnungsfrei (die vertikalen und horizontalen Linien laufen parallel zu den Bildkanten und »stürzen« nicht). Der Fotografierende hält sich zurück, setzt ganz auf die Wirkung des Aufnahmegegenstands. So arbeitet auch Bild , aber das ist ein Trick. Es kommt ebenfalls sachlich daher, sagt: »Sieh hin, so ist es tatsächlich (gewesen).« In Wahrheit bekommen wir aber eine Inszenierung des Fotografen, die uns bloß suggeriert, hier liege ein dokumentarisches Bild vor. Ein toter Fasan hängt in einem schäbigen Bad, das Bild kommentiert dies nicht, sondern nimmt es (scheinbar) neutral hin. 141

 Klaus Dyba

 Holger Klöter  Joshua Hoffmann

 Matthias Vogel  Christian Palm

Bühnenwerke

Sowohl die Dokumentarfotografie als auch die künstlerisch inszenierende Fotografie bedienen sich dieses Bildmodells. Die eine möchte gewöhnlich »die Realität« möglichst unverfälscht wirken (), die andere ihre Inszenierungen real erscheinen lassen (). Die Übergänge sind fließend (). Beide Arten der bühnenhaften Fotografie zeigen immer Szenerien – in denen Akteure auftreten können oder eben nicht.

 Oliver Volke

 Dennis Wilhelms

 Marvin Ruppert

 Michaela Grönnebaum

Die Bühne | Dokumentarisches und Inszeniertes

 Frank Dürrach

Manche teilen Menschen, die fotografieren, in zwei Gruppen: in »Window- und Mirror-Fotografen«. Also solche, die fotografisch die Welt entdecken möchten, und solche, die mehr dem subjektiven Erleben Ausdruck geben wollen. Das ist natürlich etwas schematisch und es gibt viele Zwischenformen, aber diese Kategorien helfen trotzdem sehr weiter, um klarer zu sehen. Bühnenhafte Fotografien sind vordergründig der Window-Seite zugeneigt, aber nicht immer. Das Bildmodell hat den Vorteil, dass es den Betrachtenden durch seine weiten Blicke relativ viel Information liefert und Freiräume bietet. Man schaut gewissermaßen in ein Fenster zur Welt. Viele Landschaftsfotos haben Bühnenblick; in Bild  ist die Bühne selbst das Thema. Sie ist weit, aber leer. Man weiß nicht, was unter der Oberfläche vorgeht,

144

 Edgar Olejnik

 Oliver Volke

ebenso links und rechts jenseits der Bildkanten, und der Blick in die Ferne wird durch Nebel verkürzt: Reduktion. Das Bild  entstammt einer Fotoreportage und ist gleichzeitig ein Architekturbild, auch wenn nur ein Ausschnitt des Gebäudes gezeigt wird. Der Vordergrund des Bildes ist eine Bühne, von horizontalen Linien geprägt, nur ein armer Kriegsveteran hebt sich ab. Die Kulisse für diese Szene bilden die gewaltigen Vertikalen des georgischen Parlaments. Hier wird ein Stück von Armut und Reichtum, Macht und Ohnmacht gegeben. Die nächsten Fotos enthalten alle Porträts: ein gestelltes Porträt, wie man es in vielen sachlichen Reportagen findet, ein Schnappschuss, eher typisch für die Straßenfotografie, und ein inszeniertes Kunstfoto. Im ersten Porträt  stimmt alles: die Pose, die große Grünfläche, die dem Vordergrund die Ruhe verleiht, damit das Porträt wirken kann, die An-

 Thomas Böckenförde

 Holger Klöter

bindung des Hintergrunds und der Figur durch die Schienen, die leichte Unschärfe, die die Häuser zurücknimmt, ohne die Informationen zu beseitigen. Die Fußballspieler  entfalten durch ihre Körperhaltung eine gewisse Dynamik – das ist für das Bildmodell eher ungewöhnlich. Die beigefarbene Umgebung kontrastiert mit den Spielern und diese kontrastieren in Rot und Grün sehr schön untereinander. Eine Spannung besteht auch zwischen dem bühnenhaften und untypischen Ort und dem Spiel. Eigentlich sind es ja drei Kicker, aber es hat da wohl kürzlich ein Foul gegeben. Aus einer stark konzeptionellen Serie stammt das »Milchmädchen« . An sich handelt es sich um eine Alltagsszene, aber im Bild gibt es eine subtile Verfremdung, die eine Irritation auslöst. Körperhaltung und Hingabe der Frau würden eher zum Einschenken eines Glases Wein passen als zur Milch.

In der Architekturfotografie hat das Bildmodell einen sehr hohen Stellenwert. Schließlich geht es hier häufig darum, zunächst einen Raumeindruck  wiederzugeben (bei Interieurs) oder einen Baukörper und seine Lage in der Umgebung (Exterieurs) darzustellen. Kommentierendes oder Erzählerisches wird dann oft über Detailaufnahmen hinzugenommen. Bühnenblick und Landschaft gehen gut zusammen, das gilt auch für Stadtlandschaften. In Abbildung  sprechen die gelben und blauen Elemente uns an und ziehen uns ins Bild. Die Stärke ist gerade die Distanz und der weitgehende Verzicht auf subjektive Gestaltungsmittel. Im besten Fall blickt man durch das Bild in eine ferne Welt. Insbesondere wirken großformatige Farbbilder, die – etwa in einer Ausstellung – in Augenhöhe gezeigt werden, oft wie ein faszinierendes Fenster zu einem anderen Ort und in eine andere Zeit. 145

 Stefan Winterstein

Zusammenfassung

Die Bühne Die Bühne ist ein Bildmodell, das auch »Bühnenblick« oder adjektivisch »bühnenhafte« Fotografie genannt wird. Entsprechende Bilder zeigen gewöhnlich eine eher weite Szenerie. In dieser können Menschen, Tiere, Objekte auftreten, müssen es aber nicht.

• Verzichtet wird auf jede Verfremdung, etwa durch extreme Brennweiten, starke Bildbearbeitung, deutlich erkennbare Lichtsetzung (etwa direkter Blitz als Hauptlicht), Verstellung und andere Verunklarung der Aufnahmegegenstände.

Kennzeichen Das Modell vermeidet weitgehend eine subjektive fotografische Handschrift, sondern möchte in der Fotografie die Welt zeigen. Das angestrebte Ideal ist dabei (paradoxerweise) etwa das Bild, welches in unserem Kopf entsteht, wenn wir geradeaus in eine Szenerie blicken. Als interessant gilt, »wie es aussieht«, weniger »wie es sich anfühlt«. • Wichtig ist demnach technische Perfektion der Aufnahme, also Durchzeichnung in den Tiefen und Lichtern, natürliche Farbwiedergabe mit intakten Farbverläufen, keine Farbsäume an kontrastreichen Kanten. • Die Kamera steht gerade, oft mit Standpunkt auf Augenhöhe, eine schiefe oder nach oben oder unten geschwenkte Kamera ist verpönt. Stürzende Linien werden korrigiert. • Dynamik durch Verwacklung wird vermieden, ebenso krasse Unschärfe. • Wichtig sind vielmehr gute Erkennbarkeit der Formen und Strukturwiedergabe der Materialien.

Einsatz und Wirkung Bühnenhafte Bilder spielen im Repertoire der Sachlichen Fotografie eine überragende Rolle. Landschaftsfotografie, Architekturaufnahmen, Porträt »on location« (also außerhalb des Studios), Fotoreportage, Produktfotografie – hier wird das Modell seit Anfang des 20. Jahrhunderts als Standard genutzt. Interessanterweise hat sich aber auch die künstlerische Fotografie in ihren Inszenierungen dieser Bildsprache bemächtigt, obwohl es ihr um völlig andere Ziele geht. Sie nutzt das Versprechen, »die Wirklichkeit« direkt und nicht verfremdet oder gar malerisch zu zeigen, um ihren eigentlich subjektiven Kon­ struktionen reale Durchschlagskraft zu verleihen. Ein recht schlauer Trick. Beide fotografische Richtungen bezahlen das Informative und das real Erscheinende des Bildmodells allerdings oft mit einer gewissen emotionalen Distanziertheit, mit der das Publikum solche Fotoarbeiten betrachtet. Manchem ist freilich gerade das sehr recht. 147

 Monika Probst

Bildelement: Flächen

Arten und Funktionen Flächen bestimmen eine Fotografie weniger stark, als Akzente und Linien das tun. Trotzdem sind sie gewissermaßen der Ausgangspunkt eines Fotos, denn dieses ist ja selbst eine Fläche. Auf dieser Bildfläche können dann Kreise, Dreiecke, Vierecke, andere geometrische oder gar unregelmäßige Flächen auftauchen. Das heißt, man kann die Flächen nach ihrer Form einteilen. Entscheidend für ihre Wirkung ist auch, wie Flächen gefüllt sind, also bunt oder farblos, mit einem Verlauf oder einfarbig, mit Struktur oder glatt. Weiter bietet sich an, sie nach ihrer Lage zu klassifizieren, also etwa, ob ein Dreieck auf einer Seite oder auf einer Spitze steht oder ob eine Fläche »flach« im Bildraum liegt oder perspektivisch in die Tiefe zu führen scheint. Entsprechend diesen Eigenschaften haben Flächen in Bildern viele Funktionen. Diese Funktionen sind denen der Linien erstaunlich ähnlich und werden in diesem Kapitel behandelt.  In diesem atmosphärisch dichten Bild gibt es »flache« (Tür) wie perspektivische Flächen (Boden) und glatte (Boden, Tür) wie mit Verläufen gefüllte Flächen (Wände, Decke). Die Linien und Akzente (Türknäufe, Rauchmelder) spielen hier eher eine untergeordnete Rolle. 149

 Pixabay  Pexels

 Frank Dürrach  Sven Sester

 Cord Richert

 Pexels

Dreieck, Kreis, Viereck und Verwandte Wir starten mit einer Bildergalerie einfacher Fotos, die von ganz unterschiedlichen Arten von Flächen geprägt sind: Manche sind geometrisch (①③⑤⑥⑦⑧⑫), manche unregelmäßig (②④⑨⑩⑪), einige glatt (③⑦⑨), andere mit Struktur oder Muster gefüllt (④⑥⑧⑩) und einige weisen einen Verlauf auf (①⑤⑨⑪).

 Pixabay  Pixabay

⑪ Pexels  Pexels  Pixabay

⑫ Pixabay

 Pexels

Flächen | Arten

 Pixabay

Bevor wir zu den Funktionen der Flächen in Bildern kommen, sollen zunächst einige Grundbegriffe dargestellt und illustriert werden. Außer nach Form, Größe und Farbe kann man Flächen zum Beispiel danach einteilen, ob sie eine Positiv- oder eine Negativform aufweisen, ob sie eben oder plastisch sind sowie ob der Blick auf sie flach oder perspektivisch fällt. Wie viele Flächen enthält Bild ? Natürlich drei, einen Kreis und zwei unregelmäßige Flächen, nämlich eine umbrafarbene oben und eine in Anthrazit unten. Grob betrachtet sind es zwei Rechtecke, die jeweils eine unregelmäßige Seite aufweisen. Der Kreis der Sonne wiederum hat durch einen leichten Wolkenschleier einen unregelmäßigen Verlauf. Das wäre die nüchterne Beschreibung. Das Bild ist aber magisch durch die Größe der Son-

152

 Pixabay

 Monika Probst

 Pixabay

ne (dank Teleobjektiv) und den schönen Kontrast der Sonne zum Hintergrund in Farbe, Sättigung und Helligkeit. Und wie viele Flächen hat Bild ? Sehr schwer zu zählen, denn fast jede Fläche ist unterteilt und die Spiegelungen machen es fast unmöglich. Mir ging es um das Quadrat in der Mitte: Es ist eine Aussparung, also eine »Negativform« oder auch »Restform«. So nennt man eine Form, die übrig bleibt, wenn ein Gegenstand den Blick auf einen Hintergrund freigibt. Das ist im Grunde Unsinn und vom Gegenstand her gedacht, nicht von der Fotografie. Siehe Bild , denn da taucht eine fast identische Form auf, die hier aber als Positivform gelten würde. Dieses Bild wiederum lebt vom Kontrast der strengen, rechteckigen Form mit den zittrigen Linien der Äste, die nach ihr zu greifen scheinen. Hingegen haben wir in Bild  einen Gleichklang der eckigen Formen und der Blautöne, deren

 Pexels

 Pixabay

 Pixabay

 Pexels

Helligkeit von nahezu Schwarz (die Dreiecke, die auf die Restform weisen) bis zu Hellblau reichen (das Dreieck links an der Restform). Die kreisförmige, rote Skulptur  besteht aus Segmenten und weist in ihrer Mitte ebenfalls eine Restform auf. Denkt man vom Gegenstand her, sagt man, diese sei auch ein Kreis; das Bild zeigt an dieser Stelle aber genau betrachtet drei Formen: eine schmale hellrote, eine dunkle und das himmelblaue »Auge«. Die Kreise in Bild  sind eigentlich Kugeln, das sieht man am Verlauf der Helligkeit und an den Reflexen. Demnach wären dies also keine »flachen« oder »ebenen« Formen, sondern »plastische«. Auch das ist wieder auf den ursprünglichen Gegenstand bezogen, denn auf dem Bild haben die Kugeln ja gewiss die dritte Dimension verloren. In der Fotografie vom Rummel  gibt es ein weiteres Merkmal von Formen

 Frank Dürrach

zu sehen. Auf den Kreis des Riesenrads schauen wir ziemlich flach (von der Ebene der Fotografie aus gesehen), während das Rund des Karussells perspektivisch verkürzt zur Ellipse wird. Ebenso ist das bei den (wohl eigentlich kreisförmigen) Lampenschirmen in . Wir erschließen das aus dem Kontext, denn im Bild  ist ebenfalls eine Ellipse zu sehen; aber hier erkennen wir an den Details mit unserer Alltagserfahrung sofort, dass das eine zur Bildebene flach liegende Form ist. Die Kugel der Pusteblume schließlich bleibt in einem Bild immer ein Kreis, egal, aus welcher Ansicht wir sie fotografieren . Es sei denn, wir pusten vorher. Ganz schwierig wird es mit Bild , denn die Rauten (es sind beinahe Rechtecke) sind fast nur an den schwarzen Begrenzungslinien erkennbar. Sind es also abwechslungsreich gefüllte Flächen oder ist alles eine Szene, die von einem Liniengitter unterteilt wird? 153

 Pixabay

 Pixabay

Flächen | Dynamik I

 Pexels

Ab hier geht es um die vielen Funktionen der Flächen im fotografischen Bild. Das Merkwürdigste vorab: Die Liste dieser Funktionen ist beinahe identisch mit der aus dem Kapitel über Linien. Vermutlich liegt dies daran, dass es Flächen ohne Linien ja eigentlich nicht gibt, denn jede Form hat eine Begrenzungslinie () oder Außenkante (), die man als Linie auffassen kann. Flächen können – genau wie Linien – in Bildern Dynamik erzeugen. Ganz ähnlich wie bei den Linien entsteht Dynamik bei Flächen durch geschwungene Formen und durch diagonale Außenkanten. In Bild  tragen mehrere Faktoren zu dem bewegten Eindruck bei: die vielen Linien, das Zickzack der Treppe. Zudem zieht die starke Perspektivenwirkung unseren Blick scheinbar in die Raumtiefe. Dynamik schafft auch der Schwung der

154

 Pixabay

 Pixabay

Formen – etwa der beigen Fläche oder der weißen Restform im Zentrum. Auch im Bild  ist Bewegung. Diese kommt durch die Vielzahl der unterschiedlich großen Formen, deren diagonale Kanten und von der Welle im Gebäude, die durch die Verzerrung der Rauten deutlich wird. Die Fotografie  der malerischen Schlucht zeigt ebenfalls, wie die unregelmäßigen Umrisse der Felswände das Bild in Bewegung bringen können. Ab Bild  soll die Dynamik der Flächen an sich und ihrer Lage gezeigt werden. Die Grafik  soll das verdeutlichen: Von den drei klassischen geometrischen Formen Quadrat, Kreis und Dreieck ist das Dreieck am bewegtesten, denn es hat meist mindestens zwei Diagonalen als Kanten . Zudem scheint es häufig wie eine Pfeilspitze in eine Richtung zu weisen. Steht es auf einer seiner Seiten, ist es dennoch sehr stabil; allerdings weit-

 Pexels

 Pexels

 Pexels

 Pexels

aus statischer ist das Quadrat. Verformt man nun die Grundformen, dann werden Rechteck und Ellipse etwas dynamischer,

 Andreas Horsky

allerdings kann man sich da gewöhnlich eher eine horizontale Bewegung vorstellen – wenn überhaupt (Grafik  und Bild ). Grundsätzlich liegen Rechtecke nämlich besonders stabil, das sagt unsere Alltagserfahrung. Das Dreieck wird asymmetrisch und quasi zu einem Pfeil. Dreht man die Formen nun auf der Bildfläche (Grafik  und Bilder  bis ), so gewinnen sie erheblich an Dynamik. Das hat mehrere Gründe: Die Formen scheinen sich nun entlang unsichtbarer Diagonalen zu bewegen, Rechteck und Dreieck haben oft nur noch diagonale Kanten und außerdem wissen wir aus Erfahrung, dass solche Formen im realen Leben keinen sicheren Stand hätten. Liegen Flächen dagegen nicht auf der Bildebene, sondern sind perspektivisch verkürzt, dann entwickeln sie ebenfalls eine gewisse Dynamik, denn man folgt ihnen gedanklich in die Tiefe (Grafik , Bilder auf der folgenden Seite). 155

 Pixabay  Pixabay

Flächen | Dynamik II

 Pixabay

Ebenfalls dynamisch wirken perspektivische Flächen, die Bildtiefe suggerieren. Bewegt wirken auch Bilder, die eine Vielzahl von Flächen in unterschiedlicher Lage aufweisen – also »Gewimmel«. Auch diese Arten der Dynamik kommen bei Linien vor. Bild  könnte auch im Kapitel über Linien abgebildet sein, schließlich führen hier zahlreiche Linien »in die Tiefe«. (Tatsächlich laufen sie aber als Diagonalen auf der Bildebene auf den zentralperspektivischen Punkt zu.) Zusätzlich arbeiten auch die Flächen für die Perspektivwirkung. Jede der Kacheln an der Wand ist perspektivisch verkürzt und zudem nimmt deren Größe von Kachel zu Kachel immer weiter ab. Beides schafft den Tiefeneindruck. Betrachtet man den Boden als ein lang gezogenes Rechteck, dann ist auch dieses perspektivisch verkürzt, das heißt, die Fläche wird zur Bildmitte hin immer schmaler und wir er-

156

 Peter Joester

 Pexels

halten ein gleichschenkliges Trapez, welches eine starke Tiefenwirkung entfalten kann. Diese hängt übrigens vom Kontext im Bild ab. Die Grafik auf der vorangehenden Seite zeigt das: Entfernt man die Bäumchen und die Gräser aus den Formen unter Punkt , dann verlieren diese ihre Perspektivwirkung. In Bild  ist der Gegenstand wiederum Architektur. Der Blick geht an einem schön dekorierten Gebäude in Düsseldorf empor. Wieder sind Linien und die Verkürzung und Verkleinerung wesentlich für den Tiefeneindruck, der gleichzeitig für eine gewisse Dynamik sorgt. Auch beim Interieur  entsteht die Tiefenwirkung durch die Verschlankung der Flächen. Gleichzeitig kommt durch die Schwünge zusätzliche Bewegung ins Spiel. Bild (und Architektur) punkten aber vor allem durch das Spiel des Lichts, durch die pastellfarbene grün-braunblaue Färbung und die subtilen Verläufe.

 Pixabay

 Pixabay

 Frank Dürrach

 Pixabay

Auch der Straße  folgen wir mit dem Blick oder im Geiste in die Tiefe. Alle drei Flächen der unteren Bildhälfte sind zu Dreiecken geworden. Grandios ist die Zier dieses Gebäudes . Einerseits hat auch dieses Bild die Dynamik der Tiefenwirkung, andererseits leitet es schon über zur nächsten Fähigkeit der Flächen. Treten diese nämlich gehäuft auf, entsteht oft ebenfalls ein eher bewegtes Bild. Das besorgen hier die vielen lang gestreckten und perspektivisch verkürzten Rechtecke. Auch bei den Kirchenfenstern  spielen mehrere Faktoren zusammen: die Vielzahl der reich unterteilten Formen, die Tiefe (beziehungsweise Höhe) des Raums und die Krümmung der Wand, die durch die Formen beschrieben wird. Dass es auch ganz ohne Tiefenwirkung geht, zeigt Bild . Allein die Vielzahl der roten Ziegelflächen schafft eine gewisse Bewegung. Hier arbeiten diese

 Pixabay

und die Fugen noch zusätzlich gegeneinander (auf den Mittelpunkt hin). Auch die Diagonalen verstärken den Effekt. Ziemlich rein und in Schwarzweiß ist das in der Fotografie  zu sehen. Die Lage der kleinen Dreiecke wechselt so stark, dass durchaus der Eindruck von Bewegung entstehen kann. Bei so einer gleichförmigen Struktur sucht man übrigens sofort nach Abweichungen. Für mich ist dies das Holzstück mit dem »Auge« etwa in der Bildmitte rechts. Ebenso funktioniert das Schattenbild, welches von der Dynamik der Flächen geprägt wird . Diese sind leicht unregelmäßig und zeigen – das ist entscheidend – in die verschiedensten Richtungen. Betrachtet man die Außenkanten, dann ergeben sich lauter gebogene Linien und (dynamische) Diagonalen. Das gilt alles auch für das letzte Foto . Hier kommt noch die Varianz in Farbgebung und Form hinzu. 157

 Pexels

 Pixabay

Flächen | Tiefenwirkung

 Frank Dürrach

158

Genau wie Linien können Flächen den Eindruck von Tiefe erzeugen, also aus der Bildfläche einen Bildraum entstehen lassen. Sie machen das durch perspektivische Verkürzung oder durch Staffelung. Auf der vorhergehenden Doppelseite ging es unter anderem um die dynamische Wirkung des Tiefeneindrucks, der durch Flächen erzeugt werden kann. Hier soll nun diese Funktion an sich beleuchtet werden, also die Fähigkeit von Flächen, einen (perspektivischen) Bildraum entstehen zu lassen. Sich die Frage zu stellen, was für ein Raumeindruck in einer Fotografie eigentlich vermittelt wird, ist oft interessant. In  ist es ein ziemlich langer Schlauch aus Beton, Metall und Glas. Die große Tiefenwirkung wird durch die Linien sowie die Verengung und Verkleinerung der Flächen erzeugt. Das eigentliche Ziel können wir nicht sehen, denn der Gang

 Pexels

 Merle Hettesheimer

macht eine Kurve. Ganz am Ende schimmert ein wenig Rot auf. Selbst das Spiel des Lichts macht die Stimmung nicht viel besser, es entstehen an der Wand und auf dem Boden nur noch mehr Flächen. Im Bild  entsteht ebenfalls ein Raum­ eindruck; diesmal sorgt die Größenabnahme der geschlossenen Strandhütten dafür. Einen deutlichen Fluchtpunkt hingegen gibt es nicht. Auch ist der Raum nicht leer oder frei. Bild  kombiniert seine beiden Vorgänger. Die kleiner werdenden Kugeln tragen zur Tiefenwirkung bei, ebenso die (weniger gut erkennbaren) Flächen, deren Größe abnimmt. Prägend sind hier die Linien, und zwar sowohl die schönen diagonalen Aufhängungen der Lampen als auch die Linie des hölzernen Geländers, welches eckig in die Tiefe führt. Das Bild  dürfte eines der beliebtesten Fotomotive Deutschlands zeigen, das Denkmal für die ermordeten Juden

 Pexels

 Frank Dürrach

Europas. (Zum Glück diesmal ohne kletternde und winkende Leute.) Die drei Fluchtpunkte liegen so weit außerhalb des Bildes, dass sie kaum zur Wirkung beitragen. Die Raumwirkung entsteht unter anderem durch die Verkleinerung der Objekte – hier der Stelen. Ansonsten scheint mir das Bild eine sehr adäquate Darstellung des Monuments, denn die detailreiche Schwarzweißumsetzung arbeitet die Tristesse, die Risse im Material und die Verwitterung stark heraus. Auch ist das Bild ohne Boden und Horizont. Ganz anders die schöne zentralperspektivische Aufnahme aus dem Botanischen Garten der Uni Bochum . Hier führt der Weg im Zickzack durch einen Teich, bedeckt mit Wasserlinsen. Der Steg führt den Blick und ist zugleich eine Art Fremdkörper in der urwüchsig erscheinenden Natur. Beim Blick auf die georgische Hauptstadt Tiflis bei Sonnenuntergang liegt

 Klaus Dyba

ein Sonderfall vor . Größenabnahme spielt beim Tiefeneindruck hier eine eher untergeordnete Rolle. Allenfalls an den kleiner werdenden Silhouetten der Hochhäuser kann man das ablesen. Vielmehr wirkt hier die Staffelung der Helligkeit der einzelnen Hügelketten, die wir aus Erfahrung mit »Ferne« deuten. Ebenfalls eine Raumtiefe durch Staffelung zeigt der Blick durch die beiden Türrahmen . Reizvoll ist der Wechsel in der Verkürzung der Wände (und der Rahmen): auf der vorderen Wand nach rechts, dann nach links. Der Kern des Bildes ist aber die Spannung zwischen der strengen Geometrie und Leere einerseits und den vielen Kritzeleien andererseits. Und schließlich noch ein Hundebild . Mit ausdrucksvollem Blick und abgespreiztem Ohr sitzt der Vierbeiner in einem recht öden quaderförmigen Raum. Er könnte vergessen worden sein, wäre da nicht das Licht, das ihn so heraushebt. 159

 Carsten Nichte

Flächen | Hervorheben, verbergen

 Dana Stölzgen

160

Flächen können Bildgegenstände hervorheben, indem sie diese von ihrer Umgebung abheben. Ganz das Gegenteil ist das Verbergen durch den Blick verstellende Flächen. Dass Linien und Flächen den Bildraum gliedern, haben wir in diesem Kapitel und in dem über die Funktionen von Linien schon gesehen. Befindet sich auf dem Bild vor Flächen ein Gegenstand oder ein Lebewesen, dann wird dieser oder dieses häufig von der Umgebung getrennt und hervorgehoben. Das passiert etwa im Porträt einer Schwimmerin . Das Licht macht das Bild überhaupt erst richtig gut. Denn die Beleuchtung der Schwimmerin und die Tatsache, dass wir fast nur Rücken und Hinterkopf von ihr sehen, macht das Bild zunächst wenig attraktiv. Aber der Lichtfleck und seine Positionierung als »Hintergrundfläche« sind eben außergewöhnlich.

 Christian Palm

 Horst Mumper

Im grundsätzlichen Aufbau sehr ähnlich ist Bild . Auch hier ist eine Person in Rückenansicht zu sehen, die durch den Standpunkt des Fotografen vor eine Fläche geraten ist. Denkt man sich das Haus weg, hat man eine Naturaufnahme mit hohem Gras im Vordergrund und Bäumen dahinter – plus einem jungen Mann, der still steht und in die Landschaft blickt. Nun ist da aber eine monoton graue Wand; und diese Verfremdung macht das Bild erzählerisch interessant und ein wenig seltsam. In  schaut endlich mal eine Protagonistin in die Kamera. Das Ungewöhnliche ist der »Blick« der Kamera: aus einiger Höhe senkrecht nach unten. Das Bild hat die typischen Requisiten und ein prima Modell für ein gutes Kinderporträt. Was es abhebt, ist die hervorragend umgesetzte Bildidee. In so einem kleinen Pool wird normalerweise mit Wasser geplanscht und man würde eine unbe-

 Uwe Müller

 Oksana Briclot

schwerte Momentaufnahme erwarten. Hier aber schaffen Fotograf und Modell ein statisch inszeniertes Bild, der Rand des Beckens wird zu einem leuchtend orangefarbenen Kreis, der das Mädchen aus der Umgebung heraushebt. Ebenso ist es mit dem blauen Grund, der mit dem Kleid und den intensiv blauen Augen korrespondiert. Es können eben starke Bilder entstehen, wenn man Gegenstände von ihrer normalen Bedeutung und Verwendung löst und als abstrakte Bildelemente einsetzt. Hier die moderne Version eines mittelalterlichen Heiligenbildnisses . Die Lampe wird zu einem Heiligenschein, die Fenster zu Hintergrundpanelen und die Haltung ist klassisch. Die Platzierung im Fenstereck und der Kamerastandpunkt schaffen viele spannungsreiche Diagonalen in einem an sich statischen Bild. Das gilt auch für den Blick auf das symbolhafte Space Shuttle, welches zu einer

 Alexandra Klapperich

schrägen Himmelfahrt ansetzt. Das Bild besticht in Farbwahl, Regie, Komposition und Modellregie gleichermaßen. In Bild  schaffen die großen Flächen am Boden und an der Decke ein Gegengewicht zur Überfülle des mittleren Bildbereichs. Dieses intensive Porträt einer Ladenbesitzerin wird regiert von Spannungsverhältnissen wie hell – dunkel, groß – klein oder abstrakt – figürlich. Man muss nicht nur Glück haben, sondern dieses – hier in Form des Oberlichts und der Bodenflächen – auch erkennen. In den Bildinszenierungen  und  heben die Hintergrundflächen zwar die Modelle hervor, aber die Flächen vor ihnen verdecken wesentliche Teile (siehe hierzu weiter unten das Bildmodell »Der blasse Akzent«). Die zweifarbige Inszenierung verhüllt viel und gibt dennoch den Blick auf den Rücken frei, während das letzte, symbolhafte Foto als eisig-kristalline Erstarrung auftritt. 161

 Pexels

Flächen | Abgrenzen, verbinden

 Andrej Kleer

162

Flächen können Akzente oder Bildbereiche voneinander abgrenzen oder diese verbinden und zusammenfassen. Auch hier gleichen Flächen in ihrer Funktion den Linien. In Bild  ist die Wirkung der braunen Türfläche eher subtil. Sie bildet den kompletten Hintergrund der Figur und betont diese, indem sie deren Silhouette weitgehend vor Störungen schützt und durch das Braun von der Umgebung abhebt, welche ja sonst weitgehend in Weiß und Lila gehalten ist. Die ganze Umgebung passt nicht so ganz zu dem Porträtierten in seinem Anzug – das legt auch die Tatsache nahe, dass wir ihn nur im Spiegel zu sehen bekommen. Die zentrale Person in Bild  bekommen wir nicht einmal als Spiegelbild, sondern nur als Schatten an der Wand zu sehen. Dieser entsteht erst als Aussparung im Lichtfleck eines Fensters. Daraus ergibt sich etwas Paradoxes: Die Person

 Bruno Trematore

 Michaela Wissing

(es ist der Fotograf) ist durch die hell­ste Fläche herausgearbeitet, sie ist mittig im Bild, im Profil klar erkennbar und das Kind am rechten Rand könnte zu ihr hinsehen. Und trotzdem ist die Figur nur ein Schatten, während die anderen Gegenstände des Bildes, der rote Koffer, der grüne Ballon und das blaue Bild, sehr viel präsenter sind. Ich würde sagen: Der Vater muss verreisen und kann leider nicht mit seinem Sohn spielen. Dies wird hier sehr trickreich in Szene gesetzt. Vielleicht gibt es ja nach der Rückkehr wieder die Hausmusik, die das Gemälde zeigt. In dem Stillleben mit Tassen  ist das Prinzip des Zusammenfassens durch Flächen klar erkennbar. Das Tablett als Hintergrund verbindet alle Elemente, wohingegen die unterschiedlichen Teearten (wo gibt es denn blauen?) und die Ausrichtung der Henkel Vielfalt erzeugen. Ebenso funktioniert das in dem Kochbuch-Stillleben , das ebenfalls in Drauf-

 Pexels

 Pixabay

 Frank Dürrach

 Pixabay

sicht fotografiert ist. Mehrere Flächen fassen Gegenstände zu Gruppen zusammen und grenzen sie von der Umgebung ab, nämlich das Grau der Schachtel: die beiden unversehrten Hühnereier; das Küchentuch: den Schneebesen, die Kochlöffel und das Nudelholz; das Brettchen: Mehl, Ei, Eierschalen und Butter sowie gewissermaßen die Buchseite: den Text. Ordentlich, aber nicht schematisch wird alles unter anderem deshalb, weil zwei Flächen parallel zur Bildkante laufen, die anderen aber diagonal. Das Licht kommt recht grell direkt aus Richtung der Kamera, wie es um 2017 gerade modern war. In dem Schwarzweißbild geht es wohl um eine aktuelle Eintrübung einer Beziehung . Die Fläche der Bank fasst noch zusammen, was vielleicht schon nicht mehr zusammengehört. Inniger ist das Beisammensein in dem Museumsbild . Hier verbindet nicht nur das wilde Bild im Hintergrund, sondern

 Ian Dylewski

auch Körperformen, Haare und der Blick des rechten Herrn. Die Pointe ist aber natürlich das exzentrische Muster des Designer-Pullovers, das direkt dem Gemälde entsprungen zu sein scheint. Biegsam und gut gemacht ist auch die Konstellation des jungen Paares im Spiegel, das wiederum durch die graue Hintergrundfläche (und durch den Rahmen) verbunden wird . Dasselbe besorgt die helle Kreisfläche bei einer Gruppe Jugendlicher mit ihren Fixies . Sehr cool ist die Position des einzelnen Fahrers, der – von der Schwerkraft unbeeindruckt – rechts oben an der Röhre klebt. Ebenso lässig soll die Pose des jungen Mannes links oben in Bild  sein. Hier ist interessant, dass die braune und die weiße Hintergrundfläche das Bild in zwei Sphären aufteilen. Unten hat es einen »zerlegt«, oben wird der Schadenfreude Raum gegeben – könnte man meinen. 163

 Ulf Frohneberg

Flächen | Aufräumen, beruhigen

 Frank Dürrach

164

Da sie tendenziell wenig Informationen beinhalten, vermögen Flächen Bilder »aufzuräumen« und »ruhiger« zu machen. Sie bilden also oft ein Gegengewicht zu Akzenten und Linien. Obwohl Flächen gewöhnlich den meisten Bildraum einnehmen, stecken die Informationen häufig in den Akzenten. Gerade der geringere Informationsgehalt macht Flächen aber sehr wichtig, wenn man Bilder schaffen möchte, die von den Mitmenschen positiv aufgenommen werden sollen. Neben den auf den vorangegangenen Seiten dargestellten Funktionen machen Flächen Bilder ruhiger, klarer, konzentrierter, einfacher lesbar. Zudem tragen Flächen vieles bei, was an Bildern als attraktiv empfunden wird: farbige Bereiche, Verläufe und Strukturen. Das ist in Bild  recht gut zu sehen. Das Orange der Plane kontrastiert nett mit den dunkelgrünen und bläulichen

 Frank Dürrach

 Andrei Ionescu-Cartas

Bildteilen. Außerdem enthält das Bild durch die vielen großen Flächen ausgedehnte Bereiche, in denen eine Betrachterin oder ein Betrachter kaum nach relevanten Bildinformationen suchen muss. Man kann sich also auf den Koch im Vordergrund konzentrieren. Hinter ihm geben (grob beschrieben) ein Rechteck und ein Dreieck den Blick auf das Treiben auf dem nächtlichen Markt in Marrakesch frei. Auch hier steckt eine gewisse Vereinfachung im Chaos, denn es wiederholen sich zum Beispiel die Köche und machen das Erfassen der Inhalte damit einfacher. Auch die Tischplatte in dem Porträt  vereinfacht das Bild, indem sie eine ruhige Zone schafft. Gleichzeitig erzeugt sie hier Distanz zum Modell, führt aber zum Ausgleich unseren Blick zu ihm hin. In  vereinfacht die Fläche ebenfalls, indem sie kleinteiligere Bildbereiche abdeckt. Da sie aber auf eine Person zu-

 Maya Claussen

 Sebastian Eichhorn

 Frank Dürrach

 Corinna Granich

rückgeht (das macht ihre Form klar), ist sie selbst informativ: Wir können die Haltung der Frau, die auf den Beginn des Konzerts wartet, interpretieren. Eine weitere Funktion in diesem Bild ist die Intensivierung der Farben und des Lichts, wie sie durch schwarze Flächen geschieht. Sehr interessant ist das nächste Bild, denn hier wird die Fläche ausnahmsweise zum wichtigsten Bildelement . Das liegt zum einen an ihren schönen Blautönen und den Falten, Seilen und Ösen, zum anderen daran, dass man natürlich neugierig wird, was sich hinter einer derart riesigen Plane verbergen mag. Fotografie Nummer  ist gegliedert wie eine Fahne, wobei der obere Bereich sehr reduziert ist, der untere eine Struktur enthält und der mittlere den Bildraum für die Szene liefert. Das Foto aus Tokio  gleicht im Aufbau dem Bild mit der Dame beim Konzert. Auch hier spielt die Silhouette eine

 Alexandra Klapperich

wichtige Rolle: Der Mensch ist vor den übereinandergeschichteten Straßen nur noch eine Leerstelle. Präsenter ist hier das Modell, welches in einer merkwürdigen Haltung gegen die Ecke drückt . Das Bild besticht außerdem durch die Monochromie (es gibt fast nur Varianten von Türkis). Die Fläche links ist der Ruhepol zu den Installationen und Beschädigungen rechts und oben. In dem Straßenfoto ist das Paar schön symbolhaft vor den munter sprudelnden Springbrunnen gesetzt . Die Wände hingegen verdecken große Teile des Hintergrunds und verhindern ablenkende Akzente. Der strukturierte Boden wirkt ebenso beruhigend wie distanzierend. Das letzte Bild  entstammt einer umfangreichen Reportage und funktioniert ähnlich wie Nummer . Der tiefe Kamerastandpunkt und die Beschaffenheit des Bodens führen dazu, dass der Junge quasi in einer »weißen Welt« lebt. 165

 Oksana Briclot  Pexels

 Anna Louisa Belz  Sven Phillipp

Dominante Flächen ... gibt es durchaus, obwohl Akzente (und Linien) gewöhnlich das Bildgeschehen bestimmen. Hier einige Bilder mit starken Flächen.

 Marvin Ruppert   Christian Palm

 Julia Berlin  Frank Dürrach

Zusammenfassung

Flächen

Flächen nehmen in Fotografien gewöhnlich den größten Raum ein. Sie werden oft als »Leerstelle« im Bild wenig beachtet, dabei sind sie für ein optimales Foto sehr wichtig. Formen von Flächen gibt es in Vielzahl. »Klassiker« sind die Grundformen (gleichseitiges) Dreieck, Quadrat und Kreis sowie ihre Verformungen wie Oval, Rechteck und gleichschenkliges oder unregelmäßiges Dreieck. Hinzu kämen Formen mit geläufigen Namen wie Raute, Parallelogramm, Sechseck und so weiter. Meistens sind Flächen in Fotografien jedoch unregelmäßig. Füllungen geben Flächen erst ihren Charakter: farbig, mit Farbverlauf oder farb­ los, glatt, strukturiert, gemustert oder unregelmäßig. Lage und Position der Flächen sind weitere wichtige Unterscheidungskriterien. Dabei geht es darum, ob eine Fläche auf der Bildebene gedreht ist, also parallel oder diagonal zu den Bildkanten liegt. Und ob eine Fläche perspektivisch verkürzt ist, also die Illusion von Raumtiefe im flachen Bild vermittelt. 168

Die Funktionen von Flächen im fotografischen Bild ähneln denen der Linien: • Flächen können im Bild Dynamik erzeugen. Dynamisch werden Flächen vor allem durch geschwungene Formen, durch Außengrenzen, die nicht waagerecht oder senkrecht sind (also in diagonaler Spannung zu den Bildkanten stehen) oder die in die Tiefe zu führen scheinen. Dynamisch wirkt auch eine Vielzahl kleinerer Flächen mit unterschiedlicher Ausrichtung. • Flächen erzeugen durch Staffelung oder durch perspektivische Verkürzung im Bild den Eindruck von Raum und Tiefe. • Bildelemente können durch Flächen hervorgehoben, ganz oder teilweise verdeckt werden. • Elemente können mittels Flächen verbunden oder isoliert werden. Das kann die visuelle Erfassbarkeit verbessern und mitunter den Bildinhalt modifizieren. • Flächen enthalten gewöhnlich weniger Information als Akzente und bilden dadurch deren Gegenpol. Große Flächen machen Bilder ruhiger und klarer – die Gefahr der Langeweile besteht dabei durchaus.

 Julian Schievelkamp (Der Fotograf hat das Bild auf den Kopf gestellt.)

Text

169

 Lenny Lavrut

Bildmodell

Vielschichtigkeit Im folgenden Kapitel wird mit dem Bildmodell »Vielschichtigkeit« einer der wohl wichtigsten Standards der Fotografie vorgestellt. Vielschichtigkeit kann auf viele unterschiedliche Arten erzielt werden. Dabei durchdringen sich zwei oder mehr Bildebenen. Das Modell kann einfache und komplexe Bilder erzeugen. Es eignet sich für Abstraktionen ebenso wie für das visuelle Kommunizieren von Inhalten. Vielschichtige Fotografien haben oft etwas Malerisches.  Dieses Bild wirkt so düster, als stamme es aus einem melancholischen Schwedenkrimi. Die Insekten sitzen in der Falle. Das schmutzige Fenster und die Versammlung der Gefangenen bildet die erste Bildebene, diese durchdringt sich mit der Landschaft. Die Freiheit ist vor Augen, aber durch die Scheibe unerreichbar und durch die Unschärfe entrückt und irreal. Man fragt sich auch, was so viele Fliegen angezogen haben könnte. Der Fotograf hat die Farben stark entsättigt und den Fensterrahmen mit ins Bild genommen. Beides steigert das Gemäldehafte. Der dunkle Rahmen wirkt wie ein Trauerrand.

171

Vielschichtigkeit | Visuelle und erzählerische Kraft

 Alen Ianni

172

Durchdringen sich im Bild mehrere Ebenen, so entstehen oft visuell sehr reizvolle Bilder. Vielschichtigkeit ist auch gut einsetzbar, wenn man Aussagen ins Bild packen möchte. Zu einer Vielschichtigkeit in der Fotografie kommt man auf ganz unterschiedliche Art. Wichtig ist dabei, dass man mindestens zwei Bildebenen hat, die sich durchdringen. Das muss nicht im kompletten Bild geschehen, ein Nebeneinander klarer und vielschichtiger Bereiche schafft oft einen zusätzlichen Kontrast. Eine bloße Staffelung von Bildebenen betrachte ich allerdings nicht als vielschichtig, es sollte schon ein transparentes Durchdringen vorliegen. Erst das gibt Auge und Hirn eine visuelle Nuss zu knacken und macht (gute) vielschichtige Bilder so interessant und attraktiv. Das Bild Nummer  zeigt eine superkomplexe Szenerie, wie sie in der Foto-

 Anna Louisa Belz

 Manuel Koch

grafie fast nur die Vielschichtigkeit zu erzeugen vermag. Das Foto ist gleichzeitig Interieur (ein Kunsthandel), Straßenszene, Stillleben, Bild im Bild, Porträt. Das funktioniert hier ästhetisch so gut, weil durch die Wandlung in Schwarzweiß die Farbakzente beseitigt wurden und das tiefe Schwarz die Gegenstände trennt. Welche Medien lassen sich nutzen? Am beliebtesten ist sicher Glas, was nicht nur daran liegt, dass man in modernen Städten große Glasflächen eben häufig antrifft . Vielmehr lassen sich je nach Aufnahmewinkel und nach den aktuellen Lichtverhältnissen ganz unterschiedliche Effekte erzielen. Glas kann durch Spiegelung sehr komplexe Bilder entstehen lassen oder – etwa wenn es beschlagen ist – Bilder stark vereinfachen . Da unternimmt schon mal ein Schulskelett einen Ausflug ins Grüne . Hinter Glas dürften Wasserflächen den zweiten Rang in der vielschichtigen Fo-

 Sebastian Isiyel

 Pia Berger-Bügel

tografie belegen. Bild Nummer  steht zur Steigerung der Verwirrung zusätzlich Kopf – die Schwimmvögel verraten es. Ähnlich funktionieren reflektierende Oberflächen wie Lack und Plastik, Metall oder blinde Spiegel . Gut geeignete Medien sind auch alle Arten von dünnen Stoffen und Folien, gern auch gefärbt für zusätzliche Effekte. Engmaschige Gitter eignen sich natürlich auch bestens, vor allem wenn man abstrahieren möchte. In der inszenierten Porträtfotografie gehört es zu den Standards, unscharf glitzernde Ketten, Tücher und andere transparente oder durchbrochene Gegenstände zwischen Kamera und Modell zu bringen. Der Blick wird dann leicht verunklart, eben verschleiert, was oft einen traumoder märchenhaften Effekt ergibt. Althergebracht ist die Doppelbelichtung: Dabei nutzte man bei analogen Kameras ein Knöpfchen, welches zuließ, dass man auf dieselbe Stelle des Films

 Anja Grauenhorst

erneut belichtete. Dieses Verfahren hatte natürlich sehr den Reiz des Zufälligen. Heute lässt sich das als »Mehrfachbelichtung« in den Menüs vieler Digitalkameras wählen. Teilweise mit Vorschau auf das Ergebnis, was sicher die Quote der gelungenen Bilder steigert, aber den Glücks- und Überraschungsfaktor minimiert. Weiter kann man auch mit Langzeitbelichtungen diesen Effekt erzielen, das geht vom leichten Wischeffekt mit 1/30 Sekunde bis hin zu mehrjährigen Belichtungen mit der Lochkamera, wie das manche Fotokünstler machen. Schließlich gibt es Methoden, die außerhalb der Kamera liegen, gewissermaßen in der »Postproduction«. Hat man früher in der Dunkelkammer zwei Negative in »Sandwichtechnik« übereinandergelegt und gemeinsam auf ein Papier abgezogen, so macht man heute dasselbe in einem Bildbearbeitungsprogramm wie Photoshop. 173

Vielschichtigkeit | Vereinfachung durch Filterung

 Frank Dürrach

174

Denkt man an vielschichtige Bilder, dann kommen einem wohl zuerst diese etwas unaufgeräumten, überladenen Bilder in den Sinn, bei denen der Kopf alle Mühe hat, die verschiedenen Ebenen auseinanderzudividieren. Das Bildmodell lässt sich aber auch anders einsetzen, nämlich zum Aufräumen von Bildern. Wählt man als Aufnahmegegenstand keine reflektierenden Medien, sondern filternde, dann erhält man eine Vereinfachung. Das liegt natürlich an der Reduktion der Bildinformation, die diese Filter besorgen. Sie sind also in der Fotografie quasi ein Ersatz für das stärkste Mittel zum Aufräumen – die Tiefenunschärfe. In Bild  steigern Kalk und Algen die Wirkung der filternden Ornamentglasscheibe. Schön aufgereiht hängen die Arbeitshandschuhe in einem hellen Streifen. Sie haben Feierabend und werden am nächsten Tag im Gewächshaus wieder gebraucht, um die Hände ihrer

 Frank Dürrach

Besitzer zu schützen. Die Pflanzen unten bringen eine weitere Ebene ins Bild. Fotografiert man durch filternde Medien, erreicht man meist vereinfachte, zur Abstraktion neigende Bilder. Einen radikaleren Effekt erzielt das Lochblech in dem Handyfoto , welches bei einer Fahrt mit der Straßenbahn aufgenommen wurde. Die Löcher verwandeln die Szenerie in ein Punktraster aus Grüntönen. Das quadratische Format und die Schiefstellung betonen die Abstraktion des Bildes, das sich von dem, was das Auge normalerweise zu sehen bekommt, gelöst hat. Ein schöner Kontrast ist, dass ins Bild fast unmerklich die Realität in Form der Kölner Domspitzen einbricht. In Bild  schaffen die Glasfläche und die Unschärfe Distanz. Der Regen, der das Glas erst sichtbar macht, fügt eine gewisse Melancholie hinzu.

 Christian Palm

 Jennifer Wolf

Ebenfalls von Kontrasten lebt das Bild mit dem Flamingo . Der geschwungene Hals und die Blätter stehen in Spannung zu den dicken Diagonalen. Waren Flamingos nicht rosa? Dieser Gefangene in einem Zoo ist ein Schatten seiner selbst – oder ein Fragezeichen. Ähnlich geht es der Dame, die sich im Haus zu schaffen macht . Das Glas und die Fokussierung auf die Tür beseitigen die meisten Details. Übrig bleibt das Typische und/oder das Assoziative. Es geht hier also weniger um diese eine konkrete ältere Dame, sondern um ein Bild, das Raum für unsere eigenen Erinnerungen lässt. Das kann ein großer Gewinn sein, denn Fotografien leiden oft unter ihrer fast widerstandslosen Erfassbarkeit (»gesehen und abgehakt«). Hier schafft die braune Färbung außerdem die Anmutung eines alten Fotos, was thematisch gut passt. Auch lohnt es erneut, genau hinzusehen, denn dass die Struktur des

 Conny Di Pasqua

Glases die Figur wie ein transparentes Kleid überlagert, sieht doch ziemlich reizvoll aus. Praxistipp zu : Um nicht das Blech scharf und den Dom unscharf zu bekommen, braucht man Glück oder Taktik: Wenn man Glück hat, befindet der Autofokus das Blech als zu nah, um scharf zu werden, und sucht aus eigener Initiative nach einem entfernteren Schärfepunkt. Will man kontrolliert vorgehen, stellt man mit dem Handy oder bei Kameras mit Touchscreen zunächst ohne Lochblech auf die Ferne scharf. Lässt man den Finger auf diesem Punkt, dann ist gewöhnlich der Autofokus verriegelt. Jetzt bewegt man die Kamera schnell hinter das Blech und löst aus. Bei größeren Kameras drückt man den Auslöser halb durch und fixiert so den gefundenen Fokuspunkt bis zum Schuss.

175

 Alexandra Klapperich

Vielschichtigkeit | Komplexität durch Spiegelung

 Michaela Wissing

176

Spiegelungen schaffen oft komplexe Bilder, deren Stärke es ist, dass sie einen gewissen Einsatz der Betrachtenden bei ihrer Entschlüsselung verlangen. Einfache und klare Bilder können schön sein und haben einen hohen Stellenwert in der Fotografie. Schließlich kommt es zum Beispiel in der Werbung und bei einer Reportage darauf an, dass Inhalte und Stimmungen gut aufgenommen werden können. Aber das spricht natürlich nicht gegen komplexe, ja vielleicht sogar komplizierte Bilder. Schließlich ist die Welt auch ein einziges Durcheinander und nur klare Bilder sind auf die Dauer zu langweilig. Ich meine, die Kunst besteht aber darin, trotz des Auftauchens verschiedener Bild­ebenen eine gewisse Beschränkung zu üben. Wenn man vor Ort Zeit hat, kann man solche Bilder durch Abwarten oder durch Wechsel des Kamerastand-

 Katharina Rösch

punkts entrümpeln. Spätestens beim Sichten der Fotos sollte man sich jedoch von komplett verwirrenden, übervollen Bildern trennen (Ausnahmen gibt es). Bei diesem indirekten Porträt  gibt es zwei Personen und zwei Klassen von Gegenständen, denen auch die beiden Hausfassaden entsprechen. Der junge Mann links wird poetisch verziert von den Shishas mit ihren Mustern und Preisschildern, dazu passt auch der Hintergrund mit dem geschmückten Tor. Der Mann mit der Mütze hingegen wird durch die Auslage sowie die Fenster hinter ihm eher nüchtern gerahmt. Ein Passant, der sich neugierig nach der Szene umdreht? Hier haben wir ein Bild, das verschiedene Assoziationen und Geschichten ermöglicht – man kann aber auch einfach das Porträt ausdrucksstark finden. »Fotokunst über Bildhauerkunst« ist das Bild . Wir fühlen uns sofort etwas voyeuristisch, denn wir beobachten drei

 Jennifer Wolf

 Britta Strohschen

Gestalten durch ein Fenster – und obendrein sind diese nackt. Zum Glück sind es offenbar Skulpturen, aber was da genau vorgeht, möchten wir nicht wissen. Harmonischer geht es in dem Porträt durch eine Scheibe zu . Wir blicken offenbar von außen in ein Café. Alles ist in Brauntönen gehalten, es gibt nur ein paar schwache grüne und rote Farbakzente, die schön mit den vielen Punkten auf dem Kleid zusammenspielen. Thematisch ist das typisch für die Vielschichtigkeit: Es werden Innen- und Außenwelt überblendet. Durch die distanzierende Scheibe kommt ein Beobachter mit ins Bild. Wir könnten ein Passant sein oder derjenige, der erwartet wird. Mit dominierenden Kontrasten arbeitet das starke Bild einer Nachtschwärmerin in der U-Bahn . Der Abend ist gelaufen, sie hängt müde ihren Gedanken nach, während die Linien voller Dynamik vorwärtsdrängen (oder auf ihren

Kopf zu stürzen). Sie liegt schon halb – aber noch ist es das Gleisbett. Das Licht im oberen Bildbereich ist grell und eher unangenehm; die untere Bildhälfte ist bereits dunkel. Das Bild dreht sich also um Zwischensituationen: Die Gegensätze von Ruhe und Dynamik, von Hell und Dunkel spiegeln vielleicht auch die Stimmung der Frau wider, die gerade noch in der Gruppe war und jetzt alleine ist. Das Flughafenbild  wirkt geradezu wie eine Fotocollage – entstand aber in einem Schuss. Ganz unterschiedliche Aspekte werden hier ineinandergespiegelt: die wartenden Passagiere, das Einsteigen, das Rollfeld mit einigen Beschäftigten, oben eine Ladenzeile. Die übergroß erscheinenden Wartenden nehmen die Bildmitte ein. Alles durchaus passend zu dem, was man hier gewöhnlich so macht, wenn der Flieger verspätet ist. Man muss sich konzentrieren, alle Szenen zu erfassen, denn man neigt zum Ausblenden. 177

 Raffaele Horstmann  Julia Berlin

 Joshua Hoffmann  Freddy Küster

 Rita Heinz

Sonderfälle Die vielschichtigen Bilder in dieser Galerie sind nicht durch das Fotografieren einer reflektierenden oder einer filternden Oberfläche zustande gekommen, sondern durch transparentes Überlagern von Fotos in einem Bildbearbeitungsprogramm (), durch Projektion () oder durch lange Belichtungszeit und Überlagerung ().

 Konstantin Nemerov  Rita Heinz

 Joshua Hoffmann  Salima Kehr

 Thorsten Schneider

Vielschichtigkeit | Inhalte auf mehreren Ebenen

 Kathrin Kolbow

180

 Nadine Saupper

Die Bedeutung vielschichtiger Fotografien ergibt sich häufig aus dem Zusammenwirken ihrer Bildebenen. Dabei entstehen gut lesbare Bildinhalte, wenn die Ebenen einen inhaltlichen Kontrast oder – im Gegenteil – einen Gleichklang bilden. Klassische Themen der Vielschichtigkeit sind die Konfrontation von Innenwelt und Außenwelt oder von Vergangenheit und Gegenwart (etwa wenn sich ein Gründerzeithaus in einer Glasfassade spiegelt). Um letzteres Thema geht es in den Bildern links oben, wo alte Fotos via Folie () oder am Rechner () in die Gegenwart gebracht wurden. Andere Oppositionen: Modell oder Bild kontra »Wirklichkeit«, unbelebt versus belebt, groß und klein, weiblich und männlich. Es geht auch ohne tiefgründige Aussage: In dem schönen werblichen Bild  schafft der sanfte Schleier, der über der Teetrinkerin liegt, einfach Atmosphäre.

 Sebastian Eichhorn

Ein Trick, der in der inszenierten Porträtfotografie oft zu sehen ist. Verwandt und doch ganz anders kommt das Porträt eines Musikers in körnigem Schwarzweiß daher . Hier eröffnet der Rauch, durch den der Schlagzeuger uns anblickt, eine Vielzahl möglicher Lesarten: Qualm als Symbol der gerade verklungenen Musik; oder er hat die Verstärker zum Durchschmoren gebracht; die Band gönnt sich ein Zigarettchen; Spuren der Bewegung der Drumsticks in der Luft; Hinweis auf den Ausstieg eines Bandmitglieds ... Wie im Film gibt es auch in der Fotografie »Spezialeffekte«, die alles visuell attraktiver machen – der eingefrorene Rauch ist so ein Beispiel. Durchaus politisch kann das Bildnis eines sowjetischen Militärführers  gelesen werden, auf dessen Brust die Orden prangen. Etwas darunter spiegelt sich die zeitgenössische Jugend, was ein schönes Spiel mit Themen wie Jugend

 Michaela Wissing

 Snezhana von Büdingen

 Frank Dürrach

und Alter, Macht und Hoffnung, Gestern und Heute, Krieg und Frieden, Groß und Klein ergibt. Um Innen und Außen geht es in Bild , das außerdem mit einem deutlichen Komplementärkontrast aus Gelb und Blau aufwartet. Der private Raum geht hier in den öffentlichen über, Helligkeit in Dunkelheit. Der Monitor verbindet beide Bereiche durch Form und Farbe. Das Bild kann man unmittelbar und emotional erschließen: der Abend eines Touristen oder einer Geschäftsreisenden in einer fremden Stadt und das Zimmer als Heimat auf Zeit. Ähnlich viel Lametta wie der Herr General hat ein Passant abbekommen, der sich in der weihnachtlichen Auslage eines Geschäfts spiegelt . Hier geht es also vor allem um den Bildwitz mit dem »Weihnachtsmann«. Ganz ähnlich arbeitet das Bild  mit der Spiegelung eines Musikers. Es lebt

 Annika Rabenschlag

von dem Kalt-warm-Kontrast des orange-braunen Türrahmens mit der blaustichigen Außenwelt. Ganz wichtig ist der Spot auf der grünen Wand; er bringt den Drummer und das Schlagzeug wunderbar schwebend in die Bildmitte. Praxistipp: Bei Reflexionen setzt sich

eine Bildebene umso stärker durch, je mehr Licht sie mitbringt. Daher dominieren in Bild  die hellen Christbaumkugeln die dunkle Kleidung des Passanten, während der helle Bodenbelag die Oberhand über das weniger beleuchtete Schaufenster bekommt. Sehr deutlich zeigt sich der Effekt auch im Hotelzimmer , wo sich nur der helle Teil der Zimmerwand durchsetzen kann. Durch Änderung der Lichtverhältnisse lässt sich somit das Mischungsverhältnis der Bildebenen beeinflussen. 181

 Alen Ianni  Jennifer Wolf

 Nathalia Schnippering  Tobias Müller

 Frank Dürrach

Vielschichtiges

Ab hier folgen vier Galerieseiten ganz unterschiedlicher, aber durchweg eindrucksvoller, poetischer Bilder nach dem sehr produktiven Bildmodell »Vielschichtigkeit«.

 Judith Jaeger  Sven Philipp

 Corinna Granich  Christof Jakob

 Christof Jakob  Anne Barth  Cord Richert  Frank Dürrach

 Sabine Tenta

 Holger Klöter

 Frank Dürrach

 Andrea Dummer  Mirène Schmitz

 Jennifer Wolf

 Rita Heinz

Zusammenfassung

Vielschichtigkeit Vielschichtigkeit ist ein Bildmodell, bei dem sich im Bild mindestens zwei Ebenen transparent durchdringen. Der Effekt lässt sich erzeugen durch • reflektierende Oberflächen (wie Glas, Metall, Lack, Plastik), • teiltransparente Medien (Ornamentglas, Folien, Netze, Stoffe, Gitter), • Langzeitbelichtung, • Mehrfachbelichtung (in der Kamera oder der Dunkelkammer), • den Einsatz von Bildbearbeitungsprogrammen. Die Stärken des Bildmodells • Vielschichtigkeit kann Bilder stark vereinfachen, wenn nur teilweise transparente, filternde Medien zum Einsatz kommen. • Hingegen können durch spiegelnde Oberflächen Bilder entstehen, die sehr komplex sind. Dabei steuert die Helligkeit, wie sehr sich jede Bild­ ebene durchsetzt. • Das Modell fordert heraus, denn ein oberflächliches Betrachten ist wegen der Durchdringung unterschiedlicher Szenerien oft verwehrt. Man muss am Bild »mitarbeiten« – ein Gegenmodell zu Werbung und Propaganda mit ihren eingängigen »Pics«. • Es kann frische, visuell reizvolle Bilder erschaffen, die sich von der alltäglichen Wahrnehmung der Umwelt

abheben. Wie in der Malerei wird das Alltägliche transformiert. • Ähnlich wie das zweiakzentige Bild eignet es sich gut zum Transport von Bildaussagen. Statt der Akzente wird hier mit der Bedeutung der Bildebenen gearbeitet. Arbeiten die Inhalte gegeneinander, ergeben sich oft spannende Konfrontationen (alt – jung, klar – verschnörkelt, privat – öffentlich, außen – innen). Mit Ebenen, die dieselben Inhalte wiederholen oder variieren, kann man Aussagen verdeutlichen. Hier erkennt ein Betrachter das semantische Muster und sieht den Eindruck, den eine Ebene macht, in der anderen bestätigt. Praktische Tipps • Unser Kopf neigt im Alltag dazu, Vielschichtigkeit auszublenden und eine Ebene bevorzugt in die Wahrnehmung zu lassen. Man sollte ein Auge für Spiegelungen und Durchdringungen entwickeln, wenn man mit der Kamera unterwegs ist. • Indirekt (als Spiegelung) oder durch ein Medium hindurchfotografierte Porträts sind oft visuell interessant und können die Situation für das Modell entspannen. Man blickt dann nicht ins Objektiv wie in den Lauf einer schussbereiten Waffe, sondern weit lockerer wie durch ein Fenster. 187

 Simon Fricke

Bildmodell

Schablonierung Bei der Schablonierung handelt es sich um ein einfaches, klares Bildmodell, das aber eine starke Wirkung entfaltet. Dabei wird nicht unverstellt fotografiert, sondern der Blick immer durch eine Lücke auf den Gegenstand gerichtet. Einige Bildbereiche sind also gut einsehbar, andere abgedeckt. Klassisch ist das Fotografieren durch eine teilweise offene Tür, einen Fensterrahmen oder einen dekorativen Torbogen. Dabei entstehen subjektive Blicke, spannende, ungewöhnliche Bildformate und man kann chaotische Szenerien »aufräumen«. Es schadet nicht, wenn in den durch den Vordergrund abgedeckten Bildteilen kaum Information enthalten ist. Solche Bereiche dürfen in diesem Bildmodell ausnahmsweise komplett schwarz (das ist ein häufiger Fall), weiß oder einfarbig unstrukturiert sein.  In diesem Foto sind die Innenseiten des Busses quasi dunkle Schablonen. Zum Blick auf die Stadt bleiben nur die beiden schräg gestellten Fenster. Die Position des Fotografen wird zu unserer: Wir stehen hinter dem Fahrgast, der lässig die Beine aufgelegt hat und den Ausblick aus der ersten Sitzreihe genießt.

189

 Sabine Tenta

Schablonierung | Subjektiver Blick

 Marvin Ruppert

190

Durch eine Schablonierung werden Bilder häufig emotional stärker. Sie zeigen nicht mehr nur ihren Gegenstand, sondern den subjektiven Blick auf diesen. Zwischen dicken, schwarzen Baumstämmen bleiben dem Bild  gerade noch fünf schmale, unschablonierte Räume. In diesen Restformen können wir Teile eines nächtlich erleuchteten Hauses sehen. Was die Fotografie zunächst interessant macht, sind die starken Kontraste: dunkel – hell, schwarz – farbig, dick – dünn. Es kommt aber noch etwas hinzu, was viel Spannung erzeugt: Das Bild zeigt nicht einfach Bäume und Fassaden, sondern den Blick einer Person, die nächtens im Gebüsch steht und beobachtet. Die Person gab es tatsächlich und sie hat fotografiert. Durch die Schablonierung versetzt uns das Bild jetzt in deren Lage und Situation. Das geschieht vor allem, weil der Standort der Fotogra-

 Sabine Tenta

 Sebastian Isiyel

fin klar wird. Diese Fotografie hat somit den Sprung vom Abbilden zum Nachvollziehen geschafft, ist also subjektiver und daher für die meisten Menschen attraktiver geworden. Ganz ähnlich funktioniert das mit dem etwas dreisten Toilettenfoto . Auch hier wird schon auf anderer Ebene gepunktet, denn das Bild ist visuell interessant durch die vielen weißen Flächen, also Wände, Türen und Fliesen. Vor allem aber erfreut das überdimensionale, zentral platzierte Mikrofon, denn so etwas passt inhaltlich nicht recht zu einem stillen Örtchen. Und dann kommt wieder die Schablonierung hinzu. Durch den Türrahmen bekommen wir scheinbar selbst einen Platz und eine Rolle in dieser Szene und der Blick des Mannes mit der Hornbrille scheint uns zu gelten. Ganz allgemein erscheinen uns ja meist drei Gesichtspunkte an Fotografien attraktiv: die visuelle Kraft eines Bildes, sein informativer Gehalt und sein

 Volker Plein

emotionaler Gehalt. Oder etwas banaler gesagt: wenn es gut aussieht, wenn die Szene interessant ist und wenn Emotionen von dem oder der Abgebildeten ausgehen. Hier ist alles drei vorhanden, und das macht das Bild stark. Fensterrahmen eignen sich bestens als Schablone. Bild  bekommt eine Art Polaroid-Rahmen, der zugleich noch die grüne Hölle ein wenig zähmt. Auch gut ist freilich die Idee, einen Maler in einen Rahmen zu setzen . Auch hier empfinden wir ein gewisses Privileg, als Beobachter zu einem Atelier zugelassen zu sein. Der Künstler ist äußerst konzentriert bei der Arbeit und für uns gibt es viel zu sehen: seine Physio­ gnomie, wie er malt und was er malt, dass er seine Pinsel hinters Ohr steckt und so weiter. Die beiden Wasserflaschen ziehen etwas Aufmerksamkeit auf sich; wenn man sie einmal kurz mit dem Finger abdeckt, merkt man, dass das

 Jenny Ahr

Bild ohne sie noch konzentrierter, also stärker wäre. Aber schablonierte Bilder verkraften störende Akzente recht gut. Foto  treibt das Prinzip auf die Spitze. Diesmal nehmen wir den Platz einer Katze oder einer Maus ein, welche ins Wohnzimmer lugt. Das legen jedenfalls der Blick durch das kleine Tor in der Kiste und der niedrige Kamerastandpunkt nahe. Es scheint, der Fotograf hat durch die bläuliche Färbung sogar das Farbensehen einer Katze imitiert. Jedenfalls funktioniert das gut, denn auch die Gegenstände auf dem Bild »spielen mit«. Die Fressnäpfe dürften für Tiere ebenso von Interesse sein wie der Ball. Und die Linien des Teppichs führen direkt auf die gegenüberstehende »Burg«. Und jetzt schließt sich der Kreis, denn Bild  funktioniert wie Nummer . Es zeigt nicht Amsterdam, sondern soll einen durch Krankheit getrübten Blick auf Amsterdam vermitteln. 191

Schablonierung | Abwechslung im Bildraum

 Sabine Krüger

192

Die Fotografie ist durch das rechteckige Bildformat geprägt. Mit diesem Bildmodell kommt visuelle Abwechslung dazu, denn damit kann man Szenerien in die unterschiedlichsten »Rahmungen« einpassen. Das Bild  ist so wunderbar wie die bretonische Küste, an der es entstanden ist. Eingekeilt zwischen großen Granitfelsen blicken wir auf eine Siedlung. Da die Stellen, wo der obere Brocken aufliegt, nicht im Bild sind, scheint er bedrohlich über den beiden Häusern zu schweben. Formal bleibt das Bild rechteckig, aber im Grunde ist der interessante Bildraum auf ein horizontales Band in der Mitte geschrumpft – das sieht sehr originell aus. Die Flächen oben und unten enthalten wenig Interessantes, daher funktioniert das hier so gut. Dieser Effekt wird noch stärker, wenn man die Information noch weiter reduziert. Gewöhnlich empfinden Betrachterinnen und Betrachter Flächen

 Volker Plein

ohne Verlauf oder Struktur in Bildern als störend, besonders wenn diese weiß »ausgefressen« sind. Bei diesem Bildmodell macht das jedoch nichts aus. Geradezu klassisch ist natürlich der Blick durch ein Schlüsselloch . Mittlerweile ist das etwas altmodisch, aber hier passt es, denn der Fotograf hat der ganzen Serie, aus der das Bild stammt, einen Stummfilm-Look gegeben. Entsprechend erscheint alles in Sepia (braun getont), etwas körnig und zerkratzt. Das Buch, die Kerze und die Büste einer überholten Lehre scheinen Requisiten in dem komplett gefliesten Labor eines verrückten Wissenschaftlers zu sein. Ebenfalls recht sonderbar wirkt die Tätigkeit des Herrn, der sich an dem Fenster zu schaffen macht . Tatsächlich handelt es sich um einen kompetenten Handwerker, aber die ganze Bildgestaltung suggeriert etwas anderes. Das Bild kippt nach links, es ist verwackelt und

 Holger Klöter

 Joshua Hoffmann

 Snezhana von Büdingen

auch scheint es zu dunkel für präzises Arbeiten. Dabei hat vor allem das Gegenlicht der Fenster zu einer kurzen Belichtungszeit geführt; deshalb erscheint der Vordergrund im Bild unterbelichtet. Hinzu kommen die Armhaltung und das Kabelgewirr, welches schön mit den Haaren des Mannes verschmilzt. Hier wirkt die handwerkliche Arbeit eher wie ein dynamischer Kampf – dafür spricht anscheinend auch der Schaden an der Folie. Wie aus einem chaotischen Raum ein ordentliches Bild wird, zeigt . Die Schablone findet sich in der oberen Bildhälfte; durch sie blicken wir wie durch eine riesige Taucherbrille nach draußen. Diese Form dominiert das ganze Bild und kontrastiert durch ihre etwas holprigen Rundungen mit dem rechteckigen Format der Fotografie. Der Vordergrund wurde durch das Gegenlicht (per Unterbelichtung) in gnädige Düsternis getaucht. Die Stuhllehne und die offene Tür im Cam-

 Sven Philipp

per weisen auf den (abwesenden) Herrn oder auf die Herrin des Chaos. Die Natur setzt einen weiteren Kontrapunkt. Hier ein Bild aus einer Serie, die einen Vater mit seiner Tochter porträtiert . Beide Personen haben durch die Fenster zwei getrennte Sphären bekommen; die Tochter wird hier durch ihre Puppe vertreten. Als Schablonierung ist das Bild ein gerade noch funktionierender Grenzfall, denn das gelbe Treppenhaus enthält Linien, Akzente und Verläufe, ist also eigentlich zu informativ für das Bildmodell. Allerdings konzentrieren sich sämtliche Stellen von Interesse auf die beiden Fensterbereiche. »Wer hat Angst vor Rot, Gelb und Blau?«, könnte man beim letzten Bild  fragen. Die Abstraktion wurde durch den Ausschnitt erreicht, der sich auf Linien und Flächen konzentriert – und natürlich durch die Schiefstellung, welche die Loslösung von der sichtbaren Welt betont. 193

Schablonierung | Aufgeräumte Bilder

 Pia Berger-Bügel

194

Ein weiterer Vorzug des Bildmodells ist, dass es unaufgeräumte Szenerien in aufgeräumte Fotografien verwandeln kann. Dass es das kann, liegt zum einen ganz einfach daran, dass größere Flächen mit geringer Bildinformation ein Gegengewicht zu dichten, ja sogar übermäßig vollen Bildbereichen bilden. Hier ist das in den Bildern ,  und  der Fall. Der zweite, tiefere Grund, warum das Modell für Ordnung in kleinteiligen Fotos sorgt, hängt mit der Art zusammen, wie wir Bilder wahrnehmen. Wir versuchen nämlich stets zu erfassen, weshalb das Abgebildete für bildwürdig befunden wurde. Also was es hier – über eine uninteressante Alltagsszene hinaus – zu sehen gibt. Das funktioniert intuitiv; erst wenn man sich intensiver mit einer Fotografie auseinandersetzt, kommt der Kopf dazu. So sagen wir uns ziemlich schnell, wenn wir Bild  sehen, dass hier jemand

 Renate Kraft

 Snezhana von Büdingen

eine Szene am Meer als Spiegelung in einem Fenster fotografiert hat. Das ist das Spezifische an diesem Bild, die Bildidee. Gäbe es den Rahmen nicht und wäre das Bild direkt fotografiert, so würden wir beginnen, in der Strandszene diese Bildidee zu suchen. Das bräuchte aber länger und wäre ziemlich anstrengend – wegen der höheren Komplexität derselben. So aber haben wir schon mal das Wesentliche des Bildes verstanden – gut für uns und gut für die Fotografin. Wenn wir mögen, können wir jetzt immer noch den Einzelheiten Aufmerksamkeit widmen, müssen das aber nicht. Genauso läuft das mit dem Foto ab, welches Uhrzeiger im Fenster zeigt . Gäbe es die Wand, also die Schablone nicht, so müssten wir in der Straßenszene die Idee suchen, was uns wohl kaum gelänge, denn was hier zu sehen ist, ist recht beliebig. So aber wird die Kreuzung zu einem Bildelement. Wir verste-

 Peter Joester

 Jennifer Wolf

hen sofort: Es ist der Blick aus einem Fenster. Die Zeiger kommen noch hinzu, sie täuschen eine Uhr vor, sind also das Besondere, das hier gezeigt wird. Die Hand als Schablone ist sehr schön doppeldeutig . Sie könnte den Bildausschnitt testen, wie das manche Fotografinnen und Fotografen tun, es könnte aber auch ein Herz geformt werden, das Tochter und Mutter (letztere als Bild im Bild) umschließt. Es ist also wiefolgt: In kleinteiligen Bildern müssen wir die Bildidee aus dem Durcheinander konkurrierender Informationen (Akzente) heraussuchen. Das empfinden wir oft als recht anstrengend und im schlimmsten Fall bleibt unklar, was eigentlich das Spezifische sein soll. Dann bewerten wir das Bild gewöhnlich als schlecht. Kommt eine Schablone hinzu, wandeln sich die Schablone und das »Durcheinander« in Bildelemente, aus deren Zusammenwirken sich der Bild­

 Frank Dürrach

inhalt leicht erschließen lässt. Im übertragenen Sinne werden unaufgeräumte Bereiche also gewissermaßen »verpackt« und mit einem »Etikett« versehen. Sehr deutlich wird das in den letzten Bildern der Seite. Ein Stalker im Dunkeln beobachtet eine junge Frau . Die Fotografin hat den Moment sehr schön inszeniert, denn sie scheint gerade etwas zu bemerken. Stellt man sich das Bild ohne den schwarzen Rahmen vor, so wäre alles zu überladen und ziemlich unspezifisch. In Bild  mutiert die U-Bahn durch die seltsame Unschärfe mit ihren Blendenflecken und durch das Pink zu einer Art Traumzug. Ebenso einfach ist es, die Bildidee zu erfassen, wenn Handytechnik und traditionelle russische Architektur aufeinandertreffen . Die Hand des Jungen scheint etwas (be-)greifen zu wollen; das ist etwas, was wir mitunter auch durch das Fotografieren versuchen. 195

Schablonierte Bilder

Hier eine Reihe Bilder, passend zu dem Bildmodell. Die schablonierten Bereiche reichen dabei von sehr belebt und interessant () bis zu »informationsmäßig tot« (). In letzterem Fall funktioniert das Bildmodell generell am besten.

 Pia Berger-Bügel  Michaela Grönnebaum

 Maya Claussen  Monika Probst

 Edgar Olejnik  Georg Mekras

 Tuba Ay ⑪ Manuel Koch  Horst Mumper  Carsten Nichte

⑫ Frank Dürrach

 Snezhana von Büdingen

 Marvin Ruppert

Zusammenfassung

Schablonierung In schablonierten Bildern sind größere Bereiche von Flächen mit geringem Informationsgehalt abgedeckt. Wie entsteht die Schablonierung? • Architektur bietet die am häufigsten genutzten Möglichkeiten: Fenster, Türen, Bögen, Tore, dicke Gitter und Ähnliches. • Platz zwei dürfte die Natur belegen, etwa Baumstämme, Laub, Felsen und natürlich alle Formen von Mensch und Tier, die im Gegenlicht zu dunklen Schablonen werden. • Ganz allgemein eignen sich Szenerien, die in hartes Licht getaucht sind und deren Schattenbereiche entsprechend wenig Zeichnung aufweisen. • Schließlich lassen sich Schablonen auch selbst »basteln«. Hände und andere Gegenstände, die in den Vordergrund gehalten werden, (bunte) Pappschablonen, nicht zu vergessen das nachträgliche Einfügen durch Bildbearbeitung – falls man das mit seinem Ethos als Fotografin/Fotograf vereinbaren kann. Drei Fähigkeiten machen das Bildmodell zu einem der wichtigsten Gestaltungs-

modelle im Repertoire vieler Fotografinnen und Fotografen: • Es schafft »Rahmungen« mit ungewöhnlichen Formen für den eigentlichen Bildbereich. So bringt es Abwechslung in das quadratisch-rechteckige Einerlei. • Es zeigt meist nicht nur das »sachliche« Abbild seines Bildgegenstands, sondern einen subjektiven Blick auf diesen. Wir sehen im Bild einen Ort, von dem aus geschaut wird, und werden daher als Beobachtende Teil des Bildes. Das baut eine stärkere Verbindung auf, »zieht uns ins Bild«. • Das Modell kann durch Flächen Bilder beruhigen. Übervolle Bildbereiche werden zu einem Bildelement zusammengefasst (»Chaos«) und damit entsteht ein klar lesbares, aufgeräumtes Foto. Das ist sicher die wichtigste Funktion der Schablonierung. Durchzeichnung ist in Flächen in der Fotografie gewöhnlich sehr wünschenswert. In diesem Modell funktionieren die Schablonen aber häufig am besten, wenn sie gerade wenig Informationen erhalten. Aber das ist von Bild zu Bild durchaus unterschiedlich. 199

Grundlagen und Systematik

Farbe in der Fotografie

Neben Akzenten, Linien, Flächen und der Unschärfe ist Farbe wohl das wichtigste Gestaltungsmittel. Da man Helligkeit und Sättigung gewöhnlich zu den Farbeigenschaften zählt, gilt dies sogar für Schwarzweißbilder. Für die Malerei gibt es umfassende Farbtheorien, die auch für die Fotografie nutzbar sind, wenn man ein paar Anpassungen vornimmt. Insbesondere ist das im Theorieteil dieses Kapitels geschehen, wo ich mit einem Farbkreis mit den Grundfarben Grün, Rot, Blau arbeite – genau wie das unsere Augen und die Sensoren der Kameras machen. Ich habe auf manche Begriffe der Farb­ theorie(n) verzichtet, da diese oft nicht einheitlich gebraucht werden und daher viel Verwirrung stiften. Und das wäre dem Ziel des Abschnitts nicht förderlich, nämlich zu zeigen, wie Farbe in ihren Eigenschaften und Kombinationen funktioniert und wie man sie in der Fotografie wirksam einsetzt.  Das Bild rechts gewinnt viel seiner visuellen Kraft aus starken Farben. Die vertikalen Streifen von Senfgelb, Grün und Rot haben reizvolle Abstufungen und kontrastieren stark. Das Mädchen ist mitten in einer Bewegung festgehalten, steht in rötlichem Licht und hebt sich klar gegen den giftig grünen Grund ab. 200

 Dana Stölzgen

Farbe | Physikalische und biologische Grundlagen

Hier zunächst ein paar physikalische und biologische Grundlagen der Lichtwahrnehmung. Diese sind wichtig, um verstehen zu können, warum viele Menschen bestimmte Farbkombinationen als harmonisch oder kontrastierend und attraktiv einstufen.

202

Unser Körper ist mit Messsensoren für die verschiedensten, in unserer Umwelt auftretenden Erscheinungen ausgestattet. Für die meisten Wellenlängen der elektromagnetischen Strahlung  benötigen wir Instrumente, um sie anmessen zu können. So nehmen wir zum Beispiel keine Röntgenstrahlung wahr, was eigentlich recht praktisch wäre, denn diese durchdringt ja oft unliebsame Hindernisse wie zum Beispiel Kleidung. Manche Wellenlängen empfängt unser Radio, mit anderen lässt sich kochen, Radar nutzt die Polizei und auf Infrarot und UV reagiert unsere Haut mit Wärmeempfinden oder Sonnenbrand. Anders ist das jedoch für den Bereich zwischen 380 und 750 Nanometer (ein nm ist ein Milliardstel Meter). Dazu stehen uns Augen mit Linsen und Netzhaut zur Verfügung. In der Netzhaut im Augenhintergrund sind komplexe Moleküle eingelagert, die auf eintreffendes Licht mit einer elektrochemischen Reaktion antworten. Weitaus am häufigsten sind in der Netzhaut die sogenannten Stäbchen, die vor allem für das Sehen bei wenig Licht gebraucht werden. Das Farbsehen verdanken wir dem zweiten, selteneren Typ von Rezeptor in der Netzhaut: den Zapfen. Hiervon hat der Mensch gewöhnlich drei Typen (genannt S, M und L – also ganz wie im Klamottenladen), die auf unterschiedliche Wellenlängen ansprechen. In der Grafik  ist in der Mitte ein stark vereinfachter Ausschnitt der Netzhaut dargestellt mit den weiß gezeichneten Stäbchen und den farbigen Zapfen. Mit drei Zapfen ist der Mensch gut bedient, viele

Säugetiere müssen mit weniger auskommen, allerdings haben viele Spinnen und Insekten zusätzlich einen UV-Rezeptor. Grafik  zeigt, dass die S-Zapfen am stärksten auf 420 nm reagieren, die M-Zapfen auf 534 nm und die L-Zapfen auf 564 nm; die Stäbchen liegen dazwischen bei 498 nm. Das ist insofern bemerkenswert, als sich damit M und L nur wenig unterscheiden. Außerdem soll L für die Bestimmung von »Rot« zuständig sein, reagiert aber am stärksten auf eine Wellenlänge, die unser Gehirn später als »Gelbgrün« darstellt. Der Trick liegt darin, dass bereits in der Netzhaut durch komplexe Verrechnung der einzelnen Messergebnisse Informationen verstärkt und sogar neue gewonnen werden. Das gilt auch für den Farbeindruck »Gelb«. Der rechte Teil der Grafik  zeigt, dass die Zapfen ihre Infos so kombinieren, dass sie zu drei grundlegenden Kanälen zusammengefasst werden, die im Gehirn ankommen und dort mit einer Farbsimulation »übersetzt« werden. Alle drei tragen zur einem Helligkeitskanal bei (also lautet die Formel: R+G+B), ein Kanal bestimmt, wie rot oder grün ein Objekt erscheinen soll (R–G), ein dritter, wie blau oder gelb. Gelb? Dafür gibt es keinen eigenen Rezeptor, aber hierfür liefern wieder Rot und Grün die Informationen, die nach der Formel B−(R+G) verrechnet werden. Wie gesagt, bei geringer Helligkeit helfen uns die Zapfen kaum noch, hier arbeiten die Stäbchen – ganz unten mit »S« angegeben. Übrigens: Grafik  enthält eine äußerst suggestive Ungenauigkeit: Licht ist hier mit einem farbigen Spektrum dargestellt. Damit wird aber schon im Bereich der Physik vorweggenommen, was doch nur im Kopf des Menschen entsteht: Farbe. Farbe existiert nur im Gehirn, sie ist eine Simulationsleistung – ähnlich wie »salzig«, »Hunger«, »Kälte« oder »Wut«.

Text  Das elektromagnetische Spektrum und das sichtbare Licht

 Aufbau der Netzhaut und Verrechnung der Wellenlängen-Information

 Empfindlichkeit der Zapfen für bestimmte Wellenlängen des Lichts

203

Farbe | Additive und subtraktive Farbmischung

Farbsysteme gibt es viele und ebenso viele Missverständnisse zwischen ihren Erfindern. Die Grundbegriffe:

204

Wir haben gesehen, dass das Auge über seine drei Farbrezeptoren misst, welche Wellenlänge einfallendes Licht hat. Aus diesem Messergebnis werden dann bereits in der Netzhaut Informationen errechnet – unter anderem über die spätere Farbe und Helligkeit. Das Gehirn besorgt dann die Umsetzung in einen entsprechenden Sinneseindruck. Die ersten Versuche, diese Farbeindrücke systematisch zu untersuchen und darzustellen, liegen Jahrtausende zurück. Seit Pionieren wie Aristoteles und später Isaac Newton sind viele Erkenntnisse und Konzepte dazugekommen, insbesondere gibt es eine Unmenge Darstellungen der unterschiedlichen Farbwahrnehmungen in Form von Farbkreisen, Farbkugeln oder Farbräumen. Viele Farbtheoretiker (eine Männerdomäne) vertreten ihre Ideen mit großer Leidenschaft und einiger Aggressivität oder Geringschätzung den Kollegen gegenüber. Es gibt heute keine einheitliche Farbtheorie und insbesondere über die verwendete Terminologie herrscht kein Konsens. Ebenso ist es mit der Frage, welche Farbkombinationen auf Menschen in welcher Weise wirken. Ich stütze mich hier deshalb auf die weitgehend unstrittigen Fakten, vermeide unklare Benennungen nach Möglichkeit und werde mich auf für die Fotografie relevante Punkte konzentrieren. Eine der Auseinandersetzungen in der Farbenlehre betrifft die Frage, ob es drei oder vier Grundfarben gibt und welche das seien. Dabei haben nach meiner Ansicht in dem Fall praktischerweise (fast) alle recht. Unstrittig ist, dass man für uns die meisten Farben aus Rot, Grün und Blau mischen kann, sofern man diese als Lichtquellen hat. So arbeiten zum

Beispiel unsere Monitore, Beamer und Diodenlampen. Diese Grundfarben sind in Grafik  dargestellt. Aus jeweils zwei dieser Lichtquellen kann man Magenta, Cyan und Gelb erhalten, wenn man zu gleichen Anteilen mischt. Türkis, Orange oder Lila bekommt man, wenn die Anteile ungleich sind. Weiß erhält man durch alle drei, Schwarz durch keine und gebrochene Farben ebenfalls durch alle drei Grundfarben der additiven Farbmischung in unterschiedlichen Anteilen. Anders liegt der Fall, wenn man Medien hat, die nicht selbst leuchten . Hier greift die subtraktive Farbmischung. Nehmen wir beispielsweise ein buntes Werbeplakat: Hier fällt weißes Licht auf dessen Farbflächen. Je nach deren chemischer Beschaffenheit werden aber einige Wellenlängen des weißen Lichts ausgefiltert, andere reflektiert. Das ist in der Grafik  in dem oberen Bereich dargestellt. Gelbe Druckfarbe und gelber Lack schlucken zum Beispiel blaue (genauer: kurze) Wellen, schicken aber grüne und rote weiter. Das Auge macht daraus Gelb, denn jetzt greift ja wieder die additive Farbmischung. Entsprechend hat die subtraktive Mischung andere Grundfarben, nämlich Gelb, Magenta und Cyan – wie unsere Druckmaschinen. Was Grundfarben sind, hängt also von dem Zeitpunkt ab, an dem man ansetzt. Eine bunte Pappe absorbiert also zunächst nach den Regeln der subtraktiven Mischung; das reflektierte Licht gehorcht dann den Regeln der additiven Mischung. Aber auch die Verfechter der (psychologischen) Grundfarben Gelb, Rot, Grün und Blau haben recht, denn das entspricht der nächsten Stufe: der Verarbeitung in der Netzhaut. Entsprechend finde ich den abgebildeten Farbkreis  sinnvoll. Seine Form geht auf Johannes Itten zurück, aber die Farben wurden von mir angepasst.

Text  Farbmischung mit Licht

 Farbmischung aus Körperfarben (Öl, Acryl, ...)  Farbkreis für die Fotografie

205

Farbe | Farbkombinationen und Farbwirkung

Hier geht es nun um die Nutzbarkeit der Farbenlehre in der Fotografie. Diese ist zum einen über die Kombination bestimmter Farben im Bild (und die Auslassung anderer) gegeben, zum anderen durch die traditionell überlieferte Farbsymbolik.

206

Wie gesagt gibt es sehr unterschiedliche Systeme, Farben zu klassifizieren, übergreifend verwenden aber die meisten drei Dimensionen, um eine Farbe zu kennzeichnen, nämlich: Welche Farbe liegt überhaupt vor, wie hell oder dunkel ist sie und wie gesättigt? In Grafik  ist das links dargestellt. Diese drei Farb­ dimensionen erleichtern das Merken und Erkennen von Farben im täglichen Leben enorm. »Farbe« heißt dabei, welche Wellenlänge oder welches Gemisch aus Wellenlängen vorliegt. Einfacher gesagt, ob eine Farbe Rot, Gelb, Türkis, Lila, Blau und so weiter ist. (Der Farbeindruck Magenta hat dabei die Besonderheit, dass er immer aus wenigstens zwei Wellenlängen zusammengesetzt sein muss, da er im Spektrum (siehe oben) nicht vorkommt. Es gibt also nicht eine Wellenlänge, die uns als Magenta erscheint.) »Helligkeit« heißt, wie hoch der Anteil von Weiß oder Schwarz in einer Farbe ist. Im Malkasten (also in der subtraktiven Farbmischung) mischt man eben einfach Weiß oder Schwarz zu einer Farbe. Mit Licht reduziert man die Energie, dann geht eine Farbe Richtung Schwarz, oder man mischt die anderen Grundfarben dazu, dann verschiebt sich die Farbe in Richtung Weiß. »Sättigung« schließlich bedeutet, ob eine Farbe maximal farbkräftig ist oder ob sie stumpf oder gedeckt erscheint. Im Malkasten würde man das durch Zumischen eines Grautons erreichen, der dieselbe Helligkeit hat wie die Ausgangsfarbe. (Gelb würde man also mit immer mehr Hellgrau mischen, um die Sättigung nach und nach

zu reduzieren.) In der Lichtmischung reduziert man die Farbsättigung, indem man die Energie ändert und die Komplementärfarbe zugibt. Grafik  zeigt nun eine Reihe klassischer Farbkombinationen, die in einem Farbkreis dargestellt sind. Zum Beispiel kalte Farben oder warme Farben. Oder im Kreis nebeneinanderliegende Farben (»analoges Farbschema«). Oder Komplementärfarben, die sich im Farbkreis ungefähr gegenüberliegen. »Ungefähr« deshalb, weil es ja unterschiedliche Farbkreise gibt und damit nicht immer genau dieselben Farben gegenüberliegen (»komplementär sind«). Die Empfindung eines deutlichen Kontrastes bei Komplementärfarben geht – wie oben gezeigt – auf die Netzhaut zurück, die ja Kanäle sich ausschließender Farben bildet. So kann man – mit Licht – Blau und Gelb nicht mischen, ohne den Farbeindruck zu verlieren (er ergibt Weiß), ebenso ist es mit Rot und Grün. Die hier dargestellten Kombinationsmöglichkeiten sind natürlich so gedacht, dass man die weißen Pfeile weiter drehen kann, und man erhält in den meisten Fällen starke Kombinationen. Worin dieses »stark« besteht, darauf geben viele Farbtheoretiker überhaupt keine Antwort. Dieses Buch versucht es auf den folgenden Seiten anhand fotografischer Beispiele. So wirkt zum Beispiel die Triade Rot, Grün, Blau (Gelb kann dazu) ganz anders als die Triade, die sich ergibt, wenn man die Pfeile zwei Stellen weiter dreht, nämlich Gelb, Magenta und Cyan. Erstere wird als bunt, real, heiter empfunden, letztere eher als giftig, schräg und künstlich. Ganz unten  findet sich eine kleine Tafel mit Angaben zur traditionellen Farbsymbolik. Diese Assoziationen sind aber zugegeben von Mensch zu Mensch und zwischen den Kulturen recht unterschiedlich.

 Grundbegriffe der Farbbeschreibung

 Gleichklänge und Kontraste

Text

 Kulturelle Farbmethaphorik

207

 Edgar Olejnik

Farbe | Monochromes und analoges Farbschema

 Frank Dürrach

208

Bilder mit monochromem oder mit analogem Farbschema schränken ihre Palette auf eine Farbe oder einen kleinen Bereich benachbarter Farben ein. Paradoxerweise stärkt dieser Verzicht den Farbeindruck. Auf den kommenden Seiten sollen nun die wichtigsten Möglichkeiten vorgestellt werden, wie sich Farben systematisch kombinieren lassen. Vorab möchte ich darauf hinweisen, dass diese Kombinationen nur eine Anregung darstellen sollen, kein Regelwerk, das man beachten muss. Es gibt selbstverständlich eine ungeheure Zahl potenzieller Farbzusammenstellungen, die keiner der hier angeführten Regeln entsprechen und trotzdem funktionieren. Zudem gibt es – wie oben ausgeführt – unterschiedliche Farbtheorien mit mehr oder weniger abweichenden Farbkreisen, die dann entsprechend leicht unterschiedliche Ergebnisse liefern. Die Regeln der folgen-

 Frank Dürrach

 Dana Stölzgen

den Seiten sollte man also durchaus sehr großzügig auslegen. Zum Glück können wir aber mit zwei Farbschemata beginnen, die weitgehend unabhängig von jeder Theorie funktionieren und daher Konsens sein dürften. Das erste ist recht einfach, nämlich das monochrome Schema, welches einfach nur eine Farbe in einem Bild zulässt. Als regelkonform würde ich dabei betrachten, wenn Helligkeit und Sättigung der Farbe variieren, aber die Farbe an sich innerhalb gewisser Grenzen gleich bleibt. So geht die blutrote Lache (ein Kunstwerk), die zwei japanische Offizielle irgendwie ratlos zu machen scheint, an ihrem rechten Rand leicht ins Orange und nach oben wird sie durch Weiß aufgehellt . Das Rot dominiert das Bild, denn die Fläche ist groß und es gibt keine konkurrierenden Farben. In monochromen Bildern wird Farbe gewissermaßen zum »Star«; Betrachter bemerken

 Monika Probst

 Andreja Horvat

sehr wohl das Außergewöhnliche, das im Verzicht auf alle andere Farben liegt. Bild  ist da konsequenterweise in hohem Grade abstrakt. Der Reiz besteht aber darin, dass hier kein Gemälde vorliegt, sondern dieses Bild in der Umwelt entdeckt wurde. Das Schema entspricht dem Farbkreis  unten links. So blau wie der Himmel ist die Tür dieses Hauses . Alles nur Fassade? Das Vögelchen aus dem grünlichen Bild  hat in seinem Häuschen wohl elektrische Geräte, daher auch das Vor-

 Michaela Wissing

hängeschloss. Das Grün ist stark entsättigt und variiert in seiner Helligkeit. Die drei Bilder dieser Seite haben alle ein analoges Farbschema (das von Bild  ist unten im Farbkreis dargestellt). Bild  umfasst Orange, Rot und etwas Violett. Die Farben liegen wie ein Schleier über der Barszene, aus der einzelne erzählerische Elemente auftauchen. Bild  ist eine gebastelte, aufgebaute und dann abfotografierte Fotocollage namens »Woll-Lust«. Die Farben reichen von warmem Magenta bis zu einem kühleren Blau und schaffen die schwül-witzige Atmosphäre dieses schlauen Bildes. Die Fische liegen als Diagonalen auf einem »Teich«; nur ist dieser aus Eis und Metall  . Ganz oben im Bild gibt es das stärkste Gelb zu sehen, nach unten verläuft es ins Grüne und trifft sich mit der Farbe der Limetten und des Rosmarins. Komposition und Farben machen einen kühlen, artifiziellen, modernen Eindruck. 209

Farbe | Komplementäres Farbschema

 Klaus Dyba

210

Die wohl bekannteste Kombinationsidee ist die Verwendung komplementärer Farben, die sich im Farbkreis in etwa gegenüberliegen. .

Farbkreise haben gewöhnlich zwei Regeln: Die Farben sollen von Feld zu Feld in kleinen Schritten ineinander übergehen und Farben, die sich nicht sinnvoll mischen lassen, sollen gegenüberliegen. Der berühmte Kreis von Johannes Itten stellt Farben gegenüber, die (mit dem Pinsel gemischt) ein »Grauschwarz« ergeben. Der Kreis, den ich hier verwende, basiert auf der Mischung mit Licht, das heißt, gegenüberliegende Farben geben als Scheinwerferlicht gemischt (in etwa) Weiß. Folglich gibt es für uns Menschen wegen der Verarbeitung der Wellenlängen in Auge und Gehirn kein blaustichiges Gelb und kein Rot, das ins Cyan geht. Wie gesagt, es geht um Licht, denn im Farbkasten kann man Blau

 Sebastian Isiyel

 Pixabay

und Gelb trefflich zu Grün mischen. Wie vieles in der Farbenlehre sollte man auch die nicht zu genau nehmen; für einen ordentlichen Komplementärkontrast müssen Farben kein reines Weiß ergeben und auch nicht unbedingt genau gegenüber im Farbkreis liegen. Arbeiten das monochrome und das analoge Schema mit einem Gleichklang, so setzt das komplementäre eben auf einen sehr starken Farbkontrast. Je nachdem, um welche Farben es sich handelt, kommt noch ein Helligkeitskontrast hinzu. Daher sieht man oft das helle Gelb und das dunkle Blau kombiniert (die FDP hat aktuell noch das moderne Magenta dazu genommen), während Grün und Magenta fast gleich hell sind. In Bild  wird einer als ziemlich »fertig« porträtiert. Dementsprechend wird er zwischen den Kontrasten von Magentarot und Türkis (siehe den Farbkreis links oben) hin- und hergerissen wie zwischen

 Georg Mekras

 Annika Rabenschlag

Sorgen und Ängsten. Die Requisiten und die Effekte des Weitwinkelobjektivs tragen ebenfalls zur Wirkung bei. Eine ganz andere (Arbeits-)Welt zeigt Bild . Auch hier macht der Farbkontrast

 Pixabay

das Bild stark und steht gleichzeitig für Hitze (gelb) und den Schutz dagegen (in blau). In der brillanten Makrofotografie nehmen die Facettenaugen das Rot der Blüte wieder auf und sorgen so für einen Hingucker . Von der schönen Farbigkeit und der Unschärfe lebt der Blick ins Pustefix . Bild  ist ein Beispiel dafür, dass man eine Komplementärfarbe auch durch ihre Nachbarn ersetzen kann (siehe die Grafik »gespalten komplementär«) und gleichwohl die starke Kontrastwirkung erhält. Hin und wieder reicht jemandem in der Malerei oder der Fotografie ein Kontrast nicht aus und sie/er greift zu einem doppelten Komplementärkontrast (siehe die beiden Farbkreise). Der Fall ist allerdings eher selten (ich musste das Bild kräftig photoshoppen) und ist weit weniger klar als der einfache Einsatz komplementärer Farben . 211

Farbe | Triadische Farbschemata

 bis  Pixabay

212

Triaden aus Farben, die im Farbkreis 120° auseinanderliegen, ergeben kontrastreiche, starke Kombinationen. Dreiklänge aus den Grundfarben der subtraktiven Farb­ mischung, der additiven Farbmischung und aus deren Mischfarben unterscheiden sich in ihrer Wirkung deutlich. Es ist problematisch, einzelnen Farbkombinationen schematisch ganz bestimmte Adjektive zuzuordnen; schließlich hängt die Farbwirkung in der Fotografie von mehreren Faktoren ab, die sowohl im Bild als auch bei der Betrachterin oder dem Betrachter liegen. In den Bildern  bis  sind die Träger der Farbe einfach quadratische Zettel, daher hat das Objekt hier weniger Einfluss auf den Eindruck als sonst – wie etwa in Bild . Die Sättigung, die Größe der Farbbereiche und deren Platzierung spielen natürlich eine wesentliche Rolle, welche Gefühlswerte oder Aussagen man Farben zu-

 Katharina Rösch

 Anna Louisa Belz

misst. Schließlich sind Farbassoziationen auch ein Resultat der persönlichen Erfahrung und der Kultur, in der man lebt. Bild  zeigt die Grundfarben der Lichtmischung. Diese Farben finden in vielen Bildwerken Verwendung und werden oft mit Adjektiven wie »bunt«, »fröhlich«, »klar«, »real«, »stark«, »einfach« oder »natürlich« verknüpft. Zu diesem Dreiklang wird oft Gelb hinzugenommen, welches sich bestens einfügt, ja sogar vermisst wird, wenn es fehlt. Diese vier Farben werden von vielen Menschen als grundsätzlich empfunden – die es nach meiner Erfahrung gar nicht mögen, sich beim Benennen von »Primärfarben« zwischen Grün und Gelb entscheiden zu müssen. Ich denke, das kommt einfach daher, dass in der Netzhaut diese vier Farbeindrücke unterschieden werden. Dass Gelb praktisch überall dazu passt, könnte an seiner Helligkeit liegen oder daran, dass dieser Farbeindruck ja nicht

 bis  Anja Grauenhorst (Bilder bearbeitet)

direkt mit einem Farbrezeptor »gemessen«, sondern indirekt erschlossen wird. Die zweite Dreiergruppe  besteht aus den Grundfarben der subtraktiven Farbmischung, Cyan, Magenta und Gelb. Alle

drei sind sehr leuchtstark und werden in Kombination eher mit Eigenschaften wie »schräg«, »giftig«, »schrill«, »künstlich«, »irreal« verbunden und eignen sich daher sehr gut zur Unterstützung entsprechender Bildinhalte. Gern genommen wird auch die Kombination aus Orange, Türkis und Lila (Violett) ; diese sind immer wieder Modefarben. Im Eindruck stehen sie nach meiner Ansicht meist zwischen den Grundfarben der Lichtmischung und des Drucks. Dass der Farbeindruck aber von vielen Faktoren abhängt, zeigen die Bilder  und , die beide mit Farben aus der Lichtmischung plus Gelb arbeiten, aber doch recht unterschiedlich wirken. Die Nummern ,  und  sollen anhand umgefärbter motivgleicher Bilder ermöglichen, sich selbst zu fragen, ob die unterschiedlichen Kombinationen tatsächlich »fröhlich«, »schräg« oder »modisch« wirken. 213

 Pixabay

Farbe | Kalte und warme Farben

 Julian Schievelkamp

214

Die Verwendung »kalter« und »warmer« Farben ermöglicht einen Gleichklang (wenn man sich auf eines von beiden beschränkt) oder einen Kontrast (wenn man kalt und warm gegenüberstellt). Ähnlich wie der Komplementärkontrast ist der Kalt-warm-Gegensatz in der Alltagskultur des Westens recht bekannt und wird in vielen Bildern genutzt. Dass manche Farben eher mit Kühle, andere eher mit Wärme assoziiert werden, dürfte aber in der Bekanntschaft mit Feuer und Eis, mit Wüste und Meer begründet sein. Schließlich brennen blaue Flammen eigentlich heißer und kurze Wellenlängen (die wir blau sehen) gelten als energiereicher. Ich weiß nicht, ob dieser kulturelle Erwerb über geografische und zeitliche Grenzen hinweg gültig ist. Wo genau die jeweiligen Farben im Farbkreis liegen, ist nicht unumstritten. Ich habe in Kursen und in der studentischen Ausbildung oft

 Pixabay

 Pixabay

gefragt und gewöhnlich trat ein Ergebnis zutage, wie es der Farbkreis in der Grafik links oben wiedergibt . Jedenfalls sind auf dieser Doppelseite links Bilder versammelt, die jeweils mit kalten oder warmen Farben arbeiten, während rechts ganz konfrontativ gemischt wird. Das Modefoto  ist weitgehend in warmen Farben gehalten; gleichzeitig handelt es sich um eine Analogharmonie von Gelb über Orange zu Rot. In dem Bild passt die avantgardistische Kleidung auf geniale Weise zur Umgebung. Schließlich hat der »Hosenanzug« selbst etwas von einem Baumstamm und die Jacke etwas von Moos. Das Modell steht in lässiger Haltung und schaut uns an, gleichzeitig sind keine Füße zu sehen, sondern eher der Übergang eines Baumstamms in den Boden. In Bild  dominiert das warme Orange die kleinen Andeutungen von Grün

 Pixabay

 Pexels

im Vordergrund. Ich finde, das Bild ist ein Beispiel für das Paradoxon, wonach stark bearbeitete Bilder oft besser dem Gefühl entsprechen, das wir in einer Szenerie empfinden, als unbearbeitete.

 Pixabay

 Monika Probst

Kalt liegt der Park vor uns . Das Bild besticht durch seine kühle Mono­chromie wie durch seine Hell-dunkel-Kontraste. Nummer : Absolut faszinierend ist das Bild im Wassertank: die Farbigkeit (siehe den Farbkreis rechts unten), magisches Licht, die Haltung der Frau, der Körper. Ein Traum oder das Jenseits? Die Bilder  und  überzeugen durch ihre (komplementären) Kalt-warm-Gegensätze wie durch ihre Sujets: das geheimnisvolle Bergdorf und der sperrige, rote Tanker. Bild  arbeitet mit Blau und Violett (Lila) und bewegt sich damit an der Schwelle zu kalt und warm. Das einfallsreiche Stillleben  setzt den dominierenden blau-grünen Tönen kleine magentarote Stellen (die Röschen und zwei Ränder des Porzellans) entgegen (siehe dazu den Farbkreis rechts oben). Die Magie der Lichtquellen und die schöne Unschärfe kommen hinzu. 215

 Oliver Volke  Carsten Nichte  Pexels  Frank Dürrach

 Pixabay

 Ulf Frohneberg

 Bild: Carsten Nichte

Eine Galerie ... zu den Farbschemata der vorangehenden Seiten. Die Grafik  oben zeigt das bemerkenswerte Phänomen der »Farbkonstanz«. Wie eine Kamera beim Weißabgleich können wir Farben auch unter bunter Beleuchtung erkennen. Unser Gehirn lässt im rechten Bild die mittlere Figur rot erscheinen, obwohl sich messen lässt, dass diese auf dem Bild neu­ tralgrau ohne jeden Rotstich ist. (Weil das schwer zu glauben ist, habe ich die Figuren jeweils eins zu eins kopiert und unten angesetzt.) Wir erkennen den cyanfarbenen Stich im Bild, interpretieren diesen als farbige Lichtquelle und ordnen den Gegenständen nun die Farben zu, die sie bei weißem Licht hätten. Wie in der übrigen Bildgestaltung fließen also auch beim Farbsehen unsere Erfahrungen ein und liefern eine Interpretation der Wirklichkeit.  Pexels

 Konstantin Nemerov  Jennifer Wolf

 Britta Strohschen

Farbe | Quantitätskontrast

 Alen Ianni

218

Der Quantitätskontrast beschäftigt sich gewissermaßen mit den Kräfteverhältnissen von Farben. Er fragt, wie stark die verschiedenen Farben ein Bild dominieren und in welchen flächenmäßigen Anteilen so etwas wie ein Gleichgewicht entsteht. Goethe hat seine 1810 erschienene Farbenlehre als sein Hauptwerk betrachtet – wichtiger als seine Romane, Theaterstücke und Gedichte. Tatsächlich ging er in seinem Bestreben, die »Opticks« von Isaac Newton (1704) zu widerlegen, aber leider von falschen Grundannahmen aus. Geblieben sind seine Leistungen auf dem Gebiet der Farbwahrnehmung, die die physikalische Farbenlehre ergänzten. Unter anderem schrieb Goethe über die unterschiedliche Leuchtkraft der Grundfarben und quantifizierte diese. Die Grafik  zeigt die Stärke, die er den Farben zumaß; also benötigt man zum Beispiel vergleichsweise wenig des leuchtstarken

 Horst Mumper

 Sabine Füermann

Gelb, um das dunkle Violett aufzuwiegen. Ob man freilich aufwiegen möchte oder aber bewusst ein Ungleichgewicht erzielen will, steht auf einem ganz anderen Blatt. Das Bild  ist recht klassisch (und neigt zu einer flächigen Abstraktion). Eine geringere Menge Gelb hält viel Blau in Schach. Allerdings ist das Blau heller als die Grundfarbe und das Gelb etwas schmutzig. Überhaupt liegt für mich der wahre Reiz des Bildes eher in Details wie dem Stand der Rollos. Durch die Verwacklung ebenfalls abstrahiert ist der Blick von einem Fischkutter auf den Horizont bei Sonnenuntergang . Das Bild stammt aus einer Fotoreportage über das Leben und Wirken einiger Krabbenfischer. Es folgt sicher nicht dem Gleichgewichtsverhältnis von Rot zu Blau von 3:2. Aber der warme Streif am Horizont ist es, der diese Fotografie erst interessant macht.

 Katharina Rösch

 Maurizio Arena

Und ebenfalls abstrakt kommt die grüne Suppe eines (wohl kriminell schlecht gepflegten) Aquariums daher . Klar hingegen ist: Die drei kleinen roten Stellen in ihren exzentrischen Positionen machen das Bild visuell interessant. Ebenfalls auf das Wasser führt Bild , auch wenn nur das Schiffsdeck zu sehen ist. Von dem braunen Bodenbelag abgesehen dominiert das Hellblau, welches an ganz unterschiedlichen Stellen auftritt. In dem gelben Schlauch ist ihm allerdings ein ernst zu nehmender Geg-

 Sabina Mazur

ner um die Vorherrschaft erwachsen. Der Schlauch ist eine Einzelerscheinung in dem Bild, genau wie der eine Herr, der alleine sitzen muss. Inszeniert sind die drei Bilder dieser Seite. Nummer  hat »Bewegung im Raum« zum Thema und arbeitet vornehmlich mit Cyan und Blau. Jedoch können die roten Lippen dagegenhalten. In der nicht weniger dynamischen Welt des Kampfsports dominiert diesmal eine magentafarbene Turnmatte . Der gegenüberliegenden Seite des Farbkreises entstammen Gelb und Grün, die gegen das Magenta ankämpfen. Eine Art von Gleichgewicht der Farben herrscht dagegen in Bild , denn Rot und Grün sind hier ausgewogen, aber kontrastreich vorhanden. Die Harmonie wird jedoch auf der motivischen Ebene dadurch gestört, dass hier keine Beine in Socken, sondern Arme in Handschuhen in den Schuhen stecken. 219

Farbe | Qualitätskontrast (Sättigungskontrast)

 Carina Richter

220

Im Sättigungskontrast werden reine Farben, die volle Farbkraft besitzen (die also nicht mit Weiß, Grau oder Schwarz gemischt sind), mit Farben konfrontiert, die gebrochen (also mit Weiß, Grau oder Schwarz gemischt) sind. Für wenig gesättigte Farben gibt es eine Reihe Adjektive wie »stumpf«, »erdig«, »gedeckt« oder »abgetönt«; je nach Terminologie bezeichnen die Farbenlehren diese Farben auch als »tertiär« oder »quartär«. In der Mischung der Körperfarben (aus der Tube oder dem Farbeimer) werden diese Farben durch Zugabe ihrer Komplementärfarben oder mit Schwarz, Weiß und Grau hergestellt; in der Lichtmischung ebenfalls durch Zugabe der Komplementärfarbe (was zu einer Bewegung in Richtung Weiß führt), durch Verringerung der Leuchtstärke (Richtung Schwarz) oder durch eine Kombination beider Maßnahmen.

 Pixabay

 Snezhana von Büdingen

Bild  zeigt das mustergültig. Das rote Kleid erfreut sich einer hochgradigen Farbsättigung, das Blau des Bodens ist mit Hellgrau zu einem Taubenblau abgetönt. Es entsteht ein echt »theatralischer« Moment. Die wenigen Informationen des engen Bildausschnitts bringen uns dennoch auf die Verortung im Tanztheater. Das Bild konzentriert sich auf die Bewegung und die Spannung der voranschreitenden Füße, die Farbe Rot steht für Leidenschaft und Energie in einer eher kühl getonten Umgebung. Bild  zeigt im Grunde einen banalen Bildgegenstand, wenngleich die Summierung der vielen Lampenschirme nicht ohne Reiz ist. Aber vor allem die Kontraste machen es sehenswert: Licht gegen Dunkelheit, warme Farben gegen kalte, komplementäre Farben sowie gesättigte gegen ungesättigte Farben (Grafik ). In der Kletterszene  ist die Farbe mit der höchsten Sättigung das Rot der Mat-

 Leandra Garcia

 Michael Kammlander

te. Die diagonale Komposition verstellt weitgehend den Blick auf den Kletterer, daher bekommt die Hand, die die schwächer gefärbten Griffe umklammert, mehr Aufmerksamkeit. An der Kante entlang geht der Blick in die Tiefe, wo die knallrote Matte auf einen Ausrutscher wartet. In dem Stillleben  ist der Sättigungskontrast sehr subtil, da es sich weitgehend um Grüntöne handelt (plus das Braun des Tischchens, welches ein mit Schwarz gemischtes Orange ist), und die Vase ist nicht wesentlich gesättigter als

 Kary Barthelmey

die Farnblätter. Wenn ich mich nicht täusche, sind die Pflanzen jedoch aus Plastik, was die edle Anmutung der Komposition krass unterlaufen würde. Die Gegenstände sind aber sehr gut ausgewählt und einige Spannung entsteht auch durch die Ungleichgewichtigkeit der Komposition, die alles Interessante außerhalb der Bildmitte ansiedelt. Ganz sicher nie gelebt haben die »Pflanzen« des Fenster-Stilllebens, wobei das Bild durch das helle und kräftige Dottergelb schon sehr lebendig wirkt . Innenwelt und Außenwelt, Sichtbares und Verschleiertes, hell und dunkel, bunt und gebrochen ergeben eine wirkungsvolle Kombination. Ganz auf die Mischung mit Weiß setzt das schön inszenierte Modellfoto . Alles wird pastellig in dieser Konditorei. Alles? Der Mund mit dem kräftigen roten Lippenstift natürlich nicht, der dementsprechend unseren Blick anzieht. 221

Farbe | Gebrochene Farben

 Snezhana von Büdingen

222

In den gebrochenen, schwach gesättigten Farben kann man mit einiger Erfahrung noch ihre ursprünglichen, gesättigten Vorläufer erkennen. Durch das Brechen haben sich aber die Farbeigenschaften hin zu »alt«, »erdig«, »behaglich«, »zurückhaltend«, »natürlich«, »leise« verschoben. Wenn man die Bilder dieser Doppelseite so ansieht, fällt auf, wie gut sie harmonieren. Das liegt natürlich an den gedeckten Farben. Man soll ja ganze Wohnungen in solchen Farben einrichten oder Kleiderschränke ausstaffieren können. Alle diese Farben haben ihre geringe Farbsättigung gemeinsam, sie tendieren also zu Weiß, zu einer der vielen Schattierungen von Grau oder in Richtung Schwarz. Dominiert das Weiß, nennt man diese Farben Pastell – und man zieht gern Kleinkinder oder englische Königinnen mit ihnen an. Mischt man Grau hinzu, dann werden die Farben unbunt, aber nicht unbedingt

 Leandra Garcia

 Manuel Koch

heller oder dunkler. Nimmt man Schwarz, werden sie erdig oder abgedunkelt. Interessant ist, dass die gebrochenen Farben die Eigenschaften ihrer Ausgangsfarben wie Blau, Gelb, Grün, Rot, Orange, Türkis weitgehend verlieren und alle irgendwie ähnlich wirken (siehe Grafik ). In Bild  begegnen uns vor allem diese erdigen Töne; die Farben sind quasi nur ein Schatten ihrer selbst. Das passt sehr gut zum Sujet, denn hier wird eine Art englischer Landhausstil zitiert. Das Modell schaut uns selbstbewusst entgegen, steht auf einem Podest und hält die Hunde an der kurzen Leine; seine Nase passt prima zu den Hunden, auch wenn die deutlich kürzeres Haar haben. Ein passendes Gegenstück ist Bild , allerdings kommt dieses deutlich weniger klassisch daher. Nicht was die Farben angeht, also das Rosa und die Brauntöne. Vielmehr ist der Kamerastandpunkt sehr ungewöhnlich, denn wir blicken

 Leandra Garcia

 Oksana Briclot

gleichsam wie von einer Leiter herab. Ebenso der Ausdruck, die seltsame Pose des Modells und der Schlagschatten. Modefotografie arbeitet häufig mit solchen unerwarteten Verfremdungen, um das Interesse nicht einschlafen zu lassen. Das Selbstporträt  geht im Zitieren und in seiner Metaphorik noch weiter. Pose, Requisiten, die ganze Szenerie machen sofort klar, dass hier eine Botschaft zu entschlüsseln wäre. Zum Beispiel: Kunst geht oft mit Drogenkonsum einher. Aber dies ist nur eine Idee, das

 Rita Heinz

Bild ist für viele Deutungen offen. Der Ausdruck des Modells und die Farbigkeit verweisen eher auf Gemälde aus dem 19. Jahrhundert, während die Puppen und die Medikamente ganz aktuell sind. Das Kunstblumen-Stillleben  stammt aus einer Serie mit dem der vorangegangenen Doppelseite. Wieder ist hier alles sehr gut arrangiert und ausgewählt. Insbesondere spielen die samtig-dunklen Blüten gut mit dem rosa Hintergrund zusammen. Ein richtig gelungenes Bild aus dem Genre der Food Photography ist Bild . Das sparsame Licht, die gedämpften Farben und der ungewöhnlich kleine Bereich der Bildschärfe erzeugen eine dichte Atmosphäre. Das gilt auch für die Abstraktion . Durch die beiden (vielleicht am Rechner zusammengefügten) Bildebenen ergibt sich eine malerische Fotografie, die Gegenstände verblassen darin. 223

Farbe | Farben auf Schwarz oder Weiß

 Frank Dürrach

224

Manche Eigenschaften des Lichts sind physikalisch bestimmbar, andere Aspekte fallen in das Feld der Psychologie und der Physiologie des Menschen. Dazu gehört, dass wir dieselbe Farbe unterschiedlich wahrnehmen, wenn sich deren Farbumgebung ändert. Stellt man zum Beispiel ein mittelgraues Quadrat auf einen grünen Untergrund, so erscheint der Grauton leicht ins Rötliche verschoben; stellt man dasselbe Grau vor Rot, dann erscheint es grünlich. Der Effekt ist allerdings subtil (man muss ziemlich lange starren, um etwas wahrzunehmen) und ich meine, dass er für die Farbfotografie keine allzu große Bedeutung hat (Grafik rechts oben ). Solche Simultankontraste ergeben sich nicht nur bei der Einschätzung von Grau, sondern auch, wenn zwei Buntfarben aufeinandertreffen. So kann man etwa Kombinationen von Rot und Cyan oft kaum aushal-

 Marvin Hüttermann

ten, weil alles »flirrt« und »schwimmt«, sofern sich die Farben im Bild ständig abwechseln und direkt aneinanderstoßen. Bedeutender ist der Wechsel in der Farbwahrnehmung, wenn es im Bild große Anteile von Weiß oder Schwarz gibt. Schwarz bringt nämlich helle Farben geradezu zum Leuchten und dunkle Farben werden in ihrer Wirkung stark gehemmt (siehe Grafik rechts unten ). Eine weiße Umgebung schwächt umgekehrt helle Farben und hebt dunkle hervor (Grafik unten rechts). Hier sind zwei Kontraste wirksam: der Hell-dunkel-Kontrast und der Bunt-unbunt-Kontrast (also eine extreme Form des Sättigungskontrastes). In Bild  kann man das gut sehen. Ich habe es in Marokko mit einem Smartphone aufgenommen. Die kleinen Inseln von Rot oder das Gelb der Tür und des Fensters leuchten intensiv vor der dunklen Fassade. Und das, obwohl das Gelb eher ein mittelhelles Ocker ist, wenn

 Raffaele Horstmann

 Pixabay

man es mithilfe einer Bildbearbeitungssoftware genau nachmisst. Ähnlich verhält es sich mit dem großartigen Stillleben im Stil der alten Meister; die hellen und die dunklen Objekte

 Pixabay

sind hier sehr geschickt verteilt . Ungezeichnete schwarze Flächen wurden weitgehend vermieden, etwa durch die Hereinnahme der Fächerkoralle im Hintergrund. Die Farben des Bildes habe ich in das Schema unten links übertragen. Hier kann man die Wirkung losgelöst von den Gegenständen einschätzen. Dämonisch gut ist auch die Arbeit , die durch die vielen Glanzlichter, die virtuose Photoshop-Arbeit, den Kamerastandpunkt und die subtile Farbgebung fesselt. Unglaublich, was hier im Beinahe-Schwarz alles zu entdecken ist. Mit Weiß in Verbindung mit hellen Farben arbeiten die Bilder  und . Daher entsteht ein sehr zarter, einheitlicher Eindruck; Bild  wirkt wie die Antithese zu dem düsteren . Das Schema des Stilllebens unten rechts zeigt, wie sehr sich helle (und ungesättigte) Farben an das Weiß anpassen, während dunkle (das kugelige Gebäck) stark hervortreten. 225

 Pexels  Pexels

 Monika Probst  Rita Heinz

 Pixabay

Galerie zur Farbe Eine interessante Frage ist stets: Wie arbeiten die einzelnen Bilder? Mit welchen Kontrasten in der Farbe an sich, welchen Gleichklängen, welcher Farbsättigung, in Größe, Helligkeit, Lage im Farbkreis ...?

 Volker Plein  Britta Strohschen

 Christian Beauvisage

 Marvin Ruppert  Monika Probst

Farbe | Schwarzweißbilder (Achromie) I

 Frank Dürrach

Aus heutiger Sicht ist das Schwarzweißbild eine Reduktion des »normalen« Farb­ bildes, bei welchem die Informationen über Farbe und Sättigung verworfen sind und allein die Helligkeit einer Bildstelle wiedergegeben wird. Historisch verhält es sich freilich etwas anders, denn die Schwarzweißfotografie wurde zuerst erfunden (1826) und beherrschte die Szene als Normalfall die ersten Jahrzehnte, die Farbe kam wesentlich später (1904) und setzte sich erst ab den 60er Jahren durch. Ich habe hier einmal mithilfe von Photoshop Varianten eines Bildes angefertigt, das ich in einem Bochumer Museum mit dem Handy gemacht habe . Das Original ist oben links zu sehen, darunter folgt eine Schwarzweißumsetzung, die möglichst viele Grauwerte zwischen den Extremen Schwarz und Weiß erzielen möchte. Feinste Tonwertabstufung unter Vermeidung größerer, komplett

228

weißer (»ausgefressener«) oder schwarzer (»abgesoffener«) Stellen erstrebt gewöhnlich die »Fine Art Photography« mit ihren anspruchsvollen Druckverfahren. Das unterste Bild der ersten Spalte ist da schon kontrastreicher und das oberste der zweiten Spalte wurde so »hart« umgesetzt, dass Verluste an Durchzeichnung entstanden sind; der Hintergrund ist großflächig schwarz und hat kaum mehr Verläufe, im Gesicht gibt es weiße Kleckse. Solche Bilder haben oft zusätzlich ein »grobes Korn« (ein Helligkeitsrauschen, wie es früher sehr lichtempfindliche Schwarzweißfilme aufwiesen); sie finden sich gern in der künstlerischen Fotografie – zum Beispiel in Japan. Die nächste Umsetzung hat eine »Sepia-Tonung«, das heißt einen Braunstich, wie er im 19. Jahrhundert aufgrund der damaligen Fototechnik oft auftrat. Das unterste Bild der zweiten Spalte ist mein Favorit und eine sogenannte »Verlaufsumset-

 Pixabay (Die ursprünglichen Farben wurden bei der Umwandlung in unterschiedliche Helligkeitsstufen übertragen.)

zung«. Hier wurden dabei alle hellen Stellen durch helles Ocker, die dunklen durch ein Türkisblau ersetzt. Ebenfalls eine Verlaufsumsetzung ist Bild eins der Spalte drei: Hier sind es die beiden Farben Creme und Dunkelrot, die das Weiß und das Schwarz ersetzen. Darunter wieder zwei Imitationen alter Fototechnik, eine »Cyanotypie« (1842) und ein Bild, das einer »Kollodium-Nassplatte« (1850) nachgebildet ist. Die letzte Spalte zeigt oben ein Bild, das aussieht, als wäre es mit einer billigen Kamera mit Plastiklinse fotografiert; die Schärfe nimmt zum Rand hin ab, es gibt Verzerrungen und die Kanten weisen Farbränder in Cyan und Rot (»chromatische Aberrationen«) auf. Darunter ein Bild Marke »Pop Art« und ein Negativ. Das Farbbild  wurde von mir auf unterschiedliche Weise in Photoshop in Schwarzweiß umgewandelt. Dabei lässt sich heute auf einfache Art bestimmen,

wie hell oder dunkel die einzelnen Farben umgesetzt werden sollen. Naheliegend ist, helle Farben (Gelb, Hellgrün) heller umzusetzen, dunkle (Rot, Lila) dunkler, aber mit der Digitalisierung ist man hier recht frei, solche Verhältnisse auch umzukehren. In der analogen Zeit machte man das, indem man einen Schwarzweißfilm in die Kamera einlegte und mit Farbfiltern vor dem Objektiv fotografierte. So erzeugte etwa ein Gelbfilter dramatische Wolkenstimmungen am Himmel, während ein Blaufilter die Wolken nahezu verschwinden ließ. Makellos weiße Haut wurde in der Porträtfotografie mit einem Rotfilter erzielt, während Grün­ filter vor allem der Rache an Menschen dienten, mit denen man noch eine Rechnung offen hatte. Schwarzweißporträts, die mit Grünfilter aufgenommen wurden, hoben nämlich jeden noch so geringen Hautfehler auf drastische Weise hervor, da rote Stellen schwarz umgesetzt werden. 229

 Georg Mekras

Farbe | Schwarzweißbilder (Achromie) II

 Klaus Dyba

Die Schwarzweißfotografie hat mit ihrer langen Tradition sogar die Erfindung naturalistischer und einfach handhabbarer Farbfilme überstanden; und sie wird in Zukunft wohl sogar die Digitalisierung mit ihren fantastischen Farbdruckern überstehen. Schwarzweiß ist nicht gleich Schwarzweiß, es gibt eine Vielzahl unterschiedlicher Tonungen, Tonwertumfänge und mehr oder weniger subtiler Kolorierungen. Bild  hat einen recht modernen (man kann sagen: digitalen) Look, was in einer schönen Spannung zu Kleidung und Requisiten des Abgebildeten steht. Das Digitale an solchen Bildern ist ihre weitgehende Durchzeichnung bei gleichzeitig hohem Kontrast. Das heißt, Schatten und Lichter haben gleichermaßen eine sehr deutliche Strukturwiedergabe. Außerdem ist die Farbsättigung in der

230

 Alen Ianni

 Rita Heinz

Nachbearbeitung des Bildes stark reduziert worden, sodass zwar noch kein Schwarzweiß vorliegt, aber auch kein »natürliches« Farbbild mehr. Das eindringliche Porträt  weist ebenfalls die beschriebene starke Strukturwiedergabe auf, die oft (wie hier) mit einer Körnigkeit der Flächen einhergeht. Das Bild bietet ein Drama höchster Kontraste auf kleinem Raum, man kann buchstäblich die Fingerabdrücke erkennen sowie die Beschaffenheit von Haut und Fingernägeln, die Details der Iriden und so weiter – gewöhnungsbedürftig und etwas artifiziell, aber schon interessant. Völlig anders, nämlich wie ein Scherenschnitt sieht das Bild mit der Roll­ treppenszene aus . Von den Tonwerten sind fast nur noch Schwarz und Weiß übrig, lediglich im Hintergrund gibt es ein paar Zwischentöne ( siehe Grafik »hoher Kontrast«). Das ist typisch für so eine Gegenlichtsituation mit Schablonierung,

 Manuel Koch (bearbeitet)

 Carsten Nichte

 Peter Schwöbel

aber man kann Kontraste auch in der Nachbearbeitung am Rechner steigern. Gerade weil hier die Informationen so reduziert sind, beschäftigt uns die Szene und wir versuchen sie zu deuten.

 Frank Dürrach

In der Mehrfachbelichtung  sorgten die Nacht und das gnadenlose Licht der Autoscheinwerfer für harte Tonwerte und für eine unheimliche Atmosphäre. Nicht minder hart sind die Kontraste in der Straßenszene, die einen älteren Herrn zeigt, der gleich einer schwarzen Pyramide in eine Fußgängerzone hineinragt . Surreal. Am ehesten der Grafik »Graustufen« entspricht das ausgezeichnet inszenierte und ausgeleuchtete Porträt . Insbesondere der stattliche Körper des Mannes gewinnt durch die vielen Grauwerte große Plastizität. Den witzigen Kinder-Schnappschuss  habe ich mittels Verlaufsumsetzung schwach ocker-türkis nachgetont. Wohingegen Bild  eine Sepia-Tonung und eine Vignettierung aufweist. Diese unterstreicht mittels einer alten Fototechnik das Alter der Skulptur ( siehe zu diesen beiden Bildern die unteren Grafiken). 231

 Klaus Dyba (Ein brillantes Reportagefoto – die Schuhe der alten Dame stellen einen Sättigungskontrast und einen Quantitätskontrast dar.)

Zusammenfassung

Farbe in der Fotografie Der Eindruck, unsere Umgebung sei bunt, entsteht durch die Umsetzung der Lichtmessung unserer Augen in der Netzhaut und im Gehirn. Farbe hat also eine physikalische Komponente (die Wellenlänge des Lichts) und eine biologische. Hinzu kommt eine kulturell und biografisch erlernte, die bestimmte Farben mit inhaltlichen Assoziationen verknüpft. Diese unterschiedlichen Aspekte der Farbe machen eine Farbenlehre (für die Fotografie) nicht einfacher und führten zu einer Fülle theoretischer Ansätze, die sich zum Teil bekämpften. Was aber überindividuell und interkulturell ganz gut funktioniert, ist eine Reihe von Ideen zur Farbverwendung in Bildern, die auf unserer Wahrnehmung basieren. Wie in der gesamten übrigen Bildgestaltung auch lassen sich Gleichklänge (also Verstärkung durch Wiederholung von Gleichem oder Ähnlichem) und Kontraste (Verstärkung durch Gegensätzliches) nutzen. Gleichklänge sind: • Monochromie, nämlich die Verwendung einer einzigen Farbe, wobei unterschiedliche Helligkeit und Sättigung erlaubt sind; • die Verwendung eines analogen Farbschemas, also von Farben, die im Farbkreis nah beieinanderliegen und damit relativ ähnlich sind;

• die ausschließliche Verwendung warmer oder kalter Farben; • die ausschließliche Verwendung gebrochener (ungesättigter) Farben. Kontraste ergeben sich hingegen durch: • die Verwendung komplementärer Farben; • die Konfrontation warmer und kalter Farben; • den Einsatz gesättigter und ungesättigter Farben. Ein Sonderfall ist das (triadische) 120°-Schema. Diese Farben kontrastieren stark, arbeiten in manchen Kombinationen (zum Beispiel Rot, Grün, Blau oder auch Cyan, Magenta, Gelb) aber als Gleichklang. Ein weiterer Sonderfall ist die Achromie, also die Schwarzweißfotografie. Auch sie kann sehr (hell-dunkel-)kontrastreich sein, funktioniert aber häufig als Gleichklang. Interessant ist schließlich noch die Frage, in welcher Quantität Farben eingesetzt sind und ob ein Bild aus dem Schwarz oder dem Weiß heraus arbeitet. Nur ab und zu funktioniert die Zuordnung bestimmter Stimmungen zu Farbkombinationen, und noch seltener gelingt das mit Bildaussagen. Hier spielen die Bildgegenstände mit ihrer Bedeutung und die Bildgestaltung eine große Rolle. 233

 Andrea Roeper

Bildmodell

Bild im Bild Mit dem Zweiakzenter, der Vielschichtigkeit und der Schablonierung gehört dieses Bildmodell zu den fotografischen Konzepten, die zwei Elemente oder Ebenen zusammenführen und so zu neuen Bildaussagen kommen. In diesem Modell taucht innnerhalb der Fotografie ein Bild auf. Das kann zum Beispiel eine andere Fotografie, ein Gemälde, ein Spiegelbild, ein Display oder Bildschirm, ein Relief oder ein Plakat sein. Mitunter sind es mehrere Bilder im Bild. Spannung und Erzählung ergeben sich dann aus dem inhaltlichen Zusammenwirken dieses Bildes oder der Bilder mit der Umgebung.  In der Fotografie links gibt es gleich fünf Bilder im Bild. Dabei kontrastieren die an der Wand hängenden Werke der »Düsseldorfer Schule« in bester Weise mit der Besucherin und mit dem Bild von Audrey Hepburn auf deren Tasche. Der Wandschmuck ist streng sachlich und schwarzweiß, die Frau besticht durch den roten Schal und die Strümpfe; die Beinstellung kommt hinzu. Audrey Hepburn wiederum steht für das glamouröse Leben und den Freiheitsdrang (und wurde daher als Ikone auf die Tasche gedruckt), während die eher emotionslosen Straßenzüge der Fotokunst eine ganz andere Welt zeigen. Auch diese Fotografie arbeitet also mit deutlichen Spannungen. 235

Bild im Bild | Kontrast und Wiederholung

 Marvin Ruppert

236

Die Welt ist voller Bilder, daher kommen diese nicht selten mit ins Bild, wenn man mit der Kamera weitere macht. Plakate, Gemälde, Monitore, Fotografien, Projektionen, Spiegelungen – alle erzeugen Bilder, die man für interessante, aussagekräftige und trickreiche Fotos nutzen kann. In dem ersten Beispiel  funktioniert das gut, weil das Wandbild so riesig ist. Das schafft eine Irritation. Andererseits wird das Bild integriert, weil der junge Mann mit dem Kapuzenpullover scheinbar auf das Auto herabsieht. Dieses ist durch die roten Kreise selbst ein Blickfang und auf der Tür findet sich sogar ein zweites, kleineres Bild im Bild. Könnte sein, dass der Riese sich gleich den Minikuchen greift. Auf den ersten Blick scheint das Barbie-Bild  etwas völlig anderes zu sein, aber es hat in der Tiefenstruktur – also wenn man abstrakt beschreibt, welche Verhältnisse herrschen – einige Paral-

 Uta Konopka

 Julika Hardegen

lelen zu . Auch hier gibt es den Größenkontrast – diesmal dreifach, nämlich zwischen dem großen Gesichtsfoto, der Schaufensterpuppe rechts und dem Püppchen. Reizvoll wird es, weil diesem Unterschied zahlreiche Ähnlichkeiten gegenüberstehen: Alle »Modelle« sind blonde Puppen und »Fashion-Victims«, die Armhaltung der beiden rechts korrespondiert. Im vorangehenden Bild bestand die Verbindung in dem Blick nach unten, hier sind es formale und inhaltliche Bezüge. Die Spannung zwischen Kontrast und Gleichklang (Wiederholung) von Bildelementen bringt immer wieder interessante Bilder hervor. Im Fall der nächsten Puppe  besteht die Seltsamkeit gerade darin, dass sich »Modell« und Spiegelbild gleichen. Ich denke, es handelt sich bei dem gerahmten Gegenstand um einen Spiegel, nicht um ein Foto im Rahmen; das legt die Tatsache nahe, dass sich der Rahmen

 Kary Barthelmey

 Vildan

selbst am rechten Rand ein wenig spiegelt. Wenn dem so wäre, dann müssten wir aber unsere Hauptdarstellerin aus anderer Perspektive sehen. Für mich ist das also ganz klar ein surrealistisches Werk. Dazu passt auch das Sujet einer armlosen Puppe mit Federboa, die drapiert ist wie ein lebendiger Mensch auf einem Schnappschuss. Sehr nah verwandt ist das reizende Model-Foto . Das harte Licht von vorn und der Schlagschatten auf der weißen Wand sind typische Gestaltungsmittel des Trash-Stils. Das gilt auch für die Details, nämlich der etwas zu üppige Goldrahmen, die Nacktheit, die roten Lippen und Fingernägel und die ungewöhnliche Pose der jungen Frau, deren gesenkter Blick aus dem Bild geht. Trash als Stil vermittelt normalerweise den Betrachtenden die Botschaft, dass alles »wahr« ist, was das Bild zeigt, denn es ist »direkt und ungekünstelt«. Hier wird

 Frank Dürrach

das durch das »unmögliche« Spiegelbild dank Photoshop schlau unterlaufen. Voller Bildwitz ist auch die Kombina­ tion eines Gehirn-Modells mit dem Monitorbild einer Person . Ein schönes Detail ist der suchende Blick, der nach links geht – statt nach oben zum Gehirn. Das letzte Foto entstammt einer Bild­ reportage über Georgien (2008). Hier  zeigt das Graffiti in seiner Nische das Ideal des Sprayers: jung, ein Mann, cool, iPod-Besitzer, westlich orientiert. Kontrastierend dazu die beiden Damen: älter, unter der Hitze leidend, etwas müde, schwer tragend. Hier stoßen Wünsche und das reale Leben aufeinander. Insbesondere ältere Frauen waren oft die großen Verliererinnen der Auflösung der Sowjetunion; die junge Generation hofft auf eine Anbindung an den Westen. Die schwarze Kleidung und die Dreieckskomposition verbinden die Antagonisten des Bildes. 237

 Maya Claussen  Michaela Wissing  Antonia Lange  Alen Ianni

 Frank Dürrach

 Stefan Winterstein

Bilder von Menschen – Menschenbilder Sehr viele Bilder sind Porträts. Dementsprechend dient auch das »Bild im Bild« oft der Selbstbespiegelung und der Selbstreflexion. »Erkenne dich selbst«, heißt es in Gemälden, Fotografien und Spiegelbildern, die auf Fotos auftauchen.

 Frauke Stärk  Dennis Wilhelms

 Snezhana von Büdingen  Manuel Koch

⑪ Britta Bartel

Bild im Bild | Zusammenspiel der Ebenen

 Frank Dürrach

Ein Junge putzt die Scheibe eines recht luxuriösen Ladens für Kosmetikartikel in Tiflis, Georgien . Wir betrachten die Szenerie etwas distanziert, denn ein Auto trennt uns vom Fensterputzer. Das Bild arbeitet mit starken visuellen und inhaltlichen Kontrasten: groß – klein, vorne – hinten, Junge – Frau, arm – reich, oben – unten, grau – bunt, Realität – Werbung, Arbeit – Konsum und so weiter. Das Bild stammt wieder aus einer Fotoreportage, entsprechend soll es politisch-argumentativ gelesen werden. Wichtig ist dabei der Moment, nämlich gerade als der Wischer über das Auge fährt. Das wiederum eröffnet ein Feld möglicher Deutungen, wie »Augenwischerei« oder »klarer Blick auf die Verhältnisse«. In diesem Modell haben wir stets eine Szenerie und in dieser ist ein weiteres Bild oder sind mehrere weitere Bilder enthalten. Beide »Ebenen« bringen ihre

240

 Vico Leon

 Frank Dürrach

Inhalte und ihre Ästhetik in die jeweilige Fotografie ein. Es entsteht Verstärkung durch Spannung oder durch Gleichklang. Das schöne Porträt  erinnert mich an die Gemälde von Chagall. Die Gegenstände scheinen auf dem knallbunten Untergrund zu schweben. Eine Mandoline, Buddha (das Bild im Bild) und die bunten Glasstücke eines Leuchters im Vordergrund sind die Elemente, die den roten Grund bespielen. Die Schrägstellung und der Bogen des Leuchters machen alles ziemlich dynamisch – ein Kontrast zur Gelassenheit Buddhas. Natürlich dokumentiert das Bild einen Teil einer Wohnung, aber durch die schiefe Kamerahaltung, den extremen Zuschnitt und den Einbezug des Leuchters schafft der Fotograf nicht nur ein Dokument eines Wohnraums, sondern ein eigenständiges Bild. Wenn sich in einem Foto über dem Kopf von Porträtierten so viele in-

 Anja Grauenhorst

teressante Gegenstände finden, wirkt es auf mich immer ein wenig, als sähe man das Porträt einer Gedankenwelt. Bild  nenne ich »Godzilla über Tokio«. Ein Paar beobachtet scheinbar ein riesiges Dinosaurierskelett, das über die Stadt stapft. Tatsächlich spiegelt sich der Diplodocus einer paläontologischen Ausstellung im Fenster des Wolkenkratzers und das Paar hat einfach einen Drink. In manchen Bildern stoßen Welten aufeinander : Ein dramatisches Wandgemälde in Köln bildet hier den gesamten Hintergrund für ein Architekturdetail. Im Grunde passt die Beton-Ästhetik zum Ausblick auf die kubistischen Stadt – wenn die Geranien nicht wären, die ein bisschen auf Idylle machen. Die dramatische Geste der Figur auf der Bank passt zu dem intensiven Licht, das von links ins Bild flutet; es ist, als ob Großes geschähe. Wie ist das wohl, wenn man hier wohnt und ständig auf so ein Dra-

 Frank Dürrach

ma blickt, das aber niemals weitergeht? Der verkniffen blickende Polizist auf der Wand links scheint sich dasselbe zu fragen. Er ist ein weiteres Bild im Bild und ein Fremdkörper, der alles kompliziert. Ganz anders Stalin: Er lächelt freundlich auf die Besucher eines Museums in seiner Geburtsstadt herunter . Auf dem Bild im Bild wirkt er wie ein gelöster Rentner, der auf seiner Fensterbank lehnt, was freilich eine grobe Irreführung über den mörderischen Charakter dieses Menschen wäre. Der Kronleuchter arbeitet dieser Täuschung noch zu, während der Gelbstich alles vergangen, gestrig wirken lässt. Die Besucher haben generell eher gesenkte Köpfe, meiden den Blick des Diktators und streben einem Tor zu, das sie aus diesem Gewölbe führt. Dass der linke Besucher ein weiteres Bild mit sich führt, übersieht man leicht; auf seinem Shirt sind ein paar Hinterteile von Kühen zu sehen. Ein Kommentar? 241

Bild im Bild | Architektur und Stadtlandschaft

 Antonia Lange

242

Das erste Bild im Bild auf dieser Seite ist gar keines . Aber wir wollen auch mit diesem Bildmodell nicht so streng sein, das würde nur die Kreativität einschränken. Der fast quadratische Durchblick auf die ländliche Gegend ist tatsächlich vorhanden. Allerdings wirkt der Ausblick ein wenig wie ein Plakat, denn der Nebel und die Entfernung erzeugen Unschärfe und eliminieren die dunkelsten Tonwerte, sodass dieser Teil des Bildes ein Aussehen bekommt, das sich deutlich vom Rest abhebt. Hier gibt es ja durchaus dunkle Bildbereiche (also »Tiefen«) und größere Bildschärfe. Die Szenerie ist geprägt von Linien, die die Architektur des gesamten Bildes bestimmen. Zwei Linien sind besonders wichtig: die dünne weiße unten am Durchblick, welche die Illusion verstärkt, man sähe ein Bild; und die Harke, die sich schräg zu dem jungen Mann zu lehnen scheint, als wolle auch sie sich etwas ausruhen.

 Anja Grauenhorst

Bei Fotografie  erliegt man eher nicht der Illusion, es mit einem echten Ausblick zu tun zu haben. Trotzdem spielt das Bild natürlich mit diesem Eindruck. Schon das Werbeplakat an sich ist seltsam, denn Typen in Sportkleidung und Mantel schweben ja eher selten über den Dächern von Paris. Zu einem surrealen Ensemble wird alles durch die anderen Bildelemente. Der Tennisschläger korrespondiert mit der Kabelschlinge, die graue Wand drückt schwer auf den Himmel (der das Bild ja eigentlich oben abschließen müsste) und die Beschädigungen rühren bestimmt von den Versuchen her, mit dem Schläger das Kabel zu treffen. Die »32« steht über allem und der Sportler wird gleich unfair von der Seite her angegriffen. Oder so ähnlich ... Bild im Bild geht oft mit Architekturfotografie einher, denn wir möblieren die Städte ebenso mit Bildern wie unsere

 Andrea Dummer

 Sebastian Isiyel

Innenräume. Die von der Szenerie umschlossenen Bilder wirken dann oft wie ein Fenster zu einem anderen Raum und durchbrechen das normale Gefüge. Mit Reduktion arbeitet das etwas sarkastische Dokumentarbild aus der ehemaligen Bunkeranlage der deutschen Bundesregierung . Die Matratze mit dem Muster einer Herren-Schlafanzughose ist etwas eingeklemmt, der enge, weiße Raum spartanisch eingerichtet und die Decke ist schon beschädigt. Man kann sich direkt den Altkanzler vorstellen, wie er hier das Ende eines Atomkrieges abwartet. Aber zum Glück gibt es ja das liebevoll gerahmte Bild von Neuschwanstein, das sie oder ihn an vergangene Pracht erinnert. Man fragt sich, ob diese Dekoration als böser Scherz angebracht wurde oder ernst gemeint war. Einem größeren Fotoprojekt entstammt das Bild vom Hausbau . Hier

 Frank Dürrach

wird nicht der Raum erweitert (wie sonst häufig bei diesem Bildmodell), sondern uns öffnet sich durch das ältere Foto ein Zeitfenster in die Vergangenheit. Eher um die Verheißungen der städtebaulichen Zukunft geht bei den Plakatwänden dieser Straßenszene . Die beiden Herren bewegen sich wie in einem futuristischen Ensemble, dabei ist alles nur Pappe, allerdings gut beleuchtete. Rechts oben im Bild lugt die kahle Brandmauer hervor. Von dieser Fotografie gibt es Varianten mit anderen Passanten; in dieser finde ich die Platzierung der Männer ganz gut. Einer flaniert schon mal vor der Skyline, der andere wird durch das Rechteck der offenen Tür hervorgehoben. Mit der Mappe könnte er ein legerer Geschäftsmann sein, was zum Thema passen würde. Die schwebenden, orangefarbenen Buchstaben und die unteren Zahlenkolonnen und Texte verfremden die ganze Szene zusätzlich. 243

 Pia Berger-Bügel  Frank Dürrach

 Marvin Ruppert  Sabine Tenta

 Sylvia Mielcarek

Noch mehr Bilder ... Vertracktes gibt es links zu sehen: dreifach Verschachteltes , verrückte Spiegelungen , falsch zusammengeklebte Plakate  und selbstbezogene Hunde . Rechts wird der Gebrauch von Bildern selbst zum Thema: Beweis- und Werbefotos  und Erinnerungsbilder , dekorative Bilder , geistliche  und künstlerische Ikonografie .

 Christof Jakob  Horst Mumper

 Andrea Dummer  Rita Heinz

 Hamed Alaei

Zusammenfassung

Bild im Bild Das Bildmodell ist dadurch definiert, dass in einer Fotografie als Bildgegenstand mindestens ein weiteres Bild auftaucht; also eine Fotografie, ein Kunstwerk, ein Bild in oder auf einem Druckwerk, ein Spiegelbild, ein Display oder Bildschirm, ein Relief oder ein Plakat. Der Bildinhalt ergibt sich dann aus dem Zusammenwirken des Bildes im Bild (oder der Bilder im Bild, sofern es mehrere sind) mit der umgebenden Szenerie. Verstärkung: Kontrast und Gleichklang Wie in der übrigen Bildgestaltung auch finden Betrachterinnen und Betrachter kontrastierende Bilder oder Wiederholungen besonders reizvoll. Kontraste können auf gestalterischer Ebene vorliegen, etwa indem das enthaltene Bild in Größe, Form, Farbe deutlich von der Umgebung abweicht. Auf der erzählerischen Ebene wird kontrastiert, indem man sehr unterschiedliche Bildinhalte konfrontiert. Wiederholungen in inhaltlicher oder gestalterischer Hinsicht sind ebenfalls gut verwendbar, denn sie bekräftigen den Bildinhalt (als ob jemand etwas zwei Mal sagen würde) und erfreuen das Auge. 246

Thematische Stärken Ein klassisches Thema des Bildmodells ist die Selbstreflexion des Menschen; dazu werden dann häufig Spiegel und Porträts eingesetzt. Ein weiteres Thema dreht sich um Raum, Architektur und Urbanität. Bilder im Bild stellen oft eine Art Störung oder Erweiterung der gewohnten räumlichen Strukturen dar. Und schließlich behandeln Bilder im Bild oft das Thema Gegenwart und Vergangenheit. Das rührt natürlich daher, dass Fotografien den sichtbaren Teil eben jener Vergangenheit dokumentieren können. Das Modell ist allerdings sehr produktiv, sodass es immer wieder neue Geschichten und Gestaltungsideen hervorbringt. Zum Beispiel hat das Aufkommen der vielen Bildschirme von Handys, Pads, Kameras und anderer Monitore (etwa die bewegten Reklametafeln der Städte) ganz neue Bildideen ermöglicht. Bild im Bild zieht sich durch die Disziplinen der Fotografie. In der Street Photography und der Fotoreportage spielt das Modell eine herausragende Rolle, in der Produktwerbung und der Fotokunst ebenso; generell immer dort, wo eine erzählende Form gebraucht wird.

 Stefan Winterstein

Text

247

 Marvin Hüttermann

Bildmodell

Der blasse Akzent Dieses Bildmodell ist ästhetisch zunächst gewöhnungsbedürftig. Es kommt nun erschwerend hinzu, dass der »blasse Akzent« ein Sammelmodell ist und in sehr unterschiedlichen Ausprägungen auftritt. Gemeinsam ist allen Formen, dass der inhaltlich zentrale Bildgegenstand nicht den ihm gebührenden Stellenwert im Foto erhält. Zum Beispiel wird der Gegenstand randständig gezeigt, teilweise außerhalb des Bild­raums, verdeckt, unscharf, zu klein, zu dunkel, in Rückenansicht, in einer ablenkenden Umgebung, in flirrendem Licht, von Spiegelungen überlagert. Dabei darf das »Motiv« jedoch nicht einfach komplett unterschlagen sein, sondern es sollte schon klarwerden, dass hier eigentlich etwas zu sehen wäre.  Nicht direkt klassisch ist dieses Porträt. Trotz der Unschärfe enthält es immer noch eine Menge Informationen, etwa über die Umgebung, die Jahresund Tageszeit, das Licht, die Haltung der Frau, ihre Kleidung und Haarfarbe. Das Bild ist jetzt also eher eine Projektionsfläche für die Vorstellungskraft und das Erinnerungsvermögen als ein individuelles Porträt. Aber es ist visuell stark durch Licht und Farben. Ein Glück, dass nicht alle Porträts so sind, und ein Glück, dass es doch manche gibt, die so sind. 249

 Alen Ianni

Der blasse Akzent | Sperrige Bilder

 Julian Schievelkamp

250

»Blasse Akzente« arbeiten der Schwäche der Fotografie entgegen, zu schnell zu viel zu zeigen. Diese Bilder sperren sich dem einfachen Zugang und erfordern ein näheres Einlassen bei Betrachtern. Hier ist eine Reihe Porträts versammelt, doch keines von ihnen zeigt ein klar erkennbares und vollständiges Gesichtsbild. Schon die Fotografie  ist extrem: Nicht nur dass man uns lediglich einen Schatten gönnt, das Bild weist außerdem eine Vielzahl konkurrierender Elemente auf. Hier haben wir den (eher seltenen) Fall eines verstellten Blicks durch zu viel Ablenkung. Hinzu kommt, dass die Nase der Schattengestalt durch die Hand verdeckt wird. Ganz klar: Das Bild würde als biometrisches Passbild durchfallen. Aber als kafkaeske Szene ist es stark: Inmitten rätselhafter Konstruktionen finden sich überall gekritzelte, verlaufene und kaum lesbare Zeichen. Das Bild hat große

 Christian Palm

 Alexandra Klapperich

grafische Qualitäten, graue und weiße Formen treten als Inseln in einer tiefen Schwärze hervor. Und in dieser Welt ein Mensch, der auch nur ein Schatten ist. Viel freundlicher geht es im Porträt eines Kindes  zu. Die zurückhaltenden erdigen Farben, die Unschärfe, die wenigen Bildelemente zeigen ein poetisches Bild. Poesie entsteht durch Einfachheit und Ruhe. Die Stärke ist, dass das Bild sich in zwei Punkten von anderen Kinderporträts abhebt: Durch die Verdeckung sieht die Kamera nicht alles (das Kind hingegen schon), es bleibt gewissermaßen ein geschützter, privater Raum, der nicht gezeigt wird. Außerdem nimmt die Kamera keine Erwachsenenperspektive ein, sondern sieht – im Gegenteil – zu der Porträtierten auf. Das Bild ist zudem durch den extremen Standpunkt zu einer ausgewogenen Komposition aus Dreiecken geworden . Nun folgen unterschiedliche Arten »blasser« Akzente: als

 Jenny Ahr

 Nathalia Schnippering

Schatten im Gegenlicht , durch Ornamentglas oder Stoff verdeckt  oder durch extremen Anschnitt außerhalb des Bildes . Es tritt dadurch eine Verein-

 Dana Stölzgen

fachung ein und Betrachterinnen und Betrachter müssen aus den verbliebenen Informationen aktiv auf den Bildgegenstand schließen. In Bild  spielt die laszive Haltung die Hauptrolle, alles andere ist weitgehend ausgeblendet, weil das Gegenlicht harte Kontraste erzeugt. Das Bild wirkt wie ein Scherenschnitt; nur an wenigen Stellen (Ohr, Wand) gibt es Grautöne, die den Charakter einer Fotografie retten. Das Strukturglas im nächsten Bild  erzeugt Distanz und überlässt Mimik und Physiognomie der Person beinahe der Fantasie der Betrachtenden. In der orange-lila inszenierten Kunstwelt  weiß man nicht recht: Kinderspiel oder Psychodrama? Eine weitere Eigenschaft des blassen Akzents offenbart sich in den Bildern  und : Die Augen der Modelle sind nicht zu sehen, daher wird Aufmerksamkeit für andere, sprechende Details frei. 251

 Judith Jaeger  Klaus Dyba

 Snezhana von Büdingen  Andreas Horsky

 Frank Dürrach

Einige Varianten des Bildmodells Diese Bildergalerie soll einige der unterschiedlichen Möglichkeiten zeigen, die das Modell beinhaltet. Wichtige Bildteile können verstellt oder verborgen (), verdreht (), außerhalb des Bildes (), im und als Schatten (), randständig, zu klein, zu hell oder zu dunkel, unscharf (), in Rückenansicht, inmitten einer stark ablenkenden Umgebung (), von Spiegelungen oder Licht überlagert () gezeigt werden.

 Antonia Lange  Klaus Dyba

 Marvin Ruppert  Corinna Granich

 Marvin Ruppert

 Peter Joester

Der blasse Akzent | Zeigen, verstecken

 Stefan Winterstein

254

 Marvin Hüttermann

Was genau die Zoobesucherin  sucht oder sieht, wissen wir nicht; dass sie etwas Derartiges tut, jedoch schon. Das ist wichtig für das Bildmodell. Man kann also nicht einfach eine Schachtel abbilden und behaupten, es seien die Kronjuwelen drin. Da müsste sich schon deren Funkeln im Gesicht eines verzückten Diebes widerspiegeln, damit unser Interesse geweckt wird. Hier sind es – wie so oft – die gestalterischen und die erzählerischen Details, die das Bild auszeichnen. Die Szenerie gliedert sich in breite Bänder, die in Spannung zueinander stehen (das obere Band ist gegenläufig), und die Besucherin bricht diese Aufteilung als dominierende Vertikale. Sie gibt sich sichtlich Mühe, steht auf Zehenspitzen und kann doch nur gerade so über die Wasserlinie hinaus blicken; schließlich lässt sich in der trüben Suppe wohl kaum etwas entdecken. Ihr blauer Beutel wirkt einerseits etwas untypisch für einen

 Marvin Ruppert

Zoobesuch, passt aber andererseits zur Hose und zur Tasche. Betrachterinnen und Betrachter beschäftigt bei diesem Bild die Frage, was für ein Tier sie hier sehen müssten, und wahrscheinlich geht es der abgebildeten Dame genauso – was also eine schöne Doppelung wäre. Verstellungen, Rückenansichten und Unschärfen lenken häufig den Blick auf Bildstellen, die sonst eher untergehen würden. Den Blick auf eine Szenerie einfach durch komplette Unschärfe zu verschleiern, ist schon dreist . Auch hier provoziert das Bild unmittelbar eine Auseinandersetzung mit dieser Abweichung von der fotografischen Norm. Sieht hier jemand, der seine Brille verlor? Ist es ein Experiment? Nach meiner Erfahrung funktionieren unscharfe Fotos manchmal recht gut, manchmal nicht (es gibt ganze Fotobücher mit ausschließlich unscharfen

 Matthias Vogel

Bildern). Gut klappt es oft mit visuell interessanten Bildern oder solchen, die durch den Fortfall aller Details etwas Allgemeines und Grundsätzliches (Archetypisches) bekommen. Das folgende Bild  arbeitet so ähnlich wie das erste. Wir sehen das Paar nicht von vorn und dieses die Jahrmarktsensation ebenfalls nur von seiner tristen Rückseite: ausgleichende Gerechtigkeit. Das Bild ist schief, die beiden sind auf der Bank scheinbar deshalb schon nach links gerutscht. Beides zusammen gibt einen sehr witzigen Vertreter der Gattung Street Photography. Das Bild mit dem Mann auf der Bühne  ist ebenfalls doppelt verstellt: Wir sehen ihn nur in Rückenansicht und sein Publikum liegt im Dunkel. Rückenansichten sind oft eine Art Einladung, sich in die Abgebildeten zu versetzen und gleichsam ihre Stelle einzunehmen; eine Bildidee, die der Malerei entstammt.

 Frank Dürrach

Beim blassen Akzent wird oft der Blick auf die Augen verstellt, womit andere Bildelemente deutlich in der Aufmerksamkeit der Betrachtenden gewinnen. In  ist es umgekehrt. Der Fotograf hat durch das Werkstück hindurch auf die Augen des Arbeiters fokussiert. Daraus ergibt sich ein intensives Porträt eines konzentriert zu Werke gehenden Menschen und gleichzeitig entsteht eine Art rundes, insektoides, schwarzes Androidengesicht mit wachem Blick. Ein ganz anderer Blick kommt hinter den Goldfischen  zum Vorschein: melancholisch, fast traurig. Mit diesem Doppelporträt einer Mutter mit ihrer Tochter hatte ich Glück. Durch das Aquarium konnte ich fotografieren, bis auf einem Bild schließlich alles passte. Fotografie als verdeckte Operation: Gibt es Barrieren zwischen Kamera und Personen, so ermöglichen in der Straßenfotografie oft erst diese mehrere Versuche. 255

 Oliver Volke  Jutta Holtkamp

 Holger Klöter  Uta Konopka

 Annika Rabenschlag

 Tobias Müller

Bildwitz und Satire Aus dem Unterschlagen oder dem Verunklaren ergeben sich oft witzige oder sarkastische Bilder. Der Witz besteht manchmal einfach darin, dass Erwartungen an ein »gutes Foto« unterlaufen werden (), manchmal sieht die Szene nach Slapstick aus (), mitunter amüsiert man sich auch über das Missgeschick der oder des Fotografierenden, der oder die es anscheinend nicht geschafft hat, das Bildwichtige ordentlich einzufangen (). Die beiden inszenierten Bilder  und  hingegen nutzen den radikalen Schnitt und die Verstellung in voller Absicht.  Sabine Tenta  Frank Dürrach

 Nicole Hoenen

 Marvin Ruppert

 Edgar Olejnik

Zusammenfassung

Der blasse Akzent Es handelt sich um einen Sammelbegriff für Bilder, die ihren Gegenstand nicht so klar zeigen, wie man es eigentlich bei einer Fotografie erwarten würde. Kennzeichen ist, dass eigentlich zentral bildwichtige Aufnahmegegenstände dabei wie folgt fotografiert werden: • ganz oder teilweise verdeckt, • stark beschnitten oder randständig, • zu dunkel, zu hell, als Schatten, im Gegenlicht oder durch Lichtflecke verunklart, • deutlich zu klein, • durch Medien wie Milchglas oder Stoff, die den Blick beeinträchtigen, • unscharf oder verpixelt, • schief stehend oder gar auf den Kopf gedreht oder • in stark ablenkender Umgebung. Weitere Arten »blasser Akzente« können natürlich jederzeit entdeckt werden. Viele Fotografen-Legenden bedienten sich des Modells, oft in den Sparten Satire, Reportage, Surrealismus und Trash. Zweck des Ganzen ist häufig das Vermeiden der allzu raschen Konsumierbarkeit von Bildern. Gewöhnlich sind Fotos – vor allem im professionellen Bereich – durch

Konzentration auf eingängige Bildgestaltung und klare Aussagen auf eine leichte Rezeption hin optimiert. • Die Bilder dieses Modells wirken hingegen ungewohnt, verfremdet, ja sogar schwierig. Sie irritieren, amüsieren und fordern oft die Bereitschaft, sich etwas intensiver mit ihnen zu befassen. • Dass von den unterschiedlichen Verdeckungen oft Gesichter betroffen sind, liegt daran, dass diese in vielen Bildern der stärkste Blickfang sind. Nun wird Aufmerksamkeit für Details frei, die zur Interpretation herangezogen werden oder die auf das nicht Gezeigte schließen lassen. • Dabei können Bilder mit blassem Akzent mehrdeutig werden – was man auch als eine Antwort der Fotografie auf unsere komplexe Welt deuten könnte. • Überhaupt müssen die Betrachtenden häufig ein wenig mitarbeiten, um hinter die Absichten solcher Bilder zu kommen. • Oft macht es aber einfach auch nur Spaß, den unfähigen Fotografen zu geben oder Erwartungen an ein gelungenes Foto zu unterlaufen. 259

Systematik und Beispiele

Stilistik der Fotografie

Wenn man die vielen Gestaltungsfreiheiten, die man als Fotografin/Fotograf hat, gemäß den eigenen Vorlieben nutzt, kann sich so etwas wie ein persönlicher Stil ergeben. Manche mögen weite Ansichten mit gerader Kamera bei natürlichem Licht und fein abgestuften Tonwerten in Schwarzweiß, andere blitzen direkt, bei extrem mobiler Kamera, grellen Farben und brutalen Bildschnitten. Die meisten bekannten Fotografinnen und Fotografen haben einen recht unverwechselbaren und über die Jahre konsistenten Stil. Was es in der Fotografie aber bislang (meines Wissens nach) nicht gibt, ist eine allgemeine Stilistik. Das ist etwa in der Theorie der Malerei ganz anders. Hier ist der impressionistische, kubistische, surrealistische, expressionistische, sachliche Stil oder jener der Pop Art klar beschrieben. Nachfolgend soll das für die Fotografie versucht werden. Dies ist ein erster Versuch und sicher nicht abschließend. Ich denke aber, es ist hilfreich, wenn man die eigene Fotografie einordnen (und verbessern) möchte. Ich gehe das mithilfe eines Diagramms und einiger Beispiele an.  Das Bild rechts ist ein sehr starker Vertreter des »Trash-Stils« (siehe unten). Entgegen vielen Vorurteilen sind gute Trash-Bilder schwer zu machen. 260

 Klaus Dyba

Stilistik | Matrix der Bildgestaltung 262

Die Kombination gewisser gestalterischer Entscheidungen ist typisch für bestimmte fotografische Stilrichtungen. Hier habe ich versucht, viele dieser Entscheidungen, die jede/r Fotografierende vor der Arbeit mit der Kamera, beim Fotografieren und in der Nachbearbeitung trifft, in eine Matrix zu bringen. Wie eingangs gesagt, ist die Lage in der Fotografie etwas anders als die in der nächstverwandten Kunst – der Malerei. In der Fotogeschichte gibt es eine Reihe recht gut beschriebener Richtungen. Meist sind diese historisch (also abgeschlossen) und gehen mit einer bestimmten Theorie der Fotografie einher. Beispiele wären der »Pictorialismus« (etwa 1885 bis 1915), die »Straight Photography« (etwa ab 1920) oder das »Neue Sehen« (ebenfalls grob ab 1920). Seither sind einige Stilrichtungen hinzugekommen, die als solche wahrgenommen werden,

andere gibt es offenbar, haben aber keine klare kunsthistorische Definition. Ich denke, das liegt daran, dass die Fotografie – anders als die künstlerische Malerei – traditionell weniger nach ihren Bildstilen, sondern nach ihren Motiven und ihrem Zweck eingeteilt wurde. Also zum Beispiel in Porträt, Stillleben, Architekturund Modefotografie, Fotokunst, Reportage, Unternehmensfotografie ... In der Grafik oben finden sich nun die wichtigsten Bildkategorien und die Varianten, die man antrifft, wenn man sich Fotografien ansieht und ihre Mittel analysiert. Nun kann man neun Mal von Spalte zu Spalte springen und so einen Stil zusammenstellen. Natürlich geht das nicht beliebig, denn nicht jede Kombination wirkt stimmig und gibt Sinn. Und mitunter kommen innerhalb einer Stilrichtung auch mehrere Möglichkeiten einer Kategorie zum Einsatz. Ein Beispiel, das ich auf den folgenden Seiten auch

darstelle, wäre die Trash-Fotografie. Wie nun sieht es aus, wenn man das Schema anhand dieses Stils durchläuft? Die Tonwertabstufung ist mitunter normal, meist aber wird unsere Netzhaut mit mangelnder Durchzeichnung (komplett schwarze und komplett weiße Flächen) gequält. Die Farben sind häufig übersättigt oder – im Gegenteil – fahl. Das beliebteste Trash-Licht ist direktes Blitzlicht, welches die Hauttöne unnatürlich und die Formen flach (statt plastisch) macht und Schlagschatten auf Hintergründen am Rand der Bildgegenstände erzeugt. Der Kamerastandpunkt ist meist extrem subjektiv, also schief und von oben oder von unten. Die Kategorien 6 bis 8 sind nicht sonderlich wichtig für »trashige« Fotografie, wenngleich gern das Weitwinkel eingesetzt wird, denn es verzeichnet so schön. Dagegen ist die komplette Spalte 9 geradezu für Trash gemacht, denn Bildfehler sind wahrlich

eine Tugend dieser Fotografie. Bildfehler wie rotgeblitzte Augen, Farbflächen ohne Verlauf (»Clipping«) oder Lichtabfall am Rand sind beliebte Gestaltungsmittel – die »Spezialeffekte« des Trash. Gerne werden auch Bildfehler aus der analogen Zeit elektronisch imitiert, wie ein Lichteinfall auf den Film. Mit der letzten Kategorie verlassen wir die Bildgestaltung. Ich habe mich dennoch entschieden, einige Kriterien aufzunehmen, die den Bildinhalt betreffen, weil das viel zur Klärung fotografischer Standpunkte beitragen kann. »Window« und »Mirror« bedeutet (wie oben gesagt), ob eine Fotografie in die Welt hinein orientiert ist oder ob das Innenleben der/des Fotografierenden ausgedrückt wird. Im Fall von Trash kann man alle Punkte unter 10 so oder so antreffen (also zum Beispiel Inszenierung ebenso wie Dokumentar), allerdings neigt der Stil sehr zur Überfülle, statt sich zu konzentrieren. 263

Stilistik | Beispiel: Sachlichkeit

 Konstantin Nemerov

264

Die Sachlichkeit ist ein fotografischer Stil, der seinen Ursprung in den 20er Jahren hat und seither eine starke Strömung in der Fotografie darstellt. Die Fotografie hat einen kleinen Geburtsfehler, der die ersten Jahre ihrer Entwicklung nachhaltig geprägt hat. Bei ihrer Erfindung gab es bereits ein jahrhundertealtes bildgebendes Verfahren mit einer reichen Bildsprache und hoher Reputation: die Malerei. Dementsprechend wurde die Fotografie anfangs oft gering geschätzt (und wegen ihrer vergleichsweise leichten Erlernbarkeit und ihrer Präzision gleichzeitig verehrt). Dennoch galt die Fotografie im kulturellen Leben Europas anfangs oft als die seelenlose, bloß technische kleine Schwester der Malerei. Die Reaktion der Fotografen war zunächst eine Annäherung an die Malerei und ihre künstlerischen Techniken, also eine Art »Nacheifern«. Par-

 Oliver Volke

 Ulf Frohneberg

allel zum Impressionismus entwickelten die Fotografen den »Pictorialismus«. Ein radikaler Bruch erfolgte nach dem Ersten Weltkrieg, als die Fotografie versuchte, sich selbstbewusst ihrer Stärke zu besinnen und sich von der Malerei zu emanzipieren. Diese Stärke läge darin, dass sie unübertrefflich detailreich und wahrhaftig die »Realität« aufzuzeichnen imstande sei, so die damaligen Vorkämpfer. Die Malerei sei ein subjektiver Ausdruck der Künstler, die Fotografie der Welt zugewandt und damit nicht bloß Produkt der Sicht eines Einzelnen, sondern zeige die Dinge, wie sie seien. Daher sei die Fotografie letztlich von größerer Relevanz für jede Gesellschaft als die traditionellen Künste. In den USA wurde diese stilistisch-ideologische Wende als »Straight Photography« bezeichnet, in Deutschland als »Neue Sachlichkeit«. (Derselbe Begriff wird leider auch auf einen Stil in der Malerei angewandt, der aber fast

 Oliver Volke

 David Henselder

das Gegenteil meint – also am besten nicht verwechseln.) Auf dieser Doppelseite habe ich eine Reihe von Porträts versammelt, die ich als Vertreter des Sachlichen Stils betrachten würde. Ich verwende – wegen der guten Vergleichbarkeit – auf den folgenden Seiten ausschließlich Porträts, obwohl die Stilrichtungen natürlich genauso auf Sachliche Fotografie:

Diesem Stil könnte man zum Teil das Werk der folgenden Fotografinnen/ Fotografen zuordnen: August Sander (1876–1964), Albert Renger-Patzsch (1897–1966), Walker Evans (1903– 1975), Ansel Adams (1902–1984), Alfred Stieglitz (1864–1946), Karl Bloss­feldt (1865–1932), Bernd Becher (1931–2007) & Hilla Becher (1934– 2015), Thomas Struth (*1954), Stephen Shore (*1947), Candida Höfer (*1944).

 Sven Philipp

Objekte, Architektur, Landschaft, Werbung, Journalismus anwendbar sind. Geht man die Tabelle der vorangegangenen Doppelseite durch, kommt man zu folgender Beschreibung des »Realismus«: Die Tonwerte sind gut bis sehr gut, die Farbe und ihre Sättigung natürlich (von der traditionellen Umwandlung in Schwarzweiß abgesehen), die Schärfe liegt auf dem Hauptgegenstand, das Licht dient der klaren Darstellung dieses Gegenstandes (statt expressiven Zwecken), der Kamerastandpunkt ist neutral, also auf Augenhöhe und gerade, extrem verzeichnende Brennweiten werden vermieden, die Mittel der Bildgestaltung dienen der Darstellung des Bildgegenstands, statt mit diesem zu konkurrieren, Bildfehler oder starke »Looks« werden vermieden, der Zugang ist sachlich-dokumentarisch. Es geht also eher darum, wie etwas aussieht, statt was es bedeutet oder wie es sich anfühlt. 265

 Julian Schievelkamp

Stilistik | Beispiel: Trash

 Arnd Cremer

266

Ein starkes Kontrastprogramm zur Sachlichen Fotografie ist ein Stil, den ich »Trash« nenne. Dieser ist sehr expressiv und zeichnet sich durch die Einbeziehung von Mitteln aus, die gewöhnlich als Bildfehler betrachtet werden. Als Geburtsjahr dieses Stils in seiner aktuellen Form kann 1991 betrachtet werden, als der Fotograf Nick Waplington sein Buch »Living Room« veröffentlichte. Das Buch zeigt das turbulente Leben einer englischen Familie aus der Unterschicht in einer damals weitgehend neuartigen Bildsprache: brutale Bildschnitte, Schiefstand der Kamera, direktes Blitzlicht, von Akzenten überladene Bilder und dazu eine Menge witziger und skurriler Bildinhalte. Mittlerweile ist aus Waplingtons Pionierleistung ein oft eingesetzter Stil in Porträt-, Reportage-, Mode- und Werbefotografie geworden. Der Stil und diejeni-

 Arnd Cremer

 Horst Mumper

gen, die ihn anwenden, sind aber immer noch umstritten; die Auseinandersetzungen darum werden oft mit beträchtlicher Wut geführt. Es fällt zum einen schwer, den Bruch mit den fotografischen Traditionen zu ertragen. Warum wird mitunter viel Geld für Fotos bezahlt, die offenbar technisch-gestalterische Schwächen haben und aussehen, als habe die Kamera aus Versehen ausgelöst? Und zweitens finden manche, dass die Leute in solchen Bildern oft schlecht wegkommen und man sich folglich mit dem Stil vor allem über andere lustig machen möchte. Ich würde dem das Folgende entgegenhalten: Niemand soll gezwungen werden, in einem solchen Stil zu fotografieren, aber dann umgekehrt bitte auch niemand, einen bestimmten Stil zu unterlassen. »Trash« funktioniert hervorragend für bestimmte Themen, nämlich insbesondere für viele Jugendkulturen, für das Seltsame, Witzige, Randständige, Exzentrische

 Uta Konopka

 Uta Konopka

 Uta Konopka

und für alles, was satirisch behandelt werden soll. Und schließlich ist dieser Stil seit der Digitalisierung um das Jahr 2000 herum auch deshalb so erfolgreich, weil er (scheinbar) eine Antwort auf ein Problem der Fotografie im 21. Jahrhundert gibt. Mit der digitalen Umstellung wurden Bilder perfekt manipulierbar und die alte Selbstverständlichkeit, dass Fotografie »die Realität« zeige, hat einen harten Schlag erhalten. Da kam der witzige, coole, Aufsehen erregende Trash Populäre Vertreter/innen des »Trash«:

Wegee (1899–1968), Nick Waplington (*1965), Richard Billingham (*1970), Juergen Teller (*1964), Nobuyoshi Araki (*1940), Wolfgang Tillmans (*1968), Terry Richardson (*1965), Martin Parr (*1952), JH Engström (*1969), Lars Tunbjörk (1956–2015), Tina Barney (*1945).

 Klaus Dyba

gerade recht, denn die Bilder sehen so direkt, einfach und dilettantisch aus, dass sie suggerieren, sie seien beiläufige Schnappschüsse tatsächlicher Begebenheiten. Das ist natürlich nicht der Fall, klappt aber immer noch gut. Die Kennzeichen des Stils gemäß Tabelle wären etwa: normale Tonwerte bis mangelnde Durchzeichnung, oft hohe Farbsättigung (und schräge Kombinationen), oft aber auch betont fahle, öde Farben, bevorzugt sehr starkes, direktes Blitzlicht oder anderes Kunstlicht, extrem subjektive Kamerastandpunkte (schief, nach oben, nach unten), unkonventionelle, scheinbar willkürliche Bildschnitte (mitten durch Objekte), oft kurze, verzeichnende Brennweiten, Überfülle der Bildinhalte, zahlreiche Bildfehler (Schlagschatten, rote Augen, Verwackelung). Eingesetzt wird der Stil sowohl in der Inszenierung in Kunst und Kommerz als auch in der Dokumentarfotografie. 267

Stilistik | Beispiel: Reportagestil

 Sebastian Eichhorn

268

In der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg bis in die 80er Jahre war diese Stilrichtung ganz einfach der fotografische Normalfall. Besuchte man 1970 eine Fotoausstellung, konnte man nahezu sicher sein, dass man Bilder in folgender Gestalt dargeboten bekam: Schwarzweiß bei guten Tonwerten, komplett scharf oder Fokus auf dem Gegenstand, fotografiert mit dem vorhandenen Licht (also Tageslicht oder das Kunstlicht vor Ort), Kamerahaltung flexibel, von sachlich bis subjektiv, Abzug zwischen A4 und A3 in Holzrähmchen, »unaufdringliche« Brennweite (also zwischen 35 und 70 mm), achtsame Bildgestaltung, die sich nicht verselbstständigt, sondern dem Bildgegenstand und der Bildaussage dient, keine Bildfehler, tendenziell dokumentarisch und »Window« (also in die Welt orientiert, statt auf den Fotografen oder die Fotografin, was »Mirror« wäre).

 Christof Jakob

 Britta Strohschen

Selbstverständlich gab es zur angegebenen Zeit auch völlig andere Stile. Insbesondere die Werbung war großformatig, bunt und inszeniert; und auch die Amateurfotografie, die man im Urlaub und bei Festtagen praktizierte, war bevorzugt farbig. Und es gab schon Fotokünstler, die mit Farbfilm arbeiteten. Wer aber etwas auf sich hielt, der war in dem Stil unterwegs, den ich hier »Reportagestil« nenne. Der Name bot sich an, denn geprägt wurde diese Fotografie von den großen Klassikern der Street Photography und des Fotojournalismus wie etwa dem Mitgründer der Agentur »Magnum«, Henri Cartier-Bresson. Entsprechend gab es bei der Aufnahme des Briten Martin Parr in diese Agentur noch 1994 gewaltige Auseinandersetzungen, denn der fotografiert bunt, oft »trashig« und beschäftigt sich mit Alltagsthemen. Der Reportagestil hat gestalterisch große Überschneidungen mit der Sach-

 Michael Kammlander

 Bruno Trematore

 Michael Kammlander

lichen Fotografie, nur ist er weit weniger distanziert und zielt durchaus auf emotionale Beteiligung ab. Humor, Ironie, Mitleid und die Absicht, durch Bilder zu kommentieren, spielen eine bedeutende Rolle. Die Akteure stehen oft in spannungsreichen Beziehungen zu anderen oder zu ihrer Umgebung. Der richtige Moment und die trickreiche Komposition zeigen die Meisterschaft der Fotografen. Bekannte Namen des Reportagestils:

Henri Cartier-Bresson (1908–2004), W. Eugene Smith (1918–1978), Robert Doisneau (1912–1994), René Burri (1933–2014), Sebastiao Salgado (*1944), Werner Bischof (1916–1954), Mary Ellen Mark (1940–2015), Raymond Depardon (*1942), Robert Frank (*1924), Elliott Erwitt (*1928), Garry Winogrand (1928–1984), Tony Ray-Jones (1941–1972).

 Frank Dürrach

Bild  ist eine schön gegenläufige Komposition mit Vordergrund und Hintergrund, oben und unten, scharf und unscharf, Kontrast und Wiederholung. Den Seebären  dürfen wir nachts durch das Fenster beim Eintrag ins Bordbuch beobachten, während der Feuerwehrmann  in einem Moment der inneren Anspannung gefangen zu sein scheint. Das Bild im Café  lädt zum Vergleich ein zwischen dem Mann in der Wetterjacke und den Billard spielenden Superstars. Der Bildausschnitt ist also ein impliziter Kommentar. Typische Street Photography und satirisch-witzig sind die beiden Mallorca-Bilder  und . Der eine wird zum Oktopoden und der andere schraubt quasi an einer Kunstpalme. Wie in Bild  geht es in  um den (hier: skeptischen) Ausdruck. Das Bild wurde in Jerusalem aufgenommen und das harte Licht der hoch stehenden Mittagssonne schafft in diesem Raum eine gewisse Magie. 269

 Volker Plein

Stilistik | Beispiel: Surrealismus

 Hamed Alaei

270

 Frank Dürrach

Die surrealistische Fotografie ist in ihrer Bildgestaltung recht vielfältig und erscheint nicht so homogen wie andere Bildstile. Allerdings gibt es Gemeinsamkeiten, denn man arbeitet stets mit Verfremdungen auf inhaltlicher und/oder gestalterischer Ebene. Es gibt Fotografinnen und Fotografen, die sich explizit als Surrealistinnen und Surrealisten bezeichne(te)n. Andere verwenden nur surreale Elemente in ihrer Fotografie oder machen hin und wieder Ausflüge in dieses Gebiet. Im Fall dieses Stils kann man die Tabelle nicht nutzen, indem man wie auf einem Pfad durch die Kategorien geht und so einen konsistenten Stil erhält. Dennoch hilft diese, denn die erwähnte surrealistische Verfremdung besteht auf der motivischen wie auf der bildgestalterischen Ebene vornehmlich darin, Widersprüchliches zusammenzuführen. So wird das glatte

 Carsten Nichte

Bild der Wirklichkeit infrage gestellt und es entstehen subjektive, nicht »normale« Innen- und Außenwelten. In Bild  ist das schon gut zu sehen. Zwar zeigt das Bild bunte Ballons, die gewöhnlich für Kindheit, Freude, Freiheit und die Luft stehen, aber die Ballons werden von einer geheimnisvoll dunklen, seltsam quadratischen Gestalt gehalten. Dazu wird das Mittel der Vielschichtigkeit eingesetzt, denn die Szene ist indirekt fotografiert, als Spiegelung in einer Pfütze. So wird alles unklarer und das Symbol der Luft findet sich auf einmal im Wasser wieder. Verfremdet wird alles nochmals dadurch, dass das Bild auf den Kopf gestellt wurde. Auch in Nummer  steht vieles Kopf, vor allem die Schwerkraft. Die Jeans, der Hoodie und die Lampe sind zeitgenössisch, aber das Bild wurde durch das Format und die (gephotoshopten) Effekte Sepia-Tonung, Kratzer und Vignette auf

 Julia Berlin

 Anne Barth

 Nathalia Schnippering

alt getrimmt. So als sähen wir einen spiritistischen Vorfall des 19. Jahrhunderts. Ganz ähnlich funktioniert Bild , das in seinem Bildinhalt irgendwo zwischen Modefotografie und Erstem Weltkrieg angesiedelt ist. Auch hier gibt die Bearbeitung wieder vor, es handele sich um ein Bilddokument aus alter Zeit. Surrealistische Fotografie:

Man Ray (1890–1976), André Kertész (1894–1985), Manuel Álvarez Bravo (1902–2002), Emila Medková (1928– 1985), Hans Bellmer (1902–1975), Bernhard Johannes Blume (1937– 2011) & Anna Blume (1937-2020), Bernard Faucon (*1950), Philippe Halsmann (1906–1979), Joan Fontcuberta (*1955), Roger Ballen (*1950), Graciela Iturbide (*1942), Sandy Skoglund (*1946), Joel-Peter Witkin (*1939), Viviane Sassen (*1972).

 Annika Rabenschlag

Bild  zeigt nichts als einen zufällig gefundenen Ast. In unserer Fantasie lässt sich dieser aber trefflich zu einem pflanzlichen Unfallopfer umdeuten – und in die Filmfigur »Groot«. Die Frau in  hingegen ist durch die körnige Unschärfe des Bildes ganz unkonkret geworden. So müssen wir selbst Situation und psychische Verfassung der Dargestellten frei interpretieren. Ähnlich ist das bei Bild , welches gleichzeitig etwas Märchenhaftes hat. Bild  arbeitet mit der Kombination unpassender Größenverhältnisse; spannend ist, dass wir selbst im Haus sind und nicht von draußen hereinblicken. Das letzte Beispiel  bezieht sich direkt auf surrealistische Malerei. Es kombiniert die zweckentfremdete Landkarte und den Körper zu einer seltsamen Figur. Der Ort, die Geste, das Licht und der niedrige Kamerastandpunkt schaffen die passende Atmosphäre. 271

 Snezhana von Büdingen

Stilistik | Beispiel: Intimer Stil

 Carsten Nichte

272

Beim Intimen Stil arbeiten bestimmte Gestaltungsmittel und ganz bestimmte Bildinhalte Hand in Hand. Man ist nah am Menschen und möchte Gefühle und Stimmungen ausdrücken. Intimer Stil klingt etwas schlüpfrig, zugegeben. Ich denke aber, das trifft diese Fotografie gleichwohl recht gut. Die Richtung ist in ihrer Thematik nicht sehr breit aufgestellt, denn es geht vornehmlich um Menschen und deren Zusammenund Gefühlsleben. In den USA rechnet man einige Vertreterinnen und Vertreter zu einer »Boston School«. Das oberste Gebot ist Authentizität. Handelt es sich um Reportagebilder, dann interessiert vor allem das, was emotional mit den Protagonisten geschieht. In der inszenierten Fotografie macht man alles, um die Bilder »echt« und wahrhaftig wirken zu lassen. Oft wird versucht, die Modelle tatsächlich in eine bestimmte Stimmung

 Alexandra Klapperich

 Nathalia Schnippering

zu versetzen. Oder es werden alle Bilder verworfen, die »gekünstelt« wirken. Dazu gehört, dass die Abgebildeten selten in die Kamera blicken; diese möchte vielmehr wie ein unsichtbarer Geist alle Regungen beobachten. Selbige darzustellen (Haltung, Mimik), obliegt einerseits den Fotografierten, andererseits steht auch die Bildgestaltung ganz im Dienst des emotionalen Ausdrucks. Licht spielt die Hauptrolle, denn Licht macht Stimmung. Daneben spielen Unschärfe und Farbigkeit eine wesentliche Rolle bei der Übersetzung von Gefühlen in Bilder. In Bild  sind es Ruhe, innere Einkehr und Entspannung, die ich im Ausdruck der Frau lese. Die Kamera muss das scheinbar heimlich beobachten, es gibt eine sanfte, da sehr unscharfe Verstellung rechts im Vordergrund. Das Licht erhellt große Flächen im Bild, in den Tonwerten ist das Schwarz eliminiert, die tiefsten Töne des Bildes liegen in einem

 Raffaele Horstmann

 Dennis Wilhelms

 Marvin Ruppert

dunklen Grau, alles ist »soft«. Im Hintergrund ist ein Stück Natur zu erahnen. Auch in Bild  ist der Kamerastandpunkt nicht ganz neutral, denn wir sehen leicht von oben auf die Frau herunter, so als wären wir gerade hinzugetreten. Auch dieses Modell ist in sich gekehrt, denn der Blick scheint nicht auf einen Gegenstand gerichtet. Wieder ist alles lichtdurchflutet. Ganz ähnlich ist die Komposition in Bild , nur dass die Dame erschöpfter, ja vielleicht sogar traurig wirkt. Dafür spräIntimer Stil:

Dieser Richtung könnte man Werke der folgenden Fotograf/inn/en zuordnen: Nan Goldin (*1953), Wolfgang Tillmans (*1968), Hellen van Meene (*1972), Sally Mann (*1951), Philip-Lorca diCorcia (*1951), Jock Sturges (*1947), Ryan McGinley (*1977).

 Frank Dürrach

che das Tuch, das sie in der Hand hält – an dem sie sich beinahe festhält. Die Tänzerin  ist gar nicht mehr als erkennbare Person porträtiert. Hier erzählen Farbe, Dynamik und Licht. Ebenfalls in der Erkennbarkeit reduziert ist Bild , und da es kein Gesicht zu sehen gibt, können wir umso besser das Gefühl der/des Badenden nacherleben. Bade- und Schlafzimmer sind wohl die häufigsten Spielorte des Intimen Stils. Leicht melancholisch, aber ganz bei sich sind die Jungs in den Bildern  und . Haut zu zeigen gehört ebenfalls zu den typischen Elementen des Intimen Stils, ebenso dass die Darsteller gewöhnlich nichts zu tun haben – von der Interaktion mit anderen abgesehen. So in Bild , wo eine Japanerin zärtlich ihrem Freund die Stirn tupft. Sanft trägt der Wind eine Strähne in den blauen Hintergrund, während der Mann einen Perlenohrring zu bekommen scheint. 273

 Sebastian Bänsch

Stilistik | Beispiel: Alternativweltstil

 Conny Di Pasqua

274

Für manche Fotokünstlerinnen und Fotokünstler ist die Fotografie auch das Medium der Wahl, um ganz eigene Welten zu erschaffen. Solche Stile heißen »Gothic« oder »Steampunk«, wenn das Gezeigte ein wenig düster ist oder in Kostüm und Ausstattung auf das 19. Jahrhundert verweist (Anachronismen können gern dazukommen). Dann gibt es Fotografie, die ihre Inspiration offenbar aus der Malerei bezieht; sie stellt bekannte Gemälde nach oder nutzt deren Gestaltungsmittel, um »Tableaux vivants« (lebende Gemälde) zu schaffen. In der Modefotografie gibt es ebenfalls eine Stilrichtung, die ihre Modelle aus der bekannten Welt löst und eine mehr oder weniger neue um diese herum baut. Ich fasse diese (und weitere) Richtungen hier unter dem von mir geprägten Begriff »Alternativweltstil« zusammen. Möchte man nach unserer

 Manuel Koch

 Jennifer Wolf

Tabelle vorgehen, käme man zu folgendem Pfad durch die einzelnen Kriterien: Gute bis sehr gute Tonwertabstufungen, die Farben sind häufig durch Bearbeitung deutlich verändert, es wird oft mit durchgängiger Schärfe gearbeitet, allerdings sind die Hintergründe mitunter unscharf, und soll es Richtung »traumhaft« gehen, gibt es im Vordergrund stark unscharfe Schleier; der Kamerastandpunkt ist oft neutral, der Ausschnitt weit, aber man trifft auch stark subjektive Blicke; unter den Bildfehlern sind grobes Korn, (simulierte) Beschädigungen und eine Vignette beliebt. Inhaltlich zielt der Stil natürlich nicht auf das Dokumentarische ab, sondern es geht um Befindlichkeiten und symbolhaft-metaphorische Bildaussagen. Tatsächlich weist der Stil große Ähnlichkeit mit dem der symbolistischen Malerei auf, ich habe diesen Namen aber nicht übernommen, weil diese Kunstrichtung bevorzugt große religiöse

 Jennifer Wolf

 Julian Schievelkamp

und philosophische Themen behandelt, während die Fotografie da freier ist. Es ist übrigens typisch für einen Stil, der mit Malerei größere Berührungspunkte hat, dass in ihm heftig elektronische Bildbearbeitung zum Einsatz kommt. Auf diesen beiden Seiten und der folgenden Galerie-Doppelseite habe ich Beispiele versammelt, die einen Überblick über das Spektrum dieses Bildstils geben sollen. Bild  ist noch recht nah an einer Alltagsszene, nur die Farbregie (alles in Creme) und die Haltung des MoAlternativweltstil:

Dieser Richtung könnte man das Werk der folgenden Fotografinnen und Fotografen zuordnen: David LaChapelle (*1963), Pierre et Gilles (*1950 und *1953), Eugenio Recuenco (*1968), Tim Walker (*1970), Arthur Tress (*1940), Cindy Sherman (*1954).

 Oliver Volke

dells wecken Zweifel. In  ist das auf die Spitze getrieben, die Komposition und die entsättigten Farben weisen deutlich auf Malerei hin. Die Bilder  und  haben ihre Stärke in der Reduktion. Mit ganz einfachen Mitteln werden hier fremdartige Umgebungen erzeugt. Bild  stellt eine »fotografierte Innenwelt« dar und zielt (wie die surrealistische Fotografie) auf Unbewusstes und Gefühle ab. Daher der Schleier vor unserer Wahrnehmung, der mit dünnen Tüchern, Glas oder durch Bildbearbeitung erzeugt wird. Ganz symbolistisch ist das sehr beeindruckende Modelfoto : Architektur, Kleid, Requisite und Modell sind eine perfekte Einheit eingegangen. Und schließlich ist  ein Selbstbildnis in Form eines »Tableau vivant«. 512 Jahre nach Albrecht Dürer wurde dessen berühmtes Selbstporträt hier stilistisch kopiert, aber mit zeitgenössischen Requisiten und einem neuen Text versehen. 275

 Snezhana von Büdingen  Kary Bartelmey

 Kartharina Rösch  Nora Hase

Konstruierte Welten Hier eine kleine Galerie mit inszenierten Bildern, die sich ihre eigene Welt zimmern (vom Studiofoto bis zur Collage).

 Monika Probst  Dennis Wilhelms

 Kary Barthelmey  Jannes Schilling

 Sabine Tenta

 Edgar Olejnik

Stilistik | Beispiel: Abstraktion

 Mathias Aust

278

 Sven Philipp

Wie andere Kunstrichtungen auch unternimmt die abstrakte Fotografie den Versuch, sich von der Darstellung der »Realität«, wie sie mit den Sinnen des Menschen wahrgenommen wird, zu lösen. Gestalterisch gesprochen werden also die gewohnten Bildgegenstände (Objekte) geschwächt und Gestaltungselemente wie Punkt, Linie, Fläche, Farbe, Schärfe gestärkt. Abstraktion ist immer wieder mal im Trend. Sie war es in den experimentierfreudigen 20er Jahren, sie war es als Reaktion auf die Propagandafotografie der Kriegsjahre in den 50ern und ist es durch die Digitalisierung mit ihren Möglichkeiten der Bildbearbeitung heute wieder. Es gibt dazu alte Techniken wie das Fotogramm, bei dem Gegenstände direkt auf lichtempfindliche Fotopapiere gelegt wurden, was aparte Schattenrisse ergeben konnte. Aktuell wird die Abstraktion vor allem auf folgenden Wegen

 Julian Schievelkamp

erreicht: Verfremdung von Farben und Formen mittels digitaler Bildbearbeitung (diese hat die im 20. Jahrhundert dominierenden Dunkelkammertechniken weitgehend abgelöst), ungewöhnliche Bildausschnitte und extreme Nahaufnahmen, Einbringen starker Unschärfe durch Verwackeln, Milchglas oder Unscharfstellen am Objektiv. Aktuell wird die Fotografie immer abstrakter. Ich denke, das liegt einfach an einem gewissen Hunger nach ungewöhnlich aussehenden Bildern und an den sich anbietenden einfachen Bearbeitungsmitteln wie Apps für Smartphones und Computersoftware. Außerdem würde ich im Augenblick in der Gesellschaft insgesamt ein zunehmendes Interesse an Oberflächen und ein abnehmendes an (komplexen) Inhalten diagnostizieren. Trotzdem ist die abstrakte Fotografie in der Kunst- und Mediengeschichte exotisch geblieben (ganz anders als ab-

 Sven Philipp  Frank Dürrach  Edgar Olejnik

 Nathalia Schnippering

 Daniela Hoffmann

strakte Malerei), dabei gab und gibt es eine Menge Menschen, die sich systematisch mit ihr auseinandersetz(t)en. Es könnte sein, dass der Kunstbetrieb die Fotografie doch lieber an der Seite der alltäglichen Welt sehen will. Bei Bild  ist diese Bindung noch vorhanden, jedenfalls kann man sich trotz der Verwacklung eine dem Bild zugrunAbstraktion:

Dieser Richtung könnte man Werkteile der folgenden Fotografen zuordnen: Alvin Langdon Coburn (1882–1966), László Moholy–Nagy (1895–1946), Otto Steinert (1915–1978), Peter Keetmann (1916–2005), Gottfried Jäger (*1937), Adam Fuss (*1961), Hiro­ shi Sugimoto (*1948), Thomas Ruff (*1958), Götz Diergarten (*1972), Michael Wesely (*1963), David Arm­ strong (1954–2014).



Marvin Hüttermann

de liegende Landschaft vorstellen. Auch Bild  arbeitet mit Unschärfe und dazu mit einer Reduktion von Helligkeit und Farbe. Genau wie in Bild  kommt es zudem wesentlich auf den ungewöhnlichen Kamerastandpunkt an. Nummer  ist eine Kombination aus »Realbild« in Form der Brücke und einem einkopierten Hintergrund. Bild  könnte noch ein Ursprungsbild haben (oder auch komplett virtuellen Ursprungs sein). Die Symmetrie führt paradoxerweise aus der Abstraktion zu einer Gegenständlichkeit (eine Figur) zurück.  ist eine Nahaufnahme mit kurzer Belichtungszeit,  und  verdanken die Abstraktion dem Bildausschnitt, ebenso . Die  ist eine Art zeitgenössisches Fotogramm oder Röntgenbild einer Sicherheitskontrolle, bestehend aus farblich stark veränderten Gegenständen. Und schließlich steht am Schluss ⑪ eine Abstraktion, die vor allem auf vollständiger Unschärfe beruht. 279

 Julian Schievelkamp

Nachbetrachtung

Stilistik der Fotografie

Wie eingangs erwähnt, gibt es in der Fotografie durchaus einige stilistisch relativ homogene Strömungen und Gruppen. Während aber die meisten Malerinnen und Maler einer Richtung zugeordnet werden und dann ein paar Exoten hinzukommen, ist das in der Fotografie eher umgekehrt. Es gibt eher wenige bekannte Fotografierende, deren Werk ganz klar einer Stilrichtung zuzuordnen wäre. In der Fotografie geschieht die Einteilung traditionell eher nach Genres wie Werbung, Mode, Reportage und Krieg, Landschaft, Kunst, Produkt, Architektur, Porträt und so weiter. Auch scheinen die Fotografierenden stilistisch flexibler zu sein, meist haben sie unterschiedliche Richtungen zur Verfügung. Einige unstrittig beschriebene Stilrichtungen gibt es, ich würde den »Pictorialismus«, die »Straight Photography«, das »Neue Sehen«, die »Neue Sachlichkeit«, den Surrealismus, die abstrakte Fotografie und bedingt auch die »Fine Art Photography« dazurechnen. Und es gibt noch eine Reihe weiterer Kandidaten

wie zum Beispiel das »New Topographic Movement«, das sich seit den 70er Jahren mit der Veränderung der Landschaft durch den Menschen auseinandersetzt, oder die oben erwähnte »Boston School«. Ich habe in diesem Kapitel versucht, Kategorien und Kriterien einer fotografischen Stilistik in einer Tabelle darzustellen und diese in einem kleinen »Realitätscheck« anhand unterschiedlicher Stilrichtungen zu testen. Es ist bestimmt ganz schön, auf diese Weise Stilrichtungen klassifizieren zu können, aber für ein Buch über fotografische Bildgestaltung liegt nach meiner Ansicht der Wert vor allem darin, dass man überhaupt eine Liste stilbildender fotografischer Optionen zur Verfügung hat. Wie ich meine, kann man sich so der eigenen Position in der Welt der Fotografie allgemein oder während einer bestimmten Fotoarbeit besser klar werden. Vielleicht wird man durch die Stilistik auch dazu gebracht, zu experimentieren und Form und Inhalt wieder neu in Beziehung zu setzen. 281

Bildaufbau

Objektive, Komposition, Schärfe und Zuschnitt Im abschließenden Kapitel soll es um alles gehen, was mit Objektiven zusammenhängt, und damit, wo man steht und wie man die Kamera hält. Eine kleine Liste der hier behandelten Themen: • die Bildwirkung der Brennweite, also Weitwinkelobjektive im Vergleich zu Teleobjektiven; • die Wirkung von Tiefenunschärfe; • Vordergrund und Hintergrund; • Formen, Restformen, Silhouetten; • der Kamerastandpunkt; • Bildformate sowie • die Regeln des Bildzuschnitts. Vieles ist in den vorangegangenen Kapiteln schon angeklungen, aber hier soll es noch einmal systematisch und übersichtlich dargestellt werden.  In diesem Sportfoto stecken beinahe alle Themen dieses Kapitels. Der Standpunkt der Kamera ist hier extrem, ebenso die Verteilung von Schärfe und Unschärfe, der Turnschuh wurde durch die kurze Brennweite (17 mm) stark vergrößert und der Bildausschnitt ist mit seinem Schnitt durch Schuhsohle und Knie recht brutal.

282

 Andrej Kleer

Bildaufbau | Weitwinkel und Tele I

 Frank Dürrach (24 mm)

284

 Frank Dürrach (50 mm)

Unterschiedliche Brennweiten bewirken mehr, als einen Bildgegenstand heranzuholen oder eine weite Szenerie zu fotografieren. Das kann man an den Bildern  bis  deutlich sehen. Alle sind kurz hintereinander mit derselben Kamera aufgenommen worden (eine 5D von Canon, also eine digitale Kamera mit Vollformatsensor), nur habe ich die Objektive gewechselt.  ist mit einem Weitwinkelobjektiv mit 24 mm Brennweite entstanden, Bild  mit einem Normalobjektiv von 50 mm Brennweite, Nummer  mit leichtem Tele von 70 mm und Bild  mit einem 135-mm-Teleobjektiv. Damit der Bildausschnitt etwa gleich bleibt, habe ich mich bewegt; bei Bild  stand ich direkt vor den Röhren, bei Bild  etwa 25 Meter weit von diesen entfernt. Die Bilder sind nicht gerade Meisterwerke, ich habe den Gegenstand nur

 Frank Dürrach (70 mm)

nach dem Gesichtspunkt ausgewählt, die Effekte der unterschiedlichen Brennweiten deutlich zu machen. Beim Weitwinkelbild  bedeutet dies, dass der Vordergrund im Vergleich zum Mittelund Hintergrund stark betont ist. Das geschieht über dessen Vergrößerung: Die hübsch »verzierten« Röhren sind relativ zu den Bäumen viel größer und der Fernsehturm ist kaum zu sehen. Ein weiterer typischer Weitwinkel­effekt ist die geometrische Verzeichnung der Röhren: Diese scheinen oben zusammenzulaufen. Auch hier wirkt sich also schon aus, dass alles, was nah ist, groß, und was weiter weg ist, klein abgebildet wird. Und schließlich ist im Bild weit in die Tiefe der Landschaft reichende Schärfe vorhanden. Beim Kleinbildfilm 24 x 36 mm oder beim Vollformatsensor gelten Optiken mit 50 mm Brennweite als Normalobjektiv. Tatsächlich kommt Bild  etwa dem Sinneseindruck nahe, den ich beim Fo-

 Frank Dürrach (135 mm)

 Frank Dürrach (70 mm)

tografieren hatte. Gleichwohl finde ich die Aufnahme bei 70 mm besser . Hier sind die Bäume schon so groß, dass sie Weitwinkelobjektiv: • kurze Brennweite (zum Beispiel 20, 28, 35 mm) • großer Bildwinkel • große Tiefenschärfe • Betonung des Vordergrunds durch schnelle Größenabnahme • »Fisheye« = ein Weitwinkelobjektiv unter 20 mm, das gerade Linien biegt Teleobjektiv: • lange Brennweite (80 bis 200 mm) • enger Bildwinkel • geringere Tiefenschärfe (nimmt aber mit Abstand zum Motiv zu) • »flaches« Bild durch geringe Größenabnahme in der Tiefe

 Frank Dürrach (24 mm)

über die Zylinder reichen, der Turm ist gut sichtbar und der Himmel nimmt weniger Fläche ein. In der Teleaufnahme  bei 135 mm schließlich ist beides noch deutlicher und die Röhren sind nun der einzig scharfe Bereich; die geringe Tiefenschärfe (bei offener Blende) macht Vorder- und Hintergrund unscharf. Zudem ist der Turm stark beschnitten. Wegen dieser Effekte ist es gewöhnlich auch nicht angeraten, Porträts mit einem Weitwinkel aus geringer Entfernung auszuführen. Große Nase, kleine Ohren und oft zu scharfer Hintergrund sind die Folge . Außerdem muss man dem Modell mit kurzer Brennweite ziemlich auf die Pelle rücken, während längere Brennweiten die Fotografiesituation durch Abstand entspannen. 85 mm galten früher als klassisches Porträtobjektiv, in Bild  sehen auch 70 mm sehr natürlich aus und schaffen im Hintergrund ausreichend Ruhe durch Unschärfe. 285

 Andrei Ionescu-Cartas (17 mm)

Bildaufbau | Weitwinkel und Tele II

 Monika Probst (25 mm)

286

Hier sehen wir Bilder, bei denen die Eigenschaften von Weitwinkel- und Teleobjektiven als Mittel der Bildgestaltung eingesetzt wurden. Die Bilder zeigen recht deutlich, dass man mit den Brennweiten gestalterisch arbeiten sollte. Besonders beliebt sind daher Zoom-Objektive, die keine feste Brennweite haben, sondern einen Bereich, der sich beim Fotografieren stufenlos einstellen lässt. Hat man zum Beispiel ein Zoom mit 20 bis 70 mm vor der Kamera, dann kann man gestalterisch flexibel auf die meisten Anforderungen reagieren. Allerdings sieht man häufig, dass Fotografinnen und Fotografen starr an einem Ort stehen bleiben und ihr Zoom-Objektiv nur dazu verwenden, Bildgegenstände heranzuholen oder den Bildwinkel zu vergrößern. In manchen Situationen ist das sicher nötig, weil man einfach nicht näher heran kann, aber grundsätzlich

 Raffaele Horstmann (14 mm)

 Peter Joester (17 mm)

sollte man eher überlegen, wie die Bildgegenstände erscheinen sollen. Das Doppelporträt  zeigt dies sehr schön. Das putzige kleine Piano wird durch das Weitwinkel, welches den Vordergrund groß erscheinen lässt, zu einem gleichwertigen Partner der Musikerinnen. Die ganze Szenerie wirkt nicht mehr natürlich, sondern fotografisch stilisiert. So lässt sich gut in einer Fotoserie arbeiten, denn das schafft Zusammenhalt. Extrem wird die Szenerie  bei der Dame, die Tomaten püriert. Der Vordergrund wird so groß, dass wir die Stücke fast riechen können. Der ernste Blick der Frau passt zu der Distanz, die das Objektiv herstellt. Die knalligen Farben Rot und Blau (und dazu Grün) kontrastieren mit der Einfachheit der Szene. Der Raum  erscheint durch die Brennweite (alb-)traumhaft verzerrt. Ein Kommentar zu der konsequenten, aber altmodischen Möblierung? Die Vignet-

 Cord Richert (116 mm)

 Sabine Füermann (116 mm)

 Pixabay (50 mm)

tierung tut ein Übriges und lässt den Vordergrund düster erscheinen; das Fenster scheint weit weg. Hier sieht man aber auch sehr gut, dass kurze Brennweiten Bilder aufräumen, indem sie Flächen im Vordergrund vergrößern und kleinteilige Hintergründe verkleinern. Im Fall des Seemanns  werden das linke Bein und die Hand überbetont. Man kann über diese bis zu dem uns zugewandten Gesicht entlangblicken. Praxistipp : Arbeitet man mit einem Zoom-Objektiv, das ja einen Bereich unterschiedlicher Brennweiten bietet, sollte man versuchen, den besten Abstand zum Bildgegenstand durch Laufen zu erreichen, statt »heranzoomen«. Man erhält sich dann die Freiheit, die Brennweite zur Bildgestaltung zu nutzen, statt mit ihr nur die Weite des Bildausschnitts festzulegen.

 Sebastian Isiyel (100 mm)

Es versteht sich, dass auch Teleobjektive Bilder  aufräumen, denn der Bildausschnitt wird einfach kleiner. Tiefenwirkungen werden extrem reduziert. In diesem schönen Bild eines Transportschiffes werden die Kabelrollen nach hinten kaum kleiner, also scheinen sie nicht hinter dem Matrosen zu liegen, sondern über diesem. Sehr deutlich sieht man diese »Verflachung« der Bildgegenstände in den Architekturaufnahmen  und . Bild  hebt dadurch den Charakter der Siedlung als einer Ansammlung von Baukörpern hervor, der Vordergrund macht uns zu Beobachtern. In Bild  werden die Kühltürme so groß, dass die Nähe zu dem Haus rechts betont wird: Das Kraftwerk steht scheinbar im Vorgarten. Bild  arbeitet schließlich mit einem Normalobjektiv. Durch die offene Blende wird das Mädchen hier sehr klar vom Hintergrund gelöst. 287

Bildaufbau | Schärfe und Unschärfe

 Klaus Dyba

288

Bestimmte Bildteile unscharf wiederzugeben, ist ein Markenzeichen der Fotografie. Schärfe hat vor allem die Funktion des Hervorhebens der bildwichtigen Teile und Unschärfe die der Abschwächung weniger wichtiger Bildstellen. Hinzu kommt, dass »schöne« Unschärfe Bilder oft ästhetisch reizvoller macht. In der Malerei war Unschärfe bis zur Erfindung der Fotografie (beziehungsweise ihrer Vorstufe, der Camera obscura) praktisch unbekannt. Das ist seltsam, denn im natürlichen Sehen des Menschen kommt sie ja vor. Wenn wir mit den Augen einen nahen Gegenstand fokussieren, wird alles davor und dahinter Liegende mehr oder weniger unscharf. (Von der Unschärfe durch Sehschwäche ganz zu schweigen.) Gleichwohl wurde Unschärfe aus der Kunst weitgehend ausgeblendet – vermutlich weil das unser Gehirn bei der visuellen Wahrnehmung

 Dennis Wilhelms

 Christian Palm

auch so macht: Wir konzentrieren uns auf das Scharfe und stellen (umgekehrt) das scharf, was uns interessiert. Umso auffälliger ist Unschärfe in der Fotografie. Wir stellen beim Betrachten die ganze Fotografie scharf, aber natürlich bleiben die unscharfen Teile trotzdem unscharf. Und weil wir uns – wie ganz am Anfang des Buches bei der Akzentlehre gezeigt – auf informative Bildteile besonders konzentrieren, lässt sich mit Unschärfe prima der Blick lenken. So bleiben wir bei dem Künstlerporträt  bestimmt zuerst auf dem Handschuh hängen, der so schön in Türkis und Braun »bemalt« ist. Dicht daneben kann man zur Bildmitte rasch in die Tiefe gleiten, zu den Augen und der Atemmaske – eine Art »Darth Vader« der Kunstwelt. In dem sonnendurchfluteten Porträt  lässt die Tiefenunschärfe gerade so viel Information zu, dass wir nicht von Details abgelenkt werden, aber doch das

 Klaus Dyba

 Frank Dürrach

 Nadine Saupper

Licht, die Farben und die bauliche Gestaltung der Umgebung wahrnehmen. Die Strenge der Zentralperspektive und des Rahmens kontrastiert mit der »elegant-verdrehten« Pose. In Porträt Nummer  ist der Hintergrund genauso in Hell und Dunkel geteilt wie die Figur. Ich hatte zunächst gedacht, ich sähe ein Gebäude mit Balkonen, aber die Kerze am Tresen hat mich dann doch zu einer Bar gebracht. Mit anderen Worten: Der Hintergrund ist weitgehend abstrahiert. In den Bildern  und  tritt eine gewisse Verschleierung durch unscharfe Vordergründe ein (siehe das Bildmodell »Vielschichtigkeit«). In  ist wiederum der Hintergrund unscharf und somit dürften die Augen der Frau unser erster Anziehungspunkt sein. Die ganze Komposition und die körnig-schwarzweiße Bildbearbeitung deuten auf einen Schnappschuss aus einer Reportage –

 Nadine Saupper

aber das ist eine Irreführung, denn das Bild stammt aus einer komplett inszenierten Serie. In  liegt der Fokus nicht ganz auf den Augen der Frau – wie beim Porträt sonst üblich. Tatsächlich geht es bei der Serie, aus der das Bild stammt, auch um die Getränke, also passt alles. Krass unscharf ist Superman . Dies liegt daran, dass er mir unerwartet durchs Bild geflogen ist, als ich Eisberge in der Arktis fotografierte. Bilder mit (absichtlich) deutlich unscharfen Personen als Hauptgegenstand sind selten, aber gerade deshalb sehr reizvoll. Hier ist Superman ein Püppchen und der Hintergrund der Monitor meines Computers. Auf die Spitze getrieben ist die Blickführung durch Schärfe in dem eindringlichen Porträt . Der Fokus liegt fast nur auf Augen und Nase, schon die Ohren sind sehr unscharf. Die harten Tonwerte – es dominieren Schwarz und Weiß – steigern die Magie. 289

Bildaufbau | Vordergrund und Hintergrund

 Anja Grauenhorst

290

»Vordergrund macht Bild gesund«, so lautet eine alte fotografische Bauernregel. Diese Gesundheit besteht vor allem darin, dass der Vordergrund Bilder tiefer und subjektiver macht. Man kann Bilder einteilen, zum Beispiel in solche mit nur einer Bildebene und solche mit einem Vorder- und einem Hintergrund; mitunter gibt es sogar drei Ebenen, dann kommt also ein Mittelgrund hinzu. Letztere Bildkompositionen haben gewisse Stärken: Mehrere Bildebenen erzeugen oft den Eindruck räumlicher Tiefe; eine Eigenschaft, die von vielen Betrachtern geschätzt wird. Außerdem kann eine Ebene oft eingesetzt werden, um leere, zu gleichförmige Stellen der dahinter liegenden Ebene zu verdecken. Zu diesen beiden ästhetischen Einsatzmöglichkeiten kommen inhaltliche. Vorder- und Hintergrund können in ihrer Bedeutung

 Anton Weiss

 Snezhana von Büdingen

in einem Spannungsverhältnis stehen oder eine Ebene stellt eine Wiederholung der anderen dar; in beiden Fällen wird der Bildinhalt klarer und das Bild stärker. Und schließlich machen Vordergründe Bilder oft subjektiver, verringern die Distanz (siehe dazu die Bildmodelle »Schablonierung« und »Die Bühne«). Exemplarisch zeigt den inhaltlichen Einsatz von Vorder- und Hintergrund das Landschaftsbild . Betrachtende setzten den jungen, gerade austreibenden Baum sicher unmittelbar in Beziehung zu der Industrielandschaft im Hintergrund. In dem seltsamen Gartenbild  schafft das Teleobjektiv (80 mm) hier die »Verflachung« der Bildelemente. Der Zaun, die Beete, die Grünfläche, die falsche Landschaft und die Personen erscheinen als Elemente auf einer Fläche und werden so ebenfalls in Beziehung gesetzt. Das kleine Zäunchen im Vordergrund wirkt mehr wie die Parodie einer herrschaftli-

 Alen Ianni  Uta Konopka

 Alen Ianni

 Marvin Ruppert

chen Einzäunung. Mit dem Poster links oben ist es nicht anders. Vielleicht wirken die Besucher deshalb etwas verloren. Die Bilder  und  sind Interieurs und hier hat der Vordergrund vor allem die Funktion, bei uns den Eindruck auszulösen, wir wären vor Ort und dürften als Besucherin/Besucher einen Blick auf die Geschehnisse werfen. In dem inszenierten Bild  wiederholt der Vordergrund rechts zudem die Wand links und deckt einiges von dem orangefarbigen Laken ab, das sonst zu dominant wäre. Beim Boxen  trennen die Seile Bildbereiche voneinander ab; rechts oben geschieht alles Entscheidende. Unterstützt durch eine abdunkelnde, ovale Vignettierung formt das Gebüsch im Vordergrund die Pferdekoppel zu einer wahren Idylle . Es ist, als bringe das Foto seine Rahmung gleich mit. Ganz anders nebenan bei den Schafen . Hier steht im Mittelgrund eines

 Anja Grauenhorst

der Tiere und schaut uns verhalten neugierig an. Das ist zentral wichtig für die Qualität des Bildes, denn die restliche Herde allein wäre zu klein und fern und wir würden das Bild dann distanzierter betrachten. Durch die Abdunkelung links oben ergibt sich ein schön zweifarbiges Bild aus Orange und Dunkelgrün. Die orangefarbigen »Spezialeffekte« verstärken die intim-warme Wirkung des Porträts  erheblich. »Echt« oder Photoshop? Es funktioniert jedenfalls, macht Stimmung und verdeckt allzu kleinteilige Bereiche des Tisches sowie langweilige Teile des Hintergrunds. Dank Teleobjektiv erscheint in  das Flugzeug in beeindruckender Größe. Als blicke ein Kerl mit Sonnenbrille und ziemlich großer Nase auf den Mann im Vordergrund und auf das, was dieser so macht. Der wiederum lenkt kaum ab, da in Rückenansicht und in (zum Flugzeug stark kontrastierendem) Schwarz. 291

 Jennifer Wolf  Frank Dürrach

 Klaus Dyba  Frank Dürrach

 Frank Dürrach

Hintergrund – Vordergrund: eine Galerie Wie verhalten sich hier Vordergrund und Hintergrund zueinander? Schaffen sie Bildtiefe, ergänzen sich beide Bereiche inhaltlich, schafft der Vordergrund Subjektivität oder räumt er das Bild durch Abdecken von Bildteilen auf?  Georg Schnock  Uta Konopka

 Nathan Dreessen  Julian Schievelkamp

 Anja Grauenhorst ⑪ Uta Konopka

Bildaufbau | Form, Restform, Silhouette

 Peter Joester

294

Hat man deutlich vom Hintergrund abgehobene Bildgegenstände, so spielen deren Formen und Silhouetten und der nicht verdeckte Hintergrund (Restform) für die Bildwirkung eine große Rolle. Formen sollten von Hintergründen nicht an Stellen gestört werden, die informativ, also für das Erkennen des Gegenstandes wichtig sind. Mitunter wird eine Fotografin oder ein Fotograf bekannt für einen bestimmten Bildstil; der Amerikaner Richard Avedon ging mit seinen strengen Porträts vor weißem Hintergrund in die Geschichte der Fotografie ein. Seine Bilder zeigen Berühmtheiten und Unbekannte, dabei legte er größten Wert auf hervorragende (schwarzweiße) Tonwerte, auf den Ausdruck und die Haltung seiner Modelle und – hier besonders interessant – auf deren Formen und Silhouetten. Die Grafik rechts  zeigt die Form (in diesem

 Puran Falaturi

 Astrid Dorau

Fall: die Frau), die Silhouette (die weiße Linie) und die drei oder vier Restformen des Bildes  in Ocker. Restformen sind Flächen des Bildhintergrundes, die durch die Bildgegenstände ausgespart werden. Hier eine große Form unter dem rechten, angehobenen Arm, eine

 Ian Dylewski

ganz kleine zwischen dem linken Arm und dem Körper sowie eine bogenförmige über und neben der Figur. Letztere könnte man in zwei Restformen teilen, denn der Kopf berührt fast den Bildrand. In Bild  sind die Restformen in ihrem Flächenanteil in einem normalen, ausgewogenen Verhältnis, sodass man über diese auch Negativformen genannten Flächen kaum nachdenkt. Das ist in Bild  ganz anders, denn hier ist der stattliche Mann so in das Bild eingeklemmt, dass »unten herum« sieben kleine Restformen entstehen, die mit der dominanten Form (dem Mann) kontrastieren. Dazu passt aber andererseits wieder, dass die Form eine kleinteilige Binnengliederung aufweist. Anders als bei der Frau mit ihren großen Flächen aus Shirt, Jeans und Jacke. Bei dieser wiederum unterstützt die bogenförmige Silhouette ihres angehobenen Armes ihre aktive Haltung. Bild  betont durch die Drehung der

 Marvin Hüttermann

Figur, durch die ziemlich ereignislose Silhouette und die Platzierung, die rechts eine große Restform entstehen lässt, das Schmale und Artifizielle des Modells. Warum sind in  die Biker alle so gut erkennbar? Natürlich durch die Draufsicht, die alle vor dem Asphalt freistellt, also alle Überlappungen und Staffelungen im Raum ausschaltet. So ist jeder mit seinem Rad porträtiert und wir können schön vergleichen, während einer per Blick den Bezug zu uns herstellt. Beim Aufbau von Stillleben  ist die Anordnung der Gegenstände eine große Kunst – und hier hervorragend gelungen. Die Gegenstände sollten verbunden sein, um Zusammenhang herzustellen. Gleichzeitig sollten sie sich nur an Stellen minderer Informationsdichte überlappen und verdecken, damit die Erkennbarkeit nicht leidet (siehe folgende Seite). Und dann soll alles noch locker und nicht übermäßig arrangiert wirken ... 295

 Frank Dürrach (ungünstige Position, Linie hinter dem Kopf)

 (besser)

 Frank Dürrach (gute Erkennbarkeit)  (viele Störungen)

 (informative Bereiche gestört)  (Silhouetten unklar und informative Stellen verdeckt)

Formen sollten im Dienst guter Identifizierbarkeit mittels Bewegung der Kamera freigestellt und nicht durch andere Formen im Hintergrund gestört werden. Wenn Linien oder andere potenziell störenden Elemente des Hintergrunds nicht ausgeschaltet werden können, positioniert man sie an Stellen des Vordergrunds, die möglichst wenig informativ sind.  Die Superhelden sind gut aufgestellt und kampfbereit. Alle Stellen mit hoher Informationsdichte (Köpfe, Hände) sind gut erkennbar. In Bild  wollten noch weitere aufs Bild. Obwohl die vorderen drei immer noch unverstellt sind, erschwert die Störung der Silhouetten durch den Hintergrund das Erkennen. Bild  sieht aus wie ein Schnappschuss in einen Mob. Was hier anhand der Püppchen offensichtlich und banal aussieht, ist ein häufig übersehener Bildfehler. Das Pferd  zeigt sich störrisch von der falschen Seite – manche Ansichten sind weit weniger informativ als andere und man sollte sie meiden, wenn es auf sachliche Darstellung ankommt. In der Mitte  ist alles den Umständen entsprechend besser: Die Form ist gut erkennbar, alle vier Beine sind zu sehen, der informative Kopf wird nicht von der vertikalen Linie im Hintergrund gestört. Ideal wären natürlich gar keine Linien im Hintergrund gewesen, sondern die Hohlkehle eines Fotostudios. So wird es unter dem Bauch etwas unruhig. Ganz anders in : Hier überlappen sich die Beine und die Stellen dichter Bildinformation werden von Linien gestört. Leider ist das auch bei der Skulptur in Bild  der Fall. Der Kamerastandpunkt war nicht günstig, denn sie ist nicht freigestellt und Kopf sowie linke Hand sind nicht gut erkennbar. Man kann sich auch einen Spaß daraus machen, die Regeln zu brechen .

 Frank Dürrach  Frank Dürrach

 Thomas Böckenförde  Klaus Dyba

 Julian Schievelkamp  Maurizio Arena

 Astrid Dorau  Andreas Horsky

 Sebastian Bänsch

 Michael Kammlander

 Astrid Dorau

Porträts nach Richard Avedon Hier eine Galerie mit ganz unterschiedlichen Menschen, aber immer »freigestellt« durch den weißen Hintergrund. Dadurch spielen Formen, Restformen und Silhouetten eine große Rolle – natürlich neben Mimik, Gestik und Pose der Modelle sowie den Tonwerten der Bilder.

 Peter Joester

⑪ Andrej Kleer

⑫ Alexandra Klapperich ⑬ Vildan

⑭ Astrid Dorau

 Britta Bartel

Bildaufbau | Kamerastandpunkt

 Julika Hardegen

Die Positionierung der Kamera hat zwei Aspekte: Eine Kamera, die gerade auf Augenhöhe nach vorne blickt, liefert ein relativ neutrales Bild. Eine nach oben oder unten geschwenkte, schief gehaltene, in Bodennähe oder großer Höhe positionierte Kamera liefert ein subjektives Bild, also weniger das Abbild eines Gegenstandes, sondern den Blick auf diesen. Der zweite Aspekt betrifft die Beweglichkeit der/des Fotografierenden. Dieselbe Szenerie kann je nach Standort völlig unterschiedliche Bilder zutage fördern. Die Bilder  bis  illustrieren den ersten Gesichtspunkt. Bild  ist in starker Untersicht fotografiert und außerdem mit einem Weitwinkelobjektiv. Der Taubenzüchter erscheint daher als übermächtige Figur, da wir zu ihm aufsehen müssen. Außerdem lässt ihn die Bildgeometrie des Weitwinkels als Riesen erscheinen, da seine Beine vergrößert werden und

300

 Andrei Ionescu-Cartas

 Jennifer Wolf

 Frank Dürrach

der Oberkörper verkürzt wird. Die Fotografie zeigt ihn also ganz subjektiv als den Meister der Tauben. Der junge Mann auf dem Kinderspielplatz  wird ebenfalls von unten gesehen – gewissermaßen aus Kinderperspektive. Die Schiefstellung der Kamera betont die Schwierigkeit, die Balance zu halten. Eine schöne Zugabe in dem Bild ist, dass der Oberkörper soeben abknickt und diesen damit in einem schrägen Bild gerade erscheinen lässt. Einen radikalen Perspektivenwechsel im Vergleich zu den vorhergehenden Bildern stellt das Reportagefoto  dar. Hier sehen wir als große Erwachsene auf ein kleines Kind hinunter, das auf dem Erdboden sitzt. Das Kleidchen passt nicht perfekt und ist eher ein Fremdkörper und der Ausdruck ist forschend bis skeptisch. Kamerastandpunkte, die steil auf den Boden oder in den Himmel schauen, schaffen oft sehr aufgeräumte Bilder,

 Frank Dürrach

da am Boden (natürlich abgesehen von Kinderzimmern) und am Himmel meist wenig Akzente zu finden sind. In dem Bild  aus einer Lokwerkstatt ist die Besonderheit des Standpunkts der Kamera nicht deren Schiefstellung, sondern die Höhe. So etwa sähe ein Dackel oder ein Frosch den Monteur. Auch solche Bilder wirken immer subjektiv. Der Blick und die Hand schaffen einen Bezug zu uns. Zusätzlich werden Bilder aus »Dackelperspektive« oft aufgeräumter, da – zum Beispiel in der Straßenfotografie – im Vordergrund große, recht leere Flächen entstehen können. Die Bilder  bis  habe ich mit einigen Minuten Abstand in Gori, Stalins Geburtsstadt in Georgien, gemacht. Sie zeigen, wie Mobilität, also das »Erlaufen« von Bildgegenständen, an einem Ort visuell und inhaltlich völlig verschiedene Bilder hervorbringen kann. Es ging mir grundsätzlich um das sieben Meter

 Frank Dürrach

hohe Standbild des Diktators, das damals noch auf dem Rathausplatz stand. Bild  ist geradezu klassisch: Stalin ist groß, ich bin klein, sein Kopf strahlt als Sonne der Sowjetunion – oder verdunkelt dieselbe, je nach Ansicht. Bei  hatte ich vor, die Skulptur wie einen blassen Akzent zu behandeln, also konkurrierend zu der bunten Deko einer Spielothek und kleiner als die Passanten. Nur ergab sich hier unerwartet der Effekt, dass ein vorbeigehender Mann seinen eigenen Schatten an der Hand führt. Schließlich ist Bild  dank 105-mm-Tele ganz klar das inhaltlich stärkste. Stalin wird durch die Oberleitung aufgeknüpft, er wird von einer Kamera überwacht, sein Aufenthalt ist durch die Schilder verboten und er muss absteigen. So entsteht ein Bild mit einem Kommentar – typisch für eine Fotoreportage. Empfehlenswert ist also, Bildgegenstände aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln zu untersuchen. 301

Bildaufbau | Bildformate

Grundsätzlich kann man seine Bilder auf die unterschiedlichsten Seitenverhältnisse zuschneiden. Es gibt allerdings eine Reihe »klassischer« Formate, die Teil der fotografischen Kultur geworden sind. Arbeitet man in Serien, so wird man sich in den meisten Fällen auf ein Verhältnis festlegen und dann gegebenenfalls nur noch zwischen stehend und liegend wechseln.

302

Eine Besonderheit sind quadratische Zuschnitte. Quadratische Bilder sind abstrakter, stärker von unserer Seherfahrung abgelöst. Zudem vermittelt das Quadrat eine gewisse Strenge und es wirkt tendenziell edel. Es tritt eben als »bewusst hergestelltes Bild« auf und weniger als bloßes Abbild der Welt. In Reportagen verwendet man Quadrate oft, um wichtige Details aus vorangehenden Übersichtsbildern größer zu zeigen. Darüber hinaus gibt es noch eine ganz pragmatische Verwendung dieses Bildformats: Schneidet man störende, überflüssige Bildteile stehender oder liegender Formate ab, bleibt oft ein Quadrat übrig. Man kann also derart Bilder recht rabiat, aber wirkungsvoll aufräumen. Ich kenne Fotoserien, die sahen zunächst chaotisch und ungestaltet aus, bis die richtigen Quadrate herausgearbeitet wurden. Das Format gab es in analoger Zeit nativ bei den 6 x 6-Rollfilmkameras. 3:2 beziehungsweise 2:3 ist aufgrund der 24 x 36 mm des Kleinbildfilms das klassische Format der analogen Fotografie und aktuell folgen ihm auch digitale Vollformatkameras. Es wirkt »normal« und dabei ausgewogen und harmonisch und entspricht in etwa dem Gesichtsfeld des Menschen. Stehend (hochformatig) wird es vor allem bei Porträts verwendet, liegend (breitformatig) bei Landschaften; sonst ganz nach Bedarf.

Mittlerweile ist 4:3 (3:4) das Standardformat vieler Digitalkameras. Es ist kompakter und gedrungener als Kleinbildformat, eignet sich aber gerade durch diese Annäherung ans Quadrat gut für aufgeräumte Bilder. Man hat bei Verwendung als liegendes Format einfach weniger breite Szenen, die rechts und links störende Randakzente enthalten könnten. Recht neu ist das Format 16:9, welches man gewöhnlich durch Zuschneiden oder Kombinieren von Bildern mit anderen Formaten erhält. Es ist schon fast ein Panoramaformat und eignet sich demnach besonders für überblicksartige Bilder von Stadt und Land oder für großzügige Interieurs. Gewohnt sind wir es mittlerweile von Flachbildfernsehern und Monitoren, die dem Kino Konkurrenz machen möchten. Das Format 6:7 oder eben 7:6 kommt tief aus der analogen Zeit, als man im Mittelformat 6 x 7 cm-Rollfilm verwendet hat. Es wirkt etwas aus der Zeit gefallen, aber durchaus kunstfertig und edel.

 Pia Berger-Bügel  Frank Dürrach

Text

 Marvin Hüttermann  Frank Dürrach

 Klaus Dyba

 Snezhana von Büdingen

 Dennis Wilhelms  Arnd Cremer

303

Bildaufbau | Regeln des Bildzuschnitts I

Der Zuschnitt von Bildern kann diese stark verbessern, vor allem wenn ablenkende oder überflüssige Bildteile dabei entfernt werden.

304

Genau genommen ist schon das Fotografieren selbst eine Art »Zuschnitt«: Man stanzt sich ein Stück Bild aus der Welt heraus. Die Entscheidung, ob das Bild stehen oder liegen soll, sollte meist passend zum Bildinhalt getroffen werden. In Bild  ist die stehende Variante stärker, denn der Abgrund wirkt tiefer. Geht ein Bild eher in die Raumtiefe, ist Hochformat  meist die erste Wahl; Querformat  schafft die Bühne für breite Szenen. In  habe ich die das Bild schwächenden Flächen abgeschnitten, sie schafften Distanz und lassen die Figuren zu klein erscheinen. In der dritten Variante habe ich per Bildbearbeitung ablenkende Figuren verschwinden lassen. Am konzentriertesten wirkt das Hochformat: Plötzlich scheint die Frau das Kind dem Soldaten zeigen zu wollen. Die Fotografin zu entfernen, schadet hier also nicht, sondern macht die Geschichte interessanter. Bei Bild  braucht man die Wiederholung der Farben rechts nicht. Das Quadrat wirkt konzentrierter und der Text im rechten unteren Eck verschwindet. Auch in Nummer  wurden ablenkende Randakzente entfernt. Links am Rand habe ich zusätzlich ein kleines Stück Tasche entfernt, das geblieben war. Meine Geschichte heißt nun: Der Mann schlägt sein Rad und der Rivale gibt auf. Das Bild  lebt von den Girlanden des türkisfarbenen Rauchs, also sollten diese auch die Stars des Bildes sein. Der Hintergrund und der Zylinder lenkten ab.  Um den störenden Rand links entfernen zu können, habe ich das Bild etwas verzerrt. Das blaue Dreieck korrespondiert mit den Fliesen und eine leichte Vignettierung rundet das Bild ab.

 Frank Dürrach (Querformat)

 Frank Dürrach (Original)

 Frank Dürrach (Original)

 Monika Luśnia (Original)

 (Hochformat)

 Cord Richert (Raumtiefe)

 Zuzana Gajdosikova (natürliche, breite Szenerie) Text

 (Zuschnitt Querformat zur Vergrößerung der Szene / mit Retusche / Zuschnitt Hochformat)

 (Zuschnitt Quadrat: Konzentration)

 Frank Dürrach (Original / Zuschnitt und minimale Retusche zur Beseitigung störender Randakzente)

 (Schnitt: Konzentration auf den Kern)  Frank Dürrach (Original / Schnitt und Bearbeitung: Beseitigung störender Ränder)

305

Bildaufbau | Regeln des Bildzuschnitts II

Auch das Beheben leichter Schiefstellungen oder die Neupositionierung des Hauptakzents sind Gründe, zur (digitalen) Schere zu greifen. Ebenso das Verändern des Bildformats.

306

Wie verschiedentlich erwähnt, machen Wiederholungen (und Kontraste) Bilder in ihrer Aussage klarer und damit meist stärker. Daher musste in Bild  die Dame links weichen, denn die beiden Mädchen sind der stärkere Bildinhalt. Beide sitzen extrem relaxt, sind bepackt und starren auf ihre Handys. Nur sollte man beim Schneiden aufpassen, dass nicht irritierende oder informative Randbereiche entstehen (wie in Variante zwei). Lieber die Köpfe über den Rand hinausgehen lassen – wie so ein Kopf weitergeht, wissen wir ohnehin. In  wurde die Dame zunächst aus der Mitte gerückt, denn mittige Akzente oder Figuren sind eher statisch – und sie bewegt sich ja. Man kann das Bild auch als Hochformat auffassen, verliert dadurch nichts Wesentliches und der Anteil der Dame am Bild steigt von geschätzt 20 auf 50 Prozent. Das ist gewöhnlich gut und macht Bilder stärker, nach der alten Regel Robert Capas: »Sind deine Bilder nicht gut genug, warst du nicht nah genug dran.« Das gilt natürlich nicht, wenn man Leerflächen als Gegengewicht für kleinteilige Bereiche oder als Kennzeichen für Inhalte wie »Leere«, »Einsamkeit«, »Raum«, »Freiheit« braucht. Zusätzlich habe ich festgestellt, dass leere Flächen links und rechts neben Objekten oft unelegant und langweilig wirken. Bild  mit der Bank zeigt das ebenfalls. Die Bank wird nach dem Zuschnitt anteilig größer, das Zusammenspiel zwischen Bank und Aussicht, Menschenleere und Nebel wird deutlicher. Auch Bild  zeigt, wie die Präsenz der wichtigen Bildelemente nach dem

Schnitt (wenn nicht bereits beim Fotografieren) stärker wird. Zusätzlich sollte hier noch das Bild gerade gestellt werden, denn schiefe Wasserflächen wirken oft irritierend. Die zweite Variante wurde durch einen Filter in der Nachbearbeitung auf retro getrimmt. In Bild  schließlich geht es um eine inhaltliche Entscheidung. Schnitt eins zeigt die Burg oben im Hochformat thronend (diese Wirkung wird hier durch die kleine Abbildung etwas geschwächt) und entfernt die Baustellenelemente. Schnitt zwei betont gerade diese Elemente und zeigt das Gerüst und die rotweißen Kräne deutlicher. So »manipulieren« Beschnitte in der Reportage häufig im Nachhinein Bildaussagen. Tatsächlich habe ich an der Burg Himeji später ein weiteres Bild gemacht, das die Aussage »Baustelle« noch etwas besser als der Schnitt auf den Punkt (oder in die Aussparung) bringt. Die Regeln des Bildzuschnitts :

• Leere Flächen, die nichts zur Bildwirkung beitragen, abschneiden, denn sie schwächen das Bild, weil sie den Anteil der wichtigeren Bild­ elemente verringern. • Ablenkende Randakzente wegschneiden. Gleiches gilt für Bildinhalte, die mit der Hauptgeschichte konkurrieren, statt diese inhaltlich zu unterstützen. • Leicht schiefe Bilder gegebenenfalls gerade (oder deutlicher schief) stellen; sie wirken sonst oft irritierend und ungekonnt. • Positionierung des Hauptakzents ändern: klar aus der Mitte oder in die Mitte. Möchte man irritieren, dann leicht außermittig oder nah am Rand platzieren. • Änderungen des Bildformats nach Bedarf vornehmen.

 Frank Dürrach (Original / mit störenden Randakzenten / bessere Version)

Text

 Frank Dürrach (Original / Neupositionierung / Hochformat)

 Frank Dürrach (Original / Konzentration auf die Burg / Betonung der Bauarbeiten / ...)

 (... als Schablonierung)

 Frank Dürrach (Original – mittig / außermittig)

 Frank Dürrach (Original / gerade gestellt und beschnitten / bearbeitet)

307

Zusammenfassung

Objektive, Komposition, Schärfe und Zuschnitt Weitwinkel- und Teleobjektive Kurze Brennweiten (unter 50 mm) ergeben weite Szenen, schaffen große Tiefenschärfe und betonen die Raumtiefe in Bildern durch große Darstellung der Vordergründe und Verkleinerung der Hintergründe. Lange Brennweiten (größer als 50 mm) bewirken engere Bildausschnitte (»holen Gegenstände heran«), schaffen geringere Tiefenschärfe und erzeugen flach aussehende Szenerien durch geringe Größenabnahme in der Tiefe. Für natürlich aussehende Porträts werden oft Brennweiten um 80 mm verwendet. Unschärfe Mit Schärfe und Unschärfe zu arbeiten, ist ein wichtiges Stilmittel der Fotografie. Letztere rührt zum Beispiel von Verwacklungen (Bewegungsunschärfe) her oder entsteht, wenn Bildgegenstände außerhalb des Fokus liegen (Tiefenunschärfe); sie kann auch beim Fotografieren durch Milchglas, Stoffbahnen und ähnliche Medien entstehen. Unschärfe ist oft ästhetisch reizvoll und ermöglicht das Abschwächen oder Ausblenden überflüssiger Bildinformation. 308

Vordergrund und Hintergrund Bildkompositionen aus zwei oder mehr Bildebenen betonen die Räumlichkeit einer Szene. Vordergründe beziehen meist den Standort der/des Fotografierenden mit ein und machen Bilder so subjektiver. Formen und Silhouetten ... spielen eine große Rolle bei der guten Erkennbarkeit von Bildgegenständen. Bestimmte Ansichten sind dazu besser geeignet als andere. Die Beschaffenheit von Silhouetten kann Bildaussagen unterstützen. Bereiche hoher Informationsdichte sollten nicht durch ablenkende Überschneidungen gestört werden. Zuschnitt von Bildern Der Schnitt von Bildern wird vor allem ausgeführt, um störende Randakzente und zu große Leerflächen zu beseitigen. Beide schwächen die Hauptakzente – die einen durch Ablenkung, die anderen durch Verkleinerung. Zudem schneidet man, um Akzente neu zu positionieren, um Bildformate zu ändern und Bilder geradezustellen oder diese endgültig richtig schief werden zu lassen.

 Annika Rabenschlag

Text

309

7 Sünden, 7 Tipps Auf den vorangegangenen Seiten habe ich versucht, die Bildgestaltungslehre möglichst umfassend und klar darzustellen. Dabei sollten die acht vorgestellten Bildmodelle (Einakzenter, Zweiakzenter, Strukturbild, Bühne, Schablonierung, Bild im Bild, Vielschichtigkeit und Blasser Akzent) schon die praktische Anwendung der vorgestellten Theorie erleichtern. Der Sprung vom Verstehen der Gestaltungsprinzipien zur konkreten Umsetzung beim Fotografieren ist aber oft nicht so einfach, weil in einer Fotografie häufig viele dieser Prinzipen gleichzeitig am Werk sind. Deshalb folgt hier ein bebilderter Anhang, der die wichtigsten Praxistipps noch einmal versammelt. Ich starte mit einer Sammlung häufig anzutreffender, ziemlich toxischer Bildfehler, die man aber gut in den Griff bekommen kann – wenn man den Feind kennt. Alle Negativbeispiele sind mit roter Ziffer (), rotem Pfeil () und mit rotem Text gekennzeichnet. Ich habe dazu mein eigenes Archiv ausgewertet, weil es ja nicht sehr nett wäre, anderer Menschen Bilder hier als mustergültig mangelhaft zu präsentieren. Dabei konnte ich oft auf mehrere Bilder zugreifen, die kurz hintereinander entstanden sind. Das ist vor allem dahingehend interessant, wenn in einem Bild etwas schlecht, 310

in einem anderen etwas besser gelaufen ist. Nach den Negativbeispielen folgen dann positive Praxistipps. Diese erheben nicht den Anspruch, originell zu sein; zu manchen existieren sogar bekannte Merksätze im Jargon der Fotografinnen und Fotografen. Mir kam es vor allem darauf an, die wirkungsvollsten Maßnahmen aufzulisten. Die Schwerpunkte liegen dabei in der Bildgestaltung, ich streife aber auch die Licht­ setzung, die Fototechnik und – intensiver als zuvor – die Bildbearbeitung. Den Schluss bildet ein Ausblick auf künftige Entwicklungen in der Fotografie. Ich habe bei der Zusammenstellung der Galerieseiten den ästhetischen Gesamteindruck leider etwas vernachlässigen müssen. Es versammelt sich dort sehr heterogenes Material und die schwächeren Bilder schaden ebenfalls. Das wichtigste Kriterium bei der Auswahl war aber nicht, ob eine schöne Bilderseite zustande kommt, sondern ob meine Ausführungen gut bebildert werden.  Das Chaos in dem Bild rechts ist durchdacht und gut arrangiert. Ich lese es als eine Reflexion über die Mittel der Inszenierung und der Selbstinszenierung. Aber dieses Fotokunstwerk lässt viele Deutungen und Assoziationen mit Fotoklassikern zu.

 Michael Kammlander

Wir starten mit den den »Top 7« der Fotofehler, die man immer wieder sieht und selbst macht. Deren Gemeinsamkeit besteht neben ihrer Häufigkeit darin, dass sie die Ästhetik fotografischer Bilder stark schädigen. Umgekehrt macht man gestalterisch sofort große Schritte nach vorn, wenn man diese Fehler abstellt – was gar nicht so schwer ist. Interessant ist: Je sicherer man im Umgang mit den Regeln der Bildgestaltung wird, desto mehr Spaß macht es, diese zu brechen, zu modifizieren oder gar umzukehren.

Bildfehler | Mangelnde Kontrolle der Akzente



312

Die größten Gestaltungsprobleme ergeben sich aus der mangelnden Kontrolle der informativen Bildstellen (Akzente). Der Fototeufel tritt in unterschiedlichen Gestalten auf: unruhige Bildränder, zu viele Akzente, ablenkende Nebenhandlungen, kein Herausarbeiten der bildwichtigen Akzente und zu wenig Einsatz gegen unwichtige, störende Akzente. In Bild  lässt sich dies recht mustergültig betrachten. Ich habe es bei einer Parade in New York gemacht, als ich die ausgelassene Stimmung und – vor allem – das schöne rot-orangefarbene Leuchten der riesigen Fahne einfangen wollte. Eigentlich ist das Bild klar aufgebaut: Es gibt oben einen Streifen mit Zuschauenden, das rote Band, davor die dunkle Protagonistin sowie vorne und links einen Vordergrund unscharfer Fotografierender. Unruhig ist aber der rechte Bildrand; der Mann trägt ein Shirt mit Text und er ist recht brutal angeschnitten. Der Arm mit dem Handy unterbricht leider die große rote Fläche, die alle Bildteile verbindet und für Beruhigung sorgt. Ich habe den rechten Rand daher beschnitten . Das kann man in einem Dokumentarbild problemlos machen. Was in einer Reportage

nicht ginge, ist, dass ich die komplette Dame mit dem Handy herausretuschiert habe. Noch schlimmer: Ich habe – um zu sehen, ob das besser ist (ja!) – auch den Mann über dem Kopf meiner Hauptperson verschwinden lassen. Manchmal ist es sinnvoll, etwas auf mehrere Bilder aufzuteilen. In Bild  ist die Raumwirkung ganz gut erkennbar, aber die interessanten Elemente sind zu klein, was beim Betrachten emotionale Distanz bewirkt. In Bild  habe ich mich ganz auf die beeindruckende schwebende Skulptur und auf das Licht konzen­ triert. Und auch der Taufraum  fasziniert durch Lichtspiel, Farben und Materialien. Ich habe das Entrückte durch eine etwas braunstichige Retro-Färbung betont. Dass es eine Ober- und eine Unterwelt gibt, kann ein Bildinhalt sein, aber in  ist nur ein Durcheinander von Personen, Flächen, Linien, Texten und Farben zu sehen. In Bild  habe ich mich konzentriert und den Vordergrund in der Bearbeitung durch Abdunkeln und eine leichte Brauntonung beruhigt. So eine Tonung (gern mit Braun oder Blau) bringt alle Farben näher zusammen und reduziert daher die Farbakzente. Das Bild  ist im Grunde abstrakt gemeint; mir gefielen einfach die ganzen roten Flächen. Aber die Texte am Rand stören sehr, ebenso das schiefe Rohr am rechten Bildrand, das einen unruhigen Keil erzeugt. Ich habe also die Geome­ trie etwas korrigiert, neu geschnitten, minimal retuschiert und dem Rot ein bisschen Minzgrün entgegengestellt . Aber: Nicht immer sind Reduktion und Minimalismus der beste Weg. Ohne den Vergleich mit dem Mietshaus wird der riesige Wandtext um sein agressives, anarchistisches Potenzial gebracht . Zur Steigerung habe ich in Bild ⑪ die Farben noch etwas schriller gemacht und den Himmel kontrastreich dramatisiert.

 alle Bilder der folgenden Seiten: Frank Dürrach

 störende Randakzente

 klarere Aufteilung der Bildräume, Ruhefläche

Text

 viele, zu kleine interessante Bildstellen

 Aufteilung auf mehrere Bilder ...

 übervolles, unruhiges Bild

 Konzentration und Bearbeitung

 ruhige Ränder, Farbregie

 Bild ohne Kontext ...

 ... und Konzentration auf einen Aspekt

 unruhige Ränder, leicht schiefe Linien

⑪ ... und mit Kontext

Hier ein bisschen Beschäftigung mit dem Gestaltungsproblem Nummer zwei. Ich habe dazu im vorangegangenen Kapitel schon einiges geschrieben (siehe die Bilder der Superhelden-Püppchen und der chinesischen Pferdeskulptur).



Bildfehler | Überlappungen und unklare Formen

Figuren und andere Bildgegenstände sind im Bild nicht klar erkennbar, sondern überlappen sich. Abhilfe können unter anderem schaffen: Achtsamkeit und Abwarten, aktives Komponieren, der Einsatz von Weitwinkel und Tele, Blitzen und Lichtsetzung oder Nachbearbeiten.

314

Schafft man es bei der inszenierenden Fotografie, also bei einem Modeshooting oder einem Stillleben im Studio nicht, für klare Formen sorgen, dann ist man meist selbst schuld. Anders in der reagierenden Fotografie: Bei Genres wie Street oder Reportage sind Geduld und Glück ebenso wichtige Faktoren wie Erfahrung, Reaktionsschnelle und Voraussicht. An dieser  New Yorker Szenerie mochte ich den bühnenartigen Raum, den die Baulücke erzeugt, die dinosaurierhaften Maschinen und die fast quadratischen Flächen, die der Zaun erzeugt. Zunächst »gelangen« mir aber nur Bilder mit klumpig ineinanderhängenden Passanten und Passantinnen. Nach fünf Minuten ergab sich dann eine Konstellation wie erhofft, nämlich eine Person pro Feld . Ich habe bei der Bildbearbeitung auch hier die Farben des Hintergrundes leicht mit Braun kontaminiert, damit alles homogener wird. Bild  ist geradezu ein Klassiker der Street Photography. Der junge Mann ist sehr bildwürdig, weil Gesichtsausdruck und der Style von Shirt und Haaren gut zusammenspielen. Leider reichte die Zeit nicht, um durch Standortänderung ein

besseres Bild zu machen. Die Unschärfe genügt zur Lösung von den beiden (halben) Gesichtern im Hintergrund nicht und Licht hat der Junge auch keines. Da hilft nur: ab ins Archiv oder löschen. Gut geklappt hat es aber hier . Die gestylte junge Lady beherrscht das Bild. Die Schärfe liegt nicht ganz genau auf dem rechten Auge (sondern auf der Schulter), das Licht ist unkonventionell, unterstützt aber den melancholischen Eindruck. Manchmal stören Überlappungen von Bildgegenständen wiederum nicht, sondern verdichten das Bild. Mit einem halben Hund und stark angeschnitten Figuren – Frau und Äffchen – funktioniert das Bild  nicht. In  verdichtet sich aber der ängstliche Blick des Affenjungen mit dem angespannten Ausdruck der Frau; beide klammern. Auch dieses Foto ist nicht ganz scharf geworden, aber es bleibt für mich persönlich sehr wichtig. Ich sehe es als typisch für die japanische Gesellschaft und es hat mir das Thema für eine längere Fotoserie klargemacht. In  und  hatte ich genug Zeit abzuwarten (und mehrmals zu fotografieren), bis die Konstellation von Gorilla und Menschen halbwegs interessant wurde. Im Vergleich zu  oder  aber sicher ein weniger starkes Bild. Die kleine Bilderstrecke von  bis ⑪ zeigt den typischen Zuschnitt und die Nachbearbeitung eines Fotos. Ich mochte das hübsche Paar mit dem Baby, aber das ursprüngliche Bild ist voll von ablenkenden Szenen und Farben. Ich habe daher zunächst neu geschnitten – eigentlich ist das Motiv ein Hochformat. Dann habe ich den Hintergrund etwas abgedunkelt, das Blau entsättigt und ein paar kleine Details retuschiert. Nur um anschließend noch radikaler zu schneiden. Mit tut es zwar um die gelben Ballons und die Information »NY« etwas leid, aber letzteres geht schon aus der Serie hervor.

 zu klumpige Figurenkonstellation

 passt weitaus besser

Text

 störende Personen im Hintergrund, kein Licht

 gut freigestellte Person

 verdichtete Komposition passend zum Inhalt

 ungünstige Figurenkonstellation

 ursprüngliches Bild mit vielen ablenkenden Details

 Komposition zerfällt, randständige Elemente

 besser

 Schnitt und Retusche

⑪ letzter Zuschnitt

315

Nun zu Platz drei der gängigsten Bildzerstörer, nämlich der Schattenseite des Bildmodells »die Bühne«.



Bildfehler | Schwächen bühnenhafter Bilder

Die Bildgegenstände sind zu klein, alles spielt auf einer Bühne, aber das Stück lässt kalt. Man sitzt viel zu weit weg und hat sein Opernglas vergessen. Alles wird statisch, registierend, zum Klischee, wie zur »Versicherungsfotografie«.

316

Bild  habe ich in Israel fotografiert und konnte dabei leider nicht näher herangehen, da die Zeit fehlte und ein Zaun mich abhielt. Ich konnte aber durch Veränderung meines Standpunktes nach links noch dafür sorgen, dass eine vierte Person und ihr sehr schädlich gemustertes T-Shirt weitgehend hinter dem rechten Ordensmann verschwand. Reines Glück waren die zur himmelfahrenden Maria passende Geste des Mannes links und die Tatsache, dass der linke Mönch wenigstens noch etwas Licht einfängt. In der Nachbearbeitung für dieses Buch habe ich dann einiges gemacht, was in der Dokumentarfotografie gewöhnlich gestattet ist, und einiges darüber Hinausgehende . Allgemein gelten als tolerabel: der Schnitt ins Hochformat, die leichte Entsättigung des Mauerwerks, die Erhöhung der Farbsättigung des Gemäldes, die Abdunkelung der Bildränder (»Vignette«) und der Texttafel links sowie die Aufhellung des zentralen Bereichs. Dass der blau gestreife T-Shirt-Rest den Retuschepinseln von Photoshop zum Opfer fiel, wäre durch die Hausregeln der meisten Reportagepublikationen aber nicht mehr gedeckt. Ebenso der verschwundene Text links. Das Schild »Please no Explanations Inside the Church« fand ich so erheiternd, dass ich daraus ein extra Bild gemacht habe.

Offenbar war der erste Anblick der riesigen Skulptur von Kamakura einfach zu überwältigend, um nicht reflexartig ein schwaches Bild zu machen . Ein bisschen bildwürdig ist allerdings, dass Buddha durch den Bauzaun wie in einer Schachtel sitzt. An Bild  mag ich den leichten Grünstich und dass hier Welten aufeinandertreffen (lebendig – tot, klein – groß, spirituell – pragmatisch, Mann – Frau, monochrom – bunt, Gesicht – Rücken und so weiter). In Bild  ist das Bühnenhafte von  im Wesentlichen erhalten geblieben, ich habe nur die stürzenden Linien leicht begradigt, ein paar Details wegretuschiert, geschnitten und braun-blau eingefärbt, um das Heruntergekommene durch den Bildlook zu betonen. Automobile machen fast jedes Bild kaputt (außer beim Autoshooting), daher habe ich für dieses Buch mit viel Mühe die Mauer links erhöht und die Karren dadurch versteckt. Beim »Pingpong um halb zehn« ( und ) mindert der Schnitt die Distanz und macht die Figuren etwas größer. Ich hatte mehrere liegende Varianten gemacht, bis mir klar wurde, dass der hohe, dunkle Hinterhof bildwichtiger ist, als das grüne Graffiti in seiner Breite zu zeigen. In dem Bild  der Berliner Museums­ insel ist die Bildidee klarer herausgearbeitet als im Original . Ich habe bei der Entwicklung der RAW-Datei zugeschnitten, die Farben entsättigt und die Strukturen (Regler »Klarheit« oder »Detailex­ trahierung«) betont. Entscheidend waren aber die Retusche und die Aufhellung des Fensters, das eine belebte »Unterwelt« unter dem Sonnendeck zeigt. Das Nürnberger Zukunftsmuseum ermöglicht die sonderbarsten Fotos. Im Überblick ⑪ versteckt sich aber der Bildwitz in Details. Nach Schnitt und Retusche sieht man nun das müde Ehepaar Atlas, das den Globus abgelegt hat ⑫.

 zu klein, schlechte Helligkeits- und Farbverteilung

 verbesserte Version

 zu distanziert

Text

 näher und erzählerisch

 Ausgangsbild ...

 zu weit weg

 Schnitt und Bearbeitung nach Bildaussage

 ... Schnitt und Bearbeitung

 besser, mit erhaltenem Kontext

⑪ das eigentlich Interessante geht unter ...

 zu distanziert, keine Konzentration auf den Bildinhalt

⑫ ... und ist hier herausgearbeitet

317



Bildfehler | Zu gleichförmige Bildkomposition

Auch in der Bildgestaltung erzeugt Gleich­ förmigkeit auf Dauer Langeweile. »Immer alles in die Mitte« ist ein leider oft gesehenes Kompositionsprinzip vieler Fotobücher und Ausstellungen. Ebenso die zu ­s eltene Verwendung von Tele und Wei­t winkel im Dienst der Bildgestaltung.

318

Ich kann sagen, dass ich beruflich sehr viele Fotoserien sehe, denen ein einziges Schema zugrunde liegt: der Einakzenter in der Mitte. Dahinter steht ein gedankliches Konzept, das die eigenen fotografischen Ausdrucksmittel drastisch einschränkt: Man versteht sich als jemand, der »Dinge dokumentiert«. Besser wäre, die Welt der Bildgegenstände zu nutzen, um ein Bild daraus zu machen. In  habe ich das in Würzburg genau so gemacht. Daher sieht alles unelegant aus und der Raum links ist verschenkt. Er wird nicht gebraucht, um ein übervolles Bild zu beruhigen (wie der rote Stoff bei dem Paradenfoto), sondern nur hingenommen. Beim Zuschnitt  entsteht links von der Figur eine weit interessantere Restform, deren Bogen Dynamik und Spannung ausdrückt – genau wie der Bildhauer das in seiner Skulptur angelegt hat. In der fallenden Bilddiagonale treffen sich jetzt der Kopf und die Festung Marienberg, eine gegenläufige Diagonale wird durch das Schwert gezeichnet. Mein Weitwinkel verzerrt die Burg, aber das passt bestens zum Drama – ebenso wie das Wetter und der Faltenwurf. In der Bearbeitung habe ich daher beides betont. Bild  zeigt ein sinnvoll mittiges Bild. Mir ging es darum, die Perfektion dieses römischen Mussolini-Bauwerks in Beziehung zu dem rissigen Parkplatz zu setzen. Der Vordergrund ist öde und hat wenig Licht, die Linie führt aber direkt auf das in der Abendsonne strahlende, gerade

frisch renovierte Gebäude zu – sofern man nicht vorher die Weiche nach links nimmt. Die fallenden Linien habe ich nicht vollständig korrigiert. Tut man das und laufen diese dann parallel zu den vertikalen Bildkanten, wirkt solch ein Gebäude oft, als liefe es oben auseinander. Im nächsten Bild  wollte ich ebenfalls den Kontrast der einzigartigen Architektur zu der seinerzeit etwas heruntergekommenen Umgebung betonen. Aber durch die Absperrung war kein Winkel zu finden, in dem die Skulptur weniger am Haus »klebt«. Durchaus gelungen finde ich Versuch , der ganz auf Farbe, Licht und Kontraste setzt. Auch in Bild  ist die rechte Fläche eher verschenkt, was dazu führt, dass man das Bild oben etwas und rechts stärker schneiden könnte; der Anteil der Gegenstände würde dann größer. Ich habe mich aber dafür entschieden, oben sehr viel Raum zu lassen, was eine gewisse Verlorenheit erzeugt . In Abbildung  ist alles ziemlich schief und die Bildgegenstände (Körper und Schatten) gehen in alle Richtungen auseinander. Das schafft Bewegung trotz der dunklen Ruhe, also Spannung. In  führt mein Kamerastandpunkt mit dem Weitwinkel zu einer Art »Aufklappen« des Bildes nach unten. Man sieht die Pflanzen unten in der Draufsicht, während man oben gerade aus dem Fenster schaut. So interessant ist Fotografie. Diese Museumsinstallation wirkte sehr schräg und seltsam; warum das dann mit einer Komposition einfangen , in der der Besucher mittig, also ordentlich und statisch steht? Besser ein Fenster in eine fremde Welt zeigen, so wie in ⑪. Oft sind mittige, zeigende Übersichtsbilder in einer Serie sinnvoll. Hier aber ⑫ waren die Bauarbeiten noch im Gange und ich bin dem Durcheinander durch einen harten Anschnitt entgangen ⑬.

 mittige, etwas unelegante Komposition

 bessere Restformen, Diagonalkomposition

 sinnvolle Mittenplatzierung

Text

 »netter Versuch«

 Spannung durch Leerraum

 komplexere Komposition

 falsche Formatentscheidung, funktionsloser Leerraum rechts

 dynamische Komposition

⑪ Gestaltung betont das Seltsame der Installation

⑫ registrierend

 »aufgeklappter« Vordergrund

 Komposition widerspricht Inhalt

⑬ Gestaltung zum Entdecken319



Bildfehler | Kein starkes Licht

In vielen Bildern fehlt Licht. Dabei trägt dieses maßgeblich zur Bildwirkung bei. Diffus beleuchtete Szenen, die ohne ein Minimum an Hell-Dunkel-Drama auskommen, machen es schwer, gute Bilder aus ihnen zu gewinnen.

320

Zum Thema Licht (Lichtarten, Lichtsetzung und -nutzung, Lichtwirkung) gibt es umfangreiche Lehrbücher – wie zum Beispiel das Standardwerk meines Kollegen Oliver Rausch. Diese Doppelseite soll damit nicht konkurrieren; sie versteht sich mehr als Erinnerung, beim Fotografieren und beim Bilderaussuchen immer auf das in ihnen abgebildete Licht zu achten. Zum Start hier eine kurze Beschreibung grundlegender Lichtfunktionen. Licht macht Plastizität, das kann man an dem Ausschnitt dieser in Bochum ausgestellten Skulptur sehr gut sehen . Die Glanzlichter und die Verläufe hin zum Dunklen definieren die Körperlichkeit der Formen – und das in einem eigentlich zweidimensionalen Foto. Sodann ist eine wichtige Funktion die Strukturwiedergabe. Das Licht in Bild  kommt steil von oben und aus einer kleinen Lichtquelle, man sieht es an dem scharf abgegrenzten Nasenschatten. So werfen zum Beispiel die vielen Körnchen an den abgeblätterten Stellen kleine Schatten und zeigen die Rauheit der Oberfläche. Sodann lenkt Licht die Aufmerksamkeit auf bestimmte Bildstellen, meist sind es die hellen. In Bild  ist die offene Hand mit dem Emblem hervorgehoben – und der Schritt der Figur. Ich will einmal annehmen, dass Letzteres geschah, um auf dessen – im Vergleich zum Oberkörper – feinere Ausarbeitung hinzuweisen. Gleichzeitig zeigt das Bild, dass Farben und Muster im Licht besser erkennbar sind als im Schatten. Licht hebt also man-

ches hervor, Dunkelheit lässt es zurücktreten; die sich ergebenden Kontraste erzeugen Räumlichkeit und Spannung (Bilder  und ). Licht ist für die meisten Lebewesen überlebensnotwendig und daher mit Emotionen verknüpft. Entsprechend funktionieren manche Bilder mit fast nichts außer Licht. In  kommen noch die giftige Farbe und der dramatische Schattenwurf des Ficus hinzu. Einer meiner Nachbarn mag es wohl bunt und monochrom (er wechselt ab und an zu Rot, Blau oder Magenta). In Bild  hat das mit dem Licht überhaupt nicht geklappt. Es wird nicht die Prinzessin in Rosa hervorgehoben, sondern ihr Kammermädchen, links in Lachs. Eigentlich gilt: »Hast du die Sonne im Rücken, sollst du nie aufs Knöpfchen drücken«, denn Licht aus Richtung der Kamera macht Formen (auch Köpfe) platt statt plastisch. Hier  aber ist inte­ ressant, dass der Mann, der still beobachtet, selbst wie auf einer Kleinkunstbühne im Spot steht. Das ganze Bild stahlt eine schöne Wärme aus und der Hintergrund wurde durch die helle Bildmitte so kurz belichtet, dass er schwarz erscheint und nicht weiter ablenkt. Hier  wird der Schutz vor dem Licht durch die Hand selbst zum Thema und wiederum ist der Hintergrund schön abgedunkelt, weil zu kurz belichtet. Aber »Licht auf der langen Seite« (hier ist es der längere Teil rechts der Nase) ist meist ebenfalls nicht gut für die Plastizität. In Bild  hatte ich Glück. Der Hintergrund ist ruhig, die Brauntöne sehr schön und das Seitenlicht der tief stehenden Sonne macht Stimmung. Das Gegenlicht in ⑪ kommt aus einer früh eingeschalteten Laterne und bestimmt mit seiner Farbe und den Strahlen das komplette Bild. In Bild ⑫ schließlich sorgt die Sonne für strahlende (komplementäre) Farben und starke Hell-Dunkel-Kontraste.

 Plastizität

 Strukturwiedergabe

 Licht und Schatten

Text

 Hervorhebung, Drama, Raum, Stimmung

 Drama, Raum, Stimmung, Kontraste

 Licht als Thema

 Pech mit Licht

 unkonventionelles Licht

 unkonventionelles Licht

 ein bisschen Seitenlicht

⑪ Gegenlicht

⑫ Licht und Farbe

321



Bildfehler | Falsche Helligkeit und Farbsättigung

Ganz eng mit dem Licht in Beziehung stehen die Verteilung heller und dunkler Bildstellen sowie die Sättigung bunter Bildbereiche. Hier sollte man sich immer fragen: »Wo sind meine hellsten Bildbereiche und wo die farbkräftigsten?« Dies sollten dann auch die bildwichtigen, erzählerischen Stellen sein. Andernfalls läuft (wie in vielen Bildern) etwas falsch, sofern man nicht gerade eine unkonventionelle Bildstrategie verfolgt.

322

Gestalterische Betonungsfehler wirken, als würde man in einem Gespräch die wichtigsten Informationen vernuscheln und das völlig Nebensächliche laut und besonders nachdrücklich aussprechen. Gewiss, das wird praktiziert und so ein Vorgehen kann sinnvoll sein, aber sicher nur in wenigen, speziellen Situationen. Angesichts der farbenfrohen Rabatt­ hinweise wollte ich hier  sofort zugreifen, es war aber schon geschlossen. Manchen Reportagebildern tun fahle Blau- und Gelbstiche gut, aber hier wollte ich, dass sich die Farben fröhlich vom Weiß absetzen und das Nichts anpreisen. Ich habe daher die Keile links und die Flächen rechts abgeschnitten und viel nachbearbeitet . Dabei beseitigte ich die blauen und gelben Farbstiche, ohne alles völlig schwarzweiß zu machen. Dann habe ich aufgehellt und abgedunkelt, damit die Kreise deutlich hervortreten. Damit kein Missverständnis aufkommt: Ich werbe hier nicht für Photoshop oder für Bildbearbeitung bis zur Künstlichkeit; ich habe für dieses Buchkapitel Vergleichsbilder gesucht, die die Unterschiede herausarbeiten. In Bild  ging es umgekehrt: Das grüne Boot stammt aus einem anderen Foto, das (etwas bessere) Bild  ist das Original. Das von mir hinzugefügte Boot

ist nicht sehr störend, die Farbe kommt im Wald ohnehin vor, und man kann es auch als den »Boss« verstehen (so war es auch). Aber ich finde die Trias von RotGelb, Grün und Blau so einfach klarer; deren Verteilung und die Leuchtkraft der Boote geben dem Bild das Besondere. In jeder Beziehung dramatischer geht es den Seefahrern auf dem Rotterdamer Wandbild . Hier sind der langweilige Vordergrund und die Blende oben am Bild heller als das Bild. Der Blick wandert auch nach rechts, auf das helle Grün vor den Häusern, wo er doch – wie in Bild  – bei der stillen Katastrophe verweilen soll. Recht radikal bin ich in der Szene vorgegangen, die ich aus einem Auto in Georgien geschossen habe . So hartes Korn, deutliche Vignetten und Flächen bis zum reinen Schwarz findet man vor allem in der japanischen und der skandinavischen Dokumentarfotografie, die inhaltlich und gestalterisch sehr hart sind. In der brutalen und »unrealistischen« Schwarzweiß-Version ist die Idee, dass wir alle dem Standbild folgen, viel klarer. Wenn da nur nicht ein U-Turn käme ... Ja, Farbakzente können vom Bildgegenstand ablenken, aber ich mag das Bild  mit dem orangefarbenen Fähnchen trotzdem etwas lieber als . Das Bild wird dadurch zum Zweiakzenter und man stellt sich eher den Weg zum Berg vor (der ja auch gezeigt wird), als dass das Matterhorn einfach »da ist«. Die vielen bunten Gemälde in Bild ⑪ erinnerten mich an Abzeichen hochdekorierter Generäle. In dieser Wiedergabegröße lösen sich die schönen Kroatinnen, die Haustiere und Ansichten von Dubrovnik in ein buntes Strukturfeld auf. Der Bildwitz liegt in dem Kontrast zu den vielen Steinen, und in der Reaktion des scheinbar überforderten jungen Mannes, der seine Kappe festhält.

 ablenkende Ränder, Stiche und falsche Helligkeitsverteilung

 verbesserte Version

 mit grünem Boot ...

Text

 wie Bild  , deutlich schwächer ...

 unaufgeräumt, keine Hervorhebung der Bildidee

 Matterhorn solo

 ... als mit Korrekturen in Farbe, Helligkeit und Schnitt

 ... und ohne

 harte, aber funktionierende Umsetzung

 der Weg zum Berg mit lustigem Fähnchen

⑪ Farbe als Struktur

323



Bildfehler | Technikmängel

Den Schluss der sieben apokalyptischen Gestaltungsreiter bildet eine kleine Schau häufiger Technikfehler, die sich auf den Bildeindruck stark negativ auswirken.

324

Für mich persönlich am unangenehmsten und daher auf Platz eins ist der Gelbstich oder auch Warmstich von Bildern . Bei Kunstlichtaufnahmen legt er sich nicht selten wie uralter Firnis auf das ganze Bild. Man sieht diese Bilder überall, in Zeitschriften, auf bedeutenden Nachrichtenportalen, ebenso in Fotomappen und -büchern. Der Mensch hat im Kopf einen automatischen Weißabgleich, der Farbkonstanz bei unterschiedlichsten Lichttemperaturen herstellt, ich habe das im Kapitel über Farbe gezeigt. So erklärt es sich, dass viele Menschen, auch wenn sie beruflich mit Bildern zu tun haben, den Gilb einfach ausblenden. Für mich lässt er Bilder alt wirken und der Gelbstich schwächt dramatisch alle Farben (vor allem Grün und Blau). Manchmal möchte man das, dann rechnet man ein Braun hinein (siehe weiter oben), ansonsten bitte immer weg damit – bei der Entwicklung der Rohdaten oder bei der Nachbearbeitung ; es sei denn, diese leicht heimelig-vergangene Stimmung wird gebraucht. In Bild  ist die Warmtonung eher subtil und kommt von der römischen Straßenbeleuchtung. Dadurch wird der telefonierende Mann vom Hintergrund abgetrennt – wo doch der (kleine) Bildwitz darin liegt, dass von dem Telefonierenden der majestätische Bau (wegen der Gewöhnung) nicht beachtet wird. Bei dieser Gelegenheit: Es ist sinnvoll, sich bei Porträts die Hauttöne immer noch einmal anzusehen. Am besten auf einem kalibrierten Monitor – vor dem Ausdruck oder der Veröffentlichung. Sehr häufig werden auch hier die

seltsamsten Hautfarben einfach aus der Wahrnehmung ausgeblendet ⑮. Ich bin im Leben nicht so magentafarben. Ein klassischer Fehler beim Porträt ist, dass die Bildschärfe nicht auf den Augen liegt (der Normalfall), sondern man oder die Automatik knapp davor auf die Nase oder dahinter auf die Ohren fokussiert hat  – obwohl das Tier tot war. In Bild  liegt die Schärfe richtig; ich habe hier zusätzlich viele Stellen heller und die Augen etwas farbiger gemacht. Sehr gravierend ist das Problem, dass unfassbar viele Bilder flau, also mit Grauschleier verbreitet werden . Eine Tonwertkorrektur stellt hier einen großen Sprung zum guten Bild dar . Bunt ist zwar schön, aber oft werden Farben so übersättigt, dass der Tonwert­ umfang nicht mehr ausreicht, um Verläufe darzustellen. In Bild  ist das bei den unteren Halbkugeln deutlich zu sehen; der blaue Bereich »clippt« und hat keine Übergänge mehr, sondern »reißt scharf ab«. In  könnte es immer noch etwas clippen, aber ich habe die Farben homogenisiert und entsättigt. Im Zweifel hilft oft auch dunkler machen. In Bild ⑫ clippt der Himmel (weiß), was man auch häufig sieht. Hier sollte man die Warnungen in der Kameravorschau beachten und anders belichten. Oder den Himmel ersetzen, wenn man Zeit hat und es kann. Häufig zu sehen sind auch Ränder (hier oben an den Bäumen), die von übertriebener, also falsch eingestellter Bildschärfung an Hell-Dunkel-Kanten herrühren ⑪. Und schließlich gibt es das breite Feld der Belichtungsmängel. Hier stimmt meist das Zusammenspiel von ISO, Zeit und Blende nicht. Aktuelle Fotohandys mildern solche Probleme durch ihre Algorithmen übrigens besser als Kameras. In extrem kontrastreichen Situationen wie in ⑭ hilft es, eine Belichtungsreihe zu machen und ein HDR-Bild herzustellen.

 korrekter Weißabgleich

 Warmstich

 Gelbstich im Vordergrund

 korrigierte Version

Text

 unscharfe Augen, zu düster

 Farb-Clipping

⑫ stürzende Linien, Clipping

 Augen scharf, aufgehellt

 verbesserte Version

⑬ teilweise korrigierte Version

 kontrastarmes Bild

 nach Tonwertkorrektur

⑪ Scharfzeichnungsränder

⑭ schlechte Belichtung

⑮ Magentastich

325

Ab hier nun endlich die Positivliste, nach dem ganzen »Negativismus«. Manche Tipps sind ganz klar die Kehrseite der vorangegangenen Punkte und hängen eng damit zusammen. Stand zuvor eher die Vermeidung bestimmter Probleme im Zentrum, so geht es hier darum, was man aktiv tun kann, um seine Bildgestaltung nach vorne zu bringen. Der Unterschied findet beim Fotografieren oft zuerst Kopf statt, dann aber kommen sogleich die Beine und Arme.



Praxistipps | Bildraum und Bildtiefe nutzen

Nicht vom Objekt her denken, sondern von der Bildfläche. Mit dem ganzen Bildraum arbeiten, die Bildgegenstände mal aus der Mitte nehmen. Beziehungen statt »Dinge« fotografieren. Hindernisse nicht umgehen, sondern für die Bildarchitektur nutzen.

326

Sachen und Lebewesen spielen in unserem Leben eine zentrale Rolle, das spiegelt sich in der Fotografie wider. Aber spannend wird es doch eigentlich erst, wenn es um die Bedeutung dieser Elemente für uns geht sowie um deren Beziehung untereinander und zu uns. Diese Beziehungen spielen sich gestalterisch auf Bildflächen und in Bildräumen ab. Starten wir mit zwei sehr einfachen Landschaftsbildern. In Bild  fand ich wie so oft die Kontraste interessant. Nah – fern, kühl – warm, aufgewühlt – ruhig, in die Tiefe führend – horizontal. Mit der Möwe hatte ich nicht viel Glück, die ist etwas zu klein. Bild  setzt den Horizont viel tiefer, weil es um die rätselhaften Kondensstreifen geht, die auf den Baum zuzuführen scheinen. Bild  zeigt eine Trennung – was ja auch eine Art der Beziehung ist. Getrennt sind die beiden Damen voneinander und wiederum beide von der nackten, reinen Glätte der Skulptur. Es ist eine sehr schö-

ne Übung, sich Hindernisse zu suchen und daraus die Architektur seines Bildes zu machen. Klassisch ist die überaus vieldeutige und offene Beziehung des Maskensymbols mit dem Totenschädel , während sich die Zwiesprache von Schild und Dom eher auf der Ebene der Bildgestaltung vollzieht .



Die vielen Möglichkeiten nutzen, Bildern räumliche Tiefe zu geben. Es ist schon paradox, dass sich in flachen Fotografien so gut Raum darstellen lässt. In der Fotografie  funktioniert das über die Sicht der Kamera, die auf die hintere Ecke der Bodenplatte gerichtet ist. Unterstützt durch die Haltung der Figuren sowie durch das Gleisgewirr entsteht ein Bild, das die Dynamik der Kinderbeaufsichtigung ganz gut wiedergibt. Den zu kleinteiligen Blick auf den Hudson River  fotografierte ich zuerst, dann machte ich das viel bessere Bild , in dem der Raum selbst der Star ist; die Besucherin macht das Ganze auch noch etwas persönlicher. In  ist zunächst die starke Zentralperspektive interessant, dann aber auch die krasse vertikale Teilung des Bildes. Nummer : Die beiden gegenläufigen Flächen definieren hier einen nicht offenen Raum. Zufällig steckt in dem Bild auch ein alter Trick der Malerei, Tiefe zu erzeugen: warmtoniger Vordergrund gegen einen kalten Hintergrund. Bild ⑪ zeigt den Moment, in dem sich eine drückende Enge zu einer horizontalen Weite öffnet. Und schließlich schafft der Zaun in ⑫ nicht nur eine vordere Ebene (und dahinter automatisch eine zweite), sondern macht uns auch zum stillen Beobachter.

 Spannung zwischen Vorder- und Hintergrund

 Beziehung zwischen oben und unten

 »Hindernisse« einbeziehen

Text

 klassischer inhaltlicher Zweiakzenter

 gestalterischer Kontrast

 kleinteilige Landschaft ohne Hauptakteur(e)

 zwei Diagonalen

⑪ den Raum öffnen

 Beziehungen fotografieren

 Über-Eck-Perspektive, Raum, Akteurin

 Zentralperspektive, Doppelbild

⑫ Hindernisse schaffen Subjektivität

327



Praxistipps | Abstrakt werden, den Stil variieren

Da die meisten Bildgegenstände schon sehr häufig fotografiert worden sind, geht es vor dem »Was« eher um das »Wie«. Durch individuelle Bildgestaltung werden Bilder erst interessant und persönlich. Die entscheidenden Schritte sind die »Ablösung vom Motiv« und der Erwerb einer abstrakteren Sicht auf die Welt vor der Kamera.

328

Sicher ist die Bezogenheit der Fotografie auf unsere Lebenswelt geradezu ihr Wesenskern. Schließlich schafft sie ihre Bilder durch Messung der Intensität und Wellenlänge des Lichts. Es gibt also eine grundsätzliche Verbindung zwischen der Welt und dem Bild. Aber diese Verbindung ist nicht so einfach. Das merkt man spätestens, wenn man ein tolles »Motiv« vor der Kamera hatte, aber leider kein ebenso tolles Bild davon mit nach Hause nehmen konnte. Man sollte sich also stets fragen: Wodurch wird mein Gegenstand visuell interessant? Licht, Unschärfe, Farben, Akzente, Linien, Flächen, Kontraste, Wiederholungen, ungewöhnliche Standpunkte, Effekte; sogar mit manchen Bildfehlern kann man arbeiten. In Bild  trifft sich eine grafische Abstraktion, nämlich die bunten Flächen und die Kreise der Räder, mit dem »Realen«, also dem Pflaster und der Spiegelung. Die Bilder  und  lösen sich vom »Abbilden«. Sie wirken zunächst einmal durch das Spiel der Farben und Ebenen, die man im Kopf erst auseinandernehmen muss. Philosophisch könnte man sagen: Hier wird nicht gezeigt, wie etwas ist, sondern wie etwas in einem bestimmten Moment einer bestimmten Person erscheint. Das wäre dann ein subjektiver, immer wieder neuer Blick auf die Welt. Hinter  steht dasselbe Prinzip wie bei : Eine abstrakte Ebene (Streifenmuster) trifft auf eine reale (Hände).

Die Bilder  bis  sind eine Mischung aus Dokumentar und Inszenierung, denn ich inszeniere immer mal wieder meinen Schatten, aber auf die Spielorte treffe ich eher zufällig, wenn ich unterwegs bin. In solchen Serien zu arbeiten, hat einen gewissen Suchtfaktor (wie offenbar aller Arten Selfies) und es ist eine gute Übung, um Stellen mit fotografischem und erzählerischem Potenzial zu erkennen.



Eine Möglichkeit, die eigene Fotografie interessant zu halten, ist es, nicht alles in demselben »Normalstil« zu machen, sondern sich Stile ganz bewusst vorzunehmen und von ihnen inspirieren zu lassen. Wie in Kapitel 13 gezeigt, existiert auch in der Fotografie eine ganze Reihe unterschiedlicher Stilrichtungen, die durch ein Bündel gestalterischer Entscheidungen (oft in Verbindung mit bestimmten Inhalten) entstehen. Die Fähre  wurde durch den Schnitt zu einer Fläche abstrahiert und durch den Braunstich auch im Bild ihrem Alter entsprechend dargestellt. Drei »Tierbilder«: Bei den Fischen  dachte ich an japanische Zeichnungen, der Gorilla in Blau ⑪ ist reiner Trash und die furchterregende Schlange ⑫ bekam einen brutalistischen Stil verpasst. Bei Bild ⑬ hatte ich einfach Spaß an der Bearbeitung mit einer App. Bild ⑭ ist keine Fotografie, sieht aber in Motiv und Anmutung absolut so aus. Das fiktive Gesicht wurde von einer künstlichen Intelligenz auf einer Website generiert (googeln Sie nach »This person does not exist« o. ä.). Das weist schon auf die gewaltige Veränderung hin, die der Fotografie bevorsteht, wenn sie in den nächsten Jahren ihr Monopol auf »realistisch« aussehende Bilder verlieren wird (siehe unten).

 ein bunter Reisebus

 Vielschichtigkeit

 nochmals Vielschichtigkeit

 Abstraktion und Realität

Text

 aus einer Schatten-Serie

 ebenso, mit Pool

 ein seltsamer Kopffüßler

 Retrolook

⑪ ein gefährlicher Blaugorilla

⑫ ein hartes Bild

 mit Wand-Werbung

 eher malerisch, wie ein Aquarell, gerahmt

⑬ App, die Text in Bilder wandelt

⑭ kein Foto, aber fotorealistisch

329



Praxistipps | Variieren und abgucken

Auch wenn man meint, das gute Bild schon gemacht zu haben: Nachschießen! Dabei nicht minimale Varianten desselben Bildes machen, sondern mit mobiler Kamera völlig neue Standpunkte einnehmen. Gern auch mal ohne durch den Sucher oder auf das Display zu schauen.

330

Dies ist ein wirklich praxiserprobter Tipp, der die Ausbeute guter Bilder stark erhöhen kann. Besonders beim »blinden« Nachschießen entstehen oft die besten Bilder. Wohl weil man mit der Szene schon vertraut ist und dann eine gewisse Lockerheit dazukommt. Kreativen Prozessen bekommt mal mehr, mal weniger bewusste Kontrolle meist recht gut. In diesem Museum  wollte ich allerdings ganz bewusst die Besucherinnen und Besucher in Verbindung mit der schönen Bilderwand fotografieren und machte eine ganze Reihe von Versuchen. Doch alle Bilder ergaben nur ziemlich aussagelose dunkle Silhouetten, die sich überlappten. Im ersten Stock klappte es dann weit besser . Man kann durch den Perspektivenwechsel die individuellen Reaktionen der Grüppchen sehen, was deutlich interessanter ist. Manchmal findet man einen Ort, an dem man unvermutet eine Unmenge interessanter Bilder machen kann . Die wunderschöne Bergstation Gornergrat ist so ein Ort – entsprechend habe ich mir einen schlimmen Sonnenbrand geholt. Nachdem ein klassisches Touristenbild für die Erinnerung und die Familie im Kasten war, habe ich wild experimentiert. Eines der so entstandenen Bilder ist die , bei der ich durch ein Münzteleskop fotografiert habe. Die gelb gewandete Frau, der kleine Text, das Matterhorn, der zentrale Kreis, das Spiel von Hell und Dunkel sowie die Szene am linken Rand

gefallen mir wirklich sehr. Was Bild  angegeht: Natürlich habe ich die Freiheitsstatue auch ganz konventionell fotografiert. Aber wenn sich eine Libelle auf das Handy eines Freundes setzt ... Was für seltsame Bilder man mit dem Smartphone während eines Treffens in der Fotoakademie-Koeln unter Einbeziehung einer leeren Schachtel Toffifee doch machen kann ( und ).



Von den besten Fotografinnen und Fotografen lernen. Einzelne Aspekte (zum Beispiel Bildinhalt, Vorgehensweise, Gestaltung, Bildlook, Serienideen ...) aus unterschiedlichen Quellen neu zu einer eigenen Bildidee kombinieren. Profaner formuliert könnte man auch sagen: »Klauen, was das Zeug hält«, das Ergebnis wird meist sowieso nicht so wie das Vor-Bild, also keine übertriebene Angst vor Eins-zu-eins-Plagiaten (die allerdings verboten sind). Von jüngeren Studierenden höre ich manchmal: »Ich schaue nicht so viele Bilder anderer, denn ich will meinen Stil nicht verlieren und nicht von so vielen guten Bildern überwältigt werden.« Ich finde, das ist eine verständliche Angst, nur ist es ja so, dass man ohnehin auf Schritt und Tritt Fotografien ausgesetzt ist. Warum also von der (oft mittelmäßigen) Masse lernen statt von den Besten? Ein Kollege empfiehlt immer, zum Beispiel den Look von X mit dem Licht von Y mit der Grundidee von Z zu kombinieren, dann entstehe etwas völlig Eigenes. Ich denke sogar, das ist der Hauptmechanismus der Kreativität. Inspirierende Orte gibt es viele, zuvorderst natürlich das Internet, dann (Foto-)Buchläden, Museen , Fotoclubs und Akademien  oder einfach der normale Alltag ⑪.

 die Ebenen etwas unverbunden und uninteressant

 bessere Trennung der Ebenen, individuelles Verhalten besser erkennbar

Text

 konventionell, aber in Ordnung

 interessant und ausbaufähig

 ein etwas langweiliges Treffen

 Zeitvertreib 1

 von den Besten lernen

 klauen und kombinieren

 Miss-Liberty-Variante

 Zeitvertreib 2

⑪ Augen auf und inspirieren lassen

331



Als Schlusswort ein wenig Photo-Philosophie, also einige zentrale Erkenntnisse, die sich im Lauf meiner eigenen Fotopraxis ergeben haben – sowie ein paar Worte als Ausblick. Ich hoffe, diese Punkte regen zu eigener Reflexion an.

Ausblick | Was Bilder stark macht

Wir Menschen finden Bilder vor allem attraktiv, wenn sie (1.) visuell stark sind, (2.) Emotionen oder Emotionales zeigen und (3.) informativ sind.

332

Schafft man es, auf allen drei Ebenen zu punkten, kann man stolz sein. Meist muss man sich mit zwei Aspekten oder gar nur einem zufriedengeben. Es hilft sehr, sich zu überlegen, welche der besagten Ebenen man in einem Foto bespielt und welche nicht. Und falls nicht, warum nicht? Und: Kann man es ändern? Dabei ist visuelle Attraktivität meist das nötige Lasso, um überhaupt die Aufmerksamkeit anderer einzufangen. Am schwächsten ziehen (noch so gute) Bild­inhalte, wenn nichts getan wurde, um diese interessant zu präsentieren. Das Grundgesetz der gesamten Gestaltungslehre heißt: Bilder lassen sich durch Wiederholung oder Kontrast verstärken. Die Gründe dafür sind einfach: Entdeckt man inhaltliche oder gestalterische Gegensätze in einem Bild, dann kann man leichter auf dessen Bildidee schließen. Desgleichen, wenn man Wiederholungen bemerkt. Beide mindern die Wahrscheinlichkeit, dass man nicht weiß, um was es in einem Bild geht, denn man hat zur Überprüfung seines ersten Eindrucks ja noch einen zweiten Hinweis – eben den Gegensatz oder die Wiederholung. Wie gesagt, das Prinzip gilt für Bildaussagen ebenso wie für die Gestaltung.

Ein Bild sollte über die Bildgestaltung einen Schlüssel liefern, warum es gemacht wurde, was »das Spezifische«, das für Betrachtende »Relevante« an ihm ist. Dabei ist klar, dass Bilder von Betrachterinnen und Betrachtern im Normalfall nicht gedanklich »durchanalysiert« werden. Aber man sollte nicht unsere Erfahrung unterschätzen. Man versteht gewöhnlich schnell, ob der Grund, warum ein Bild gemacht wurde, in ihm erkennbar ist oder nicht. Intuitiv suchen wir den Schlüssel zum Verständnis. Ein Bild zu machen, geschieht ja meist in der Absicht, es jemandem zu zeigen (oder es später selbst zu betrachten). Es ist also eine Art künftiges Kommunikationsangebot an andere oder an sich selbst. Was bei der Sprache selbstverständlich ist, sollte also auch für Bilder gelten: Die Absichten des Senders sollten beim Empfänger verstanden werden können. In Bildern sorgt man meistens durch Bildgestaltung dafür, dass die Bildidee herausgearbeitet wird. (Beziehungsweise man entdeckt einen zufälligen Schnappschuss, der durch glückliche Umstände ohne Zutun genau das macht.) Die Persönlichkeit der Fotografin / des Fotografen bestimmt wesentlich den Zweck ihrer /seiner Bilder. Ich habe recht lange gebraucht, um zu verstehen, dass die Gründe für eine Beschäftigung mit Fotografie sich individuell stark unterscheiden. Das Medium ist derart vielseitig, dass sich Menschen ihm aus den unterschiedlichsten Gründen widmen. Es hilft bei der eigenen fotografischen Entwicklung oft weiter, wenn man seine eigene Motivation kennt. Durch die Fotografie begegnen mir Menschen, die mit der Kamera die Welt

 bis : eine schöne Reise durch den Oman (2022) und passend gestaltete Bilder

Text

 Weitwinkel und Schablonierung

 ein weiter Blick mit Vordergrund

 Spiegelung und hohe Kontraste

 Linien und Zentralperspektive

333

Ausblick | Das schöne Bild, das kluge Bild

entdecken wollen. Oder solche, die sich selbst entdecken wollen. Leute, die ein Werk schaffen wollen (»das gute Bild«). Menschen, die durch ihre Bilder Aufmerksamkeit, Ruhm oder Geld erwerben möchten. Menschen, die mit ihren Fotos die Welt verändern wollen. Fotografinnen und Fotografen, die durch Bilder der Vergänglichkeit und dem Vergessen etwas entgegensetzen möchten. Menschen, die vor allem an der Fototechnik Spaß haben oder an der Tätigkeit des Fotografierens selbst. Menschen, die die Fotografie vor allem als Kommunikationsmittel nutzen möchten. Leute, die die Fotografie als Anlass sehen, etwas gemeinsam mit anderen zu unternehmen. Ich würde mich vor allem der Gruppe »Werk schaffen« zuordnen und ein wenig auch dem »Ruhm«. Und Sie selbst?

334

»Geschmack« liefert oft ein wenig fundiertes Urteil. Ich würde immer fragen: »Funktioniert das Bild für seinen Zweck?« Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Bilder, die bewusst mit technischer Unvollkommenheit arbeiten, Bilder mit unangenehmen Inhalten und solche, die Hässlichkeit statt »Beauty« zeigen, mitunter auf starke Ablehnung stoßen. Insbesondere die »Trash«-Fotografie ruft oft heftige Reaktionen hervor, wenn es darum geht, dass in Werbung und Kunst für solche Bilder stattliche Summen gezahlt werden. Ich finde, dass Debatten darüber, ob etwas »Kunst« ist oder welchen »Wert« es hat, meist nicht zielführend sind, da beides nicht klar definiert und relativ ist. Ich schlage vielmehr vor, zunächst zu fragen, welchem Zweck eine Fotografie dient. (Es gibt viele.) Und dann, ob technisch, gestalterisch und inhaltlich alles getan ist, damit dieser Zweck erreicht wird. Das ist eine produktivere Basis, über Fotografie zu sprechen.

Eine gute Methode zum Verständnis anspruchsvoller, »schwieriger« Bilder. Ich erlebe oft eine skeptische Haltung, wenn ich nach der inhaltlichen (semantischen) Bedeutung einer Fotografie oder einer ganzen Serie frage. Man sagt, Inhalte lägen rein im Auge der Betrachter und mit der nötigen Rhetorik könne man sowieso »alles hineininterpretieren«. Es gibt aber ein recht einfaches Vorgehen, um hinter die Aussagen einer Reportagefotografie oder vieler Werke der Fotokunst zu kommen. Das wären die drei »W-Fragen«. Man macht zunächst eine kleine Bestandsaufnahme, (1.) was auf dem Bild zu sehen ist. Dann fragt man sich, (2.) wie das dargestellt ist. Die Frage, (3.) warum das so gemacht wurde, liefert dann sehr häufig den Schlüssel zum Verständnis. Jedenfalls soweit man dazu nicht zwingend Hintergrundwissen benötigt. Es bleibt spannend: Mit der Fotografie in das gerade beginnende Zeitalter der »Künstlichen Intelligenz«. Im Lauf dieses Jahrzehnts werden Computer und ihre Programme vieles können, was in der bisherigen Geschichte menschlicher Kreativität und Intelligenz vorbehalten war. Aktuell können Künstliche Intelligenzen oft noch etwas weniger überzeugend Gespräche führen, Texte schreiben, Bilder malen, Programme programmieren, Auto fahren, Spiele spielen, sortieren und klassifizieren, Pläne machen oder fotorealistische Bilder erzeugen, aber in vielen dieser und weiterer Disziplinen ziehen KIs gerade in abenteuerlicher Geschwindigkeit mit uns gleich und werden uns in den nächsten Jahren übertreffen. Ich denke, das wird zu einer Krise unseres menschlichen Selbstverständnisses führen sowie un-

Text

 ... für mich soll's rote Rosen regnen – Vielschichtigkeit

 unterschiedliche Lichtquellen, Farbkontraste

 Licht und Schatten, Farbverläufe

 eine offenbar verdurstete Plastiktüte

335

Ausblick | Fotografie und Künstliche Intelligenz 336

sere Gesellschaften und deren Arbeitsund Freizeitwelt in kaum abschätzbarem Umfang verändern. Die Fotografie spielt seit fast 200 Jahren wirtschaftlich und kulturell eine sehr bedeutende Rolle und wird – wie schon während der Industrialisierung und der Digitalisierung – auch diesmal ein prominenter Teil dieser großen Umwälzung sein. Versucht man einzuschätzen, was die Veränderungen für »die Fotografie« bedeuten, überfällt einen rasch ein leichter Schwindel und die Gedanken rasen. Etwas weiter kommt man, wenn man segmentiert, also durchspielt, wie die unterschiedlichen Genres der Fotografie und ihre Einsatzgebiete betroffen sein könnten. Die gute Nachricht: Alle Bilder individueller Personen, Tiere, Orte, Räume und Ereignisse müssen wie bisher fotografiert werden, weil KIs neue Bilder ja nur aufgrund vorhandener Daten erzeugen können, also sowohl nicht existente Leute, Orte, Ereignisse als auch berühmte und damit viel fotografierte. Sagt man einer Bild-KI, sie möge ein neues, fotorealistisches Porträt von Angela Merkel erzeugen, so schafft sie das locker und meist auf Anhieb recht überzeugend. Ebenso kann man die ehemalige Kanzlerin mit fast beliebigen Orten, Situationen und Menschen bildlich verbinden. (Unglaublich gut wird es übrigens, wenn man keine fotografischen Ergebnisse, sondern Malerei frei wählbarer Stilrichtungen und Epochen fordert.) Und hierin liegt schon ein Punkt: Noch viel stärker als seit dem Siegeszug der elektronischen Bildbearbeitung wird es hybride Bilder geben, deren Ausgangspunkt zwar ein »echtes« Foto (aus einer lichtmessenden Kamera) bildet, die aber dann in Aussehen und Bildinhalt stark verändert werden – per Sprachbefehl statt mit der Maus. Ja, eine Auftragsfotografin geht wie gewohnt zu einer

Hochzeit, aber ein wichtiger Gast, der im entscheidenden Moment verdeckt ist, wird mithilfe der anderen Bilder zum Vorschein gebracht. Man fotografiert ein Restaurant für dessen Homepage, fügt aber fiktive Gäste per Befehl an die KI hinzu, denn diese haben kein Recht am eigenen Bild, sitzen immer gut verteilt und lächeln zuverlässig. Es wird bekannte, nicht lebende Fotomodelle geben, die immer wieder in Modestrecken auftauchen. Produkte oder Gebäude, die im Herstellungsprozess ohnehin als Daten vorliegen, werden der Einfachheit halber nur noch generiert statt fotografiert. Es werden Generationen heranwachsen, die daran gewöhnt sind, dass absolut real aussehende Bilder doch nur ein »Serviervorschlag« sein könnten. Also braucht die ganze Dokumentarfotografie ein zusätzlich eingeprägtes Siegel der Authentizität. Die vielen Feinde der Offenen Gesellschaft werden mit sehr einfach herstellbaren Fälschungen trotzdem viel Schaden anrichten können. Durch die technischen Neuerungen wird sich auch die Ästhetik der Bilder verändern. Im 19. Jahrhundert wurden Fotografien häufig sehr stark »malerisch« bearbeitet, um als kreatives Werk anerkannt zu werden. Im 20. Jahrhundert war eben dies völlig verpönt, bis die Digitalisierung um das Jahr 2000 (elektronischen) Pinseln und Paletten wieder zu größtem Einfluss verholfen hat. Das wird durch die neue Technik noch verstärkt werden; gleichzeitig werden puristische (analoge) Gegenbewegungen auftreten. Völlig neu an der Arbeit mit der KI ist auch, dass sie selbstständige, kreative Vorschläge zur Auswahl stellt und man dann in einem Prozess des Verwerfens und Verfolgens zum Ergebnis findet. Die Fotografie und die Bildgestaltung werden also anders, bleiben aber spannend wie eh und je.

Das Bild kommt aus dem Rechner, wirkt aber auf den ersten Blick durch die Tonung und den Stil der Personen wie eine Fotografie der 1920er. Bei genauerer Betrachtung stellt man die typischen Fehler fest, die fotorealistische KI-Bilder des Jahres 2023 oft noch aufweisen: nicht ganz korrekte Hände, Augen oder Gesichtsteile. Diese Abweichungen wurden nicht beseitigt. Auch die Hand rechts unten scheint nicht ganz an der richtigen Stelle zu sein, sollte sie zu der vorderen Frau gehören. Der gelbe Lichteinfall am linken Rand stammt scheinbar aus der analogen Zeit, als sei das Filmmaterial aus Unachtsamkeit ein wenig dem Tageslicht ausgesetzt worden, beleuchtet aber die Szene, als sei er eine tatsächlich vorhandene Lichtquelle. Auch andere Artefakte, wie die wechselnde Körnung, die Lichtspuren und Knittereffekte changieren zwischen analoger Fotografie und Computerfehler, was dem ganzen Bild eine geheimnisvolle Widersprüchlichkeit verleiht. Dies wiederum spiegelt sich in der Szene. Der Ausdruck der vorderen Frau kann als Verunsicherung gelesen werden, aber auch als Neugier auf das, was kommt, aber für uns (noch) außerhalb des Bildes liegt. Die hintere Frau scheint da mehr Furcht zu haben, möchte aber vielleicht auch beschützen. Ich deute das Bild als Allegorie auf die Künstliche Intelligenz.

 Das Bild mit dem Titel »The Electrician« hat mir freundlicherweise Boris Eldagsen zur Verfügung gestellt, der sich als Philosoph, Bildender Künstler und Lehrender intensiv mit KI-generierten Bildern auseinandersetzt.

Text

337

 Christof Jakob

Anhang | Bildnachweise

Bildnachweise

338

Ganz überwiegend stammen die Bilder des Buchs von den aktiven Studierenden und den Ehemaligen der Fotoakademie-Koeln. Vielen Dank für die wunderbaren Fotografien. Die Autorinnen und Autoren sind jeweils bei den Fotos genannt. Falls man Kontakt aufnehmen möchte: Die Web- und Mailadressen aller Absolventinnen und Absolventen finden sich auf der Homepage der Akademie (www.Fotoakademie-Koeln.de). Zu allen anderen stelle ich gern die Verbindung her ([email protected]). Viele interessante Bilder hat Herr Alen Ianni beigesteuert, drei mein Kollege Oliver Rausch und ein schönes Bild Sabine Krüger. Danke auch an euch. Meine eigenen Fotos habe ich ebenfalls mit meinem Namen gekennzeichnet, damit ich hier nicht bloß als Theoretiker erscheine. Hinzu kommt eine Reihe von Bildern aus den umfassenden Online-Datenbanken »Pexels« und »Pixabay«. Die dort gefundenen Fotos waren vor allem für die Kapitel zu den Flächen und zur Farbe überaus hilfreich. Nur mit ihrer Hilfe konnten bestimmte Lehrinhalte klar dargestellt werden. Alle Lizenzen der verwendeten Bilder standen auf diesen

Webseiten auf »CC0«, das heißt, sie dürfen frei bearbeitet und kommerziell verwendet werden und die Herkunft muss nicht genannt werden. Vor der Verwendung im Buch habe ich für jedes Bild recherchiert, ob die Rechte einer Fotografin, eines Fotografen oder einer Organisation verletzt sein könnten. Ich habe nur Bilder aufgenommen, bei denen solches nicht feststellbar war. Sollte das dennoch der Fall sein, bitte ich um Entschuldigung und um eine Nachricht an [email protected]. Bezüglich anderer Rechte, insbesondere des Rechts am eigenen Bild, bitte ich zu berücksichtigen, dass es sich um ein Lehrbuch handelt. Die Freiheit der Lehre hat in Deutschland den Status eines Grundrechts, was sicher sinnvoll ist. Ich habe zudem auf Bilder verzichtet, die absehbar die Gefühle von Mitmenschen verletzen könnten. Die Bilder von Pexels und Pixabay sind wie alle anderen im Text gekennzeichnet. Ich hätte gerne auch die Namen der Fotografinnen und Fotografen genannt, aber diese sind auf den Webseiten häufig hinter »Nicknames« verborgen. Einige davon hätten stark vom Bild abgelenkt, daher findet sich nachfolgend eine Übersicht über die Buchstellen und die Urheberinnen und Urheber.

Titelbild: Chantal Wolf Kapitel »Akzente«: Seite 17: Ilja Jefimowitsch Repin (1844–1930): Unerwartete Heimkehr (1884–88), Moskau, Tretjakow-Galerie, Abbildung: Wikimedia Commons | Seiten 20/21:  PatternPictures,  Alexas_Fotos,  suc,  Clard,  Ben_Kerckx,  TapioHirvikorpi,  Barni1 | Seiten 22/23:  Szilacza,  und  Negative Space,  und  Szilacza | Seiten 24/25:  Jayant Kulkarni,  und  Krzysiek Kapitel »Linien«: Seite 91: ⑪ ID 4506673 | Seite 100:  Tsang Chung Yee | Seite 102:  olafpictures | Seite 109:  Find-cat | Seite 111:  Kaique Rocha Kapitel »Flächen«: Seiten 150/151 (Galerie):  Oleg Magni,  STUX,  JUST ANOTHER PHOTOGRAPHY DUDE,  MARKTPLATZ­R ehburg-Loccum,  skeeze,  und  cocoparisienne, ⑪ miguelmay, ⑫ Willibrord | Seiten 152/153:  Pedro Figueras,  hjrivas,  UinseannKaler,  creazionpublicidad,  FrankWinkler,  melkhagelslag,  Peter Fazekas,  Jack Hawley | Seiten 154/155:  3093594,  Andrea Albanese,  Hans,  Free-Photos,  realworkhard,  Ivan Cujic,  David Bartus,  und  Scott Webb | Seiten 156/157:  Free-Photos,  Michael Gaida,  larissa-k,  Imre Juhasz,  aitoff,  falco,  JayMantri,  Michael Gaida | Seiten 158/159:  Burst,  Skitterphoto,  3093594,  ramy Kabalan | Seiten 162/163:  rawpixel. com,  Vera Arsic,  Gallila-Photo,  jklugiewicz | Seite 166:  David McEachan Kapitel »Farbe«: Seiten 210/211:  ROverhate,  Engin_Akyurt | Seite 212:  bis  melkhagelslag | Seiten 214/215:  12019,  Arcaion,  Engin_ Akyurt,  12019,  Alex Bobrov,  453169 | Seiten 216/217:  Harvey Reed,  adonyig,  Roma Koral | Seite 222:  blickpixel | Seite 225:  jill111,  kaboompics | Seiten 226/227:  Andreas P.,  Daria Shevtsova,  cristi21tgv | Seite 229:  jill111

 Dennis Wilhelms

Kapitel »Objektive (...)«: Seite 287:  aamiraimer Kapitel »7 Sünden, 7 Tipps«: Seite 336:  Boris Eldagsen

339

Index A

F

Akzente Arten 29–59 Abweichungsakzente 56–57 Farbakzente 30–33, 177 Formakzente 50–51 Gesichter und Körperteile 42–45 Größenakzente 54–55 Helligkeitsakzente 38–41 Perspektivenakzente 52–53 Schärfeakzente 34–37 Text und Symbole 46–49 Gruppierung 18–21, 73, 75–77 Gundlagen 16–19, 59 Nebenakzente 64, 69 Positionierung 22–25, 66–67, 69 Architekturfotografie 53, 87, 89, 92, 94, 110–111, 128, 132, 140–142, 145, 152–161, 166–167, 169, 241 Attraktivität von Bildern 64, 101, 332–335

Farbe 200–233 additive Farbmischung 204–205 Farbkonstanz 217 Farbkreis 204–207 Farbschemata analog 208–209 gebrochene Farben 220–223 kalt und warm 214–215 komplementär 210–211 monochrom 30–31, 165, 208–209 Quantitätskontrast 218–219 triadisch 212–213 kulturelle Bedeutung 206–207 Physik 202–203 Physiologie / Auge 202–203 Qualitätskontrast 220–221 Simultankontrast 224–225 subtraktive Farbmischung 204–205 vor Weiß, vor Schwarz 224–225 Farbfilter 229 Flächen Arten 150–155, 168 Funktionen 154–169 abgrenzen, verbinden 162–163 aufräumen, beruhigen 164 Dynamik erzeugen 154–157 hervorheben, verbergen 160–161 Tiefenwirkung 158–159 Fluchtpunkt 110–111 Food Photography 33, 209, 216, 223 Form und Restform 152, 190, 294–299, 308 Fotocollage 52, 109, 178–179, 209, 212–213, 276–277

Anhang | Index

B Bewegungsunschärfe 36–37 Bildbearbeitung 178–179, 306, 312–329 Bilddiagonalen 23 Bildformate 302–303 Bildgeschmack 334 Bildidee 332–334 Bildmodelle Bild im Bild 235–247 Der blasse Akzent 161, 249–259 Die Bühne 138–147, 316–317 Einakzenter 61–69 Schablonierung 189–199, 307 Strukturfotos 21, 76, 114, 126–137, 174 Vielschichtigkeit 171–187 Zweiakzenter 71–81 Bildränder 23–27 Blickführung 41, 109 Blitzlicht 63, 262–263, 266–267 D Drittelregel 24–26 Durchzeichnung 192, 199, 267 E Eyetracking 16–19, 73

340

G Gestaltungsfehler falsche Farbsättigung 322–323 falsche Helligkeitsverteilung 322–323 gleichförmige Bildkomposition 318–319 kein starkes Licht 320–321 störende Akzente 312–313 technische Mängel 324–325 unklare Formen 294–297, 314–315 unruhige Bildränder 312–313 Goldener Schnitt 24–26

H

P

Hintergrund 290–293, 308

Plastizität 153, 320–321 Praxistipps abstrakt werden / vom Motiv lösen 328– 329 Bildraum und Bildtiefe nutzen 326–327 Bildstil variieren 328–329 Inspiration suchen 330–331 Variationen fotografieren 330–331

K Kamerastandpunkt 64, 160, 165, 191, 250, 263, 265, 300–301, 330 Kontrast und Wiederholung 72, 74, 77, 115, 180–181, 187, 206–207, 214– 215, 233, 236, 240, 246, 306, 332 Künstliche Intelligenz als Bildgenerator 334–337 L Landschaftsfotografie 6, 129, 132–133, 136, 143–146, 159, 166, 302–303 Leserichtung 109 Linien als Ornament 114–117 Arten 83–91, 125 flach, tief 89 gerade, geometrisch, frei 86–87, 102– 103 optisch und durchgezogen 21, 84–85 stark und dünn 85 vertikal, diagonal, horizontal 88–89 Funktionen 125 Bildraum gliedern 94–95 Blickführung 106–109 Dynamik erzeugen 102–105 Raumtiefe erzeugen 89, 110–113 trennen, einsperren, distanzieren 96–99 verbinden 100–101 und Bildaussage 118–123 M Makrofotografie 54, 63, 210–211, 226 Mehrfachbelichtung 173 Mittenakzente 22–23, 25, 109, 307 Modefotografie 79, 118–119, 138–139, 214, 221, 252–253, 266

S Schärfe und Unschärfe 34–37, 175, 249– 250, 288–289, 308, 324–325 Schwarzweiß 228–231, 322–323 Filter 229 Graustufen 228–231 Tonung 228–231 Umwandlung 228–231 Verlaufsumsetzung 228–231 Silhouette 294–299, 308 Stilistik 260–281, 328–329 Bildstile Abstraktion 223, 278–279 Alternativweltstil 274–277 intimer Stil 272–273 Reportagestil 268–269 Sachlichkeit 138, 147, 264–265 Surrealismus 236, 270–271 Trash 266–267 Matrix der Bildgestaltung 262–263 Stillleben 13, 28–29, 31, 33, 50–51, 63, 134, 162, 215–216, 220–221, 223–226 Street Photography 32, 39, 47, 48, 54, 97, 164–165, 172, 188–189, 230–231, 236–237, 240, 243, 254–255, 269, 301, 312–329 V Verstehen von Bildinhalten 334 Vordergrund 69, 290–293, 308, 312–317

O

W

Objektivwirkung Teleobjektiv 128, 152, 284–287, 291–292 Weitwinkelobjektiv 64, 284–287, 300

Window- und Mirror-Fotografie 144, 263 Z Zuschnitt 304–308, 312–319, 322–325 Zweck von Fotografien 332–334

341